»Für die Zukunft des deutschen Volkes«. Das bundesdeutsche Atom- und Forschungsministerium zwischen Vergangenheit und Neubeginn 1955–1972 [1. ed.] 9783835350755, 9783835348073


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German Pages 495 [496] Year 2022

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Table of contents :
Vorwort
I. Einleitung
1. Das Atom- und Forschungsministerium
2. Forschungskontexte und Forschungsfragen
3. Der Begriff der »NS-Belastung«
4. Ansatz und Aufbau der Studie
5. Quellen
II. Aufbau eines neuartigen Ministeriums: institutionengeschichtlicher Überblick
1. Vorgängerinstitutionen in der NS-Zeit
2. Die umstrittene Gründung des Bundesministeriums für Atomfragen
3. Vom Atom- zum Forschungs- und zum Bildungs­ministerium
4. Karrierewege des Führungspersonals
III. Der historische Ort der eigenen Politik:
1. Perspektive »Zukunft«
2. Der Wandel der Gegenwart
3. Bezüge zur Vergangenheit
4. Resümee
IV. Summe der personellen NS-Belastungen:prosopographische Profile
1. NS-Mitgliedschaften: statistische Analyse des ministeriellen Führungspersonals
2. Kurzbiographien der ministeriellen Spitze
3. Kategorien personeller NS-Belastung: die Situation im Ministerium
4. Ehemalige NSDAP-Mitglieder und personelle NS-Belastungen in der frühen Deutschen Atomkommission
V. Systemübergreifende Karrieren –systemübergreifendes Funktionieren von ­Eliten: biographische Detailskizzen
1. Josef Brandl (1901–1991), Referats- und stellvertretender Gruppenleiter
2. Wolfgang Cartellieri (1901–1969), Abteilungsleiter und Staatssekretär
3. Max Mayer (1913–2005), Abteilungsleiter
4. Walther Schnurr (1904 – mindestens 1982), Gruppen- und Abteilungsleiter
5. Karl-Heinz Spilker (1921–2011), persönlicher Referent des Ministers und Referatsleiter
6. Synthese
VI. Resümee: Das bundesdeutsche Atom- und Forschungsministerium zwischen Vergangenheit und Neubeginn
Anhang
1. Organigramme des Atom- und Forschungsministeriums
2. Das untersuchte ministerielle Führungspersonal: biographische Basisdaten und
Abkürzungsverzeichnis
Verzeichnis der Abbildungen, Diagramme und Tabellen
Quellenverzeichnis
Literaturverzeichnis
Personenregister
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»Für die Zukunft des deutschen Volkes«. Das bundesdeutsche Atom- und Forschungsministerium zwischen Vergangenheit und Neubeginn 1955–1972 [1. ed.]
 9783835350755, 9783835348073

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Thomas Raithel und Niels Weise »Für die Zukunft des deutschen Volkes« Das bundesdeutsche Atom- und Forschungs­ministerium zwischen Vergangenheit und Neubeginn 1955–1972

Thomas Raithel und Niels Weise

»Für die Zukunft

des deutschen Volkes« Das bundesdeutsche Atom- und Forschungs­ministerium zwischen Vergangenheit und Neubeginn 1955 – 1972

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Wallstein Verlag, Göttingen 2022 www.wallstein-verlag.de Vom Verlag gesetzt aus der Stempel Garamond Umschlaggestaltung: Susanne Gerhards, Düsseldorf Umschlagbild: Das Bundesministerium für Atomfragen im ehemaligen Hotel »Godesberger Hof«, Eingangsseite (1956, Foto: Heinz Engels, Stadtarchiv und Stadthistorische Bibliothek Bonn, zugeschnitten); zur Baugeschichte vgl. Buchseite 11. Das Zitat im Titel findet sich in Texten der Forschungsminister Hans Lenz und Gerhard Stoltenberg aus den Jahren 1964 und 1965. Nachweis und Kontextualisierung siehe Buchseite 171. ISBN (Print) 978-3-8353-5075-5 ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4807-3

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Das Atom- und Forschungsministerium . . . . . . . . . . . . 11 2. Forschungskontexte und Forschungsfragen . . . . . . . . . . 17 3. Der Begriff der »NS-Belastung« . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 4. Ansatz und Aufbau der Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 5. Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 II.

Aufbau eines neuartigen Ministeriums: institutionengeschichtlicher Überblick . . . . . . . . . . . . 45 1. Vorgängerinstitutionen in der NS-Zeit . . . . . . . . . . . . . 45 2. Die umstrittene Gründung des Bundesministeriums für Atomfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 3. Vom Atom- zum Forschungs- und zum Bildungs­ministerium 86 4. Karrierewege des Führungspersonals . . . . . . . . . . . . . . 134

III. Der historische Ort der eigenen Politik:

Diskursgeschichte der ministeriellen Außendarstellung . 159 1. Perspektive »Zukunft« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 2. Der Wandel der Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 3. Bezüge zur Vergangenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 4. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196

IV. Summe

der personellen NS-Belastungen: prosopographische Profile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 1. NS-Mitgliedschaften: statistische Analyse des ministeriellen Führungspersonals . . . . . . . . . . . . . . 201 2. Kurzbiographien der ministeriellen Spitze . . . . . . . . . . . 221 3. Kategorien personeller NS-Belastung: die Situation im Ministerium . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 4. Ehemalige NSDAP-Mitglieder und personelle NS-Belastungen in der frühen Deutschen Atomkommission 271

inhalt

V.

Systemübergreifende Karrieren – ­systemübergreifendes Funktionieren von ­Eliten: biographische Detailskizzen . 285 1. Josef Brandl (1901–1991), Referats- und stellvertretender ­Gruppenleiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 2. Wolfgang Cartellieri (1901–1969), Abteilungsleiter und Staatssekretär . . . . . . . . . . . . . . . 333 3. Max Mayer (1913–2005), Abteilungsleiter . . . . . . . . . . . 350 4. Walther Schnurr (1904 – mindestens 1982), Gruppen- und Abteilungsleiter . . . . . . . . . . . . . . . . . 366 5. Karl-Heinz Spilker (1921–2011), persönlicher Referent des Ministers und Referatsleiter . . . . 390 6. Synthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411

VI. Resümee:

Das Atom- und Forschungs­ministerium zwischen Vergangenheit und Neubeginn . . . . . . . . . . 423

Anhang 1. Organigramme des Atom- und ­Forschungsministeriums . . . 435 2. Das untersuchte ministerielle Führungspersonal: ­biographische Basisdaten und spezifische archivalische Quellen . . . . . . . 438

Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 444 Verzeichnis der Abbildungen, Diagramme und Tabellen . . . 448 Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489 Beide Autoren haben bei Recherchen, Konzeption, Thesenbildung und Textredaktion in engem Austausch gestanden. Von Thomas Raithel stammen die Kapitel I, III, IV.3, V.3 und V.6 sowie VI, von Niels Weise die Kapitel II sowie IV.1-2 und IV.4. In den Kapiteln V.1–2 und V.4–5 war N. Weise für die Lebensabschnitte bis zum Kriegsende 1945 zuständig, Th. Raithel für die Abschnitte ab Kriegsende.

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Vorwort

Diese Studie geht zurück auf eine Anregung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung und wurde von diesem gefördert. Sie steht im Kontext der neueren »Aufarbeitungsforschung«, die sich mit der nationalsozialistischen Vergangenheit bundesdeutscher Institutionen und ihren fortwirkenden NS-Belastungen in der Nachkriegszeit beschäftigt. Da das 1955 gegründete Bundesministerium für Atomfragen keine direkte Vorläuferbehörde in der NS-Zeit besaß, müssen viele Fragen breiter gestellt werden als bei den meisten anderen bundesdeutschen Ressorts. Der in der neuesten Forschung erkennbare Trend, das Thema »NS-Belastung« in größere inhaltliche und zeitliche Zusammenhänge von Kontinuität und Diskontinuität einzubetten, wird daher in unserem Buch in besonderer Weise akzentuiert. Der vorliegenden Arbeit, die einen institutionen- und personengeschichtlichen Schwerpunkt besitzt, wird sich in Kürze ein wissenschaftsgeschichtlich ausgerichteter Sammelband anschließen. Als Autoren sind wir, wie immer bei umfangreichen geschichtswissenschaftlichen Projekten, einer Vielzahl von Menschen zu Dank für Hilfen, Informationen und Anregungen verpflichtet. Aus unserem Forschungsumfeld im Institut für Zeitgeschichte München-Berlin (IfZ) sollen mit Dorothea Wohlfarth und Silvia Wasmaier an erster Stelle die b ­ eiden Hilfskräfte genannt werden, die nacheinander mit großem Einsatz an unseren Recherchen mitgewirkt haben. Franziska Meier und Moritz Herzog-Stamm unterstützten uns jeweils für kürzere Zeit im Rahmen ihres Praktikums am IfZ. Die vorliegende Studie profitierte auch davon, dass Daniela Hettstedt unser Projektteam seit dem Jahr 2019 verstärkt hat, um sich vorrangig dem Sammelband zu widmen. Erwähnung finden s­ollen schließlich auch Margaretha Bauer, Malte Müller und Irina Stange, die als Elternzeitvertretung und als Hilfskräfte an der Erstellung der für unsere Arbeit grundlegenden Machbarkeitsstudie beteiligt waren. Unter den weiteren (aktiven und ehemaligen) IfZ-Kolleginnen und Kollegen, die uns mit Fachwissen unterstützt haben, seien Giles Bennett, Carlos Alberto Haas, Christian Hartmann, Johannes Hürter, Nadia Labadi, Eva Oberloskamp und Thomas Schlemmer hervorgehoben. Beata Lakeberg danken wir für Übersetzungen aus dem Polnischen, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der IfZ-Bibliothek für stete Hilfs- und Kooperationsbereitschaft. Im Vorfeld und während der Drucklegung war uns der 7

vorwort

Lektor Günther Opitz eine sehr große Hilfe. Ebenso danken wir Ursula Kömen vom Wallstein Verlag für die Betreuung der Arbeit während des Druckprozesses. Wissenschaftler und Archivare, auch von außerhalb des IfZ, haben uns in Einzelfragen wichtige Hinweise gegeben oder uns erlaubt, noch unveröffentlichte Manuskripte einzusehen: Besonders genannt seien Lukas Alex, Stephan Geier, Philipp Glahé, Helge Heydemeyer, Walter Hirschmann, Rouven Jannek, Bernhard Löffler, Christian Marx, Dieter Pohl, Bernd-A. Rusinek, Thomas Sandkühler, Florian Schmaltz, Alexander von Schwerin, Helmuth Trischler, Jens Westemeier und Hans-Peter-Wollny. Miłosz Grobelny hat uns einen in Deutschland schwer zugänglichen Zeitschriftenartikel zukommen lassen. Dank schulden wir auch unseren Familien. Die Vereinbarung von wissenschaftlicher Arbeit und Familie ist uns vor allem in den beiden zurückliegenden Pandemiejahren oftmals schwer gefallen. München, März 2022

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Thomas Raithel und Niels Weise

»Die sorgfältige Lektüre des vorliegenden Jahresberichtes wird dem Leser zeigen, daß der Bund bestrebt ist, durch eine dem dynamischen Fortschritt von Wissenschaft und Technik angemessene Forschungsförderung ausreichend Vorsorge für die Zukunft des deutschen Volkes zu treffen.« (Gerhard Stoltenberg, Bundesminister für wissenschaftliche Forschung, 19661)

I. Einleitung

Vergangenheit und Neubeginn, Kontinuität und Diskontinuität  – diese historischen Grundspannungen prägten die Geschichte Deutschlands nach 1945. Dies gilt in besonderer Weise für die frühe Bundesrepublik, die den räumlichen und zeitlichen Rahmen unserer Studie bildet. Nach über 12 Jahren nationalsozialistischer Diktatur und nach einer fast vierjährigen Übergangsphase alliierter Besatzungsherrschaft stellte die Entstehung eines demokratisch verfassten westdeutschen Teilstaates ebenso ein Element der Diskontinuität dar wie der wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Neuaufbruch der Nachkriegszeit. Gleichzeitig sind aber auch zahlreiche Kontinuitäten unverkennbar. Die Deutschen und ihre Eliten konnten nicht einfach ausgetauscht werden. In Wirtschaft, Gesellschaft, Politik und Kultur hat es deshalb nie eine »Stunde Null«2 gegeben. Prägungen aus der NS-Zeit blieben vielfach bestehen, aber auch längerfristige Kontinuitäten, die bis in die Weimarer Republik, in das Deutsche Kaiserreich und noch weiter zurück in die Geschichte reichten, waren  – oder wurden wieder – wirksam. Die Präsenz von und die Auseinandersetzung mit Vergangenheit waren in der Zeit nach 1945 daher keineswegs allein auf 1 Gerhard Stoltenberg, [Vorwort], in: Bundesministerium für wissenschaftliche Forschung, in: Deutsche Politik 1965, S. 305 f., hier S. 306. 2 Zum Bedeutungsgehalt und zur Verbreitung dieser ursprünglich aus dem litera­ rischen Feld stammenden Metapher vgl. Christoph Kleßmann, 1945  – welthistorische Zäsur und »Stunde Null«, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 15. 10. 2010, docupedia.de/zg/klessmann_1945_v1_de_2010 [20. 11. 2021], S. 5–7.  – Generell zur west- bzw. bundesdeutschen Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg bis Anfang der 1970er Jahre vgl. v. a. Petra Weber, Getrennt und doch vereint. Deutsch-deutsche Geschichte 1945–1989 /90, Berlin 2020, Ulrich Herbert, Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, München 2014, S. 549–883.

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die Epoche des Nationalsozialismus bezogen, wenngleich der NS-Zeit besonderes Gewicht zukam. In diesem Spannungsfeld stand auch der Wiederaufbau staatlicher Institutionen in beiden deutschen Staaten. In Geschichtswissenschaft und politischer Öffentlichkeit wurde in jüngster Zeit intensiv über die Frage diskutiert, in welchem Maße sich die frühe Bundesrepublik und DDR auf ein durch die NS-Herrschaft politisch und moralisch belastetes Personal stützten und inwieweit und wie lange institutionelle und mentale Strukturen der nationalsozialistischen Epoche wirksam blieben. Diese Frage bildete auch den Impuls für die vorliegende Arbeit zum bundesdeutschen Atom- und Forschungsministerium.3 Die Untersuchung wurde im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung angefertigt und baut auf einer 2015 publizierten Machbarkeitsstudie auf.4 Die Leitfrage nach Vergangenheitsbezug und Neubeginn, welche die spezifische Frage nach den NS-Belastungen einschließt, steht im Mittelpunkt unserer Analyse. Der Untersuchungszeitraum im engeren Sinne beginnt 1955, dem Jahr der Gründung des Bundesministeriums für Atomfragen. Er reicht bis ins Jahr 1972, als ein markanter politischer und gesellschaftlicher Umbruch im Gange war. Die Ende 1972 vorgenommene Teilung des damaligen Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft in ein Ressort für Bildung und Wissenschaft und ein Ressort für Forschung und Technologie steht auch in diesem Kontext. Über den engeren Untersuchungszeitraum hinaus sind – insbesondere in biographischer Hinsicht – immer wieder auch Rückblenden erforderlich. Umgekehrt ist vereinzelt der Blick auch zeitlich nach vorne zu richten, etwa wenn es um die spätere Thematisierung der NS-Belastungen von Personen geht, die in der Zeit von 1955 bis 1972 dem Atom- und Forschungsministerium in führender Position angehörten.

3 Im Folgenden ist für die Zeit bis 1962 meist generalisierend vom »Atomministerium« die Rede, für die Zeit ab 1962 vom »Atom- und Forschungsministerium«, wobei die kurze, in den Untersuchungszeitraum fallende Phase erster Zuständigkeiten im Bildungsbereich (1969–1972) subsumiert wird. 4 Thomas Raithel, Machbarkeitsstudie: Vorgeschichte des Bundesministeriums für Bildung und Forschung bzw. seiner Vorgängerinstitutionen, unter Mitarbeit von Margaretha Bauer, Irina Stange und Malte Müller, Ms. München 2015. An einzelnen Stellen erfolgen auch wörtliche Übernahmen.

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1. Das Atom- und Forschungsministerium Gut zehn Jahre nach dem Ende des NS-Regimes und knapp sechseinhalb Jahre nach Entstehung der Bundesrepublik Deutschland wurde im Oktober 1955 das Bundesministerium für Atomfragen gegründet. Zum ersten »Atomminister« bestimmte Bundeskanzler Konrad Adenauer den aufstrebenden 40-jährigen CSU-Politiker Franz Josef Strauß, der bereits seit 1953 ein  – extrem kleines, fachlich unspezifisches und primär koalitionspolitisch motiviertes – »Bundesministerium für besondere Aufgaben« geleitet hatte. Das neue Ministerium bezog ein ehemaliges Hotel am Rheinufer in Bad Godesberg. Der 1895 erbaute »Godesberger Hof«, sein ursprünglicher Name war »Kaiserkrone« gewesen, hatte den wilhelminischen Charakter infolge eines von den Architekten Eugen Blanck und Walter Kratz konzipierten Umbaus in den Jahren 1949 und 1950 völlig verloren. Er wirkte nun wie ein funktionaler, »amerikanisierter« Neubau der frühen Bundesrepublik (s. Titelbild und Abb. 1).5 Nachdem das Gebäude zeitweise der US-amerikanischen Hochkommission als »Gästehaus« gedient hatte,6 fiel es 1954 in Bundesbesitz. Bis zum Umzug in ein neu errichtetes Hochhaus im Jahr 19687 war das Atom- und Forschungsministerium an diesem Ort untergebracht  – ein durchaus symbolträchtiger Ort, der Vergangenheit und Neubeginn auch in seiner Baugeschichte verkörperte. Die Gründung eines Atomministeriums, mitten in der zweiten Legislaturperiode des Deutschen Bundestags, erklärt sich zum einen aus der deutschlandpolitischen Situation des Jahres 1955. Am 5. Mai 1955 waren die Pariser Verträge in Kraft getreten, die im Oktober 1954 zwischen den westlichen Siegermächten, einigen weiteren westlichen Staaten und der Bundesrepublik geschlossenen worden waren. Der westdeutsche Staat erhielt nun weitgehende Souveränitätsrechte, und er gewann damit auch auf dem Feld der Atomforschung und Atompolitik, auf dem bislang massive alliierte Restriktionen geherrscht hatten, neuartige Spielräume. Schon seit längerem hatte es innen- bzw. wissenschaftspolitische Bemühungen ge5 Zur Geschichte des Gebäudes vgl. H. S. [Herbert Strack], Das Hotel Godesberger Hof am Rheinufer, in: Godesberger Heimatblätter 33 (1995), S. 131–133; Helmut Vogt, Wächter der Bonner Republik. Die Alliierten Hohen Kommissare 1949– 1955, Paderborn u. a. 2004, Bildteil, Nr. 11 f.; ebenda eine fotographische Gegenüberstellung der wilhelminischen Hotelrückseite und des Aussehens nach dem Umbau sowie die Wendung »›Amerikanisierung‹ eines Hotels«. 6 Vgl. ebenda, S. 103. 7 Zum Neubau im Bonner Tulpenfeld vgl. unten S. 198 f. (mit Abb. 5).

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Abb. 1: Das Bundesministerium für Atomfragen im ehemaligen Hotel »Godes­ berger Hof«, Rheinseite 1956 (zur Vorderseite s. Titelbild).

geben, diese Spielräume auch zu nutzen und eine eigenständige bundesdeutsche Atompolitik zu entwickeln. Dass daraus auch ein eigenes Ministerium entstehen sollte, hing auch mit den trans- und internationalen Kontexten zusammen. Zum anderen machte sich Mitte der 1950er Jahre auch in der politischen und gesellschaftlichen Elite der Bundesrepublik eine transnationale Atom­ euphorie breit. Einen wichtigen Impuls hierfür gab die von den Vereinten Nationen organisierte erste Genfer Atomkonferenz, an der im August 1955 etwa 1.500 Vertreter von über 70 Staaten teilnahmen. Darunter befand sich auch eine bundesdeutsche Delegation, angeführt vom Entdecker der Uranspaltung, dem Kernchemiker und Nobelpreisträger Otto Hahn.8 8 Vgl. Joachim Radkau, Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft 1945– 1975. Verdrängte Alternativen in der Kerntechnik und der Ursprung der nuklearen Kontroverse, Reinbek bei Hamburg 1983, S. 82 f.; Wolfgang D. Müller, Geschichte der Kernenergie in der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1: Anfänge und Weichenstellungen, Stuttgart 1990, S. 10; Peter Fischer, Atomenergie und staat­ liches Interesse. Die Anfänge der Atompolitik in der Bundesrepublik Deutschland 1949–1955, Baden-Baden 1994, S. 232–237. Vgl. auch den Zeitzeugenbericht von

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Wie bereits in der berühmten »Atoms for Peace«-Rede des US-amerikanischen Präsidenten Dwight D. Eisenhower im Dezember 19539 war die zivile Nutzung der Kernenergie ein zentrales Thema. Die »magic words ›atomic energy‹«, von denen 1955 der Konferenzbericht eines US-amerikanischen medizinischen Fachblatts sprach,10 gewannen von Genf aus weltweite Resonanz. Dabei ging es nicht allein um die energiepolitischen Potentiale der Nukleartechnologie, sondern auch um ihre industriellen und medizinischen Anwendungsmöglichkeiten. Die Fortschritte, die insbesondere die »Atommächte« USA, Sowjetunion, Frankreich und Großbritannien seit Ende des Zweiten Weltkriegs (auch) im Bereich der zivilen Nutzung der Kernenergie erzielt hatten, ließen auf bundesdeutscher Seite die Furcht vor einem der eigenen wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung schädlichen »Rückstand« wachsen.11 Dies wiederum erhöhte den atompolitischen Druck auf die Regierung Adenauer. Inwieweit dabei auch militärische Hintergedanken eine Rolle spielten, wird in der Forschung weiterhin kontrovers beurteilt.12 Auf den innenpolitisch und insbesondere auch innerhalb des Bundeskabinetts umstrittenen Gründungsprozess des Atomministeriums wird an späterer Stelle (Kap. II.2) genauer eingegangen, ebenso auf die sukzessive und nicht immer geradlinige fachliche Erweiterung hin zu einem Forschungs- und ansatzweise Ende der 1960er Jahre auch Bildungsressort (Kap. II.3). Diese Entwicklung spiegelte sich in den wechselnden Namen des Ministeriums: »Bundesministerium (BM) für Atomfragen« 1955 bis 1957, »BM für Atomkernenergie und Wasserwirtschaft« 1957 bis 1961, »BM für Atomkernenergie« 1961 bis 1962, »BM für wissenschaftliche Forschung« 1962 bis 1969 und »BM für Bildung und Wissenschaft« 1969 bis

Karl Winnacker, Nie den Mut verlieren  – Erinnerungen an Schicksalsjahre der deutschen Chemie, Düsseldorf 21974, S. 307–313. 9 Zu Inhalt und Kontexten der Rede vgl. Fischer, Atomenergie und staatliches Interesse, S. 103–109; Müller, Geschichte, Bd. 1, S. 4–7; Christoph Wehner, Die Versicherung der Atomgefahr. Risikopolitik, Sicherheitsproduktion und Expertise in der Bundesrepublik Deutschland und den USA 1945–1986, Göttingen 2017, S. 56–58. 10 The Geneva Conference on Peaceful Uses of Atomic Energy, in: American Journal of Public Health and Nation’s Health 45 (1955), S. 1481–1482, hier S. 1481, www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles / PMC1623261 [15. 12. 2021]. 11 Müller, Geschichte, Bd. 1, S. 8, spricht von einem »›Rückstand-Schock‹«. Ausführlich zum Rückstandstopos vgl. unten S. 177–183. 12 Vgl. unten S. 69.

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1972, dem Ende unseres Untersuchungszeitraums, der auch mit der bis 1994 währenden Teilung des Ministeriums13 zusammenfällt. Das Atom- und Forschungsministerium der Jahre 1955 bis 1972 stellte in mehrfacher Hinsicht ein besonderes Ministerium dar: – Im internationalen Vergleich handelte es sich bei der Schaffung eines eigenen Ministeriums für Fragen der zivilen Nutzung der Kernenergie – sieht man von dem sowjetischen Ministerium für Nukleartechnik und Nuklearindustrie ab14 – weitgehend um einen singulären Vorgang. Analoge Aufgaben waren und sind in anderen Staaten eher im Rahmen breiter zugeschnittener Forschungs- und Energieministerien oder auf der Ebene hoher nationaler Behörden angesiedelt. – In institutionengeschichtlicher Perspektive ist der Umstand von Bedeutung, dass es im Gegensatz zu den meisten anderen bundesdeutschen Ressorts15 während der NS-Zeit keine unmittelbare ministerielle Vorgängerinstitution des Atomministeriums gegeben hat und angesichts des neuartigen fachlichen Schwerpunkts der zivilen Nutzung der Kernenergie auch nicht geben konnte. Erst wenn man den Fokus weiter fasst und  – entsprechend der Entwicklung des Ministeriums in den 1960er Jahren  – den breiteren Bereich der technisch-naturwissenschaftlichen Forschung betrachtet, lässt sich in den Jahren 1933 bis 1945 ein minis­ terieller Vorgänger erkennen, der fachlich gewisse Analogien aufweist. Das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung (RMWEV) hatte allerdings einen sehr viel weiteren Zuschnitt.16 Eine auf Technik- und Naturwissenschaften bezogene Forschungspolitik besaß hier lediglich einen begrenzten, wenn auch nicht zu unterschätzenden Stellenwert. Obwohl das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung 1939 die Konzentration der frühen deutschen Atomforschung im »Uranverein« initiiert hatte, konnte es auf diesem Feld keine bleibende Zuständigkeit erlangen. In personeller Hinsicht 13 Neben dem BM für Bildung und Wissenschaft entstand das BM für Forschung und Technologie. 14 Dieses Ministerium besaß allerdings eine »militärisch-zivile Doppelfunktion«; Stefan Guth, Atomstaat Russland, in: Religion und Gesellschaft in Ost und West 4 (2016), S. 24–27, hier S. 24. 15 Dies gilt v. a. für die klassischen Ressorts wie Inneres, Äußeres, Finanzen, Wirtschaft etc. Weitere »vorgängerlose« Ministerien waren in den 1950er Jahren z. B. das Vertriebenenministerium und das Ministerium für Gesamtdeutsche Fragen. 16 Vgl. Anne C. Nagel, Hitlers Bildungsreformer. Das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung 1934–1945, Frankfurt  a. M. 2012. Genauer zum RMWEV vgl. unten S. 46–54.

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lässt sich zwischen dem »Reichserziehungsministerium« (so die zeit­ genössisch geläufige Titulierung) und dem bundesdeutschen Atom- und Forschungsministerium keinerlei Kontinuität erkennen. – Im Vergleich zu anderen bundesdeutschen Ministerien der 1950er Jahre war das Atomressort eine Spätgründung. Dies ist in personalpolitischer Hinsicht von erheblicher Bedeutung, da das Atom- und Forschungs­ ministerium bis in die frühen 1960er Jahre einen Großteil seiner neuen Beamten von anderen Bundesministerien übernahm. – Eine weitere personalpolitische Besonderheit resultierte aus dem technisch-naturwissenschaftlichen Ansatz des Ministeriums, der sich mit der Erweiterung seiner Zuständigkeiten auf die Raumfahrt Anfang der 1960er Jahre noch verstärkte: Neben Juristen stellten auch Techniker und Naturwissenschaftler einen signifikanten Anteil am (sehr lange Zeit ausschließlich männlichen) Führungspersonal.17 – Zuletzt ist noch auf den besonders starken und expliziten Zukunfts­ bezug zu verweisen, den in den 1950er und 1960er Jahren kein anderes Bundesministerium aufwies. Der Ausbau der zivilen Nutzung der Atom- bzw. Kernenergie,18 mit der sich weltweit geradezu utopische Erwartungen verbanden, galt bundesdeutschen Politikern parteiübergreifend als zentrale Aufgabe für die nationale Zukunft. Auch die ministerielle Zuständigkeit für die Weltraumforschung und die – noch kaum existente – Raumfahrt besaß in den 1960er Jahren eine starke Zukunftskonnotation. »Für die Zukunft des deutschen Volkes«, diese Formel 17 Die einzige Frau, die nach den unten S. 40 erläuterten Kriterien zur näher betrachteten Untersuchungsgruppe gehört, ist die von 1969 bis 1972 im Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft amtierende parlamentarische Staatssekretärin Hildegard Hamm-Brücher. Die erste Frau, die ein Referat leitete, war seit Mai 1970 Renate Musso; wegen ihres Geburtsjahrgangs (1932) gehört diese allerdings nicht zur Untersuchungsgruppe. 18 Beide Begriffe sowie andere Komposita von »Atom-« und »Kern-« wurden zeitgenössisch zunächst weitgehend synonym verwendet; zudem war bald – wie von 1957 bis 1962 auch im Namen des Ministeriums – die Verbindung »Atomkernenergie« üblich. Die im Fachdiskurs zu registrierende Bevorzugung von »Kernenergie« – die wohl auch dazu diente, die Nähe zum Begriff »Atombombe« zu vermeiden  – lässt sich in unserem Quellenmaterial seit Ende der 1950er Jahre erkennen. In den 1970er Jahren wurde diese Entwicklung, die sich auch als ­ ­»Verfachlichung des Sprachgebrauchs« kennzeichnen lässt, von der Atomlobby verstärkt. Vgl. Matthias Jung, Öffentlichkeit und Sprachwandel. Zur Geschichte des Diskurses über die Atomenergie, Opladen 1994, S. 82–87, Zitat S. 86. – Die vorliegende Untersuchung verwendet »Atom-« und »Kern-« ohne semantische Differenzierung parallel.

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prägte Mitte der 1960er Jahre die ministeriellen Vorworte für die Jahresberichte des Ministeriums.19 Die Zukunftsorientierung stand in einem markanten und vielleicht auch dialektischen Gegensatz zur vielfältigen Präsenz der Vergangenheit, für die der eben zitierte traditionelle Volksbegriff, der weit in die Zeit vor 1933 zurückreicht,20 ein Beleg unter vielen ist. Präsent waren auch die Folgen der NS-Zeit, wenngleich oft eher in impliziter, nicht öffentlich thematisierter Form. Das Spannungsverhältnis zwischen Vergangenheit, Gegenwart und (gedachter bzw. projektierter) Zukunft bildet insgesamt einen wichtigen Aspekt unseres Themenfeldes (vgl. Kap. III). Zu Beginn dieser Arbeit ist schließlich auch darauf hinzuweisen, dass das Atom- und Forschungsministerium der 1950er und 1960er Jahre in seiner politischen Bedeutung nicht überschätzt werden darf. Diese Feststellung mag im Rahmen einer Studie, die sich ausführlich mit diesem Ministerium beschäftigt, überraschend klingen. Sie ist aber notwendig, um falschen Erwartungen, die sich mit unserer Studie verbinden könnten, entgegenzu­ treten. Die Fragen nach dem generellen Stellenwert der Atompolitik in der frühen Bundesrepublik, nach der Bedeutung militärischer Überlegungen oder gar Ziele und nach diesbezüglichen Kontinuitätslinien aus der NS-Zeit lassen sich mit Blick auf das Atom- und Forschungsministerium kaum beantworten. Dieses Ministerium war in seinem Agieren ein relativ kleines und fachlich beschränktes Ressort. Seine Hauptenergie war darauf gerichtet, der bundesdeutschen Atomforschung und Atomwirtschaft sowie dann in den 1960er Jahren weiteren »Zukunftstechnologien« den für notwendig gehaltenen Anschub zu geben, gewisse – damals auf sehr niedrigem Niveau gedachte  – Sicherheitsmaßnahmen zu gewährleisten und gleichzeitig für eine Akzeptanz in der Bevölkerung zu werben. Ein politisches Grundproblem lag darin, dass die Grenzen zwischen ­ziviler und militärischer Atomwirtschaft fließend sind und dass der Schritt von der zivilen zur militärischen Nutzung der Kernenergie zumindest als Option ab einer bestimmten Größenordnung kaum auszuschließen ist. Bei den führenden Atommächten der 1950er und 1960er Jahre – den Vereinigten Staaten, der Sowjetunion und Großbritannien – war die Vermengung beider Felder ohnehin offenkundig, zumal der technologische 19 Vgl. unten S. 171 f. 20 Zur Geschichte des komplexen Volksbegriffs und insbesondere zu seiner dominant werdenden ethnisch-ganzheitlichen Bedeutung vgl. Jörn Retterath, »Was ist das Volk?« Volks- und Gemeinschaftskonzepte der politischen Mitte in Deutschland 1917–1924, Berlin 2016, S. 33–40.

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Impuls dort, ebenso wie einst im Uranprojekt des NS-Regimes, von den militärischen Möglichkeiten ausgegangen ist. Zur Beurteilung der frühen bundesdeutschen Atompolitik einschließlich ihrer außenpolitischen Instrumentalisierung muss der Betrachtungsrahmen daher sehr viel weiter als in unserer Studie gespannt werden. Einzubeziehen wären – wie dies in den neueren Arbeiten von Geier und Hanel auch geschieht21  – das Bundesverteidigungsministerium, das Auswärtige Amt und das Bundeskanzleramt bzw. die Person Adenauers. Dies wäre dann aber ein anderes Thema.

2. Forschungskontexte und Forschungsfragen Die Literaturbasis, auf die sich die vorliegende Arbeit stützen kann, ist in kontextueller Hinsicht überaus breit, im eigentlichen thematischen Kernbereich allerdings sehr eng. Die Institutionen- und Wissenschaftsgeschichte des Atom- und Forschungsministeriums ist bislang nur unzureichend erforscht. Einen kurzen, immer noch hilfreichen Abriss über die Entwicklung des Ministeriums bis Ende der 1960er Jahre hat bereits 1969 Johannes Sobotta gegeben, der damals selbst Referent im damaligen Bundesministerium für wissenschaftliche Forschung war.22 Inzwischen besitzt seine Arbeit bereits selbst den Charakter einer historischen Quelle. Danach dauerte es Jahrzehnte, bis sich erste Studien mit dem Ministerium auseinandersetzten. Die sozialwissenschaftliche Arbeit von Andreas Stucke aus dem Jahr 1993 zu System, Struktur und Institutionen der bundesdeutschen Forschungspolitik konzentriert sich auf das BMBF und seine Vorgängerinstitutionen, bleibt jedoch in Vielem sehr abstrakt und geht nicht auf die Frage langfristiger Kontinuitäten deutscher Forschungspolitik ein.23 Eine Synthese der bisherigen Kenntnisse über die Entwicklung und Politik des Atom- bzw. Forschungsministeriums vermittelt ein Sam21 Stephan Geier, Schwellenmacht. Bonns heimliche Atomdiplomatie von Adenauer bis Schmidt, Paderborn 2013; Tilmann Hanel, Die Bombe als Option. Motive für den Aufbau einer atomtechnischen Infrastruktur in der Bundesrepublik bis 1963, Essen 2015. 22 Johannes Sobotta, Das Bundesministerium für wissenschaftliche Forschung, Bonn 1969. Dr. phil. Johannes Sobotta (22. 10. 1918–?) gehörte dem Ministerium seit 1964 an und war zum Zeitpunkt der Publikation Leiter des Referats II A 6 »Gesamtdeutsche Wissenschaftsfragen«. Quellengrundlage Sobotta siehe Anhang 2. 23 Andreas Stucke, Institutionalisierung der Forschungspolitik. Entstehung, Entwicklung und Steuerungsprobleme des Bundesforschungsministeriums, Frankfurt a. M. 1993.

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melband, der 2005 zum 50-jährigen Gründungsjubiläum von Peter Weingart und Niels C. Taubert herausgegeben wurde.24 Die dort publizierten Beiträge bieten Schlaglichter auf die Entwicklung und Aufgabenfelder des Ressorts.25 Eine wissenschaftliche Gesamtgeschichte des Ministeriums ist bislang nicht vorgelegt worden – und auch unsere Studie mit ihrer spezifischen Fragestellung hat nicht die Aufgabe, dies zu leisten. Seit den 1980er Jahren wurde die Rolle des Atom- und Forschungsministeriums auch im Rahmen von breiter angelegten sozial- und geschichtswissenschaftlichen Studien zur Wirtschafts-, Wissenschafts- und Forschungsgeschichte der Bundesrepublik untersucht.26 Dies gilt insbesondere für die Literatur zur Geschichte der bundesdeutschen Atomwirtschaft und Atompolitik, in der das Atom- und Forschungsministerium als wichtiger Akteur Beachtung fand. Hervorgehoben seien die größeren Studien von Joachim Radkau zur Atomwirtschaft (1983), von Wolfgang Müller zur Geschichte der Kernenergie in den 1950er und 1960er Jahren (1990 /95), von Peter Fischer zur Atompolitik bis 1955 und damit auch detailliert zum Gründungsprozess des Atomministeriums (1994) und von Detlev Möller zur Endlagerungsfrage (2009) sowie die beiden neueren Arbeiten zur bundesdeutschen Atompolitik der 1950er bis 1970er Jahre von Stephan Geier (2013) und Tilmann Hanel (2015), die auch auf die Frage ihrer machtpolitischen und militärischen Funktionen eingehen.27 Spezi24 Peter Weingart / Niels C. Taubert (Hrsg.), Das Wissensministerium. Ein halbes Jahrhundert Forschungs- und Bildungspolitik in Deutschland, Weilerswist 2006. 25 Vgl. v. a. dies., Das Bundesministerium für Bildung und Forschung, in: dies. (Hrsg.), Das Wissensministerium, S. 11–32; Joachim Radkau, Der atomare Ursprung der Forschungspolitik des Bundes, ebenda, S. 33–63; Johannes Weyer, Die Raumfahrtpolitik des Bundesforschungsministeriums, ebenda, S. 64–91; Ernst-Joachim Meusel, Die Förderung der Großforschung durch das BMBF, ebenda, S. 144–153; Reimar Lüst, Zur Forschungspolitik des BMBF im Bereich der Raumfahrt, ebenda, S. 154–157. 26 Thomas Stamm, Zwischen Staat und Selbstverwaltung. Die deutsche Forschung im Wiederaufbau 1945–1965, Köln 1981; Margit Szöllösi-Janze, Geschichte der Arbeitsgemeinschaft der Großforschungseinrichtungen, 1958–1980, Frankfurt a. M. 1990. 27 Radkau, Aufstieg und Krise; zeitlich weitergeführte, inhaltlich aber gekürzte Neufassung: ders./Lothar Hahn, Aufstieg und Fall der deutschen Atomwirtschaft, München 2013; Müller, Geschichte, Bd. 1; ders., Geschichte der Kernenergie in der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 2: Auf der Suche nach dem Erfolg. Die Sechziger Jahre, Stuttgart 1996; Fischer, Atomenergie und staatliches Interesse; Detlev Möller, Endlagerung radioaktiver Abfälle in der Bundesrepublik Deutschland. Administrativ-politische Entscheidungsprozesse zwischen Wirtschaftlichkeit und Sicherheit, zwischen nationaler und internationaler Lösung,

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ell zur atomaren Exportpolitik der 1970er Jahre liegt jetzt die Studie von Dennis Romberg vor.28 Die historiographische Literatur zur bundes­ deutschen Luft- und Raumfahrtforschung und -politik hat sich ebenfalls mit der Politik des Atom- und Forschungsministeriums befasst, so vor allem die zeitlich weitgefassten Monographien von Helmuth Trischler (1992) und Niklas Reinke (2004) sowie mehrere spezielle Aufsätze zur Rolle des Ministeriums in der Raumfahrtpolitik.29 Die Frage nach NS-Belastungen wird allerdings in keiner der genannten Arbeiten aufgegriffen. Neben der Literatur zur Atom- und Forschungspolitik bilden auch Arbeiten zur Institutionengeschichte der frühen Bundesrepublik eine wichtige Grundlage für die vorliegende Studie. Lange Zeit war diese Forschung ein eher unterentwickeltes zeitgeschichtliches Feld. Im Hinblick auf die Ausbildung der obersten Bundesorgane blieb die 1984 erschienene Überblickstudie von Udo Wengst lange Zeit das fundamentale Werk. 30 Dies änderte sich erst nach der Jahrtausendwende, als Bernhard Löffler 2002 eine umfangreiche Monographie zum frühen Bundeswirtschaftsministerium vorlegte, die in ihren prosopographischen Teilen auch der Frage Frankfurt a. M. 2009; Geier, Schwellenmacht; Hanel, Bombe. Zur Frühphase der bundesdeutschen Atompolitik vgl. zudem: Michael Eckert, Die Anfänge der Atompolitik in der Bundesrepublik Deutschland, in: VfZ 37 (1989), S. 115–143; Anselm Tiggemann, Die »Achillesferse« der Kernenergie in der Bundesrepublik Deutschland. Zur Kernenergiekontroverse und Geschichte der nuklearen Entsorgung von den Anfängen bis Gorleben, 1955 bis 1985, Lauf an der Pegnitz 2004. Einen deutsch-deutschen Überblick zur Entwicklung der Atomkraft im breiteren Kontext der Energiepolitik gibt jetzt Henning Türk, Treibstoff der Systeme. Kohle, Erdöl und Atomkraft im geteilten Deutschland, Berlin 2021, v. a. S. 65–84. Nicht mehr einbezogen werden konnte die Studie von Frank Uekötter, Atomare Demokratie. Eine Geschichte der Kernenergie in Deutschland, Stuttgart 2022. 28 Dennis Romberg, Atomgeschäfte. Die Nuklearexportpolitik der Bundesrepublik Deutschland 1970–1979, Paderborn 2020. 29 Helmuth Trischler, Luft- und Raumfahrtforschung in Deutschland, 1900–1970. Politische Geschichte einer Wissenschaft, Frankfurt a. M. – New York 1992; Niklas Reinke, Geschichte der deutschen Raumfahrtpolitik. Konzepte, Einflußfaktoren und Interdependenzen 1923–2002, München 2004. Daneben sind mehrere Aufsätze zu nennen: Andreas Stucke, Die Raumfahrtpolitik des Forschungsministeriums, in: Leviathan 20 (1992), S. 544–562; sowie Lüst und Weyer (s. Anm. 25). 30 Udo Wengst, Staatsaufbau und Regierungspraxis 1948–1953. Zur Geschichte der Verfassungsorgane der Bundesrepublik Deutschland, Düsseldorf 1984; zur beamtenrechtlichen Dimension vgl. ders., Beamtentum zwischen Reform und Tradition. Beamtengesetzgebung in der Gründungsphase der Bundesrepublik Deutschland 1948–1953, Düsseldorf 1988; zu den größeren Kontexten vgl. auch Kurt G. A. Jeserich / Hans Pohl / Georg-Christoph von Unruh (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 5: Die Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1987.

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nach personellen NS-Belastungen nachging.31 2016 hat Löffler diesen Ansatz im Rahmen einer breit angelegten Geschichte des Reichs- und Bundeswirtschaftsministeriums vertieft.32 Nachdem bereits seit einiger Zeit die Kontinuität von NS-belasteten Eliten sowie die NS-Vergangenheit von Unternehmen diskutiert worden war,33 rückte in jüngster Zeit die »Aufarbeitung« der nationalsozialis­ tischen Vorgeschichte und der fortwirkenden NS-Belastungen von Ministerien, Parlamenten und anderen staatlichen Institutionen auf Bundes-, Landes- sowie regionaler und kommunaler Ebene in den Mittelpunkt des zeitgeschichtlichen Interesses. Dies verband sich komplementär mit einer Geschichte der bundesdeutschen »Demokratisierung«.34 Bundes31 Bernhard Löffler, Soziale Marktwirtschaft und administrative Praxis. Das Bundeswirtschaftsministerium unter Ludwig Erhard, Stuttgart 2002, Abschnitt C: »Das Personal des Bundeswirtschaftsministeriums«, S. 122–216. 32 Ders., Personelle und institutionelle Strukturen des Bundeswirtschaftsministe­ riums 1945 /49 bis 1990, in: Abelshauser, Werner (Hrsg.), Das Bundeswirtschaftsministerium in der Ära der Sozialen Marktwirtschaft. Der deutsche Weg der Wirtschaftspolitik, Berlin – Boston 2016, S. 95–192. 33 Zur Elitenkontinuität vgl. z. B. Wilfried Loth / Bernd A. Rusinek (Hrsg.), Verwandlungspolitik. NS-Eliten in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft, Frankfurt a. M. 1998; andere, eher die mentalen Brüche betonende Akzente setzt Lothar Gall, Elitenkontinuität in Wirtschaft und Wissenschaft. Hindernis oder Bedingung für den Neuanfang nach 1945? Hermann Josef Abs und Theodor Schieder, in: HZ 279 (2004), S. 659–676. Vgl. auch die Skizze von Ulrich Herbert, Wer waren die Nationalsozialisten? München 22021, S. 241–261, der den fortbestehenden Forschungsbedarf betont (ebenda, S. 243). – Als Beispiel für eine entsprechende Unternehmensgeschichte sei genannt: Jürgen Finger / Sven Keller / Andreas Wirsching, Dr. Oetker und der Nationalsozialismus. Geschichte eines Familienunternehmens 1933–1945, München 2013. 34 Ein aktuelles Resümee, das »viele[n] Studien aus dem Bereich der Behördenforschung« den »unreflektierten Erzählmodus einer demokratie- und erinnerungspolitischen Fortschrittsgeschichte« bescheinigt, bietet Annette Weinke, »Alles noch schlimmer als ohnehin gedacht«? Neue Wege für die Behördenforschung, in: Zeitgeschichte-online, August 2020, zeitgeschichte-online.de/kommentar/allesnoch-schlimmer-als-ohnehin-gedacht [20. 11. 2021]. Einen detaillierten Überblick bis ins Jahr 2016 geben Christian Mentel / Niels Weise, Die zentralen deutschen Behörden und der Nationalsozialismus. Stand und Perspektiven der Forschung, München – Potsdam 2016; aktualisierte Kurzfassungen: dies., Die NS-Vergangenheit deutscher Behörden, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 67 (14–15 /2017), S. 16–21; Niels Weise, Mehr als »Nazizählerei«. Die Konjunktur der behördlichen Aufarbeitungsforschung seit 2005, in: Brechtken, Magnus (Hrsg.), Aufarbeitung des Nationalsozialismus. Ein Kompendium, Göttingen 2021, S. 386–404. Im ­Hinblick auf Bundesländer, regionale Institutionen und Kommunen seien exemplarisch angeführt: Uwe Danker / Sebastian Lehmann-Himmel, Landespolitik mit

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politische Impulse spielten hierfür eine wichtige Rolle. Inhaltlich ist zu unterscheiden zwischen Forschungen, die sich mit Institutionen der NSZeit beschäftigen, und solchen, die sich der frühen Bundesrepublik und den dort fortwirkenden NS-Belastungen widmen. In einigen wenigen Forschungsprojekten werden beide Aspekte auch verbunden. Die frühe Bundesrepublik bildet bislang den zeitlichen Schwerpunkt der Aufarbeitungsforschung, wobei der Akzent primär auf Fragen der personellen NSBelastung und der behördlichen Personalpolitik liegt. Entsprechende Studien wurden bislang in der Regel im organisatorischen Rahmen von Auftragsforschung betrieben, was in methodischer und wissenschaftsethischer Hinsicht durchaus kritisch diskutiert wird.35 Schrittmacher auf der Ebene der Bundesministerien war die umstrittene Studie zum Auswärtigen Amt in der NS-Zeit und in der Bundesrepublik, die im Jahr 2010 von einer internationalen Historikergruppe (Eckart Conze, Norbert Frei, Peter Hayes und Moshe Zimmermann) veröffentlicht wurde.36 Seither sind vier weitere Arbeiten publiziert worden, die Vergangenheit. Geschichtswissenschaftliche Aufarbeitung der personellen und strukturellen Kontinuität in der schleswig-holsteinischen Legislative und Exekutive nach 1945, Husum 2017; Nadine Freund, Teil der Gewalt. Das Regierungspräsidium Kassel und der Nationalsozialismus, Marburg 2017; Sarah Wilder / Alexander Cramer / Dirk Stolper, Marburger Rathaus und Nationalsozialismus. Belastung und Reintegration – Die NS-Vergangenheit der Mitglieder der Marburger Stadtverordnetenversammlung und des Magistrats 1945 bis 1989, Marburg 2018; Philipp Kratz, Eine Stadt und die Schuld. Wiesbaden und die NS-Vergangenheit seit 1945, Göttingen 2019; Uwe Danker (Hrsg.), Geteilte Verstrickung: Elitenkontinuitäten in Schleswig-Holstein, 2 Bde., Husum 2021. 35 Vgl. die abwägende Diskussion in: Frank Bajohr / Johannes Hürter, Auftrags­ forschung »NS-Belastung«. Bemerkungen zu einer Konjunktur, in: Bajohr, Frank / Doering-Manteuffel, Anselm / Kemper, Claudia / Siegfried, Detlef (Hrsg.), Mehr als eine Erzählung. Zeitgeschichtliche Perspektiven auf die Bundesrepublik, Göttingen 2016, S. 221–233; deutlich kritischer: Christian Mentel, Der kritische Blick auf sich selbst. Zur Verantwortung der historischen Zunft in der Behördenforschung, in: Böick, Marcus / Schmeer, Marcel (Hrsg.), Im Kreuzfeuer der Kritik. Umstrittene Organisationen im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2020, S. 139–161. 36 Eckart Conze / Norbert Frei / Peter Hayes / Moshe Zimmermann, Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik, München 22010. Vgl. zur Diskussion Martin Sabrow / Christian Mentel (Hrsg.), Das Auswärtige Amt und seine umstrittene Vergangenheit. Eine deutsche Debatte, Frankfurt a. M. 2014; zusammenfassende Analysen in: Magnus Brechtken, Mehr als Historikergeplänkel. Die Debatte um »Das Amt und die Vergangenheit«, in: VfZ 63 (2015), S. 59–91; Christian Mentel, Die Debatte um »Das Amt und die Vergangenheit« und ihre Folgen, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 6. 1. 2018, docupedia.de/zg / Mentel_debatte_amt_v1_de_2018 [20. 11. 2021].

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sich dem Bundesministerium der Justiz (Manfred Görtemaker und Christoph Safferling, 2016),37 dem Bundesministerium des Innern (Hrsg. Frank Bösch und Andreas Wirsching, 2018),38 dem Reichsarbeitsministerium (Hrsg. Alexander Nützenadel 2017)39 und dem Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (Hrsg. Horst Möller u. a. 2020)40 widmen. Forschungen zum Gesundheits-41, Verkehrs-42 und Vertriebenenministerium43 sind im Gange bzw. noch nicht in Buchform erschienen. Obwohl das Bundesministerium der Verteidigung zweifellos eines der vergangen37 Manfred Görtemaker / Christoph Safferling, Die Akte Rosenburg. Das Bundes­ ministerium der Justiz und die NS-Zeit, München 2016. 38 Frank Bösch / Andreas Wirsching (Hrsg.), Hüter der Ordnung. Die Innenministerien in Bonn und Ost-Berlin nach dem Nationalsozialismus, Göttingen 2018. 39 Alexander Nützenadel (Hrsg.), Das Reichsarbeitsministerium im Nationalsozialismus. Verwaltung  – Politik  – Verbrechen, Göttingen 2017. Aus dem Projekt zum Reichsarbeitsministerium gingen auch die Studien von Swantje Greve, Das »System Sauckel«. Der Generalbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz und die Arbeitskräftepolitik in der besetzten Ukraine 1942–1945, Göttingen 2019; Alexander Klimo, Im Dienste des Arbeitseinsatzes. Rentenversicherungspolitik im »Dritten Reich«, Göttingen 2018, und Henry Marx, Die Verwaltung des Ausnahmezustands. Wissensgenerierung und Arbeitskräftelenkung im Nationalsozialismus, Göttingen 2019 hervor. 40 Horst Möller/Joachim Bitterlich/Gustavo Corni/Friedrich Kießling/Daniela Münkel/Ulrich Schlie (Hrsg.), Agrarpolitik im 20.  Jahrhundert. Das Bundes­ ministerium für Ernährung und Landwirtschaft und seine Vorgänger, Berlin  – Boston 2020. 41 Vgl. die Homepage: https://www.ifz-muenchen.de/forschung/ea/forschung/ kontinuitaeten-und-neuanfaenge-nach-dem-nationalsozialismus-das-bundesministerium-fuer-gesundheitswesen [20. 11. 2021]. 42 Vgl. die Homepage: www.ifz-muenchen.de/aktuelles/themen/das-deutsche-verkehrswesen/ [20. 11. 2021]. Die Vorstudie ist online: Christian Packheiser, Auf­ arbeitung der Geschichte des Bundesverkehrsministeriums (BVM) und des Mi­ nisteriums für Verkehrswesen (MfV) der DDR hinsichtlich Kontinuitäten und Transformationen zur Zeit des Nationalsozialismus, 2018, www.ifz-muenchen. de/fileadmin/user_upload / Forschung / BVM/Vorstudie_BMVI_IfZ.pdf [20. 11. 2021]. Demnächst wird eine Projektnotiz erscheinen: Heike Amos / Bernd Kreuzer / Christian Packheiser / Stefanie Palm / Niels Weise, Das deutsche Verkehrswesen: Kontinuitäten und Transformationen zwischen NS-Staat, Bundes­ republik und DDR. Ein Forschungsprojekt des Instituts für Zeitgeschichte, in: VfZ 70 (2022). 43 Vgl. die Homepage: www.geschichte-vertriebenenministerium.de/ [20. 11. 2021], sowie Jan Ruhkopf, Tagungsbericht: NS-Belastung zentraler deutscher Behörden. Das Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte 1949–1969, 19. 1. 2018–20. 1. 2018 Tübingen, in: H-Soz-Kult, 12. 3. 2018, www. hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-7596 [20. 11. 2021].

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heitspolitisch interessantesten Ressorts darstellt, wurde ein Forschungsvorhaben zur Geschichte des Ministeriums erst im Jahr 2020 gestartet.44 Zwei Projekte zum Bundeskanzleramt haben den Rahmen der Auftragsforschung verlassen und finanzieren sich über eingeworbene Fördermittel der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.45 Im Hinblick auf Bundesoberbehörden sei auf die vorliegenden Studien zum Bundeskriminalamt, zum Verfassungsschutz und zur »Organisation Gehlen« verwiesen.46 Eine Aufarbeitungsforschung zur frühen Geschichte von DDR-Ministerien, die in vielerlei Hinsicht ganz andere Voraussetzungen und Strukturen als in der Bundesrepublik aufweisen, hat ebenfalls bereits

44 Das Projekt befasst sich mit der Geschichte des Ministeriums von 1955 bis 1990. Vgl. www.bundeswehr.de/de/organisation/weitere-bmvg-dienststellen/zentrummilitaergeschichte-sozialwissenschaften/zmsbw-forschung-nuebel-bmvg-3210500 [15. 10. 2021]. Bereits erschienen ist eine Studie zur Generalität: Thorsten Loch, Deutsche Generale 1945–1990. Profession – Karriere – Herkunft, Berlin 2021. – Angemerkt sei, dass mehrere wichtige Mitarbeiter des Atom- und Forschungs­ ministeriums wie Josef Brandl und Wolfgang Cartellieri über das Verteidigungs­ ministerium ins damalige BM für Atomfragen gelangt sind. Vgl. unten S. 319–323 und S. 345 f. 45 Das Projekt »Das Kanzleramt  – Bundesdeutsche Demokratie und NS-Vergan­ genheit« wird gemeinsam vom IfZ München  – Berlin und vom ZZF Potsdam ­bearbeitet. Vgl. Nadine Freund/Johannes Hürter/Eszter Kiss/Christian Mentel/ Thomas Raithel/Martin Sabrow/Thomas Schaarschmidt/Gunnar Take/Annette Vowinckel, Das Kanzleramt  – Bundesdeutsche Demokratie und NS-Vergan­ genheit. Ein Forschungsprojekt des Instituts für Zeitgeschichte und des LeibnizZentrums für Zeithistorische Forschung, in: VfZ 67 (2019), S. 307–319. Vgl. auch die beiden Projekthomepages: www.ifz-muenchen.de/aktuelles/themen/bundeskanzleramt/, und zzf-potsdam.de/de/forschung/linien/aufarbeitung-der-nachkriegsgeschichte-des-bundeskanzleramts [jeweils 22. 11. 2019]. Die Projektergebnisse werden 2023 in einem gemeinsamen Band vorgelegt.  – Das Projekt »Kontaktzone Bonn: Praktiken öffentlicher Kommunikation und Verlautbarung in der frühen bundesrepublikanischen Mediendemokratie (1949–1969)« ist an der Universität Siegen angesiedelt; vgl. die Homepage: www.uni-siegen.de/start/ news/forschungsnews/779319.html [20. 11. 2021]. 46 Imanuel Baumann / Herbert Reinke / Andrej Stephan / Patrick Wagner, Schatten der Vergangenheit. Das BKA und seine Gründungsgeneration in der frühen Bundesrepublik, Köln 2011; Constantin Goschler / Michael Wala, »Keine neue Gestapo«. Das Bundesamt für Verfassungsschutz und die NS-Vergangenheit, Reinbek bei Hamburg 2015¸ Agilolf Keßelring, Die Organisation Gehlen und die Verteidigung Westdeutschlands. Alte Elitedivisionen und neue Militärstrukturen, 1949–1953, Marburg 2014; Gerhard Sälter, Phantome des Kalten Krieges. Die ­Organisation Gehlen und die Wiederbelebung des Gestapo-Feindbildes »Rote Kapelle«, Berlin 2016.

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eingesetzt.47 Angemerkt sei, dass neben den großen Studien auch eine ganze Reihe von Tagungsbänden sowie zahlreiche Zeitschriftenaufsätze vorliegen, die sich mit der Thematik beschäftigen.48 Die bisherigen Studien zur Nachkriegsgeschichte bzw. zu den NS-Belastungen bundesdeutscher Institutionen besitzen methodisch ein hohes Maß an Pluralität, was auch zur Folge hat, dass der direkte Vergleich oft schwerfällt. Dennoch zeichnen sich im Hinblick auf die Bundesministerien bereits einige allgemeine Erkenntnisse ab: So stieg  – was keineswegs überraschend ist – der Anteil ehemaliger NSDAP-Mitglieder auf der Ebene des ministeriellen Führungspersonals im Laufe der 1950er Jahre auf Werte von 65 bis 80 Prozent; im Laufe der 1960er Jahre sanken die Prozentzahlen dann ab.49 Deutlich wird auch, dass bei der Rekrutierung von Führungspersonal fachliche Qualifikationen und persönliche Beziehungen in der Regel wichtiger waren als Bedenken wegen einer personellen NS-Belastung. Die bloße NSDAP-Mitgliedschaft bildete kein grundsätzliches Hindernis für den Eintritt in den bundesdeutschen Ministerialdienst.50 Unmittelbare personelle Kontinuitäten zwischen NS-Vorgängerministerien und den entsprechenden Bundesministerien waren  – mit Ausnahme des Auswärtigen Amtes – wohl eher schwach ausgeprägt. Allerdings stammte in den 1950er und 1960er Jahren ein hoher Anteil der bundesdeutschen Ministerialbeamten aus dem Öffentlichen Dienst der 47 So befassen sich Bösch / Wirsching (Hrsg.), Hüter der Ordnung, auch mit dem ­Innenministerium der DDR. Auch das erwähnte Projekt zum Verkehrsministerium umfasst ein Teilprojekt zur DDR. Zur vorliegenden Arbeit zum bundesdeutschen Atom- und Forschungsministerium ist eine »Parallelstudie« zur DDR in Arbeit. Vgl. dazu eine Vorstellung des Projekts unter: www.fu-berlin.de/sites/ fsed/projekte/forschung/index.html [20. 11. 2021]. 48 Vgl. z. B. Bundeskriminalamt Kriminalistisches Institut (Hrsg.), Der National­ sozialismus und die Geschichte des BKA. Spurensuche in eigener Sache. Ergebnisse – Diskussionen – Reaktionen. Dokumentation des Kolloquiums zum Forschungsbericht zur BKA-Historie vom 6.  April 2011, Köln 2011; Manfred Görtemaker / Christoph Safferling (Hrsg.), Die Rosenburg. Das Bundesministerium der Justiz und die NS-Vergangenheit – eine Bestandsaufnahme, Göttingen 2013; Jost Dülffer / Klaus-Dietmar Henke / Wolfgang Krieger / Wolf-Dieter Müller (Hrsg.), Die Geschichte der Organisation Gehlen und des BND 1945–1968: ­Umrisse und Einblicke. Dokumentation der Tagung am 2. Dezember 2013, Marburg 2014; Möller / Bitterlich / Corni / Kießling / Münkel / Schlie (Hrsg.), Agrarpolitik, S. 426. 49 Vgl. Görtemaker / Safferling, Akte Rosenburg, S. 260; Irina Stange, Das Bundesministerium des Innern und seine leitenden Beamten, in: Bösch / Wirsching (Hrsg.), Hüter der Ordnung, S. 55–121, hier S. 74 f. und 106. 50 Vgl. ebenda, S. 74, 86 f. und 120.

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NS-Zeit und teilweise noch der Weimarer Zeit.51 Der hohe Prozentanteil ehemaliger NSDAP-Mitglieder in bundesdeutschen Institutionen erklärt

sich demnach im Wesentlichen durch die generelle Kontinuität des Öffentlichen Dienstes von der NS-Zeit – als die Parteimitgliedschaft in diesem Sektor ab 1937 relativ häufig war – zur frühen Bundesrepublik. Die Kontinuitätslinien des Öffentlichen Dienstes in Deutschland, die sich in den diesbezüglichen Studien von der NS-Zeit zur frühen Bundesrepublik abzeichnen, lassen sich auch im Bereich der Verwaltungskultur erkennen, d. h. in den Grundzügen der Verwaltungspraxis und des inner­ halb der Institution herrschenden Selbstverständnisses.52 Zu Letzterem gehören auch das charakteristische Bewusstsein eines (vermeintlich unpolitischen) Expertentums sowie ausgeprägte fachliche Loyalitäten.53 Dem korrespondierte – darauf weisen vor allem auch die Studien zum Justizund zum Innenministerium hin – in den Institutionen der frühen Bundesrepublik ein »›kommunikatives Beschweigen‹ der Vergangenheit«, insbesondere im Hinblick auf die Vorgeschichte der eigenen Behörde.54 Eine schwer und sicher nur sehr vorsichtig und differenziert zu beantwortende Frage ist, ob und inwieweit die eben skizzierten Kontinuitäten sich auch im fachlichen Handeln bundesdeutscher Ministerien oder anderer hoher Behörden niedergeschlagen haben. Markante Befunde wie der 51 Vgl. Stefanie Palm / Irina Stange, Vergangenheiten und Prägungen des Personals des Bundesinnenministeriums, in: Bösch / Wirsching (Hrsg.), Hüter der Ordnung, S. 122–181, hier S. 124 und 129 f.; Conze/Frei/Hayes/Zimmermann, Das Amt, S. 492. 52 Diese abstrakte Definition des komplexen Begriffs der »Verwaltungskultur«, der seit einiger Zeit in den Verwaltungswissenschaften eine zentrale Kategorie darstellt, ist angelehnt an Frank Bösch / Andreas Wirsching, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Hüter der Ordnung, S. 13–26, hier S. 17. Generell zur Thematik vgl. Klaus König (Hrsg.), Grundmuster der Verwaltungskultur. Interdisziplinäre Diskurse über kulturelle Grundformen der öffentlichen Verwaltung, Baden-Baden 2014. 53 Vgl. Frieder Günther / Lutz Maeke, Unpolitischer Beamter versus »Berufsrevolutionär«. Traditionen, Ideen, Selbstverständnis, in: Bösch / Wirsching (Hrsg.), Hüter der Ordnung, S. 267–285, hier S. 267–272. Die primär fachlichen Loyalitäten von Luftfahrtexperten der NS-Zeit, die später führende Positionen in diversen bundesdeutschen Ministerien bekleideten, betonte Helmuth Trischler, NS-Vergangenheit und Zukunftsorientierung in der deutschen Luftfahrtforschung, unveröff. Vortrag auf dem Workshop »Zukunftsorientierung und NS-Vergangenheit. NS-Belastungen im bundesdeutschen Atom- bzw. Forschungsministerium, 1955–1972«, München 2017. 54 Görtemaker / Safferling, Akte Rosenburg, S. 177. Vgl. auch unten S. 162 zu dem von Hermann Lübbe geprägten Begriff des »kommunikativen Beschweigens«.

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Umstand, dass im Bundeskriminalamt dieselbe Person als »Zigeunerexperte« tätig war, die bereits in der NS-Zeit »als Beamter des Reichskriminalpolizeiamtes und regionaler Kripostellen an der genozidalen Politik gegenüber Sinti und Roma beteiligt gewesen« war,55 sind bislang die Ausnahme. Fachliche Kontinuitätslinien zeichnen sich am ehesten noch beim Bundeskriminalamt sowie beim Verfassungsschutz und bei der »Organisation Gehlen« ab.56 Eine Prägung des ministeriellen Verwaltungs­ handelns durch die nationalsozialistische Vergangenheit von Ministerial­ beamten oder durch eine spezifische NS-geprägte Ressorttradition ist nur schwer nachweisbar. Durchaus erkennbar ist hingegen im Bundesinnenministerium ein Agieren, das sich von einer nationalistischen Grundüberzeugung ableitet.57 Deren Wurzeln aber liegen weit vor der NS-Zeit. Die neuere bundesdeutsche »Aufarbeitungsforschung« hat neben inhaltlichen Ergebnissen auch eine Schärfung des methodischen Bewusstseins erbracht. Dies gilt zunächst für die Eruierung von ministeriellen Personalakten, die oftmals noch gar nicht an das Bundesarchiv abgegeben waren. Intensive Recherchen haben hier – auch im Falle des Atomund Forschungsministeriums – zu Aktenfunden geführt, die es ohne die jüngste Aufarbeitungsforschung nicht gegeben hätte. Viel diskutiert wurden in der Forschung die Konzentration auf personengeschichtliche Zugänge und die Erfassung »formaler NS-Belastungen« wie insbesondere die ehemalige Mitgliedschaft in der NSDAP. Einwände gegen eine »NaziZählerei« scheinen insofern nicht unberechtigt, als die Gefahr besteht, in statistischen Analysen steckenzubleiben, die letztlich wenig Aussagekraft und Innovationswert besitzen. Allerdings wurde mit Recht darauf hingewiesen, dass eine Mitgliedschaft in der NSDAP und ein hoher Prozentsatz ehemaliger Parteiangehöriger in bundesdeutschen Behörden keineswegs bagatellisiert werden sollten.58 Dies gilt umso mehr, als die Aufnahme in die NSDAP einer klaren Willensbekundung mit eigenständiger Unterschrift bedurfte und streng 55 Vgl. Baumann/Reinke/Stephan/Wagner, Schatten der Vergangenheit, S. 313. 56 Vgl. z. B. auch ebenda. S. 288–296, zum zeitweisen Fortleben des Konzepts vom »Berufs- und Gewohnheitsverbrecher«; zum Fortwirken des Feindbildes von der »Roten Kapelle« beim Verfassungsschutz und bei der Organisation »Gehlen« vgl. Goschler / Wala, »Keine neue Gestapo«, S. 112–122; Sälter, Phantome des Kalten Krieges. 57 Vgl. Günther / Maeke, Unpolitischer Beamter, S. 274 f. 58 Vgl. Bösch / Wirsching, Einleitung, S. 21. Vgl. auch Sven Felix Kellerhoff, Die Erfindung des Karteimitglieds. Rhetorik des Herauswindens: Wie heute die NSDAPMitgliedschaft kleingeredet wird, in: Benz, Wolfgang (Hrsg.), Wie wurde man Parteigenosse? Die NSDAP und ihre Mitglieder, Frankfurt a. M. 2009, S. 167–180.

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reguliert war, und es seit Mai 1933 massive Beschränkungen der Eintrittsmöglichkeiten gab.59 Insgesamt wuchs die Zahl der Parteimitglieder daher nur in begrenztem Maße: Im Jahr 1939 waren gut 8 Prozent der reichsdeutschen Bevölkerung und knapp 12 Prozent der altersmäßig und rasseideologisch zum Parteieintritt Berechtigten NSDAP-Mitglieder.60 Angesichts des geringen Anteils von weiblichen Mitgliedern – 1939 waren es rund 9 Prozent61 – bedeutet dies, dass der Anteil der in die Partei eingetretenen Männer bei rund 15 Prozent der männlichen Reichsbevölkerung und bei gut 20 Prozent der zum NSDAP-Eintritt berechtigten Männer lag.62 Eine Parteizugehörigkeit stellte somit auch für Männer insgesamt eher eine Ausnahme dar. Auch vor diesem Hintergrund scheint uns eine möglichst genaue Erfassung des Anteils ehemaliger NSDAP-Mitglieder für jede zu untersuchende Behörde der frühen Bundesrepublik unab­ dingbar. Darüber hinaus wird von uns bei der Untersuchung personaler NS-Belastungen in den Kapiteln IV und V auch ein individualisierender Zugang gewählt.63 Hier stellt sich ein weiteres methodisches Problem: Kann ein einzelner Beamter, dessen Biographie näher betrachtet wird, als repräsentativ für das untersuchte Ministerium gelten? Dass ein derartiger Repräsentativitätsanspruch angesichts einer komplexen Sozial- und Altersstruktur des ministeriellen Führungspersonals und vor allem angesichts einer zu einzelnen Personen sehr ungleichen Quellenlage allenfalls annähernd erfüllt werden kann, liegt auf der Hand. Bei der Auswahl der Personen für 59 Vgl. generell: Jürgen W. Falter, Wer durfte NSDAP-Mitglied werden und wer musste draußen bleiben?, in: ders. (Hrsg.), Junge Kämpfer, alte Opportunisten. Die Mitglieder der NSDAP 1919–1945, Frankfurt a. M. – New York 2016, S. 15– 37. Vgl. auch die genaueren Ausführungen unten S. 202 f. und 211 f. Zum gesamten Fragenkomplex der NSDAP-Mitgliedschaft vgl. auch den Überblick in: ders., Die Mitglieder der NSDAP 1925–1945. Junge Kämpfer – alte Opportunisten, in: Jahrbuch Extremismus & Demokratie 28 (2016), S. 35–63. 60 Eigene Berechnung aufgrund folgender Angaben: 6,6 Millionen Parteimitglieder und knapp 80 Millionen Einwohner 1939, davon ca. 70 % zum Parteieintritt berechtigt. Zu den Daten vgl. Tabelle in Jürgen W. Falter / Kristine Khachatryan, Wie viele NSDAP-Mitglieder gab es überhaupt und wie viele davon waren überzeugte Nationalsozialisten?, in: Falter (Hrsg.), Junge Kämpfer, S. 177–195, hier S. 187; Evelyn Otto, Beitritte und Mitgliederstruktur in Zeiten der Aufnahmesperre, in: ebenda, S. 245–269, hier S. 250. 61 Ebenda, S. 264. Bis 1944 stieg der Anteil dann auf 14 %. 62 Eigene Berechnungen aufgrund der eben genannten Zahlen. 63 Zum methodischen Kontext der in den letzten Jahrzehnten intensivierten Biographieforschung vgl. Volker Depkat, Lebenswenden und Zeitenwenden. Deutsche Politiker und die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, München 2007, S. 48 f.

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die Detailskizzen in Kapitel V wurde dennoch eine Reihe von Kriterien angelegt, die zumindest eine gewisse Repräsentativität sichern sollten.64 Weitere methodische Aspekte der Aufarbeitungsforschung, die für ­unsere Untersuchung von Bedeutung sind, liegen in Ansätzen zur Differenzierung und Historisierung des Belastungsbegriffs (vgl. hierzu Kap. I.3), in der bereits angedeuteten Ausdehnung des Kontinuitätsbegriffs auf die Zeit vor 1933, im Forschungsinteresse für Fragen der Verwaltungs­ kultur65 sowie in der Ergänzung der »Aufarbeitung« durch die Frage, warum trotz aller NS-Belastungen die Begründung und Festigung der bundesdeutschen Demokratie letztlich erfolgreich war.66 Kontextuell bedeutsam für die vorliegende Studie  – dies ist der dritte große Bereich unserer Literaturbasis – sind Arbeiten zu »Vorläuferinstitu­ tionen«67 des Atom- und Forschungsministeriums in der NS-Zeit sowie zu Fragen der Atom- und Luftfahrtforschung und der generellen Forschungsförderung bis 1945.68 Relevant waren ebenso zahlreiche Forschungsarbeiten und Nachschlagewerke, die biographische Informatio­ nen zu einzelnen ministeriellen Führungspersonen bieten oder die zur 64 Vgl. ausführlich unten S. 285f. 65 Vgl. oben S. 25. 66 Vgl. generell zu der Thematik v. a. Ulrich Herbert (Hrsg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945–1980, Göttingen 2002. Vgl. allerdings auch die Kritik am erfolgsgeschichtlichen Konzept der »Demokratisierung« in Weinke, »Alles noch schlimmer als ohnehin gedacht«? 67 Vgl. unten S. 45–54. 68 Bereits erwähnt wurde die Studie zum RM für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung: Nagel, Hitlers Bildungsreformer. – Zur Atomforschung vgl. v. a. Mark Walker, Die Uranmaschine. Mythos und Wirklichkeit der deutschen Atombombe, Berlin 1990; Rainer Karlsch, Hitlers Bombe. Die geheime Geschichte der deutschen Kernwaffenversuche, München 2005; ders./Heiko Petermann (Hrsg.), Für und Wider »Hitlers Bombe«. Studien zur Atomforschung in Deutschland, Münster u. a. 2007; Mark Walker, Eine Waffenschmiede? Kernwaffen- und Reaktorforschung am Kaiser-Wilhelm-Institut für Physik, in: Maier, Helmut (Hrsg.), Gemeinschaftsforschung, Bevollmächtigte und der Wissenstransfer. Die Rolle der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im System kriegsrelevanter Forschung des Nationalsozialismus, Göttingen 2007, S. 352–394; Paul Lawrence Rose, Heisenberg und das Atombombenprojekt der Nazis, Zürich – München 2001; Cathryn Carson, Heisenberg in the Atomic Age. Science and the Public Sphere, Cambridge u. a. 2010.  – Zur Luftfahrtforschung vgl. v. a. Helmut Maier, Luftfahrtforschung im Nationalsozialismus, in: Trischler, Helmuth / Schrogl, Kai-Uwe / Kuhn, Andrea (Hrsg.), Ein Jahrhundert im Flug. Luft- und Raumfahrtforschung in Deutschland, 1907–2007, Frankfurt a. M. u. a. 2007, S. 104–122; Trischler, Luft- und Raumfahrtforschung, sowie Lutz Budraß, Flugzeugindustrie und Luftrüstung in Deutschland, 1918–1945, Düsseldorf 1998.

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Kontextualisierung der Lebensläufe oder auch des Umgangs mit personellen NS-Belastungen beitragen.

3. Der Begriff der »NS-Belastung« Der schillernde Begriff der »NS-Belastung«,69 der in der Regel auf den Aspekt der personellen Belastung bezogen wird, steht im Zentrum der meisten neueren Forschungen zur NS-Vergangenheit bundesdeutscher Institutionen. Um mit dem Begriff sinnvoll umgehen zu können, ist es hilfreich, zunächst einige begriffliche und kategoriale Klärungen durchzuführen. Das deutsche Wort der Belastung umfasst in seiner Grundbedeutung – »das Belasten, das Belastetsein«70  – immer zwei Aspekte. Dies ist zum einen der passivische inhaltliche Bezug, d. h. die Frage, womit jemand oder etwas belastet ist. Ein bestimmter Sachverhalt bildet dabei das Dativ-Objekt der Belastung: also belastet mit dem Vorwurf einer Straftat, einem psychischen Problem oder einer schwierigen sozialen Situation, um Beispiele aus der gegenwärtigen Alltagssprache anzuführen. Zum anderen wird der transitive Akt des »Belastens« evoziert, der von demjenigen ausgeht, der die Belastung vornimmt oder thematisiert. Der zweite Aspekt des Belastungsbegriffs ist somit an ein urteilendes Subjekt gebunden, also zum Beispiel jemand, der über eine schwierige psychische Situation spricht oder ein Zeuge, der einen Angeklagten mit dem Vorwurf einer Straftat belastet. Spiegelbildlich hierzu steht der Begriff der Entlastung, der vor allem – aber nicht nur – auf dem juristischen Feld üblich ist. Was den Begriff der NS-Belastung anbelangt, so lassen sich aus geschichtswissenschaftlicher Sicht unterschiedliche zeitliche Konstellationen der Belastung erkennen: die in jeweils der betrachteten historischen Epoche liegende und die in der Gegenwart der Historikerin und des Historikers formulierte Belastung. Zwischen beiden Perspektiven kann es teils erhebliche Differenzen geben. Die in der Literatur häufig zu findende Forderung nach einer »Historisierung« des Belastungsbegriffs zielt 69 Die folgenden Ausführungen konnten von den Hinweisen und Anmerkungen im Rahmen des Workshops »Netzwerke und NS-Belastung zentraler deutscher ­Behörden« profitieren, den das Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde am 16./17. 11. 2018 in Tübingen ausgerichtet hat. In diesem Zusammenhang danken wir Mathias Beer, Frank Bösch, K. Erik Franzen, Johannes Großmann, Melanie Hembera, Helge Heydemeyer, Thorsten Holzhauser, Reinhard Johler, Maren Röger, Jan Ruhkopf, Michael Schwartz und Irina Stange. 70 www.duden.de/rechtschreibung / Belastung [20. 11. 2021].

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auf die genauere Bestimmung der erstgenannten Variante. Gleichzeitig ist auch der diachrone Belastungsbegriff, der sich stets auch auf Wissen und Beurteilungen späterer Zeit stützt, in der gegenwärtigen Diskussion allgegenwärtig. Eine »Historisierung« des Begriffs der NS-Belastung ist mit zwei Problemen verbunden: Grundsätzlich muss erstens berücksichtigt werden, dass in den ersten Jahrzehnten der deutschen Geschichte nach 1945 das Wort »Belastung« bzw. das Partizip Perfekt »belastet« im Rückbezug auf die NS-Zeit nur relativ selten verwendet wurde. Dies zeigen nicht allein die von uns ausgewerteten Quellen, in denen Verwendungen im heutigen Sinne die Ausnahmen bleiben.71 Auch Recherchen in deutschen Online-Bibliothekskatalogen72 verweisen darauf, dass der Terminus »NS-Belastung« bzw. generell ein mit dem Thema »Nationalsozialismus« ver­bundener Begriff der Belastung erst sehr spät – d. h. erst seit den 1990er Jahren – größere Verbreitung fand. Die relativ geringe Präsenz des auf die NS-Zeit bezogenen Belastungsbegriffs in der frühen Bundesrepublik mag auch damit zusammenhängen, dass es sich um eine Kategorie aus den zeitgenössisch viel kritisierten alliierten Entnazifizierungsverfahren handelte: Gemäß der Kontrollratsdirektive Nr. 38 vom 12.  Oktober 1946 bezeichnete Kategorie 2  – abgegrenzt von den »Hauptschuldigen« der Kategorie 1  – die »Belasteten« (»Aktivisten, Militaristen und Nutznießer«) und Kategorie 3 die »Minderbelasteten«.73 Darüber hinaus spielten für die Meidung des Belastungsbegriffs sicher auch andere Faktoren eine Rolle, so insbesondere 71 Vgl. etwa den Brief von Bundesinnenminister Robert Lehr an den Bundesminister für Angelegenheiten des Bundesrats Heinrich Hellwege vom 20. 1. 1953 im Kontext eines Konflikts über die Einstellung von NS-belasteten Bewerbern in den ­Ministerialdienst. Lehr schreibt hier auf S. 3: »Ob jemand, der zunächst durch frühen Parteieintritt, innegehabte Ämter und dergleichen stärker belastet erscheint, aus echtem politischen Irrtum oder infolge Nötigung oder sonstigen entschuld­ baren Gründen gehandelt hat, wird von mir jeweils sehr genau geprüft und entsprechend gewürdigt.« BArch B 136 /4218, Bl. 48–51, hier Bl. 50. Das Schreiben steht im Kontext eines Briefwechsels zwischen Lehr und Hellwege, auf den I. Stange, Das Bundesministerium des Innern, S. 85 f., eingeht. 72 Den besten Zugang bietet der Karlsruher Virtuelle Katalog, kvk.bibliothek.kit. edu/index.html?digitalOnly=0&embedFulltitle=0&newTab=0 [5. 12. 2019]. 73 Vgl. Angelika Königseder, Das Ende der NSDAP. Die Entnazifizierung, in: Benz (Hrsg.), Wie wurde man Parteigenosse?, S. 151–166, hier S. 153. Generell zur Thematik der Entnazifizierung vgl. jetzt Hanne Leßau, Entnazifizierungsgeschichten. Die Auseinandersetzung mit der eigenen NS-Vergangenheit in der frühen Nachkriegszeit, Göttingen 2020.

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beschränkte Kenntnisse über das Ausmaß der nationalsozialistischen Verbrechen. Allerdings gab es während des untersuchten Zeitraums stets dem ­Belastungsbegriff ähnliche, aber sprachlich anders formulierte Zuschreibungen – etwa wenn ein konkreter Aspekt der Belastung wie eine Mitgliedschaft in der NSDAP oder eine negativ bewertete Tat evoziert oder ein Strafverfahren eingeleitet wurde. Häufiger war der Gegenbegriff der »Entlastung« – und damit die nicht selten erreichte Einstufung in Kategorie 5 der Entnazifizierungsverfahren. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass ein historisierter Begriff der NS-Belastung in der Regel eine Sammelkategorie bildet, mit deren Hilfe Historikerinnen und Historiker sprachlich meist anders bzw. konkreter formulierte Einschätzungen aus der untersuchten Epoche in einem damals eher gemiedenen Wort zusammenfassen. Das zweite Grundproblem bei der Historisierung des Belastungsbegriffs liegt darin, dass es auch in der Vergangenheit unterschiedliche Auffassungen darüber gab, inwiefern und in welchem Maße jemand als NSbelastet anzusehen ist. Neben der Historisierung des Belastungsbegriffs ist daher immer auch eine Konkretisierung des belastenden Subjekts bzw. des maßgeblichen Grundverständnisses von Belastung erforderlich. Für die Thematisierung von personellen NS-Belastungen heißt das, dass es während des untersuchten Zeitraums unterschiedliche Varianten des Belastungsverständnisses gab. In der frühen Bundesrepublik konnte dieses von einer klar negativen moralischen und politischen Bewertung bis zur apologetischen Formel der »Verstrickung« reichen. Eine Rolle spielten zudem von DDR-Seite erhobene propagandistische Anklagen gegen einzelne Personen.74 Diese Belastung von außen führte in der bundesdeutschen Politik und Öffentlichkeit nicht selten zu Versuchen der Entlastung der Angegriffenen sowie zu einer gewissen »Wagenburgmentalität«. Punktuell gab es auf dem von uns untersuchten Feld sogar so etwas wie eine dialektische Umkehrung des Belastungsverständnisses, indem sich maßgebliche Akteure der bundesdeutschen Atompolitik selbst als Opfer eines durch

74 Vgl. Norbert Podewin (Hrsg.), Braunbuch. Kriegs- und Naziverbrecher in der Bundesrepublik und in Berlin (West), Reprint der Ausgabe 1968, Berlin 3[2002]; Nationale Front des Demokratischen Deutschland (Hrsg.), Das Bonner Kernwaffenkartell. Ziele, Methoden, Hintergründe, Berlin[-Ost] 1969.  – Allgemein zur Frage der DDR-Propaganda sowie zur Spannweite des bundesdeutschen Belastungsbegriffs auch Bösch / Wirsching, Einleitung, S. 17 f. und 20.

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die NS-Zeit bedingten »Rückstands« der deutschen Atomforschung und Atomwirtschaft sahen.75 Neben dem historisierten bzw. in seiner historischen Semantik reflektierten Belastungsbegriff scheint auch uns ein in der Gegenwart, d. h. genau genommen im Kenntnisstand der Zeitgeschichtsschreibung, verankerter Begriff unverzichtbar. Geschichtswissenschaft kann nicht als ­radikal historistische Disziplin betrieben werden, die sich lediglich auf die Sprache und Kategorien der untersuchten Zeit stützt. Jedes Sprechen und Schreiben über Geschichte ist immer auch in der Gegenwart der Historikerin und des Historikers begründet. Insofern ist ein reflektierter Umgang mit einem aktuellen Belastungsbegriff durchaus sinnvoll, wenn er jeweils gekennzeichnet und vom Verständnis der untersuchten Epoche abgegrenzt wird. Betont sei, dass ein derartiger aus dem Kenntnisstand der Geschichtswissenschaft abgeleiteter Belastungsbegriff nicht mit einer juristischen Bewertung oder moralischen Beurteilung verwechselt werden darf. Was das Dativ-Objekt der Belastung anbelangt, so findet sich in ­Forschung und Geschichtsvermittlung teilweise eine grobe Unterscheidung zwischen formaler und materieller (oder auch materialer) Belastung.76 Erstere wird in der Regel mit einer Mitgliedschaft in der NSDAP und/oder der Partei angegliederten oder nahestehenden Institutionen verbunden. Letztere bleibt in der Regel kategorial undifferenziert bzw. auf den jeweiligen Einzelfall bezogen. Gleichzeitig gibt es komplexe Hierarchisierungen von NS-Belastungen, die sich in ihrer Systematik auf die angenommene Haltung der untersuchten Personen gegenüber dem Nationalsozialismus beziehen – etwa in einer Skala von »Widerstand« über »Protest«, »Verweigerung«, »Nonkonformismus«, »Duldung«, »Zustimmung«, »Handeln auf Befehl« bis zu »selbständige[m] Handeln« im Sinne der NS-Ideologie und des NS-Regimes.77 Zweifellos kann es hin und wieder sinnvoll sein, im Einzelfall auf derartige Unterkategorien zu verwei75 Dieser Aspekt wird im dritten Teil unserer Arbeit näher betrachtet. 76 Vgl. z. B. David Schwalbe, Belastung, auf der Internetseite »Kontinuitäten, Brüche, Neuanfang. Umgang mit dem Nationalsozialismus in den beiden deutschen Innenministerien 1949–1970«, ausstellung.geschichte-innenministerien.de/themen/belastung/ [20. 11. 2021]. 77 So der Ansatz der seit 2010 erscheinenden Buchreihe »Täter, Helfer, Trittbrettfahrer« zu Baden-Württemberg; vgl. kugelbergverlag.de/skala-der-ns-belastung [20. 11. 2021]. Vgl. auch die von »Grundorientierungen« ausgehende komplexe Typisierung bei Danker / Lehmann-Himmel, Landespolitik mit Vergangenheit, v. a. S. 175 und 222; sowie in Uwe Danker, Geteilte Verstrickung: Elitenkontinuitäten in Schleswig-Holstein, in: ders. (Hrsg.), Geteilte Verstrickung: Elitenkontinuitäten in Schleswig-Holstein, Bd. 1, Husum 2021, S. 22–308.

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sen. Der generelle Einsatz einer solchen Skala erscheint uns allerdings angesichts einer vielfach rudimentären Quellenlage und auch angesichts der grundsätzlichen Schwierigkeit, die oft verborgenen Motive eines Menschen zu beurteilen – noch dazu mit erheblichem zeitlichen Abstand –, als problematisch. Wie wird der Belastungsbegriff nun in unserer Studie verwendet? Generell ist zum einen darauf hinzuweisen, dass auch wir den Begriff auf den Aspekt der personellen Belastung beschränken. Eine institutionelle Belastung, die über die Summe der in einer Institution erkennbaren personellen Belastungen hinausgeht, ist im Falle eines Ministeriums, das keine unmittelbare Vorgängerinstitution besessen hat, keine sinnvolle analytische Kategorie. Zum anderen ist festzustellen, dass wir die systematische Unterscheidung zwischen formaler und materieller (oder auch materialer) Belastung als problematisch ansehen. Bei dem Begriff der formalen Belastung liegt stets das Missverständnis nahe, diese wäre »bloß« formal, d. h. weniger gravierend als eine materielle Belastung. Das Vorliegen einer formalen Belastung stellt hingegen oftmals ein erstes Indiz für eine materielle Belastung dar. Auch eine »bloße« Parteimitgliedschaft, wie opportunistisch vielfach die Motive auch gewesen sein mögen, sollte – wie im vorigen Kapitel bereits ausgeführt – nicht bagatellisiert werden. Umgekehrt muss nicht jede materielle Belastung aus heutiger Sicht unbedingt als gravierend eingestuft werden. Statt von »formaler Belastung« sprechen wir von formalen Kriterien der NS-Belastung, die sich in der festgestellten Mitgliedschaft in der NSDAP und/oder in parteinahen Organisationen konkretisieren. Diese formalen Kriterien wenden wir allein für die Erfassungen in den quantifizierendbiographischen Teilen unserer Studie an (Kap. IV.1–2). Hier sind derartige Daten unverzichtbar, um Statistiken zu erstellen und prozentuale Berechnungen durchzuführen. In den qualitativ-biographischen Teilen der Studie (partiell Kap. IV.3–4 sowie Kap. V) legen wir zum Zwecke der analytischen Klarheit und der Thesenbildung hingegen eine idealtypische Differenzierung des DativObjekts der Belastung zugrunde. Wir gehen also von der Frage aus: Womit ist jemand belastet? In einem heuristischen Sinne unterscheiden wir drei systematische Kategorien personeller NS-Belastung: 1. die ideologische Belastung, 2. die Belastung durch die berufliche bzw. militärische Funktion und ­Tätigkeit während der NS-Zeit und 3. die unmittelbare Mitwirkung an Kriegsverbrechen oder Mordtaten. 33

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Die Differenzierung zwischen der zweiten und dritten Kategorie erscheint uns notwendig, um der Verschiedenartigkeit der Fälle von NS-Belastung gerecht werden zu können, auch wenn in Einzelfällen die Grenzen schwer zu ziehen sind. Bei der zweiten Kategorie steht der langfristige funktionale Aspekt der beruflichen oder militärischen Einfügung in das NS-Regime im Vordergrund, der zu einer generellen Involvierung in NS-Verbrechen geführt hat. Bei der dritten Kategorie, die – wie sich auch in unserer Studie zeigt78 – oft kaum noch zu verifizieren ist, geht es um das »unmittelbare« und eventuell auch auf Einzelfälle bezogene Agieren im Sinne des eigenen Handanlegens oder eines direkten Mordbefehls. Alle drei Kategorien, die sich – das sei nachdrücklich betont – in der Realität durchaus überlagern konnten, lassen sich analytisch sowohl in einem historischen als auch in einem aktuellen, vom gegenwärtigen Belastungsverständnis geprägten Sinne verwenden. Allerdings sind die zeitlichen Schwerpunkte innerhalb der einzelnen Kategorien sehr unterschiedlich ausgeprägt: Die erste Kategorie ist für die zeitgenössische Perspektive von großer Bedeutung. Hier spiegelt sich stärker als bei den beiden anderen Kategorien das Belastungsverständnis des untersuchten Zeitraums von den 1950er zu den frühen 1970er Jahren. Als wichtiges Indiz für eine ideologische Belastung kann die Parteimitgliedschaft gelten. Dass dies auch zeitgenössisch so gesehen wurde, zeigt sich unter anderem auch in entsprechenden Restriktionen bei der Einstellung in den bundesdeutschen Ministerialdienst bis Mitte der 1950er Jahre.79 Zu berücksichtigen ist allerdings, dass eine ideologische Belastung auch ohne Parteimitgliedschaft auftreten konnte. Erwähnt sei in diesem Zusammenhang auch, dass Wehrmachtssoldaten bis September 1944 nicht in die Partei eintreten durften. Als Indikator für eine besondere Affinität zum Nationalsozialismus, d. h. für eine schwere ideologische Belastung, gilt – und galt während des untersuchten Zeitraums  – häufig ein vor dem 30.  Januar 1933 erfolgter NSDAP-Eintritt. Dieser Schritt, so die meist implizite Annahme, sei relativ frei von opportunistischen Motiven und damit eher ideologiegesteuert gewesen.80 Auch in der neueren Forschung zu Fragen der NSDAP-Mitgliedschaft wird diese Beurteilung im Prinzip noch geteilt.81 Vereinzelt findet sich freilich auch eine umgekehrte Perspektive, die weniger auf den 78 Vgl. hierzu unten S. 262–264. 79 Vgl. z. B. I. Stange, Das Bundesministerium des Innern, S. 93 f. 80 Vgl. erneut das Schreiben Lehrs vom 20. 1. 1953, BArch B 136 /4218, Bl. 48–51, hier Bl. 50. 81 Vgl. Falter / Khachatryan, NSDAP-Mitglieder, S. 193.

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Faktor »Ideologie«, sondern eher auf eine generelle moralische Belastung abzielte: Wer erst seit 1933 in die NSDAP eintrat, habe – so Ende 1947 der damalige CDU-Justizminister in Nordrhein-Westfalen Gustav Heinemann – bereits über die »Möglichkeit« verfügt, »zu erkennen und zu durchschauen, was sich abspielte«.82 Mit der Annahme einer primären ideologischen Motivation des Parteieintritts bis zum 30.  Januar 1933 korrespondiert die Einschätzung, dass ein Parteieintritt nach dem 30. Januar 1933 meist eher opportunistischen Motiven entsprang. Diese Auffassung muss im Lichte der neueren Forschung allerdings relativiert und differenziert werden. Für die kurze Phase bis zum 1. Mai 1933, als es innerhalb weniger Monate zu einem Anschwellen der NSDAP-Mitgliederzahl von gut 900.000 auf rund 2,6 Millionen kam, ist eine derartige Bewertung in zahlreichen Fällen sicherlich zutreffend.83 Anders verhält es sich für die Zeit nach dem weitgehenden Aufnahmestopp vom 2. Mai 1933, der aus der Furcht Hitlers vor einem Überhandnehmen der »Mitläufer, Trittbrettfahrer und Konjunkturritter« resultierte.84 Für die Phase bis zum April 1937, als die Sperre erstmals gelockert wurde, ist davon auszugehen, dass bei den rund 300.000 Personen, denen der Parteieintritt trotz der Restriktionen gelang – oftmals handelte es sich um HJ-Führer oder um BDM-Führerinnen, teilweise auch um Sondergruppen wie SA-Angehörige  – in der Regel eine starke ideologische Komponente entwickelt war.85 Für die Phase nach Lockerung der Aufnahmesperre im April 1937 und insbesondere nach Öffnung der Partei im 82 Stange, Das Bundesministerium des Innern, S. 80: »[…] diejenigen, die zu einem späten Zeitpunkt und in der Möglichkeit, zu erkennen und zu durchschauen, was sich abspielte, noch in die Partei eintraten, wesentlich verantwortlicher sind, als diejenigen, die einmal als Idealisten sich in einem frühen Zeitpunkt dieser Bewegung verschrieben haben.« 83 Zahlen nach Falter / Khachatryan, NSDAP-Mitglieder, S. 188 f. – Zur Frage nach den »überzeugten Nationalsozialisten« (ebenda, S. 189) vgl. die Diskussion der diesbezüglichen Literatur und resümierende Bewertung ebenda, S. 189–195. 84 Zitat ebenda, S. 189; v. a. »Konjunkturritter« war ein in NS-Quellen beliebter Begriff. Vgl. z. B. den Hinweis in Kristine Khachatryan, Junge Kämpfer, alte Opportunisten und gar nicht so wenig Frauen: Eine Typologie der NSDAP-Neumitglieder, in: Falter (Hrsg.), Junge Kämpfer, S. 197–216, hier S. 203. Generell zu den Phasen der Zugänglichkeit der NSDAP seit 1933 vgl. Falter, Wer durfte NSDAPMitglied werden, S. 20–36; Otto, Beitritte und Mitgliederstruktur. Auch zum Folgenden. 85 Vgl. Falter / Khachatryan, NSDAP-Mitglieder, S. 187 (Tab. Mitgliederentwicklung) und S. 194; Khachatryan, Junge Kämpfer, S. 204.

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Mai 1939, die bis Februar 1942 währte, kann erneut ein verstärktes Gewicht des Faktors »Opportunismus« veranschlagt werden. In dieser Zeit kamen wiederum weit über 6 Millionen neue Parteimitglieder hinzu.86 Allerdings, hierauf deutet eine neuere Regionalstudie, waren die konkreten Motive wohl häufig andere als Anfang 1933: Statt eines »vorauseilende[n] Gehorsam[s]« sei nun »eher nachfolgender Gehorsam« maßgeblich gewesen, »von Leuten, die seit 1937 mehrheitlich Opfer des auf sie von verschiedenen Stellen ausgeübten Drucks zum Beitritt wurden«.87 Für die letzte Phase nach der fast völligen Schließung der Partei im Februar 1942 ist dann davon auszugehen, dass »nur noch ein bestimmter, vorgegebener Prozentsatz ausscheidender, weltanschaulich gewissermaßen zertifizierter HJ- und BDM-Mitglieder in die Partei aufgenommen wurde«.88 Diese fundamentalen zeitlichen Differenzierungen müssen sowohl in der quantitativen Analyse als auch in der Darstellung von einzelnen Biographien in die Bewertung von NSDAP-Mitgliedschaften einfließen, wenngleich ihre Aussagekraft im individuellen Fall sicher nicht verabsolutiert werden darf. Als weiterer formaler Indikator für eine besondere ideologische Nähe zur NSDAP gilt – und galt – häufig eine Mitgliedschaft in der SA und besonders in der SS – ähnlich wie dies bereits 1946 in den alliierten Regeln zur »Entnazifizierung« festgelegt worden war.89 Die festgestellte schwere ideologische NS-Belastung bestimmter Personen führte im untersuchten Zeitraum nicht selten im Umkehrschluss auch zur Entlastung derjenigen, die nicht in diese Kategorie fielen. Der Belastungsdiskurs konnte so partiell auch zu einem Entlastungsdiskurs werden. Letzteres hing vor allem auch damit zusammen, dass der Wahrnehmungshorizont für die beiden anderen von uns zugrunde gelegten Kate­ gorien der personellen NS-Belastung  – also die funktionale berufliche oder militärische Belastung und die Belastung durch die unmittelbare Mitwirkung an einzelnen Verbrechen – während des untersuchten Zeitraums nur schwach entwickelt war. Zwar steht außer Frage, dass KZ-Täter oder 86 Vgl. Falter / Khachatryan, NSDAP-Mitglieder, S. 187 (Tab. Mitgliederentwicklung). 87 Torsten Kupfer, Generation und Radikalisierung. Die Mitglieder der NSDAP im Kreis Bernburg 1921–1945, Berlin 2006, S. 168; zustimmend zitiert in: Falter /  Khachatryan, NSDAP-Mitglieder, S. 192. Der Kreis Bernburg liegt in der Magdeburger Börde. 88 Ebenda, S. 194. 89 »Kontrollratsdirektive Nr. 38 betreffend Verhaftung und Bestrafung von Kriegsverbrechern, Nationalsozialisten und Militaristen und Internierung, Kontrolle und Überwachung von möglicherweise gefährlichen Deutschen« vom 12. 10. 1946; vgl. Königseder, Ende der NSDAP, S. 153.

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Mitwirkende an »Juden«-verfolgungen90 der 1930er Jahre bereits in der frühen Bundesrepublik als in hohem Maße NS-belastet galten. Für komplexere funktionale Einbindungen in das NS-Unrechtsregime oder gar in den Holocaust, wie sie beispielsweise mit Tätigkeiten im Reichsminis­ terialdienst, im Justizdienst oder in der Verwaltung besetzter Gebiete verbunden sein konnten, gab es allerdings nur ein rudimentäres Bewusstsein. Dies galt lange Zeit auch für die unmittelbare Beteiligung der Wehrmacht an schweren NS-Verbrechen.91 Mit zunehmender Entwicklung der NS-Forschung verbreiterte sich das Wissen über die Involvierung von Militär und anderen Funktionseliten in die Verbrechen des NS-Regimes. Gleichzeitig gewann seit rund 20 Jahren ein weit verstandener Begriff der personellen NS-Belastung an Bedeutung, die sich im Zuge der aktuellen bundesdeutschen Behördenforschung nochmals steigerte. Die zweite und dritte Kategorie schwerer persönlicher NS-Belastung, wie sie in unserer Analyse verwendet werden, tragen somit jeweils eine lange Geschichte der wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in sich. In aktueller Perspektive sind sie gegenüber der ideologischen Belastung in den Vordergrund gerückt, wobei die Belastung durch die berufliche bzw. militärische Funktion und Tätigkeit während der NS-Zeit aus heutiger Sicht zweifellos die wichtigste Kategorie der NS-Belastung darstellt. Durch die eigene Mitwirkung an der Praxis des NS-Regimes schwer Belastete mussten – dies hat die neuere Forschung auf unterschiedlichen Feldern verdeutlicht – nicht immer überzeugte und ausgeprägte NS-Ideologen gewesen sein. Vielfach kamen sie, wie etwa Johannes Hürter am Beispiel der deutschen Generalität an der Ostfront gezeigt hat, aus dem Bereich des Weimarer Konservativismus und Nationalliberalismus, wo sich manche grundlegenden politisch-gesellschaftlichen Einschätzungen mit nationalsozialistischen Auffassungen überschnitten. Hürter spricht in diesem Zusammenhang treffend vom »politisch-ideologischen Kontinuum 90 Der Begriff »Jude« wird im Rahmen der vorliegenden Studie für alle Personen verwendet, die gemäß der antisemitischen und rassistischen nationalsozialistischen Vorstellungen als »Juden« angesehen wurden. In Anlehnung an die wissenschaftliche Praxis verzichten wir fortan darauf, die Übernahme des damit zugrunde gelegten Quellenbegriffs jeweils durch Anführungszeichen kenntlich zu machen. 91 Die Bewertung der Wehrmacht veränderte sich erst seit den 1990er Jahren im Zuge eines längeren Forschungs- und Diskussionsprozesses. Dabei kam den beiden »Wehrmachtsausstellungen« der Jahre 1995 bis 1999 und 2001 bis 2004 besondere Bedeutung zu. Vgl. Christian Hartmann / Johannes Hürter / Ulrike Jureit, Verbrechen der Wehrmacht. Bilanz einer Debatte, München 2005.

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des ›nationalen Lagers‹«.92 Grundsätzlich gelten diese Feststellungen vor allem für ältere Geburtsjahrgänge, die in der NS-Zeit bereits eine höhere berufliche oder militärische Funktion erreicht hatten. Erwähnt sei schließlich eine aus heutiger Sicht zu konstatierende spe­ zifische Form der NS-Belastung, die nicht in unsere Kategorisierung passt: das unmittelbare Profitieren von den Verbrechen, die an der jüdischen Bevölkerung begangen wurden. So zeigte sich in einem noch genauer darzustellenden Fall, dass eine spätere Führungsperson des Atomund Forschungsministeriums im Jahr 1942 eine »Judenwohnung« in Berlin beziehen konnte, die wohl im Kontext der durchgeführten Deporta­tionen freigeworden war.93 Da die begünstigte Person während der NS-Zeit eine hochrangige berufliche Funktion wahrnahm, besteht eine Nähe zu unserer zweiten Kategorie. Und da sie direkt von den NS-Mordtaten profitierte, lässt sich auch eine gewisse Verbindung zur dritten Kategorie herstellen. Angesichts der eben erörterten Komplexität des Belastungsbegriffes, der fließenden Grenzen zwischen den gewählten Kategorien und nicht zuletzt der allgegenwärtigen Unzulänglichkeiten der Quellenbasis kann die Darstellung schwerer personeller NS-Belastungen in den qualitativ-biographischen Teilen dieser Studie nicht immer eindeutige Ergebnisse präsentieren. Klare Urteile über das Ausmaß der persönlichen Belastung sind oftmals nicht möglich. Gleichzeitig gilt es, neben den aktuellen Einschätzungen von NS-Belastung auch die – oftmals nur schwach entwickelte – zeitgenössische Belastungszuschreibung zu thematisieren, wobei Entwicklungen während des untersuchten Zeitraums sowie in Einzel­fällen auch Belastungsvorwürfe seitens der DDR zu berücksichtigen sind. Insgesamt muss die Analyse von personellen NS-Belastungen in den größeren Kontext der Frage nach einer Kontinuität deutscher Eliten von den Epochen des Kaiserreichs und der Weimarer Republik bis zur frühen Bundesrepublik gestellt werden. Zudem darf nicht übersehen werden, dass es in einzelnen Fällen unseres Personals auch Indizien für das Gegenteil von NS-Belastung gibt: die Verfolgung oder Diskriminierung durch das NSRegime oder die Nähe zu Kreisen des Widerstands und punk­tuell – auch 92 Johannes Hürter (Hrsg.), Notizen aus dem Vernichtungskrieg. Die Ostfront 1941 /42 in den Aufzeichnungen des Generals Heinrici, Darmstadt 2016, S. 7–26, v. a. S. 14 f. (Zitat S. 14). Vgl. auch ders., Hitlers Heerführer. Die deutschen Oberbefehlshaber im Krieg gegen die Sowjetunion 1941 /42, München 2006. 93 Es handelte sich um den damaligen Beamten im Auswärtigen Dienst Otto Beutler; vgl. unten S. 264 f.

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hier sind die Unsicherheiten des Rückblicks groß – die eigene Beteiligung am Widerstand gegen den Nationalsozialismus.

4. Ansatz und Aufbau der Studie Kontinuität und Diskontinuität des Atom- und Forschungsministeriums sollen im Folgenden in mehrfacher inhaltlicher und methodischer Hinsicht betrachtet werden: institutionen-, diskurs- und personengeschichtlich. Die skizzierten Besonderheiten des Ministeriums und die Erkenntnisse und Impulse der bisherigen Aufarbeitungsforschung sind dabei stets zu berücksichtigen. Spezifische Fragen der ministeriellen Forschungs­ politik und ihrer Verortung im Feld wissenschaftlicher, wirtschaftlicher und politischer Interessen werden nicht berücksichtigt – diese komplexe, in einem weiten nationalen und transnationalen Kontext stehende Thematik hätte den Rahmen der vorliegenden Studie gesprengt; sie bleibt einem eigenen Band vorbehalten, der eng an die vorliegende Monographie anschließt.94 Institutionengeschichtlich geht es nach der Einleitung im zweiten Teil der Studie um die Frage nach Vorgängerinstitutionen in einem weitgefassten Sinne während der NS-Zeit, um den organisatorischen, personellen und »verwaltungskulturellen« Auf- und Ausbau des neuen Ministeriums von 1955 bis 1972 sowie um die Frage nach charakteristischen Karrierewegen des Führungspersonals. Im dritten Teil der Arbeit werden diskursgeschichtlich die Grundzüge des nach außen hin vertretenen ministeriellen Selbstverständnisses skizziert, wobei die Frage nach der eigenen historischen Verortung im Spannungsfeld von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im Mittelpunkt steht. Die Vorstellung einer Belastung durch die NS-Zeit wird hier in einem ganz anderen als dem im vorigen Kapitel diskutierten Sinne aufscheinen, nämlich in der Annahme, dass die atomtechnische und -wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands unter der NS-bedingten »Hypothek«95 eines zeitlichen Rückstandes zu leiden habe. Der vierte Teil bietet gruppenbiographische (prosopographische) Überblicksdarstellungen. Am Anfang steht eine statistisch-quantifizierende 94 Daniela Hettstedt / Thomas Raithel / Niels Weise (Hrsg.), Im Spielfeld der Interessen. Das bundesdeutsche Atom- und Forschungsministerium zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Politik 1955–1972 [erscheint Göttingen 2022]. 95 Verwendung dieses Begriffs z. B. 1966 durch Forschungsminister Gerhard Stoltenberg im Bundestag. Vgl. unten S. 159.

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Analyse der NS-Vergangenheit des gesamten ministeriellen Führungspersonals in dem von uns definierten Sinne: Referatsleiter, Abteilungsleiter, Staatssekretäre, persönliche Referenten des Ministers sowie die Minister selbst – allesamt Personen, deren Namen bereits zeitgenössisch durch die Publikation im Staatshandbuch der Bundesrepublik Deutschland einen gewissen öffentlich-politischen Rang besessen haben. Insgesamt sind dies für den Zeitraum von 1955 bis 1972 158 Männer und eine Frau. Darunter befinden sich 85 Personen (84 Männer und eine Frau), die vom Alter her (Geburtsjahrgang 1927 und älter) Mitglied der NSDAP gewesen sein konnten (vgl. Liste Anhang 2). Die formalen Kriterien der NS-Belastung spielen für diese quantitative Analyse eine zentrale Rolle. Die nächsten beiden Unterkapitel sind dann von einem qualitativen Grundansatz gekennzeichnet: Zunächst folgen kurze individuelle Skizzen zur Vergangenheit der ministeriellen Spitze, d. h. der Minister und Staatssekretäre. Dem schließt sich ein Überblick über die Verteilung von NS-Belastungen und punktuell auch über die Nähe zum Widerstand innerhalb des ministeriellen Führungspersonals an. Die drei in Kap. I.3 erläuterten Kategorien der NS-Belastung werden hier jeweils mit einer gewissen biographischen Tiefenschärfe an individuellen Beispielen erläutert. Am Ende des vierten Teils folgt ein Exkurs zu ehemaligen NSDAP-Mitgliedschaften und weitergehenden personellen NS-Belastungen in der »Deutschen Atomkommission«; in der Frühphase des Ministeriums war dies ein wichtiges, mit prominenten Vertretern aus Wissenschaft und Wirtschaft besetztes Beratungsgremium.96 Noch genauer werden im ebenfalls personengeschichtlichen fünften Teil fünf quellenmäßig relativ gut zu erfassende ministerielle Führungspersonen behandelt.97 In den ausführlichen biographischen Kapiteln zu Josef Brandl, Wolfgang Cartellieri, Max Mayer, Walther Schnurr und KarlHeinz Spilker sollen, ausgehend von den Herkunftsmilieus, die Lebens96 Vgl. Hans-Peter Kröner, Der Einfluß der deutschen Atomkommission ab 1955 auf die Biowissenschaften, in: Bruch, Rüdiger vom/Kaderas, Brigitte (Hrsg.), ­Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2002, S. 464–470; Alexander von Schwerin, Die Deutsche Atomkommission. Eine biopolitische Institution der frühen Bundesrepublik und die Naturalisierung der ­Risikopolitik, in: Hüntelmann, Axel C. (Hrsg.), Jenseits von Humboldt. Wissenschaft im Staat 1850–1990, Frankfurt a. M. u. a. 2010, S. 103–116. – Genauer zur Atomkommission vgl. unten S. 271–284. 97 Betont sei das Adverb »relativ«. Trotz eines erheblichen Rechercheaufwands müssen auch hier zahlreiche Detailfragen offenbleiben. Genauer zur Auswahl der fünf Personen vgl. unten S. 285 f.

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wege und erfolgreichen Karrieren von Angehörigen deutscher Eliten unterschiedlicher fachlicher Provenienz  – das heißt einerseits juristischer und andererseits naturwissenschaftlich-technischer – vom späten Kaiserreich bis in die Bundesrepublik der 1970er Jahre konkretisiert werden und teilweise auch noch darüber hinaus. Soweit es die Quellen zulassen, wird dabei insbesondere auch auf die bislang in der Forschung meist wenig beachtete biographische Phase vom Ende des NS-Regimes bis zum Eintritt in den Bundesdienst eingegangen, die gleichsam das Scharnier zwischen der Karriere im Nationalsozialismus und in der Bundesrepublik darstellt. Im Zuge dieser Skizzen kann die jeweils sehr unterschiedlich geartete Frage einer persönlichen NS-Belastung und des politisch-gesellschaft­ lichen Umgangs mit diesem Thema individuell ausgeleuchtet werden – ein Zugang, der unseres Erachtens in der bisherigen institutionengeschicht­ lichen Aufarbeitungsforschung zu kurz gekommen ist.98 Im Schlussteil der Studie wird ein zusammenfassendes Resümee gezogen. Anhang 1 bietet zwei Organigramme des Atom- und Forschungsministeriums aus dem Bestand BArch B 138 Org. Anhang 2 enthält ein Verzeichnis mit den wichtigsten biographischen Daten zu den näher untersuchten ministeriellen Führungspersonen (Jahrgang 1927 und älter) sowie zu den jeweils ausgewerteten Quellengrundlagen.

5. Quellen Die vorliegende Arbeit stützt sich auf eine vielfältige Quellenbasis, die hier nur in ihren groben Zügen umrissen werden kann. An erster Stelle sind die im Bundesarchiv Koblenz liegenden Akten des Atom- und Forschungsministeriums (Bestand B 138) zu nennen, die sowohl für die Entwicklung und Selbstdarstellung des Ministeriums als auch für personenbezogene Fragen grundlegend sind. Von großer Bedeutung für die prosopographische und individual-biographische Analyse99 waren ferner 98 Eine Ausnahme stellt vor allem die Studie von Schwartz zum Bund der Vertriebenen dar: Michael Schwartz, Funktionäre mit Vergangenheit. Das Gründungspräsidium des Bundes der Vertriebenen und das »Dritte Reich«, in Zusammenarbeit mit Michael Buddrus, Martin Holler und Alexander Post, München 2013. 99 Da die meisten untersuchten Personen des ministeriellen Führungspersonals im Laufe der Arbeit mehr als einmal vorkommen und da in den jeweils herangezogenen biographischen Quellen bestimmte Informationen oftmals mehrfach zu finden sind, wurde – auch um den Anmerkungsapparat nicht zu sehr anschwellen zu lassen – ein vereinfachtes Belegverfahren gewählt: Der alphabetisch geordnete

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die personenbezogenen Aktenserien des Bundesinnen- und des Bundes­ finanzministeriums (B 106 und B 126) zu Einstellungen und Beförderungen im Atom- und Forschungsministerium.100 Ebenfalls im Bundesarchiv Koblenz konnten zu einem Teil der untersuchten Ministerialbeamten Personalakten eingesehen werden (PERS 101), die größtenteils erst im Laufe unserer Forschungen ihren Weg nach Koblenz gefunden haben. Eine weitere fundamentale Quellengruppe bilden die Materialien des ehemaligen Berlin Document Center im Bundesarchiv Berlin (jetzt Bestand R 9361), die trotz mancher Lücken insbesondere für die Feststellung von NSDAPMitgliedschaften unerlässlich sind. Zu einigen Personen konnten in diversen Archiven Nachlässe ausgewertet werden, etwa der Bestand im Bundesarchiv Koblenz zum langjährigen Staatssekretär im Atom- und Forschungsministerium Wolfgang Cartellieri. Für eine Reihe genauer beleuchteter Biographien wurden auch die in Staats- bzw. Landesarchiven vorhandenen Entnazifizierungsakten herangezogen. Hinzu kam biographisch relevantes Material aus dem Bundesarchiv-Militärarchiv in Freiburg, der Außenstelle des Bundesarchivs Anhang 2.2 enthält die jeweils zu einer Person ausgewertete archivalische Quellengrundlage. Gesondert im Anmerkungsapparat belegt werden nur Zitate und spezifische Einzelinformationen. Von diesem Prinzip weichen nur die ausführ­ lichen biographischen Skizzen in Kap. IV.2 und V ab, in denen die Quellengrundlagen jeweils zu Beginn aufgeführt werden. 100 Sowohl das Finanz- als auch das Innenministerium mussten der Ernennung bzw. Beförderung zustimmen. Neben dem mehrseitigen ausgefüllten Formblatt »Vorschlag zu Ernennung« mit biographischen bzw. dienstlichen Daten findet sich in beiden Aktenserien meist ein einseitiger »Aktenvermerk zum Ernennungsvorschlag«, der u. a. auch Hinweise zur NS-Mitgliedschaft und zur Einstufung bei der »Entnazifizierung« enthält. Die Materialien im Bestand B 106 sind nach Ressorts geordnet (Serientitel »Mitwirkung bei Ernennungsvorschlägen von obersten Bundesbehörden«). Die relevanten Akten zum Atom- und Forschungsministerium (B 106 /11466–114668) enthalten die jeweiligen Unterlagen ungeordnet, wobei nicht selten für eine Person in gebündelter Form mehrere Beförderungen überliefert sind. Die entsprechende Aktenserie im Bestand B 126 (»Prüfung von Ernennungsvorschlägen der obersten Dienstbehörden«) ist – ministeriumsübergreifend – alphabetisch geordnet, die Zahl der relevanten Einzelakten (vgl. unten S. 460 im Quellenverzeichnis) ist daher erheblich größer. Die einschlägigen Ernennungs- und Beförderungsakten im Bestand des Atom- und Forschungsministeriums (B 138 /40317–40318) sind in einer streng chronologischen Reihenfolge. Angaben zu NS-Mitgliedschaften lassen sich hier in der Regel nicht finden. Insgesamt ist die Überlieferungslage zum untersuchten ministeriellen Führungspersonal in den drei genannten Aktenserien gut, wenngleich nicht immer in jeder Serie jede Person aufzufinden war.

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in Ludwigsburg (Bestand B 162101), der einstigen »Wehrmachtauskunftsstelle« (WASt102), der Stasiunterlagenbehörde (BStU103), beide in Berlin, aus verschiedenen Stadtverwaltungen und -archiven sowie aus Partei- und Verbandsarchiven. Eine zusätzliche Perspektive auf die ministerielle Entwicklung und Außendarstellung bieten die im Parlamentsarchiv des Deutschen Bundestags überlieferten Protokolle des jeweils für das Atom- und Forschungsministerium »zuständigen« Bundestagsausschusses. Zudem haben wir in erheblichem Umfang gedrucktes bzw. in digitaler Form zugängliches Material herangezogen, insbesondere die Staatshandbücher der Bundesrepublik Deutschland, die – neben den archivalisch zugänglichen Organigrammen  – Basisinformationen zu den ministeriellen Funktionen der untersuchten Personen vermitteln. Weiterhin zu erwähnen sind das Gemeinsame Ministerialblatt der bundesdeutschen Ministerien, die Jahresberichte des Atom- und Forschungsministeriums, die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung, die Stenographischen Protokolle des Deutschen Bundestags, Aufsätze bzw. Reden von Ministeriumsangehörigen, historische Adressbücher sowie Presseartikel. Ein Teil dieser Quellenbestände ist inzwischen auch online zugänglich.104

101 In diesem Bestand sind die Akten der ehemaligen Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg überliefert. 102 Die Deutsche Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen deutschen Wehrmacht, kurz Deutsche Dienststelle (WASt), wurde zum 1. 1. 2019 aufgelöst, ihre Aufgaben und Bestände dem Bundesarchiv übertragen (Abteilung PA). 103 Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik. 104 Vgl. Quellenverzeichnis. – Quellen, die sowohl in gedruckter Form als auch digitalisiert online verfügbar sind, werden in der Regel nach dem gedruckten Format zitiert (z. B. Artikel aus dem Nachrichtenmagazin »Der Spiegel«). Hinweise auf die Internet-Zugänglichkeit finden sich in derartigen Fällen im Quellenverzeichnis. Nur bei Druckerzeugnissen, die sehr schwer zugänglich sind, erfolgt die Zitierung im Anmerkungsapparat zusätzlich auch über die Internet-Adresse.

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II. Aufbau eines neuartigen Ministeriums:

institutionengeschichtlicher Überblick 1. Vorgängerinstitutionen in der NS-Zeit

Das Atom- und Forschungsministerium hatte im nationalsozialistischen Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung ins­ titutionell allenfalls einen partiellen Vorläufer im Deutschen Reich. Um die Frage nach Kontinuität und Diskontinuität beurteilen zu können, erscheint es notwendig, dessen Entwicklung sowie die Grundzüge der natio­nalsozialistischen Wissenschaftspolitik1 kurz zu skizzieren. Dabei muss die Perspektive noch etwas geweitet werden: Mit Blick auf ihre Kompetenzen können in einem weit gefassten Sinne auch das Reichs­ luftfahrtministerium, das Reichsministerium für Rüstung und Kriegsproduktion und das Reichspostministerium als Vorläufer des Atom- bzw. Forschungsministeriums betrachtet werden, aus dem wissenschaftlich tech­ nologischen Komplex zudem das Heereswaffenamt und die diversen Luftfahrtforschungsinstitutionen wie die Aerodynamische Forschungsanstalt, die Deutsche Forschungsanstalt für Luftfahrt oder die Erprobungsstelle Peenemünde-West. In einigen dieser Institutionen waren leitende Beschäftigte des Atom- und Forschungsministeriums tätig gewesen. Erstaunlicherweise hatte sich kein Angehöriger des ministeriellen Führungspersonals des späteren Atom- und Forschungsministeriums vor 1945 im Umfeld der deutschen Kernforschung bewegt, die weitgehend im Rahmen des sogenannten Uranprojekts stattfand. Dennoch ist es unerlässlich, an dieser Stelle auch einen kurzen Blick auf die Entwicklung der deutschen Atomphysik im Nationalsozialismus zu werfen.

1 Zur nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik vgl. Notker Hammerstein, Wissenschaftssystem und Wissenschaftspolitik im Nationalsozialismus, in: Bruch / Kaderas (Hrsg.), Wissenschaften, S. 219–224; Lothar Mertens, Einige Anmerkungen zur NS-Wissenschafts- und Forschungspolitik, in: ebenda, S. 225–240, und Sören Flachowsky / Rüdiger Hachtmann / Florian Schmaltz (Hrsg.), Ressourcenmobilisierung. Wissenschaftspolitik und Forschungspraxis im NS-Herrschaftssystem, Göttingen 2016.

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Das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung Sowohl im Kaiserreich als auch in der Weimarer Republik waren Bildung und Kultus den Ländern vorbehalten gewesen. Durch das »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« vom April 1933 verloren im Zuständigkeitsbereich des Preußischen Kultusministeriums zahlreiche Beamte, Lehrer und Universitätsdozenten ihre Stellung, da das größte Land des Deutschen Reiches gerade im Bildungs- und Kultussektor viele republiktreue Demokraten eingesetzt hatte. Im Zuge der nationalsozialistischen Reichsreform verschmolzen am 1. Mai 1934 nicht nur das preußische und das Reichsinnenministerium, sondern auch das seit 1817 bestehende Preußische Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung und das neugegründete Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung (RMWEV).2 Während der nationalsozialistische Reichs­ innenminister Wilhelm Frick, der die Kompetenz für die Bildungspolitik nun abgeben musste, zusätzlich zum preußischen Innenminister ernannt wurde, avancierte der preußische Kultusminister und NSDAP-Gauleiter von Südhannover-Braunschweig Bernhard Rust zugleich zum Reichskultusminister.3 Rust leitete das Reichsministerium bis zu seinem Suizid am 2 Auch als Reichserziehungsministerium, Reichsunterrichtsministerium oder Reichs­­ wissenschaftsministerium bezeichnet. Zum Personal des RMWEV vgl. das Forschungsprojekt an der Universität Heidelberg zu den Beamten nachfolgeloser nationalsozialistischer Reichsministerien, ns-reichsministerien.de/2018 /03 /06/ das-reichsministerium-fuer-wissenschaft-erziehung-und-volksbildung-rem/ [20. 11. 2021]. Zum RMWEV vgl. Nagel, Hitlers Bildungsreformer; Armin Nolzen /  Marnie Schlüter, Das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung im nationalsozialistischen Herrschaftssystem, in: Horn, Klaus-­Peter / Link, Jörg-W. (Hrsg.), Erziehungsverhältnisse im Nationalsozialismus. Totaler Anspruch und Erziehungswirklichkeit, Bad Heilbrunn 2011, S. 341–355; Notker Hammerstein, Die Deutsche Forschungsgemeinschaft in der Weimarer Republik und im Dritten Reich. Wissenschaftspolitik in Republik und Diktatur 1920–1945, München 1999, S. 118–141. Zum preußischen Kultusministerium vgl. Acta Borussica – Neue Folge. Preußen als Kulturstaat. Das preußische Kultusministerium als Staatsbehörde und gesellschaftliche Agentur (1817–1934), Reihe 2, Abteilung I., Bd. 2.1: Das Kultusministerium auf seinen Wirkungsfeldern Schule, Wissenschaft, Kirchen, Künste und Medizinalwesen – Darstellung, hrsg. von Bärbel Holtz und Wolfgang Neugebauer, Berlin 2010, sowie Bernhard vom Brocke, Kultusministerien und Wissenschaftsverwaltungen in Deutschland und Österreich. Systembrüche und Kontinuitäten 1918 /19 – 1933 /38 – 1945 /46, in: Bruch / Kaderas (Hrsg.), Wissenschaften, S. 193–214. 3 Zur Biographie Rusts vgl. auch N. Hammerstein, Forschungsgemeinschaft, S. 122 f.

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8. Mai 1945. Mit Ausnahme des Finanzministeriums wurden im Laufe des Jahres 1934 alle preußischen Ministerien mit ihren Pendants auf Reichs­ ebene zusammengelegt – die faktische Abschaffung der Länder im nationalsozialistischen Einheitsstaat nahm Gestalt an. Durch das »Gesetz über den Neuaufbau des Reiches« vom Januar und vollends mit dem »Erlass über die Errichtung des Reichsministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung« vom Mai 1934 verloren die Kultusressorts auf Landesebene ihre Selbständigkeit.4 Das neue Reichsministerium erhielt durch einen Erlass Hitlers die Richtlinienkompetenz für die Schul- und Bildungspolitik, die bisher bei der Kulturpolitischen Abteilung des Reichsministeriums des Innern gelegen hatte, und war fortan in ganz Deutschland für Schulen, Hochschulen, Forschungsinstitute und Museen zuständig.5 Joseph Goebbels, der sich selbst als zuständig für alle Kulturfragen betrachtete und für den die Ernennung Rusts eine Enttäuschung gewesen war, verhinderte die naheliegende Bezeichnung des Hauses als Reichskultusministerium. Seit 1936 war offiziell die Kurzbezeichnung »Reichserziehungsministerium« in Gebrauch, womit der Erziehungsgedanke als wichtiger Bestandteil der NS-Ideologie unterstrichen werden sollte.6 Auch der Begriff »Reichswissenschaftsministerium« wurde teilweise verwendet. Mit der Gründung des RMWEV im Mai 1934 war die föderale Tradition der Kultuspolitik in Deutschland vorerst beendet. Erstmals waren in Deutschland die Bildungs- und Wissenschaftskompetenzen auf Reichsebene gebündelt worden. Die weitgehende »Verreichlichung«7 der Wissenschaft diente fortan der Effizienzsteigerung, dem Autarkiestreben und damit letztlich der Kriegsvorbereitung. Das ständig expandierende Ministerium war schon vor dem »Anschluss« Österreichs für rund 250.000 Beamte im Reich zuständig. Bis 1939 verdoppelte sich die Anzahl der im Ministerium Beschäftigten fast,

4 Vgl. Nagel, Hitlers Bildungsreformer, S. 80, und Nolzen / Schlüter, Reichsministerium, S. 343 f. zum Erlass. 5 Vgl. ebenda. 6 Vgl. Nolzen / Schlüter, Reichsministerium, S. 346. 7 Zum Begriff der »Verreichlichung« vgl. N. Hammerstein, Forschungsgemeinschaft, S. 238, und Mitchell G. Ash, Außeruniversitäre Forschung im Nationalsozia­lismus. Gedanken zu einer Entwicklungsgeschichte, in: Schumann, Dirk / Schauz, Désirée (Hrsg.), Forschen im »Zeitalter der Extreme«. Akademien und andere Forschungseinrichtungen im Nationalsozialismus und nach 1945, Göttingen 2020, S. 17–41, hier S. 26.

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1944 lag sie bei 672 Mitarbeitern.8 Personell zählte das RMWEV damit zu den kleineren Ressorts im nationalsozialistischen Deutschland. Das RMWEV untergliederte sich ab dem Sommer 1934 vor allem in ein sieben Abteilungen umfassendes »Amt Erziehung« und ein nicht ganz so großes »Amt Wissenschaft«, auf das im Folgenden etwas genauer eingegangen wird. Hinzu kamen diverse kleinere Abteilungen wie ein »Amt Volksbildung« und ein »Amt körperliche Ertüchtigung«. Das Amt Wissenschaft (Amt W), das nun auch die Aufsicht über die Institute der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften (KWG) und der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) innehatte, bestand aus der Hochschulabteilung (WI) und der Forschungsabteilung (WII).9 Erster Chef des Amtes W war der Mathematiker Theodor Vahlen, ein Förderer der antisemitischen sogenannten »Deutschen Mathematik«. Ihm folgten ab 1937 der badische Kultusminister und promovierte Germanist Otto Wacker und ab 1939 der Chemiewaffenforscher Rudolf ­Mentzel.10 Mentzel, seit 1936 DFG-Präsident, gilt als einer der einflussreichsten nationalsozialistischen Wissenschaftspolitiker. Mentzels Vorgänger als DFG-Präsident, der Nobelpreisträger und Vertreter der rassistischen »Deutschen Physik« Johannes Stark, hatte seinen Posten aufgeben müssen, nachdem er Rust Ende 1936 in einer erbitterten Auseinandersetzung um das Verfügungs- und Bewilligungsrecht von Forschungsgeldern unterlegen war.11 Während des Krieges etablierte Mentzel das RMWEV erfolgreich als wissenschaftspolitisches Zentrum des Reiches.12

8 Von denen allerdings 147 zu diesem Zeitpunkt zur Wehrmacht eingezogen waren, vgl. Nolzen / Schlüter, Reichsministerium, S. 346, und Nagel, Hitlers Bildungsreformer, S. 69. 9 Zum Aufbau vgl. Nolzen / Schlüter, Reichsministerium, S. 345 f. Zum Amt Wissenschaft und dessen Leitungspersonal vgl. Sören Flachowsky, Von der Not­ gemeinschaft zum Reichsforschungsrat. Wissenschaftspolitik im Kontext von Autarkie, Aufrüstung und Krieg, Stuttgart 2008, S. 134–154. 10 Vgl. Nolzen / Schlüter, Reichsministerium, S. 347. Zu Mentzel vgl. auch Florian Schmaltz, Kampfstoff-Forschung im Nationalsozialismus. Zur Kooperation von Kaiser-Wilhelm-Instituten, Militär und Industrie, Göttingen 2005, passim. 11 Vgl. Nagel, Hitlers Bildungsreformer, S. 107 f. Zur DFG unter Mentzel auch Flachowsky, Notgemeinschaft, S. 201–231. 12 Vgl. Nagel, Hitlers Bildungsreformer, S. 115. Zur Politik des RMWEV vgl. auch Michael Grüttner, Wissenschaftspolitik im Nationalsozialismus, in: Kaufmann, Doris (Hrsg.), Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus. Bestandsaufnahme und Perspektiven der Forschung, Göttingen 2000, S. 557– 585, und N. Hammerstein, Forschungsgemeinschaft, S. 235–380.

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Rusts Ministerium rang permanent mit anderen nationalsozialistischen Instanzen um Macht und Einfluss, die sich ebenfalls auf dem Feld der Wissenschafts-, Forschungs- und Kultuspolitik bewegten. Die ältere Forschung erklärte diese Auseinandersetzungen mit einer vermeintlich polykratischen Herrschaftsstruktur im Nationalsozialismus. Neuere Untersuchungen zeigen aber, dass es sich vielmehr um klassische Konkurrenzsituationen handelte, die durch arbeitsteilige Prozesse von Verwaltungsbehörden entstanden.13 Zähe Konflikte gab es unter anderem mit Reichsleiter Alfred Rosenberg, der seine »Hohen Schulen« als Konkurrenz zum Universitätssystem aufbauen wollte, Reichsführer-SS Heinrich Himmler, dessen obskures »Ahnenerbe« zur Umsetzung seiner wissenschaftspolitischen Ambitionen diente, dem Stellvertreter des Führers Rudolf Heß und der Hitler direkt unterstellten »Dienststelle Bouhler«.14 Die fortwährenden Einflussnahmen von Parteiinstanzen – die nicht nur jedem Gesetz, sondern auch jeder Ernennung oder Beförderung im höheren oder mittleren Dienst zustimmen mussten15– behinderten die Zentralisierungsbemühungen des Ministeriums erheblich. Dennoch griffe es zu kurz, die Geschichte des RMWEV, dessen Richtlinienkompetenz letztlich ab 1936 /37 nicht mehr in Frage gestellt wurde, als reine Konflikt­ geschichte zu erzählen. Einen »Staatsapparat ohne strukturelle Konflikte« hat es noch nie gegeben.16 Im Herbst 1934 machte sich Rust daran, das Gefüge der deutschen Forschungsinstitutionen dauerhaft neu zu ordnen und die zivile Forschung mit der militärischen zu verbinden. Die durch das Amt Wissenschaft geplante »Reichsakademie der Forschung« sollte die DFG ersetzen und alle Forschungseinrichtungen im Reich beaufsichtigen, um den Einsatz von Fördergeldern optimieren und kontrollieren zu können.17 Die Kaiser13 Vgl. Nolzen / Schlüter, Reichsministerium, S. 347–351. Zur Polykratie vgl. Ian Kershaw, Der NS-Staat. Geschichtsinterpretationen im Überblick, Hamburg 42009. 14 Vgl. N. Hammerstein, Forschungsgemeinschaft, S. 314–319. Zum »Ahnenerbe« vgl. ebenda, S. 249–261. 15 Vgl. Nolzen / Schlüter, Reichsministerium, S. 349. 16 Vgl. ebenda, S. 355. 17 Zur Reichsakademie vgl. Nagel, Hitlers Bildungsreformer, S. 234–237. Zur nationalsozialistischen Forschungspolitik vgl. Helmuth Trischler, Wachstum – Systemnähe – Ausdifferenzierung. Großforschung im Nationalsozialismus, in: Bruch / Kaderas (Hrsg.), Wissenschaften, S. 241–252, und Helmut Maier, »Unideologische Normalwissenschaft« oder Rüstungsforschung? Wandlungen naturwissenschaftlich-technologischer Forschung und Entwicklung im »Dritten Reich«, in: Bruch /  Kaderas (Hrsg.), Wissenschaften, S. 253–262.

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Abb. 2: Zeitgenössische Darstellung der Beziehungen des Reichserziehungs­ ministeriums zu den wissenschaftlichen Institutionen ab 1937.

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Wilhelm-Gesellschaft sollte aufgrund ihres internationalen Renommees bestehen bleiben. Nach einer Intervention des DFG-Präsidenten Johannes Stark, der seine Einrichtung durch die Reichsakademie gefährdet sah, wurde das Vorhaben vorerst gestoppt.18 Als jedoch Stark Ende 1936 durch Mentzel als DFG-Präsident ersetzt wurde und Rusts Ministerium de facto die DFG übernahm, war ein wichtiger Schritt auf dem Weg in die völlige Forschungskontrolle und -lenkung getan. Am 25. Mai 1937 wurde im Reichswissenschaftsministerium im Beisein Adolf Hitlers feierlich der Reichsforschungsrat eröffnet, der nicht nur für die Mittelverteilung an den rund 1.000 dem RMWEV unterstehenden Forschungsinstituten zuständig war, sondern durch verbesserte Koordination auch Ressourcenverschwendung verhindern sollte.19 Die Luftfahrtforschung unter Hermann Göring, die KWG und die Technischen Reichsanstalten waren nicht beteiligt. Erklärte Politik des Reichsforschungsrates war es seinem ersten Präsidenten General Karl Becker zufolge, »staatswichtige« Aufgaben privilegiert zu fördern und minder bedeutsame Forschungsprojekte, vor allem solche, die keine Relevanz für den 1936 verordneten »Vierjahresplan« hatten, mit dem Deutschlands Industrie und Rüstungswirtschaft auf den Krieg vorbereitet werden sollte, zurück- oder einzustellen.20 Angewandte Forschung sollte grundsätzlich der Grundlagenforschung vorgezogen werden. Für die Geisteswissenschaften blieb weiterhin die DFG zuständig, da von ihnen kein Beitrag zur Erfüllung des »Vierjahresplans« erwartet wurde. Die Einrichtung des Reichsforschungsrates war der zweite Etappensieg des RMWEV im Ringen um Kontrolle über die deutsche Forschungslandschaft, nachdem das Ministerium seit November 1936 bereits die DFG beherrschte.21 Auch die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft wurde nun schritt-

18 Zur DFG-Präsidentschaft Johannes Starks vgl. auch Flachowsky, Notgemeinschaft, S. 163–200. 19 Zum Reichsforschungsrat vgl. N. Hammerstein, Forschungsgemeinschaft, S. 203– 234, und Flachowsky, Notgemeinschaft, ders., Mobilisierung der Wissenschaft für den Krieg. Reichsforschungsrat und Reichsamt für Wirtschaftsbau, in: Schumann / Schauz (Hrsg.), Forschen, S. 99–105, sowie Ruth Federspiel, Mobilisierung der Rüstungsforschung? Werner Osenberg und das Planungsamt im Reichsforschungsrat 1943–1945, in: Maier, Helmut (Hrsg.), Rüstungsforschung im Nationalsozialismus. Organisation, Mobilisierung und Entgrenzung der Technikwissenschaften, Göttingen 2002, S. 72–105. 20 Vgl. Nagel, Hitlers Bildungsreformer, S. 241. 21 Vgl. ebenda, S. 242.

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weise »gleichgeschaltet«22 und ihre Institute zunehmend in die Rüstungsforschung eingespannt.23 Nach dem Ende der Amtszeit Max Plancks als Präsident wurde 1937 die Dienstaufsicht durch das RMWEV in der Satzung der KWG festgehalten.24 Damit hatte das Ministerium die Steuerung der angesehensten Forschungseinrichtung im Deutschen Reich fest in die Hand bekommen.25 Allerdings stieß Rusts Politik spätestens im Krieg durch parteiinterne Partikularinteressen und die totale Unterordnung unter den Primat der Wehrwirtschaft an Grenzen.26 Denn das Potential der Kaiser-WilhelmGesellschaft reizte auch Ernährungsminister Darré und Luftfahrtminister Göring, der KWG 1938 fast so viele Forschungsförderungsmittel zur Verfügung zu stellen, wie das RMWEV regulär bezuschusste. Um die ­angemessene Vertretung ihrer Ministerien in den Führungsgremien der Gesellschaft sicherzustellen, setzten sie die Ernennung ihrer Staatssekretäre Wilhelm Backe (Ernährungsministerium) und Erhard Milch (Luftfahrt) zu Senatoren der KWG durch.27 Reichsminister Rust behielt aber die Dienstaufsicht über die KWG. Als Rudolf Mentzel 1939 neuer Chef des Amtes W im RMWEV wurde, forderte er in einem Dreipunkteprogramm die zentralen deutschen Forschungseinrichtungen auf, erstens das Ansehen der Wissenschaft und der Wissenschaftler in der »Volksgemeinschaft« zu heben, zweitens betonte er die Bedeutung des Forschungsnachwuchses für die »völkische Gemeinschaft« und drittens rief er zu einer Vereinfachung und Vereinheitlichung der Forschungsförderung auf.28 Der unter Rust und Mentzel gegründete 22 Zum Begriff der »Gleichschaltung« vgl. Cornelia Schmitz-Berning, Vokabular des Nationalsozialismus, Berlin – New York 2000, S. 277–280. 23 Zur KWG vgl. Maier (Hrsg.), Gemeinschaftsforschung; Rüdiger Hachtmann, Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft 1933 bis 1945. Politik und Selbstverständnis einer Großforschungseinrichtung, in: VfZ 56 (2008), S. 19–52; ders., Wissenschafts­ management in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Das Beispiel der KaiserWilhelm-Gesellschaft, in: Bora, Alfons (Hrsg.), Wissensregulierung und Regulierungswissen, Weilerswist 2014, S. 83–106; ders., Im Spannungsfeld zwischen Staat und Wissenschaft. Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus, in: Hüntelmann (Hrsg.), Humboldt, S. 87–102, ders., Expansive Forschungspolitik: Die NS-Diktatur und die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, in: Schumann / Schauz, (Hrsg.), Forschen, S. 61–92, und Heim, Susanne (Hrsg.), The Kaiser Wilhelm Society under National Socialism, Cambridge 2009. 24 Vgl. Nagel, Hitlers Bildungsreformer, S. 250. 25 Vgl. ebenda, S. 251. 26 Vgl. ebenda, S. 365. 27 Vgl. ebenda, S. 251 f. 28 Vgl. ebenda, S. 244.

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Reichsforschungsrat verteilte zwar die entscheidenden Ressourcen in den Natur-, Technik- und Wehrwissenschaften, sein Einfluss auf die Industrie- und Militärforschung blieb allerdings zunächst gering.29 Als am 9. Juni 1942 Göring an die Spitze des Reichsforschungsrats trat, folgte eine verstärkte Kooperation aller naturwissenschaftlichen und technischen Institute auf den Gebieten der Rüstungs- und Rohstoffforschung. Rust und Mentzel konnten ihr eigentliches Ziel, die Verreichlichung der Universitäten und großen Forschungsinstitute, nicht umsetzen; aber auch nach dem Umbau des Reichsforschungsrats blieben sie maßgebliche Akteure der nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik. Werfen wir einen kurzen Blick auf die Schul- und Hochschulpolitik des RMWEV.30 Zentralisierungsbestrebungen stellten zwar kein Alleinstellungsmerkmal nationalsozialistischer Bildungspolitik dar und fanden sich schon im Kaiserreich und in der Weimarer Republik in vielen politischen Programmen. Das RMWEV jedoch suchte die föderalen Strukturen im deutschen Bildungssystem im Sinne des totalitären Staates aufzulösen. Die Durchsetzung des dreigliedrigen Schulsystems führte zu einer Homogenisierung des deutschen Schulwesens und beeinflusste die weitere Entwicklung der Bildungspolitik in Deutschland bis in die Gegenwart. In den ersten Monaten der nationalsozialistischen Herrschaft hatte das rigoros angewendete »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« vom April 1933 zu einer Entlassungswelle geführt.31 45 Prozent aller bis 1939 neu besetzten Stellen an Universitäten und Hochschulen waren aufgrund der NS-Entlassungspolitik vakant geworden.32 Die Einführung einer neuen reichsweiten Hochschulverfassung durch das ­ MWEV im April 1935 zielte auf eine Zentralisierung und Einschränkung R

29 Ausführlich zum Reichsforschungsrat Flachowsky, Notgemeinschaft, S. 232–462. 30 Zur NS-Schul- und Hochschulpolitik vgl. Horn / Link (Hrsg.), Erziehungsverhältnisse; Rolf Eilers, Die nationalsozialistische Schulpolitik. Eine Studie zur Funktion der Erziehung im totalitären Staat, Köln 1963; Harald Scholtz, NS-Ausleseschulen. Internatsschulen als Herrschaftsmittel des Führerstaates, Göttingen 1973; Margarete Götz, Die Grundschule in der Zeit des Nationalsozialismus. Eine Untersuchung der inneren Ausgestaltung der vier unteren Jahrgänge der Volksschule auf der Grundlage amtlicher Maßnahmen, Bad Heilbrunn / Obb. 1997. 31 Vgl. Hans-Christian Jasch, Die Rassengesetzgebung im »Dritten Reich«, in: Brechtken, Magnus / Jasch, Hans-Christian / Kreutzmüller, Christoph / Weise, Niels (Hrsg.), Die Nürnberger Gesetze – 80 Jahre danach. Vorgeschichte, Entstehung, Auswirkungen, Göttingen 2017, S. 166–170. 32 Vgl. Nagel, Hitlers Bildungsreformer, S. 257.

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der akademischen Selbstverwaltung in den Ländern.33 Die neu eingeführte Trennung von Habilitation und Erteilung der Lehrerlaubnis eröffnete ­nationalsozialistischen Parteiinstanzen wie dem Stab des »Stellvertreters des Führers«, dem Studenten- und Dozentenbund sowie den Gauleitungen nun – ebenso wie in Berufungsverfahren – erhebliche Einflussmöglichkeiten. Die Hochschulrektoren wurden Rust fortan als »Führer der Hochschulen« direkt unterstellt. Im Februar 1939 folgte das »Gesetz über die Besoldung der Hochschullehrer«, das durch eine finanzielle Besserstellung vor allem des akademischen Mittelbaus die Rekrutierung wissenschaftlichen Nachwuchses erleichtern sollte.34 Der durch permanente NS-Agitation bedingte Ansehensverlust des Wissenschaftlerstandes führte ab Mitte der 1930er Jahre zu einem Nachwuchsmangel, der durch die Verdrängung von Wissenschaftlern aus rasseideologischen und politischen Gründen weiter verstärkt wurde. Aus der Erkenntnis heraus, dass man die Kooperation der wissenschaftlichen Elite zur Umsetzung der nationalsozialistischen Ziele dringend benötigte, versuchte das Ministerium gravierende personelle Eingriffe später möglichst zu vermeiden. Vermutlich aus demselben Grund stützte Hitler Rust mehrfach bei Angriffen Himmlers, da er wohl erkannte, dass eine weitere Ideologisierung der Wissenschaft wichtige Teile der akademischen Eliten abschrecken würde, die zur Umsetzung der Kriegsziele gebraucht wurden. Rust zielte stattdessen auf eine langfristig geschicktere, beharrliche und langsame Indoktrination.

Forschungsförderung außerhalb des Reichsministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung Der Nationalsozialismus war mitnichten so wissenschaftsfeindlich, wie die Geschichtsschreibung lange annahm. In vielfältiger Weise profitierte die Forschung von der finanziellen Förderung des Reiches, vor allem auf den Feldern der Medizin, der Technik- und Naturwissenschaften sowie der Forschung im Sinne der Autarkie- und Rüstungspolitik.35 Bezeich33 Vgl. Anna-Maria von Lösch, Der nackte Geist. Die Juristische Fakultät der Berliner Universität im Umbruch von 1933, Tübingen 1999, S. 247 f. 34 Vgl. Nagel, Hitlers Bildungsreformer, S. 261. 35 Zur Forschungsförderung durch die DFG vgl. Lothar Mertens, »Nur politisch Würdige«. Die DFG-Forschungsförderung im Dritten Reich 1933–1937, Berlin – Boston 2004; Karin Orth, Autonomie und Planung der Forschung. Förder­ politische Strategien der Deutschen Forschungsgemeinschaft 1949–1968,

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nend war die Gründung einer eigenen Fakultät für Wehrwissenschaft an der TH Berlin nach 1937. Die Geisteswissenschaften wurden allenfalls entsprechend der legitimatorischen Bedürfnisse des Regimes gefördert. Vor dem Hintergrund des Vierjahresplans geriet reine Grundlagenforschung gegenüber der Zweckforschung ins Hintertreffen. Im Folgenden sollen kursorisch einige Reichsministerien, Ämter und Institutionen angeführt werden, die hinsichtlich ihrer Aufgaben entweder partiell als Vorläufer des späteren bundesdeutschen Atom- und Forschungsministeriums betrachtet werden können oder deren Personal aufgrund seiner fachlichen Kompetenzen den Weg in das genannte Bundesministerium fand. Das Reichsluftfahrtministerium (RLM) unter seinem Minister Hermann Göring wurde 1933 gegründet. Das RLM war weniger ein ziviles Luftfahrt- als vielmehr ein Luftwaffenministerium. Seine eigentlichen Aufgaben bestanden in der konspirativen Aufrüstung entgegen der Bestimmungen des Versailler Vertrages und der Förderung der im März 1935 offiziell gegründeten Luftwaffe.36 Das Technische Amt des RLM unter Ernst Udet (ab 1941 Erhard Milch) war für die Flugzeugentwicklung zuständig. In der Versuchsstelle der Luftwaffe Peenemünde-West auf der Ostseeinsel Usedom, an der Max Mayer (vgl. Kap. V.3) tätig war, wurde unter anderem der von Zwangsarbeitern unter entsetzlichen Bedingungen im Konzentrationslager Dora-Mittelbau produzierte Marschflugkörper Fieseler Fi. 103 (umgangssprachlich »V 1«) entwickelt.37 Beim Forschungsamt der Luftwaffe handelte es sich, anders als sein Name vermuten ließe, um einen Nachrichtendienst, der sich primär mit dem Abhören von Telefon- und Funkverbindungen befasste. Zur Forcierung der Luftfahrtforschung entstand 1935 neben der bereits seit 1912 bestehenden Deutschen Versuchsanstalt für Luftfahrt (DVL) in Berlin-Adlershof und der Aerodynamischen Versuchsanstalt (AVA, siehe unten) in Göttingen die Deutsche Forschungsanstalt für Luftfahrt (DFL) gart 2011; dies. / Willi Oberkrome (Hrsg.), Die Deutsche Forschungsgemeinschaft 1920–1970. Forschungsförderung im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik, Stuttgart 2010; N. Hammerstein, Forschungsgemeinschaft; Flachowsky, Notgemein­schaft. 36 Zum RLM vgl. auch Helmuth Trischler, Aeronautical Research under National Socialism. Big Science or Small Science?, in: Szöllösi-Janze, Margit (Hrsg.), ­Science in the Third Reich, Oxford 2001, S. 79–110. 37 Zur unterirdischen Raketenproduktion durch KZ-Häftlinge vgl. Jens-Christian Wagner, Zwangsarbeit für die V2, in: Hoffmann, Dieter / Walker, Mark (Hrsg.), »Fremde« Wissenschaftler im Dritten Reich. Die Debye-Affäre im Kontext, Göttingen 2011, S. 339–362.

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in Braunschweig, die 1938 in Luftfahrtforschungsanstalt Hermann Göring (LFA) umbenannt wurde. Die aufrüstungsbedingte Konjunktur der Luftfahrtforschung wird am rasanten Personalaufschwung der genannten Institutionen erkennbar: Bis 1939 versechsfachten, bis 1942 versiebenfachten DVL, AVA und DFL/LFA ihre Mitarbeiterzahl.38 Exemplarisch für die zahlreichen Akteure in der Luftfahrtforschung, die in einer gewissen inhaltlichen und vereinzelt auch personellen Kontinuität zum späteren bundesdeutschen Atom- und Forschungsministerium standen, soll an dieser Stelle die 1915 unter Beteiligung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft gegründete Aerodynamische Versuchsanstalt (AVA) in Göttingen betrachtet werden,39 wie die DVL, eine Vorgängerinstitution des 1969 begründeten Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR).40 Während des Ersten Weltkrieges führte die AVA militärische Untersuchungen für die Luftfahrt durch. Seit 1919 unter alleiniger Trägerschaft der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, wurde die Anstalt in Göttingen, damals neben Cambridge und Kopenhagen eines von drei Weltzentren der Physik, 1924 zum Kaiser-Wilhelm-Institut für Strömungsforschung. Dass die Versuchsanstalt nach einer Phase der Stagnation in den 1920er Jahren personell und finanziell enorm von der nationalsozialistischen Kriegsvor-

38 Vgl. Maier, Luftfahrtforschung im Nationalsozialismus, S. 109. 39 Zur AVA vgl. Florian Schmaltz, Luftfahrtforschung unter deutscher Besatzung. Die Aerodynamische Versuchsanstalt Göttingen und ihre Außenstellen in Frankreich im Zweiten Weltkrieg, in: Hoffmann / Walker (Hrsg.), »Fremde« Wissenschaftler, S. 384–407; ders., Vom Nutzen und Nachteil der Luftfahrtforschung im NS-Staat. Die Aerodynamische Versuchsanstalt Göttingen und die Strahltriebwerksforschung im Zweiten Weltkrieg, in: Pieper, Christine (Hrsg.), Vom Nutzen der Wissenschaft. Beiträge zu einer prekären Beziehung, Stuttgart 2010, S. 67– 113; Eckard Henning / Marion Kazemi (Hrsg.), 100 Jahre Kaiser-Wilhelm-/ Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften, Teil II/1: Handbuch zur Institutsgeschichte der Kaiser-Wilhelm-/Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften 1911–2011. Daten und Quellen, Fürstenwalde 2016, S. 27–45; Walter Wuest, Sie zähmten den Sturm. Zur Geschichte der AVA, einem der Forschungszentren der Deutschen Forschungsanstalt für Luft- und Raumfahrt (DLR) in Göttingen, Göttingen 1991; Michael Eckert, Aerodynamik und Hydrodynamik. Die Prandtl-Schule 1904–1933, in: Trischler / Schrogl / Kuhn (Hrsg.), Ein Jahrhundert im Flug, S. 51–69; Helmuth Trischler, »Big Science« or »Small Science«? Die Luftfahrtforschung im Nationalsozialismus, in: Kaufmann (Hrsg.), Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, S. 328–362. 40 Der ursprüngliche Name war Deutsche Forschungs- und Versuchsanstalt für Luft- und Raumfahrt.

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bereitung profitierte, überrascht nicht.41 Die AVA vergrößerte sich nach 1933 rasant, ihr Personal wuchs von 80 Mitarbeitern im Jahr 1933 auf über 500 im Jahr 1938 (allein im Jahr 1935 wurde der Personalbestand mehr als verdoppelt) und 700 bis zum Jahr 1940.42 Zum 1. April 1937 wurde die AVA in einen Trägerverein überführt, vom Kaiser-Wilhelm-Institut getrennt und von nun an überwiegend durch das Reichsluftfahrtministerium und durch Industrieaufträge finanziert. Neben Projekten zur zivilen und militärischen Luftfahrttechnik führte die Versuchsanstalt auch ballistische Geschoßuntersuchungen für Luftwaffe, Heer, Marine und Industrie durch. Die Experimente in ihren Windkanälen leisteten einen zentralen Beitrag zur Entwicklung des Strahltriebwerkflugzeugs und damit zur Waffenentwicklung.43 Unter starkem Einfluss des Reichsluftfahrtministeriums entwickelte sich die AVA zu einer der größten deutschen Einrichtungen auf dem Gebiet der Luftfahrtforschung, die nach Kriegsbeginn ein riesiges Netzwerk von Außenstellen im besetzten West- und Osteuropa unterhielt. Ein Großteil der Beschäftigten wurde 1945 entlassen und nur einige wenige, offenbar besonders qualifizierte Mitarbeiter von der britischen Armee in das Nachfolgeinstitut der AVA, nun unter Aufsicht des Ministry of Aircraft Production, übernommen.44 Darunter war der spätere Ministerialdirektor und Leiter der Abteilung »Kerntechnik, Datenverarbeitung, Technologien« im Atomministerium Dr. Joachim Pretsch, der von 1935 bis 1945 ununterbrochen wissenschaftlicher Mitarbeiter der AVA gewesen war.45 Die Bedeutung der AVA und des Forschungsstandorts Göttingen für die Wissenschaft lässt sich auch daran erkennen, dass in ihren Räumlichkeiten am 26.  Februar 1948 die neue Max-Planck-Gesellschaft gegründet wurde.46 Die Luftfahrtforschungsanstalt München (LFM) sollte eines der größten aeronautischen Forschungszentren des Reiches werden, wurde bis Kriegsende aber nicht mehr fertiggestellt. Gemeinsam mit anderen Instituten, die in den vermeintlich vor alliierten Luftangriffen sicheren Süden Deutsch41 Zur Aufrüstung vgl. Budraß, Flugzeugindustrie, und Maier, Luftfahrtforschung im Nationalsozialismus. 42 Vgl. Henning / Kazemi (Hrsg.), 100 Jahre, Teil II/1, S. 34, und Schmaltz, Luftfahrtforschung, S. 385. 43 Vgl. ders., Nutzen, S. 68 f. 44 Henning / Kazemi (Hrsg.), 100 Jahre, Teil II/1, S. 1544 f. 45 Ebenda, S. 38, und BArch, PERS 101 /82491, Bl. 3. Quellengrundlage siehe Anhang 2. 46 Henning / Kazemi (Hrsg.), 100 Jahre, S. 40.

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lands verlegt worden waren, bildete sie die Basis für den Aufschwung Bayerns zum Hochtechnologiestandort im Luftfahrtsektor nach 1945.47 Aufgrund seiner umfassenden Kompetenzen auf dem Gebiet sämtlicher kriegswichtiger Forschungen könnte auch das im März 1940 gegründete Reichsministerium für Bewaffnung und Munition unter Fritz Todt (ab September 1943 Reichsministerium für Rüstung und Kriegsproduktion) als partieller Vorläufer des Atom- und Forschungsministe­riums betrachtet werden. Auf Todt folgte, nach dessen Unfalltod am 8.  Februar 1942, ­Albert Speer als Rüstungsminister.48 Speer erhielt praktisch unbeschränkte Befugnisse zur Optimierung der Kriegswirtschaft und der Rüstungs­industrie. Auch durch seine Immediatstellung zu Hitler verfügte Speer über eine enorme Machtfülle. Ab 1943 wurden dem nunmehrigen Reichsministerium für Rüstung und Kriegsproduktion sämtliche Wirtschaftsbereiche unterstellt, seit Juni 1944 war Albert Speer auch für die Luftrüstung zuständig. Schon seit 1941 war Todt als Generalinspekteur für Wasser und Energie auch für die Wasserwirtschaft verantwortlich gewesen, die sich in der Bundesrepublik zeitweise in der Zuständigkeit des Atom- und Forschungsministeriums befand.

Atomforschung im nationalsozialistischen Deutschland Am 17. Dezember 1938 gelang Otto Hahn und Fritz Straßmann am Berliner Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie die erste Kernspaltung. Die Geschichte der sich in den folgenden Jahren in rasanter Geschwindigkeit entwickelnden Kernforschung – keine vier Jahre später wurde unter Enrico Fermi in Chicago die erste kontrollierte Kettenreaktion in einem Atomreaktor angefahren – kann und soll an dieser Stelle allenfalls gestreift werden.49 Spätestens Anfang 1939 war weltweit den meisten Kernphysikern 47 Vgl. Helmuth Trischler, Auf der Suche nach institutioneller Stabilität. Luft- und Raumfahrtforschung in der Bundesrepublik Deutschland, in: ders./Schrogl / Kuhn (Hrsg.), Ein Jahrhundert im Flug, S. 195–210, hier S. 196. 48 Zu Todt und Speer vgl. Blaine Taylor, Hitler’s Engineers. Fritz Todt and Albert Speer. Master Builders of the Third Reich, Philadelphia 2010; Alan S. Milward, Fritz Todt als Minister für Bewaffnung und Munition, in: VfZ 14 (1966), S. 40–58; Magnus Brechtken, Albert Speer. Eine deutsche Karriere, München 2017, S. 153– 292. 49 Vgl. Carson, Heisenberg; Till Bastian, High Tech unterm Hakenkreuz. Von der Atombombe bis zur Weltraumfahrt, Leipzig 2005; Walker, Eine Waffenschmiede?; Rose, Atombombenprojekt; Richard von Schirach, Die Nacht der Physiker. Heisenberg, Hahn, Weizsäcker und die deutsche Bombe, Berlin 2012.

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bewusst, dass die Entwicklung einer Nuklearwaffe mit ungekannter Zerstörungskraft durch die Auslösung einer unkontrollierten Kernspaltung nun in den Bereich des Möglichen gerückt war. Schon im August desselben Jahres warnte Albert Einstein den US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt vor den Gefahren einer (deutschen) Kernwaffe und löste damit zu seinem späteren Bedauern den Start eines amerikanischen Atombombenprojekts aus. In Deutschland befassten sich zu diesem Zeitpunkt erstaunlich viele Stellen mit kernphysikalischen Fragen. Schon vor Einsteins Initiative in den USA hatten sich im April 1939 die deutschen Physiker Paul Harteck und Wilhelm Groth schriftlich an das Oberkommando der Wehrmacht gewandt und auf das militärische Potential der Kernspaltung hingewiesen.50 Daraufhin beauftragte die Forschungsabteilung im Heereswaffenamt (HWA) den Physiker Kurt Diebner, sich mit der möglichen Herstellung von Kernwaffen zu befassen. Das Berliner Heereswaffenamt war die zentrale Instanz für die technische Entwicklung und Herstellung von Waffen, Munition und Ausrüstung des deutschen Heeres.51 Im Frieden war es dem Oberbefehlshaber des Heeres unterstellt, seit Kriegsausbruch dem Chef der Heeresrüstung und Befehlshaber des Ersatzheeres Friedrich Fromm. Erprobungen von Waffen und Gerät fanden in den Heeresversuchsanstalten Kummersdorf (südlich Berlins) und Peenemünde-Ost statt. Zentrum der chemischen und physikalischen Forschungen Diebners war das nahe Kummersdorf gelegene Gottow. Ende April 1939 wurde auf einer Sitzung der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt der sogenannte »Uranverein« gegründet, eine Projektgruppe der wichtigsten deutschen Kernphysiker, die sich mit der zivilen und militärischen Nutzbarmachung der Kernspaltung befassten. Eine geheime Konferenz des Heereswaffenamtes am 16. September 1939 führte zur Verabschiedung eines nuklearen Arbeitsprogrammes.52 Gestellungsbefehle ließen die beteiligten Wissenschaftler ihren Kriegsdienst im Hee50 Vgl. Bastian, High Tech, S. 176, und Walker, Uranmaschine, S. 30 f. 51 Zur Rüstungsforschung und -politik vgl. Burghard Ciesla, Das Heereswaffenamt und die KWG im »Dritten Reich«. Die militärischen Forschungsbeziehungen zwischen 1918 und 1945, in: Maier (Hrsg.), Gemeinschaftsforschung, S. 32–76; RolfDieter Müller, Kriegführung, Rüstung und Wissenschaft. Zur Rolle des Militärs bei der Steuerung der Kriegstechnik unter besonderer Berücksichtigung des Heereswaffenamtes 1935–1945, in: Maier (Hrsg.), Rüstungsforschung, S. 52–71; Helmut Maier, Forschung als Waffe. Rüstungsforschung in der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und das Kaiser-Wilhelm-Institut für Metallforschung 1900–1945 /48, Bd. 1, Göttingen 2007; Bruch / Kaderas (Hrsg.), Wissenschaften; Ash, Forschung, S. 46. 52 Vgl. Hanel, Bombe, S. 31. Zur Rüstungsforschung vgl. Maier (Hrsg.), Rüstungsforschung, und ders. (Hrsg.), Gemeinschaftsforschung.

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reswaffenamt leisten und bewahrten sie vor der Front. Auch die Nobelpreisträger Otto Hahn (1944) und Werner Heisenberg (1932) beteiligten sich an den kerntechnischen Planungen des Heereswaffenamtes.53 Heisenberg, schon in jungen Jahren einer der bedeutendsten Physiker seiner Zeit, entwickelte noch vor Jahresende ein erstes Konzept für einen Kernreaktor, mit dessen Bau er auch beauftragt wurde.54 Entgegen späterer anders lautender Bekundungen waren den Beteiligten die militärischen Implikationen des Uranprojektes von Anfang an klar.55 Heisenbergs enger Mitarbeiter Carl Friedrich von Weizsäcker bereitete 1941 die Anmeldung einer Plutoniumbombe beim Reichspatentamt vor.56 Allerdings behinderte eine Fraktionierung konkurrierender Forschergruppen um den Praktiker Diebner einerseits und den Theoretiker Heisenberg andererseits die deutsche Kernforschung erheblich. Zum Mittelpunkt der vom Heereswaffenamt initiierten Kernforschung im Deutschen Reich avancierte das Kaiser-Wilhelm-Institut für Physik in Berlin-Dahlem, während einzelne Teilprobleme des Projektes an verschiedenen Universitäten untersucht wurden.57 Insgesamt arbeiteten rund 100 Wissenschaftler in 19 Instituten an kerntechnischen Fragen.58 Genau diese Dezentralisierung sollte sich als ein entscheidender Nachteil gegenüber dem US-amerikanischen »Manhattan-Project« erweisen. Die deutsche Kernforschung wurde während des Krieges zwar staatlich gefördert, allerdings nicht für unmittelbar kriegswichtig gehalten und daher nicht mit höchster Priorität verfolgt  – erst recht nicht während der ersten Kriegshälfte, als nach spektakulären Anfangserfolgen ein deutscher Sieg bevorzustehen schien. 1942 gab das Heereswaffenamt die Verantwortung für das Kernforschungsprojekt an den Reichsforschungsrat ab und wendete sich stattdessen verstärkt der Raketenforschung zu, da man zu 53 Zu Hahn vgl. Ruth Lewin Sime, »Die ›Uranspaltung‹ hat da die ganze Situation gerettet.« Otto Hahn und das Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie im Zweiten Weltkrieg, in: Maier (Hrsg.), Gemeinschaftsforschung, S. 268–304; zu Heisenberg vgl. etwa Rose, Atombombenprojekt; Carson, Heisenberg, und Schirach, Nacht. 54 Vgl. Hanel, Bombe, S. 31. 55 Vgl. dazu auch Burghard Weiss, Groß, teuer und gefährlich? Kernphysikalische Forschungstechnologien an Instituten der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft vor, während und nach Ende des »Dritten Reiches«, in: Kaufmann (Hrsg.), Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, S. 699–725. 56 Vgl. Karlsch, Hitlers Bombe, S. 73–77. 57 Vgl. Hanel, Bombe, S. 31; Mark Walker, Nuclear Weapons and Reactor Research at the Kaiser Wilhelm Institute for Physics, in: Heim (Hrsg.), The Kaiser Wilhelm Society, S. 339–369, und Walker, Eine Waffenschmiede? 58 Vgl. Karlsch, Hitlers Bombe, S. 36 f.

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dem Schluss gekommen war, dass keine Seite den Krieg mit Atomwaffen würde gewinnen können.59 Der Reichsforschungsrat wurde 1942 reorganisiert und Hermann Göring unterstellt.60 Im Juni 1944 ordnete Rüstungsminister Albert Speer an, nur noch potentiell kriegsentscheidende Projekte zu fördern. Das Kernenergie­ ­ projekt genoss weitere Finanzierung, obwohl nicht zu erwarten war, dass es vor dem absehbaren Kriegsende abgeschlossen sein würde. Seit April 1944 ­befanden sich einige Mitarbeiter des KWI für Physik, darunter Heisenberg, mit ihren Instrumenten aufgrund der Bedrohung durch alliierte Luftangriffe im württembergischen Hechingen. Anfang 1945 ließen Walther Gerlach und Karl Wirtz die gesamte Versuchsanlage in einen Felsenkeller nach Haigerloch bei Hechingen bringen, wo Heisenberg noch vergeblich versuchte, einen »Uranbrenner«, d. h. einen Kernreaktor, in Betrieb zu setzen. Einer These Rainer Karlschs zufolge sei es der von Kurt Diebner in der Heeresversuchsanstalt in Gottow geleiteten Forschergruppe noch gelungen, einen primitiven Atombombenversuch tatsächlich durchzuführen.61 In Bodenproben der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt konnte dafür im Jahr 2006 allerdings kein Beleg gefunden werden. In jedem Fall war der technische Ansatz Diebners in Gottow – die Anordnung des Urans in Würfelform im Versuchsreaktor – vielversprechender als der Heisenbergs in einem Bierkeller in Haigerloch. Dass es deutschen Kernphysikern nicht gelang, bis ins Frühjahr 1945 eine Atomwaffe herzustellen, resultierte nicht aus deren moralischen Skrupeln oder war gar eine Widerstandshandlung.62 Vielmehr scheiterten die deutschen Physiker bis 1945 an der Auslösung einer kontrollierten Kettenreaktion und an Ressourcenmangel, vor allem an schwerem Wasser und Uran. Anders als die internationalen Forscher im strenggeheimen amerikanischen »Manhattan-Project« in Los Alamos setzten die deutschen Kernphysiker auf die Verwendung von schwerem Wasser als Moderator, um die Neutronen abzubremsen und eine Kettenreaktion in Gang 59 Vgl. Walker, Eine Waffenschmiede?, S. 372. 60 Zum »zweiten« Reichsforschungsrat unter Göring vgl. Flachowsky, Notgemeinschaft, S. 280–300, und S. 305–314. 61 Zur Kontroverse um Karlschs These vgl. auch ders./Petermann (Hrsg.), Für und Wider, und Bastian, High Tech, S. 189–192. Unabhängig davon kam es in Diebners Gruppe möglicherweise zu einem Strahlenunfall, vgl. Hanel, Bombe, S. 35. 62 Walker, Uranmaschine, S. 268 f. und ders., Selbstreflexionen deutscher Atomphysiker. Die Farm Hall-Protokolle und die Entstehung neuer Legenden um die »deutsche Atombombe«, in: VfZ 41 (1993), S. 519–542, hier S. 532–536.

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zu setzen.63 In den USA wurde anstelle des nur unter größtem Aufwand zu produzierenden schweren Wassers erfolgreich Graphit eingesetzt. Auch wenn es auf den ersten Blick überrascht, unterhielt die Deutsche Reichspost, neben der Reichsbahn der größte Verwaltungsapparat im Deutschen Reich,64 eine eigene Forschungsanstalt, die sich nicht nur mit Funk- und Fernsehtechnik befasste.65 Vielmehr hatte Reichspostminis­ter Wilhelm Ohnesorge, ein Mathematiker und Physiker, zudem auch »alter Kämpfer«, den Ehrgeiz, mit der Reichspost-Forschungsstelle an der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft vorbei eine eigene Uranbombe zu entwickeln.66 Die Bedeutung der 1937 gegründeten posteigenen Forschungsanstalt wurde lange unterschätzt, das zweibändige Standardwerk zur Geschichte der Reichspost widmet ihr kein eigenes Kapitel und erwähnt sie nur kursorisch.67 Ohnesorge, der auch Präsidiumsmitglied des ­ Reichsforschungsrates war, baute die Post als Forschung, Wissenschaft und Technik fördernde Organisation aus.68 Mit der Unterstützung des Reichsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung Bernhard Rust förderte Ohne­ sorge so die Einrichtung von Instituten für Postwesen an der TH Darmstadt und der Universität Frankfurt und des Instituts für Weltpost- und Weltnachrichtenwesen an der Universität Heidelberg sowie den Ausbau 63 Vgl. Walker, Eine Waffenschmiede?, S. 359 f. 64 Vgl. Wolfgang Lotz, Die Deutsche Reichspost 1933–1945. Eine politische Verwaltungsgeschichte, Bd. 1: 1933–1939, Berlin 1999, S. 8. 65 Zur Forschung der Reichspost vgl. Hubert Faensen, Kleinmachnow (Reichspostforschungsanstalt), in: Benz, Wolfgang / Distel, Barbara (Hrsg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Bd. 3: Sachsenhausen, Buchenwald, München 2006, S. 211–214; Hubert Faensen, Hightech für Hitler. Die Hakeburg  – Vom Forschungszentrum zur Kaderschmiede, Berlin 2001; Wolfgang Lotz / Gerd R. Ueberschär, Die Deutsche Reichspost 1933–1945. Eine politische Verwaltungsgeschichte, 2 Bde., Berlin 1999; Thomas Stange, Die kernphysikalischen Ambitionen des Reichspostministers Ohnesorge, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 21 (1998), S. 159–174; Herbert Leclerc, Dr. Ohnesorge und die deutsche Reichspost, in: Archiv für deutsche Postgeschichte, H. 2 /1988, S. 120–154. 66 Vgl. Thomas Stange, Die Genese des Instituts für Hochenergiephysik der deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin (1940–1970), Diss. Hamburg 1998, S. 7–25. 67 Vgl. Wolfgang Lotz, Die deutsche Reichspost 1933–1945. Eine politische Verwaltungsgeschichte. Bd. 1. 1933–1939, Berlin 1999, S. 77; Gerd R. Ueberschär, Die Deutsche Reichspost 1933–1945. Eine politische Verwaltungsgeschichte. Bd. II. 1939–1945, Berlin 1999, S. 16, S. 24, S. 30 f., S. 206, S. 257, S. 305. 68 Vgl. Ueberschär, Reichspost, S. 24.

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des aus dem früheren Telegraphentechnischen Versuchsamt hervorgegangenen Reichspostzentralamtes, der Forschungsanstalt der Deutschen Reichspost und des Wiener Instituts für Postgeschichte.69 Zweifellos wollte Ohnesorge, der noch Ende Januar 1945 die Forschungsanstalt der Deutschen Reichspost in Forschungsanstalt des Reichspostministers umbenannte,70 damit auch seine eigene Machtposition im nationalsozialistischen Regime ausbauen. Als die Reichspost 1936 das Herrenhaus »Neue Hakeburg« bei Kleinmachnow südlich von Berlin erwarb, nahm Ohnesorge dort nicht nur seinen privaten Wohnsitz. Mit der am 1.  Januar 1937 gegründeten Forschungsanstalt der Deutschen Reichspost ließ er dort auch ein Versuchszentrum unter anderem für die Luftfahrt, Funkmesstechnik, Raketenforschung und Fernsehtechnik errichten, das schon bald mehr als 1.000 Mitarbeiter beschäftigte.71 Eng mit der Reichspostforschungsanstalt verbunden war der Naturwissenschaftler Manfred von Ardenne.72 Ein großer Teil der Projekte von Ardennes privatem Forschungsinstitut zur Elektronenphysik in Berlin-Lichterfelde wurde von der Reichspost finanziert.73 Im Dezember 1939 schlug Ardenne Postminister Ohnesorge ein Projekt »für die technische Entwicklung von Verfahren und Anlagen auf dem Gebiet der Atomzertrümmerung«74 vor, das im Januar 1940 zwischen der Forschungsanstalt und Ardennes Institut vertraglich fixiert wurde. Gefördert durch die Reichspostforschungsanstalt sollten in Lichterfelde »eine 1-Millionen-Volt-Anlage zur Herstellung radioaktiver Isotope und ein 60-Tonnen-Zyklotron«75 (ein Teilchenbeschleuniger zur Isotopentrennung) errichtet werden. Nur wenige Forschungslabore im Reichsgebiet waren vergleichbar gut ausgestattet.76 Im Juni 1942 berichtete Ohnesorge Hitler von Ardennes Forschungsergebnissen und der Perspektive, in einer neuen »Atomumwandlungsanlage« eine Nuklearwaffe zu bauen. Hitler konnte sich angeblich nicht vorstellen, dass gerade der Postminister eine 69 Vgl. ebenda, S. 8 und S. 24. 70 Vgl. ebenda, S. 31. 71 Vgl. Karlsch, Hitlers Bombe, S. 49. Zur Hakeburg besonders Faensen, Hightech für Hitler. 72 Vgl. Karlsch, Hitlers Bombe, S. 48–51. 73 Vgl. Manfred von Ardenne, Ein glückliches Leben für Technik und Forschung. Autobiographie, Zürich – München 1972, S. 152 f., und Karlsch, Hitlers Bombe, S. 49 f. 74 Vgl. Stange, Genese, S. 10. 75 Karlsch, Hitlers Bombe, S. 50. 76 Vgl. ebenda.

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kriegsentscheidende Waffe entwickeln lasse.77 Dennoch war Ohnesorge der einzige direkte Kontakt Hitlers zur Kernforschung. Heisenberg oder Hahn sprach Hitler nie. Ungeachtet der Skepsis des »Führers« finanzierte der Reichspostminister Ardennes Arbeiten weiter. Neben dem Institut Ardennes ließ Ohnesorge Ende 1939 mit dem »Amt für physikalische Sonderfragen« in Miersdorf in der Mark Brandenburg ein weiteres Atomforschungszentrum einrichten.78 In beiden Einrichtungen betrieb man vorwiegend kernphysikalische Grundlagenforschung und Isotopentrennung. Für ein eigenes Reaktorprojekt fehlten die personellen und materiellen Voraussetzungen. Nach dem Krieg bestritt Ardenne, jemals an eine militärische Verwendung der Atomforschung in seinem »Institut für physikalische Sonderfragen« gedacht zu haben. Ab dem Frühjahr 1942 wurden die Forschungsbemühungen der Reichspost mit denen des Uranvereins koordiniert, womit eine Anbindung an den Bevollmächtigten für Kernphysik im Reichsforschungsrat Walther Gerlach hergestellt war. Rainer Karlsch zufolge setzte Henry Picker79 das Gerücht in die Welt, dass die Reichspost auch in einer unterirdischen Produktionsstätte im Südharz Prototypen kleiner »Uran-Bomben« entwickelt habe. Karlsch verneint zwar die Existenz einer derartigen Anlage, wirft aber die Frage auf, ob die Reichspost eventuell Uran angereichert habe.80 Aufgrund der Entscheidung, das kaum zu beschaffende schwere Wasser anstelle des verfügbaren Graphits als Moderator einzusetzen, und wegen eines falsch berechneten Uranbedarfs, mangelnder Abstimmung zwischen den fragmentierten Forschergruppen und vor allem angesichts der praktisch unbegrenzten Mittel und Ressourcen, die die US-Amerikaner für das »Manhattan-Project« einsetzten, waren die deutschen Bemühungen zur Auslösung einer nuklearen Kettenreaktion zum Scheitern verurteilt. Keiner der deutschen Wissenschaftler wusste, dass Enrico Fermi, Nobelpreisträger von 1938, dies schon im Dezember 1942 in Chicago gelungen war. Das Ausmaß des deutschen Rückstandes gegenüber den westalliierten Forschungen mag eine Anekdote aus dem beginnenden Kalten Krieg verdeutlichen. Als Ende 1945 die Rückkehr der im britischen Farm Hall 77 Vgl. Ueberschär, Reichspost, S. 16. 78 Vgl. Karlsch, Hitlers Bombe, S. 50. 79 Der Jurist Picker fertigte 1942 Gedächtnisprotokolle von Hitlers Tischgesprächen an, deren Quellenwert heute umstritten ist. Ders., Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier 1941–1942, Bonn 1951 und Mikael Nilsson, Hitler redivivus. »Hitlers Tischgespräche« und »Monologe im Führerhauptquartier« – eine kritische Untersuchung, in: VfZ 67 (2019), S. 105–145. 80 Karlsch, Hitlers Bombe, S. 51.

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internierten deutschen Kernphysiker nach Deutschland diskutiert wurde und alliierte Stellen befürchteten, dass die Wissenschaftler von den Sowjets entführt werden könnten, wandte der britische Geheimdienst ein, dass eine Abschöpfung der deutschen Kenntnisse die sowjetischen Bemühungen um eine eigene Kernwaffe nicht beschleunigen, sondern zurückwerfen würde.81 Eine zentrale Figur in der deutschen Kernforschung vor 1945 war Walther Gerlach, der Bevollmächtigte Görings für Kernphysik und Leiter der Sparte Physik im Reichsforschungsrat.82 Karl Wirtz, Mitarbeiter im Uranprojekt, verwies in seinen Memoiren auf die Bedeutung Gerlachs, dem (neben Albert Speer) angeblich »die deutschen kerntechnischen Wissenschaftler« ihr Überleben verdankten, was »der Bundesrepublik nach dem Krieg einen erfolgreichen Wiederanfang«83 in der Kernphysik ermöglicht habe. Es ist bezeichnend, dass selbst Gerlach offenbar bis zum Kriegsende den technischen Unterschied zwischen einem Kernreaktor und einer Atombombe nicht verstanden hatte und anregte, Heisenbergs Haigerlocher Reaktor aus einem Flugzeug über feindlichem Gebiet abzuwerfen.84 Resümierend lässt sich festhalten, dass der fachliche Schwerpunkt des RMWEV zwar auf dem Feld der Erziehungspolitik lag, es aber auch eine nicht zu unterschätzende wissenschafts- und forschungspolitische Kompetenz des Ministeriums gab. Seine Gründung im Frühjahr 1934 hatte eine weitgehende Zentralisierung der deutschen Forschungslandschaft zur Folge. Es gelang dem Reichsministerium, die bislang durch die DFG kontrollierte Forschungsförderung vollständig an sich zu ziehen, die durch den Reichsforschungsrat größtenteils. Zudem hatte das Ministerium mit der Dienstaufsicht über die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, den bedeutendsten deutschen Forschungsverbund, nun erheblichen Einfluss auf die Entwicklung der Forschung.85 Auch die klar militärisch ausgerichteten Atomforschungen, deren heterogener Charakter freilich nie überwunden wurde und die weit hinter dem gleichzeitig in den USA Erreichten zurückfielen, gerieten im Laufe des Krieges überwiegend in den Zuständigkeitsbereich des RMWEV.

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Vgl. Schirach, Nacht, S. 221. Zu Gerlach vgl. ebenda, S. 47–50. Karl Wirtz, Im Umkreis der Physik, Karlsruhe 1988, S. 59. Vgl. Schirach, Nacht, S. 166 f. Vgl. Nagel, Hitlers Bildungsreformer, S. 253.

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2. Die umstrittene Gründung des Bundesministeriums für Atomfragen Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges schrieben die Alliierten im Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945 eine Kontrolle der wissenschaftlichen Forschung in Deutschland fest. Das Kontrollratsgesetz Nr. 25 vom 29. April 1946 sah eine Überwachung sowohl der Grundlagenforschung als auch der angewandten Forschung in Deutschland vor  – auch und ­besonders auf dem Gebiet der Atomforschung.86 Die diesbezüglichen ­Restriktionen blieben auch nach der Gründung der Bundesrepublik im Mai 1949 in Kraft. Die Folgejahre waren von einem komplexen Ringen um eine eigenständige bundesdeutsche Atompolitik gekennzeichnet, an dessen Ende auch die Gründung des Bundesministeriums für Atomfragen am 6. Oktober 1955 stand. Dieser Weg soll im Folgenden nachgezeichnet werden. Dabei ist zunächst auf einige generelle Aspekte hinzuweisen. So wurde die Entwicklung der Kerntechnik in der Bundesrepublik nicht durch eine tatsächlich bestehende Nachfrage der Wirtschaft nach einer zusätz­ lichen Energiequelle angestoßen, sondern war politisch intendiert. Politik und Industrie fürchteten, ohne die Verfolgung nationaler atompolitischer ­Ambitionen den Anschluss an die führenden Industrienationen zu verlieren oder in eine nukleartechnische Abhängigkeit zu geraten. Frankreich hatte bereits 1946 mit dem Aufbau der eigenen Atomforschung und Atom­industrie begonnen. Teile der bundesdeutschen Industrie sahen in der neuen Technologie zudem eine Anlagemöglichkeit für liquides Kapital und ein »Betätigungsfeld für industrielle Überkapazitäten«.87 Das Interesse der Politik bestand zuvorderst im Aufholen des Rückstandes88 in einer ­zivilen Zukunftstechnologie gegenüber den anderen Industrienationen. Hinzu kam der Faktor personeller Kontinuitäten auf dem Feld der Atomphysik. Zahlreiche Wissenschaftler des »Uranvereins« sahen durch ihr Scheitern beim Bau der deutschen Atombombe ihre wissenschaftliche Ehre tangiert und suchten sich in der Bundesrepublik durch den Einsatz 86 Vgl. Sobotta, Bundesministerium, S. 2, Müller, Geschichte, Bd. 1, S. 43–54, sowie Astrid Mignon Kirchhof / Helmut Trischler, The History behind West Germany’s Nuclear Phase-out, in: Kirchhof, Astrid Mignon (Hrsg.), Pathways into and out of Nuclear Power in Western Europe. Austria, Denmark, Federal Republic of Germany, Italy and Sweden, München 2020, S. 126–135. 87 Vgl. Radkau / Hahn, Aufstieg, S. 43, und Karsten Prüß, Kernforschungspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt a. M. 1974, S. 33 f. 88 Zum Rückstandstopos vgl. ausführlich unten S. 177–183.

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für die friedliche Nutzung der Atomtechnik zu rehabilitieren.89 Vor allem Werner Heisenberg übte einen maßgeblichen Einfluss auf die frühe bundesdeutsche Atompolitik aus, worin zumindest eine partielle Kontinuität zum »Uranverein« zu erkennen ist.90 Auch die Rivalitäten und Konflikte zwischen den »Theoretikern« (um Heisenberg in München) und den »Praktikern« (um Diebner, der in Geesthacht an Schiffsreaktoren forschte), für die der vermeintlich praxisferne »Physikerreaktor« zeitweilig zum Schimpfwort wurde, lebten wieder auf.91 Die bundesdeutsche Bevölkerung war in ihrer Bewertung der Kerntechnik gespalten. Viele Menschen begegneten Atomfragen unter dem Eindruck der verheerenden Auswirkungen der Atombombenabwürfe am Ende des Zweiten Weltkrieges auf Hiroshima und Nagasaki grundsätzlich mit Skepsis. In einer Emnid-Umfrage im Dezember 1955 gaben 76 Prozent der Befragten an, bei dem Begriff Kernenergie an »Bomben, Krieg und Vernichtung« zu denken, nur 6 Prozent assoziierten »Kraft und Energie«.92 Dagegen teilten alle politischen Parteien in der Bundesrepublik und besonders auch die SPD, die durch die »atomindustrielle Revolution« eine »neue Gesellschaftsordnung« erhoffte, in den 1950er Jahren die Atomeuphorie, die hohen Erwartungen an das Potential der friedlichen Nutzung der Kernkraft und die Technikbegeisterung auf den Gebieten der atomaren Forschung und Technik.93 Diese Euphorie in den politischen und gesellschaftlichen Eliten bekam Mitte der 1950er Jahre auf globaler Ebene einen mächtigen Schub. Am 8. Dezember 1954 kündigte US-Präsident Dwight D. Eisenhower vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen in New York in seiner vielbeachteten »Atoms-for-Peace«-Rede an, dass im Interesse der globalen Wohlfahrt eine internationale Behörde zur Aufsicht über die friedliche Kerntechnik und die Distribution der Kernbrennstoffe gegründet wer-

89 Vgl. Bernd-A. Rusinek, Die Rolle der Experten in der Atompolitik am Beispiel der Deutschen Atomkommission, in: Fisch, Stefan / Rudloff, Wilfried (Hrsg.), ­Experten und Politik. Wissenschaftliche Politikberatung in geschichtlicher Perspektive, Berlin 2004, S. 189–210, hier S. 192 f., und Hanel, Bombe, S. 242. 90 Vgl. Radkau / Hahn, Aufstieg, S. 12. 91 Vgl. ebenda, S. 29, und Susan Boenke, Entstehung und Entwicklung des MaxPlanck-Instituts für Plasmaphysik 1955–1971, Frankfurt a. M. 1991, S. 44. 92 Vgl. Tiggemann, Achillesferse, S. 63, und Karl Winnacker / Karl Wirtz, Das unverstandene Wunder. Kernenergie in Deutschland, Düsseldorf 1975, S. 18. 93 Vgl. Tiggemann, Achillesferse, S. 63 f. Zitat in: Das Atom als Friedenskraft, in: Sozialdemokratischer Pressedienst 192, 22. 8. 1955.

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den solle.94 Eisenhowers Rede eröffnete eine neue Epoche amerikanischer Atompolitik. Die spektakuläre Abkehr von der bisherigen restriktiven amerikanischen Atomstrategie erfolgte aus der Einsicht heraus, dass die Abschottung der Kernforschung und -technik unhaltbar war und es zudem der Sowjetunion leichtgemacht hatte, die USA als atomaren Kriegstreiber vorzuführen, der der Welt die Segnungen der zivilen Nutzung der Kernkraft vorenthalte. Im August 1955 veranstalteten die Vereinten Nationen in Genf die »Erste internationale Konferenz über die friedliche Verwertung der Atomenergie«, von der in den Worten des Kernphysikers und Mitgründers des Karlsruher Kernforschungszentrums Karl Wirtz eine »wundervolle Aufbruchstimmung« ausging.95 Die internationale Leistungsschau befeuerte den Glauben an die vermeintlich unbegrenzten Möglichkeiten einer friedlichen Nutzung der Atomtechnik, in dessen Kontext die Gründung des BMAt zu verorten ist.96 Franz Josef Strauß sah als erster Atomminister an »der Schwelle des Atomzeitalters […] ungeahnte Möglichkeiten« und drückte im Vorwort einer im Gefolge der Genfer Konferenz entstandenen Publikation seine Hoffnung aus, dass die deutsche Bevölkerung zukünftig »dem Atomzeitalter größeres Vertrauen entgegenbringen [möge], als es jetzt im allgemeinen noch der Fall ist, weil ihre erste Bekanntschaft mit dem Atom eine Begegnung mit Luzifer« gewesen sei.97 Zu den ungeahnten Möglichkeiten zählten nicht nur die nun weltweit geplanten eher profanen Kernkraftwerke zur Energiegewinnung, sondern auch fantastische Zukunftsvisionen von Meerwasserentsalzungen, bewässerten Wüsten, einer begrünten Arktis bis hin zu technischen Revolutionen in der Medizin und Chemie, die technikaffine Kreise nun entwickelten.98 Die Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft (EURATOM) im März und der Inter­ nationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) in Wien im Juli 1957 waren eine direkte Folge des »Atoms for Peace«-Plans und seines aus heutiger Perspektive eher naiven Glaubens an die universelle Segenswirkung der 94 Zur »Atoms for Peace«-Politik vgl. P. Fischer, Atomenergie, S. 103–109; Eckert, Anfänge, S. 128–137; Sobotta, Bundesministerium, S. 15–22; Prüß, Kernforschungspolitik, S. 21 f.; Winnacker / Wirtz, Wunder, S. 56–60, Tiggemann, Achillesferse, S. 54 f.; Romberg, Atomgeschäfte, S. 17–20. 95 Vgl. Wirtz, Umkreis, S. 77. 96 Vgl. Müller, Geschichte, Bd. 1, S. 1–3; Radkau, Ursprung, S. 34; Winnacker / Wirtz, Wunder, S. 68–70; P. Fischer, Atomenergie, S. 232–237. 97 Franz Josef Strauß im Vorwort zu Gerhard Löwenthal / Josef Hausen, Wir werden durch Atome leben, Berlin 1956, S. 13 f. 98 Vgl. Radkau, Ursprung, S. 34. Zur zivilen Nutzung der Kernenergie auch Prüß, Kernforschungspolitik, S. 20 f.

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Atomkraft. Gerade EURATOM wäre ohne die Atombegeisterung und die Vision einer friedlichen Atomzukunft wohl nur ein unpopuläres, militärisches Gerüst geblieben.99 Allerdings trennt in technischer Hinsicht nur ein kleiner Schritt die friedliche von der militärischen Nutzung der Kernenergie. Lange nach seinem Ausscheiden aus dem Amt des Atomministers bestätigte Siegfried Balke dem Historiker Joachim Radkau, dass ungeachtet aller anderslautenden zeitgenössischen Beteuerungen durchaus auch Ambitionen auf deutsche Kernwaffen eine Rolle bei der Gründung des Ministeriums gespielt hatten.100 Über die Hintergründe eines möglichen deutschen »Griff[s] nach der Bombe«101 besteht unter Historikern Uneinigkeit. Während Tilmann Hanel von der These ausgeht, dass in der Bundesrepublik u ­ nter dem Deckmantel einer vorgeblich zivilen Nutzung eine militärische Option bewusst angestrebt wurde, argumentiert Stephan Geier, dass sich diese unvermeidlich und nicht dezidiert intendiert ergab, weil sich zivile und militärische Kernforschung nicht trennen lassen.102 Vielmehr sei es bei der frühen bundesdeutschen Atompolitik primär um das außenpolitische Ziel gegangen, den internationalen Status der Bundesrepublik als nukleare Schwellenmacht zu etablieren. Für diese Politik war die Bedeutung des BMAt im Vergleich zu der des Auswärtigen Amtes oder des Kanzleramtes daher marginal. Der waffentechnische Aspekt der bundesdeutschen Atompolitik wird in Kapitel II.3 weiter betrachtet. Die bundesdeutsche Atompolitik setzte bereits bald nach der Staatsgründung ein.103 Um nicht dauerhaft von einer als essentiell betrachteten Zukunftstechnologie abgeschnitten zu bleiben, nutzte Adenauer die Verhandlungen um die Westintegration der Bundesrepublik, um Zugeständnisse der Alliierten für den Aufbau einer deutschen Atomwirtschaft zu 99 Vgl. Radkau / Hahn, Aufstieg, S. 67. Zu EURATOM vgl. Eckert, Anfänge, S. 138– 140. 100 Vgl. Radkau / Hahn, Aufstieg, S. 13. Zum kurzen Weg von der zivilen zur militärischen Nutzung der Kernenergie vgl. Tiggemann, Achillesferse, S. 63–74. 101 Vgl. Eckart Conze, Griff nach der Bombe? Die militärischen Pläne des Franz ­Josef Strauß, in: Doerry, Martin / Janssen, Hauke (Hrsg.), Die Spiegel-Affäre. Ein Skandal und seine Folgen, München 2013, S. 69–85. 102 Zur militärischen Komponente der deutschen Atompolitik vgl. Hanel, Bombe; Geier, Schwellenmacht; Hans-Peter Schwarz, Adenauer und die Kernwaffen, in: VfZ 37 (1989), S. 567–593, und Matthias Küntzel, Bonn und die Bombe. Deutsche Atomwaffenpolitik von Adenauer bis Brandt, Frankfurt a. M. 1992. 103 Vgl. dazu Stephan Geier, Das Atomministerium und die Förderung der Atomwirtschaft im außenpolitischen Kontext, 1955–1962, in: Hettstedt / Raithel/Weise (Hrsg.), Im Spielfeld der Interessen [erscheint 2023].

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e­ rhalten.104 Im sogenannten Deutschlandvertrag mit den drei Westalliierten vom Mai 1952, der das Besatzungsstatut ablösen und zu einer Normalisierung des völkerrechtlichen Status der Bundesrepublik führen sollte, und im damit verbundenen Vertrag zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) war Bonn der Bau eines kleinen Uranbrenners zugestanden und die strikte Kontrollratsgesetzgebung gelockert worden.105 Beide Verträge traten nicht in Kraft, weil die französische Nationalversammlung die Ratifizierung verweigerte. Im Scheitern des EVG-Vertrages, das Washington und London nicht Bonn anlasteten, lagen für die Bun­ desrepublik auch außenpolitische Chancen. Die aus der anschließenden Neuverhandlung entstandenen Pariser Verträge, mit denen die Westeuropäische Union (WEU) gegründet wurde, stellten sich für die Bundesrepublik auch hinsichtlich der Kernforschung als noch günstiger als der Deutschlandvertrag heraus und führten bei ihrem Inkrafttreten am 5. Mai 1955 zur Wiedererlangung der deutschen Souveränität (siehe unten). Nicht nur Kernforscher wie Heisenberg, der als Direktor des MaxPlanck-Instituts für Physik – anfangs in Göttingen, später in München – und Leiter der DFG-Senatskommission für Atomphysik ein Monopol der Max-Planck-Gesellschaft (MPG) für die Kernforschung durchsetzen wollte, sondern auch mehrere Bundesminister und nicht zuletzt der Bundeskanzler selbst suchten im Herbst 1952 den raschen Bau eines deutschen Atommeilers zu forcieren.106 Aufgrund der vorläufigen Nichtratifizierung des Deutschland- und des EVG-Vertrages war der offene Aufbau deutscher Atomanlagen vorerst noch nicht möglich. Daher forderte Adenauer seinen Wirtschaftsminister Ludwig Erhard auf, in Form der »Studienkommission für Kernenergie« (die später in der Physikalischen Studiengesellschaft Düsseldorf mbH107 aufgehen sollte) im Mai 1953 ein mit Wissenschaftlern und Vertretern der Wirtschaft besetztes Gremium zur organisatorischen und strukturellen Vorbereitung des deutschen Einstiegs in die Atomwirtschaft zu gründen. Als die französische Natio104 Vgl. Tiggemann, Achillesferse, S. 48. 105 Vgl. Eckert, Anfänge, S. 115–143. Zum Deutschlandvertrag vgl. Heiner Timmermann, Deutschlandvertrag und Pariser Verträge. Im Dreieck von Kaltem Krieg, deutscher Frage und europäischer Sicherheit, Münster 2003; Hans-Peter Schwarz, Adenauer, Bd. 2: Der Staatsmann 1952–1967, München 1994, S. 121–177, sowie Müller, Geschichte, Bd. 1, S. 82–87. 106 Vgl. Tiggemann, Achillesferse, S. 48, und P. Fischer, Atomenergie, S. 65–72. Zu Heisenbergs Initiativen vgl. ebenda, S. 27–30. 107 Zur PSG vgl. ebenda, S. 84–86 und S. 174–178; Müller, Geschichte, Bd. 1, S. 117– 120, sowie Winnacker / Wirtz, Wunder, S. 62.

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nalversammlung den EVG-Vertrag schließlich im August 1954 ablehnte, wurden in der Bundesrepublik dennoch Pläne vorangetrieben, entweder in München oder in Karlsruhe ein zentrales deutsches Kernforschungszentrum zu errichten.108 Gemeinsam mit zwölf anderen Staaten unterzeichnete die Bundesrepublik am 1.  Juli 1953 das »Abkommen über die Errichtung einer europäischen Organisation für die kernphysikalische Forschung«, das eine Kooperation der Mitgliedsstaaten auf dem Gebiet der atomaren Grundlagenforschung vorsah.109 In Genf sollte ein europäisches Kernforschungszentrum entstehen; als zentrales Organ der Organisation war der Europäische Kernforschungsrat (»Conseil Européen pour la Recherche Nucléaire«, CERN) vorgesehen, der bereits seit Anfang 1952 bestand.110 Sowohl das Bundesministerium des Innern als auch das Bundeswirtschaftsministerium und das Auswärtige Amt erhoben Anspruch auf die Atomforschung und beanspruchten die Federführung beim CERN. Da das Innenressort für die staatliche Betreuung der Grundlagenforschung zuständig war, stimmte Erhard schließlich im Januar 1954 der Zuständigkeit des Innenministeriums auch für das CERN-Projekt zu. Bereits seit 1952 hatte unter dem Dach der DFG eine von Werner Heisenberg geleitete Planungsgruppe, der neben Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard auch Franz Josef Strauß angehörte, die Gründung einer deutschen Atomenergiekommission vorbereitet.111 Die Struktur, Aufgaben und Kompetenzen des geplanten Gremiums, aus dem im Januar 1956 die mit Vertretern aus Wissenschaft, Technik, Wirtschaft und den Gewerkschaften besetzte »Deutsche Atomkommission zur Beratung der Bundesregierung in Fragen der Erforschung und friedlichen Nutzung der Atomenergie« hervorgehen sollte, waren von Anfang an umstritten.112 Adenauer behielt sich am 20.  Februar 1953 den Kommissionsvorsitz selbst vor und signalisierte Erhard damit, dass seine Atompolitik mehr sein sollte, als reine Wirtschaftspolitik und dass das Wirtschaftsministe-

108 Vgl. P. Fischer, Atomenergie, S. 86–90, und Boenke, Entstehung, S. 45. 109 Vgl. P. Fischer, Atomenergie, S. 98. 110 Vgl. ebenda. Zum CERN vgl. auch Müller, Geschichte, Bd. 1, S. 88–93, und Prüß, Kernforschungspolitik, S. 23. 111 Vgl. Radkau / Hahn, Aufstieg, S. 29–34; Müller, Geschichte, Bd. 1, S. 98–100 und S. 161–181, sowie Horst Möller, Franz Josef Strauß. Herrscher und Rebell, München 2015, S. 150. 112 Zur DAtK vgl. Radkau / Hahn, Aufstieg, S. 104–107.

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rium nur ein begrenztes atompolitisches Mandat hatte.113 Der Anspruch Adenauers lässt sich durchaus auch als Indiz für das Offenhalten einer militärischen Option der Kernforschung interpretieren.114 Erhards Ressort stellte sich dagegen anfangs die geplante Kommission als unpolitisches, reines Beratungsgremium mit Vertretern aus Wirtschaft und Forschung, aber nicht des Staates vor und wandte sich damit gegen die Pläne Adenauers.115 Als sich auch die DFG-Kommission gegen ein reines Beratungs­ gremium aussprach, ruderte das Wirtschaftsministerium zurück. Die Wissenschaftler fühlten sich ohnehin vom Wirtschaftsministerium nicht gut vertreten und wollten politisch administrativ lieber von der Max-PlanckGesellschaft oder einem anderen Bundesministerium betreut werden. In Großbritannien hatte Winston Churchill im November 1953 dem Unterhaus vorgeschlagen, eine selbständige britische A ­ tomenergiebehörde zu schaffen, an deren Spitze ein Minister ohne Geschäftsbereich die verschiedenen Interessen und Ansprüche der einzelnen Ressorts sowie von Wissenschaft und Wirtschaft moderieren sollte. 1954 führte das zur Einrichtung der »United Kingdom Atomic Energy Authority«, einer ministeriumsunabhängigen Behörde, die für die Ressourcenkoordination zwischen zivilen und militärischen Nutzern der Kernforschung zuständig war.116 Vermutlich trug auch das britische Modell dazu bei, dass Anfang 1954 im Bundeskanzleramt über die Etablierung eines deutschen Atomministers nachgedacht wurde (wenn auch das neue Ressort letztlich nicht mit militärischen oder außenpolitischen Aspekten der Kernforschung befasst werden würde). Zudem veranlassten ab dem Herbst 1953 die neue US-Strategie der militärischen »massiven Vergeltung« und die Stationierung amerikanischer taktischer Kernwaffen, die Deutschland zum potentiellen Austragungsort einer nuklearen Auseinandersetzung machten, die Bundesregierung dazu, auch die sicherheitspolitischen Aspekte der internationalen Atompolitik stärker zu berücksichtigen und zumindest eine nukleare Teilhabe künftiger deutscher Streitkräfte nicht auszuschließen.117 113 Vgl. P.  Fischer, Atomenergie, S. 70–72; Müller, Geschichte, Bd. 1, S. 149, und Radkau / Hahn, Aufstieg, S. 31 f. 114 Vgl. ebenda, S. 32. 115 Vgl. P. Fischer, Atomenergie, S. 92; vgl. auch Radkau / Hahn, Aufstieg, S. 31, und Boenke, Entstehung, S. 48 f. 116 Vgl. Andrew J. Pierre, Nuclear Politics. The British Experience with an Independent Strategic Force. 1939–1970, London u. a. 1972, S. 125, und Müller, Geschichte, Bd. 1, S. 148. 117 Vgl. dazu Marc Cioc, Pax Atomica. The Nuclear Defense Debate in West Germany During the Adenauer Era, New York 1988, S. 6–9, und Detlef Bald, Die

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Noch bis Anfang 1955 sollte jedoch offenbleiben, welchem Ministerium die Federführung in der Atompolitik zukommen würde. Ansprüche erhoben weiterhin vor allem das Wirtschaftsministerium, das Innenministerium, das Auswärtige Amt und das Arbeitsministerium. Hinter dieser Frage stand die Entscheidung nach der Rolle des Staates beim Aufbau der deutschen Atomenergie. Das Bundeswirtschaftsministerium unter Ludwig Erhard wollte im Sinne der sozialen Marktwirtschaft so wenig wie möglich eingreifen, die Finanzierung der Industrie überlassen und lediglich eine staatliche Kontrollfunktion übernehmen.118 Daher sollte auch die geplante Atomenergiekommission nicht beim Wirtschaftsministerium angesiedelt werden.119 Hans Globke, einflussreicher Staatssekretär im Bundeskanzleramt, notierte am 28. Januar 1954: »Der Streit über die Federführung zwischen AA und BMdInnern könnte ggf. zugunsten von Min. Strauß entschieden werden.«120 Während das Kanzleramt sich mehr und mehr in die Atompolitik einschaltete, schwelte der Konflikt zwischen Bundesinnenministerium und Auswärtigem Amt über das CERN im Laufe des Jahres 1954 weiter. Ein erster atompolitischer Meinungsaustausch zwischen dem Wirtschaftsministerium und dem Bundeskanzleramt am 23.  Juli 1954 blieb ohne Ergebnis. Ersteres erhob verfassungsrechtliche Bedenken gegen den Vorsitz des Kanzlers in der Atomenergiekommission. Erhard erläuterte am selben Tag in einem Schreiben an Adenauer, das sein erstes atompolitisches Grundsatzpapier darstellte, seine Vorstellung vom Verhältnis von Politik, Industrie und Forschung bei der weiteren Entwicklung der Kernenergie in Deutschland.121 Die Übernahme atomwirtschaftlicher Aufgaben durch den Staat lehnte Erhard ab, weil das die Wirtschaft von Investitionen abhalten würde. Da die Entscheidungen der Atomenergiekommission politischer Kontrolle entzogen seien, könne sie lediglich beratende Funktion haben, was wiederum den Vorsitz durch den Bundeskanzler ausschließe. Eine eigene Atombehörde sei aus politischen und haushaltsrechtlichen Gründen abzulehnen. Das Schreiben, das im Palais

Atombewaffnung der Bundeswehr. Militär, Öffentlichkeit und Politik in der Ära Adenauer, Bremen 1994, S. 17. 118 Vgl. P.  Fischer, Atomenergie, S. 90–97; Radkau / Hahn, Aufstieg, S. 94 f.; Prüß, Kernforschungspolitik, S. 22–24, und Müller, Geschichte, Bd. 1, S. 93–98. 119 Vgl. P. Fischer, Atomenergie, S. 66 f. 120 Zitiert ebenda, S. 101. 121 Vgl. ebenda, S. 95–97. Zur atompolitischen Linie Erhards vgl. auch Löffler, Marktwirtschaft, S. 354–361.

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Schaumburg (dem Sitz des Bundeskanzleramtes in Bonn) durchaus Verärgerung ausgelöst haben dürfte, blieb vorerst unbeantwortet. Am 24.  Oktober 1954 erklärte Konrad Adenauer auf der Londoner Neunmächte-Konferenz zur Vorbereitung der Pariser Verträge den Verzicht der Bundesrepublik auf ABC-Waffen. Allerdings handelte es sich durchaus nicht um einen nuklearen Totalverzicht. Adenauers Erklärung galt ausdrücklich nur »rebus sic stantibus«, so lange, wie die aktuelle politische Lage sich nicht änderte, zum anderen schloss er die eigene Produktion von nuklearen Waffen nur auf deutschem Boden aus. Den Erwerb von Waffen, die auf fremdem Territorium (möglicherweise auch unter deutscher Beteiligung) hergestellt worden waren, hielt sich der Bundeskanzler offen. Dennoch stimmte Frankreich nach der Verzichtserklärung einem deutschen NATO-Beitritt zu.122 Anfang 1955 entschied sich Adenauer, wie von Globke bereits im Januar 1954 vorgeschlagen und von ihm selbst spätestens seit November 1954 geplant,123 Franz Josef Strauß auf Bundesebene die Zuständigkeit für Atomangelegenheiten zu übertragen.124 Offenbar hatten die 1954 gegründete Physikalische Studiengesellschaft und besonders der Vorstandsvorsitzende der Hoechst AG, Karl Winnacker, bei Adenauer für Strauß antichambriert.125 Der ehrgeizige CSU-Politiker, der seit Oktober 1953 einer 122 Vgl. P.  Fischer, Atomenergie, S. 141–144. Zur Verzichtserklärung vgl. auch Küntzel, Bonn, S. 19–23; Eckert, Anfänge, S. 123 f., und vor allem Hanns Jürgen Küsters, Souveränität und ABC-Waffen-Verzicht. Deutsche Diplomatie auf der Londoner Neunmächte-Konferenz 1954, in: VfZ 42 (1994), S. 499–536. 123 Vgl. Peter Siebenmorgen, Franz Josef Strauß. Ein Leben im Übermaß, München 2015, S. 108 f. 124 Vgl. Helmuth Trischler, Nationales Sicherheitssystem – nationales Innovationssystem. Militärische Forschung und Technik in Deutschland in der Epoche der Weltkriege, in: Thoß, Bruno / Volkmann, Hans-Erich (Hrsg.), Erster Weltkrieg, Zweiter Weltkrieg. Ein Vergleich. Krieg, Kriegserlebnis, Kriegserfahrung in Deutschland, Paderborn u. a. 2002, S. 107–134, hier S. 125, und P. Fischer, Atomenergie, S. 164. 125 Vgl. Radkau, Ursprung, S. 36. Karl Winnacker war seit Ende der 1930er Jahre ein führender I. G.-Farben-Manager und galt schließlich als »Kronprinz« im Werk Höchst; seit 1933 gehörte er der SA an, seit 1937 der NSDAP. In der frühen Bundesrepublik spielte der 1930 promovierte Chemiker als Vorstandsvorsitzender der Hoechst AG eine wichtige wissenschaftspolitische Rolle, insbesondere auch im Hinblick auf die Förderung der Atomenergie. Vgl. Stephan H. Lindner, Hoechst. Ein I.G. Farben Werk im Dritten Reich, München 2005, S. 211–218; Christian Marx / Rouven Janneck, Chemische Industrie und Atompolitik. Zum Spannungsverhältnis von Staat, Unternehmen und Wissenschaft (1950er–1970er Jahre), in: Hettstedt / Raithel / Weise, Im Spielfeld der Interessen. Zur PSG und

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von mehreren »Bundesminister[n] für besondere Angelegenheiten« war, fühlte sich der Förderung der »Atomforschung für wirtschaftliche Zwecke« schon seit längerer Zeit besonders verbunden. Mit Blick auf militärisch-relevante Schlüsseltechnologien verfolgte Strauß eine interventionistische Technologie- und Industriepolitik. In seinem »Liliputministerium« sah der ambitionierte Strauß sich bislang nur unter Wert eingesetzt.126 Sein bisheriges »Sonderministerium«, in dem er sich als »König ohne Königreich«127 fühlte, begriff er immer nur als Zwischenstation. Den Wehrexperten, der 1953 als damals jüngster Bundesminister in die Regierung Adenauer eingetreten war, drängte es ins Verteidigungsministerium oder an die Spitze des im Entstehen begriffenen BND. Schon als Sonderminister hielt sich Strauß nicht an Ressortgrenzen und geriet besonders mit Ludwig Erhard wiederholt in Konflikt.128 Adenauer war bewusst, dass er Strauß mittelfristig mit einer verantwortungsvolleren und einflussreicheren Aufgabe saturieren musste. Zwischenzeitlich stand im Raum, den Zivilschutz aus dem Innenressort herauszulösen und Strauß zuzuschlagen. Es wäre auch naheliegend gewesen, Strauß schon 1955 zum Verteidigungsminister zu ernennen. Warum Adenauer das nicht tat, bleibt unklar. Möglicherweise sollte sich der junge Politiker zuerst in der Atomthematik bewähren, die ihm nicht gänzlich unvertraut war.129 Denn schon zuvor hatte Strauß Heisenbergs Planungsgruppe angehört, mit der ab 1952 die Gründung der späteren Deutschen Atomkommission vorbereitet wurde. Laut einem »Spiegel«-Artikel vom 5.  Oktober 1955 war Strauß ursprünglich ironischerweise lediglich deshalb mit Atomfragen beauftragt worden, um ihn abzuwimmeln. Strauß hatte unbedingt an einer Besprechung über die Organisation Gehlen, aus der 1956 der Bundesnachrichtendienst hervorgehen sollte, teilnehmen wollen, da er auch im Bereich der Nachrichtendienste politische Ambitionen hatte. Adenauer verband seine Absage an Strauß mit der Bemerkung,

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Winnacker vgl. auch Prüß, Kernforschungspolitik, S. 24, und Hanel, Bombe, S. 101–104. Vgl. auch die autobiographischen Schriften Winnacker / Wirtz, Wunder, und Winnacker, Mut, sowie Bernd-A. Rusinek, Der Fall Greifeld, Karlsruhe. Wissenschaftsmanagement und NS-Vergangenheit, Karlsruhe 2019, S. 267– 271. Winnacker ist auch in unserem Zusammenhang von Bedeutung, da er als Hoechst-Chef Walther Schnurr protegierte. Vgl. unten S. 382. Vgl. Aufgaben der Sonderminister. Franz Josef Strauß – Föderalistisches Gewissen, in: dpa-Briefdienst Inland, 7. 4. 1954, S. 2, ACSP, NLStraussZA_1954_1.pdf [16. 12. 2021]. Siebenmorgen, Strauß, S. 105. Vgl. ebenda, S. 103. Vgl. Möller, Strauß, S. 148.

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»er solle sich doch einmal um die Atomsachen kümmern«.130 Da eine entsprechende schriftliche Kabinettsvorlage fehlte, verstand Strauß das nicht als tatsächliche Beauftragung, Adenauer aber wohl. Vielleicht handelte es sich auch um einen machiavellistischen Schachzug des Kanzlers, Strauß einerseits wirkliche Kompetenzen vorzuenthalten, gleichzeitig aber die Möglichkeit zu wahren, dem unbequemen CSU-Politiker gegebenenfalls sein Scheitern vorzuwerfen. Nach wie vor sah Erhard die Kompetenz für Atomfragen in seinem Haus. Folgt man dem »Spiegel«, so erzwang Strauß durch hartnäckiges Insistieren auf einer Kabinettsvorlage, und damit der schriftlichen Fixierung seiner Kompetenzen, die Besprechung am 28. September und den Kabinettsbeschluss vom 6. Oktober (siehe unten). Die Entscheidung, die Atompolitik dem »Sonderminister« Strauß zuzuschlagen, hielt das Kanzleramt aber vorerst (bis zur Wiedererlangung der Souveränität 1955) geheim. Das Bundeswirtschaftsministerium wusste zunächst nichts von dieser Entwicklung und ging davon aus, nach der Ratifikation der Pariser Verträge offiziell die Federführung für die Atomangelegenheiten übertragen zu bekommen. Daher wurde im Wirtschaftsressort an einem Gesetzentwurf für das künftige Atomgesetz gearbeitet. Allen Beteiligten war allerdings bewusst, dass angewandte Atomforschung ohne die Finanzkraft des Staates und die Interessen der Wirtschaft von vorn­ herein zum Scheitern verurteilt gewesen wäre. Bereits vor der parlamentarischen Ratifizierung der Pariser Verträge im Februar 1955 befasste sich das Bundeskanzleramt intensiv mit den gesetzlichen Grundlagen der Atompolitik, der Standortfrage für den geplanten Reaktor, der internationalen Zusammenarbeit und vor allem den praktischen und wissenschaftlichen Erfahrungen anderer Staaten.131 Allerdings wurde eine öffentliche Erörterung dieser Fragen sorgfältig vermieden und Entscheidungen noch zurückgestellt. Globke band auf Anweisung Adenauers auch die bundesdeutschen diplomatischen Vertretungen in den ­relevanten Ländern ein, um an Informationen zur internationalen Atompolitik zu gelangen.132 Am 5.  Mai 1955 traten die Pariser Verträge in Kraft, das Besatzungsstatut wurde aufgehoben und die Bundesrepublik erlangte die staatliche 130 Vgl. Am Telephon Globke, in: Der Spiegel, 5. 10. 1955, S. 19. Da sich die Bun­ desminister für besondere Aufgaben Schäfer um den Mittelstand, Kraft um die Wasserwirtschaft und Tillmanns um Berlinfragen kümmerten, war Strauß mittlerweile der einzige Bundesminister für besondere Aufgaben ohne eigenes Spezialgebiet. 131 Vgl. Eckert, Anfänge, S. 117–128, und P. Fischer, Atomenergie, S. 163 f. 132 Vgl. ebenda, S. 164.

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Souveränität.133 Nur wenige Tage später trat die junge Republik auch der NATO bei. Mit dem Wegfall des Besatzungsstatutes stand nun dem seit Langem vorbereiteten Einstieg in die zivile Nutzung der Kernenergie nichts mehr im Wege. Da das Kontrollratsgesetz Nr. 22 auch nach der Ratifikation der Pariser Verträge bis zur Verabschiedung eines bundesdeutschen Atomgesetzes in Kraft blieb, mussten nun dringend die gesetzlichen Grundlagen der künftigen deutschen Atompolitik geklärt werden.134 Während das Bundeswirtschaftsministerium noch davon ausging, weiterhin für Atomfragen zuständig zu sein, konkretisierten sich die Vorbereitungen des Bundeskanzleramts, trotz der im Wirtschaftsressort geleisteten Vorbereitungen und Planungen für ein deutsches Atomgesetz, die Zuständigkeit für die Atomenergie dem Sonderminister Franz Josef Strauß zuzuschlagen.135 Am 29.  Juni 1955 lud Adenauer die Bundesminister Theodor Blank (Verteidigung), Ludwig Erhard (Wirtschaft), Franz Josef Strauß (besondere Aufgaben), Fritz Schäffer (Finanzen) und Siegfried Balke (Postund Fernmeldewesen), Vertreter der Landesregierungen aus München und Stuttgart, Wilhelm Bötzkes und Ernst Telschow von der Physikalischen Studiengesellschaft, den DFG-Präsidenten Ludwig Raiser, Robert Pferdmenges (als Präsidenten des Bundesverbands deutscher Banken) und Staatssekretär Walter Hallstein zu einer atompolitischen Spitzenbesprechung ins Palais Schaumburg, auf der es zu entscheidenden Weichenstellungen kam.136 Auf Wunsch Adenauers referierte der deutsche Botschafter in Washington Heinz Krekeler seine atompolitischen Vorstellungen. Der studierte Chemiker interessierte sich sehr für Atompolitik und hatte Adenauer während dessen USA-Reise Mitte Juni 1955 vorgeschlagen, eine deutsche Atombehörde nach amerikanischem Vorbild zu gründen.137 Die Besprechungsteilnehmer kamen überein, sich Krekelers Initiative anzuschließen und eigene Vorschläge für eine entsprechende Institution zu entwickeln. Im zweiten Teil der Besprechung fiel die Entscheidung, die geplante zentrale deutsche Reaktorstation nicht in München, sondern in

133 Zu den Pariser Verträgen vgl. Müller, Geschichte, Bd. 1, S. 112–116, und Romberg, Atomgeschäfte, S. 23–26; zur weiterhin durchaus beschränkten Souveränität der Bundesrepublik vgl. Josef Foschepoth, Überwachtes Deutschland. Postund Telefonüberwachung in der alten Bundesrepublik, Göttingen 2012. 134 Vgl. Geier, Schwellenmacht, S. 18–21, und P. Fischer, Atomenergie, S. 189. 135 Vgl. ebenda, S. 190. 136 Zur atompolitischen Besprechung vgl. ebenda, S. 227–232. 137 Vgl. Eckert, Anfänge, S. 138, Anm. 73.

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Karlsruhe zu errichten.138 Dem Max-Planck-Institut für Physik sollte die Verlagerung von Göttingen nach München vorgeschlagen und die dortige Errichtung eines kleinen Reaktors für rein wissenschaftliche Zwecke angeboten werden. Heisenberg erhielt das Angebot, die Leitung der Karlsruher Einrichtung zu übernehmen. Dennoch war das Ergebnis der Besprechung eine Niederlage sowohl für Heisenberg als auch für Erhard. Der Nobelpreisträger hatte sich mit seinem Plädoyer für München als Standort des Kernforschungszentrums nicht durchsetzen können, worin sich auch sein schwindender Einfluss in der Bundesregierung widerspiegelte.139 Verbittert lehnte er die Leitung der Karlsruher Einrichtung ab. Die Einladung und der Vortrag Krekelers hatten unübersehbar demonstriert, dass die atompolitischen Vorstellungen des Bundeskanzlers erheblich von denen des Wirtschaftsministers abwichen. Zugleich war deutlich geworden, dass Adenauer mit Strauß schon einen Kandidaten für die Leitung eines deutschen Atomministeriums parat hielt. Dem Bundeswirtschaftsministerium war diese Entwicklung im Bundeskanzleramt anscheinend verborgen geblieben.140 1978 erklärte der ehemalige deutsche Atomminister Siegfried Balke im Rückblick, zum Verständnis der frühen bundesdeutschen Atompolitik sei es unabdingbar zu wissen, dass es bei ihr nicht um Energiepolitik gegangen sei.141 Wäre die Energiepolitik zentraler Bestandteil der bundesdeutschen Atompolitik gewesen, dann hätte diese auch dem Wirtschaftsministerium zugeschlagen werden müssen. Aber Adenauer war mit den führenden Atomphysikern der im Entstehen begriffenen nuklearen »Community«, darunter besonders Karl Winnacker, Chef der Farbwerke Hoechst, einer Meinung, dass die Atompolitik eines eigenen Ministeriums bedürfe.142 Am 4. Oktober teilte Adenauer seinen Bundesministern mit,

138 Vgl. auch Radkau / Hahn, Aufstieg, S. 32 f. Zur Standortfrage vgl. auch Müller, Geschichte, Bd. 1, S. 109–111 und S. 129–135, sowie Helmuth Trischler, München als Wissenschaftsmetropole und Hochtechnologiestandort 1920 bis 1970, in: Nerdinger, Winfried (Hrsg.), München und der Nationalsozialismus. Katalog des NS-Dokumentationszentrums München, München 2015, S. 527–536, hier S. 534. 139 Vgl. dazu auch Michael Eckert, Primacy Doomed to Failure. Heisenberg’s Role as Scientific Adviser for Nuclear Policy in the FRG, in: Historical Studies in the Physical and Biological Sciences 21 (1990), S. 29–58. 140 Vgl. P. Fischer, Atomenergie, S. 230; Radkau / Hahn, Aufstieg, S. 33 f., und Löffler, Marktwirtschaft, S. 354–361. 141 Vgl. Radkau, Ursprung, S. 34, und ders./Hahn, Aufstieg, S. 13. 142 Vgl. Radkau, Ursprung, S. 35.

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dass er aufgrund der »bisherigen Zersplitterung und Unklarheit auf diesem Gebiet« ein Ministerium für Atomfragen zu bilden gedenke.143 Die endgültige Entscheidung Adenauers zur Gründung des Atomministeriums unter Franz Josef Strauß war bereits am 26.  September 1955 gefallen, in einer Besprechung im kleinsten Kreis zwischen dem Bundeskanzler, seinem engen Vertrauten Heinrich Krone, dem Vorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, und dessen Stellvertreter Richard Stücklen von der CSU im Zusammenhang mit dem am nächsten Tag bevorstehenden Besuch des wissenschaftlichen Leiters des britischen Atomenergieprojekts, Sir John Cockcroft.144 Vor diesem Besuch hatte Adenauer für klare Strukturen sorgen wollen. Das war auch unerlässlich, wie der Vermerk aus dem Foreign Office aus dem selben Monat illustriert, in dem es hieß, »the development of atomic energy in Germany is still in the jungle stage«.145 Zwei Tage später forderte Wirtschaftsminister Erhard, der die Gründung eines eigenen Atomministeriums weiterhin ablehnte, den Kanzler schriftlich auf, »keine vollendeten Tatsachen zu schaffen, ehe nicht mindestens der Versuch einer klaren Aufgaben- und Funktionsteilung zu einem befriedigenden Ergebnis geführt« habe.146 Offenbar ungeachtet der Position Erhards behandelten Adenauer und seine anwesenden Minister in der Kabinettssitzung am 6.  Oktober 1955 als zweiten von acht Tagesordnungspunkten die Gründung eines Ministeriums für Atomfragen.147 Außerhalb der Tagesordnung wurden an die143 Vgl. Protokoll der Kabinettssitzung vom 6. 10. 1955, TOP 2: Bildung eines Bundesministeriums für Atomfragen, Anm. 40, »Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung« online, Kabinett. 144 Vgl. Heinrich Krone, Tagebücher. Erster Band (1945–1961), Düsseldorf 1995, S. 190. 145 Zitiert bei P. Fischer, Atomenergie, S. 257. 146 BArch, B 136 /4661, zitiert nach Protokoll der Kabinettssitzung vom 6. 10. 1955, TOP 2: Bildung eines Bundesministeriums für Atomfragen, Anm. 40, »Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung« online, Kabinett. 147 Vgl. Protokoll der Kabinettssitzung vom 6. 10. 1955, TOP 2: Bildung eines Bundesministeriums für Atomfragen, »Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung« online, Kabinett. Anwesend waren bei der Behandlung des Tagesordnungspunktes 2 Adenauer, Franz Blücher (Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Vizekanzler, FDP), Außenminister Heinrich von Brentano (CDU), Innenminister Gerhard Schröder (CDU), Justizminister Fritz Neumayer (FDP), Finanzminister Fritz Schäffer (CSU), Wirtschaftsminister Ludwig Erhard (zu diesem Zeitpunkt noch parteilos), Verteidigungsminister Theodor Blank (CDU), Postminister Siegfried Balke (CSU), der Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen Jakob Kaiser (CDU), der Bundesminister für Angelegenheiten des Bundesrates Hans-Joachim von Merkatz (DP), Familienminister Franz-Josef

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sem Tag unter anderem auch die Vorbereitungen des Luxemburger Vertrages über die Rückkehr des Saarlandes zu Deutschland besprochen. Das Atomministerium hatte der Bundeskanzler selbst auf die Tagesordnung gesetzt. Da in der Diskussion sämtliche Konfliktlinien um die umstrittene Einrichtung des Ministeriums offen zutage traten, ist es sinnvoll, einen genaueren Blick auf die unterschiedlichen Positionen innerhalb des Kabinetts zu werfen. Adenauer hatte, wie oben erwähnt, den Ministern bereits zwei Tage zuvor in einer persönlichen Vorlage mitgeteilt, dass er die Gründung eines Ministeriums für Atomfragen für erforderlich halte.148 Als Bundesminister für Atomfragen solle Franz Josef Strauß für »alle mit der Forschung und Nutzung der Atomenergie für friedliche Zwecke zusammengehörenden Fragen […], die federführend von ihm im Benehmen mit den beteiligten Bundesministern zu bearbeiten« wären, zuständig sein. Franz Blücher (FDP), der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, antwortete auf Adenauers Ausführungen zur Notwendigkeit der Gründung eines Ministeriums für Atomfragen mit dem Hinweis, dass dessen zentrale Aufgabe in der »Schutzgesetzgebung« bestünde. Defensiver wies Bundesinnenminister Gerhard Schröder (CDU) darauf hin, dass sowohl das Innen- als auch das Wirtschaftsministerium »weitreichende Interessen […] an den Fragen der Kernforschung und friedlichen Verwertung der Kernenergie« hätten, und bat um eine »eingehende Chefbesprechung zwischen den Bundesministern für Wirtschaft, für besondere Aufgaben Strauß und ihm«. Staatssekretär Maximilian Sauerborn aus dem Arbeitsministerium bat, auch seinen Minister Anton Storch (CDU) in diese Besprechung einzubeziehen. Warum der ebenfalls anwesende Ludwig Erhard dem Innenminister nicht beisprang, ist unklar. Obwohl der Bundeswirtschaftsminister der wohl entschiedenste Gegner der beabsichtigten Ministeriumsgründung war, überließ er das Vorbringen von Einwänden Wuermeling (CDU), Bundesminister für besondere Aufgaben Robert Tillmanns (CDU), Bundesminister für besondere Aufgaben Franz Josef Strauß (CSU), Bundesminister für besondere Aufgaben Hermann Schäfer (FDP), Bundesminister für besondere Aufgaben Waldemar Kraft (BHE) sowie die Staatssekretäre bzw. Ministerialbeamten Günther Bergemann (BMV), Karl Theodor Bleek (BMI), Hans Globke (BKAmt), Walter Hallstein (AA), Peter Paul Nahm (BMVt), Maximilian Sauerborn (BMA), Theodor Sonnemann (BMELF), Walter Strauß (BMJ), Hermann Wandersleb (BMWo), Ludger Westrick (BMWi), Manfred Otto Klaiber (Bundespräsidialamt), Edmund Forschbach (Presse- und Informationsamt), Josef Selbach (Adenauers Büroleiter), Hans Kilb (Persönlicher Referent Adenauers) und Wolfgang Glaesser (BPA). 148 Vgl. oben S. 78 f.

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seinen Kabinettskollegen und ergriff in der Kabinettssitzung vom 6. Oktober laut Protokoll kein einziges Mal das Wort. Zu der erwünschten Besprechung auf Ministerebene kam es, soweit bekannt, nie. Bemerkenswert waren die Wortmeldungen des Bundesministers für besondere Aufgaben Robert Tillmanns (CDU). Tillmanns bat, keine Entscheidung über eine Ministeriumsgründung zu fällen, bis ein »klares Bild über die zukünftige organisatorische Gestaltung dieses Ressorts gewonnen« worden sei – ein bissiger Hinweis auf die bislang allenfalls vage Planung des Ministeriums. Tillmanns erkundigte sich, in welchen Ländern es bereits vergleichbare Ministerien gebe, und zeigte sich besorgt, dass eventuell »im Ausland mit der Errichtung eines solchen Ressorts der Eindruck entstehen könne, als wenn die Bundesrepublik nicht nur an die friedliche Auswertung der Atomenergie denke«. Der Bitte Adenauers, »seine vorgebrachten Einwände zurückzustellen«, kam Tillmanns, immerhin Zweiter Vorsitzender der CDU, »ausdrücklich« nicht nach. Dies war durchaus eine Brüskierung des Bundeskanzlers. Über die Motive für Tillmanns Skepsis lässt sich nur spekulieren. Der fest in der evangelischen Kirche verwurzelte, promovierte Staatswissenschaftler sah sich als »Mittler« zwischen der EKD und der Bundesregierung und war ein energischer Verfechter von Völkerverständigung und Westbindung.149 Tillmanns starb wenige Wochen nach der Konfrontation mit Adenauer am 12. November 1955 in Berlin.150 Bundesfinanzminister Fritz Schäffer (CSU) bezeichnete die Gründung eines Atomministeriums in einer vielsagenden Formulierung als »unausweichlich«. Hans-Joachim von Merkatz von der Deutschen Partei, Bundesminister für Angelegenheiten des Bundesrates, machte »gegen den Antrag des Bundeskanzlers keine verfassungsrechtlichen Bedenken geltend«  – was grundsätzliche Einwände hinsichtlich der konkurrierenden 149 Vgl. Norbert Kaczmarek, Robert Tillmanns, in: Konrad-Adenauer-Stiftung für politische Bildung und Studienförderung e. V. (Hrsg.), Christliche Demokraten der ersten Stunde, Bonn 1966, S. 383–401, hier S. 395. Robert Tillmanns war in den 1920er Jahren Hauptgeschäftsführer des Deutschen Studentenwerkes; sein 1931 angetretenes Amt als Regierungsrat im Preußischen Kultusministerium verlor er 1933 aus politischen Gründen. Tillmanns stand in Beziehung zur Bekennenden Kirche und zum Kreisauer Kreis. Er war Mitbegründer der CDU in Berlin, seit 1954 Erster Vorsitzender des Evangelischen Arbeitskreises in der CDU/ CSU. Seit 1955 zweiter Vorsitzender der CDU und Synodaler der EKD. Vgl. auch Angela Keller-Kühne, Robert Tillmanns. CDU-Politiker (1896–1955), in: Portal Rheinische Geschichte, www.rheinische-geschichte.lvr.de / Persoenlichkeiten/ robert-tillmanns / DE-2086/lido/57c93f5b2edad3.53545089 [19. 11. 2021] und Geier, Atomministerium. 150 Vgl. Kaczmarek, Tillmanns, S. 399.

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Länderkompetenzen in Atomfragen implizit nicht ausschloss.151 Er forderte eine Klärung hinsichtlich einer bestehenden Initiative im Bundestag, eine »Bundesanstalt für Atomforschung« zu gründen und verlangte ebenso wie zuvor Tillmanns, »noch klarer« herauszustellen, »dass das neuzuschaffende Bundesministerium sich ausschließlich mit Fragen der friedlichen Verwertung der Atomenergie befassen solle.« Bundesminister für besondere Aufgaben Hermann Schäfer und Justizminister Fritz Neumayer (beide FDP) erklärten, dass sie gerne vor einem endgültigen Beschluss, auch um kommende Haushaltsverhandlungen zu erleichtern, Rücksprache mit den Fraktionen halten würden. Auf Adenauers Vorhalt, »daß man der Legislative nicht mehr als nötig das Mitspracherecht bei Fragen aus dem Zuständigkeitsbereich der Exekutive einräumen dürfe«, nahmen Schäfer und Neumayer ihre Einwände wieder zurück. Am 2. November 1955 erklärten die beiden Minister allerdings, entgegen der Protokollfassung ihre Einwände keineswegs zurückgezogen zu haben. Unter der Maßgabe, dass ihr Schreiben zu den Akten genommen werde, bestanden sie aber nicht auf einer Änderung des Protokolls.152 Fassen wir die erwähnten Konfliktlinien noch einmal zusammen: In Frage gestellt wurde, für welche Aufgaben man ein eigenes Atomministerium überhaupt brauchte (Blücher und Tillmanns); das Wirtschafts-, Innen- und Arbeitsressort zeigten sich unwillig, auf ihre bisherigen Kom­ petenzen zu verzichten; eine rein friedliche Nutzung der Atomkraft wurde angemahnt (Tillmanns und Merkatz) und die konkurrierenden Kompetenzen der Länder wurden thematisiert und erfolglos die Einbeziehung des Bundestages gefordert (durch die beiden FDP-Minister). Der einzige Minister, der laut Protokoll der Gründung des Atomministeriums uneingeschränkt zustimmte, war Strauß’ Parteifreund, Bundesfinanz­ minister Fritz Schäffer. Strauß selbst ergriff in der Sitzung ebenso wenig das Wort wie Erhard. Auf Adenauers Wunsch stimmte das Kabinett der Gründung eines Ministeriums für Atomfragen schließlich zu.153 Franz Josef Strauß erhielt den Auftrag, innerhalb von drei Monaten dem Kabinett über »den Sachstand auf dem Atomgebiet« zu berichten und einen Organisationsplan zu 151 Zum Anspruch der Länder vgl. Müller, Geschichte, Bd. 1, S. 152. 152 Vgl. Protokoll der Kabinettssitzung vom 6. 10. 1955, TOP 2: Bildung eines Bundesministeriums für Atomfragen, Anm. 45, »Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung« online, Kabinett. 153 Zur Gründung vgl. auch P.  Fischer, Atomenergie, S. 255–260; Radkau / Hahn, Aufstieg, S. 98–101; Prüß, Kernforschungspolitik, S. 38–43, und Müller, Geschichte, Bd. 1, S. 152–156.

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Abb. 3: Bundespräsident Theodor Heuss überreicht Franz Josef Strauß die Ernennungsurkunde zum Bundesminister für Atomfragen, 20. 10. 1955

erstellen.154 Der Beschluss sollte vorerst noch nicht veröffentlicht werden, die Information der Fraktionsspitzen behielt sich Adenauer selbst vor. Vielleicht wurde in der Kabinettssitzung auch der oben angeführte »Spiegel«-Artikel angesprochen, der am Vortag offenbar ausgesprochen gut informiert die Hintergründe der anstehenden Ernennung von Strauß zum Atomminister thematisiert hatte. Mit seiner Forderung nach zusätzlichen Kompetenzen im Feld der ­Sicherheitspolitik, einem Ministerium für Heimatverteidigung mit Zuständigkeit unter anderem für die Atompolitik, hatte Strauß sich nicht durchsetzen können, auch weil das Kanzleramt hier die offensichtliche Gefahr erkannte, die Zuständigkeit für die zivile Kernkraft mit Verteidigungsaufgaben zu vermischen.155 Am 19.  Oktober 1955 trat der neue Atomminister sein Amt an.156 154 Vgl. ebenda, S. 152, und Sobotta, Bundesministerium, S. 23. 155 Vgl. P. Fischer, Atomenergie, S. 190 und S. 192 f. 156 Nach Möller am 20. Oktober, vgl. ders., Strauß, S. 150.

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Sowohl Ludwig Erhard als auch der damalige FDP-Vorsitzende Thomas Dehler lehnten die Bildung eines Atomministeriums unter Strauß zunächst ab.157 Der marktwirtschaftlich denkende Bundeswirtschaftsminister war der Ansicht, für Forschung seien allein die Länder zuständig, für wirtschaftliche Aspekte nicht der Staat. Die Existenzberechtigung des BMAt stellte Erhard, auch aus Ressortegoismus, mit der Sottise in Frage, dass es ja auch kein »Dampfkesselministerium« gebe.158 Die FDP fürchtete, durch die Kabinettsumbildung könnte sich die Kabinetts­ statik zugunsten der Unionsparteien verschieben.159 Diese Sorge war nicht unberechtigt, denn mit dem Erlangen der staatlichen Souveränität der Bundesrepublik erhielt die Atompolitik nicht nur erstmals wirkliche Relevanz, sondern wurde im Zuge der Atomeuphorie vor allem auch gesellschaftlich populär. Für Strauß war das Atomministerium, folgt man seinem Biographen Peter Siebenmorgen, »ein sinnerfülltes Interim – ein Wartestand, in dem sich selbst ein rastloser Geist eine Weile lang einrichten mag, bis vielleicht dann doch der Tag kommt, an dem der Alte gar nicht mehr anders kann, als ihm das ersehnte Amt des Verteidigungsministers zu übertragen«.160 Tatsächlich war für ihn das Ressort sicherlich kein Traumministerium, ein anderes zu diesem Zeitpunkt aber nicht erreichbar. Adenauer hatte ausgeschlossen, dass der ehrgeizige Strauß, der ihn mehrfach scharf kritisiert hatte, Verteidigungsminister werde, »solange ich Kanzler bin«.161 Mög­ licherweise reizten Strauß auch die neue Aufgabe und vor allem der ungeklärte Kurs der zukünftigen deutschen Atompolitik. Glaubt man seinen Erinnerungen, antwortete er auf die Frage, wie man als Historiker und Altphilologe Atomminister werde ironisch:

157 Vgl. das Schreiben Dehlers an Adenauer vom 13. 10. 1955 und Adenauers Antwort vom selben Tag, sowie das Schreiben Adenauers an Dehler vom 20. 10. 1955, ADL, N 1–2221, Bl. 1–4. Zu Dehler vgl. auch Udo Wengst, Thomas Dehler. 1897–1967. Eine politische Biographie, München 1997, S. 250–278. 158 Vgl. Radkau, Ursprung, S. 35. 159 Vgl. Möller, Strauß, S. 150, und Siebenmorgen, Strauß, S. 118; zur Gründung des BMAt auch Franz Josef Strauß, Die Erinnerungen, Berlin 1989, S. 225 f. 160 Siebenmorgen, Strauß, S. 114. Ähnlich argumentiert Müller, Geschichte, Bd. 1, S. 157. 161 Adenauer zitiert bei Siebenmorgen, Strauß, S. 122. Vgl. auch Schwarz, Adenauer, S. 272. Nach einer These Stefan Fingers wurde das BMAt auch geschaffen, um Strauß von anderen Ministerien fernzuhalten. Vgl. ders., Franz Josef Strauß. Ein politisches Leben, München 2005, S. 119–129.

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»a.) indem man nichts von Naturwissenschaften versteht, b.) indem man von anderen Ministerien ferngehalten werden soll und c.) indem man verspricht, durch jugendlichen Eifer und organisatorischen Ehrgeiz trotzdem etwas zustande zu bringen.«162 Unbescheiden erklärte Strauß weiter: »So war der Aufbau eines Atomministeriums, neben allem wirtschaft­ lichen Nutzen, auch ein Stück Wiedergewinnung von Rang und Geltung […]. Man kann nicht eine Nation wieder wirtschaftlich an die Spitze und politisch zur Geltung bringen, wenn sie nicht in Wissenschaft und Technik einen ihren geschichtlichen Leistungen und ihrem Potential angemessenen Platz einnimmt.«163 Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Gründung des BMAt in mehrfacher Hinsicht umstritten war: Außenpolitisch insofern, als erst Adenauers Verzichtserklärung und die Wiedererlangung der westdeutschen Souveränität durch die Pariser Verträge den nötigen Handlungsspielraum für eine ambitionierte friedliche Atompolitik der Bundesrepublik schufen. Innenpolitisch umstritten war, ungeachtet aller Atomeuphorie, zuvorderst die Frage, ob und wofür ein eigenes Atomministerium überhaupt erforderlich war. Wie dargestellt, wurde das Ministerium keineswegs für die Energiepolitik gebraucht, über die Kompetenzen zur Forschungsförderung wachten gemäß dem Königsteiner Abkommen die Länder, und Wirtschaftsminister Erhard suchte auch in der Atompolitik jeden Anschein des Staatsdirigismus zu vermeiden. Zudem fehlte bis zur Verabschiedung eines spezifischen Atomgesetzes die rechtliche Grundlage für die Zuständigkeit des neuen Ministeriums für die Atompolitik. Selbst in Adenauers Kabinett gab es die Befürchtung, die Gründung eines Atomministeriums könne im Ausland Zweifel an den friedlichen Absichten der Bundesrepublik wecken. Joachim Radkau und Lothar Hahn stellten treffend fest, dass die Gründung des BMAt angesichts der Tatsache, dass es in der Bundesrepublik 1955 noch kaum kerntechnische Einrichtungen gab und die Atomtechnik auch überwiegend nicht für eine Staatsaufgabe gehalten wurde, durchaus »kurios« war.164

162 Strauß, Erinnerungen, S. 222. 163 Ebenda, S. 224. 164 Radkau / Hahn, Aufstieg, S. 98.

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3. Vom Atom- zum Forschungs- und zum Bildungs­ ministerium Bundesministerium für Atomfragen

1955–1957

Bundesministerium für Atomkernenergie und Wasserwirtschaft

1957–1961

Bundesministerium für Atomkernenergie

1961–1962

Bundesministerium für wissenschaftliche Forschung

1962–1969

. . . 11

Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft

1969–1972

. . . . . . . . . . 17

Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft

. . .

7

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

. . . 29 . . . 39

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41

und Bundesministerium für Forschung und Technologie

1972–1994

Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie

1994–1998

Bundesministerium für Bildung und Forschung

1998–heute

Tab. 1: Namen des Atom-, Forschungs- und Bildungsministeriums seit 1955

. . . 45

chaft, Er-

. . . 66

erium 86 . . . 134

ung . 159 . . . 163 . . . 175 . . . 192 . . . 196

Das »Bundesministerium für Atomfragen« unter Franz Josef Strauß, 1955–1956 Zur Zeit seiner Gründung war das Atomministerium der Bundesrepublik Deutschland – sieht man von der Sowjetunion ab165 – weltweit das einzige Ministerium seiner Art. Zwar besaßen auch andere Industrienationen große Atombehörden, über ein eigenes Atomressort verfügte jedoch kein zweiter westlicher Staat.166 1955 gab es in der Bundesrepublik noch praktisch keine zu verwaltende Atomforschung, außerdem fiel die Kerntechnik nach der vorherrschenden ordoliberalen Auffassung ohnehin nicht in die Zuständigkeit des Staates. Die Gründung eines speziellen Atomministeriums war in dieser Hinsicht bemerkenswert. Selbst der frisch ernannte Atomminister Franz Josef Strauß hatte anfangs Probleme, die Existenz seines Ministeriums zu rechtfertigen. Es kursierte der Kalauer, »das Ministerium für Atomfragen sei eben ein Ministerium für Fragen, nicht für

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 165 Vgl. oben S. 14. 166 Vgl. Radkau, Ursprung, S. 33, und Müller, Geschichte, Bd. 1, S. 152.

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3.

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Antworten«.167 Zudem schien das neue Ministerium auch deshalb nicht in Adenauers Kabinett zu passen, weil für Wissenschaftspolitik die Bundesländer zuständig waren. Dennoch markierte die Einrichtung des Atom­ ministeriums den Beginn einer »Schlüsselphase für die Konstitution einer bundeseigenen Wissenschaftspolitik«.168 Strauß ging sein neues Amt mit großem Elan an. Er arbeitete sich autodidaktisch in die Fachliteratur ein, konsultierte zahlreiche Experten und informierte sich vor Ort in britischen, französischen und US-amerikanischen Kernforschungszentren.169 Die wenigen Mitarbeiter, über die er als »Bundesminister für besondere Aufgaben« verfügt hatte, brachte er in sein neues Ressort mit;170 darunter war auch sein persönlicher Referent Karl-Heinz Spilker.171 Ministerialdirektor Wilhelm Grau, der sich bereits im Bundeskanzleramt mit Atompolitik befasst hatte und der dem Hauptausschuss der DFG angehörte, wechselte ebenfalls ins Atomministerium und wurde Stellvertreter des Ministers. Der Kern seines Führungspersonals bestand, so erinnerte sich Strauß, zunächst lediglich aus Grau sowie aus einem Physiker, der vom Wirtschaftsministerium gekommen war (es handelte sich um Joachim Pretsch), und einem ehemaligen Beamten des Justizministeriums (Hermann Costa), der sich um atomrechtliche Fragen kümmerte.172 Solange das Ministerium noch nicht über einen eigenen Haushaltsplan verfügte, wurde das Personal an das Atomministerium vorerst abgeordnet.173 Im Tätigkeitsbericht des Atomministeriums für 1956 gab Balke das Ziel aus, die »Atomverwaltung so klein wie möglich« zu halten.174 Tatsächlich waren im Januar 1956 erst 27 Personen im neuen 167 Radkau, Ursprung, S. 33. Zur frühen Entwicklung des Atomministeriums vgl. auch Sobotta, Bundesministerium, S. 23–28. 168 Vgl. Martin Lengwiler, Kontinuitäten und Umbrüche in der deutschen Wissenschaftspolitik des 20.  Jahrhunderts, in: Simon, Dagmar / Knie, Andreas / Hornbostel, Stefan (Hrsg.), Handbuch Wissenschaftspolitik, Wiesbaden 2010, S. 13– 25, hier S. 17. 169 Vgl. Möller, Strauß, S. 149 und S. 154. 170 Vgl. Müller, Geschichte, Bd. 1, S. 154; auch zum Folgenden. 171 Vgl. ausführliche biographische Skizze in Kap. V.5. 172 Strauß, Erinnerungen, S. 222 (ohne Namensnennung). Zu Pretsch vgl. unten S. 152, zu Costa vgl. unten S. 258 und 268. Quellengrundlage Costa siehe Anhang 2. 173 Vgl. Protokoll der Kabinettssitzung vom 6. 10. 1955, TOP 2: Bildung eines Bundesministeriums für Atomfragen, Anm. 40, »Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung« online, Kabinett. 174 Das Bundesministerium für Atomfragen, in: Deutschland im Wiederaufbau 1957, S. 465–471, hier S. 471, unter »Grundsätze des Ministeriums«. Ein weiterer Grundsatz lautet ebenda: »Atompolitik möglichst unbürokratisch und anpassungsfähig.« Vgl. auch Müller, Geschichte, Bd. 1, S. 154.

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Ministerium beschäftigt. Ende 1956 verfügte das Ministerium dann über 94 Planstellen.175 Der Großteil des Führungspersonals (Stellvertreter des Ministers, persönlicher Referent, Unterabteilungsleiter und Referatsleiter) wurde 1955 /56 aus anderen Bundesministerien oder aus dem Bundeskanzleramt übernommen  – nach unserer Rechnung 11 von 17, d. h. ca. 65 Prozent (Stand Ende 1956). Zwei stammten aus dem Verteidigungsministerium (Josef Brandl176 und Wolfgang Cartellieri177), zwei aus dem Wirtschafts(Pretsch und Erich Pohland178), zwei aus dem Justizministerium (Costa und Ulrich Meyer-Cording179), zwei aus dem Strauß wohlbekannten Bereich der vier »Bundesministerien für besondere Aufgaben« (Albert Roth180 und Spilker181), einer aus dem Arbeitsministerium (Heinz Trabandt182) sowie zwei aus dem Bundeskanzleramt (Otto Beutler183 und Grau). Hinzu kamen Alexander Hocker von der DFG, Herbert Lindner aus dem »Hessischen Ministerium für Erziehung und Volksbildung«184 sowie der Münchner Amtsgerichtsrat Max Scheidwimmer185. Mindestens zwei leitende Beamte der Gründungsphase hatte Strauß vermutlich aufgrund persönlicher Bekanntschaft aus der CSU ins Ministerium berufen: Hans Engelhardt, zuvor Landrat im mittelfränkischen Hilpoltstein,186 sowie Heinz Lechmann, der kommissarischer Generalsekretär der CSU gewesen war.187 Als naturwissenschaftlich-technischer Fachmann, der nicht aus dem Bundesministerialdienst stammte, wurde 1956 schließlich noch der Physiker Georg Straimer von der US-Navy übernommen.188 Die

175 Vgl. ebenda, S. 155. Vgl. auch Tab. 2 unten S. 100 f. 176 Vgl. ausführliche biographische Skizze in Kap. V.1. 177 Vgl. ausführliche biographische Skizze in Kap. V.2. 178 Quellengrundlage Pohland (geb. 1898) siehe Anhang 2. 179 Quellengrundlage Meyer-Cording (geb. 1911) siehe ebenda. 180 Quellengrundlage Roth (geb. 1910) siehe ebenda. 181 Vgl. ausführliche biographische Skizze in Kap. V.5. 182 Quellengrundlage Trabandt (geb. 1912) siehe Anhang 2. 183 Quellengrundlage Beutler (geb. 1900) siehe ebenda. 184 Quellengrundlage Lindner (geb. 1920) und Hocker (geb. 1913) siehe ebenda. 185 Quellengrundlage Scheidwimmer (geb. 1922) siehe ebenda. 186 Quellengrundlage Engelhardt (geb. 1907) siehe ebenda. 187 Quellengrundlage Lechmann (geb. 1920) siehe ebenda; vgl. auch Jaromír Balcar / Thomas Schlemmer (Hrsg.), An der Spitze der CSU. Die Führungsgremien der Christlich-Sozialen Union 1946 bis 1955, München 2007, S. 609.  – Ob die Parteiverbindung auch bei Scheidwimmer eine Rolle spielte, ist unklar. 188 Quellengrundlage Straimer (geb. 1908) siehe Anhang 2.

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meisten der eben genannten Personen sollten bis Ende der 1960er / Anfang der 1970er Jahre im Ministerium bleiben. Fachliche Kompetenz und in einigen Fällen auch die persönliche Bekanntschaft mit Strauß waren offenbar die Hauptkriterien für die Einstellung in eine Führungsposition des neuen Ressorts. Der Großteil des eben skizzierten Führungspersonals hatte einst  – mit Ausnahme von Strauß und von vier Referenten – der NSDAP angehört189; auch schwerere NSBelastungen scheinen für die Rekrutierungspolitik des ersten Atomministers keine Bedeutung gehabt zu haben.190 In der Anfangsphase des Ministeriums gab es im Führungspersonal ein klares Übergewicht der Juristen (acht); hinzu kamen ein gelernter Verwaltungsbeamter, ein Geisteswissenschaftler und (nur) zwei Naturwissenschaftler191. Erst mit der Kompetenzerweiterung um Wissenschafts- und Technikfelder außerhalb der Atomforschung sollte in den 1960er Jahren der Anteil der Naturwissenschaftler und Techniker deutlich steigen. Das anfangs nur langsam wachsende Ressort war  – wie bereits ausgeführt  – in den Räumlichkeiten des traditionsreichen früheren Hotels »Godesberger Hof«192 im gleichnamigen Bonner Stadtteil untergebracht. Jeder Referent verfügte daher ursprünglich über ein Zimmer mit Bad.193 Zunächst bestand das Atomministerium lediglich aus zwei (Unter-)Abteilungen mit jeweils fünf Referaten: In der Unterabteilung I »Allgemeine Angelegenheiten, Recht und Verwaltung« (Cartellieri) waren das »Generalreferat« (Engelhardt), »Rechtsangelegenheiten« (Scheidwimmer), »Internationale Angelegenheiten« (Costa), »Volkswirtschaftliche und soziale Angelegenheiten« (Lindner, dann Brandl) sowie »Verwaltung« (Lindner) angesiedelt. In der Unterabteilung II »Forschung, Wissenschaft und Technik« (Leitung zunächst nicht besetzt) fanden sich die Referate »Forschung und Ausbildung« (Hocker), »Nutzung der Kernenergie in Wirtschaft und Verkehr« (Pretsch), »Strahlennutzung« (Pohland), »Schutz der Bevölkerung« (Pohland, dann  – nach Teilung des Referats  – Straimer und Tra-

189 Vgl. auch unten S. 205 die Graphik zur Entwicklung der Anteile ehemaliger ­NSDAP-Mitglieder am ministeriellen Führungspersonal. 190 Deutlich bei Spilker, Brandl, später auch Schnurr. 191 Im Jahr 1956. Juristen: Costa, Engelhardt, Grau, Hocker, Lechmann, Lindner, Scheidwimmer und Spilker; Verwaltungsbeamter: Roth; Geisteswissenschaftler: Weber; Naturwissenschaftler: Pohland und Pretsch. 192 Vgl. oben S. 11 f. 193 Vgl. Strauß, Erinnerungen, S. 222.

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bandt) sowie die »Geschäftsführung der Deutschen Atomkommission« (Lechmann).194 Entgegen der strikt marktwirtschaftlichen Orientierung Ludwig Erhards befürwortete Strauß eine interventionistische Industriepolitik. Der junge CSU-Politiker war daher auch ein vehementer Förderer der Kernenergie, deren weitere Erforschung er ebenso massiv vorantrieb, wie er den Aufbau der privaten Atomenergiewirtschaft in Deutschland forcierte.195 Dabei vergaß er auch nicht die föderalen bayerischen Interessen, etwa beim Garchinger »Atom-Ei«.196 Die weitere Erforschung und Förderung der Atomenergie schien langfristig nicht nur zur Elektrizitäts­ gewinnung geboten zu sein, auch in der Forschung und der Medizintechnik führte vermeintlich kein Weg an der Kerntechnik vorbei. Vor allem auf Betreiben der chemischen Industrie verfolgte die Bundesrepublik ab der Hälfte der 1950er Jahre eine intensive kerntechnische Forschungs- und Entwicklungspolitik, in deren Mittelpunkt die Entwicklung von Kernkraftwerken stand. Zum einen war die Chemiewirtschaft an der lu­krativen Herstellung schweren Wassers interessiert, zum anderen auf günstige Energie angewiesen, die man sich von der Kerntechnik versprach.197 Weniger enthusiastisch war dagegen die Energiewirtschaft selbst, die die Entwicklungsperspektiven konkurrenzfähiger Reaktoren realistischer sah und durch sinkende Öl- und Gaspreise kurzfristig auch nicht auf einen weiteren Energieträger angewiesen war.198 194 Vgl. Organigramme 1956 und 1957, BArch, B 138 Org; A.  Koehler / K. Jansen (Hrsg.), Die Bundesrepublik 1956 /57. Bund und Länder, kommunale und andere Körperschaften des öffentlichen Rechts sowie Spitzenverbände mit Personal­ angaben, Köln  u. a. 1956, S. 206; (Listen) vgl. auch Müller, Geschichte, Bd. 1, S. 155. Zur Atomkommission vgl. unten S. 271–284. 195 Zu Strauß vgl. die Biographien von Möller und Siebenmorgen. 196 Am 31. 10. 1957 wurde in Garching bei München der erste, vom Freistaat Bayern mit US-amerikanischen Zuschüssen in den USA gekaufte, von der TU München betriebene Forschungsreaktor der Bundesrepublik in Gang gesetzt. Aufgrund seiner charakteristischen Kuppel wurde der im Jahr 2000 stillgelegte Reaktor auch als »Atom-Ei« bezeichnet. Vgl. Technische Universität München (Hrsg.), 40 Jahre Atom-Ei Garching. 1957–1997, München 1997, S. 25–27, und Günther Oetzel, Forschungspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Entstehung und Entwicklung einer Institution der Großforschung am Modell des Kernforschungszentrums Karlsruhe (KfK) 1956–1963, Frankfurt a. M. u. a. 1996, S. 313. 197 Vgl. Christian Marx, Der zerplatzte Traum vom industriellen Atomzeitalter. Der misslungene Einstieg westdeutscher Chemiekonzerne in die Kernenergie während der 1960er und 1970er Jahre, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 60 (2015 /1), S. 3–28. 198 Vgl. Boenke, Entstehung, S. 54.

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Schon in seiner ersten offiziellen Verlautbarung als neuer Atomminister kündigte Strauß an, er wolle sich »bis zum Jahr 1956, die Aufgabe stellen, die Voraussetzung dafür zu schaffen […], dass wir mit dem Auslande, mit Amerika und Großbritannien, mit Frankreich und der Sowjetunion, in der wissenschaftlichen Forschung etwa denselben Stand erreichen.«199 Deutschland müsse hinsichtlich der zivilen Nutzung einen gleichberechtigten Platz im Kreis der Atommächte einnehmen. Das Rückstandsmotiv als Motor des Aufbaus der deutschen Kerntechnik, auf das später noch ­genauer einzugehen sein wird,200 findet sich in zahlreichen Reden und Äußerungen von Strauß,201 war aber auch parteiübergreifender Konsens.202 Neben ökonomischen Motiven spielten dabei zweifellos auch generelle Aspekte einer traditionellen Prestige- und Machtpolitik eine Rolle. Der offizielle Auftrag des Ministeriums lautete, federführend »alle mit der Forschung und Nutzung der Atomenergie für friedliche Zwecke zusammenhängenden Fragen […] im Benehmen mit den beteiligten Bundesministerien«203 zu bearbeiten. Die Frage, ob sich hinter den westdeutschen Bestrebungen zur Entwicklung einer zivilwirtschaftlichen Nutzung der Kernenergie nicht auch eine heimliche Option auf die Herstellung eigener Kernwaffen verbarg, wird in der Forschung kontrovers diskutiert.204 In den Pariser Verträgen hatte sich die Bundesrepublik verpflichtet, keine Atomwaffen auf deutschem Boden zu produzieren. Eine nukleare Rüstung der Bundeswehr oder auch eine Koproduktion von Atomwaffen zusammen mit einem anderen Staat waren damit aber keineswegs ausgeschlossen. Dass Strauß bundesdeutsche Atomwaffen unter Kontrolle der Bündnispartner befürwortete, ist bekannt.205 Hintergrund der im Juni 1955 auf der Konferenz von Messina beschlossenen Grün199 Zitiert bei Siebenmorgen, Strauß, S. 115 f. 200 Vgl. unten S. 177–183. 201 So etwa im NDWR-Beitrag vom 21. 10. 1955, ACSP, NL Strauß ZA 1955_1, oder in: Franz Josef Strauß, Friedliche Verwendung der Kernenergie, in: Union in Deutschland. Informations-Dienst der Christlich-Demokratischen und Christlich-Sozialen Union Deutschlands Nr. 3 /4, 12. 1. 1956, S. 4. 202 Vgl. Das Atom als Friedenskraft, in: Sozialdemokratischer Pressedienst 192, 22. 8. 1955. 203 Strauß, Verwendung, S. 4. 204 Vgl. die unterschiedlichen Positionen bei Geier, Schwellenmacht, und Hanel, Bombe. Vgl. auch Küntzel, Bonn, S. 269–288, der von deutschen Kernwaffenambitionen ausgeht, und Schwarz, Adenauer und die Kernwaffen, S. 567–593, der argumentiert, dass deutsche Kernwaffen für Adenauer ein außenpolitischer Faktor waren. 205 Vgl. Conze, Griff, S. 73.

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dung der Europäischen Atomgemeinschaft (EURATOM) war vor allem das französische Streben nach nuklearer Bewaffnung  – was die Atom­ politik für Adenauer nun auch zur Europapolitik machte.206 Der Kanzler erklärte gegenüber dem Bundeskabinett am 5. Oktober 1956, er »möchte über EURATOM auf schnellstem Weg die Möglichkeit erhalten, selbst nukleare Waffen herzustellen«,207 da er nicht mehr allein auf den amerikanischen Schutz bauen wolle.208 Die Frage eines bundesdeutschen Zugriffs auf Atomwaffen sollte noch bis 1963 – als John F. Kennedy eine weitere Proliferation von Atomwaffen ausschloss209 und Erhard Kanzler wurde – im politischen Hintergrund schwelen. Für die in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre virulent werdenden sicherheitspolitischen bzw. militärischen Aspekte der inkonsistenten deutschen Atompolitik210 war das »Bundesministerium für Atomfragen« allerdings, anders als auf den ersten Blick zu vermuten wäre, wenig relevant. Die entscheidenden Fragen wurden im Auswärtigen Amt, im Verteidigungsministerium und vor allem im Bundeskanzleramt behandelt.211 In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, dass die Gegenüberstellung von ziviler und militärischer Nutzung der Atomkraft dieser komplexen Thematik nicht hinreichend gerecht wird. Zum einen lassen sich die Grenzen nur schwer ziehen, und zum anderen könnte die tiefere »ratio« bundesdeutscher Atompolitik eher in einer außenpolitischen denn militärischen Dimension gelegen haben. Folgt man der These Stephan Geiers, dann ging es um das Ziel, durch den Ausbau der eigenen Nuklearindustrie den Rang einer atomaren »Schwellenmacht« zu erreichen, die

206 Vgl. Radkau, Ursprung, S. 34. Bei den EURATOM-Verhandlungen spielte auch der spätere Staatssekretär im BMAt Wolfgang Cartellieri eine wichtige Rolle, vgl. Geier, Atomministerium. 207 Vgl. Schwarz, Adenauer, S. 299. 208 Eine deutsch-französische Kooperation zur gemeinsamen Kernwaffenentwicklung, mit der Adenauer die westeuropäische Integration vorantreiben und unabhängiger von den Vereinigten Staaten werden wollte, stoppte Präsident Charles de Gaulle im Juni 1958 unmittelbar nach seinem Amtsantritt. Vgl. Küntzel, Bonn, S. 31; vgl. auch Siebenmorgen, Strauß, S. 139–147. 209 Vgl. Küntzel, Bonn, S. 41–43, und Geier, Schwellenmacht, S. 153–169. 210 Michael Knoll, Atomare Optionen. Westdeutsche Kernwaffenpolitik in der Ära Adenauer, Frankfurt a. M. 2013, S. 26, spricht von mehreren Bonner »Atompolitiken«. 211 Die Debatten um einen westdeutschen Zugriff auf Kernwaffen sind umfassend erforscht worden. Vgl. vor allem Geier, Schwellenmacht; Hanel, Bombe; Knoll, Atomare Optionen; Küntzel, Bonn; Schwarz, Adenauer und die Kernwaffen.

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sich den letzten Schritt zum Erwerb oder der Herstellung jederzeit offenhielt.212 Der Aufbau des Atomministeriums besaß auch erhebliche Relevanz für die Entwicklung der bundesdeutschen Forschungsförderung.213 Diese verfügte in den 1950er Jahren in der Bundesrepublik noch über keine klare Struktur. Traditionell konkurrierten in der deutschen Forschungsund Bildungspolitik Bund (bzw. Reich) und Länder. Historisch war die Bildungs- und Hochschulpolitik, mit Ausnahme der Zeit des National­ sozialismus, immer Sache der Länder gewesen, während sich das Reich auf eine subsidiäre Rolle zu beschränken hatte. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts begann der deutsche Zentralstaat aber, sich auf Kosten der Länder zunehmend weitere Kompetenzen anzueignen.214 In der wissenschaft­lichen Selbstverwaltungsorganisation der 1911 gegründeten Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, aus der 1948 die Max-Planck-Gesellschaft hervorging, förderten privatwirtschaftliche Mäzene die anwendungsorientierte Forschung, wahrten aber die Autonomie der Wissenschaft. Im Verlauf des Ersten Weltkriegs begann sich jedoch auch ein staatlich finanziertes Förderungssystem zu entwickeln, das mit seiner industrienahen Ausrichtung die deutsche Wissenschaftspolitik dauerhaft prägen sollte. Mit dem Königsteiner Abkommen vom 31.  März 1949, das die ge­ meinsame Förderung wichtiger Forschungseinrichtungen durch Bund und Länder regelte, fiel die Forschungsförderung unter die Kulturhoheit der Länder.215 Unter Wissenschaftlern stieß das bald auf Widerspruch. Werner Heisenberg zählte zu mehreren Professoren, die vom Parlamentarischen Rat verlangten, die Forschungsförderungskompetenz dem Bund zu übertragen, wobei ihr Verweis auf die Bedeutung der Forschung für Wirtschaft und Außenpolitik schon auf die spätere Atompolitik hindeutete.216 Dass mit Art. 74 Abs. 13 des Grundgesetzes die Forschungsförderung dann in den Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung aufgenom212 Vgl. v. a. Geier, Schwellenmacht, S. 133 f. und S. 391. 213 Vgl. Alexander v. Schwerin, Teure Forschung: das radiochemische Labor als Türöffner staatlicher Wissenschaftsförderung, in: Hettstedt / Raithel/Weise (Hrsg.), Im Spielfeld der Interessen [erscheint 2023]. 214 Vgl. Lengwiler, Kontinuitäten, S. 14. 215 Vgl. Boenke, Entstehung, S. 40–43. Zur schwierigen Ausgangssituation des Atomministeriums zwischen eingeschränkter Souveränität und verfassungsrechtlichem Vorrang der Länder in Bildung und Forschung vgl. Andreas Stucke, Brauchen wir ein Forschungsministerium des Bundes?, in: Weingart / Taubert (Hrsg.), Das Wissensministerium, S. 299–307, hier S. 299 f.; zum Königsteiner Abkommen ders., Institutionalisierung, S. 36 f. 216 Vgl. ebenda, S. 37, und Boenke, Entstehung, S. 41.

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Diagr. 1: Allgemeine Ausgaben des Bundes und der Länder und Gemeinden für Wissenschaft und Forschung, 1955–1962

men wurde, war eine Folge dieser Initiative.217 Nicht zuletzt auch, um seine wissenschaftspolitischen Kompetenzen auszudehnen, verlegte sich der Bund in den 1950er Jahren auf kostenintensive Felder in der Groß­ forschung (die Kernkraft, Luft- und Raumfahrt und militärische Projekte), auf denen die Länder und Hochschulen nicht mithalten konnten bzw. auf Unterstützung angewiesen waren. Um verfassungsrechtliche Konflikte mit den Ländern zu vermeiden, wurde das mit wirtschaftspolitischen Argumenten begründet.218 Zwischen 1955 und 1962 gaben Länder und Gemeinden erheblich mehr Geld für Wissenschaft und Forschung aus als der Bund (vgl. Diagr. 1). Die Ausgaben des Bundes für Forschungsförderung stiegen allerdings von 165,7 Millionen DM im Jahr 1955 auf 1,01 Milliarden DM im Jahr 1962 und damit um 509 Prozent, die der Länder im selben Zeitraum von 870,2 Millionen DM auf 2,19 Milliarden DM (151,8 Prozent).219 Den mit

217 Vgl. Meusel, Förderung, S. 144. 218 Vgl. Lengwiler, Kontinuitäten, S. 14–16. 219 Ebenda, Bl. 144.

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Abstand größten Anteil an der finanziellen Forschungsförderung leistete zwischen 1959 und 1962 Nordrhein-Westfalen.220 Für die Förderung der Kernforschung war anfangs das Bundeswirtschaftsministerium zuständig gewesen,221 für die allgemeine Forschungsförderung auch andere Ressorts (vor allem Innen-, Landwirtschafts-, Verkehrs- und Verteidigungsministerium). Hochschulen und wissenschaftliche Akademien wurden durch die Länder gefördert, ebenso wie die MPG. Bund, Länder, Stifterverband und Marshallplangelder wiederum finanzierten die 1951 neu begründete DFG, die zweite große Selbstverwaltungsorganisation der bundesdeutschen Wissenschaft.222 Der Bundesanteil an der Förderung der DFG betrug 1955 schon 61 Prozent, eine Förderung durch die DFG war also zu großen Teilen eine indirekte Förderung durch den Bund.223 Das Atomministerium unterstützte bereits seit seiner Gründung weitgestreut Forschung auf den Feldern der Naturwissenschaften, der Medizin und Landwirtschaft sowie der Technik an Universitäten und außeruniversitären Forschungsinstitutionen.224 Zeitgenössische Politiker forderten eine Systematisierung der bundesdeutschen Forschungsförderung nicht nur aufgrund dieses offensichtlichen Durcheinanders, sondern vor allem zum Aufholen des wissenschaftlichen und technologischen Vorsprungs des Auslandes.225 Die Entscheidung zur Gründung des Atomministeriums bedeutete auch ein Festhalten am Verfahren der Forschungsförderung durch ein Ministerium – und nicht durch eine starke Atomkommission, wie es etwa Heisenberg vorgezogen hätte.226 Wichtige Mitarbeiter der Abteilung Forschung aus dem Bundeswirtschaftsministerium, darunter vor allem der Physiker Joachim Pretsch und 220 Ebenda. 221 Vgl. Löffler, Marktwirtschaft, S. 354–361. 222 Vgl. Boenke, Entstehung, S. 35–40. Die DFG ging aus der 1920 gegründeten »Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft« hervor, seit 1929 »Deutsche Gemeinschaft zur Erhaltung und Förderung der Forschung« (DFG). 223 Vgl. Uwe Schimank / Stefan Lange, Hochschulpolitik in der Bund-Länder-Konkurrenz, in: Weingart / Taubert (Hrsg.), Das Wissensministerium, S. 311–346, hier S. 316 f.; Stucke, Institutionalisierung, S. 37–43. 224 Vgl. dazu demnächst Helmuth Trischler, Koordinierte Kooperation und Konkurrenz: Staatliche Forschungsförderung im Spannungsfeld von Bundes- und Länderkompetenzen, in: Hettstedt / Raithel / Weise (Hrsg.), Im Spielfeld der Interessen [erscheint 2023], und Lukas Alex, Mutation oder Vererbung? Das Münsteraner »Genetik-Register«, das Atomministerium und die Frage nach Kontinuitäten in der humangenetischen Forschung, in: ebenda. 225 Vgl. Boenke, Entstehung, S. 42. 226 Vgl. ebenda, S. 49.

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der Chemiker Erich Pohland, brachten durch ihren Wechsel Expertise ins neue Ministerium ein.227 Die Kompetenz für die Förderung der traditionellen Energieträger blieb aber beim Bundeswirtschaftsministerium. Forschungsförderung beschränkt sich nicht auf die reine Finanzierung, sie besteht auch in der Organisation und Planung von Forschung sowie in der Initiierung von Forschungseinrichtungen.228 Das frühe Atomministerium setzte bei derartigen Fragen bewusst auf die Mitwirkung von Experten und großer gesellschaftlicher Gruppen. Als institutioneller Rahmen diente die im Januar 1956 eingerichtete Deutsche Atomkommission, die formal nur eine beratende Funktion hatte. Dennoch übte das mit Vertretern aus Politik, Wissenschaft und Wirtschaft besetzte Gremium in den ersten Jahren faktisch einen entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung der Forschungsförderung in der Kerntechnik aus.229 Anfangs verfügte die Atomkommission über 27 Mitglieder. Der amtierende Atomminister hatte den Vorsitz inne, Stellvertreter waren zunächst der Staatssekretär im nordrhein-westfälischen Ministerium für Wirtschaft und Verkehr Leo Brandt, der Nobelpreisträger und MPG-Präsident Otto Hahn und der ehemalige I. G.-Farben-Manager und nunmehrige Vorstandsvorsitzende der Farbwerke Hoechst Karl Winnacker. Die Atomkommission verfügte über Fachkommissionen und Arbeitskreise, welche die Entwicklung der Kernforschung koordinierten. Fachkommission I beschäftigte sich mit dem Kernenergierecht, Fachkommission II mit Forschung und Nachwuchs, Fachkommission III mit technisch-wirtschaftlichen Reaktorfragen, Fachkommission IV mit dem Strahlenschutz und Fachkommission V mit wirtschaftlichen, finanziellen und sozialen Fragen.230 Im Jahr ihrer Gründung hatte die Atomkommission einschließlich ihrer Kommissionen und Arbeitskreise etwa 200 Angehörige, erheblich mehr als das Atom­ministerium zur selben Zeit.231 Nachdem die DFG sich 1956 noch gegen die Federführung des Atomministeriums bei der Mittelvergabe in 227 Insgesamt wechselten zwischen 1955 und 1962 noch weitere acht Angehörige des MFP vom BMWi ins Atomministerium. 228 Vgl. Meusel, Förderung, S. 149. 229 Boenke, Entstehung, S. 49. Zur Besetzung der DAtK vgl. ebenda, S. 50. Generell zur DAtK vgl. auch Schwerin, Atomkommission, S. 103–116; ders., Strahlenforschung. Bio- und Risikopolitik der DFG, 1920–1970, Stuttgart 2015, S. 353–358; Sobotta, Bundesministerium, S. 184–186; Stucke, Institutionalisierung, S. 49 f., und Prüß, Kernforschungspolitik, S. 40–45. Vgl. auch Wirtz, Umkreis, S. 197– 203; Winnacker / Wirtz, Wunder, S. 76–80, sowie Rusinek, Die Rolle der Experten. 230 Vgl. Boenke, Entstehung, S. 50. 231 Vgl. ebenda.

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der Kernforschung gesträubt hatte, die zu Lasten der wissenschaftlichen Selbstverwaltungsorganisation ging, wurde der Konflikt schließlich vordergründig durch die Aufnahme der gesamten DFG-Kommission für Atomphysik als »Arbeitskreis Kernphysik« in die Atomkommission beigelegt. Tatsächlich jedoch büßte die DFG ihre Zuständigkeit für die atomare Grundlagenforschung zugunsten des Bundes ein.232 Der anfangs geringe Anteil an Wissenschaftlern gegenüber den Juristen im Atomministerium und die Zurückhaltung des Ministeriums hinsichtlich inhaltlicher Vorgaben an die Forschung führten unter Strauß und anfangs auch unter Balke zu einer maßgeblichen Rolle der Atomkommission, insbesondere für die Auswahl der Forschungsschwerpunkte.233 Sämtliche Anträge an das Atomministerium wurden zuerst von der Atomkommission begutachtet, die als unabhängiges, formal unverbindliche Vorschläge machendes Beratungsgremium keiner parlamentarischen Kontrolle unterlag. Durchaus problematisch war das etwa beim »Arbeitskreis Kernphysik«, in dem die einflussreichsten deutschen Physiker, darunter Werner Heisenberg, Carl Friedrich von Weizsäcker und andere in eigener Sache über die staatliche Förderung von Grundlagenforschung an ihren Instituten und Hochschulen entschieden.234 Ähnlich war es beim »Arbeitskreis Kernreaktoren« unter Karl Wirtz, der sich zu zwei Dritteln aus Vertretern der Industrie – vor allem der Elektro-, Chemie-, Metall- und Maschinenindustrie – zusammensetzte.235 Zweifellos ist die Bedeutung der Atomkommission für die frühe bundesdeutsche Atompolitik kaum zu überschätzen. Die pointierte Wertung von Karsten Prüß, das Atomministerium sei nur eine »nachgeordnete Sanktionsinstanz« gewesen, ist aber übertrieben, da Angehörige des Ministeriums in die Beratungen der Kommission eingebunden waren und die letzte Entscheidung beim Ministerium lag.236 In den 1960er Jahren erfuhr die DAtK einen kontinuierlichen Bedeutungsrückgang, bevor sie 1971 schließlich aufgelöst wurde. In seiner Ansprache in der konstituierenden Sitzung der Atomkommission beschrieb Strauß am 26. Januar 1956 erneut den deutschen Rückstand 232 Vgl. ebenda, S. 47, und Stucke, Institutionalisierung, S. 48. 233 Vgl. Boenke, Entstehung, S. 51. 234 Vgl. Bundesministerium für Atomfragen (Hrsg.), Deutsche Atomkommission. Geschäftsordnung, Mitgliederverzeichnis, Organisationsplan (1. September 1957), Bad Godesberg 1957, S. 19. 235 Vgl. Boenke, Entstehung, S. 53, und Deutsche Atomkommission, Geschäftsordnung, S. 26. 236 Vgl. Prüß, Kernforschungspolitik, S. 40 f.

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auf die internationale Kernforschung als Bedrohung des deutschen Wohlstandes und erklärte, es sei eine »nationale Aufgabe im guten Sinne des Wortes«, dem deutschen Volk »den mühsam wieder gewonnenen Platz unter den Industrienationen dieser Welt zu behaupten und zu sichern«. Es gebe vermutlich »kein Ministerium unter den zahlreichen Bundesressorts, das in so großem Maße auf Mitarbeit und Zusammenarbeit [mit den Mitgliedern der Atomkommission; die Verf.] angewiesen [sei], wie das Bundesministerium für Atomfragen«.237 Konkreter wurde Strauß in einem Fünfstufenplan, in dem er die geplanten nächsten Schritte der Bundesregierung vorstellte: 1. Ausarbeitung eines Kernenergiegesetzes, das sich mit der Herstellung, Ein- und Ausfuhr und Verwendung von Brennstoffen befasste; 2. Ausarbeitung eines Strahlenschutzgesetzes; 3. Programm zur Koordination der Forschung mit den Ländern und der Wirtschaft; 4. Programm zur Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses; 5. Bearbeitung der Aspekte, die aus der europäischen Kooperation in Kernenergiefragen resultieren.238 Die Verabschiedung eines Atomgesetzes als Rechtsgrundlage für die staatliche Förderung der Atomenergie drängte, da andernfalls auch nach der Wiedererlangung der staatlichen Souveränität die Gesetzgebung der Siegermächte in Kraft geblieben wäre. Am 20. Juli 1956 erklärte Strauß im Kabinett bei der Diskussion seines Entwurfes für ein Atomgesetz, dessen Ziel sei es, »die möglichst ungehinderte Entwicklung der Forschung und Nutzung der Kernenergie zu gewährleisten. Die Wirtschaft und die Wissenschaft müssten zur Mitarbeit gewonnen werden. Die private Initiative sei wesentlich. Das private Eigentum an Kernbrennstoffen werde daher auch nur so weit beschränkt wie eben notwendig.«239 Mit der Einbeziehung der Erzeugung und Nutzung der Atomenergie, des Baues und Betriebs nuklearer Anlagen und des Gefahrenschutzes in die konkurrierende Gesetzgebung des Bundes stellte der Entwurf für das letztlich erst Ende Dezember 1959 verabschiedete Atomgesetz wichtige Weichen. Von Beginn an musste sich das Atomministerium der Frage des Wiederaufbaus von Forschungsinstituten und Hochschulen widmen und da237 ACSP, Atomkommission_Rede.pdf [16. 12. 2021], S. 2 und S. 4. Bei dem Dokument handelt es sich um die vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung verbreitete Fassung. 238 Strauß, Verwendung. Vgl. ähnlich in 6 Punkten auch in: Das Bundesministerium für Atomfragen, in: Deutschland im Wiederaufbau 1955, S. 411. 239 Vgl. Kabinettssitzung vom 20. 7. 1956, »Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung« online, Kabinett. Vgl. auch Möller, Strauß, S. 157. Weiter zum Atomgesetz siehe unten S. 110–112.

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mit verbunden der Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses auf dem Feld der Atomforschung.240 Darüber hinaus wurden Kontakte zu internationalen Organisationen wie der IAEO in Wien oder dem europäischen Kernforschungszentrum (CERN) in Genf geknüpft.241 Eine wichtige Rolle bei der Forschungsförderung spielte der ehemalige General­ sekretär der DFG, Alexander Hocker, den Strauß wie erwähnt 1956 in das Ministerium geholt hatte. Hocker war auch an der Schaffung der Großforschungseinrichtungen DESY und IPP sowie am deutschen Anteil am CERN beteiligt.242 Als im Oktober 1956 Verteidigungsminister Theodor Blank, auch aufgrund der nur zögerlich umgesetzten deutschen Bündnisverpflichtungen gegenüber der NATO zurücktreten musste, führte für Adenauer kein Weg mehr an dem Wehrpolitiker Strauß vorbei.243 Am 16. Oktober 1956 wechselte Strauß als Nachfolger Theodor Blanks an die Spitze des Verteidigungsministeriums, wo er ein Jahr später Pläne für eine atomare Bewaffnung der Bundeswehr vorlegte. Der scheidende Ressortchef, der sich in seiner kurzen Amtszeit erheblich profilieren konnte, bilanzierte selbstbewusst: »Wir haben in den knapp zwölf Monaten, die ich Atomminister war, eine umfassende nationale Atomkonzeption entworfen, und zwar sowohl den großen Rahmen, als auch die Details bis hin zu den technischen Apparaturen.«244 Tatsächlich legte Strauß in nur einem Jahr als Atom­ minister das Fundament der weiteren bundesdeutschen Atom­politik.245

240 Vgl. Sobotta, Bundesministerium, S. 25. 241 Zur Gründung der IAEO vgl. auch Geier, Atomministerium. 242 Vgl. Meusel, Förderung, S. 147. Zur Rolle Hockers vgl. auch Prüß, Kernforschungspolitik, S. 46 f. 243 Vgl. Siebenmorgen, Strauß, S. 121–124. 244 Vgl. Strauß, Erinnerungen, S. 232. 245 Vgl. Möller, Strauß, S. 152, und Müller, Geschichte, Bd. 1, S. 157.

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1955 1956

Recht, Verwaltung, Wirtschaft

Bildung, seit 1970

Wissenschaft allg., seit 1963

Kerntechnik

WeltraumLuftfahrt, seit 1963 bzw. 1968

Abt. I

Abt. II

Abt. II, III

Abt. II, III, IV

Abt. III, IV, V

Abt. I: Recht, Verwaltung, Wirtschaft u. internat. Zus. arbeit Cartellieri

Abt. II: Forschung, Technik, Strahlenschutz Cartellieri (1957–58 komm.)

1957 1958

1959

Abt. II: Kernforschung, Kerntechnik, Strahlenschutz Schnurr Abt. I: Recht, Verwaltung, Wirtschaft und internat. Zus. arbeit Kriele

1960 1961

Abt. II: Kernforschung, Kerntechnik, Strahlenschutz Kaißling

1962 Abt. II: Allg. Wissenschaftsförderung Scheidemann

1963

1964

1965

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Abt. I: Zentralabteilung Engelhardt

Abt. III Weltraum­forschung Mayer

Abt. III: Kernforschung, Kerntechnik, Strahlenschutz Wolf Abt. III: Kernforschung Pretsch

3.

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Recht, Verwaltung, Wirtschaft

Bildung, seit 1970

Wissenschaft allg., seit 1963

Kerntechnik

WeltraumLuftfahrt, seit 1963 bzw. 1968

Abt. I

Abt. II

Abt. II, III

Abt. II, III, IV

Abt. III, IV, V

1966 Abt. III: Kernforschung, Datenverarbeitung Pretsch

1967

1968

1969 1970

1971

1972

Abt. IV: Weltraumforschung, Luftfahrtfoschung Abt. I: Verwaltung, internat. Zus. arbeit Haunschild

Abt. II: Bildungsplanung Lehr

Abt. I: Verwaltung, internationale Zus.arbeit Bischoff

Abt II: Bildungsplanung und Hoch­ schulen Böning

Abt. III: Forschungs­ planung, technol. Forschung und Entwicklung Scheidemann

Abt. IV: Kerntechnik, Datenverarbeitung, Technologien Pretsch

Abt. V: Weltraumforschung und -technik, Luftfahrt­ forschung Mayer

Abt. IV: Kerntechnik, Datenverarbeitung Lehr

Abt. V: Weltraumforschung und -technik, Luftfahrt­ forschung Güntsch

Tab. 2: Abteilungsstruktur des Atom- und Forschungsministeriums, 1955–1972246

246 Die Tabelle gibt in leicht vereinfachter Form den Ausbau der Abteilungsstruktur und die jeweiligen Abteilungsleiter wieder. Modifizierte Abteilungsnamen werden nur beim Wechsel des Abteilungsleiters genannt. Erstellt v. a. nach den Organigrammen in BArch, B 138 Org. Zu den Quellengrundlagen der genannten Personen siehe Anhang.

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Das »Bundesministerium für Atomfragen«, »für Atomkernenergie und Wasserwirtschaft« und »für Atomkernenergie« unter Siegfried Balke, 1956–1962 Auf den am kürzesten amtierenden Minister folgte am 16. Oktober 1956 mit Siegfried Balke der Minister mit der längsten Amtszeit unseres Untersuchungszeitraums. Der habilitierte Chemiker war, als politischer Seiteneinsteiger sowie anfänglich ohne CSU-Mitgliedschaft, seit 1953 Bundespostminister gewesen und leitete das Atomministerium über sechs Jahre, bis in den Dezember 1962.247 Balke pflegte den Nimbus des fachkundigen Selfmade-Managers, der sich selbst nicht als Politiker sah. Im Bundespostministerium hatte er die dringend nötige Modernisierung und Rationalisierung vorangetrieben. Seine Berufung war auch Ausdruck der zeitgenössischen Verwissenschaftlichung der Politik. Da Balke über keine politische Hausmacht verfügte und in Bonn bald als »Minister ohne Ellenbogen«248 galt, verlor das Atomministerium im Vergleich zur der Zeit unter Strauß jedoch an politischem Einfluss. Personell vergrößerte sich das Ministerium weiterhin nur langsam, da auch der neue Minister eine kleine Atomverwaltung präferierte.249 In seinen Haushaltsforderungen war Balke so zurückhaltend, dass 1961 der Bundestagsausschuss für Atomkernenergie und Wasserwirtschaft den Personalstand des Ministeriums für zu gering erklärte und zusätzliche Mittel verlangte.250 Im Frühjahr 1957 geriet Balke in einen heftigen Konflikt mit Adenauer, der spätestens ab 1956 den Besitz von Kernwaffen für die Bundesrepublik anstrebte oder zumindest die nukleare Teilhabe durch eine Kooperation mit europäischen Partnern oder innerhalb der NATO erreichen wollte.251 Durch internationale Waffengleichheit sollte eine friedliche Koexistenz in 247 Vgl. Sobotta, Bundesministerium, S. 23–29. Zu Balke vgl. Robert Lorenz, Siegfried Balke. Grenzgänger zwischen Wirtschaft und Politik in der Ära Adenauer, Stuttgart 2010, sowie die biographische Skizze in Kap. III.4. 248 Vgl. Walter Henkels, 99 Bonner Köpfe, Düsseldorf 1963, S. 30. 249 Vgl. Müller, Geschichte, Bd. 1, S. 157. 250 Vgl. ebenda, S. 159. 251 Ein geplanter US-amerikanischer Truppenabzug im Rahmen einer veränderten Sicherheitsarchitektur für Europa ließ im Frühjahr 1956 Adenauers Vertrauen in den amerikanischen Schutzschirm schwinden, während gleichzeitig die Auf­ stellung und Ausrüstung der Bundeswehr nur stockend voranging. Vgl. Geier, Schwellenmacht, S. 387. In der Kabinettssitzung vom 19. 12. 1956 erklärte Adenauer, es sei sowohl »erforderlich, den Zusammenschluss Europas nun vorwärts zu treiben«, als auch »dringend erforderlich, dass die Bundesrepublik selbst

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der Blockkonfrontation des Kalten Krieges erzwungen werden. Adenauers verharmlosende öffentliche Erklärung vom April 1957, bei den taktischen Atomwaffen handele es sich lediglich um eine »Weiterentwicklung der Artillerie«,252 zog die »Göttinger Erklärung« führender bundesdeutscher Kernforscher und letztlich auch die Gründung der westdeutschen Anti-Atom-Bewegung nach sich. Da der Atomminister öffentlich Verständnis für die »Göttinger Erklärung«253 äußerte, wurde er demonstrativ nicht zu einem Krisengespräch zwischen dem Kanzler und den Wissenschaftlern hinzugezogen.254 Balke erwog daraufhin offenbar einen Rückzug aus der Politik.255 Die Umstände dieses Konflikts und seiner nachfolgenden Beilegung bedürften einer genaueren Untersuchung. Balke blieb im Amt. Am 29. Oktober 1957, im dritten Kabinett Adenauer, erhielt das Ministerium auch die Kompetenz für Wasserwirtschaft und Wasserreinheit und wurde zum »Bundesministerium für Atomkernenergie und Wasserwirtschaft«.256 Möglicherweise spielte bei dieser Entscheidung der Stellenwert der Wasserwirtschaft als Instrument der Zukunftsvorsorge (wie die Atomtechnologie) eine Rolle.257 Mit kritischer Zuspitzung hat Stucke davon gesprochen, dass Adenauer das Atomministerium offenbar als eine »Sammelstelle für Restkompetenzen« sah, »die innerhalb anderer Ressorts administrativ nicht zu integrieren waren«.258 Möller zufolge resultierte der Kompetenzzuwachs dagegen vielmehr aus der Sorge vor einer drohenden Wasserkontaminierung durch die ungeklärte Endlagerproblematik atomarer Abfälle.259 Balke nannte im Tätig­ keitsbericht für das Jahr 1958 als Aufgabe des Ressorts, Wirtschaft und

252 253

254

255 256 257 258 259

tische Atomwaffen besitze«. Vgl. Protokoll der Kabinettssitzung vom 19. 12. 1956, TOP H und I, »Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung« online, Kabinett. Vgl. Knoll, Atomare Optionen, S. 146–152. Zur »Göttinger Erklärung« und ihren Kontexten vgl. Robert Lorenz, Protest der Physiker. Die »Göttinger Erklärung« von 1957, Bielefeld 2011, und ders., Siegfried Balke, S. 115–119. Zur Reaktion Balkes auf die »Göttinger Erklärung« vgl. unten S. 166 f. Vgl. Politik und Wirtschaft, 24. 4. 1957, IfZ-Archiv, ZA/P, Bd. 21. Zur Nicht-Einladung Balkes auch Lorenz, Siegfried Balke, S. 118. Zu dem Gespräch vgl. auch Hans Peter Mensing, Ein »Gehirntrust« für Adenauer? Beraterstäbe, Meinungsbildung und Politikstil beim ersten Bundeskanzler, in: Fisch / Rudloff (Hrsg.), Experten, S. 261–276, hier S. 269. Vgl. Politik und Wirtschaft, 24. 4. 1957. Vgl. Müller, Geschichte, Bd. 1, S. 155, und Sobotta, Bundesministerium, S. 28 f. Vgl. Radkau, Ursprung, S. 34 f., und Winnacker / Wirtz, Wunder, S. 93 f. Vgl. Stucke, Institutionalisierung, S. 62. Vgl. Möller, Endlagerung, S. 43.

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Abb. 4. Siegfried Balke, Bundesminister für Atomkernenergie und Wasser­wirtschaft, besichtigt das Hahn-MeitnerInstitut, 13. 3. 1959.

Bevölkerung »so wirtschaftlich und gerecht wie möglich mit gutem Trinkund Brauchwasser« zu versorgen.260 Innerhalb der Abteilung II entstand für die Wasserwirtschaft die Gruppe 3 mit fünf Referaten; Gruppenleiter wurde der aus dem Bundeswirtschaftsministerium gekommene Walther Kumpf.261 Im Etat des Ministeriums spielte dieser Aufgabe­nbereich freilich nur eine marginale Rolle (vgl. Diagr. 4). Wie eine interne Notiz von Staatssekretär Cartellieri aus dem Jahr 1960 zeigt, bestand an der Spitze des Ministeriums kein Interesse, die Zuständigkeit für das Wasser langfristig an das Ressort zu binden: »Zu dem Atomministerium gehören meiner Meinung nach in weiterer Zukunft die genannten Aufgaben der Förderung der naturwissenschaftlichen- und technischen Forschung, sodaß die Richtung unseres Ministeriums nicht in Richtung eines Wasserministeriums, sondern, wenn es eine Einheit sein soll, in Richtung eines Ministeriums für Wissenschaft oder Forschung laufen müsse.«262 Nach 260 Das Bundesministerium für Atomkernenergie und Wasserwirtschaft, in: Deutschland im Wiederaufbau 1958, S. 479–495, hier S. 479. 261 Zu Kumpf, der in der NS-Zeit Einsatzgruppenleiter der Organisation Todt (OT) gewesen war, vgl. S. 248 f. und S. 262. Quellengrundlage Kumpf siehe Anhang 2. Kumpf findet auch in einer derzeit von Christian Packheiser bearbeiteten Geschichte der OT Erwähnung. 262 Vgl. BArch, B 138 /50, Bl. 3 f. (Zitat Bl. 4), vertrauliche Notiz Cartellieris, 1. 7. 1960.

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der Bundestagswahl vom September 1961, im vierten Kabinett Adenauer, wanderte die innerhalb des Ressorts eher stiefmütterlich behandelte Wasserwirtschaft mitsamt zuständigen Beamten in das neu formierte Gesundheitsministerium. Schon Zeitgenossen spekulierten, dass Balke, der bisherige Direktor der Münchner Wacker Chemie GmbH, als »Interessenvertreter der bayerischen Wirtschaft und Industrie in das Kabinett gekommen« sei.263 Tatsächlich war der Minister zuvor als Vorsitzender des Vereins der Bayerischen Chemischen Industrie an einer »heiklen Schnittstelle verdeckter Parteienfinanzierung« tätig gewesen.264 Dass ausgerechnet ein ehemaliger Chemie-Lobbyist zum Atomminister wurde, hatte durchaus einen Bei­geschmack, da besonders die chemische Industrie hoffte, von einem zukünftigen Aufschwung der Atomwirtschaft zu profitieren.265 Die Wertung seines Biographen, möglicherweise »als Komplize einer aufstrebenden Wirtschaftselite die Bundesregierung infiltriert zu haben«,266 erscheint zwar zu pointiert, aber zweifellos diente Balkes Politik auch industriellen Interessen. Er verhalf zu Bundesgarantien und Subventionen und beteiligte den Bund mit bis zu 500 Millionen DM an den Verlusten aus Kernforschungsprojekten und mit 100 Millionen DM an jedem neuen Kernkraftwerk. Dass er sich gegen Subventionen für die Ruhrkohle aussprach, war auch Klientelpolitik für die bayerische Wirtschaft.267 Die Abteilungsstruktur des Ministeriums blieb unter Balke bis 1962 zunächst unverändert. Wolfgang Cartellieri, seit 1958 Nachfolger Graus als Stellvertreter des Ministers, leitete die Abteilung I bis zu seiner Ernennung zum ersten Staatssekretär des Atom- und Forschungsministeriums im Juli 1959. Rudolf Kriele, der aus dem Bundeskanzleramt kam, wurde Nachfolger Cartellieris als Leiter der Abteilung I.268 Chef der Abteilung II war seit 1957 der – aus heutiger Sicht schwer NS-belastete – Chemiker Walther Schnurr, den Strauß 1956 aus Südamerika zurückgeholt hatte (vgl. Kap. V.4). Bereits 1960 verließ Schnurr das Ministerium wieder, um 263 264 265 266

Vgl. Lorenz, Siegfried Balke, S. 51. Vgl. ebenda, S. 50. Vgl. ebenda, S. 54 f. Vgl. ebenda, S. 56. Lorenz bezeichnet Balke auch als »Agenten« der bayerischen Wirtschaft im Kabinett, ebenda, S. 64. 267 Vgl. Stephan Deutinger, Eine »Lebensfrage für die bayerische Industrie«. Energiepolitik und regionale Energieversorgung 1945 bis 1980, in: Schlemmer, Thomas / Woller, Hans (Hrsg.), Bayern im Bund, Bd. 1: Die Erschließung des Landes 1949–1973, München 2001, S. 33–118, hier S. 70–74. 268 Zu Kriele, der in der NS-Zeit Landrat gewesen war, vgl. unten S. 147 und S. 259.

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Geschäftsführer des Kernforschungszentrums Karlsruhe zu werden.269 Als (zunächst kommissarischer) Abteilungsleiter folgte Karl Kaißling, der vom Bundesverkehrsministerium kam.270 Die Zahl der Referate stieg bis zum Ende der Balkeschen Amtszeit auf 26.271 Die beiden zentralen Aufgaben des BMAt bestanden in der Förderung und in der Kontrolle der Kerntechnik, etwa beim Strahlenschutz und bei der Verhinderung einer möglichen militärischen Verwendung. Ersteres hatte in den Anfangsjahren eine erheblich höhere Bedeutung als Letzteres – zum einen, weil es anfangs schlicht noch nicht viel zu kontrollieren gab, zudem die gesetzlichen Grundlagen für die Kontrollkompetenz des Atomministeriums noch nicht geschaffen worden waren, und zum anderen, weil der Anschub der Forschung und Entwicklung angesichts des besorgt registrierten Rückstands gegenüber den anderen Industrienationen für besonders dringend gehalten wurde.272 Während im Jahr 1956 Frankreich 450 Millionen DM in die  – hier überwiegend militärische  – Kernforschung investierte, setzte die Bundesrepublik zur selben Zeit nur rund 1,9 Millionen ein.273 Auch vor diesem Hintergrund war der Etat des Atomministeriums anfangs »nahezu belanglos«.274 Das Königsteiner Abkommen vom 31. März 1949 hatte die gemeinsame Förderung wichtiger Forschungseinrichtungen durch Bund und Länder geregelt. Dennoch blieb das Thema aufgrund der Konkurrenzsituation im föderalistischen System ein dauerhaftes Konfliktfeld.275 Erst mit der Aufnahme der Finanzierung von Gemeinschaftsaufgaben ins Grundgesetz 1969 sollte der Bund die Zuständigkeit für die Forschungsförderung auch formal erlangen, die er sich faktisch durch seine Finanzkraft schon vorher Schritt für Schritt gesichert hatte. Wie zu zeigen sein wird, spielte die Atompolitik in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle. 1957 stellte der Arbeitskreis »Kernreaktoren« der Atomkommission mit dem »Eltviller Programm« das in seiner technologischen Breite überaus ambitionierte erste Atom- bzw. Reaktorprogramm der Bundesrepub269 Vgl. Müller, Geschichte, Bd. 1, S. 156. 270 Zu Kaißling, der während des Krieges die Werkstättenabteilung der General­ direktion der Ostbahn (Gedob) geleitet hatte, vgl. unten S. 218, S. 249 f., S. 260 und S. 268. 271 Organigramm 1963 /1, BArch, B 138 Org. 272 Vgl. Müller, Geschichte, Bd. 1, S. 156. Zur Forschungsförderung vgl. Balkes Vorwort im Jahresbericht 1960, vgl. Das Bundesministerium für Atomkernenergie und Wasserwirtschaft, in: Deutsche Politik 1960, S. 515–540, hier S. 515. 273 Vgl. P. Fischer, Atomenergie, S. 242. 274 Vgl. Radkau, Ursprung, S. 40. 275 Vgl. Müller, Geschichte, Bd. 1, S. 64–66.

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lik vor, das der bundesdeutschen Atomwirtschaft durch die Entwicklung eigener Reaktoren den Zugang zum Weltmarkt eröffnen sollte. Geplant waren unterschiedliche Reaktortypen: je ein mit Graphit und mit schwerem Wasser moderierter Natururanreaktor, ein mit leichtem Wasser moderierter und mit schwach angereichertem Uran betriebener Reaktor sowie ein graphitmoderierter Hochtemperaturreaktor, der höher angereichertes Uran als Brennstoff nutzt.276 1960 wurde das nie realisierte »Eltviller Programm«, das eine überwiegende Finanzierung durch die Industrie und die Energiekonzerne und nur eine staatliche Beteiligung von bis zu 50 Prozent an den etwaigen Betriebsverlusten vorgesehen hatte, durch ein modifiziertes Reaktorprogramm ersetzt, das nun weitgehend auf staatliche Finanzierung baute.277 Schon 1958 hatte Balke gegenüber Bundesfinanzminister Franz Etzel (CDU) das zurückhaltende finanzielle Engagement der Industrie bemängelt. Bereits hier zeichnete sich ab, dass beim Aufbau der Atomwirtschaft der Bund immer mehr zum Finanzier wurde, während sich die Industrie angesichts der unsicheren Gewinnperspektiven, hohen Kosten und technischen Risiken aus der Finanzierung der Kernkraft zurückzog. Der Standort für den ersten in der Bundesrepublik entwickelten Kernreaktor war zunächst umstritten. Doch bereits im Juni 1955, noch vor Gründung des Atomministeriums, war in Bonn die Entscheidung für Karlsruhe und gegen München gefallen, für das sich Heisenberg stark gemacht hatte.278 Getragen wurde das entstehende Reaktorzentrum durch eine »Kernreaktorbau- und Betriebs-GmbH Karlsruhe«, in der sich im Juli 1956 zahlreiche Wirtschaftsunternehmen, die Bundesrepublik und das Land Baden-Württemberg zusammenschlossen. Die Entwicklungskosten des ersten Reaktors teilten sich Industrie und Staat anfangs zu gleichen Teilen.279 1957 war Baubeginn des mit schwerem Wasser moderierten Forschungsreaktors FR 2, der 1961 in Betrieb ging und bis 1981 lief. 276 Zum Eltviller Programm (auch »500 MW-Programm«) vgl. Prüß, Kernforschungspolitik, S. 70–74; Müller, Geschichte, Bd. 1, S. 354–385; Boenke, Entstehung, S. 54; zu den geplanten Reaktortypen auch Winnacker / Wirtz, Wunder, S. 153–162. 277 Vgl. Boenke, Entstehung, S. 54 f., und Prüß, Kernforschungspolitik, S. 58 f. 278 Vgl. oben S. 70 f. und S. 77 f. 279 Vgl. Oetzel, Forschungspolitik; Boenke, Entstehung, S. 58; Schimank / Lange, Hochschulpolitik, S. 315; Sobotta, Bundesministerium, S. 192–201, und Wirtz, Umkreis, S. 229–234. Vgl. auch die Ausführungen Balkes zu Karlsruhe und Jülich im Jahresbericht 1962 des Bundesministeriums für wissenschaftliche Forschung, vgl. Das Bundesministerium für wissenschaftliche Forschung, in: Deutsche Politik 1962, S. 421–443, hier S. 422–424.

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Angesichts steigender Kosten zog sich die Wirtschaft bald aus der Finanzierung zurück und übertrug ihre Anteile 1963 dem Bund. Von 1961 bis 1965 wurde mit ausschließlicher staatlicher Finanzierung der Karlsruher Mehrzweckforschungsreaktor errichtet, ebenfalls ein Schwerwasserreaktor. Man mag in der Wahl der Schwerwassertechnologie, bei der relativ viel waffenfähiges Plutonium anfällt, eine Affinität zur Reaktorentwicklung in der NS-Zeit sehen und gleichzeitig ein gezieltes Zusteuern auf eine militärische Nutzung der Atomkraft. Letzteres ist ein zentrales Argument für Hanels These von der »Bombe als Option«.280 Der Großteil der älteren und neueren Forschung erklärt die anfängliche bundesdeutsche Präferenz von Schwerwasserreaktoren jedoch vor allem mit dem Bemühen, das leichter zugängliche und kostengünstigere Natururan als Brennstoff zu verwenden (statt aus den USA importiertem angereicherten Uran) und gleichzeitig die ökonomisch verheißungsvolle Entwicklung eines Brutreaktors voranzutreiben, der auch Plutonium als Brennstoff benötigt.281 Auch beim 1956 gegründeten Kernforschungszentrum Jülich, an dem über die »Gesellschaft für kernphysikalische Forschung« Hochschulen, das Land Nordrhein-Westfalen und Wirtschaftsunternehmen beteiligt waren, musste der Bund noch vor Ende der 1950er Jahre in die Förderung des dort entstehenden Versuchsreaktors einsteigen – eines mit Natururan und Thorium betriebenen und mit Graphit moderierten Hochtemperaturreaktors –, da Nordrhein-Westfalen die Kosten nicht mehr tragen konnte. Ebenfalls beteiligt war der Bund an der auch von der Industrie und den vier norddeutschen Bundesländern getragenen, 1956 gegründeten »Gesellschaft für Kernenergieverwertung in Schiffbau und Schifffahrt« (GKSS) in Geesthacht, aus deren Forschung 1964 das Nuklearschiff »Otto Hahn« hervorging.282

280 Hanel, Bombe. Hanel setzt sich insbesondere kritisch mit den Forschungen Radkaus auseinander. Nach Hanels Überzeugung wäre es ohne das militärische ­Interesse an einer Atomwaffe auch in der Bundesrepublik nicht zur zivilen Nutzung der Kernkraft gekommen. Vgl. ebenda, S. 248. Vgl. auch die Kritik an Hanels These von Stephan Geier, Rezension zu: Hanel, Tilmann: Die Bombe als Option. Motive für den Aufbau einer atomtechnischen Infrastruktur in der Bundesrepublik bis 1963, Essen 2015, in: H-Soz-Kult, 29. 5. 2015, www.hsozkult.de/ publicationreview/id/reb-22492 [9. 11. 2021]. 281 Vgl. Müller, Geschichte, Bd. 1; Radkau, Ursprung; Geier, Schwellenmacht. 282 Zu Jülich vgl. Bernd-A. Rusinek, Das Forschungszentrum. Eine Geschichte der KFA Jülich von ihrer Gründung bis 1980, Frankfurt a. M./New York 1996; zu Geesthacht vgl. Monika Renneberg, Gründung und Aufbau des GKSS-Forschungszentrums Geesthacht, Frankfurt a. M./New York 1995.

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Der Bund förderte diese atomaren Großforschungseinrichtungen aus denselben Motiven, auf denen auch die frühe bundesdeutsche Atompolitik basierte: Atomeuphorie, technischer Rückstand gegenüber dem Ausland und wirtschafts- bzw. exportpolitische Überlegungen. Alle drei Beweggründe führten dazu, dass die Kernkraft als solche kaum in Frage gestellt wurde. So erklärte Cartellieri 1963, die Wissenschaft sei »ein unmittelbar wirkendes Element der Wirtschaftspolitik, in deren Rahmen die Ausgaben für Wissenschaft und Forschung als volkswirtschaftlich nutzbare Kapitalbildung zu betrachten sind. Gerade für eine auf den Export von Industriegütern angewiesene Nation wie die Bundesrepublik gilt heute, dass der soziale Standard der Bevölkerung weitgehend von den Leistungen der Wissenschaft abhängig ist. Der Staat darf die Förderung der Wissenschaft nicht mehr nur als eine seiner vielen Aufgaben ansehen, sondern er muß ihr – nicht zuletzt in seinem Etat – die Prioritäten einräumen, die ihr angesichts ihrer überragenden Bedeutung für sein politisches und wirtschaftliches Potential gebühren«.283 Der Blick auf diese zeitgenössischen Argumente für den Aufbau der Großforschungseinrichtungen – die Bedeutung der Wissenschaft für die Wirtschaft, nationalpolitische Aspekte usw. – zeigt in Ansätzen durchaus eine in die Zeit vor 1945 – und auch vor 1933 – zurückreichende wissenschaftspolitische Kontinuität.284 Die Begeisterung der Industrie für die Atomenergie schwächte sich in den 1960er Jahren ab, weil die befürchtete »Energielücke« ausgeblieben war, die die Kernkraft als verlässliche Energiequelle hatte attraktiv erscheinen lassen, und inzwischen sogar ein Überschuss an Ruhrkohle verfügbar war.285 Sukzessive übernahm daher der Bund die Ausgaben für Forschung und Entwicklung in der Atompolitik, deren finanzielles Risiko die Wirtschaft nicht zu tragen bereit war, und ging somit dazu über, die »Interessen der künftigen Reaktorindustrie zu antizipieren«.286 Diese Interessen artikulierte besonders das im Mai 1959 unter Karl Winnacker gegründete »Deutsche Atomforum e. V.«, die wohl einflussreichste Lob-

283 Wolfgang Cartellieri, Neue Wege der Forschungsförderung – aufgezeigt bei der Errichtung von Kernforschungsstätten, in: Der Mensch und die Kerntechnik, Bonn 1962, S. 31–55, hier S. 31 f., zitiert bei Boenke, Entstehung, S. 62. 284 Vgl. ebenda, S. 64. 285 Vgl. Lorenz, Siegfried Balke, S. 87. 286 Vgl. Boenke, Entstehung, S. 56.

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byorganisation der Atomwirtschaft.287 Das schwindende Engagement der Industrie erzwang ab 1961 unter Balke einen Richtungswechsel in der Förderpolitik: Um der stagnierenden kerntechnischen Entwicklung neuen Schwung zu geben und um der Wirtschaft entgegenzukommen, wurde die Finanzierung atomtechnischer Anlagen im zweiten (1963–1967) und dritten Atomprogramm (1968–1972) massiv gesteigert – wie bei der erwähnten vollständigen Übernahme des Karlsruher Kernforschungszentrums im Jahr 1963.288 Die Unternehmen ließen sich so den Einstieg in die Kernenergie mit exorbitanten Summen subventionieren.289 Der Bundesanteil am dritten Atomprogramm von 1968 lag bei 3,8 Milliarden DM.290 Aus der zunehmenden Kostenübernahme bei der Entwicklung der Atomwirtschaft durch den Bund, die auf die Gründung des Atomministeriums folgte, ergab sich fast zwangsläufig eine Kompetenzakkumulation auf Bundesebene, deren logische langfristige Konsequenz der Ausbau des Atom- zu einem Forschungsministerium war.291 Ebenso zwangsläufig führte dieser Kompetenzzuwachs dazu, dass die Länder immer mehr zu Zahlungsempfängern des Bundes wurden, weil sie die für zentral gehaltenen wissenschaftspolitischen Aufgaben allein nicht mehr finanzieren konnten. Da es der Bundesrepublik im Jahr 1949 nicht erlaubt war, sich Atomtechnik zu beschaffen, wurden im Grundgesetz auch keine Regelungen zur Erzeugung und Nutzung der Atomenergie getroffen. Dieser Zustand schuf spätestens nach der Gründung des Atomministeriums dringenden rechtlichen Handlungsbedarf. Erste Schritte auf dem Weg zu einem bundesdeutschen Atomgesetz hatten, wie dargestellt, bereits sowohl Franz Josef Strauß als auch Beamte des Bundeswirtschaftsministeriums 1952 eingeleitet.292 Die erste Fassung dieses Gesetzes, die im Dezember 1956 in den Bundestag eingebracht wurde,293 verfehlte im Juli 1957 jedoch die erforderliche Zweidrittelmehrheit, weil ausgerechnet die Unionsfraktion 287 Vgl. Prüß, Kernforschungspolitik, S. 42 f.; Sobotta, Bundesministerium, S. 150; Winnacker / Wirtz, Wunder, S. 101–108, und die Publikation Deutsches Atom­ forum e. V. (Hrsg.), 50 Jahre Deutsches Atomforum e. V., Berlin 2009. 288 Vgl. Müller, Geschichte, Bd. 1, S. 159. 289 Vgl. Lorenz, Siegfried Balke, S. 89. 290 Vgl. Rusinek, Forschungszentrum, S. 662. 291 Zum Aufbau des BMwF vgl. Sobotta, Bundesministerium, S. 29–35, und knapp Boenke, Entstehung, S. 56 f. 292 Vgl. Müller, Geschichte, Bd. 1, S. 528. 293 »Entwurf eines Gesetzes über die Erzeugung und Nutzung der Kernenergie und den Schutz gegen ihre Gefahren (Atomgesetz)«, Deutscher Bundestag, 2. WP, Ds. Nr. 3026, 14. 12. 1956.

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ablehnend votierte, die in der Vorlage eine Vermischung von Fragen der zivilen und einer etwaigen militärischen Nutzung der Kernforschung zu erkennen glaubte.294 Daraufhin verabschiedeten die Länderparlamente eigene Atomgesetze, wodurch eine unübersichtliche Rechtslage entstand. Parlamentarisch gebilligt wurden das erste Bundes-Atomgesetz und die erste Strahlenschutzverordnung erst im Dezember 1959.295 Durch die Grundgesetzänderung vom 23. Dezember 1959 wurden die Art. 74, Abs. 11 a und Art. 87 c in die Verfassung aufgenommen. Laut Art. 74 erstreckte sich die konkurrierende Gesetzgebung nun auch auf »die Erzeugung und Nutzung der Kernenergie zu friedlichen Zwecken, die Errichtung und den Betrieb von Anlagen, die diesen Zwecken dienen, den Schutz gegen Gefahren, die bei Freiwerden von Kernenergie oder durch ionisierende Strahlen entstehen und durch die Beseitigung radioaktiver Stoffe«.296 Art. 87 c legte fest, dass auf der Grundlage von Art. 74 Abs. 11 a ergangene Gesetze »mit Zustimmung des Bundesrates bestimmen [können], dass sie von den Ländern im Auftrage des Bundes ausgeführt werden« und wies dem Bund die Verwaltungskompetenz bei der Erzeugung und Nutzung der Kernenergie zu. Die Genehmigung von und die Aufsicht über die Atomanlagen lagen nun bei den Ländern, während der Bund sich für das Atomministerium das Aufsichts- und Weisungsrecht vorbehielt. Das Atomministerium konnte so die Entwicklung der Atomforschung und -technik steuern und gleichzeitig die Reaktorsicherheit und den Strahlenschutz im Auge behalten.297 Zum 1. Januar 1960 traten das »Gesetz zur Ergänzung des Grundgesetzes vom 23. 12. 1959«298 und das »Gesetz über die friedliche Verwendung der Kernenergie und den Schutz gegen ihre Gefahren (Atomgesetz vom 23. 12. 1959)«299 in Kraft, das auf einem Gesetzesentwurf von Strauß vom 25. Juli 1956 basierte.300 §1 hielt als Zweck des Atomgesetzes fest: 294 Vgl. Atomgesetz, in: Der Spiegel, 28. 8. 1957, S. 11. 295 Vgl. Lorenz, Siegfried Balke, S. 84. 296 BGBl. I, 31. 12. 1959, S. 813, Bundesgesetzblatt online; vgl. auch Sobotta, Bundesministerium, S. 26. 297 Vgl. Sobotta, Bundesministerium, S. 27. Zum Atomgesetz auch Tiggemann, Achillesferse, S. 53, und Romberg, Atomgeschäfte, S. 36–38. 298 BGBl. Nr. 56, 31.12.1959, S. 813, Bundesgesetzblatt online. 299 BGBl. Nr. 65, 31. 12. 1959, S. 814–828, Bundesgesetzblatt online. Vgl. auch die detaillierte Abhandlung des Staatssekretärs Wolfgang Cartellieri, Grundsätzliche Rechtsprobleme des Atomgesetzes. Sonderdruck aus Veröffentlichungen des Instituts für Energierecht an der Universität Bonn, Heft 1 /2, Düsseldorf 1960. 300 Vgl. Sobotta, Bundesministerium, S. 25; Protokoll der Kabinettssitzung vom 20. 7. 1956, 1. Entwurf eines Gesetzes zur Ergänzung des Grundgesetzes und

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»1. die Erforschung, die Entwicklung und die Nutzung der Kernenergie zu friedlichen Zwecken zu fördern, 2. Leben, Gesundheit und Sachgüter vor den Gefahren der Kernenergie und der schädlichen Wirkung ionisierender Strahlen zu schützen und durch Kernenergie oder ionisierende Strahlen verursachte Schäden auszugleichen, 3. zu verhindern, dass durch Anwendung oder Freiwerden der Kernenergie die innere oder äußere ­Sicherheit der Bundesrepublik gefährdet wird, 4. die Erfüllung internationaler Verpflichtungen der Bundesrepublik auf dem Gebiet der Kernenergie und des Strahlenschutzes zu gewährleisten.«301 Seit Anfang der 1960er Jahre suchte Balke zunehmend, sein Ministerium zum Forschungs- und Bildungsministerium umzubauen. Dadurch wollte er auch verhindern, dass aus dem Atomministerium ein bloßes Energie­ ministerium würde. Die bundesdeutsche »Bildungsmisere«, in der öffentlichen Wahrnehmung dieser Jahre ein drängendes Problem, kam Balkes Plänen zupass. Ein Mangel an Akademikern auf allen Ebenen, vor allem an den Universitäten, und die Abwanderung besonders von Naturwissenschaftlern in die USA wurden als dramatischer »Bildungsnotstand« identifiziert.302 Balke warnte nun öffentlich und hartnäckig vor der Krise in Bildung und Forschung und baute so Druck gegenüber dem Kanzleramt auf, die Bildungs- und Forschungskompetenzen auf Bundesebene zu konzentrieren. Die Bedenken von Wissenschaftsorganisationen (DFG und MPG) und Ländern zerstreute er, indem er ein Bild des zukünftigen Bildungsund Forschungsministeriums als großzügigem Mäzen zeichnete und umfangreiche Selbstverwaltung sowie möglichst wenige Vorgaben durch die Politik versprach.303 Schon 1959 hatte Staatssekretär Cartellieri erklärt, in der Forschungsförderung müsse das Ministerium die »Verwaltungstätigkeit auf das unbedingt notwendige Maß« beschränken.304 Vor der Verfassungsänderung von 1969 konnte der Bund Hochschulpolitik nur über die Vergabe finanzieller Förderung gestalten. Von der in Art. 74 Abs. 13 GG eröffneten Möglichkeit, ein eigenes Forschungsförwurf eines Gesetzes über die Erzeugung und Nutzung der Kernenergie und den Schutz gegen ihre Gefahren (Atomgesetz), »Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung« online, Kabinett. 301 Atomgesetz vom 23. 12. 1959 (siehe Anm. 299), S. 814. 302 Zum Fachkräftemangel und Bildungsnotstand vgl. Lorenz, Siegfried Balke, S. 91–96. Vgl. auch das Vorwort Balkes im Jahresbericht 1961 des Bundesministeriums für Atomkernenergie, in: Deutsche Politik 1961, S. 523–545, hier S. 523. 303 Vgl. Lorenz, Siegfried Balke, S. 104. 304 Vgl. Stucke, Institutionalisierung, S. 61.

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Diagr. 2: Ausgaben des Bundes und der Länder für Wissenschaft und Forschung auf dem Gebiet der Atomkernenergie, 1956–1963

derungsgesetz zu erlassen, machte er nie Gebrauch, um absehbare Konflikte mit den Ländern und den wissenschaftlichen Selbstverwaltungsorganisationen zu vermeiden.305 Es entwickelte sich daher ein spezifisches hochschulpolitisches Grundmuster: Der Bund eignete sich schrittweise Kompetenzen an, die eigentlich bei den Ländern lagen, die diese aber nicht bezahlen konnten. Dieses auch aus der Atompolitik und der Weltraumforschung vertraute Vorgehen wiederholte sich Mitte der 1960er Jahre beim Hochschulbau.306 Zwischen 1960 und 1968 stieg die Zahl der Professoren um mehr als 60 Prozent, die des akademischen Mittelbaus sogar um über 330 Prozent, und zahlreiche neue Hochschulen wurden gegründet.307 Die zunehmende Bedeutung der Hochschulpolitik lässt sich auch anhand der Ausgaben des Bundes für die Hochschulen nachvollziehen, die von 34 Millionen DM 1958 auf 554 Millionen DM im Jahr 1967 anschwollen – insgesamt in diesem Zeitraum knapp 2,2 Milliarden DM.308 Im Be305 306 307 308

Vgl. ebenda, S. 59 f. Vgl. Schimank / Lange, Hochschulpolitik, S. 319–321. Vgl. Lorenz, Siegfried Balke, S. 93. Vgl. Schimank / Lange, Hochschulpolitik, S. 313 f.

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reich der Kernenergie stiegen die Gesamtausgaben des Bundes für Wissenschaft und Forschung zwischen 1956 und 1963 von 14,15 Millionen auf 297,48 Millionen DM. Die Länder steigerten ihre Ausgaben im selben Zeitraum von 1,36 Millionen DM auf 190,6 Millionen DM (vgl. Diagr. 2). Durch sein hartnäckiges Ringen um Forschungsförderungskompetenzen für den Bund kann der bis 1962 amtierende Balke zu Recht als »geistiger Vater des heutigen Bundesministeriums für Bildung und Forschung« gesehen werden.309 Bei der Bildung des vierten Kabinetts Adenauer nach der Bundestagswahl vom September 1961 verlangte Balke, seinem Haus auch die Kompetenz für Weltraumforschung zu übertragen  – eine strategisch kluge Forderung, da die Atomeuphorie mittlerweile abgeebbt und durch die Raumfahrt als neues Zukunftsthema abgelöst worden war.310 Bereits durch die Pariser Verträge war 1955 das alliierte Verbot bundesdeutscher Raketenforschung gelockert worden. Das Bundesverkehrsministerium förderte inzwischen die Raketentechnik mit dem Ziel, Luftverkehrsmittel der Zukunft zu konstruieren, während das Verteidigungsministerium ­militärische Raketenforschungsprojekte finanzierte.311 Das britische Angebot, in einer europäischen Kooperation ein Trägersystem zu entwickeln, offenbarte dann Anfang der 1960er Jahre, dass es hierfür auf bundesdeutscher Seite keinen offiziellen Ansprechpartner gab. Daher wurde als erster Schritt im Februar 1961 der »Interministerielle Ausschuss für die Weltraumforschung« gegründet, um die Koordination der beteiligten Ministerien zu verbessern. Das Innenressort, das zu diesem Zeitpunkt noch für die Forschungsförderung auf Bundesebene zuständig war, übernahm die Federführung.312 Das Atomministerium verlor nun  – wie bereits erwähnt  – seine Verantwortlichkeit für die Wasserwirtschaft und wurde zum »Bundesministerium für Atomkernenergie«, das jetzt auch für Raumfahrttechnik und -forschung zuständig war.313 Indem sich Balke hier Ende 1961 gegen Ansprüche des Verkehrsministeriums, des Wirtschafts- und des Innenministeriums durchsetzte, machte er einen weiteren großen Schritt in Richtung 309 Vgl. Lorenz, Siegfried Balke, S. 91. Lorenz’ These, dass Balkes Ambition, das BMAt zu einem Wissenschafts- und Forschungsförderungsministerium umzuformen, auch als Lobbyarbeit für die Wirtschaft zu verstehen sei, bedürfte einer genaueren Überprüfung; vgl. ebenda, S. 52 f. 310 Vgl. ebenda, S. 89 und S. 94 f. 311 Vgl. Weyer, Raumfahrtpolitik, S. 66–68, und Stucke, Institutionalisierung, S. 62. 312 Vgl. Weyer, Raumfahrtpolitik, S. 71. 313 Vgl. Müller, Geschichte, Bd. 1, S. 155.

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eines bundesdeutschen Forschungsministeriums – zumal auf einem Feld, auf dem die Länder noch keinen Anspruch erhoben.314 Die durch den »Sputnik-Schock« nach der ersten erfolgreichen Erdumkreisung durch einen sowjetischen Satelliten im Jahr 1957 ausgelöste Dynamik ermöglichte es dem Bund, sich mit der Raumfahrt weitere forschungspolitische Kompetenzen zu sichern. Genau wie die Atomenergie war auch Raumfahrt im Grundgesetz nicht geregelt, wodurch sich verfassungsrechtliche Freiräume öffneten. Balkes Haus war nun für zwei bedeutende Technologien zuständig, die auf naturwissenschaftlicher Grundlagenforschung aufbauten. Ein gesteigertes bundesdeutsches Engagement in der Raumfahrtpolitik ließ sich nicht nur mit ihrer forschungspolitischen Relevanz, sondern auch mit wirtschafts-, außen- und sicherheitspolitischen Argumenten rechtfertigen.315 Institutionell konkretisierte sich die neue Zuständigkeit in einer im Laufe des Jahres 1962 eingerichteten neuen Abteilung III (»Weltraumfor­ schung«), der zunächst zwei, dann bald drei Referate zugeordnet wurden.316 Als Abteilungsleiter konnte nach einigem interministeriellen Hickhack mit Strauß der Raketenexperte und ehemalige Peenemünder »Flug­ baumeister« Max Mayer (»Raketen-Mayer«) aus dem Verteidigungsministerium gewonnen werden.317 Um Konflikte zwischen den mit Raumfahrtfragen befassten Ministerien zu entschärfen, hatte der »Interministerielle Ausschuss für Weltraumforschung« das letzte Wort in raumfahrtpolitischen Fragen.318 In der Raumfahrtpolitik bestanden verschiedene Interessenkonflikte: die Raumfahrtindustrie und ihr nahestehende Wirtschaftskreise bevorzugten nationale Programme und setzten vor allem auf die Entwicklung von Raketen, die Forschung dagegen bevorzugte internationale Kooperationen und den Bau von Satelliten und damit auch wissenschaftliche Forschung im All. Politisch gab es Divergenzen zwischen den Befürwortern europäischer Kooperationen und den »Atlantikern« wie Strauß, die eher auf bilaterale Kooperationen mit den USA bauten. Folge dieses Konflikts war, dass die bundesdeutsche Raumfahrtpolitik dauerhaft zwei­ gleisig fuhr.319 314 315 316 317

Vgl. Weyer, Raumfahrtpolitik, S. 64. Vgl. Lorenz, Siegfried Balke, S. 90. Vgl. Organigramme 1962 und 1963, BArch, B 138 Org. Zu Mayer vgl. ausführlich die biographische Skizze in Kap. V.3, speziell zur Abwerbung vgl. unten S. 361 f. 318 Vgl. Weyer, Raumfahrtpolitik, S. 72 f. 319 Vgl. ebenda, S. 72, und Lüst, Forschungspolitik, S. 155.

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Der Bundesrepublik gelang es vor allem über die europäischen Kooperationsprojekte, innerhalb von nur zwei Jahren zwischen 1960 und 1962 die Raumfahrt-Forschungskompetenz auf Bundesebene anzusiedeln und mit der Raumfahrtforschung in einem rüstungspolitisch heiklen Feld tätig zu werden, ohne gegen bestehende Rüstungskontrollverträge zu verstoßen oder die Nachbarländer zu beunruhigen. Die USA und die europäischen Nachbarn wiederum nutzten die Kooperationsprojekte, um die bundesdeutschen Ambitionen beaufsichtigen und lenken zu können.320 Balke sprach sich für die Gründung der Deutschen Gesellschaft für Weltraumforschung und der Deutschen Kommission für Weltraumforschung aus. Ebenso setzte er sich dafür ein, dass sich die Bundesrepublik an der im Juni 1962 gegründeten »European Space Research Organisation« (ESRO) und parallel an der Entwicklung der europäischen, von den USA unabhängigen Trägerrakete ELDO (European Launcher Development Organisation) beteiligte.321 Auch wenn der ELDO kein Erfolg beschieden war, begann Balke mit dem Programm eine zukunftsweisende Politik. Bis heute ist die Unabhängigkeit von den USA und Russland Ziel der europäischen Kooperationsprojekte in der Raumfahrt. Zwischen 1961 und 1962 steigerte sich der Etat des Ministeriums für Atomkernenergie um ein Drittel, um rund 116 Millionen DM auf rund 307,5 Millionen DM. Davon entfielen rund 79 Millionen DM auf die Kernkraft und bereits 35 Millionen DM auf die Raumfahrtforschung.322 Für die Förderung allein der Kernforschung wandte das Ministerium für Atomkernenergie im Jahr 1956 14,15 Millionen DM auf, 1963 bereits 212,33 Millionen DM (vgl. Diagr. 3). Es folgte das Wirtschaftsministerium mit einer Ausgabensteigerung von 313.000 DM im Jahr 1957 auf 1,7 Mil­ lionen DM im Jahr 1962 und einem Rückgang auf 600.000 DM im Jahr 1963. Das Bundesministerium des Innern wandte 1962 1,57 Millionen DM, im Jahr 1963 dann 1,27 Millionen DM für die Kernforschung auf. Die Ausgaben des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten für die Kernforschung explodierten zwischen 1957 und 1963 förmlich von 23.000 DM auf 3,28 Millionen DM. Die Entlassung Balkes am 11.  Dezember 1962 erfolgte nicht nur sehr überraschend, sondern auch bemerkenswert stillos. Der Pförtner hatte die Nachricht im Radio gehört und informierte den unangenehm berührten 320 Vgl. Weyer, Raumfahrtpolitik, S. 73. 321 Zu ELDO und ESRO vgl. auch Sobotta, Bundesministerium, S. 68–78. 322 Vgl. Jahresbericht 1962 des Bundesministeriums für wissenschaftliche Forschung, in: Deutsche Politik, S. 421–443, hier S. 422.

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Diagr. 3: Ausgaben des Bundesministeriums für Atomkernenergie zur Förderung der Kernforschung, 1956–1963

Minister, als dieser morgens das Ministerium betrat.323 Die Gründe für die Entlassung waren wohl komplex. Maßgebliche Faktoren waren die koalitionspolitische Konstellation und die fehlende Hausmacht des Seiteneinsteigers. Im Zuge der »Spiegel«-Affäre um Franz Josef Strauß waren Ende November 1962 alle fünf Bundesminister der FDP und schließlich auch Strauß als Verteidigungsminister zurückgetreten.324 Angesichts der Stimmenzuwächse bei der Bundestagswahl vom Herbst 1961 forderte die FDP bei der Bildung des fünften Kabinetts Adenauer nun mehr Ministerien als bisher. Balke hatte sich durch seine vermeintlich pro-bayerische Strukturpolitik zudem Gegner in der mächtigen nordrhein-westfälischen CDU ­gemacht. Vor allem aber war er durch seine klare Ablehnung einer militärischen Nutzung der Kernkraft, einen Streit um die Strahlenschutzverordnung und durch seine öffentliche Solidarisierung mit der »Göttinger Erklärung« bei Adenauer in Misskredit geraten.325 Die CSU stützte Balke 323 Vgl. Lorenz, Siegfried Balke, S. 131–142, und Müller, Geschichte, Bd. 1, S. 159. 324 Zur Spiegel-Affäre vgl. Martin Doerry / Hauke Janssen (Hrsg.), Die Spiegel-Affäre. Ein Skandal und seine Folgen, München 2013. 325 Vgl. Lorenz, Siegfried Balke, S. 105. Zur »Göttinger Erklärung« auch ebenda, S. 115–119, und Wirtz, Umkreis, S. 75 und S. 175 f. (Wortlaut der Erklärung vom 12. 4. 1957).

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nicht, was möglicherweise auch daran lag, dass dessen Bemühen um eine Zentralisierung der Forschungspolitik den föderalen Interessen der bayerischen Staatsregierung entgegenlief.326 Der evangelische »Atom-Profes­ sor«327 musste darauf sein Ministerium räumen – auch zur Wahrung des konfessionellen Proporzes. Als »Grenzgänger zwischen Wirtschaft und Politik«328 hatte Balke eine wichtige Rolle bei der Etablierung der Kernkraft in der Bundesrepublik gespielt. Vor allem aber basiert das heutige BMBF in seinen Grundzügen und Zuständigkeiten immer noch auf den Weichenstellungen Balkes.

Das »Bundesministerium für wissenschaftliche Forschung« unter Hans Lenz, 1962–1965 Zum Nachfolger Balkes wurde am 13.  Dezember 1962 der bisherige ­Bun­desschatzminister Hans Lenz ernannt, der zugleich stellvertretender Bundesvorsitzender der FDP war.329 Aus dem »Bundesministerium für Atomkernenergie« wurde im fünften Kabinett Adenauer das »Bundes­ ministerium für wissenschaftliche Forschung« (BMwF). Die Gründung eines Bundesforschungsministeriums, um die Siegfried Balke jahrelang ­gerungen hatte, erfolgte nach seiner Entlassung mehr oder weniger spontan. Adenauer folgte damit einer Forderung der FDP.330 Lenz blieb auch nach dem Kanzlerwechsel von Adenauer zu Erhard (CDU) im Oktober 1963 im Amt. Die Zuständigkeiten des Forschungsministeriums, das inzwischen bereits 32 Referate331 und knapp 300 Planstellen besaß,332 wurden nicht neu zugeschnitten. Die Aufnahme der »wissenschaftlichen Forschung« in den Ressort­ namen orientierte sich an der spezifischen Zuständigkeit des Bundes  im Rah­ men der konkurrierenden Gesetzgebung des Art. 74 Abs. 13 des GG.333 Mittlerweile ließ sich eine Kompetenzerweiterung auf Kosten der 326 Dies lässt sich indirekt erschließen aus: Bayrisches Befremden, in: Der Spiegel, 26. 12. 1962, S. 21–24. 327 Ebenda, S. 23. 328 So der Untertitel der zentralen Biographie, vgl. Lorenz, Siegfried Balke. 329 Lenz war studierter Philologe und ausgebildeter Buchhändler und hatte in der NS-Zeit zwei Verlage geleitet. Zu seiner Biographie vgl. unten S. 226 f. 330 Vgl. Lorenz, Siegfried Balke, S. 139. Zur Entwicklung des BMwF vgl. Sobotta, Bundesministerium, S. 29–35. 331 Organigramm August 1963, BArch, B 138 Org. 332 Nach Müller, Geschichte, Bd. 1, S. 155, waren es im Jahr 1963 289 Planstellen. 333 Vgl. ebenda, S. 160.

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Länder eher durchsetzen als zum Zeitpunkt der Gründung des Ministeriums. Bei der Umbildung des Atom- zum Forschungsministerium nutzte Adenauer weiterhin vor allem die Raumfahrtpolitik, um den Anspruch auf die Bundeskompetenz in der Forschungspolitik zu erheben.334 Dieser Anspruch stieß auf erhebliche Widerstände bei den Wissenschaftsorganisationen, die um ihre Autonomie fürchteten, und beim bisher für die Forschungsförderung zuständigen Bundesinnenminister Hermann Höcherl (CSU). Dieser musste die Kompetenz für die Förderung sämtlicher wissenschaftlicher Forschung in der Bundesrepublik, die nicht in die direkte Zuständigkeit anderer Ressorts fiel, die Kompetenz für alle Grundsatzfragen der Wissenschaftsförderung und vor allem die Koordination aller wissenschaft­lichen Tätigkeiten des Bundes insgesamt an das Forschungsministerium abgeben. Ein zentrales Aufgabengebiet des neuformierten Ressorts blieb die Atomenergie, auch wenn sie nun aus dem Namen verschwand.335 Die Erziehungs- und Bildungskompetenz blieb beim Bundesinnenministerium. Die zum 1.  April 1963 eingerichtete neue Abteilung II »Allgemeine Wissenschaftsförderung« war nun auch für die bisher dem Bundesinnenministerium vorbehaltene Forschungsplanung und -förderung zuständig und wies auch ein Referat für »Hochschulen und wissenschaftliche Akademien« auf. Lenz nannte sie einmal die »Abteilung für lautes Denken«.336 Abteilungsleiter wurde der Jurist Karl-Friedrich Scheidemann, der sich bereits im Innenministerium mit der Materie befasst hatte.337 Seit 1964 war das BMwF auch für das Deutsche Historische Institut (DHI) in Paris und seit 1965 /66 für das DHI in Rom zuständig. Auch das Institut für Zeitgeschichte in München und die Kommission für die Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien in Bonn wurden nun nicht mehr durch das Bundesinnenministerium, sondern durch das BMwF betreut.338 Die Amtszeit von Lenz war geprägt von erheblichen jährlichen Etat­ steigerungen. Insgesamt verdoppelte sich der Bundeshaushalt für Wis­ senschaft und Forschung von 1961 bis 1965.339 Die für die Forschungsför334 Vgl. Weyer, Raumfahrtpolitik, S. 72. 335 Vgl. Sobotta, Bundesministerium, S. 23. 336 Nach ebenda, S. 30. 337 Zur Biographie Scheidemanns, der eine durchaus problematische NS-Vergangenheit aufwies, vgl. unten S. 256–258. 338 Vgl. Sobotta, Bundesministerium, S. 31. 339 Vgl. Vorwort Gerhard Stoltenbergs in: Bundesministerium für wissenschaftliche Forschung, in: Deutsche Politik 1965, S. 305 f., hier S. 305.

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Diagr. 4: Ausgaben des Atom- und Forschungsministeriums für Forschungsförderung nach Sachgebieten, 1956–1965

derung aufgebrachten Summen gingen weiterhin rasant nach oben, wofür seit 1963 vor allem die steigenden Ausgaben für die »Weltraumforschung« und  – in noch höherem Maße  – die allgemeine Wissenschaftsförderung verantwortlich waren (vgl. Diagr. 4). Damit wurden auch die Weichen für einen wachsenden finanziellen Anteil des Bundesforschungsministeriums an den Wissenschaftsausgaben aller Bundesministerien gestellt, der beispielsweise von 18 Prozent (1964) auf 48 Prozent (1967) wuchs.340 Im Jahr 1963 hatte, wie Diagr. 5 zeigt, das Bundesministerium für Atomkernenergie mit geplanten Ausgaben für Wissenschaft und ­Forschung in Höhe von 321,55 Millionen DM lediglich den dritten Platz hinter dem 340 Stucke, Forschungsministerium, S. 300. Im Jahr 2004 64 Prozent.

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Diagr. 5: Haushaltsansätze für Wissenschaft und Forschung der Bundesressorts für 1963 in Millionen DM

Bundesministerium des Innern mit 473,05 Millionen DM und vor allem hinter dem Bundesministerium der Verteidigung mit 604,36 Millionen DM eingenommen. Diagr. 5 verdeutlicht, dass neben den genannten drei Ministerien in geringfügigerem Maße praktisch alle Bundesressorts an der Forschungsförderung partizipierten.

Das »Bundesministerium für wissenschaftliche Forschung« unter Gerhard Stoltenberg, 1965–1969 Nach der Wahl zum fünften Deutschen Bundestag am 3.  Oktober 1965 und der Bildung einer neuen CDU/CSU-FDP-Koalition trat der erst 37-jährige aufstrebende CDU-Politiker Gerhard Stoltenberg am 26. Oktober im zweiten Kabinett Erhard sein Amt als Bundesminister für wis121

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senschaftliche Forschung an.341 Für den habilitierten Historiker hatte die allgemeine Forschungsförderung höchste Priorität, was sich beispielsweise auch in den Vorworten des Ministers zu den ministeriellen Jahresberichten deutlich spiegelte. Der ressortinterne Stellenwert der Kernkraft wurde dadurch trotz steigender Fördersummen weiter relativiert.342 Die Förderbandbreite des Ministeriums reichte nun vom Deutschen Rechenzentrum in Darmstadt bis zum hochdeutsch-plattdeutschen Wörterbuch.343 Auch nach der Regierungskrise von 1966 und dem Ausstieg der FDP aus der Koalition blieb Stoltenberg ab Dezember 1966 in Kiesingers Kabinett der Großen Koalition (CDU/CSU-SPD) Bundesminister für wissenschaftliche Forschung, dessen Ressort weiterhin stetig anwuchs. Ende 1966 lag die Zahl der Referate bereits bei 39.344 Nachfolger des in Pension gehenden Staatssekretärs Wolfgang Cartellieri wurde im November 1966 Hans von Heppe.345 Im Ruhestand verfasste Cartellieri im Auftrag Stoltenbergs ein zweibändiges Gutachten, in dem er Reformideen zur Bun­ deskompetenz in der Forschungsförderung entwickelte.346 Die bisher allein mit der Kernforschung befasste Abteilung III, seit 1965 geleitet von dem altgedienten Joachim Pretsch, gewann nun auch die Zuständigkeit für »Datenverarbeitung«, was sich seit 1967 auch im Namen der Abteilung spiegelte (»Kernforschung, Datenverarbeitung«). Stand die Computertechnologie innerhalb des Ressorts zunächst noch im nuklearen Kontext,347 so existierte seit 1968 innerhalb der Abteilung III ein Referat, das den Titel »Datenverarbeitung« ohne weitere Spezifizierung trug.348 Im selben Jahr tauchte in derselben Abteilung erstmals ein Referat auf, das für

341 Zur Biographie Stoltenbergs vgl. Kap. IV.2. 342 Vgl. die Schwerpunktsetzung in Stoltenbergs Vorwort zum Jahresbericht 1965, in: Bundesministerium für wissenschaftliche Forschung, in: Deutsche Politik 1965, S. 305 f. 343 Vgl. Bundesministerium für wissenschaftliche Forschung, in: Deutsche Politik 1966, S. 289–304, hier S. 290. 344 Organigramm 1966 /11, BArch, B 138 Org. 345 Zur Biographie Heppes vgl. unten S. 235–238. 346 Vgl. Meusel, Förderung, S. 147, und Wolfgang Cartellieri, Die Großforschung und der Staat. Gutachten über die zweckmäßige rechtliche und organisatorische Ausgestaltung der Institutionen für die Großforschung, Teil I und II, München 1967 und 1969. 347 Organigramm 1967, Referat »Datenverarbeitung: nukleare Meßtechnik« (III A 4), BArch, B 138 Org. 348 Organigramm 1968, III A 4, BArch, B 138 Org., siehe Anhang 1.

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»Neue Technologien« zuständig war.349 Seit 1968 besaß das Ministerium auch die Kompetenz für die Luftfahrtforschung. Das Forschungsressort verfügte 1968 über ein Haushaltsvolumen von 1,9 Milliarden DM und 463 Beschäftigte.350 In diesem Jahr zog das Ministerium in einen Neubau auf dem Bonner Tulpenfeld,351 da der bisherige Standort im ehemaligen »Godesberger Hof« dem Personalanstieg nicht mehr gewachsen war. Wie dargestellt, besaß der Bund bis 1969 nur indirekte Einflussmöglichkeiten in der Hochschulpolitik, etwa in der Forschungsförderung durch die teilweise Finanzierung der DFG oder in der »Gemeinschaftsaufgabe Hochschulbau«, in der er sich seit Ende der 1960er Jahre gemäß dem Hochschulbauförderungsgesetz zu 50 Prozent an Investitionen im Hochschulbau beteiligte.352 Allerdings konnte die staatliche Förderung von einzelnen Projekten oder Programmen sehr wohl eine forschungslenkende Wirkung haben.353 Die Verfassungsänderung vom 12. Mai 1969 eröffnete dem Bund dann jedoch gemäß Art. 75 Abs. 1a GG die Möglichkeit, Rahmenvorschriften über die »allgemeinen Grundsätze des Hochschulwesens« zu erlassen.354 Dieser neue Spielraum sollte unter dem Nachfolger Stoltenbergs zur Geltung kommen.

Das »Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft« unter Hans Leussink, 1969–1972 Nach der Bundestagswahl vom September 1969 und der erstmaligen Bildung einer sozialliberalen Koalition von SPD und FDP auf Bundesebene wurde aus dem bisherigen Ministerium für wissenschaftliche Forschung ein »Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft«, das auch für »Bildungsplanung und Bildungsforschung« und »Hochschulrahmengesetz­ gebung, Hochschulbauförderung, Studentenangelegenheiten« zuständig 349 Organigramm 1968, 1969 Spezifizierung »Energiedirektumwandlung«, 1970 »Angewandte Forschung; Innovation«, BArch, B 138 Org. 350 197 Beamte, 235 Angestellte, 30 Arbeiter; vgl. Jahresbericht 1968 des Bundes­ ministeriums für wissenschaftliche Forschung, in: Jahresbericht der Bundes­ regierung 1968, S. 525–554, hier S. 527. 351 Vgl. hierzu unten S. 198 f. 352 Vgl. Schimank / Lange, Hochschulpolitik, S. 319–321. 353 Ebenda, S. 320. 354 Vgl. Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland in der Fassung von Dezember 1993. Vgl. auch Schimank / Lange, Hochschulpolitik, S. 321–324.

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war.355 Hans Leussink356 wurde am 22. Oktober 1969 Bundesminister für Bildung und Wissenschaft im ersten Kabinett von Willy Brandt. Als Lehrstuhlinhaber für Grundbau, Tunnelbau und Bodenmechanik an der TH Karlsruhe und als Vorsitzender des Wissenschaftsrates war der parteilose Professor ein etablierter Wissenschaftspolitiker. Hildegard Hamm-Brücher (FDP)357 wurde neben Hans von Heppe beamtete Staatssekretärin – die erste Frau in einer Führungsposition des Atom- und Forschungsministeriums seit seiner Gründung. Mit Klaus von Dohnanyi (SPD)358 erhielt das Ressort erstmals einen parlamentarischen Staatssekretär. In seinem ersten Vorwort zum Jahresbericht des Ministeriums erwähnte Leussink die Kernkraft mit keinem Wort, sah die »Bildung und Wissenschaft an der Spitze der Reformen« und forderte – als offen parteipolitischer Zungenschlag ein Novum in den ministeriellen Jahresberichten  – die »Verwirklichung der sozialen Demokratie«.359 Dennoch stieß innerhalb der SPD die Ernennung des parteilosen Wissenschaftlers nicht auf ungeteilte Zustimmung.360 Ein Vertreter eines Verbandes des akademischen Mittelbaus, dem Leussink als »konservativer Wissenschaftstechnokrat« galt, sprach dem neuen Minister das »konzentrierte Mißtrauen aller Wissenschaftler unter 35« aus.361 Das Organigramm des neuen Ministeriums aus dem Jahr 1970 belegt die geänderten politischen Akzente und den Neuaufbruch im Bildungs­ wesen:362 Aus der bereits 1969, noch unter Stoltenberg, geschaffenen Unterabteilung II A »Hochschulangelegenheiten« (innerhalb der Abteilung II »Allgemeine Wissenschaftsförderung«) wurde die breiter gefasste neue Abteilung II »Bildungsplanung« (Unterabteilung II A »Schule und Weiterbildung« mit sieben Referaten, Unterabteilung II B »Hochschule« mit acht Referaten) geformt. Zum Abteilungsleiter avancierte zunächst Günther Lehr (geb. 1923), ein Jahr später dann der jüngere Jurist Eberhard 355 Jahresbericht 1969 des Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft, in: Jahresbericht der Bundesregierung 1969, S. 579–613, hier S. 580. 356 Vgl. die biographische Skizze unten S. 229–232. 357 Vgl. unten S. 240 f. 358 Vgl. unten S. 239 f. 359 Hans Leussink, Bildung und Wissenschaft an der Spitze der Reformen, in: Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft, in: Jahresbericht der Bundesregierung 1969, S. 578 f., hier S. 578. 360 Vgl. Müller, Geschichte, Bd. 1, S. 161, und »Mein Gott, was sollen wir denn tun?« Spiegel-Gespräch mit dem Minister für Bildung und Wissenschaft Hans Leussink, in: Der Spiegel, 9. 3. 1970, S. 38–46. 361 Ebenda, S. 38. 362 BArch, B 138 Org.

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3.

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Böning (geb. 1929).363 Die bisherige Abteilung II »Allgemeine Wissenschaftsförderung« wurde zur thematisch erheblich weiter gefassten Abteilung III »Forschungsplanung«; Leiter blieb Scheidemann. Auch die Abteilungen zur Kerntechnik und Datenverarbeitung (jetzt IV) und zur Weltraumforschung (jetzt V) blieben mit modifizierten Namen und unter den bisherigen Abteilungsleitern (Pretsch – 1971 folgt Lehr364 – und Mayer) bestehen. Auffallend ist die Präsenz des Planungsbegriffs, der den in der ersten sozialliberalen Koalition kulminierenden bundesdeutschen Boom des Planungswesens spiegelt365: Neben der Aufnahme des Begriffs in den Titel der Abteilungen II und III ist die Neuschaffung eines außerhalb der Abteilungsstruktur stehenden Planungsstabes hervorzuheben; Leiter wurde der noch relativ junge Jurist und Volkswirt Walter Borst (geb. 1929).366 Insgesamt hatte sich das Ministerium nun nochmals deutlich vergrößert. Die Zahl der Referate war auf 62 gestiegen.367 Der Personalbestand lag inzwischen bei weit über 600, der ganz überwiegende Anteil des Führungspersonals war nun nicht mehr durch eine NS-Mitgliedschaft belastet.368 Die Bildungspolitik wurde sofort zu einem Schwerpunkt des erweiterten Ministeriums. Mit der erwähnten Grundgesetzänderung vom 12. Mai 1969 waren die bildungspolitischen Kompetenzen zwischen Bund und Ländern neu verteilt worden, so dass die Regierung Brandt jetzt die verfassungsrechtliche Handhabe für eine bildungspolitische Offensive besaß. Der »Bildungsplanung« fühlte sich die sozialliberale Koalition besonders verpflichtet, da sie Investitionen in Bildung und Forschung nicht nur als wirtschafts-, sondern auch als gesellschaftspolitische Maßnahme sah.369 Föderale Traditionen, die Einflüsse der Besatzungsmächte und grundsätzlich unterschiedliche länderspezifische Entwicklungen hatten nach der Gründung der Bundesrepublik zu einem durch uneinheitliche Schultypen, Lehrpläne, Schulgeldfragen, die Anerkennung von Schulabschlüssen usw. gekennzeichneten »Schulchaos« geführt, das eine gewisse 363 Günter Lehr, promovierter Naturwissenschaftler, Gymnasiallehrer. Böning war aufgrund seines Geburtsjahrgangs nicht Teil unserer Untersuchungsgruppe. 364 Nach dem plötzlichen Tod von Pretsch. 365 Vgl. dazu Gabriele Metzler, Konzeptionen politischen Handelns von Adenauer bis Brandt. Politische Planung in der pluralistischen Gesellschaft, Paderborn u. a. 2005. 366 Zu Borst vgl. »Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung« online, Biographien. 367 Vgl. Organigramm 1970 /6, BArch, B 138 Org. 368 Vgl. unten S. 205. 369 Vgl. Lengwiler, Kontinuitäten, S. 20.

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bundesweite Anpassung des Schulwesens erforderlich machte.370 Einen wichtigen Schritt hierzu stellte Anfang 1955 das Düsseldorfer »Abkommen zwischen den Ländern der Bundesrepublik zur Vereinheitlichung auf dem Gebiet des Schulwesens« dar. Seit Mitte der 1960er Jahre, vor dem Hintergrund eines für den Beginn des nächsten Jahrzehnts erwarteten erheblichen Lehrermangels und einer damit verbundenen antizipierten »Bildungskatastrophe«, suchte der Bund, auch aus wirtschaftlichen Motiven, um international konkurrenzfähig zu bleiben, eine umfassende Schulreform anzustoßen.371 In seiner ersten Regierungserklärung kündigte Willy Brandt am 28.  Oktober 1969 an, einen »Bildungsplan« für Schulen, Hochschulen, Ausbildung und Erwachsenenbildung verabschieden zu wollen.372 Wichtige Impulse für eine Schulreform gingen von der neuen Staatssekretärin Hamm-Brücher aus.373 Der durch die Rezession von 1966 /67 nur kurzzeitig unterbrochene konjunkturelle Aufschwung ermöglichte es, zwischen 1965 und 1973 die Ausgaben des Bundes in der Forschungsförderung, dem Hochschulausbau und der Ausbildungsförderung zu verdreifachen.374 Obwohl Leussink beklagte, »die Bundesregierung [dürfe sich] zwar am Aufbau der Hochschulen beteiligen und anschließend ihre Vaterschaft zur Kenntnis nehmen; aber es [sei] ihr verwehrt, regelmäßig Alimente zu zahlen«,375 konnte der Bund nun seine Kompetenzen vor allem beim Hochschulausbau erweitern. Weitergehende hochschulpolitische Zuständigkeiten waren freilich nur schwer durchzusetzen. Die Verabschiedung des erstmals im März 1971 vor den Bundestag gebrachten »Hochschulrahmengesetzes« zog sich noch bis 1976 hin.376 Die schleppende bildungspolitische Entwicklung scheint den im parlamentarischen Betrieb unerfahrenen

370 Vgl. Klaus Klemm, Der Bund als ›Player‹ im Feld der Schulentwicklung. Entwicklung, Wege und Instrumente, in: Weingart / Taubert (Hrsg.), Das Wissensministerium, S. 378–402, hier S. 380 f. 371 Vgl. ebenda, S. 381 f. 372 Vgl. ebenda, S. 384. 373 Vgl. ebenda, S. 383. 374 Vgl. Lengwiler, Kontinuitäten, S. 21. 375 »Mein Gott, was sollen wir denn tun?«, Spiegel-Gespräch mit dem Minister für Bildung und Wissenschaft Hans Leussink, in: Der Spiegel, 9. 3. 1970, S. 39. 376 Vgl. Tobias Hoymann, Der Streit um die Hochschulrahmengesetzgebung des Bundes. Politische Aushandlungsprozesse in der ersten großen und sozialliberalen Koalition, Wiesbaden 2010, S. 121–216, vgl. auch unten S. 190 f.

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3.

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Leussink rasch zermürbt zu haben. Anfang 1972 reichte er seinen Rücktritt ein.377 Nachdem die Atomkommission schon seit längerem an Bedeutung ­verloren hatte – nicht zuletzt auch, weil das Ministerium selbst sukzessive an fachlicher Kompetenz gewann  –, wurde sie im Dezember 1971 aufgelöst und durch vier beratende Fachausschüsse ersetzt. Vermutlich hatte dieser Schritt auch damit zu tun, dass infolge der zeitgenössischen Reform- und Demokratisierungsbestrebungen ein Zugewinn an Transparenz und Pluralität im ministeriellen Beratungswesen erreicht werden sollte.378 Am wichtigsten war der neue Fachausschuss für »Strahlenschutz und ­Sicherheit«. Da der Strahlenschutz 1973 in die Kompetenz des Innenministeriums wanderte, wurde die 1974 als Nachfolger des Fachausschusses gegründete und bis heute bestehende Strahlenschutzkommission fortan dem Innenressort zugeordnet.379 Dieses verwaltungsgeschichtliche Detail ist ein Indiz dafür, welchen Bedeutungsverlust das Thema Atomenergie seit den 1960er Jahren innerhalb des thematisch immer weiter gefassten Forschungsministeriums erfuhr. Einen Umbruch gab es unter Minister Leussink im Bereich der »Weltraumforschung«. Bis zur Entwicklung der europäischen Ariane-Rakete, die erstmals im Jahr 1979 gestartet ist, verfügten die USA über ein Trägerraketen-Monopol, mit dem sie die europäische und besonders die deutsche Raumfahrtentwicklung faktisch mitbestimmen konnten. Nach dem Apollo-Programm (1966–1972) suchten die USA aus Kostengründen nach Kooperationspartnern für die Entwicklung eines neuen Trägersystems, 377 Vgl. »Rückgriff aufs dritte Glied«, in: Der Spiegel, 31. 1. 1972, S. 19 f., hier S. 19, und »Knüllerchen auf Lager«, in: ebenda, S. 20–22, hier S. 20. Vgl. auch Christoph Führ (Hrsg.), Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. 6: 1945 bis zur Gegenwart, Teil  1: Bundesrepublik Deutschland, München 1998, S. 91–95 und S. 430–442. 378 Vgl. generell zum Kontext  – mit Bezug auf das Jahr 1970  – Wilfried Rudloff, Wieviel Macht den Räten? Politikberatung im bundesdeutschen Bildungswesen von den fünfziger bis zu den siebziger Jahren, in: Fisch / Rudloff (Hrsg.), Experten, S. 153–188, hier S. 175; vgl. auch Radkau, Krise, S. 312: »Die Auflösung der DAtK im Zuge einer allgemeinen Reorganisation des Beratungswesens durch die sozial-liberale Regierung zog lediglich den Schlußstrich unter einen schon lange fortgeschrittenen Zerfallsprozeß und erregte kaum noch Aufsehen.« 379 Vgl. Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (Hrsg.), Jahresbericht 1999 der Strahlenschutzkommission. Einschließlich eines Rückblicks auf 25 Jahre Strahlenschutzkommission,  Berichte der Strahlenschutzkommission des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit 25 (2000), S. 1, und Wirtz, Umkreis, S. 79.

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wobei sie sich besonders an die Bundesrepublik wandten. Diese Umarmungsstrategie diente vermutlich auch dazu, ein konkurrierendes europäisches Raumfahrtprogramm zu be- oder sogar zu verhindern. Während Leussink zur Kostenbegrenzung auf das amerikanische Angebot eingehen wollte, plädierte Raumfahrt-Abteilungsleiter Max Mayer öffentlich für die europäische Raketenentwicklung.380 Vermutlich hat dieser Konflikt maßgeblich zur vorzeitigen Pensionierung Mayers im Herbst 1971 bei­ getragen. Alles deutet darauf hin, dass Mayers ambitionierte Vorstellungen von einer deutschen Raumfahrtpolitik nicht mit der fachlichen Neuorientierung des »Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft« harmonierten, die sich seit dem Wechsel zu einer sozialliberalen Regierung vollzog.381 Letztlich entschied sich die Bundesregierung aus außenpolitischen Gründen, weiter zweigleisig zu fahren und beteiligte sich sowohl an der europäischen Kooperation zur Ariane-Entwicklung als auch am amerikanischen Apollo-Nachfolgeprogramm.382 Als Abteilungsleiter wurde Mayer durch den Physiker und Computer-Pionier Fritz-Rudolf Güntsch (1925–2012) ersetzt.383

380 Vgl. Weyer, Raumfahrtpolitik, S. 77–79. 381 Trischler, Helmuth [HT]: Interview mit Dr.-Ing. Hermann Strub [HS]. Transkription des Interviews, silo.tips/download/interview-mit-dr-ing-hermannstrub-transkription-des-interviews [20. 11. 2021], S. 6: »[Rolf] Berger war kein Freund der Raumfahrt und Wolfgang Finke im Planungsstab war außerordentlich kritisch eingestellt gegenüber der Raumfahrt; da fing es an, schwierig zu werden. Dann wurde Mayer entlassen, was bei den alten Raumfahrern natürlich tiefe Spuren hinterlassen hat. Bei mir war das weniger der Fall, denn so etwas konnte natürlich passieren. Ich fand nur die Art, wie das vollzogen wurde, nicht schön und stillos.« HT: »Insofern passte er auch nicht mehr in dieses neue sozialdemokratische Ministerium.« HS: »Ja, das könnte man sagen.« Zur Entlassung Mayers vgl. auch unten S. 363 f.  – Vgl. zur Luft- und Raumfahrtpolitik: Trischler /  Schrogl / Kuhn (Hrsg.), Ein Jahrhundert im Flug; Niklas Reinke, Geschichte der deutschen Raumfahrtpolitik. Konzepte, Einflußfaktoren und Interdepenzen 1923–2002, München 2004. Vgl. auch die Darstellung in Max Mayer, 7 Jahre in leitender, verantwortlicher Funktion der Versuchsstelle der Luftwaffe in Peenemünde, in: Knappe, Joachim (Hrsg.), 100 Jahre »Alte Adler«. Pioniere der Luftfahrt 1900–2000, Essen 2002, S. 71–140, hier S. 137: »Ende 1971 wurde ich vom Bundesminister für Bildung und Wissenschaft, Prof. Leussink, in den ›einstweiligen Ruhestand‹ versetzt, weil meine Vorstellungen angeblich nicht mit denen der neuen SPD-geführten Bundesregierung übereinstimmen würden.« 382 Vgl. ebenda, S. 88 f. 383 Vgl. Mut zur Lücke, in: Der Spiegel, 23. 8. 1971, S. 16.

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3.

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Gesamt

Beamte

Ende 1955

ca. 30

Ende 1956

110 (100)

39

Ende 1957

156 (138)

56

4

1. 12. 1959 1. 11. 1960

Führungspersonal384 [19 Stellen] 22 33

217

70

 

1. 4. 1961

35

1. 10. 1961

231

83

 

1. 11. 1962

255

85

 

15. 8. 1963

 

 

 41

15. 5. 1964

45

31. 1. 1966

46

1. 5. 1968

56

1. 1. 1969

461

196

10. 6. 1970 15. 3. 1972

677

395

1. 6. 1972 […] 1. 1. 2015

  77   88

[…] ca. 1000

[…]  

[…] 129

Tab. 3: Entwicklung des Personalbestands im Atom- und Forschungsministerium385

384 Zur Definition vgl. unten S. 134. – Für das Jahr 1956 bietet das ministerielle Organigramm nur einen Referats- bzw. Stellenplan ohne Namen, BArch, B 138 Org. 385 Die eruierten Daten ergeben noch ein lückenhaftes Bild. Die Zahlen stammen aus den diversen Jahresberichten des Ministeriums (siehe S. 160, Anm. 3) sowie aus: Sobotta, Bundesministerium, S. 144; BArch, B 138 /19736; Geheft »Stellenbereinigung gem. Umorg. 15. 3. 72«; B 126 /13728, »Vorentwurf zum Bundeshaushaltsplan für das Rechnungsjahr 1957 Einzelplan 31 Geschäftsbereich des Bundes­ ministers für Atomfragen«; Organigramme des Ministeriums 1956–1970 aus dem BArch, B 138 Org. Zum Organisationsplan des BMBF im Jahr 2019 vgl. www. bmbf.de/de/die-organisation-des-hauses-192.html [10. 11. 2021].

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Das »Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft« unter Klaus von Dohnanyi bis zur Abtrennung des »Bundes­ ministeriums für Forschung und Technologie«, 1972 Auf den am 27.  Januar 1972 zurückgetretenen Hans Leussink folgte als neuer Bundesminister für Bildung und Wissenschaft der bisherige par­ lamentarische Staatssekretär Klaus von Dohnanyi. Wenig später zog sich auch die bisherige parlamentarische Staatssekretärin Hildegard HammBrücher im Mai 1972 von ihrem Amt zurück; das Ministerium verfügte somit in der Person von Hans-Hilger Haunschild wieder nur über einen beamteten Staatssekretär.386 In der Öffentlichkeit äußerte die enttäuschte FDP-Politikerin heftige Kritik am reformhemmenden bildungspolitischen Föderalismus, aber auch am Kompetenzwirrwarr auf Bundesebene und am mangelnden Reformwillen vieler Mitarbeiter in den Ministerien.387 Der bildungspolitische Aufbruch der sozialliberalen Koalition, der sich im Kompetenzgewinn des Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft konkretisiert hatte, galt damit in der politischen Öffentlichkeit bereits als gescheitert. Der Einfluss des Bundes in der Bildungspolitik im Verhältnis zu den Ländern blieb, wie vom Grundgesetz vorgesehen, weiterhin schwach. Das nach der Bundestagswahl vom November im Dezember 1972 gebildete zweite Kabinett Brandt teilte das bisherige »Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft«, das inzwischen über 77 Referate verfügte, in zwei Häuser auf: Neben das »Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft« unter Dohnanyi trat nun das neue »Bundesministerium für Forschung und Technologie« unter Minister Horst Ehmke (SPD).388 Die Abstammung vom Atomministerium war bei Letzterem kaum noch zu ­erkennen: Die Zuständigkeit für Kerntechnik fand sich in den Abteilungsnamen des neuen Ministeriums nicht wieder.389

386 Vgl. Müller, Geschichte, Bd. 1, S. 161. 387 Vgl. »Kabarett der Kommissionen«. Hildegard Hamm-Brücher über die gescheiterte Bildungsreform, in: Der Spiegel, 15. 5. 1972, S. 43. 388 Vgl. Müller, Geschichte, Bd. 1, S. 161. 389 Vgl. ebenda.

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Fazit Der Weg des Atom- und Forschungsministeriums von seiner Gründung 1955 bis zu seiner Teilung 1972 war insgesamt ein Weg des Wachstums und des sukzessiven Kompetenzgewinns. Gab es am Anfang zwei Abteilungen und 10 Referate mit weniger als 30 Mitarbeitern, so verfügte das Ministerium am Ende des untersuchten Zeitraums über fünf Abteilungen, 77 Referate und knapp 700 Mitarbeiter, davon für ein Bundesministerium ungewöhnlich viele mit naturwissenschaftlich-technischem Bildungs­ hintergrund. Die Namenswechsel des Ressorts – vom Bundesministerium für Atomfragen, für Atomkernenergie und Wasserwirtschaft, für Atomkernenergie, für wissenschaftliche Forschung bis hin zum Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft – deuten den schrittweisen Kompetenzzuwachs jeweils an. Allerdings war dieser Zuwachs bei genauerer Betrachtung kein linearer Vorgang. Die Zuständigkeit für Wasserwirtschaft blieb ein vierjähriges Intermezzo, dessen Beendigung im Ministerium wohl keineswegs bedauert wurde. Und der ursprüngliche fachliche Kern, die zivile Nutzung der Atomkraft, verlor innerhalb des Ressorts nach und nach seine zentrale Bedeutung, weil die sonstigen Zuständigkeiten in den Vordergrund traten und weil, wie Mitte der 1950er Jahre vorgesehen, die Entwicklung der Atomtechnologie in einem breiteren Rahmen Fortschritte machte. Der Aufbau eines im Wesentlichen vom Bund finanzierten Kernforschungszentrums in Karlsruhe, dem Anfang der 1960er Jahre auch zwei führende Ministeriumsmitarbeiter zur Verfügung gestellt wurden,390 und die Entstehung einer – staatlich subventionierten – privaten Atomwirtschaft bildeten wichtige Triebkräfte dieses Prozesses. Bereits 1962 verschwand der Begriff »Atom« aus dem Namen des Ministeriums. Eine durchgehende Entwicklung war während des untersuchten Zeitraums das Wachstum der ministeriellen Zuständigkeit für generelle Fragen der (überwiegend naturwissenschaftlichen) Forschungs- und Wissenschaftspolitik. Als effektives Instrument zur Rechtfertigung und Durchsetzung einer derartigen Politik auf Bundesebene erwies sich die Forschungsförderung. Das Atom- und Forschungsministerium stieß dabei in die Freiräume, die sich durch das relativ geringe finanzielle Engagement der Wirtschaft beim Aufbau der bundesdeutschen Kernforschung und durch die begrenzten finanziellen Möglichkeiten der Bundesländer 390 Josef Brandl und Walther Schnurr. Vgl. – im Kontext ausführlicher biographischer Skizzen – unten S. 324 f. und 384–386.

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für eine Unterstützung kostenintensiver Forschungen und Technologien eröffneten. Auch die Förderung der Raumfahrtpolitik erweiterte den forschungspolitischen Handlungsspielraum des Ministeriums. Ähnlich wie die Atomenergie konnte auch die Raumfahrt bzw. die »Weltraumforschung« als maßgebliches Thema für die Gestaltung der nationalen Zukunft dargestellt werden. Von dieser übergeordneten Ratio des Ministeriums wird ausführlich in Kapitel III.1 die Rede sein. Unter diesen Prämissen erwarb das Ministerium im Laufe der 1960er Jahre auch die Zuständigkeit für »Datenverarbeitung« und andere »neue Technologien«. Das seit den späten 1960er Jahren forcierte Ausgreifen des Ministeriums auf das bildungspolitische Feld, vor allem im Hinblick auf das Thema Hochschulförderung und -ausbau, stieß Anfang der 1970er Jahre sehr schnell an massive strukturelle Grenzen, die im Wesentlichen mit der traditionellen Zuständigkeit der Länder für das Bildungswesen verbunden waren. Der resignierte Rücktritt des damaligen »Bildungsministers« Leussink und seiner parlamentarischen Staatssekretärin Hamm-Brücher Anfang 1972 waren markante Indizien dieses zumindest partiellen Scheiterns. Inwieweit stand die institutionelle Geschichte des Atom- und Forschungsministeriums von 1955 bis 1972 in einer größeren Kontinuität? Auf diese Frage kann nur eine komplexe Antwort gegeben werden. Einerseits handelte es sich bei der Gründung um ein neuartiges Ministerium mit engem atomtechnischem Bezug, das dann eine sehr spezifische, von manchen Diskontinuitäten gekennzeichnete Entwicklung zu mehr fachlicher Breite genommen hat. Andererseits lässt sich die im Ausbau des Ministeriums erkennbare forschungspolitische Zentralisierungstendenz durchaus in den größeren Rahmen deutscher Forschungs- und Wissenschaftspolitik seit dem späten Kaiserreich einschreiben. Aber auch die letztgenannte Tendenz war allerdings keineswegs ein ­linearer Prozess. Der Zentralisierungsschub während der NS-Zeit, der sich in der Gründung und Entwicklung des Reichsministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung konkretisiert hatte, wurde nach 1945 zunächst einmal wieder weitgehend rückgängig gemacht. Widerstände, auf die das Atom- und Forschungsministerium in seinen generellen forschungs- und später auch bildungspolitischen Ambitionen gestoßen ist, lassen sich partiell auch mit den Zentralisierungserfahrungen der NS-Zeit in der Schul- und Hochschulpolitik und in der Forschungspolitik erklären. Die Kompetenzerweiterung des Atom- und Forschungs­ ministeriums vollzog sich dann seit 1955 unter dem Paradigma des Neubeginns auf Forschungsfeldern, die vor 1945 noch marginal gewesen waren und mit denen das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und 132

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Volksbildung nichts bzw. wenig zu tun gehabt hatte: die zivile Nutzung der Atomforschung und -technik, die Raumfahrtforschung und dann in geringerem Maße auch die Computertechnologie. Was die Raumfahrt ­betrifft, so zeigten sich hingegen gewisse personelle und fachliche Kon­ tinuitätslinien, die in den Bereich der militärischen Luftfahrtforschung der NS-Zeit führen. Insofern hatte das Koordinatensystem forschungspolitischer Zentralisierung in der untersuchten Phase von 1955 bis 1972 einen ganz anderen Zuschnitt als während der Epoche des Nationalsozia­ lismus.

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4. Karrierewege des Führungspersonals Inwieweit spiegelten sich die institutionellen Besonderheiten des Atomund Forschungsministeriums – die stark naturwissenschaftlich-technisch bestimmte Zuständigkeit, das Fehlen einer unmittelbaren Vorgängerinstitution, die späte Ministeriumsgründung und der allmähliche Prozess des Ausbaus  – auch im fachlichen Profil und in den Karrierewegen seines Führungspersonals? Während diese Leitfrage des folgenden Kapitels auf die Besonderheiten des Atom- und Forschungsministeriums zielt, bezieht sich eine zweite Leitfrage eher auf generelle Charakteristika der Ministerialeliten in der frühen Bundesrepublik. Unsere Skizze geht von dem Sample »ministerielles Führungspersonal« (MFP) aus, das der in Kapitel IV.1 durchgeführten prosopographisch-­ statistischen Erfassung von NS-Belastungen zugrunde liegt.391 Diese Untersuchungsgruppe umfasst Referats- und Abteilungsleiter, Staatssekretäre und Minister bis zum Geburtsjahrgang 1927 und älter und besteht aus 85 Personen, darunter lediglich eine Frau. In den zusammenfassenden Ausführungen werden Namen nur in wenigen exemplarischen Fällen genannt.392

Altersstruktur Der überwiegende Teil der untersuchten Personengruppe wurde ab dem Jahr 1910 geboren (siehe Diagr. 6). Altersbedingt hatten diese späteren Angehörigen des ministeriellen Führungspersonals zum Zeitpunkt der ­sogenannten »Machtergreifung« ihre berufliche Karriere noch nicht auf­ genommen, zumal es sich bei ihnen fast ausschließlich um Akademiker handelte. In zahlreichen Fällen erfolgte die berufliche Sozialisation dann während der NS-Zeit. 56 Prozent der Untersuchungsgruppe waren 1939 erst höchstens 24 Jahre alt und konnten aufgrund ihres Militär- oder Kriegsdienstes während der NS-Herrschaft nur in wenigen Fällen einen Beruf aufnehmen. Der Blick auf die (am Anfang und Ende des Spektrums verkürzten) Geburtsjahrgänge ergibt folgendes Bild:

391 Vgl. unten S. 201 f. 392 Dabei erfolgen im Hinblick auf die Quellengrundlage in der Regel Querverweise auf die Erwähnung dieser Personen im Rahmen der Kap. IV und V.

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Insgesamt 85 Personen

Diagr. 6: Geburtsjahre des von 1955 bis 1972 tätigen MFP, Jahrgänge 1927 und älter393

Bildungsgang Die fachliche Besonderheit des Atom- und Forschungsministeriums zeigt sich auch in den Bildungswegen seines ministeriellen Führungspersonals. 22 Prozent des zugrunde liegenden Samples hatten ein naturwissenschaftliches Universitätsstudium abgeschlossen, am häufigsten Chemie und Physik.394 Rund 16 Prozent blickten auf ein Studium an einer Technischen Hochschule, Ingenieurschule oder technischen Akademie zurück  – vor allem Maschinenbau, Elektrotechnik, aber auch Bauingenieurwissenschaften und Spezialdisziplinen wie etwa Flugzeugbau. Knapp 40 Prozent des MFP waren demnach Absolventen der Fachrichtungen, die heute als MINT-Fächer395 bezeichnet werden. 44 Prozent gehörten der Gruppe der Juristen an, die wie in jeder höheren Verwaltung als Universalfachleute eingesetzt wurden. Kleine Minderheiten waren Geisteswissenschaftler, Volkswirte und Mediziner oder hatten keine akademische Ausbildung.

393 Für eine Person der untersuchten Gruppe (Walter Funck) ließ sich kein Geburtsdatum ermitteln. 394 19 von 85 Personen, darunter sieben Chemiker und sechs Physiker. 395 Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik.

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Diagr. 7: Bildungsgänge des ministeriellen Führungspersonals (bis Jahrgang 1927)

Angemerkt sei, dass sich auch bei Anlegung einer breiteren statistischen Perspektive ein ähnliches Verhältnis der Bildungsgänge zeigt: So fanden sich im Sommer 1971 nach einer eigenen Berechnung des Ministeriums unter den 256 Mitarbeitern des höheren Dienstes (einem größeren Sample als unsere Untersuchungsgruppe) rund 39 Prozent Naturwissenschaftler und Techniker (überwiegend Ingenieure und Physiker) und rund 37 Prozent Juristen. 11 Prozent waren Geisteswissenschaftler und 7 Prozent Wirtschaftswissenschaftler.396 Von den 85 hier untersuchten Personen des MFP waren 57 promoviert (67 Prozent, davon zehn als Dr. Ing.),397 vier hatten sich habilitiert.

396 Vgl. die Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs Klaus von Dohnanyi auf eine Anfrage im Bundestag zur »Verteilung der absolvierten Studiengänge bei den Beamten des höheren Dienstes im Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft« vom 18. 8. 1971, BT-Drucksache VI/2556, BArch, B 138 /27428. 397 Ehrendoktorwürden, die etwa den Ministern verliehen worden waren, werden hier nicht berücksichtigt.

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Berufliche Tätigkeit vor 1945 Wie auch bei anderen Bundesministerien gab es im Atom- und Forschungsministerium eine hohe personelle Kontinuität der Beschäftigung im Staatsdienst.398 Dabei sind mehrere Aspekte zu unterscheiden: die generelle Tätigkeit von späteren ministeriellen Führungspersonen im Öffentlichen Dienst der NS-Zeit – von der kommunalen bis zur Reichsebene –, die Zugehörigkeit zum Reichsministerialdienst sowie die Beschäftigung in »Vorläuferinstitutionen« des BMBF in der NS-Zeit. Vor 1945 war gut die Hälfte der Untersuchungsgruppe im Öffentlichen Dienst beschäftigt gewesen – angesichts der oben angeführten Tatsache, dass altersbedingt überhaupt nur knapp die Hälfte der gesamten Untersuchungsgruppe vor Kriegsende eine reguläre Berufslaufbahn einschlagen konnte, ein hoher, aber keineswegs überraschender Wert.399 Im Falle des Atom- und Forschungsministeriums handelte es sich meist um Beschäftigungen in Ministerialverwaltungen, in Landratsämtern, Stadtverwaltungen und Regierungspräsidien oder bei Polizei und Justiz. Tätigkeiten bei der Reichsbahn, im Straßenwesen oder in der öffentlich-rechtlichen Wasserwirtschaft sowie in Forschung und Lehre lassen in Einzelfällen erste Bezüge zu Aufgabenfeldern des späteren Atom- und Forschungsministeriums erkennen.400 Zwei Personen der untersuchten Gruppe waren vor 1945 im Ministerialdienst auf Landesebene tätig, beide im württembergischen Innenminis-

398 Privatwirtschaftliche Tätigkeiten vor 1945 waren hingegen innerhalb der Untersuchungsgruppe sehr selten: Sie ließen sich lediglich in drei Fällen feststellen. 399 Ergebnisse aus anderen »Aufarbeitungsstudien« weisen in eine ähnliche Richtung. So waren etwa im Bundeswirtschaftsministerium knapp 85 Prozent der Ministerialdirektoren oder Ministerialdirigenten schon vor 1945 im Öffentlichen Dienst gewesen. Vgl. Löffler, Strukturen, S. 113, und Görtemaker / Safferling, Akte Rosenburg, S. 264–267, und Palm / Stange, Vergangenheiten und Prägungen des Personals, in: Bösch / Wirsching (Hrsg.), Hüter der Ordnung, S. 122–181, hier S. 122–135. 400 Etwa im Fall von Dieterich (TH Stuttgart; Quellengrundlage siehe Anhang 2), Groos (Forschungsanstalt der Reichspost, Quellengrundlage siehe ebenda), Heppe (Reichsbahn), Holtzem (Universität; Quellengrundlage siehe ebenda), Leussink (Universität), Martius (Universität, Quellengrundlage siehe ebenda) oder Kumpf (Wasserwirtschaft).

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terium: einer bereits zur Zeit der Weimarer Republik,401 einer zwischen 1934 und 1938.402 14 Prozent, zwölf Beamte von 85, waren während des Nationalsozialismus in unterschiedlichsten Reichsministerien eingesetzt, darunter je zwei im Auswärtigen Amt und im Reichsverkehrsministerium, je einer im Reichswirtschaftsministerium, im Reichsinnenministerium, im Reichsjustizministerium und einer im Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda.403 Mit drei Personen im Reichsluftfahrtministerium und einer im Reichspostministerium lag die Zahl der Führungspersonen des Atom- bzw. Wissenschaftsministeriums der untersuchten Gruppe ab Jahrgang 1927 bis 1945, die in potentiellen nationalsozialistischen »Vorläuferministerien« tätig waren, sehr niedrig.404 Bemerkenswerterweise war kein einziger Angehöriger des MFP im Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung beschäftigt gewesen, das zumindest nominell als partieller Vorläufer des späteren Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft betrachtet werden kann. Zum Vergleich: Im Bundeswirtschaftsministerium hatten rund 16 Prozent der gesamten Führungsebene zwischen 1949 und 1990 schon im Reichswirtschaftsministerium gearbeitet,405 von den Angehörigen des höheren Dienstes im Auswärtigen Amt des Jahres 1954 waren 23 Prozent schon vor 1945 im diplomatischen Dienst gewesen.406 Wie das Reichs­ ministerium für Volksaufklärung und Propaganda war auch das RMWEV ein zentrales Instrument der nationalsozialistischen »Gleichschaltung«. Ob deren Beamtenschaft, die aufgrund ihrer Tätigkeit als besonders belastet gelten muss, in der frühen Bundesrepublik bewusst nicht für den Ministerialdienst rekrutiert wurde, muss einer eingehenderen Untersuchung vorbehalten bleiben.407 Was das Atom- und Forschungsministerium an401 Der spätere Regierungsdirektor Otto Beutler. 402 Der spätere Ministerialdirektor Wilhelm Grau. Quellengrundlage siehe Anhang 2. 403 Beutler und Schulte-Meermann im AA, Heppe und Kaißling im RMV, Scheidemann im RMWi, Grau im RMI, Meyer-Cording im RMJ und Spilker in der eng mit dem RMVP verflochtenen Reichskulturkammer. 404 RLM: Bernhard Gaedke, Werner Haase und Walter Regula; RMP: Otto Groos. Quellengrundlage aller Genannten siehe Anhang 2. 405 Vgl. Löffler, Strukturen, S. 111. 406 Vgl. Conze/Frei/Hayes/Zimmermann, Das Amt, S. 490. 407 Mit der Beamtenschaft der nationalsozialistischen Reichsministerien ohne Nachfolgeinstitutionen beschäftigt sich derzeit ein Forschungsprojekt an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, das sich auch mit den Lebenswegen der Beschäftigten des Reichserziehungsministeriums befasst.

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Diagr. 8: Personelle Kontinuitäten zu Vorläuferinstitutionen des Atom- bzw. Forschungsministeriums in der NS-Zeit

belangt, so spielte zweifellos ein anderer Faktor eine entscheidende Rolle: Das Ministerium erhielt die Bildungskompetenz erst 1969, als ein Großteil der Beamtenschaft des früheren RMWEV schon längst seine Karriere an anderer Stelle fortgesetzt hatte. Und die frühen fachlichen Kerngebiete des Atom- und Forschungsministeriums hatten im RMWEV kaum eine Rolle gespielt.408 Indirekt fanden allerdings – wie in Kapitel II.1 dargestellt – einige Wissenschaftler und Techniker aus dem Forschungsumfeld des RMWEV ihren Weg in das bundesdeutsche Atom- und Forschungsministerium. So etwa aus dem Reichspostministerium (das eine große Forschungseinrichtung unterhielt) oder aus Luftfahrtforschungsinstitutionen wie der Aerodynamischen Forschungsanstalt. Insgesamt ist festzustellen, dass es fachliche personelle Kontinuitäten am ehesten – auf sehr niedrigem Niveau – im Bereich der Luftfahrtforschung gab. Personelle Verbindungen zur disparaten Atomforschung der NS-Zeit im Heereswaffenamt, im Reichspostministe408 Vgl. Nagel, Hitlers Bildungsreformer.

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rium sowie im weitgespannten Forschungsnetzwerk des »Uranvereins« (auch »Uranprojekt«), der sich um das Berliner Kaiser-Wilhelm-Institut für Physik gruppierte, ließen sich nicht feststellen. Personelle Kontinuitäten von der Atomforschung in der NS-Zeit zum bundesdeutschen Atomministerium gab es nur in der Deutschen Atomkommission, dem Beratungsgremium des Ministeriums.409

Militärdienst Wenig überraschend ist, dass für die meisten Angehörigen der untersuchten Gruppe militärische Erfahrungen eine überaus wichtige Rolle spielten. Mehrere Angehörige des MFP (der Jahrgänge 1898 bis 1900) hatten noch im Ersten Weltkrieg gekämpft.410 Ebenfalls mehrere Personen schlossen sich in der frühen Weimarer Republik Freikorps an, darunter Josef Brandl und Wolfgang Cartellieri.411 Grundsätzlich unterlagen alle Männer der Untersuchungsgruppe der im März 1935 im Deutschen Reich wiedereingeführten Wehrpflicht.412 75 Angehörige des ministeriellen Führungspersonals bis Jahrgang 1927 mussten ab 1939 Kriegsdienst leisten, das sind 88 Prozent.413 Die 1927 ­geborenen Männer waren der letzte Jahrgang, der ab 1944 zur Wehrmacht eingezogen wurde. Aus den überlieferten Personalakten und den Quellenfragmenten bei der Deutschen Dienststelle (WASt) sind die militärischen Laufbahnen des 409 In Gestalt von Otto Hahn, Otto Haxel, Werner Heisenberg und Wolfgang Riezler. Vgl. Kröner, Einfluß, S. 464 f. 410 Walther Kumpf (geb. 1899), Karl Kaißling (geb. 1900), Rudolf Kriele (geb. 1900) und Erich Pohland (geb. 1898). Pohland schied 1919 als charakterisierter Leutnant aus dem Heer aus. Die Datierung der Kriegsteilnahme bis 1919 beruht auf Selbstangaben und bezieht sich auf den Kriegsdienst bis zur Demobilisierung nach dem Waffenstillstand, aber möglicherweise auch auf Kämpfe im Baltikum oder in den Revolutionswirren. Auch Otto Beutler und Friedrich Kolb gehörten dem Jahrgang 1900 an, über eine Kriegsteilnahme oder Freikorpsangehörigkeit liegen aber keine Informationen vor. Quellengrundlage Kolb siehe Anhang 2. 411 Zu Brandl und Cartellieri vgl. Kap. V.1 und 2. Es ist anzunehmen, dass die tatsächliche Zahl der Freikorpskämpfer noch höher liegt als von uns ermittelt. 412 Zwei von ihnen, Ernst Scholz (Quellengrundlage siehe Anhang 2) und Hans von Martius, gehörten bereits dem ersten eingezogenen Jahrgang 1914 an. Zur Wehrpflicht vgl. Rudolf Absolon, Wehrgesetz und Wehrdienst, 1935–1945. Das Personalwesen in der Wehrmacht, Boppard am Rhein 1960. 413 Die restlichen Personen waren aus spezifischen Gründen nicht wehrpflichtig.

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Führungspersonals nur lückenhaft zu rekonstruieren. Der weitaus größte Anteil des MFP nahm am Zweiten Weltkrieg als Offizier, Offiziersanwärter oder als höherer Wehrmachtbeamter teil. Mindestens drei Angehörige des MFP hatten ursprünglich eine Offizierslaufbahn als Berufssoldat angestrebt  – zwei in der Marine (einer bereits in der Weimarer Republik, der andere noch vor Beginn des Zweiten Weltkrieges) und einer kurz nach Kriegsbeginn in der Waffen-SS.414 Ausgehend von mutmaß­lichen Elitenkontinuitäten und vor dem Hintergrund, dass es sich praktisch ausschließlich um Abiturienten handelte, überrascht es grundsätzlich nicht, dass die späteren Führungskarrieren in verschiedenen Bundesminis­ terien bereits durch Offizierslaufbahnen in der Wehrmacht angedeutet wurden. Soweit zu ermitteln, erreichten nur 13 Prozent des MFP lediglich einen Mannschaftsdienstgrad, rund 12 Prozent einen Unteroffiziersdienstgrad. Offiziere oder Offiziersanwärter (Fähnrich / Fahnenjunker) waren 34 Pro­zent, Wehrmachtbeamte 20 Prozent. Damit waren zusammen rund 54 Prozent des MFP während des Krieges in leitender militärischer Funktion eingesetzt. Insgesamt handelte es sich bei den Angehörigen der Untersuchungsgruppe ausschließlich um Subalternoffiziere (Leutnant bis Hauptmann), was angesichts ihres durchschnittlichen Alters und der Tatsache, dass es sich überwiegend um Reserveoffiziere handelte, zu erwarten war. Zwei Personen aus der Untersuchungsgruppe meldeten sich freiwillig zur Waffen-SS, von denen einer bis 1945 den Rang eines SS-Obersturmführers415 (Oberleutnants), der andere den eines SS-Standartenjunkers416 (Offiziersanwärter) erreichte. Es fällt auf, dass sehr viele Angehörige des MFP ihren Kriegsdienst in technischen Truppenteilen leisteten, so in der Luftwaffe, bei der Flugabwehr, den Pionieren, der Marine, der Panzertruppe oder der Artillerie. Vermutlich zeigt sich hier eine Technikaffinität der späteren Beschäftigten im Atom- und Forschungsministerium, denn bei einer freiwilligen Meldung zum Kriegsdienst konnten sich die Rekruten ihren Truppenteil in der Regel selbst aussuchen.417 Möglicherweise wurde in Einzelfällen ein technisches Interesse auch durch den Kriegsdienst geweckt. 414 Zingel und von Jouanne in der Marine, Spilker in der Waffen-SS. Zu Spilker und zur freiwilligen Meldung zur Waffen-SS vgl. unten S. 393 f. Zur Quellengrundlage von Jouanne und Zingel siehe Anhang 2. 415 Karl-Heinz Spilker, vgl. Kap. V.5. 416 Joachim Raffert, vgl. Kap. IV.2. 417 Vgl. Absolon, Wehrgesetz, S. 158.

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20 Prozent der Angehörigen der Untersuchungsgruppe waren dauerhaft oder vorübergehend als Wehrmachtbeamte im Einsatz. Es überrascht nicht, dass drei Viertel davon auch schon im zivilen Leben im Öffentlichen Dienst tätig gewesen waren. Die uniformierten und bewaffneten Beamten der Wehrmachtverwaltung galten zwar als Kombattanten im Sinne der Haager Landkriegsordnung, wurden von regulären Soldaten aber wenig respektiert und aufgrund ihrer schmalen Schulterstücke als »Schmalspursoldaten« verunglimpft.418 Die betreffenden Angehörigen der Untersuchungsgruppe waren im gehobenen und vor allem höheren Dienst als Verwaltungsbeamte (z. B. als Intendant), technische Beamte (z. B. als Flieger-Oberstabsingenieur) oder Justizbeamte (z. B. als Kriegsgerichtsrat) eingesetzt.419 Unter den Wehrmachtbeamten finden sich, anders als unter den regulären Offizieren, auch zahlreiche Beamte im Rang von Stabsoffizieren (Major bis Oberst). Der ranghöchste Wehrmachtbeamte in der Untersuchungsgruppe war Josef Brandl (siehe Kap. V.1), der als Ministerialrat im besetzten Italien bei Kriegsende den militärischen Rang eines Obersten trug. Zwei Personen der untersuchten Gruppe nahmen  – in den Reihen des Nationalsozialistischen Kraftfahrkorps (NSKK) und der Organisation Todt (OT) – als Angehörige paramilitärischer nationalsozialistischer Formationen am Überfall auf die Sowjetunion teil.420 Von besonderer Bedeutung sind die knapp 18 Prozent der Untersuchungsgruppe, die dauerhaft oder vorübergehend vom Kriegsdienst freioder zurückgestellt (»UK gestellt«) wurden. Die »UK (unabkömmlich) – Stellung« bedeutete die Entlassung eines Wehrpflichtigen aus dem aktiven Wehrdienst, dessen zivile Tätigkeit für die Kriegswirtschaft, die Verwaltung, die Forschung usw. als unersetzlich galt. Dauerhaft oder vorübergehend freigestellt wurden Angehörige des MFP aufgrund ihrer Tätigkeit für diverse Reichsministerien, in der Zivilverwaltung im Generalgouvernement oder in der Kriegswirtschaft  – so etwa ein Chemiker, der mit der kriegswichtigen Autoreifenherstellung aus Kautschukersatz befasst

418 Vgl. Christian Hartmann, Wehrmacht im Ostkrieg. Front und militärisches Hinterland 1941 /42, München 2012, S. 48 f. 419 Zu den Wehrmachtbeamten vgl. Absolon, Wehrgesetz, S. 204–212. 420 Hermann Dieterich (NSKK-Sturmführer) und Walther Kumpf (OT-Einsatzgruppenleiter).

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war,421 oder Walther Schnurr (siehe Kap. V.4), der eine der größten deutschen Munitionsfabriken leitete.422 Aufgrund der immensen Verluste der Wehrmacht im Osten durchforstete ab Mitte 1942 eine Kommission unter General Walter von Unruh militärische Stellen in der Etappe, aber auch die Zivilverwaltung in den besetzten Gebieten und schließlich auch Dienststellen der NSDAP und Behörden im Reich auf der Suche nach abkömmlichem Personal für die Front.423 Dass die »UK-gestellten« Angehörigen unserer Untersuchungsgruppe dem Zugriff dieser spöttisch als »Heldenklau« bezeichneten Kommission entgingen, liefert einen Hinweis auf die kriegs- und rüstungswirtschaftliche sowie administrative Bedeutung ihrer Tätigkeit.

Die Zeit zwischen 1945 und dem Eintritt in das Atom- und Forschungsministerium Die Biographien der Angehörigen des ministeriellen Führungspersonals zwischen dem Kriegsende und der Gründung der Bundesrepublik, in vielen Fällen sogar bis zur Gründung des Bundesministeriums für Atom­ fragen, zu rekonstruieren, ist in vielen Fällen kaum möglich. Auch in anderen Studien der ministeriellen Behördenforschung finden sich nur selten konkrete Angaben zu den Lebenswegen der Beschäftigten zwischen dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Deutschlands bis zum Eintritt in den Ministerialdienst. Das ist umso misslicher, als gerade die Jahre des Umbruchs und der politischen Neuorientierung eine entscheidende Rolle in den Transformationsprozessen hin zur bundesdeutschen Demokratie spielen. Derartige biographische Lücken zu schließen erfordert  – falls es überhaupt hinreichende Quellen gibt – einen sehr hohen Recher421 Kurt Giese bei der Deutschen Gasrußwerke GmbH und Co KG in Dortmund. Quellengrundlage Giese siehe Anhang 2. 422 Vorübergehend oder dauerhaft freigestellt wurden nach derzeitigem Kenntnisstand Kurt Giese, Otto Groos, Hans von Heppe, Karl Kaißling, Friedrich Kolb, Rudolf Kriele, Hans Leussink, Walther Schnurr, Walter Schulte-Meermann, ­Georg Straimer und Heinz Trabandt. Vermutlich auch Wilhelm Grau, Hubertus Holtzem, Erich Pohland und Karl Wolf. Quellengrundlage Wolf siehe Anhang 2. 423 Vgl. Bernhard Kroener, »General Heldenklau«. Die »Unruh-Kommission« im Strudel polykratischer Desorganisation 1942–1944, in: Hansen, Ernst Willi (Hrsg.), Politischer Wandel, organisierte Gewalt und nationale Sicherheit. Beiträge zur neueren Geschichte Deutschlands und Frankreichs, München 1995, S. 269–285.

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cheaufwand, den wir lediglich bei den fünf in Kapitel V behandelten Personen leisten konnten. Die folgenden statistischen Ausführungen müssen sich hingegen auf wenige Indikatoren beschränken. Von rund 47 Prozent der Angehörigen des MFP ist bekannt, dass sie sich bei oder nach Kriegsende in alliierter Kriegsgefangenschaft befanden. Diese Zahl wird in Wirklichkeit erheblich höher liegen, da sich die Angabe fast ausschließlich auf westalliierte Kriegsgefangenschaft bezieht. Die Deutsche Dienststelle (WASt) konnte sowjetische Kriegsgefangenschaft nur in Einzelfällen dokumentieren, da die Sowjetunion der Genfer Kriegsgefangenen-Konvention nicht beigetreten war und keine Gefangenendaten an das Internationale Rote Kreuz meldete. Momentan ist eine sowjetische Kriegsgefangenschaft von lediglich fünf Personen unserer ­ Untersuchungsgruppe bekannt.424 In einzelnen Fällen dauerte die Kriegsgefangenschaft nur wenige Wochen an (wie bei Franz Josef Strauß, siehe Kap. IV.2). Meistens jedoch bildete die auch im außereuropäischen Ausland erlebte Kriegsgefangenschaft einen gravierenden zeitlichen und biographischen Einschnitt. Soweit bekannt, kamen bis Ende 1945 vierzehn Kriegsgefangene aus britischer und US-amerikanischer Gefangenschaft frei. Darunter befand sich ein Soldat, der bereits im März 1943 in Nordafrika in US-amerikanische Hände gefallen war und daher zu diesem Zeitpunkt schon zweieinhalb Jahre Internierung hinter sich hatte.425 Im Laufe des Jahres 1946 wurden vierzehn Angehörige des MFP aus der Gefangenschaft entlassen, darunter im August auch der erste aus sowjetischem Gewahrsam. Einer der Ende 1946 Entlassenen war als Marineoffizier im Februar 1943 bei der Versenkung seines U-Bootes im Nordatlantik in amerikanische Gefangenschaft geraten, also auch fast vier Jahre interniert.426 Bis Ende 1947 folgten die nächsten sechs Entlassungen, im Juni 1948 eine Entlassung. Die letzten beiden bekannten Entlassungen erfolgten im April 1949 aus sowjetischer Haft. Einer der beiden war als Oberleutnant der Marine-Artillerie im Mai

424 Jules von Jouanne, Walter Schulte-Meermann, Hans Slemeyer, Johannes Sobotta und Rudolf Zingel. Bei mehreren Personen liegen Hinweise auf alliierte Kriegsgefangenschaft vor, aber keine zur Dauer oder zum Ort. Zur Quellengrundlage der Genannten siehe Anhang 2. 425 Hans Engelhardt. 426 Oberleutnant Werner Boulanger auf U 606. Boulanger (Quellengrundlage siehe Anhang 2) diente als Leutnant zur See am 1. 9. 1939 auf dem Linienschiff »Schleswig-Holstein«, das mit der Beschießung der Danziger Westerplatte den Zweiten Weltkrieg eröffnete.

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1944 auf der Krim in Gefangenschaft geraten, blickte also auf fünf Jahre Internierung zurück.427 Mit Josef Brandl flüchtete mindestens ein Angehöriger des MFP aus alliiertem Gewahrsam, Karl-Heinz Spilker entzog sich durch Identitätswechsel dem automatischen Arrest für Waffen-SS-Führer (siehe jeweils Kap. V). Beide entgingen durch die vorübergehende Annahme einer Tarnidentität einer Internierung, Brandl auch der Strafverfolgung durch die polnische Justiz. Walther Schnurr (vgl. Kap. V.4) und ein weiterer Wissenschaftler428 entschieden sich zur Auswanderung nach Südamerika. Im letztgenannten Fall scheint dabei allerdings nicht die Furcht vor alliierten Sanktionen, sondern das berufliche Interesse von maßgeblicher Bedeutung gewesen zu sein. Den entgegengesetzten Weg – nicht Flucht oder Auswanderung, sondern Kooperation mit den Alliierten – beschritten 15 Prozent des späteren ministeriellen Führungspersonals, die ab 1945 ihre Kompetenzen vorübergehend in den Dienst der westlichen alliierten Besatzungsbehörden stellten. Sie arbeiteten beispielsweise als wissenschaftlicher Verbindungsbeauftragter bei der britischen Militärregierung,429 in der Wirtschaftsverwaltung der britischen Zone,430 als Eisenbahnexperte im amerikanischen Transport Advisory Committee in Frankfurt431 und in zwei Fällen bei einem »Ministerial Collecting Center«,432 wo sie im Auftrag der Besatzungsbehörden Akten der deutschen Ministerialverwaltungen sichteten und auswerteten. Zwei Fachleute waren ab Anfang 1947 in den Behörden des vereinigten Wirtschaftsgebietes (in der Wirtschafts- und in der Verkehrsverwaltung der Bizone) eingesetzt.433 Zwei, evtl. auch drei Ingenieure mit rüstungstechnischer Kompetenz traten zeitweise in den Dienst des britischen oder US-amerikanischen Militärs.434 427 Rudolf Zingel. 428 Otto Groos (1948–1958). Zu Groos siehe auch unten S. 247 f. 429 Joachim Pretsch. 430 Erich Pohland. 431 Karl Kaißling. 432 Otto Beutler und Wilhelm Grau. 433 Erich Pohland und Walter Schulte-Meermann. 434 Der »Peenemünder« Artur Schendel (Quellengrundlage siehe Anhang 2) stand bis 1964 in britischen und US-amerikanischen Diensten. Joachim Pretsch war bis Kriegsende an der Aerodynamischen Versuchsanstalt in Göttingen und danach dann in der Forschungsabteilung der britischen Militärregierung in Göttingen, die aus der Versuchsanstalt hervorging. Somit war er von 1935 bis 1949 durchgängig im selben Institut beschäftigt. BArch, PERS 101 /82491. Georg Straimer,

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Zehn Prozent waren nach Kriegsende und vor ihrem Eintritt in das Atom- und Forschungsministerium in Forschung und Lehre oder im Schuldienst beschäftigt.435 So war Bundesminister Hans Lenz (siehe Kap.  IV.2) von 1947 bis 1950 stellvertretender Direktor einer staatlichen Musikhochschule. Zahlreiche junge Angehörige der Untersuchungsgruppe hatten kriegsbedingt ihr Studium unterbrechen müssen oder erst gar keines aufnehmen können. Rund 39 Prozent der Untersuchungsgruppe studierten daher (wieder) nach 1945. Nicht wenige Personen der untersuchten Gruppe (mindestens 17) verdienten ihren Lebensunterhalt nach 1945 vorübergehend, ob freiwillig oder notgedrungen, in der Privatwirtschaft oder in der Selbstständigkeit. Beispielsweise betrieben vier Techniker eigene Ingenieurbüros oder waren als Ingenieure beschäftigt,436 mindestens vier Juristen praktizierten zeitweilig als Anwälte.437 Fünf Personen waren phasenweise journalistisch tätig.438 In Kommunal- und Regionalverwaltungen zwischen Bremerhaven und Schongau in Oberbayern waren in den unmittelbaren Nachkriegsjahren mindestens sieben von 85 Angehörigen des MFP zumindest zeitweilig beschäftigt (darunter der Landrat Franz Josef Strauß).439 Fünf Personen standen zeitweise im Justizdienst.440 Sechs arbeiteten vor ihrem Eintritt ins Atomund Forschungsministerium in unterschiedlichen Bundesbehörden, etwa beim Statistischen Bundesamt,441 dem Bundesamt für Gewässerkunde,442 ein Fachmann für Hochfrequenzforschung (Radar), arbeitete von 1953 bis 1956  für die US Navy. Zuvor war er in leitender Funktion beim Bayerischen Roten Kreuz gewesen, vgl. BArch, B 138 /40317. 435 Dieterich, Hocker, Lehr, Lenz, Leussink, von Massow, Pretsch, Schuster, Spaeth. Quellengrundlagen siehe Anhang 2. 436 Darunter Max Mayer, vgl. Kap. V.3. 437 Otto Groos, Karl Kaißling, Rudolf Kriele, Hans Leussink, Max Mayer (Ingenieure); Wolfgang Cartellieri (vgl. unten S. 333–350), Friedrich Kolb, Ulrich MeyerCording (Anwälte). Meyer-Cording war zuvor zwischen 1946 und 1947 juristischer Hilfsarbeiter und Richter beim Amts- und Landgericht Heilbronn gewesen. 438 Wolfgang Cartellieri, Joachim Raffert (vgl. unten S. 242–244), Karl-Heinz Spilker (vgl. unten S. 390–410) und Hildegard Hamm-Brücher (vgl. unten S. 240 f.). 439 Hans Engelhardt, Erich Kreter, Max Mayer, Albert Roth, Karl-Friedrich Scheidemann und Franz Josef Strauß (vgl. unten S. 222 f.). 440 Hermann Costa, Ulrich Meyer-Cording, Max Scheidwimmer, Axel Vulpius und Dietrich Zurhorst, Quellengrundlage siehe Anhang 2. 441 Hans Kullmer, Quellengrundlage siehe ebenda. 442 Hubert Wagner, Quellengrundlage siehe ebenda.

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dem Bundesrechnungshof443 oder der Bundesbahn.444 Knapp 20 Prozent des Samples waren vor ihrem Eintritt ins Atom- und Forschungsministerium in Behörden oder Ministerien auf Landesebene beschäftigt – vom bayerischen Patentamt über das Innenministerium von Nordrhein-Westfalen bis zum Kultusministerium von Niedersachsen.445 Erheblich größer war mit rund 55 Prozent der Anteil der Personen, deren Weg über andere Bundesministerien ins Atom- und Forschungsministerium führte. Allein zehn kamen aus dem Bundesministerium für Wirtschaft,446 fünf aus dem Bundesministerium des Innern,447 und je vier aus den Bundesministerien der Justiz,448 der Verteidigung449 und der ­Finanzen.450 Auch aus dem Bundeskanzleramt kamen vier Angehörige des MFP ins Atom- und Forschungsministerium.451 So hatte Ministerialdirektor Dr. Wilhelm Grau im Bundeskanzleramt, bei dem vor der Gründung des Ministeriums für Atomfragen die Zuständigkeit für Atomforschung und -politik lag, bereits 1954 eine »Kernenergiekommission« organisiert, aus der die Deutsche Atomkommission entstand.452

443 Rudolf Kriele. 444 Karl Kaißling. 445 Darunter Wilhelm Grau, die spätere Staatssekretärin Hildegard Hamm-Brücher und der spätere Staatssekretär Hans von Heppe, vgl. Kap. IV.2. 446 Siegfried Clodius, Wolfgang Finke, Bernhard Gaedke, Werner Haase, Gernot Heyne, Friedrich Kolb, Walther Kumpf, Erich Pohland, Joachim Pretsch und Leo Prior. Quellengrundlagen siehe Anhang 2. 447 Erich Kreter, Rudolf Kriele, Maximilian Motz, Karl-Friedrich Scheidemann und Axel Vulpius. Quellengrundlagen siehe ebenda. 448 Ernst-Wilhelm Blatzheim, Hermann Costa, Ulrich Meyer-Cording und Konrad Petersen. Quellengrundlagen siehe ebenda. 449 Bzw. aus dem Amt Blank. Josef Brandl, Wolfgang Cartellieri, Max Mayer und Fritz-Rudolf Güntsch. Quellengrundlage Güntsch siehe ebenda. 450 Hans Schramm, Werner Schramm, Arnim Spaeth und Dietrich Westermann. Quellengrundlagen siehe ebenda. 451 Otto Beutler, Wilhelm Grau, Rudolf Kriele und Albert Roth. Zu Kriele, der speziell angefordert wurde, vgl. BArch, PERS 101 /82482, PERS 101 /82477 sowie R  5 /8634 (»Anstellungen, Ernennungen und Beförderungen, zu denen die Zustimmung der Reichsregierung erforderlich war. 1939–1939«). Vgl. auch demnächst Gunnar Take: Personal und Personalpolitik des Bundeskanzleramts 1949–70 [erscheint 2023]. 452 BArch, B 136 /2041.

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Art. 131 GG Im Jahr 1950 hatten in der Bundesrepublik nach Berechnungen des Statistischen Amtes des Vereinigten Wirtschaftsgebietes rund 240.000 Beamte Anspruch auf eine Wiedereinstellung in den Öffentlichen Dienst gemäß Art. 131 GG.453 Dieser Grundgesetzartikel sollte die Versorgung oder Wiederverwendung von Angehörigen des Öffentlichen Dienstes sichern, die als Flüchtlinge und Vertriebene, ehemalige Berufssoldaten oder auch im Zuge eines Entnazifizierungsverfahrens ihre berufliche Position eingebüßt hatten.454 Das am 10.  April 1951 vom Bundestag nahezu einstimmig verabschiedete Ausführungsgesetz »zur Regelung der Rechtsverhältnisse der unter Artikel 131 des Grundgesetzes fallenden Personen« sicherte allen noch nicht pensionierten entlassenen oder vertriebenen Beamten den Status eines Beamten »zur Wiederverwendung« sowie ihre alte Amtsbezeichnung zu.455 Wer mindestens zehn Dienstjahre bis 1945 vorweisen konnte, bekam ein Ruhegehalt bis zur Wiedereinstellung. Zeitgenössisch wurde diese Gruppe als »verdrängte […] Angehörige des öffentlichen Dienstes und die ehemaligen Wehrmachtbeamten und aktiven Offiziere«456 bezeichnet. Tatsächlich befanden sich unter den Anspruchsberechtigten insgesamt gut 55.000 aufgrund der Entnazifizierung Entlassene.457 453 Vgl. Wolfgang Langhorst, Beamtentum und Artikel 131 des Grundgesetzes. Eine Untersuchung über Bedeutung und Auswirkung der Gesetzgebung zum Artikel 131 des Grundgesetzes unter Einbeziehung der Position der SPD zum Berufs­ beamtentum, Frankfurt a. M. 1994, S. 92. 454 Vgl. Torben Fischer/Matthias N. Lorenz, (Hrsg), Lexikon der »Vergangenheitsbewältigung« in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozia­ lismus nach 1945, Bielefeld 2015, S. 94–96; Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1997, S. 69–100; Joachim Perels, Entsorgung der NS-Herrschaft? Konfliktlinien im Umgang mit dem Hitler-Regime, Hannover 2004, S. 137–147; James M. Diehl, The Thanks of the Fatherland. German Veterans After the Second World War, Chapel Hill 1993, S. 141–162; Wengst, Beamtentum, S. 152–252; für das BMI: Dominik Rigoll, »Ein Sieg der Ehemaligen«. Beamtenrechtliche Weichenstellungen für »45er« und »131er«, in: Bösch / Wirsching (Hrsg.), Hüter der Ordnung, S. 413–441. 455 Statistische Erhebungen des BMI und des Statistischen Amtes des Vereinigten Wirtschaftsgebietes zu den »verdrängten« Beamten aus dem Jahr 1950 finden sich unter BArch, N 1244 /24, und BArch, B 106 /7643. Für das erst 1955 gegründete BMAt sind sie nur von indirekter Relevanz. 456 R. Strobel, Die enttäuschten 131er, in: Die Zeit, 13. 12. 1951. 457 Vgl. Frei, Vergangenheitspolitik, S. 70 f. In der amerikanischen Besatzungszone war eine Zeit lang jeder Beamte entlassen worden, der vor dem 1. Mai 1937 in die NSDAP eingetreten war. Vgl. ebenda, S. 87.

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Faktisch führte Art. 131 GG nun, gestützt durch eine einflussreiche J­uristen- und Beamtenlobby  – etwa den »Bund der verdrängten Beamten im Deutschen Beamtenbund«  – vielfach zu einer Revision der Ergebnisse der Entnazifizierung und zu einer ausgeprägten personellen Kontinuität im Öffentlichen Dienst und vor allem in der Justiz.458 Der Buchenwald-Überlebende Eugen Kogon sah die »131er«-Gesetzgebung gar als den Ausdruck eines »Sieg[es] der Ehemaligen« über die progressiven demokratischen Kräfte in der Bundesrepublik.459 Zweifellos musste die Wiedereinsetzung unzähliger »131er« in ihrer vergangenheitspolitischen Dimension als der Versuch verstanden werden, unter die von Adenauer als »Naziriecherei«460 verunglimpfte personelle Aufarbeitung des NS-Unrechts einen »Schlussstrich« zu ziehen. Auch wenn Art. 131 GG den zaghaft begonnenen Austausch der bundesdeutschen Funktionseliten beendete, kam es zu keiner »Restauration« oder gar »Renazifizierung«.461 Dennoch ist dem Urteil Norbert Freis beizupflichten, dass durch die »131er«-Praxis ein »Zugewinn an politischer Stabilität« mit einem »Verlust an moralischer Glaubwürdigkeit bezahlt« wurde.462 Das Ausführungsgesetz sah vor, dass mindestens 20 Prozent aller Planstellen auf Bundesebene mit »131ern« besetzt werden mussten. Bis die Quote erfüllt war, durften bei Neueinstellungen ausschließlich »131er« berücksichtigt werden. Nach einer Erhebung von 1953 waren in diesem Jahr in den Bundesministerien insgesamt rund 30 Prozent aller Planstellen mit »131ern« besetzt. Keine Bundesbehörde hatte eine Quote unter 25 Prozent. Im Auswärtigen Amt waren es knapp 40 Prozent, im Bundesministerium des Innern 42 Prozent, im Bundesministerium für Wohnungsbau 60 458 Vgl. Rigoll, »Sieg der Ehemaligen«, S. 421. 459 Unter den »Ehemaligen« verstand Kogon hier allerdings nicht nur Nationalsozia­ listen, sondern ebenso »einfallslose« Demokraten und Nationalisten. Vgl. Eugen Kogon, Beinahe mit dem Rücken an der Wand, in: Frankfurter Hefte 9 (1954), S. 641–645, hier S. 641, und Frei, Vergangenheitspolitik, S. 99 f. 460 Zitiert nach ebenda, S. 86. Zur »vergangenheitspolitische[n] Dimension« vgl. auch Görtemaker / Safferling, Akte Rosenburg, S. 157. 461 Vgl. Claudia Fröhlich, Restauration. Zur (Un-)Tauglichkeit eines Erklärungsansatzes westdeutscher Demokratiegeschichte im Kontext der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit, in: Glienke, Stephan Alexander (Hrsg.), Erfolgsgeschichte Bundesrepublik? Die Nachkriegsgesellschaft im langen Schatten des Nationalsozialismus, Göttingen 2008, S. 17–52; Dominik Rigoll, Von der Entnazifizierung zur Renazifizierung?, in: Bösch / Wirsching (Hrsg.), Hüter der Ordnung, S. 468–485; Ulrich Brochhagen, Nach Nürnberg. Vergangenheitsbewältigung und Westintegration in der Ära Adenauer, Hamburg 1994, S. 215 f. 462 Vgl. Frei, Vergangenheitspolitik, S. 100.

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Prozent und im Vertriebenenministerium sogar fast 75 Prozent.463 Da sich die einzelnen Ministerien allerdings erheblich in ihrer Größe unterschieden, verfügen die blanken Prozentzahlen allein nur über begrenzte Aus­ sagekraft. Hinter den 75 Prozent des letztgenannten Ministeriums verbargen sich nur 47 von 63 Planstellen, die 30 Prozent des Finanz­ministeriums resultierten dagegen aus über 10.400 von 34.400 Planstellen.464 Wie viele Angehörige des ministeriellen Führungspersonals auf der Grundlage des Art. 131 GG insgesamt in das erst 1955 gegründete Atomund Forschungsministerium kamen und wie viele NS-Belastete unter diesen »131ern« waren, ließ sich aufgrund der begrenzten Ressourcen dieses Projektes nicht klären. Zahlreiche Beamte führten ihre Ansprüche nach Art. 131 GG nicht in ihren Personalbögen an.465 Sicher bekannt ist es bislang nur bei lediglich sechs Personen, darunter der in Kapitel V.1 behandelte Josef Brandl. Fast zeitgleich mit dem »131er«-Gesetz trat Anfang 1951 auch das »Bundesgesetz zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts für Angehörige des öffentlichen Dienstes« in Kraft, durch das in der NS-Zeit aus politischen und rasseideologischen Gründen entlassene Beamte entschädigt und nach Möglichkeit wieder eingestellt werden sollten.466 Die Kopplung dieses Gesetzes an das »131er«-Gesetz war kein Zufall, sondern ein letztlich zynisches Deckmäntelchen für die tatsächlich bevorzugte Wiedereinstellung potentiell Belasteter. Anders als für die »131er« gab es für die Wiedereinstellung von Emigranten und nach 1933 Entlassenen keine Quote. Aufgrund der späten Gründung kam es im Atom- und Forschungs­ ministerium, anders als in anderen Bundesministerien, nicht zu der von Eugen Kogon beklagten Verdrängung von unbelasteten »45ern« durch belastete »131er«.467 Unter den »45ern« verstanden Zeitgenossen von den Alliierten 1945 eingesetzte, politisch unverdächtige Seiteneinsteiger oder Remigranten, die in den folgenden Jahren mit der vorgeschobenen Begründung mangelnder Sachkenntnis in der Regel wieder aus dem Amt gedrängt wurden. Soweit bekannt, befand sich unter den Angehörigen der 463 Vgl. Langhorst, Beamtentum, S. 192 f. Zu Art. 131 GG im BMJ vgl. Görtemaker /  Safferling, Akte Rosenburg, S. 154–172, zum AA vgl. Conze/Frei/Hayes/Zimmermann, Das Amt, S. 533–546. 464 Vgl. Görtemaker / Safferling, Akte Rosenburg, S. 166. 465 Vgl. auch I. Stange, Das Bundesministerium des Innern, S. 89, und Görtemaker / Safferling, Akte Rosenburg, S. 164. 466 Vgl. Frei, Vergangenheitspolitik, S. 69–100. 467 Vgl. Kogon, Rücken, S. 642.

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Untersuchungsgruppe im Atom- und Forschungsministerium kein einziger »45er«.468 Die Diskriminierung der »45er« spielte im Fall des Atomministeriums nur insofern eine Rolle, als ihnen durch die bereits erfolgte Ausschaltung vor 1955 schon die Chance genommen worden war, eine Karriere im BMAt einzuschlagen. Personen, die aus politischen oder rasseideologischen Gründen in die Emigration gezwungen worden waren und nun Anspruch auf Wiederbeschäftigung geltend machten, finden sich unter den Angehörigen des ministeriellen Führungspersonals des BMAt nicht. Wie das Beispiel etwa des Auswärtigen Amtes zeigt, wurde Remigranten in der bundesdeutschen Ministerialbürokratie häufig mit Misstrauen und klandestiner Ablehnung begegnet, da ihnen das Odium des Landesverrates anhing.469 Zweifellos hätte mit den Remigranten ein juristisch und verwaltungstechnisch hervorragend geschultes Personalreservoir für den demokratischen Neuaufbau des Öffentlichen Dienstes zur Verfügung gestanden. Das häufig zitierte Argument Adenauers, man schütte »kein dreckiges Wasser aus, wenn man kein reines«470 habe, war nicht zynisch-pragmatisch, sondern falsch.471 Ob Remigranten eine Laufbahn im BMAt aktiv verwehrt wurde, oder ob sie sich nicht bewarben, muss mangels überlieferter Quellen offenbleiben.

Eintritt in das Atom- und Forschungsministerium Etwaige Tätigkeiten in der Rüstungs- und Kriegswirtschaft oder der Verwaltung vor 1945 wurden bei der Einstellung ins Atomministerium nicht als Belastung oder gar Einstellungshindernis gesehen. Im Gegenteil wurde, wie der in Kapitel V ausführlich betrachtete Fall Josef Brandl zeigt, NSVerwaltungserfahrung von ihrem politischen Kontext losgelöst betrachtet und begrüßt. In der Untersuchungsgruppe finden sich mindestens neun aufgrund ­ihrer fachlich einschlägigen, teilweise auch rüstungstechnischen Expertise neu eingestellte Naturwissenschaftler und Ingenieure. Etwa ein Wissen468 Anders im Auswärtigen Amt, wo sich im Jahr 1950 unter 137 Mitarbeitern des höheren Dienstes 29 Verfolgte des NS-Regimes fanden. Vgl. Conze/Frei/Hayes/ Zimmermann, Das Amt, S. 493. 469 Vgl. ebenda, S. 538–558. 470 Konrad Adenauer, Teegespräche, 1950–1954, bearb. von Hanns Jürgen Küsters, Berlin 1984, S. 245. 471 Vgl. etwa Conze/Frei/Hayes/Zimmermann, Das Amt, S. 494, und Bösch / Wirsching, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Hüter der Ordnung, S. 13–26, hier S. 17.

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schaftler, der seine Raketenbaukompetenz aus Peenemünde mitbrachte,472 ein Ingenieur, der sich wissenschaftlich mit der Minenräumung befasst hatte,473 mindestens ein Arzt und ein Physiker, die sich im Atomministerium mit dem Strahlenschutz beschäftigten,474 oder ein führender Computer-Pionier.475 Wie oben gezeigt, kamen zahlreiche Ministerialbeamte aufgrund ihrer einschlägigen Kompetenzen aus anderen Ressorts ins neugegründete Atomministerium, wie etwa 1956 der Chemiker Erich Pohland und der Aeronautikfachmann Joachim Pretsch, die beide auf Betreiben Franz Josef Strauß’ aus dem Wirtschaftsministerium abgeordnet wurden,476 genau wie im folgenden Jahr der Jurist Gernot Heyne477 aus demselben Ressort. Heynes Fall zeigt, dass die Beamten oftmals regelrecht abgeworben wurden. So hieß es im November 1956 in einem S­ chreiben aus dem Atomministerium an das Bundeswirtschaftsministerium: »Bei der Suche nach geeigneten Mitarbeitern für mein Haus wurde ich auf den bei Ihnen tätigen Dipl.-Volkswirt Dr. Heyne aus Bad Godesberg aufmerksam gemacht.«478 Das Atomministerium forderte Heynes Personalakte an und stellte ihn letztlich ein. Dass Ministerialbeamte entsprechend ihrer Kompetenzen eingesetzt wurden, ist nicht weiter bemerkenswert. Ministerialrat Konrad Petersen, der ab 1963 im damaligen Bundesministerium für wissenschaftliche Forschung für Fragen der Forschungsförderung zuständig war, hatte denselben Bereich zuvor bereits im Bundesministerium der Justiz betreut.479 Der Physiker Joachim Pretsch hatte im Bundeswirtschaftsministerium das Referat II D 2 »Forschung und Forschungskontrolle« geleitet, bevor er 1956 ins damalige BMAt eintrat, um dort das Referat II A 1 »technische Nutzung der Atomenergie« zu übernehmen.480 Und Ministerial­dirigent Wilhelm Grau hatte  – wie erwähnt  – im Bundeskanzleramt dem Referat 9 (Wissenschaftliche Forschung) vorgestanden und war ab 1954 an der Gründung der späteren deutschen Atomkommission beteiligt gewesen. So war es nur folgerichtig, dass er 1955 als »Stellvertreter des Ministers«

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Artur Schendel. Siegfried Clodius. Hans Brieskorn und Hermann Dieterich. Fritz-Rudolf Güntsch. BArch, PERS 101 /73600, Bl. 4–6. BArch, B 138 /40317. BArch, PERS 101 /73344, Dr. Gernot Heyne. BArch, B 106 /114666, B 138 /40317. BArch, B 106 /114667, B 138 /27428, B 138 /40317.

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ins Atomministerium wechselte.481 Im Schulsektor, als Leiter der Unterabteilungen Schule und Weiterbildung (1970) bzw. Förderung im Schulbereich (1973), wurden mindestens zwei ehemalige Lehrer eingesetzt, die zuvor auf Länderebene in Kultusministerien tätig gewesen waren.482 Ein Journalist wurde Leiter der Pressestelle des Bundesministeriums für Atom­fragen.483 Auch die Bekanntschaft zu Franz Josef Strauß oder eine gewisse CSUAffiliation konnte in das Atomministerium führen. Zweifellos war das bei Karl-Heinz Spilker der Fall, Strauß’ persönlichem Referenten (vgl. Kap. V.5). Auch bei einem kommissarischen Generalsekretär der CSU,484 einem CSU-Landrat485 und einem Münchner Juristen486 liegt diese Vermu­ tung nahe.

Karrieren im Ministerium Vielfach bestätigen die Karriereverläufe innerhalb des Ministeriums das Bild von der universalen Verwendbarkeit von Rechtswissenschaftlern ­innerhalb von Verwaltungen. In einem Dienstzeugnis hieß es 1957 über einen Mitarbeiter, er habe »sich als ein kenntnisreicher und vielseitig verwendbarer, auch in Verwaltungsangelegenheiten geübter Jurist erwiesen, der gleichzeitig ein besonderes Verständnis für wirtschaftliche Zusammenhänge« besäße.487 Juristen bearbeiteten, wie zu erwarten, häufig Rechts-, Verwaltungs- und Wirtschaftsangelegenheiten, wechselten aber auch oft Fachgebiete. So begann Max Scheidwimmer zum Beispiel seine Tätigkeit im BMAt 1956 im Referat für Rechtsangelegenheiten. 1970 lei481 BArch, B 106 /11466, B 138 /40317. 482 Karl Roeloffs (Nordrhein-Westfalen) und Hans Rommel (Hessen). Quellengrundlagen siehe Anhang 2. 483 Albrecht Weber, Quellengrundlage siehe ebenda. 484 Heinz Lechmann, Generalsekretär des Wirtschaftsbeirats der CSU und 1954 /55 auch kurzzeitig kommissarischer Generalsekretär der CSU. Seit 1956 im BMAt, vorübergehend auch Geschäftsführer der Deutschen Atomkommission. 485 Hans Engelhardt, CSU-Politiker, Landrat von Hilpoltstein. Im BMAt Leiter des Referates 1 (Generalreferat). Eine Kurzbiographie Engelhardts findet sich in: Die CSU 1945–1948. Protokolle und Materialien zur Frühgeschichte der ChristlichSozialen Union, Bd. 3: Materialien, Biographien, Register, hrsg. im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte von Barbara Fait und Alf Minzel unter Mitarbeit von Thomas Schlemmer, München 1993, S. 1860. 486 Max Scheidwimmer. 487 Entwurf Zeugnis Gernot Heyne vom 7. 11. 1957, BArch, PERS 101 /73344.

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tete er die Unterabteilung für Sicherheit und Strahlenschutz.488 Hans Schramm fand sich 1963 in der Zuständigkeit für die Europäische Organisation für Weltraumforschung wieder,489 und Walter Schulte-Meermann, der aus dem Verkehrsministerium kam, war ab 1959 Leiter der Unterabteilung für Internationale Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Kernenergie und Kernforschung.490 Vom Wechsel des Juristen Wilhelm Grau aus dem Bundeskanzleramt ins Atomministerium war bereits die Rede. Nachdem er Ende 1958 vorübergehend zum Ausbau der Reaktorstation Karlsruhe freigestellt worden war, übernahm er 1959 die Leitung der Abteilung Binnenschifffahrt im Bundesverkehrsministerium. Ähnliche Sprünge finden sich vereinzelt auch in der Gruppe der Techniker: Ministerialrat Helmut Schug, ursprünglich Lehrer und Ingenieur, befasste sich 1964 mit Satelliten-Ortungsanlagen, 1977 mit Raumflugtechnologien und ab 1980 mit Kernreaktoren.491 Der Physiker Hans-Günther Schuster, ebenfalls ein ehemaliger Lehrer, war ab 1966 mit der Entwicklung von Kernreaktoren befasst.492 Grundsätzlich lässt sich aber feststellen, dass Techniker im Gegensatz zu den flexiblen Juristen eher dauerhaft entsprechend ihres jeweiligen Fachgebietes eingesetzt wurden.

Zeit nach der Tätigkeit im Atom- und Forschungsministerium Für viele Angehörige des MFP war das Atom- und Forschungsministerium nur eine Zwischenstation innerhalb ihrer ministeriellen Laufbahn. Mindestens zehn Personen wechselten während des Betrachtungszeitraumes in ein anderes Bundesministerium.493 Teilweise resultierte der Wechsel auch aus geänderten Ressortzuschnitten. Als die Zuständigkeit für die Wasserwirtschaft 1962 vom Forschungs- ins Gesundheitsministerium wanderte, zogen auch der Leiter der Unterabteilung Walther Kumpf sowie die Referatsleiter Siegfried Clodius, Jules von Jouanne und Hubert Wagner mit ins Gesundheitsressort. Seltener kam es zum Wechsel in Bun488 BArch, B 138 /27428, B 138 /40317. 489 BArch, B 106 /114667, B 138 /40317, B 138 /40318. 490 Zur Quellengrundlage Schulte-Meermann siehe Anhang 2. 491 BArch, B 106 /114667, B 138 /40317. 492 BArch, B 126 /17040, B 138 /27428, B 138 /40317. 493 Blatzheim (BMF), Clodius (BMG), Dieterich (BMG), Heyne (BMWi), von Jouanne (BMG), Kumpf (BMG), Meyer-Cording (BMWi), Petersen (BM Jugend, Familie, Gesundheit), Sauer (AA, abgeordnet zur EG. Quellengrundlage siehe Anhang 2), Wagner (versetzt ins BMG, BMI, BMWi).

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des- oder Landesbehörden, der formal nach der Beschäftigung in einem Bundesministerium als Abstieg betrachtet werden konnte.494 Wichtiger noch als der Weg vom Atom- und Forschungsministerium in andere Bundesressorts war der Übertritt in nationale und internationale Forschungsinstitutionen. Dabei zeigte sich, dass das Ministerium auch als eine Art Relaisstation diente, von der aus die Bonner Atom- und Forschungspolitik in größere wissenschaftspolitische Zusammenhänge diffundierte. Sechs Personen der untersuchten Gruppe fanden im nationalen Rahmen in Forschungsinstitutionen oder in der Lehre neue einflussreiche Wirkungsmöglichkeiten: Erich Kreter avancierte 1969 zum Leiter der Zentralverwaltung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG),495 Karl-Friedrich Scheidemann wurde 1976 Repräsentant der Max-PlanckGesellschaft (MPG),496 Günter Lehr ging ans Max-Planck-Institut für Plasmaphysik in Garching,497 Rudolf Kriele 1964 als Geschäftsführer zur Gesellschaft für Strahlenforschung,498 Karl Kaißling 1966 zur Wissenschaftlichen Gesellschaft für Luft- und Raumfahrt e. V. (WGLR),499 und Rudolf Zingel wechselte an die Spitze der Universität Marburg500. An der Schnittstelle zwischen Forschung und Atomwirtschaft arbeiteten seit 1960 bzw. 1961 Walther Schnurr und Josef Brandl in führender Stellung in der Gesellschaft für Kernforschung in Karlsruhe (siehe ausführlich Kap. V.1 und V.4) und im Kernforschungszentrum Jülich Alexander Hocker ab 1961 sowie ab 1969 Hans Slemeyer als Geschäftsführer.501 Vier Personen wechselten aus dem Atom- und Forschungsministerium in internationale Atomorganisationen: Walter Funck ging 1962, Albrecht Weber 1963 zu EURATOM, Erich Pohland wurde 1960 als General­ direktor zur internationalen Wiederaufbereitungsanlage Eurochemic nach Belgien abgeordnet, Walter Schulte-Meermann saß seit 1965 dem Finanzausschuss der Europäischen Organisation für Kernforschung (CERN)

494 Hans Kullmer beim Statistischen Bundesamt, Albrecht Weber beim Bundesrechnungshof. 495 Erich Kreter (Quellengrundlage siehe Anhang 2), 1969. 496 Quellengrundlage Karl-Friedrich Scheidemann siehe ebenda. 497 Quellengrundlage Lehr siehe ebenda. 498 Quellengrundlage Rudolf Kriele siehe ebenda. 499 Quellengrundlage Karl Kaißling siehe ebenda. 500 1962 als Verwaltungsdirektor, später als Kanzler, ab 1971 als Präsident der Universität Marburg. 501 Quellengrundlage Slemeyer siehe Anhang 2.

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vor und vertrat ab 1967 die Bundesrepublik bei der IAEO.502 Alexander Hocker, der – wie eben erwähnt – das Ministerium bereits 1961 verlassen hatte, wurde 1971 Generaldirektor der European Space Research Organisation (ESRO).503

Fazit Welche Besonderheiten lassen sich nun hinsichtlich der Beschäftigten des Atom- und Forschungsministeriums und deren Karrierewegen konsta­ tieren? An erster Stelle ist die auffällige Fraktionierung des erfassten Führungspersonals (ab Jahrgang 1927) in Juristen (2 /5) einerseits und Naturwissenschaftler und Techniker (1 /2) andererseits anzuführen, die aus der spezifischen Aufgabenstellung des Ressorts resultierte. Etwa die Hälfte dieser Untersuchungsgruppe hatte bereits vor 1945 in einer beruflichen Tätigkeit gestanden, ganz überwiegend im Öffentlichen Dienst auf Reichs-, Länder-, regionaler oder kommunaler Ebene. Nur sehr wenige spätere Führungspersonen im Atom- und Forschungsministerium waren bis 1945 in Vorläuferinstitutionen tätig. Aus dem früheren Reichserziehungsministerium kam kein einziger Angehöriger des MFP. Indirekte personelle ­Kontinuitäten gab es am ehesten im Bereich der Luftfahrt- und Rüstungsforschung, bei der Atomforschung – anders, als vielleicht zu erwarten gewesen wäre –, überhaupt keine. Führungserfahrungen wurden bis 1945 häufig in militärischen Positionen gesammelt. Während des Zweiten Weltkrieges dienten über die Hälfte der späteren Beschäftigten als Offiziere oder höhere Wehrmachtbeamte in zumeist technischen Truppenteilen. Während ersteres für die Ange­ hörigen einer Funktionselite nicht überrascht, kann letzteres als Indiz für ein besonderes technisches Interesse der späteren Ministerialbeschäf­ tigten interpretiert werden. Knapp ein Fünftel der Untersuchungsgruppe wurde vorübergehend oder dauerhaft aufgrund ihrer administrativen, wirtschaftlichen oder wissenschaftlichen Tätigkeit als »unabkömmlich« vom Kriegsdienst zurückgestellt. Die Jahre zwischen Kriegsende und Gründung der Bundesrepublik bzw. Eintritt in den Ministerialdienst, die in der Regel eine mehr oder minder lange Unterbrechung der beruflichen Karriere mit sich brach502 Zu Walter Schulte-Meermann vgl. unten S. 252, Anm. 195. Quellengrundlage Erich Pohland siehe Anhang 2. 503 Quellengrundlage Hocker siehe ebenda.

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ten, konnten im Rahmen der vorliegenden Untersuchung nur in wenigen ausgewählten Fällen genauer verfolgt werden. Hierzu sei auf die exemplarischen biographischen Skizzen in Kapitel V verwiesen. Dies gilt auch für den Umstand, dass etwaige Tätigkeiten im Öffentlichen Dienst während der NS-Herrschaft bei der Einstellung in den Ministerialdienst nicht grundsätzlich als potentiell belastend, sondern als willkommene administrative Erfahrung bewertet wurden.504 Dass das Atomministerium erst im Jahr 1955 gegründet wurde, hatte mehrere Konsequenzen: Zum einen verhinderte dies eine anderen Bundesministerien analoge personelle Kontinuität zu Vorgängerinstitutionen der NS-Zeit, zum anderen führte der mit der späten Einrichtung des Hauses verbundene Übertritt von geeigneten Fachleuten aus anderen Ressorts dazu, dass bis 1972 insgesamt rund 55 Prozent der Angehörigen des MFP aus anderen Bundesministerien ins Atom- und Forschungsministerium kamen. Die Zahl der nach Art. 131 GG Beschäftigten im Atom- und Forschungsministerium ließ sich nicht abschließend feststellen. In der Untersuchungsgruppe fand sich kein einziger Remigrant oder nach 1933 aus politischen Gründen Verdrängter, der im Atom- und Forschungsministerium wieder eingestellt worden wäre. Für zahlreiche Ministerialbeamte war das eher unbedeutende Atomund Forschungsministerium nur eine Durchgangsstation innerhalb ihrer beruflichen Karriere. In neun Fällen folgte noch während des untersuchten Zeitraums bis 1972 ein Übertritt in ein anderes Bundesressort. Noch häufiger (13 Fälle) war der Wechsel in eine nationale oder internationale Forschungseinrichtung.

504 Vgl. auch Görtemaker / Safferling, Akte Rosenburg, S. 118.

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III. Der historische Ort der eigenen Politik:

Diskursgeschichte der ministeriellen ­Außendarstellung

Forschungsminister Gerhard Stoltenberg (CDU) ergriff am 12. Oktober 1966 im Deutschen Bundestag das Wort, um eine Große Anfrage zu den beiden zentralen wissenschaftspolitischen Zuständigkeiten seines Ministeriums zu beantworten, der »Kernenergie« und der »Weltraumforschung«. »Beide«, so führte Stoltenberg zu Beginn seiner Rede aus, »beruhen in wichtigen Grundlagen auf der Arbeit deutscher Forscher vor ein bis zwei Generationen und beide verzeichnen heute durch die politischen Hypotheken der Vergangenheit immer noch einen Rückstand der deutschen Entwicklung.« »Dieser Rückstand«, so Stoltenberg weiter, sei »eine Tatsache, die wir nicht leicht nehmen sollten«.1 Zur Veranschaulichung griff der gelernte Historiker Stoltenberg weit aus: »Kernkraftwerke, Weltraumstationen und Erkundungsflüge zu fernen Planeten« zählten zu den »Realitäten unserer Tage«, deren »geschichtliche Wirkung« mit der »Einführung der Feuerwaffen«, der »Entdeckung der Seewege nach Amerika und Ostindien« und der »Entwicklung der Buchdruckkunst vor fünfhundert Jahren« gleichzusetzen seien. »Anhaltende Rückständigkeit« in den Bereichen der Kernenergie und der Weltraumforschung, so rundete Stoltenberg seine Argumentation ab, bedeute daher »nicht nur ein wissenschaftliches oder technisches Manko auf Spezialgebieten, sondern eine schwere Hypothek für die politische und wirtschaftliche Zukunft unseres Landes.«2 In diesem Redeausschnitt sind wie in einem Brennglas wesentliche Topoi des Diskurses erkennbar, der von Mitte der 1950er bis in die späten 1960er Jahre in der Außendarstellung des Atom- und Forschungsministeriums gepflegt wurde: erstens der Bezug auf die grundlegende deutsche Forschungstradition, zweitens der diffuse Hinweis auf die »Hypotheken« der NS-Vergangenheit, drittens die Formel vom aktuellen technologischen Rückstand Deutschlands, viertens die Aufladung der Atom- und Weltraumforschung mit geradezu existentieller Bedeutung und schließ1 Verh. Bundestag, 5. WP, 64. Sitzung, S. 3087. 2 Ebenda.

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lich fünftens die allgegenwärtige Ausrichtung auf die Gestaltung der Zukunft. Diese Topoi werden im Folgenden immer wieder anzutreffen sein. Erst Ende der 1960er Jahre und Anfang der 1970er Jahre zeigen sich in der Außendarstellung neue Akzente, die auch – aber nicht nur – mit den neuen bildungspolitischen Kompetenzen des Ministeriums zu tun haben. Hierauf wird ebenfalls einzugehen sein. Grundlegende Aufgabe des Atom- und Forschungsministeriums war es, die technologische und wirtschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik auf Gebieten mitzugestalten, denen für die Zukunft eine entscheidende Bedeutung zugemessen wurde. Insofern ist es nicht überraschend, dass in der Außendarstellung des Ministeriums der eigenen historischen Verortung eine hohe Bedeutung zukam. Diese Außendarstellung richtete sich generell an die bundesdeutsche Politik und Öffentlichkeit und in spezieller Weise an den Bundestag, der den Etat des Ministeriums zu bewilligen hatte und der gegenüber dem Ressort parlamentarische Kontrollmöglichkeiten besaß. Punktuell ist auch eine für das Ausland bestimmte Zielrichtung erkennbar. Die Außendarstellung erfolgte in einer Reihe charakteristischer Formate, die im Folgenden die Quellengrundlage bilden: Tätigkeits- bzw. Jahresberichte des Ministeriums und darin insbesondere die Vorworte der Minister,3 eigenständige Publikationen von Ministern und Staatssekretären, die oftmals auf Vorträge zurückgehen, sowie Artikel, abgedruckte Reden und Interviews in Medien, Äußerungen von Ministern und Staatssekretären in Kabinettssitzungen, in Plenardebatten und in den fachlich einschlägigen Ausschusssitzungen des Bundestags4 sowie 3 Die Berichte sind ursprünglich innerhalb der Tätigkeitsberichte der Bundes­ regierung erschienen, die wechselnde Reihentitel tragen (Deutschland im Wiederaufbau 1949 /50–1959, Deutsche Politik 1960–1966, Jahresbericht der Bundes­ regierung seit 1967). Im Folgenden wird nach diesen Reihen zitiert. Diese Quellen sind in Sonderdrucken auch als separate Jahresberichte des Ministeriums publiziert worden, die ebenfalls unterschiedliche Titel besitzen: Tätigkeitsbericht des Bundesministeriums für Atomfragen 1956; Jahresbericht des Bundesministeriums für Atomkernenergie und Wasserwirtschaft 1957–1960; Jahresbericht des Bundes­ ministeriums für Atomkernenergie 1962; Jahresbericht des Bundesministeriums für Wissenschaftliche Forschung 1962–1968; Jahresbericht, hrsg. vom Bundes­ ministerium für Bildung und Wissenschaft 1969–1972. Ab dem Jahresbericht 1971 gibt es keine Vorworte mehr; die entsprechenden Inhalte finden sich aber in den ungezeichneten ersten Kapiteln, die jeweils mit plakativen Überschriften versehen sind. – Wie aus den Akten hervorgeht, wurde an den Berichten im Ministerium jeweils sehr intensiv gearbeitet. Vgl. z. B. BArch, B 138 /1. 4 Es handelt sich um den Ausschuss für Atomfragen (2. WP), den Ausschuss für Atomkernenergie und Wasserwirtschaft (3. und 4. WP), den Ausschuss für Wissenschaft, Kulturpolitik und Publizistik (5. WP) und den Ausschuss für Bildung und

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schließlich die ressortintern verfasste, aber nach außen gerichtete Ministeriumsgeschichte des Ministerialbeamten Johannes Sobotta aus dem Jahr 1969.5 Das folgende Kapitel skizziert und analysiert die in diesen Quellen erkennbaren Diskurse über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Von besonderem Interesse sind immer wieder vorkommende Begriffe, Topoi und Narrative sowie argumentative Verknüpfungen. Da die ministeriellen Diskurse nicht im luftleeren Raum stattfanden, ist stets eine gewisse Kontextualisierung unserer Befunde notwendig. Dies geschieht in doppelter Hinsicht: Zum einen soll bei wichtigen Aspekten der Bezug zum größeren Diskursrahmen der bundesdeutschen Politik und Öffentlichkeit hergestellt werden. Dies erscheint auch deshalb notwendig, weil die ausgewerteten Quellen in unterschiedlichen Zeitphasen für unterschiedliche Bereiche des politischen Spektrums stehen. Bis 1969 handelt es sich grob gesagt um das liberal-konservative Lager von CDU/CSU und FDP, von 1969 bis 1972 stammen die Texte dann von Sozialdemokraten bzw. von einem der Sozialdemokratie nahestehenden Minister (Hans Leussink). Zum anderen wird bei einer Reihe von Schlüsselbegriffen der Vergleich mit der generellen deutschen Sprachentwicklung gezogen. Aufschlussreiche Hinweise auf die zeitliche Entwicklung in der Häufigkeit von Begriffen und auf charakteristische semantische Kollokationen zwischen einzelnen Nomen und bestimmten Adjektiven (z. B. »deutsches Volk«) gibt das Instrumentarium des Digitalen Wörterbuchs der deutschen Sprache (DWDS), das von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften bereitgestellt wird.6 Wissenschaft (6. WP). Die relativ detaillierten maschinenschriftlichen »Kurzprotokolle« sind im Parlamentsarchiv des Deutschen Bundestages (PA-DBT) in den Beständen 3121 und 3117 zugänglich. Ausführungen der Minister werden jeweils in Gänze wiedergegeben. 5 Sobotta, Bundesministerium; zum Autor vgl. oben S. 17, Anm. 22. Zur Bedeutung einer ressortinternen Geschichtsschreibung im Hinblick auf das Bundeswirtschaftsministerium vgl. Bernhard Löffler, Wirtschaftsministerium, unveröff. Vortrag auf dem Workshop »Zukunftsorientierung und NS-Vergangenheit. NS-Belastungen im bundesdeutschen Atom- bzw. Forschungsministerium, 1955–1972«, München 2017; vgl. Tagungsbericht: Moritz Herzog-Stamm, Zukunftsorientierung und ­NS-Vergangenheit. NS-Belastungen im bundesdeutschen Atom- bzw. Forschungsministerium, 1955–1972, www.hsozkult.de/searching/id/tagungsberichte-7402 [13. 12. 2021]. 6 Im Folgenden wird sowohl auf einzelne Wortverlaufskurven Bezug genommen, die bei der statistischen Abfrage des DWDS-Zeitungskorpus ab 1945 gebildet wurden, als auch mit der Forschungsinfrastruktur von Clarin-D durchgeführte

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Inwieweit der nach außen gerichtete Diskurs, der immer auch ein performativer Akt war und der weitgehend von der Spitze des Ministeriums gepflegt wurde, dem Selbstverständnis innerhalb des Hauses entsprach, ist schwer zu beantworten. Im internen Schriftverkehr gab es in der Regel wenig Anlässe, auf Fragen der eigenen historischen Verortung einzugehen. Nur vereinzelt können daher ergänzend ministeriumsinterne Papiere herangezogen werden. Was Minister, Staatssekretäre und führende Ministerialbeamte dachten, entzieht sich unserem Quellenzugriff. Allerdings gibt es angesichts der Intensität zahlreicher Topoi und Narrative keinen Anlass zu der Vermutung, dass zwischen Denken und Sprechen bzw. Schreiben allzu große Differenzen bestanden haben. Insofern erscheint es durchaus legitim, aus den in den Quellen zu findenden Äußerungen Rückschlüsse auf ein bestimmtes Selbstverständnis oder sogar eine bestimmte »Mentalität« zu ziehen – ähnlich wie dies Klaus Hentschel im Hinblick auf deutsche Physiker der Nachkriegsjahre getan hat.7 Dennoch ist davon auszugehen, dass es im Hinblick auf den Nationalsozialismus so etwas wie ein unartikuliert-diffuses historisches Bewusstsein innerhalb des Ministeriums gegeben hat, dessen Ausdruck ein »kommunikatives Beschweigen« (Hermann Lübbe) war.8 Auch die von Philipp Kratz auf das kommunalpolitische Feld bezogene Wendung von der »Diskretion als Konsens« erscheint treffend.9 Daneben dürfte es zumindest partiell, insbesondere unter den Juristen und auf andere Weise kationsanalysen, denen ein umfangreicheres Textkorpus zugrunde liegt. Hinweise auf der Homepage des DWDS (»Verlaufskurven im DWDS«), www.dwds.de/d/ plot [13. 12. 2021], sowie auf der Homepage der Clarin-D Forschungsinfrastruktur (»DiaCollo: Kollokationsanalyse in diachroner Perspektive«), clarin-d.de/de/kollokationsanalyse-in-diachroner-perspektive [13. 12. 2021]. 7 Klaus Hentschel, Die Mentalität deutscher Physiker in der frühen Nachkriegszeit (1945–1949), Heidelberg 2005. Der Autor gebraucht den Begriff der Mentalität in Anlehnung an die französische Geschichtsschreibung in der Tradition der Zeitschrift »Annales«. 8 Hermann Lübbe, Der Nationalsozialismus im Bewusstsein der deutschen Gegenwart, in: ders., Vom Parteigenossen zum Bundesbürger. Über beschwiegene und historisierte Vergangenheiten, München 2007, S. 11–38, hier S. 32. Der Text geht zurück auf einen im Januar 1983 gehaltenen und mehrfach publizierten Vortrag. Quellenkritische Hinweise gibt Axel Schildt, Zur Durchsetzung einer Apologie. Hermann Lübbes Vortrag zum 50. Jahrestag des 30. Januar 1933, in: Zeithistorische Forschungen 10 (2013), S. 148–152. Mit Blick auf das Bundesministerium der Justiz auch zitiert von Görtemaker / Safferling, Die Rosenburg, S. 177. Zu der von Lübbe angenommenen integrativen Funktion des Beschweigens und zu der Kritik an dieser These vgl. unten S. 427. 9 Kratz, Eine Stadt und die Schuld, S. 88. Der Autor bezieht sich auf Wiesbaden.

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unter den Naturwissenschaftlern und Ingenieuren, im Atom- und Forschungsministerium jeweils so etwas wie ein fachliches Selbstverständnis gegeben haben, das in gewissem Maße wohl eine systemübergreifende Konstante darstellte. Die Forschung zum bundesdeutschen Innenministerium hat etwa vom »Selbstverständnis als unabhängige Verwaltungsexperten« gesprochen,10 das in einer Tradition der deutschen Bürokratiegeschichte verankert war und das im Falle personeller Kontinuitäten zweifellos geholfen hat, die eigene bürokratische Mitwirkung am NS-Regime in einem milden Licht erscheinen zu lassen. In der Außendarstellung des Atom- und Forschungsministeriums spielte Derartiges kaum eine Rolle. Soweit sich diese Aspekte in individuellen Äußerungen erkennen lassen, werden sie in den detaillierten biographischen Skizzen im Rahmen von Kapitel V angesprochen.

1. Perspektive »Zukunft« Wohl in keinem anderen bundesdeutschen Ministerium stand die Zukunft derart im Mittelpunkt aller Planungen und Bemühungen wie im Atomund Forschungsministerium; kein anderes Ministerium bezog seine Ratio in solch einem Maße aus einer vorgestellten Zukunft.11 Es ist daher nur konsequent, dass Sobotta 1969 das Vorwort seiner kleinen Ministeriumsgeschichte mit folgenden Sätzen begonnen hat: »Die Geschichte des Bundesministeriums für wissenschaftliche Forschung ist noch sehr jung. Seine Aufgaben sind auf die Zukunft gerichtet, daher notwendig und unabdingbar. Das Interesse an diesem Ministerium mit seinen in die Zukunft weisenden Zielen wächst ständig.«12 Dieser Zukunftsbezug lässt sich zunächst in einem größeren Kontext intensivierten Zukunftsdenkens verorten, der nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik Deutschland – aber auch anderen Staaten in West und Ost13 – zu erkennen ist. Generell sind in westdeutscher Pers10 Günther / Maeke, Unpolitischer Beamter, S. 267. Ebenda, S. 269, ist von einem damit verbundenen »letztlich exkulpierende[m] Bild von der eigenen Rolle im Nationalsozialismus« die Rede. 11 Vgl. auch Rusinek, Die Rolle der Experten, S. 194. 12 Sobotta, Bundesministerium, S. 7. 13 Auch in der Sowjetunion und davon beeinflusst dann auch in der DDR ist spätestens in den 1950er Jahren ein intensivierter Zukunftsbezug erkennbar, der den Rahmen der von der kommunistischen Ideologie vorgegebenen, oftmals formelartigen Zukunftsorientierung sprengte. Vgl. Karlheinz Steinmüller, Aufstieg und

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pektive mehrere Impulse für einen verstärkten Zukunftsbezug zu unterscheiden: So weckten die Verwüstungen, die das NS-Regime und der von ihm entfesselte Zweite Weltkrieg über Deutschland und die Welt gebracht hatten, offenbar das breite Bedürfnis nach einer sinnhaften Zukunft  – dies zeigt sich deutlich in zahlreichen populärwissenschaftlichen Publika­ tionen.14 Ebenso nährte der sich verhärtende Kalte Krieg die Frage, welcher der beiden Blöcke in der näheren Zukunft der stärkere sein werde. Die seit der zweiten Hälfte der 1940er Jahre besonders in konservativen und christdemokratischen Kreisen gestellte Frage nach der »Zukunft des Abendlandes«15 nahm die beiden genannten Impulse in sich auf und verankerte das Zukunftsdenken in einem nationenübergreifenden Vergangenheitsmythos vom christlichen Abendland.16 Weiterhin besaß das Zukunftsdenken, und dies war für das Atom- und Forschungsministerium von besonderer Bedeutung, eine technologische Dimension. Wie im globalen Rahmen kam dem Thema »Atom« dabei vor allem in den 1950er Jahren eine Schlüsselstellung zu.17 Der naturwissenschaftliche und technische Fortschritt hatte sich, nicht zuletzt stimuliert durch die Rüstungsanstrengungen während des Zweiten Weltkriegs, in der westlichen Welt jedoch auch in anderen Bereichen weiter beschleunigt. »Wissenschaft und Forschung«, so Sobotta 1969 in seiner Ministeriumsgeschichte, »zeigen keinen Respekt mehr vor säkularen Zeitbegriffen, sie ändern schon nach zwanzig Jahren die Epochen der Menschheit.«18 Gleichzeitig etablierte sich in den Vereinigten Staaten und Frankreich und

Niedergang der Prognostik. Zur Geschichte der Zukunftsforschung in der DDR, in: Zeitschrift für Zukunftsforschung 3 /2 (2014), S. 5–17, hier S. 6 f. 14 Vgl. z. B. Hermann Kapphan, Wo liegt Deutschlands Zukunft? Vom Sinn der Katastrophe, Seebruck am Chiemsee 1947; August Siemsen, Die Tragödie Deutschlands und die Zukunft der Welt. Aufsätze und Reden, Hamburg 1947. 15 Vgl. z. B. Friedrich Dessauer (Hrsg.), Erbe und Zukunft des Abendlandes. Zwölf Vorträge, Bern 1948; ders., Reflexionen über Erbe und Zukunft des Abendlandes, Köln u. a. 1956; Jacobus Gijsbertus de Beus, Die Zukunft des Abendlandes, Frankfurt a. M. 1956; Ludwig Friedrich Emrich, Die Zukunft des Abendlandes. Europa in der Welt von morgen, Freiburg im Breisgau 1946. 16 Zur Geschichte vgl. Dagmar Pöpping, Abendland. Christliche Akademiker und die Utopie der Antimoderne 1900–1945, Berlin 2002. Vgl. z. B. auch das Ende der Regierungserklärung Adenauers vom 20. 9. 1949: »unsere ganze Arbeit wird getragen sein von dem Geist christlich-abendländischer Kultur […]«. Verh. Bundestag, 1. WP, 5. Sitzung, S. 30. 17 Zu den transnationalen Dimensionen der »Atomeuphorie« vgl. oben S. 12. 18 Sobotta, Bundesministerium, S. 7.

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später auch in der Bundesrepublik das neue Feld einer wissenschaftlichen Zukunftsforschung.19 In den Vorworten der Jahresberichte des Atom- und Forschungsministeriums oder in den Protokollen von Ministerreden war ein ausgeprägtes und durch grundsätzliche Zweifel noch weitgehend ungetrübtes naturwissenschaftliches und technisches Fortschrittsdenken omnipräsent, das dem eigenen ministeriellen Handeln eine legitimierende Zwangsläufigkeit verlieh. Zwischen den Zeilen ist dabei hin und wieder durchaus ein gewisses Sendungsbewusstsein zu erkennen. Dies verband sich allerdings, insbesondere in der Ministerzeit Siegfried Balkes, mit der Auffassung, als eine Art »Starthelfer« tätig zu sein, dessen politische Funktion beschränkt blieb und später einmal überflüssig werden könnte.20 Zunächst standen die Förderung atomtechnischer Forschungen bzw. der Aufbau einer »lebensfähigen Atomwirtschaft«, so Balke 1958, im Mittelpunkt. Zur Erreichung dieses Ziels konzipierte das Atomministerium Mitte der 1950er Jahre das dreistufige »deutsche Atomprogramm«, wobei es  – dies betonte Strauß im Oktober 1956  – weniger um ein Nach­ einander als vielmehr um drei Richtungen ging: erstens allgemeine Förderung von Atomforschung und wissenschaftlichem Nachwuchs, zweitens Forschung an fünf kleinen, aus den USA und Großbritannien importierten Forschungsreaktoren und drittens Forschung an einem »Kernreaktor deutscher Konstruktion und Fabrikation in dem deutschen Kernforschungszentrum Karlsruhe«.21

19 Vgl. hierzu Elke Seefried, Zukünfte. Aufstieg und Krise der Zukunftsforschung, 1945–1980, Berlin u. a. 2015, S. 29–157; Karlheinz Steinmüller, Zukunftsforschung in Deutschland. Versuch eines historischen Abrisses (Teil 1), in: Zeitschrift für Zukunftsforschung 1 (2012), S. 6–19, hier S. 12–16. 20 Vgl. Siegfried Balke, [Vorwort], in: Das Bundesministerium für Atomkernenergie und Wasserwirtschaft, in: Deutschland im Wiederaufbau 1957, S. 461–472, hier S. 461: »Die Aufgabe des Staates beschränkt sich somit im wesentlichen darauf, Starthilfe für die Entwicklung zu leisten.« Vgl. auch einen Werbeprospekt zur Bundestagswahl 1957 mit einem Zitat aus der »Welt« vom 5. 8. 1957: »Es war einmal ein Minister, der am Ende seiner Legislaturperiode fest davon überzeugt war, daß sein Ministerium keine Dauereinrichtung werden dürfe. Er hat diese Überzeugung sogar offen ausgesprochen. Nicht einmal die bevorstehende Wahl hat ihn daran gehindert. Das ist kein Märchen. […] Der Minister heißt Siegfried Balke, die Behörde, der er vorsteht, ist das Bundesatomministerium.« BArch, B 138 /118. 21 Franz Josef Strauß, Der Eintritt der Bundesrepublik in das Atomzeitalter, BArch, B 138 /118, Bl. 377–381, Zitat Bl. 380.

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Wenn die künftige Bedeutung der Atomenergie angesprochen wurde, dann bezog sich dies keineswegs nur auf das Feld der Energiegewinnung. Vielmehr wurden die industriegesellschaftlichen Einsatzmöglichkeiten sehr viel breiter gesehen  – etwa im Hinblick auf Produktionstechnologien, Medizin und Antriebstechniken für Schiffe. Strauß legte 1956 in einem Vortrag sogar besonderes Gewicht auf die zukunftsweisenden landwirtschaftlichen Aspekte der Radioaktivität. Dabei betonte er die »Nutzung von ionisierenden Strahlen« für die »Bodenbewirtschaftung«, die Bedeutung der »Mutationsforschung« und die »Strahlenkonservierung von Lebensmitteln«. »Die Landwirte«, so Strauß abschließend, »seien gut beraten, wenn sie sich rechtzeitig um die Verwertungsmöglichkeiten der Atomenergie bemühen und wenn sie insbesondere der neuen Agrar­revolution aufgeschlossen gegenüber stehen.«22 Die Bezugnahme auf einen breiten und grundlegenden industriellen Einsatz der Nukleartechnologie war vor allem in Beiträgen von Siegfried Balke zu finden.23 Der gelernte Chemiker verwendete gerne den Terminus der »heißen Chemie«. »Mit diesem Sammelbegriff«, so erläuterte Balke laut Protokoll am 5.  Dezember 1957 im zuständigen Bundestagsausschuss, »fasse man alle Arbeiten zusammen, die sich mit der Aufarbeitung radioaktiven Materials beschäftigen«.24 Im Gegensatz zu den Verheißungen eines breiten zivilen Einsatzes der Atomenergie spielte ihre militärische Dimension im öffentlichen ministeriellen Diskurs in der Regel kaum eine Rolle, und wenn, dann wurde sie allenfalls als eine für die deutsche Politik irrelevante Kontrastfolie behandelt.25 Umso bemerkenswerter ist, dass Atomminister Balke im April 1957 22 Franz Josef Strauß, Atomenergie und Landwirtschaft, maschinenschriftliches Manuskript [unbekannter Publikationsort], BArch, B 138 /118, Bl. 415–419, Zitate ebenda, Bl. 417–419. 23 Vgl. z. B. Siegfried Balke, [Vorwort], in: Das Bundesministerium für Atomkernenergie und Wasserwirtschaft, in: Deutschland im Wiederaufbau 1958, S. 479: »Die Kernenergie verändert unablässig die Verfahrenstechnik und Produktionsprozesse – in der chemischen Industrie ebenso wie in der Metallurgie, in der Meßtechnik ebenso wie in der Regeltechnik, um nur einige Gebiete zu nennen – sie ist ein Schrittmacher der technischen Entwicklung neben der Automation.« 24 Deutscher Bundestag, 3. WP, Ausschuss für Atomkernenergie und Wasserwirtschaft, 2. Sitzung, 5. 12. 1957, S. 4, PA-DBT, 3121. – Der Begriff ist noch heute gebräuchlich. 25 Vgl. z. B. Strauß am 16. 1. 1956 in der konstituierenden Sitzung der Deutschen Atomkommission: »Es geht uns nicht um militärische oder politische Macht, es geht uns nicht um Prestige, es geht uns aber wohl darum, für das deutsche Volk

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die »Göttinger Erklärung« führender Atomwissenschaftler gegen eine atomare Bewaffnung der Bundeswehr öffentlich gegen die Attacken von Adenauer und Verteidigungsminister Strauß verteidigte. »Ihre Bedenken«, so gab die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« den Minister wieder, »seien sehr ernst zu nehmen. ›Wir sollten froh sein, daß sie geäußert wurden, und man sollte darüber diskutieren.‹«26 Vor dem Bundestagsausschuss für Atomkernenergie und Wasserwirtschaft räumte Balke im Januar 1962 dann sogar offen ein, dass das – damals noch zentrale – atomare »Aufgabengebiet« des Ministeriums, die »›friedliche Verwendung der Atomkernenergie‹«, insofern problematisch sei, als »die Abgrenzung zwischen der friedlichen Verwendung der Atomkernenergie und der militärischen […] sehr schwer zu ziehen« sei.27 In den 1960er Jahren traten, parallel zur fachlichen Kompetenzerweiterung des Ministeriums, neben der Atomkraft zusätzlich die Raumfahrtforschung (1962) und später die Datenverarbeitung (1967) in den ministeriellen Fortschrittsdiskurs. Stoltenberg brachte dies in der bereits zitierten Bundestagsrede vom 12. Oktober 1966 auf den Punkt: »Wir leben in einer Zeit, in der der Fortschritt der Wissenschaften ein revolutionäres Tempo angenommen hat. Darauf gestützt bahnt sich eine neue Etappe der industriellen Revolution an. In dieser Entwicklung zeichnen sich drei deutliche Schwerpunkte ab: die Erforschung und Nutzung der Kernenergie, die Erkundung und Erschließung des Weltraums und die Verarbeitung und Übertragung von Informationen.«28 Die zeitweise angegliederte Zuständigkeit für Wasserwirtschaft, die dem Ministerium  – so Balke 1957 im Bundestagsausschuss  – »auf Grund eines Wunsches des Herrn Bundeskanzlers zugewachsen« war,29 passte nicht in dieses Zukunftsprofil und

den mühsam wieder gewonnenen Platz unter den Industrienationen dieser Welt zu behaupten und zu sichern.« Zitat der Rede nach einer Pressemitteilung, S. 2; PDF zugänglich auf den Internetseiten der Hanns-Seidel-Stiftung, www.fjs.de/fjsin-wort-und-bild/downloads/ [13. 12. 2021].  – Zur Frage, inwieweit militärische Aspekte bei der bundesdeutschen Atompolitik, die keineswegs nur das Atomministerium betraf, eine Rolle spielten, vgl. oben S. 13 und S. 16 f. 26 »Balke nimmt die Professoren in Schutz«, in: FAZ, 17. 4. 1957, S. 4; vgl. zu dem Vorgang auch oben S. 102 f. 27 Deutscher Bundestag, 4. WP, Ausschuss für Atomkernenergie und Wasserwirtschaft, 2. Sitzung, 25. 1. 1962, S. 6¸ PA-DBT, 3121. 28 Verh. Bundestag, 5. WP, 64. Sitzung, S. 3094. 29 Deutscher Bundestag, 3. WP, Ausschuss für Atomkernenergie und Wasserwirtschaft, 2. Sitzung, 5. 12. 1957, S. 14, PA-DBT, 3121.

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wurde deshalb, darauf deutet eine bereits an anderer Stelle zitierte Notiz Cartellieris, wohl bewusst wieder abgestoßen.30 Interessant ist die Frage, in wessen Dienst die neuen wissenschaftlichen und technologischen Potentiale diskursiv gestellt wurden und wem sie in näherer und fernerer Zukunft zur Verfügung stehen sollten. Hierzu sind in den untersuchten Quellen vor allem drei große Bezugskategorien zu erkennen, die teils mit der Person des jeweiligen Sprechers bzw. Verfassers zusammenhängen, die teils aber auch eine gewisse chronologische Entwicklung erkennen lassen. Die größte Kategorie umfasste nichts weniger als die Menschheit. Vor allem bei Strauß ist dieser Begriff immer wieder anzutreffen. »In zunehmendem Maße«, so formulierte der CSU-Politiker beispielsweise 1956 in einem Zeitschriftenbeitrag, »beginnt die Atomenergie nunmehr in unser tägliches Leben einzugreifen, und immer mehr erhebt sich die Hoffnung, daß sie der größte Helfer der Menschheit sein kann.«31 Bei Strauß, dem studierten Altphilologen, verband sich eine abstrakte »humanistische« Rhetorik mit dem universalistischen Pathos einer Begeisterung für die friedliche Nutzung der Atomenergie. Diese Begeisterung war Mitte der 1950er Jahre in den politischen Eliten der Bundesrepublik und Teilen der Öffentlichkeit32 parteiübergreifend verbreitet, nicht zuletzt bei den oppositionellen Sozialdemokraten. Beispielsweise stellte der »Sozialdemokratische Pressedienst« einen Bericht über die Genfer Atomkonferenz im August 1955 unter den Titel: »Das Atom als Friedenskraft«.33 Das Bewusstsein von der »hohe[n] Verantwortung für die Zukunft der Menschheit« – so Sobotta 1969 in seiner Ministerialgeschichte34 – ließ sich später auch auf die anderen für das Forschungsministerium relevanten Themenbereiche der Raumfahrt und Computertechnologie anwenden. Verbunden mit dem Menschheitspathos war im Hinblick auf die Themen »Atom« und punktuell auch »Weltraumfahrt« die Vorstellung, am Beginn einer völlig neuen historischen Epoche zu stehen. Erinnert sei an 30 Vgl. oben S. 104. 31 Strauß, Verwendung, S. 4 32 Vgl. z. B. Abbildungen aus der Zeitschrift »Hobby. Wissenschaft – Technik – Unterhaltung« im Zeitraum von 1954 bis 1958 mit Darstellungen von imaginierten »Atomautos«, »Atomflugzeugen« und »Atomlokomotiven« in Rolf-Jürgen Gleitsmann-Topp / Günther Oetzel, Fortschrittsfeinde im Atomzeitalter? Protest und Innovationsmanagement am Beispiel der frühen Kernenergiepläne der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 2012, S. 18–21. 33 »Das Atom als Friedenskraft«, in: Sozialdemokratischer Pressedienst, 22. 8. 1955. 34 Sobotta, Bundesministerium, S. 19.

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Stoltenbergs 1966 im Bundestag formulierte Dreifachanalogie zur Erfindung der Feuerwaffen und des Buchdrucks sowie zur europäischen Entdeckung Amerikas.35 Strauß ging in einem Beitrag für den Nordwestdeutschen Rundfunk am 21. Oktober 1955 bis in die Ur- und Frühgeschichte zurück. Der erste Atomminister sprach von seiner »Überzeugung«, »daß die Ausnutzung der Atom-Energie für wirtschaftliche und kulturelle Zwecke, wissenschaftliche Zwecke, denselben Einschnitt in der Menschheitsgeschichte bedeutet wie die Erfindung [sic] des Feuers für die primitiven Menschen«.36 Die menschheitsgeschichtliche Deutung war in der frühen Bundesrepublik ebenfalls parteiübergreifend zu finden. So sah eine Parteitagsresolution der SPD 1956 in der »kontrollierten Kernspaltung und [der] auf diesem Wege zu gewinnende[n] Kernenergie […] den Beginn eines neuen Zeitalters für die Menschheit«.37 Als zweite und insgesamt häufiger anzutreffende Bezugsgröße des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts und der zu gestaltenden Zukunft lässt sich in den untersuchten Quellen für die Zeit bis Mitte der 1960er Jahre die traditionelle Kategorie des »deutschen Volkes« erkennen. Diese stark von ganzheitlichen und vielfach von ethnisch-völkischen Konnotationen geprägte Begriffsverbindung, deren Grundlagen im späten 18. und im 19. Jahrhundert liegen, hatte in der deutschen Sprache seit dem frühen 20.  Jahrhundert einen enormen Bedeutungszuwachs erfahren.38 Seit 1933 wurde das »deutsche Volk« bzw. die »Volksgemeinschaft« zu einem zentralen Element der NS-Ideologie.39 Nach 1945 kam es im deutschen Sprachraum zunächst – trotz sinkender Tendenz der Verbreitung – zu keinem Bruch: Der Grundbegriff des ethnisch-völkischen Denkens blieb offenbar trotz aller Verbrechen der NS-Zeit intakt. Die Häufigkeit der Verbindung der Wörter »deutsch« und »Volk« liegt  – im Vergleich 35 Vgl. oben S. 159. 36 »Bundesminister Strauß über seine Aufgaben als Minister für Atomfragen«, ACSP, NLStraussZA_1955_1.pdf [16. 12. 2021]. 37 Franz Osterroth / Dieter Schuster (Hrsg.), Chronik der deutschen Sozialdemokratie, Bd. 3: Nach dem Zweiten Weltkrieg, Berlin u. a. 21978, S. 192. 38 Zur Genese und speziell zur wichtigen Formierungsphase der frühen Weimarer Republik vgl. Retterath, »Was ist das Volk?«. 39 Zum NS-Propagandabegriff der Volksgemeinschaft und zum konzeptionellen Wert des Begriffs für die Geschichtswissenschaft vgl. auf aktueller forschungsgeschichtlicher Grundlage Ian Kershaw, Volksgemeinschaft: Potential and Limitations of the Concept, in: Steber, Martina / Gotto, Bernhard (Hrsg.), Visions of Community in Nazi Germany. Social Engineering and Private Lives, Oxford 2014, S. 29–42; Michael Wildt, Volksgemeinschaft: A Modern Perspective on National Socialist Society, in: ebenda, S. 43–59.

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mit anderen Adjektivergänzungen von »Volk« – im umfassenden Sprachkorpus des Digitalen Wörterbuchs der deutschen Sprache40 für die Zeit von den 1950er Jahren bis Mitte der 1960er Jahre noch über dem Niveau der Weimarer Republik (siehe Diagr. 9). Der Bezug auf das »deutsche Volk« in einem ganzheitlichen Sinne war parteiübergreifend im politischen Mainstream der frühen Bundesrepublik in den 1950er und frühen 1960er Jahren noch weit verbreitet, wie zahlreiche Beispiele aus Bundestagsdebatten41 oder der Titel der 1959 von Bundespräsident Theodor Heuss gehaltenen »Abschiedsrede an das deutsche Volk« belegen.42 Im allgemeinen Sprachgebrauch schwächte sich – soweit sich dies mit Hilfe des eben erwähnten Textkorpus nachweisen lässt  – die Häufigkeit der Wortverbindung »deutsches Volk« nach einem ersten deutlichen Rückgang in der unmittelbaren Nachkriegszeit seit Ende der 1960er Jahre stark und dauerhaft ab (Diagr. 9). Ein ähnliches Bild ergibt sich, wenn man die Häufigkeit der Verbindung von »deutsch« und »Volk« anhand eines Textkorpus’ überprüft, das allein auf der Wochenzeitschrift »Die Zeit« und damit auf einer rein bundesdeutschen Quellengrundlage beruht43. Genau dieser Befund vom plötzlichen Rückgang der Verbindung von »deutsch« und »Volk« in den späten 1960er Jahren gilt auch für die ausgewerteten Quellen zur Außendarstellung des Ministeriums. Diese spiegeln somit einen breiten Trend bundesdeutscher Diskursgeschichte wider. Von den danach in den Vordergrund tretenden sprachlichen Bezugskategorien der ministeriellen Tätigkeit wird später noch zu sprechen sein. In den für dieses Kapitel ausgewerteten Quellen der ministeriellen Außendarstellung kam die Wendung vom »deutschen Volk« vor allem dann ins Spiel, wenn von staatlichen Aktivitäten wie Forschungs- und Wirtschaftsförderung die Rede war und damit von den übergeordneten Aufgaben, denen sich das Ministerium mit Blick auf die Zukunft verpflichtet sah. So ging Atomminister Balke im Februar 1957 vor dem deutschen Bundestag davon aus, dass es »zu den Aufgaben einer verantwortlichen Staatsführung [gehöre], Vorsorge zu treffen, daß vorauszusehende Energielücken geschlossen werden können, weil von der Energieversorgung 40 Zum DWDS vgl. oben S. 161 f. 41 Vgl. Emil Bein, Pluralismus und Antipluralismus im parlamentarischen Diskurs des ersten Bundestages der Bundesrepublik Deutschland (1949–1953) am Beispiel des EVG-Vertrages, Bachelorarbeit, LMU München, 2019, S. 31–54. 42 Theodor Heuss, Abschiedsrede an das deutsche Volk. 12. Sept. 1959, Bonn [1959]. 43 kaskade.dwds.de/dstar/zeit/diacollo/?query=Volk&date=&slice=5&score=fm& kbest=3&cutoff=&profile=2&format=hichart&groupby=&eps=0 [25. 8. 2021].

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ganz einfach die Lebensmöglichkeiten eines Volkes abhängen«.44 Dabei wurde auch die traditionelle, vom späten Kaiserreich bis zur NS-Zeit sehr beliebte45 und in der frühen Bundesrepublik noch übliche46 Formel von der »Zukunft des deutschen Volkes« verwendet. So betonte Forschungsminister Hans Lenz (FDP) im Jahresbericht von 1964 die »Bedeutung der wissenschaftlichen Forschung für die Zukunft des deutschen Volkes«,47 und Stoltenberg forderte ein Jahr später, »durch eine dem dynamischen Fortschritt von Wissenschaft und Technik angemessene Forschungsförderung ausreichend Vorsorge für die Zukunft des deutschen Volkes zu treffen«.48 44 2. WP, 194. Sitzung, 22. 2. 1957, S. 11054. 45 Es handelt sich somit um keine spezifische Wendung der NS-Zeit, sondern um den Ausdruck eines völkisch-nationalen Zukunftsbezugs, der – wie z. B. ein Blick in digitale Bibliothekskataloge zeigt (vgl. den Karlsruher Virtuellen Katalog) – seit der Jahrhundertwende virulent wurde. Vgl. z. B. Carl Jentsch, Die Zukunft des deutschen Volkes, Berlin 1905. 46 Dies belegen z. B. zahlreiche Stellen in den Plenarprotokollen des Bundestags (zugänglich über: pdok.bundestag.de) bis Mitte der 1960er Jahre; später wird die Verwendung hier selten. Auch der Kanzler benutzte die Formel immer wieder. So referiert Konrad Adenauer, Erinnerungen, 1945–1953, Stuttgart 1965, S. 583, eine 1953 gehaltene Rede mit den Worten: »Wir wollen die Freiheit. Wir verabscheuen den Kommunismus. Wir wollen daher die Zukunft des deutschen Volkes aufs engste mit den Demokratien des Westens verbinden.« 47 Hans Lenz, [Vorwort], in: Bundesministerium für wissenschaftliche Forschung, in: Deutsche Politik 1964, S. 323 f., hier S. 324. 48 Gerhard Stoltenberg, [Vorwort], in: Bundesministerium für wissenschaftliche Forschung, in: Deutsche Politik 1965, S. 305 f., hier S. 306. Eine ganz ähnliche Verwendung (»Vorsorge für die Zukunft unseres Volkes«) bietet das Vorwort Stoltenbergs, in: Bundesministerium für wissenschaftliche Forschung, in: Deutsche Politik 1966, S. 287 f., hier S. 287. Auch an anderer Stelle war die Wendung im atomaren Kontext beliebt. Vgl. z. B. Entschließung der Deutschen Atomkommission vom 21. 4. 1961, BArch, B 138 /3305. – Die Formel von der »Zukunft des deutschen Volkes« wäre, mit weitem thematischem Bezug, ein lohnenswertes Thema für eine eigene diskursgeschichtliche Untersuchung. Dabei wäre auch einzubeziehen, dass sich die Wendung mit anderen semantischen Akzenten auch in der offiziösen Sprache der DDR findet. Inwieweit und ab wann die Formel in der Bundesrepublik weitgehend auf ein liberalkonservatives Spektrum beschränkt blieb, bedürfte dabei der genaueren Untersuchung. Auffallend ist, dass der SPD-Abgeordnete Ludwig Ratzel, der zeitweise Vize-Vorsitzender des Bundestagsausschusses für Atomfragen gewesen war, im Bundestag 1958 die Verzögerung des Atomgesetzes mit Verweis auf die »Zukunft der deutschen Bevölkerung« beklagte und damit einen ethnisch weniger aufgeladenen Begriff verwendete. Verh. Bundestag, 3. WP, 47. Sitzung, 29. 10. 1958, S. 2607. Bezug auf diese Äußerung nimmt auch Stefan Bürgel, Das Kreuz mit dem Atom. Die Debatte um die Kernenergie und die

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Mit der Verbindung einer neue technologische Dimensionen betreffenden Zukunftsorientierung und eines traditionellen, holistisch und ethnisch konnotierten Volksbegriffs ergab sich im Diskurs der ministeriellen Außendarstellung bis Mitte der 1960er Jahre ein starkes Spannungsverhältnis von Kontinuität und Diskontinuität. Der postulierte Wille, mit einer rasanten wissenschaftlich-technologischen Entwicklung schrittzuhalten und entsprechend die Zukunft zu gestalten, war an die eigene Verortung im fiktiven Ganzen eines »deutschen Volkes« gebunden, das in den vergangenen Jahrzehnten vielfach im Mittelpunkt des politischen und gesellschaftlichen Wertesystems gestanden war. Sieht man die diskursive Außendarstellung auch als Spiegel eines inneren Selbstverständnisses, so lässt sich daraus die These ableiten, dass die sich nur langsam abschwächende Kraft des traditionellen Volksbegriffs stark national geprägten Politikern und Ministerialbeamten als Impuls diente, sich für eine ambitionierte bundesdeutsche Atom-, Raumfahrt- und generell Forschungspolitik einzusetzen. Eine dritte Bezugskategorie im Diskurs darüber, wem der Einsatz des Ministeriums in seinen naturwissenschaftlich-technischen Fördergebieten dient, bildete der bundesdeutsche »Industriestaat« bzw. die »Industrienation«. Dabei gab es durchaus Verbindungen mit dem Volksbegriff: So sprach Strauß in der konstituierenden Sitzung der Deutschen Atomkommission am 16. Januar 1956 davon, »für das deutsche Volk den mühsam wieder gewonnenen Platz unter den Industrienationen dieser Welt zu behaupten und zu sichern«.49 Vor allem bei dem Naturwissenschaftler Siegfried Balke gewann der Rekurs auf den »Industriestaat« hohe Bedeutung: Beispielsweise sah er im Jahresbericht für 1958 in der Kernenergie »eine Frage der für einen Industriestaat notwendigen Entwicklung einer neuen Technik in all ihren Ausstrahlungen«,50 und in einer Bundestagsrede stellte er im Januar 1959 fest, dass »wir […] jetzt entscheiden [müssen], ob wir weiterhin zu den führenden Industrieländern gehören wollen«.51 Staatssekretär Cartellieri argumentierte ebenfalls in diesem Sinne, wenn er in einem Aufsatz aus dem Jahr 1963 betonte, dass die Bundesrepublik »ihre Stellung als Industrienation für die Zukunft« nur mittels höherer christlichen Grundwerte der CDU, Berlin 2018, S. 97; allerdings ist hier fälsch­ licherweise von der »Zukunft des deutschen Volkes« die Rede. 49 Vgl. vollständiges Zitat mit Beleg oben Anm. 25. 50 Siegfried Balke, Vorwort, in: Das Bundesministerium für Atomkernenergie und Wasserwirtschaft, in: Deutschland im Wiederaufbau 1958, S. 479. 51 Verh. Bundestag, 3. WP, 55. Sitzung, 21. 1. 1959, S. 3024.

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Diagr. 9: Mit Hilfe des DWDS und des DiaCollo-Systems erstellte graphische Darstellung der relativen Häufigkeit von »Volk« mit seinen jeweils beliebtesten Adjektiven in der deutschen Sprache, 1880–1995, oberste Kurve: Verbindung von »Volk« und »deutsch«52

Forschungsförderung durch Bund und Länder »wird sichern können«.53 Und Stoltenberg erklärte im ministeriellen Jahresbericht für das Jahr 1968, dass »der zivilisatorische und damit der technisch-wissenschaftliche Fortschritt […] die Entwicklung der Welt [bestimme]; kein Land – schon gar nicht ein Industriestaat wie der unsere  – kann sich den daraus hervor-

52 Die Anzeige erscheint in statistisch gebildeten Fünfjahreswerten. Berücksichtigt wurden die jeweils drei häufigsten Adjektive. Das Vorkommen von Adjektiven wie »vietnamesisch« und »palästinensisch« erklärt sich aus der Widerspiegelung von wichtigen politischen Themen der 1960er und 1970er Jahre und dem Umstand, dass das Textkorpus auch Quellen aus der DDR enthält. Zum DWDS und zu DiaCollo vgl. Hinweise in Anm. 6. 53 Wolfgang Cartellieri, Die Großforschung und der Staat. Gedanken über eine zweckmäßige Trägerform für öffentlich geförderte Großvorhaben der wissenschaftlichen Forschung und technischen Entwicklung, in: Der Bundesminister für wissenschaftliche Forschung (Hrsg.), Die Projektwissenschaften, München 1963, S. 3–16, hier S. 3.

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gehenden Konsequenzen entziehen.«54 Der Ausbau der Atomwirtschaft wurde somit stets als absolute ökonomische Notwendigkeit bewertet. In der Bundesrepublik der 1950er und 1960er Jahre war dies eine forschungsund industriepolitische Grundannahme, die ebenso von der oppositionellen Sozialdemokratie geteilt wurde.55 International vergleichend sei ergänzt, dass die nationale Bedeutungsaufladung des Themas »Atom« in anderen Staaten noch erheblich stärker ausgeprägt war. Im Nachbarland Frankreich wurde die Kernkraft in gewisser Hinsicht sogar zu einem Aspekt der nationalen Identität.56 Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre, in der Zeit der Großen Koalition von CDU/CSU und SPD und stärker noch in der Anfangsphase der sozialliberalen Koalition von SPD und FDP von 1969 bis 1972, erfuhr der Zukunftsbezug in den ausgewerteten Quellen eine deutliche Wandlung: Die abstrakte, vom zwangsläufigen wissenschaftlich-technischen Fortschritt getragene Zukunftsperspektive verschwand, ebenso das Pathos des Volksbegriffs, und der Begriff der Zukunft selbst wurde nun etwas seltener gebraucht. Stattdessen verbreitete sich der Begriff der Reform im Sinne einer konkreten und geplanten Umgestaltung bestehender Verhältnisse. Beispielsweise tauchte das Wort Reform im nur knapp einseitigen Vorwort von Hans Leussink zum ministeriellen Jahresbericht für das Jahr 1970 nicht weniger als achtmal auf. Der dabei vorherrschende Bezug auf »Bildung und Wissenschaft« spiegelt die Kompetenzerweiterung des Ministeriums um Aspekte der Bildungspolitik, insbesondere im Hinblick auf die Umgestaltung und den Ausbau des Hochschulwesens. Die Konjunktur des Reformbegriffes, die sich auch in der generellen deutschen Sprachentwicklung zeigt,57 war unabhängig von dieser spezifischen, das 54 Gerhard Stoltenberg, Ausgewogenes System der Wissenschaftsförderung, in: Bundesministerium für wissenschaftliche Forschung, in: Jahresbericht der Bun­ des­regierung 1968, S. 525 f., hier S. 525. 55 Vgl. z. B. »Bundesrepublik im Rückstand«, in: Sozialdemokratischer Pressedienst, 14. 10. 1963, S. 5. 56 Vgl. Gabrielle Hecht, The Radiance of France. Nuclear Power and National Identity after World War II, Cambridge 2009; vgl. z. B. aus dem Resümee ebenda, S. 330: »Clearly, however, the nuclear program was a site for articulating and negotiating the meaning of a technological France. The image of a radiant and glorious France appeared repeatedly in the discourse of engineers, administrators, labor militants, journalists, and local elected officials. These men actively cultivated the notion that national radiance would emanate from technological prowess.« 57 Hier kam es bereits seit Mitte der 1960er Jahre zu einem starken Bedeutungs­ gewinn des Begriffs »Reform«, der in den frühen 1970er Jahren einen vorläufigen Höhepunkt erreichte. Vgl. die Verlaufskurve des Begriffs »Reform« bei Abfrage

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Ministerium betreffenden Konstellation aber auch vom generellen Klima der »68er Zeit« und den damit verbundenen Bemühungen um politische und gesellschaftliche Veränderungen getragen. Mit dem Reformbegriff sowie dem Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre ebenfalls boomenden Planungsbegriff58 rückte die Zukunft gleichsam näher an die Gegenwart heran, und so ist es kein Zufall, dass die Zukunft im eben erwähnten Vorwort Leussinks in Form der »unmittelbaren Zukunft« vorkommt.

2. Der Wandel der Gegenwart Wie eben in Bezug auf den Reformbegriff der späten 1960er und frühen 1970er Jahre anklang, standen das Gegenwarts- und Zukunftsverständnis in der Außendarstellung des Atom- und Forschungsministeriums in einer engen Wechselbeziehung. Für die Phase bis etwa Mitte der 1960er Jahre heißt das, dass die Gegenwart vor allem als wissenschaftliche, technolo­ gische und damit auch wirtschaftliche Herausforderung begriffen wurde, die massive Anstrengungen für die Zukunft notwendig machte. Dieser zentrale Aspekt des Gegenwartsverständnisses wird im Folgenden zunächst im Mittelpunkt stehen. Ein zweiter Gesichtspunkt, der danach in etwas kürzerer Form behandelt wird, betrifft die politische und gesellschaftliche Entwicklung: Inwieweit und in welcher Art lassen sich in der Außendarstellung des Ministeriums auch Bezüge zur Staats- und Gesellschaftsform der Demokratie finden? Die wissenschaftlich-technologische Wahrnehmung der Gegenwart wurde innerhalb der ausgewerteten Quellen in den 1950er und 1960er Jahren vor allem durch zwei eng miteinander zusammenhängende Topoi bestimmt. Dies war zum einen die grundlegende Annahme eines scharfen im DWDS-Zeitungskorpus nach dem Kriterium der Frequenz (pro Million Tokens). Bis Anfang der 1980er Jahre fällt die Kurve dann wieder auf das Niveau Mitte der 1960er Jahre, um dann einen langanhaltenden und starken Anstieg bis zur Jahrtausendwende zu zeigen, zwei.dwds.de/r/plot?view=1&corpus=zeitungen&n orm=date%2Bclass&smooth=spline&genres=0&grand=1&slice=1&prune=0&wi ndow=3&wbase=0&logavg=0&logscale=0&xrange=1946 %3A2020&q1=Reform [25. 1. 2021]. 58 Vgl. z. B. mit Bezug auf die Bildungsplanung: Die Arbeit konsequent fortsetzen, in: Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft, in: Jahresbericht der Bundesregierung 1972, S. 603 f. Allgemein zum bundesdeutschen Planungsboom Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre vgl. den Forschungsüberblick in Elke Seefried / Dierk Hoffmann, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Plan und Planung. Deutschdeutsche Vorgriffe auf die Zukunft, Berlin – Boston 2018, S. 7–34, hier S. 8–21.

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Konkurrenzkampfes zwischen den führenden westlichen Industrieländern wie den Vereinigten Staaten, Frankreich und Großbritannien – ein Konkurrenzkampf, bei dem der Atomwirtschaft eine Schlüsselrolle zugeschrieben wurde. So erklärte Balke im Dezember 1957 im Bundestagsausschuss für Atomkernenergie und Wasserwirtschaft: »Wir könnten an technischen Entwicklungen einfach nicht vorbeigehen, wenn wir unsere Wettbewerbsfähigkeit und unseren Lebensstandard behalten wollen.«59 Ähnlich betonte der Atomminister im Januar 1959 bei der Beratung zum grundlegenden bundesdeutschen Atomgesetz im Bundestag: »Wir müssen jetzt entscheiden, ob wir weiterhin zu den führenden Industrieländern ­gehören wollen. Wir werden nicht mehr dazu gehören, wenn es uns nicht schnell gelingt, bei der Entwicklung von Atomanlagen entsprechender Größenordnung die notwendigen technischen und betrieblichen Erfahrungen zu sammeln. […] Ein Land, das nicht in der Lage ist, dem neuesten Entwicklungsstand entsprechende Reaktoren, Reaktorausrüstungen, Brennelemente usw. zu liefern, verliert auch in anderen Bereichen an Goodwill und gilt nicht mehr als modernes Industrieland.«60 Angemerkt sei, dass das postulierte nationale Konkurrenzdenken in einem gewissen Gegensatz zu der ebenfalls zu findenden Auffassung von der Notwendigkeit einer »internationale[n] Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Atomenergie« stand,61 eine Zusammenarbeit, die einst durch ­Eisenhowers »Atoms for Peace«-Rede im Jahr 1953 angestoßen worden war62 und die bereits 1957 auf europäischer Ebene zur Bildung der supranationalen »Europäischen Atomgemeinschaft« (EURATOM) führte. Bei Strauß taucht im Kontext des Kalten Krieges auch der Gedanke der Systemkonkurrenz auf, der den Ausbau der bundesdeutschen Atomforschung und Atomwirtschaft in den Dienst der »freien« bzw. »westlichen« Welt stellte. »Zur Erreichung des Gesamtziels der Freien Welt«, so endete ein Manuskript von Strauß vom Oktober 1956, »muß die Bundesrepublik mit ihrer wissenschaftlichen Kapazität und ihrer industriellen Potenz einen angemessenen Beitrag leisten.«63 Der Stellenwert dieser kooperativen Akzente bei der Entwicklung der Atomforschung und der 59 Deutscher Bundestag, 3. WP, Ausschuss für Atomkernenergie und Wasserwirtschaft, 20. Sitzung, 5. 12. 1957, S. 14¸ PA-DBT, 3121. 60 Verh. Bundestag, 3. WP, 55. Sitzung, S. 3024. 61 Balke am 14. 11. 1956; Deutscher Bundestag, 2. WP, Ausschuss für Atomfragen, 4. Sitzung, S. 2¸ PA-DBT, 3121. 62 Vgl. oben S. 13 und S. 67 f. 63 Franz Josef Strauß, Der Eintritt der Bundesrepublik in das Atomzeitalter, BArch, B 138 /118, Bl. 377–381, hier Bl. 380 f.

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Atomwirtschaft sowie später auch der Weltraumtechnik blieb freilich in der Außendarstellung des Ministeriums lange Zeit eher beschränkt. Insgesamt dominierte bis Mitte der 1960er Jahre stark die nationale Perspektive. Es ging in der Außendarstellung zunächst mehr um den »internationalen Wettbewerb« als um die internationale Kooperation.64 Vor allem im Zuge der europäischen Kooperationen in der Weltraum- und Raumfahrtforschung deutete sich dann ein gewisser Wandel an.65 Eng verbunden mit dem Begriff der Konkurrenz ist ein zweiter Topos, der in der einleitend zu diesem Kapitel zitierten Bundestagsrede Stoltenbergs aus dem Jahr 1966 ein zentrales Argument bildet: Es ist der von 1955 bis Ende der 1960er Jahre häufig zu findende Hinweis auf einen (bundes)deutschen Rückstand in der Atomforschung und Atomwirtschaft gegenüber anderen führenden Industrienationen. Diese Vorstellung war in einen bereits seit den frühen 1950er Jahren grundlegenden Diskurs über naturwissenschaftliche und technische Rückstände integriert, in dem auch die Klage über den alliierten Zugriff auf deutsche Patente und die Abwerbung deutscher Wissenschaftler eine wichtige Rolle spielte.66 Vor allem in der Anfangsphase des Ministeriums, als Strauß das Ressort leitete, war der Rückstandstopos häufig zu finden. Beispielsweise heißt es im Protokoll zur Sitzung des Bundeskabinetts am 21. Dezember 1955 über die Aussagen von Atomminister Strauß: »Er macht dem Kabinett hierbei Angaben über die Zahl der in Frankreich und England in Atomfragen beschäftigten Personen sowie über die von ­diesen Ländern für die Atomentwicklung eingesetzten Mittel. Ein Vergleich mit der Bundesrepublik zeige, daß diese in der Entwicklung etwa 10 bis 15 64 Vgl. Lenz 1963 im Bundestagsausschuss im Anschluss an die oben zitierte Aussage: »Bei den außerordentlich weitreichenden Ausstrahlungen, die die Weltraumforschung auf andere Zweige der Wissenschaft und Technik haben wird, braucht man kein Prophet zu sein, um vorauszusagen, daß Erfolg oder Mißerfolg unserer Bemühungen wesentlich auf unsere wissenschaftliche und wirtschaftliche Konkurrenzfähigkeit im internationalen Wettbewerb einwirken werden.« Deutscher Bundestag, 4. WP, Ausschuss für Atomkernenergie und Wasserwirtschaft, 20. Sitzung, 13. 11. 1963, S. 10, PA-DBT, 3121. 65 Zu europäischen Kooperationsprojekten vgl. oben S. 91 f., S. 99, S. 114–116 und S. 127 f. (II.3). 66 Vgl. Gregor Lax, Das ›Lineare Modell der Innovation‹ in Westdeutschland. Eine Geschichte der Hierarchiebildung zwischen Grundlagen- und Anwendungs­ forschung nach 1945, Baden-Baden 2015, S. 70–72. Zur Bedeutung der »Rückstandsdebatte« für die DFG vgl. Karin Orth, Von der Notgemeinschaft zur Dienstleistungsorganisation. Leitlinien der Entwicklung der Deutschen Forschungsgemeinschaft, 1949–1973, in: Orth / Oberkrome (Hrsg.), Forschungsgemeinschaft, S. 89–101, hier S. 94.

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Jahre zurück sei.«67 Umgekehrt sprach Strauß 1956 in einem Interview von einem zehnjährigen »Vorsprung des Auslandes«.68 Speziell die Formel eines 10- bis 15-jährigen Rückstands fand in den ersten Jahren des Atomministeriums immer wieder Verwendung  – von der Berechnung dieser Zahl wird später noch die Rede sein. Das Auf­ holen des Rückstands wurde mittelfristig zur fundamentalen Ratio des Ministeriums.69 So gab der erste Tätigkeitsbericht für das Jahr 1955 das Ziel aus, »den zehnjährigen Rückstand […] aufzuholen«.70 Entsprechend äußerte sich etwa Balke 1958 im zuständigen Bundestagsausschuss: »Der eigentliche Zweck der Errichtung dieses Ministeriums sei die Förderung der technischen Anwendung der Erkenntnisse der Naturwissenschaft aus den letzten Jahren und Jahrzehnten. In der Bundesrepublik sei man noch nicht so weit, diese Technik anzuwenden.«71 Die Vorstellung vom aufzuholenden Rückstand fügte sich zudem ein in das übergeordnete Narrativ vom Wiederaufbau, das die Bundesregierungen der 1950er Jahre für ihre Tätigkeitsberichte verwendeten (»Deutschland im Wiederaufbau«72). Beim Rückstandstopos handelte es sich nicht allein um einen zentralen Aspekt in der ministeriellen Außendarstellung. Umgekehrt wurde das Atomministerium seitens der Öffentlichkeit und des Parlaments mit diesem Topos konfrontiert und gleichzeitig zu entschlossenem Handeln aufgefordert. So stand am 5.  Mai 1961 in einer Sitzung des Bundestagsausschusses für Atomkernenergie und Wasserwirtschaft ein »Antrag betr. Rückstand der deutschen Atomforschung« auf der Tagesordnung. Der Ausschussvorsitzende Thomas Dehler (FDP), so vermerkte das Protokoll, »berichtet über eine Resolution des Deutschen Atomforums zur Förderung des Reaktorbaus in der Bundesrepublik Deutschland von April 1961, 67 Protokoll der Kabinettssitzung vom 21. 12. 1955, TOP 3: Bildung einer deutschen Atomkommission und eines Interministeriellen Ausschusses für Atomfragen, BMAt, »Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung« online, Kabinett. 68 ACSP, LG-2.WP: 67, undatiertes »Interview mit unserem Korrespondenten«: »Es gilt zusammengefaßt die 10 Jahre Vorsprung des Auslandes, insbesondere der USA und Englands auf dem Gebiet der Kernenergie für friedliche Zwecke möglichst bald einzuholen.« 69 Vgl. auch Rusinek, Die Rolle der Experten, S. 193–195; ebenda, S. 194, wird in ironischer Zuspitzung von einem »spezielle[n] nationale[n] Rückstandsüberwindungsministerium« gesprochen. 70 Das Bundesministerium für Atomfragen, in: Deutschland im Wiederaufbau 1955, S. 411 f., hier S. 412. 71 Balke am 4. 6. 1958; Deutscher Bundestag, 3. WP, Ausschuss für Atomkernenergie und Wasserwirtschaft, 11. Sitzung, S. 4, PA-DBT, 3121. 72 Vgl. oben S. 160, Anm. 3.

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die dem Ausschuss zugeleitet worden ist. Nach eingehender Aussprache stimmen die Mitglieder des Ausschusses darin überein, aus der Mitte des Hauses sollte ein Initiativantrag eingebracht werden, in welchem die Bundesregierung ersucht wird, angesichts des Rückstandes der deutschen Atomforschung unverzüglich alle Maßnahmen zu ergreifen, die den Anschluß an die internationale Entwicklung sicherstellen.«73 Auch Wissenschaftler, die sich um Fördergelder bemühten, konnten den Rückstandstopos instrumentalisieren  – so geschehen beispielsweise im Falle des hochbelasteten ehemaligen »Rassehygienikers« und späteren Humangenetikers Otmar Freiherr von Verschuer im Jahr 1956.74 Die Bedeutung des Topos erklärt sich – neben dem Umstand, dass er im Hinblick auf die frühe bundesdeutsche Atomwirtschaft zweifellos einen realen Kern hatte  – vermutlich auch aus der fortwirkenden Kraft eines alten deutschen Deutungsmusters, das aus unterschiedlichen Gründen von einem existentiell gefährlichen Rückstand gegenüber anderen Nationen ausgeht. Erinnert sei nur an entsprechende Diskurse im Zeitalter des Kolonialismus und Imperialismus im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Das Diktum des damaligen Staatssekretärs im Auswärtigen Amt und späteren Reichskanzlers Bernhard von Bülow – »wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne«75 – brachte derartige Vorstellungen 1897 in eine berühmte Metapher. Bezüglich der Natur- und Technikwissenschaften ist bereits im frühen 20. Jahrhundert von einem deutschen Rückstand gesprochen worden  – was dann als taktisches Argument zur Legitimation für verstärkte Anstrengungen bzw. Investitionen genutzt wurde.76 Auch wenn davon auszugehen ist, dass wechselseitige Rückstandswahrnehmungen im Hinblick auf Wissenschaft und Forschung spätestens seit dem Ersten Weltkrieg ein transnationales Phänomen waren, gab es in der außen- und wissenschaftspolitisch zunächst isolierten Weimarer Republik doch ein besonderes Umfeld zur Erzeugung nationaler Rück- und

73 Ausschuss für Atomkernenergie und Wasserwirtschaft, 3. WP, 29. Sitzung, S. 4 f., PA-DBT, 3121. 74 Vgl. hierzu Alex, Mutation oder Vererbung?, in: Hettstedt / Raithel / Weise (Hrsg.), Im Spielfeld der Interessen [erscheint 2023]. 75 Verh. Reichstag, 9. Legislaturperiode, 4. Sitzung, 6. 12. 1897, S. 60. 76 Vgl. generell Helmuth Trischler, Das Rückstandssyndrom. Ressourcenkons­ tellationen und epistemische Orientierungen in Natur- und Technikwissenschaften, in: Orth / Oberkrome (Hrsg.), Forschungsgemeinschaft, S. 111–125; zu einer Stimme aus den 1930er Jahren vgl. Lax, Das ›Lineare Modell der Innovation‹, S. 69.

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»Notstands«-Diskurse.77 Diese alte Rückstandstopik gewann nun in den 1950er Jahren eine neue inhaltliche Ausrichtung, verbunden mit einer ­vorübergehenden Intensivierung. Und gleichzeitig diente sie dem Atomministerium dazu, die mit der eigenen Tätigkeit verbundenen politischen und finanziellen Ansprüche zu untermauern. Der ursprünglich in den untersuchten Quellen allein auf das Feld der Atomforschung und Atomwirtschaft bezogene Topos vom Rückstand wurde mit der Zeit vielfach variiert und in den 1960er Jahren hin und wieder auf die Luft- und Raumfahrtforschung und generell auf die technologische Entwicklung ausgeweitet. Vereinzelt artikulierte sich in den 1960er Jahren in der bundesdeutschen Öffentlichkeit und Politik eine erneuerte Furcht vor einem Rückstand gegenüber den USA. Die Regierungserklärung von Kurt Georg Kiesinger, der im Dezember 1966 vor der »Gefahr eines technologischen Rückstandes« warnte, ist ein Beleg hierfür.78 In den untersuchten Quellen zur Außendarstellung des Forschungsministeriums lässt sich diese spezifische Neu-Akzentuierung allerdings nicht erkennen. Unabhängig von der Frage, welche Breitenwirkung der Rückstands­diskurs der 1960er Jahre besaß, ist dieser Befund keineswegs ­überraschend. Ein allzu starker Bezug auf den Rückstandstopos hätte zu 77 Vgl. hierzu Désirée Schauz, Technische Fortschrittserwartungen, internationale Konkurrenz und die Geburt der deutschen Wissenschaftspolitik, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 48 (2020), S. 41–82, v. a. S. 45–51. Der Begriff der »Not« spiegelt sich insbesondere auch im Namen der 1920 gegründeten »Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft«, dem Vorläufer der DFG. Vgl. ebd., S. 48. 78 Verh. Bundestag, 5. WP, 80. Sitzung, 13. 12. 1966, S. 3659. Vgl. auch die Erwähnung in Elke Seefried / Andreas Malycha, Planen, um aufzuschließen: Forschungsplanung in der Bundesrepublik und der DDR, in: Seefried, Elke / Hoffmann, Dierk (Hrsg.), Plan und Planung. Deutsch-deutsche Vorgriffe auf die Zukunft, Berlin 2018, S. 35–67, hier S. 38. Im Hintergrund stand ein 1965 publizierter OECD-Bericht, der im Vergleich zur Bundesrepublik weitaus höhere US-amerikanische Forschungsausgaben konstatiert hatte. Vgl. ebenda, S. 37 f. – Ein Beispiel für den Rückstandstopos im Bereich der Elektrotechnik bietet: Der Bundesminister für Wissenschaftliche Forschung, Bundesbericht Forschung II, in: Verh. Bundestag, 5. WP, Drs. V/2054, S. 7: »Nicht zuletzt wegen des Fehlens staatlicher Förderungsmaßnahmen ist die deutsche elektrotechnische Industrie in einigen Bereichen der elektronischen Datenverarbeitung, der Radartechnik und der Halbleitertechnik in einen technologischen Rückstand gegenüber den Vereinigten Staaten geraten.« – Generell zur Rückstandsdiskussion der 1960er Jahre vgl. die auf eine Umfrage unter Wissenschaftlern gestützte Bestandsaufnahme von Richard Clausen, Stand und Rückstand der Forschung in Deutschland in den Naturwissenschaften und den Ingenieurwissenschaften, Wiesbaden 1964.

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diesem Zeitpunkt dem Erfolgsnarrativ widersprochen, das – wie gleich zu sehen sein wird – in den 1960er Jahren in der Außendarstellung des Ministeriums bedeutsamer wurde. Im ausgewerteten Material wurde der Rückstand fast ausschließlich negativ bewertet. Es fand sich nur eine einzige Bemerkung, die auf eine potentiell positive Seite eines Rückstandes verwies. Bezeichnenderweise geschah dies nicht in der an die Öffentlichkeit gerichteten Außendarstellung, sondern im semi-öffentlichen Bundestagsausschuss. Hier betonte Balke laut Protokoll im Dezember 1957: »Wir in Deutschland seien in der glücklichen Lage, bei unserer technischen Entwicklung auf bereits gesammelte Erfahrungen zurückgreifen zu können.«79 Im Laufe der 1960er Jahre wandelten sich die Perspektive und hin und wieder auch der Bezug des Rückstandstopos. Immer mehr war nun in Sachen Atomenergie von einem erfolgreichen Aufholprozess und Anschlussfinden die Rede. Beispielsweise stellte Lenz 1963 vor dem Bundestagsausschuss für Atomkernenergie und Wasserwirtschaft in Aussicht, dass die Bundesrepublik bei weiterer Verwirklichung des Atomprogramms bis 1967 »auf breiter Front Anschluß an die internationale Entwicklung« gewinnen würde.80 Im weiteren Verlauf seiner Ausführungen vor dem Ausschuss übertrug der Forschungsminister den Rückstandstopos dann auf die »Weltraumforschung« und forderte, »wenigstens den Anschluss an vergleichbare europäische Staaten zu finden«.81 1965 ging Cartellieri in einem Vortrag dann in Sachen Kernenergie bereits von einem fast erfolgreichen Anschluss der bundesdeutschen Kernforschung aus: »Die 3. Genfer Konferenz zur Förderung der friedlichen Nutzung der Kernenergie im Herbst 1964 hat gezeigt, daß der von uns eingeschlagene Weg richtig war. In der Erforschung und Nutzung der Kernenergie für friedliche Zwecke haben wir im wesentlichen den Anschluß erreicht, was aber nicht zum ›Ausruhen‹ berechtigt.«82 Und Stoltenberg konstatierte im ministeriellen Jahresbericht von 1968 zufrieden: »Als Ergebnis langjähriger Arbeit holt unser Land im internationalen wissenschaftlich-technischen Leistungs-

79 Deutscher Bundestag, 3. WP, Ausschuss für Atomkernenergie und Wasserwirtschaft, 20. Sitzung, 5. 12. 1957, S. 5, PA-DBT, 3121. 80 Deutscher Bundestag, 4. WP, Kurzprotokoll der 20. Sitzung des Ausschusses für Atomkernenergie und Wasserwirtschaft, 13. 11. 1963, S. 5, PA-DBT, 3121. 81 Ebenda, S. 10. 82 Wolfgang Cartellieri, Akzente staatlicher Forschungsförderung (= Sonderdruck aus dem Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 185, vom 24. November 1965), Bonn 1965, S. 11.

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vergleich deutlich auf.«83 Dass damit ein sich allmählich verfestigendes Erfolgsnarrativ für das eigene Ministerium etabliert wurde, das wiederum im Kontext einer nach und nach entstehenden generellen Erfolgserzählung der Bundesrepublik stand,84 ist offensichtlich. In enger Beziehung zum Sprechen über ein erfolgreiches Aufholen standen Mitte der 1960er Jahre Hinweise auf die gewachsene internationale Anerkennung. Das Vorwort von Forschungsminister Lenz formulierte für den Jahresbericht 1964: »Die Leistungen unserer Wissenschaftler haben auch 1964 mit an erster Stelle dazu beigetragen, daß der Name unseres Landes in der Welt, knapp 20 Jahre nach dem Ende einer menschenunwürdigen Diktatur und eines verheerenden Krieges, wieder mit Anerkennung genannt wird.«85 Ein Jahr später wies der Jahresbericht auf die »Beachtung der deutschen Beiträge auf der Dritten Internationalen Atomkonferenz in Genf im Jahre 1964« hin.86 Es ging demnach nicht allein um einen technologischen Aufholprozess mit hoher wirtschaftlicher Bedeutung. Wenngleich dies selten formuliert wurde, spielte wohl auch die Wiederherstellung eines nationalen Prestiges, das eng mit der Atomforschung bzw. der naturwissenschaftlich-technischen Forschung im Allgemeinen verbunden wurde, eine gewisse Rolle. »Wir sind wieder wer« – diese Vorstellung bezog sich in der erstarkenden Bundesrepublik bekanntlich nicht nur auf die Fußball-Nationalmannschaft. Auch in technologischer Hinsicht war die Bundesrepublik, diesen Eindruck vermitteln die ausgewerteten Quellen für die Zeit seit etwa Mitte der 1960er Jahre, »zurück auf dem Platz«.87 Dennoch finden sich bis Mitte der 1960er Jahre Restformen des Rückstandstopos, etwa wenn Stoltenberg im ministeriellen Jahres­bericht für 1965 betonte, »daß in den nächsten Jahren noch mehr getan werden muß als bisher, um den Anschluß an das wissenschaftliche Niveau ver-

83 Gerhard Stoltenberg, Ausgewogenes System der Wissenschaftsförderung, in: Bundesministerium für wissenschaftliche Forschung, in: Jahresbericht der Bundesregierung 1968, S. 525 f., hier S. 525. 84 Vgl. Katrin Hammerstein, Gemeinsame Vergangenheit – getrennte Erinnerung? Der Nationalsozialismus in Gedächtnisdiskursen und Identitätskonstruktionen von Bundesrepublik Deutschland, DDR und Österreich, Göttingen 2017, S. 68. 85 Hans Lenz, [Vorwort], in: Bundesministerium für wissenschaftliche Forschung, in: Deutsche Politik 1964, S. 323 f., hier S. 323. 86 10 Jahre ministerielle Arbeit, in: Bundesministerium für wissenschaftliche Forschung, in: Deutsche Politik 1965, S. 306. 87 Zum fußballsprachlichen Topos und seinem Bezug auf die Geschichte der Bundesrepublik vgl. Franz-Josef Brüggemeier, Zurück auf dem Platz. Deutschland und die Fußball-Weltmeisterschaft 1954, München 2004.

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gleichbarer Industrienationen endgültig [Hervorhebung der Verfasser] sicherzustellen.«88 In der eben zitierten Aussage des damaligen Forschungsministers taucht ein anderes Kennzeichen des Gegenwartsdiskurses der 1960er Jahre auf: der Hinweis darauf, dass das nun erreichte wissenschaftlich-technologische Niveau »gesichert« werden müsse, was gleichzeitig implizit die Gefahr eines erneuten Rückstands aufscheinen ließ. Ein weiteres Beispiel ­bietet ein publiziertes Vortragsmanuskript von Staatssekretär Cartellieri zum Thema »Großforschung« aus dem Jahr 1963, in dem von der notwendigen »Sicherung« der »Stellung als Industriestaat« die Rede ist.89 Dass sich der stark in Kategorien des internationalen Wettbewerbs verankerte Rückstandstopos in der Außendarstellung des Ministeriums im Laufe der 1960er Jahre abschwächte, zeigt auch der 1967 dem Bundestag vorgelegte Forschungsbericht II, der die Kategorie des Rückstandes letztlich als zu eng für die angestrebte Forschungspolitik bewertet: »Forschungspolitik darf sich nicht nur davon leiten lassen, Rückstände aufzuholen. Sie muß sich stärker und konsequenter als bisher solcher Aufgaben annehmen, von deren Lösung die weitere Entwicklung von Gesellschaft und Wirtschaft in besonderem Maße abhängt.«90 Die in diesem Zusammenhang genannten »Zukunftsaufgaben, etwa auf den Gebieten der Welternährung, Energieversorgung, Raumordnung, Umwelthygiene, des Massenverkehrs oder der Bildungsplanung« verweisen auf den inzwischen im Vergleich zu den 1950er Jahren deutlich erweiterten fachlichen Horizont des Ministeriums. Das Thema »Demokratie« und damit auch die fundamentale staatsrechtliche und gesellschaftliche Transformation vom NS-Regime zur frühen Bundesrepublik kam in der Außendarstellung des Ministeriums e­ xplizit zunächst so gut wie gar nicht vor: Dies hängt zum einen mit der wissenschaftlich-technologischen Beschränkung im Zuständigkeitsbereich des Ministeriums zusammen. Zum anderen spielte vermutlich der Umstand 88 Gerhard Stoltenberg, [Vorwort], in: Bundesministerium für wissenschaftliche Forschung, in: Deutsche Politik 1965, S. 305 f., hier S. 306. 89 Cartellieri, Großforschung, S. 3. Vgl. auch Wolfgang Cartellieri, Bildungs- und Forschungspolitik für 1980. Eine Übersicht über vordringliche Probleme und ihre Auswirkungen auf die Rechts- und Sozialordnung, Essen 1965, S. 5: »[…] was getan werden muß, wenn wir im Zeitraum der nächsten 15 Jahre – also bis 1980 – weiterhin zu den in der Welt wegen ihrer Leistungen geschätzten und damit wirtschaftlich wettbewerbsfähigsten Nationen gezählt werden wollen.« 90 Der Bundesminister für Wissenschaftliche Forschung, Bundesbericht Forschung II, in: Verh. Bundestag, 5. WP, Drs. V/2054, S. 7; auch zum Folgenden. Ebenfalls zitiert in Seefried / Malycha, Planen, um aufzuschließen, S. 38 f.

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eine Rolle, dass ein breites, nicht auf das politische System, sondern auch auf die Gesellschaft bezogenes Demokratieverständnis in der frühen Bundesrepublik nur langsam an Boden gewann.91 Letzteres spiegelte sich zunächst auch in einer elitären und durchaus autoritativen Grundhaltung. Das Ministerium sah sich, so vermittelt es jedenfalls der nach außen gerichtete Diskurs, als kundiger und vernünftiger Sachwalter deutscher Interessen im internationalen Konkurrenzkampf, stets im Einklang mit dem Stand der Wissenschaft. Analog zu dem immer noch vorherrschenden ganzheitlichen Volksbegriff zeigte sich hier die traditionelle antipluralistische Vorstellung »eines prädefinierten Gemeinwohls«, wie sie in der frühen Bundesrepublik durchaus noch üblich war.92 Der bundesdeutschen Bevölkerung bzw. Öffentlichkeit – in der es neben partiellen Reserven gegenüber dem Ausbau der zivil genutzten Atomenergie wohl auch viel grundsätzliche Zustimmung gab93  – kam, wenn sie überhaupt Erwähnung fand, die Rolle eines weithin noch unkundigen und unerfahrenen, gegenüber der Kernenergie übermäßig ängstlich eingestellten Akteurs zu. Ein derartiges Bewertungsmuster findet sich stark ausgeprägt in Redemanuskripten, Buchbeiträgen und Presseartikeln von Franz Josef Strauß. So stellte der erste Atomminister 1955 /56 in einem Beitrag zum Thema »Atomenergie und Landwirtschaft« einleitend und stark pauschalisierend fest, dass »die Öffentlichkeit noch heute allzusehr unter dem Eindruck 91 Vgl. Paul Nolte, Was ist Demokratie? Geschichte und Gegenwart, München 2012, S. 332–341. Vgl. auch die Kritik von Weinke, »Alles noch schlimmer als ohnehin gedacht«?, am Demokratisierungs-Narrativ in großen Teilen der Behördenforschung. 92 Bein, Pluralismus und Antipluralismus, S. 27. 93 Die Forschungslage ist keineswegs eindeutig. Der Großteil der Literatur geht von einer weitverbreiteten, aus der überwältigenden Furcht vor einem Atomkrieg ­resultierenden Ablehnung der Kernkraft durch bundesdeutsche Öffentlichkeit aus. Vgl. z. B. Radkau, Aufstieg und Krise, S. 89; Jens Ivo Engels, Naturpolitik in der Bundesrepublik. Ideenwelt und politische Verhaltensstile in Naturschutz und Umweltbewegung 1950–1980, Paderborn u. a. 2006, S. 345, und neuerdings auch Dolores L. Augustine, Taking on Technocracy. Nuclear Power in Germany, 1945 to the Present, New York 2018, S. 37. Zu einer anderen Auffassung kommen Gleitsmann-Topp / Oetzel, Fortschrittsfeinde im Atomzeitalter?, S. 123–139, gestützt auf eine breite und differenzierte Auswertung von Meinungsumfragen. Demnach könne von einer »Ablehnung der Atomkraft durch die Bevölkerung, bzw. von deren kollektiver Traumatisierung durch die ›Atombombe‹ keine Rede sein« (ebenda, S. 138). Auch die ebenda, S. 43–116, analysierte lokale Protestbewegung gegen den Ausbau der »Reaktorstation Karlsruhe« sei nicht aus einer generellen Ablehnung der Atomenergie erwachsen.

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der furchtbaren Zerstörungskraft des Atoms [stehe] und […] zu wenig von den gewaltigen Möglichkeiten [wisse], die in der Nutzbarmachung der Atomkraft für friedliche Zwecke liegen«.94 Ähnlich schrieb er 1956 im Vorwort zu dem populärwissenschaftlichen Buch »Wir werden durch Atome leben«, dass für die »ältere Generation«, deren »erste Bekanntschaft mit dem Atom eine Begegnung mit Luzifer« gewesen sei jetzt durch die Buchlektüre »die lichte Seite der Atomkraft entdecken [werde] und in ihr einen guten Geist […], denn ihr vernunftgemäßer Gebrauch kann der ganzen Menschheit zum Segen gereichen«.95 Strauß polemisierte gleichzeitig gegen »das mystische Grauen […], das die Menschen beim Hören der vier Buchstaben Atom heute noch befällt«, gegen die »Atomangst«, die »Atompsychose« oder »›Atomgespenster‹, die man heute an die Wand male«.96 Als Urheber der »Angstmacherei« sah er »gefährliche Atom-Propheten« oder gar »die Drahtzieher Moskaus«, »die in den Demokratien die öffentliche Meinung gegen das Atom und seine wirtschaftliche Ausnutzung aufwiegeln würden, damit die Sowjet­ union eines Tages als alleinige Atomgroßmacht dastehe«.97 Einzelnen kritischen Wissenschaftlern sprach der Minister schlichtweg die fachliche Qualität ab: In einem Fernsehvortrag führte er im September 1956 aus, dass zum Thema »radioaktive Strahlungen« »in letzter Zeit phantasievolle, unseriöse, unobjektive, bewusst übertriebene, auf Stimmungsmache abgestellte Berichte veröffentlicht worden« seien, »leider auch mit dem Namen des einen oder anderen Wissenschaftlers versehen, der vielleicht seine mangelnde wissenschaftliche Leistung glaubt durch solche Agitation ersetzen zu können«.98 Höchstwahrscheinlich zielte Strauß hier auf den Physiker und späteren SPD-Bundestagsabgeordneten Karl Bechert, der Ende der 1950er Jahre innerhalb der bundesdeutschen Fachwelt und Öffentlichkeit als singulärer wissenschaftlicher Warner vor den Gefahren 94 BArch, B 138 /118, Bl. 415. 95 Franz Josef Strauß, Vorwort, in: Löwenthal / Hausen, Atome, S. 13 f.; zum Kontext des »Luzifer«-Zitats vgl. oben S. 68. Wehner, Versicherung der Atomgefahr, S. 62, sieht in dem Buch eine »halboffizielle Publikation des Ressorts«. 96 Zitate aus: Strauß, [Vorwort], in: Das Bundesministerium für Atomfragen, in: Deutschland im Wiederaufbau 1955, S. 411 f., hier S. 411; ders., »Atomenergie und Landwirtschaft« (s. Anm. 22), sowie Interview »›Atomwirtschaft‹ weder Staatsnoch Privatmonopol«, in: Tages-Anzeiger, Nr. 221, 17. 9. 1956, BArch, B 138 /118. 97 Ebenda zu einer Rede von Strauß bei der »Jahresversammlung der Bezirksgruppe Regensburg der Arbeitgeberverbände in Bayern«; Schreibmaschinenmanuskript »Gefährliche Atom-Propheten«, 23. 8. 1956, BArch, B 138 /118, Bl. 391. 98 »Vortrag von Herrn Bundesminister Strauß vor dem Deutschen Fernsehen am 13. September 1956«, BArch, B 138 /118, Bl. 451–453, hier Bl. 451.

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einer zivilen Nutzung der Atomenergie auftrat.99 Ansonsten waren die deutschen Atomwissenschaftler, gerade auch diejenigen, die am »Uranverein« der NS-Zeit beteiligt gewesen waren, vehemente Verfechter einer »friedlichen« Atomtechnik.100 Ein gewisses »Gefahrenszenario« hinsichtlich der damit verbundenen Strahlenbelastung war in den späten 1950er Jahren freilich auch in wissenschaftlichen Kreisen verbreitet und wurde insbesondere von Humangenetikern dazu genutzt, um Fördergelder für ihre Forschungen über mögliche Mutationen menschlicher Gene zu akquirieren.101 Die polemische Abwehrhaltung von Strauß gegen eine vermeintliche »Atompsychose« sollte noch auf Jahre die Haltung des Ministeriums gegen grundsätzliche öffentliche Kritik an der Kernenergie prägen.102 Unter Atomminister Balke modifizierte sich dann die autoritative Stoßrichtung. Statt gegen die »Atomangst« zu polemisieren,103 konzentrierte sich der Chemiker darauf, seine eigene fachliche Kompetenz herauszustellen und das  – schon bei Strauß vorhandene104  – fürsorgliche Argument zu 99 Zu Bechert (1901–1981), damals Professor für theoretische Physik an der Universität Mainz, vgl. den Eintrag in Gutenberg Biographics. Verzeichnis der Professorinnen und Professoren der Universität Mainz 1477–1973, gutenberg-biographics.ub.uni-mainz.de/personen/register/eintrag/karl-bechert. html [13. 12. 2021]; Wehner, Versicherung der Atomgefahr, S. 74; GleitsmannTopp / Oetzel, Fortschrittsfeinde im Atomzeitalter?, S. 116–122. – Strauß schlug gegen Bechert eine massive persönliche Polemik an. Von der »Neuen Illustrierten« wurde Ende 1956 folgendes Zitat verbreitet: »Gucken Sie sich mal dieses Gesicht an, der Mann ist fanatisch, zudem voller Geltungsbedürfnis und in ­seiner politischen Einstellung verdächtig.« Diese Äußerung wurde am 6. 12. 1956 in einer Fragestunde des Bundestags aufgegriffen; Strauß rückte vom Inhalt des Zitats nur »halbherzig« ab. Ebenda, S. 120. 100 Zur letztgenannten Gruppe, in der Heisenberg und Carl-Friedrich von Weizsäcker führend waren, vgl. Wehner, Versicherung der Atomgefahr, S. 83: »Die zivile Kerntechnologie stellte im Selbstverständnis dieser Gruppe insofern eine Möglichkeit dar, um ihr empfundenes moralisches wie wissenschaftliches Scheitern nachträglich zu mildern und ihr Lebenswerk zu einem positiven Abschluss zu bringen.« 101 Vgl. Alex, Mutation oder Vererbung? 102 Nach Möller, Endlagerung, S. 319, hatte Strauß den Begriff »salonfähig gemacht«. Vgl. zur Prägekraft, u. a. mit Verweis auf den Referatsleiter für Strahlenschutz, Georg Straimer, ebenda, S. 318–322. 103 Vgl. allerdings ebenda, S. 321, den Beleg für eine interne Verwendung des Begriffs »Atompsychose« durch Balke im Jahr 1960. 104 Vgl. z. B. die Schlusssätze des Strauß’schen Schreibmaschinenmanuskripts »Gefährliche Atom-Propheten« vom 23. 8. 1956: »Ich kann demgegenüber nur wiederholen, dass von der Bundesregierung alle Vorkehrungen getroffen sind, um

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gebrauchen, dass die Bevölkerung bestmöglich vor Gefahren geschützt werde. »An erster Stelle«, so versicherte 1957 eine kleine Wahlkampfschrift Balkes etwas verklausuliert, »steht der Strahlenschutz für die Bevölkerung, dessen Regelung und Bewältigung nach seiner [Balkes] festen Überzeugung am Anfang der zivilen Verwendung der Atomenergie stehen muss.«105 Ein freundlich-elitäres Grundverständnis zeigte sich bei Balke auch in dem belehrenden Duktus, den er gelegentlich annahm. So hielt er bei seinem Auftritt im zuständigen Bundestagsausschuss zu Beginn der 4. Legislaturperiode im Januar 1962 erst einmal einen kleinen Einführungsvortrag zu den physikalischen und chemischen Grundlagen der »Atomkernenergie«.106 Auffallend ist, dass sich das Ministerium Ende der 1950er Jahre in der Phase der heftigen öffentlichen Proteste gegen eine Atombewaffnung der Bundeswehr (»Kampf dem Atomtod«)107 völlig zurückhielt. Dies hing zweifellos mit der ausschließlichen Stoßrichtung des politischen Widerstands gegen eine militärische Nutzung der Atomkraft zusammen, aber wohl auch mit der Haltung Balkes, der in der öffentlichen Auseinandersetzung zur Zurückhaltung neigte.108 Ein Bedeutungsgewinn und vor allem eine inhaltliche Erweiterung des Demokratiebegriffes hin zu einer breiten gesellschaftlichen Partizipation sowie eine Abschwächung der elitären Perspektive sind erst für die Zeit ab Anfang der 1960er Jahre festzustellen. Ansätze hierzu zeigen sich in Beiträgen von Forschungsminister Hans Lenz. So endete das Vorwort von Lenz für den ministeriellen Jahresbericht 1962 mit einem Appell, »den Kreis derjenigen Staatsbürger zu vergrößern, die davon überzeugt unserem Volk den notwendigen Schritt in das Atomzeitalter ohne Gefahren und ohne unnötige Risiken zu ermöglichen.« BArch, B 138 /118, Bl. 93. 105 »Mit Balke für Adenauer«, BArch, B 138 /118, Bl. 122–124, hier Bl. 123. 106 Deutscher Bundestag, 4. WP, Ausschuss für Atomkernenergie und Wasserwirtschaft, 2. Sitzung, 25. 1. 1962, S. 6–12, PA-DBT, 3121. 107 Vgl. Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (Hrsg.), »Kampf dem Atomtod!« Die Protestbewegung 1957 /58 in zeithistorischer und gegenwärtiger Perspektive, München – Hamburg 2009. 108 Vgl. die Äußerungen Balkes in der Kabinettssitzung vom 14. 4. 1958: »Der Bundesminister für Atomkernenergie und Wasserwirtschaft warnt davor, den Eindruck zu erwecken, daß die Bundesregierung sich wegen ihrer Politik verteidigt. Politische Propaganda sei eine Sache der Parteien.« »Der Bundesminister für Atomkernenergie und Wasserwirtschaft erklärt, in weiten Bevölkerungskreisen sei die Ruhe und das Schweigen der Bundesregierung als Zeichen der Sicherheit empfunden worden.« Protokoll der Kabinettssitzung vom 14. 4. 1958, TOP C: Propaganda gegen atomare Bewaffnung / Rechtsfrage über Zuständigkeit von Volksbefragungen, »Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung« online, Kabinett.

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sind, daß die Wissenschaft in der modernen Industriegesellschaft zur Lebensgrundlage gehört und nicht im elfenbeinernen Turm gedeihen kann. In einer parlamentarischen Demokratie und in einem freiheitlichen Staat kommt es auf die Mitarbeit jedes einzelnen an.«109 Neuartig war zudem, dass in einem Vortrag Cartellieris über »Akzente staatlicher Forschungsförderung« Ende 1965 der Pluralismusbegriff auftauchte, der in der Bundesrepublik bis in die 1960er Jahre wenig verwendet wurde und häufig mit traditionellen Vorbehalten behaftet war.110 Wissenschaftler ebenso wie »diejenigen staatlichen Kräfte, die sich um die Wissenschaftsförderung besonders bemühen«, hätten, so bemerkte der Staatssekretär in der Evangelischen Akademie in Loccum, inzwischen erkannt, »daß man in der pluralistischen Gesellschaft seine Wünsche und Forderungen mit politisch wirksamen Argumenten anmelden muß«.111 Eine Intensivierung erfuhr der Demokratiebegriff Ende der 1960er Jahre. Dass dies tendenziell bereits vor dem Regierungswechsel von 1969 der Fall war, zeigt ein kleines Buch zum Thema »Staat und Wissenschaft«, das Forschungsminister Stoltenberg im Juni 1969 abgeschlossen hat.112 Der bis Mitte der 1960er Jahre gerade für Stoltenberg charakteristische Gebrauch eines traditionellen Volksbegriffs ist stark zurückgedrängt, stattdessen dominieren nun die Hinweise auf den »demokratischen Staat«113 oder die »liberale Demokratie«114. Auch der Pluralismusbegriff findet Verwendung, wobei Stoltenberg ihn nun – in Zeiten der »68er-Bewegung« – bereits als staatstragende Konsensformel gegenüber weitergehenden politischen Ansprüchen eines »Teil[s] der Jugend« verwendet.115

109 Hans Lenz, [Vorwort], in: Das Bundesministerium für wissenschaftliche Forschung, in: Deutsche Politik 1962, S. 421 f., hier S. 422. 110 Vgl. in diesem Zusammenhang Inhalt und Duktus eines Vortrags des führenden bundesdeutschen Pluralismustheoretikers auf dem 45. Deutschen Juristentag 1964: Ernst Fraenkel, Der Pluralismus als Strukturelement der freiheitlichrechtsstaatlichen Demokratie [1964], in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 5: ­Demokratie und Pluralismus, hrsg. von Alexander von Brünneck, Baden-Baden 2007, S. 256–280. Zum Kontext vgl. Hans Kremendahl, Pluralismustheorie in Deutschland. Entstehung, Kritik, Perspektiven, Leverkusen 1977, S. 186–236. 111 Cartellieri, Akzente, S. 5. 112 Gerhard Stoltenberg, Staat und Wissenschaft. Zukunftsaufgaben der Wissenschafts- und Bildungspolitik, Stuttgart 1969; zur Datierung vgl. ebenda, S. 9. 113 Vgl. z. B. ebenda und S. 85. 114 Vgl. ebenda, S. 83. 115 Ebenda, S. 83 f., Zitat S. 83. Bezeichnend ist, dass Stoltenberg ebenda, S. 84, explizit die »Formel von der pluralistischen Gesellschaft« gebraucht.

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Nach Antritt der sozialliberalen Koalition im Oktober 1969 bekam der von Vertretern des neuformierten Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft verwendete Demokratiebegriff eine breitere gesellschaft­ liche Dimension.116 Gleichzeitig wurde bereits seit der zweiten Hälfte der 1960er Jahre der Begriff der Gesellschaft selbst zu einer Grundkategorie des politischen Diskurses.117 All dies hing nicht nur mit dem neuen Personal an der Spitze zusammen, sondern auch mit dem erweiterten Zuständigkeitsbereich des Ministeriums, der nun übergeordnete Aspekte der Bildungspolitik umfasste. So nahm das Vorwort des neuen Bundesministers für Bildung und Wissenschaft Hans Leussink zum Jahresbericht 1969 bereits in seinem ersten Satz programmatisch Bezug auf die Regierungs­ erklärung Willy Brandts vom 28. Oktober 1969.118 Der Kanzler habe »festgestellt, daß Bildung und Ausbildung, Wissenschaft und Forschung an der Spitze derjenigen inneren Reformen stehen, die zur Verwirklichung der sozialen Demokratie in unserem Lande beitragen sollen«.119 Wie der weitere Text dieses Vorworts zeigt, waren die Forderungen nach »Teilnahme« am Bildungsprozess und an wissenschaftlicher Forschung, nach »Kritikfähigkeit«, nach »Fähigkeit zu lebenslangem Lernen« und vor allem nach Chancengleichheit im Bildungsbereich wesentliche Aspekte eines derart erweiterten Demokratiebegriffs. Als zentrale Bezugskategorie diente am Ende des Vorworts der »soziale Fortschritt unserer Gesellschaft«.120 Dieser Ansatz blieb auch in den kommenden Jahren sehr präsent. Prägnant heißt es beispielsweise im Jahresbericht von 1971: »Wir brauchen ein demokratisches Schulwesen, das jedem seine Chance gibt.«121

116 Zur »Erweiterung der semantischen Merkmale der Demokratie im öffentlichen Bewusstsein« in den 1960er und 1970er Jahren vgl. auch »Demokratie / Demokratisierung«, in: Stötzel, Georg / Eitz, Thorsten (Hrsg.), Zeitgeschichtliches Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache. Schlüsselwörter und Orientierungsvokabeln, Hildesheim 22003, S. 78–82, hier S. 80 f. 117 Vgl. z. B. Zitat aus: Der Bundesminister für Wissenschaftliche Forschung, Bundesbericht Forschung II, in: Verh. Bundestag, 5. WP, Drs. V/2054, S. 7. 118 Vgl. Verh. Bundestag, 6. WP, 5. Sitzung, S. 26. In dieser Regierungserklärung, ebenda, S. 20, findet sich auch der berühmt gewordene Satz: »Wir wollen mehr Demokratie wagen.« 119 Hans Leussink, Bildung und Wissenschaft an der Spitze der Reformen, in: Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft, in: Jahresbericht der Bundesregierung 1969, S. 578 f., hier S. 578. Ebenda auch zum Folgenden. 120 Ebenda, S. 4. 121 Die Aufgaben wurden erfüllt, in: Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft, in: Jahresbericht der Bundesregierung 1971, S. 859 f., hier S. 859.

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Das intensivierte Sprechen über Demokratie und Gesellschaft, das sich in der allgemeinen deutschen Sprachentwicklung dieser Jahre deutlich abzeichnet,122 war gegen Ende des untersuchten Zeitraums eng verbunden mit dem Begriff der Reform. Wie bereits im Kontext der Zukunftsperspektiven angedeutet, wurde »Reform« Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre zu einem innenpolitischen Leitbegriff.123 In den von uns ausgewerteten Quellen lagen die Anfänge dieser Entwicklung bereits vor dem Regierungswechsel von 1969, d. h. in der Phase der Großen Koalition von CDU/CSU und SPD (1966 bis 1969). Bereits das Vorwort von Stoltenberg zum Jahresbericht von 1968 maß dem »Vermögen zur Reform« in bildungspolitischer Hinsicht eine »entscheidend[e]« Bedeutung zu.124 Das wichtigste Reformvorhaben einer derart als demokratisch und als »Gesellschaftspolitik«125 verstandenen Bildungspolitik des Bundes wurde das »Hochschulrahmengesetz«, dessen Grundlage mit einer Verfassungsänderung bereits 1969 noch zur Zeit der Großen Koalition gelegt worden 122 Vgl. die Verlaufskurven der beiden Begriffe bei der statistischen Abfrage des DWDSZeitungskorpus (ab 1945) nach dem Kriterium der relativen Häufigkeit (pro Million Tokens). »Demokratie« weist in den späten 1960er Jahren bis 1968 eine deutliche relative Spitze auf, www.dwds.de/r/plot?view=1&corpus=zeitungen&norm=date %2Bclass&smooth=spline&genres=0&grand=1&slice=1&prune=0&window=3& wbase=0&logavg=0&logscale=0&xrange=1945 %3A2018&q1=Demokratie [13. 12. 2021]. – Ähnliches zeigt sich beim Begriff »Gesellschaft«, wobei sich hier die Hochphase bis in die 1970er Jahre ­erstreckt. Vgl. www.dwds.de/r/plot?view=1&c orpus=zeitungen&norm=date%2Bclass&smooth=spline&genres=0&grand=1&sli ce=1&prune=0&window=3&wbase=0&logavg=0&logscale=0&xra nge=1945 %3A2018&q1=Gesellschaft [13. 12. 2021]. 123 Vgl. zur gesteigerten Häufigkeit in der deutschen Sprache seit Mitte der 1960er Jahre erneut die Verlaufskurven bei der statistischen Abfrage des DWDS-Zeitungskorpus (ab 1945): www.dwds.de/r/plot?view=1&corpus=zeitungen&norm =date%2Bclass&smooth=spline&genres=0&grand=1&slice=1&prune=0&wind ow=3&wbase=0&logavg=0&logscale=0&xrange=1945 %3A2018&q1=Reform [13. 12. 2021]. 124 Gerhard Stoltenberg, Ausgewogenes System der Wissenschaftsförderung, in: Bundesministerium für wissenschaftliche Forschung, Jahresbericht der Bundesregierung 1968, S. 525 f., hier S. 526: »In engem Zusammenhang mit der Forschungsförderung stehen die Probleme der Lehr- und Ausbildungsstätten, insbesondere der Hochschulen. Hier ist vieles in Bewegung geraten. Entscheidend bleibt auch künftig das Vermögen zur Reform, zum durchgreifenden Handeln.« Bereits seit Mitte der 1960er Jahre gab es im Ministerium zwei Referate, die sich explizit mit der Förderung des Hochschulwesens beschäftigten. 125 Vgl. Die Aufgaben wurden erfüllt, in: Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft, in: Jahresbericht der Bundesregierung 1971, S. 859 f., hier S. 859: »Bildungspolitik ist Gesellschaftspolitik.«

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war, und dessen parlamentarische Verabschiedung sich noch bis Anfang 1976 hinziehen sollte.126 Wie Leussink am 10.  März 1971 bei der Ein­ bringung der Gesetzesvorlage im Bundestag ausführte, bildete die »Verbindung von Demokratisierung und Effizienz« das Leitthema dieses Vor­ habens.127 Die diskursiven Verschiebungen im Sprechen über die Gegenwart führten gegen Ende des von uns untersuchten Zeitraums auch dazu, dass diese Gegenwart verstärkt mit Begriffen des »Modernen« und des »Neuen« in Verbindung gebracht wurde. So ging Stoltenberg 1969 in seinem bereits erwähnten Buch von der Formel einer »modernen Wissenschaftspolitik« aus.128 Minister Klaus von Dohnanyi sprach im Vorwort zum Jahresbericht 1971 von »neuen Zielen und neuen Methoden« sowie von einer »Neuformulierung« von Förderprojekten, und im Jahresbericht 1972 von einer »deutlich vorangekommen[en]« »Erneuerung des Bildungswesens«. Aus diesem Bewusstsein des Neuen heraus nahm der vor wenigen Wochen ernannte Minister Hans Leussink im November 1969 bei seinem ersten Auftritt vor dem Bundestagsausschuss für Bildung und Wissenschaft eine markante Abgrenzung zu seinem Vorgänger Gerhard Stoltenberg vor und reklamierte für sich eine neuartige Orientierung an »rationalen Kriterien« und an dem Instrumentarium der Systemanalyse.129 Um 1970 dominierte somit in dem nach außen gerichteten ministeriellen Selbstverständ-

126 Vgl. zu den Hintergründen Hoymann, Der Streit um die Hochschulrahmen­ gesetzgebung. 127 Verh. Bundestag, 6. WP, 106. Sitzung, S. 6237. 128 Stoltenberg, Staat und Wissenschaft, S. 3: »Die Strukturfragen einer modernen Wissenschaftspolitik müssen in Deutschland gründlicher als bisher diskutiert werden.«  – Generell zum Bedeutungsgewinn des Modernisierungsbegriffs und des Modernisierungsdenkens in der bundesdeutschen Forschungspolitik der 1960er Jahre vgl. Seefried / Malycha, Planen, um aufzuschließen, S. 38. 129 Deutscher Bundestag, 6. WP, Ausschuss für Bildung und Wissenschaft, 2. Sitzung, 27. 11. 1969, S. 8 f.: »Zu der von Abg. Dr. Schober (CDU/CSU) gestellten Frage [betreffend Unterschiede zum Vorgänger Stoltenberg; die Verf.] erklärt Bundesminister Prof. Dr. Leussink, daß er den Unterschied zu der Auffassung seines Vorgängers darin sehe, die Forschungsförderung nach rationalen Kriterien zu beurteilen. Er sei der Auffassung, daß diese Methode eine sehr nützliche Hilfe sei, um z. B. die allgemeine Grundlagenforschung, man könne auch sagen den Humusboden gegenüber den Projekten genau abzuwägen. Als weiteren Punkt möchte er die Systemanalyse benennen. Große Programme könne man in Zukunft nicht mehr in Angriff nehmen, ohne den Versuch unternommen zu haben, alles das, was systemanalytische Instrumente heute ermöglichten, vorher angewendet zu haben.« PA-DBT, 3117.

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nis das Bewusstsein von einer neuartigen Gegenwart, welche die Zukunft gleichsam schon in sich trug.

3. Bezüge zur Vergangenheit Bis etwa Mitte der 1960er Jahre spielte auch die Vergangenheit in der Außendarstellung des Atom- und Forschungsministeriums eine wichtige Rolle. Insgesamt lassen sich ganz unterschiedliche Aspekte des Vergangenheitsbezuges erkennen. Fundamental war erstens die bereits skizzierte Persistenz eines traditionellen Volksbegriffs, der bis Mitte der 1960er Jahre vielfach als ganzheit­ liche und stark ethnisch konnotierte Grundkategorie diente.130 Damit war eine bis ins 19. Jahrhundert zurückreichende Kontinuität gegeben, die das »deutsche Volk« als zentrale Bezugsgröße des politischen Diskurses definierte. Wie skizziert, vollzog sich dann aber seit der zweiten Hälfte der 1960er Jahre ein Umbruch: Während der traditionelle Volksbegriff weitgehend verschwand, wurden die letztlich von einem pluralistischen Gemeinwesen ausgehenden Begriffe der Demokratie und der Gesellschaft immer wichtiger. Hier ist eine klare Zäsur der politischen Sprache zu erkennen, die durch den Kompetenzgewinn des Ministeriums hin zu übergeordneten Aspekten der Bildungspolitik noch befördert wurde. Von grundlegender Bedeutung war zweitens die ebenfalls schon erwähnte menschheitsgeschichtliche Vergangenheitsperspektive, die der postulierten Zäsur des beginnenden »Atomzeitalters«131 die nötige Tiefenschärfe gab oder Analogien zur Qualifizierung des nun konstatierten Umbruchs lieferte – z. B. im Hinblick auf die urgeschichtliche Nutzbarmachung des Feuers.132 Dass die jüngere Vergangenheit in einem derart weitgespannten Zeithorizont gewissermaßen marginalisiert wurde, war eine vielleicht nicht unerwünschte Begleiterscheinung. Während der Begriff des »deutschen Volkes« lange Zeit eine Art terminologische Brücke in die Vergangenheit bildete, war das explizite Sprechen über die deutsche Vergangenheit in den untersuchten Quellen bis in die zweite Hälfte der 1960er Jahre vor allem von zwei antagonistischen Perspektiven bestimmt – dies klang schon in dem eingangs zu Kapitel III präsentierten Zitat Stoltenbergs an: 130 Vgl. oben S. 172 und S. 184. 131 Begriff z. B. in Strauß, Vorwort, in: Löwenthal / Hausen, Atome, S. 13 f. 132 Vgl. oben S. 169.

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Einerseits rekurrieren die eingesehenen Texte in einem p ­ ositiven Sinne auf die wissenschaftliche und technologische »Pionierrolle Deutschlands«.133 Zentral war zunächst der Bezug auf den Nachweis der Uranspaltung durch Otto Hahn und Fritz Straßmann im Dezember 1938, wie zum Beispiel Balke 1957 im Bundestag ausführte.134 Ein ähnliches Selbst- und Traditionsbewusstsein, dessen Wurzeln bis ins Kaiserreich zurückreichen,135 kam später hin und wieder auch im Hinblick auf die Luft- und Raumfahrtforschung zum Ausdruck. Beispielsweise wies die 1969 von Sobotta publizierte Ministeriumsgeschichte darauf hin, »daß in den Jahren 1937 bis 1944 auf dem Gebiet der Raketentechnik in Deutschland eine neue Wissenschaftsdisziplin begründet wurde, von der heute nicht nur die Vereinigten Staaten von Amerika und die Sowjetunion profitieren, sondern auch Großbritannien, Frankreich und Italien«.136 Vereinzelt wurde zudem die einstige deutsche Führungsrolle in der Computertechnologie betont. Konrad Zuse, so Sobotta, habe bereits 1940 »die ersten Weichen« für den Eintritt in das »Computerzeitalter« gestellt.137 Der positive Bezug auf die wissenschaftlich-technologische Vergangenheit Deutschlands diente in gewisser Weise der Selbstvergewisserung für die Zukunft. Ein Wiederanknüpfen an diese Pionierrolle schien jetzt geboten, so die implizite und vereinzelt auch explizite Botschaft. Andererseits stand der Blick zurück in die Vergangenheit unter negativen Vorzeichen. Allerdings war hierbei das, was wir heute als NS-Belastung in bundesdeutschen Ministerien wahrnehmen – die hohe Präsenz von ehemaligen Parteigenossen im Ministerialapparat, das Agieren einzelner Beamter, die als schwer belastet gelten müssen, oder fachliche Kontinuitätslinien aus der NS-Zeit – während des untersuchten Zeitraums im Atom- und Forschungsministerium offenbar kein oder kaum ein Thema, jedenfalls keines, das sich in schriftlichen Quellen niederschlug. Auch lässt sich keinerlei Bewusstsein über die verbrecherischen Dimensionen der NS-Forschungspolitik, etwa in der Medizin, erkennen. Die negative Fär133 So sprach Balke am 22. 2. 1957 im Bundestag von der »Pionierrolle Deutschlands in der Atomforschung«. Verh. Bundestag, 2. WP, 194. Sitzung, 22. 2. 1957, S. 11052. 134 Ebenda. Vgl. z. B. auch die verkürzte Darstellung bei Sobotta, Bundesministerium, S. 7: »Am 20.  Dezember 1938 begann mit der Kernspaltung durch Otto Hahn und Fritz Straßmann das ›Atomzeitalter‹.« 135 Vgl. den Hinweis auf den kaiserzeitlichen »Topos der ›Weltgeltung der deutschen Wissenschaft‹« in Schauz, Technische Fortschrittserwartungen, S. 43. 136 Sobotta, Bundesministerium, S. 14. 137 Ebenda, S. 7.

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bung der jüngsten Vergangenheit ergab sich in der Außendarstellung des Ministeriums vielmehr vor allem dadurch, dass die NS-Zeit – wie bereits dargestellt  – für den Rückstand der deutschen Atomwirtschaft verantwortlich gemacht wurde. Eine ganz andere, allerdings isoliert bleibende Variante des Rückstandstopos findet sich in einer der zahlreichen Schriften Cartellieris. Der Staatssekretär stellte einen Zusammenhang zwischen den negativen Erfahrungen mit der gleichgeschalteten und zumindest partiell ideologisch geprägten Wissenschaftspolitik des NS-Regimes und einer zunächst zögerlichen bundesdeutschen Forschungsförderung her: »Jede staatliche Forschungsförderung mußte Erinnerungen an die Wissenschaftspolitik des Dritten Reiches wachrufen.«138 Die bis in die frühen 1960er Jahre immer wieder gebrauchte Formel von den 10 bis 15 Jahren Rückstand der deutschen Atomwissenschaften ergab sich durch eine Summierung der Kriegsjahre und der 10-jährigen Phase massiver alliierter Restriktionen für die west- bzw. bundesdeutsche Atomforschung  – während der in anderen Staaten eine intensive, nicht zuletzt militärisch motivierte Entwicklung stattgefunden hatte.139 Dass in Deutschland im Rahmen des Uranvereins während des Zweiten Weltkriegs durchaus atomare Forschungen betrieben worden waren, die zweifellos eine militärische Dimension besaßen,140 ging in diesem Narrativ völlig unter. Bezeichnend ist auch, dass eine 1964 anlässlich der 3. Genfer Atomkonferenz in enger Kooperation mit dem Ministerium erstellte Publikation eines Wissenschaftsjournalisten über »Atomenergie in Deutschland« nur sehr kurz auf die Atomforschung in der Endphase des NS-Regimes einging und deren potentielle militärische Bedeutung weitgehend minimierte.141 138 Cartellieri, Akzente, S. 4. 139 Vgl. z. B. die explizite Formulierung im Entwurf zum Tätigkeitsbericht 1959, BArch, B 138 /1, Bl. 445: »Der gegenüber dem Ausland auf dem Atomgebiet als Folge /des Krieges und/ [hs. Ergänzung] einer 10jährigen Forschungsbeschränkung und Forschungskontrolle bestehende Rückstand in der Entwicklung […]«. 140 Vgl. oben S. 59 f. 141 Robert Gerwin, Atomenergie in Deutschland. Ein Bericht über Stand und Entwicklung der Kernforschung und Kerntechnik in der Bundesrepublik Deutschland, hrsg. in Zusammenarbeit mit dem Bundesministerium für wissenschaftliche Forschung, Düsseldorf – Wien 1964, S. 18–23. Das Buch erschien in dem populären Econ-Verlag. Parallel ist auch eine englischsprachige Ausgabe erschienen: Robert Gerwin, Atoms in Germany. A Report on the State and Development of Nuclear Research and Nuclear Technology in the Federal Republic of Germany. Issued in Cooperation with the Bundesministerium für Wissenschaftliche Forschung, Düsseldorf – Wien 1964. Auf die enge Abstimmung mit dem

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Indem die Endphase der NS-Zeit und die Zeit der von den Alliierten auferlegten Forschungsbeschränkungen bis 1955 als wissenschaftspolitische Vorgeschichte zusammengedacht wurden, ergab sich gleichsam ein schwarzes Loch, in dem die vorher so wegweisende deutsche Forschungstradition zeitweise untergegangen war. Auffallend ist zudem, dass die auf die NS-Zeit bezogene Terminologie meist vage blieb und dass der konkrete Begriff des Nationalsozialismus weitgehend gemieden wurde. Die in der Bundesrepublik lange Zeit vorherrschende und ihrerseits problematische Formel vom »Dritten Reich« wurde hingegen in den untersuchten Quellen etwas häufiger gebraucht.142 Meist aber dominierten abstrakte und diffuse Chiffren wie »die Jahre nach 1933«,143 »die damaligen Machthaber«,144 »politische Unvernunft«,145 »menschenunwürdige Diktatur«,146 »die Diktaturzeit«147 oder das »teilweise so unglückliche Zeit­geschehen«.148 Derartige Wendungen sind charakteristisch für die gesellschaftlichen Diskurse über die NS-Zeit in der frühen Bundesrepublik. Christoph Cornelißen hat in diesem Zusammenhang von einer »sprach­ lichen Dekonkretisierung« und einem »dichten sprachlichen Nebel der Abstraktion« gesprochen.149 Diese Art des Sprechens über die NS-Vergangenheit blieb nicht nur vage und verwischte konkrete Verantwortlichkeiten, sie implizierte vielfach eine eigene Opferrolle. Hin und wieder wurde dies in den ausge­ werteten Quellen erläutert. Beispielsweise führte Balke 1957 im Bundestag aus: »In Deutschland litt in den Jahren der Hahnschen Entdeckung die Forschung unter den Folgen politischer Unvernunft, und auch damals rium deutet u. a. ein maschinenschriftliches Manuskript des Buchs in den Akten des Forschungsministeriums: BArch, B 138 /1426. 142 Vgl. z. B. Cartellieri, Akzente, S. 4. – Zur Geschichte des Begriffs »Drittes Reich« und zum Umgang mit ihm in der Bundesrepublik vgl. »Drittes Reich«, in: Stötzel / Eitz (Hrsg.), Zeitgeschichtliches Wörterbuch, S. 92–98. 143 Sobotta, Bundesministerium, S. 14: »Die Jahre nach 1933 gaben der Wissenschaft eine andere Richtung.« 144 Ebenda, S. 14. 145 Balke am 22. 2. 1957 im Bundestag. Vgl. diese Seite unten mit Anm. 140. 146 Hans Lenz, [Vorwort], in: Bundesministerium für Wissenschaftliche Forschung, in: Deutsche Politik 1964, S. 323 f., hier S. 323. 147 Cartellieri, Akzente, S. 4. 148 Undatierter Lebenslauf Cartellieris, S. 6, BArch, N 1092 /1. 149 Christoph Cornelißen, »Vergangenheitsbewältigung«  – ein deutscher Sonderweg, in: Hammerstein, Katrin / Mählert, Ulrich / Trappe, Julie / Wolfrum, Edgar (Hrsg.), Aufarbeitung der Diktatur – Diktat der Aufarbeitung? Normierungsprozesse beim Umgang mit diktatorischer Vergangenheit, Göttingen 2009, S. 21– 36, hier S. 23 f.

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griff die Politik in die Entwicklung und Auswertung einer naturwissenschaftlichen Erkenntnis ein, wodurch zahlreiche deutsche Forscher in die Welt verstreut wurden.« »In Deutschland«, so fuhr der Minister fort, »war die schon während des ›Dritten Reichs‹ sehr erschwerte Forschung auf diesem Gebiet durch das Kriegsende praktisch lahmgelegt. Die Pionierrolle Deutschlands in der Atomforschung war, wenn nicht vergessen, so doch verlorengegangen […]«.150 Die Folgen dieses Verlustes für die Bundesrepublik brachte Stoltenberg 1966 in der zu Beginn dieses Kapitels zitierten Bundestagsrede auf die bereits zitierte Formel von den »politischen Hypotheken der Vergangenheit«.151 Die junge Bundesrepublik war in dieser Perspektive in gewisser Weise zum NS-Opfer geworden. Auch diese Sichtweise, die sich generell auf die Kriegserfahrung und im Besonderen auf das Schicksal der deutschen Kriegsgefangen, Vertriebenen und Flüchtlinge bezog, entsprach einer in den 1950er und 1960er Jahren weit verbreiteten Stimmungslage in der bundesdeutschen Gesellschaft. Christoph Classen hat dies treffend als »nationalen Opfermythos« bezeichnet.152 Der eben skizzierte Komplex an Vergangenheitsbezügen schwächte sich Ende der 1960er Jahre, als das Bewusstsein einer neuartigen Gegenwart um sich griff, in der Außendarstellung des nunmehrigen Forschungsund Bildungsministeriums deutlich ab. Dies bedeutete auch, dass die vorher nur sehr eingeschränkt wahrgenommene NS-Zeit nun gänzlich aus dem Blickfeld verschwand.

4. Resümee Im historischen Selbstverständnis, das während des untersuchten Zeitraums in der Außendarstellung des Atom- und Forschungsministeriums erkennbar ist, kommt der Zukunft die zentrale Bedeutung zu. Auch wenn 150 Verh. Bundestag, 2. WP, 194. Sitzung, 22. 2. 1957, S. 152. 151 Vgl. oben S. 159. 152 Christoph Classen, Back to the fifties? Die NS-Vergangenheit als nationaler Opfermythos im frühen Fernsehen der Bundesrepublik, in: Historical Social Research/Historische Sozialforschung 30/4 (2005), S. 112–127. Zur Thematik insgesamt vgl. auch K. Hammerstein, Gemeinsame Vergangenheit  – getrennte Erinnerung?, S. 73 f.; Frei, Vergangenheitspolitik, S. 40; Cornelißen, »Vergangenheitsbewältigung«, S. 25; Robert G. Moeller, Remembering the War in a Nation of Victims. West German Pasts in the 1950s, in: Schissler, Hanna (Hrsg.), The Miracle Years. A Cultural History of West Germany, 1949–1968, Princeton, NJ 2001, S. 83–109.

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der Begriff der »Zukunftstechnologien« noch nicht geläufig war:153 Dem vom Ministerium zu fördernden Ausbau der Kernkraft und anderer Einsatzmöglichkeiten atomarer Technologien, später dann auch der Luftund Raumfahrt und der Computertechnologie wurde eine Schlüsselfunktion für die Zukunft zugeschrieben. Bis Mitte der 1960er Jahre mischten sich dabei Menschheitspathos und traditionsverhaftete Bezüge auf das »deutsche Volk« in einem ganzheitlichen Sinne mit konkreteren Begründungen, die auf eine Sicherung des bundesdeutschen Industriestaats oder generell auf eine führende internationale Rolle der Bundesrepublik zielten. Der elitär-autoritative Grundansatz, »für das deutsche Volk« zu handeln – und dabei auch vermeintlich irrationale Bedenken gegen die Nutzung der Atomenergie zu überwinden –, spiegelte dabei das in der frühen Bundesrepublik vorherrschende Demokratieverständnis. Die Gegenwart wirkte in dieser Zeitphase vor allem defizitär, gekennzeichnet von einem massiven Forschungs- und Entwicklungsrückstand, der in der Regel mit 10 bis 15 Jahren bemessen wurde. Ein hohes Maß an nationalstaatlichem Konkurrenzdenken und der starke naturwissenschaftlich-technische Fortschritts- und Zukunftsbezug bildeten wichtige Rahmenbedingungen dieses Perzeptionsmusters. NS-Vergangenheit und NS-Belastung erschienen in den für dieses Kapitel untersuchten Quellen in einem ganz anderen Licht als heute: Im Mittelpunkt der Wahrnehmung standen nicht die Verbrechen des NSRegimes, sondern die in diffuses Licht gehüllte NS-Zeit galt  – pointiert gesagt – vor allem als retardierendes Moment für den Aufbau einer bundesdeutschen Atomforschung und Atomwirtschaft bzw. allgemein für die Entwicklung von Forschung. In spezifischer Hinsicht wurde dabei eine eigene Opferrolle konstruiert. Mögliche Ansatzpunkte für ein kritisches Reflektieren von NS-Belastungen, die das eigene Ressort betreffen  – sei es in personeller Hinsicht oder in Bezug auf eine militärische Dimension deutscher Atomforschung in der NS-Zeit  – waren damit nicht gegeben. Was die weitgehende Ausblendung der NS-Vergangenheit anbelangt, so zeigen sich somit deutliche Parallelen zu den vorliegenden Studien über andere bundesdeutsche Ministerien. Görtemaker und Safferling sprechen im Hinblick auf das Bundesministerium der Justiz sogar von »kollektiver 153 Erst in den 1990er Jahren nahm die Verbreitung deutlich zu. Vgl. Verlaufskurve des Begriffs »Zukunftstechnologie« bei Abfrage des DWDS-Zeitungskorpus, dwds.de/r/plot?view=2&corpus=zeitungen&norm=abs&smooth=line&genres= 0&grand=1&slice=1&prune=0&window=0&wbase=0&logavg=0&logscale=0& xrange=1945 %3A2017&q1=Zukunftstechnologie [13. 12. 2021].

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Amnesie« und »kollektive[r] Selbstamnestie«.154 Einen eigenen Akzent gewann das Verhältnis zur jüngsten Vergangenheit in der Außendarstellung des Atom- und Forschungsministeriums dadurch, dass diese in spezifischer Weise als Hypothek für den bundesdeutschen Neubeginn begriffen wurde. Nach Anfängen bereits im Laufe der 1960er Jahre vollzog sich dann seit Ende des Jahrzehnts ein deutlicher diskursiver Wandel: Der Topos vom technisch-naturwissenschaftlichen Rückstand schwächte sich ab, ohne völlig zu verschwinden. Parallel dazu formte sich ein Erfolgsnarrativ des Aufholens und des Erreichens technologischer Gleichrangigkeit. Dass im Bereich der Atomwirtschaft eine eigenständige deutsche Reaktorentwicklung weitgehend scheiterte,155 war auf dieser diskursiven Ebene kein Thema. Ebenso wie der Rückstandstopos diente dieses Narrativ letztlich der Legitimierung der ministeriellen Arbeit. Gleichzeitig erweiterte sich der Gegenwartsbezug vom technisch-naturwissenschaftlichen und wirtschaftlichen Denken hin zum Bewusstsein, dass die Politik des Ministeriums nun unter den Bedingungen eines pluralistisch-demokratischen Systems zu gestalten sei. Die Erweiterung der ministeriellen Zuständigkeit auf Aspekte der Bildungspolitik im Jahr 1969 und der Antritt der sozialliberalen Koalition beförderten diesen Prozess signifikant. Zudem konkre­ tisierte sich der Zukunftsbezug: Die pauschale Beschwörung der Zukunft wurde schwächer, und Verweise auf die in Angriff genommene Reformund Planungspolitik traten in den Vordergrund. Die Bundesrepublik war nun – vereinfacht gesagt – kein Opfer der NS-Zeit mehr, sondern ein erfolgreicher und selbstbewusster politischer und wirtschaftlicher Akteur, der seine Geschicke mit einem breiten Reformimpetus und mit syste­ matischer Planung gestaltete. Eine selbstkritische Thematisierung von NS-Belastungen blieb auch in dieser neuen Konstellation weiterhin außerhalb des diskursiven Rahmens. Wie ein Symbol des konstatierten Umbruchs im ministeriellen Diskurs der Außendarstellung wirkt der moderne Hochhausbau im Bonner Tulpenfeld, den das damalige Bundesministerium für wissenschaftliche For154 Görtemaker / Safferling, Die Rosenburg, S. 176. Bei Günther / Maeke, Unpolitischer Beamter, S. 269, ist im Kontext der Selbststilisierung als reine Verwaltungsexperten von einem damit verbundenen »letztlich exkulpierende[m] Bild von der eigenen Rolle im Nationalsozialismus« die Rede. 155 Die Entwicklung eines deutschen Schwerwasserreaktors erwies sich als technologische Sackgasse. Letztlich setzten sich in den 1960er Jahren Leichtwasser­ reaktoren US-amerikanischer Bauart durch. Vgl. Radkau, Aufstieg und Krise, S. 258–265; Müller, Geschichte, Bd. 2, S. 353–386.

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Abb. 5: Neubau des Bundesministeriums für wissenschaftliche Forschung, 1968

schung im Jahr 1968 bezog (siehe Abb. 5). Doch das neue bauliche Erscheinungsbild des Ministeriums trug die nicht aufzulösende deutsche Vergangenheit gleichsam in sich. Der für den Neubau und das gesamte Büroensemble auf dem Tulpenfeld verantwortliche Düsseldorfer Architekt Hanns Dustmann (1902–1979) war von 1931 bis 1933 bei Walter Gropius beschäftigt gewesen und in den späten 1930er Jahren zu einem bedeutenden Mitarbeiter Albert Speers avanciert. Seit den 1950er Jahren hatte sich Dustmann allmählich von Formen des Heimatschutzstils und eines NS-geprägten Klassizismus ab- und wieder der architektonischen Moderne zugewendet.156 Einiges spricht dafür, dass das in den genannten Quellengruppen erkennbare historische Selbstverständnis keineswegs nur auf das Atom- und Forschungsministerium beschränkt war. Wie ausgeführt, enthielten in den 1950er Jahren auch sozialdemokratische Verlautbarungen eine mensch156 Vgl. Eva-Maria Krausse-Jünemann, Hanns Dustmann (1902–1979). Kontinuität und Wandel im Werk eines Architekten von der Weimarer Republik bis Ende der fünfziger Jahre, Kiel 2002, v. a. S. 220–225, 341–343 und Abb. 223; »Prof. Hanns Dustmann«, in: archINFORM. Internationale Architektur-Datenbank, deu.archinform.net/arch/17647.htm [13. 12. 2021].

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heitsgeschichtliche Deutung der Atomenergie. Zu anderen zentralen Aspekten, wie etwa zum Rückstandstopos, lassen sich Äußerungen von Bundestagsabgeordneten finden, die den Formulierungen der Atom- und Forschungsminister ähneln.157 Es besteht daher Anlass zu der Hypothese, dass das im Diskurs des Atom- und Forschungsministeriums konstruierte historische Selbstverständnis zumindest teilweise einen forschungspolitischen Mainstream innerhalb der politischen Elite der Bundesrepublik gespiegelt hat.

157 Vgl. z. B. die ebenfalls in Opferperspektive formulierten Äußerungen des Abgeordneten Kurt Schober (CDU) am 12. 10. 1966: »Als wir im Jahr 1955 dieses Gebiet ganz neu in Angriff nahmen, mußte Deutschland einen Rückstand aufholen, der dadurch entstanden war, daß uns Kriegs- und Nachkriegszeit unserer besten Forscher beraubten, daß wir keine Forschungsstätten hatten. Erst mit dem Jahre 1955 war es uns möglich, die friedliche Nutzung der Kernenergie voranzutreiben.« Verh. Bundestag, 5. WP, 64. Sitzung, S. 3083.

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IV. Summe der personellen NS-Belastungen:

prosopographische Profile

1. NS-Mitgliedschaften: statistische Analyse des ministeriellen Führungspersonals Sowohl in der öffentlichen Diskussion als auch in der geschichtswissenschaftlichen Forschung gilt die Zugehörigkeit zur NSDAP fast immer als ein zentrales Kriterium, um Aussagen über eine NS-Belastung zu treffen. Die Parteimitgliedschaft stellt scheinbar ein relativ einfach zu erfassendes Merkmal dar, dessen Aussagekraft über die Positionierung zum NS-Regime allerdings ambivalent ist. Es gab zahlreiche »Parteigenossen«, die sich außer einer passiven Mitgliedschaft wenig haben zuschulden kommen lassen, und es gab Menschen ohne NSDAP-Parteimitgliedschaft, die sich für den Nationalsozialismus begeisterten oder die schwerste Verbrechen begingen.1 Vor einer Überschätzung des formalen Kriteriums muss daher einerseits gewarnt werden. Andererseits war eine NSDAP-Mitgliedschaft bzw. eine hohe Anzahl ehemaliger NSDAP-Mitglieder in bundesdeutschen Behörden auch keine Petitesse.2 Mit welcher Art von menschenverachtender Ideologie sich ein NSDAP-Mitglied identifizierte, konnte durchaus jedem Zeitgenossen bewusst sein. Dies betrifft insbesondere auch den nationalsozialistischen Antisemitismus. Völlig zu Recht stellte Jan Philipp Reemtsma fest, dass »der Antisemitismus […] doch nicht erst ab ’33 eine widerwärtige kollektive Pathologie« gewesen sei.3 Wie bereits erläutert,4 erstreckt sich unser statistischer Zugriff auf die zwischen 1955 und 1972 aktiven Angehörigen des ministeriellen Führungspersonals (MFP), hier definiert als die Minister und Staatssekretäre, deren persönliche Referenten, die Abteilungsleiter, Gruppenleiter bzw. 1 Vgl. Kellerhoff, Erfindung des Karteimitglieds. 2 Vgl. oben S. 26 f. 3 Vgl. Umgang mit Täterschaft – Perspektiven für die Zukunft. Monique Eckmann, Verena Haug, Astrid Messerschmidt und Jan Philipp Reemtsma im Gespräch mit Oliver von Wrochem, in: Nationalsozialistische Täterschaften. Nachwirkungen in Gesellschaft und Familie, Berlin 2016, hrsg. von Oliver von Wrochem S. 170–189, hier S. 189. 4 Vgl. oben S. 134 f.

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Unterabteilungsleiter sowie Referatsleiter. Hinzu kommt eine Begrenzung auf die Jahrgänge 1927 und älter. Diese Festlegung wurde gewählt, weil der NSDAP-Beitritt bis Anfang 1944 erst ab 18 Jahren möglich war. Danach konnten auch 1927 geborene Hitler-Jugend-Angehörige, d. h. 17-Jährige, eintreten.5 Mit dem Geburtsjahr 1927 und älter ergab sich für das MFP eine Untersuchungsgruppe von 84 Männern und einer Frau. Dies sind 54 Prozent des gesamten ministeriellen Führungspersonals im eben definierten Sinne in den Jahren 1955 bis 1972 (156 Personen). Schon in »Mein Kampf« unterschied Hitler zwischen »Anhängern« und »Mitgliedern« der nationalsozialistischen »Bewegung«. Ein Anhänger sei mit den Zielen des Nationalsozialismus einverstanden, ein Mitglied aber kämpfe aktiv für die Umsetzung dieser Ziele. Er erklärte: »Da die Anhängerschaft nur eine passive Anerkennung einer Idee bedingt, während die Mitgliedschaft die aktive Vertretung und Verteidigung fordert, werden auf zehn Anhänger immer höchstens ein bis zwei Mitglieder treffen.«6 Da Hitler davon überzeugt war, dass eine Partei zwar nie genug Anhänger, aber leicht zu viele Mitglieder haben könne, kündigte er bereits 1926 die eventuelle Einführung von Mitgliedersperren an, damit der Nationalsozialismus nicht an Schwung verliere.7 In der Realität kollidierte dieses Postulat der Kaderpartei in den frühen 1930er Jahren zwar mit dem Anwachsen der NSDAP zur ersten deutschen Volkspartei, es bleibt aber festzuhalten, dass Hitler die Parteimitgliedschaft nur überzeugten Nationalsozialisten ermöglichen wollte. Ursprünglich sollte die Zahl der NSDAP-Mitglieder keinesfalls mehr als fünf, später zehn Prozent der Gesamtbevölkerung

5 Vgl. die ausführlichen Hinweise auf der Homepage des Bundesarchivs: »Informationen zum Verfahren der Aufnahme in die NSDAP«, www.bundesarchiv.de / DE/ Content / Artikel / Ueber-uns / Aus-unserer-Arbeit / Textsammlung- NSDAP -Aufnahmeverfahren/zum-nsdap-aufnahmeverfahren.html [20. 11. 2021]. – Zur formellen NSDAP-Aufnahme von Jugendlichen des Jahrgangs 1928 scheint es nicht mehr gekommen zu sein. Vgl. ebenda, insbesondere auch die reproduzierte Anordnung 24 /44 des Reichsschatzmeisters der NSDAP vom 30. 9. 1944, die festlegt: »Die Aufnahme von Volksgenossen in die NSDAP wird mit alleiniger Ausnahme der Aufnahme von Kriegsversehrten bis auf weiteres vollständig eingestellt. Somit entfällt auch die Aufnahme von Angehörigen der Hitler-Jugend des Geburtsjahrganges 1928.« 6 Adolf Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition, hrsg. von Christian Hartmann, Thomas Vordermayer, Othmar Plöckinger und Roman Töppel, Bd. 2, München 2016, S. 231 f. 7 Ebenda, S. 233. Vgl. dazu auch Jürgen W. Falter, Hitlers Parteigenossen. Die Mitglieder der NSDAP 1919–1945, Frankfurt a. M. – New York 2020, S. 17–23.

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betragen – ein Wert, der bis 1945 ungefähr erreicht wurde.8 Daraus folgt, dass der Eintritt in die NSDAP auch aus Sicht der Partei immer eine bewusste Entscheidung und grundsätzlich freiwillig sein sollte. Im Zuge der publik gewordenen NSDAP-Mitgliedschaften von Walter Jens, Dieter Hildebrandt, Siegfried Lenz und anderen prominenten bundesdeutschen Intellektuellen kam es Anfang der 2000er Jahre zu einer Debatte, ob es vor allem bei Hitlerjungen in der Endphase des NS-Regimes Sammelaufnahmen in die NSDAP ohne aktive Zustimmung oder gar ohne Wissen der Betroffenen gegeben habe. In der Geschichtswissenschaft wird überwiegend ausgeschlossen, dass es zu Parteiaufnahmen ohne eigenes Wissen und ohne eigenhändige Unterschrift gekommen ist.9 Im Regelfall erfolgte die Aufnahme in die Partei zum ersten Tag des Monats, in dem der Antrag bei der NSDAP-Reichsleitung einging, daher lag das Aufnahmedatum häufig vor dem Datum des Beitrittsantrags. Ab 1943 wurden HJ- und BDM-Mitglieder immer zu Hitlers Geburtstag am 20. April aufgenommen. Anhand der in den Beständen des ehemaligen Berlin Document Centers im Bundesarchiv Berlin mit kleineren Lücken überlieferten NSDAP-Zentralkartei und NSDAP-Gaukartei (mit insgesamt rund 12 Millionen Mitgliedskarten) lassen sich ungefähr 80 Prozent aller ehemaligen NSDAPMitglieder identifizieren.10 Ein eindeutiger Ausschluss, dass eine Person definitiv zu keinem Zeitpunkt der NSDAP angehörte, ist aufgrund der fehlenden zwanzig Prozent und allein auf der Grundlage der häufig falschen Selbstauskünfte in den Entnazifizierungsverfahren nur in den wenigen Fällen möglich, wo rassenideologische Gründe eine Parteiaufnahme un8 Vgl. Falter, Wer durfte NSDAP-Mitglied werden, S. 15. 9 Vgl. v. a. Michael Buddrus, »War es möglich, ohne eigenes Zutun Mitglied der NSDAP zu werden?« Gutachten des Instituts für Zeitgeschichte München  – Berlin für das Internationale Germanistenlexikon 1800–1950, in: Geschichte der Germanistik / Mitteilungen 23 /24 (2003), S. 21–26; ders., Totale Erziehung für den totalen Krieg. Hitlerjugend und nationalsozialistische Jugendpolitik, Bd. 1, München 2003, S. 297–304; Kellerhoff, Erfindung des Karteimitglieds, S. 167– 180; Malte Herwig, Die Flakhelfer. Wie aus Hitlers jüngsten Parteimitgliedern Deutschlands führende Demokraten wurden, München 2013, S. 59–75; eine abweichende Position findet sich in Götz Aly, Was wusste Walter Jens?, in: Die Zeit, 15. 1. 2004; Evelyn Finger, Neue Parteimitglieder. Interview mit Norbert Frei, in: Die Zeit, 5. 7. 2007. 10 Vgl. Babett Stach, Personenbezogene Unterlagen aus der Zeit des Nationalsozialismus. Das Bundesarchiv in Berlin und seine Bestände, insbesondere des ehemaligen amerikanischen Berlin Document Center (BDC), in: Herold-Jahrbuch 5 (2000), S. 147–186, hier S. 4.

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möglich machten. Beim Atom- und Forschungsministerium war das, soweit bekannt, nur bei Bundesminister Siegfried Balke und Staatssekretärin Hildegard Hamm-Brücher der Fall. Dass die 38 Angehörigen des untersuchten MFP, für die sich keine Hinweise auf eine NSDAP-Mitgliedschaft fanden, auch tatsächlich zu keinem Zeitpunkt »Parteigenossen« gewesen waren, lässt sich daher nicht mit letzter Gewissheit bestimmen. Es ist auch möglich, dass sich unter ihnen Personen befanden, die in die NSDAP eintreten wollten und denen die Aufnahme verwehrt wurde. So konnten das Mindestalter einem Beitritt entgegenstehen, finanzielle oder familiäre Gründe, eine Wehrmachtzugehörigkeit (die bis September 1944 die Aufnahme in die NSDAP verhinderte) und vor allem die weiter unten angeführten Mitgliedersperren. Bei 47 der 85 untersuchten Angehörigen des ministeriellen Führungspersonals des Atom- und Forschungsministeriums in den Jahren von 1955 bis 1972 ließ sich ein NSDAP-Beitritt feststellen. Das entspricht etwas mehr als 55 Prozent – wie ein Blick auf die bislang vorliegenden Daten zu anderen bundesdeutschen Institutionen zeigt, ein im Vergleich mit anderen Bundesministerien durchschnittlicher Wert. So waren zwischen 1949 und 1973 rund 53 Prozent des (bis einschließlich 1927 geborenen) Führungspersonals des Bundesjustizministeriums in der Bonner »Rosenburg« NSDAP-Mitglieder gewesen.11 Bezogen auf die Gesamtzahl des Führungspersonals im Atom- und Forschungsministerium bis Ende 1972, d. h. unter Einrechnung auch der Geburtsjahrgänge 1928 und jünger, waren rund 30 Prozent des MFP (47 von 156) Parteimitglieder gewesen. Berücksichtigt man nur die Abteilungsleiter (unabhängig vom Geburtsjahr), dann lag der Anteil der NSDAP-Parteimitglieder bis 1972 bei 64 Prozent.12 Im selben Zeitraum waren zwei von sechs Bundesministern (Lenz und Leussink) und drei von 11 Vgl. Görtemaker / Safferling, Akte Rosenburg, S. 262. 12 Hier bietet sich ein Vergleich zu den Zahlen im Bundeswirtschaftsministerium an. Bei den Abteilungs- und Unterabteilungsleitern zwischen 1949 und 1963 lag der Prozentsatz ehemaliger NSDAP-Mitglieder dort bei 59 Prozent, für den gesamten Untersuchungszeitraum von 1949 bis 1990 bei knapp 40 Prozent. Vgl. Löffler, Strukturen, S. 115. Berücksichtigt man für das Atom- und Forschungsministerium ebenfalls nur den Zeitraum bis 1963, dann waren 83 Prozent der Abteilungsleiter (fünf von sechs) ehemalige NSDAP-Mitglieder. Angesichts der geringen Personenzahl ist die Aussagekraft des Vergleichs aber gering. Unter den Abteilungs­leitern des Atom- und Forschungsministeriums waren neun von 14 NSDAP-Mitglieder gewesen (Cartellieri, Engelhardt, Güntsch, Kaißling, Kriele, Pretsch, Scheidemann, Schnurr und Wolf).

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Diagr. 10: Anteil ehemaliger NSDAP-Mitglieder innerhalb des ministeriellen Führungspersonals, 1956–1972

sechs Staatssekretären ehemalige NSDAP-Mitglieder (Cartellieri, Heppe und Raffert).13 Hinweise zu Führungsfunktionen innerhalb der NSDAP, die sich bei insgesamt vier Personen der untersuchten Gruppe feststellen ließen, erfolgen im Rahmen von Kapitel IV.3.14 Aufschlussreich ist die Erhebung, wenn sie die zeitliche Entwicklung berücksichtigt (vgl. Diagr. 10): Der Anteil der NSDAP-Mitglieder lag Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre bei über 70 Prozent aller ministeriellen Führungspersonen (unabhängig vom Jahrgang). Im Jahr 1956, kurz nach der Gründung des Ministeriums, waren mindestens 69 Prozent der Untersuchungsgruppe ehemalige Mitglieder der NSDAP. Der höchste Wert ehemaliger Parteimitglieder im gesamten Betrachtungszeitraum ­betrug 1957 knapp 74 Prozent. Die Zahl der Eintrittsdaten ehemaliger NSDAP-Mitglieder in das Führungspersonal des Ministeriums lag 1957 bis 1959 am höchsten (vgl. Diagr. 11), was auch aus dem generellen Personalzuwachs resultierte. Von den frühen 1960er Jahren bis 1972 sank der Anteil der ehemaligen NSDAP-Mitglieder im gesamten Führungsperso-

13 Diese Zahlen waren im prozentualen Vergleich zu anderen Ministerien wohl ­relativ hoch. So fanden sich unter den neun Ministern im Bundeswirtschaftsministerium von 1949 bis 1990 zwei ehemalige NSDAP-Mitglieder und unter den 19 Staatssekretären fünf. Vgl. Löffler, Strukturen, S. 115. Angesichts der sehr niedrigen Zahl an Personen ist die statistische Evidenz jedoch gering. 14 Vgl. unten S. 244–271.

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nal (aller Jahrgänge) auf etwa 20 Prozent.15 Die sinkenden Prozentzahlen müssen vor allem im Zusammenhang mit der weiteren personellen Vergrößerung des Ressorts und der damit verbundenen zunehmenden Einstellung jüngerer Führungspersonen gesehen werden. Das Gesamtpersonal des Atom- und Forschungsministeriums wuchs (nachdem es 1955 mit nur einer Handvoll Beschäftigter gegründet worden war) von 110 im Jahr 1956 über 255 im Jahr 1962 und 461 im Jahr 1969 auf 677 im Jahr 1972.16 Zu einer sukzessiven »Renazifizierung«, wie sie in den frühen 1950er Jahren in anderen Häusern zu beobachten ist, konnte es im Bundes­ ministerium für Atomfragen infolge des späten Zeitpunkts der Gründung nicht kommen. Polemisch formuliert, startete das neue Ministerium bereits mit dem »Renazifizierungsgrad«, den andere, bereits seit 1949 bestehende Bundesministerien erst nach einigen Jahren erreichten.17 1957 war der Wert mit knapp 74 Prozent fast genauso hoch wie der des Führungspersonals im Bundesministerium für Justiz (76 Prozent),18 aber höher als der im Bundesministerium des Innern 1958 (rund 64 Prozent).19 In der Mitte der 1960er Jahre lag der Wert im Atomministerium um 40  Prozent, im Justizministerium bei rund 55 Prozent und im Innenministerium bei 52 Prozent.20 Ab Ende der 1960er Jahre sank dann der Anteil ehemaliger NSDAP-Mitglieder im Forschungsministerium etwas rascher ab als im Justizressort (1969 im BMJ 37 Prozent gegenüber 30  Prozent 15 Quellengrundlage: eigene statistische Erhebungen aus den Organigrammen des heutigen BMBF. 16 Vgl. Kapitel II.3. 17 So ergab eine Erhebung von NSDAP-Mitgliedschaften in den Bundesministerien im Auftrag des Bundeskanzleramtes im Mai 1950 für den höheren Dienst der Ressorts einen durchschnittlichen Wert von 47 Prozent, für den gehobenen Dienst von 43 Prozent. Etwas höher lag der Wert zu diesem Zeitpunkt mit rund 50 Prozent der Beamten des Führungspersonals (vom Referenten aufwärts) im Bun­ desministerium des Innern. Im Verkehrsministerium betrugen im Mai 1950 die Zahlen 60 und 54 Prozent, im Postministerium 63 und 68 Prozent, im Wohnungsbauministerium 58 und 55 Prozent und im Vertriebenenministerium 58 und 38 Prozent. Im Jahr 1950 fanden sich unter den 137 Mitarbeitern des höheren Dienstes im Auswärtigen Amt (AA) 42 Prozent ehemalige NSDAP-Mitglieder. Vgl. I. Stange, Das Bundesministerium des Innern, S. 74 f.; Conze / Frei / Hayes / Zimmermann, Das Amt, S. 493. 18 Vergleichbar mit unserer Untersuchungsgruppe (ministerielles Führungspersonal Geburtsjahrgang 1927 in den Jahren von 1949 bis 1973), vgl. Görtemaker / Safferling, Akte Rosenburg, S. 260 und S. 263. 19 Vgl. I. Stange, Das Bundesministerium des Innern, S. 106. 20 Vgl. ebenda, S. 117; Görtemaker / Safferling, Akte Rosenburg, S. 263.

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Diagr. 11: Zeitpunkt des Eintritts ehemaliger NSDAP-Mitglieder in das Führungspersonal des Atom- und Forschungsministeriums, 1955-1972

im Atomministerium im Jahr zuvor21). Zum selben Zeitpunkt waren im Bundesinnenministerium noch rund 48 Prozent des Führungspersonals ehemalige NSDAP-Mitglieder.22 Ein ähnliches Bild ergibt sich bei der Leitungsebene des Bundeskriminalamtes (BKA). Diese bestand 1959 zu drei Vierteln aus ehemaligen Parteigenossen; zehn Jahre später waren etwa 40 Prozent der Verantwortungs- und Entscheidungsträger ehemalige NSDAP-­Mitglieder.23 Ein personelles Spezifikum des Atom- und Forschungsministeriums im Vergleich mit anderen Bundesministerien ist seine weitgehende Fraktionierung in die beiden praktisch gleich großen Gruppen der Juristen einerseits und die Gruppe der Naturwissenschaftler und Techniker andererseits. Es stellte sich die Frage, ob sich die unterschiedlichen Bildungswege auch im Beitrittsverhalten zur NSDAP niederschlugen. Diagr. 12 und Diagr. 13 zeigen die Verteilung der ehemaligen NSDAP-Mitglieder differenziert nach Studien- oder Ausbildungswegen.24 Unter den zwischen 21 Vgl. Görtemaker / Safferling, Akte Rosenburg, S. 262–264. 22 Vgl. I. Stange, Das Bundesministerium des Innern, S. 117. 23 Baumann / Reinke / Stephan / Wagner, Schatten der Vergangenheit, S. 56 f. Untersucht wurde die Gruppe der Referatsleiter aufwärts der Jahrgänge bis 1930. 24 Unter »Sonstige« werden hier ein Mediziner, ein Polizist und ein Journalist subsummiert.

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Diagr. 12: NSDAP-Mitglieder im ministeriellen Führungspersonal bis Jahrgang 1927 nach Studiengang /Ausbildung, 1931–1945

Diagr. 13: Verteilung der NSDAP-Mitglieder und -Nichtmitglieder im ministeriellen Führungspersonal bis Jahrgang 1927 nach Studiengang/Ausbildung, 1931–1945

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Diagr. 14: NSDAP-Beitritte des ministeriellen Führungspersonals bis Jahrgang 1927 nach Jahren (Sonstige hier: Geisteswissenschaftler, VWL, Medizin, diverse Ausbildungen)

1931 und 1945 nachweislich der NSDAP beigetretenen späteren Angehörigen des MFP waren 43 Prozent Juristen und 34 Prozent Naturwissenschaftler und Techniker. Knapp 57 Prozent aller Juristen im MFP bis Jahrgang 1927 waren ehemalige NSDAP-Mitglieder. Angesichts der hohen Zustimmungswerte zum Nationalsozialismus unter deutschen Juristen und des Umstands, dass die Juristen vielfach bereits während der NS-Zeit im Verwaltungsdienst gestanden waren,25 ist dies keine Überraschung. Unter den Naturwissenschaftlern und Technikern lagen, wie Diagr. 13 zeigt, die Zahlen der Mitglieder mit knapp 52 Prozent und der Nichtmitglieder mit gut 48 Prozent nicht weit auseinander. Diagr. 14 zeigt die Eintrittsdaten der späteren Angehörigen des MFP in die NSDAP differenziert nach Bildungswegen.26 Die beiden auffälligen Spitzen von 1933 und vor allem 1937 resultieren aus den weiter unten 25 Vgl. Kapitel II.4. 26 Unter »Sonstige« werden auch hier ein Mediziner, ein Polizist und ein Journalist subsummiert.

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Diagr. 15: NSDAP-Eintritte von Angehörigen des ministeriellen Führungspersonals bis Jahrgang 1927 nach Phasen, 1930–1945

erläuterten Eintrittswellen und Aufnahmestopps. Aus der Tatsache, dass die ersten beiden NSDAP-Eintritte der Gruppe der Naturwissenschaftler und Techniker zuzurechnen sind, lassen sich aufgrund der kleinen Untersuchungsgruppe keine zu verallgemeinernden Erkenntnisse gewinnen. Pauschale Vermutungen, was die einzelnen Angehörigen des MFP jeweils zum Eintritt in die NSDAP motivierte, wären auf der Basis der vorliegenden Quellen unwissenschaftlich. Überlegungen zu den etwaigen Motiven werden später nur in Fällen angestellt, in denen es die Quellenlage zulässt.27 Eine gewisse Annäherung an mögliche Motive erlaubt nach einem Modell von Kristine Khachatryan allerdings der Blick auf den Zeitpunkt, zu dem sich die Betreffenden der Partei anschlossen.28 Eine Anwendung dieses Modells findet sich in Diagr. 15: Khachatryan untersucht die verschiedenen Phasen des Parteieintritts und geht davon aus, dass sich unter den Neumitgliedern, die in der Zeit vom 15. September 1930 (nach der Reichstagswahl, bei der die NSDAP zweitstärkste Fraktion wurde) bis zum 30. Januar 1933 in die Partei eintraten, viele »antizipative Konjunkturritter« befanden, die den weiteren Aufstieg der NS-Bewegung vorher27 Vgl. unten S. 230 f. und S. 370 f. Grundsätzlich zu den Motiven vgl. Jürgen W. Falter, Spezifische Erklärungsmodelle und Motive der NSDAP-Mitgliedschaft, in: ders. (Hrsg.), Junge Kämpfer, S. 65–87. 28 Khachatryan, Junge Kämpfer, S. 200–206.

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sahen.29 Werner Haase und Otto Groos, die als erste Angehörige unserer Untersuchungsgruppe am 1.  November 1931 bzw. im Laufe des Jahres 1932 – als die NSDAP einen Wahlsieg an den nächsten reihte – in die Partei eintraten, zählen chronologisch zu dieser Gruppe.30 Nach Hindenburgs Machtübertragung an Adolf Hitler drängten in der Phase vom 31.  Januar bis Ende April 1933, besonders nach der Reichstagswahl vom 5. März, rund 1,5 Millionen Neumitglieder in die NSDAP. Bei der überwiegenden Zahl dieser Personen handelte es sich in den Augen vieler bisheriger Nationalsozialisten um sogenannte »Märzgefallene«, also vermeintliche Opportunisten, die vielleicht nicht primär ihre Überzeugung, sondern eher die Hoffnung auf berufliche Vorteile zum Partei­ eintritt bewog.31 Die Neumitglieder unterlagen einer zweijährigen Bewährungszeit und durften die braune Uniform noch nicht tragen.32 Nachdem die Reichsleitung der NSDAP am 19. April einen Aufnahmestopp ab dem 1.  Mai 1933 verkündet hatte, um die Partei vor »Konjunkturrittern« zu schützen, setzte ein gewaltiger Ansturm auf die Parteibüros ein, um noch kurz vor Toresschluss Mitglied werden zu können. Jürgen Falter sieht ab 1933 mehrheitlich »alte Opportunisten« in der NSDAP.33 Bis 1936 mussten noch eineinhalb Millionen Aufnahmeanträge aus der Zeit bis zum 30.  April 1933 abgearbeitet werden, die alle auf den 1.  Mai 1933 datiert wurden. Mit diesem Aufnahmedatum finden sich sieben Personen aus unserer Untersuchungsgruppe, vier Juristen, zwei Naturwissenschaftler bzw. Techniker und ein Geisteswissenschaftler. Zu diesen NSDAP-Mitgliedern gehörten auch der spätere Bundesminister Hans Lenz (vgl. Kap. IV.3) sowie der Referats- und stellvertretende Gruppenleiter Josef Brandl (vgl. Kap. V.1).34 ­ SDAP für Zwischen dem 2. Mai 1933 und dem 31. März 1937 blieb die N Neumitglieder weitgehend geschlossen. Von der Aufnahmesperre waren nur Angehörige der Hitlerjugend ab dem 18.  Geburtstag, der National­ sozialistischen Betriebszellenorganisation (NSBO) und zunächst SA29 Ebenda, S. 203. 30 BArch, R 9361-IX KARTEI/12750518, Haase, Werner, geb. 7. 12. 1902, und BStU, MfS HA III 4021, Otto Groos, geb. 30. 8. 1905. 31 Vgl. Björn Weigel, »Märzgefallene« und Aufnahmestopp im Frühjahr 1933. Eine Studie über den Opportunismus, in: Benz (Hrsg.), Wie wurde man Parteigenosse?, S. 91–109, hier S. 92, und Khachatryan, Junge Kämpfer, S. 203. 32 Vgl. Falter, Wer durfte NSDAP-Mitglied werden, S. 21. 33 Ders., Vorwort, in: ders. (Hrsg.), Junge Kämpfer, S. 9–13, hier S. 9. 34 Daneben Bernhard Gaedke (vgl. S. 266), Friedrich Kolb (vgl. S. 258–260), Rudolf Kriele (vgl. S. 147 und S. 259), Walther Kumpf (vgl. S. 217 und S. 248 f.) und KarlFriedrich Scheidemann (vgl. S. 256–258).

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und SS-Männer ausgenommen.35 Khachatryan charakterisiert die Neumitglieder dieser Phase als »Kämpfer«. Chronologisch zählen dazu drei Ange­hörige der Untersuchungsgruppe, darunter der Jurist und spätere Staatssekretär Wolfgang Cartellieri (vgl. Kap. V.2).36 Ob die Wertung als »Kämpfer« in allen drei Fällen tatsächlich zutrifft, muss auf der Basis der vorliegenden Quellen offenbleiben. Eine Sonderaufnahme für ehemalige Stahlhelm-­Angehörige, die dem republikfeindlichen Soldatenbund schon vor 1933 angehört hatten, ermöglichte Cartellieri den Eintritt in die ­ SDAP trotz Mitgliedersperre zum 1. April 1936.37 N Die zum 1.  Mai 1933 verhängte allgemeine Aufnahmesperre für die ­ SDAP wurde vom 20.  April 1937 bis zum 30.  April 1939 partiell geN lockert. Nun konnten auch Aspiranten aufgenommen werden, die zuvor einer NS-Gliederung mehr als zwei Jahre angehört oder sich als Zellenleiter oder Blockhelfer über längere Zeit engagiert und damit ihre ideologische Zuverlässigkeit nachgewiesen hatten.38 Eine Richtlinie des Reichsschatzmeisters der NSDAP forderte im Juni 1937, dass »nach dem Ausspruch des Führers nur die besten Nationalsozialisten als Mitglieder aufgenommen werden«.39 Der Grundsatz der freiwilligen Mitgliedschaft sollte weiterhin gelten, allerdings wurde in dieser Phase in Einzelfällen besonders auf Beamte wohl auch Druck ausgeübt, in die Partei einzutreten.40 Vermutlich wurde die Mitgliedersperre gelockert, um Hitlers Vorgabe der Parteistärke von zehn Prozent der Gesamtbevölkerung zu er­reichen.41 Unter den fast drei Millionen neuen Mitgliedern, die allein 1937 in die NSDAP eintraten, waren auch der spätere Bundesminister Hans Leussink, der stellvertretende Minister Wilhelm Grau (vgl. jeweils Kap. IV.3) und der Abteilungsleiter Walther Schnurr (vgl. Kap. V.4). Mit 21 Personen schloss sich die weitaus größte Gruppe der NSDAP-Mitglieder im MFP

35 Vgl. Falter, Wer durfte NSDAP-Mitglied werden, S. 21. 36 Otto Beutler zum 1. 3. 1935, Leo Prior im Juni 1935 und Wolfgang Cartellieri zum 1. 4. 1936. 37 BArch, R 9361-VIII KARTEI/5031230. Zur Sonderaufnahme vgl. Falter, Wer durfte NSDAP-Mitglied werden, S. 25. 70 Prozent aller in Frage kommenden ehemaligen Stahlhelm-Angehörigen nahmen die Gelegenheit zum NSDAP-Eintritt wahr. 38 Vgl. Falter / Khachatryan, NSDAP-Mitglieder, S. 192, und Falter, Wer durfte NSDAP-Mitglied werden, S. 22. 39 Zitiert nach ebenda, S. 27. 40 Vgl. Beispiele unten S. 214. 41 Vgl. Falter, Wer durfte NSDAP-Mitglied werden, S. 29.

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der Partei 1937 an.42 Innerhalb dieser vermeintlich ideologisch zuverlässigen 21 Neumitglieder bildeten die Juristen mit zehn und die Naturwissenschaftler und Techniker mit acht späteren Angehörigen des MFP die beiden größten Gruppen. 1938 wurden rund 150.000 HJ-Mitglieder, darunter auch ein Angehöriger des MFP (ein späterer Jurist43), in die ­NSDAP aufgenommen.44 Zwischen dem 1. Mai 1939 und dem 1. Februar 1942 kam es wieder zu einer kurzen Phase der völligen Öffnung für Neumitglieder. Auch wenn sich dieser Schritt primär an Parteianwärter richtete, die sich in den vergangenen Jahren in den verschiedenen Gliederungen der NSDAP bewährt hatten, erfolgte ein erneuter Massenansturm von rund zwei Millionen Neumitgliedern. Die größte Gruppe der späteren Angehörigen des MFP bildeten auch hier wieder Juristen. Einen besonderen Schub löste Anfang September 1939 offenbar der Kriegsausbruch aus. Auch die beiden 1939 in die Partei aufgenommenen Angehörigen des MFP traten im September ein,45 im Fall von Karl-Heinz Spilker, des persönlichen Referenten der Atomminister Strauß und anfangs auch Balke, war dies verbunden mit einer freiwilligen Meldung zur Waffen-SS (vgl. Kap. V.5). 1940 traten vier Personen ein  – je zwei zum 1.  Juli und zum 1.  September, darunter der spätere Staatssekretär Hans von Heppe (vgl. Kap. IV.3). Zum 1. September 1941 folgten erneut zwei spätere Angehörige des MFP.46 Nach dem 2. Februar 1942 wurde die NSDAP für Neumitglieder wieder geschlossen. Es ist unklar, ob dies auf administrative Überforderung oder eine aus Parteisicht zu große Aufblähung zurückzuführen ist. Vermutlich spielten beide Faktoren eine Rolle. Nach dem 2. Februar 1942 führte praktisch nur noch für vermeintlich besonders gefestigte Hitlerjungen und BDM-»Mädel« ein Weg in die NSDAP.47 Im Jahr 1942 wurde kein Angehöriger der Untersuchungsgruppe NSDAP-Mitglied. Alle 1943 und 1944 eingetretenen sechs Personen wurden jeweils zum »Führergeburtstag« am 20. April aufgenommen und waren zu diesem Zeitpunkt 18 Jahre alt 42 Siegfried Clodius, Hermann Costa, Hermann Dieterich, Hans Engelhardt, Kurt Giese, Wilhelm Grau, Alexander Hocker, Jules von Jouanne, Karl Kaißling, Erich Kreter, Hans Leussink, Ulrich Meyer-Cording, Joachim Pretsch, Albert Roth, Artur Schendel, Walther Schnurr, Ernst Scholz, Walther Schulte, Heinz Trabandt, Dietrich Westermann, Hans-Joachim Woite. 43 Heinz Lechmann. 44 Vgl. Falter, Wer durfte NSDAP-Mitglied werden, S. 30. 45 Hans Brieskorn und Karl-Heinz Spilker. 46 1940: Ferdinand van Bebber, Hans von Heppe, Hubert Wagner, Albrecht Weber. 1941: Gerhard Bengeser, Josef Pfaffelhuber. 47 Vgl. Falter, Wer durfte NSDAP-Mitglied werden, S. 34.

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(einer 1944 erst 17, in diesem Jahr galt eine Sonderregelung).48 Bei diesen Übertritten aus der Hitlerjugend handelte es sich um die letzten NSDAPBeitritte von Personen der Untersuchungsgruppe. Nach dem 20. Juli 1944 durften auch Soldaten der Wehrmacht Parteimitglied werden, das nahm aber, soweit bekannt, kein Angehöriger des MFP in Anspruch. In den letzten Monaten der nationalsozialistischen Herrschaft 1945 trat niemand aus der Untersuchungsgruppe mehr in die NSDAP ein. Verschiedene Angehörige des ministeriellen Führungspersonals schilderten in ihren Spruchkammerverfahren, aufgrund des von Vorgesetzten oder Parteifunktionären auf sie ausgeübten Druckes letztlich wider Willen in die NSDAP eingetreten zu sein.49 Häufig wurde die Auseinandersetzung um einen erwünschten Parteieintritt als langes Ringen beschrieben, in dem der Betreffende schließlich aus Rücksicht auf seine Karriere oder Familie unterlag. Inwiefern derartige Behauptungen der Wahrheit entsprachen, muss in vielen Fällen offenbleiben. Selbstauskünfte und sogenannte »Persilscheine« (entlastende Erklärungen durch Dritte, die die Betroffenen »rein waschen« sollten) in der Entnazifizierung sind notorisch unzuverlässig. Der Parteieintritt wurde nur selten offen und selbstkritisch mit ideologischer Überzeugung erklärt. Dennoch steht fest, dass tatsächlich in vielen Fällen, besonders im Öffentlichen Dienst ab 1937, offener oder latenter Druck ausgeübt wurde, sich mit der nationalsozialistischen »Bewegung« zu identifizieren.50 Eine Person der untersuchten Gruppe führte in der Entnazifizierung an, ohne eigenes Wissen oder Zutun in die Partei aufgenommen worden zu sein. Die Glaubwürdigkeit dieser Aussage wird allerdings durch das Verschweigen ihrer nachweislichen SS-Anwartschaft unterhöhlt.51 48 1943: Wolfgang Finke, Fritz-Rudolf Güntsch, Valentin von Massow, Joachim Raffert. 1944: Reinhard Brahms, Karl Roeloffs. 49 Unter anderen Bundesminister Hans Leussink, vgl. NLA, OS Rep 980, Nr. 23362; Staatssekretär Wolfgang Cartellieri, vgl. das Schreiben von Cartellieris Rechtsbeistand an den öffentlichen Kläger bei der Spruchkammer Heidelberg vom 23. 9. 1946, BArch, NL 92 /18, Bd. 1; Staatssekretär Hans von Heppe, vgl. StA Hamburg, 221– 11, Ad 7288, Hans von Heppe; der Stellvertreter des Atomministers Wilhelm Grau, vgl. Anlage 1 zum Fragebogen Dr. Wilhelm Grau vom 14. 11. 1946, StA Hamburg, 221–11, Ad 11320; Ministerialrat Hubert Wagner, vgl. BArch, PERS 101 /52380, Bl. 39–43. 50 Vgl. Falter, Wer durfte NSDAP-Mitglied werden, S. 31–33. 51 Erich Kreter gab an, erst 1944 von seiner Aufnahme zum 1. 5. 1937 erfahren zu haben. Grundsätzlich ist das zwar denkbar, da Kreter ab 1938 Soldat war und seine Mitgliedschaft als solcher ruhte. Im selben Verfahren verschwieg Kreter seine Anwartschaft in der SS ab April 1938. Entnazifizierung vom 8. 7. 1946, LA NRW, Abt.

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Wie Jonas Meßner gezeigt hat, traten zwischen 1925 und 1945 rund 750.000 Menschen wieder aus der NSDAP aus. Nach derzeitigem Kenntnisstand war darunter kein Angehöriger des MFP, auch wenn Walther Schnurr (vgl. Kap. V.4) für sich beanspruchte, durch die Einstellung von Beitragszahlungen die NSDAP Ende 1943 faktisch verlassen zu haben.52 Nach 1934 barg ein Parteiaustritt das Risiko persönlicher und beruflicher Nachteile. Andere nationalsozialistische Organisationen, die streng genommen Untergliederungen der Partei waren (etwa die SA, das Nationalsozialistische Kraftfahrkorps) oder auch angeschlossene Verbände umfassten, also z. B. die Deutsche Arbeitsfront, die NS-Volkswohlfahrt oder der NSBund Deutscher Technik, dienten als Vorfeldorganisationen der Partei, als Transmissionsriemen in die Volksgemeinschaft. Gerade die vermeintlich unpolitischen angeschlossenen Verbände ergänzten die Partei bei der ideologischen Durchdringung der Gesellschaft, der Umsetzung von Inklusion und Exklusion und der Kriegsvorbereitung. Wie die NSDAP selbst, standen auch Gliederungen und Verbände der Partei nur »Volksgenossen« offen. Wem der Eintritt in die NSDAP verwehrt worden war, der sollte auch keinem Verband im Umfeld der Partei beitreten dürfen. Für die Zeit nach dem »Endsieg« war geplant, alle Mitglieder aus den Gliederungen zu entlassen, die nicht der NSDAP angehörten.53 Auch in den nationalsozialis­ tischen Gliederungen war die Mitgliedschaft freiwillig. Der Nichteintritt in eine nationalsozialistische Berufsorganisation wie den Rechtswahrerbund (NSRB) konnte aber als mangelnde ideologische Überzeugung ausgelegt werden und berufliche Nachteile nach sich ziehen. Die Erfassung und Bewertung der Mitgliedschaft in derartigen Vorfeldorganisationen ist methodisch schwieriger zu handhaben als die Mitgliedschaft in der NSDAP. Dies liegt generell zunächst daran, dass die verfügbaren Quellen hierzu nur teilweise Auskunft geben – auch weil viele Personen bei der Abfrage entsprechender Zugehörigkeiten unvollständige oder gar keine Angaben gemacht haben. Kriminologen sprechen im ZuRheinland, NW 1039-K-5642.  – Die in der bundesdeutschen Öffentlichkeit in jüngster Zeit diskutierten Fälle eines eventuellen nichtwissentlichen NSDAP-Beitritts (vgl. oben S. 203) beziehen sich auf die letzten Kriegsjahre. 52 Fragebogen vom 5. 7. 1946, Spruchkammerakte Schnurr, LA NRW, Abt. Rheinland, NW 1049 67150. In der NSDAP-Gaukartei ist allerdings keine Streichung ersichtlich, die wegen nicht gezahlter Beiträge schon nach dreimonatigem Verzug auf dem Verwaltungswege hätte erfolgen müssen, vgl. BArch, R 9361-IX KARTEI/39021106. 53 Falter, Wer durfte NSDAP-Mitglied werden, S. 34.

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sammenhang mit Betäubungsmittel- oder Wirtschaftsvergehen von statistischer »Kontrollkriminalität«. Das heißt, umso genauer man hinsieht, umso mehr findet man. Zur Erfassung der Mitgliedschaften in parteinahen oder untergeordneten Organisationen besteht hier durchaus eine gewisse Analogie. Bei der Bewertung der Mitgliedschaft in NS-Gliederungen ist zudem stets zu berücksichtigen, dass die jeweilige Involvierung in das NS-System in den verschiedenen Organisationen stark differierte. Genannt seien hier nur die SS auf der einen Seite und das lange Zeit erheblich weniger ideologisierte Nationalsozialistische Kraftfahrkorps (NSKK) auf der anderen.54 Der Beitritt zu Organisationen wie dem NSKK, der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) oder dem Reichsluftschutzbund (RLB) wurde häufig von Personen gewählt, die aus Opportunitätsgründen eine gewisse Regimenähe demonstrieren wollten, ohne der NSDAP beizutreten. Allerdings hat die Forschung gezeigt, dass auch diese vermeintlich harmlosen Gliederungen genuin nationalsozialistische Organisationen waren, in denen ideologisch geschult wurde und die – wie das NSKK bei der Reichspogromnacht 1938 und im Holocaust  – hilfspolizeiliche und paramilitärische Aufgaben übernahmen.55 Zu berücksichtigen ist auch, dass die nachträgliche Rechtfertigung des Beitritts zu diesen Gliederungen der NSDAP häufig exkulpatorischen Charakter trug und in vielen Fällen tatsächlich wohl auch der Aufnahmesperre der Partei geschuldet war. Eine statistisch valide Analyse der Zugehörigkeit zu den eben genannten und anderen NS- bzw. NS-nahen Organisationen, die auch in anderen »Aufarbeitungsstudien« nicht durchgeführt wird, hätte den Rahmen der vorliegenden Untersuchung gesprengt. Angemerkt sei an dieser Stelle nur, dass neben den zahlreich belegten Mitgliedschaften56 bei mehreren 54 Dorothee Hochstetter, Motorisierung und »Volksgemeinschaft«. Das Nationalsozialistische Kraftfahrkorps (NSKK) 1931–1945, München 2005; dies., Nationalsozialistisches Kraftfahrkorps (NSKK), 1931–1945, in: Historisches Lexikon Bayerns, www.historisches-lexikon-bayerns.de/artikel/artikel_44917 [20. 11. 2021]. 55 Dies., »Nur eine Art ADAC«?  – Das Nationalsozialistische Kraftfahrkorps (NSKK), in: Becker, Stephanie / Studt, Christoph (Hrsg.), »Und sie werden nicht mehr frei sein ihr ganzes Leben«. Funktion und Stellenwert der NSDAP, ihrer Gliederungen und angeschlossenen Verbände im »Dritten Reich«, Berlin 2012, S. 141–158, hier S. 146 und S. 154. 56 Mit 17 festgestellten Mitgliedschaften (vermutlich liegt die Zahl deutlich höher) stellt die NSV die numerisch stärkste Gliederung in unserem Untersuchungsfeld dar. Das war zu erwarten, bildete die NSV doch mit rund 12,5 Millionen Mitgliedern Ende 1939 (15 Prozent der Gesamtbevölkerung) die nach der DAF größte Massenorganisation im nationalsozialistischen Deutschland. Harmlos war

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Personen auch Führungsfunktionen in NS-Gliederungen festgestellt werden konnten.57 Im Folgenden beschränken wir uns auf eine statistische Auswertung der SA- und SS-Mitgliedschaften. Bislang gingen die meisten Historiker davon aus, dass eine SA-Mitgliedschaft gerade für karrierebewusste Akademiker nach der Mordaktion des sogenannten »Röhm-Putsches« Ende Juni 1934 und der damit verbundenen Entmachtung und einem Statusverlust der SA nicht mehr opportun bzw. zielführend gewesen sei.58 Demgegenüber stellt Daniel Siemens den vermeintlichen Bedeutungsverlust der SA nach 1934 in Frage und zeigt, dass die SA auch nach diesem Zeitpunkt sowohl für überzeugte Nationalsozialisten als auch für Opportunisten ­attraktiv dings auch die NSV nicht: Ihre »Wohlfahrt« wandte sich exklusiv an die Ange­ hörigen der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft, denen Fürsorgeleistungen nach rassischen Kriterien zukamen. Analog zur Organisation der NSDAP spannte auch die NSV ein eng gewebtes Kontrollnetz über die deutsche Bevölkerung, in deren Alltagsleben sie tief eingriff. Vgl. Marie-Luise Recker, »Stark machen zum Einsatz von Gut und Blut für Volk und Vaterland«. Die nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV), in: Becker / Studt (Hrsg.), »Und sie werden nicht mehr frei sein ihr ganzes Leben«, S. 269–279; Peter Hammerschmidt, Die Wohlfahrtsverbände im NS-Staat. Die NSV und die konfessionellen Verbände Caritas und Innere Mission im Gefüge der Wohlfahrtspflege des Nationalsozialismus, Opladen 1999; Armin Nolzen, »Sozialismus der Tat?« Die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV) und der alliierte Luftkrieg gegen das Deutsche Reich, in: Süß, Dietmar (Hrsg.), Deutschland im Luftkrieg. Geschichte und Erinnerung, München 2007, S. 57–69; Herwart Vorländer, Die NSV. Darstellung und Dokumentation einer nationalsozialistischen Organisation, Boppard am Rhein 1988, und Peter Zolling, Zwischen Integration und Segregation. Sozialpolitik im »Dritten Reich« am Beispiel der »Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt« (NSV) in Hamburg, Frankfurt a. M. 1986. 57 So engagierten sich Walther Kumpf, Hans von Heppe und Wolfgang Cartellieri in der NSV. Kumpf, der von 1934 bis 1939 auch NSDAP-Block- und Zellenleiter war, war 1933 »Amtsleiter« und »Schulungsleiter« einer NSV-Ortsgruppe. Heppe war ab 1937 NSV-Blockhelfer, ein Jahr später NSV-Blockwalter. In seinem Entnazifizierungsfragebogen bestritt er, in der NSV eine Funktion ausgeübt zu haben. Seit dem 1. 1. 1938 betätigte sich auch Cartellieri als Blockwalter der NSV. Bernhard Gaedke und Siegfried Clodius waren NSDAP-Blockleiter, Jules von Jouanne war SA-Führer und Joachim Pretsch Zellenwalter der DAF und Propagandawalter in der AVA. Vgl. zu Cartellieri mit Quellenangaben unten S. 336 f.; zu Clodius WASt; zu Gaedke vgl. BArch B 106 /114668, Pers 6 /144648; zu Heppe vgl. unten S. 236 f.; zu von Jouanne vgl. WASt; zu Kumpf vgl. BArch PERS 101 /81412 und R 9361-II/601309, sowie unten S. 248 f.; zu Pretsch vgl. BArch R 9361-I/914. 58 Vgl. etwa Peter Longerich, Die braunen Bataillone. Geschichte der SA, München 1989.

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war.59 Dreh- und Angelpunkt der Ideologie und des Gewaltpotentials der SA war ihr aggressiver Antisemitismus.60 Eine Zugehörigkeit zur SA ohne zumindest partielle Zustimmung zu deren Zielen und Methoden ist kaum vorstellbar. Mindestens 13 von 85 Angehörigen des MFP bis Jahrgang 1927 waren zwischen 1933 und 1945 zumindest zeitweilig Mitglied der SA, davon acht Juristen und vier Naturwissenschaftler bzw. Techniker. Das entspricht 15 Prozent des Führungspersonals im Atom- und Forschungsministerium. Zu dieser Gruppe zählten etwa der spätere Staatssekretär Hans von Heppe (vgl. Kap. IV.2) und der Referatsleiter Josef Brandl (vgl. Kap. V.1). Der spätere Abteilungsleiter Karl Kaißling verfügte als SA-Hauptsturmführer (vergleichbar einem Hauptmann) über den höchsten SA-Rang im Sample.61 Mindestens sieben der genannten dreizehn SA-Mitglieder schlossen sich der SA deutlich vor ihrer Parteiaufnahme an, in der Regel 1933 bzw. 1937. Bis September 1933 stand SA-Männern die Partei trotz Mitglie­ dersperre offen,62 danach ist eine SA-Zugehörigkeit sicherlich häufig als Ersatz für die vorläufig verwehrte Parteimitgliedschaft zu interpretieren. Soweit analoge Berechnungen vorliegen, lag das Atom- und Forschungsministerium auch im Hinblick auf die Präsenz von SA-Mitgliedern im Rahmen der in anderen Ressorts festgestellten Werte. Im Bundesministerium der Justiz betrug der Wert ehemaliger SA-Leute innerhalb einer vergleichbaren Untersuchungsgruppe und in einem vergleichbaren Untersuchungszeitraum (1949–1973) 20 Prozent, im Bundesministerium des Innern 15 Prozent.63 Für das Bundeswirtschaftsministerium wurde errechnet, dass es im Personal der dortigen Führungsebene, bezogen auf den Zeitraum von 1949 bis 1963, rund neun Prozent ehemalige SA-Mitglieder gegeben hat.64 Drei Personen des untersuchten Führungspersonals, das sind gut drei Prozent, gehörten der Allgemeinen SS an: der damalige Ministerialbeamte 59 Daniel Siemens, Stormtroopers. A New History of Hitler’s Brownshirts, New Haven  –  London 2017, S. 335 f. (dt. Ausgabe: ders., Sturmabteilung. Die Geschichte der SA, übers. von Karl Heinz Siber, München 2019). 60 Vgl. Siemens, Stormtroopers, S. 331. 61 Zu Kaißling vgl. unten S. 249 f. und S. 260 (IV.3). 62 Falter, Wer durfte NSDAP-Mitglied werden, S. 21 f. 63 Vgl. Görtemaker / Safferling, Akte Rosenburg, S. 263, und I. Stange, Das Bundesministerium des Innern, S. 74. 64 Vgl. Löffler, Strukturen, S. 115 f. Von der 204 (1949–1963) Führungsbeamte umfassenden Personalerhebung waren zu eruieren: 16 SA-Rottenführer / Scharführer, je ein SA-Obersturmführer und SA-Sturmbannführer.

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im Auswärtigen Dienst Walter Schulte, der Polizist Erich Kreter65 und der Absolvent einer »Nationalpolitischen Erziehungsanstalt« Karl-Heinz Spilker. Alle drei suchten diese Tatsache in der Nachkriegszeit auf verschiedene Art zu camouflieren. Die SS-Zugehörigkeit dieser drei Personen wird jeweils an späterer Stelle individuell beleuchtet (vgl. Kap. IV.3 zu Schulte und Kreter und Kap. V.5 zu Spilker). Zwei ministerielle Führungspersonen waren Mitglied der Waffen-SS gewesen: der bereits eben genannte Karl-Heinz Spilker, der Berufsoffizier werden wollte und der 1939 im Alter von 18 Jahren – wenige Tage vor seiner Meldung zur Waffen-SS  – in die Allgemeine SS eintrat,66 sowie der spätere Staatssekretär Joachim Raffert, der sich 1943 ebenfalls im Alter von 18 Jahren der Waffen-SS anschloss.67 Die insgesamt festgestellten vier SS-Mitgliedschaften im Führungspersonal des Atom- und Forschungsministeriums im Zeitraum von 1955 bis 1972 entsprechen knapp sechs Prozent der untersuchten Gruppe. Auch im Hinblick auf die SSZugehörigkeit weist die Situation im Atom- und Forschungsministerium somit Paral­lelen zu den wenigen verfügbaren Zahlen aus anderen Ressorts auf. Im 170 Personen umfassenden Sample der Studie zum Bundesjustizministerium gehörten sechs Personen der SS an, das sind knapp vier Prozent.68 In der Studie zur Geschichte des Bundesinnenministeriums wurden durchschnittliche Werte von fünf bis sieben Prozent ehemaliger SS-Angehöriger ermittelt.69 Eine Berechnung für das Wirtschaftsministerium ergibt im Sample des Führungspersonals von 1949 bis 1963 einen Anteil von zwölf SS-Angehörigen,70 das sind knapp sechs Prozent. Erheblich höher – 1958 über 70 Prozent! – lag die Anzahl ehemaliger SSMänner dagegen im frühen Leitungspersonal des Bundeskriminalamtes.71 Die Prozentzahlen ehemaliger NSDAP-Mitglieder im Führungspersonal von Bundesministerien haben, wie ausgeführt, nur einen beschränkten Aussagewert über das Maß der jeweiligen NS-Belastung. Aufgrund der ­lückenhaften Überlieferung und der nur zu 80 Prozent erhaltenen NSDAP65 66 67 68 69 70

Dieser möglicherweise nur als Anwärter. Vgl. unten S. 250 mit Anm. 188. Vgl. ausführlich unten S. 393 f. Vgl. unten S. 243. Görtemaker / Safferling, Akte Rosenburg, S. 263. Vgl. I. Stange, Das Bundesministerium des Innern, S. 106. Unter den zwölf SS-Männern fanden sich vier Angehörige der Reiter-SS, vgl. Löffler, Strukturen, S. 115 f. 71 Im Jahr 1958 33 von 47 leitenden Beamten, vgl. Baumann / Reinke / Stephan / Wagner, Schatten der Vergangenheit, S. 2.

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Mitgliederkartei sind die hier erhobenen 55 Prozent früherer Parteimitglieder im untersuchten Führungspersonal des Atom- und Forschungs­ ministeriums bis Jahrgang 1927 (insgesamt 85 Personen) zudem wohl nur eine Annäherung. Dies gilt auch für den ungefähren Anteil von etwa 30 Prozent ehemaliger NSDAP-Mitglieder im altersunabhängig betrachteten Führungspersonal. Mitte der 1950er Jahre kam es durch die 131er Gesetzgebung, das Ende der Entnazifizierung und eine wachsende politische Toleranz gegenüber der Rückkehr belasteter Funktionseliten in allen Ressorts zu einem Ansteigen der Zahlen ehemaliger NSDAP-Mitglieder. Da das »Bundesministerium für Atomfragen« genau in dieser Phase gegründet wurde und viele ehemalige Angehörige anderer Ressorts übernahm, fanden sich hier (anders als in den ersten Bundesministerien) von Anfang an relativ viele »Parteigenossen«. Zwei Jahre nach der Gründung des Ministeriums erreichte ihre Zahl mit knapp 74 Prozent des Führungspersonals den höchsten Wert zwischen 1955 und 1972. Dieser Befund und auch das anschließende ­deutliche Absinken lagen – darauf deuten die aufgrund unterschiedlicher Untersuchungszeiträume, Untersuchungsgruppen und Quellengrund­ lagen methodisch nur mit großer Vorsicht zu gebrauchenden Werte anderer Ressorts72 – durchaus im Rahmen der Gesamtentwicklung im bundesdeutschen Ministerialdienst. Dies gilt auch für die ermittelten Zahlen von SA- und SS-Mitgliedern. Ein Spezifikum des Atom- und Forschungsministeriums ist die ausgeprägte personelle Fraktionierung in Juristen und in Naturwissenschaftler und Techniker. Dass knapp 57 Prozent der in Führungspositionen befindlichen Juristen ehemalige NSDAP-Mitglieder waren, ist keine Überraschung. Dass der Wert bei den Naturwissenschaftlern und Technikern mit 52 Prozent etwas niedriger liegt, verwundert ebenfalls nicht. Dennoch stellt die Größenordnung ein Indiz dafür dar, dass das vielfach verbreitete Selbstbild als unpolitische Experten fragwürdig ist. Die meisten Vertreter 72 Wie problematisch manchmal das Operieren mit Prozentzahlen aufgrund un­ einheitlicher Erhebungszeiträume, Quellengrundlagen und Samples ist, soll ein Beispiel erläutern. In einer Besprechung der Studie zum Bundesministerium des Innern und des Innenministeriums der DDR lautete 2018 eine griffige Zwischenüberschrift der »Süddeutschen Zeitung«: »Der Anteil ehemaliger NSDAP-Mitglieder im Bonner Ministerium: 70 Prozent.« Nicht erläutert wurde, dass sich die genannte Zahl keineswegs auf den gesamten Untersuchungszeitraum und das gesamte Leitungspersonal bezog, sondern nur auf die besonders belastete Alters­ kohorte der Jahrgänge 1900 bis 1915. Vgl. Ronen Steinke, Schweben über der Vergangenheit, in: SZ, 19. 6. 2018; Palm / Stange, Vergangenheiten und Prägungen, S. 147 f.

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beider Gruppen schlossen sich der NSDAP nach der Aufhebung der ersten Mitgliedersperre 1937 an und können damit – auch wenn eine Untersuchung der tatsächlichen Motive im Einzelfall auf Basis der überlieferten Quellen kaum möglich ist – mit Torsten Kupfer der Kategorie des Opportunismus und des »nachfolgende[n] Gehorsam[s]« zugerechnet werden.73

2. Kurzbiographien der ministeriellen Spitze Im folgenden Kapitel werden die Biographien der von 1955 bis 1972 amtierenden Atom- und Forschungsminister, eines »Stellvertreters des Ministers« sowie der Staatssekretäre in chronologischer Reihenfolge knapp umrissen.74 Die Literatur- und Quellenlage zur ministeriellen Spitze hat sich als äußerst disparat erwiesen. Während zu prominenten Politikerinnen und Politikern wie Franz Josef Strauß oder Hildegard Hamm-Brücher zahlreiche und teilweise umfangreiche Veröffentlichungen vorliegen, gibt es zu den übrigen Ministern und Staatssekretären nur wenige Forschungen. Ein besonderes Augenmerk gilt im folgenden Kapitel den Tätigkeiten vor 1945 und eventuellen NS-Belastungen. Insgesamt handelt es sich um eine sehr heterogene Gruppe: Ehemalige Nationalsozialisten stehen neben Menschen, die im nationalsozialistischen Deutschland Nachteile erlitten oder deren Angehörige verfolgt wurden, wie Siegfried Balke, Hildegard Hamm-Brücher und Klaus von Dohnanyi. Ein Staatssekretär (Hans von Heppe) unterstützte höchstwahrscheinlich den Widerstand, ein anderer (Joachim Raffert) kämpfte in der Waffen-SS. Zwei von fünf der betrachteten Minister und vier von sechs Staatssekretären waren Mitglieder der NSDAP gewesen. Von den nicht eingetretenen Personen waren mehrere entweder zu jung für einen Parteieintritt, oder diesem standen – so bei Balke – rassenideologische Kriterien entgegen.

73 Torsten Kupfer, Generation und Radikalisierung: die Mitglieder der NSDAP im Kreis Bernburg 1921–1945. Ein Resümee, in: Historical Social Research (2006) 31(2), 180–222, hier S. 204. 74 Dem langjährigen Staatssekretär Wolfgang Cartellieri ist eine ausführlichere Biographie im Rahmen von Kapitel V gewidmet.

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Minister Franz Josef Strauß (CSU), 1955–1956 Als Sohn des Schwabinger Metzgermeisters Franz Josef Strauß und seiner Ehefrau Walpurga, geb. Schießl, wurde Franz Josef Strauß am 6. September 1915 in München geboren.75 Strauß senior war ein frühes Mitglied der Bayerischen Volkspartei. Durch ihre katholische und bayerisch-monarchistische Prägung gehörte die Familie »zu einem insgesamt gegenüber dem Nationalsozialismus resistenten Milieu«.76 1935 bestand Strauß die Abiturprüfung als Bester seines Jahrgangs in Bayern, weshalb er ein Stipendium der Studienstiftung Maximilianeum erhielt. Nach dem Reichsarbeitsdienst nahm Strauß 1935 an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München das Studium der Germanistik, klassischen Philologie und Archäologie auf, das er später durch Lehrveranstaltungen in Geschichte, Volkswirtschaft und Jura ergänzte. Das Studium musste er unterbrechen, als er im September 1939 zum Wehrdienst eingezogen wurde. Zwei Fronturlaube ermöglichten Strauß einen universitären Abschluss. 1940 /41 war er als Assistent für Klassische Philologie, Alte Geschichte und Philologie des Mittelalters an der LMU tätig. Anfang 1941 absolvierte Strauß sein zweites Staatsexamen für das höhere Lehramt. Bei Kriegsende diente der Oberleutnant als Lehroffizier an der Flakschule Altenstadt bei Schongau.77 Zwischen 1937 und 1939 gehörte Strauß dem Nationalsozialistischen Kraftfahrkorps (NSKK) an, wodurch er nach eigener Überlieferung möglichen Problemen bei der Zulassung

75 Zur Biographie vgl. Möller, Strauß; Siebenmorgen, Strauß; Dirk Müller, Franz Josef Strauß. Biographie, Braunschweig 2015; Balcar / Schlemmer (Hrsg.), Spitze der CSU, S. 625 f.; Henkels, 99 Bonner Köpfe, S. 300–303; D. W., Der Atom-Minister, in: Die Welt, 1. 10. 1955, S. 1; »Franz Josef Strauß«, in: Munzinger Online [25. 11. 2021]. 76 Möller, Strauß, S. 33. 77 Die im Jahr 2015 publizierte Spekulation, Strauß könnte für den US-amerikanischen Nachrichtendienst OSS tätig gewesen sein, ist unter Geschichtswis­ senschaftlern überwiegend auf Skepsis gestoßen. Vgl. Enrico Brissa, Dokumen­ tation: Zu einer möglichen Spionagetätigkeit von Franz Josef Strauß für das Office of Strategic Services (OSS), in: Deutschland Archiv, 5. 9. 2015, www.bpb. de/211519 [20. 11. 2021], und Sven Felix Kellerhoff, War Strauß ein US-Agent? Die Debatte wird schärfer, in: Welt-Online, 1. 12. 2015, www.welt.de/geschichte/ article149488246/War-Strauss-ein-US -Agent-Die-Debatte-wird-schaerfer.html [25. 11. 2021].

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zum Hochschulexamen entgehen wollte.78 In die NSDAP trat er nicht ein. In seinem Spruchkammerverfahren im Oktober 1946 wurde Strauß als unbelastet eingestuft. Nach wenigen Wochen Kriegsgefangenschaft ernannte ihn die amerikanische Militärregierung im Juni 1945 aufgrund seiner Sprachkenntnisse zum »Assistant Landrat« von Schongau. Im Herbst 1945 gehörte er zu den Mitbegründern des örtlichen CSU-Kreisverbandes, seit 1946 saß er im Landesvorstand der CSU. Im August desselben Jahres wurde Strauß zum Landrat in Schongau gewählt. Von 1948 bis 1952 war er Generalsekretär der CSU, anschließend wurde er stellvertretender CSU-Vorsitzender. Schon seit August 1949 vertrat Strauß den Wahlkreis Weilheim / Oberbayern im Deutschen Bundestag, seit 1950 war er stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion. 1953 berief Konrad Adenauer den profilierten Befürworter der deutschen Wiederbewaffnung zum Bundesminister für Sonderaufgaben, im Oktober 1955 zum Bundesminister für Atomfragen. Nach nur einjähriger Amtszeit folgte Strauß im Oktober 1956 als Bundesminister der Verteidigung auf Theodor Blank. Seit März 1961 war Strauß Vorsitzender der CSU, was er bis zu seinem Lebensende blieb. Im Zuge der»Spiegel«-Affäre trat Strauß am 19. November 1962 als Verteidigungsminister zurück. Während der Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD zwischen 1966 und 1969 unter Kurt Georg Kiesinger war Strauß Bundesfinanzminister. Von Oktober 1978 bis zu seinem Tod war er bayerischer Ministerpräsident. Nach der erfolglosen Kanzlerkandidatur für die Union in der Bundestagswahl 1980 trat Strauß sein Bundestagsmandat nicht an und beschränkte sich fortan auf die bayerische Landespolitik. Franz Josef Strauß starb überraschend am 3. Oktober 1988 im Alter von 73 Jahren in Regensburg.

Siegfried Balke (CSU), 1956–1962 Siegfried Balke (evang.) kam am 1. Juni 1902 als Sohn des Schneidermeisters Wilhelm Balke und der Hausangestellten Karoline, geb. Meyer, in Bochum zur Welt.79 1920 absolvierte er an der Oberrealschule Gummersbach 78 Vgl. Strauß, Erinnerungen, S. 36. Zum NSKK vgl. Hochstetter, Motorisierung. 79 Quellengrundlage Balke: Teilnachlässe in ACDP, Balke, Siegfried 01–175, und im Archiv des Deutschen Museums, NL 096; BArch, PERS 101 /82450. – Literatur: Lorenz, Siegfried Balke; ders., Siegfried Balke. Spendenportier und Interessenpolitiker, in: ders. (Hrsg.), Seiteneinsteiger. Unkonventionelle Politiker-Karrieren in der Parteiendemokratie, Wiesbaden 2009, S. 175–205; »Siegfried Balke«, in:

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das Abitur. Das Studium der Organischen Chemie an der Technischen Hochschule (TH) München ab 1920 schloss Balke 1924 als Diplom-Ingenieur und 1925 mit der Promotion »über den Reaktionsverlauf der Mercurierung aromatischer Amine« ab. Seit 1925 arbeitete er als Chemiker zuerst in Fahr am Rhein, von 1927 bis 1952 dann in der Chemischen Fabrik in Aubing, das seit 1942 ein Stadtteil Münchens ist. Das Unternehmen stellte Arzneimittelgrundstoffe (Acetylsalicylsäure, »ASS«) her und wurde 1938 durch die Schering AG »arisiert«, 1949 an die Besitzerfamilie restituiert.80 Durch seinen jüdischen Vater galt Balke gemäß den Nürnberger Rassegesetzen von 1935 als »Halbjude« oder »Mischling ersten Grades«, weshalb ihm eine universitäre Wissenschaftlerlaufbahn ebenso verschlossen blieb wie eine eventuelle NSDAP-Mitgliedschaft.81 Dokumente in seinem Nachlass weisen darauf hin, dass Balke nach 1933 Mitglied der Selbsthilfeorganisation »Reichsverband christlich-deutscher Staatsbürger nicht­arischer oder nicht rein arischer Abstammung e. V.« war oder sich zumin­dest eingehend für diese interessierte.82 In einem Lebenslauf für das Atom­ministerium bezeichnete Balke sich im November 1959 allerdings als »nicht politisch oder rassisch verfolgt oder benachteiligt«.83 Als der Geburtsjahrgang 1902 im September 1940 zur Wehrmacht einberufen wurde, berücksichtigte man Balke nicht, da nach einem OKW-Erlass vom 8. April 1940 zu diesem Zeitpunkt »Mischlinge 1. Grades« keine Soldaten mehr werden durften.84 Zum »Volkssturm« wurde Balke 1945 eigenen Angaben zufolge aber noch eingezogen.85 Bemerkenswert ist, dass Balke im November 1948 in einer Denkschrift das Urteil im Nürnberger I. G.-Farben-Prozess scharf kritisierte und für zinger Online [25. 11. 2021]; Henkels, 99 Bonner Köpfe, S. 27–30; Balcar / Schlemmer (Hrsg.), Spitze der CSU, S. 589 f. 80 Vgl. Lorenz, Siegfried Balke, S. 11 f., und Sabine Bloch / Peter Knoch, Chemische Fabrik Aubing, in: Schossig, Bernhard (Hrsg.), Ins Licht gerückt. Jüdische Lebenswege im Münchner Westen. Eine Spurensuche in Pasing, Obermenzing und Aubing, München 2008, S. 99–101. 81 Vgl. Lorenz, Siegfried Balke, S. 13, und Beate Meyer, Zwischen Regel und Ausnahme. »Jüdische Mischlinge« unter Sonderrecht, in: Brechtken, Magnus / Jasch, Hans-Christian / Kreutzmüller, Christoph / Weise, Niels (Hrsg.), Die Nürnberger Gesetze – 80 Jahre danach. Vorgeschichte, Entstehung, Auswirkungen, Göttingen 2017, S. 205–222. 82 Vgl. Teilnachlass Balke im Archiv des Deutschen Museums München, NL 096, Bl. 010. 83 Lebenslauf v. 25. 11. 1959, BArch, PERS 101 /82450. 84 Absolon, Wehrgesetz, S. 118 f. und 152 f. 85 BArch, PERS 101 /82450.

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die verurteilten Chemiker eintrat.86 1952 wurde er Direktor der Wacker Chemie GmbH in München, vier Jahre später auch Honorarprofessor für Chemiewirtschaft an der LMU. Als Mitbegründer des Vereins der bayerischen chemischen Industrie war er von 1946 bis 1971 auch dessen Vorsitzender. Seit 1957 saß der frühere Wirtschaftslobbyist, der Franz Josef Strauß früh finanziell gefördert hatte, und politische Seiteneinsteiger ohne eine eigene politische Hausmacht, der erst drei Jahre zuvor in die CSU eingetreten war, als Abgeordneter für den Wahlkreis München-Nord im Deutschen Bundestag. Von 1954 bis 1969 gehörte Balke auch dem CSULandesvorstand an. Dort war er als geborener Nichtbayer und Protestant ein Außenseiter.87 Im zweiten Kabinett Adenauer war Balke von 1953 bis 1956 Bundesminister für das Post- und Fernmeldewesen, ab 1956 Bundesminister für Atomfragen, ab 1957 Bundesminister für Atomenergie und Wasserwirtschaft und von 1961 bis 1962 Bundesminister für Atomkernenergie. Als Förderer der friedlichen Nutzung der Kernenergie unterstützte er 1957 die Warnung des sogenannten »Göttinger Manifestes« und legte den Grundstein des Ausbaues des Atomministeriums zu einem Wissenschaftsressort.88 Über seine Entlassung am 11. Dezember 1962 informierte den Minister, wie dieser selbst bestätigte, morgens der Pförtner des Atom­ ministeriums.89 Balke gehörte noch bis 1969 der CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag an, zwischen 1964 und 1969 amtierte er als Präsident der Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände. Nach Beendigung 86 Balke argumentierte, dass das Urteil »vom deutschen Standpunkt aus nicht Verbrecher einer gerechten Strafe zuführ[e], sondern bereits überwundene Nachkriegsgedankengänge psychologisch untermauer[e]«. Die verurteilten Chemiker betrachtete er nicht als Kriminelle und er hoffte, dass die vermeintlich »politisch bedingten Urteile« nicht bestätigt würden. Balkes Standpunkt zeigt einmal mehr die Ambivalenz und Zeitgebundenheit des Belastungsbegriffes. Vgl. Denkschrift Balkes vom 17. 11. 1948, in: ACDP, AO 01–195 03314, S. 20. Zur Einordnung des Prozesses vgl. Stephan H. Lindner, Das Urteil im I. G.-Farben-Prozess, in: Priemel, Kim Christian / Stiller, Alexa (Hrsg.), NMT. Die Nürnberger Militärtribunale zwischen Geschichte, Gerechtigkeit und Rechtschöpfung, Hamburg 2013, S. 405– 433. 87 Robert Lorenz, Politik-Quereinsteiger Siegfried Balke. Franz-Josef Strauß’ generöser Geldeintreiber, in: Spiegel-Online, 8. 2. 2009, www.spiegel.de/politik/ deutschland/politik-quereinsteiger-siegfried-balke-franz-josef-strauss-generoeser-geldeintreiber-a-605881.html [25. 11. 2021]. 88 Vgl. Kap. II.3, S. 112–115. 89 Vgl. Lorenz, Siegfried Balke, S. 131–134.

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seiner politischen Laufbahn war Balke unter anderem Honorarprofessor für Chemiewirtschaft in München, Vorstandsvorsitzender des Deutschen Museums, Vorsitzender des Verbands technisch-wissenschaftlicher Vereine und der Vereinigung der technischen Überwachungsvereine und ­Senator der Max-Planck-Gesellschaft. Siegfried Balke starb mit 82 Jahren am 11. Juni 1984 in München.

Hans Lenz (FDP), 1962–1965 Der am 12. Juli 1907 in Trossingen / Baden geborene Hans Lenz (evang.) entstammte der Instrumentenbauerfamilie Hohner.90 Nach dem Abitur in Stuttgart studierte er von 1926 bis 1932 Neuphilologie in Tübingen, Berlin, London, Paris und Reykjavik. Während des Studiums war Lenz Mitglied des Liberalen Studentenbundes, der Hochschulorganisation der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP). An das in Tübingen abgelegte Staatsexamen schloss Lenz von 1932 bis 1935 eine Buchhändlerlehre in Stuttgart an. Lenz’ Aufnahmedatum in die NSDAP, der 1. Mai 1933,91 wies ihn als typischen »Märzgefallenen« aus, als einen (aus NS-Sicht) vermeintlichen Opportunisten, den nicht primär seine Überzeugung, sondern die Hoffnung auf berufliche Vorteile zum Parteieintritt bewog.92 Da nach der Reichstagswahl vom März 1933 Hunderttausende Aspiranten in die Partei drängten, verhängte die NSDAP mit Wirkung zum 1. Mai 1933 einen ersten Aufnahmestopp. Die Bearbeitung der bis zu diesem Zeitpunkt eingegangenen eineinhalb Millionen Aufnahmeanträge dauerte bis 1936. Aufnahmen aus dieser Zeit wurden grundsätzlich auf den 1. Mai 1933 datiert. Das Misstrauen gegenüber den Neumitgliedern zeigte sich auch in einer zweijährigen Bewährungsfrist und dem Verbot, bereits als Anwärter die braune Uniform zu tragen.93 90 Zur Biographie vgl. Rudolf Vierhaus / Ludolf Herbst (Hrsg.), Biographisches Handbuch der Mitglieder des Deutschen Bundestages. 1949–2002, Bd. 1: A–M, München 2002, S. 497 f.; Henkels, 99 Bonner Köpfe, S. 191–193; »Hans Lenz«, in: Munzinger Online [25. 11. 2021]; Hans Lenz, Beiträge zur Deutschen Wissenschaftspolitik 1962–1965. Aus Reden und Aufsätzen eines Bundesforschungs­ ministers, hrsg. und bearb. von Johannes Sobotta, Darmstadt 1969, S. 18–20 und S. 125, sowie den Nachlass im ADL, ÜP 58 /1988 11787–11796. 91 Mitgliedsnummer 3244986, BArch, NSDAP-Gaukartei R 936-IX KARTEI/255521036. 92 Vgl. Weigel, »Märzgefallene«, S. 92, und Khachatryan, Junge Kämpfer, S. 203– 205. 93 Falter, Wer durfte NSDAP-Mitglied werden, S. 21.

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Ab 1936 leitete Lenz den Priebatsch-Verlag in Breslau. Das jüdische, auf Schulbücher und Literatur über Polen spezialisierte Verlagshaus war bereits drei Jahre vor Lenz’ Eintritt »arisiert« worden. Zwischen 1941 und 1943 stand Lenz dem Verlag Rudolf M. Rohrer im mährischen Brünn und später in Wien vor. Ab 1943 diente Hans Lenz in einer Nachrichteneinheit der Wehrmacht und wurde wegen Tapferkeit zum Leutnant der Reserve befördert. Anfang 1945 wurde er schwer verwundet und blieb körper­ behindert.94 Hinweise auf eine etwaige NS-Belastung infolge seiner militärischen Funktion liegen nicht vor. Nach der Entlassung aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft in Heilbronn kehrte Lenz im Spätsommer 1945 nach Trossingen zurück. Zwischen 1947 und 1950 war er dort stellvertretender Direktor des von ihm ausgebauten staatlichen Hochschulinstituts für Musikerziehung, von 1950 bis 1961 Verwaltungsdirektor der Hohner-Stiftung. 1951 wurde Lenz zum stellvertretenden Vorsitzenden der FDP Württemberg-Hohenzollern gewählt. Von 1953 bis 1967 war er Mitglied des Deutschen Bundestages, wo er sich einen Namen als haushaltspolitischer Sprecher und zwischen 1957 und 1961 als stellvertretender Vorsitzender der FDP-Bundestagsfraktion machte. Von 1960 bis 1964 fungierte Lenz zudem als stellvertretender Bundesvorsitzender der FDP. Am 14.  November 1961 wurde Lenz Bundesschatzminister im vierten Kabinett Adenauer. Offenbar hatte auch eine Verwendung als Bundesfinanzminister im Raum gestanden, die Lenz aufgrund seiner angeschlagenen Gesundheit jedoch ablehnte. Im nach der »Spiegel-Affäre« gebildeten fünften Kabinett Adenauer wurde Lenz am 11. Dezember 1962 Minister für Wissenschaft und Forschung. Am 28. Januar 1965 legte Lenz, dem es gelungen war, die Zuständigkeit für die Forschungsförderung aus dem Innenministerium in sein Ressort zu ziehen, den ersten Bundesforschungsbericht der Bundesregierung vor.95 Im zweiten Kabinett Erhard ersetzte ihn im Oktober 1965 Gerhard Stoltenberg. Hans Lenz starb am 28. August 1968 im Alter von 61 Jahren in Trossingen an einem Herzinfarkt.

94 WASt und Lebenslauf im Nachlass Lenz, ADL, UP 58 /1988 11790 /6. 95 Vgl. den ausführlichen Lebenslauf ebenda, und Kap. II.3, S. 118–121.

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Gerhard Stoltenberg (CDU), 1965–1969 Gerhard Stoltenberg wurde am 29. September 1928 in Kiel als Sohn eines protestantischen Pastors und einer Lehrerin geboren.96 Seine Kindheit und Jugend verbrachte er in Hohenstein bei Oldenburg in Holstein und in Bad Oldesloe. Im Januar 1944 wurde der Gymnasiast als Marinehelfer eingezogen und musste Dienst in einer Flakbatterie bei Brunsbüttel leisten.97 Auf Stoltenbergs Geburtsjahrgang fand die Herabsetzung des Mindestalters für den Eintritt von HJ-Mitgliedern in die NSDAP auf 17 Jahre vom Januar 1944 laut NSDAP-Anordnung 24 /44 vom 30. September 1944 keine Anwendung.98 Stoltenberg war somit zu jung, um in die NSDAP eintreten zu können. In der Literatur finden sich widersprüchliche Angaben, ob Stoltenberg am Ende des Krieges im nordfriesischen Leck kurzzeitig als Kriegsgefangener der Briten festgehalten wurde.99 Nach dem Abitur im Jahr 1949 studierte Stoltenberg bis 1953 Neuere Geschichte, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften und Philosophie in Kiel, wo er 1954 zum Dr. phil. promovierte und 1960 habilitiert wurde.100 An der dortigen Universität war Stoltenberg als Lehrbeauftragter, wissenschaftlicher Mitarbeiter und Dozent auch in Forschung und Lehre tätig. Im Alter von 19 Jahren war Stoltenberg in die CDU eingetreten, zwischen 1955 und 1961 war er Bundesvorsitzender der Jungen Union. Bereits 1954 96 Zu Stoltenberg vgl. Wolfgang Börnsen, Fels oder Brandung? Gerhard Stoltenberg  – der verkannte Visionär, Sankt Augustin 2004; Bernd Brügge, Über Gerhard Stoltenberg. Biographische Skizzen, Stuttgart 1982; Vierhaus / Herbst (Hrsg.), Biographisches Handbuch der Mitglieder des Deutschen Bundestages, Bd. 2: N–Z, S. 850 f.; »Gerhard Stoltenberg«, in: Munzinger Online [25. 11. 2021]. 97 Zu den Marinehelfern vgl. Hans-Dietrich Nicolaisen (Hrsg.), Die Flakhelfer. Luftwaffenhelfer und Marinehelfer im Zweiten Weltkrieg, Berlin 1981; Torsten Schaar / Beate Behrens, Von der Schulbank in den Krieg. Mecklenburgische Schüler und Lehrlinge als Luftwaffen- und Marinehelfer 1943–1945, Rostock 1999. 98 Vgl. »Informationen zum Verfahren der Aufnahme in die NSDAP«, www. bundesarchiv.de /   D E /Content / Artikel / Ueber-uns / Aus-unserer-Arbeit / Textsammlung-NSDAP -Aufnahmeverfahren/zum-nsdap-aufnahmeverfahren.html [25. 11. 2021]. 99 Eine britische Kriegsgefangenschaft wird bei Hanns Ulrich Pusch, Gerhard Stoltenberg. Ein Porträt, Freudenstadt 1971, S. 30, Bernhard Vogel (Hrsg.), Gerhard Stoltenberg. Ein großer Politiker und sein Vermächtnis, Sankt Augustin 2002, S. 9, und im Munzinger Archiv erwähnt, in anderen Biographien dagegen nicht. 100 Promotion mit einer Arbeit über den Deutschen Reichstag von 1871–1873, Habilitation mit der Studie Politische Strömungen im schleswig-holsteinischen Landvolk 1918–1933. Ein Beitrag zur politischen Meinungsbildung in der Weimarer Republik, Düsseldorf 1962.

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wurde Stoltenberg in den Kieler Landtag gewählt, dem er bis zu seiner Wahl in den Deutschen Bundestag 1957 angehörte. Im Bundestag vertrat Stoltenberg seinen Wahlkreis Rendsburg-Eckernförde bis 1971, dann wieder von 1983 bis 1998. Im Frühjahr 1965 wurde Stoltenberg Direktor in der Abteilung Wirtschaftspolitik des Essener Krupp-Konzerns. Im Oktober 1965 berief Kanzler Erhard Stoltenberg als Bundesminister für Wissenschaft und Forschung und zu diesem Zeitpunkt jüngsten Minister in der Geschichte der Bundesrepublik in sein zweites Kabinett; schon im Landtag von Schleswig-Holstein und im Deutschen Bundestag war Stoltenberg jeweils der bislang jüngste Abgeordnete gewesen.101 Auch unter Bundeskanzler Kurt-Georg Kiesinger blieb der gelernte Historiker Wissenschaftsminister. Unter seiner Ägide erzielte der Wissenschaftsetat die damals höchsten Zuwachsraten im Bundeshaushalt. Nach dem Ausscheiden aus der Bundesregierung im September 1969 war Stoltenberg vorübergehend erneut für Krupp tätig, bevor er, mittlerweile als stellvertretender CDU-Vorsitzender, im Mai 1971 zum Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein gewählt wurde. Im Oktober 1982 trat Stoltenberg als Bundesfinanzminister in das Kabinett von Helmut Kohl ein. Anfang 1989 verzichtete der durch die Barschel-Affäre geschwächte Politiker auf eine erneute Kandidatur als schleswig-holsteinischer CDUVorsitzender. Bei einer Kabinettsumbildung im April desselben Jahres wechselte Stoltenberg an die Spitze des Verteidigungsressorts, dem er bis März 1992 vorstand. Gerhard Stoltenberg starb am 23. November 2001 im Alter von 73 Jahren in Bad Godesberg.

Hans Leussink (parteilos), 1969–1972 Hans Leussink (evang.) wurde am 2. Februar 1912 in Schüttorf in Niedersachsen als Sohn eines Architekten geboren.102 Nach seinem Abitur am Realgymnasium in Gronau nahm er 1930 ein Studium des Bauingenieurwesens an der Technischen Hochschule Dresden auf. Im April 1935 legte Leussink die Diplomprüfung ab. Zwischen Januar 1935 und Juli 1937 war er als Assistent am Institut für wissenschaftliche Mechanik an der Bergakademie Freiberg in Sachsen beschäftigt, bis Dezember 1938 als Privat101 Pusch, Gerhard Stoltenberg, S. 11. 102 Vgl. Christina Gillessen, Hans Leussink. Seiteneinsteiger für (fast) unlösbare Aufgaben, in: Lorenz (Hrsg.), Seiteneinsteiger, S. 402–409; »Hans Leussink«, in: Munzinger Online [25. 11. 2021].

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assistent des Institutsleiters Franz Kögler.103 Im Januar 1939 wechselte er als Betriebsleiter an das Erdbau-Institut der TH München, wo er 1941 zum Dr.-Ing. promoviert wurde und bis Dezember 1945 blieb.104 Zum 1.  Mai 1937, einem aufschlussreichen Datum, wurde Leussink unter der Nummer 4.804.923 in die NSDAP aufgenommen.105 Die zum 1.  Mai 1933 verhängte allgemeine Aufnahmesperre für die NSDAP war zum 20. April 1937 partiell gelockert worden. Nun konnten auch Parteiaspiranten aufgenommen werden, die zuvor einer NS-Gliederung mehr als zwei Jahre lang angehört oder sich als Zellenleiter oder Blockhelfer über längere Zeit engagiert hatten. Anscheinend war das auch bei Leussink der Fall, der laut eines Fragebogens zur »Parteistatistische[n] Erhebung« im Juli 1939 nicht nur der Deutschen Arbeitsfront, der NS-Volkswohlfahrt, dem NS-Bund Deutscher Technik, dem Reichsluftschutzbund, dem Volksbund für das Deutschtum im Ausland, dem Kolonialbund und dem Nationalsozialistischen Kraftfahrkorps angehörte, wo er in nicht näher bekannter Funktion »führend tätig« war.106 Leussink gab an, sich darüber hinaus in der Münchner NSDAP-Ortsgruppe Schraudolphstraße ehrenamtlich als »Blockhelfer« zu engagieren und unterstützte den örtlichen Blockleiter (umgangssprachlich »Blockwart«), worin der Grund für seine Parteiaufnahme trotz Mitgliedersperre zu vermuten ist.107 Die zahlreichen »Persilscheine«, die Leussink Anfang 1949 in seinem Osnabrücker Entnazifizierungsverfahren vorlegte, und seine eigenen Erklärungen zeichnen dagegen ein vollkommen anderes Bild.108 Im April 1936 habe er seine Freiberger Dozentenstelle verloren, nachdem er aufgrund seiner »linksgerichteten« und antinationalsozialistischen Einstellung denunziert worden sei. Eine befristete Wiedereinstellung habe sein Vorgesetzter nur dadurch erreichen können, dass Leussink in eine 103 Franz Kögler nahm sich 1939 angeblich auch aus politischen Gründen das Leben. Vgl. Reint de Boer, The Engineer and the Scandal. A Piece of Science History, Berlin u. a. 2005, S. 167, und die eidesstattliche Erklärung von Christa Hagemann, 18. 3. 1947, NLA, OS Rep 980, Nr. 23362. 104 Beruflicher Werdegang im Fragebogen für die politische Überprüfung, 18. 1. 1949, ebenda. Leussinks Angaben zufolge wurde er als Betriebsleiter »durch die Militärregierung wegen formaler Zugehörigkeit zur NSDAP entlassen«. 105 BArch, R 9361-II/63464. 106 Ebenda. 107 Zu den Blockwarten vgl. Detlef Schmiechen-Ackermann, Der »Blockwart«. Die unteren Parteifunktionäre im nationalsozialistischen Terror- und Überwachungsapparat, in: VfZ 48 (2000), S. 575–602. 108 Vgl. Entnazifizierungs-Entscheidung im schriftl. Verfahren, 9. 2. 1949, NLA, OS Rep 980, Nr. 23362.

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­ SDAP-Gliederung eintrat. Im Mai 1936 sei er daher in das ihm noch als N verhältnismäßig unpolitisch erscheinende NSKK eingetreten, wo er nie über den Dienstgrad eines »Rottenführers« (vergleichbar einem Ober­ gefreiten) hinausgelangt sei. Die Aufnahme in die NSDAP habe er nur beantragt, um dem anstrengenden und zeitaufwendigen NSKK-Dienst zu entgehen und um weiter wissenschaftlich arbeiten zu können. Er legte eine beglaubigte Abschrift eines Schreibens des Freiberger NS-Dozentenbundführers von Anfang Februar 1939 vor, in dem Leussink als für eine Lehrfunktion politisch untragbar bezeichnet wurde.109 Auch der säch­ sische Gauleiter Mutschmann habe sich gegen eine weitere Lehrtätigkeit ausgesprochen. Leussink erklärte, die Angaben in der parteistatistischen Erhebung vom Juli 1939 »aus naheliegenden Gründen frisiert« zu haben, er sei nie Blockhelfer gewesen, sondern habe nur kurz und vorübergehend als solcher ausgeholfen.110 Leussinks aktiver Kriegsdienst – er war im Januar 1942 in die 9. Kompanie des Gebirgsjägerregiments 91 eingezogen worden  – endete nach einer Verwundung im Fronteinsatz mit der 4. Gebirgs-Division im Kaukasus bereits im April 1943.111 Später im Jahr wurde er dann zur 2. Grenadierkompanie des Gebirgsjäger-Ersatzbataillons 99 in Sonthofen versetzt.112 Offenbar war Leussink an der »Heimatfront« als unabkömmlich eingestuft worden. 1943 wurde er mit dem Kriegsverdienstkreuz II. Klasse dekoriert, einer hohen, aber massenhaft vergebenen Auszeichnung für ­Zivilisten, die sich militärische Verdienste erwarben, ohne an Kampfhandlungen beteiligt zu sein. Vermutlich waren seine Forschungen zum Erdund Straßenbau der Grund. Ob Leussink seine Biographie vor oder nach 1949 »frisiert« hat, kann im Rahmen dieser Studie nicht abschließend geklärt werden. Er schilderte jedoch selbst, dass ihn der amerikanische Nachrichtendienst CIC Anfang Dezember 1945 »auf Grund einer Denunziation« festgenommen und Ende Juni 1946 ohne Anklage oder Verhandlung wieder freigelassen ha-

109 Beglaubigte Abschrift Schreiben NSD-Dozentenbund Freiberg an NSD-Dozentenbund TH München, 1. 2. 1939, ebenda. 110 Anlage zum Fragebogen, 4. 1. 1949 (Frage Nr. 32), ebenda. 111 Vgl. »Hans Leussink«, in: Munzinger Online [25. 11. 2021], und NLA, OS Rep 980 Nr. 23362. Leussink erhielt die erste Stufe des Verwundetenabzeichens, eines Massenabzeichens. In seinem Entnazifizierungsverfahren gab Leussink an, aufgrund seiner Forschungen zeitweilig vom Militärdienst zurückgestellt worden zu sein. 112 Vgl. WASt, Hans Leussink.

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be.113 Mitte August 1946 sei er von einem amerikanischen Militärgericht in München wegen Fragebogenfälschung zu 18 Monaten Gefängnis verurteilt worden. Ursächlich für das Urteil war die Diskrepanz zwischen den Angaben Leussinks in der »Parteistatistischen Erhebung« von 1939 und gegenüber den US-Militärbehörden. Im Februar 1947 habe man ihn nach einer Überprüfung des Urteils aus der Haft entlassen. Der Entnazifizierungs-Hauptausschuss für besondere Berufsgruppen in Osnabrück bescheinigte Hans Leussink am 9. Februar 1949 im schriftlichen Verfahren eine »geringe[…] Belastung« und »erhebliche berufliche Schwierigkeiten« durch den Nationalsozialismus und stufte ihn als entlastet ein.114 Zwischen 1947 und 1952 betrieb Leussink ein selbständiges Ingenieurbüro in Schüttorf. 1950 gründete er ein weiteres, international operierendes Büro für Grund-, Erd- und Wasserbau in Essen, das unter anderem am Bau des ägyptischen Assuan-Staudammes beteiligt war. 1954 wurde Hans Leussink Ordinarius für Grundbau, Tunnelbau und Baubetrieb an der TH Karlsruhe, wo er zwischen 1956 und 1961 zeitweilig auch als Dekan und Rektor amtierte. Leussink engagierte sich als Präsident der Westdeutschen Rektorenkonferenz (1960–1962), als Vorsitzender des Ausschusses für Forschung und Hochschulwesen des Europarates (1962–1963) und als Mitglied und zeitweilig Vorsitzender des Wissenschaftsrates (1962–1969) in der Wissenschaftspolitik. Im Oktober 1969 ernannte Bundeskanzler Willy Brandt den parteilosen Hochschulpolitiker zum Bundesminister für Bildung und Forschung. Am 15. März 1972 trat Leussink, frustriert über das Stocken der Bildungsreform und ausbleibende politische Unterstützung, von seinem Ministeramt zurück.115 Nach seinem Ausscheiden aus der Bundesregierung war Leussink Mitglied zahlreicher Aufsichtsgremien, Stiftungen und Verbände, darunter die Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung. Hans Leussink starb im Alter von 96 Jahren am 16. Februar 2008 in Karlsruhe.

Klaus von Dohnanyi (SPD), 1972–1974 Siehe unten S. 239 f. unter Staatssekretäre.

113 NLA, OS Rep 980 Nr. 23362. 114 Ebenda. 115 Vgl. Kapitel II.3, S. 126 f.

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Staatssekretäre und ein Stellvertreter des Ministers Wilhelm Grau, Stellvertreter des Ministers 1955–1958 Wilhelm Walter Grau (evang.) wurde am 18. November 1901 in Stuttgart geboren.116 Nach dem Abitur in Stuttgart studierte Grau von 1920 bis 1924 Rechts- und Staatswissenschaften in Tübingen, München und Berlin. Im Herbst 1924 absolvierte er das erste juristische Staatsexamen in Tübingen und im Frühjahr 1928 das zweite in Stuttgart. Von 1929 bis 1932 war er Hilfsreferent bei der Oberrechnungskammer Stuttgart, anschließend bis 1934 bei der dortigen Forstdirektion. Mit einer kirchenrechtlichen Arbeit promovierte Grau im Mai 1932 in Tübingen zum Dr. jur.117 Von 1934 bis 1938 war er als Hilfsreferent und Referent im Range eines Regierungsrates im Württembergischen Innenministerium beschäftigt. Dort war Grau unter anderem mit dem Neckarausbau beschäftigt. Im Sommer 1936 leistete er einen verkürzten Wehrdienst in einem Artillerieregiment in Ulm. Nach seinem Aufnahmeantrag vom 26. November 1937 wurde er unter der Mitgliedsnummer 5.890.124 rückwirkend zum 1.  Mai 1937 Mitglied der NSDAP.118 Am 20. April 1937 war die NSDAP für Aspiranten geöffnet worden, die in den vergangenen Jahren ihre ideologische Zuverlässigkeit bereits in anderen Parteigliederungen bewiesen hatten.119 Auf vielen in dieser Phase Neueintretenden lastete bei ihrer Entscheidung jedoch auch ein gewisser beruflicher Druck. Grau wurde der NSDAP-Beitritt eigenen Angaben zufolge durch den württembergischen Innenminister nahegelegt.120 Seit 1933 war Grau Mitglied im Reichsbund der deutschen Beamten und im NS-Rechtswahrerbund. In beiden nationalsozialistischen Berufsorganisationen war die Mitgliedschaft formell freiwillig, das Unterlassen eines Beitritts konnte aber als mangelnde ideologische Überzeugung ausgelegt werden und zu beruflichen Nachteilen führen. Eben116 Wilhelm Walter Grau ist nicht zu verwechseln mit dem antisemitischen Historiker Wilhelm Grau (4. 8. 1910–9. 10. 2000). Zur Biographie des Ministerialdirektors Wilhelm Grau vgl. Fragebogen Wilhelm Grau, 5. 12. 1946, StA Hamburg, 221–11, Ad 11320; »Grau, Wilhelm«, in: »Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung« online, Biographien [25. 11. 2021]. 117 Wilhelm Grau, Das Kirchenpatronatrecht in Württemberg unter der Verfassung vom 25. Sept. 1919, Tübingen 1932. 118 BArch, R 9361-IX KARTEI/11770824. 119 Falter / Khachatryan, NSDAP-Mitglieder, S. 192, und Falter, Wer durfte NSDAPMitglied werden, S. 22. 120 Anlage 1) zum Fragebogen Dr. Wilhelm Grau, 14. 11. 1946, StA Hamburg, 221– 11, Ad 11320.

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falls 1933 trat Grau der NSV bei, 1936 dem NS-Altherrenbund, 1937 dem Reichskolonialbund und dem Reichsluftschutzbund.121 1938 wurde Grau aufgrund seiner Kenntnisse des Haushaltsrechts ins Reichsinnenministerium nach Berlin zunächst abgeordnet, später dauerhaft versetzt.122 1939 erfolgte die Beförderung zum Oberregierungsrat, 1941 zum Ministerialrat in der Zentralabteilung des Reichsministeriums des Innern (RMdI).123 Die Zentralabteilung unterstand unmittelbar Staatssekretär Hans Pfundtner und koordinierte die einheitliche Geschäftsführung und die Zusammenarbeit der einzelnen Abteilungen im Ministerium.124 Grau arbeitete zweifellos eng mit dem gleichrangigen Hans Globke zusammen, der im RMdI eine Abteilung leitete. Anscheinend war er zwischen 1939 und 1944 unter anderem für das Haushaltswesen der neuen »Alpen- und Donau-Reichsgaue« des ans Deutsche Reich angeschlossenen Österreichs zuständig.125 In den letzten Kriegsjahren reduzierte Pfundtners Nachfolger Stuckart die Zahl der leitenden Beamten ab dem Rang eines Ministerialrates nach Kompetenzkriterien von 62 im Jahr 1943 auf 36 im Jahr 1945.126 Grau blieb offenbar weiterhin im Amt. Dem Kriegsdienst entging er aufgrund seiner Funktion und seines Musterungsgrades. In Hamburg wurde Grau Ende März 1950 als »entlastet« entnazifiziert.127 Er gab an, von 1920 bis zu dessen Auflösung 1933 dem »Tübinger Bibelkreis« angehört zu haben. Bei der Märzwahl 1933 habe er für die nationalliberale Deutsche Volkspartei (DVP) gestimmt.128 Angeblich sei 121 Spruchkammerakte Wilhelm Grau, ebenda. Den Eintritt in den RLB datierte Grau auf 1936 oder 1937. 122 Fragebogen Wilhelm Grau, 5. 12. 1946, ebenda. Vgl. die Anlage 2) zum Fragebogen Dr. Wilhelm Grau, 14. 11. 1946, ebenda. 123 Personalakte BArch, B 106 /11466, B 138 /40317; Max Warnack (Hrsg.), Taschenbuch für Verwaltungsbeamte, Jg. 58, Berlin 1941; Koehler / Jansen (Hrsg.), Bundesrepublik 1956 /57, S. 37 und S. 206. 124 Vgl. Franz Albrecht Medicus, Das Reichsministerium des Innern. Geschichte und Aufbau, Berlin 1940, S. 13. Zu Pfundters Nachfolger im RMdI Wilhelm Stuckart vgl. Hans-Christian Jasch, Staatssekretär Wilhelm Stuckart und die Judenpolitik. Der Mythos von der sauberen Verwaltung, München 2012. 125 Josef Henke / Gregor Verlande (Bearb.), Reichsministerium des Innern. Bestand R 1501, Teil 2 (in Koblenz gebildete Überlieferung), Bd. 2, Koblenz 1995, S. 65. 126 Stephan Lehnstaedt, Das Reichsministerium des Innern unter Heinrich Himmler 1943–1945, in: VfZ 54 (2006), S. 639–672, hier S. 671 f. 127 BArch, B 138 /40317, und Spruchkammerakte Wilhelm Grau, StA Hamburg, 221–11, Ad 11320. 128 Fragebogen Wilhelm Grau, 5. 12. 1946, ebenda. Auf die Frage nach seinem Votum bei der Reichstagswahl vom November 1932 gab er an, zu diesem Zeitpunkt auf einer England-Reise gewesen zu sein.

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innerhalb des Ministeriums bekannt gewesen, dass er bei einer Wahl oder Volksabstimmung nach 1933 mit »nein« votiert habe.129 Von Juli bis November 1945 wertete Grau im amerikanischen Ministerial Collecting Center in Hessisch-Lichtenau bei Kassel Behördenakten der NS-Zeit aus. Von Dezember 1945 bis 1947 arbeitete er dann als leitender Beamter bei der »Deutschen Planungsbehörde für Registrierung und Bestandsaufnahme der Bevölkerung« in Bünde / Westfalen und in Hamburg. Anschließend war er im Innenministerium des damaligen Bundeslandes Württemberg-Hohenzollern eingesetzt. Sein beruflicher Wiederaufstieg führte Grau 1949 ins Bundeskanzleramt nach Bonn. Als Leiter des Haushaltsreferats, des Grundsatzreferates und des Referats für Wissenschaftliche Forschung war er seit 1954 mit der Kernenergie und der Vorbereitung der Einrichtung der Deutschen Atomkommission betraut.130 1955 trat das CDU-Mitglied Grau in das neugegründete Bundesministerium für Atomfragen ein, in dem er, seit Mai 1956 Ministerialdirektor, bis 1958 Stellvertreter des Ministers war.131 Ende 1958 wurde Grau freigestellt, um am Ausbau des Kernforschungszentrums Karlsruhe mitzuwirken. Von 1959 bis zu seiner Pensionierung 1966 stand er der Abteilung B (Binnenschifffahrt) im Bundesministerium für Verkehr vor. Wilhelm Grau verstarb 1975.

Wolfgang Cartellieri, beamteter Staatssekretär 1959–1966 Siehe unten Kap. V.2.

Hans von Heppe, beamteter Staatssekretär 1966–1971 Hans von Heppe (evang.) stammte aus einer hessischen Adelsfamilie. Als Sohn des Landrates Theodor von Heppe und dessen Frau Wilhelmine, der Tochter eines preußischen Regierungsrates, wurde er am 9. August 1907 in Fraustadt in der Provinz Posen geboren.132 Nach seinem Abitur studierte Heppe ab 1926 Jura an den Universitäten Tübingen, Königsberg und Berlin. In Tübingen promovierte er 1931 mit einer juristischen Dis129 Vgl. die Anlage 2) zum Fragebogen Dr. Wilhelm Grau, 14. 11. 1946, ebenda. 130 BArch, B 136 /2041. 131 Siehe auch Kap. II.3, S. 87 f. 132 »Hans von Heppe«, in: Munzinger Online [25. 11. 2021], und »Heppe, Hans von«, in: »Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung« online, Biographien; BStU, MfS HA IX/11 PA 2700.

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sertation über den »Hochverrat nach den neuen Strafgesetz-Entwürfen«.133 1934 absolvierte er das zweite juristische Staatsexamen in Berlin. In seinem Spruchkammerverfahren gab Heppe an, 1931 /32 Anhänger der konservativ-moderaten Volkskonservativen Vereinigung134 und des Zentrumskanzlers Heinrich Brüning gewesen zu sein.135 Seit Oktober 1933 war Heppe SA-Anwärter und nahm in Uniform an Aufmärschen und SA-Diensten teil. Seine Anwartschaft beendete er im Mai 1935 möglicherweise auch, weil die SA-Mitgliedschaft vielen Akademikern nach der Niederschlagung des sogenannten »Röhm-Putsches« im Sommer 1934 nicht mehr opportun erschien. Heppe trat 1933 in den Nationalsozialistischen Rechtswahrerbund ein. Die Mitgliedschaft in dieser juristischen Berufsorganisation war für Juristen nicht verpflichtend, die Nichtmitgliedschaft konnte jedoch mit beruflichen Nachteilen verbunden sein. 1936 wurde er Mitglied der NSV, 1937 des »gleichgeschalteten« DRK und des Reichskolonialbundes. 1946 gab Heppe an, in diese Organisationen eingetreten zu sein, um einen NSDAP-Beitritt vermeiden zu können. Seine erste berufliche Station führte ihn nach dem absolvierten zweiten juristischen Staatsexamen 1934 als Beamten zur Deutschen Reichsbahn. 1936 wechselte er in die Abteilung für Kraftverkehr und Straßenwesen ins Reichsverkehrsministerium.136 1938 erfolgte die Beförderung zum Regierungsrat, 1940 zum Oberregierungsrat und noch im März 1945 zum Ministerialdirektor. Zwischen 1937 und 1939 leistete Heppe einen abgekürzten, insgesamt viermonatigen Wehrdienst bei der Infanterie in Frankfurt an der Oder.137 Ende August 1939 wurde er kurzzeitig zur Wehrmacht eingezogen, aber bereits Mitte Dezember 1939 als unabkömmlich wieder entlassen.138

133 Hans von Heppe, Der Hochverrat nach den neuen Strafgesetz-Entwürfen, Tilsit 1931. 134 Der zeitliche Bezug verweist darauf, dass Heppe wohl eher die Konservative Volkspartei meinte, die 1930 aus der Volkskonservativen Vereinigung hervorgegangen war. Letztere hatte sich Anfang 1930 von der nach rechts abgerückten DNVP abgespalten. Vgl. Erasmus Jonas, Die Volkskonservativen 1928–1933. Entwicklung, Struktur, Standort und staatspolitische Zielsetzung, Düsseldorf 1965, S. 42–79. 135 Vgl. StA Hamburg, 221–11, Ad 7288, Hans von Heppe. 136 Zur Karriere von Heppes vgl. BArch, B 106 /114667, B 138 /40317 und R 3001 /59980. 137 StA Hamburg, 221–11, Ad 7288, Hans von Heppe. Zur »kurzfristigen Ausbildung« vgl. Absolon, Wehrgesetz, S. 160 f. 138 WASt.

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Am 25. Juni 1940 beantragte Heppe im Gau Berlin die Aufnahme in die NSDAP, die bereits zum 1. Juli 1940 unter der Nummer 8.159.574 erfolg-

te.139 Zu diesem Schritt, von dem seine weitere Beschäftigung und Kar­riere abgehangen habe, hatte ihn eigenen Angaben zufolge sein Staatssekretär im RMV gedrängt. 1935 und 1937 habe er den Beitritt noch ablehnen können. Schon seine Ernennung zum Regierungsrat sei 1938 durch einen Einspruch der Partei verzögert worden. Der Eintritt fiel in die Phase der völligen Öffnung der NSDAP für Neumitglieder zwischen Mai 1939 und Februar 1942.140 Im Reichsverkehrsministerium war Heppe in der Abteilung für Wasserstraßen sowie in der Verkehrs- und Tarifabteilung tätig und Referatsleiter in der Abteilung für Kraftverkehr und Straßenwesen.141 Zwischen 1943 und 1945 war er als Bevollmächtigter für den Nahverkehr nach Hamburg abgeordnet. Heppe besaß ein Potsdamer Mietshaus, in dem sich 1943 /44, wohl mit seinem Wissen, Angehörige des Widerstandes um Fritz-Dietlof von der Schulenburg konspirativ trafen.142 Angeblich sei er nach einem erfolgreichen Staatsstreich als Landrat vorgesehen gewesen. Gegenüber der Hamburger Spruchkammer berichtete er, mehrere Hausdurchsuchungen und Befragungen durch die Gestapo erlitten zu haben. Heppes Kontakte zum 139 NSDAP-Gaukartei, BArch, R 9361-IX KARTEI/14981197. Gegenüber der Hamburger Spruchkammer gab Heppe dagegen an, den Beitritt erst am 30. 4. 1941 beantragt zu haben, die Aufnahme sei dann auf Juli 1940 vordatiert worden. Vermutlich lag hier ein Irrtum Heppes vor. Vgl. StA Hamburg, 221–11, Ad 7288, Hans von Heppe. 140 Vgl. Falter, Wer durfte NSDAP-Mitglied werden, S. 33. 141 Laut seiner NSDAP-Gaukarteikarte war Heppe zwischen Oktober 1942 und Februar 1943 in der Ortsgruppe Posen im Wartheland gemeldet. Seine dortige Aufgabe ist noch unklar. NSDAP-Gaukartei, BArch, R 9361-IX KARTEI/14981197. Mitte Februar 1943 war Heppe dann in Potsdam gemeldet. Seit Ende 2019 beschäftigt sich ein Projekt am Institut für Zeitgeschichte München – Berlin mit der Geschichte des Reichsverkehrsministeriums. Die Biographie Hans von Heppes wird in diesem Rahmen sicherlich einer näheren Betrachtung unterzogen. Laut Stasi reiste Heppe im Mai 1943 »zur Teilnahme an Besprechungen über Preisfragen für Fuhrleistungen […] nach Kopenhagen und Oslo«; vgl. BStU, MfS HA IX/11 PA 2700, Bl. 13–15. 142 StA Hamburg, 221–11, Ad 7288, Hans von Heppe; Albert Krebs, Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg. Zwischen Staatsraison und Hochverrat, Hamburg 1964, S. 259. Die Darstellung basiert auf einer Aussage Heppes, vgl. ebenda, S. 311, Anm. 72; Detlef Schwerin, Die Jungen des 20.  Juli 1944. Brücklmeier, Kessel, Schulenburg, Schwerin, Wussow, Yorck, Berlin 1991, S. 130. Das ebenda auf S. 151 erwähnte Haus in der Markgrafenstr. 5 in Potsdam gehörte Heppe.

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Schulenberg-Kreis sind nicht unplausibel. Es fällt allerdings auf, dass er eine Zugehörigkeit zu einer »anti-Nazi underground party or group« in einem Entnazifizierungsfragebogen im September 1945 noch verneinte.143 Während die britische »Special Branch Public Safety« seine Biographie im Januar 1946 noch als »doubtful case« bezeichnete und seine Versetzung in eine untergeordnete Position in einer anderen Abteilung empfahl, sah das »Advisory Board« dagegen keine Hindernisse und verwies auf seine Widerstandsnähe.144 Im Oktober 1946 wurde er schließlich als uneingeschränkt verlässlich eingestuft und ihm liberale und demokratische Überzeugungen attestiert.145 Heppe wurde am 4. Februar 1949 in Hamburg als »entlastet« entnazifiziert.146 Von September 1945 bis März 1946 war Heppe stellvertretender Leiter der Feststellungsbehörde für Kriegsschäden in Hamburg, von 1946 bis 1951 Leiter der Hochschulabteilung in der Schul- und Kulturbehörde der Hansestadt. Ab 1952 leitete er die Hochschulabteilung im Kultusministerium von Nordrhein-Westfalen. Von 1956 bis 1966 fungierte Heppe dann in Hamburg als Senatssyndikus  – eine Art Staatssekretär, jeweils einem Senator zugeordnet  – nicht nur für den Schul- und Hochschulbereich ­sowie das Kulturwesen zuständig, sondern auch für das Personal- und Organisationsamt der Hansestadt. Im November 1966 ernannte Gerhard Stoltenberg Hans von Heppe als Nachfolger für den aus Altersgründen ausscheidenden Wolfgang Cartellieri zum verbeamteten Staatssekretär im Bundesministerium für wissenschaftliche Forschung. Auch nach dem Regierungswechsel zur SPD-FDP-Koalition von 1969 blieb Heppe bis zu seiner Pensionierung Ende Januar 1971 unter dem neuen parteilosen Minister Hans Leussink Staatssekretär. Im Alter von 74 Jahren starb er am 2. April 1983 in Kakenstorf in der Lüneburger Heide.

143 Fragebogen vom 7. 9. 1945, StA Hamburg, 221–11, Ad 7288, Hans von Heppe. 144 Vgl. Fragebogen Action Sheet, 16. 1. 1946, ebenda. 145 Der Einspruch kam von der »Special Branch Public Safety«, vgl. ebenda. – In der amerikanischen Besatzungszone überwachte eine solche die Spruchkammern rigoros. Sie überprüfte die Bescheide und konnte neue Verfahren herbeiführen. Das Verfahren in der britischen Zone war hier vermutlich ähnlich. Vgl. Paul Hoser, Entnazifizierung, in: Historisches Lexikon Bayerns, www.historisches-lexikon-bayerns.de / Lexikon / Entnazifizierung [25. 11. 2021]. 146 Zur Spruchkammerpraxis in Hamburg vgl. Joachim Szodrzynski, Entnazifizierung  – am Beispiel Hamburgs. Zur Neuordnung Deutschlands nach der Zerschlagung des NS-Staates, www.hamburg.de/ns-dabeigewesene/4433186/entnazifizierung-hamburg/ [20. 11. 2021].

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Klaus von Dohnanyi, parlamentarischer Staatssekretär 1969–1972 Klaus von Dohnanyi (evang.) wurde am 23. Juni 1928 als Sohn des Reichsgerichtsrats Hans von Dohnanyi und dessen Ehefrau Christine, geb. Bonhoeffer (der Schwester Dietrich Bonhoeffers), in Hamburg geboren.147 Dohnanyis Vater wurde aufgrund seiner zentralen Rolle im deutschen Widerstand bereits im April 1943 festgenommen und schließlich im April 1945 im KZ Sachsenhausen ermordet. Klaus von Dohnanyi ging von 1938 bis 1940 auf die Thomasschule in Leipzig, ein humanistisches Gymnasium. Von 1940 bis 1944 war er Internatsschüler im Benediktinergymnasium im oberbayerischen Ettal. Im Herbst 1944 wurde Dohnanyi 16-jährig zuerst zum »Volkssturm«, im Januar 1945 noch zu einem »Kampfbataillon«148 des Reichsarbeitsdienstes eingezogen. Der geplante Einsatz bei der Verteidigung der Reichshauptstadt wurde vom Kommandanten abgebrochen, »als wir«  – so Dohnanyi – »das Poltern der Kanonen vor Berlin hörten«.149 Bei Kriegsende geriet Dohnanyi kurz in kanadische Kriegsgefangenschaft. Abgesehen von seinem familiären Hintergrund hätte mit seinem jugendlichen Alter auch ein formaler Grund einen NSDAP-Eintritt ausgeschlossen. Nach dem Abitur 1946 studierte Dohnanyi bis zu seiner Promotion 1949 Jura in München, von 1950 bis 1953 in den Vereinigten Staaten. 1957 absolvierte er sein zweites juristisches Examen in Deutschland; im selben Jahr wurde er Mitglied der SPD. Bis 1960 war er im Management des Ford-Konzerns beschäftigt, anschließend war er am Aufbau und der Füh147 Zur Biographie vgl. Vierhaus / Herbst (Hrsg.), Biographisches Handbuch der Mitglieder des Deutschen Bundestages, Bd. 1: A–M, S. 151 f.; »Dohnanyi, Klaus von«, in: »Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung« online, Biographien; zur Familie vgl. Jochen Thies, Die Dohnanyis. Eine Familienbiografie, München 2004; Elisabeth Chowaniec, Der »Fall Dohnanyi« 1943–1945. Widerstand, Militärjustiz, SS-Willkür, München 1991, und Hans von Dohnanyi, »Mir hat Gott keinen Panzer ums Herz gegeben«. Briefe aus Militärgefängnis und Gestapohaft 1943–1945, hrsg. von Winfried Meyer, München 2015. 148 Thies, Die Dohnanyis, S. 224; kurz vor dem Zusammenbruch der NS-Herrschaft wurden aus RAD-Einheiten drei Infanteriedivisionen der Wehrmacht gebildet, vgl. Kiran Klaus Patel, »Soldaten der Arbeit«. Arbeitsdienste in Deutschland und den USA 1933–1945, Göttingen 2003, S. 375, und Henrik Schulze, 19 Tage Krieg. Die RAD-Infanteriedivision »Friedrich Ludwig Jahn« in der Lücke zwischen 9. und 12. Armee. Die Mark Brandenburg im Frühjahr 1945, Hönow 2011, S. 21– 26. 149 Du hast überlebt! Erinnerungen an das Kriegsende, in: Spiegel special 1945– 1948. Die Deutschen nach der Stunde Null 4 (1995), S. 57.

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rung der Markt- und Meinungsforschungsgesellschaft Infratest in München beteiligt. Am 15. März 1968 wurde Dohnanyi beamteter Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium unter Karl Schiller. Seit September 1969 gehörte er dem Deutschen Bundestag an, ab Oktober 1969 war er parlamen­tarischer Staatssekretär150 im Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft unter Hans Leussink. Am 15.  März 1972 trat Dohnanyi die Nachfolge Leussinks als Bundesminister für Bildung und Forschung an. Nach dem Rücktritt Willy Brandts im Mai 1974 verließ auch Klaus von Dohnanyi die Bundesregierung. Später fungierte er zeitweise als Staats­minister im Auswärtigen Amt, als SPD-Landesvorsitzender von Rheinland-Pfalz und von 1981 bis 1988 als Erster Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg sowie als Wirtschaftsmanager und Berater.

Hildegard Hamm-Brücher, beamtete Staatssekretärin 1969–1972 Hildegard Brücher (evang.) wurde am 11. Mai 1921 als Kind eines leitenden Angestellten und einer Industriellentochter in Essen geboren und wuchs in Berlin auf.151 Nach dem frühen Tod ihrer Eltern lebte sie bei ­ihrer Großmutter in Dresden. Den Besuch des Internats Schloss Salem am Bodensee musste sie beenden, da sie nach den Nürnberger Rassegesetzen von 1935 als »jüdischer Mischling« galt. Ihre evangelische Großmutter war einst vom Judentum konvertiert. Ein Eintritt in die NSDAP wäre ihr, so sie ihn denn beabsichtigt hätte, verwehrt gewesen. Nach dem Abitur in Konstanz nahm sie 1940 ein Chemiestudium in München auf. Dort lernte sie Angehörige der »Weißen Rose« kennen, ohne in deren Widerstands­ tätigkeit eingebunden gewesen zu sein.152 Im März 1945 promovierte sie der Nobelpreisträger Heinrich Wieland mit einer Arbeit über »Hefemutterlaugen bei der Ergosterin-Gewinnung«. Da Deutschland chemische Grundlagenforschung nach Kriegsende zunächst nicht erlaubt war, arbei150 Vgl. Kap. II.3, S. 124. Erstmals erhielt das Bildungs- und Wissenschaftsministerium nun (im Oktober 1969) zwei Posten für einen Staatssekretär bzw. eine Staats­sekretärin: neben Dohnanyi Hildegard Hamm-Brücher. 151 Zur Biographie vgl. Vierhaus / Herbst (Hrsg.), Biographisches Handbuch der Mitglieder des Deutschen Bundestages, Bd. 1: A–M, S. 301 f.; Ursula Salentin, Hildegard Hamm-Brücher. Der Lebensweg einer eigenwilligen Demokratin, Freiburg im Breisgau 1987, und Jacob S. Eder, Liberale Flügelkämpfe. Hildegard Hamm-Brücher im Diskurs über den Liberalismus in der frühen Bundesrepublik, in: VfZ 64 (2016), S. 291–325. 152 Salentin, Hamm-Brücher, S. 24.

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tete Brücher ab 1945 drei Jahre lang als Redakteurin für die amerikanische »Neue Zeitung«. 1949 und 1950 ermöglichte ihr ein Stipendium ein zusätzliches Studium der Politikwissenschaft in Harvard. 1948 trat Brücher in die FDP ein, die sie bis 1954 im Münchner Stadtrat vertrat. Von 1950 bis 1966 und von 1970 bis 1976 saß sie für die FDP im Bayerischen Landtag, die letzten vier Jahre als Fraktionsvorsitzende. 1956 nahm sie nach ihrer Hochzeit den Familiennamen Hamm-Brücher an. Von 1964 bis 1976 und von 1984 bis 1991 gehörte Hamm-Brücher dem FDP-Bundesvorstand an. Hamm-Brücher machte 1964 die Rolle des bayerischen Kultusministers Theodor Maunz als NS-Jurist publik, was zu dessen Rücktritt führte. 1967 wurde sie zur beamteten Staatssekretärin im hessischen Kultusministerium ernannt. Ende 1969, nach dem Bonner Regierungswechsel, ernannte sie der neue Bundesbildungsminister Hans Leussink zur beamteten Staatssekretärin. Sie war damit in der Geschichte des Atom- und Forschungsministeriums die erste Frau überhaupt, die in eine Führungsposition kam. Diese Funktion behielt Hamm-Brücher bis Mai 1972. Danach saß sie von 1976 bis 1990 für die FDP im Deutschen Bundestag und war von 1976 bis 1982 Staatsministerin im Auswärtigen Amt. 1994 kandidierte Hamm-Brücher erfolglos für das Amt der Bundespräsidentin. Im September 2002 trat sie nach 54-jähriger Mitgliedschaft aus der FDP aus. 2011 stiftete sie den zweijährig vergebenen »Münchner Bürgerpreis gegen Vergessen  – für Demokratie« zur Erinnerung an die NS-Diktatur. Hildegard Hamm-Brücher starb am 7.  Dezember 2016 in München im Alter von 95 Jahren.

Hans-Hilger Haunschild, beamteter Staatssekretär 1969–1971 Hans-Hilger Haunschild (evang.) wurde am 25. Januar 1928 als Sohn eines Verwaltungsangestellten in Berlin geboren.153 Dort und in Breslau besuchte er ein humanistisches Gymnasium. In die Hitlerjugend trat er im Alter von zehn Jahren bereits vor der Einführung der Jugenddienstpflicht im März 1939 ein. Ab 1943 wurden zwischen 1926 und 1928 geborene Oberschüler vielfach als Luftwaffenhelfer eingezogen und in Flakstel­ lungen eingesetzt. Ob das auch für Haunschild zutrifft, ist unbekannt. Zur Alterskohorte der Flakhelfer gehörte er auf jeden Fall.154 Um in die 153 Zur Biographie vgl. BArch, B 106 /114668, B 138 /40317; »Hans-Hilger Haunschild«, in: Munzinger Online [25. 11. 2021], und »Haunschild, Hans-Hilger«, in: »Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung« online, Biographien. 154 Vgl. grundsätzlich Herwig, Flakhelfer.

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­ SDAP einzutreten, war er zu jung. Sein Abitur absolvierte er im Jahr N 1945. Nach dem Jura- und Staatswissenschaftsstudium in Köln und in den USA von 1946 bis 1953 war Haunschild bis 1954 Gerichtsassessor beim Landgericht Berlin. Ab 1954 arbeitete er ein Jahr bei der Berliner Senatsverwaltung für Justiz, bevor er ins Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit wechselte. Dort war Haunschild Hilfsreferent im Referat »Kabinettsausschuss«. 1957 wurde Haunschild Hilfsreferent im Bundesministerium für Atomfragen. Von 1959 bis 1962 war er als Leiter des Referats I B 2 für die Europäische Atomgemeinschaft zuständig. Nachdem er von 1962 bis 1967 für eine Tätigkeit bei EURATOM beurlaubt gewesen war, übernahm er 1969 im BMwF bzw. dann im BMBW die Unterabteilung für internationale Zusammenarbeit. Von 1970 bis 1971 leitete Haunschild die Abteilung für Verwaltung und internationale Zusammenarbeit. 1971 wurde er zum beamteten Staatssekretär und Nachfolger Hans von Heppes ernannt. Diese Position behielt Haunschild bis 1987. Von 1986 bis 1987 war er Präsident der Europäischen Atomenergie-Gesellschaft. 84-jährig starb Hans-Hilger Haunschild am 30.  August 2012 in Bad Godesberg.

Joachim Raffert, parlamentarischer Staatssekretär 1972 Joachim Raffert wurde am 16.  März 1925 in eine katholische Arbeiter­ familie in Hildesheim geboren.155 Nach Abschluss der Mittelschule wurde er Volontär bei der »Niedersächsischen Tageszeitung«, einem Blatt mit starker nationalsozialistischer Prägung bereits seit der Weimarer Zeit. Erste journalistische Erfahrungen hatte er schon zuvor in der Pressestelle der lokalen Hitlerjugend gewonnen. Am 15. Januar 1943 beantragte er die Aufnahme in die NSDAP, die zum 20.  April 1943 unter der Nummer 9.470.849 erfolgte.156 Raffert konnte trotz der Anfang Februar 1942 verhängten Mitgliedersperre in die NSDAP eintreten, weil ausgewählte, als 155 Zur Biographie vgl. »Joachim Raffert«, in: Munzinger Online [25. 11. 2021], und »Raffert, Joachim«, in: »Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung« online, Biographien; Vierhaus / Herbst (Hrsg.), Biographisches Handbuch der Mitglieder des Deutschen Bundestages, Bd. 2: N–Z, S. 664; H. W. Kettenbach, Eins steht fest, ich bin kein Linker, in: Kölner Stadt-Anzeiger, 16. 2. 1972, AdsD, Sammlung Personalia, 6/SAMP007809. 156 NSDAP-Gaukartei, BArch, R 9361-IX KARTEI/33640083.

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besonders gefestigt angesehene Hitlerjungen und BDM-Angehörige von ihr ausgenommen waren.157 Ab März 1943 – Raffert war gerade 18 geworden – diente er als Freiwilliger bei der Waffen-SS, an deren Nachrichtenschule im französischen Metz er eine Funkerausbildung absolvierte.158 Zwischen September 1943 und April 1944 lag Raffert dort schwer erkrankt im Lazarett. Rafferts Einsatz während des letzten Kriegsjahres ließ sich nicht zweifelsfrei nachvollziehen. Offenbar gehörte er der 16. SS-Panzergrenadierdivision »Reichsführer SS« an, mit der er in Italien kämpfte.159 Bei Kriegsende war Raffert einem Pressebericht zufolge SS-Standartenjunker der Reserve, also Offiziersanwärter.160 Nach seiner Flucht aus der amerikanischen Gefangenschaft in Böhmen, in die er bei Kriegsende geraten war, arbeitete Raffert in Hildesheim als Bauhilfsarbeiter und Puppenspieler und legte 1947 die Abiturprüfung ab.161 Für nach dem 1. Januar 1919 Geborene galt in den drei westlichen Besatzungszonen eine Jugendamnestie. Raffert musste sich daher, soweit bekannt, keinem Spruchkammerverfahren unterziehen. Seit 1949 war er wieder als Journalist tätig; im selben Jahr trat er der SPD bei. Zwischen 1965 und 1972 vertrat er den Wahlkreis Hildesheim für die SPD im Deutschen Bundestag. Zeitweilig trug er innerhalb der SPD-Fraktion den Spitznamen »Krawall-Raffert«, da er 1967 eine Arbeitsgruppe zu den Studentenunruhen leitete. Mitte März 1972 ernannte Bundesminister Klaus von Dohnanyi Raffert zu seinem parlamentarischen Staatssekretär im Bundesministerium für Bildung und Forschung. Rafferts frühere Zu157 Vgl. Falter, Wer durfte NSDAP-Mitglied werden, S. 34. 158 Auskunft WASt. Zur Nachrichtenschule der Waffen-SS Metz vgl. knapp HansChristian Harten, Himmlers Lehrer. Die weltanschauliche Schulung in der SS 1933–1945, Paderborn 2014, S. 304, und Jutta Mühlenberg, Das SS-Helferinnenkorps. Ausbildung, Einsatz und Entnazifizierung der weiblichen Angehörigen der Waffen-SS 1942–1949, Hamburg 2010, S. 191. 159 Vgl. LA NRW, Abt. Rheinland, Gerichte Rep. 434, Nr. 76, und Walter Henkes, Vom Puppenspieler zum Staatssekretär, in: FAZ, 16. 2. 1972, AdsD, Sammlung Personalia, 6/SAMP007809. Die genannte Division war allerdings, entgegen der Angabe in diesem Artikel, nicht in der Tschechoslowakei eingesetzt. Angehörige der 16. SS-Pz.Gr.Div. »Reichsführer SS« verübten im August und September 1944 in Italien, etwa in Sant’Anna di Stazzema und Marzabotto, schwerste Kriegsverbrechen. Vgl. Carlo Gentile, Zivilisten als Feind. Die 16. SS-Panzergrenadierdivision »Reichsführer-SS« in Italien 1944 /45, in: Schulte, Jan Erik / Lieb, Peter / Wegner, Bernd (Hrsg.), Die Waffen-SS. Neue Forschungen, Paderborn 2014, S. 302–316. 160 Henkes, Puppenspieler. 161 Laut Kartei der WASt wurde Joachim Raffert am 9. 5. 1947 formell aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft entlassen.

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gehörigkeit zur Waffen-SS wurde zu dieser Zeit in Presseberichten über seine Ernennung erwähnt, aber nicht skandalisiert.162 Bereits im August desselben Jahres trat Raffert zurück und verzichtete auf eine weitere Bundestagskandidatur, da er aufgrund eines Beratervertrages mit einer Illustrierten in die Kritik geraten war. Joachim Raffert starb am 18. September 2005 im Alter von 80 Jahren in Hildesheim.

3. Kategorien personeller NS-Belastung: die Situation im Ministerium Ergänzend zu der quantifizierenden Analyse formaler Belastungskriterien in Kapitel IV.1 soll nun der qualitativ angelegte Versuch einer Einschätzung personeller NS-Belastungen im Atom- und Forschungsministerium unternommen werden. Dabei beziehen wir uns erneut auf die ausgewählte Untersuchungsgruppe von 85 Angehörigen des »ministeriellen Führungspersonals«, wobei exemplarisch auf die Belastung und spätere Karriere einzelner Personen eingegangen wird. Teilweise erfolgen Querverweise auf die biographischen Skizzen in den Kapiteln IV.3 und V.1–5. Als Analyseraster dienen die in der Einleitung entwickelten drei Kategorien von NS-Belastung: 1. ideologische Belastung, 2. Belastung durch die berufliche bzw. militärische Funktion und Tätigkeit und 3. unmittelbare Mitwirkung an Kriegsverbrechen oder Mordtaten. Im Vordergrund stehen das heutige Verständnis und der heutige Kenntnisstand von NS-Belastungen. Zeit­ genössische Wahrnehmungsperspektiven werden punktuell aber ebenfalls zu berücksichtigen sein; dies betrifft auch die Frage nach dem Umgang im Ministerium mit dem Thema NS-Belastung. Abschließend wird dann auch auf den »Gegenpol« von NS-Belastung eingegangen: die Nähe bzw. die proklamierte Nähe zu Widerstandskreisen oder gar die eigene Beteiligung am Widerstand. Ein grundsätzliches methodisches Problem bei der Feststellung einer ideologischen Belastung liegt darin, dass die diesbezügliche Quellenbasis eng bemessen ist. So konnte für unsere Untersuchungsgruppe – von wenigen Ausnahmen abgesehen163 – kein privates Material ausgewertet werden, das eventuell Hinweise auf eine entsprechende ideologische Nähe 162 Vgl. die oben angeführten Artikel aus »FAZ« und »Kölner Stadt-Anzeiger« sowie Udo Bergdoll, Puppenspieler und Redakteur, in: SZ, 15. 3. 1972. 163 Genannt sei insbesondere der Nachlass von Wolfgang Cartellieri: BArch, N 1092. Vgl. auch die biographische Skizze in Kap. V.2.

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hätte geben können. Ob derartiges Material überhaupt noch vorhanden ist, erscheint zudem bei den meisten Personen unsicher. Ebenso mangelt es an publizistischen Äußerungen aus dem Untersuchungskreis, die eventuell auf eine NS-Nähe hingedeutet hätten, was insofern wenig überraschend ist, als die späteren Angehörigen unseres ministeriellen Führungspersonals ganz überwiegend fachlich spezialisierte Juristen und Techniker bzw. Naturwissenschaftler waren. Bei der Analyse ideologischer Belastungen waren wir daher weitgehend auf formale Kriterien angewiesen. Die bloße Mitgliedschaft in der NSDAP und/oder in einer parteinahen Organisation ist hierfür nicht ausreichend. Wie die neuere Forschung zur NSDAP-Mitgliedschaft bestätigt hat, war – zumal im Öffentlichen Dienst, dem viele der von uns untersuchten Personen bereits in der NS-Zeit angehörten – eine mehr oder minder opportunistische Zugehörigkeit, meist ab 1933 oder, nach Lockerung der Aufnahmesperre, ab 1937 eher die Regel als eine ausgeprägte ideologische Verbundenheit mit dem Nationalsozialismus.164 Es ist daher notwendig, spezifischere formale Indikatoren der ideologischen NS-Belastung heranzuziehen, auch wenn damit zweifellos gewisse Schematismen der Interpretation verbunden sind. Sobald derartige Indikatoren aber im individuellen Kontext betrachtet werden, erhöht sich die Chance, differenzierende Aussagen machen zu können. Im Folgenden soll dies am Beispiel von Personen unserer Untersuchungsgruppe dargelegt werden. Wie bereits in Kapitel I.3 erläutert, gilt häufig ein vor dem 30. Januar 1933 erfolgter NSDAP-Eintritt als Indikator für eine besondere Affinität zum Nationalsozialismus – dies war auch schon ein zentraler Aspekt des historischen Belastungsverständnisses in den 1950er Jahren. Innerhalb des untersuchten Führungspersonals bis zum Geburtsjahrgang 1927 ließ sich, auch dies wurde bereits erwähnt, ein derart früher Schritt lediglich in zwei Fällen feststellen. Das macht knapp zwei Prozent der untersuchten Gruppe aus. Berücksichtigt man, dass für eine Mitgliedschaft bis zum 30.  Januar 1933 grob gerechnet nur die Geburtsjahrgänge von 1914 abwärts in Frage kommen – insgesamt 38 Personen –, dann ergibt sich in dieser Gruppe ein Wert von rund fünf Prozent »alter« Parteimitglieder. Die beiden Ministerialbeamten mit früher Parteimitgliedschaft waren im Alter von 27 bzw. 29 Jahren in die NSDAP aufgenommen worden. Es handelt sich somit um Angehörige der »Kriegsjugendgeneration«, die sich als

164 Vgl. Falter / Khachatryan, NSDAP-Mitglieder, S. 190–193; Khachatryan, Junge Kämpfer, S. 211 f.

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besonders anfällig für den Nationalsozialismus erwiesen hat.165 Dieser Befund sollte freilich nicht überbewertet werden: In derselben Altersgruppe gab es im Atom- und Forschungsministerium weit mehr Beamte, die vor 1933 nicht Mitglied der NSDAP geworden waren. Der Diplomingenieur Werner Haase (7. 12. 1902–?), der als Referatsund Unterabteilungsleiter dem Atom- und Forschungsministerium von 1956 bis 1967 angehörte, war der NSDAP bereits zum 1. November 1931 beigetreten.166 Haase hatte wenige Monate zuvor sein Maschinenbaustudium abgeschlossen. Möglicherweise führten mitten in der Weltwirtschaftskrise auch berufliche Ängste zu dem Entschluss, sich den als »Retter« Deutschlands auftretenden Nationalsozialisten anzuschließen.167 Die NSDAP hatte zu diesem Zeitpunkt in ihrem Wachstum bereits stark zugelegt, besaß auf Reichsebene aber noch keine unmittelbare Machtoption. Bei den Reichstagswahlen im September 1930 hatte sie 18,3 Prozent erreicht, bei verschiedenen Landtagswahlen kam sie 1931 auf über 25 Prozent, vereinzelt auch auf über 30 Prozent. Die Mitgliederzahl der NSDAP war nach den Berechnungen von Falter und Khachatryan von gut 100.000 Ende 1929 auf etwa 570.000 Ende 1931 gestiegen.168 Seit 1935 war Haase zunächst Angestellter, dann Beamter im Reichsluftfahrtministerium und gehörte seit 1939 als Fliegeringenieur dem Ingenieurkorps der Luftwaffe an. Seine Biographie während der NS-Zeit zeigt zusätzliche Indizien für eine enge Bindung an den Nationalsozialismus.169 Es ist anzunehmen, dass Haase, der in Kategorie V (entlastet) entnazifiziert wurde, 1951 bei 165 Vgl. v. a. Michael Wildt, Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002; Ulrich Herbert, Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1903–1989, Neuauflage München 2016; ders., Drei politische Generationen im 20. Jahrhundert, in: Reulecke, Jürgen (Hrsg.), Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert, München 2003, S. 95–114. 166 Die Mitgliedsnummer lautete 723.176. Vgl. BArch, PERS 6 /146385. Quellengrundlage Haase siehe Anhang 2. 167 Haase selbst wurde nicht arbeitslos. Diverse kurzzeitige und wohl unterqualifizierte Angestelltentätigkeiten bis zu seiner Einstellung im Reichsluftfahrtministerium spiegeln aber eine unsichere Situation. 168 Falter / Khachatryan, NSDAP-Mitglieder, S. 187 (Tab.); Stichtag ist jeweils der 31.12.; ebenda, S. 186. Zu den teils stark abweichenden Zahlen in der Literatur und zu methodischen Fragen bei der Berechnung der Nettomitgliederzahlen vgl. ebenda, S. 179–185. 169 So vermerkt die Personalakte aus dem Reichsluftfahrtministerium, dass Haase »1933 Vorsitzender eines parteiamtlichen u. staatl. Untersuchungsausschusses« wurde. Vgl. BArch, PERS 6 /146385. Dazu kamen Mitgliedschaften in diversen NS-Verbänden: DAF, NSV, NS-Bund D. Technik sowie Berufsverbände.

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der Einstellung in den Bundesdienst170 sein Eintrittsdatum in die NSDAP falsch angegeben hat: In den ministeriellen Ernennungsunterlagen ist durchgehend von 1957 bis 1966 das Jahr 1937 vermerkt.171 Als sich der Aufstieg des Nationalsozialismus unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise sowohl in den Landtagswahlergebnissen als auch in der Mitgliederzahl beschleunigte, trat der Elektrotechniker und Physiker Otto Groos (30. 8. 1905  –?) zum 1.  Mai 1932 in die NSDAP ein.172 Wenig später erreichte die Partei bei den Reichstagswahlen vom Juli 1932 mit 37,3 Prozent und einem Zugewinn von 19 Prozent ihr bestes Ergebnis unter freien Wahlbedingungen. Die Mitgliederzahl lag Ende des Jahres 1932 bei über 900.000.173 Groos hatte Mitte 1931 sein Diplomstudium abgeschlossen, um dann zu promovieren. Die Annahme einer ideologischen Nähe zum Nationalsozialismus und damit die Vermutung, dass es sich um mehr als nur einen »antizipativen« Opportunismus handelte,174 wird gestützt durch den SA-Eintritt im Jahr 1933. Der langjährige Referatsleiter im Atom- und Forschungsministerium mit Zuständigkeit für Reaktorsicherheit (1958–1970) gehörte seit 1938 der ambitionierten »Forschungsanstalt der Reichspost« an, seit 1939 fungierte er als Abteilungsleiter, und seit 1943 war er im Bereich der Radartechnologie Gruppenleiter für »Dezimeterwellentechnik«175 – eine Technologie, die im Funkwesen von hoher Bedeutung ist. Von 1948 bis 1958 stand Groos im argentinischen Ministerialdienst und war im Bereich der Radar- und Mikrowellentechnik tätig. Dies muss kein Indiz für eine politisch motivierte Flucht aus Deutschland sein und auch nicht – wenngleich dies durchaus plausibel erscheint – für eine weiterwirkende ideologische Präferenz. Offenbar gehörte Groos zur großen Zahl technischer Experten des NS-Regimes, die der argentinische Staatspräsident Juan Perón nach dem Zweiten Weltkrieg

170 Seit 1951 war Haase zunächst in der Bundesstelle für den Warenverkehr tätig, dann im Bundeswirtschaftsministerium und danach wieder in der Bundesstelle für den Warenverkehr bzw. im Bundesamt für gewerbliche Wirtschaft. 171 BArch, B 106 /114667. 172 Mitgliedsnummer 1.130.801; vgl. BStU, MfS HA III 4.021. Quellengrundlage Groos siehe Anhang 2. 173 Falter / Khachatryan, NSDAP-Mitglieder, S. 187 (Tab.). 174 Khachatryan, Junge Kämpfer, S. 203, spricht für diese Phase von »sozusagen antizipative[n] Konjunkturritter[n]«. 175 Es handelt sich hierbei um elektromagnetische Wellen im Bereich von 300 bis 3.000 MHz.

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anwarb, um seine ambitionierten industrie- und militärpolitischen Vorstellungen zu realisieren.176 Neben der frühen Parteizugehörigkeit können auch Funktionen innerhalb der NSDAP als Indikatoren für eine besondere ideologische Nähe zum Nationalsozialismus bewertet werden.177 Mindestens drei Personen der Untersuchungsgruppe waren als »Politischer Leiter« bzw. »Blockwart« (»Blockleiter«)178 der NSDAP tätig: die Diplomingenieure Walther Kumpf (22. 6. 1899 – 15. 3. 1973)179 und Bernhard Gaedke (29. 8. 1908 –?)180 sowie der ehemalige Diplomat Otto Beutler (26. 8. 1900 – 29. 12. 1982).181 176 Vgl. die Literaturhinweise unten S. 380, Anm. 492, im Kontext der biographischen Skizze zu Walther Schnurr, der ebenfalls zeitweise in Argentinien tätig war. – Hinweise auf ein Spruchkammerverfahren gegen Groos haben sich nicht gefunden. 177 Funktionen in NS-Organisationen werden im Folgenden nicht berücksichtigt. Hier wären sehr genaue individuelle Prüfungen notwendig. 178 Zum Aufgabenbereich vgl. Schmiechen-Ackermann, »Blockwart«; Cornelia Schmitz-Berning, Vokabular des Nationalsozialismus, Berlin 22007, S. 106–109. Vgl. auch Robert Ley (Hrsg.), Organisationsbuch der NSDAP, München 1943, S. 100: »Er soll zu den besten Parteigenossen innerhalb der Ortsgruppe zählen.« Auch zit. in Schmitz-Berning, Vokabular, S. 106. 179 Quellengrundlage Kumpf siehe Anhang 2. – Kumpf, der seit 1950 im Bundeswirtschaftsministerium tätig gewesen war, leitete von 1959 bis 1961 im Atom­ ministerium die Gruppe III Wasserwirtschaft, um dann  – nach Änderung der Ressortzuständigkeit  – ins Gesundheitsministerium zu wechseln. Zu seiner Funktion als Einsatzgruppenleiter der Organisation Todt vgl. unten S. 262. 180 Quellengrundlage Gaedke siehe Anhang 2. 181 Beutler war von 1937 bis 1939 »Politischer Leiter« der NSDAP-Ortsgruppe Quito / Ecuador, 1942 trat er in die SA ein. Beutler stammte aus dem Verwaltungsdienst des Landes Württemberg und arbeitete seit 1926 im AA. Bereits 1946 kam der als »Mitläufer« eingestufte Beutler wieder in den Ministerialdienst, zunächst auf Landesebene im Innenministerium von Württemberg-Hohenzollern. Seit 1951 war er zunächst Hilfsreferent im Bundeskanzleramt. 1956 wechselte er ins Atom- und Forschungsministerium. Ob die Angabe in einem Organigramm aus dem Jahr 1957 zutreffend ist, die Beutler die Leitung des Referats I A 1 (»General- und Personalreferat«) zuschreibt, bedürfte der Überprüfung. Später war Beutler im Atom- und Forschungsministerium als Hilfsreferent tätig. 1963 wurde er Leiter des Referats I A 6 (»Organisation: Koordinierung der zivilen Notstandsplanung, Sicherheit«). Zum Bezug einer »Judenwohnung« 1942 vgl. unten S. 264 f. – Quellengrundlage Beutler siehe Anhang 2. Literatur: Biographisches Handbuch des deutschen Auswärtigen Dienstes 1871–1945, Bd. 1: A–F, bearb. von Johannes Hürter, Martin Kröger, Rolf Messerschmidt und Christiane Scheidemann, Paderborn u. a. 2000, S. 148 f. (mit Foto); »Beutler, Otto«, in: »Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung« online, Biographien; Conze / Frei /  Hayes / Zimmermann, Das Amt, S. 336. Angesichts des aufschlussreichen

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Kumpf gehörte dem Atom- und Forschungsministerium von 1959 bis 1961 als Referats- und Gruppenleiter an, Gaedke von 1962 bis 1971 als Referats- und Unterabteilungsleiter und Beutler von 1956 bis 1963, zuletzt als Referatsleiter. Die beiden Erstgenannten hatten sich der NSDAP zum 1. Mai 1933 angeschlossen, Beutler wurde trotz Zugangssperre zum 1.  März 1935 Parteimitglied. Im Falle von Kumpf existiert eine spätere Rechtfertigung für den Entschluss, in die NSDAP einzutreten und eine Funktion zu übernehmen: Glaubt man einem Brief im Kontext des Entnazifizierungsverfahrens, dann spielte neben dem Faktor Opportunismus auch der Eindruck eine Rolle, den nationalsozialistische Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen auf Kumpf machten.182 Angemerkt sei, dass die Kategorie einer ideologischen Belastung im Falle einer Parteifunktion durchaus gesprengt wird, da auch die damit verbundenen Aktivitäten zu berücksichtigen wären – was freilich in unseren Fällen von der Quellenlage her unmöglich ist.183 Als politische Parteifunktion muss auch das Amt eines NSDAP-Ratsherrn in Potsdam bewertet werden, das der später im Kontext der beruflichen NS-Belastung zu behandelnde Karl Kaißling (17. 7. 1900 – benslaufs und der guten Quellenlage sei eine genauere biographische Studie zu Beutler angeregt. 182 Vgl. S. 2 eines Briefs vom 11. 8. 1946 an einen ehemaligen Arbeitskollegen, in dem Kumpf um ein Entlastungsschreiben bat: »Im Mai 1933 habe ich eine Aufnahmeerklärung für die NSDAP unterschrieben. Im Winter 1932 /33 stand ich der NSDAP zunächst noch voellig ablehnend gegenüber. Erst während meines Urlaubs vor 3 Wochen habe ich mich mit meiner Frau ueber unsere beiderseitigen in einem Briefwechsel zwischen ihr und mir gelegentlich eines Kuraufenthaltes in Bad Salzuflen im Januar und Februar 1933 – also gleichzeitig mit den bekannten Wahlen zum Lipper Landtag und der damit verbundenen Propaganda-Aktion – geaeusserten Ansichten ueber Art und Methoden dieser Propaganda unterhalten. Die Entwicklung nach dem 30. 1. 1933, die Einflussnahme der Oldesloer Kreisleitung auf die sachliche und insbesondere auf die personelle Fuehrung der Kreisverwaltung und die Einzelpropaganda eines meiner Mitarbeiter haben mich dann veranlasst, unmittelbar vor Schliessung der Tore der Partei meine Aufnahme zu beantragen. Im Laufe des Jahres 1933, besonders unter dem Eindruck der […] grossen Arbeitsbeschaffungsaktion, Instandsetzung zweitrangiger Strassen und Wege u. a.m., deren Sie sich wohl noch erinnern koennen  – habe ich ­geglaubt, die positiven Seiten der Bewegung erkannt zu haben. Und fing an, mich für die Dinge einzusetzen. So wurde ich im Fruehjahr 1934 in einer Ortsgruppe Politischer Leiter. Diese Taetigkeit behielt ich grundsätzlich bis in den Winter 1938 /39 bei […].« BArch, N 1772 /1. 183 Kumpf selbst gab 1946 in der zitierten Bitte um ein Entlastungsschreiben an, »wohl kein ›begeisterter‹ Politischer Leiter« gewesen zu sein; er habe »vielmehr diese Taetigkeit als Pflicht fuer einen seiner Aufgaben dem Vaterland gegenueber bewussten Manne« aufgefasst. Ebenda.

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19. 7. 1992) Mitte der 1930er Jahre bekleidete — zumal kommunale Mandatsträger nicht mehr gewählt, sondern von der Partei ernannt wurden.184 Der Rang eines SA-Hauptsturmführers deutet bei dem damaligen Maschinenbauingenieur, der dem Atom- und Forschungsministerium von 1960 bis 1962 als Abteilungs- und Gruppenleiter angehörte,185 ebenfalls auf eine ideologische Nähe zur NSDAP. Während ein nach dem 1. Januar 1933 erfolgter SA-Beitritt individuell zu beurteilen ist,186 stellt eine Zugehörigkeit zur SS in der Regel ein klares Signal ideologischer Nähe dar. In den Reihen des untersuchten ministeriellen Führungspersonals ließ sich diese in vier Fällen ermitteln. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich freilich, dass auch hier ein differenzierender Blick erforderlich ist: So schloss sich in einem ersten Fall, bei dem in Kapitel V.5 ausführlich behandelten Karl-Heinz Spilker (3. 5. 1921  – 23. 11. 2011), der Eintritt in die Allgemeine SS und in die Waffen-SS ­sowie in die NSDAP im Alter von 18 Jahren direkt an die Schulzeit in einer »Nationalpolitischen Erziehungsanstalt« an. Spilkers ideologische Belastung wird somit insofern relativiert, als er schon im jugendlichen Alter einer starken nationalsozialistischen Indoktrination ausgesetzt war. Auch der 1972 kurzzeitig als Staatssekretär fungierende Joachim Raffert (16. 3. 1925  – 18. 9. 2005) war, wie bereits im Rahmen von Kapitel IV.3 ausgeführt, im Alter von 18 Jahren in die Waffen-SS eingetreten, kurz vor ­seiner Aufnahme in die NSDAP.187 In einem dritten Fall erfolgte die Aufnahme in die SS im Alter von 20 Jahren: Erich Kreter (11. 2. 1916  – 1. 11. 2005) wurde im November 1936 Anwärter der Allgemeinen SS.188 Dass er in der Folgezeit mindestens fünf 184 Quellengrundlage Kaißling siehe Anhang 2. Zum Amt als Ratsherr in Potsdam vgl. BArch, PERS 101 /82475, Bl. 230. Zu Kaißlings Funktion als Leiter der Werkstättenabteilung der Generaldirektion der Ostbahn (Gedob) in Lodz und Krakau vgl. unten S. 260. 185 Kaißling, der aus dem Verteidigungsministerium kam, leitete die Abt. II (Kernforschung, Kerntechnik; Strahlenschutz). 186 Zur Bewertung der SA vgl. Siemens, Stormtroopers. 187 Vgl. oben S. 242 f. 188 Quellengrundlage Kreter siehe Anhang 2. – Aufnahmedatum 1. 11. 1936 im ausgefüllten Fragebogen für das Rasse- und Siedlungshauptamt der SS vom 21. 1. 1937, BArch R 9361-III/107182. – Zur Allgemeinen SS und zu den Aktivitäten ihrer Mitglieder vgl. Bastian Hein, Elite für Volk und Führer? Die Allgemeine SS und ihre Mitglieder 1925–1945, München 2012. Ein SS-Anwärter war ein vorläufiger Angehöriger der SS, der den Status eines SS-Bewerbers verlassen hatte, aber noch einer in der Regel eineinhalbjährigen weiteren Probezeit unterlag. Der SS-Anwärter trug eine auf eigene Kosten beschaffte SS-Uniform und leistete Dienst in

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Jahre in diesem Status im SS-Sturm 5 /19 in Recklinghausen verharrte, ist ungewöhnlich. Möglicherweise lag dies daran, dass Kreter, für dessen volle Zugehörigkeit zur SS kein Nachweis vorliegt, die erforderlichen genealogischen Urkunden für die Ahnentafel nicht vollständig einreichte.189 Wahrscheinlich hing Kreters Antrag zur Aufnahme in die SS mit seinem 1935 kurz nach dem Abitur erfolgten Übergang in den Polizeidienst zusammen. Seitdem der »Reichsführer SS« Heinrich Himmler im Sommer 1936 auch als »Chef der deutschen Polizei« fungierte, gab es einen gewissen Druck auf Polizisten, in die SS einzutreten, um eine Verschmelzung von Polizei und SS herbeizuführen. Mit Datum vom 1.  Mai 1937 wurde Kreter zudem Mitglied der NSDAP. In einem Fragebogen für das Rasse- und Siedlungshauptamt der SS bezeichnete er sich im Januar 1937 als »gottgläubig« – auch dies ein Indiz für seine Affinität zum Nationalsozialismus.190 Während des Krieges war Kreter in diversen Nachrichtenabteilungen der Wehrmacht eingesetzt.191 In seinem im Juli 1946 in der britischen Zone abgeschlossenen Entnazifizierungsverfahren verschwieg Kreter die SS-Zugehörigkeit bzw. Anwartschaft und wurde als »entlastet« in die Kategorie V (»May be employed«) eingestuft.192 1950 gelangte er über das Innenministerium in den Bundesministerialdienst. Ob er bei der Einstellung seine SS-Vergangenheit erneut verheimlicht hat, ist unklar; bei den ersten Beförderungsvorgängen im Forschungsministerium taucht die SS-Zugehörigkeit dann in den Personalunterlagen auf.193 Kreter gehörte einer SS-Einheit. Zur Aufnahmeprozedur vgl. Bastian Hein, Himmlers Orden. Das Auslese- und Beitrittsverhalten der Allgemeinen SS, in: VfZ 59 (2011), S. 263–280, hier S. 278. 189 Kreters »Verlobungs- und Heiratsgesuch« vom November 1941, das er als S­ S-Anwärter an das SS-Rasse- und Siedlungshauptamt (RuSHA) richten musste, wurde daher am 19. 8. 1942 bis ein Jahr nach Kriegsende zurückgestellt. Vgl. Schrei­ben des RuSHA an Kreter vom 19. 8. 1942, BArch, R 9361-III/107182. Kreter hatte mit einer vorläufigen Genehmigung allerdings bereits Anfang Januar 1942 geheiratet. 190 BArch, R 9361-III/107182. Zum hohen Anteil an »Gottgläubigen in der SS (ca. 50–70 %)« vgl. Niels Weise, Eicke. Eine SS-Karriere zwischen Nervenklinik, KZ-System und Waffen-SS, Paderborn 2013, S. 270. Später besaß Kreter wieder die evangelische Konfession. Vgl. z. B. Aktenvermerk zum Ernennungsvorschlag, 28. 10. 1963, BArch, B 106 /114667. 191 Vgl. WASt. 192 LA NRW, Abt. Rheinland, NW 1039-K-5642. 193 BArch, B 106 /114667. – Kreters Wiedereinstieg in den Öffentlichen Dienst war problemlos verlaufen: Im Juli 1945 wurde er als Polizeiinspektor im Straßenverkehrsamt Recklinghausen eingestellt, im Januar 1946 wechselte er als Verwaltungsbeamter in den Regierungsbezirk Münster und 1950 in das

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von 1963 bis 1969 dem Bundesministerium für Wissenschaftliche Forschung an und befasste sich dort vor allem mit Wissenschaftsförderung.194 Im vierten Fall geht es um die Zugehörigkeit zur Reiter-SS, die wiederum anders zu bewerten ist. Der Jurist Walter Schulte (1906–1984, ab ca. 1960 Schulte-Meermann)  – im Atom- und Forschungsministerium von 1959 bis 1968 Referats-, Gruppen- bzw. Unterabteilungsleiter für Fragen der internationalen Zusammenarbeit – war 1933 in die Reiter-SS aufgenommen worden. Gemäß seiner eigenen, in diesem Punkt durchaus plausiblen Darstellung geschah dies im Zuge der Eingliederung des mondänen Berliner Reitinstituts »Tattersall Beermann«, dem er schon seit längerem angehörte.195 Die Reiter-SS hatte zunächst vor allem die Aufgabe, »das elitäre Selbstbild der SS« zu unterstützen.196 Ob Schulte 1939 wieder ausgetreten ist, wie nach 1945 von ihm behauptet, erscheint zweifelhaft.197 Unabhängig davon kann seine SS-Mitgliedschaft wohl nur in ministerium. Dort war er als Referatsleiter in den späten 1950er Jahren beispielsweise mit der Gründung und dem Aufbau des Deutschen Historischen Instituts in Paris befasst. Vgl. Werner Paravicini, Das Deutsche Historische Institut Paris/L’Institut Historique Allemand, in: Das Deutsche Historische Institut Paris. Festgabe aus Anlaß der Eröffnung seines neuen Gebäudes, des Hôtel Duret de Chevry, Sigmaringen 1994, S. 71–105, hier S. 73. In Bösch / Wirsching (Hrsg.), Hüter der Ordnung, wird Kreter nicht erwähnt. 194 Kreter war zunächst Leiter des Referats II 2 (»Allgemeine Förderungsmaßnahmen«), später übernahm er das Referat II B 1 (»Hochschulförderung«), das er bis 1969 leitete. Danach schied er aus dem Ministerialdienst aus, wechselte zur DFG und stand dort bis 1979 der Zentralverwaltung vor. Vgl. Zum Tod von Erich Kreter, in: forschung 3–4 (2005), S. 38. 195 Vgl. hierzu v. a. die Erläuterungen Schultes im Zuge des Spruchkammerverfahrens; StA München, SpkA K 2607. Allerdings war der Eintritt wohl letztlich »eine freiwillige und persönliche Entscheidung«. So allgemein zur Eingliederung in die Reiter-SS Nele Maya Fahnenbruck, NSRK, SA-Reiterei, Reiter-SS. Organisation und Struktur des Pferdesports im Nationalsozialismus, in: SportZeiten 12 (2012), S. 7–37, hier S. 32. Nach ebenda kann »eine geschlossene Übernahme ganzer Reitvereine […] nach derzeitigem Kenntnisstand nicht angenommen werden«. Zur Reiter-SS vgl. auch dies., »… reitet für Deutschland«. Pferdesport und Politik im Nationalsozialismus, Göttingen 2013, S. 248–270. – Quellengrundlage Schulte(-Meermann) siehe Anhang 2. Literatur: Biographisches Handbuch des deutschen Auswärtigen Dienstes 1871–1945, Bd. 4: S, bearb. von Bernd Isphording, Gerhard Keiper und Martin Kröger, Paderborn u. a. 2012, S. 193 (mit Foto). Da die Biographie Schultes in der NS-Zeit sehr komplex und die Quellenlage relativ gut ist, kann auch in diesem Fall eine eigenständige Studie angeregt werden. 196 Fahnenbruck, NSRK, SA-Reiterei, Reiter-SS, S. 17. 197 Nach 1945 gab Schulte an, nur bis 1939 Mitglied gewesen zu sein: vgl. z. B. ausgefüllter Meldebogen mit Unterschrift vom 10. 7. 1948, StA München, SpkA K

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eingeschränktem Maße als Ausdruck ideologischer Nähe zum Nationalsozialismus verstanden werden. Angemerkt sei in diesem Zusammenhang auch, dass die Reiter-SS im Urteil der Nürnberger Prozesse als einzige Teilgliederung der SS nicht pauschal als »verbrecherische Organisation« eingestuft worden war, was angesichts der späteren Mitwirkung am Vernichtungskrieg in Polen und der Sowjetunion allerdings fragwürdig erscheint.198 Schultes Tätigkeit im preußischen Verwaltungsdienst begann 1933 /34 im Preußischen Innenministerium – zeitweise war er in der frühen Gestapo tätig – und Finanzministerium und führte schließlich auf die regionale Verwaltungsebene.199 Schulte selbst hat dies rückblickend vor der Spruchkammer als einen Abstieg infolge mangelnder politischer Anpassung dargestellt. Die in diesem Zusammenhang aufgestellte Behauptung, nie Mitglied der NSDAP gewesen zu sein, war jedoch falsch – sein Parteieintritt 1937, der möglicherweise unter dem Eindruck seiner Karriereprobleme erfolgte, ist gut dokumentiert.200 Von 1938 bis 1945 gehörte Schulte dem Reichskommissariat für die Preisbildung an, wurde allerdings von 1940 bis 1944 an das Auswärtige Amt abgeordnet. In dieser Zeit fungierte er zunächst in Bukarest als »Preissachbearbeiter beim Sonderbeauftragten für Wirtschaftsfragen«, später als »Sonderbevollmächtigter des AA für den Südosten«, wobei er zeitweise auch in Athen, Sofia und Belgrad tätig war.201 Erst im Dezember 1944 wurde Schulte zum Kriegsdienst eingezogen; die anschließende Kriegsgefangenschaft dauerte bis zum August 2607. In einem Personalfragebogen aus dem Jahr 1944 war allerdings vermerkt: »SS seit 1933«. PA AA, Personalakte 013973. 198 Zur Beteiligung an Mordaktionen vgl. Fahnenbruck, NSRK, SA-Reiterei, ReiterSS, S. 31; dies., »… reitet für Deutschland«, S. 294–312. Für eine Mitwirkung Schultes gibt es allerdings keinerlei Indizien. 199 Vgl. Lebenslauf in StA München, SpkA K 2607; sowie Material in PA  AA, Personalakte 013973. Zitat ebenda in Empfehlungsschreiben des Staatssekretärs des Preußischen Finanzministeriums an das Auswärtige Amt vom 26. 10. 1935, S. 1. 200 Die NSDAP-Mitgliedschaft (Nr. 4748352; Aufnahmeantrag 9. 7. 1937, rückwirkendes Aufnahmedatum 1. 5. 1937) ist zum einen durch Karten der Zentral- und der Gaukartei in den BDC-Beständen belegt, BArch, R 9361-I/3261, R 9361II/906522. Zum anderen enthält ein mit Datum 20. 6. 1944 von Schulte unterschriebener Personalfragebogen aus der Personalakte des AA auf S. 4 eine entsprechende Angabe mit Aufnahmejahr und Mitgliedsnummer, PA  AA, Personalakte 013973. 201 Biographisches Handbuch des deutschen Auswärtigen Dienstes 1871–1945, Bd. 4, S. 193. Leicht abweichende Funktionsbeschreibung in »Schulte-Meermann, Walter«, in: »Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung« online, Biographien. – Die genauen Tätigkeiten bedürften der weiteren Untersuchung. In Conze / Frei / Hayes / Zimmermann, Das Amt, wird Schulte nicht erwähnt.

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1946. Sein Entnazifizierungsverfahren endete mit einer »Entlastung«, was unter anderem an seiner angeblichen Nicht-Parteimitgliedschaft und an der proklamierten – später noch genauer zu betrachtenden – Nähe zu Widerstandskreisen lag.202 1948 trat Schulte in die Verwaltung für Verkehr des Vereinigten Wirtschaftsgebiets ein, nach Gründung der Bundesrepublik dann zunächst in das Bundesministerium für Verkehr, wo er es bis zum Referatsleiter brachte. Insgesamt zeigten sich bei neun Personen der untersuchten Gruppe formale Indizien für eine zumindest zeitweise bestehende besondere ideo­ logische Nähe zum Nationalsozialismus, wobei diese Hinweise allerdings durchaus unterschiedlich zu bewerten sind. Dass die tatsächliche Zahl der ehemals ideologisch NS-nahen Personen im analysierten ministeriellen Führungspersonal höher liegt, dürfte außer Frage stehen. Anzeichen dafür, dass die einstige ideologische Disposition die Tätigkeit im bundesdeutschen Ministerialdienst in spezifischer Weise prägte, konnten in keinem der erwähnten Fälle gefunden werden. Dieser Befund entspricht der bisherigen Aufarbeitungsforschung, der es bislang kaum gelungen ist, in der bundesdeutschen Ministerial- bzw. Verwaltungstätigkeit einzelner Personen konkrete NS-Prägungen zu identifizieren.203 Angesichts des meist spezialisierten, häufig naturwissenschaftlich-technischen Arbeitsgebiets war dies im Atom- und Forschungsministerium auch nicht zu erwarten. So leitete Haase zunächst das Referat »Spaltbare Stoffe und Baustoffe« und wurde später Chef der Unterabteilung »Kerntechnische Entwicklung«, das Aufgabenfeld von Groos betraf die Reaktorsicherheit.204 Kumpf befasste sich mit Wasserwirtschaft und Gaedke mit Raumflugforschung. Auch bei den Personen, die nicht zur Gruppe der Techniker und Naturwissenschaftler gehörten, zeigten sich keine Indizien für ideologische Überhänge, und vermutlich hätte sich in ihrer Tätigkeit auch wenig Gelegenheit gefunden, diese zur Geltung zu bringen. Unsere zweite Kategorie der NS-Belastung, die Belastung durch die berufliche bzw. militärische Funktion in der NS-Zeit, ist aus heutiger Sicht zweifellos die wichtigste. Bei den deutschen Funktionseliten war sie 1933 bis 1945 angesichts der breiten Einbindung von Staatsverwaltung und 202 Vgl. unten S. 268 f. 203 Vgl. hierzu oben S. 25 f. 204 1958 kehrte Groos nach Deutschland zurück und wurde Chef des Referats für Reaktorsicherheit, seit 1962 Referat für »Sicherheit atomtechnischer Anlagen«. 1969 wurde das von Groos geleitete Referat aufgespalten und Groos übernahm den Bereich der »Sicherheit von Reaktoren«, den er bis zu seiner Pensionierung 1970 leitete.

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Wirtschaft in Verbrechen des NS-Regimes nahezu omnipräsent. Innerhalb unserer Untersuchungsgruppe sind hiervon all jene betroffen, die bereits während der NS-Zeit eine relativ hohe berufliche oder militärische Position erreicht hatten; insgesamt betrifft dies etwa 30 Personen. Im Fol­ genden geht es weniger um eine Auflistung besonders schwerer Fälle nach heutigem Kenntnisstand als vielmehr um eine Skizzierung unterschied­ licher Felder der beruflichen und militärischen Involvierung in das NSRegime. Hinweise auf einzelne Personen unserer Untersuchungsgruppe dienen der exemplarischen Vertiefung. Vorab sei zunächst festgestellt, dass im Atom- und Forschungsministerium eine spezielle Ausprägung der beruflichen NS-Belastung fehlt, die in manchen anderen Bundesministerien oder staatlichen Behörden, denen ein direktes Vorgängerministerium bzw. eine Vorgängerinstitution zugeordnet werden kann, in Einzelfällen erkennbar ist. Eine Karriere, die vom Reichs- zum späteren Bundesressort führt – also etwa vom Reichs- zum Bundesministerium des Innern –, war im Fall des Atom- und Forschungsministeriums nicht möglich, da dieses kein direktes Vorgängerministerium besaß. Und selbst wenn man das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung als derartiges Vorgängerministerium gelten ließe,205 bliebe das Ergebnis das gleiche, da kein einziger Angehöriger des RMWEV später im Atom- und Forschungsministerium beschäftigt war. Die berufliche Belastung durch eine generelle Tätigkeit im Reichsminis­ terialdienst ist hingegen in einer ganzen Reihe von Fällen zu finden. Dies betrifft, wie bereits im Zusammenhang der Karrierewege ausgeführt wurde (Kap. II.4), neun Beamte des Atom- und Forschungsministeriums, von denen drei dem Reichsluftfahrtministerium angehörten,206 zwei dem Reichsverkehrsministerium207 sowie jeweils einer dem Reichsministerium des Innern,208 dem Reichsjustizministerium,209 dem Reichswirtschafts­ ministerium210 und dem Auswärtigen Amt.211 Zwei Personen der Untersuchungsgruppe standen zeitweise auf Länderebene im Ministerialdienst,212 205 206 207 208 209 210 211 212

Vgl. hierzu oben S. 46–54. Bernhard Gaedke, Werner Haase und Georg Straimer. Hans von Heppe und Karl Kaißling. Wilhelm Grau. Ulrich Meyer-Cording. Karl-Friedrich Scheidemann. Walter Schulte(-Meermann). Neben Schulte(-Meermann) war dies Wilhelm Grau, der vor seinem Wechsel ins Reichsinnenministerium von 1934 bis 1938 im Württembergischen Innenministerium tätig war.

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einer davon  – der eben erwähnte Walter Schulte  – war beispielsweise 1933 /34 im Preußischen Innenministerium bzw. zeitweise in der Gestapo sowie im Preußischen Finanzministerium für »die Erfassung, Verwaltung und Liquidation des Vermögens der aufgelösten und verbotenen Parteien und Organisationen, insbesondere der wirtschaftlichen Unternehmungen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands« zuständig.213 Eine Beurteilung des Grades der NS-Belastung, die aus der jeweiligen ministeriellen Funktion abzuleiten ist, bedürfte in jedem Fall einer sehr eingehenden individualbiographischen Forschung. Ausführlicher herausgegriffen sei hier die Beschäftigung von KarlFriedrich Scheidemann (22. 8. 1912 – 1999) im Reichswirtschaftsministerium.214 Dort war der Jurist, der im Mai 1933 in die NSDAP eingetreten war und 1934 über den »Eingriff in fremde Rechte« promoviert hatte,215 nach Bestehen der zweiten juristischen Staatsprüfung wahrscheinlich ab August 1938 im sogenannten »Sonderreferat für Judenfragen« tätig. Dieses Referat befasste sich vor allem mit Fragen der »Arisierung« und Zwangsemig213 So die Kennzeichnung im Lebenslauf Schultes vom 17. 10. 1935 für eine Bewerbung beim Auswärtigen Amt, PA  AA, Personalakte 013973. Im Entnazifizierungsverfahren (StA München, SpkA K 2607) sagte Schulte aus, 1933 aufgrund eines hervorragenden Assessorenexamens zum Eintritt in das Preußische Innenministerium gedrängt worden zu sein. Die Zugehörigkeit zur Gestapo  – von Mitte Dezember 1933 bis Mitte Februar 1934 war der junge Jurist gemäß dem zitierten Lebenslauf für den »Inspekteur der Geheimen Staatspolizei« tätig – hat er geleugnet bzw. verschleiert. Auch wenn der Ausbau zu einem wichtigen ­Exekutivorgan der NS-Diktatur noch in den Anfängen steckte, war die vielfach ­widersprüchlich agierende frühe Gestapo unter der Leitung von Rudolf Diels bereits massiv an der Verfolgung politischer Gegner beteiligt. Vgl. Klaus Wallbaum, Der Überläufer. Rudolf Diels (1900–1957). Der erste Gestapo-Chef des Hitler-Regimes, Frankfurt a. M. u. a. 2010, S. 88–122; George C. Browder, Foundations of the Nazi Police State. The Formation of Sipo and SD, Lexington 1990, S. 50–62. 214 Quellengrundlage Scheidemann siehe Anhang 2. Literatur: Ingo Loose, Das Reichswirtschaftsministerium und die nationalsozialistische Judenverfolgung 1933–1945, in: Ritschl, Albrecht (Hrsg.), Das Reichswirtschaftsministerium in der NS-Zeit. Wirtschaftsordnung und Verbrechenskomplex, Berlin 2016, S. 357– 454, hier S. 384–392; »Scheidemann, Karl-Friedrich«, in: »Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung« online, Biographien. 215 Karl-Friedrich Scheidemann, Die Verpflichtung zur Herausgabe eines Erwerbes, insbesondere eines rechtsgeschäftlichen Erlöses aus einem Eingriff in fremde Rechte, Dresden 1935. Der ebenda, [S. 99], angefügte Lebenslauf enthält einen Hinweis auf den großbürgerlichen Familienhintergrund: Scheidemanns Vater war »Diplom-Landwirt« und »Direktor der Landwirtschaftlichen Winterschule zu Walsrode«.

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ration. Der Geschäftsverteilungsplan vom 1. Juli 1939 weist Scheidemann innerhalb der Abteilung III L (L = Leistungssteigerung) als Angehörigen des von Karl-Günther von Coelln, einem späteren Ministerialrat im Bundeswirtschaftsministerium, geleiteten Referats 6 aus, dem folgende Aufgabenfelder zugewiesen waren: »Auswirkungen der wirtschaftspolitischen Maßnahmen gegenüber den Juden auf das Ausland. Grundsätzliche wirtschaftliche Fragen der jüdischen Auswanderung. Betätigung von Juden im deutschen Außenhandel, Auswirkungen der Devisengesetzgebung auf Juden«.216 Seit Januar 1940 war Scheidemann dann dauerhaft im Kriegseinsatz – was wohl auch daran lag, dass sein Referat im Zuge der erzwungenen Emigration von Juden und dann des Holocaust stark an Bedeutung verlor.217 Die »Entnazifizierung« in der US-Zone vor einer Spruchkammer in Marburg wies ihn im Dezember 1946 der Gruppe der »Entlasteten« zu.218 Scheidemann konnte glaubhaft machen, dass er sich während der Kriegsjahre wiederholt sehr kritisch gegenüber dem Nationalsozialismus geäußert habe; bei der Einstufung spielte auch der Umstand eine Rolle, dass Scheidemann schwer kriegsversehrt war. Die konkrete Tätigkeit im Reichswirtschaftsministerium war hingegen im gesamten Verfahren kein Thema. Das Spruchkammerurteil sah den Eintritt ins Reichswirtschaftsministerium ausschließlich unter der Frageperspektive einer möglichen ideologischen NS-Belastung: »Irgendwelche Rückschlüsse auf national­ sozialistische Gesinnung können daraus nicht gezogen werden, da das Wirtschaftsministerium damals bei der Einstellung von Assessoren vor allem auf gute Prädikate Wert legte […].«219 Nach Tätigkeiten für die US-Militärverwaltung und die Stadt Marburg trat Scheidemann 1952 in den Dienst des Bundesinnenministeriums.220 216 Zitiert nach Loose, Reichswirtschaftsministerium, S. 389, Anm. 123. Zu Coelln vgl. ebenda, S. 390. Zu späteren Namensänderungen und Umstrukturierungen des Referats vgl. ebenda, S. 389–391. 217 Vgl. ebenda, S. 391. 218 Spruchkammer Marburg II/Stadt, 13. 12. 1946, S. 1, HHStA Wiesbaden, Abt. 520 /27, Nr. 238. 219 Ebenda, S. 2. 220 In Bösch / Wirsching (Hrsg.), Hüter der Ordnung, kommt Scheidemann nicht vor. Erwähnung findet er hingegen in der Vorstudie: Frank Bösch / Andreas Wirsching (Hrsg.), Abschlussbericht der Vorstudie zum Thema »Die Nachkriegsgeschichte des Bundesministeriums des Innern (BMI) und des Ministeriums des ­Innern der DDR (MdI) hinsichtlich möglicher personeller und sachlicher Kontinuitäten zur Zeit des Nationalsozialismus«, München  – Potsdam 2015, www. bmi.bund.de / SharedDocs/downloads / DE/veroeffentlichungen/2015/

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1963 wechselte er in das Forschungsministerium, wo er Leiter der neu geschaffenen Abteilung II (Allgemeine Wissenschaftsförderung) wurde; von 1970 bis 1976 stand er der Abteilung III (Forschungsplanung) vor. Obwohl der Jurist wegen seiner Funktion im Reichswirtschaftsministerium zu den wenigen Angehörigen des Atom- und Forschungsministeriums gehörte, die in dem in der DDR publizierten Braunbuch der »Kriegs- und Naziverbrecher in der Bundesrepublik und in Berlin (West)« aufgeführt wurden,221 scheint seine NS-Vergangenheit in der Bundesrepublik niemals ein öffentliches Thema gewesen zu sein. Die Zuschreibung einer schweren funktionalen NS-Belastung seitens der DDR ist in diesem Fall auf bundesdeutscher Seite völlig verpufft. Auch unterhalb der ministeriellen Ebene bestand für deutsche Eliten der 1930er und frühen 1940er Jahre, die im Staatsdienst beschäftigt waren, eine hohe Wahrscheinlichkeit, zu Tätern des verbrecherischen NSSystems zu werden. Dies betraf in besonderer Weise Juristen, die als Richter arbeiteten. Diese Funktion bekleideten drei Personen unserer Untersuchungsgruppe, einer dieser Richter stand  – hier liegt der Verdacht auf eine schwere Belastung am höchsten – im Dienste der Militärjustiz.222 Hinzu kommen zwei Gerichtsreferendare bzw. -assessoren.223 bericht-vorstudie-aufarbeitung-bmi-nachkriegsgeschichte.html [25. 11. 2021], S. 40 f. und S. 89 f. 221 Vgl. Podewin (Hrsg.), Braunbuch, S. 366. Scheidemann wird hier als »Mitarbeiter im ›Judenreferat‹ des Reichswirtschaftsministeriums« genannt, er sei »an wirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen gegen Juden beteiligt« gewesen. 222 Bei Letzterem handelt es sich um den zeitweise als Kriegsgerichtsrat tätigen Gernot Heyne (27. 11. 1906–?), der  – vom Bundeswirtschaftsministerium kommend  – dem Atom- und Forschungsministerium von 1957 bis 1971 angehörte und seit 1962 Referatsleiter in wechselnden Funktionen war. Zur Tätigkeit als Kriegsgerichtsrat existiert im Bundesarchiv-Militärarchiv in Freiburg eine Haftliste des »Feldgerichts des Kommandierenden Generals und Befehlshabers im Luftgau VIII«, Krakau, Juli 1942 bis Januar 1944, BArch, RW 60 /4099. Eine detaillierte Auswertung hätte den Rahmen unserer Studie gesprengt. Quellengrundlage Heyne siehe Anhang 2.  – Zur Militärjustiz vgl. Manfred Messerschmidt, Die Wehrmachtjustiz 1933–1945, Paderborn 2008, und Peter Kalmbach, Wehrmachtjustiz, Berlin 2012. Richter im Bereich der Ziviljustiz waren Wolfgang Cartellieri (vgl. hierzu ausführlich unten S. 336–338) sowie Alexander Hocker (29. 4. 1913–1996), der von 1939 bis 1945 am Amts- und Landgericht Leipzig tätig war, seit 1943 als Landgerichtsrat. Hocker gehörte dem Atom- und Forschungsministerium von 1956 bis 1961 an, später war er am Kernforschungszentrum Jülich und Generaldirektor der ESRO. Quellengrundlage Hocker siehe Anhang 2. 223 Hermann Costa (4. 10. 1916–?) wurde am 31. 1. 1940 Gerichtsreferendar und am 16. 6. 1943 Assessor. Quellengrundlage Costa siehe Anhang 2. – Friedrich Kolb

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Allerdings zeigt die in Kapitel V.2 ausführlich dargelegte Biographie des späteren Staatssekretärs Wolfgang Cartellieri, der in der NS-Zeit bis zum Landgerichtsdirektor aufstieg, dass Richter durchaus gewisse Spielräume besitzen konnten, wie weit sie den Erwartungen des Regimes nachkommen wollten. Auch die Funktion eines Landrats, die eine Person der Untersuchungsgruppe von 1935 bis 1945 sukzessive in drei Orten ausübte,224 war mit einer Einbindung in das nationalsozialistische Unrechtssystem verbunden, obgleich das traditionsreiche Amt während der NS-Zeit insgesamt stark an Bedeutung verlor.225 Sicher gab es in den Jahren 1933 bis 1945 auch Arbeitsbereiche im Staatsdienst, denen auch nach heutigem Kenntnisstand allenfalls eine geringe oder gar keine NS-Belastung zu bescheinigen ist. Von vornherein auszuschließen ist eine derartige Belastung freilich nie. Eine spätere Führungsperson des Atom- und Forschungs­ ministeriums war beispielsweise von 1930 bis 1943 in wasserwirtschaftlichen Aufgabenbereichen eingesetzt.226 Es erscheint durchaus möglich, dass er dabei auch mit dem System der Zwangsarbeit von Kriegsgefangenen und Häftlingen zu tun hatte.227 Führende Tätigkeiten in der deutschen Verwaltung besetzter Gebiete, die drei spätere Beamte des Atom- und Forschungsministeriums ausüb(24. 9. 1900–?) wurde am 31. 1. 1938 Referendar und war von 20. 12. 1940 bis zum 11. 7. 1943 als Gerichtsassessor in Erlangen beschäftigt. Seit September 1940 war er an die Verwaltung des Generalgouvernements abgeordnet; vgl. hierzu unten S. 260. Kolb kam über das Bundeswirtschaftsministerium 1959 ins Atomministerium und leitete bis 1961 das Referat zum »Wasserrecht«. Danach wechselte er mit der gesamten Abteilung »Wasserwirtschaft« ins Gesundheitsministerium. Quellengrundlage Kolb siehe Anhang 2. 224 Der Jurist Rudolf Kriele (4. 8. 1900–1973) war Landrat in Lübben / Spreewald, Sorau (poln. Żary)/Lausitz (1937–1939) und Gablonz an der Neiße (tschech. Jablonec nad Nisou)/Sudetenland (1939–1945); gegen Kriegsende war er zudem als Vertreter des Landrats von Kattowitz in dem von Polen annektierten Teil Oberschlesiens tätig (August 1944 bis Januar 1945). Quellengrundlage Kriele siehe Anhang 2. Literatur: »Kriele, Rudolf«, in: »Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung« online, Biographien. 225 Vgl. Wolfgang Stelbrink, Der preußische Landrat im Nationalsozialismus. Studien zur nationalsozialistischen Personal- und Verwaltungspolitik auf Landkreis­ ebene, Münster u. a. 1998, v. a. S. 8 und S. 403 f. 226 Hubert Wagner (29. 8. 1906–?) war u. a. in der Oberstrombauverwaltung Breslau und im Wasserwirtschaftsamt Liegnitz beschäftigt. Quellengrundlage Wagner siehe Anhang 2. 227 Entsprechende Erkenntnisse gibt es für das Wasserwirtschaftsamt Meppen. Vgl. Frank Bührmann-Peters, Ziviler Strafvollzug für die Wehrmacht. Militärgerichtlich Verurteilte in den Emslandlagern 1939–1945, Diss. Oldenburg 2002, S. 205 f.

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ten, brachten aus heutiger Sicht eine starke NS-Belastung mit sich. Den wichtigsten Fall stellt der in der Wirtschaftsverwaltung des Generalgouvernements – auf dem Gebiet des heutigen Polen und der Ukraine – aktive Josef Brandl dar, der in den späten 1950er Jahren einen wichtigen Referentenposten im Atomministerium bekleidete. Kapitel V.I wird ausführlich auf Brandls Biographie eingehen. Neben Brandl ist der Jurist Friedrich Kolb (24. 9. 1900 –?) zu nennen, der ab 1. 9. 1940 als Gerichtsreferendar und -assessor an die Verwaltung des Generalgouvernements abgeordnet war. Von Juli 1943 bis 1945 hatte Kolb eine Stellung als Regierungsrat bei der Distriktsregierung Warschau.228 Eine Leitungsfunktion besaß auch der bereits erwähnte Karl Kaißling, der von 1939 bis 1945 als Leiter der Werkstättenabteilung der Generaldirektion der Ostbahn (Gedob) in Lodz (poln. Łódź) und Krakau (poln. Kraków) fungiert hatte.229 Eine potentiell hohe beruflich bedingte NS-Belastung weisen auch Personen auf, die in leitenden Positionen in der Rüstungsforschung bzw. Rüstungsindustrie eingesetzt waren. Dies hängt  – sieht man von der grundsätzlichen ethischen Problematik der nationalsozialistischen Waffenproduktion ab  – insbesondere damit zusammen, dass hier ein mas­ siver Zwangsarbeitereinsatz stattfand. In diesem Zusammenhang ist auf die später skizzierten Biographien von Max Mayer (Kap. V.3) und Walther Schnurr (Kap. V.4) zu verweisen: Mayer war in hoher Funktion in der »Versuchsstelle der Luftwaffe Peenemünde-West« tätig, Schnurr lei228 Zu Kolb vgl. oben S. 258 f., Anm. 223. 229 Zu Kaißling vgl. oben S. 106, 218 und 249 f. 1944 verfasste Kaißling eine Druckschrift über das Ausbesserungswesen bei der Ostbahn, in der das Thema »jüdische Zwangsarbeiter« angesprochen und implizit auch der Holocaust erwähnt wird: »Eine besondere Sorte Arbeitskräfte soll nicht unerwähnt bleiben, wenn sie auch jetzt keine Rolle mehr spielt, die Juden. Die Ordnung und Sauberkeit in den OAW [Ostbahn-Ausbesserungswerken] ist zum Teil das Werk der Arbeit ihrer Hände. Jahrzehnte alten Unrat, Dreck, Schrott, räumten sie zwar langsam, aber stetig auf; für bestimmte Handwerke waren sie fast unentbehrlich; das waren aber seltene Fälle; auch manche Gartenanlage richteten sie her, alles natürlich unter ständiger Aufsicht. Für Schneeräumungskommandos traten die Judenkommandos an; ebenso für Transportarbeiten in größerem Umfang.« Karl Kaißling, Eisenbahn-Ausbesserungswerke im besetzten Gebiet, Krakau 1944, S. 89, BArch, R 5 /7479. – Generell zum Einsatz jüdischer Zwangsarbeiter bei der Ostbahn vgl. Jan-Henrik Peters, Zwischen Lohnarbeit und Deportation. Juden bei der Ostbahn im Generalgouvernement 1939–1943, in: ZfG 58 (2010), S. 816–837. Zur Kenntnis der Bahnbeamten über den Holocaust vgl. ebenda, S. 827, sowie Dieter Pohl, Nationalsozialistische Judenverfolgung in Ostgalizien 1941–1944. Organisation und Durchführung eines staatlichen Massenverbrechens, München 1997, S. 292.

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tete eine Sprengstofffabrik der Dynamit A. G. in der Lausitz, die wohl eine der größten derartigen Anlagen im Reich war. Genau diese Führungs­ erfahrung war vermutlich neben Schnurrs naturwissenschaftlicher Expertise dafür verantwortlich, dass der damalige Atomminister Strauß dem Argentinienauswanderer 1956 einen Abteilungsleiterposten im Atom­ ministerium anbot.230 Mindestens fünf weitere Angehörige des ministeriellen Führungspersonals im Atom- und Forschungsministerium nahmen in der NS-Zeit verantwortungsvolle Positionen in der Rüstungsforschung und -industrie wahr,231 wobei hier die Ausmaße des Einsatzes von Zwangsarbeitern jeweils einer genaueren Überprüfung bedürften. Auch bei Führungspositionen in anderen industriellen Bereichen liegt eine mögliche (Mit-) Ver­antwortung für den Einsatz von Zwangsarbeitern nahe. So war eine Person der Untersuchungsgruppe von 1940 bis 1945 Betriebsleiter bei den in Dortmund ansässigen »Deutschen Gasrußwerken«, einem Tochterunternehmen der Degussa.232 Zwangsarbeiter wurden auch im Dortmunder Stammwerk eingesetzt.233 Vor allem aber gab es im oberschlesischen Gleiwitz seit 1940 /41 ein Zweigwerk mit zwei Zwangsarbeiterlagern; eines davon wurde im Mai 1944 dem KZ Auschwitz als Außenlager unterstellt.234 Dass es während des Zweiten Weltkriegs zu NS-Belastungen infolge der Mitwirkung an einer Kriegführung kommen konnte, die – insbesondere im Osten  – als »Vernichtungskrieg« zu kategorisieren ist, bedarf wohl keiner weiteren Begründung. Wie bereits in Kapitel II.4 ausgeführt, bekleidete über die Hälfte unseres späteren ministeriellen Führungspersonals Leitungsfunktionen in der Wehrmacht.235 Spilker war sogar als Offi230 Vgl. unten S. 382 f. 231 Max Mayer (vgl. Kap. V.3), Walther Schnurr (vgl. Kap. V.4), Joachim Pretsch, Artur Schendel und Georg Straimer. 232 Der Chemiker Kurt Giese (27. 9. 1910–?) gehörte dem Atom- und Forschungsministerium als Referatsleiter im Fachbereich »Kernchemie« von 1959 bis 1972 an. Quellengrundlage Giese siehe Anhang 2. 233 Das Werk ist auf einer vom Stadtarchiv Dortmund erstellten Karte zum Thema »Zwangsarbeit in Dortmund 1939–1945« eingezeichnet. Vgl. Zwangsarbeit in Dortmund 1939–1945. Kartografische Dokumentation des Stadtarchivs Dortmund, www.ns-gedenkstaetten.de/fileadmin/files / Dokumente / GRDO_Stadtplan_Zwangsarbeiter_23. 10. 2012_ohne_Bilder_Kopie.pdf [20. 11. 2021]. 234 Vgl. Andrea Rudorff, Gleiwitz II (Gliwice), in: Benz / Distel (Hrsg.), Der Ort des Terrors, Bd. 5: Hinzert, Auschwitz, Neuengamme, München 2007, S. 230–233; Peter Hayes, Die Degussa im Dritten Reich. Von der Zusammenarbeit zur Mittäterschaft, München 2004, S. 269–278. 235 Vgl. oben S. 141.

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zier in der Waffen-SS eingesetzt.236 Eine besonders markante militärische Position hatte Wolfgang Cartellieri inne, der – wie in Kapitel V.2 genauer zu betrachten sein wird – nach mehreren Erkrankungen im Fronteinsatz in den Wehrmachtführungsstab abkommandiert wurde. Aber auch hier gilt: Dieser und andere Fälle müssen im Hinblick auf den Grad der NSBelastung jeweils differenziert beurteilt werden. So kam Cartellieri über den Wehrmachtführungsstab in Kontakt mit Widerstandskreisen. Auch bei einem Kriegseinsatz in paramilitärischen Organisationen kann sich die Frage nach besonderen Belastungen stellen: Beispielsweise war der oben genannte Walther Kumpf von 1941 bis 1943 als Einsatzgruppenleiter der Organisation Todt in Russland aktiv, seit 1942 im Rang eines Majors, danach zeitweise 1944 als Stabsleiter in der Zentrale der Organisation Todt in Berlin.237 Ein großer Teil der Arbeitskräfte der Organisation Todt im Zweiten Weltkrieg waren Zwangsarbeiter.238 Unsere dritte Kategorie schwerer NS-Belastung, die unmittelbare Mitwirkung an einzelnen Kriegsverbrechen oder Mordtaten, wird in der »Aufarbeitungsforschung« bislang kaum beachtet. Dies liegt zum einen wohl daran, dass sie kein Spezifikum ministeriellen Personals war, zum anderen, dass es sich innerhalb einer Bundesinstitution wahrscheinlich nur um Einzelfälle handelte, und zum dritten, dass diese meist sehr schwer zu erkennen bzw. zu verifizieren sind. Dies ist jedenfalls der Sachstand, was das Atom- und Forschungsministerium betrifft. Bei drei von 85 untersuchten Personen des Jahrgangs 1927 und älter zeigten sich Indizien, dass derartige Verbrechen vorliegen könnten; das heißt nicht, dass sie bei allen anderen auszuschließen sind. Der berühmte und auch beim zeitgenössischen Publikum erfolgreiche Film von Wolfgang Staudte »Die Mörder sind unter uns«, der 1946 als erster deutscher Spielfilm nach Ende des

236 Vgl. unten S. 393–400. 237 Vgl. Dienstbuch, S. 12 f., in: BArch, N 1772 /1. Zu Kumpf vgl. auch oben S. 248 f. 238 Vgl. Fabian Lemmes, Zwangsarbeit im besetzten Europa. Die Organisation Todt in Frankreich und Italien, 1940–1945, in: Heusler, Andreas / Spoerer, Mark /  Trischler, Helmuth (Hrsg.), Rüstung, Kriegswirtschaft und Zwangsarbeit im »Dritten Reich«, München 2010, S. 219–25; ders., Arbeiten für das Reich. Die Organisation Todt in Frankreich und Italien 1940–1945, Wien u. a. 2021. – Im Rahmen des Projekts »Aufarbeitung der Geschichte des Bundesverkehrsministeriums (BVM) und des Ministeriums für Verkehrswesen (MfV) der DDR hinsichtlich Kontinuitäten und Transformationen zur Zeit des Nationalsozialismus« entsteht derzeit am Institut für Zeitgeschichte München – Berlin auch eine Studie zur Organisation Todt.

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NS-Regimes gedreht wurde,239 zielt auf eine deutsche Nachkriegsreali-

tät mit erheblicher gesellschaftlicher Breite. Angesichts der Schwere der eventuellen Verbrechen und der gleichzeitigen Unsicherheit bezüglich der tatsächlichen Belastung erfolgt bei diesen drei Personen nur im Fall von Karl-Heinz Spilker eine Namensnennung: Hier ist die Zugehörigkeit zu einer hochbelasteten Division der Waffen-SS der Öffentlichkeit schon lange bekannt.240 Bei zwei Personen leitet sich die Annahme einer möglichen Beteiligung an Kriegsverbrechen aus dem Umstand ab, dass Teile einer größeren militärischen Einheit, der die fragliche Person zu diesem Zeitpunkt jeweils angehörte, im Rückraum der Ostfront 1941 an Judenerschießungen beteiligt waren. Im ersten Fall handelt es sich um Mordaktionen in Weißrussland (Belarus), an denen das berüchtigte 727. Infanterieregiment der 707. Infanteriedivision der Wehrmacht vom Herbst 1941 bis zum Frühjahr 1942 mitwirkte.241 Ein späteres Mitglied des ministeriellen Führungspersonals war zu dieser Zeit Zugführer im 3. Bataillon des Regiments, das im Kampf gegen »Partisanen« und »Banden« eingesetzt war. Derartige Wendungen dienten häufig als Tarnbezeichnung für Mordaktionen.242 Auch wenn sich die betreffende Person zweifellos im unmittelbaren Umfeld eines Genozids bewegte, ist eine direkte Mitwirkung an den Morden nicht belegt. Im zweiten Fall geht es vor allem um massenhafte Mordtaten der SS-Division »Wiking«, die im Sommer 1941 nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion in Galizien begangen wurden.243 Der bereits erwähnte spätere persönliche Referent von Strauß und Balke Karl-Heinz Spilker gehörte 239 Vgl. zu diesem ersten »Trümmerfilm« Johannes Hürter / Tobias Hof, Einleitung: Kino der Ambivalenz, in: dies. (Hrsg.), Verfilmte Trümmerlandschaften. Nachkriegserzählungen im internationalen Kino 1945–1949, Berlin  – Boston 2019, S. 1–13, hier S. 1 f. 240 Vgl. unten S. 407–410. 241 Generell zu den Verbrechen des 727. Infanterieregiments vgl. Wolfgang Curilla, Die deutsche Ordnungspolizei und der Holocaust im Baltikum und in Weißrußland 1941–1944, Paderborn u. a. 22006, S. 612 f., S. 653, S. 895 und S. 898 f.; Peter Lieb, Täter aus Überzeugung? Oberst Carl von Andrian und die Judenmorde der 707. Infanteriedivision 1941 /42, in: VfZ 50 (2002), S. 523–557, hier S. 18 f.; Christian Gerlach, Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrußland 1941 bis 1944, Hamburg 1999, S. 579 und S. 609–619; Hartmann, Wehrmacht im Ostkrieg, S. 657 f. – Die Informationen über die Zugehörigkeit der fraglichen Person zum 727. Infanterieregiment stammen aus der Karteikarte und der Stammrolle in der WASt. 242 Hartmann, Wehrmacht im Ostkrieg, S. 658, bezeichnet den sogenannten Bandenkampf als »Deckmantel für den Genozid«. 243 Vgl. unten S. 395 f.

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im fraglichen Zeitraum dieser SS-Division an (s. hierzu Kap. V.4). Indizien dafür, dass Spilker direkt an Verbrechen beteiligt war, gibt es ebenfalls nicht. Etwas anders verhält es sich im dritten Fall. Hier liegen konkrete Verdachtsmomente gegen eine Person unserer Untersuchungsgruppe vor. Resultierend aus der späten Sichtung alliierter Fahndungslisten ermittelte in den 1980er Jahren zunächst die Zentralstelle in Ludwigsburg und dann in den Jahren 1989 bis 1991 die Staatsanwaltschaft Köln wegen der Beteiligung an der Ermordung dreier französischer Zivilisten im August 1944.244 Die Tat stand im Kontext angeblicher Partisanenbekämpfung während des deutschen Rückzugs aus Frankreich. Obgleich in der Fahndungsliste nur der Nachname vermerkt war, wurde im Zuge der Ermittlungen mit Hilfe des Berlin Document Centers ein konkreter Verdächtiger ausgemacht. Dessen Daten entsprechen einer Person, die kurzzeitig dem Atomund Forschungsministerium angehört hatte. Ob allerdings diese Zuordnung – an der auch in den Akten Zweifel geäußert werden – richtig ist, muss ebenso offenbleiben wie die Frage, welche Rolle der Beschuldigte bei dem Mordvorgang gespielt hat. Die mit nur geringer Energie betriebene staatsanwaltschaftliche Ermittlung wurde wie in zahlreichen ähnlichen Fällen ergebnislos eingestellt. Einen Spezialfall der NS-Belastung, der in unsere Kategorisierung nur schwer einzuordnen ist, bildet das unmittelbare persönliche Profitieren vom Massenmord: Genau dies ereignete sich im Leben des bereits oben im Kontext der ideologischen Belastung genannten Otto Beutler. Der Diplomat hatte seit 1926 eine Karriere im Dienst des Auswärtigen Amtes absolviert und war – wie erwähnt – seit März 1935 NSDAP-Mitglied. Nach zahlreichen Auslandsstationen wurde er 1940 in die Berliner Zentrale des Auswärtigen Amtes versetzt, wo er bis 1945 im Ministerialdienst tätig war. Zum 1. Juni 1942 erhielt er – dies geht aus seinen Personalakten hervor – auf Antrag des Amtes in Berlin eine »Judenwohnung«, die ihm durch »den Generalbauinspektor für die Reichshauptstadt«, die Behörde Albert Speers, zugewiesen wurde.245 Dabei handelte es sich um eine große 244 Material findet sich im LA NRW, Abt. Rheinland, Gerichte Rep. 434. Grundlage der Ermittlungen waren UNWCC- (»United Nations War Crimes Commission«) und CROWCASS-Listen (»Central Registry of War Crimes and Security Suspects«). 245 PA AA, Personalakte 001017, Bl. 112, Antrag vom 22. 7. 1942, ebenda auch zum Folgenden; Mietvertrag ebenda, Bl. 113 f. – »Generalbauinspektor für die Neugestaltung der Reichshauptstadt« (so die formelle Bezeichnung) war sowohl der seit 1937 geführte Titel Speers – der seit 1942 zudem das Amt des

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4 ½-Zimmer-Wohnung in Berlin-Charlottenburg (Schillerstraße 9). Gemäß Mietvertrag begann »das Mietverhältnis nach dem Auszug des bisherigen jüdischen Mieters«. »Die Räumung der Wohnung«, so führte der damalige Vizekonsul Beutler in seinem Antrag auf »Zuschuß zum Wohngeldzuschuß« aus, »ist Ende Mai erfolgt.« Der Bezug der Wohnung korrespondierte zeitlich mit einer Intensivierung der seit 1941 durchgeführten Deportationen.246 Der erste Berliner Deportationszug, der direkt Kurs auf ein Vernichtungslager nahm, startete am 13. Juni 1942 in der Reichshauptstadt und kam zwei Tage später in Sobibor an.247 Der in diesem Kapitel bislang gebrauchte Belastungsbegriff bezog sich in der Regel auf den heutigen Wissens- und Bewertungsstand. Aus der zeitgenössischen Perspektive von Mitte der 1950er bis Anfang der 1970er Jahre spielt das Thema »NS-Belastung« im Hinblick auf das Führungspersonal des Atom- und Forschungsministeriums hingegen nur eine sehr geringe Rolle. Beim Eintritt ins Ministerium erscheint diese Frage sogar weitgehend irrelevant gewesen zu sein. Dies hing zweifellos auch damit zusammen, dass bei einem Großteil des potentiell belasteten Führungspersonals die Einstellung in den Bundesdienst bereits in einem anderen Ministerium erfolgt war. Und auch hier waren die Kriterien in der Regel nicht allzu streng gewesen. Treffend haben Görtemaker und Safferling in ihrer Studie zur »Rosenburg«, dem frühen Bundesjustizministerium, im Hinblick auf Staatssekretär Walter Strauß von einer »breit angelegte[n] Personalpolitik« gesprochen, »der die Behauptung eines unpolitischen Beamtentums zugrunde lag und auf dieser Basis die Personalauswahl nach Kriterien technisch-bürokratischer Effizienz bemaß, die nach 1945 zwangsläufig zur Wiederverwendung alter Eliten führen musste, wie belastet diese im Einzelnen auch sein mochten«.248 Die später dargestellte Einstellung des versierten Verwaltungsjuristen Josef Brandl in das Amt nisters wahrnahm  – als auch der Name seiner Behörde. Die »Entmietung und Enteignung« der Wohnungen von »Juden« gehörte zu ihren Befugnissen. Vgl. Brechtken, Albert Speer, S. 81–86, Zitat S. 85. 246 Zum Zusammenhang von Wohnungsräumungen und Deportationen seit August 1941 vgl. Susanna Schrafstetter, Verfolgung und Wiedergutmachung. Karl M. Hettlage: Mitarbeiter von Albert Speer und Staatssekretär im Bundesfinanz­ ministerium, in: VfZ 56 (2008), S. 431–466, hier S. 438 f. 247 Vgl. die Liste der Berliner Deportationszüge auf der Internetseite des Bezirks­ amts Charlottenburg-Wilmersdorf, www.berlin.de/ba-charlottenburg-wilmersdorf/ueber-den-bezirk/geschichte/artikel.240430.php [20. 11. 2021]. Der Zug vom 13. 6. 1942 war der erste, der seit der Räumung der Wohnung abgefahren ist. 248 Görtemaker / Safferling, Akte Rosenburg, S. 118.

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Blank im Jahr 1954 kann diese Einschätzung exemplarisch bestätigen.249 Beim Atom- und Forschungsministerium kam, je nach Stellenprofil, freilich noch ein zweites gewichtiges Kriterium hinzu: die gesuchte naturwissenschaftliche und ingenieurstechnische Kompetenz, die manchmal gar nicht so einfach zu finden war.250 Ergänzt sei, dass wohl auch der Grad der Belastung in vielen Fällen von den für die ministerielle Personalpolitik der frühen Bundesrepublik Verantwortlichen nicht erkannt wurde. Dies lag vor allem daran, dass im öffentlichen Bewusstsein  – und auch in der Geschichtsschreibung  – bis ins späte 20.  Jahrhundert weder das Ausmaß der vielfach vorliegenden funktio­nal-beruflichen NS-Belastungen noch das Ausmaß der Involvierung von Wehrmacht und Waffen-SS in den Vernichtungskrieg präsent waren.251 Eine gewisse zeitgenössische Aufmerksamkeit bestand zunächst primär für Indizien einer ideologischen Belastung. Entsprechend hatten, wie in den vorigen Ausführungen erwähnt, mehrere Personen unserer Untersuchungsgruppe, bei denen diesbezügliche Anzeichen vorlagen (Zugehörigkeit zur Allgemeinen SS oder Waffen-SS, frühes Eintrittsdatum in die Partei, Parteiamt), in den Entnazifizierungsverfahren und offenbar auch bei ihrer Einstellung in den Staatsdienst falsche Angaben gemacht. Nur in einem Fall, bei Bernhard Gaedke, scheint dies entdeckt worden zu sein  – zu einer Zeit, als der Beamte noch im Bundeswirtschaftsministerium tätig war  –, wobei die dienstrechtlichen Konsequenzen relativ milde ausfielen: Die Beförderung zum Oberregierungsrat verzögerte sich um etwa ein Jahr; hinzu kam wohl eine Geldbuße.252 Negative Konsequenzen für die spätere Karriere im Forschungsministerium ab 1963 scheint die Episode nicht gehabt zu haben. Gaedke stieg bereits 1965 vom Referenten zum Unterabteilungsleiter auf. Eine spätere Äußerung Spilkers deutet darauf hin, dass Atomminister Franz Josef Strauß von der einstigen Zugehörigkeit seines persönlichen Referenten zur Waffen-SS wusste.253 Wie auch die Rückholung von Walther 249 Vgl. unten S. 320–322. 250 Vgl. unten S. 361 f. zur Abwerbung Mayers aus dem Verteidigungsministerium. 251 Entsprechend kam es erst in jüngster Zeit zu einer Ausweitung des Täterbegriffs. Vgl. z. B. Frank Bajohr, Neuere Täterforschung, in: Nationalsozialistische Täterschaften, S. 19–31; Thomas Kühne, Dämonisierung, Viktimisierung, Diversifizierung. Bilder von nationalsozialistischen Gewalttätern in Gesellschaft und Forschung seit 1945, in: ebenda, S. 32–55. 252 Vgl. den Vorgang im Jahr 1961 – v. a. Schreiben aus dem BMI an den Wirtschaftsminister vom 29. 3. 1961 und Antwort aus dem Wirtschaftsministerium vom 17. 10. 1961 – in: BArch, B 106 /114667. 253 Vgl. unten S. 410.

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Schnurr aus Argentinien zeigt, scheint es bei Strauß im Hinblick auf personelle NS-Belastungen wenig Skrupel gegeben zu haben.254 Anders war dies möglicherweise bei dessen Nachfolger: Für die wohl von Balke forcierte Ablösung Spilkers als persönlicher Referent des Ministers im Jahr 1958 könnten auch Kenntnisse über dessen SS-Vergangenheit maßgeblich gewesen sein. Konkrete Quellen für diese Vermutung255 fanden sich freilich nicht. Hier zeigt sich ein grundsätzliches methodisches Problem: Bei der Untersuchung der Frage, welche Rolle personelle NS-Belastungen in einem Bundesministerium gespielt haben, ist zu berücksichtigen, dass derartige Themen oftmals wohl nur mündlich erörtert wurden bzw. weitgehend unausgesprochen geblieben sind. Eine noch so genaue Suche nach schriftlichen Quellen wird diesbezüglich höchstwahrscheinlich erfolglos bleiben. Auffallend ist, dass im Laufe der 1960er und frühen 1970er Jahre mehrere Angehörige der Untersuchungsgruppe wegen ihrer beruflichen oder militärischen Funktion in das Blickfeld staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen gerieten, wobei offenbar jeweils Aktivitäten der 1958 eingerichteten Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg vorausgegangen waren. Dies lässt sich zweifellos als Indiz für eine langsam steigende juristische Sensibilisierung bewerten. In allen fünf Fällen waren die Ermittlungen allerdings gegen andere Personen gerichtet, und die zeitweisen Angehörigen des Atom- und Forschungsministeriums wurden lediglich als Zeugen vernommen. Dies betraf Josef Brandl, der dreimal vorgeladen wurde (1961, 1964 und 1966),256 Walter Schulte-Meermann (1968),257 Karl Kaißling

254 Vgl. auch Thomas Schlemmer, Grenzen der Integration. Die CSU und der Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit – Der Fall Dr. Max Frauendorfer, in: VfZ 48 (2000), S. 675–742, v. a. Strauß-Zitat S. 711. 255 Vgl. auch unten S. 405. 256 Vgl. unten S. 326–331. 257 Die Staatsanwaltschaft Frankenthal (Pfalz) ermittelte gegen den ehemaligen SSSturmbannführer Gustav Richter, der als »Berater für Judenfragen in Rumänien«  fungiert hatte, wegen des Verdachts auf Mord an rumänischen Juden. Schulte(-Meermann), der zeitweise im Dienst des AA in Bukarest tätig war (vgl. oben S. 253), wurde am 16. 10. 1968 vernommen und gab sich ahnungslos. Vgl. BArch, B 162 /3812, Bl. 77 f. Zu Richter, der 1982 mit einer vierjährigen Haftstrafe belegt wurde, vgl. Conze / Frei / Hayes / Zimmermann, Das Amt, S. 198, S. 284–286 und S. 665, sowie Armin Heinen, Rumänien, der Holocaust und die Logik der Gewalt, München 2007, passim.

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(1969),258 Hermann Costa (1970)259 und Walther Schnurr (1971).260 Sieht man von Brandl ab, der eine derart zentrale Stelle in der Wirtschaftsverwaltung des Generalgouvernements bekleidet hatte, dass ein Leugnen von Kenntnissen über den Massenmord völlig unglaubwürdig gewesen wäre, behaupteten die übrigen Vernommenen jeweils, von den Verbrechen, um die es im jeweiligen Ermittlungsverfahren ging, nichts gewusst zu haben. Drei Angehörige unserer Untersuchungsgruppe gaben nach Ende des NS-Regimes an, mit konservativen Widerstandskreisen in Verbindung gestanden zu haben. Bei dem späteren Staatssekretär Hans von Heppe lag insofern eine aktive Unterstützung vor, als dieser sein Haus in den Jahren 1943 und 1944 für konspirative Treffen des Schulenburg-Kreises zur Verfügung gestellt hat.261 Dass er später trotz Parteimitgliedschaft und Tätigkeit im Reichsverkehrsministerium als »entlastet« entnazifiziert wurde, hing mit dieser Förderung des Widerstands zusammen. Die b ­ eiden anderen Fälle – es geht um Wolfgang Cartellieri und Walter Schulte(-Meer­ mann) – sind schwerer zu beurteilen, weil die Kontakte vermutlich über eine gewisse Bekanntschaft von und Sympathien für Personen, die im Widerstand tätig waren, nicht hinausgingen.262 Beide waren über ihre 258 Kaißling, der im Krieg die Werkstättenabteilung der Generaldirektion der Ostbahn geleitet hatte, wurde am 30. 7. 1969 im Zuge der Ermittlungen der Staats­ anwaltschaft Mannheim gegen Albert Brettschneider (geb. 24. 5. 1910) wegen Mordes vernommen. Es ging vermutlich um Verbrechen an jüdischen Zwangsarbeitern beim Einsatz eines »Schrottzuges« zum Einsammeln von Eisenbahnschrott in Galizien. Vgl. BArch, B 162 /5185, 7067–7079. Die näheren Umstände bedürften der genaueren Klärung. 259 Costa sagte am 8. 5. 1970 in einem von der Staatsanwaltschaft München betrie­ benen Ermittlungsverfahren gegen Angehörige einer Infanterie-Kompanie wegen Mordverdacht aus. Costa gehörte demselben Regiment und zeitweilig auch ­derselben Kompanie an. Er erklärte, das fragliche Gebiet in Weißrussland »nie betreten« zu haben und »auch keine sachdienlichen Angaben aus den Tatkomplexen vom Hörensagen her machen« zu können. Vernehmung Costas im Ermittlungsverfahren gegen Anton Specht, BArch, B 162 /7748, Bl. 1021 f. 260 Vgl. unten S. 386. 261 Vgl. oben S. 237 f. 262 Zu Cartellieri vgl. unten S. 340. – Schulte hat für sein Entnazifizierungsverfahren in einem Organigramm des Reichskommissariats für Preisbildung (Stand 1941) u. a. alle Personen gekennzeichnet, die nach dem 20. Juli 1944 hingerichtet wurden: Neben dem ehemaligen Reichskommissar Josef Wagner (12. 1. 1899– 21./22. 4. 1945) waren dies Nikolaus Christoph von Halem (15. 3. 1905–9. 10. 1944), Peter Graf Yorck von Wartenburg (13. 11. 1904–8. 8. 1944) und Nikolaus Graf von Üxküll-Gyllenband (14. 2. 1877–14. 9. 1944), StA München, SpkA K 2607, »Personalstand bei Absetzung Wagners 1941«. Wagner, der bereits früh zur

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berufliche bzw. militärische Funktion, den Einsatz im Wehrmachtführungsstab und die Tätigkeit im Reichskommissariat für Preisbildung, mit verschiedenen Verschwörern bekannt geworden. Beide nutzten diese ­Verbindungen nach 1945 mit großem Nachdruck und letztlich erfolgreich in ihren Entnazifizierungsverfahren. Cartellieri wurde schließlich als »Mitläufer« eingestuft, Schulte sogar als »entlastet«.263 Die Zweifel an der Widerstandsnähe von Schulte sind insofern groß, als dieser in dem Verfahren seine zweifelsfrei belegte NSDAP-Mitgliedschaft nicht nur verschwieg  – ebenso wie dann wohl später bei seiner Wiedereinstellung in den Staatsdienst264 –, sondern seine angebliche Nicht-Mitgliedschaft auch noch vehement als Entlastungsargument einsetzte.265 Bei Cartellieri, dies wird später im Rahmen der ihm gewidmeten biographischen Skizze zu diskutieren sein, könnte sich die proklamierte Nähe zum Widerstand günstig auf die Anfänge seiner Karriere im Amt Blank ausgewirkt haben.266 Ob und inwieweit dieser biographische Aspekt in seiner weiteren Laufbahn im Atom- und Forschungsministerium eine Rolle spielte, ist unklar. Dasselbe gilt für Heppe und Schulte(-Meermann). Resümierend kann aus heutiger Sicht festgehalten werden, dass in­ nerhalb der juristischen und technisch-naturwissenschaftlichen Eliten, die im Atom- und Forschungsministerium tätig waren und die bereits in den 1930er Jahren in höheren beruflichen Positionen gestanden hatten, unsere zweite Kategorie, die Belastung durch die berufliche bzw. militärische Funktion in der NS-Zeit, weit verbreitet und somit die wichtigste war. Es ist davon auszugehen, dass dies keine Besonderheit des Atom- und Forschungsministeriums darstellt, zumal zahlreiche Beamte zuvor ande­ SDAP gestoßen war und diverse Funktionen bekleidete, gehörte nicht dem WiN derstand an, sondern fiel einer NS-Machtintrige zum Opfer. Vgl. Ralf Blank, »Wagner, Josef«, in: »Westfälische Geschichte«, www.westfaelische-geschichte. de/per354 [25. 11. 2021]. 263 Zu Cartellieris Einstufung vgl. unten S. 342–344. – Die Spruchkammer Traunstein bescheinigte Schulte im November 1948, »nach dem Mass seiner Kräfte aktiven Widerstand geleistet und dadurch Nachteile erlitten« zu haben. StA München, SpkA K 2607, Spruchkammerbescheid, S. 5. 264 Im Personalbogen vom 1. 2. 1951 zur Ernennung zum Ministerialrat im BM für Verkehr finden sich bei der Rubrik zum NSDAP-Eintritt zwei Striche. In einem späteren Personalbogen vom 4. 2. 1960 zur Ernennung zum Ministerialdirigenten im BM für Atomkernenergie und Wasserwirtschaft ist dann eingetragen: »Parteianwärter seit 1. 5. 1937«, BArch, B 126 /17039. 265 Vgl. v. a. den 18-seitigen »Politische[n] und berufliche[n] Lebenslauf« Schultes, S. 6–8, in: StA München, SpkA K 2607. 266 Vgl. unten S. 345 f.

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ren Ressorts angehört hatten. Spezifisch ist wohl nur der Umstand, dass die NS-Belastung häufig aus Tätigkeiten im naturwissenschaftlich-technischen Bereich resultiert. Klare Zuordnungen zur ersten Kategorie (ideologische Belastung) bleiben dagegen relativ selten, wobei hier eher von einem fließenden ­ Übergang von deutschnationalen Grundhaltungen zu NS-Affinitäten auszugehen ist. Angemerkt sei auch, dass in unserer Untersuchungsgruppe ein Zusammentreffen der ersten und der zweiten Kategorie nur in zwei Fällen deutlich zu erkennen ist: Karl-Heinz Spilker kann wegen seines Eintritts in die Waffen-SS und seines mehrjährigen Kriegseinsatzes als Offizier in SS-Divisionen sowohl der ersten als auch der zweiten Kategorie zugeordnet werden. Und bei Karl Kaißling zeigten sich sowohl Indizien einer besonderen Affinität zur NSDAP als auch eine potentiell hohe berufliche NS-Belastung durch seine Funktion in der Generaldirektion der Ostbahn. Bei einer Reihe von anderen Personen, die in der Kategorie der ideologischen Belastung Erwähnung fanden, bedürfte die berufliche und militärische NS-Belastung einer noch genaueren Prüfung. Umgekehrt scheint bei zwei beruflich besonders schwer Belasteten – Josef Brandl und Walther Schnurr – die ideologische Nähe zum Nationalsozialismus nicht gesichert bzw. bei Schnurr sogar unwahrscheinlich. Letzteres ist keineswegs überraschend: Beruflich oder militärisch schwer NS-Belastete waren oftmals keine überzeugten Nationalsozialisten im ideologischen Sinne gewesen. Vielmehr gehörten sie nicht selten dem »politisch-ideologischen Kontinuum des ›nationalen Lagers‹« an, das sich in der Weimarer Zeit bis weit in rechtsbürgerliche Kreise erstreckte.267 Ohne die überwiegend problemlose Mitwirkung zahlreicher Menschen, die diesem Milieu entstammten, hätten die Nationalsozialisten ihr verbrecherisches Regime nicht über Deutschland und weite Teile Europas entfalten können. Im Falle der dritten Kategorie (Belastung durch unmittelbare Mitwirkung an einzelnen Kriegsverbrechen oder Mordtaten) konnten im Rahmen unserer Untersuchung lediglich Verdachtsfälle eruiert werden. Eine entsprechende Einstufung ist in keinem einzigen Fall gesichert. Angesichts der generellen Schwierigkeiten, derartige Verbrechen individuell nachzuweisen, bildet auch dies keine Überraschung.

267 Vgl. oben S. 37 f. (mit Zitat) zu den Forschungsergebnissen von Hürter zur Generalität an der Ostfront.

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Immer wieder zeigt sich, dass in der Zuschreibung von personeller NSBelastung erhebliche Unsicherheiten verbleiben. Wie schwer die Belastung im Einzelnen ausgeprägt war und wie hoch die persönliche Verantwortung zu gewichten ist, kann im Einzelfall oft kaum bestimmt werden, da ein derartiges Unterfangen an Grenzen der Quellenlage und auch an erkenntnistheoretische Grenzen stößt. Ein umfassendes positivistisches »Aufarbeiten« der personellen Vergangenheit einzelner Institutionen ist daher kaum möglich. Studien wie die vorliegende können aber sehr wohl einen Beitrag dazu leisten, die sehr breite und vielfältige Beteiligung deutscher Eliten am Funktionieren und an den Verbrechen des NS-Regimes besser zu erkennen.

4. Ehemalige NSDAP-Mitglieder und personelle NS-Belastungen in der frühen Deutschen Atomkommission Am 21. Dezember 1955 beschloss das Bundeskabinett die Gründung der Deutschen Atomkommission (DAtK), die sich als zentrales Beratungsgremium des Bundesministeriums für Atomfragen am 26. Januar 1956 konstituierte.268 Laut Geschäftsordnung war es die Aufgabe der DAtK, »den Bundesminister für Atomfragen in allen wesentlichen Angelegenheiten zu beraten, die mit der Erforschung und Verwendung der Kernenergie für friedliche Zwecke zusammenhängen«. Der zweite Atomminister Balke ­erklärte die Notwendigkeit der neuen Kommission neben seinem Ministerium ein Jahr später damit, dass die Verwaltung, »selbst wenn sie über eine Reihe von ausgezeichneten Fachleuten verfügt, […] heute nicht mehr in der Lage [sei], die ihr von Regierung und Parlament gestellten Aufgaben nur mit Hilfe ihrer Beamten zu bewältigen.« Da die Bundesregierung auf einem Feld aktiv sei, »das für [sie] selbst auf weiten Strecken Neuland [sei], und weil die Bundesrepublik darüber hinaus gegenüber anderen Ländern einen mehrjährigen Rückstand in der atomtechnischen Entwicklung aufzuholen« habe, sei sie »auf Beratung durch Sachverständige aus Wissenschaft, Technik und Wirtschaft angewiesen.«269 1956 war die Atomkommission in fünf Fachkommissionen und 15 Arbeitskreise gegliedert. Den Vorsitz hatte der Atomminister, der auch die einzelnen Mitglieder berief. Dies galt auch für die Angehörigen der Fach268 Vgl. Deutsche Atomkommission. Geschäftsordnung, Mitgliederverzeichnis, Organisationsplan, Bonn 1957. Zur Geschichte der DAtK vgl. auch Kapitel II.3. 269 Vgl. Vorwort Siegfried Balke, in: ebenda, S. 5.

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kommissionen mit Zustimmung der Atomkommission und die Mitglieder der Arbeitskreise mit Zustimmung der jeweils zuständigen Fachkommission. Der Kommission allein gehörten anfangs »27 namhafte und einflussreiche Persönlichkeiten der Wissenschaft, der Wirtschaft und ihrer Organisationen sowie des öffentlichen Lebens an«.270 Im Jahr 1956 fanden sich unter den 27 Mitgliedern der DAtK 15 Vertreter der Wirtschaft (der Großindustrie, vor allem der Atomwirtschaft und von Energieversorgern), je zwei der Politik und der Gewerkschaften und acht der Wissenschaft.271 Die ihr zugedachte Bedeutung zeigt, wie bereits erwähnt, der Umstand, dass in der Atomkommission mit allen genannten Unterausschüssen und ständigen Gästen 1956 insgesamt fast 200 Personen organisiert waren  – während das Bundesministerium für Atomfragen zum selben Zeitpunkt nur über 130 Beschäftigte verfügte. Bis zur Auflösung der DAtK 1971 stieg die Gesamtzahl der Berater gar auf rund 400.272

Die Deutsche Atomkommission 1956273 Präsidium Vorsitzender Franz Josef Strauß Bundesminister für Atomfragen, Bundesministerium für A ­ tomfragen, Bad Godesberg

Stv. Vorsitzende: Prof. Dr. med. h. c. Dipl.-Ing. Leo Brandt Staatssekretär im Ministerium für Wirtschaft und Verkehr des Landes Nordrhein-Westfalen, Honorarprofessor für Verkehrspolitik an der Technischen Hochschule Aachen 270 Ebenda. 271 Im Jahr 1960 waren es dann ein Vertreter der Politik mehr und ein Wissenschaftler weniger, vgl. Prüß, Kernforschungspolitik, S. 41 und S. 330 (Anhang 7). 272 Vgl. Winnacker / Wirtz, Wunder, S. 80. Zur Auflösung vgl. oben S. 127. 273 Zitiert nach: Deutsche Atomkommission. Geschäftsordnung, Mitgliederverzeichnis, Organisationsplan, Bonn 1956, S. 11 f.

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Prof. Dr. phil. nat. Dr. phil. nat. h. c. Dr. rer. nat. h. c. Dr.-Ing. E. h. Otto Hahn Präsident der Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e. V., Göttingen Prof. Dr.-Ing. Dr. rer. nat. h. c. Karl Winnacker Generaldirektor, Vorstandvorsitzender der Farbwerke Hoechst AG, Honorarprofessor für Angewandte Chemie an der Universität Frankfurt, Frankfurt a. M.

Mitglieder Dr. rer. pol. h. c. Hermann J. Abs Mitglied des Vorstandes der Deutsche Bank AG, Frankfurt a. M. Dr. jur. et rer. pol. Hans C. Boden Generaldirektor, Vorstandvorsitzender der Allgemeinen Elektricitäts-Gesellschaft, Frankfurt a. M. Prof. Dr. jur. Ernst von Caemmerer Professor für Bürgerliches Recht, Handels-, Wirtschafts-, und internationales Privatrecht an der Universität Freiburg / Br., Prorektor an der Universität Freiburg / Br., Freiburg / Br.-Zähringen Dipl.-Kaufm. Dr. rer. pol. Rupprecht Dittmar Hauptvorstand der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft, Abt. Wirtschaftspolitik, Hamburg Dr.-Ing. Richard Fischer Mitglied des Vorstandes der Hamburgische Electricitäts-Werke AG, Hamburg Gerhard Geyer Generaldirektor, Vorstandvorsitzender der ESSO AG, Hamburg Dr. jur. Hans Goudefroy Generaldirektor, Vorstandvorsitzender der Allianz-VersicherungsAG, München

Prof. Dr. phil. Dr. rer. nat. E. h. Ulrich Haberland Generaldirektor, Vorstandsvorsitzender der Farbenfabriken Bayer AG, Leverkusen Prof. Dr. rer. nat. Otto Haxel 273

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Direktor des Zweiten Physikalischen Instituts der Universität Heidelberg, Aufsichtsratsmitglied der Kernreaktor Bau- und BetriebsGesellschaft mbH Karlsruhe, Heidelberg Prof. Dr. phil. Werner Heisenberg Direktor des Max-Planck-Instituts für Physik, Göttingen Prof. Dr. phil. Gerhard Hess Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Bad Godesberg Dr.-Ing. Carl Knott Mitglied des Vorstandes der Siemens-Schuckertwerke AG, Erlangen Dr. rer. pol. h. c. Wilhelm Alexander Menne Vizepräsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, Vorsitzender des Arbeitskreises für Atomfragen im Bundesverband der Deutschen Industrie, Frankfurt a. M. Dr.-Ing. Dr.-Ing. E. h. Dr. rer. nat. h. c. Alfred Petersen Mitglied des Vorstandes der Metallgesellschaft AG, Frankfurt a. M. Dr. phil. Hermann Reusch Bergassessor a. D., Generaldirektor, Vorstandsvorsitzender der Gutehoffnungshütte Aktienverein, Nürnberg / Oberhausen, und der Gutehoffnungshütte Sterkrade AG, Oberhausen Dr.-Ing. E. h. Hans Reuter Generaldirektor, Vorstandsvorsitzender der DEMAG AG, Duisburg Prof. Dr. phil. Wolfgang Riezler Direktor des Instituts für Strahlen- und Kernphysik an der Universität Bonn Ludwig Rosenberg Mitglied des Bundesvorstandes des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Düsseldorf Prof. Dr. rer. techn. Arnold Scheibe Direktor des Instituts für Pflanzenbau und Pflanzenzüchtung der Universität Göttingen Dipl.-Ing. Heinrich Schöller Mitglied des Vorstandes der Rheinisch-Westfälisches Elektrizitätswerk AG, Essen Prof. Dr. med. Gerhard Schubert 274

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Direktor der Universitäts-Frauenklinik Hamburg-Eppendorf, Hamburg Dipl.-Ing. Georg Schulhoff Präsident der Handwerkskammer Düsseldorf und des RheinischWestfälischen Handwerkerbundes, Düsseldorf Dr. Hermann Winkhaus Mannesmann-AG Düsseldorf

Die Mitglieder der Atomkommission wurden  – zumindest nominell  – nicht als Vertreter ihrer Unternehmen oder Verbände berufen, sondern persönlich aufgrund ihrer Fachkenntnisse auf Lebenszeit. Dass sie auch für die Kernenergie werben und das Renommee der deutschen Wissenschaft steigern sollten, zeigt die Personalie Otto Hahns, der sich selbst ­eigentlich gar nicht als Kernforscher sah und als stellvertretender Vorsitzender der Kommission eher als Aushängeschild für repräsentative Aufgaben fungierte.274 Auch wenn die DAtK über keine Gesetzgebungs- oder Verwaltungskompetenz verfügte, war sie zeitweise vermutlich »eine der einflussreichsten Kommissionen, die es in der Geschichte der Bundesrepublik gegeben hat.«275 So wurden alle im Atomministerium eingehenden Anträge auf Forschungsförderung zuerst von der keinerlei parlamentarischer Kontrolle unterliegenden DAtK begutachtet. In den Arbeitskreisen der DAtK konnten deren Mitglieder auch über die staatliche Förderung ihrer eigenen Projekte oder Institutionen entscheiden. Politisch bedeutsam war die Atomkommission vor allem in ihrer Frühphase.276 Es erscheint daher sinnvoll, die Frage nach der personellen NS-Belastung auch auf die Kommissionsmitglieder dieser Jahre auszudehnen. Die 27 (ausschließlich männlichen) Mitglieder der ersten Deutschen Atomkommission des Jahres 1956 (einschließlich des Bundesministers Franz Josef Strauß) waren alle vor 1928 geboren worden und gehörten demnach derselben Alterskohorte an wie unsere Untersuchungsgruppe des ministeriellen Führungspersonals. Von ihnen waren elf Personen (knapp 41 Prozent) Mitglied der NSDAP gewesen: Richard Fischer, Hans Goudefroy, Ulrich Haberland, Otto Ha274 Vgl. Rusinek, Die Rolle der Experten, S. 191 f. 275 Vgl. ebenda, S. 189. 276 Vgl. oben S. 96–98.

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Diagr. 16: Bekannte NSDAP-Mitgliedschaften in der DAtK nach Studiengang /Ausbildung

xel, Carl Knott, Wolfgang Riezler, Arnold Scheibe, Heinrich Schöller, Gerhard Schubert, Hermann Winkhaus und Karl Winnacker.277 Im selben Jahr (1956) fanden sich im ministeriellen Führungspersonal des Atom­ ministeriums 69 Prozent früherer NSDAP-Mitglieder. Da der DAtK auch zahlreiche Vertreter aus Wirtschaft und Politik angehörten, ließ sich die im Atomministerium vorherrschende Fraktionierung in Naturwissenschaftler und Techniker einerseits sowie Juristen andererseits hier nicht feststellen. 15 von 27 Mitgliedern der DAtK (knapp 56 Prozent) waren Naturwissenschaftler und Techniker, von denen wiederum neun ehemalige NSDAP-Mitglieder waren.278 Unter den Natur-

277 Fischer vgl. BArch, R 9361-IX KARTEI/8970583; Goudefroy vgl. BArch, R 9361IX KARTEI/11580565; Haberland vgl. BArch, R 9361-IX KARTEI/12781534; Haxel vgl. BArch, R 9361-IX KARTEI/13970551; Knott vgl. BArch, R 9361-VIII KARTEI/14850550; Riezler vgl. BArch, R 9361-IX KARTEI/34990281; Scheibe vgl. BArch, R 4901 /25364; Schöller vgl. BArch, R 9361-VIII KARTEI/20600403; Schubert vgl. BArch, R 9361-VIII KARTEI/21371092; Winkhaus vgl. BArch, R9361-IX KARTEI/489211005; Winnacker vgl. BArch, R 9361-IX KARTEI/48980815. 278 Fischer, Haberland, Haxel, Knott, Riezler, Scheibe, Schöller, Winkhaus und Winnacker.

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Diagr. 17: Verteilung der NSDAP-Mitgliedschaften und -Nichtmitgliedschaften in der DAtK nach Studiengang/Ausbildung

wissenschaftlern befanden sich drei Physiker, von denen zwei der NSDAP angehört hatten.279 Von den drei Juristen in der Atomkommission war mindestens einer NSDAP-Mitglied gewesen.280 Eine kaufmännische bzw. Banklehre hatten vier der 27 Mitglieder absolviert, aus dieser Gruppe hatte sich, soweit bekannt, niemand der NSDAP angeschlossen.281 Gravierendere Belastungen als die angeführten formalen sind bei Mitgliedern der Atomkommission im Einzelfall durch ihre berufliche Tätigkeit zwischen 1933 und 1945 zu erkennen. Zahlreiche Mitglieder der DAtK fanden sich bereits vor 1945 in leitenden Funktionen in den wichtigsten Industrieunternehmen des Deutschen Reiches. Zwangsläufig ­hatten sie damit, ob aktiv oder passiv, Anteil am System der nationalsozialistischen Kriegswirtschaft. In besonderem Maße gilt dies für den Zwangsarbeitereinsatz. Eines der prominentesten und zugleich schillerndsten Mitglieder der Atomkommission war der Bankier und Vertraute Adenauers Hermann 279 Haxel und Riezler. Heisenberg war kein NSDAP-Mitglied gewesen. 280 Juristen: Hans Boden, Ernst von Caemmerer, Hans Goudefroy (NSDAP-Mitglied). 281 Hermann Josef Abs, Gerhard Geyer, Alexander Menne, Ludwig Rosenberg.

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Josef Abs (1901–1994), ab 1957 Vorstandssprecher, ab 1967 Aufsichtsratsvorsitzender der Deutschen Bank, deren Vorstandsmitglied er bereits zwischen 1938 und 1945 gewesen war.282 Unter Abs’ zahlreichen Aufsichtsratsmandaten vor 1945 befanden sich auch Unternehmen, die unter entsetzlichen Arbeitsbedingungen Zwangsarbeiter einsetzten, darunter die I. G.-Farben. Die Vorgänge im Vernichtungslager Auschwitz werden ihm durch die dortigen I. G.-Farben-Betriebe aller Wahrscheinlichkeit nach bekannt gewesen sein. Als Vorstandsmitglied der Deutschen Bank war Abs auch mit sogenannten »Arisierungen«, den Zwangsverkäufen jüdischer Wirtschaftsunternehmen, befasst. Vermutlich wusste er auch um die Herkunft des Raubgoldes ermordeter Juden in den Tresoren der Deutschen Bank.283 1952 schuf Abs als Gesandter Adenauers mit dem Londoner Schuldenabkommen nicht nur die Basis für den Wiederaufschwung der westdeutschen Wirtschaft, sondern auch »die Rechtsgrundlage für die Nichtentschädigung ausländischer Zwangsarbeiter«.284 Als Vorstandsmitglied eng mit der I. G.-Farben verbunden war auch der Chemiker Ulrich Haberland (1900–1961).285 Seine Tätigkeit ab 1938 als Werksleiter in Uerdingen und Leverkusen bedürfte einer weiteren Untersuchung. Dies betrifft vor allem den Zwangsarbeitereinsatz sowie mög­ liche Einblicke in die Rolle des I. G.-Farbenkonzerns bei der Finanzierung des Konzentrationslagers Auschwitz III Monowitz und der Ausbeutung der Häftlinge. Der stellvertretende Vorsitzende der Atomkommission und Vorstandsvorsitzende der Farbwerke Hoechst AG, Karl Winnacker (1903–1989), seit 1933 in der SA, seit September 1937 in der NSDAP, hatte ab 1943 die Chemikaliensparte des Werkes Hoechst im I. G.-Farbenkonzern gelei282 Zu Abs vgl. Lothar Gall, Der Bankier Hermann Josef Abs. Eine Biographie, München 2004, und Harold James, Die Deutsche Bank im Dritten Reich, München 2003, S. 101–103. Zu Abs und der I. G. Farben vgl. Christoph Pauly / Nico Wingert, Geheimes KZ im Untergrund, in: Der Spiegel, 8. 5. 2006, S. 70–71, und Tim Schanetzky, Unternehmer: Profiteure des Unrechts, in: Frei; Norbert (Hrsg.), Karrieren im Zwielicht. Hitlers Eliten nach 1945, Frankfurt a. M. 2001, S. 75–128, hier S. 97–101. 283 Vgl. Das Deutsche Bank-Geheimnis. Deutschland hat sich von seinem ChefBankier ein falsches Bild gemacht, in: Die Zeit, 13. 8. 1998. 284 Vgl. Schanetzky, Unternehmer, S. 98 f. 285 Vgl. Walther Killy / Rudolf Vierhaus (Hrsg.), Deutsche Biographische Enzyklopädie, Bd. 4: Gies–Hessel, München u. a. 1996, S. 293, und Florian Schmaltz, Die IG Farbenindustrie und der Ausbau des Konzentrationslagers Auschwitz 1941– 1942, in: Sozial. Geschichte. Zeitschrift für historische Analyse des 20. und 21. Jahrhunderts 21 (2006), S. 33–67.

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tet.286 Bei einigen Mitarbeitern galt Winnacker als »besonders überzeugter Nationalsozialist«.287 Er war mit dem Einsatz von Zwangsarbeitern in Hoechst befasst und wusste durch persönliche Besuche vor Ort vermutlich auch von Fleckfieberversuchen seines Unternehmens an KZ-Häftlingen in Auschwitz. Winnackers »Solidarität [in der Bundesrepublik, d. Vf.] gehörte den sogenannten ›Opfern‹ der Entnazifizierung, nicht den Opfern des NS-Regimes«.288 Mehrere nach Winnacker benannte Preise wurden aufgrund seiner Rolle im Nationalsozialismus seit 2011 umbenannt.289 Carl Knott (1892–1987) war als Werksleiter der Siemens-SchuckertWerke in Nürnberg und Erlangen zwischen Oktober 1944 und Frühjahr 1945 auch mit dem Zwangsarbeitereinsatz von über 500 weiblichen KZHäftlingen in den Betrieben befasst, der mindestens drei Frauen das Leben kostete.290 Obwohl Knott Verhandlungen mit dem Kommandanten des KZ Flossenbürg über die Häftlinge geführt und sein Handlungsbevollmächtigter mit anderen Firmenvertretern in Auschwitz Häftlinge für das Werk ausgesucht hatte, wies Knott »nach 1945 jedoch eine Verantwortung für schlechte Verhältnisse im Lager und im Betrieb von sich«.291 Hans Reuter (1895–1982) war seit 1940 Generaldirektor der Deutschen Maschinenbau-Aktiengesellschaft (DEMAG), die neben Lokomotiven, Eisenbahnwaggons und Kränen ab 1943 mit über 1.000 Zwangsarbeitern aus dem KZ Sachsenhausen in Falkensee bei Berlin Panzer baute.292 Hermann Reusch (1896–1971), Vorstandsvorsitzender des Montanund Maschinenbauunternehmens Gutehoffnungshütte AG in Oberhau-

286 Vgl. Walter Habel (Hrsg.), Wer ist wer?, Bd. 1, Berlin 1967, S. 2190 f. Zur NSDAP-Mitgliedschaft vgl. BArch, R 9361-IX KARTEI/48980815; zum Zwangs­ arbeitereinsatz und zum KZ Auschwitz vgl. Lindner, Hoechst, S. 216 f. und S. 235. 287 Ebenda, S. 217 und S. 351. 288 Ebenda, S. 9. 289 Vgl. Jonas Krumbein, Kein ehrendes Andenken mehr für Karl Winnacker in der Wissenschaft, in: Der Tagesspiegel, 25. 11. 2013; Britta Bode, »Sie logen, daß sich die Balken bogen«. Hoechsts Vergehen an der Humanität endete nicht mit der NS-Zeit, in: Welt am Sonntag, 27. 3. 2005. 290 Vgl. Habel (Hrsg.), Wer ist wer?, S. 985. 291 Vgl. Alexander Schmidt, Nürnberg, in: Benz / Distel (Hrsg.), Der Ort des Terrors, Bd. 4: Flossenbürg, Mauthausen, Ravensbrück, München 2006, S. 213–216, hier S. 214. 292 Vgl. Habel (Hrsg.), Wer ist wer?, S. 1573. Zur DEMAG vgl. Klaus Woinar, Falkensee, in: Benz / Distel (Hrsg.), Der Ort des Terrors, Bd. 3: Sachsenhausen, Buchenwald, München 2006, S. 170–173.

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sen, war dort bereits seit 1937 Vorstandsmitglied gewesen.293 Die Hütte setzte in ihren Werken während des Krieges Zehntausende Zwangsarbeiter ein. 1942 legte Reusch das Vorstandsmandat auf Druck der Nationalsozialisten nieder. Anschließend fungierte er bis 1945 als »Generalinspekteur des Kohlenbergbaues in Serbien«.294 Reuschs dortige Aufgabe und Verantwortung ist unklar. Auch der Stahlröhrenkonzern Mannesmann AG, dessen stellvertretender Vorstandsvorsitzender seit 1940 Hermann Winkhaus (1897–1968) war, beutete in Düsseldorf in großem Umfang Zwangsarbeiter aus.295 Gerhard Geyer (1897–1972) saß seit 1939 im Vorstand der DeutschAmerikanischen Petroleum GmbH, aus der nach dem Krieg Esso entstand, deren Vorstandsvorsitzender er ab 1948 war.296 In der Mineralölwirtschaft ist der Einsatz von Zwangsarbeitern ebenfalls zu vermuten. Richard Fischer (1897–1970) von der Hamburgischen ElectricitätsWerke AG hatte ab 1939 die dem Reichswirtschaftsminister unterstellte »Reichsstelle für Elektrizitätswirtschaft« (Reichslastverteiler) geleitet, die im Krieg die Energieversorgung im Reich gewährleisten sollte.297 1944 293 Vgl. Werner Bührer, »Reusch, Karl Hermann«, in: Neue Deutsche Biographie 21 (2003), S. 457 f., www.deutsche-biographie.de/pnd116452862.html#ndbcontent [20. 11. 2021]; Gerhard Hetzer, Gutehoffnungshütte (GHH), in: Historisches Lexikon Bayerns, www.historisches-lexikon-bayerns.de / Lexikon / Gutehoffnungshütte_(GHH) [25. 11. 2021], und Ernst Klee, Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945?, Frankfurt  a. M. 2005, S. 492 f., sowie Bruno Fischer, Ruhrgebiet 1933–1945. Der historische Reiseführer, Berlin 2009, S. 19. Die Personalakte von Reusch im Militärarchiv Freiburg, die das Wehrstammbuch und diverse Beilagen enthält, liefert keine Hinweise auf eine Zu­ gehörigkeit zur Partei oder anderen NS-Organisationen, BArch, PERS 6 /47477. 294 Vgl. Bührer, »Reusch, Karl Hermann«. 295 Vgl. »Winkhaus, Hermann«, in: »Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung« online, Biographien, und Habel (Hrsg.), Wer ist wer?, S. 2188. Zur Zwangsarbeit bei Mannesmann vgl. Horst A. Wessel, Ausländische Mitarbeiter in den Düsseldorfer Betrieben der Mannesmannröhren- und der Deutschen Röhrenwerke AG während des Zweiten Weltkrieges, in: Looz-Corswaren; Clemens von (Hrsg.), Zwangsarbeit in Düsseldorf. »Ausländereinsatz« während des Zweiten Weltkrieges in einer rheinischen Großstadt, Essen 2002, S. 429–504. 296 Vgl. Habel (Hrsg.), Wer ist wer?, S. 547. Zur Bedeutung des Treibstoffs vgl. Rainer Karlsch / Raymond G. Stokes, Faktor Öl. Die Mineralölwirtschaft in Deutschland 1859–1974, München 2003, S. 203–246. 297 Vgl. Habel (Hrsg.), Wer ist wer?, S. 450; Reichsstelle für die Elektrizitätswirtschaft (Reichslastverteiler) (Bestand), www.archivportal-d.de/item/2PVAGEPJ6 KKKXAAA3DX2JFVDS6IZE33D [25. 11. 2021]; Dietrich Eichholtz, Geschichte der deutschen Kriegswirtschaft 1939–1945, Bd. 3: 1943–1945, Berlin 1996, S. 17. Zum Jägerstab vgl. ebenda, S. 14–36, und Budraß, Flugzeugindustrie, S. 869–871.

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gehörte er dem Jägerstab, dem zentralen Steuerungsorgan der deutschen Luftrüstung an. Der Jägerstab war verantwortlich für die geplante und teilweise umgesetzte unterirdische Verlagerung der deutschen Luftrüstungsindustrie unter großen Opfern durch Zwangsarbeiter aus Konzentrationslagern, etwa in Kaufering bei Augsburg oder im Mühldorfer Hart. Fischer war zuständig für den Bereich Energieversorgung und wurde mit dem Ritterkreuz des Kriegsverdienstkreuzes mit Schwertern, einer der höchsten an Zivilisten verliehenen Auszeichnungen des NS-Regimes ausgezeichnet. Hans C. Boden (1893–1970), als Vorstandsvorsitzender der AEG AG in der Atomkommission, war seit 1929 in führender Position bei AEG beschäftigt.298 Während des Krieges erhielt er den Ehrentitel eines »Wehrwirtschaftsführers«. Angeblich versuchte er, Zwangsarbeit durch KZHäftlinge bei AEG zu verhindern und verlor daher seine Stellung.299 Ab Mai 1944 war Boden im Auswärtigen Dienst beim »Bevollmächtigten des Großdeutschen Reiches in Ungarn«, SS-Brigadeführer Edmund Veesenmayer, eingesetzt, der für die Deportation von 400.000 ungarischen Juden nach Auschwitz verantwortlich war. Bodens Büro war in der Hochphase der »Entjudung« der ungarischen Wirtschaft laut einem zeitgenössischen Dokument für die »Durchsetzung der deutschen Wünsche in wirtschaftlichen Belangen« in Ungarn zuständig.300 Hans Goudefroy (1900–1961) leitete seit 1937 die Rechtsabteilung der Allianz-Versicherungs-AG, des größten Versicherungskonzerns des Deutschen Reiches.301 Ab 1938 war er stellvertretendes, ab 1943 reguläres Vorstandsmitglied. Der Allianzkonzern war durch die Behandlung seiner jüdischen Mitarbeiter und Kunden sowie seine Geschäftsbeziehungen mit der NSDAP in vielfacher Weise in das nationalsozialistische Unrechtssystem eingebunden. Goudefroy, obwohl offenbar kein überzeugter NatioVgl. auch Julian Klein, Hans Schleif  – Stationen der Biographie eines Bauforschers im Nationalsozialismus. Ergebnisse der Recherche zu der Theaterproduktion »Hans Schleif« am Deutschen Theater Berlin, in: Jahrbuch des Deutschen Archäologischen Instituts 131 (2016), S. 273–421, hier S. 346, Anm. 344. 298 Vgl. zu Boden Biographisches Handbuch des deutschen Auswärtigen Dienstes 1871–1945, Bd. 1, S. 189 f. 299 Vgl. Benjamin B. Ferencz, Less Than Slaves. Jewish Forced Labor and the Quest for Compensation, Cambridge, Mass. 1980, S. 113 f. 300 Vgl. Bericht über Ungarn-Reise vom 11.–21. Mai 1944 von Felix Czernin, Wien, am 23.  Mai 1944, in: Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland, Bd. 15: Ungarn 1944–1945, bearb. von Regina Fritz, München 2021, S. 551–556. 301 Vgl. »Hans Goudefroy«, in: Munzinger Online [25. 11. 2021].

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nalsozialist, war Mitverfasser einer Denkschrift, mit der jüdischen Opfern der Reichspogromnacht 1938 in antisemitischer Diktion Versicherungsschutz versagt wurde.302 Die Denkschrift wurde in der geschichtswissenschaftlichen Literatur als Ausdruck einer »Pervertierung geschäftlicher und persönlicher Moral«303 bezeichnet. Arnold Scheibe (1901–1989) war als Ordinarius für Grünlandwirtschaft und als Institutsdirektor an der Universität Gießen in die Atomkom­ mission berufen worden.304 1935 hatte er die bekannte »Deutsche Hindukusch-Expedition« geleitet. Ob er 1946 seinen Lehrstuhl an der TH München, auf den er 1941 berufen worden war, aufgrund seiner NS-Belastung verlor, ist unbekannt. Scheibe war 1933 in die SA, 1937 in die NSDAP eingetreten und 1934 kurzzeitig als »Schulungsleiter bei der Reichsführung SS« im Oberabschnitt Rhein tätig gewesen.305 Anders als im Führungspersonal des Atom- und Forschungsministeriums fanden sich in der Deutschen Atomkommission prominente Kernforscher, die an zentraler Stelle am nationalsozialistischen Uran-Projekt mitgewirkt hatten: Otto Hahn (1879–1968) – der sich selbst allerdings eher als Chemiker und nicht als Kernforscher sah –, Otto Haxel (1909–1998), Werner Heisenberg (1901–1976) und Wolfgang Riezler (1905–1962). Die deutsche Rüstungsforschung im Zweiten Weltkrieg hatte auch der spätere Staatssekretär in Nordrhein-Westfalen und stellvertretende Vorsitzende der Atomkommission Leo Brandt (1908–1971) unterstützt, der als wohl wichtigster deutscher Radar-Experte das sogenannte »Würzburg-Gerät« (FuMG 62) entwickelt hatte.306 In der zweiten und dritten Reihe der Atomkommission, in den mitgliederstarken Arbeitskreisen und Fachausschüssen, wirkten, weitab der öf302 Vgl. Gerald D. Feldman, Die Allianz und die deutsche Versicherungswirtschaft 1933–1945, München 2001, v. a. S. 153 f. und S. 253–256, und Eike Christian Hirsch, Versicherer im Führerstaat. Hannovers Brandkasse und Provinzial, 1933–1945, Göttingen 2012, S. 133. 303 Feldman, Allianz, S. 256. 304 Vgl. Gerhard Röbbelen, »Scheibe, Arnold Wilhelm Gustav«, in: Neue Deutsche Biographie 22 (2005), S. 619 f., www.deutsche-biographie.de/pnd140536957. html#ndbcontent [25. 11. 2021]; Peter Mierau, Nationalsozialistische Expeditionspolitik. Deutsche Asienexpeditionen 1933–1945, München 2006. 305 Vgl. BArch, R 4901 /25364. 306 Vgl. Rusinek, Die Rolle der Experten, S. 198, und Bernhard Mittermaier / BerndA. Rusinek (Hrsg.), Leo Brandt (1908–1971). Ingenieur – Wissenschaftsförderer  – Visionär. Wissenschaftliche Konferenz zum 100.  Geburtstag des nordrhein-westfälischen Forschungspolitikers und Gründers des Forschungszentrums Jülich, Jülich 2009.

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fentlichen Wahrnehmung, zahlreiche schwer belastete Wissenschaftler in der Bundesrepublik fort. In Ansätzen bekannt ist dies bislang für nationalsozialistische Rasseforscher und Eugeniker, die nach 1945 unter dem Dach der Humangenetik alte Seilschaften pflegten. So gehörte mit Lothar Loeffler »einer der führenden Rassenhygieniker des ›Dritten Reiches‹«307 als Experte für Erbschädigungen durch Strahlung dem Arbeitskreis Strahlenbiologie der DAtK an.308 In dieser Funktion verschaffte er dem ebenfalls schwer belasteten »Rassenhygieniker« Otmar von Verschuer, dem Doktorvater Josef Mengeles, die nötigen Forschungsgelder, um dessen Münsteraner Institut zur zentralen humangenetischen Forschungseinrichtung der Bundesrepublik auszubauen.309 Neben den schwer NS-Belasteten saßen in der Atomkommission auch mehrere Personen, die in der Zeit des Nationalsozialismus verfolgt worden waren. Dieser Befund, der von der Situation im Führungspersonal des Ministeriums abweicht, erklärt sich auch aus dem im Vergleich zum Ministerialdienst breiteren gesellschaftlichen Spektrum der Atomkommission. Der spätere DGB-Vorsitzende Ludwig Rosenberg (1903–1977) musste als jüdischer Gewerkschaftsfunktionär und Sozialdemokrat 1933 nach Großbritannien emigrieren.310 Innerhalb Deutschlands verbargen sich zeitweise der spätere Vizepräsident des Zentralverbands des Deutschen Handwerks (ZDH) und CDU-Politiker Georg Schulhoff (1898–1990), der als »Verfolgter des Naziregimes […] in den letzten Kriegsjahren«311 untertauchen musste, sowie der spätere Präsident des Bundesverbands der Chemischen Industrie, Alexander Menne (1904–1993).312 Letzterer war seit 1940 Abteilungsleiter im Reichsministerium für Bewaffnung und Munition gewesen. Da ihm »Wehrkraftzersetzung« vorgeworfen wurde, inhaftierte ihn die Gestapo 1943 für zehn Monate; anschließend versteckte sich Menne bis zum Kriegsende. 307 Vgl. Kröner, Einfluß, S. 469. 308 Vgl. ders., Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik und die Humangenetik in der Bundesrepublik Deutschland, in: Kaufmann (Hrsg.), Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, S. 653–666, hier S. 658. 309 Vgl. ebenda, S. 659. 310 Vgl. Habel (Hrsg.), Wer ist wer?, S. 1622 f. Dasselbe gilt für den Chemiker Friedrich Paneth (1887–1958), der erst 1957 in die Atomkommission berufen wurde und der daher nicht Teil dieses Samples ist. 311 Vgl. Vierhaus / Herbst (Hrsg.), Biographisches Handbuch der Mitglieder des Deutschen Bundestages, Bd. 2: N–Z, S. 791. Hier keine Angaben 1933–1945. 312 Vgl. Henkels, 99 Bonner Köpfe, S. 204–206 und Vierhaus / Herbst (Hrsg.), Biographisches Handbuch der Mitglieder des Deutschen Bundestages, Bd. 1: A–M, S. 553.

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Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der nachgewiesene Anteil ehemaliger NSDAP-Mitglieder in der ersten Deutschen Atomkommission (1956–1957) deutlich unter den Werten lag, die sich während des­selben Zeitraums im Führungspersonal des Ministeriums erkennen ließen. Auch wenn die Aussagekraft dieses Befundes aufgrund einiger Unsicherheiten in der sehr kleinen Untersuchungsgruppe nicht überbewertet werden sollte, spiegelten sich hier zweifellos Differenzen in der Sozialstruktur und in der beruflichen Situation während der NS-Zeit. Vor allem ein Aspekt scheint von Bedeutung: Führende Wissenschaftler und Wirtschaftsvertreter konnten es sich häufig eher erlauben, nicht Mitglied der Partei zu werden, als Juristen und generell Personen, die im Öffentlichen Dienst Karriere machten. Bedeutsamer als die ehemalige Parteizugehörigkeit war auch in der frühen Atomkommission die Belastung durch die berufliche Funktion in der NS-Zeit. Dies gilt insbesondere für die Verbindung späterer Angehöriger der Atomkommission zum System der Zwangsarbeit. Vier Mitglieder der DAtK waren im Rahmen des deutschen »Uran-Projekts« an der letztlich vergeblichen Entwicklung einer Kernwaffe für das nationalsozialistische Deutschland beteiligt. Im weiten Feld der Fachkommissionen und Arbeitskreise der DAtK fällt auf, dass hier mehrere schwer belastete frühere »Rassenforscher« tätig waren, die in der Bundesrepublik diskret ihre Wissenschaftlerkarrieren fortsetzen konnten. Die genauere Erforschung dieser Zusammenhänge bildet ein Desiderat. Betont sei, dass es neben den funktional stark Belasteten in der frühen Atomkommission auch mehrere Menschen gab, die im nationalsozialistischen Deutschen Reich verfolgt worden waren.

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V. Systemübergreifende Karrieren –

­systemübergreifendes Funktionieren von ­Eliten: biographische Detailskizzen

Im Folgenden werden die Biographien von fünf Personen aus dem von uns definierten Kreis des ministeriellen Führungspersonals genauer beleuchtet: Josef Brandl, Wolfgang Cartellieri, Max Mayer, Walther Schnurr und Karl-Heinz Spilker. Grundvoraussetzung für die Auswahl war zunächst eine hinreichende Quellenbasis, die bei weitem nicht für alle Personen des untersuchten ministeriellen Führungspersonals gegeben ist. Zudem spielten vor allem zwei Gesichtspunkte eine Rolle: Zum einen das Bemühen, unterschiedliche biographische Aspekte zu berücksichtigen, die in etwa der sozialen und fachlichen Struktur des Führungspersonals im Atom- und Forschungsministerium entsprechen. So betrachten wir drei Juristen und zwei Naturwissenschaftler bzw. Ingenieure. Was das Alter betrifft, wird ein Zeitraum der Geburtsjahrgänge von 1901 bis 1921 abgedeckt. Bei der sozialen Herkunft handelt es sich um drei Personen aus dem mittleren und höheren Bildungsbürgertum (ein Vater war Lehrer, einer Gymnasiallehrer und einer Universitätsprofessor), um eine Person aus dem Besitzbürgertum (Vater hoher Bankbeamter bzw. Bankdirektor) sowie um einen »Aufsteiger« aus der qualifizierten Arbeiterschaft (Vater Werkmeister). Unterschiedlich war auch die Stellung und Verweildauer der fünf Personen innerhalb des Ministeriums: Skizziert werden ein Staatssekretär (Cartellieri), zwei Abteilungsleiter (Mayer und Schnurr), ein Referats- und stellvertretender Gruppenleiter (Brandl) und ein persönlicher Referent des Ministers (Spilker). Während Spilker, Brandl und Schnurr  – für dieses Ressort nicht untypisch  – jeweils nur wenige Jahre im Ministerium tätig waren, gehörten Cartellieri (1956–1966) und Mayer (1962–1971) jeweils für längere Zeit zum Kern des Führungspersonals. Ein zweiter Gesichtspunkt bei der Auswahl der fünf biographischen Fallstudien war das Anliegen, Personen des Führungspersonals, die inzwischen in der Geschichtswissenschaft in besonderer Weise als NS-belastet gelten (Brandl und Schnurr), nicht zu übergehen. Die vielfältigen Aspekte einer personellen NS-Belastung, aber auch die damit oftmals zusammenhängenden Fragen und Unsicherheiten, können in einer detaillierten biographischen Skizze sehr viel besser 285

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siert werden, als dies in einem stark abstrahierenden prosopographischen Zugriff möglich ist. Eine wichtige Aufgabe des Kapitels besteht deshalb ­darin, die unterschiedlichen Ebenen und Kategorien des Belastungs­ begriffs1 am individuellen Fall aufzugreifen. Neben der Klärung bzw. Diskussion von NS-Belastungen aus heutiger Sicht wird auch der Frage nachgegangen, ob und inwiefern im untersuchten Zeitraum Belastungen erkannt wurden. In drei Fällen (Brandl, Schnurr und Spilker) kann zudem verfolgt werden, wie sich die Wahrnehmung einer Person und ihrer ­ S-Vergangenheit in Öffentlichkeit und Geschichtswissenschaft bis hin N zu unserer Gegenwart entwickelt hat. Gemeinsam ist den fünf behandelten Personen  – dies scheint weit­ gehend charakteristisch für das insgesamt betrachtete ministerielle Führungspersonal, soweit die berufliche Laufbahn vor 1945 begonnen hat –, dass es ihnen jeweils gelungen ist, eine systemübergreifende Karriere zu realisieren. Dies heißt auch: Der biographische Einschnitt, den es nach Kriegsende in unterschiedlicher Weise und Intensität jeweils gegeben hat, war spätestens Mitte der 1950er Jahre überwunden. In diesem Zusammenhang sind vor allem fünf Fragestellungen relevant: 1. Wie haben die untersuchten Personen die Phase von 1945 bis zu ihrem Karriereneustart in der Bundesrepublik überbrückt? In der »Aufarbeitungsforschung« ist dies bislang ein nur wenig beachtetes Thema. 2. Welche grundlegenden ideologisch-mentalen Dispositionen und 3. Welche Bedingungen des politisch-gesellschaftlichen Umfeldes haben diese systemübergreifenden Karrieren begünstigt? 4. Welches berufliche Selbstverständnis lässt sich (punktuell) erkennen bzw. welches Selbstverständnis wurde nach außen vermittelt? 5. Inwieweit blieben die ideologischen Grundprägungen auch in der Bundesrepublik maßgeblich für das berufliche Handeln? Dem Umfang und der Genauigkeit der biographischen Skizzen waren Grenzen gesetzt, die aus dem zeitlichen und organisatorischen Rahmen der vor­ liegenden Studie und oft auch aus der beschränkten Quellenlage resultieren.2 Dass in den Skizzen inhaltliche Unschärfen verblieben sind und dass Manches nur thesenhaft formuliert werden konnte, hängt hiermit zusammen. Derartige Unschärfen liegen aber auch in der Natur jeglicher Geschichtsschreibung. 1 Vgl. hierzu oben S. 29–39. 2 Punktuell wären in allen Fällen weitere Quellenrecherchen möglich, für die freilich ein extrem hoher Zeitaufwand angesetzt werden müsste.

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1. Josef Brandl (1901–1991), Referats- und stellvertretender Gruppenleiter

Josef Brandl bietet das Beispiel eines hochqualifizierten Verwaltungsjuristen, dessen berufliche Karriere von der späten Weimarer Republik bis in die Bundesrepublik der 1960er Jahre – mit einer kurzen Unterbrechung in der Zeit unmittelbar nach 1945 – stets nach oben zu führen schien. Seine politische Orientierung wies bereits seit seiner Zeit als 18-jähriger Oberrealschüler, als er dem Freikorps Epp angehörte, in das nationalistische Lager. Während der NS-Zeit führten ihn Tätigkeiten in der Reichsumsiedlungsgesellschaft und beim Reichsstatthalter in Wien3 schließlich in Spitzenpositionen der Besatzungsherrschaft im deutschen »Generalgouvernement« in Polen und der Ukraine sowie in Norditalien. Brandl war somit nach heutigem Kenntnisstand einer der am schwersten NS-belasteten Beamten des Atom- und Forschungsministeriums. Der Wiedereinstieg in den Staatsdienst erfolgte 1954 über das Amt Blank, die Vorgängerinstitution der Bundeswehr. Seine Stellung als Referats- und stellvertretender Gruppenleiter im Atomministerium (1956–1961) wurde zum Sprungbrett für eine Funktion als Sondergeschäftsführer im Karlsruher Kernforschungszentrum (1961–1968). Joseph Wilhelm Brandl (kath.) wurde am 30. April 1901 im niederbayerischen Osterhofen als Sohn des Lehrers Joseph Brandl und dessen Frau Sophie geboren.4 Nach Besuch der dortigen Volksschule wechselte Brandl auf die Oberrealschule im nahegelegenen Passau. 3 Zu den beiden Institutionen vgl. die Erläuterungen unten S. 295–298. 4 Im Taufregister »Joseph«, in späteren Dokumenten »Josef«; Archiv des Bistums Passau, Taufbuch Osterhofen 027_0026, 17. Eintrag. Quellengrundlage Brandl (weitere Angaben in den folgenden Fußnoten): BArch, B 106 /11466, B 138 /40317, B 162 /4138, PERS 101 /82462, PERS 101 /82463, R 9361-VIII Kartei/3741062, RW 43 /146; BStU, MfS HA IX/11 PA 5439; IfZ-Archiv, Gs.5.18 /14; LA Berlin, B. Rep. 058, Nr. P (K) Js 7 /68 Lo; StA München, SpkA K 184; WASt (Informationen zum militärischen Werdegang); Materialien aus dem Stadtarchiv Heilbronn (genaue Angaben in späteren Fußnoten; hervorgehoben sei die freundliche Unterstützung durch den zuständigen Archivar, Herrn Walter Hirschmann); Literatur: Bogdan Musiał, Deutsche Zivilverwaltung und Judenverfolgung im Generalgouvernement. Eine Fallstudie zum Distrikt Lublin 1939–1944, Wiesbaden 1999, S. 363; D. Pohl,

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Vom Jahrgang her ist Brandl der von Michael Wildt und Ulrich Herbert identifizierten »Kriegsjugendgeneration« zuzuordnen, die zu jung war, um aktiv am Ersten Weltkrieg teilzunehmen, aber alt genug, um durch diesen sozialisiert und teilweise radikalisiert zu werden.5 Der rechtsradikale KappLüttwitz-Putsch gegen die junge Weimarer Republik im Frühjahr 1920 bildete den Auftakt für die politische Biographie Brandls.6 Der 18-jährige Schüler wurde gemäß eigenen Angaben am 14. März 1920, einen Tag nach dem Beginn des Putsches, nach einer freiwilligen Meldung in das I. Bataillon des Bayerischen Schützenregiments Nr. 41 (»Epp-Regiment«) nach München einberufen.7 Brandl gehörte dem Bataillon bis zum 20. April 1920 an. Das aus dem alten »Freikorps Epp«,8 das 1919 an der Niederschlagung der Münchner Räterepublik beteiligt war, hervorgegangene Schützenregiment 41 gilt als eine der Keimzellen der NSDAP. In ihm waren zwischen Judenverfolgung, S. 412; Rusinek, Fall Greifeld, S. 289–314 (Die pointierte Skizzierung Brandls durch Rusinek war insgesamt sehr hilfreich. Die vorliegende Darstellung Brandls basiert auf einer breiteren Quellenbasis.); Thomas Sandkühler, »Endlösung« in Galizien. Der Judenmord in Ostpolen und die Rettungsinitiativen von Berthold Beitz 1941–1944, Bonn 1996. 5 Wildt, Generation des Unbedingten; Herbert, Best. Vermutlich spielten auch die Topoi der Bewährung und des Abenteuers eine Rolle, vgl. Daniel Schmidt, Abenteuer Freikorps. Deutsche Konterrevolutionäre zwischen Selbstentgrenzung und Selbststilisierung, in: Hannig, Nicolai / Kümper, Hiram (Hrsg.), Abenteuer. Zur Geschichte eines paradoxen Bedürfnisses, Paderborn 2015, S. 185–202. 6 Zur Kompensation des verpassten Kriegseinsatzes im Freikorps vgl. Jan-Philipp Pomplun, Keimzellen des Nationalsozialismus? Sozialgeschichtliche Aspekte und personelle Kontinuitäten südwestdeutscher Freikorps, in: Schmidt, Daniel / Sturm, Michael / Livi, Massimiliano (Hrsg.), Wegbereiter des Nationalsozialismus. Personen, Organisationen und Netzwerke der extremen Rechten zwischen 1918 und 1933, Essen 2015, S. 73–88, hier S. 81. Zum Kapp-Lüttwitz-Putsch vgl. die immer noch maßgebliche und konzise Zusammenfassung bei Heinrich August Winkler, Weimar 1918–1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie, München 1993, S. 118–142, sowie Hagen Schulze, Freikorps und Republik. 1918–1920, Boppard am Rhein 1969, S. 202–318. 7 Angaben aus einem Personalbogen Brandls aus dem Jahr 1954, BArch, PERS 101 /82462; das Freikorps Epp wurde am 18. 4. 1919 offiziell in Bayerisches Schützenkorps umbenannt, dieses nach der Einnahme Münchens in 1. Bayerische Schützenbrigade (21), die sich aus den Schützenregimentern 41, 42 und dem Reiterregiment 21 zusammensetzte. Allgemein wurde die Einheit in der Öffentlichkeit aber weiterhin als »Freikorps Epp« bezeichnet. Ende August 1919 wurde die 1. Bay. Schützenbrigade in die vorläufige Reichswehr übernommen. 8 Bis Anfang April 1919 zählte das Freikorps Epp ca. 400 Mann, ab Mitte April ca. 700, zeitwillig sogar um 1.000, vgl. Bruno Thoß, Freikorps Epp, in: Historisches Lexikon Bayerns, www.historisches-lexikon-bayerns.de / Lexikon / Freikorps_Epp [20. 11. 2021].

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1919 und 1920 auch Soldaten aktiv, die später zu führenden National­ sozialisten wurden, darunter Adolf Hitler,9 Rudolf Heß, Ernst Röhm ­sowie Gregor und Otto Straßer.10 Ende 1919 war das Regiment rund 2.300 Mann stark.11 Das I. Bataillon des Schützenregiments Nr. 41 bestand aus sogenannten Zeitfreiwilligen, zum 15. März 1920 insgesamt 621 Mann.12 Das System, in Krisenzeiten »auf sehr kurze Zeit zur Behebung von Ruhestörungen« Zeitfreiwillige einzuberufen, ging auf eine Anordnung des Reichswehrministers Gustav Noske (SPD) vom 11.  September 1919 zurück.13 Häufig handelte es sich um Oberschüler und Studenten, die schon vorher eine rudimentäre militärische Ausbildung erhalten hatten.14 Oberst Franz Ritter von Epp hatte die Freiwilligen im März 1920 ursprünglich zur Unterstützung des Kapp-Lüttwitz-Putsches mobilisiert.15 9 Als angeblicher »Bildungsoffizier«, vgl. Othmar Plöckinger, Unter Soldaten und Agitatoren. Hitlers prägende Jahre im deutschen Militär 1918–1920, Paderborn u. a. 2013, S. 91 und S. 177. 10 Weiter z. B. Hans Frank, Eduard Dietl, Edmund Heines, Julius Schreck, Franz Six, August Schneidhuber und Alfred Jodl. Gebhard und Heinrich Himmler gehörten als Zeitfreiwillige zwischen Oktober 1919 und Mai 1920 der Schützenbrigade 21 an, zu der auch das Schützenregiment 41 gehörte, vgl. Michael Alisch, Heinrich Himmler. Wege zu Hitler. Das Beispiel Heinrich Himmler, Frankfurt a. M. u. a. 2010, S. 96 und S. 159 f. 11 Vgl. BayHStA Kriegsarchiv, Schützenbrigade 21, Nr. 366. 12 Vgl. Kurzes Tagebuch des I. Zeitfreiwilligen-Bataillons, beendet am 28. 4. 1920, ebenda. 13 Vgl. die Verfügung des Reichswehrministers Noske betreffend die Schaffung von Zeitfreiwilligen-Verbänden vom 11. 9. 1919, BayHStA Kriegsarchiv, Schützenbrigade 21, Nr. 24, Bl. 110. Zu den Zeitfreiwilligen vgl. die trotz starker ideologischer Prägung in zahlreichen Details hilfreiche Publikation von Erwin Könnemann, Einwohnerwehren und Zeitfreiwilligenverbände. Ihre Funktion beim Aufbau eines neuen imperialistischen Militärsystems (November 1918 bis 1920), Berlin 1971, S. 157–173, sowie Ingo Korzetz, Die Freikorps in der Weimarer Republik. Freiheitskämpfer oder Landsknechthaufen? Aufstellung, Einsatz und Wesen bayerischer Freikorps 1918–1920, Marburg 2009, S. 116–118. 14 Die Zeitfreiwilligen erhielten eine einfache militärische Ausbildung an Wochenenden, vgl. Katrin Himmler, Die Brüder Himmler. Eine deutsche Familiengeschichte, Frankfurt a. M. 2005, S. 79. 15 Vgl. Schulze, Freikorps, S. 279. Die Zeitfreiwilligen-Einheiten waren als verläss­ liche Stütze des Umsturzversuches vorgesehen. Ihnen kam lediglich aufgrund unzulänglicher Vorbereitung des Staatsstreichs keine entscheidende Rolle zu; vgl. ebenda, S. 277. Ähnlich Könnemann, der das Freikorps Epp zu den (in den Augen der Putschisten) zuverlässigsten Einheiten zählt, vgl. ders., Einwohnerwehren, S. 172 f. und S. 306. Rüdiger Bergien nennt den Kapp-Putsch daher »a ›mutiny‹ of war volunteers«, ders., Paramilitary Volunteers for Weimar Germany’s »Wehrhaftmachung«. How Civilians Were Attracted to Serve with Irregular Military

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Die überwiegende Zahl der Zeitfreiwilligen begrüßte diesen republikfeindlichen Umsturzversuch.16 Dass General Arnold von Möhl, der Münchner Befehlshaber des Reichswehr-Gruppenkommandos 4, dann eine ambivalente Rolle einnahm und sich in der Wahrnehmung der Freiwilligen auf die Seite der Republik stellte, stieß auf verbitterte Ablehnung.17 Im Tagebuch des Bataillons wurde wenige Tage später enttäuscht über das Scheitern der »ungenügend vorbereiteten, verzottelten Sache Kapp, die so vielversprechend aussah«, geklagt.18 Offensichtlich um das Aggressionspotential der Aktivisten nach außen zu lenken, wurde das I. Zeitfreiwilligen-Bataillon am 17. März als Teil des Freikorps Epp zur Bekämpfung des »Ruhraufstandes« ins Ruhrgebiet verlegt.19 Infolge des landesweiten Generalstreiks gegen die rechten Putschisten hatte dort eine hauptsächlich von USPD und KPD unterstützte »Rote Ruhr­ armee« die Kontrolle an sich gerissen. Die »heterogene Massenbewegung« wurde von Freikorps- und Reichswehreinheiten blutig niedergeschlagen.20 Es war paradox, dass die demokratische Reichsregierung zur Bekämpfung des linken »Ruhraufstandes« in erster Linie auf genau die Truppen zurückgriff, die sich zuvor mit dem Republikfeind Kapp solidarisiert hatten. Nun marschierte »die Auslese der gesamten deutschen Freikorpsbewegung, die alles andere als verfassungstreu war« ins Ruhrgebiet.21 Die Teilnahme Josef Brandls am Bürgerkrieg im Ruhrgebiet lässt sich aus den überlieferten Quellen nicht sicher belegen, die Indizien sprechen aber dafür.22 Units, in: Krüger, Christine G./Levsen, Sonja (Hrsg.), War Volunteering in Modern Times. From the French Revolution to the Second World War, Houndmills u. a. 2011, S. 189–210, hier S. 193. 16 Vgl. z. B. Tagebuch, BayHStA Kriegsarchiv, Schützenbrigade 21, Nr. 366: »Die Zeitfreiwilligen wollen tätig sein.« 17 Zugleich veranlasste Möhls Taktieren den bayerischen Ministerpräsidenten Johannes Hoffmann (SPD) zum Rücktritt. Vgl. Winkler, Weimar, S. 131; Hans Fenske, Konservativismus und Rechtsradikalismus in Bayern nach 1918, Bad Homburg v. d. H. 1969, S. 91–100 und Kai Uwe Tapken, Die Reichswehr in Bayern von 1919 bis 1924, Hamburg 2002, S. 337–356. 18 Tagebuch, BayHStA Kriegsarchiv, Schützenbrigade 21, Nr. 366. 19 Die Stimmung galt nun wieder als »begeistert«, vgl. ebenda. 20 Vgl. Johannes Hürter, Putsch von rechts. Im März 1920 übernehmen Freikorps die Macht  – und die Reichswehr schaut zu, in: Erenz, Benedikt / Staas, Christian / Ullrich, Volker / Scholter, Judith / Flohr, Markus (Hrsg.), 1918 /19 – Die deutsche Revolution, Hamburg 2018, S. 102–107, hier S. 106 (Zitat); George Eliasberg, Der Ruhrkrieg von 1920, Bonn 1974. 21 Schulze, Freikorps, S. 309. 22 Vgl. den Bestand Schützenbrigade 21, BayHStA Kriegsarchiv. Von den beiden Zeitfreiwilligen-Bataillonen des Schützenregiments 41 marschierte das I. ins

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Am 1.  April 1920 trafen das Freikorps Epp und die Rote Ruhrarmee bei Pelkum (heute ein Stadtteil von Hamm) aufeinander.23 Die Angaben zu den Opferzahlen sind widersprüchlich, Schätzungen gehen von bis zu 300 getöteten bzw. ermordeten Angehörigen der Ruhrarmee aus, darunter auch »Arbeitersamariterinnen«, Frauen, die Verwundeten halfen.24 Das Freikorps Epp hatte kaum Verluste. Ab Mitte April, zum Beginn des Sommersemesters, wurden die überwiegend studentischen Zeitfreiwilligenverbände nach Hause geschickt.25 Im kollektiven Gedächtnis an der Ruhr blieb das Hausen »der Bayern« lange haften.26 Im Juli 1920 legte Brandl an der Oberrealschule Passau die Abiturprüfung ab, bevor er sich zum Wintersemester 1920 /21 an der PhilosophischTheologischen Hochschule Passau immatrikulierte.27 Vermutlich wollte er ursprünglich katholischer Priester werden. Bereits zum Sommersemester 1921 nahm Brandl dann allerdings das Studium der Rechte an der Ludwig-Maximilians-Universität München auf. Im folgenden Jahr trat er Ruhrgebiet, das II. blieb in München. Brandls Einsatz im I. Bataillon ist durch seine eigenen Angaben in der NS-Zeit belegt. Eine bewusste falsche Angabe in einem 1942 entstandenen Lebenslauf zur Konstruktion eines prestigeträchtigen Kampfeinsatzes ist grundsätzlich nicht auszuschließen, vgl. Vorschlag zur Ernennung zum Oberregierungsrat, BStU, MfS HA IX/11 PA 5439, Bl. 13. 23 Vgl. Jürgen Lange, Die Schlacht bei Pelkum im März 1920. Legenden und Dokumente, Essen 1994, S. 164–172. 24 Schlacht von Pelkum, in: »Westfälische Geschichte«, www.westfaelische-geschichte.de/chr695 [20. 11. 2021]. 25 Lange, Pelkum, S. 200. – Das Zeitfreiwilligen-Bataillon I befand sich vom 22. bis 24. 4. 1920 auf dem Rückmarsch aus dem Ruhrgebiet. Bis zum 30.4. wurde es ­demobilisiert und aufgelöst. Brandls Dienstzeit endete bereits am 20.4.; vermutlich wurde er vorzeitig entlassen. Tagebuch, BayHStA Kriegsarchiv, Schützenbrigade 21, Nr. 366. Dienstzeitbescheinigung Brandls, BStU, MfS HA IX/11 PA 5439, Bl. 13. 26 Lange, Pelkum, S. 171. 27 Zu diesem Zeitpunkt noch unter dem Namen Lyzeum. Vgl. Franz Xaver Eggersdorfer, Die Philosophisch-Theologische Hochschule Passau. Dreihundert Jahre ihrer Geschichte, Passau 1933. Vgl. ebenda, S. 395, einen Hinweis, dass der Eintritt ins Passauer Lyzeum durchaus kein Gegensatz zu Brandls Freikorpsmitgliedschaft war: »Viel wäre noch zu erzählen von den nationalen Leistungen der Studentenschaft in den Revolutionsjahren 1918–1920, in denen sie zu Zeiten tagsüber im friedlichen Schwarz ihren Studien nachgingen oder den Dienst in der Domkirche versahen, während sie nachts mit Gewehr und Handgranate Stadt und Vaterland schützten.« Zur Aktivität der Alumnen des Lyzeums in der örtlichen Einwohnerwehr während und nach dem »Kapp-Putsch« vgl. auch Franz Riemer, 100 Jahre Priesterseminar und Priestererziehung in Passau. Zur Jahrhundertfeier des Bischöflichen Klerikerseminars in Passau, Passau 1928, S. 45–47.

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in das Corps Bavaria München ein.28 In der Weimarer Republik gehörten über 60 Prozent aller männlichen Studenten einer Verbindung an, von denen die meisten einen stark ausgeprägten Nationalismus und Antisemitismus vertraten.29 Das pflichtschlagende Corps Bavaria gehörte (und gehört) zu den seltenen »Lebenscorps«, einer besonders traditionsbewussten und strikten Korporationsform, die Doppelmitgliedschaften und sogar Freundschaften und Kartelle mit anderen Verbindungen ausschließt. Zum Wintersemester 1923 /24 wechselte Brandl nach Würzburg, wo er 1924 die Erste juristische Staatsprüfung ablegte und 1926 mit einer Arbeit über »Das abgekürzte Verfahren vor dem Einzelrichter im Strafprozess«30 »cum laude« promovierte. Zwischen 1924 und 1927 absolvierte Brandl den juristischen Vorbereitungsdienst am Amts- und Landgericht Passau und war beim Stadtrat und Bezirksamt Passau tätig. Im November 1927 legte er die zweite juristische Staatsprüfung ab,31 um dann zunächst als Anwalt zu arbeiten. Von 1928 bis 1938 praktizierte er in Passau. Zwischenzeitlich hatte er am 26. August 1930 geheiratet; aus der Ehe gingen drei Kinder hervor.32 Neben seinem Beruf widmete sich Brandl in Passau dem Rudersport. Er war seit Mitte der 1920er Jahre ein aktives und auch bei Wettkämpfen erfolgreiches Mitglied des »Passauer Rudervereins von 1874 e. V.«;33 in den Jahren 1934 bis 1936 nahm er zudem das Amt des ersten Vorsit28 Vgl. Kösener Corpslisten von 1930 und Gesamtverzeichnis des Corps Bavaria München von 2016, Auskunft des Instituts für Hochschulkunde Würzburg vom 16. 2. 2019. 29 Vgl. Alexander Graf, Studentenverbindungen zwischen Erstem Weltkrieg und Drittem Reich. Umworben und bekämpft, in: Schmidt / Sturm / Livi (Hrsg.), Wegbereiter des Nationalsozialismus, S. 89 und S. 92 f. 30 Josef Brandl, Das abgekürzte Verfahren vor dem Einzelrichter im Strafprozess. Inaugural-Dissertation der Juristischen Fakultät der Julius-Maximilians-Universität zu Würzburg, 1926. 31 Vgl. Brandls Angaben in seiner Vernehmung am 24. 5. 1966 im Zuge der Ermittlungen gegen Hans-Walter Zinser und Hans-Adolf Asbach durch die Generalstaatsanwaltschaft bei dem Landgericht Berlin und die Staatsanwaltschaft Lübeck (vgl. hierzu unten S. 328); LA Berlin, B. Rep. 058, Nr. P (K) Js 7 /68 Lo Bm-Bz Vernehmung Dr. Josef Brandl, S. 2. Das Vernehmungsprotokoll findet sich auch in BArch, B 162 /4138. 32 Geboren 1931, 1936 und 1944. Stadtarchiv Heilbronn, B 15, Meldekarte »Brandl, Josef«. 33 Vgl. Festschrift zur Feier des 60-jährigen Bestehens des Passauer Ruder-Vereins e. V., gegründet 1874, [Passau] 1934, S. 32 und S. 36; zur Datierung des Vereinseintritts vgl. Nachruf des Passauer Rudervereins auf Brandl, in: Neue Passauer Presse, 20. 8. 1991, S. 27.

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zenden wahr. 34 Die Wahl dieser Sportart ist auch ein Indiz für die politische Einstellung: Viele organisierte Ruderer der damaligen Zeit besaßen eine deutschnationale und dann auch für den Nationalsozialismus offene Grundhaltung.35 In der Festschrift zum 60-jährigen Bestehen des Passauer Rudervereins aus dem Jahr 1934 hieß es dementsprechend: »[…] kerndeutsches Fühlen und Handeln war Voraussetzung für die Aufnahme im Verein seit allen Zeiten, vor allem seit die Kriegsgeneration am Steuer des Vereins stand, seit 1919«.36 Einen gewissen sportlichen Leistungsabfall im Jahr 1933 begründete die Festschrift damit, »daß der 30. Januar 1933 tiefsten Widerhall in allen Herzen fand und in der Folgezeit Mann für Mann an Aufgaben herantrat, die zunächst seine Arbeitskraft völlig in Anspruch nahmen«.37 Ob der 30. Januar 1933 auch in Josef Brandls »Herzen« einen »Widerhall« fand, bleibt offen – fest steht, dass er zum 1. Mai 1933 in die NSDAP eintrat.38 Nachdem Hitler am 30.  Januar 1933 Reichskanzler geworden war und vor allem nach den starken Stimmenzuwächsen der NSDAP bei der Reichstagswahl vom 5. März 1933, die bereits unter den Bedingungen der entstehenden Diktatur stattgefunden hatte, wollten zahlreiche neue Bewerber aus den unterschiedlichsten Motiven in die Partei eintreten. Bereits zeitgenössisch wurden sie oft als »Märzgefallene« bezeichnet, eigentlich ein Begriff für die toten Demokraten der Märzrevolution von 1848,

34 Ebenda. 35 Vgl. Anne Hutmacher, Die Entwicklung des Frauenruderns in Deutschland, Diss. Köln 2010, S. 176. Zur Intensivierung des Nationalismus im Deutschen Ruderverband in den 1920er Jahren vgl. Horst Ueberhorst, Hundert Jahre Deutscher Ruderverband. Eine historisch-kritische Würdigung, Minden 1983, S. 74. 36 Festschrift zur Feier des 60-jährigen Bestehens des Passauer Ruder-Vereins e. V., S. 26. Aufschlussreich ist ebenda auch die Schilderung eines Festakts im Rathaussaal anlässlich der im August 1932 in Passau stattfindenden deutschen Rudermeisterschaft: Durch die Reden des damaligen ersten Vorsitzenden des Vereins Franz Schneider und des zweiten Vorsitzenden des Deutschen Ruderverbandes »Landgerichtsrat [Oskar] Cordes« sei »die Hoffnung auf bessere Tage und das kraftvolle Bekenntnis der gesamten deutschen Ruderei, nicht zu rasten, bis Deutschland seiner Sklavenketten los werde« geklungen. »Ergriffen von der Weihe der Stunde klang das Deutschlandlied im Rathaussaal und brach sich tausendfältig in der Wölbung und an den Bildern aus der heldischen Nibelungensage als neuer Treuschwur ans geknechtete Vaterland.« Der 30-seitige Text der Festschrift ist nicht namentlich gekennzeichnet. 37 Ebenda. 38 BArch, R 9361-VIII Kartei/3741062.

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Abb. 6: Josef Brandl, Foto aus dem NSDAP-­ Mitgliedsbuch, 1935

nun eine sarkastische Titulierung vermeintlicher Opportunisten.39 Um sich vor weiteren »Konjunkturrittern« (so ein NS-Begriff40) zu schützen, verhängte die NSDAP zum 1. Mai 1933 einen strikten Aufnahmestopp. Bis zu diesem Zeitpunkt eingegangene Anträge arbeitete man sukzessive ab und datierte sie sämtlich auf den 1. Mai. Es sollte bis ins Jahr 1936 dauern, bis alle Anträge gesichtet waren. Die Neumitglieder durften noch keine Uniform tragen und unterlagen einer zweijährigen Bewährungszeit.41 Brandls Mitgliedsnummer 2.526.738 weist darauf hin, dass er seinen Antrag schon bald nach der sogenannten »Machtergreifung« gestellt hat.42 In den Beständen des ehemaligen Berlin Document Center im Bundesarchiv Berlin ist das NSDAP-Mitgliedsbuch Brandls überliefert; ein Porträtfoto, 39 Vgl. Weigel, »Märzgefallene«, S. 92; Jürgen W. Falter, Die »Märzgefallenen« von 1933. Neue Forschungsergebnisse zum sozialen Wandel innerhalb der NSDAPMitgliedschaft während der Machtergreifungsphase, in: GuG 24 (1998), S. 595–616; Khachatryan, Junge Kämpfer, S. 203 f., und Schmitz-Berning, Vokabular, S. 399. 40 Vgl. Otto Basler (Hrsg.), Der Große Duden. Rechtschreibung der deutschen Sprache und der Fremdwörter, Leipzig 111934, S. 293. 41 Vgl. Falter, Wer durfte NSDAP-Mitglied werden, S. 21. 42 Andere Neumitglieder mit demselben Aufnahmedatum aus unserer Untersuchungsgruppe des ministeriellen Führungspersonals hatten Mitgliedsnummern, die bis zu 700.000 Ziffern höher liegen.

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das einen Datumsstempel vom 15. Juni 1935 trägt, zeigt den Mittdreißiger mit damals modischem Hitlerbärtchen (s. Abb. 6). Von 1933 bis 1936 gehörte Brandl der SA-Reserve an. Diese stand zum damaligen Zeitraum nur Männern über 45 Jahren oder Männern offen, die vom DNVP-nahen »Stahlhelm« oder dem »Kyffhäuserbund«, dem Dachverband der Kriegervereine, in die SA überführt worden waren.43 Der Jurist trat zudem der NSV und dem Nationalsozialistischen Rechtswahrerbund bei,44 nach eigener späterer Aussage wurde ihm eine SS-Mitgliedschaft angetragen, die er abgelehnt habe. 1936 wechselte Brandl von der SA zum Nationalsozialistischen Kraftfahrkorps (NSKK).45 Im selben Jahr bekleidete er dort den Rang eines NSKK-Obertruppführers, was einem Oberfeldwebel der Wehrmacht entsprach. Eine SA-Mitgliedschaft war spätestens seit dem sogenannten »Röhm-Putsch« im Sommer 1934 für einen Akademiker nicht mehr karriereförderlich. Brandl gehörte infolge seines Geburtsjahrs 1901 einem sogenannten »Weißen Jahrgang« an, das heißt, er war bei der Wiedereinführung der Wehrpflicht 1935 zu alt für eine volle Grundausbildung. Daher leistete er von Juli 1935 bis Mai 1936 einen verkürzten Wehrdienst im niederbayerischen Deggendorf, den er im Range eines Unteroffiziers beendete.46 Bis 1938 absolvierte er wiederholt Wehrübungen in Ersatzeinheiten der schweren Artillerieregimenter 7 und 43 in Landshut.47 Mitte der 1930er Jahre nahm Brandls berufliche Karriere Fahrt auf. Von 1936 bis 1938 leitete er in Eschenbach / Oberpfalz und Amberg die Zweigstellen der »Reichsumsiedlungs-Gesellschaft m. b.H.« (RUGes) mit insge-

43 Vgl. Paul Hoser, Sturmabteilung (SA), 1921–1923 /1925–1945, in: Historisches Lexikon Bayerns, www.historisches-lexikon-bayerns.de / Lexikon / Sturmabteilung_(SA),_1921–1923 /1925–1945 [20. 11. 2021]. 44 Vgl. Brandls Angaben in seiner Vernehmung am 24. 5. 1966, LA Berlin, B. Rep. 058, Nr. P (K) Js 7 /68 Lo Bm-Bz, S. 3. 45 Zum NSKK vgl. Hochstetter, Motorisierung. Die Mitgliedschaft im NSKK wurde häufig von Personen gewählt, die auch aus opportunistischen Gründen Regimenähe demonstrieren wollten, ohne sich durch einen Beitritt zur SA, SS o. ä. zu stark kompromittieren zu wollen. 46 Meldeliste, Stadtarchiv Passau; WASt. Zum Wehrdienst grundsätzlich Absolon, Wehrgesetz. Zum verkürzten Wehrdienst der »weißen Jahrgänge« vgl. Karl-Volker Neugebauer (Hrsg.), Grundkurs deutsche Militärgeschichte, Bd. 2: Das Zeitalter der Weltkriege. Völker in Waffen, bearb. von Michael Busch und Ernst Willi Hansen, München 2006, S. 270. 47 Beiblatt zum Melde- und Personalbogen, BArch, PERS 101 /82463.

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samt rund 50 Mitarbeitern.48 Die RUGes war auf der Grundlage des »Gesetzes über die Landbeschaffung für die Zwecke der Wehrmacht« vom 29.  Mai 1935 gegründet worden, um im Zuge der deutschen Kriegsvorbereitung reichsweit Grundstücke für Truppenübungsplätze und Kasernen zu akquirieren. Brandl war für die Umsiedlungsmaßnahmen zuständig, die der Ausbau der oberpfälzischen Truppenübungsplätze Hohenfels und Grafenwöhr erforderte. Allein für Grafenwöhr mussten mehrere Tausend Menschen ihre Heimat verlassen, was eine Vielzahl von Entschädigungs- und Enteignungsverfahren nach sich zog. Die überlieferten Quellen zeigen, dass Brandl mit den Haus und Grund verlierenden Landwirten und Einwohnern im Dezember 1938 teilweise Vergleiche schloss, in anderen Fällen aber auch hart und unnachgiebig verhandelte und beim Preußischen Oberverwaltungsgericht in Revision ging, um geringere Entschädigungszahlungen durchzusetzen.49 Ein Dienstzeugnis von 1938 bescheinigte Brandl, »einer der besten Zweigstellenleiter der Reichsumsiedlungsgesellschaft« gewesen zu sein.50 Nach eigener Angabe wurde Brandl durch einen Beamten des Reichswirtschaftsministeriums, den er bei der RUGes kennengelernt hatte, eine Stelle in der wehrwirtschaftlichen Abteilung des »Reichsstatthalters« in Wien – zunächst Arthur Seyß-Inquart, ab Mai 1939 Josef Bürckel – angeboten, die er am 1.  Dezember 1938 antrat.51 Brandls Aufgabe dort ist 48 Im Personalbogen vom 2. 5. 1954 gab Brandl an, von 1936 bis 1938 zeitgleich Anwalt in Passau und Geschäftsführer der RUGes gewesen zu sein; BArch, PERS 101 /82462. Laut Laufbahnbescheinigung vom August 1942 war Brandl dagegen von Mai 1928 nur bis Juli 1936 Rechtsanwalt beim Landgericht in Passau, vgl. Laufbahnbescheinigung im Beförderungsvorschlag vom August 1942, BStU, MfS HA IX/11 PA 5439, Bl. 12. Laut Meldebescheinigung der Stadt Passau meldete Brandl sich am 7. 11. 1936 nach Eschenbach ab, seine Familie folgte ihm Anfang 1937, Stadtarchiv Passau, Auszug Meldeliste, »Brandl, Dr. Josef«. Zur RUGes vgl. Max Plassmann, »Auftretende Härten gehen ausschließlich zu Lasten der SS«. Die Reichsumsiedlungsgesellschaft im besetzten Polen, in: VfZ 64 (2016), S. 255–290, und Peter Ponnath, Das vergessene Land. Der Truppenübungsplatz Grafenwöhr [Dokumentarfilm], Fürth [1992]. 49 Vgl. die Akten der Reichsstelle für Landbeschaffung im OKW, BArch, RW 43 /146, 176, 285, 289 und 540. Die von Rusinek, Fall Greifeld, S. 292, insinuierte entschädigungslose Enteignung jüdischer Grundbesitzer auch durch Brandl ließ sich im Rahmen unserer Studie anhand der überlieferten Quellen im BArch Freiburg nicht bestätigen. 50 Abschrift Dienstzeugnis der RUGes vom 12. 12. 1938, BArch, PERS 101 /82463. 51 Vgl. Brandls Angaben in seiner Vernehmung am 24. 5. 1966, LA Berlin, B. Rep. 058, Nr. P (K) Js 7 /68 Lo Bm-Bz, Bl. 2B. Rusineks These, dass es sich bei dem Angehörigen des Reichswirtschaftsministeriums um Eberhard Barth gehandelt

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noch weitgehend unklar. Vermutlich trifft Rusineks Kennzeichnung als »Kriegsertüchtigungsmanager« zu, der die österreichische Wirtschaft und Rüstungsindustrie auf den Krieg vorbereitete.52 Eine Schlüsselfigur für Brandls weitere Karriere – möglicherweise auch ein Förderer – war von diesem Zeitpunkt an Otto Gustav Wächter (1901–1949), ein früher österreichischer Nationalsozialist und hoher SS-Führer. Der promovierte Jurist war 1934 an zentraler Stelle am nationalsozialistischen Wiener JuliPutsch beteiligt gewesen und fungierte 1938 /39 als Staatskommissar für Seyß-Inquart.53 Ab Anfang September 1939 leistete Brandl bei der in Wien aufgestellten 14. Armee Kriegsdienst als Wehrmachtbeamter.54 In einer späteren Zeugenvernehmung gab er an, »mit dem Stab des AOK [Armeeoberkommando] 14 zur Front im Osten« gekommen zu sein.55 Dem Stab gehörten haben könnte, bleibt eine Vermutung. Vgl. Rusinek, Fall Greifeld, S. 292 und S. 313. Es könnte sich ebenso gut um den im »Beiblatt zum Melde- und Personalbogen« genannten Ministerialrat Pahlke gehandelt haben, vgl. BArch, PERS 101 /82463, Bl. 5. Zum Reichsstatthalter vgl. Gerhard Botz, Die Eingliederung Österreichs in das Deutsche Reich. Planung und Verwirklichung des politisch-administrativen Anschlusses 1938–1940, Wien 1976, und ders., Nationalsozialismus in Wien. Machtübernahme und Herrschaftssicherung 1938 /39, Buchloe 1988, sowie Johannes Koll, Arthur Seyß-Inquart und die deutsche Besatzungspolitik in den Niederlanden 1940–1945, Wien 2015, S. 53–60. Rusinek bezeichnet Brandls eigene Formulierung »wehrwirtschaftliche Abteilung beim Reichsstatthalter«, auf die d. Vf. sich stützen, als ungenau und verortet Brandl bei der Wehrwirtschaftsinspektion XVII. Das erscheint jedoch spekulativ. 52 Rusinek, Fall Greifeld, S. 297. 53 Zu Wächter – gelegentlich auch Otto Freiherr von Wächter (das Adelsprädikat durfte er in Österreich ab 1919 nicht mehr führen) –, der 1949 unter falschem Namen in einer katholischen Institution in Rom starb, vgl. Philippe Sands, Die Rattenlinie. Ein Nazi auf der Flucht. Lügen, Liebe und die Suche nach der Wahrheit, Frankfurt  a. M. 2020; Wolfgang Graf, Österreichische SS-Generäle. Himmlers verlässliche Vasallen, Klagenfurt 2012, S. 68–76, S. 209–215. Hinweise auf ein ­enges Dienstverhältnis zwischen Wächter und Brandl gibt die Zeugenvernehmung Brandls am 24. 5. 1966, LA Berlin, B. Rep. 058, Nr. P (K) Js 7 /68 Lo Bm-Bz, passim. 54 Vgl. BArch, PERS 101 /82463; WASt. Zu den Wehrmachtbeamten vgl. Absolon, Wehrgesetz, S. 202–210. »Verwendung beim AOK XIV u. den Behörden der besetzten Gebiete in Polen und der Militärverwaltung Italien«, BArch, B 106 /11466, B 138 /40317. Zur 14. Armee vgl. Georg Tessin, Verbände und Truppen der deutschen Wehrmacht und Waffen-SS im Zweiten Weltkrieg 1939–1945, Bd. 3: Die Landstreitkräfte 6–14, Bissendorf 21974. 55 Vernehmung Brandls am 24. 5. 1966, LA Berlin, B. Rep. 058, Nr. P (K) Js 7 /68 Lo Bm-Bz, S. 2. Zu dem Ermittlungsverfahren gegen zwei ehemalige Kreishauptleute im Generalgouvernement vgl. unten S. 328–331. Das AOK XIV ging aus der

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auch bisherige Mitarbeiter der Wehrwirtschaftsabteilung des Reichsstatthalters in Wien an. Mit diesen und anderen Verwaltungsspezialisten, die mit der Wehrmacht ins Feld gerückt waren, wurden Ende Oktober 1939 die zivilen Distriktsverwaltungen im besetzten Polen gebildet. So wurde aus der Dienststelle »Chef der Zivilverwaltung beim AOK 14« die Distriktsverwaltung Krakau,56 die dem Gouverneur (oder auch Distriktchef) Otto Wächter unterstand. Die vier Distrikte Warschau, Radom, Krakau und Lublin bildeten das »Generalgouvernement«, den deutsch besetzten und – im Gegensatz zu den sogenannten Reichsgauen Wartheland, Danzig-Westpreußen und dem Regierungsbezirk Zichenau  – nicht an das Reich angeschlossenen Teil Polens.57 Generalgouverneur wurde der 1946 in Nürnberg hingerichtete Hans Frank.58 Innerhalb der Distrikte bildeten die Kreis- und Stadthauptmannschaften die unterste Hierarchiestufe der deutschen Zivilverwaltung.59 Als Brandl 1966 in der eben schon zitierten Zeugenvernehmung gefragt wurde, inwieweit man überhaupt von einer »Zivilverwaltung« im Generalgouvernement sprechen könne, wenn deren Leiter (Wächter) einen hohen SS-Rang aufweise, antwortete er ausweichend.60 Tatsächlich waren die Ermittler an einem entscheidenden Punkt, denn unpolitisch war die sogenannte Zivilverwaltung keineswegs. Im Generalgouvernement sollte durch eine Verschmelzung von Partei und staatlichen Behörden genau die Form nationalsozialistischer Verwaltung entstehen, deren Aufbau im

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resgruppe 5 in Wien hervor und war 1939 in Polen, ab 1943 in Italien im Einsatz. Laut Einstellungs- und Beförderungsunterlagen begann sein Kriegsdienst dagegen erst am 2. 9. 1939, vgl. BArch, B 106 /11466, B 138 /40317. Vernehmung Brandls am 24. 5. 1966, LA Berlin, B. Rep. 058, Nr. P (K) Js 7 /68 Lo Bm-Bz, S. 2, und Beiblatt zum Melde- und Personalbogen, BArch, PERS 101 /82463. Vgl. auch Bernhard Rosenkötter, »Deutschmachung auf wirtschaftlichem Gebiet«. Zur Tätigkeit der »Haupttreuhandstelle Ost« in den annektierten polnischen Gebieten 1939–1945, in: Bulletin für Faschismus und Weltkriegsforschung 18 (2002), S. 3–27, hier S. 8. Der Baedeker-Atlas von 1943 sprach von einem »deutschen Nebenland«; vgl. Jens Wietschorke, »Baedekers Generalgouvernement«. Raumrepräsentation und Geopolitik in einem Reisehandbuch aus dem Jahr 1943, in: Mittelweg 36 (2014), S. 99– 122. Zu Frank vgl. Dieter Schenk, Hans Frank. Hitlers Kronjurist und Generalgouverneur, Frankfurt a. M. 2008. Vgl. Markus Roth, Herrenmenschen. Die deutschen Kreishauptleute im besetzten Polen. Karrierewege, Herrschaftspraxis und Nachgeschichte, Göttingen 2009, S. 68. Vernehmung Brandls vom 24. 5. 1966, LA Berlin, B. Rep. 058, Nr. P (K) Js 7 /68 Lo Bm-Bz, S. 27.

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Reich selbst über Ansätze nicht hinausgekommen war. Aus diesem Grund hatte Hitler die Verwaltung auch rasch der Zuständigkeit der Wehrmacht entzogen, da ihm deren anfängliche völkerrechtliche Skrupel im »harten Volkstumskampf« hinderlich schienen.61 Die Chefs der Zivilverwaltung waren Hitler unmittelbar unterstellt, es herrschte das Führerprinzip. Als neuer Distriktchef nahm der Himmler-Günstling Wächter seine »österreichische […] Seilschaft«62 nach Krakau mit, darunter als einen der vertrautesten Mitarbeiter auch Brandl.63 Die mittlere Führungsschicht der in die besetzten Ostgebiete versetzten deutschen Beamten wird gelegentlich und überwiegend wohl zu Recht als »negative Auslese« und »Ostnieten« bezeichnet.64 Auf Brandl trifft diese Einordnung aufgrund seiner erwiesenen Verwaltungsqualifikation allerdings nicht zu, im Gegenteil ist er wohl eher den »verdienten« Nationalsozialisten zuzurechnen, die gezielt auf leitenden Positionen in den besetzten Gebieten Osteuropas platziert wurden.65 Unter Wächter fungierte der am 19.  Juli 1940 zum Regierungsrat ernannte Brandl als Leiter der »Abteilung Wirtschaft« beim Gouverneur des Distrikts Krakau.66 Als solcher war er, wie das Deutsche Zentralarchiv Potsdam im Oktober 1960 auf Anfrage der DDR-Staatssicherheit mitteilte, zuständig

61 Hitler zitiert nach Roth, Herrenmenschen, S. 67. Vgl. auch Rosenkötter, »Deutsch­ machung auf wirtschaftlichem Gebiet«, S. 7 f. 62 Sandkühler, »Endlösung«, S. 85. 63 Vgl. Graf, Österreichische SS-Generäle, S. 211. Zu Himmler und Wächter vgl. D. Pohl, Judenverfolgung, S. 77; zu Brandl vgl. Sandkühler, »Endlösung«, S. 86. – Die Titulierung Brandls als »Austrofaschist« in Rusinek, Fall Greifeld, S. 289, ist ahistorisch, da sich der Begriff Austrofaschismus auf den österreichischen Ständestaat vor 1938 bezieht, mit dem Brandl, selbst wenn er Nationalsozialist war, nichts zu tun hatte. 64 Sandkühler, »Endlösung«, S. 31 f. und S. 77–83; Stephan Lehnstaedt, »Ostnieten« oder Vernichtungsexperten? Die Auswahl deutscher Staatsdiener für den Einsatz im Generalgouvernement Polen 1939–1944, in: ZfG 55 (2007), S. 701–721. 65 Lehnstaedt, »Ostnieten«, S. 720. Auch Karsten Linne, Arbeiterrekrutierung in Ostgalizien 1941 bis 1944. Zwischen Freiwilligkeit und Menschenjagden, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 62 (2014), S. 61–88, widerspricht zumindest für die Leitungsebene der Arbeitsverwaltungen Musiałs Bild der Negativauslese, S. 65 f. Für die Stellenbesetzungen in den besetzten Gebieten war im RMI Wilhelm Stuckart zuständig, den der ein Jahr ältere Brandl möglicherweise aus dem Jurastudium in München kannte. Zu Stuckart vgl. Jasch, Stuckart. 66 IfZ-Archiv, Gs.5.18 /14, Schwurgericht LG Stuttgart, Strafverfahren gegen Rudolf Röder u. a.

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»für Fragen der Organisation der gewerblichen Wirtschaft, für die Vorbereitung von Gesetzen und Verordnungen, für Zollfragen, für Mineralölbewirtschaftung, für die Bewirtschaftung von Rohstoffen und die Betreuung der einschlägigen Industriebetriebe sowie für Fragen der Weiterführung, Schließung und Neueröffnung von Betrieben und die Verbrauchsregelung und Steuern und Abgaben.«67 In was für einem Umfeld war Brandl nun an verantwortlicher Stelle tätig? Die ideologisch geprägte nationalsozialistische Wirtschaftspolitik im Generalgouvernement zielte auf eine rücksichtslose Ausplünderung des polnischen Staates und seiner Bevölkerung. Hans Frank verstand das Generalgouvernement zynisch als »eine Art Kehrichthaufen des Reiches«.68 Bevor ab 1941 eine mittelfristige Germanisierung des »neu erschlossenen östlichen Koloniallandes«69 geplant wurde, sah man dessen Bedeutung ursprünglich nur in einer Ausbeutung aller Rohstoffe und industriellen Anlagen und in einer Reserve an Wanderarbeitern für das Reich.70 Loose zufolge war im Grunde »gegen den polnischen Staat und seine Bevölkerung ein ­Liquidationsverfahren eröffnet worden mit […] einer nach weltanschaulichen und rassischen Kriterien selektierenden Gläubigerbefriedigung«.71 Die Abwicklung dieses »Liquidationsverfahrens« bildete neben den wehrwirtschaftlichen Aufgaben den zentralen Zuständigkeitsbereich Brandls als Leiter der Wirtschaftsabteilung. Was dies konkret hieß, kann auf der Grundlage des bisherigen Forschungsstandes zur deutschen Wirtschaftsverwaltung im Generalgouvernement und der von uns ausgewerteten Vernehmungsprotokolle Brandls aus den 1960er Jahren, die im Kontext von

67 Auskunft des Deutschen Zentralarchivs Potsdam vom 18. 10. 1968, BStU, MfS HA IX/11 PA 5439, Zitat ebenda, Bl. 6 f. 68 Vgl. Abteilungsleitersitzung vom 19. 1. 1940, in: Hans Frank, Das Diensttagebuch des deutschen Generalgouverneurs in Polen 1939–1945, hrsg. von Werner Präg und Wolfgang Jacobmeyer, Stuttgart 1975, S. 91. 69 So die Formulierung im Vorwort zu der volkswirtschaftlichen Bestandsaufnahme von Peter-Heinz Seraphim, Die Wirtschaftsstruktur des Generalgouvernements, Krakau 1941, S. 5. 70 Rosenkötter, »Deutschmachung auf wirtschaftlichem Gebiet«, S. 9, und Ingo Loose, Die nationalsozialistische Wirtschaftspolitik in Polen als Gegenstand der Forschung und der Instrumentalisierung im politischen Raum, in: Bingen, Dieter / Loew, Peter Oliver / Wolf, Nikolaus (Hrsg.), Interesse und Konflikt. Zur politischen Ökonomie der deutsch-polnischen Beziehungen, 1900–2007, Wiesbaden 2008, S. 185–200, hier S. 188. 71 Ebenda, S. 187.

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drei Ermittlungsverfahren gegen andere Personen entstanden,72 allerdings nur bruchstückhaft skizziert werden. Schon am Tag der Einrichtung des Generalgouvernements am 26. Oktober 1939 erließ Hans Frank eine »Verordnung über die Einführung des Arbeitszwangs für die jüdische Bevölkerung«. Nach einer Durchführungsverordnung vom 12. Dezember 1939 waren dann alle »Juden«73 zwischen dem 14. und dem 60. Lebensjahr zur Zwangsarbeit für deutsche Behörden, beim Militär und vor allem in kriegswichtigen Betrieben verpflichtet.74 Der Hintergrund des Arbeitszwanges war, dass durch die Deportation polnischer Zwangsarbeiter ins Reich im Generalgouvernement selbst Arbeitskräfte fehlten.75 Diese Lücke sollte nun mit jüdischen Zwangsarbeitern gefüllt werden, deren Ausbeutung somit auch kriegswichtig war.76 Bis 1942 war formal allein die Arbeitsverwaltung für den jüdischen Arbeitseinsatz verantwortlich. Allerdings reklamierten zunehmend andere Dienststellen, vor allem die SS, ebenfalls die Zuständigkeit für die jüdischen Zwangsarbeiter.77 Als Leiter der Wirtschaftsabteilung war Brandl formal nicht mit der Organisation des Zwangsarbeitereinsatzes befasst, mittelbar – mit dem Einsatz der Zwangsarbeiter in der Wirtschaft und mit deren Arbeitsbedingungen – allerdings sehr wohl. Ein weiteres Arbeitsfeld, mit dem Brandl als Leiter der Wirtschafts­ abteilung in Krakau zu tun hatte, war die Treuhandverwaltung. Bereits am 19. Oktober 1939 hatte Hermann Göring als Beauftragter für den Vierjahresplan angeordnet, dass aus dem Generalgouvernement »alle für die deutsche Kriegswirtschaft brauchbaren Rohstoffe, Altstoffe, Maschinen usw. herausgenommen werden [müssten]. Betriebe, die nicht für die notdürftige Aufrechterhaltung des nackten Lebens der Bewohnerschaft unbedingt notwendig sind, müssen nach Deutschland überführt werden. […] Um die Gebiete, insbesondere auch die zum 72 Vgl. unten S. 326–331. 73 Gemäß der rassistischen NS-Ideologie nicht nur Angehörige der jüdischen Religionsgemeinschaft, sondern alle Menschen »jüdischen Blutes«. 74 Vgl. Mario Wenzel, Die deutsche Arbeitsverwaltung und der Arbeitszwang für Juden im Distrikt Krakau 1939–1944, in: Linne, Karsten (Hrsg.), Arbeitskräfte als Kriegsbeute. Der Fall Ost- und Südosteuropa 1939–1945, Berlin 2011, S. 172–196, hier S. 175. 75 Vgl. Linne, Arbeiterrekrutierung, S. 61. 76 Vgl. Stephan Lehnstaedt, Die deutsche Arbeitsverwaltung im Generalgouvernement und die Juden, in: VfZ 60 (2012), S. 409–440, hier S. 410. 77 Vgl. Linne, Arbeiterrekrutierung, S. 65, und Lehnstaedt, Arbeitsverwaltung, S. 415.

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Reich tretenden, dem vom Führer verfolgten Ziel am besten dienstbar zu machen, muss das aus polnischer Hand für das Reich zu übernehmende Eigentum an Grundstücken, Betrieben, beweglichen Gegenständen und Rechten einheitlich betreut und verwaltet werden. Zu diesem Zweck habe ich eine Haupttreuhandstelle Ost gegründet, die mir persönlich untersteht«.78 Das Vorgehen der genannten »Haupttreuhandstelle Ost« bezeichnete Otto Bräutigam, der Verbindungsmann des Auswärtigen Amtes zu dieser Institution, in seiner Autobiographie als »eine der radikalsten Räubereien der Weltgeschichte und ein Hohn auf das Völkerrecht«.79 Die Aufgabe der Haupttreuhandstelle Ost bestand euphemistisch formuliert in der »Deutschmachung auf wirtschaftlichem Gebiet«.80 Sie erfasste, verwaltete und »verwertete« sämtliches Vermögen sowohl des aufgelösten polnischen Staates, als auch aller polnischen Staatsangehörigen mit Ausnahme der sogenannten Volksdeutschen.81 Der beschlagnahmte polnische Besitz wurde teilweise an die deutschen Siedler verkauft, der Erlös kam dem Reich zugute.82 Hans Frank gelang es Mitte November 1939, eine Zuständigkeit der Haupttreuhandstelle Ost für das Generalgouvernement abzuwenden und sich die dort gerade entstehende Treuhandverwaltung selbst zu unterstellen. In der Folgezeit war die Stelle nur noch für die ins Reich eingegliederten westpolnischen Gebiete zuständig. Letztlich wurden im Generalgouvernement allerdings im Wesentlichen dieselben Enteignungsmaßnahmen durchgeführt wie innerhalb des neuen Reichsgebietes.83 Daher können 78 Zitiert nach Rosenkötter, »Deutschmachung auf wirtschaftlichem Gebiet«, S. 4. 79 Zitiert nach ebenda, S. 3. Zur HTO vgl. Bernhard Rosenkötter, Treuhandpolitik. Die »Haupttreuhandstelle Ost« und der Raub polnischer Vermögen 1939–1945, Essen 2003, und Jeanne Dingell, Zur Tätigkeit der Haupttreuhandstelle Ost, Treuhandstelle Posen. 1939 bis 1945, Frankfurt a. M. u. a. 2003, sowie Ingo Loose, Kredite für NS-Verbrechen. Die deutschen Kreditinstitute in Polen und die Ausraubung der polnischen und jüdischen Bevölkerung 1939–1945, München 2007. 80 Rosenkötter, »Deutschmachung auf wirtschaftlichem Gebiet«, S. 10. 81 Vgl. Berthold Gerber, Staatliche Wirtschaftslenkung in den besetzten und annektierten Ostgebieten während des Zweiten Weltkrieges unter besonderer Berücksichtigung der treuhänderischen Verwaltung von Unternehmungen und der Ostgesellschaften, Tübingen 1959, S. 34 f. Gerber bezeichnet die Titulierung der deutschen Praxis als »Ausbeutung« als einseitige Sichtweise, S. 1. Zur Kritik an Gerber vgl. Rosenkötter, Treuhandpolitik, S. 8, Anm. 23. 82 Vgl. ders., »Deutschmachung auf wirtschaftlichem Gebiet«, S. 10. Vgl. auch Musiał, Zivilverwaltung, S. 149. 83 Vgl. Gerber, Wirtschaftslenkung, S. 70.

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Haupttreuhandstelle Ost und die Treuhandverwaltung im Generalgouvernement weitgehend als analog betrachtet werden. Die per Erlass vom 15. November 1939 gegründete Treuhandstelle für das Generalgouvernement war für »die Erfassung, Verwaltung und Abwicklung der beschlagnahmten Eigentumswerte« im Generalgouvernement zuständig.84 Ihre Außenstellen gehörten zu den Wirtschaftsabteilungen der Distrikte. Insgesamt trug die Treuhandverwaltung wesentlich zur Verarmung der polnischen und ukrainischen Bevölkerung und in erster Linie der Juden bei.85 Die Beschlagnahmungen führten zum Beispiel dazu, dass Juden für ihre eigenen, enteigneten Häuser Miete an die Treuhänder zahlen mussten.86 Die Treuhandstelle im Generalgouvernement gründete im Herbst 1941 eine eigene »Treuhandverwertungsgesellschaft m. b.H.« in Krakau zur Veräußerung von beweglichem Vermögen wie Firmeninventar, Möbeln und Ausrüstungsgegenständen.87 Damit wurde die Treuhandverwertungs­ gesellschaft zu einem wichtigen Akteur in der nationalsozialistischen Raub- und Enteignungspolitik. Brandl distanzierte sich in einer Nachkriegsvernehmung von dieser GmbH und erklärte, zwar formal ihr zweiter Geschäftsführer gewesen zu sein, aber nie für die Gesellschaft gearbeitet oder diese auch nur aufgesucht zu haben.88 Nach dem Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 marschierte die Wehrmacht auch in Ostgalizien ein. Als Distrikt Galizien wurde dieses Gebiet am 1. August 1941 Teil des Generalgouvernements.89 Von den rund 4,8 Millionen Menschen, die im Distrikt – etwa auf der Fläche Niedersachsens – lebten, waren 64 Prozent Ukrainer und 22 Prozent Polen; 14 Prozent galten als Juden.90 Nirgendwo in Europa gab es eine höhere jüdische Bevölkerungskonzentration als in diesem Zentrum des osteuro-

84 Vgl. Loose, Kredite, S. 323 (Zitat) und S. 325. Die Treuhandstelle war nicht der als Dienststelle des Vierjahresplans gegründeten Haupttreuhandstelle Ost (HTO) unterstellt, die für die in das Reich eingegliederten Ostgebiete zuständig war. Rusinek verwechselt hier offenbar die HTO mit der Treuhandstelle, vgl. ders., Fall Greifeld, S. 299 f. 85 Vgl. Loose, Kredite, S. 323. 86 Vgl. D. Pohl, Judenverfolgung, S. 124. 87 Vgl. Loose, Kredite, S. 329, und Götz Aly, Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt a. M. 32005, S. 211. 88 Vgl. Vernehmung Brandls am 24. 5. 1966, LA Berlin, B. Rep. 058, Nr. P (K) Js 7 /68 Lo Bm-Bz, S. 15. 89 Vgl. Sandkühler, »Endlösung«, S. 66 f., und D. Pohl, Judenverfolgung, S. 74 f. 90 Vgl. Sandkühler, »Endlösung«, S. 67.

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päischen Judentums.91 In Lemberg – heute das ukrainische Lwiw – befand sich das nach Warschau und Lodz drittgrößte jüdische Getto unter deutscher Besatzungsherrschaft.92 Mit der Gründung des Distrikts Galizien ging zugleich die Verwaltung auch dieses Gebietes auf zivile deutsche Behörden über. Die wirtschaftliche Bedeutung Galiziens bestand vor allem in seinen Erdöl- und Erdgasvorkommen, alle anderen wirtschaftlichen Erzeugnisse waren aus deutscher Perspektive zu vernachlässigen.93 Der nationalsozialistische »Generalplan Ost« sah Galizien als deutsches Siedlungsgebiet vor, es sollte auf lange Sicht zum deutschen »Lebensraum« gehören.94 Zur wichtigsten Verwaltungsbehörde wurde das Distriktamt in Lemberg.95 Die Amtszeit des ersten Distriktgouverneurs Karl Lasch endete bereits im Januar 1942, als er im Zuge eines Machtkampfes zwischen Heinrich Himmler und Hans Frank wegen Korruption angeklagt wurde.96 Nachfolger Laschs wurde Otto Wächter, der am 22. Januar 1942 die Verwaltung Galiziens übernahm und den Gouverneursposten bis zum Ende der deutschen Besatzungsherrschaft 1944 beibehielt.97 Josef Brandl wurde nach eigener Aussage Anfang 1942 gemeinsam mit Wächter von Krakau nach Lemberg versetzt,98 wo er vom 16. Februar 1942 bis Juli oder August 194499 erneut als Leiter der Abteilung Wirtschaft tätig war.100 Dass in Galizien der jüdische Bevölkerungsanteil und dessen Anteil an Wirtschaft, Handel und Handwerk besonders groß war, fügte sich in das NS-Stereotyp einer »verjudeten Wirtschaft« ein, die besonders stark von der sowjetischen Wirtschaft profitiert habe. Das war jedoch eine Fehleinschätzung: Alle mittleren und größeren jüdischen Betriebe waren bereits nach der sowjetischen Annexion der polnischen Westukraine bzw. 91 Vgl. ebenda, S. 10. 92 Vgl. Dieter Schenk, Der Lemberger Professorenmord und der Holocaust in Ostgalizien, Bonn 2007, S. 12. 93 Vgl. Linne, Arbeiterrekrutierung, S. 63 f. 94 Vgl. ebenda, S. 63. 95 Zur Zivilverwaltung in Galizien vgl. D. Pohl, Judenverfolgung, S. 75–83. 96 Vor Abschluss des Verfahrens wurde Lasch vermutlich auf Betreiben Himmlers erschossen. Vgl. Sandkühler, »Endlösung«, S. 86–87, und D. Pohl, Judenverfolgung, S. 76 f. 97 Vgl. ebenda, S. 77. 98 Vgl. IfZ-Archiv, Gs.5.18 /14, Schwurgericht LG Stuttgart, Strafverfahren gegen Rudolf Röder u. a.; vgl. auch die Vernehmung Brandls am 24. 5. 1966, LA Berlin, B. Rep. 058, Nr. P (K) Js 7 /68 Lo Bm-Bz, S. 2. 99 Vgl. ebenda. 100 Vgl. D. Pohl, Judenverfolgung, S. 412.

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Ost­galiziens zwischen Herbst 1939 und Sommer 1941 enteignet worden. Durch eine Verordnung vom 19. November 1941 übernahm nun die deutsche Distriktverwaltung diese verstaatlichten Wirtschaftsbetriebe, unterstellte sie der seit Herbst 1942 bestehenden Unterabteilung Treuhand der Wirtschaftsabteilung und setzte für alle jüdischen und nicht-jüdischen Betriebe unter ihrer Aufsicht Treuhänder (Verwalter) ein, darunter auch Polen, da nicht genügend deutsche Treuhänder zur Verfügung standen.101 Insgesamt waren knapp 550 kommissarische Treuhänder für 753 Unternehmen zuständig.102 Die zahlreichen verbliebenen Juden im Kleinhandels-, Handwerks- und Dienstleistungssektor waren besonders qualifiziert und ihre Arbeitskraft für die Deutschen vorerst unverzichtbar.103 So erklärte im Juni 1943 der »Höhere SS- und Polizeiführer Weichsel« Fritz (Friedrich) Katzmann (im Berichtszeitraum noch »SS- und Polizeiführer für Galizien«) in seinem Rechenschaftsbericht über die Ermordung der galizischen Juden: »Durch die Eigenart, dass das Handwerkertum in Galizien fast zu 90 % aus jüdischen Arbeitskräften bestand, konnte die zu lösende Aufgabe nur Zug um Zug durchgeführt werden, da eine sofortige Entfernung nicht im Interesse der Kriegswirtschaft gelegen hätte.«104 Eine der Aufgaben von Brandls Abteilung Wirtschaft und ihrer Unterabteilung Treuhand bestand dementsprechend in der sukzessiven »Verdrängung und Enteignung der kleinen jüdischen Handwerker und Händler«105 und in deren Ersetzung durch »nichtjüdische« galizische Dienstverpflichtete und Zivilarbeiter. Offenkundig lag es dagegen nach dem Krieg in Brandls Interesse, als Hauptaufgabe der Treuhandverwaltung im Distrikt Galizien die Reprivatisierungen des Eigentums zu beschreiben, das in der Phase der sowje101 102 103 104

Vgl. ebenda, S. 125. Vgl. Loose, Kredite, S. 328. Vgl. D. Pohl, Judenverfolgung, S. 123. Der faksimilierte Bericht ist ediert in: Friedrich Katzmann, Rozwiązanie kwestii żydowskiej w dystrykcie Galicja. Lösung der Judenfrage im Distrikt Galizien, bearb. von Andrzej Żbikowski, Warschau 2001; Zitat Bl. 4. Zu Katzmann vgl. Ruth Bettina Birn, Die Höheren SS- und Polizeiführer. Himmlers Vertreter im Reich und in den besetzten Gebieten, Düsseldorf 1986, und Hans Buchheim, Die Höheren SS- und Polizeiführer, in: VfZ 11 (1963), S. 362–391. Während seiner Tätigkeit in Galizien war Katzmann noch »SS- und Polizeiführer«, im April 1943 erfolgte die Beförderung zum »Höheren SS- und Polizeiführer«. 105 D. Pohl, Judenverfolgung, S. 79. Zur Wirtschaftspolitik in Galizien vgl. auch Sandkühler, »Endlösung«, S. 97–102.

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tischen Herrschaft zwischen 1939 und 1941 verstaatlicht worden war.106 Die ukrainisch-sowjetischen Rechtsgrundlagen dieser Enteignungen hatte er im Sommer 1942 in einem Gutachten über die »Rechtsverhältnisse im Distrikt Galizien zur sowjet-russischen Zeit« untersucht. Das stringente Gutachten war sehr sachlich gehalten und völlig frei von jeglicher NSDiktion. Dies täuscht allerdings darüber hinweg, dass die deutschen Eingriffe in galizische Vermögensverhältnisse völkerrechtswidrig waren.107 Tatsächlich kam es gerade in Galizien kaum zu Reprivatisierungen, da die Mehrzahl der verstaatlichten Betriebe für die Kriegswirtschaft benötigt wurde.108 Eine zentrale Aufgabe der Treuhandstelle war die nur auf den ersten Blick harmlos wirkende Registrierung und Verwertung des »gesamte[n] herrenlose[n] Gut[s]«.109 Vordergründig fiel darunter der Besitz von Menschen, die durch sowjetische Stellen nach Sibirien deportiert worden waren, sowie der des polnischen Staates. Natürlich lud der vage Begriff des »herrenlosen Vermögens« in einem Umfeld der Gewalt, der Deportationen und der Vertreibungen zur Bereicherung geradezu ein.110 Auch das Eigentum der ermordeten Juden galt als »herrenlos«. Im Sommer 1942 – wohl nicht zufällig auf dem Höhepunkte der Morde der »Aktion Reinhardt«  – kam es im ganzen Generalgouvernement zu Konflikten zwischen der SS, der Treuhandstelle und den Distriktsverwaltungen über die »herrenlos« gewordenen Besitztümer.111 Auch Brandl geriet über die euphemistisch als »Reprivatisierung« bezeichnete Beuteverteilung mit dem »Höheren SS- und Polizeiführer« im Generalgouvernement, Friedrich Wilhelm Krüger, aneinander. Lakonisch stellte Brandl in einer Nach-

106 Vernehmung Brandls am 24. 5. 1966, LA Berlin, B. Rep. 058, Nr. P (K) Js 7 /68 Lo Bm-Bz, S. 10. 107 Rechtsverhältnisse im Distrikt Galizien zur sowjetisch-russischen Zeit, Dr. Brandl vom 1. 7. 1942, Staatsarchiv der Oblast Lwiw (DALO), R 24, Spr. 6, Ark.14. Die Vf. danken Taras Martynenko für die Recherche in Lwiw. 108 Vgl. Gerber, Wirtschaftslenkung, S. 170–180. 109 Vernehmung Brandls am 24. 5. 1966, LA Berlin, B. Rep. 058, Nr. P (K) Js 7 /68 Lo Bm-Bz, S. 15; vgl. Loose, Kredite, S. 323, und Rosenkötter, »Deutschmachung auf wirtschaftlichem Gebiet«, S. 4 f. 110 Vgl. Loose, Kredite, S. 327. Nach Musiał, Zivilverwaltung, S. 149, galt sogar das »gesamte jüdische Vermögen« als herrenlos. 111 Vgl. Vernehmung Josef Brandl am 29. 7. 1964, LG Stuttgart, Strafsache gegen Rudolf Röder u. a. wegen Mords (NS-Verbrechen in Galizien), IfZ-Archiv, Gs. 5.18 /14, S. 150.

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kriegsvernehmung fest, dass eine Rückerstattung an von den Sowjets enteignete Juden ohnehin unmöglich gewesen sei.112 Bis 1942 ging es den deutschen Stellen vor allem darum, die Arbeitskraft der jüdischen Zwangsarbeiter für die Kriegswirtschaft möglichst effizient auszubeuten und daher grundsätzlich zu erhalten. Mit dem Beginn des systematischen Massenmordes im Generalgouvernement im Spätsommer 1942 setzte sich aber endgültig die Ideologie gegenüber der Ökonomie durch. Die unterschiedlichen Ziele der Wehrwirtschaft (Ausbeutung der jüdischen Arbeitskraft) und der SS (Vernichtung der jüdischen Bevölkerung) kollidierten direkt in Brandls Zuständigkeitsbereich, auch wenn für die Zwangsarbeit formal die Abteilung Arbeit und nicht die Wirtschaftsabteilung zuständig war. Über die Beschaffung von Zwangsarbeitern für die Betriebe der Treuhänder kam es zu Konflikten mit der SS.113 Auch Brandl war – wie später noch zu schildern sein wird – an vergleichbaren Verhandlungen beteiligt.114 In seinem Bericht über die Ermordung der galizischen Juden vom Juni 1943 kritisierte der »Höhere SS- und Polizeiführer« Katzmann die Verwaltung und die »berüchtigten Treuhänder« scharf. Die Verwaltung sei »nicht in der Lage« und »zu schwach […], diesem Chaos Herr zu werden«, weshalb er schließlich das Kommando über den Arbeitseinsatz der Juden übernommen habe.115 Die jüdischen Zwangs­ arbeiter wurden so nach und nach der Vernichtung ausgeliefert. Sogar die Rüstungsinspektion, die im Generalgouvernement im Frühsommer 1942 noch 340.000 jüdische Arbeitskräfte eingesetzt hatte, erklärte die Hälfte davon für verzichtbar und überließ sie der Ermordung.116 Im sogenannten Distrikt Galizien töteten die deutschen Besatzer in weniger als drei Jahren, von Herbst 1941 bis zum Sommer 1944, mindestens 525.000 Menschen und damit fast alle dort ehemals lebenden Juden. Allein in Lemberg wurden bis zu 120.000 Juden erschossen, möglicherweise auch erheblich mehr.117 Während der »Aktion Reinhardt«, der systemati112 Vgl. Vernehmung Brandls am 24. 5. 1966, LA Berlin, B. Rep. 058, Nr. P (K) Js 7 /68 Lo Bm-Bz, S. 10. 113 »Die Hauptsorge der Treuhänder war die Beschaffung von Arbeitskräften.« Vernehmung Josef Brandl am 29. 7. 1964, IfZ-Archiv, Gs. 5.18 /14, S. 3. 114 Vgl. unten S. 310 zu Brandls Verhandlungen mit Katzmann. 115 Katzmann, Lösung der Judenfrage, Bl. 5. 116 Vgl. Lehnstaedt, Arbeitsverwaltung, S. 438. 117 Einen unfreiwilligen Hinweis, dass es auch bis zu 180.000 gewesen sein könnten, gab der Leiter des Statistischen Amtes des Distrikts Galizien, der im April 1944 anregte, die im Baedecker-Reiseführer genannte Einwohnerzahl Lembergs von 420.000 auf 240.000 zu senken. Vgl. Sandkühler, »Endlösung«, S. 460. Zu den Opferzahlen in Galizien vgl. ebenda, S. 459–461.

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schen Ermordung aller Juden des Generalgouvernements, wurden ab dem Frühjahr 1942 in Galizien mehr Menschen erschossen als in jedem anderen Distrikt des Generalgouvernements.118 Brandl befand sich seit Anfang 1942 im Zentrum eines andauernden Völkermordes. Inwieweit wusste Brandl über den Massenmord an den Juden im Generalgouvernement Bescheid? Inwieweit hatte er sogar dienstlich mit Instanzen des Holocaust zu tun? Erneut ist hier zunächst festzustellen, dass die Forschungslage und die von uns eingesehenen Quellen nur ein relativ diffuses Bild vermitteln. Dennoch besteht wenig Zweifel, dass Brandl über das Ausmaß der Verbrechen gut unterrichtet war, auch wenn er in späteren Zeugenaussagen partiell einen anderen Eindruck zu erwecken versuchte und beispielsweise bestritt, von Vernichtungslagern gewusst zu haben.119 Dass er grundsätzlich über die Ermordung der jüdischen Bevölkerung informiert war, leugnete Brandl rückblickend allerdings nicht. Das wäre angesichts seiner Position und seiner regelmäßigen Lagebesprechungen mit »SS- und Polizeiführer« Katzmann sowie mit Amtsleitern und Kreishauptleuten auch abwegig gewesen.120 Im Folgenden sollen in chronologischer Folge einige Indizien dafür wiedergegeben werden, dass Brandl stets über den Prozess des Völkermords auf dem Laufenden gewesen sein muss: In Krakau, Brandls erstem Dienstort im Generalgouvernement, befand sich auch der Amtssitz von Generalgouverneur Frank, unweit der Stadt lagen die Konzentrations­ lager Plaszow (poln. Płaszów) und Auschwitz und seit 1942 das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Im April 1940 kündigte Frank in einer 118 Vgl. Schenk, Professorenmord, S. 12. 119 Im Sommer 1964 bestritt Brandl, anfangs gewusst zu haben, was mit den ersetzten Menschen geschehen sei, und erklärte, es sei »ja auch im allgemeinen jetzt durchgesickert, dass die jüdische Bevölkerung Galiziens aus Lemberg abtransportiert wurde. Man sprach zunächst davon, dass die Leute in ein großes Arbeitslager in der Nähe von Lublin [Majdanek] kämen. Es ergab sich im Laufe der Zeit gleichsam mosaikartig, dass man auch Teile der jüdischen Bevölkerung umbrachte. Ich kann aber nicht sagen, dass ich von der Existenz eines ausgesprochenen Vernichtungslagers Kenntnis erhalten habe. […] Der Name Belzec ist mir während meiner Zeit in Galizien nie bekannt geworden. Ich bin auch selbst nie Zeuge von Abtransporten in Lemberg oder sonstwo geworden. Ich bin überhaupt nie Zeuge einer gerade begangenen Gewalttat geworden, ich habe nur einmal einen toten Menschen in Lemberg auf der Straße liegen sehen.« Vernehmung Josef Brandl am 29. 7. 1964, S. 151. 120 Vgl. Vernehmung Brandls am 24. 5. 1966, LA Berlin, B. Rep. 058, Nr. P (K) Js 7 /68 Lo Bm-Bz, S. 12 f. Brandl sagte aus, dass er nie an Dienstbesprechungen bei Katzmann teilgenommen habe – an anderer Stelle aber, dass Katzmann an seinen Dienstbesprechungen teilnahm, ebenda, S. 12 und S. 25.

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Abteilungsleiterbesprechung an, mit Wächter erörtern zu wollen, wie man Krakau »judenfrei« machen könne.121 Es ist ausgeschlossen, dass Brandl der in seinem unmittelbaren räumlichen Umfeld anlaufende Holocaust verborgen blieb. Auf einer Regierungssitzung am 10. Oktober 1941 referierte Brandl im Beisein Hans Franks in Krakau über die Kohle- und Mineralölbewirtschaftung des Distrikts. Auf derselben Besprechung verkündete Gouverneur Wächter laut Protokoll, die »letztlich radikale Lösung der Judenfrage [sei] unvermeidlich«.122 Was damit konkret gemeint war, wird außerhalb des Protokolls sicherlich mündlich thematisiert worden sein; zweifellos wusste Brandl, wovon die Rede war. Anlässlich der Feier zum einjährigen Bestehen des Distrikts Galizien hielt Frank am 1.  August 1942 auf einer Großkundgebung der NSDAP im Opernhaus von Lemberg eine vielzitierte Rede. Dass Brandl als hoher Repräsentant der Zivilverwaltung anwesend war, ist nicht belegt, aber anzunehmen. In seiner Ansprache dankte Frank Gouverneur Wächter für seine Leistung, aus dem »Drecksnest« Lemberg, dem »alte[n] Judennest« wieder eine »richtige stolze deutsche Stadt«123 gemacht zu haben und kündigte an, mit den noch verbliebenen Juden der Stadt »auch fertig« zu werden: »Übrigens habe ich heute gar nichts mehr davon [von den Juden Lembergs, d. Vf.] gesehen. Was ist denn das? Es soll doch in dieser Stadt einmal Tausende und Abertausende von diesen Plattfußindianern gegeben haben, – es war keiner mehr zu sehen. Ihr werdet doch am Ende mit denen nicht böse umgegangen sein? (Große Heiterkeit).«124 Seit Sommer 1942 war Brandls Wirtschaftsabteilung damit konfrontiert, dass immer mehr jüdische Arbeitskräfte dem Holocaust zum Opfer fielen. So wurde Brandl, mittlerweile Oberregierungsrat, Ende Oktober 1942 121 Vgl. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945, Bd. 4: Polen, September 1939 – Juli 1941, bearb. von Klaus Peter Friedrich, München 2011, S. 270, Dok. 104: Protokoll der Abteilungsleiterbesprechung vom 12. 4. 1940. Eine 1941 in Krakau als Handreichung für Verwaltungsbeamte veröffentlichte Übersicht über die Wirtschaft des Generalgouvernements, die Brandl sicherlich geläufig war, beschrieb vor allem den lokalen Kleinhandel mit antisemitischem Akzent als »stark verjudet«. Vgl. Seraphim, Wirtschaftsstruktur, S. 86. 122 Frank, Diensttagebuch, S. 434–436, hier S. 436. 123 Die Rede findet sich in Auszügen ebenda, S. 531–536, hier S. 532. 124 Ebenda, S. 532 f.

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von der »Karpathen Öl Aktiengesellschaft«125 darüber informiert, dass die Rüstungsinspektion Lemberg mit der Leitung des Baudienstes im Generalgouvernement über den Einsatz von »Baudienstleuten bei solchen Betrieben« verhandele, »die die bei ihnen eingesetzten jüdischen Arbeitskräfte durch arische ersetzen« sollten.126 1966 beklagte Brandl in einer Vernehmung, dass durch »die Juden­ aktion der SS« die galizische Wirtschaft »fast zum Erliegen« gekommen sei.127 Lakonisch erwähnte er zudem, dass er mit Katzmann um die (unausgesprochen vorläufige) Aufschiebung der Ermordung von jüdischen Zwangsarbeitern gefeilscht habe. Katzmann habe ihm beispielsweise 10- bis 15.000 »jüdische Arbeitskräfte« belassen, wenn er 20.000 verlangt habe. Im Vernehmungsprotokoll wird nicht erkennbar, ob Brandl die Monstrosität dieser Verhandlungen beschäftigte. Mit der Formulierung, insgesamt seien seine »Bemühungen […] aber insoweit erfolglos«128 gewesen, umschrieb er, dass Zehntausende Menschen vor seinen Augen der Ermordung ausgeliefert wurden. Er erklärte: »Die sonstigen Maßnahmen gegen [sic] jüdische Bevölkerung sind mir zwar bekannt. Meine Abteilung hat mit diesen Dingen jedoch nichts zu tun gehabt, wenn man davon absieht, daß wir uns bemühten, die Juden als Arbeitskräfte zu erhalten.«129 Es bestehen allerdings Zweifel, ob Brandls Abteilung tatsächlich »mit diesen Dingen« nichts zu tun hatte. Nur zwei Monate zuvor hatte die Wirtschaftsabteilung gemäß eines Erlasses des Generalgouverneurs eine Distriktverkehrsleitung in Lemberg eingerichtet, um gemeinsam mit einer neuen, zentralen Gebietsverkehrsleitung in Krakau die Transporte der Ostbahn130 zu 125 Vgl. Rainer Karlsch, Ein vergessenes Großunternehmen. Die Geschichte der Karpaten Öl AG, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte/Economic History ­Yearbook 45 (2004), H. 1, S. 95–138. 126 Karpathen Öl Aktiengesellschaft an den Gouverneur des Distrikts Galizien Abt. Wirtschaft, z. Hd. Herrn Dr. Brandl, 30. 10. 1942, Schriftverkehr betr. Juden. Arbeitseinsatz in Zwangsarbeitslagern in Galizien 1942–1944, IfZ-Archiv, Fa 506 /15, Bl. 108. 127 Vernehmung Brandls am 24. 5. 1966, LA Berlin, B. Rep. 058, Nr. P (K) Js 7 /68 Lo Bm-Bz, S. 17. 128 Ebenda, S. 18. 129 Ebenda, S. 17. 130 Zur Ostbahn vgl. in diesem Zusammenhang Peters, Lohnarbeit; D. Pohl, Judenverfolgung, S. 291–295; Alfred Gottwaldt / Diana Schulle, »Juden ist die Be­ nutzung von Speisewagen untersagt«. Die antijüdische Politik des Reichsverkehrsministeriums zwischen 1933 und 1945. Forschungsgutachten, erarbeitet im

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koordinieren.131 Der Distriktverkehrsleitung gehörte auch ein Vertreter von Brandls Wirtschaftsabteilung an.132 Brandl selbst erläuterte am 12. August 1942, dass »die Überlastung der Ostbahn mit dringlich zu befördernden Gütern […] bis auf weiteres die Sichtung der der Ostbahn zufliessenden Güter nach der Dringlichkeit ihrer Verfrachtung« notwendig mache.133 Die Transportengpässe der Ostbahn resultierten aus der Sommeroffensive der Wehrmacht, der Ernte, aber vor allem aus den Deportationszügen, die im Sommer 1942 täglich rund 5.000 Menschen in die Vernichtungslager der »Aktion Reinhardt« fuhren.134 Thomas Sandkühler vermutet daher, dass es sich bei den von Brandl erwähnten »Gütern« auch um deportierte Juden gehandelt haben könnte.135 Unabhängig von der Frage, ob und wie auch Brandls Abteilung direkt in den Holocaust involviert war, muss konstatiert werden, dass die Zivilverwaltung und insbesondere auch die Wirtschaftsverwaltung die administrativen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen schuf, in denen der Völkermord durchgeführt werden konnte. So schrieb Himmler im Januar 1943 an Wächter, es sei dessen Verdienst, dass Galizien »ruhig und in Ordnung« sei und dies sei »nicht zuletzt auf die harmonische Arbeit von Ihnen mit dem tüchtigen Katzmann und, unpersönlich ausgedrückt, auf die wirkliche Zusammenarbeit von Verwaltung mit SS und Polizei in Ihrem Distrikt zurückzuführen«.136 Nachdem der bisherige »Amtschef« Otto Bauer am 9.  Februar 1944 bei einem Partisanenanschlag getötet worden war, führte Josef Brandl kommissarisch auch die Geschäfte des Amtschefs des Distrikts Galizien und stand damit als Vertreter von Gouverneur Wächter an der Spitze Auftrag des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, Berlin 2007, S. 66–71, und Michael Reimer / Volkmar Kubitzki, Eisenbahn in Polen 1939–1945. Die Geschichte der Generaldirektion der Ostbahn, Stuttgart 2004. 131 So Brandl in der Benachrichtigung I, Nr. 23, Betr. Verkehrsfragen vom 12. 8. 1942; Staatsarchiv der Oblast Lwiw, R 24, Spr. 196, Ark. 24–25. 132 Vgl. Sandkühler, »Endlösung«, S. 168. Dieser Vertreter muss nicht zwangsläufig Brandl selbst gewesen sein. Ihn – so Rusinek – als »Verkehrsspezialisten« zu bezeichnen, ist unseres Erachtens durch die derzeit bekannten Quellen nicht gedeckt, vgl. Rusinek, Fall Greifeld, S. 307 f. 133 Benachrichtigung I, Nr. 23, Betr. Verkehrsfragen vom 12. 8. 1942; Staatsarchiv der Oblast Lwiw, R 24, Spr. 196, Ark. 24–25. 134 Vgl. Sandkühler, »Endlösung«, S. 168. 135 Vgl. ebenda. Das Schreiben Brandls vom 12. 8. 1942 beweist das nicht, Sandkühler verweist aber schlüssig auf den Entstehungskontext, vgl. ebenda, S. 501, Anm. 158. 136 Himmler an Wächter vom 18. 1. 1943, zitiert bei Sandkühler, »Endlösung«, S. 448 f.

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des Distrikts.137 Ende März 1944 ordnete Brandl die Vernichtung von Verschlusssachen vor der nahenden Roten Armee an.138 Zur selben Zeit mussten Tausende von Zwangsarbeitern aus Galizien, darunter vermutlich auch überlebende Juden, im Osten des Distrikts weitgehend sinnlose Panzergräben ausheben.139 Anfang Mai 1944 kam Heinrich Himmler zu einer Besprechung nach Lemberg und wurde von Wächter und Brandl als Amtschef empfangen. Diskutiert wurden Wirtschaftsfragen, Ernährungsprobleme und die eventuelle Evakuierung Lembergs vor der Roten Armee. »Über Judenangelegenheiten«, so Brandl 1966, sei nicht gesprochen worden, »da die Juden zu diesem Zeitpunkt ja schon nicht mehr lebten«.140 Mitte Juli 1944 leitete Brandl nach eigenen Angaben die Evakuierung der deutschen Zivilverwaltung aus Lemberg. Mit ihm reiste Alfred Bisanz, der in der Abteilung Innere Verwaltung das Referat »Bevölkerungswesen und Fürsorge« geleitet hatte.141 Die eigentliche Aufgabe dieses Referats hatte in der »Aussiedlung« (d. h. Ermordung) der jüdischen Bevölkerung Galiziens bestanden.142 Nach dem militärischen Zusammenbruch des Distrikts Galizien im Herbst 1944 folgte Brandl erneut seinem Vorgesetzten Wächter, der nun Chef der Militärverwaltung in Italien wurde.143 Wächter unterstand dem »Höchsten SS- und Polizeiführer« Italiens, Karl Wolff, der auch für die Wirtschaftsangelegenheiten der Wehrmacht in Norditalien zuständig war.144 Brandl arbeitete mittlerweile in Bergamo, wiederum als Leiter der Wirtschaftsabteilung. Formal gehörte er als Militärbeamter nun wieder der Wehrmacht an; rückblickend bezeichnete er sich selbst als »Militärverwal137 Vernehmung Brandls am 24. 5. 1966, LA Berlin, B. Rep. 058, Nr. P (K) Js 7 /68 Lo Bm-Bz, S. 2; Frank, Diensttagebuch, S. 840. Eine Kurzbiographie Bauers bei Sandkühler, »Endlösung«, S. 450. 138 Vgl. ebenda, S. 106. In seiner Vernehmung vom 24. 5. 1966, S. 6, konnte oder wollte Brandl sich nicht mehr erinnern, eine Aktenvernichtung befohlen zu haben. Auf Nachfrage bestritt er eine solche sogar vehement, S. 7. 139 Sandkühler, »Endlösung«, S. 106. 140 Vernehmung Brandls am 24. 5. 1966, LA Berlin, B. Rep. 058, Nr. P (K) Js 7 /68 Lo Bm-Bz, S. 24. 141 Ebenda, S. 7 f. 142 Eine knappe biographische Skizze Bisanz’ findet sich bei Sandkühler, »Endlösung«, S. 450 f. 143 Vgl. Graf, Österreichische SS-Generäle, S. 214. 144 Zu Wolff vgl. Kerstin von Lingen, SS und Secret Service. »Verschwörung des Schweigens«. Die Akte Karl Wolff, Paderborn 2010 und Jochen von Lang, Der Adjutant. Karl Wolff. Der Mann zwischen Hitler und Himmler, München 1985.

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tungschef im Range eines Obersten«.145 Mit Oberitalien lag ein industrielles Zentrum in seinem Zuständigkeitsbereich.146 Anfang 1945 wurde Brandl Regierungsdirektor, seine Planstelle war bizarrerweise bei der längst nicht mehr existierenden »Regierung des Generalgouvernements« angesiedelt. Mit dem Inkrafttreten der deutschen Teilkapitulation für Italien geriet Josef Brandl am 2. Mai 1945 in Gossensass in Südtirol in amerikanische Kriegsgefangenschaft, die er bis zum 15. Februar 1946 in Heilbronn, bis Ende Juni 1946 im Camp 71 in Ludwigsburg verbrachte.147 Am 26. Juni 1946 wurde er aus der Kriegsgefangenschaft entlassen und in ein amerikanisches Zivilinternierungslager überstellt, vermutlich zuerst in das Camp 78 in Zuffenhausen bei Stuttgart, dann nach Dachau.148 Auf dem Gelände des ehemaligen KZ Dachau gab es ab Juli 1946 mit dem »War Crimes Central Suspect and Witness Enclosure« das einzige Internierungslager in der US-amerikanischen Besatzungszone, in dem »die stärker belasteten Funktionsträger des NS-Regimes« inhaftiert waren.149 Im September 1946 wurden dort insgesamt 12.000 Verdächtige festgehalten, deren Personalien mit der alliierten Fahndungsliste CROWCASS (»Central Registry of War Crimes and Security Suspects«) abgeglichen werden mussten – ein äußerst langwieriger Prozess.150 Inhaftierte, denen keine Verbrechen nachgewiesen werden konnten, durchliefen ein Entnazifizierungsverfahren und wurden entlassen. Die anderen wurden entweder in den »Dachauer Prozessen« vor ein amerikanisches Militärgericht gestellt und zum Strafvollzug in das War Criminal Prison nach Landsberg am Lech151 ge145 Beiblatt zum Melde- und Personalbogen, BArch, PERS 101 /82463. Eigentlich war Brandl Militärverwaltungsabteilungschef. 146 Vgl. Lingen, SS und Secret Service, S. 57. 147 WASt. Laut Personalbogen vom 2. 5. 1954 war Brandl dagegen seit dem 4. 5. 1945 in Kriegsgefangenschaft. BArch, PERS 101 /82462. Vgl. Christof Strauß, Kriegsgefangenschaft und Internierung. Die Lager in Heilbronn-Böckingen 1945 bis 1947, Heilbronn 1998. 148 Vgl. WASt. 149 Vgl. Gabriele Hammermann, Das Internierungslager Dachau 1945–1948, in: Dachauer Hefte 19 (2003), S. 48–70, hier S. 51 und S. 70 (Zitat). 150 Zur Entnazifizierung in den Lagern und zur Crowcass-Liste vgl. Earl Frederick Ziemke, The US Army in the Occupation of Germany 1944–1946, Washington, DC 1975, S. 390–395. Zum Camp 29 vgl. Christa Schick, Die Internierungslager, in: Broszat, Martin / Henke, Klaus-Dietmar / Woller, Hans (Hrsg.), Von Stalingrad zur Währungsreform. Zur Sozialgeschichte des Umbruchs in Deutschland, München 1988, S. 301–325, hier S. 302. 151 Vgl. Thomas Raithel, Die Strafanstalt Landsberg am Lech und der Spöttinger Friedhof (1944–1958). Eine Dokumentation im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte München-Berlin, München 2009, S. 50–78.

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bracht oder – in großer Zahl – ins Ausland ausgeliefert. Allein Ende Februar 1947 wurden 600 als Kriegsverbrecher Angeklagte aus Dachau nach Polen überstellt.152 Ende Juli 1946 wurde auf einer Karteikarte der War Crimes Group des amerikanischen Judge Advocate’s Office, der höchsten Instanz der amerikanischen Militärjustiz in Europa, über Brandl notiert: »This prisoner is of War Crimes interest and should not be released without notification and approval by this organization.«153 Offenbar war Brandl den Angehörigen der polnischen Militärmission zur Untersuchung der deutschen Kriegsverbrechen bei der United Nations War Crimes Commission (UNWCC) aufgefallen, die seit Anfang 1946 systematisch die Namensverzeichnisse in den alliierten Internierungslagern auf potentielle deutsche Kriegsverbrecher überprüften und auch eigene Verhöre durchführten.154 Sie hatten Brandls Namen in ein Auslieferungsersuchen des Polish War Crimes Office gegen »Brauchitsch, Walter [sic!] von and 213 others« aufgenommen, das bereits am 23.  Mai 1945 bei der UNWCC eingegangen war.155 Brandl firmierte unter »War Criminals«, nicht unter »Suspects«.156 Dies war insofern konsequent, als oberste polnische Gerichte »die Führung der deutschen Verwaltung im Generalgouvernement von der Kreis- und Stadthauptmannsebene aufwärts« analog zu Festlegungen des Internationalen Militärgerichtshofes in Nürnberg als verbrecherische Organisation eingestuft hatten.157 Mit der Liste wurde nicht nur die Auslieferung von Goebbels, Himmler oder – dem seit 1942 ebenfalls toten – Karl Lasch verlangt, sondern systematisch auch die aller leitenden Verwaltungsbeamten im ehemals besetzten Polen. Teilweise wurden auch als »N. N.« geführte unbekannte Personen gesucht. Über die Gruppe, der Brandl angehörte, hieß es: »Though the men concerned [the accused Nos. 74 to 120] were not in the highest ranks, they were still holding key positions, were closely connected with the whole system of expropriation and robbery of Pol152 Vgl. Hammermann, Internierungslager, S. 62. 153 BArch, B 162, Karteikarte Brandl. 154 Generell zur Auslieferung nach Polen vgl. Roth, Herrenmenschen, S. 316–330; Bogdan Musiał, NS-Kriegsverbrecher vor polnischen Gerichten, in: VfZ 47 (1999), S. 25–56; speziell zur polnischen Militärmission ebenda, S. 29 f. 155 USHMM, RG-67.041 M.0014, Brauchitsch, Walter [sic!] von and 213 others. Generalfeldmarschall Walther von Brauchitsch war von 1938 bis 1941 Oberbefehlshaber des Heeres. 156 Ebenda, Bl. 1170. 157 Musiał, NS-Kriegsverbrecher, S. 37.

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ish property. […] all the accused of this group were directly instructing the different offices and departments […] and also, they were supervising the carrying out in practice of all expropriation measures. All of them were fully acquinted [sic] with the character and purpose of their activities, which they carried out in full agreement with the Nazi prergamme [sic] and its criminal principles. All of them knew only too well what pillage and robbery means, and that it was just what they were doing with the Polish property.«158 Brandl, dem als Leiter der Abteilungen Wirtschaft in Krakau und Lemberg »confiscation of property« vorgeworfen wurde, sollte im November 1946 auf Antrag der polnischen Militärmission in polnischen Gewahrsam überstellt werden.159 Die amerikanische Militärjustiz muss die polnischen Vorwürfe gegen Brandl daher für begründet gehalten haben. Von den über 1.500 Auslieferungsanträgen, die die polnische Militärmission in der amerikanischen Zone stellte, wurde über 900 nicht stattgegeben, wobei die US-Behörden den polnischen Wünschen bis Frühjahr 1947 weit entgegenkamen.160 Insgesamt lieferten die Alliierten aus den vier Besatzungszonen über 1.800 mutmaßliche Kriegsverbrecher an Polen aus, mehr als zwei Drittel davon aus der amerikanischen Zone.161 Von den Ausgelieferten wurden fast 200 zum Tode verurteilt, der größte Teil erhielt Haftstrafen von bis zu zehn Jahren.162 Viele Inhaftierte in den alliierten Internierungslagern fürchteten die polnische Justiz. Vor anstehenden Auslieferungen kam es immer wieder zu Suiziden oder versuchten Selbsttötungen.163 Josef Brandl, den höchstwahrscheinlich eine Haftstrafe erwartete, veranlasste die Aussicht, vor ein 158 USHMM, Brauchitsch, Walter [sic!] von and 213 others, RG-67.041M.0014, Bl. 1196. 159 USHMM, RG-67.041 M.NDXP1.00003356. 160 Vgl. Roth, Herrenmenschen, S. 316. 161 Włodzimierz Borodziej, »Hitleristische Verbrechen«. Die Ahndung deutscher Kriegs- und Besatzungsverbrechen in Polen, in: Frei, Norbert (Hrsg.), Trans­ nationale Vergangenheitspolitik. Der Umgang mit deutschen Kriegsverbrechern in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg, Göttingen 2006, S. 399–437, hier S. 412. 162 Tabelle in Musiał, NS-Kriegsverbrecher, S. 47; nicht alle Todesurteile wurden vollstreckt, vgl. ebenda, S. 48. Insgesamt wurden in Polen rund 5.000 Deutsche als Kriegsverbrecher verurteilt, darunter bis Januar 1948 wohl 1.055 zum Tode, 981 zu lebenslanger oder mehr als zehnjähriger Haft. Vgl. Borodziej, »Hitleristische Verbrechen«, S. 431 f. Vgl. auch Elzbieta Kobierska-Motas, Ekstradycja Przestepców Wojennych do Polski z czterech stref okupacyjnych Niemiec 1946–1950, Teil I und II, Warschau 1992. 163 Vgl. Roth, Herrenmenschen, S. 317 f.

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polnisches Gericht gestellt zu werden, am 22. November 1946 zur Flucht aus dem Zug, der ihn nach Polen hätte bringen sollen.164 Danach tauchte Brandl  – wie viele andere schwer NS-Belastete  – zunächst einmal unter und entzog sich so weiterer alliierter und polnischer Strafverfolgung. Eine neue CROWCASS-Liste aus dem Jahr 1948 führt seinen Namen auf und nennt als Fahndungsgrund »pillage« (Plünderung)165 – gemeint ist seine Beteiligung an der ökonomischen Ausbeutung des Generalgouvernements. Der »Verband der Heimkehrer, Kriegsgefangenen und Vermissten-Angehörigen Deutschlands e. V.« verzeichnete Brandl noch bis Mitte der 1950er Jahre als »Polen-Vermißten [sic]«.166 Unter dem Namen »Karl Müller« lebte Brandl jedoch weiterhin in Deutschland und erhielt 1947 in München unter falscher Identität sogar einen Ausweis167  – ein Identitätswechsel, wie ihn nach Kriegsende nicht wenige NS-Belastete praktizierten.168 Von März bis November 1947 war der angeblich am 27. Juni 1901 (das Geburtsjahr wurde beibehalten) in Königsberg geborene Staatenlose beim Münchner Einwohnermeldeamt registriert.169 »Müller« bezeichnete sich als »kaufmännische[n] Angestellte[n]« und ergänzte die Fiktion mit den Lebensdaten von Eltern, die in Riga und Posen geboren wurden. Dass die konstruierte Her164 Vgl. BArch, B 305 /18381, WASt, und Kobierska-Motas, Ekstradycja Przestepców Wojennych, Teil II. In seinem Lebenslauf im Personalbogen, BArch, PERS 101 /82462, gibt Brandl für die Auslieferung den 20.11., für die Flucht den 22. 11. 1946 an. 165 CROWCASS. The Central Registry of War Criminals and Security Suspects. Final Consolidated Wanted List, Part 1: A-L, June 1948. Vgl. zu den Listen auch Robert Sigel, Im Interesse der Gerechtigkeit. Die Dachauer Kriegsverbrecherprozesse 1945–1948, Frankfurt a. M. 1992, S. 20–22. 166 BArch, B 305 /18381. 167 Vgl. Stadtarchiv Heilbronn, B 15, Meldekarte »Brandl, Josef«. Vgl. auch Vernehmungsprotokoll, 24. 6. 1966, S. 3: »Nach meiner Flucht tauchte ich in Bayern unter dem Namen Karl Müller unter. Ich hatte von der Polizei aufgrund meiner Angaben falsche Papiere erhalten.« [urspr.: »Ich konnte von der Polizei auch ­falsche Papiere erhalten.«] LA Berlin, B. Rep. 058, Nr. P (K) Js 7 /68 Lo Bm-Bz, Gestützt auf das Protokoll wird die falsche Identität Brandls auch von Rusinek, Fall Greifeld, S. 312, erwähnt. 168 Vgl. Norbert Frei, Identitätswechsel. Die »Illegalen« in der Nachkriegszeit, in: König, Helmut / Kuhlmann, Wolfgang / Schwabe, Klaus (Hrsg.), Vertuschte Vergangenheit. Der Fall Schwerte und die NS-Vergangenheit der deutschen Hochschulen, München 1997, S. 207–222. Wie groß die Zahl der »Illegalen« war, lässt sich wohl nicht mehr ermitteln. Die zeitgenössisch kolportierte Zahl von bis zu 80.000 war wohl übertrieben und diente wahrscheinlich auch den »Lobbyisten für eine Generalamnestie« als Argument; ebenda, S. 218. 169 Meldekarte »Müller, Karl« (Josef Brandl), Stadtarchiv München.

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kunft aus dem nun sowjetisch besetzten Osten dazu diente, eine eventuelle Überprüfung zu erschweren, erscheint offenkundig. Ab November 1947 war »Karl Müller« dann für zweieinhalb Jahre in Heilbronn gemeldet, dem Ort seiner Kriegsgefangenschaft 1945 /46. Währenddessen fand Ende 1948 in Passau gegen den wirklichen Josef Brandl in Abwesenheit ein Entnazifizierungsverfahren statt. Im Sühnebescheid der Spruchkammer Passau vom 6.  Dezember 1948 wurde Brandl wegen seiner Mitgliedschaften in der NSDAP , der SA und dem NSKK unter Verzicht auf eine »Geldsühne« »in die Gruppe der Mitläufer eingereiht«.170 Der Bescheid war an die elterliche Wohnung in Passau adressiert.171 Ob es parallel hierzu, wie zu vermuten, auch ein Entnazifizierungsverfahren gegen »Karl Müller« gab, konnte nicht geklärt werden. Seinen Lebensunterhalt bestritt Brandl alias Müller in Heilbronn offenbar durch die Tätigkeit in der Firma »Anti-Rost«, laut Gewerbesteuerakten ein »Entrostungsbetrieb« und »Grosshandel in Entrostungsmittel u. dem Zubehör«. Stammsitz des 1947 gegründeten Unternehmens war München.172 Vermutlich hatte »Karl Müller« bereits in seiner Münchner Zeit Kontakt zu »Anti-Rost« gefunden und sich dann an der Gründung der Heilbronner Filiale beteiligt, die offiziell seit dem 1. Januar 1948 bestand. Später wurde die kleine Heilbronner Niederlassung, die über drei Mitarbeiter verfügte, von Brandl geleitet. Nachdem die Firma »Anti-Rost« mit dem 1. Januar 1950 ihre Tätigkeit eingestellt hatte, machte sich Brandl als Kleinunternehmer im »Metallgroßhandel« selbständig. Vielleicht kamen ihm dabei seine im Generalgouvernement gesammelten Erfahrungen auf dem Gebiet der Rohstoffbewirtschaftung

170 Spruchkammer Passau Stadt und Land, 6. 12. 1948, Sühnebescheid (»Abschrift von der Abschrift« mit Beglaubigungsstempel, Heilbronn 16. 7. 1951), BArch, PERS 101 /82463, Unterbringungsakte, Ministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte in Baden-Württemberg. 171 Vgl. ebenda. Unter derselben Anschrift verzeichnet das Adreßbuch der Stadt Passau 1939, S. 155, den Vater: »Brandl Josef, Oberlehrer i. R.«, wiki-de.ge­ nealogy.net/w/index.php?title=Datei:Passau- AB -1939.djvu&page=165 [19. 11. 2021]. 172 Stadtarchiv Heilbronn, B 75/Gewerbesteuerakten Anti-Rost, und ebenda, B 11 /385, »Hans Schweiger«; auch zum Folgenden. Inhaber von Anti-Rost war ein gewisser Hans Schweiger, über den keine weiteren Informationen gewonnen werden konnten.

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zugute. Brandls Heilbronner Firma existierte noch bis Mitte der 1950er Jahre.173 Mitte 1950 nahm Brandl wieder seinen eigentlichen Namen an174 – den Impuls hierfür gab zweifellos das bundesdeutsche »Gesetz über die Gewährung von Straffreiheit« vom 31. Dezember 1949. § 10 bildete eine Art Wiedereinstiegshilfe für NS-Belastete, die unter falschem Namen lebten, und amnestierte »Straftaten, die zwischen dem 10. Mai 1945 und dem Inkrafttreten dieses Gesetzes zur Verschleierung des Personenstandes aus politischen Gründen begangen wurden«. Voraussetzung war die freiwillige Richtigstellung der falschen Angaben bis zum 31. März 1950 bei einer Polizeibehörde.175 Nachdem er sich »vergewissert hatte, daß man mich nicht mehr verfolgte«  – so die Formulierung in einer späteren Zeugenaussage176  –, scheint sich Brandl bei der Polizei gemeldet zu haben. Hierauf lässt eine Mitteilung schließen, die gemäß einer Notiz auf der Heilbronner Meldekarte von »Karl Müller« am 20. April 1950 seitens der Staatsanwaltschaft Heilbronn erfolgte.177 Schon bald nach seiner Selbst-Enttarnung holte Brandl im November 1950 seine in Passau gemeldete Familie mit Ehefrau und drei Kindern offiziell nach Heilbronn nach.178 Dass Brandl das »Straffreiheitsgesetz« für die Rückkehr in seine eigene Identität nutzte, lässt darauf schließen, dass er nun offenbar auch keine spätere bundesdeutsche Strafverfolgung wegen seiner Aktivitäten vor dem 10. Mai 1945 fürchtete.179 Angemerkt sei, dass § 10 des Straffreiheitsgesetzes  – im Gegensatz 173 Brandl hatte seine Heilbronner Firma, die er durch einen Geschäftsführer leiten ließ, 1954 /55 als Nebentätigkeit angemeldet; vgl. BArch, PERS 101 /82462 (Personalakte Bundesministerium für Verteidigung). 174 Vgl. Vernehmungsprotokoll, 24. 6. 1966, S. 3, LA Berlin, B. Rep. 058, Nr. P (K) Js 7 /68 Lo Bm-Bz: »Den Namen Karl Müller führte ich bis Mitte 1950. Ich wurde seinerzeit amnestiert, nachdem ich mich vergewissert hatte, daß man mich nicht mehr verfolgte.« 175 Bundesgesetzblatt 1949, Nr. 9, S. 37 f.  – Zur Entstehung, zeitgenössischen Rezeption und historischen Einordnung des »Straffreiheitsgesetzes« vgl. Frei, Vergangenheitspolitik, S. 29–53. 176 Vernehmungsprotokoll, 24. 5. 1966, LA Berlin, B. Rep. 058, Nr. P (K) Js 7 /68 Lo Bm-Bz, S. 3. 177 Stadtarchiv Heilbronn, B 15, Meldekarte »Müller, Karl«. Zuvor hatte Brandls Frau in Passau am 27. 2. 1950 eine Staatsangehörigkeitsbestätigung eingeholt, Stadtarchiv Passau, Meldekarte »Brandl, Josef«, Rückseite. 178 Stadtarchiv Heilbronn, B 15, Meldekarte »Brandl, Josef«. 179 Umgekehrt geht Frei, Vergangenheitspolitik, S. 51, wohl mit Recht davon aus, dass viele NS-Belastete das Risiko höher einstuften: Sie hätten »wohl weniger die dann noch anstehende Formsache der Entnazifizierung gefürchtet als eine

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zu den sonstigen Bestimmungen des weitreichenden Amnestiegesetzes – insgesamt nur wohl von wenigen Deutschen in Anspruch genommen wurde180 – ein weiteres Beispiel bietet der später behandelte Karl-Heinz Spilker alias Spölker.181 Im Frühjahr 1951 trat das bereits erwähnte Ausführungsgesetz zu Artikel 131 des Grundgesetzes in Kraft.182 Danach bemühte sich Brandl bei der »Unterbringungsstelle des Landes Württemberg-Baden« um eine Wiederaufnahme in den Staatsdienst. 1952 schlug er ein erstes Angebot für die Stelle eines Sachgebietsleiters im »ERP-Kontor«183 in Bad Godesberg aus, einer Behörde, die dem Bundesministerium für den Marshallplan untergeordnet war. In seinem Antwortschreiben erklärte Brandl selbstbewusst, »von einer Bewerbung […] abgesehen [zu haben], da mich die Bewertung der zu vergebenden Stelle […] zur Ansicht führt, dass die ­auszuübende Tätigkeit weder selbständig ist, noch meine Leistungsfähigkeit ausfüllen würde«.184 Brandl hatte es danach offenbar nicht sonderlich eilig mit seiner Rückkehr in eine staatliche Laufbahn. Anfang Mai 1954 stellte er schließlich ein »Gesuch um Übernahme« in das seit 1950 bestehende Amt Blank, das formal zum Bundeskanzleramt gehörte und dessen Leiter Theodor Blank den komplizierten Titel »Beauftragter des Bundeskanzleramts für die mit der Vermehrung der alliierten Truppen zusammenhängenden Fragen« trug.185 Mit seiner Amtszeit in Galizien ebenso wie mit dem Umstand, dass er sich »der Auslieferung an Polen« »durch die Flucht aus dem Transportzug« hatte entziehen können, ging Brandl in seiner Bewerbung ganz offen um und fügte hinzu: »Heute steht fest, dass irgendwelche Vorwürfe gegen

klage wegen NS-Verbrechen, die aufgrund ihrer Schwere nicht unter die Amnestie gefallen waren.« 180 Frei, ebenda, nennt eine Zahl von »lediglich 241 ›Illegalen‹«, die das Angebot angenommen haben. Ähnlich ders., Identitätswechsel, S. 218. Diese extrem niedrige Zahl ist zu überprüfen, zumal die von Frei angeführten Quellen kurz vor Ablauf der Meldefrist (31. 3. 1950) zu datieren sind; eventuell wurden auch nicht alle Fälle zentral registriert. 181 Vgl. unten S. 401. 182 Vgl. oben S. 148. 183 ERP ist die Abkürzung für die offizielle Bezeichnung des Marshallplans: European Recovery Program. 184 Vgl. Brief der Unterbringungsstelle an Brandl vom 24. 4. 1952, und Antwortschreiben Brandls vom 3. 5. 1952 (Zitat). BArch, PERS 101 /82463, Unterbringungsakte. 185 Ebenda, Gesuch um Übernahme in die Verwaltungslaufbahn, 2. 5. 1954.

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mich nicht erhoben werden.«186 Schließlich lieferte er noch eine Erklärung für den späten Zeitpunkt seiner Bewerbung: »Wenn ich mich erst verhältnismässig spät entschlossen habe, mich wieder um eine Tätigkeit in der Verwaltung zu bewerben, so geht dies nicht zuletzt darauf zurück, dass ich zunächst eine gewisse Konsolidierung der deutschen Verwaltung, die das Gefühl verwaltungsmässiger Unabhängigkeit gibt, abzuwarten für richtig hielt.«187 Vielleicht wollte Brandl kaschieren, dass er eine erste Option des Wiedereinstiegs in den Staatsdienst ausgeschlagen hatte; vielleicht wollte er auch dem Eindruck entgegentreten, sein Abwarten hätte etwas mit einer NS-Belastung zu tun. Wichtiger aber ist wohl ein anderer Aspekt: Der Bewerber signalisierte mit den zitierten Worten ein demonstratives Selbstverständnis als letztlich unpolitischer und vom jeweiligen politischen System unabhängiger Verwaltungsbeamter.188 Der Hinweis auf die »verwaltungsmässige Unabhängigkeit« könnte sich gleichzeitig auf den Souveränitätsgewinn der Bundesrepublik gegenüber den Westalliierten beziehen. Brandls Tätigkeit im Generalgouvernement spielte 1954 bei seiner Einstellung in die Vorgängerinstitution des Verteidigungsministeriums allenfalls eine Nebenrolle. Weder kam der von Musiał und im Anschluss daran auch von Rusinek nahegelegte Einfluss eines galizischen Netzwerkes zur Geltung,189 noch hatte die Arbeit an der Spitze der wirtschaftlichen Distriktverwaltung in Krakau und Lemberg negative Folgen. Zwar notierte 186 Ebenda. 187 Ebenda. 188 Dies entspricht ganz den Befunden in Günther / Maeke, Unpolitischer Beamter. 189 Musiał, Zivilverwaltung, S. 362, führt die Einstellung Brandls und anderer Beamter des Generalgouvernements auf den Einfluss von Eberhard Barth (1897–1972) zurück, der im Amt Blank die Abteilung III (nicht Abt. II wie ebenda angegeben) »Recht und Wirtschaft« leitete. Vgl. zu letzterem Dieter Krüger, Das Amt Blank. Die schwierige Gründung des Bundesministeriums für Verteidigung, Freiburg 1993, S. 53, und Organigramme im Anhang. Rusinek, Fall Greifeld, S. 278 und S. 313, folgt im Wesentlichen der These Musiałs.  – Nach Musiał, Zivilverwaltung, S. 362, hatte Barth im Generalgouvernement in der Lubliner Kanzlei gearbeitet; eine zeitliche Konkretisierung erfolgt nicht. Diese Information fehlt in den sonst zu Barth zu findenden biographischen Angaben; demnach stand Barth bis 1941 im Reichswirtschaftsministerium der Abteilung »Energie« vor und war von 1941 bis 1945 Leiter der Abteilung »Energie« beim »Generalinspektor für Wasser und Energie«, vgl. »Barth, Eberhard«, in: »Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung« online, Biographien; ähnlich z. B. Krüger, Amt Blank, S. 183. Nicht auszuschließen ist, dass bei Musiał eine Namensverwechslung vorliegt. Unabhängig von dieser Frage ist der These Musiałs entgegenzuhalten, dass Barth weder von seiner Position im Amt Blank her, noch nach den in der Personalakte Brandls (BArch, PERS 101 /82462) überlieferten Quellen unmittelbar mit der

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Ernst Wirmer, der die mit dem Personalwesen befasste Abteilung I leitete, nach Sichtung der Bewerbungsunterlagen mit Bezug auf die berufliche Karriere Brandls seit Ende der 1930er Jahre: »Seine Haltung während dieser Zeit, vor allem während seiner Arbeit im sog. Generalgouvernement, interessiert für eine Einstellung in die Dienststelle natürlich auch.«190 Offenbar erbrachte eine von Wirmer angeregte weitere Erkundigung aber nichts Nachteiliges. Wie schon die Wendung »natürlich auch« signalisiert, war ein anderer Faktor bei der Beurteilung Brandls wohl von erheblich größerer Bedeutung: seine Beschäftigung in den Jahren 1936 bis 1938 bei der Reichsumsiedlungsgesellschaft. Brandl hatte seiner Bewerbung die bereits oben zitierte hervorragende dienstliche Beurteilung aus dieser Zeit beigelegt.191 Wirmer selbst war in den Jahren 1937 bis 1939 Mitarbeiter der RUGes gewesen und erinnerte sich noch »sehr gut« an Brandl. Dieser habe innerhalb der Behörde als »ausgezeichneter Jurist« gegolten. Als Zweigstellenleiter sei er zudem »auch in den Verwaltungsdingen gut« [Zitat in der Quelle unterstrichen; d. Verf.] gewesen. Der Eindruck bester fachlicher Eignung überwog demnach die möglicherweise aufgekommene Frage nach Brandls NS-Belastung. Eine kritische Reflexion darüber, mit welchen Aufgaben die Verwaltungsspitze im Generalgouvernement eigentlich beschäftigt war, blieb offenbar aus. Dies mag auf die in den 1950er Jahren beschränkten Kenntnisse über die wirtschaftliche Ausbeutung der besetzten Gebiete und die Durchführung des Holocaust zurückzuführen sein. Bei Wirmer ist dies freilich insofern bemerkenswert, als der aus einem katholischen Milieu stammende Jurist selbst ein NS-Opfer war. In der Endphase des Regimes saß er in »Sippenhaft«, nachdem sein älterer Bruder Josef, der dem Widerstandskreis um Carl Friedrich Goerdeler angehört hatte, im September 1944 hingerichtet worden war.192 In seinem Vorstellungsgespräch Ende Juni 1954, in dem Brandl darauf hinwies, »Erfahrungen auf dem Gebiet der Verwaltung durch seine TätigEinstellung Brandls zu tun hatte. Vielmehr zeigte sich, wie oben ausgeführt, die Involvierung von Ernst Wirmer. 190 Vermerk, 26. 5. 1954, hs. Unterschrift Wirmer, BArch, PERS 101 /82462. 191 Reichsumsiedlungsgesellschaft, Geschäftsführer, Zeugnis, 12. 12. 1938, S. 2, ebenda. 192 Vgl. Eintrag »Ernst Wirmer«, in: Munzinger Online [20. 11. 2021]; Dorothea Oelze, Ernst Wirmer (1910–1981), in: Buchstab, Günter / Kleinmann, HansOtto (Hrsg.), In Verantwortung vor Gott und den Menschen. Christliche Demokraten im Parlamentarischen Rat 1948 /49, Freiburg u. a. 2008, S. 384–390.

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keit im Generalgouvernement zu besitzen«, machte der Jurist »einen sehr guten ordentlichen Eindruck«.193 Als »Regierungsdirektor z.Wv.« wurde Brandl dann am 1. August 1954 in der Außenabteilung Koblenz des Amts Blank eingestellt.194 Diese seit 1953 von Wilhelm Rentrop (1904–1989)195 geleitete Abteilung V des Amts war der Vorläufer des seit 1955 bestehenden »Bundesamtes für Wehrtechnik und Beschaffung«.196 Brandl begann seine zweite Karriere im deutschen Staatsdienst als Verwaltungsangestellter und wurde offenbar sofort Leiter der Referate V/A/1 (»Haushalts- und Kassenwesen«) und A 2 (»Rechtsangelegenheiten«).197 Bereits nach wenigen Monaten erhielt er von Rentrop eine ausgezeichnete dienstliche Beurteilung, in der neben seiner fachlichen Kompetenz (»gute Rechtskenntnisse, eine solide Verwaltungserfahrung«) auch sein Humor und sein Ansehen innerhalb des Amtes hervorgehoben wurden.198 Im Juli 1956 – inzwischen war aus dem Amt Blank das Bundesministerium der Verteidigung geworden und Brandl hatte seinen Wohnsitz nach Koblenz verlegt  – wurde er erneut zum Regierungsdirektor befördert. Diesen erstmals Anfang 1945 erlangten Rang nachzuweisen, hatte Brandl einige Mühe gekostet199 – seine berufliche Vergangenheit in der NS-Zeit war Mitte der 1950er Jahre vor allem ein Thema der dienstlichen Einstufung. Die der Ernennung vorhergehende Beurteilung fiel erneut positiv aus (Gesamturteil »gut«). Die Vorgesetzten betonten insbesondere die Dynamik und Eigenständigkeit (»sehr schaffensfreudig, stark interessiert, unermüdlich tätig«, »sehr entschlussfreudig«, »sehr initiativ«, »sehr verantwortungsfreudig«)  – mit einigen kleinen Einschränkungen.200 In der »zusammenfassenden Beurteilung« heißt es: »B. hat sehr gute Anlagen und bringt für den Beruf des Verwaltungsbeamten viel mit. Um höhere

193 Vermerk von Ernst Wirmer, 29. 6. 1954, BArch, PERS 101 /82462. 194 Dienstliche Beurteilung, 10. 11. 1954, ebenda. 195 Zur Person vgl. »Rentrop, Wilhelm«, in: »Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung« online, Biographien; Rentrop arbeitete von 1936 bis 1945 beim Reichskommissar für die Preisbildung. 196 Vgl. Krüger, Amt Blank, S. 238 f. 197 Vgl. Organigramm der Außenabteilung V (Nov. 1954) des Amts Blank in Krüger, Amt Blank, S. 238 f.; Ernennungsvorschlag, 20. 7. 1956, BArch, B 106 /11466. 198 Dienstliche Beurteilung, 10. 11. 1954, BArch, PERS 101 /82462. 199 Vgl. z. B. die Versicherung an Eides statt des Regierungsdirektors z. Wv., Ludwig Schreiber vom 9. 8. 1955, BArch, PERS 101 /82462. Schreiber war in der Hauptverwaltung Wirtschaft in der Regierung des Generalgouvernements für die Personalverwaltung zuständig gewesen. 200 Dienstliche Beurteilung, 4. 5. 1956, S. 2 f., BArch, PERS 101 /82462.

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Positionen zu erreichen, muß er klarer und genauer werden und sich vor allem davor hüten, zu viel selbst machen zu wollen.«201 Wenige Monate später, mit dem 1.  Dezember 1956, erfolgte Brandls Abordnung in das Atomministerium, der sich am 1. März 1957 die Versetzung anschloss. Die genauen Hintergründe sind unklar. Möglicherweise hing der Vorgang mit dem Ressortwechsel eines anderen Beamten zusammen: Ebenfalls im Jahr 1956 ging Wolfgang Cartellieri, der im Amt Blank und später im Verteidigungsministerium Abteilungsleiter und Vertrauter von Ernst Wirmer gewesen war, ins junge Atomministerium, um dort kommissarisch die Abteilung I (»Allgemeine Angelegenheiten, Recht und Verwaltung«) zu übernehmen und bald darauf Staatssekretär zu werden.202 Die These liegt nahe, dass Cartellieri in Rücksprache mit Wirmer den fachlich bewährten Brandl »mitgenommen« bzw. nachgeholt hat. Beide gehörten somit zum Stamm des im Aufbau befindlichen Ministeriums. Brandl übernahm innerhalb der Abteilung I zunächst das Referat »Volkswirtschaftliche und soziale Angelegenheiten« (I A 3) und wechselte 1957 – im selben Jahr wurde er Ministerialrat und verlegte seinen Wohnsitz von Koblenz nach Bad Godesberg – als Leiter in das Referat »Grundsatzfragen der Atomwirtschaft« (I A 1). Diese Position, die ihn zu einem der ministeriellen Hauptakteure im Ausbau der bundesdeutschen Atomwirtschaft machte, behielt der Jurist bis zu seinem Ausscheiden aus dem Ministerialdienst im Jahr 1961. Zuletzt fungierte er dabei auch als Stellvertreter des Leiters der Gruppe I A (»Recht und Wirtschaft der Kernenergie, Verwaltung«), Ministerialdirigent Dr. Hans Engelhardt. In den im Bundesarchiv Koblenz liegenden Fachakten des Ministeriums sind immer wieder Spuren der Tätigkeit Brandls zu finden, die Ausdruck einer durchaus resoluten Amtsführung waren.203 Ein Organisationsplan des Ministeriums vom 1. Oktober 1960 umreißt folgenden weitgespannten Aufgabenbereich des von Brandl geleiteten Referats:

201 Ebenda, S. 4. Die Beurteilung wurde von Unterabteilungsleiter Kurt Nothnagel (1908–1985, zur Person vgl. Krüger, Amt Blank, S. 193 f.) und Abteilungsleiter Rentrop verfasst. 202 Vgl. unten S. 345. 203 Vgl. z. B. BArch, B 138 /3546, Vermerk Brandls vom 10. 5. 1961 zur Rede von W. A. Menne, Vorsitzender der Fachkommission V der Deutschen Atomkommission, auf der Festsitzung der Kommission am 21. 4. 1961 zur Frage der »Finanzierung des deutschen Atomprogramms«.

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»a) Allgemeine wirtschaftliche Finanzierungs- u. Steuerfragen bei der Nutzung der Kernenergie; Grundsätze der Förderungsmaßnahmen für u. [sic] Beteiligung des Bundes an Wirtschaftsunternehmen; Veränderung der wirtschaftl. und sozialen Struktur: Raumordnung; Ausstellungen; Wirtschaftliche Fragen der Wiedervereinigung; Statistik b) Einzelprüfung der Wirtschaftlichkeit und Bundeszuwendungen an private Empfänger einschl. Prüfung der Verwendungsnachweise; Fragen der Preisbildung bei allen Bundeszuwendungen c) Atomforschungsstätten Karlsruhe und Geesthacht (in Zusammen­ arbeit mit Abt. II); Vorbereitung der Stellungnahme für die Vertreter des Bundes in den Organen dieser Unternehmen«.204 In der zweiten Jahreshälfte 1961 wechselte Brandl aus dem Atomministerium in das im Aufbau befindliche Kernforschungszentrum Karlsruhe,205 mit dem der Jurist bereits als Ministerialrat befasst gewesen war. Zunächst wurde Brandl nur abgeordnet, mit dem 1. Juli 1962 schied er dann aus dem Ministerialdienst aus. Die genauen Motive dieses Schritts waren im Rahmen dieser Studie nicht zu klären. Zweifellos spielte die atom­ politische Herausforderung für den Bund eine Rolle: Die ohnehin schon schwierigen »organisatorischen Verhältnisse« in Karlsruhe waren »noch erheblich komplizierter« geworden, nachdem das Ministerium 1960 »die Stagnation des 1. Atomprogramms (500-MW-Programm)« damit beantwortet hatte, dass es die Initiative zum Bau und zur Finanzierung des »Mehrzweckforschungsreaktors« übernahm.206 Die seit 1959 bestehende, vom Bund (75 Prozent) und vom Land Baden-Württemberg (25 Prozent) getragene »Gesellschaft für Kernforschung mbH« erhielt hierfür eine »Sondergeschäftsführung«, in der Brandl die Rolle als »administrativer Geschäftsführer« zufiel, neben dem technischen Pendant des pensionierten RWE-Vorstandsmitglieds Heinrich Schöller, der bereits 1963 wieder ausschied. Brandl kam somit in eine Schlüsselfunktion der bundesdeutschen Atompolitik. Seine fachlich-juristischen Fähigkeiten, seine 204 Organisationsplan des Bundesministeriums für Atomkernenergie und Wasserwirtschaft, 1. 10. 1960, BArch, B 138 Org. 205 Zur komplizierten Frühgeschichte des Kernforschungszentrums vgl. v. a. Oetzel, Forschungspolitik und Müller, Geschichte, Bd. 2, S. 119–128. Der genaue Zeitpunkt des Wechsels von Brandl konnte nicht ermittelt werden. Nach Rusinek, Fall Greifeld, S. 313, nahm Brandl noch am 28. 6. 1961 als Vertreter des Ministeriums an einer Besprechung teil. 206 Müller, Geschichte, Bd. 2, S. 128; ebenda auch zum Folgenden. Zu den Anteilen von Bund und Land vgl. ebenda, S. 124.

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Abb. 7: Rudolf Greifeld, Walther Schnurr, Josef Brandl, 1960er Jahre (leider liegt das Foto nicht in besserer Qualität vor)

»Entschlussfreudigkeit«207 und sein Kommunikationstalent könnten hierfür wichtige Voraussetzungen gebildet haben. Als Sondergeschäftsführer für den Mehrzweckforschungsreaktor stand Brandl in einem strukturellen und vor allem in der Anfangsphase seiner Karlsruher Tätigkeit konfliktreichen Spannungsverhältnis zu Rudolf Greifeld, der bereits seit 1956 als administrativer Geschäftsführer des Kernforschungszentrums amtierte.208 Selbst um den Ort der jeweiligen Unterschrift auf gemeinsamen Dokumenten wurde gestritten.209 Neben Greifeld und Brandl gehörte in den 1960er Jahren der Führungsspitze des Kernforschungszentrums noch Walther Schnurr an, Brandls zeitweiser Kollege im 207 Vgl. oben S. 322 zur dienstlichen Beurteilung vom 4. 5. 1956. 208 Zu Greifeld und dessen NS-Vergangenheit als Kriegsverwaltungsrat in Paris vgl. Rusinek, Fall Greifeld, sowie Philipp Glahé, Unerhört? Der jüdische Physiker Léon Grünbaum und das Kernforschungszentrum Karlsruhe zwischen anti­ faschistischer Atomkritik und Erinnerungspolitik [Manuskript, Aufsatz erscheint 2023 in VfZ]. Bernd-A. Rusinek danken wir für die Überlassung des zum damaligen Zeitpunkts unveröffentlichten Manuskript; ebenso danken wir Philipp Glahé für die Einsicht in den noch nicht publizierten Aufsatz. 209 Oetzel, Forschungspolitik, S. 233, Anm. 640. Generell zum Konflikt ebenda, S. 233–235.

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Atomministerium, der nun den Posten eines technischen Geschäftsführers bekleidete.210 Mit Greifeld, Schnurr und Brandl (vgl. Abb. 7) war ein massiv NS-belastetes Führungstrio in Karlsruhe installiert, das die Geschicke des Forschungszentrums bis Ende der 1960er Jahre bestimmte. Eine aus der Karlsruher Zeit überlieferte Episode beleuchtet eine gewisse berufliche Skrupellosigkeit Brandls. Als sich am 2. März 1967 am Mehrzweckforschungsreaktor »der erste ernsthaftere Störfall in einem deutschen Kernkraftwerk« ereignete – so Radkau in seiner Studie zur Geschichte der bundesdeutschen Atomwirtschaft  –, löste dieser innerhalb der Leitung des Kernforschungszentrums einen heftigen Konflikt aus.211 Sechs Personen waren kontaminiert worden, doch Brandl »versuchte den Störfall zu bagatellisieren; so etwas sei Routinesache und komme ständig vor«.212 Beim Staatssekretär im Forschungsministerium, Brandls früherem Vorgesetzten und vielleicht auch Förderer Wolfgang Cartellieri, lösten der Vorfall und der Umgang damit hingegen »ernste Sorgen« aus.213 Seit der Einstellung Brandls ins Amt Blank scheint seine NS-Vergangenheit zunächst kein Thema mehr gewesen zu sein. Dies änderte sich in den 1960er Jahren, als er dreimal als Zeuge in Ermittlungsverfahren wegen NS-Verbrechen im Generalgouvernement vernommen wurde. In der Bundesrepublik hatte es seit dem Ulmer Einsatzgruppenprozess im Jahr 1958 und der noch im selben Jahr folgenden Gründung der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg eine gewisse Wiederbelebung der justiziellen Verfolgung von NS- und Kriegsverbrechen gegeben.214 Die erste Zeugenaussage Brandls stand im Kontext der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen in Hannover 1961 gegen den Hauptbeschuldigten SS-Untersturmführer Richard Nitschke, der als zuständiger Polizeiführer in dem polnischen Ort Włodawa östlich von Lublin verschiedene Mordtaten zu verantworten hatte. Unter anderem hatte er im Juli oder August 1942 zahlreiche Kinder deportieren lassen, wahrscheinlich in das

210 Müller, Geschichte, Bd. 2, S. 132.  – Schnurr war, wie später darzustellen sein wird, bereits 1960 nach Karlsruhe gewechselt. 211 Radkau, Aufstieg und Krise, S. 413. Offenbar stand, was ebenda nicht deutlich wird, Brandl dabei im Gegensatz zu Greifeld und Schnurr. 212 Ebenda, S. 413 f. 213 Schreiben Cartellieris an Brandl vom 8. 3. 1967; zitiert nach ebenda, S. 414. 214 Vgl. Andreas Eichmüller, Keine Generalamnestie. Die strafrechtliche Verfolgung von NS-Verbrechen in der frühen Bundesrepublik, München 2012, S. 188–222.

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benachbarte Vernichtungslager Sobibor.215 Das Verfahren gegen Nitschke wurde zehn Tage vor Urteilsverkündung wegen Verhandlungsunfähigkeit eingestellt; mehrere Mitangeklagte wurden am 29. Oktober 1964 vom Landgericht Hannover zu relativ milden Freiheitsstrafen verurteilt. Das Protokoll der Aussage Brandls fehlt in den überlieferten Prozessakten. Die zweite Vernehmung fand am 29.  Juli 1964 in Karlsruhe im Rahmen des Stuttgarter Lemberg-Prozesses statt, der sich mit der Ausbeutung und Ermordung von überwiegend jüdischen Häftlingen im Zwangsarbeitslager Lemberg-Janowska beschäftigte. In diesem Lager  – bzw. in dessen Umgebung – kamen von Ende 1941 bis Ende 1943 infolge unzureichender hygienischer und medizinischer Bedingungen sowie regelmäßiger Massenerschießungen und spontaner Morde rund 40.000 Menschen ums Leben.216 Brandl vermittelte in der relativ kurzen Vernehmung, die von einem Richter durchgeführt wurde, den Eindruck, über die »Judenvernichtung« nur indirekt informiert gewesen zu sein: »Es ergab sich im Laufe der Zeit gleichsam mosaikartig, daß man auch Teile der jüdischen Bevölkerung umbrachte.« Als Leiter der Abteilung Wirtschaft sei er von dem wachsenden Mangel an jüdischen Arbeitskräften betroffen gewesen. »So im Sommer 1942« sei es »allmählich kritisch« geworden. Brandl berichtete über ein Treffen mit Fritz Katzmann, dem bereits mehrfach erwähnten SS- und Polizeiführer, in dem dieser seine Zusage von Arbeits215 Prozessakten in BArch, B 162 /3745. Vgl. auch das Prozessurteil in: Justiz und NS-Verbrechen. Sammlung deutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen 1945–1999, Bd. XX: Die vom 12. 4. 1964 bis zum 3. 4. 1965 ergangenen Strafurteile, bearb. von Irene Sagel-Grande, H. H. Fuchs und C. F. Rüter, Amsterdam 1979, Nr. 582, S. 517–581; zur Einstellung des Verfahrens gegen Nitschke ebenda, S. 526 und S. 576; zur »Kinderaktion« ebenda, S. 534–537. Vgl. zu den Verbrechen auch den Artikel zu »Wlodawa« auf den Internetseiten der Holocaust Historical Society, www.holocausthistoricalsociety.org.uk/contents/ ghettoss-z/wlodawa.html [20. 11. 2021]. 216 IfZ-Archiv, Gs. 5.18 /14, Vernehmung Dr. Josef Brandl, 29. 7. 64, Strafsache gegen Rudolf Röder u. a. wegen Mords (NS-Verbrechen in Galizien), S. 5. Vgl. auch David Alan Rich, Das Zwangsarbeitslager Lemberg-Janowska: Arbeits-, Durchgangs- und Vernichtungslager, in: Huhtasaari, Hanna / Langebach, Martin (Hrsg.), Zeithistorische Beiträge zu ausgewählten Orten nationalsozialistischer Massenmorde / Places of Nazi Mass Murder – Then and Now, www.researchgate.net/publication/317137945_Das_Zwangsarbeitslager_Lemberg-Janowska_ Arbeits-_Durchgangs-_und_Vernichtungslager_Forced_Labor_Camp_Lemberg-Janowska_Labor_Transit_and_Extermination_Camp [20. 11. 2021], und Israel Gutman / Peter Jäckel / Peter Longerich (Hrsg.), Enzyklopädie des Holocaust. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden, Bd. 2, München 1998, S. 657–659.

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kräften zurückgenommen habe: »Damit war die Sache für mich erledigt. Ich konnte nichts mehr machen und habe auch nicht weiter bei Katzmann nach dem Grund gefragt. Es war für mich klar, daß irgend welche Weisungen von oben herab vorliegen mußten, die es verhinderten, daß Katzmann sein Wort halten konnte.« Zum eigentlichen Verfahrensgegenstand blieb die Aussage Brandls noch diffuser: »Mir war auch bekannt, daß in Lemberg ein größeres jüdisches Arbeitslager existierte, ich bin aber nie in dieses hineingekommen.«217 »Von den mir bekannt gegebenen Namen der Angeschuldigten dieses Verfahrens«, könne er sich »nur noch an Inquart erinnern.«218 Ernst Inquart war der Adjudant Katzmanns. »Was er für eine Tätigkeit tatsächlich ausübte, weiß ich nicht.«219 Die dritte Vernehmung, die sich am stärksten auch auf Brandls eigene Verwaltungstätigkeit in Galizien bezog, erfolgte durch Vertreter der Generalstaatsanwaltschaft bei dem Landgericht Berlin und der Staatsanwaltschaft Lübeck am 24. Mai 1966 in der Kriminalaußenstelle Karlsruhe.220 Dabei ging es um die umfangreichen Ermittlungen, die der engagierte Kieler Staatsanwalt Hans Hadeler gegen die ehemaligen Kreishauptleute im Generalgouvernement Hans-Walter Zinser (1908–1972) und Hans-Adolf Asbach (1904–1976) vorantrieb.221 Beide Juristen waren jeweils für längere Zeit im Distrikt Galizien tätig gewesen, beiden wurde die Verantwortlichkeit für bzw. die aktive Mitwirkung an der Ermordung von Juden vorgeworfen. Der Fall war insofern öffentlichkeitswirksam, als Asbach in den 1950er Jahren führendes Mitglied des Blocks der Heimatvertriebenen und Entrechteten222 war, einer rechtslastigen Klientelpartei, und von 1950 bis 1957 als Sozialminister in Schleswig-Holstein amtierte. Zinser machte eine Nachkriegskarriere als Jurist; von 1953 bis 1972 war er als Richter am Bundesverwaltungsgericht Berlin tätig. Trotz umfangreichen 217 IfZ-Archiv, Gs. 5.18 /14, S. 5. 218 Ebenda, S. 3. 219 Ebenda, S. 5. 220 Vernehmungsprotokoll, 24. 5. 1966, LA Berlin, P(K) Js 7 /68, LO Bm-Bz. Das Protokoll ist auch in BArch, B 162 /4138 überliefert. 221 Zu den beiden ehemaligen Kreishauptleuten und zu den juristischen Verfahren in der Bundesrepublik vgl. Roth, Herrenmenschen, passim; sowie speziell zu Asbach auch Arne Bewersdorf, Hans-Adolf Asbach. Eine Nachkriegskarriere: Vom Kreishauptmann zum Landessozialminister, in: Demokratische Geschichte. Jahrbuch für Schleswig-Holstein 19 (2008), S. 71–112; Uwe Danker, Geteilte Verstrickung: Elitenkontinuitäten in Schleswig-Holstein, in: ders. (Hrsg.), Geteilte Verstrickung, Bd. 1, S. 22–308, hier S. 211 f. 222 Seit 1952 Gesamtdeutscher Block / Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten.

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Materials wurde das Ermittlungsverfahren gegen Zinser 1969 und die an das Ermittlungsverfahren anschließende »Voruntersuchung« im Falle Asbach 1976 eingestellt. Die dubiose Geschichte dieser Ermittlungen  – so wurde Staatsanwalt Hadeler 1968 plötzlich an das Kraftfahrt-Bundesamt versetzt – ist selbst schon zu einem geschichtswissenschaftlichen Thema geworden.223 Im Hinblick auf Asbach und Zinser konnte oder wollte Brandl in seiner über fünfstündigen Vernehmung, in der neben Hadeler ein weiterer Staatsanwalt und ein Kriminalkommissar mitwirkten,224 nichts Belastendes beitragen. Soweit sie Brandls eigene Tätigkeit an der Spitze der Wirtschaftsverwaltung in Galizien sowie seine Kenntnisse vom Holocaust betreffen, ist von wesentlichen inhaltlichen Aspekten seiner Aussagen bereits oben im Kontext der Tätigkeit Brandls in Galizien die Rede gewesen. Insgesamt deuten die Unterlagen darauf hin, dass es der Karlsruher Sondergeschäftsführer und Ministerialrat a. D. geschickt verstand, seine eigene Mitverantwortlichkeit für das mörderische Besatzungsregime zu verschleiern. Seine Verteidigungslinie war eine dreifache: Zum einen erklärte er, qua Amt in keiner Weise am Völkermord beteiligt gewesen zu sein. Zweitens hätten »die Angehörigen der Zivilverwaltung damals am Schicksal der jüdischen Bevölkerung nichts ändern« können und vorsichtig sein müssen, keine persönlichen »Nachteile« zu haben.225 Und drittens führte er an, versucht zu haben, die jüdischen Arbeitskräfte so lange wie möglich vor dem Zugriff der SS zu schützen. Auch in Brandls Vernehmung kam dabei der nach dem Zweiten Weltkrieg von den Beteiligten – so auch von Asbach, der Hauptfigur des Verfahrens – immer wieder evozierte Mythos der »sauberen Verwaltung« zum Tragen; dies bedeutete auch, alle Schuld auf die Verbrechen der SS abzuschieben.226 Gleichzeitig versuchte Brandl sogar den Eindruck zu erwecken, in innerer Distanz zum Regime und seiner Verbrechen gestanden zu haben.227 223 Vgl. Roth, Herrenmenschen, S. 354–372; ebenda, S. 361–370, zu Hadeler. 224 Vernehmung Brandls am 24. 5. 1966, LA Berlin, B. Rep. 058, Nr. P (K) Js 7 /68 Lo Bm-Bz. 225 Ebenda, S. 24. Vgl. auch ebenda: »Keiner aus unserem Kreise hat und konnte ernstlich gegen die Judenaktion protestieren.« 226 Vgl. Roth, Herrenmenschen, S. 254–257. 227 So behauptete Brandl nach einer diesbezüglichen Frage: »Den Ausspruch ›Gnade uns Gott, wenn das vergossene Blut über uns kommt‹ habe ich in dieser oder in ähnlicher Weise wohl selbst, und zwar anlässlich des Besuches des Leiters der Treuhandsverwaltung aus Berlin – Höppker[sic!]-Aschoff im Hotel bei einem Abendessen gemacht. Bei dem Essen haben etwa 6 bis 8 Personen teilgenommen. Ich hatte anschließend noch Befürchtungen, daß mir auf Grund dieser

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Aufschlussreich für Brandls Umgang mit seiner NS-Vergangenheit ist das Anschreiben, mit dem er Hadeler Anfang Juli das korrigierte Vernehmungsprotokoll zusandte.228 Brandl hatte dem Staatsanwalt »zugesagt«, mit zwei Personen »in keine Verbindung zu treten«, die noch als Zeugen vernommen werden sollten. Eine davon war der ehemalige Hauptstabsleiter im Reichsnährstand und Leiter der Landwirtschaftsabteilung des Distrikts Galizien229 Hanns Gareis (1896–1972), ein »Corpsbruder« von Brandl, der in den 1950er Jahren Abteilungschef im Bonner Landwirtschaftsministerium wurde.230 Brandl gab an, dass er ein baldiges Zusammentreffen mit Gareis nicht werde vermeiden können. Er nehme aber an, dass Hadeler Gareis inzwischen vernommen habe, »so daß meine Zusage, mit ihm über diese Dinge nicht zu reden, gegenstandslos« sei. Außerdem könne er Gareis nicht beeinflussen, da er »zur Sache Dienliches nicht [wisse]«. »Im übrigen«, so schloss Brandl seinen Brief, »bitte ich ver­ sichert zu sein, daß ich keineswegs die Absicht habe, diese alten Dinge, die uns alle sehr belastet haben, neuerlich zu erörtern.« Bemerkenswert ist hier vor allem dreierlei: zum einen das sprachliche Aufabstandhalten »dieser (alten) Dinge«,231 zum anderen die Verwendung des Belastungsbegriffs im Sinne einer psychischen Belastung, wobei es wohl mehr um eine eigene Opferrolle als um die eigene persönliche Verantwortung geht, und drittens der Gebrauch von »belasten« in einer Vergangenheitsform und nicht im Präsens – wenngleich das Perfekt kungen irgend etwas passieren würde.« Vernehmung Brandls am 24. 5. 1966, LA Berlin, B. Rep. 058, Nr. P (K) Js 7 /68 Lo Bm-Bz, S. 19. – Der ehemalige DDPPolitiker und preußische Finanzminister Hermann Höpker-Aschoff (1883– 1954) war Abteilungsleiter der Haupttreuhandstelle Ost; nach 1945 wurde er Mitglied des Parlamentarischen Rates, FDP-Bundestagsabgeordneter und erster Präsident des Bundesverfassungsgerichts; vgl. die kritische biographische Skizze in Dingell, Zur Tätigkeit der Haupttreuhandstelle Ost, S. 83–85. 228 Schreiben vom 4. 7. 1966, LA Berlin, B. Rep. 058, Nr. P (K) Js 7 /68 Lo Bm-Bz. 229 Vgl. Vernehmung Brandls am 24. 5. 1966, LA Berlin, B. Rep. 058, Nr. P (K) Js 7 /68 Lo Bm-Bz, S. 21. 230 Zu Gareis vgl. D. Pohl, Judenverfolgung, S. 212; Roth, Herrenmenschen, S. 421; »Gareis, Hanns«, in: »Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung« online, Biographien. Als »Corpsbruder« wurde »Dr. Gareis« von Brandl in der Vernehmung tituliert (S. 4), ebenso wie »Dr. Neumann« – gemeint ist wohl Heinz-Georg Neumann, nach D. Pohl, Judenverfolgung, S. 115, in Galizien »Leiter der Präsidialabteilung beim Gouverneur«. Hadeler hatte Brandl offenbar auch den Kontakt mit Neumann untersagt. – Zur Mitgliedschaft von Brandl im Münchner Corps Bavaria vgl. oben S. 292. 231 Vgl. zu dieser charakteristischen Wendung, die einmal mit und einmal ohne dem Adjektiv »alt« verwendet wurde, auch oben S. 310.

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im Deutschen meist auch einen Gegenwartsbezug besitzt. Die Interpretation dieses Satzes bietet eine ganze Reihe von Möglichkeiten: Wollte Brandl dem Staatsanwalt nur nachdrücklich zusichern, nicht mit Gareis über »diese alten Dinge« zu sprechen? Oder wollte er ihm indirekt auch signalisieren, dass er selbst zu keinen weiteren Zeugenaussagen bereit sei? Fürchtete Brandl gar das Aufbrechen der Vergangenheit für sich selbst – psychisch oder auch strafrechtlich? Als potentieller Täter geriet Brandl weder in den 1960er Jahren noch danach ins Visier bundesdeutscher Staatsanwälte, die  – vielleicht mit Ausnahme des erwähnten Hans Hadeler – offenbar noch kaum einen Blick für die Involvierung der Zivilverwaltung des Generalgouvernements in NS-Verbrechen besaßen. Allerdings muss erwähnt werden, dass es noch Jahrzehnte dauern sollte, bis entsprechende geschichtswissenschaftliche Studien vorlagen,232 und dass der Forschungsbedarf weiterhin hoch ist. Etwas schärfer war die Wahrnehmung der DDR-Staatssicherheit, die immer nach belastendem Material gegen die Bonner Republik suchte. In dem Material, das heute in der »Stasi-Unterlagenstelle« einzusehen ist und das im Jahr 1968 vom Deutschen Zentralarchiv in Potsdam zusammengestellt worden war, wurde Brandl als »leitender Beamter der faschistischen Okkupationsbehörden« bezeichnet, und galt als »mitverantwortlich für die Ausbeutung der polnischen Bevölkerung und die wirtschaftliche Unterdrückung und Ausbeutung ihres Landes«. Der Kontext der Judenverfolgung und des Holocaust blieb allerdings ausgeblendet.233 Warum Brandl trotz der Materialerhebung und der vom Zentralarchiv der DDR konstatierten »belastenden Gesichtspunkte« weder in der dritten Auflage des Braunbuchs (1968) noch im »Bonner Kernwaffenkartell« (1969) vorkam, ist unklar.234 1968 schied der inzwischen 67-jährige Brandl aus dem Karlsruher Kernforschungszentrum aus. Seit November 1971 war er wieder in Passau gemeldet, wo er wohl weitgehend zurückgezogen lebte. 1981, vermutlich anlässlich seines 80. Geburtstages, wurde er zum »Ehrenrat« des – Mitte der 1930er Jahre zeitweise von ihm geleiteten  – Passauer Rudervereins

232 Genannt seien v. a. D. Pohl, Judenverfolgung; Sandkühler, »Endlösung«; Musiał, Zivilverwaltung; Roth, Herrenmenschen. 233 BStU, MfS HA IX/11 PA 5439. Zitat ebenda, Bl. 7. 234 Zu den beiden Propagandapublikationen mit zahlreichen Kurzbiographien von Politikern und Wirtschaftsvertretern vgl. oben S. 31.

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e­ rnannt.235 Am 13. August 1991 ist Josef Brandl im Alter von 90 Jahren in Passau gestorben. Noch zu Lebzeiten tauchte Brandl vereinzelt in der geschichtswissenschaftlichen Forschungsliteratur zur bundesdeutschen Atomwirtschaft auf.236 Mitte der 1990er Jahre, als sich eine breit angelegte Holocaustforschung etablierte und erste Arbeiten zur deutschen Besatzungsherrschaft im Generalgouvernement erschienen, fand sein Name dann auch Eingang in die diesbezügliche Literatur.237 Die stärkste Zuschreibung von NS-Belastung erfolgte in einem »Spiegel«-Artikel Götz Alys aus dem Jahr 1999, wonach Brandl als Teil der galizischen Zivilverwaltung zu einem Personenkreis gehörte, der sich »kraft Amtes mit der Vernichtung von insgesamt 500  000 ostgalizischen Juden« befasste.238 Diese extrem pointierte Einschätzung steht im Kontext der neueren Holocaustforschung, die den Massenmord als arbeitsteiligen Prozess versteht, an dem auch die Wehrmacht und die zivile Besatzungsherrschaft beteiligt waren. Die Verbindung der beiden biographischen Aspekte – NS-Besatzungsherrschaft und Atomwirtschaft  – erfolgte seither in einzelnen Veröffentlichungen der kernkraftkritischen Publizistik.239 Den ersten Impuls für eine genauere wissenschaftliche Beschäftigung mit Brandls NS-Vergangenheit gab es im Jahr 2013, als die NS-Belastung von Rudolf Greifeld, dem langjährigen administrativen Leiter des Karlsruher Kernforschungszentrums, für Schlagzeilen sorgte. So titelten die »Badischen Neuesten Nachrichten« im März 2013: »Die NS-Zeit holt nun auch das KIT ein«. Der Artikel erwähnte auch andere potentiell NS-belastete Spitzenmanager des Kernforschungszentrums, das 2009 im Karlsruher Institut für Technologie (KIT) aufgegangen war, und verwies dabei auch auf Brandl: »Der Historiker Götz Aly zählt ihn zu den Verwaltungsleuten, die in der NS-Zeit die rigorose Judenpolitik in Ostgali-

235 Nachruf des Passauer Rudervereins auf Josef Brandl, in: Neue Passauer Presse, 20. 8. 1991, S. 27. 236 Vgl. z. B. Radkau, Aufstieg und Krise, S. 413, 415; Oetzel, Forschungspolitik, S. 233 f. Bei diesen Erwähnungen gibt es keinen Bezug zur NS-Zeit. 237 Wie bereits angemerkt, wird Brandl in den Standardwerken von D. Pohl, Judenverfolgung, S. 412, und Musiał, Zivilverwaltung, S. 363, erwähnt. Hier im Personenregister irrtümlich als »Brand, Josef«. 238 Götz Aly, Das unbewältigte Verbrechen. Die Ausrottung der europäischen ­Juden, in: Der Spiegel, 6. 9. 1999, S. 199. 239 Vgl. z. B. den Blog »German Foreign Policy«, www.stattweb.de/files/civil/ Doku20120628.pdf [20. 11. 2021].

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zien zumindest hautnah miterlebten.«240 Nach der »Distanzierung« der Universität Karlsruhe im Dezember 2015 von der einst an Greifeld verliehenen Ehrensenatorenwürde erteilte das KIT dem Historiker Bernd-A. Rusinek den Auftrag für ein Gutachten, in dem auch die NS-Vergangenheit anderer Karlsruher Atommanager – neben Brandl der Physiker Otto Haxel s­owie die Chemiker Gerhard Ritter und Walther Schnurr – geklärt werden sollte. Dieses sehr umfangreiche Gutachten ist Anfang 2019 in Buchform erschienen; ein eigenes Kapitel widmet sich hier der Biographie Brandls bis in die Nachkriegszeit.241 Eine detaillierte Untersuchung von Brandls Rolle in der administrativen Spitze des Generalgouvernements steht freilich weiterhin aus. Eine derartige Studie, die vor allem auf Material aus ukrainischen und polnischen Archiven zurückgreifen müsste, böte die Chance, die im Spannungsfeld von wirtschaftlicher Ausbeutung, Zwangsarbeit und Holocaust stehende deutsche Wirtschaftsverwaltung näher zu beleuchten.

2. Wolfgang Cartellieri (1901–1969), Abteilungsleiter und Staatssekretär Wolfgang Cartellieri war eine der prägenden Figuren im frühen Atomund Forschungsministerium. Aus großbürgerlich-deutschnationalem Milieu stammend  – sein Vater war der Historiker Alexander Cartellieri  –, schloss er sich als 17-Jähriger einem Freikorps an. Seine juristische Laufbahn begann Cartellieri als Richter in der Weimarer Republik. Der Aufstieg zum Landgerichtsdirektor (1940) erfolgte in der NS-Zeit trotz ­ SDAP-Mitgliedschaft seit 1936 nur in gebremster Form, da er von der N zuständigen Gauleitung mit ideologischem Misstrauen betrachtet wurde. Der Militärdienst führte Cartellieri, nachdem er aus Gesundheitsgründen für frontuntauglich erklärt worden war, Anfang 1942 in den Wehrmachtführungsstab. Nach Kriegsgefangenschaft und freiberuflicher Tätigkeit setzte er seine Karriere im Staatsdienst seit 1951 zunächst im Amt Blank und dann im Bundesverteidigungsministerium fort. 1956 wechselte er in das Atomministerium und nahm dort – bzw. später im Forschungsministerium – von 1959 bis zu seiner Pensionierung 1966 den Rang eines Staatssekretärs ein. 240 Klaus Gaßner, Die NS-Zeit holt nun auch das KIT ein, in: Badische Neueste Nachrichten, 15. 3. 2013. 241 Rusinek, Fall Greifeld, S. 289–322.

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Wolfgang Cartellieri wurde am 5. Oktober 1901 in Heidelberg als Sohn des Universitätsprofessors und bekannten Mediävisten Alexander Cartellieri in einem protestantischen, großbürgerlichen, nationalkonservativen und antirepublikanischen Elternhaus geboren.242 Wolfgang Cartellieris Tagebuch dokumentiert die Verzweiflung des kaisertreuen Pennälers über eine »furchtbare Zeit, die schrecklicher nicht ausgemalt werden kann« – die Novemberrevolution von 1918 und den Zusammenbruch der Monarchie.243 Folgt man seiner Darstellung, engagierte sich Cartellieri Anfang 1919 im Wahlkampf zur verfassunggebenden Nationalversammlung für die Deutschnationale Volkspartei (DNVP). Ende April 1919 leistete er gemeinsam mit anderen Schülern freiwilligen Ordonanzdienst für die nach Jena verlegten Truppen der vorläufigen Reichswehr: »Eine komische Abwechslung. Ein Teil des Tages in der Schule, die andere Hälfte mitten im militärischen Getriebe, im Stabe!«244 Bis Anfang Mai 1919 nahm Cartellieri als 17-jähriger Zeitfreiwilliger der berüchtigten Garde-Kavallerie-Schützen-Division mit Einverständnis seiner Eltern und seiner Schule an der Niederschlagung der Münchner Räterepublik teil.245 Die erbitterten Kämpfe in der bayerischen Hauptstadt kosteten mehreren hundert Menschen das Leben. Im Tagebuch des faszinierten Jugendlichen erscheinen die wilden »Schießereien«, das Stand242 Quellengrundlage Cartellieri: BArch, B 138 /40317; N 1092 /1; R 9361-VIII Kartei/5031230; BStU, MfS HA IX/11 PA 2703; LATh-HStA Weimar, Personalakten aus dem Bereich Justiz, Nr. 1475–1477; LATh-StA Gotha, Landgericht Erfurt, Nr. 421; LATh-StA Gotha, Staatsanwaltschaft beim Landgericht Erfurt 1851– 1951, Nr. 309; WASt [Informationen zum militärischen Werdegang]. Literatur: Habel (Hrsg.), Wer ist wer?; »Cartellieri, Wolfgang«, in: »Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung« online, Biographien; Eintrag »Wolfgang Cartellieri«, in: Munzinger Online [20. 11. 2021]. 243 Tagebucheintrag vom »8. Neblung« (November) 1918, BArch, N 1092 /11, Bl. 1259. 244 Tagebucheintrag vom 25. 4. 1919, ebenda, Bl. 1383. 245 Vgl. die Einträge im Tagebuch seines Vaters vom 27. 4. 1919, 30. 4. 1919, 19. 10. 1919 und 14. 3. 1920, in: Alexander Cartellieri, Tagebücher eines deutschen Historikers. Vom Kaiserreich bis in die Zweistaatlichkeit (1899–1953), hrsg. von Matthias Steinbach und Uwe Dathe, München 2014, S. 367 f., S. 387 und S. 405, und LATh-StA Gotha, Landgericht Erfurt Nr. 421, Beförderungsvorschlag von 1936. In einer Dienstzeitberechnung vom 11. 1. 1943 wurde ihm Heeresdienst vom 5. 10. 1919 bis zum 12. 3. 1920 anerkannt, LATh-HStA Weimar, Personalakten, Nr. 1477, Bl. 24. Eine Bekanntschaft Cartellieris und Brandls aus ihrer Münchner Freikorpszeit ist (auch aufgrund ihres gemeinsamen Jahrgangs) nicht ausgeschlossen, aber unwahrscheinlich, da zwischen den bayerischen und den preußischen Truppen Rivalität bestand.

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recht und der »wüsteste Dachkampf« wie ein aufregendes Abenteuer. Offenbar tiefen Eindruck hinterließen zwei Begegnungen mit »Deutschlands berühmte[m] Seehelden« Hellmuth von Mücke im Mai 1919, der in Jena für seine Idee eines vaterländischen Jugendbundes warb.246 Vielleicht auch unter Mückes Einfluss trat Cartellieri nach dem Notabitur in den »Grenzschutz Ost« ein und zog im Sommer 1919 mit dem Freikorps Dohna nach Oberschlesien, wofür er mit dem »Schlesischen Bewährungsabzeichen« der ersten und zweiten Stufe ausgezeichnet wurde.247 In seinen Aufzeichnungen aus Oberschlesien erwähnt Cartellieri Patrouillen, Wachdienste, Hausdurchsuchungen und Verhaftungen, aber keine Kampfhandlungen. Nach seinem Ausscheiden aus der Reichswehr im März 1920 studierte er Rechts- und Staatswissenschaften, absolvierte das erste Staatsexamen im Mai 1923 mit »gut«, das zweite im November 1926 mit »vollbefriedigend« und wurde bereits 1923 mit einer Arbeit zur »außervertragliche[n] Haftung im Luftverkehr« in Jena promoviert.248 Im April 1923 wies der selbstbewusste Cartellieri das Prüfungsamt beim Oberlandesgericht Jena stolz darauf hin, dass das Leipziger Reichsgericht gerade in einem Präze-

246 Tagebucheintrag vom 19./20. 5. 1919, BArch, N 1092 /11, Bl. 1404. Kapitänleutnant Hellmuth von Mücke (1881–1957) war bekannt geworden, als er eine kleine Gruppe Matrosen des versenkten deutschen Kreuzers Emden in einer abenteuerlichen Reise 1914 /15 von den Kokosinseln über die Hedschasbahn und Konstantinopel zurück nach Berlin brachte. 1919 engagierte sich Mücke zuerst für die DNVP, dann für die frühe NSDAP, bevor er sich Ende der 1920er Jahre wieder von deren politischen Zielen distanzierte. Zu Mückes Bedeutung vgl. Niels Weise, »Bravo, kleiner Kreuzer!« S. M. S. Emden in der Propaganda (1914–1945), in: Röben, Christian (Hrsg.), Zwischen Mythos und Wirklichkeit. Kleiner ­Kreuzer S. M. S. Emden, Oldenburg 2014, S. 95–112, und Niels Weise, »Die Namen, Jungens, merket euch.« Die Instrumentalisierung des Emden-Mythos im Abenteuer- und Jugendroman sowie im Spielfilm (1915–2014), in: ebenda, S. 113–120. 247 Auskunft des LATh-StA Gotha vom 28. 3. 2018, Personalnachweisungen der Richter ab 1928, Landgericht Erfurt Nr. 317; BStU, MfS HA IX/11 PA 2703, Bl. 31–33, und Lebenslauf Cartellieri vom 24. 2. 1923, LATh-HStA Weimar, Personalakten, Nr. 1475, sowie Tagebuch Cartellieri, BArch, N 1092 /11; Reichswehrpässe, Führungszeugnis und Verleihungsbescheinigungen der Bewährungsabzeichen in BArch, N 1092 /2. – Zu den Aufständen vgl. Bernhard Sauer, »Auf nach Oberschlesien.« Die Kämpfe der deutschen Freikorps 1921 in Oberschlesien und den anderen ehemaligen deutschen Ostprovinzen, in: ZfG 4 (2010), S. 297–320. 248 Biographische Information laut Auskunft des LATh-StA Gotha vom 28. 3. 2018, Personalnachweisungen der Richter ab 1928, Landgericht Erfurt Nr. 317.

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denzfall zu demselben Ergebnis gekommen sei, wie er in seiner arbeitsrechtlichen Abschlussarbeit.249 Zu dieser Zeit vertrat Cartellieri völkische Ansichten. 1929 befürwortete er den Volksentscheid gegen den Young-Plan.250 Von 1920 bis zu ihrer Auflösung war er Mitglied der DNVP und spätestens seit März 1924 des »Stahlhelms«.251 Trotz Mitgliedersperre wurde er zum 1. April 1936 in die NSDAP (Nr. 3.769.244) aufgenommen – durch eine Sonderaufnahme für ehemalige Stahlhelm-Angehörige, die dem republikfeindlichen Soldatenbund schon vor 1933 angehört hatten.252 Darüber hinaus war er Mitglied in der NSV, im NSRB, im Deutschen Luftsportverband (ab 1937: NSFK), Reichsluftschutzbund, Reichskolonialbund, Volksbund für das Deutschtum im Ausland (VDA) und im Soldatenbund.253 Seit dem 1. Januar 1938 engagierte sich Cartellieri als »Blockwalter« der NSV254 – ein ehrenamtlicher unterer Parteifunktionär, der in seinem örtlichen Wohnblock in Parteiuniform Sammlungen durchführen, Propaganda betreiben und soziale Überwachung praktizieren sollte. In seinem Entnazifizierungsverfahren, auf das ausführlicher an späterer Stelle eingegangen wird, gab Cartellieri an, auf dienstlichen Druck in die NSDAP und deren Gliederungen eingetreten und immer oppositionell gewesen zu sein.255 Bei den Reichstagswahlen von November 1932 und März 1933 habe er die DNVP gewählt. Nach Stationen an mehreren Amtsgerichten und dem Landgericht Magdeburg zwischen September 1926 und Ende November 1932 wurde Cartellieri Amtsrichter in Suhl, ab Juni 1932 Landgerichtsrat beim Land-

249 LATh-HStA Weimar, Personalakten, Nr. 1475, Bl. 160. 250 Vgl. A. Cartellieri, Tagebücher, S. 506 und S. 598. 251 Gegenüber der Thüringer Gauleitung bestand Cartellieri 1937 darauf, Mitglied der DNVP und nicht der nationalliberalen, republikstützenden DVP gewesen zu sein, vgl. LATh-HStA Weimar, Personalakten, Nr. 1476, Bl. 295. Die angebliche DVP-Mitgliedschaft findet sich auch in Cartellieris Erfurter Entnazifizierungsbescheid, LATh-HStA Weimar, NS-Archiv des MfS, ZA I, Nr. 7184, Akte 29, Bl. 11. 252 BArch, R 9361-VIII Kartei/5031230. Zur Sonderaufnahme vgl. Falter, Wer durfte NSDAP-Mitglied werden, S. 25. 70 % aller in Frage kommenden ehemaligen Stahlhelm-Angehörigen nahmen die Gelegenheit zum NSDAP-Eintritt wahr. 253 LATh-HStA Weimar, NS-Archiv des MfS ZA I 7184, Akte 29, Bl. 4, sowie Fragebogen BArch, N 1092 /18, Bd. 1. 254 LATh-HStA Weimar, Personalakten, Nr. 1476, Bl. 226. 255 Vgl. das Schreiben von Cartellieris Rechtsbeistand an den öffentlichen Kläger bei der Spruchkammer Heidelberg vom 23. 9. 1946, BArch, N 1092 /18, Bd. 1.

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gericht Erfurt und zwischen Oktober 1936 und Mai 1937 auch Hilfsrichter beim Oberlandesgericht in Naumburg (Saale).256 Seine anstehende Beförderung zum Landgerichtsdirektor verzögerte sich von 1937 bis August 1940, da ihm die Thüringer Gauleitung unterstellte, nur ein Konjunkturritter zu sein, der sich in der NSV lediglich aus Opportunismus engagiere und der NSDAP auch Jahre »nach der Machtergreifung innerlich fremd gegenüber«257 stehe. Auf die Vorhaltung der Gauleitung, dass »seine Opferbereitschaft […] besser sein« könnte, reagierte Cartellieri im November 1937 mit einem dreiseitigen Schreiben mit zwölf Anlagen, in dem er erbost und akribisch Stellung zu seinem Spendenverhalten und seinen wirtschaftlichen Verhältnissen nahm. Die Gauleitung blieb aber bei ihren Vorwürfen und attestierte ihm im Dezember 1938 in einer politischen Beurteilung mit gehässigem Unterton »ausgeprägte[n] Ehrgeiz«.258 Soweit bislang bekannt, lassen Cartellieris Urteile keine nationalsozialistischen Rechtsbeugungen oder Härten erkennen. Im Gegenteil war Cartellieri in Revisionsverfahren auch an Urteilsabmilderungen beteiligt.259 In einer Beurteilung durch den Erfurter Landgerichtspräsidenten vom 14. 12. 1937 heißt es, Cartellieri habe »auf allen Gebieten Lobenswertes geleistet. Das gilt insbesondere von seiner Tätigkeit als Gemeinschaftsleiter der Referendare, wo er nicht nur gründliche fachliche Schulung bietet, sondern seinen Schützlingen auch persönlich nahe kommt und ihnen Helfer und Berater ist. Cartellieri ist eine kritische Natur, die leicht zu Beanstandungen neigt und so manchen, insbesondere den ihm geistig Untergelegenen unbequem wird. […] Er eignet sich zu höheren Stellen, vor allem auch zu solchen, in denen ein gewisses repräsentatives Auftreten ­erforderlich wird.«260 Seine »politische Haltung« sei »die eines alten Stahlhelmers, der zunächst mit der nationalsozialistischen Bewegung in manchem nur zögernd mitgegangen ist, der aber jetzt als fester Anhänger der Partei gelten kann.«261 256 Vgl. Ernennungsvorschlag 20. 7. 1957, S. 2, BArch, B 138 /40317, N 1092 /1: AG Freyburg 1926, LG Magdeburg 1927, AG Suhl 1932 (Amtsgerichtsrat), AG und LG Erfurt April 1933. 257 LATh-HStA Weimar, Personalakten, Nr. 1476, Bl. 296. 258 Ebenda, Bl. 277–278 und Bl. 295. 259 Vgl. etwa LATh-StA Gotha, Staatsanwaltschaft beim Landgericht Erfurt 1851– 1951, Bl. 33. 260 LATh-HStA Weimar, Personalakten, Nr. 1476, Bl. 21. 261 Ebenda. Hier ist zu berücksichtigen, dass sich derartige Beurteilungen der politischen Zuverlässigkeit gelegentlich auch der erwarteten Phrasen bedienten, um dem Beurteilten keine Steine in den Weg zu legen.

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Nach seiner Ernennung zum Landgerichtsdirektor im August 1940 war zunächst beabsichtigt, ihn nach dem Kriegsdienst beim Landgericht Nordhausen einzusetzen. Zum 1. 12. 1942 wurde er (für die Zeit nach seiner Entlassung) an das Landgericht Erfurt versetzt.262 Laut Stasiunterlagen aus den 1970er Jahren war Cartellieri zu einem ungenannten Zeitpunkt auch am Landgericht und Sondergericht Nordhausen (das nie existierte) und am Sondergericht Bromberg tätig.263 Sondergerichte waren nach 1933 zur Herrschaftssicherung geschaffene nationalsozialistische Terrorgerichte auf der Basis der die Grundrechte aussetzenden »Reichstagsbrandverordnung«; vor allem während des Krieges verhängten Sondergerichte eine Vielzahl von Todesurteilen.264 Nach momentanem Kenntnisstand kann eine Tätigkeit Cartellieris am Sondergericht Bromberg jedoch wohl ausgeschlossen werden.265 Wolfgang Cartellieri heiratete am 9. September 1936 die Tochter eines bekannten Gewehrfabrikbesitzers.266 Seine Frau und er hatten zwei Kinder.267 Als Leutnant der Reserve wurde er nach Kriegsbeginn im Herbst 1939 eingezogen und leistete seinen Wehrdienst zuerst in einem Schützen262 LATh-HStA Weimar, Personalakten, Nr. 1477, Bl. 1. Zur Versetzung nach Nordhausen vgl. auch Anschreiben zur Ernennungsurkunde Landgerichtsdirektor vom 17. 8. 1949, BArch, N 1092 /2. 263 BStU, MfS HA IX/11 PA 2703. Die in der Stasiunterlagenbehörde überlieferten Aktensplitter vermitteln den Eindruck, dass die Staatssicherheit ergebnislos nach belastendem Material über Cartellieri suchte. 264 Vgl. Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.), »…eifrigster Diener und Schützer des Rechts, des nationalsozialistischen Rechts …«. Nationalsozialistische Sondergerichtsbarkeit. Ein Tagungsband, Düsseldorf 2007. 265 Eine namentliche Liste der am Sondergericht Bromberg tätigen Staatsanwälte und Richter findet sich auch bei Edmund Zarzycki, Działalność hitlerowskiego sądu specjalnego w Bydgoszczy w sprawach o wypadki z września 1939, Warschau 1976, S. 117–119. Cartellieri ist dort nicht verzeichnet. 1940 wurde für die Landgerichtsbezirke Erfurt und Nordhausen ein Sondergericht beim Landgericht Erfurt eingerichtet. Als Richter lässt sich Wolfgang Cartellieri dort zumindest zwischen 1936 und 1944 nicht nachweisen. Nach dem 20. Juli 1944 wurde das Sondergericht Erfurt aufgehoben, sein Bezirk dem Sondergericht Weimar zugeteilt. Die meisten am Sondergericht tätigen Richter kamen aufgrund ihrer schlechten Examensnoten nicht für eine Versetzung an ein höheres Gericht oder eine höhere Behörde in Frage, was für Cartellieri wohl nicht zutrifft, vgl. Gerd Weckbecker, Freispruch oder Todesstrafe. Die Rechtsprechung der nationalsozialistischen Sondergerichte Frankfurt a. M. und Bromberg, Baden-Baden 1998, S. 708, Anm. 7, vor allem S. 710 f. 266 LATh-HStA Weimar, Personalakten, Nr. 1476, Bl. 195 und Bl. 251. 267 Vgl. Habel (Hrsg.), Wer ist wer?, S. 262. Sein Sohn Ulrich Cartellieri (geb. 1937) wurde u. a. Vorstand der Deutschen Bank und Schatzmeister der CDU.

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Ersatz-Bataillon in Weimar, bevor er 1940 an den Feldzügen gegen Dänemark und Frankreich teilnahm. Anfang 1941 war er in Südosteuropa eingesetzt, Ende des Jahres vor Moskau.268 Danach folgten aufgrund gesundheitlicher Probleme mehrere Lazarettaufenthalte.269 1942 wurde er zur Panzer-Ersatz-Abteilung ins schlesische Sagan (poln. Żagań) versetzt, dann als nicht mehr fronttauglich zum Wehrmachtführungsstab (WFSt), wo er ab dem 9. Februar 1942 als Oberleutnant der Reserve und Ordonanzoffizier in der Quartiermeisterabteilung nachweisbar ist.270 Der WFSt unter Alfred Jodl war Hitlers »persönlicher militärischer Arbeitsstab«.271 Sein nie klar definiertes Tätigkeitsfeld betraf vor allem die politischen und ökonomischen Grundlagen der strategischen Kriegführung und den operativen Einsatz der Wehrmacht.272 Er plante »nach den Weisungen Hitlers die Strategie für die Gesamtkriegführung«, informierte Hitler laufend und legte ihm alle für dessen Entscheidungen nötigen Unterlagen vor, arbeitete Anweisungen aus und koordinierte die Zu-

268 Vgl. A. Cartellieri, Tagebücher, S. 781, S. 785 und S. 797, und LATh-HStA Weimar, Personalakten, Nr. 1476, Bl. 251, sowie den Auszug aus dem Wehrpass in BArch, N 1092 /18, Bd. 1. 269 LATh-HStA Weimar, Personalakten, Nr. 1477, Bl. 13; LATh-StA Gotha, Landgericht Erfurt Nr. 421, Bl. 4 /1; WASt. 270 Vgl. Franz Josef Schott, Der Wehrmachtführungsstab im Führerhauptquartier 1939–1945, Phil. Diss. Bonn 1978, Anhang 15. Die Quartiermeisterabteilung des WFSt ist nicht mit der Abteilung des Generalquartiermeisters des Heeres zu verwechseln. Vgl. dazu Christian Gerlach, Militärische »Versorgungszwänge«. Besatzungspolitik und Massenverbrechen. Die Rolle des Generalquartiermeisters des Heeres und seiner Dienststellen im Krieg gegen die Sowjetunion, in: Frei, Norbert (Hrsg.), Ausbeutung, Vernichtung, Öffentlichkeit. Neue Studien zur Nationalsozialistischen Lagerpolitik, Berlin 2000, S. 175–208. 271 Christian Hartmann, Halder. Generalstabschef Hitlers 1938–1942, Paderborn u. a. 2010, S. 210. Zum WFSt vgl. Schott, Wehrmachtführungsstab; Geoffrey P. Megargee, Hitler und die Generäle. Das Ringen um die Führung der Wehrmacht 1933–1945, Paderborn u. a. 2006; Walter Warlimont, Im Hauptquartier der deutschen Wehrmacht 1939 bis 1945. Grundlagen, Formen, Gestalten, 2 Bde., Augsburg 1990; Waldemar Erfurth, Die Geschichte des deutschen Generalstabes von 1918 bis 1945, Göttingen 1957; Helmuth Greiner, Die Oberste Wehrmachtführung 1939–1945, Wiesbaden 1951; Percy E. Schramm (Hrsg.), Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht. 1940–1941, Bd. 1: 1. August 1940–31. Dezember 1941, München 1965; Bernhard von Loßberg, Im Wehrmachtführungsstab. Bericht eines Generalstabsoffiziers, Hamburg 1949; Ferdinand Prinz von der Leyen, Rückblick zum Mauerwald. Vier Kriegsjahre im OKH, München 1965. 272 Vgl. Schott, Wehrmachtführungsstab, S. 83.

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sammenarbeit der Wehrmachtteile und der Verbündeten.273 Neben der Logistik an den Kriegsschauplätzen, der klassischen Quartiermeisteraufgabe, war der WFSt auch für Rechts- und Verwaltungsfragen in den besetzten und Operationsgebieten zuständig. Er arbeitete in Abstimmung mit den Reichs­ministerien die (auch rechtlichen) Grundlagen der Verwaltung der besetzten Gebiete aus. Der WFSt war damit »die Naht zwischen politischem Regiment und militärischem Apparat.«274 Der Wehrmachtführungsstab bestand aus einer Standortstaffel im Ber­ liner Bendlerblock und einer Feldstaffel, die Hitler in seine jeweiligen Führerhauptquartiere und nach Berchtesgaden begleitete. Cartellieri gehörte der Feldstaffel an. Auch wenn zeitweilig jeden Abend ein junger Offizier der Feldstaffel zum Abendessen bei Hitler abkommandiert wurde,275 muss Cartellieri nicht zwangsläufig direkten Kontakt zu Hitler gehabt haben. Die Feldstaffel war immer in der Nachbarschaft, aber in ihrer Gesamtheit nicht in unmittelbarer Nähe. In seinem Entnazifizierungsverfahren gab Cartellieri an, seit 1942 /43 der »Oppositionsgruppe […] Stauffenberg« angehört zu haben.276 Für die Feldstaffel ergab sich ein außergewöhnlich breites Spektrum militärischer, wirtschaftlicher, juristischer und politischer Aufgabenbereiche.277 1942 leitete Cartellieri als Sachbearbeiter die Gruppe »Qu. 2« im WFSt, eine kleine Abteilung von Offizieren, Beamten, Schreibern, Kartographen und Nachrichtenspezialisten.278 Sie war für Russland, das Generalgouvernement, die Ukraine, die Slowakei und Ostasien zuständig.279 Alle Sachbearbeiter waren Reserveoffiziere mit vermutlich spezifischen zivilen Vorkenntnissen. Das unterstreicht den besonderen militärischrechtlich-politischen Aufgabenbereich des Wehrmachtführungsstabes.280 Cartellieri wurde zum 1.  Januar 1943 zum Hauptmann d. R. befördert. Seine Auszeichnungen (Eisernes Kreuz 2. Klasse, Kriegsverdienstkreuz 273 General a. D. Winter, zitiert bei Schramm (Hrsg.), Kriegstagebuch, S. 123 E. 274 Jörg Friedrich, Das Gesetz des Krieges. Das deutsche Heer in Rußland 1941 bis 1945. Der Prozess gegen das Oberkommando der Wehrmacht, München – Zürich 1993, S. 284. 275 Vgl. Loßberg, Wehrmachtführungsstab, S. 122. 276 Fragebogen vom 10. 9. 1946, BArch, N 1092 /18, Bd. 1. Zur Einordnung dieser Aussage vgl. S. 343 f. 277 Vgl. Schott, Wehrmachtführungsstab, S. 102 f. 278 Vgl. Megargee, Hitler, S. 67 f. 279 Vgl. Schott, Wehrmachtführungsstab, S. 81. Bereits im Juli 1942 wurde diese Gruppe wieder um die Slowakei reduziert. In der Literatur zum Wehrmachtführungsstab wird Cartellieri allein bei Schott namentlich genannt. 280 Vgl. ebenda, S. 86.

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mit Schwertern 1. Klasse, ein niedriger bulgarischer Tapferkeitsorden und die sogenannte »Ostmedaille«)281 sind typische Auszeichnungen für einen Ordonanz- oder Verwaltungsoffizier. Nach einer Reorganisation im Herbst 1943 war Hauptmann Cartellieris Gruppe im Sachgebiet »Allgemeine Quartiermeisterfragen« für den Bereich »Süd / Südost« zuständig.282 Die Sachbearbeiter reisten zur Informationsbeschaffung auch an die Fronten und Einsatzorte, sie erstellten Lagebeurteilungen und Studien.283 Zwischen Februar 1943 und November 1944 entsandte das OKW Cartellieri mehrfach auf Informationsreisen nach Südeuropa, unter anderem auf den Balkan, nach Griechenland und Italien, wo er sich einen Überblick über Transportprobleme bei Räumungen auf italienischen Wasserwegen verschaffen und Vorschläge zur Optimierung von Befehlsstrukturen in der Binnen- und Seeschifffahrt erarbeiten sollte.284 Im März 1944 unternahm Cartellieri eine ausgedehnte Dienstreise nach Tirol und ins Trentino. Dort tauschte er sich intensiv mit Gauleiter Franz Hofer (dem »Obersten Kommissar für die Operationszone Alpenvorland«) aus, um konkurrierende Zuständigkeiten aufzulösen und Reibungen zwischen Wehrmacht und Partei abzustellen.285 Zwangsläufig gewannen die Sachbearbeiter durch ihre Reisen einen Gesamtüberblick über die allgemeine militärische Lage und sämtliche Wehrmachtaufgaben und Operationen in ihrem geographischen Raum. Cartellieri gehörte damit zu den über die Vorgänge im besetzten Osteuropa bestinformierten Wehrmachtangehörigen. Ohne Zweifel erlangte er detaillierte Kenntnis von der Realität des nationalsozialistischen Vernichtungskrieges. Die auch vom WFSt erarbeitete logistische Planung des Überfalls auf die Sowjetunion ging mit allen Implikationen davon aus, dass sich die deutschen Armeen hauptsächlich aus dem Land versorgen würden. Schon vor Cartellieris Zeit war der WFSt organisatorisch oder informatorisch in die Besatzungs- und Gewaltpolitik und die Erarbeitung zahlreicher verbrecherischer Befehle eingebunden.286 So wurde in einem 281 282 283 284

LATh-HStA Weimar, Personalakten, Nr. 1477, Bl. 25.

Vgl. Schott, Wehrmachtführungsstab, Anhang 15. Vgl. ebenda, S. 217. BArch, RW 4/706 u. BArch, RW 4/687. Am 16. 11. 1944 traf Cartellieri bei einer »Besprechung über Ausnutzung der Wasserstraßen in Oberitalien bei O. B. Südwest« offenbar neben 20 anderen Teilnehmern auch auf Josef Brandl als Vertreter der Militärverwaltung, vgl. ebenda, Bl. 13. 285 Vgl. den Bericht Cartellieris v. 20. 3. 1944, BArch, RW 4 /706, Bl. 39–51. 286 Vgl. Helmut Krausnick / Hans-Heinrich Wilhelm, Die Truppe des Weltanschauungskrieges. Die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD 1938–1942, Stuttgart 1981, S. 116–141. Der Quartiermeister in der Abt. L. des WFSt, von

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Fernschreiben des WFSt an das Heer am 21. Dezember 1941 gefordert, allen sowjetischen Gefangenen und Zivilisten »rücksichtslos« ihre Winterkleidung wegzunehmen.287 Laut Dienstanweisung vom 1. Januar 1945 war Hauptmann Cartellieri als Gruppenleiter »Qu 2« zuständig für »Allgemeine politische Grund­ lagen für die Kriegführung und den Einsatz der Wehrmacht; Grundsätzliche Fragen der Behandlung besetzter Gebiete; Besondere Anordnungen zu operativen Weisungen und Befehlen; Maßnahmen zur Aufrechterhaltung des inneren Gefüges der Wehrmacht; Zusammenarbeit mit der Parteikanzlei in politischen Angelegenheiten und Fragen der personellen Räumung; Völkerrechtliche Fragen […] Völkerrechtsverletzungen des Feindes und eigene Gegenmaßnahmen; Waffenstillstandsangelegenheiten […]« auf allen militärischen Schauplätzen von Frankreich bis Kroatien.288 In den letzten Kriegstagen wurde der WFSt in einen Führungsstab Nord in Flensburg-Mürwik und einen Führungsstab Süd in Berchtesgaden ­aufgeteilt. Da Cartellieri in amerikanische und nicht in britische Kriegsgefangenschaft geriet, liegt die Annahme nahe, dass er bei Kriegsende dem Führungsstab Süd angehörte. »Im Herbst 1945« wurde Cartellieri »aus dem Gefangenenlager Pullach bei Rosenheim (Obb.) mit etwa 20 anderen Experten nach den USA verbracht, um dort für das damalige War Departement wissenschaftliche Arbeiten zu verrichten«.289 Als ehemaliges Mitglied des Wehrmachtführungsstabes war Cartellieri vermutlich mit dem Ordnen und der Auswertung erbeuteter Militärakten beschäftigt.290 Nach seiner Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft im Juni 1946 hielt sich Cartellieri in Baden auf. Offenbar als Folge seiner Tätigkeit in den USA stand er in Mannheim noch bis Dezember 1946 im Dienst der USArmy.291 Im selben Jahr begann ein langwieriger, im Nachlass gut belegter Prozess der Entnazifizierung, der im Folgenden nur in groben Umrissen wiedergegeben werden kann.

287 288 289 290 291

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pelskirch, gehörte im Sommer 1941 vorübergehend zu den regelmäßigen Empfängern der Ereignismeldungen des SD, in denen detailliert über Massenerschießungen berichtet wurde, vgl. Hans-Heinrich Wilhelm, Die Einsatzgruppe A der Sicherheitspolizei und des SD 1941 /42, Frankfurt a. M. 1996, S. 51. Zitiert bei Megargee, Hitler, S. 198. Zitiert bei Schott, Wehrmachtführungsstab, S. 265. So Cartellieri 1958 im Zuge einer Sicherheitsüberprüfung im Rahmen der NATO (Zugang zu »Cosmic-Material«), BArch, N 1092 /2. Vgl. Spruchkammerverfahren, BArch, N 1092 /18, Bd. 1. Datierung nach Lebenslauf in BArch, N 1092 /1 (»US-Dienststelle«).

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Das erste Verfahren fand im November 1946 in Heidelberg statt.292 Gegen die Einstufung als Mitläufer legte Cartellieri Widerspruch ein. Als entlastend wurden vor allem Zeugnisse über die in Gesprächen geäußerte Gegnerschaft zum Nationalsozialismus sowie Kontakte zu militärischen Widerstandskreisen während seiner Zeit im Wehrmachtführungsstab angeführt, insbesondere zu Graf Stauffenberg und Joachim Meichßner.293 Die nachfolgende Einstufung als »entlastet« im Verfahren vor der Berufungskammer Heidelberg erfolgte im Juni 1947 mit der Begründung, Cartellieri habe »in all seinen Stellungen im Zivil- und Militärdienst nach dem Maß seiner Kräfte Widerstand geleistet«, eine Formulierung, die dann in zugespitzter Form in seinen ministeriellen Personalbögen wieder auftauchte.294 Dieses Urteil wurde allerdings im November 1947 auf Weisung des im Bundesland Württemberg-Baden bestehenden, sozialdemokratisch geführten »Ministeriums für politische Befreiung« wieder aufgehoben, da keine Belege für den Kontakt zu militärischen Widerstandskreisen vorgelegen hätten. Cartellieri setzte sich daraufhin erneut juristisch zur Wehr. Die Berufungskammer in Karlsruhe sah ihn im Januar 1948 wieder als »entlastet« an. Cartellieri war es inzwischen gelungen, eine eidesstattliche Erklärung Konrad von Ilbergs zu beschaffen, der als Verbindungsoffizier zum Oberkommando der Wehrmacht fungiert hatte.295 Demnach habe Cartellieri »dem Kreise der Verschwörer im Wehrmachtführungsstab nahe gestanden und sei von diesen als einer der Ihrigen angesehen« worden, wobei von einer aktiven Beteiligung Cartellieris offenbar nicht die Rede war.296 Positiv aber fiel nun vor allem seine Beobachtung durch den SD ins Gewicht sowie ein – von uns in seinem Wahrheitsgehalt nicht aufzuklärender  – Vorgang, bei dem Cartellieri als Richter dafür gesorgt haben soll, einem Sozialdemokraten die Verurteilung wegen »Heimtücke« durch ein 292 BArch, N 1092 /18, auch zum Folgenden. 293 Joachim Meichßner (geb. 4. 4. 1906) war seit 1943 im Wehrmachtführungsstab. Am 29. 9. 1944 wurde er wegen seiner Involvierung in den militärischen Widerstand hingerichtet. 294 BArch, N 1092 /18, Abschrift des Spruchs der Berufungskammer Heidelberg, 11. 6. 1947, S. 2. Vgl. auch BArch, B 106 /114666 (Aktenvermerk zum Ernennungsvorschlag 30. 9. 1951). 295 Funktion Konrad von Ilbergs gemäß der biographischen Information in der Nachlassdatenbank des Bundesarchivs, www.bundesarchiv.de/nachlassdatenbank/viewsingle.php?category=I&person_id=6546&asset_id=7163&sid=41230 4d161b70befb7cc7 [13. 12. 2021]. 296 BArch, N 1092 /18, Abschrift des Spruchs der Berufungskammer VII Karlsruhe, 9. 3. 1948.

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Sondergericht zu ersparen. Das »Ministerium für politische Befreiung« setzte freilich im Mai 1948 auch dieses Urteil außer Kraft. Die letzte Verhandlung fand im September 1948 vor der Berufungskammer Heidelberg statt. Erneut wurde nun die Einstufung als »entlastet« bestätigt. Als wichtigste Gründe hierfür wurden erneut die Hilfe in dem eben erwähnten Fall angeführt, weiterhin eine Einstufung Cartellieris in seiner Zeit im Wehrmachtführungsstab durch SD-Chef Kaltenbrunner als »unsicherer Kantonist« sowie der Umstand, dass Cartellieri nach dem 20. Juli 1944 von der Gestapo als Verdächtiger behandelt worden sei. Als hilfreich könnte es sich für Cartellieri erwiesen haben, dass ihm in seinen Entnazifizierungsverfahren die Rechtsanwaltskanzlei des regional bekannten sozialdemokratischen Politikers und erwiesenen Gegners des Nationalsozialismus Hermann Heimerich (1885–1963) juristischen Beistand leistete:297 Neben dem Entnazifizierungsprozess in der US-amerikanischen Zone fand gegen Cartellieri in Abwesenheit auch ein Verfahren in Erfurt, in der sowjetischen Zone, statt. Dort war er bereits im April 1947 vom Thüringischen Justizministerium als Beamter entlassen und ihm die selbständige Berufsausübung verboten worden. Die Erfurter Entnazifizierungskommission erklärte im März 1948, Cartellieri gehöre »zu den Kreisen, die vor 1933 Wegbereiter Adolf Hitlers gewesen sind«.298 Erst als sich Cartellieri nicht zur Bekanntgabe der Entscheidung im Rathaus einfand, wurde klar, dass er sich zu diesem Zeitpunkt bereits in Westdeutschland aufhielt.299 Während sein komplexer Entnazifizierungsprozess noch andauerte, sicherte sich Cartellieri eine berufliche Existenz außerhalb des Staatsdienstes. Von 1947 bis 1951 arbeitete er als Redakteur für Wirtschaftsrecht und 297 Heimerich war von 1928 bis 1933 erstmals Oberbürgermeister von Mannheim gewesen; 1933 kam er vorübergehend in »Schutzhaft« und wurde abgesetzt. Nach dem kurzen Intermezzo 1945 als Oberregierungspräsident einer bald ­wieder aufgelösten Provinzialregierung arbeitete er in Heidelberg als Rechts­ anwalt. Von 1949 bis 1955 amtierte Heimerich dann erneut als Mannheimer Ober­bürgermeister. Zur Person vgl. Gustaf Jacob, »Heimerich, Hermann«, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 8 (1969), S. 276 f., www.deutsche-biographie.de/ pnd118547984.html#ndbcontent [16. 12. 2021]; Eckhard Hansen / Christina Kühnemund / Christine Schoenmakers / Florian Tennstedt (Bearb.), Biographisches Lexikon zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1871 bis 1945, Bd. 2: Sozialpolitiker in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus 1919 bis 1945, Kassel 2018, S. 74 f. 298 LATh-HStA Weimar, NS-Archiv des MfS ZA I 7184, Akte 29, Bl. 4, und Personalakten, Nr. 1477, Bl. 35 f. 299 LATh-HStA Weimar, NS-Archiv des MfS ZA I 7184, Akte 29, Bl. 8.

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als Chefredakteur der Wochenzeitschrift »Der Betriebs-Berater. Halbmonatsdienst für Wirtschafts-, Steuer- und Sozialrecht«. Mitbegründer dieses Organs, das in der Bundesrepublik zu einer führenden Fachzeitschrift werden sollte, war im Juni 1946 der eben erwähnte Hermann Heimerich gewesen. Neben seiner Redakteurstätigkeit war Cartellieri von 1949 bis 1951 auch als Rechtsanwalt an den Landgerichten Heidelberg und Mannheim zugelassen. In verschiedenen Kriegsverbrecherprozessen gegen hohe Militärs trat der Jurist, gestützt auf sein Wissen aus dem Wehrmachtführungsstab, als Entlastungszeuge auf. Hervorzuheben ist das 1947 /48 stattfindende US-amerikanische Verfahren gegen die »Südost-Generale«, einer von zwölf Nürnberger Nachfolgeprozessen, bei dem es vor allem um massenhafte Geiselerschießungen ging.300 Dank des 131er Gesetzes gelang es Cartellieri im August 1951, wieder in den Staatsdienst zu treten: Er erhielt eine Anstellung im 1950 gegründeten Amt Blank; wahrscheinlich kam ihm bei dieser Weichenstellung seine militärische Verwaltungserfahrung aus dem Wehrmachtführungsstab zugute.301 Im Amt Blank, wo Cartellieri nach wenigen Wochen zum Ministerialrat befördert wurde, scheint er schon bald Mitarbeiter des Juristen und ehemaligen persönlichen Referenten Konrad Adenauers Ernst Wirmer geworden zu sein. Der aus einem katholischen Milieu stammende Wirmer war in der Endphase des NS-Regimes im Gefängnis gesessen, nachdem sein älterer Bruder Josef, der dem Widerstandskreis um Carl Friedrich Goerdeler angehört hatte, im September 1944 hingerichtet worden war.302 Möglicherweise erwies es sich nun im Verhältnis zu Ernst Wirmer und dann für das weitere berufliche Fortkommen als vorteilhaft, dass Cartellieri auf eine eigene biographische Nähe zum Widerstand verweisen konnte. Cartellieri wurde im Amt Blank zunächst Leiter der Unterabteilung I OZ (»Organisation und zentrale Aufgabe«), später Abteilung I/2 (»Verwaltung und Verwaltungsorganisation«), die der von Wirmer geleiteten 300 Vgl. BArch, N 1092 /19. Vgl. zum Prozess: Beate Ihme-Tuchel, Fall 7: Der Prozess gegen die »Südost-Generale«, in: Ueberschär, Gerd R. (Hrsg.), Der Nationalsozialismus vor Gericht. Die alliierten Prozesse gegen Kriegsverbrecher und Soldaten 1943–1952, Frankfurt a. M. 1999, S. 144–154. 301 Eine Auflistung von Offizieren mit Führungserfahrungen in der Wehrmacht, die dann im Amt Blank tätig waren – darunter auch Cartellieri –, findet sich bei Matthias Molt, Von der Wehrmacht zur Bundeswehr. Personelle Kontinuität und Diskontinuität beim Aufbau der deutschen Streitkräfte 1955–1966, Diss. Heidelberg 2007, S. 277. 302 Vgl. Eintrag »Ernst Wirmer«, in: Munzinger Online [20. 11. 2021].

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Zentralabteilung unterstand.303 Auch auf dem internationalen Parkett kam Cartellieri zum Einsatz: In dem von 1952 bis 1954, dem Scheitern der EVG-Pläne, bestehenden »Interimsausschuss für die Organisation der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft« fungierte er als Leiter des Statutausschusses.304 Mit der am 7. Juni 1955 vollzogenen Transformation des Amts Blank in das Bundesministerium der Verteidigung gehörte Cartellieri dem neuen Ressort an. Wirmer war im Amt Blank und im Verteidigungsministerium ein Gegenpol zu den dort versammelten ehemaligen Berufsmilitärs; er sah sich »dafür verantwortlich, daß die Generale nicht, wie schon so oft in der deutschen Geschichte über die Hecken fressen«.305 Dass ihm als Zivilisten auch das militärische Personalwesen unterstand, bildete ein Novum der deutschen Militärgeschichte seit 1871306 und damit auch einen wichtigen Aspekt des Aufbaus einer Armee unter neuen demokratischen Rahmenbedingungen. Im Grundkonflikt zwischen Militärs und Juristen im Amt Blank bzw. dann auch im Ministerium307 stand Cartellieri klar auf der Seite der Juristen und plädierte mit Entschlossenheit für eine zivile Führung der Bundeswehr.308 Ein Mitarbeiter des Amtes Blank sprach in seinem Tagebuch diesbezüglich bereits Anfang 1952 von einem »Triumvirat Cartellieri-Wirmer-Knieper«.309 Im Oktober 1956 wechselte Cartellieri in das Atom- und Forschungsministerium, wo er sofort in eine Spitzenposition rückte. Als Leiter der Unterabteilung I (»Allgemeine Angelegenheiten, Recht und Verwaltung«) war er einer der beiden Unterabteilungsleiter in dem neuen, im Aufbau 303 Vgl. Krüger, Amt Blank, S. 48 und S. 80 f.; zur Abteilungsstruktur im Bundes­ ministerium der Verteidigung am 1. 10. 1955 vgl. Molt, Von der Wehrmacht zur Bundeswehr, S. 653. 304 Ebenda, S. 116 f.; vgl. z. B. auch Lebensläufe in BArch, N 1092 /1, und Ernennungsurkunde in BArch, N 1092 /2. 305 Nach Krüger, Amt Blank, S. 85 (Zitat aus einem Interview mit Wirmer am 19. 12. 1976); zur Stellung Wirmers als »eigentliche[m] Gegenspieler der Militärs« und einer »Art ›grauen Eminenz‹ der Dienststelle Blank« vgl. ebenda, S. 178. 306 Vgl. Molt, Von der Wehrmacht zur Bundeswehr, S. 93. 307 Ebenda, passim, z. B. S. 93, S. 96 und S. 279 f. 308 Vgl. auch Wolfgang Cartellieri, Die Bundeswehrverwaltung, Dortmund 1956. 309 Zitat aus dem Tagebuch von Curt Pollex, 16. 1. 1952, nach Krüger, Amt Blank, S. 85; zur Person von Pollex vgl. den biographischen Abriss ebenda, S. 195.  – Werner Knieper, der Stellvertreter Cartellieris als Unterabteilungsleiter im Amt Blank, hatte ebenfalls dem Wehrmachtführungsstab angehört. Zur Person des späteren beamteten Staatssekretärs im Bundeskanzleramt (1966 /67) vgl. den biographischen Abriss ebenda, S. 192.

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Abb. 8: Wolfgang Cartellieri, 1965

befindlichen Ressort – Abteilungsleiter gab es zum damaligen Zeitpunkt noch nicht. 1957 wurde Cartellieris »Unterabteilung« zur »Abteilung I« aufgewertet (»Recht, Wirtschaft und Verwaltung und internationale Zusammenarbeit«).310 Im Juli 1959 schließlich stieg Cartellieri zum beamteten Staatssekretär auf, nachdem der bisherige, seit Strauß amtierende »Stellvertreter des Ministers« Wilhelm Grau als Abteilungsleiter ins Verkehrsministerium gewechselt war.311 Bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1966 blieb Cartellieri, der wahrscheinlich CDU-Mitglied war,312 Staatssekretär im Atom- bzw. Forschungsministerium und erlebte in dieser Zeitphase drei Minister (Balke, Lenz, Stoltenberg). Cartellieri wurde zweifellos zu der zentralen Figur des Ministeriums und trat auch mit einer ganzen Reihe von fachlich einschlägigen Publikationen hervor, insbesondere zum Thema der

310 Organigramm 1. 11. 1957, BArch, B 138 Org. 311 Vgl. oben S. 233–235 die biographische Skizze zu Grau. 312 Nach Auskunft des ACDP vom 9. 2. 2018 ist eine CDU-Mitgliedschaft nicht belegt, aber aufgrund einer vorliegenden Karteikarte zu vermuten.

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»Großforschung«.313 Politisch hielt er sich eher diskret im Hintergrund: Bezeichnend ist, dass sein Name im Nachrichtenmagazin »Der Spiegel« zu Lebzeiten nur zweimal auftauchte: einmal 1959 in einer kurzen ­Notiz darüber, dass in einem Gartenlokal eine Feldmaus in Cartellieris »Hosenbein« geklettert sei,314 und das andere Mal 1960 in der Meldung, dass der Staatssekretär »in seiner Freizeit anhand amerikanischer Bastelvor­ lagen aus Plastikmaterial ein etwa 70 Zentimeter langes Modell des ersten, in Amerika gebauten Handelsschiffes mit Atom-Antrieb (›Savannah‹)« hergestellt habe.315 Inwieweit Cartellieri in der  – mindestens bis Anfang der 1960er Jahre bestehenden – »Gemeinschaft der Staatssekretäre«, einem in der Frühzeit der Bundesrepublik wichtigen, allerdings immer noch unzureichend erforschten informellen Koordinierungsgremium der Regierungspolitik,316 eine Rolle spielte, ließ sich nicht klären. Ende Oktober 1966 ging Cartellieri, der zwei Jahre zuvor das Große Bundesverdienstkreuz mit Stern und Schulterband erhalten hatte,317 in den Ruhestand, wobei er Aufsichtsratsvorsitzender der Gesellschaft für Kernforschung blieb. Im Februar 1968 wurde er von der Technischen Hochschule Karlsruhe zum Honorarprofessor ernannt.318 Bereits im folgenden Jahr, am 6. Juli 1969, starb er in Bonn-Bad Godesberg. Abgesehen von seinem langwierigen Entnazifizierungsverfahren war Cartellieri nach 1945 im Westen Deutschlands wohl nie mit der Zuschreibung einer NS-Belastung konfrontiert. Im Gegenteil: Cartellieri profi313 314 315 316

Vgl. v. a. Cartellieri, Großforschung; ders., Akzente. Wolfgang Cartellieri, in: Der Spiegel, 7. 10. 1959, S. 95. Wolfgang Cartellieri, in: Der Spiegel, 13. 12. 1960, S. 98. Kurze Erwähnungen dieser Gruppe, die in der Literatur auch als »Gewerkschaft der Staatssekretäre« bezeichnet wird, finden sich z. B. in Jost Küpper, Die Kanzlerdemokratie. Voraussetzungen, Strukturen und Änderungen des Regierungsstiles in der Ära Adenauer, Frankfurt a. M. 1985, S. 267–271; Josef Rust, Streifzug mit Hans Globke durch gemeinsame Bonner Jahre, in: Gotto, Klaus (Hrsg.), Der Staatssekretär Adenauers. Persönlichkeit und politisches Wirken Hans Globkes, Stuttgart 1980, S. 27–38, hier S. 31: »ein nirgendwo verankertes, aber gut funktio­ nierendes Instrument der Koordinierung im Regierungsapparat«; Markus Apos­ tolow, Der »immerwährende Staatssekretär«. Walter Strauß und die Personal­ politik im Bundesministerium der Justiz 1949–1963, Göttingen 2019, S. 107 f. Vgl. jetzt detailliert: Take, Personal und Personalpolitik, Kap. 4.3. Im ACDP, NL Globke, 01–070–135 Tischkalender 1949–1971, finden sich noch in den Jahren 1961 und 1962 Termine für die »Gemeinschaft der Staatssekretäre«. Wir danken Gunnar Take für Hinweise zu dieser Thematik. 317 Vgl. Habel (Hrsg.), Wer ist wer?, 1967 /68, S. 262; ausformulierter Lebenslauf, S. 6, BArch, N 1092 /1. 318 Urkunde mit Anschreiben, BArch, N 1092 /2.

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tierte möglicherweise in entscheidenden Momenten seiner Karriere von seiner Erfahrung im Wehrmachtführungsstab und auch davon, dass er sich als dem Widerstand gegen das NS-Regime zugehörig darstellen konnte. Cartellieri selbst brachte in den 1960er Jahren seinen Blick auf die von ihm erlebte und gelebte Zeitgeschichte auf die Formel vom »teilweise so unglücklichen Zeitgeschehen der vergangenen fünfzig Jahre«.319 Eine andere Situation zeigt sich im Lichte der DDR-Propaganda: Zwar fehlte Cartellieri im »Braunbuch«, die Broschüre »Das Bonner Kernwaffenkartell« aus dem Jahr 1969, in der Informationen über die Vergangenheit wichtiger Persönlichkeiten der bundesdeutschen Atompolitik verbreitet wurden, widmete ihm allerdings einen relativ langen Eintrag.320 Von der Freikorpszugehörigkeit321 bis zur Tätigkeit im Wehrmachtführungsstab tauchen hier alle Stationen seines politisch-beruflichen Werdegangs auf. Wie die zugehörigen Unterlagen der DDR-Staatssicherheit zeigen, gab es dort Mitte der 1960er Jahre intensive Bemühungen, weiteres belastendes Material über Cartellieri aufzufinden, insbesondere auch im Hinblick auf seine Richtertätigkeit322 – was offensichtlich nicht gelungen ist. Merkwürdigerweise zeigte die Staatssicherheit auch nach Cartellieris Tod noch Interesse an der Biographie des bundesdeutschen Staatssekretärs: Zwischen Juli 1970 und August 1984 wurde die im Hauptstaatsarchiv Weimar liegende Personalakte Cartellieris aus seiner Zeit als Richter viermal von der Stasi eingesehen.323 Die Hintergründe bedürften der genaueren Klärung.324 319 So in einem nicht genau zu datierenden ausformulierten Lebenslauf (S. 6), unter Hinweis auf seine »privaten Interessen«, die »unter anderem der Geschichte, besonders der modernen Zeitgeschichte« gälten; BArch, N 1092 /1. Seine »Sammlung politischer Plakate« hatte Cartellieri zu diesem Zeitpunkt bereits an das Bundesarchiv Koblenz abgegeben. 320 Nationale Front des Demokratischen Deutschland (Hrsg.), Bonner Kernwaffenkartell, S. 65 f. 321 Ebenda, S. 65: »1919 aktiv an der Niederschlagung der bayerischen Räterepublik beteiligt«. 322 Vgl. den eineinhalbseitigen »Maßnahmeplan« vom 12. 12. 1964, BStU, MfS HA IX/11 PA 2703, ebenda auch eine biographische Auflistung des DDR-Zentralarchivs vom 17. 6. 1964, die weitgehend Eingang in »Das Bonner Kernwaffenkartell« gefunden hat. 323 Vgl. LATh-HStA Weimar, NS-Archiv des MfS ZA I 7184, Akte 29 (28. 7. 1970– 17. 9. 1970, 21. 12. 1973–2. 1. 1974, 10. 10. 1975–23. 10. 1975, 1. 8. 1984–6. 8. 1984). 324 Laut der Datenbank »Sammlung NS-Archiv des MfS, BArch R 9355« im Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde ist eine weitere MfS-Akte zu Cartellieri mit der Signatur ZB II 2289 A. 10 /63 verschollen.

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Aus heutiger geschichtswissenschaftlicher Sicht lässt sich zur NS-Belastung Wolfgang Cartellieris bislang kein klares Urteil fällen. Zweifellos war er durch seine Richtertätigkeit und auch durch seinen Einsatz im Wehrmachtführungsstab funktional stark mit dem Unrechtsregime und der verbrecherischen Kriegführung des NS-Staates verbunden. Andererseits ist die nach 1945 proklamierte Widerstandsrolle wahrscheinlich nicht ohne Substanz. Für die Zeit nach 1945 zeigen sich bei Cartellieri – wie bei keinem anderen der im Rahmen von Kapitel V betrachteten Personen – trotz seiner deutschnationalen Grundprägung Indizien für einen politischen Lernprozess im Sinne der bundesdeutschen Demokratie. Angesichts der relativ guten Quellenlage wäre eine ausführliche Biographie sicher eine lohnenswerte Aufgabe mit hohem politik- und gesellschaftsgeschichtlichem Erkenntniswert für drei Phasen der deutschen Zeitgeschichte: die Weimarer Republik, das NS-Regime und die Bundesrepublik Deutschland.325

3. Max Mayer (1913–2005), Abteilungsleiter Die Biographie des Diplomingenieurs Max Mayer zeigt ein hohes Maß an Kontinuität; in ihr spiegelt sich auch die Kontinuität der deutschen Luftund Raumfahrtforschung von der NS-Zeit bis in die Bundesrepublik. Rote biographische Fäden bilden die Begeisterung für Flugzeuge und Raketen, die Mayer schließlich auf die Position eines Abteilungsleiters im Forschungsministerium führte (1962–1971), und wohl auch eine sehr nationale politische Grundhaltung. Zum Nationalsozialismus blieb Mayer insofern in einer gewissen Distanz, als er nie in die NSDAP eintrat. Ob ihm je bewusst wurde, in welchem Maße seine Tätigkeit in der »Versuchs- und Erprobungsstelle der Luftwaffe Peenemünde-West« ein verbrecherisches Regime stützte, erscheint fraglich. Max Mayer kam am 30. Juni 1913 in Regensburg zur Welt; er wurde evangelisch getauft.326 Sein Vater Eduard Mayer, der aus einer Nürnber325 Eine derartige Biographie, die von Niels Weise geplant wird, kann an die vorliegende Arbeit zum Vater Alexander Cartellieri anknüpfen: Matthias Steinbach, Des Königs Biograph: Alexander Cartellieri (1867–1955). Historiker zwischen Frankreich und Deutschland, Frankfurt a. M. u. a. 2001. 326 Quellengrundlage Mayer: BArch, B 106 /114667, B 138 /27428, B 138 /40317, B 138 Org., PERS 2 /13074, PERS 101 /61367, R 9361-III/568748, RL 39 /1327; Mayer, 7 Jahre [autobiographische Skizze mit Schwerpunkt Peenemünde und unmittelbare Nachkriegszeit]; ders., Versuchs- und Erprobungsstelle der

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ger Fabrikantenfamilie stammte, war »Bankoberbeamter« (Max Mayer selbst sprach nach 1945 von einem »Bankdirektor«).327 Glaubt man der späteren autobiographischen Erzählung, dann fasste bereits der fünf- bis sechsjährige Junge den Entschluss, Ingenieur zu werden.328 Von 1919 bis 1923 besuchte Mayer die Volksschule, danach das humanistische Albertus-Magnus-­Gymnasium in Regensburg und, nachdem die Familie 1928 umgezogen war, das Maximilians-Gymnasium in München.329 Trotz des klassischen Bildungsgangs wählte Mayer nach dem Abitur im Jahr 1932 eine technische Laufbahn. Nach einem halbjährigen Praktikum bei der Süddeutsche Bremsen A. G. in München330 und einer dreimonatigen Ableistung des Freiwilligen Arbeitsdienstes331 studierte er an der Technischen Hochschule München Maschinen- und Flugzeugbau. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass Mayer zu jenen »flugbegeisterten, technikbesessenen jungen Männern« gehörte, wie sie in der Zwischenkriegszeit nicht nur für das faschistische Italien,332 sondern auch für »nationale« Kreise in Deutschland charakteristisch waren. Nationalismus verband sich hier mit waffe Peenemünde-West / Usedom, in: Beauvais, Heinrich / Kössler, Karl / Mayer, Max/Regel, Christoph, Flugerprobungsstellen bis 1945. Johannisthal, Lipezk, Rechlin, Travemünde, Tarnewitz, Peenemünde-West, Bonn 1998, S. 214–275 [Darstellung der Erprobungsstelle mit autobiographischen Elementen]; Habel (Hrsg.), Wer ist wer?, 1974 /75, S. 676; Literatur: In Erinnerung an Dipl.-Ing. Max Mayer, in: Infoblatt des Fördervereins Peenemünde 2005 /3, www.foerderverein-peenemuende.de/infoblatt0305/inbl0305.htm [20. 11. 2021]; Kurzbiographie »Max Mayer. Flugbaumeister und Testpilot« aus der Dauerausstellung im Historisch-Technischen Museum Peenemünde. Der Text wurde uns freund­ licherweise vom Museum Peenemünde zur Verfügung gestellt. 327 Vgl. Meldekarte »Mayer, Eduard« (1878–1938), Stadtarchiv München. Zum Begriff »Bankdirektor« vgl. Meldekarte »Mayer, Max« aus der Zeit von 1949 bis 1958, als dieser beim Deutschen Patentamt in München arbeitete, Stadtarchiv München. 328 Mayer, 7 Jahre, S. 71. 329 Abmeldung M. Mayer Regensburg 21. 8. 1928, Auskunft aus dem Melderegister der Stadt Regensburg vom 8. 10. 2018; zum Gymnasium: Habel (Hrsg.), Wer ist wer?, 1974 /75, S. 676. 330 Es handelte sich um eine Filiale der Knorr-Bremse A. G. aus Berlin, die vorrangig Druckluftbremsen für die Eisenbahn herstellte. Vgl. Manfred Pohl, Sicherheit auf Schiene und Straße. Die Geschichte der Knorr-Bremse AG, München 2005, S. 66. 331 Nach BArch, RL 39 /1327 (Karte) vom 1. 8. 1933 bis zum 20. 10. 1933. 332 Karin Priester, Rechter und linker Populismus. Annäherung an ein Chamäleon, Frankfurt a. M. – New York 2012, S. 170, schreibt mit Blick auf das faschistische Italien von »einer Generation von flugbegeisterten, technikbesessenen jungen Männern«.

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der Begeisterung für eine Zukunftstechnologie. Das strikte Verbot des Versailler Vertrages für Deutschland, »Luftstreitkräfte« zu unterhalten, wirkte dabei als zusätzlicher Antrieb.333 Die Diplom-Hauptprüfung legte Mayer 1936 mit dem Prädikat »sehr gut« ab. Als Diplomingenieur fand Mayer noch im selben Jahr eine Anstellung in der »Deutschen Versuchsanstalt für Luftfahrt« (DVL) in BerlinAdlershof.334 Die seit 1912 bestehende staatliche Forschungseinrichtung, eine Vorgängerinstitution des »Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt«, war bereits in den 1920er Jahren und dann verstärkt seit der NSMachtübernahme 1933 ausgebaut worden.335 Mayer absolvierte innerhalb von drei Jahren eine Ausbildung zum »Flugbaumeister«, eine Qualifikation, die 1934 vom Reichsluftfahrtministerium im Zuge der intensivierten Aufrüstung geschaffen worden war.336 Die »Absolventen [konnten] für ein bestimmtes Versuchs- und Erprobungsprogramm als selbständige, 333 Kern des Verbots ist Art. 198, Abs. 1: »Deutschland darf Luftstreitkräfte weder zu Lande noch zu Wasser als Teil seines Heerwesens unterhalten.« Friedensvertrag von Versailles vom 28.  Juni 1919, www.documentarchiv.de/wr/vv05.html [14. 12. 2021]. Zum politischen Kontext vgl. Stefanie Schüler-Springorum, Krieg und Fliegen. Die Legion Condor im spanischen Bürgerkrieg, Paderborn u. a. 2010; Peter Fritzsche, »Airmindedness« – der Luftfahrtkult der Deutschen zwischen der Weimarer Republik und dem Dritten Reich, in: Trischler / Schrogl / Kuhn (Hrsg.), Ein Jahrhundert im Flug, S. 88–103; ders., A Nation of Fliers. German Aviation and the Popular Imagination, Cambridge, Mass. u. a. 1992, S. 133–184. Zum größeren Kontext der Technikbegeisterung in den 1920er Jahren vgl. Daniel Brandau, Raketenträume. Raumfahrt und Technikenthusiasmus in Deutschland, 1923–1963, Paderborn 2019, S. 27–70. 334 Vgl. auch Mayer, Versuchs- und Erprobungsstelle, S. 214. Allgemein zur DVL vgl. Maier, Luftfahrtforschung im Nationalsozialismus. 335 Von 1933 bis 1936 wurde das Personal – von 429 auf 1581 – fast vervierfacht. Vgl. Werdegang der Deutschen Versuchsanstalt für Luftfahrt e. V. Berlin-Adlershof, hrsg. anläßlich des fünfundzwanzigjährigen Bestehens der Deutschen Versuchsanstalt für Luftfahrt e. V., am 20. April 1937, Berlin 1937, S. 45. 336 Vgl. Botho Stüwe, Peenemünde-West. Die Erprobungsstelle der Luftwaffe für geheime Fernlenkwaffen und deren Entwicklungsgeschichte, Esslingen – München 1995, S. 123: »Die Flugbaumeister stellten eine neue Generation von Spezialisten dar, die bei entsprechender Eignung nach dem mindestens mit Note ›gut‹ bestandenen Diplomexamen und einer weiteren dreijährigen Industrie- und Flugzeugführerausbildung zunächst den Titel eines Flugbauführers bekleideten. Nach einer entsprechenden Abschlußprüfung, sozusagen dem zweiten Staatsexamen, endete die Ausbildung mit dem Titel ›Flugbaumeister‹.« Stüwe hatte selbst in Peenemünde-West gearbeitet. Vgl. Bericht über die Ernennung Stüwes zum Ehrenmitglied auf der Homepage des Fördervereins Peenemünde e. V., www. foerderverein-peenemuende.de / Ehrenmitglied5.htm [20. 11. 2021].

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verantwortliche technische Bearbeiter und Testpiloten gleichermaßen eingesetzt werden«.337 Der Ausbildungsgang führte Mayer an verschiedene Stationen, darunter die Focke-Wulf-Flugzeugbau GmbH in Bremen und die Junkers Flugzeug- und Motorenwerke in Dessau.338 Zwischenzeitlich leistete er 1937, da er bereits zu alt für einen regulären Grundwehrdienst war, eine auf knapp drei Monate verkürzte Wehrpflicht, die er als Reserveoffiziersanwärter abschloss.339 Im Dezember 1938 wechselte Mayer in die im selben Jahr gegründete »Versuchs- und Erprobungsstelle Peenemünde-West«, die später in »Versuchsstelle der Luftwaffe Karlshagen« umbenannt wurde.340 Die Versuchsstelle unterstand, ebenso wie die DVL, dem Reichsluftfahrtministerium. Damit unterschied sie sich von der größeren und wegen der Entwicklung der A 4-Rakete, der sogenannten Vergeltungswaffe 2 (V2), bekannteren Nachbarinstitution, der »Heeresversuchsanstalt Peenemünde-Ost«, die bereits 1936 gegründet worden war. Als technischer Direktor amtierte dort der Raketeningenieur Wernher von Braun, der später eine führende Rolle in der US-amerikanischen NASA (National Aeronautics and Space Administration) spielen sollte.341 In Peenemünde verbrachte Mayer, wie er rückblickend schrieb, »einige der interessantesten Jahre [s]einer beruflichen Laufbahn«.342 Seine Karriere als Ingenieur und Testpilot scheint, ähnlich wie bei anderen Luftfahrttechnikern der NS-Zeit,343 durch den Umstand, dass er kein Mitglied der NSDAP geworden war, nicht behindert worden zu sein. Allerdings – dies 337 338 339 340

Stüwe, Peenemünde-West, S. 123. Mayer, 7 Jahre, S. 73 und S. 75. BArch, RL 39 /1327 (Personalkarte); Mayer, 7 Jahre, S. 75. Generell zur deutschen Luftrüstung und zur Versuchsstelle vgl. Thomas Köhler, Luftrüstung im Schatten der Rakete. Die Versuchsstelle der Luftwaffe Peenemünde-West und die Flakversuchsstelle Karlshagen, in: Historisch-Technisches Museum Peenemünde (Hrsg.), Wunder mit Kalkül. Die Peenemünder Fernwaffenprojekte als Teil des deutschen Rüstungssystems, Berlin 2016, S. 104–163; Thomas H. Lange, Raumfahrteuphorie und Raketentechnik 1925–1945, in: Trischler / Schrogl / Kuhn (Hrsg.), Ein Jahrhundert im Flug, S. 123–137. 341 Vgl. Michael J. Neufeld, Wernher von Braun. Visionär des Weltraums, Ingenieur des Krieges, München 2009. 342 Mayer, Versuchs- und Erprobungsstelle, S. 215. 343 Exemplarisch sei hier Egon Scheibe (1908–1997) genannt, der ebenfalls an der DVL zum Flugbaumeister ausgebildet worden war. »Trotz seiner verantwortlichen Position bei der Entwicklung innovativer Flugzeuge während des Krieges war S. weder Mitglied der NSDAP noch einer ihrer Gliederungen.« Peter F. Selinger / Adolf Wilsch, »Scheibe, Egon«, in: Neue Deutsche Biographie 22 (2005), S. 620 f., www.deutsche-biographie.de/sfz111278.html#ndbcontent [16. 12. 2021].

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war vermutlich das Minimum des beruflich Nötigen – gehörte Mayer seit Ende 1933 dem nationalsozialistischen »Deutschen Luftsportverband« an, für die Jahre 1938 /39 lässt sich eine Fördermitgliedschaft in der Nachfolgeorganisation, dem »Nationalsozialistischen Fliegerkorps«, belegen.344 Über den Aufgabenbereich und die Geschichte von Peenemünde-West liegt eine ausführliche und detaillierte Skizze Mayers vor, die der damals bereits über 80-Jährige 1995 in einem Sammelband über »Flugerprobungsstellen bis 1945« publiziert hat. Der 60-seitige Aufsatz gehört – neben dem im selben Jahr erschienenen Buch von Botho Stüwe, der ebenfalls ein ehemaliger »Peenemünder« war – bis heute zur militärgeschichtlichen Standardliteratur über Peenemünde-West. Im Rahmen unserer Unter­ suchung liegt der Wert der Arbeit aber in einem anderen Bereich: Der Beitrag vermittelt, eher am Rande, auch Informationen zur Biographie Mayers, vor allem aber entwirft er ein prägnantes Bild der in Peenemünde versammelten »Raketenpioniere und -enthusiasten« (Mayer).345 Der damit verbundene Quellenwert wird allerdings dadurch eingeschränkt, dass es ein mit großem zeitlichem Abstand gezeichnetes Bild ist. Gleichzeitig bietet die Skizze auch aufschlussreiche Hinweise für den Umgang einer ministeriellen Führungsperson mit ihrer eigenen Vergangenheit in der NSZeit. Ähnliches gilt für die im Jahr 2002 veröffentlichte kurze Autobiographie Mayers, die einige inhaltliche Überlappungen zu dem eben erwähnten Aufsatz aufweist.346 Beide Quellen bilden eine wichtige Grundlage der folgenden Ausführungen. Mayer wurde 1938 in Peenemünde-West ziviler »Sachbearbeiter«347 in der »Erprobungsgruppe« E 2, die sich primär mit »selbstgesteuerten und ferngelenkten Flugkörpern« befasste, sogenannten Gleitbomben und Fernflugbomben, den Vorläufern von Marschflugkörpern.348 Der Inge­ nieur war in diesem Zusammenhang auch an der Entwicklung der seit Juni 1944 massenhaft gegen England eingesetzten »Vergeltungswaffe 1« (V1), des Marschflugkörpers »Fieseler Fi 103«, beteiligt.349 In seiner Dar344 BArch, R 9361-III/568748. 345 Mayer, Versuchs- und Erprobungsstelle, S. 215. 346 Mayer, 7 Jahre. 347 Meldekarte »Mayer, Max« (1949–1951), Stadtarchiv München. Mayer scheint »unabkömmlich« gestellt worden zu sein. Vgl. ebenda: »Wehrverhältnis: ausgm Landrat Swinemünde«. 348 Mayer, Versuchs- und Erprobungsstelle, S. 266. 349 Vgl. ebenda, S. 261–267; Mayer, 7 Jahre, S. 109; ebenda wird auch erwähnt, dass Mayer Ende 1942 persönlich die französische Kanalküste abgeflogen ist, »um das Gelände nach Stellungsmöglichkeiten für den Einsatz der Fi 103 zu prüfen«.

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stellung aus dem Jahr 1995 blickt der Pensionär voller Stolz auf die »Realisierung dieses Projektes«; »unter den damals gegebenen Umständen« sei dies »eine ungewöhnliche technische und organisatorische Leistung« gewesen.350 Zum Aufgabenbereich der Gruppe E 2 gehörten aber beispielsweise auch »leistungssteigernde Starthilfsraketen« für Flugzeuge oder »Nurflügelflugzeuge mit Raketenantrieb«.351 In diesem Zusammenhang hatten die Mitarbeiter auch selbst Erprobungsflüge durchzuführen, bei denen es immer wieder zu schweren und teilweise auch tödlichen Unfällen kam. 1944 avancierte Mayer schließlich zum Leiter der Gruppe E 2. Im Bundesarchiv-Militärarchiv Freiburg sind zahlreiche technische Berichte Mayers überliefert352 ebenso wie eine von ihm im Juni 1942 verfasste »Betriebsanweisung für Bombenschützen und Flugzeugführer« zum Einsatz der in den Berliner Henschel Flugzeug-Werken entwickelten »Gleitbombe« Hs 293353 – eine Waffe, die seit Sommer 1943 zahlreiche Kriegs- und vor allem Handelsschiffe der Alliierten versenkte oder beschädigte. Darunter war auch der britische Truppentransporter »Rohna«, der am 26. November 1943 vor der algerischen Küste von einer Hs 293 getroffen wurde; über 1.100 Soldaten, überwiegend US-Amerikaner, kamen ums Leben.354 Noch mehr Tote, fast 1.400 Mann, hatte die Versenkung des italienischen Schlachtschiffes »Roma« mit zwei ferngelenkten Bomben SD 1400 X (»Fritz X«) gefordert, an deren Erprobung Mayer maßgeblich mitgewirkt hatte. Der Angriff auf den ehemaligen Verbündeten war am 9. September 1943 erfolgt, einen Tag nach der Kapitulation Italiens gegenüber den Westalliierten.355 Das Bild, das Mayer in seinem 1995 veröffentlichten Aufsatz und in seiner autobiographischen Skizze von den Mentalitäten und Verhaltensweisen der in Peenemünde-West agierenden Luftfahrttechniker zeichnet, ist auch als retrospektives Selbstbild zu interpretieren. Diese Darstellung weist eine Reihe prägnanter Charakteristika auf: 350 Mayer, Versuchs- und Erprobungsstelle, S. 266. Vgl. auch ebenda: »Die Fi 103 als unbemannte Fernflugbombe wurde zum Vorbild der zahlreichen späteren vergleichbaren Waffensysteme in Ost und West, die als ›Marschflugkörper‹ in die Technikgeschichte eingegangen sind.« 351 Ebenda, S. 225. 352 BArch, RL 36 /70, RL/454. 353 BArch, RL 36 /454. 354 Vgl. Carlton Jackson, Allied Secret. The Sinking of the HMT Rohna, Norman, Oklahoma 2001; zur Opferzahl ebenda, S. xiv. 355 Vgl. Mayer, 7 Jahre. Die Versenkung wird ebenda, S. 96, kommentarlos erwähnt und bildet den Schlusspunkt in der Skizze zur Entwicklungsgeschichte von SD 1400 X.

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– Neben der omnipräsenten Technikbegeisterung zeigt sich stets der Stolz über die raketentechnologische Pionierrolle der Versuchsstellen in ­Peenemünde, das »als ›Geburtsort der Raumfahrt‹ weltweit bekannt«­ sei  – wie der Autor gleich im ersten Satz seines Beitrags über Peenemünde-West selbstbewusst formuliert.356 – Das Testfliegen figuriert als gefährliches und heroisches Abenteuer  – etwa wenn Mayer von verunglückten Kollegen oder einem drama­tischen eigenen Unfall berichtet.357 Testpiloten und unmittelbare Vorgesetzte erscheinen miteinander in einem fliegerischen Korpsgeist ve­rbunden. – Die militärische Dimension der flugtechnischen Entwicklungen im Dienste des NS-Regimes findet keinerlei kritische Reflexion, selbst wenn es um »den wirkungsvollen Einsatz gegen große Handelsschiffe« (Mayer) ging.358 Stattdessen vermittelt der Autor den Eindruck einer weitgehenden politischen Naivität, verbunden mit einer nationalen ­politischen Grundüberzeugung. Die massive Aufrüstung des NS-Regimes seit 1933 bewertet Mayer beispielsweise als Wiederherstellung einer Gleichrangigkeit zu anderen Nationen.359 »Nur wenige« hätten Ende der 1930er Jahre in Peenemünde »die Ahnungen um einen sich nähernden Krieg« gefühlt.360 – Gleichzeitig markiert Mayer rückblickend allerdings auch eine gewisse Distanz der in Peenemünde tätigen flugtechnischen Spezialisten zum NS-Regime und seiner Kriegführung. So sei der Russlandfeldzug als »napoleonische Hybris« bewertet worden, und nach der Kriegserklärung an die USA Ende 1941 »wurde uns klar«, so Mayer, »daß wegen der weit überlegenen Produktionskapazität der Alliierten dieser Krieg nicht mehr zu gewinnen sein würde«.361 Es mag sein, dass Mayer hier, Jahrzehnte nach 1945, den kritischen Akzent stärker gewichtet als es den Realitäten in Peenemünde entsprach. Dennoch betont der Autor, dass die »zunehmend schwieriger werdende Lage an den Fronten« die »Motivation aller Mitarbeiter« gesteigert habe, »trotz aller Zweifel und trotz der wiederholten Bombenangriffe die Erprobungsarbeit konse-

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Mayer, Versuchs- und Erprobungsstelle, S. 214. Ebenda, S. 231, S. 253, S. 256, S. 269 und S. 272; Mayer, 7 Jahre, S. 115. Mayer, Versuchs- und Erprobungsstelle, S. 250. Ebenda, S. 214 und S. 221. Ebenda, S. 221. Ebenda, S. 259.

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Abb. 9: Max Mayer (rechts) am Steuer einer Heinkel He 111, 5. 6. 1941 Bei den Personen neben Mayer handelt es sich um »Bordwart Medzlewski« (links) und Dipl. Ing. Rudolf Thiele (rechts).362

quent und mit immer größerer Dringlichkeit fortzusetzen«.363 »Die Erforschung der physikalischen Möglichkeiten und des technisch Machbaren« hätten »ihre Faszination« behalten.364 Bemerkenswert ist schließlich, dass in Mayers historischen Skizzen ein aus heutiger Sicht zentrales Thema völlig ausgeblendet bleibt: In und um Peenemünde, wo es mehrere Arbeitslager und seit 1943 in Karlshagen ein Außenlager des Konzentrationslagers Ravensbrück gab, wurden tausende Zwangsarbeiter »für Aufräum-, Bau- und Hilfsarbeiten« eingesetzt.365 In 362 Vgl. die Legenden zu diesem Foto in Mayer, Versuchs- und Erprobungsanstalt, S. 245, und Mayer, 7 Jahre, S. 112. 363 Ebenda, S. 260. 364 Mayer, 7 Jahre, S. 107. 365 Vgl. Köhler, Luftrüstung, S. 127 (auch Zitat); Manfred Kanetzki, Operation Crossbow. Bomben auf Peenemünde, Berlin 2014, S. 44–49, mit detaillierter Beschreibung der unterschiedlichen Lager; Christian Mühldorfer-Vogt, Zwangsarbeit in den Peenemünder Versuchsanstalten 1936–1945. Zum gegenwärtigen Forschungsstand, in: Jikeli jun., Günther / Werner, Frederic (Hrsg.), Raketen und

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Abb. 10: Max Mayer, Mitte 1960er Jahre Das Foto und der »Spiegel«-Artikel stehen im Kontext öffentlicher Debatten um die bundesdeutsche Raumfahrtpolitik Mitte der 1960er Jahre; vgl. unten S. 362.

den letzten Kriegsjahren mussten dann Zehntausende von Häftlingen des KZ Mittelbau-Dora bei der in den Harz verlegten Raketen- und Marschflugkörperproduktion unter mörderischen Bedingungen arbeiten.366 Neben der V2-Rakete, die in der Heeresversuchsanstalt Peenemünde-Ost entwickelt worden war, wurde im Harz insbesondere auch die in Peenemünde-West zur Serienreife gebrachte V1 gefertigt, der bereits erwähnte Marschflugkörper Fieseler Fi 103.367 Im militärgeschichtlichen Beitrag Mayers zu Peenemünde fehlt das Thema »Zwangsarbeit« ganz, und in dem autobiographischen Abriss findet sich lediglich ein sehr indirekter Hinweis. Mayer berichtet, Mitte August 1943 einen schweren britischen Luftangriff auf Peenemünde, bei dem es wohl über 700 Tote gab, im BunZwangsarbeit in Peenemünde. Die Verantwortung der Erinnerung, Schwerin 2014, S. 82–101. Allein im KZ-Arbeitslager Karlshagen I waren nach unterschiedlichen Schätzungen 800 bis 1.500 Häftlinge untergebracht. Vgl. Köhler, Luftrüstung, S. 127 und S. 159; Kanetzki, Operation Crossbow, S. 44. Kurzzeitig gab es 1943 noch ein zweites Außenlager des KZ Ravensbrück (Karlshagen II); nach den schweren Luftangriffen vom August 1943 wurden die Häftlinge in das KZ Dora verlegt. Ebenda, S. 45. 366 Vgl. Jens-Christian Wagner, Produktion des Todes. Das KZ Mittelbau-Dora, Göttingen 22015. 367 Vgl. ebenda, S. 190 f. Allerdings war die V2-Fertigung weitaus aufwändiger.

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ker überlebt zu haben.368 Zahlreiche Opfer – dies verschweigt der Autor – waren Zwangsarbeiter oder KZ-Häftlinge.369 Nach diesem Angriff fand eine Verlagerung der Waffenproduktion für Peenemünde in den Harz statt. In den letzten Kriegswochen wurden Techniker und Material der Versuchsanstalt Peenemünde-West auf den Fliegerhorst Weddewarden bei Bremerhaven verlegt.370 Dort geriet Mayer im Mai 1945 in zivile britische Internierung, aus der er im Februar 1946 entlassen wurde.371 Während einer dreiwöchigen Verlegung in ein »interrogation camp« in England im Sommer 1946 wurde er zusammen mit führenden Luftwaffenoffizieren einer eingehenden Befragung durch den britischen und US-amerikanischen Geheimdienst unterzogen.372 Im Gegensatz zu einigen anderen Internierten gab sich Mayer dabei, so sein Jahrzehnte später verfasster Bericht, kooperationsbereit: Er habe »auf dem Standpunkt« gestanden, »daß wir als Ingenieure unsere Pflicht getan haben, ohne jeglichen Einfluß auf die politische und militärische Führung, daß wir  – abgesehen von der Unfähigkeit der Führung  – unterlegen sind einer unermeßlichen Tech­ nischen [sic] Überlegenheit, daß wir uns weiterhin vollkommen klar werden müssen über die Absolutheit dieser Niederlage und ihrer Ursachen, um innerlich überhaupt wieder auf festen Boden zu kommen und nicht in einem Traumland dahinzuleben«. »Nur so« sei es möglich, »uns letzten Endes frei[zu]machen für das neue Ziel, Deutschland, soweit es noch besteht, weiterzuhelfen, um wieder einen von Allen geachteten Platz in der europäischen Familie zu bekommen.«373 Die offensichtlich fortbestehende deutschnationale Grunddisposition bildete demnach eine Basis für Mayers Kooperation mit den Westalliierten. Es ist anzunehmen, dass, wie bei zahlreichen anderen Flugzeug- und Raketentechnikern auch, die US-amerikanische »Joint Intelligence Objectives Agency« – eine spezielle geheimdienstliche Institution des mili368 Vgl. Mayer, 7 Jahre, S. 103 und S. 105. Zum Großangriff vom 17./18. 8. 1943 vgl. Martin Middlebrook, The Peenemünde Raid. The Night of 17–18 August 1943, London 1988; Kanetzki, Operation Crossbow, S. 64–93. 369 Halbwegs gesicherte Zahlen scheint es bislang nicht zu geben. Kanetzki, ebenda, S. 77, geht von insgesamt 701 Toten aus, darunter 213 Zwangsarbeiter und KZHäftlinge. 370 Mayer, Versuchs- und Erprobungsstelle, S. 274; Mayer, 7 Jahre, S. 119 f. 371 Laut WASt-Karteikarte nach dem 8. 2. 1946. Zur Internierung vgl. ausführlich Mayer, 7 Jahre, S. 122–132. 372 Ebenda, S. 123 und S. 125. Es handelte sich um das »interrogation camp no.7 near Beakonsfield [sic]« in der Grafschaft Buckinghamshire, ebenda, S. 123. 373 Ebenda, S. 128.

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tärischen Spitzengremiums der »Vereinigten Stabschefs« (»Joint Chiefs of Staff«)374 – versucht hat, Mayer in den Dienst der eigenen US-amerikanischen Flugzeug- und Raketenforschung zu stellen. Auf einer Liste vom 2.  Januar 1947 mit 1600 deutschen und österreichischen Wissenschaftlern, die im Zuge der »Operation Paperclip« angefertigt worden war, stand auch sein Name. Als Fachgebiet war »Aircraft Engineering« vermerkt, als Wohnsitz Nürnberg375 – der Ingenieur war offenbar kurzzeitig in die ursprüngliche Heimat seiner Eltern zurückgekehrt.376 Warum sein Weg dann doch nicht in die USA führte, bleibt unklar. Mög­ licherweise spielte dabei die Bekanntschaft mit seiner späteren Frau eine Rolle, die offenbar einem Landwirtschaftsbetrieb nahe Wesermünde (seit 1947 zu Bremer­haven gehörend) entstammte und in deren »Kunstgewerbegeschäft« Mayer eine Zeit lang mitarbeitete.377 Nach eigenen Angaben machte er sich dann mit einem Ingenieurbüro selbständig; dabei scheint er sich mit der Reinigung von Entwässerungsgräben in Küstennähe beschäftigt zu haben.378 Mitte 1947 heiratete Mayer.379 1948 /49 war er dann in Wesermünde bzw. Bremerhaven als Hochbaustatiker tätig.380 Bei der Entnazifizierung fiel er – dank fehlender Mitgliedschaft in der NSDAP – in die Kategorie »nicht betroffen«.381

374 Eine kurze und präzise Erklärung findet sich auf der Homepage der US-­ ame­ rikanischen National Archives: Records of the Secretary of Defense (RG 330), www.archives.gov/iwg/declassified-records/rg-330-defense-secretary [20. 11. 2021]. 375 Vgl. Objective List of German and Austrian Scientists. Joint Intelligence Objectives Agency, 2 January 1947, S. 57: »Dipl. Ing. Max Mayer Aircraft Engineering Nurnberg«, de.scribd.com/document/86689203/List-of-German-and-Austrian-Nazi-Scientists-JIOA-1947 [18. 11. 2021]. Vgl. zum Kontext: Annie Jacobsen, Operation Paperclip. The Secret Intelligence Program that Brought Nazi Scientists to America, New York 2014; Burghard Ciesla, Das Raketen- und Luftfahrtwissen deutscher Wissenschaftler im Dienst der alliierten Sieger, in: Trischler / Schrogl / Kuhn (Hrsg.), Ein Jahrhundert im Flug, S. 177–194, hier S. 187 f. 376 Zur Herkunft der Eltern aus Nürnberg und Fürth vgl. Meldekarte »Mayer, Max« 1949–1951, Stadtarchiv München. Der Vater war zu diesem Zeitpunkt bereits verstorben, die Mutter lebte noch. 377 Mayer, 7 Jahre, S. 132. 378 Kurzbiographie Museum Peenemünde; Mayer, 7 Jahre, S. 132. 379 Habel (Hrsg.), Wer ist wer?, 1974 /75, S. 676. Aus der Ehe gingen drei Töchter hervor. Nach der Meldekarte »Mayer, Max« (1949–1951), Stadtarchiv München, fand die Eheschließung am 21. 7. 1947 statt. 380 Vgl. Mayer, 7 Jahre, S. 133; Kurzbiographie Museum Peenemünde. 381 BArch, B 106 /114667.

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Am 1.  August 1949 wechselte Mayer in den »Aufbaustab« des Deutschen Patentamts in München, das dem Bundesjustizministerium unterstellt war. Zuvor hatte er ein entsprechendes Angebot der »Verwaltung des Vereinigten Wirtschaftsgebietes« bekommen; die näheren Umstände bleiben unklar.382 Mayer gehörte in München zunächst der Patentabteilung Ia an, die für »Kraft- und Arbeitsmaschinen« zuständig war. Seit 1952 leitete er, inzwischen fest verbeamtet, eine Prüfstelle, seit 1956 hatte er den Rang eines Oberregierungsrates inne. Ein Dienstzeugnis aus dem Jahr 1957 bescheinigte ihm »gute technische Kenntnisse, insbesondere auch auf dem Gebiet der Strömungslehre«; zudem wurde festgestellt, dass er »eine sehr selbstbewusste Persönlichkeit« sei.383 Der Aufbau der Bundeswehr Mitte der 1950er Jahre bot Mayer die Chance, wieder auf seinem in Peenemünde entwickelten Spezialgebiet ­tätig zu werden. Dabei kam ihm zugute, dass er im Deutschen Patentamt mehrfach fachlich mit Vertretern des Amt Blank zu tun hatte, unter anderem auch mit dem Physiker Theodor Benecke, der einst im Reichsluftfahrtministerium die für Lufttorpedos zuständige Abteilung geleitet und mit dem Mayer in seiner Peenemünder Zeit zusammen gearbeitet hatte.384 Benecke war seit 1953 im Amt Blank und später dann im Bundesministerium für Verteidigung tätig. In der zweiten Jahreshälfte 1957 übernahm Mayer im Verteidigungsministerium innerhalb der Abteilung »Wehrtechnik« die Leitung des Referats »Flugkörpersysteme für Heer, Luftwaffe und Marine«. Neben der persönlichen Bekanntschaft mit Benecke spielte bei Mayers Eintritt in den Ministerialdienst zweifellos auch der bundesdeutsche Mangel an Experten für die flugtechnische Rüstung eine Rolle: »Erfahrener Sachverstand war erwünscht.«385 1962 erfolgte der letzte große Karriereschritt Mayers. Nachdem das bisherige Ministerium für Atomkernenergie Ende Januar 1962 das Kompetenzfeld der Weltraum- und Raumfahrtforschung hinzugewonnen hatte, wurde Mayer als Ministerialdirigent Leiter der entsprechenden, neu geschaffenen Abteilung. Sein Wechsel vom Verteidigungs- ins neu formierte Bundesministerium für wissenschaftliche Forschung verlief nicht 382 Vgl. Mayer, 7 Jahre, S. 133. 383 Personalakte aus dem Deutschen Patentamt: BArch, PERS 101 /61367; zur Tätigkeit im Patentamt auch Mayer, 7 Jahre, S. 133. 384 Zu Benecke und den Kontakten mit Mayer vgl. ebenda, S. 134. Zur Biographie Beneckes vgl. auch Berndt Feuerbacher, In memoriam: Theodor Benecke (1911– 1994), in: Acta Astronautica 38 (1996), S. 973; Maier, Forschung als Waffe, Bd. 1, S. 538; ders., Forschung als Waffe, Bd. 2, S. 711. 385 Mayer, 7 Jahre, S. 134.

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ohne Komplikationen, da Verteidigungsminister Strauß den versierten und bewährten Beamten, »einen der wenigen Experten der Wehrtechnik auf dem Gebiet der gelenkten Flugkörper«, zunächst nicht ziehen lassen wollte.386 Erst nach längerer innerministerieller Klärung stimmte Strauß zu, zunächst Ende Juli 1962 der Abordnung zum 1. August und dann im November 1962 der Versetzung Mayers. Die frühe bundesdeutsche Raumfahrtpolitik war teilweise mit weitgespannten öffentlichen Erwartungen konfrontiert.387 Mayer konnte sich in diesem Umfeld im Laufe der 1960er Jahre mit seiner Umtriebigkeit eine gewisse politische Bekanntheit erwerben. Bezeichnend hierfür ist eine Äußerung, die der Bundestagsabgeordnete Joachim Raffert (SPD), der später kurzzeitig Staatssekretär im Forschungsministerium werden sollte,388 im Oktober 1966 in einer Plenarrede machte. Anlass war eine Deutschlandreise des NASA-Chefs James Edwin Webb. Nach einem bedauernden Hinweis, dass es »so etwas« wie die NASA in der Bundesrepublik nicht gebe, meinte Raffert wohlwollend: »Das kann auch der tüchtige Ministerialdirigent im Wissenschaftsministerium, der ja schon den Ehrennamen ›Raketen-Mayer‹ trägt, bei allem Einfallsreichtum und allem Witz nicht ersetzen […]«.389 Auf internationaler Bühne trat Mayer als bundesdeutscher Delegierter in diversen Gremien auf.390 1968 erreichte der Inge-

386 So die Formulierung in einer nicht abgeschickten ablehnenden Antwort von Strauß nach der Bitte Balkes vom 9. 5. 1962 um Abordnung Mayers an sein Ministerium. Vgl. den ausführlich dokumentierten Vorgang in BArch, PERS 2 /13074. In dem Brief Balkes vom 9.5. kommt das Problem zum Ausdruck, einschlägige Experten für die neue Abteilung »Weltraumforschung« zu gewinnen: »Nun sehe ich mich vor der schwierigen Aufgabe, einen leitenden Mitarbeiter zu finden, der alle einschlägigen technischen Probleme kennt und zugleich die erforderliche Verwaltungserfahrung und Menschenführungsgabe besitzt. Nachdem ein erster Versuch zur Einstellung eines solchen Mitarbeiters fehlgeschlagen ist, bin ich von berufener Seite auf Herrn Ministerialrat Dipl. Ing. Max Mayer aus Ihrem Hause aufmerksam gemacht worden.« Zum Ressortwechsel Mayers vgl. auch Reinke, Geschichte der deutschen Raumfahrtpolitik, S. 65. 387 Vgl. Sechs ins All, in: Der Spiegel, 22. 9. 1965, S. 130–134, mit Kritik an der für zögerlich gehaltenen deutschen Raumfahrtpolitik. Mayer wird ebenda, S. 133, mit einem Porträtfoto bedacht (»Raumfahrt Ministerialdirigent Mayer 1968 ein deutscher Sputnik?«); vgl. Abb. 9 oben S. 358. 388 Vgl. zu Raffert oben S. 242–244. 389 Deutscher Bundestag, 5. WP, 64. Sitzung, 12. 10. 1966, S. 3118; die Titulierung Mayers durch Raffert wird auch erwähnt in Reinke, Geschichte der deutschen Raumfahrtpolitik, S. 65. 390 Kurzbiographie Museum Peenemünde.

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nieur mit der Ernennung zum Ministerialdirektor den Höhepunkt seiner Beamtenkarriere. Hermann Strub (geb. 1930), der Ende der 1960er Jahre Referatsleiter unter Mayer geworden war, bezeichnete seinen ehemaligen Chef in einem 2010 geführten Interview als »standesbewusst« und »deutschnatio­ nal eingestellt«,391 im Ministerium habe er vor allem auf ehemalige »Peenemünder« gesetzt. Die letztgenannte Aussage ist zwar übertrieben, besitzt aber einen wahren Kern: Der promovierte Diplomingenieur Artur Schendel (1913–?), der im Sommer 1964 ins Forschungsministerium eintrat und in Mayers Abteilung Referatsleiter für »Raumflugsysteme« und später für »Satelliten-Systeme« wurde,392 war seit Oktober 1944 als Wehrmachtsangehöriger in Peenemünde-West tätig gewesen. Nach dem Krieg stand Schendel zunächst im Dienst des britischen Verteidigungsministeriums und wechselte dann in die US-amerikanische Rüstungs­industrie.393 Zwei weitere Referatsleiter wiesen einen starken Luftfahrt-»Stallgeruch« auf. Diplomingenieur Bernhard Gaedke (1908–?) hatte von 1938 bis 1945 im »Technischen Amt des Reichsluftfahrtministeriums« gearbeitet. Wie Mayer kam Gaedke, der zuvor im Bundeswirtschaftsministerium beschäftigt gewesen war, 1962 in das Forschungsressort; später wurde er Unterabteilungsleiter und schließlich Anfang der 1970er Jahre Mayers Stellvertreter. Der promovierte Meteorologe Walter Regula (1915–2019) hatte von 1939 bis 1945 dem Reichswetterdienst angehört, der dem Luftfahrtministerium unterstand.394 1963 trat er als Referatsleiter in Mayers »Weltraumabteilung« (Abt. V) ein. Die »Ära Mayer« in der »Weltraumabteilung« des Forschungsministeriums endete Anfang der 1970er Jahre abrupt und dissonant. Folgt man einem »Spiegel«-Bericht vom August 1971, war Mayer in einen Konflikt mit dem seit 1969 amtierenden parteilosen Forschungsminister Hans Leussink geraten: »Zwischen dem Minister und seinem Ministerialdirektor hatte es«  – so zitiert das Nachrichtenmagazin den damaligen 391 Trischler, Helmuth: Interview mit Dr.-Ing. Hermann Strub. Transkription des Interviews, silo.tips/download/interview-mit-dr-ing-hermann-strub-transkription-des-interviews [20. 11. 2021], S. 7: »Güntsch [Nachfolger Mayers; d. Verf.] war ein völlig anderer Typ als der sehr standesbewusste (Flugzeugbaumeister, Testpilot) Max Mayer, der zudem, ohne das abwertend zu sagen, deutschnational eingestellt war, was mich aber nicht gestört hat.« 392 Vgl. Organigramme in BArch, B 138 Org; auch zum Folgenden. 393 Vgl. v. a. BArch, PERS 101 /80583, Personalbogen. Quellengrundlage Schendel s. Anhang 2. 394 Quellengrundlage Regula s. Anhang 2.

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Staatssekretär Klaus von Dohnanyi (SPD)  – »›verschiedentlich Kommunikationsschwierigkeiten gegeben‹ […], da Mayer sich mit der ›flexibleren‹ Leussink-Konzeption (die ›einer mittleren Industrienation entspricht‹) nicht abfinden mochte.«395 Gemeint ist hier wohl der Verzicht auf ein ehrgeiziges bundesdeutsches Raumfahrtprogramm. Im Herbst 1971 schied der erst 58-jährige Mayer aus dem Ministerialdienst aus, indem er in den »einstweiligen Ruhestand« versetzt wurde. Im Forschungsressort hat dies bei »den alten Raumfahrern« [die Kollegen in Mayers Umfeld] angeblich »tiefe Spuren hinterlassen«.396 Die personelle Zäsur wurde noch dadurch verstärkt, dass Mayers Stellvertreter Gaedke bald darauf aus Altersgründen in den Ruhestand ging. Auch nach seiner vorzeitigen Pensionierung blieb Mayer beruflich einschlägig aktiv, indem er nun in die freie Wirtschaft wechselte. Bereits 1971 wurde er »Luft- und Weltraumberater« der Dresdner Bank und setzte sich dabei für die Finanzierung der Airbus-Entwicklung ein.397 Von 1974 bis 1982 war er als Repräsentant des US-amerikanischen Elektronik- und Rüstungskonzerns Raytheon tätig.398 Der Ministerialdirektor a. D. erhielt verschiedene Ehrungen von Luftfahrtverbänden und im Jahr 1987 auch das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse.399 Der an die nordrhein-westfälische Staatskanzlei gerichtete Vorschlag des Bundesministeriums für Forschung und Technologie vom März 1987 nannte neben Mayers beratender Tätigkeit für die »deutsche Wirtschaft« diverse institutionelle Funktionen sowie seine Aktivitäten als Vortragender und »Organisator von Veranstaltungen an Schulen […], um das Interesse an der Luft- und Raumfahrt zu wecken«.400 Kern des Ordensvorschlages aber waren Mayers »große Ver395 Mut zur Lücke, in: Der Spiegel, 23. 8. 1971, S. 16. Vgl. auch oben S. 128. 396 Trischler, Interview mit Dr.-Ing. Hermann Strub, S. 6; längeres Zitat vgl. oben S. 128, Anm. 381. Die Angabe von Reinke, Geschichte der deutschen Raumfahrtpolitik, S. 174, dass Mayer bis 1973 im Ministerium blieb, muss korrigiert werden. 397 Zu Airbus vgl. Kurzbiographie Museum Peenemünde; Mayer, 7 Jahre, S. 139. 398 Ebenda. 399 Der Chef der Staatskanzlei des Landes Nordrhein-Westfalen an den Bundes­ minister der Verteidigung, 18. 7. 1987, BArch, PERS 2 /250683. 400 Schreiben des Bundesministers für Forschung und Technologie vom 26. 3. 1987, S. 2, ebenda. Ebenda wird die Führungstätigkeit in folgenden Institutionen erwähnt: »Mitglied des Fachbeirates Luft- und Raumfahrt des Deutschen Museums München«, »Vorsitzender des Kuratoriums der Lilienthal-Stiftung«, »Mitglied des Vorstandsrates der Deutschen Gesellschaft für Luft- und Raumfahrt«. In: Wer ist wer?, 1974 /75, S. 676, und in: Wer ist wer?, 1999 /2000, S. 937, finden sich weitere Mitgliedschaften und Funktionen.

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dienste« »um den Aufbau der deutschen und europäischen Weltraumforschung und -politik«.401 An der politischen Positionierung Mayers scheint sich nichts geändert zu haben. In den 1990er Jahren trat er zeitweise als führendes Mitglied des sogenannten Schäffer-Clubs auf, einer hochkonservativen Gruppierung im gesellschaftlichen Leben Bonns, die nach dem CSU-Politiker und ehemaligen bayerischen Ministerpräsidenten und bundesdeutschen Finanz- und Justizminister Fritz Schäffer (1888–1967) benannt war.402 Der ungebrochene flugtechnische Stolz Mayers zeigte sich in der 1981 erfolgten Aufnahme in die »Traditionsgemeinschaft ›Alte Adler‹«, einem 1927 gegründeten Verein von Flugpionieren, dem ursprünglich nur beitreten konnte, wer vor Beginn des Ersten Weltkriegs Flugzeugführer geworden war.403 Bezeichnend ist auch, dass Mayer in seiner 2002 publizierten autobiographischen Skizze nach dem Autorennamen in Klammern den Zusatz »genannt Raketen-Mayer« eingefügt hat.404 Spätestens seit den 1990er Jahren beschäftigte sich Mayer, wie erwähnt, intensiv mit der Militärgeschichte und auch mit der technologischen Verklärung der Versuchsanstalten von Peenemünde. Das in der Bundesrepublik jahrzehntelang dominante »Narrativ von Peenemünde als Forschungsstätte ohne Verantwortung für Zwangsarbeit und Terror«405 findet sich in den oben zitierten Publikationen aus den Jahren 1995 und 2002 in markanter Ausprägung. Dieses Narrativ prägte auch das öffentliche Agieren des Pensionärs. 1992 trat Mayer auf der Feier des Fördervereins Peenemünde 401 Vorschlagsbegründung, S. 1, BArch, PERS 2 /250683. Die Tätigkeit Mayers in Peenemünde wird ebenda kurz angesprochen: »Anschließend arbeitete er bis 1946 [sic!] bei der Versuchsstelle Peenemünde an der Erprobung von unbemannten Flugkörpern und Raketenflugzeugen mit.« 402 Diese Information verdanken wir Helge Heidemeyer (Berlin), der den SchäfferClub im Zuge seiner Arbeit an der Edition der Sitzungsprotokolle der CDU/ CSU-Fraktion kennengelernt hat. Der Club löste sich bald nach der 1999 vollzogenen Verlegung des Parlaments- und Regierungssitzes nach Berlin auf. 403 Zum Eintrittsdatum vgl. In Erinnerung an Dipl.-Ing. Max Mayer, in: Infoblatt des Fördervereins Peenemünde 2005 /3, www.foerderverein-peenemuende.de/infoblatt0305/inbl0305.htm [20. 11. 2021]; zum Verein vgl. den Abriss auf der Homepage, »Die Entwicklung der Traditionsgemeinschaft ›Alte Adler‹ seit 1927«, www.alteadler.de/startseite/entwicklung/ [20. 11. 2021]. 404 Mayer, 7 Jahre, S. 71. 405 Günther Jikeli jun., Einleitung, in: ders./Werner (Hrsg.), Raketen und Zwangsarbeit, S. 34–57, hier S. 45. Generell zum öffentlichen Umgang mit dem Thema »Peenemünde« vgl. Historisch-Technisches Museum Peenemünde (Hrsg.), Krieg oder Raumfahrt? Peenemünde in der öffentlichen Erinnerung seit 1945, Berlin 2019.

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zum 50-jährigen Jubiläum des ersten Starts einer V2-Rakete als Fest­redner auf. Zuvor war eine große Jubiläumsveranstaltung, geplant vom Bundesverband der Deutschen Luft- und Raumfahrtindustrie, der Deutschen Forschungsanstalt für Luft- und Raumfahrt und dem Bundesministerium für Wirtschaft, angesichts einer internationalen Skandalisierung abgesagt worden.406 Seit 1993 war Mayer prominentes Mitglied in dem 1991 gegründeten Förderverein.407 Max Mayer starb am 17. Juli 2005 in Bonn. Statt Blumen und Kränze wurde anlässlich seiner Beerdigung um Geldspenden für den Förderverein gebeten. Das Geld sollte dem »Aufbau einer Ausstellung über Peenemünde West« zugutekommen und trug schließlich zum Ankauf einer historischen »Walterschleuder« bei, eines »Dampfkatapults« für den Start der »Fi 103« (V1) – Kontinuität bis über den Tod hinaus.408

4. Walther Schnurr (1904 – mindestens 1982), Gruppen- und Abteilungsleiter Ähnlich wie für den Juristen Josef Brandl war auch für den Chemiker Walther409 Schnurr die Stellung im Atomministerium eine Durchgangsstation auf dem Weg zu einer Spitzenposition in der bundesdeutschen 406 Zur geplanten Veranstaltung und ihrer Absage vgl. Constanze Seifert-Hartz / ­ Thomas Köhler, Der Erinnerungsskandal von Peenemünde, in: Magazin der TU Braunschweig, 27. 12. 2017, magazin.tu-braunschweig.de/m-post/der-erinnerungsskandal-von-peenemuende/ [12. 8. 2020]. Zur Gedenkveranstaltung des Fördervereins vgl. Lust aus der Tube, in: Der Spiegel, 12. 10. 1992, S. 330 f. Zur Absage der Rede des Staatssekretärs im Bundeswirtschaftsministerium Erich Riedl und zur Rede Mayers vgl. Helmut Höge, Volk ohne Weltraum, in: taz-blogs, 5. 12. 2007, blogs.taz.de/hausmeisterblog/2007 /12 /05/volk-ohne-weltraum/ [14. 12. 2021]. 407 Zum Beitritt 1993 vgl. In Erinnerung an Dipl.-Ing. Max Mayer, in: Infoblatt des Fördervereins Peenemünde 2005 /3, www.foerderverein-peenemuende.de/infoblatt0305/inbl0305.htm [20. 11. 2021]. 408 Zur Geldsammlung vgl. Sitzungen des Vorstandes, in: Infoblatt des Fördervereins Peenemünde 2005 /4, www.foerderverein-peenemuende.de/infoblatt0405/ inbl0405.htm [20. 11. 2021]. Zur »Walterschleuder« vgl. Rückblick 2005 und Aufgaben für 2006, in: Infoblatt des Fördervereins Peenemünde 2006 /1, www.foerderverein-peenemuende.de/infoblatt0106/inbl0106.htm [20. 11. 2021]. Abbildung der Schleuder in Mayer, Versuchs- und Erprobungsstelle, S. 262. 409 Hin und wieder findet sich auch die Schreibung Walter. Quellengrundlage Schnurr: BArch, B 126 /17037, B  138 /40317, B 162 /7951, R 9361-VII KARTEI/2056087, R 9361-VIII KARTEI/20560873, R 9361- IX KARTEI/39021106; Lebenslauf, in: Walther Schnurr, Ueber Acylwanderungen an Phenolen.

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Atomwirtschaft. Ähnlich wie Brandl muss auch Schnurr aus heutiger Sicht in hohem Maße als NS-belastet bewertet werden: So hatte er während des Krieges in Christianstadt / Niederlausitz (poln. Krzystkowice) eine große Sprengstofffabrik der Dynamit AG geleitet, die sich weitgehend auf die Zwangsarbeit von KZ-Häftlingen stützte. Dennoch wurde er 1956, nachdem er seit etwa 1949 /50 in Argentinien und Bolivien tätig gewesen war, gezielt für seine Funktion im Atomministerium angeworben. Im Kontext seiner Tätigkeit als technischer Geschäftsführer des Karlsruher Kernforschungszentrums (1960–1970) stand Schnurr dann in enger Beziehung zum Aufbau der argentinischen Atomwirtschaft. Wie bei Brandl fand die NS-Belastung Schnurrs erst in jüngster Zeit geschichtswissenschaftliche Beachtung. Walther Schnurr wurde am 3.  November 1904 in Berlin Steglitz als Sohn des Studienrates Dr. Reinhold Schnurr und dessen aus der »Pfarrerund Gelehrtenfamilie«410 Hoche stammenden Frau Camilla geboren. Alles deutet darauf hin, dass in dem evangelischen Elternhaus sehr national gedacht wurde. 1918 publizierte Walthers Vater, ein promovierter germanistischer Mediävist,411 als Studienrat an der Oberrealschule in BerlinSteglitz eine dort gehaltene Gedenkrede auf einen gefallenen Kollegen, in der er noch am 28. September des Jahres 1918, sechs Wochen vor Ende des Ersten Weltkriegs, die »Morgenröte des Sieges« beschworen und für »unral-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Hohen Philosophischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität Kiel, Kiel 1927; Spruchkammerakte, LA NRW, Abt. Rheinland, NW 1049 67150; Robert Denselow, Germany and the Argentine bomb, BBC-Reportage vom 19. 4. 1982, Transkript, BBC Written Archives Centre, Reading (vgl. den quellenkritischen Hinweis in Anm. 531). – Literatur: Rusinek, Fall Greifeld, S. 275–288; Miłosz Grobelny, Walther Schnurr. Dyrektor Zakładów DAG Werk Christianstadt. Papież Materiałów Wybuchowych III Rzeszy, in: Odkrywca 2017 /7, S. 48–52, Odkrywca 2017 /8, S. 48–51, Odkrywca 2017 /9, S. 42–45 (wir danken Miłosz Grobelny, der uns seinen materialreichen Aufsatz als Digitalisat zur Verfügung gestellt hat; für die Übersetzung des Beitrags danken wir Beata Lakeberg); Martina Löbner, »Geheime Reichs­ sache« Christianstadt  – Das Ende einer Kleinstadt zwischen Oder und Neiße sowie der Sprengstoff-Fabrik »Ulme«, Diss. Hannover 2002; Andrea Rudorff, Christianstadt, in: Benz, Wolfgang / Distel, Barbara (Hrsg.), Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Bd. 6: Natzweiler, Groß-Rosen, Stutthoff, München 2007, S. 270–275. 410 Lebenslauf Walther Schnurr vom 22. 7. 1946, Spruchkammerakte, LA NRW, Abt. Rheinland, NW 1049 67150. 411 Reinhold Schnurr, Katechetisches in vulgärlateinischer und rheinfränkischer Sprache aus der Weissenburger Handschrift 91 in Wolfenbüttel, Greifswald 1894.

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ser Vaterland« einen Frieden »in gesteigerter Machtfülle und allen Feinden unangreifbar« erträumt hatte.412 An derselben Schule legte Walther 1923 das Abitur ab. Ab 1923 studierte Schnurr Chemie, Physik und Geologie in Berlin. Zum Wintersemester 1925 /26 folgte er seinem Doktorvater Karl Wilhelm Rosenmund (1884–1956) nach Kiel, wo er im September 1927 mit einer Arbeit über Phenole promoviert wurde.413 Da Schnurr (wie er 1946 in seinem Entnazifizierungsverfahren angab) eine pharmazeutische Professur anstrebte, absolvierte er eine Apothekerlehre und studierte anschließend weiter, um schließlich 1933 das Staatsexamen als Apotheker mit der Note »sehr gut« abzulegen.414 Neben seinem naturwissenschaftlichen Studium bewies Walther Schnurr sein Talent auf einem Feld des modernen Lebens, das in der Weimarer Republik einen enormen Aufschwung erlebte: dem Sport. 1924 und 1925 erreichte er bei den Deutschen Leichtathletik-Meisterschaften im Zehnkampf der Herren jeweils den zweiten Platz. 1925 war er deutscher Meister im beidarmigen Speerwerfen, und 1928 hätte er nach eigenen Angaben beinahe an den Olympischen Spielen teilgenommen.415 Dass sich der Student Schnurr in dem kleinen Verein SC ATOS Steglitz Berlin in­ dividualistischen leichtathletischen Disziplinen zuwandte und diese auf hohem leistungssportlichen Niveau betrieb, mag ein Indiz dafür sein, dass sein politisches Interesse vergleichsweise gering war.416 Infolge der Wirtschaftskrise fand Schnurr 1932 – so weiter die Darstellung im Lebenslauf von 1946 – keine Assistentenstelle an der Universität. Daher nahm er bis Ende 1933 noch ein Studium der Lebensmittelchemie in Berlin auf, das er »leider wegen der im Jahre 1934 erfolgten Auswanderung meines Lehrers nach Südamerika [korrekt: USA] nicht mit einer Prü-

412 Reinhold Schnurr, Gedächtnisrede für den auf dem Felde der Ehre gefallenen Oberlehrer Albrecht Nauwerck, Leutnant d. R. und Kompagnieführer im Inf.Reg. Graf Tauentzien Nr. 20, 1. M. G.K., Berlin 1918, S. 15. 413 Schnurr, Ueber Acylwanderungen. 414 Anlage zum Fragebogen Walther Schnurr vom 1. 12. 1945, Bl. 2, Spruchkammerakte, LA NRW, Abt. Rheinland, NW 1049 67150. 415 Eigene Angaben in der Anlage zum Fragebogen und Lebenslauf vom 22. 7. 1946, ebenda. 416 Im kontrastiven Vergleich sei hier auf Josef Brandl verwiesen, der in einem deutschnational geprägten Ruderverein tätig und gleichzeitig Mitglied einer schlagenden Verbindung war. Vgl. oben S. 292. Schnurr gehörte soweit bekannt keiner Verbindung an.

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fung abschließen konnte«.417 Dass Professor Maximilian Ehrenstein aufgrund seiner jüdischen Herkunft emigrieren musste, thematisierte Schnurr nicht.418 Zum Jahresbeginn 1934 fand Schnurr eine Anstellung als Chemiker der I. G.-Farbenindustrie AG im Werk Höchst bei Frankfurt, wo er zuerst mit Farbstoffen arbeitete um sich dann der Synthese von Sprengstoffen zuzuwenden. Schon bald übernahm er die Leitung der Sprengstoff-Versuchsanlagen der I. G.-Farben, zunächst in Höchst, dann in Hanau-Wolfgang.419 Im Zuge der deutschen Aufrüstung trat das Berliner Heereswaffenamt 1934 an die Dynamit-Actien-Gesellschaft (DAG) in Troisdorf mit der Aufforderung heran, Hexogen zu produzieren. Hexogen ist ein hoch­ explosives Ersatzprodukt für TNT, das synthetisch aus Methanol und Ammoniak hergestellt wird und »heute durch seine hohe Leistung [als] der wichtigste hochbrisante Sprengstoff« gilt.420 Da der DAG, vormals Alfred Nobel & Co, – obschon größter Sprengstoff- und Munitionsfabrikant im Deutschen Reich – die Expertise und die entsprechenden Produktionsverfahren fehlten, bat sie ihren Großaktionär I. G.-Farben um Unterstützung.421 So wechselte der Chemiker Schnurr im Oktober 1936 zur DAG,422 die bis 1948 sein Arbeitgeber blieb. Ab 1936 war Schnurr am 417 Lebenslauf vom 22. 7. 1946, Bl. 3, Spruchkammerakte, LA NRW, Abt. Rheinland, NW 1049 67150. 418 Vgl. die Biographie Ehrensteins in: Gerhard Bettendorf, Zur Geschichte der Endokrinologie und Reproduktionsmedizin. 256 Biographien und Berichte, Berlin 1995, S. 129 f. Der Fall Ehrenstein ist von besonderer Ambivalenz, da der Chemiker offenbar durchaus Sympathien für den Nationalsozialismus zeigte und von der jüdischen Herkunft seiner Mutter nicht gewusst hatte. Gegen den Entzug seines Doktorgrades durch die Universität Göttingen und seiner Habilitation durch die Universität Berlin ging er 1936 u. a. mit einer Eingabe an Hitler vor. Im Februar 1937 erhielt er nach einer Intervention durch das RMWEV zumindest seinen Doktorgrad überraschend zurück. Vgl. Kerstin Thieler, »[…] des Tragens eines deutschen akademischen Grades unwürdig.« Die Entziehung von Doktortiteln an der Georg-August-Universität Göttingen im »Dritten Reich«, Göttingen 22006, S. 74–78. 419 Vgl. Grobelny, Schnurr, Teil 1, S. 50. Zum Werk Hanau vgl. Friedrich Trimborn, Explosivstofffabriken in Deutschland. Ein Nachschlagewerk zur Geschichte der Explosivstoffindustrie, Köln 22002, S. 117 f. 420 Jochen Gartz, Vom griechischen Feuer zum Dynamit. Eine Kulturgeschichte der Explosivstoffe, Hamburg 2007, S. 153. 421 Vgl. Löbner, Christianstadt, S. 97. 422 Vgl. Fragebogen vom 5. 7. 1946, Bl. 3 f., Spruchkammerakte, LA NRW, Abt. Rheinland, NW 1049 67150; bei Rusinek, Fall Greifeld, S. 276, wird irrtümlich

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Aufbau einer neuen Hexogen-Produktionsanlage im DAG-Sprengstoffwerk Krümmel bei Geesthacht an der Elbe beteiligt.423 Schon vor 1939 war auch in Schweden, Italien und Großbritannien erkannt worden, dass neue brisantere Sprengstoffe auf Hexogenbasis im Kriegsfall eine wichtige Rolle übernehmen könnten.424 In Ueckermünde entwickelte Schnurr, unter dessen rund 60 Patenten sich seit Anfang Dezember 1937 auch eines auf eine spezielle Herstellungsmethode von Trimethylentrinitramin (Hexogen)425 befand, ein effizientes und wirtschaftliches Verfahren zur Hexogenherstellung, das auch nach ihm als »SH-Verfahren« oder »SHSalz« (»Schnurr-Henning«) benannt wurde.426 Zweifellos spielte Schnurr in der deutschen Sprengstoffentwicklung eine zentrale Rolle. In seinem Entnazifizierungsverfahren stellte Schnurr sich Ende 1945 als apolitischen Charakter mit einem ausgesprochenen Freiheitsdrang dar, der von sich aus »niemals auf die Idee gekommen wäre«,427 in die NSDAP einzutreten. Man habe ihm den Parteieintritt als rettenden Ausweg nahegelegt, als seine Karriere nach einer tätlichen Auseinandersetzung mit einem SS-Mann gefährdet gewesen sei. Zum 1.  Mai 1937, d. h. mit Datum der Lockerung der Aufnahmesperre, wurde Schnurr mit der Mitgliedsnummer 6.080.126 in die NSDAP-Ortsgruppe Bad Soden am Taunus aufgenommen.428 Über die rückdatierte Aufnahme will Schnurr erst Jahre später informiert worden sein.429 Das ist durchaus möglich. Der der 1. 5. 1936 angegeben. Zum Werk Troisdorf vgl. Trimborn, Explosivstoff, S. 233–236. 423 In Krümmel hatte Alfred Nobel das Dynamit erfunden. Heute steht auf dem Gelände ein Kernkraftwerk. Zum Werk Krümmel vgl. Trimborn, Explosivstofffabriken, S. 143 f. 424 Vgl. Löbner, Christianstadt, S. 98. 425 Vgl. Trimborn, Explosivstofffabriken, S. 117, und Denselow, Germany and the Argentine bomb, S. 7, BBC Written Archives Centre. – Ein vom Bundespatentamt 1957 ausgestelltes Dokument zur Erneuerung des Reichspatents aus dem Jahr 1937 (Nr. 768 142) findet sich in der Datenbank »Espacenet« des Europäischen Patentamtes: worldwide.espacenet.com/publicationDetails/originalDocu ment?CC =DE &NR =768142C&KC =C&FT =D&ND =3&date=19570725&DB = EPODOC&locale=de_EP# [18. 11. 2021]; als Erfinder wird »Dr. Walther Schnurr, El Palomar (Argentinien)« genannt. 426 Lebenslauf vom 22. 7. 1946, Bl. 4, Spruchkammerakte, LA NRW, Abt. Rheinland, NW 1049 67150. 427 Anlage zum Fragebogen vom 1. 12. 1945, Bl. 2, ebenda. 428 BArch, R 9361-VII KARTEI/2056087, R 9361-IX KARTEI/39021106. 429 In der Anlage zum Fragebogen vom 1. 12. 1945 gibt Schnurr an, 1939 von seiner Parteiaufnahme erfahren zu haben. In seinem Lebenslauf vom 22. 7. 1946, Bl. 5, nennt er dagegen »wohl Mitte 1940«, vgl. Spruchkammerakte, LA NRW, Abt.

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Massenandrang in die NSDAP nach der teilweisen Aufhebung der Mitgliedersperre – knapp drei Millionen neue Mitglieder – führte dazu, dass viele Aufnahmeanträge erst 1940 bearbeitet werden konnten und tatsächlich auf 1937 rückdatiert wurden.430 Nicht zu Schnurrs Narrativ passt die Tatsache, dass 1937 primär ideologisch zuverlässige Parteianwärter aufgenommen werden sollten, die ihre Überzeugung bereits in anderen Parteigliederungen unter Beweis gestellt hatten. Bereits seit Januar 1935 war er Mitglied der DAF und der NSV.431 Eigenen Angaben zufolge stellte er die Beitragszahlungen Ende 1943 wieder ein.432 »[…] bei aller Anerkennung mancher Leistungen« seien ihm gegen das Wirken der NSDAP »seit den Vorkommnissen des Jahres 1938 immer stärkere Bedenken« entstanden.433 Im Entnazifizierungsbescheid vom 14. August 1946 hieß es, Schnurr sei »only a nominal member«, er habe sich nicht politisch betätigt und er sei durch die Partei verfolgt worden.434 1938 zog Schnurr, der vier Jahre zuvor eine Apothekerin geheiratet hatte, von Bad Soden nach Troisdorf um. Die Nachricht vom Kriegsausbruch sei für ihn völlig unerwartet gekommen und umso furchtbarer gewesen, als seine Frau und er die Geburt ihres ersten Sohnes erwarteten.435 Schnurrs Überraschung im Spätsommer 1939 belegt, sofern aufrichtig, ein bemerkenswertes Desinteresse am politischen Tagesgeschehen. Der »Apotheker« wurde als unabkömmlich vom Kriegsdienst zurück­gestellt.436

Rheinland, NW 1049 67150. Laut NSDAP-Zentralkartei wurde nach Schnurrs Aufnahme zum 1. 5. 1937 seine Mitgliedskarte am 15. 7. 1938 ausgestellt, vgl. BArch, R 9361-VIII KARTEI/20560873. Wenn Schnurr tatsächlich keine Mitgliedsbeiträge zahlte, er für seinen lokalen Ortsgruppenleiter nicht erreichbar war und schließlich mehrfach den Wohnort wechselte, wäre es plausibel, dass er seine Mitgliedskarte tatsächlich erst zwei Jahre später ausgehändigt bekam. Formal wurde die Aufnahme nicht vor der Aushändigung der Mitgliedskarte gültig, vgl. Buddrus, »War es möglich, ohne eigenes Zutun Mitglied der NSDAP zu werden?«, S. 24. 430 Vgl. Falter, Wer durfte NSDAP-Mitglied werden, S. 30. 431 Vgl. Undatierter Fragebogen, Spruchkammerakte, LA NRW, Abt. Rheinland, NW 1049 67150. 432 Vgl. Fragebogen vom 5. 7. 1946, ebenda. 433 Lebenslauf vom 22. 7. 1946, Bl. 7, ebenda. Schnurr bezieht sich hier auf die Reichspogromnacht vom 9. November 1938. 434 Fragebogen, Eintrag vom 14. 8. 1946, ebenda. 435 Vgl. Lebenslauf vom 22. 7. 1946, Bl. 15, ebenda. 436 Vgl. Fragebogen vom 5. 7. 1946, ebenda.

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1982 berichtete Schnurr einem Reporter der britischen BBC stolz, während des Krieges habe er persönlich große Munitionsfabriken errichtet.437 Und tatsächlich siedelte Schnurr Anfang 1940 mit seiner Familie nach Berlin über, um näher an einer Sprengstoff-Versuchsanlage der DAG in Ueckermünde (Tarnname »See I«) zu sein, die er mittlerweile leitete.438 »See I« wurde von der »GmbH zur Verwertung chemischer Erzeugnisse« (»Verwertchemie«) betrieben, einem Tochterunternehmen der DAG, das allein zur Verschleierung der Aufrüstung und der staatlichen Steuerung der Rüstungsindustrie gegründet worden war.439 In der Folgezeit wurden alle »Verwertchemie«-Anlagen, die das SH-Verfahren verwendeten, nach dem Modell der Versuchsanlage in Ueckermünde konzipiert.440 Ebenfalls zur »Verwertchemie« gehörte die ab 1940 von der DAG im Auftrag des Oberkommandos des Heeres in einem Wald bei Christianstadt am Bober in der Niederlausitz unter dem Tarnnamen »Ulme« errichtete Nitrocellulose- und Sprengstofffabrik.441 Die Planungen für die Anlage hatten schon zwei Jahre zuvor begonnen.442 In dem großen Waldgelände entstanden mehrere Fabrikkomplexe mit Hunderten von Gebäuden, Bunkern und eigenen Kraft- und Wasserwerken. Über die »Verwertungsgesellschaft für Montanindustrie GmbH« (Montan) befand sich das Werk im Reichsbesitz.443 Das gleiche Konstrukt war auch für das Werk »See I« in Ueckermünde gewählt worden.

437 Vgl. Denselow, Germany and the Argentine bomb, S. 11, BBC Written Archives Centre. 438 Vgl. Lebenslauf vom 22. 7. 1946, Bl. 6, Spruchkammerakte, LA NRW, Abt. Rheinland, NW 1049 67150. Zu Ueckermünde vgl. Dietmar Materna, Tarnname See. Ein Bericht über zwei ehemalige Werke der Pulver- und Sprengstofferzeugung im Kreis Ueckermünde, Milow 2000; Trimborn, Explosivstofffabriken, S. 236 f., und Grobelny, Schnurr, Teil 1, S. 51 f. 439 Die »Verwertchemie« mit ihrer Zentrale in Troisdorf betrieb ab 1933 insgesamt 32 Sprengstofffabriken, darunter die von Schnurr geleiteten Anlagen in Chris­ tianstadt, Döberitz, Hohensaaten und Ueckermünde, vgl. Löbner, Christianstadt, S. 63. 440 Vgl. Materna, Tarnname See, S. 35. 441 Zu Christianstadt vgl. Rudorff, Christianstadt, S. 270–275; Trimborn, Explosivstofffabriken, S. 59 f., und ausführlich Löbner, Christianstadt. 442 Vgl. ebenda, S. 53–98, und Rudorff, Christianstadt, S. 270. 443 Zum Verschleierungskonstrukt »Montan-Schema« vgl. Barbara Hopmann, Von der Montan zur Industrieverwaltungsgesellschaft (IVG) 1916–1951, Stuttgart 1996, S. 71–110.

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Werksdirektor von »Ulme« wurde nach der Fertigstellung der Fabrik der Vorstandsvorsitzende der DAG Paul Müller.444 Da Müller jedoch im 750 Kilometer entfernten Troisdorf saß, unterstand das Werk Christianstadt de facto seinem Stellvertreter Schnurr, der 1942 zu einem der Direktoren der DAG ernannt worden war.445 Mit der Versuchsanlage Hohensaaten446 und den Fabriken Döberitz447 und Christianstadt war er nun für zusammen über 10.000 Angestellte und Arbeiter verantwortlich.448 Nachdem Mitte 1943 die Sprengstoffproduktion aufgenommen worden war, entwickelte sich »Ulme« rasch zur »größte[n] Munitions- und Sprengstofffabrik des Deutschen Reiches«.449 Das unter Schnurrs Leitung in Christianstadt produzierte Hexogen machte bereits 1943 65,5 Prozent der deutschen Gesamtproduktion aus.450 Es fand in militärischen Sprengstoffen, als Ersatzsprengstoff für TNT, als Zündladung, in Sprengkapseln und in Pioniermunition, in Spezialgeschossen und -bomben, in 50kg- und 500kg-Bomben und als Komponente von Raketentreibstoffen (z. B. in der V2) Verwendung.451 Anfang 1945 produzierte das Werk 1.600 Tonnen Sprengstoff im Monat.452 Auch Schnurrs Schwager, Dr. Heinz Ratz, arbeitete im Christianstadter Werk, wo er die Bombenfüllstelle leitete.453 In elf Unterkunftslagern waren zwischen 6.000 und 10.000 Arbeiterinnen und Arbeiter untergebracht.454 Diese setzten sich aus zivilen deutschen Angestellten und Dienstverpflichteten und einer großen Zahl von 444 Vgl. Löbner, Christianstadt, S. 82 f., und Aussage Schnurrs vom 11. 1. 1971, BArch, B 162 /7951, Bl. 200. 445 Vgl. Löbner, Christianstadt, S. 82, und Rusinek, Fall Greifeld, S. 278 f. 446 Nitrocellulose-Fabrik der Verwertchemie, errichtet 1939, vgl. Hopmann, Montan, S. 100, und Trimborn, Explosivstofffabriken, S. 126. Hohensaaten ist heute ein Ortsteil von Bad Freienwalde / Oder. 447 Laut Grobelny war Schnurr von 1940 bis 1942 technischer Direktor des DAGWerks Döberitz bei Premnitz / Havel, Tarnname »Havel«, wo ebenfalls Hexogen hergestellt wurde; vgl. Grobelny, Schnurr, Teil 1, S. 52. Zum Werk Döberitz vgl. Trimborn, Explosivstofffabriken, S. 68 f. 448 Vgl. Lebenslauf vom 22. 7. 1946, Bl. 7, Spruchkammerakte, LA NRW, Abt. Rheinland, NW 1049 67150. 449 Jan Faktor, Tarnname Ulme. Das vergessene Konzentrationslager Christianstadt, in: FAZ, 27. 8. 2010. 450 Vgl. Löbner, Christianstadt, S. 96. 451 Vgl. ebenda, S. 98 f. 452 Vgl. ebenda, S. 85. 453 Ratz war nach dem Krieg Direktor bei der DAG in Troisdorf, vgl. BArch, B 162 /7951, Bl. 201. 454 Vgl. Rudorff, Christianstadt, S. 270.

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ausländischen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern zusammen.455 Seit August 1942 bestand ein Zwangsarbeiterlager für männliche jüdische KZ-Häftlinge, die auf den Baustellen und im Sprengstoffwerk arbeiten mussten und 1943 nach Auschwitz überstellt wurden. Um den 9. Juli 1944 kam ein erster Transport von rund 450 weiblichen Häftlingen aus dem Konzentrationslager Groß-Rosen in Christianstadt an, unter denen sich viele Jüdinnen aus Deutschland, den Niederlanden, Österreich, der ehemaligen Tschechoslowakei und Ungarn befanden. In weiteren Transporten trafen zwischen September 1944 und Januar 1945 Hunderte weitere Jüdinnen aus Auschwitz und dem Ghetto Litzmannstadt (Lodz, poln. Łodź) ein, darunter viele Kinder.456 Das vier Kilometer von der Fabrik entfernt an einer stark befahrenen Reichsstraße befindliche und gut einsehbare Lager gehörte mit einer Belegung von durchschnittlich rund 1.000 Häftlingen zu den größten Frauen-Außenlagern des KZ Groß-Rosen.457 Anfangs setzte man die Häftlinge bei Wald- und Bauarbeiten ein, dann vor allem zur Füllung von Granaten, Bomben und Sprengladungen. Sie litten unter unzureichender Ernährung und Bekleidung und besonders unter den gesundheitsgefährdenden Chemikalien, mit denen sie hantieren mussten. Der Kontakt mit Hexogen kann unter anderem zu Krämpfen, Hautreizungen, Übelkeit und Erbrechen führen und gilt als krebserregend.458 Schwangere Häftlinge wurden mit unbekanntem Schicksal in andere Lager abtransportiert, mindestens ein neugeborenes Kind wurde offenbar getötet.459 Bernd A.-Rusinek zufolge ereigneten sich in den Sprengstofffabriken mindestens acht schwere Explosionsunglücke mit mehreren hundert Toten.460 Ab Mitte Januar 1945 räumte die SS das Werk Christianstadt vor der vorrückenden Roten Armee und evakuierte alle Angestellten und Zwangs­ 455 Zum Folgenden vgl. ebenda, S. 271–274. 456 Die Frauen waren im Schnitt zwischen 15 und 50 Jahren alt. Vgl. die Erinnerungen der damals 13-jährigen Ruth Klüger, Weiter leben. Eine Jugend, Göttingen 1992, und der 12-jährigen Edith Bruck, Wer dich so liebt. Lebensbericht einer Jüdin. Neuausg. Berlin 1999, S. 37–38. 457 Vgl. Grobelny, Schnurr, Teil 2, S. 49 f. Zu Groß-Rosen vgl. Rudorff, Christianstadt, S. 191–221; Andrea Rudorff, Frauen in den Außenlagern des Konzentrationslagers Groß-Rosen, Berlin 2014; Alfred Konieczny, Das Konzentrationslager Groß-Rosen, in: DH 5 (1989), S. 15–27. 458 Vgl. Löbner, Christianstadt, S. 99. Zu den Arbeitsbedingungen in Christianstadt ausführlicher Rusinek, Fall Greifeld, S. 279–283. 459 Vgl. Rudorff, Christianstadt, S. 272 f., und Rusinek, Fall Greifeld, S. 280. 460 Ebenda, S. 279, ohne weiteren Beleg. Eine Explosionskatastrophe mit hunderten Toten im Januar 1945 wird bei Trimborn, Explosivstofffabriken, S. 60, erwähnt.

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arbeiter.461 Anfang Februar 1945 trieb die SS etwa 800 marschfähige Frauen auf einem Todesmarsch über Eger nach Bergen-Belsen. Eine unbekannte Zahl von Häftlingen wurde auf dem Marsch ermordet.462 Der als »erster Mann des Werkes«463 bezeichnete Schnurr bestritt jede Kenntnis der dortigen Zustände, als er aufgrund der in Christianstadt begangenen Verbrechen in den 1970er Jahren in den Fokus staatsanwalt­ licher Ermittlungen geriet. Er sagte aus, nur mit wissenschaftlichen und technischen Aspekten befasst gewesen zu sein. Die administrative und wirtschaftliche Seite sei durch den kaufmännischen Direktor Kurt Jooss bearbeitet worden, der auch für die »Arbeitskräftebeschaffung« zuständig gewesen sei.464 Schnurr sprach auffällig gewunden und nebulös von den »aus den [sic] Nebenlager Christianstadt kommenden Arbeitskräfte[n]. Diese liefen sowohl bei der Anforderung wie auch bei der späteren Verwendung unter der Bezeichnung ›Ungarinnen‹. Dass auch andere Arbeitskräfte, [handschriftlich ergänzt: »aus dem KZ Lager«, d. Verf.] die nicht aus Ungarn stammten, bei uns verwendet wurden, ist mir nicht bekannt.«465 Schnurrs Schätzung, dass maximal 300 bis 500 »Arbeitskräfte aus dem genannten Lager« beschäftigt worden seien, lag deutlich zu niedrig.466 Im Werk seien die »Genannten« »so human wie möglich« behandelt worden, da es auch um die »Erhaltung ihrer Arbeitskraft« gegangen sei.467 Er gab an, niemals von Tötungshandlungen im Lager oder Werk (zu denen es tatsächlich in mindestens einem Fall kam468) gehört zu haben und schloss diese implizit aus. Da Schnurr das »Lager« nie aufgesucht und mit dem ihm unbekannten Lagerführer nie Kontakt gehabt habe, habe er sich über »die dort herrschenden Zustände kein klares Bild machen« können.469 Es fällt auf, dass Schnurr seine genaue Tätigkeit (geschweige denn 461 Vgl. Rudorff, Christianstadt, S. 273. 462 Vgl. ebenda, S. 274. 463 So Kurt Jooss, der ehemalige kaufmännische Direktor des Werkes, über Schnurr, zitiert bei Löbner, Christianstadt, S. 84. 464 BArch, B 162 /7951, Bl. 200. Vgl. auch Löbner, Christianstadt, S. 83. Jooss wiederum bestritt selbst jede Kenntnis von weiblichen Zwangsarbeitern sowie die Anwesenheit der SS in Christianstadt und belastete indirekt Schnurr, zitiert ebenda, S. 84. 465 BArch, B 162 /7951, Bl. 201. 466 Ebenda. 467 Ebenda. 468 Vgl. Rudorff, Christianstadt, S. 271. 469 Vernehmung durch das LKA Karlsruhe am 11. 1. 1971 als Zeuge im Ermittlungsverfahren gegen unbekannt wegen Mordes / Beihilfe zum Mord in Christianstadt, BArch, B 162 /7951, Bl. 201. Die Generalstaatsanwaltschaft Köln stellte das

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seine Verantwortung) in Christianstadt nicht benannte. Entweder war er von bemerkenswerter Empathielosigkeit oder er vermied es, sich selbst zu belasten. Zu den Umständen, unter denen Schnurr Christianstadt im »letzte[n] Drittel 1944«470 verließ, gibt es widersprüchliche Darstellungen. Während seiner Entnazifizierung gab er 1946 an, er sei Mitte 1944 durch den Generaldirektor der DAG Paul Müller angewiesen worden, die Leitung seiner Betriebe an seine jeweiligen Stellvertreter zu übergeben.471 1971 erklärte Schnurr dagegen, anschließend »Leiter einer Werksgruppe, zu der das Werk Christianstadt« gehörte, geworden zu sein  – offenbar eine Beförderung.472 Der ehemalige kaufmännische Direktor des Werkes Kurt Jooss sagte in den 1970er Jahren dagegen aus, Schnurr sei abgesetzt worden.473 Auf der Flucht vor der Roten Armee ließ Schnurr Teile seines Labors aus Hohensaaten an der Oder, wo er noch geforscht hatte, nach Aschau am Inn transportieren und zog sich dann in das DAG-Werk nach Krümmel bei Hamburg zurück.474 Dort war der Krieg für ihn zu Ende. Angehörige des Combined Intelligence Objectives Subcommittee (CIOS), einer Einheit des amerikanischen Militärgeheimdienstes, die für die Internierung bedeutender deutscher Wissenschaftler zuständig war, setzten ihn fest.475 Interniert wurde er offenbar nicht oder allenfalls für sehr kurze Zeit. In seinem Entnazifizierungsverfahren rechtfertigte Schnurr sein beachtliches Einkommen mit seiner besonderen Qualifikation. Tatsächlich hatte der Chemiker mit einem Einkommen von 27.000 RM im Jahr 1943 und 30.000 RM 1944, verglichen mit seinem Jahresgehalt von 6.000 RM 1934

fahren 1976 ein, weil mutmaßliche Täter verstorben oder nicht mehr zu ermitteln waren. 470 So Schnurrs Angabe, BArch, B 162 /7951, Bl. 200. Rusinek, Fall Greifeld, S. 279, datiert den Weggang Schnurrs auf Oktober 1944. 471 Im Folgenden sei er »grundsätzlich von der Verantwortung für das Wohl und Wehe der Betriebsangehörigen befreit« gewesen, Lebenslauf vom 22. 7. 1946, Bl. 8, Spruchkammerakte, LA NRW, Abt. Rheinland, NW 1049 67150. 472 BArch, B 162 /7951, Bl. 200. 473 Vgl. Löbner, Christianstadt, S. 84. 474 Vgl. Aussage von Oskar Quoos, zitiert ebenda, S. 81. Der Zeuge nennt ein nicht existentes »Anschau am Inn«. Zum Werk Aschau vgl. Trimborn, Explosivstofffabriken, S. 33 f. Nach Rusinek, Fall Greifeld, S. 279, erlebte Schnurr das Kriegsende dagegen in Troisdorf. 475 Die Protokolle seiner Vernehmung aus dem Mai 1945 liegen in den amerikanischen National Archives in College Park, vgl. Grobelny, Schnurr, Teil 2, S. 50.

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in Höchst exorbitant gut verdient.476 Ein Reichsminister erhielt zur selben Zeit ca. 21.600 RM im Jahr.477 Zusätzlich erhielt Schnurr zwischen 1934 und 1944 »für eigene der I. G. und DAG überlassene Verfahren« 25.000 RM. Bei Kriegsende sei er durch Ausbombung und Flucht wirtschaftlich schwer geschädigt gewesen.478 Die überlieferten Egodokumente Schnurrs lassen ein bemerkenswertes Selbstbewusstsein erkennen. Schnurr zeigte sich während seiner Entnazifizierung überzeugt, durch seine »geistigen und charakterlichen Anlagen […] von vornherein [die] Aussicht gehabt [zu haben], eine außergewöhnliche Karriere zu machen.«479 Er sei ein »zielstrebiger Mensch, dessen Qualitäten ja wohl aus den Studienzeugnissen, der sportlichen und der industriellen Laufbahn hervorgehen« und habe »das Bedürfnis, wieder in eine [seinen] Fähigkeiten entsprechende Tätigkeit zu kommen […].«480 Seine Beteuerung, nur in die NSDAP eingetreten zu sein, um beruflichen Nachteilen zu entgehen, erscheint vor dem Hintergrund seiner damaligen wirtschaftlichen Situation nicht unglaubwürdig. Vermutlich war Schnurr kein Nationalsozialist und tatsächlich »an dem politischen Geschehen nicht im Geringsten interessiert«, wie es in einem »Persilschein« über ihn hieß.481 Seine spätere Erklärung, ihm sei »der Umstand entgegen« gekommen, durch Zufall »auf ein Arbeitsgebiet geführt [zu werden], das in höchstem Maße aktuell war und auf dem neue Erkenntnisse außerordentliche wirtschaftliche Anregungen zur Folge hatten«,482 zeigt eine frappierende Ignoranz gegenüber den Hintergründen der nationalsozialistischen Aufrüstungs- und Kriegspolitik. Dass die Rüstungsbetriebe, die er aufbaute und leitete, auch auf der Ausbeutung der Arbeitskraft von KZ-Häftlingen basierten, kann Schnurr nicht verborgen geblieben sein. Relevant war es für ihn offenkundig nicht. Im Dezember 1945 erklärte er im Kontext seines Entnazifizierungsverfahrens, da er sich »dem von der Partei ausgehenden Zwang nicht gebeugt habe, fühle [er sich] von politischer Belastung frei. Sollten in dieser Hin476 Vgl. die Aufstellung der Einkommensverhältnisse in der Spruchkammerakte, LA NRW, Abt. Rheinland, NW 1049 67150. 477 Dieser und weitere Vergleichswerte bei Gerd R. Ueberschär / Winfried Vogel, Dienen und Verdienen. Hitlers Geschenke an seine Eliten, Frankfurt a. M. 1999, S. 98 f. 478 Lebenslauf vom 22. 7. 1946, Bl. 9, Spruchkammerakte, LA NRW, Abt. Rheinland, NW 1049 67150. 479 Ebenda. 480 Anlage zum Fragebogen vom 1. 12. 1945, Bl. 4, ebenda. 481 »Persilschein« Emil Dörks für Walther Schnurr vom 19. 7. 1946, ebenda. 482 Erklärung vom 22. 7. 1946, Bl. 9, ebenda.

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sicht noch Unklarheiten bestehen, so frage man beliebige meiner zahlreichen Mitarbeiter, es wird keiner gegen mich zeugen.«483 Ob die in seinen Betrieben eingesetzten KZ-Häftlinge diese Selbsteinschätzung geteilt hätten, ist zu bezweifeln. Weite Teile des ehemaligen Sprengstoffwerkes in Christianstadt (Krzystkowice) sind bis heute militärisches Sperrgebiet. Das befördert ein Raunen über vermeintliche Rätsel und Geheimnisse des Areals, in dem, so die Gerüchte, auch an Chemie-, Kern- und Wunderwaffen geforscht worden sei.484 Nach heutigem Kenntnisstand ist das ebenso substanzlos wie vereinzelte Darstellungen, die Schnurr mit der Herstellung des Schädlingsbekämpfungsmittels Zyklon B in Verbindung bringen, das in den Gaskammern der nationalsozialistischen Vernichtungslager zum industriellen Massenmord verwendet wurde.485 Die einzige bekannte Verbindung zwi483 Anlage zum Fragebogen vom 1. 12. 1945, Bl. 4, ebenda. 484 Vgl. den Internet-Auftritt des Journalisten Christhard Läpple und das Interview mit dem Zeitzeugen Günter Frank, der als Prüf-Ingenieur im DAG-Werk tätig war: Christianstadt. Geschichte der Munitionsfabrik, christhard-laepple.de/24– 2/ [14. 12. 2021]. 485 Die Verbindung von Schnurr mit dem Thema »Giftgas« ließ sich erstmals in einer kurzen Meldung des »Deutschen Depeschendienstes (ddp) finden, die im Berliner »Tagesspiegel« vom 2. 11. 1979 abgedruckt war (»Früherer SS-Kommandant soll in Brasilien tätig sein«): »Der frühere SS-Kommandant von Leiden in Holland, Böttcher [sic! Boettcher], und der Chemiker Schnurr, der im Dritten Reich an der Entwicklung von Giftgas für die Vernichtungslager der Nazis beteiligt war, arbeiten in Brasilien an den deutsch-brasilianischen Atomvorhaben.« Der Zeitungsausschnitt ist Teil der – wenig ergiebigen – Materialsammlung der DDR-Staats­ sicherheit zu Walther Schnurr; BStU, MFS HA IX/11 SV 15 /17, Bl. 120. Zum Gerücht über die Beteiligung Schnurrs an der bundesdeutsch-­ brasilianischen Atomkooperation vgl. unten S. 386 f. Zum Giftgas-Vorwurf vgl. auch Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile – Lateinamerika (Hrsg.), Der Griff nach der Bombe. Das deutsch-argentinische Atomgeschäft, West-Berlin 1981. Schnurr sei »seit 1934 im Hauptlabor der Hauptgruppe II (Giftgasherstellung) der IG Farben, später Leiter der Abteilung Giftwaffen desselben Konzerns« gewesen. Schnurr solle »das zur Judenvernichtung verwendete Giftgas Zyklon B mitentwickelt haben«; ebenda, S. 10. Diese Darstellung ist in mehrfacher Hinsicht nicht korrekt. In der als Beleg angegebenen Stelle ist von Zyklon B überhaupt nicht die Rede (Atomexpress. Zeitung der Initiativen gegen Atomenergie Nr. 15, Juli / Aug. 1979, S. 29). Die Hauptgruppe oder Sparte II der I. G.Farben befasste sich mit »Farben, Chemikalien und Pharmazeutika« und wurde nicht von Schnurr geleitet. Vgl. … von Anilin bis Zwangsarbeit. Der Weg eines Monopols durch die Geschichte. Zur Entstehung und Entwicklung der deutschen chemischen Industrie. Eine Dokumentation der Bundesfachtagung der Chemiefachschaften (BuFaTa Chemie), Ulm u. a. 2007, S. 22. Die Assoziationskette »I. G.-Farben  – Zyklon B  – Schnurr« scheint auch in den Bildern der

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schen Schnurr und dem Zyklon B besteht darin, dass dessen Hersteller, die »Deutsche Gesellschaft für Schädlingsbekämpfung m. b.H« (Degesch) in Frankfurt ebenso zur I. G.-Farben gehörte, wie die DAG, für die Schnurr arbeitete.486 Zyklon B wurde bereits 1922 erfunden; dass Schnurr später an der Produktion beteiligt war, ist sehr unwahrscheinlich. Die Biographie Schnurrs in der unmittelbaren Nachkriegszeit lässt sich, wie bei vielen anderen Personen, die aus heutiger Sicht als hoch NS-­ belastet gelten müssen, nur bruchstückhaft rekonstruieren. Auch nach dem Zusammenbruch des Deutschen Reiches war Schnurr zunächst weiterhin bei der DAG in Troisdorf beschäftigt, wo er sich nun mit Kunststoffen befasste.487 Nachdem er, wie er in seinem Lebenslauf anlässlich des im Dezember 1945 eingeleiteten und im Sommer 1946 abgeschlossenen Entnazifizierungsverfahrens larmoyant anmerkte, den in Christianstadt befindlichen Familienbesitz hatte aufgeben müssen und auch nicht mehr »in dem schönen, mit allem Komfort ausgestatteten Haus« wohnen konnte, in dem er bis 1939 in Troisdorf gelebt hatte, fand er sich im Juli 1946 mit Frau und drei Kindern in einer kleinen Dachwohnung auf dem Werksgelände der Dynamit A. G. wieder.488 Ob er, wie der bereits mehrfach erwähnte BBC-Bericht aus dem Jahr 1982 nahelegt, bereits 1945 kurzzeitig in Uruguay gewesen war,489 sei hier dahingestellt. Die Entnazifizierung erbrachte für Schnurr die Kategorie V (»entlastet«); er galt nur ­ BC-Reportage »Germany and the Argentine Bomb« von Robert Denselow von B 1982 aufgegriffen worden zu sein. Vgl. Alles Quatsch, in: Der Spiegel, 26. 4. 1982, S. 138–141; hier heißt es, S. 138, zur filmischen Inszenierung: »Nazifahnen, Hitlerphotos und eine Dose Zyklon-Gas der IG Farben stellen den Bezug her.« Im Text der BBC-Reportage fehlt der die Verbindung zu Zyklon B; vgl. Denselow, Germany and the Argentine bomb, S. 8, BBC Written Archives Centre. 486 Jürgen Kalthoff / Martin Werner, Die Händler des Zyklon B. Tesch & Stabenow. Eine Firmengeschichte zwischen Hamburg und Auschwitz, Hamburg 1998. 487 Vgl. Grobelny, Schnurr, Teil 2, S. 50 f. 488 »Angaben über Werdegang und berufliche Tätigkeit«, 22. 7. 1946, S. 10, Spruchkammerakte, LA NRW, Abt. Rheinland, NW 1049 67150. 489 Demnach sei Schnurr 1945 mit weiteren ehemaligen Angehörigen der I. G.-Farben nach Montevideo gekommen. Der Chemiker sei – so berichtete William Epstein, der laut BBC 25 Jahre die »U. N. Disarmament Division« geleitet hat – dort Mitglied des »Nazi establishment« gewesen. Vermutlich Anfang 1946 sei Schnurr dann nach Argentinien verschwunden. Vgl. Denselow, Germany and the Argentine bomb, S. 8, BBC Written Archives Centre. Falls diese Datierung zutrifft, könnte Schnurr auch nach Deutschland zurückgereist sein. Zu Epstein vgl. Paul Lewis, William Epstein, 88, U. N. Disarmament Official, in: The New York Times, 15. 2. 2001, www.nytimes.com/2001 /02 /15/us/william-epstein-88-undisarmament-official.html [14. 12. 2021].

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als »nominal member« der Partei.490 Seine berufliche Tätigkeit in Christianstadt war in dem Verfahren kein Thema. Auch in der Folgezeit geriet Schnurr nicht als Beschuldigter in den Fokus der Justiz; im Zusammenhang mit den Vorgängen in den I. G.-Farben-Werken und in Christianstadt wurde er lediglich als Zeuge vernommen: So sagte er im Oktober 1947 im Nürnberger I. G.-Farben-Prozess aus.491 Warum und unter welchen Umständen Schnurr Ende der 1940er Jahre nach Argentinien ging, ist unklar. Vermutlich spielte die von Staatspräsident Juan Perón, der seit Beginn seiner Amtszeit 1946 eine ehrgeizige Industrie- und Militärpolitik verfolgte, zahlreichen deutschen und österreichischen Technikern und Naturwissenschaftlern offerierte berufliche Perspektive eine wichtige Rolle.492 Doch auch die latente Furcht vor einer Strafverfolgung in Deutschland dürfte maßgeblich gewesen sein. Perón, der Hitler bewundert hatte, warb nicht nur um qualifizierte Techniker, sondern bot bekanntlich auch deutschen und österreichischen Kriegsverbrechern eine Zuflucht.493 Insgesamt sollen in der (ersten) Amtszeit Peróns rund 30 bis 40 Tausend Deutsche und Österreicher ins Land gekommen sein.494 In dem bereits mehrfach zitierten BBC-Interview aus dem Jahr 1982 nannte Schnurr Argentinien sein »second fatherland«, »because after the war Argentine has accepted and given homes to so many people who had difficulties – to live here«.495

490 Stellungnahme in Spruchkammerakte, LA NRW, Abt. Rheinland, NW 1049 67150. 491 Vgl. Grobelny, Schnurr, Teil 2, S. 51. Die bei Löbner, Christianstadt, S. 98, angegebene Signatur seiner Nürnberger Aussage ist leider fehlerhaft. Das genannte Dokument konnte nicht gefunden werden. Nach Rusinek, Fall Greifeld, S. 283, fand die Aussage im Januar 1948 statt. 492 Vgl. zum Kontext: Holger M. Meding, Flucht vor Nürnberg? Deutsche und österreichische Einwanderung in Argentinien, 1945–1955, Köln u. a. 1992; Leonardo Senkman, Perón y la entrada de tecnicos alemanes y colaboracionists con los Nazis, 1947–1949: Un caso de cadena migratoria, in: Estudios Migratorios Latinoamericanos (1995), H. 10, S. 673–704; Hannes Bahrmann, Rattennest. Argentinien und die Nazis, Berlin 2021. Zur argentinischen Innenpolitik vgl. Michael Riekenberg, Kleine Geschichte Argentiniens, München 2009, S. 145–160; Sandra Carreras / Barbara Potthast, Eine kleine Geschichte Argentiniens, Berlin 2010, S. 179–203. 493 Vgl. auch Rusinek, Fall Greifeld, S. 249–251. 494 Riekenberg, Kleine Geschichte Argentiniens, S. 161; »vor der alliierten Justiz auf der Flucht« waren demnach »wohl etwa zwei Prozent«. 495 Denselow, Germany and the Argentine bomb, S. 9, BBC Written Archives Centre; deutsches Zitat in: Murren und Mauscheln, in: Der Spiegel, 2. 6. 1969, S. 161;

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Am 31. Januar 1949 reiste Schnurr mit Frau und Kindern, von Le Havre kommend, in Argentinien ein. Da ihn die Unterlagen der Einwanderungsbehörde als »resident« ausweisen, ist anzunehmen, dass er bereits vorher in Argentinien gewohnt hatte und nun die Familie nachholte.496 Nach den Angaben in seinen späteren Beförderungsunterlagen im Bundesdienst war er ab 1950 als »Berater der Regierung von Argentinien (1950–54) und der Regierung von Bolivien (1954–56)« tätig.497 Was genau mit dieser Beratertätigkeit gemeint war und ob sich in dieser Angabe nicht eventuell auch der Geltungsdrang Schnurrs spiegelte, muss offen bleiben. Eine bereits seit Ende der 1940er Jahre stattfindende Beschäftigung im Bereich seines chemischen Fachgebiets, der Sprengstoffherstellung, erscheint plausibler als eine Involvierung in die rasch gescheiterten atomtechnischen Bemühungen des Perón-Regimes.498 Diese Einschätzung wird auch durch Hinweise des BBC-Berichts gestützt.499 Erwähnt wird hier auch, dass Schnurr einen Diplomatenstatus besessen habe.500

Argentinien sei das Land gewesen, »in dem man damals politisch keine Schwierigkeiten hatte«. 496 Für die Informationen zu Schnurrs Einreise nach Argentinien und für die Bewertung danken wir Uki Goñi (Buenos Aires), E-Mail an Prof. Dr. Gerald Steinacher (Nebraska) vom 12. 7. 2018. Letzterem sei für die Nachfrage bei Uki Goñi gedankt. Nach Rusinek, Fall Greifeld, S. 283, reiste Schnurr bereits 1948 aus. Dies ist plausibel, bleibt aber ebenda unbelegt. 497 Vgl. z. B. BArch, B 126 /17037. 498 In diesem Sinne auch Rusinek, Fall Greifeld, S. 252. Ebenda legt Rusinek nahe, dass Schnurr eventuell in den Munitionsfabriken in San Francisco und Rio Tercero tätig war. Die zweite Fährte wird gestützt durch den ebenda nicht angeführten Umstand, dass eine Tochter der I. G.-Farben Ende der 1930er Jahre den Auftrag zum Bau der Fabrik erhalten hatte. Vgl. Office of Military Government for Germany, United States (O. M.G.U.S), Ermittlungen gegen die I. G. Farbenindustrie AG. September 1945, übers. und bearb. von der Dokumentationsstelle zur NS-Sozialpolitik Hamburg, Nördlingen 1986, S. 102 f. Die Fertigstellung sei durch den Krieg verhindert worden. Inwieweit Schnurr dabei involviert war, ist allerdings (bislang) ebenso unerforscht wie die weitere Baugeschichte. Auch der spätere Wohnsitz Schnurrs in der Provinz Cordoba (vgl. unten S. 387) könnte ein Indiz für die These Rusineks sein. 499 Denselow, Germany and the Argentine bomb, S. 9 f., BBC Written Archives Centre. Günter Haaf / Josef Joffe, Die Karlsruhe-Connection. Verhalfen die Deutschen den Argentiniern wirklich zur Atombombe?, in: Die Zeit, 30. 4. 1982, behaupten, dass Schnurr »Teilhaber einer kleinen Sprengstofffabrik« gewesen sei. 500 Denselow, Germany and the Argentine bomb, S. 9, BBC Written Archives ­Centre.

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Noch weniger bekannt ist über Schnurrs Aktivitäten in Bolivien.501 Das Ausweichen in das nördliche Nachbarland Argentiniens könnte mit der fortschreitenden Destabilisierung des Perón-Regimes zusammenhängen, dem schließlich 1955 durch einen Militärputsch ein vorläufiges Ende gesetzt wurde. In Bolivien, wo mit der Revolution von 1952 das »Movimiento Nacionalista Revolucionario« an die Macht gekommen war, bot sich Schnurr das analoge Umfeld einer wirtschaftspolitisch ambitionierten autoritären Regierung.502 Vermutlich behielt Schnurr allerdings einen argentinischen Wohnsitz; die im Jahr 1957 durch das Deutsche Patentamt ausgestellte Urkunde zur Erneuerung des erwähnten Schnurr’schen Patents zur Hexogenherstellung aus dem Jahr 1937 nennt als Wohnort El Palomar nahe Buenos Aires.503 Wohl im Dezember 1956504 kam Schnurr zurück nach Deutschland, nachdem er noch während der Amtszeit des ersten Atomministers Franz Josef Strauß  – d. h. bis Oktober 1956  – für eine Führungsposition im bundesdeutschen Atomministerium angeworben worden war. Eine entscheidende Rolle spielte dabei, glaubt man den Memoiren des deutschen Kernphysikers Willy Marth,505 der damalige Vorstandsvorsitzende der Hoechst AG Karl Winnacker (1903–1989).506 Winnacker, der als früherer I. G.-Farben-Abteilungsleiter und -Direktor Schnurr aus der NS-Zeit kannte und der nun in der sich formierenden bundesdeutschen Atompolitik eine herausgehobene Stellung als Experte und Berater innehatte – 1956 war er einer der stellvertretenden Vorsitzenden der neu gebildeten Deutschen Atomkommission507 –, scheint ihn Strauß empfohlen zu haben.508 501 Auch im BBC-Interview aus dem Jahr 1982 gab Schnurr an, in Bolivien gewesen zu sein. Vgl. ebenda, S. 11, BBC Written Archives Centre. Willy Marth, 70 Jahre lang. Erlebnisse und Beobachtungen, Karlsruhe 2003, S. 111, spricht neben Argentinien ebenfalls von Bolivien. Rusinek, Fall Greifeld, erwähnt die BolivienEpisode nicht. 502 Zu den damaligen innenpolitischen Verhältnissen in Bolivien vgl. Stefan Rinke, Lateinamerika, Darmstadt 2015, S. 148. 503 Vgl. Anm. 425. 504 So Rusinek, Fall Greifeld, S. 253, gestützt auf eine rückblickende Bemerkung Winnackers in einem Brief an Forschungsminister Stoltenberg vom 19. 7. 1966. 505 Marth (geb. 1933) arbeitete zeitweise im Karlsruher Kernforschungszentrum und kannte Schnurr aus dessen Zeit als Geschäftsführer. 506 Zur Person vgl. oben S. 278 f. 507 Vgl. oben S. 96. 508 Marth, 70 Jahre lang, S. 111, bezeichnet Winnacker sogar als »Chef« von Schnurr: »Auf Anregung seines früheren Chefs Winnacker erhielt er 1956 zuerst einen Abteilungsleiterposten im neugegründeten Forschungsministerium und später (1960–70) die Stelle des technischen Geschäftsführers bei der KfK.«

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Letzterer sprach rückblickend 1982 im BBC-Bericht davon, dass Schnurr »a combination of an expert and a manager« gewesen sei. Die Frage einer NS-Belastung dürfte bei der Rückholung des Chemikers kein Thema gewesen zu sein, vielmehr kam ihm nun seine Erfahrung als NS-Rüstungsmanager zugute. Schnurr äußerte zur Begründung seiner Verpflichtung für den bundesdeutschen Ministerialdienst im selben Film selbstbewusst die Vermutung: »I think I have been invited to come back for my big experience to manage big things. I built big factories during the war«.509 Im Bundesministerium für Atomfragen übernahm Schnurr 1957 zunächst die Leitung der Gruppe II A (später II B) »Nutzung der Atomenergie«, in der sich die Referate »Technische Nutzung der Atomenergie« und »Strahlennutzung« befanden.510 1959 wurde er dann zusätzlich Leiter der übergeordneten Abteilung II (»Forschung, Technik, Strahlenschutz« bzw. dann »Kernforschung, Kerntechnik, Strahlenschutz«), der zum 1. Dezember 1959 nicht weniger als vier Gruppen und 16 Referate unterstanden und in der alle naturwissenschaftlichen und technischen Aspekte des Ministeriums gebündelt waren.511 Im Vergleich dazu umfasste die Abteilung I, die für die administrativen und ökonomischen Arbeitsbereiche des Ministeriums einschließlich der internationalen Kooperation zuständig war, lediglich sieben Referate. Innerhalb kürzester Zeit hatte Schnurr, der den Status eines übertariflichen Angestellten besaß, eine Schlüsselstelle im Atomministerium erreicht.512 Dass ein weiterer »Neuzugang« des Ministeriums, der 1958 vollzogene Wechsel des gelernten Funktechnikers und ehemaligen Abteilungsleiters in der Forschungsanstalt der Reichspost, Dr. Otto Groos, aus dem argentinischen in den bundesdeutschen Ministerialdienst, auf die Initiative von Schnurr zurückgeht, erscheint naheliegend. Groos übernahm in der von Schnurr geleiteten Gruppe II A das Referat zur »Reaktorsicherheit«.513 509 Denselow, Germany and the Argentine bomb, S. 11, BBC Written Archives Centre. Beide Zitate in deutscher Übersetzung teilweise wiedergegeben in: Alles Quatsch, in: Der Spiegel, 26. 4. 1982, S. 138–141. 510 Organigramm 1957 /11, BArch, B 138 Org. – Die Tätigkeit Schnurrs im Atomministerium und in Karlsruhe (mit Ausnahme eines Hinweises auf ungewöhn­ liche finanzielle Zuwendungen, vgl. unten S. 386) und sein Lebensabend in Argentinien werden von Rusinek, Fall Greifeld, nicht mehr behandelt. 511 Organigramm, 1. 12. 1959, BArch, B 138 Org. 512 Daher ist es kein Zufall, dass Schnurr am 14. 3. 1959 Minister Balke bei der Eröffnung des Berliner »Hahn-Meitner-Instituts für Kernforschung« begleitete. Vgl. Hettstedt / Raithel / Weise (Hrsg.), Im Spielfeld der Interessen, Titelbild (Schnurr stehend, links neben Balke). 513 Ebenda; zu Groos vgl. oben S. 247 f.

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Inhaltlich wirkte Schnurr in dieser Phase vor allem an einer wichtigen Weichenstellung der bundesdeutschen Atompolitik mit: der Planung und der komplizierten Standortwahl des im Wesentlichen mit Bundesmitteln errichteten Mehrzweckforschungsreaktors, der schließlich – nicht zuletzt wohl aus Gründen der räumlich relativ großen Entfernung vom sowjetischen Machtbereich  – im Zeitraum von 1961 bis 1965 in Karlsruhe errichtet wurde. Hier bildete die Anlage bis zu ihrer Stilllegung 1984 einen technischen Kern des entstehenden atomtechnischen Forschungszentrums. Dieses wurde damals von der seit 1959 bestehenden »Gesellschaft für Kernforschung« getragen, die aus der 1956 gegründeten »Kernreaktor Bau- und Betriebsgesellschaft mbH« hervorgegangen war.514 Inwieweit der Schwerwasserreaktor, der mit nicht angereichertem Uran betrieben werden kann und in dem bei der Kernspaltung relativ viel Plutonium entsteht, neben der unzweifelhaften zivilen Nutzungsperspektive auch mit massiven militärischen Hintergedanken gebaut wurde, ist in der Forschung umstritten.515 Wie eine ministeriumsinterne Notiz Schnurrs vom 6. September 1960 zeigt, setzte sich dieser vehement für den Standort Karlsruhe ein, wobei sein klarer und eindringlicher Argumentationsstil auffällt.516 Es erscheint sehr unwahrscheinlich, dass Schnurr zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste, dass er selbst beim weiteren Aufbau des Mehrzweckforschungsreaktors und anderer atomtechnischer Anlagen in Karlsruhe eine maßgebliche Rolle spielen sollte. Noch im selben Jahr wurde er technischer Geschäftsführer der »Gesellschaft für Kernforschung«. Schnurr übernahm damit die Position des – ebenfalls schwer NS-belasteten – Chemikers Gerhard Ritter, der in Karlsruhe offenbar wegen interner Probleme aus dem Amt geschieden war und der nun unter Vermittlung von Winnacker als 514 1978 erfolgte die Umbenennung in »Kernforschungszentrum Karlsruhe«, 1995 dann in »Forschungszentrum Karlsruhe«. Seit 2009 ist dieses Teil des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT). Vgl. zur Geschichte: Michael Hartmann, Der Weg zum KIT. Von der jahrzehntelangen Zusammenarbeit des Forschungszentrums Karlsruhe mit der Universität Karlsruhe (TH) zur Gründung des Karlsruher Instituts für Technologie. Eine Darstellung nach den Aussagen von Zeitzeugen, Karlsruhe 2013. 515 Gegensätzliche Positionen beziehen: Geier, Schwellenmacht, und Hanel, Bombe. Vgl. auch Stephan Geier, Rezension zu: Hanel, Tilmann: Die Bombe als Option. Motive für den Aufbau einer atomtechnischen Infrastruktur in der Bundesrepublik bis 1963, Essen 2015, in: H-Soz-Kult, 29. 5. 2015, www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-23939 [9. 11. 2021], sowie Geier, Atomministerium, in: Hettstedt / Raithel / Weise (Hrsg.), Im Spielfeld der Interessen. 516 BArch, B 138 /301.

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Generaldirektor an die »Gemeinsame Forschungsstelle der EURATOM« im norditalienischen Ispra wechselte.517 In Karlsruhe blieb Schnurr bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1970 im Amt und arbeitete – wie bereits in der biographischen Skizze zu Josef Brandl dargestellt  – in der Führung der Forschungsanlage mit Brandl und Rudolf Greifeld zusammen (vgl. auch Abb. 7). Schnurr war in dieser Zeit wohl maßgeblich an der deutsch-argentinischen Kooperation zur Errichtung des nordwestlich von Buenos Aires gelegenen Kernkraftwerks Atucha 1 beteiligt, eines von der bundesdeutschen Kraftwerk-Union im Zeitraum von 1968 bis 1974 errichteten Schwerwasserreaktors nach dem Vorbild des Karlsruher Mehrzweckforschungsreaktors.518 Die Bauzeit des argentinischen Kraftwerks erstreckte sich von der Zeit der Militärdiktatur unter General Juan Carlos Onganía (1966–1969) bis zur erneuten Perónistischen Herrschaft (1973–1976).519 Ein »Zeit«Artikel aus dem Jahr 1982 zitierte einen nicht genannten Kollegen aus der Amtsperiode Schnurrs in Karlsruhe: Dieser habe ein »ausgeprägtes persönliches Interesse« an Argentinien gehabt; »in seiner Zeit als Geschäftsführer« in Karlsruhe sei er »regelmäßig nach Argentinien« geflogen, »auch im Urlaub«.520 Vermutlich hatte Schnurr auch weiterhin einen argentinischen Wohnsitz.521 Nach einem bislang unveröffentlichten Bericht des von 1970 bis 1973 in Karlsruhe beschäftigten Kernphysikers Léon Grün­ baum stand Schnurr, der enge Kontakte zur argentinischen Politik gehabt habe, im Zentrum der bundesdeutsch-argentinischen Zusammenarbeit.522 Möglicherweise wirkte Schnurr auch aktiv an der Anbahnung der bun517 Zu Ritter (1902–1988), der führende Funktionen im I. G.-Farben-Konzern wahrgenommen hatte, vgl. Rusinek, Fall Greifeld, S. 255–274; Daniela Hettstedt, Forschen und führen. Die Gemeinsame Forschungsstelle der EURATOM in Ispra unter Generaldirektor Gerhard Ritter, 1958–1970, in: dies./Raithel / Weise (Hrsg.), Im Spielfeld der Interessen. 518 Zu diesem Auftakt der bundesdeutsch-argentinischen Atomkooperation vgl. Romberg, Atomgeschäfte, S. 186–189. 519 Vgl. Riekenberg, Kleine Geschichte Argentiniens, S. 166–173; Carreras / Potthast, Eine kleine Geschichte Argentiniens, S. 210–218. 520 Günter Haaf / Josef Joffe, Die Karlsruhe-Connection. Verhalfen die Deutschen den Argentiniern wirklich zur Atombombe?, in: Die Zeit, 30. 4. 1982. 521 Hierfür sprechen Dokumente für die Einreise nach Brasilien, die für Schnurr und einen seiner Söhne im August 1962 im brasilianischen Generalkonsulat ausgestellt wurden. Hier ist als Wohnsitz jeweils eine Adresse in Vicente Lopez, einem Vorort von Buenos Aires, angegeben. Die Dokumente sind einsehbar über das Genealogie-Portal MyHeritage, www.myheritage.de/ [18. 11. 2021]. 522 Vgl. Glahé, Léon Grünbaum. Zur Bedeutung von Schnurr als »Schlüsselfigur für die deutsch-argentinische nukleare Zusammenarbeit« vgl. auch Romberg,

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desdeutschen Atomkooperation mit dem Apartheitsregime in Südafrika mit.523 Folgt man wiederum der Darstellung Marths, so scheint sich der Chemiker ansonsten in Karlsruhe zunehmend mit seinen eigenen »Uranforschungen beschäftigt und sich dabei überwiegend in seinem Privatlaboratorium aufgehalten [zu haben] – ein Privileg, das weder vorher noch nachher einem Geschäftsführer der KfK zuteilwurde«.524 In der bundesdeutschen Öffentlichkeit wurde der Name Schnurr Ende der 1960er Jahre aus einem anderen Grund bekannt: »Der Spiegel« und andere Medien berichteten über Missstände und interne Spannungen im Karlsruher Forschungszentrum. Schnurrs Nachkriegstätigkeit in Argentinien wurde dabei ebenso erwähnt wie seine unübliche Entlohnung als Experte für das Deutsche Atomforum. Forschungsminister Stoltenberg musste Letzteres im Mai 1969 auf Grund einer parlamentarischen Anfrage sogar im Bundestag rechtfertigen.525 Im Jahr 1970 wurde Walther Schnurr pensioniert. Etwa zur selben Zeit fand seine Tätigkeit in der NS-Zeit das erste und einzige Mal das Interesse der bundesdeutschen Justiz. Wie bereits erwähnt, wurde er am 11. Januar 1971 im Karlsruher Polizeipräsidium im Zuge von Vorermittlungen der Zentralen Stelle Ludwigsburg zum Nebenlager Christianstadt des Konzentrationslagers Groß-Rosen als Zeuge vernommen. Wie das oben mehrfach zitierte Vernehmungsprotokoll zeigt, war Schnurr offenbar durchaus erfolgreich darum bemüht, ein Bild der Ahnungslosigkeit zu bieten. Seine Kenntnisse über das Lager, in dem – wie bereits dargestellt – weibliche KZ-Häftlinge als Arbeitskräfte für die von Schnurr geleitete Sprengstofffabrik untergebracht waren, habe er nur vom Hörensagen gehabt. Anfang der 1970er Jahre scheint Schnurr wieder dauerhaft nach Argentinien übersiedelt zu sein,526 wo er 1973 den Orden de Mayo (»MaiOrden«) verliehen bekam, eine nur an Ausländer vergebene argentinische Auszeichnung.527 Ob Schnurr Ende der 1970er Jahre auch in die bundesgeschäfte, S. 186 f. (Zitat S. 186); fehlerhaft ist ebenda, S. 186, die Angabe, dass Schnurr »zu Beginn der 1950er Jahre« ins Atomministerium gekommen sei. 523 Romberg, Atomgeschäfte, S. 237, führt einen Brief Schnurrs an die südafrikanische Atomenergiebehörde aus dem Jahr 1961 an. Generell zur Zusammenarbeit mit Südafrika, die sich Ende der 1960er Jahre verstärkte, vgl. ebenda, S. 237–287. 524 Marth, 70 Jahre lang, S. 111. 525 Verhandlungen Bundestag, 5. WP, 231. Sitzung, S. 12813. Vgl. auch: Murren und Mauscheln, in: Der Spiegel, 2. 6. 1969, S. 158–165; Rusinek, Fall Greifeld, S. 253. 526 Vgl. Marth, 70 Jahre lang, S. 111: »Als Schnurr abtrat, zog es ihn bald wieder zurück zu seinen alten Kameraden nach Südamerika.« 527 Maßgeblich waren vermutlich seine Aktivitäten im Bereich der Sprengstoff­ herstellung, vgl. Atucha tiene su historia. Los militares y la central nuclear, in:

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deutsch-brasilianische Atomkooperation involviert war, bedürfte der genaueren Überprüfung.528 Zu Beginn der 1980er Jahre wurde die NS-Vergangenheit von Schnurr erstmals zu einem öffentlichen Thema. Angemerkt sei, dass ihm auch seitens der personalpolitischen DDR-Propaganda gegen die Bundesrepublik keine gravierende NS-Belastung zugeschrieben worden war. Im 1968 letztmals veröffentlichten Braunbuch tauchte er gar nicht auf, und in der Spezialpublikation zum »Bonner Kernwaffenkartell« aus dem Jahr 1969 kam er zwar vor, als belastende Tatsache war aber nur vermerkt, dass der Chemiker seit 1934 als I. G.-Farben-Angehöriger in der Rüstungsproduktion tätig gewesen sei.529 Der erste Impuls dafür, dass das öffentliche Interesse für Schnurrs Rolle in der NS-Zeit geweckt wurde, kam infolge eines weit entfernten militärischen Konflikts: Britische Medien konstruierten im Kontext des britisch-argentinischen Falklandkrieges vom Frühjahr 1982 die These, dass die Bundesrepublik Argentinien über die Plutoniumproduktion im Kernkraftwerk Atucha zur Atombombe verhelfe.530 Die Schlagkraft dieser These wurde durch den Bezug auf die NS-Zeit massiv erhöht. Deutsche Atomwissenschaftler hätten nach 1945 zunächst in Argentinien weiter an der Atombombe gebaut und später über ihre Tätigkeit im Forschungszentrum Karlsruhe die Entwicklung einer argentinischen Bombe unterstützt. Walther Schnurr erschien dabei als eine Hauptfigur. Ein Fernsehteam der BBC schaffte es sogar, den Pensionär an seinem Wohnsitz in der damals noch stark deutsch geprägten und von der Architektur her alpenländisch wirkenden Berggemeinde La Cumbrecita südlich der zentralargentinischen Millionenstadt Cordoba ausfindig zu machen und zu interviewen.531

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Perfil, 26. 10. 2006, www.perfil.com/noticias/sociedad/atucha-tiene-su-historia-20061026–0025.phtml [20. 11. 2021]: »En 1973, recibió en Argentina la Orden de Mayo, la más alta condecoración que se otorga a un extranjero, por sus servicios prestados a las Fuerzas Armadas de Argentina.« Meldung des »Deutschen Depeschendienstes« (ddp) im Berliner »Tagesspiegel« vom 2. 11. 1979 (siehe Anm. 485). Im Hintergrund stand der Bericht eines oppositionellen brasilianischen Abgeordneten. Nationale Front des Demokratischen Deutschland (Hrsg.), Bonner Kernwaffenkartell, S. 69. Vgl. das bereits mehrfach zitierte Manuskript: Denselow, Germany and the Argentine bomb, BBC Written Archives Centre. Die Filmfassung wurde offenbar nicht archiviert. Vgl. oben die wiederholten Verweise. Das Transkript, dessen übergreifende Thesen extrem spekulativ bleiben, ist quellenkritisch nur mit Vorsicht zu verwenden. Auffallend ist auch die große Zahl von falsch geschriebenen Namen: So heißt die

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Nachdem der BBC-Bericht am 19. April 1982 in Großbritannien ausgestrahlt worden war, antwortete das bundesdeutsche Nachrichtenmagazin »Der Spiegel« umgehend mit einem »Alles Quatsch« überschriebenen Artikel. Der These einer bundesdeutschen Entwicklungshilfe für den Bau einer argentinischen Atombombe trat das Hamburger Magazin zwar entschieden entgegen; ein Teilaspekt der NS-Vergangenheit von Walther Schnurr – seine Rolle als Sprengstoffexperte – wurde aber nun erstmals der bundesdeutschen Öffentlichkeit bekannt. Im Sinne einer NSBelastung waren die zugehörigen Ausführungen freilich nicht formuliert.532 Auch die Wochenzeitung »Die Zeit« wies die britische These bald in ­differenzierter Form zurück, wobei die bundesdeutsch-argentinische Atomkooperation als ein Element einer breiten internationalen Unterstützung der argentinischen Atompolitik – unter anderem auch von den USA, Großbritannien und der Sowjetunion – gesehen wurde.533 Auch die Rolle Schnurrs wurde im »Zeit«-Artikel ausführlich dargestellt. Auffallend ist, dass hier  – wie auch schon im »Spiegel«-Artikel  – die aus heutiger Sicht spezifische Belastung Schnurrs mit dem massenhaften Einsatz von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern in der Sprengstoffproduktion mit keinem Wort Erwähnung fand. Schnurrs Funktion als Leiter der großen Sprengstofffabrik in Christianstadt war zu diesem Zeitpunkt in der Geschichtswissenschaft noch nicht bekannt, und generell wurde die Verantwortlichkeit für und das Profitieren von NS-Zwangsarbeit zu diesem Zeitpunkt in der bundesdeutschen Öffentlichkeit noch kaum als ein Aspekt von NS-Belastung empfunden. Das ist insofern nicht verwunderlich, als dieses Thema bis in die 1980er Jahre in Geschichtswissenschaft und Öffentlichkeit so gut wie überhaupt nicht beachtet wurde. Dies änderte sich erst langsam seit den 1980er Jahren; die Entschädigungsdiskussion der 1990er Jahre und der damit verbundene politisch-gesellHauptfigur Schnurr durchgehend Schneur, sein argentinischer Wohnort La Cumbrecita findet sich hier als La Camposita. Diverse Detailinformationen zu Schnurr und auch seine zitierten Äußerungen fügen sich allerdings weitgehend widerspruchsfrei in das bereits durch andere Quellen formierte Bild.  – Einen Eindruck von der alpenländischen Architektur von La Cumbrecita vermittelt die Homepage des Ortes: lacumbrecita.gov.ar/nuestropueblo.html [18. 11. 2021]. Die benachbarte Kleinstadt Villa General Belgrano, in der es seit den 1960er Jahren ein »Oktoberfest« gibt, war ein Zentrum der deutschen Einwanderung – mit besonderem Bezug zur NS-Zeit: Hier siedelte sich ein Teil der Besatzungsmitglieder des im Dezember 1939 von der eigenen Mannschaft vor Montevideo versenkten Panzerschiffes Admiral Graf Spee an. 532 Vgl. Alles Quatsch, in: Der Spiegel, 26. 4. 1982, S. 138–141. 533 Vgl. Haaf / Joffe, Die Karlsruhe-Connection, in: Die Zeit, 30. 4. 1982.

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schaftliche Druck führten dann im Jahr 2000 zur Gründung der Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft«, die bis 2007 überlebenden Zwangsarbeitern der NS-Zeit (bescheidene) Entschädigungssummen in einer Gesamthöhe von über vier Milliarden Euro auszahlte.534 Für die Zeit nach 1982 verliert sich die biographische Spur Walther Schnurrs.535 Vermutlich blieb der in drei politischen Systemen (NS-Regime, Peróns Argentinien und Bundesrepublik) erfolgreiche Chemiker, Rüstungs- und Atommanager in seiner Wahlheimat. Das Sterbedatum ist bislang unbekannt. Sein Name tauchte seit den beiden Artikeln im »Spiegel« und in der »Zeit« in atomkritischen bundesdeutschen Publikationen, insbesondere auch im Internet, hin und wieder auf, ebenso wie Quali­ fizierungen seiner Rolle im NS-Regime (»Sprengstoffpapst«536). Vereinzelt wurde, wie oben ausgeführt, der offensichtlich falsche Bezug zur »Zyklon-B« Produktion hergestellt.537 In der wissenschaftlichen Literatur zur Geschichte der deutschen Atomwirtschaft, die seit Anfang der 1980er Jahre allmählich an Bedeutung gewann – 1983 erschien Radkaus grund­ legende Studie538  –, fand Schnurr als Führungsperson des Ministeriums und Karlsruher Atommanager ebenfalls des Öfteren Erwähnung, freilich ohne jeden Hinweis auf seine spezifische NS-Vergangenheit.539 Schnurrs Rolle als faktischer Leiter der größten Sprengstofffabrik im NS-Herrschaftsbereich wurde erstmals im Jahr 2002 in der Dissertation von Martina Löbner zur Geschichte des Werkes in Christianstadt thematisiert.540 Als dann, wie bereits in der biographischen Skizze zu Josef Brandl geschildert,541 im Jahr 2013 die NS-Belastung des langjährigen Geschäftsführers der Karlsruher Kernforschungsanlage Rudolf Greifeld für Schlagzeilen sorgte, geriet auch Schnurr in ein kritisches Licht. Die vom KIT in Auftrag gegebene, 2019 publizierte Studie Rusineks zu Greifeld widmet Schnurr ein eigenes Kapitel.542 Unabhängig hiervon beschäftigte sich 2017 534 Vgl. Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft«, www.stiftung-evz.de/ stiftung.html [20. 11. 2021]. 535 Zwei von uns per E-Mail gestellte Anfragen an die Gemeinde La Cumbrecita blieben ohne Antwort. 536 Nach Denselow, Germany and the Argentine bomb, S. 7, BBC Written Archives Centre, eine Selbstbezeichnung. 537 Vgl. die Belege in Anm. 485. 538 Radkau, Aufstieg und Krise. 539 Vgl. ebenda, S. 59, 142, 180; Müller, Geschichte, Bd. 2, passim (s. ebenda Personenregister); Oetzel, Forschungspolitik, passim (s. ebenda Personenregister). 540 Löbner, Christianstadt. 541 Vgl. oben S. 332. 542 Rusinek, Fall Greifeld, S. 275–288.

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ein dreiteiliger Aufsatz des Historikers Miłosz Grobelny in einer populärwissenschaftlichen polnischen Geschichtszeitschrift mit der Biographie des Chemikers, wobei der Schwerpunkt auf der Tätigkeit als Direktor der Fabrik in Christianstadt und der dortigen Zwangsarbeit liegt.543

5. Karl-Heinz Spilker (1921–2011), persönlicher Referent des Ministers und Referatsleiter Die Biographie von Karl-Heinz Spilker weist im Vergleich mit den an­ deren in dieser Studie näher betrachteten Personen verschiedene Besonderheiten auf. So gehörte Spilker in den 1950er Jahren zu den wenigen Ministerialbeamten des Atomministeriums, die ihre jugendliche Sozialisation erst im Nationalsozialismus erfahren hatten. Im Alter von 16 und 17 ­Jahren besuchte er eine NS-Eliteschule. Die Zugehörigkeit zur Waffen-SS und die Tätigkeit im nationalsozialistischen Propagandaministerium ­waren kein Hinderungsgrund dafür, dass der Jurist und nebenberufliche Journalist 1953 als persönlicher Referent des damaligen Ministers für ­besondere Aufgaben Franz Josef Strauß eingestellt wurde. Diese Funktion behielt Spilker, als Strauß 1955 erster Atomminister wurde; 1956 wurde er von Siegfried Balke übernommen und 1957 kurzzeitig zusätzlich Re­ feratsleiter. 1958 verließ Spilker das Atomministerium, das für ihn wie für viele andere als berufliche Durchgangsstation gedient hatte, und begann eine erfolgreiche Laufbahn als Manager in der chemischen Industrie, CSUPolitiker und -Bundestagsabgeordneter, Sportfunktionär und Rechts­ anwalt. Karl-Heinz Spilker (evang.) wurde am 3.  Mai 1921 in Bad Oeynhausen als Sohn des Werkmeisters Wilhelm Spilker und dessen Frau Caroline geboren.544 Die Eltern betrieben in den 1930er Jahren in dem west543 Grobelny, Schnurr. 544 Quellengrundlage Spilker: ACSP, Vorstand / Präsidium: 19690425; BArch, B 106 /114666, B 126 /17030, PERS 101 /80514, R 9361-II/958407, R 9361-III/557492, R 9361-IX Kartei, 42101521; BStU, MfS SdM 296; StA München, SpkA K 1557; WASt [Informationen zum militärischen Werdegang]. – Literatur: »Karl-Heinz Spilker«, in: Munzinger Online [20. 11. 2021]; Wer ist wer?, 1974 /75, S. 1022. Offenbar ist Spilker, zumindest bis 1935, in Bad Oeynhausen nicht aus der Kirche ausgetreten. Ein späterer Austritt an einem anderen Ort wäre der Kirchengemeinde nicht zwangsläufig bekannt geworden. Auskunft der Kirchengemeinde Bad Oeynhausen-Altstadt vom 28. 9. 2018. Zum Beruf des Vaters vgl. Einwohnerbuch der Stadt Bad Oeynhausen und der Gemeinden der Aemter Rehme und Gohlfeld-Mennighüffen, 1928, Bad Oeynhausen 1928, S. 253, wiki-de.genealogy.

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fälischen Ort ein »Fremdenheim« (Pension).545 Bereits im Oktober 1932, im Alter von elf Jahren, trat Karl-Heinz in die »Hitlerjugend« ein, deren Bad Oeynhauser Abteilung erst im Herbst des Vorjahres gegründet worden war.546 Kurz zuvor, zwischen April und Juni 1932, war die HJ noch durch eine Notverordnung Hindenburgs zusammen mit SA und SS reichsweit verboten gewesen. Bemerkenswert ist, dass dem Vater 1940 die 1939 beantragte NSDAP-Parteimitgliedschaft verwehrt wurde, da dieser, so das Parteigericht, in seiner Pension mehrere Jahre lang eine pflegebedürftige Jüdin beherbergt habe.547 Nach Absolvierung der Volksschule ging Spilker zunächst auf ein Realgymnasium.548 Als er dort die 6. Klasse abgeschlossen hatte – d. h. 1937 net/w/index.php?title=Datei:Bad-Oeynhausen-AB-1928.djvu&page=160 [8. 12. 2021]. »Werkmeister« kann sowohl einen Beamten als auch einen Beruf in der Industrie bezeichnen. Dass Wilhelm Spilker 1935 in einem Adressbuch als »Rentenempfänger« geführt wird, deutet auf Letzteres hin. Vgl. Adreßbuch der Stadt Bad Oeynhausen und der Gemeinden der Aemter Rehme und GohlfeldMennighüffen, 1935, Bad Oeynhausen 1935, S. 122, wiki-de.genealogy.net/w/index.php?title=Datei:Oeynhausen_1935.djvu&page=126 [19. 11. 2021]. 1950 sprach Karl-Heinz Spilker in einem Lebenslauf von »Betriebsleiter«; StA München, SpkA K 1557. 545 So erwähnt im Beschluss des NSDAP-Kreisgerichts II Minden vom 14. 2. 1940, BArch, R 9361-II/958407, Bl. 4. 546 Die HJ Bad Oeynhausen wurde am 6. 9. 1931 gegründet; vgl. Emil Kastening, Unter Hitlers Fahnen. Aus der Geschichte der Ortsgruppe Bad Oeynhausen der NSDAP, Bad Oeynhausen 1932, S. 57. Das HJ-Eintrittsdatum 10.1932 findet sich in Spilkers SS-Stammrolle, BArch, R 9361-III/557492. Vermutlich war zum ­damaligen Zeitpunkt vor Ort noch keine organisatorische Trennung zwischen »Deutschem Jungvolk« (ab 10 Jahre) und der eigentlichen »Hitlerjugend« (ab 14 Jahre) durchgeführt. Erst im Juli 1933 wurde reichsweit auf eine klare alters­ mäßige Differenzierung gedrängt; vgl. André Postert, Die Hitlerjugend. Geschichte einer überforderten Massenorganisation, Göttingen 2021, S. 114. Nach 1945 datierte Spilker den Eintritt dann ins Jahr 1935, was vermutlich seinen Übergang in die »Hitlerjugend« im engeren Sinne markiert; vgl. die Angaben in den beiden Entnazifizierungsverfahren (vgl. unten S. 400–402); StA München 201, SpkA K 1557. – Ende 1932 hatte die HJ reichsweit nur etwa 70.000 Mitglieder, gegenüber rund 7 Mio. im Jahr 1938; vgl. Tessa Sauerwein, Hitlerjugend (HJ), 1926–1945, in: Historisches Lexikon Bayerns, www.historisches-lexikonbayerns.de / Lexikon / Hitlerjugend_(HJ),_1926–1945 [20. 11. 2021]. Generell zur Frühphase der »Hitlerjugend als kämpferische Jugendbewegung« bis 1933 vgl. Postert, Hitlerjugend, S. 31–38, Zitat S. 37. 547 Beschluss des NSDAP-Kreisgerichts II Minden vom 14. 2. 1940, BArch, R 9361II/958407, Bl. 4. 548 Vgl. zum Folgenden den handschriftlichen Lebenslauf Spilkers, der mit Da­ tierung auf den 12. 4. 1950 im Zuge der Wiederannahme seines tatsächlichen

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wohl im Alter von knapp 16 Jahren – sollte er nach eigenen Angaben wegen finanzieller Probleme seiner Eltern eine kaufmännische Lehre beginnen. Da er die Reifeprüfung anstrebte, habe er auf seine »persönlichen Bemühungen und Bitten hin« einen »Freiplatz« in der im Juli 1935 gegründeten »Nationalpolitischen Erziehungsanstalt« (NPEA oder Napola) im Schloss Bensberg nahe Köln erhalten.549 Gute schulische Leistungen dürften dabei ebenso eine Rolle gespielt haben wie Spilkers Verwurzelung in der HJ. Die NS-Internatsschule in Bensberg sah ihre Aufgabe in der »Heranbildung deutscher Jungen zu Nationalsozialisten, tüchtig an Leib und Seele für den Dienst an Volk und Staat«.550 Tatsächlich waren die Napolas ein Auswahlinstrument für den nationalsozialistischen Führungsnachwuchs in Gesellschaft, Verwaltung, Wirtschaft und im Militär.551 Auf Vorschlag des Volksschullehrers und des NSDAP-Ortsgruppenleiters hatten sich in der Regel ausgewählte Schüler der 3. und 4. Klasse in einem strengen Verfahren einer Vormusterung und einer intensiven Prüfungswoche zu unterziehen. Die Aspiranten mussten von »arischer« Abstammung sein, »erbgesund«, charakterlich geeignet und überdurchschnittlich begabt.552 Söhne von alten Parteimitgliedern und Beamten wurden ebenso wie Waisen bevorzugt, da sie als besonders »formbar« galten.553 In Einzelfällen nahmen die Napolas auch Kinder gegen den Willen ihrer Eltern auf, hin und wieder wurde die Zustimmung durch Druck erzielt.554 Familiennamens (vgl. unten S. 401) entstanden ist; StA München, SpkA K ­ 1557. 549 Zur Napola Bensberg, die auf dem Gebiet des heutigen Bergisch-Gladbach lag, vgl. Horst Ueberhorst (Hrsg.), Elite für die Diktatur. Die nationalpolitischen Erziehungsanstalten 1933–1945. Ein Dokumentarbericht, Düsseldorf 1969, S. 86 f. 550 Aufnahmebedingungen der Nationalpolitischen Erziehungsanstalt Bensberg bei Köln a. Rh., in: ebenda, S. 86. 551 Vgl. Christian Schneider / Cordelia Stillke / Bernd Leineweber, Das Erbe der Napola. Versuch einer Generationengeschichte des Nationalsozialismus, ­ ­Hamburg 2010, S. 33. Allgemein zu den Napolas vgl. auch Dirk Gelhaus / JörnPeter Hülter, Die Ausleseschulen als Grundpfeiler des NS-Regimes, Würzburg 2003; Alexander-Martin Sardina, Die Nationalpolitischen Erziehungsanstalten ­(NAPOLAs) als Beleg für widersprüchliche NS-Erziehungskonzeptionen im Dritten Reich. Diskurs und Zeitzeugenbefragung. Examensarbeit Universität Hamburg, Norderstedt 2010; Herma Bouvier / Claude Geraud, Napola. Les écoles d’élites du troisième Reich, Paris – Montréal 2000. 552 Ueberhorst (Hrsg.), Elite, S. 77–92, hier S. 83. 553 Vgl. Sardina, Erziehungsanstalten, S. 47. 554 Vergleichbar ist dies mit Fällen, in denen die Zustimmung der Eltern zum Eintritt in HJ (vor Einführung der Jugenddienstpflicht im März 1939) oder

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Die schulgeldpflichtigen Napolas unterstanden zwar Reichserziehungsminister Bernhard Rust, unterlagen jedoch einem erheblichen und zunehmenden Einfluss der SS, die dort ihre Nachwuchselite rekrutieren wollte.555 Schon im November 1938 hatte Himmler die »Inspektion der Natio­ nalpolitischen Erziehungsanstalten« unter dem ihm unmittelbar unterstehenden SS-Obergruppenführer August Heißmeyer gegründet. Dass KarlHeinz Spilker dann nach seiner Schulzeit in die SS-»Verfügungstruppe« eintrat – die seit Kriegsbeginn rasch unter dem Begriff der Waffen-SS subsumiert wurde556 –, erscheint daher durchaus konsequent.557 Nach dem Abitur an der Napola Bensberg leistete Spilker zwischen April und Ende September 1939 seinen »Reichsarbeitsdienst«. Zum 1. September 1939, am selben Tag begann der Zweite Weltkrieg, wurde er in die NSDAP aufgenommen (Mitgliedsnummer 7.131.701); die Mitgliedschaft hatte er im Februar 1939 noch als Schüler im Alter von 17  Jahren beantragt.558 Am 30. September 1939 trat der inzwischen 18-Jährige in die SS ein  – angeblich, so Spilker 1995 gegenüber einem Journalisten, um den »trostlosen« Arbeitsdienst zu verkürzen.559 Drei Tage später meldete er sich zum Kriegsdienst in der Verfügungstruppe, wo er die Laufbahn als »Aktiver«, also als Berufsoffizier in der bewaffneten

SS ihrer minderjährigen Söhne forciert wurde. Waren die Kinder einmal in eine

Napola aufgenommen worden, konnten sie auf Wunsch der Eltern nur noch »in besonders begründeten Fällen« und nach einem Parteigerichtsverfahren entlassen werden, vgl. Gelhaus / Hülter, Ausleseschulen, S. 93, Anm. 240. 555 Vgl. Dieter Zühlke / Jan Erik Schulte, Vom Rheinland nach Westfalen. KZ-Außenlager bei der »Nationalpolitischen Erziehungsanstalt« in Bensberg und Hardehausen, in: Schulte, Jan Erik (Hrsg.), Konzentrationslager im Rheinland und in Westfalen 1933–1945. Zentrale Steuerung und regionale Initiative, Paderborn u. a. 2005, S. 113–130, hier S. 115. 556 Vgl. Hein, Elite, S. 277. 557 Allerdings führte eine Napola-Schullaufbahn nicht zwingend zum Kriegsdienst in der Waffen-SS, auch die regulären Teilstreitkräfte der Wehrmacht wurden häufig gewählt, vgl. Ueberhorst (Hrsg.), Elite, S. 162–166. 558 NSDAP-Gaukartei, BArch, R 9361-IX Kartei/42101521. Die Mitgliedschaft ist durch einen diagonalen Strich über die Karteikarte und durch den Eintrag »gestrichen wegen: u. A.« [unbekannter Aufenthalt, d. Verf.] durch die Gauleitung Südharz als gestrichen vermerkt. Karl-Heinz Spilker wird hier als »Karl« Spilker geführt, in der SS allerdings als »Heinz Spilker«. Vermutlich konnte »Karl Spilker« daher nicht mehr gefunden werden, wahrscheinlich gab es auch eine nicht überlieferte Mitgliedskarte für »Heinz Spilker«. 559 Zitiert nach Stefan Simon, ›Entjudungsreferat‹ war schon aufgelöst, in: SZ, Landkreisausgabe Ebersberg, 19. 1. 1995, S. 2.

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SS einschlug.560 Je nach Eintrittsdatum wäre Spilkers Arbeitsdienst ohne-

hin spätestens Ende Oktober absolviert gewesen. Seine freiwillige Meldung zur Waffen-SS ­camouflierte er 1950 faktenwidrig als Einziehung und »Überstellung«.561 Nach seinem Eintritt in die SS-Verfügungstruppe wurde Spilker dem SS-Regiment »Deutschland« zugeteilt.562 Gemäß seinem Lebenslauf aus dem Jahr 1950563 strebte Spilker zu dieser Zeit ein Medizinstudium an der SS-Ärztlichen Akademie in Berlin an; sein Name findet sich auf einer Liste von »Junkern der SS-Ärztlichen Akademie« Graz aus dem Frühjahr 1940.564 Dann wurde er jedoch anderweitig versetzt.565 Zunächst ­gehörte Spilker der 2. Kompanie des Ersatzbataillons (Sturmbanns) des SS-Regiments »Der Führer« in Graz-Wetzelsdorf an.566 Im Sommer 1940 war Spilker dann in der 2. Kompanie des III. Bataillons des SS-Regiments »Westland«, das im Juni 1940 überwiegend mit Freiwil­ligen aus Flandern aufgestellt wurde. Kommandeur des Regiments war zu dieser Zeit Hilmar Wäckerle, den Himmler 1933 wegen damals noch zu offenkundigen Morden als ersten Kommandanten des KZ Dachau hatte austauschen müssen.567 Das Regiment »Westland« war Teil der SS-Division »Germania«, die im November 1940 als erste Waffen-SS-Division mit nichtdeutschen Angehörigen568 aus den SS-Regimentern (»Standarten«) »Nord-

560 In der SS-Stammrolle wurde er als »Heinz Spilker« geführt. BArch, R 9361III/557492. Zur freiwilligen Meldung zur Waffen-SS vgl. René Rohrkamp, Die Rekrutierungspraxis der Waffen-SS in Frieden und Krieg, in: Schulte / Lieb / Wegner (Hrsg.), Waffen-SS, S. 42–60, und Bernd Wegner, Hitlers politische Soldaten. Die Waffen-SS 1933–1945. Leitbild, Struktur und Funktion einer nationalsozialistischen Elite, Paderborn 2008, S. 135–149. 561 Vgl. Lebenslauf vom 12. 4. 1950, S. 1 und 4; StA München, SpkA K 1557. 562 Vgl. BArch, R 9361-III/557492. 563 Vgl. Anm. 548. 564 BStU, MfS SdM 296, Bl. 35 und 37. Spilker wurde im März und April 1940 von der SS-Ärztlichen Akademie zu Junkerlehrgängen in Bad Tölz und Braunschweig kommandiert. 565 Vgl. den Spruch der Hauptkammer München, 16. 8. 1950, StA München, SpkA K 1557, Bl. 8; zu Spilkers militärischen Versetzungen vgl. WASt, Karteikarte. 566 Angehörige dieses SS-Regiments verübten später, im Sommer 1944, das Kriegsverbrechen von Oradour-sur-Glane, Spilker gehörte der Einheit zu diesem Zeitpunkt aber nicht mehr an. 567 Zu Wäckerle und Dachau vgl. Weise, Eicke, S. 215–218. 568 Das führte dazu, dass sie nach dem Krieg von rechtsradikaler Seite als vermeintlich europäische Einheit apologetisch als Vorläufer der NATO glorifiziert wurde.

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land«, »Westland« und »Germania« gebildet worden war.569 Im Sommer 1941 wurde die Division »Germania« in »Wiking« umbenannt.570 Nach einer Verwendung im Ersatz-Bataillon des SS-Regiments »Westland«, das in Klagenfurt stationiert war, besuchte Spilker von Anfang August 1940 bis Ende Februar 1941 den 4. Kriegs-Junkerlehrgang für aktive SS-Führer an der SS-Junkerschule Braunschweig. Ein SS-Junker entsprach einem Fähnrich, also einem Offiziersanwärter der Wehrmacht. Die SSJunkerschule Braunschweig war, neben der in Bad Tölz, eine von zwei SS-eigenen Kriegsschulen.571 Turnusgemäß wurde Spilker am 20.  April 1941 zum SS-Untersturmführer befördert, vergleichbar einem Leutnant. Mit dem Regiment »Westland« in der Waffen-SS-Division »Wiking« nahm er ab Anfang Juni am Überfall auf die Sowjetunion teil.572 Der motorisierte Verband rückte mit der Heeresgruppe Süd durch Galizien in Richtung Rostow am Don vor und kämpfte als Panzergrenadier-, schließlich als Panzerdivision im Kaukasus und am Donez. Angehörigen der SS-Division »Wiking«, im Juni 1941 ein Verband mit über 19.000 Mann,573 wurden schwere Kriegsverbrechen vorgeworfen. Laut Dieter Pohl »zog« die Division »eine blutige Spur durch Ostgalizien, ihre Verbände ermordeten Kriegsgefangene und Zivilisten«.574 Dabei folgten, so die These von Kai Struve, die an den Verbrechen beteiligten hochideologisierten, aber noch kampfunerfahrenen SS-Männer in den ersten Julitagen des Jahres 1941 keinem Mordbe569 Vgl. Kai Struve, Deutsche Herrschaft, ukrainischer Nationalismus, antijüdische Gewalt. Der Sommer 1941 in der Westukraine, Berlin – Boston 2015, S. 561 f. 570 Vgl. Georg Tessin / Norbert Kannapin, Waffen-SS und Ordnungspolizei im Kriegseinsatz 1939–1945. Ein Überblick anhand der Feldpostübersicht, Osnabrück 2000, S. 47 f. Zum Regiment »Westland« vgl. Georg Tessin, Verbände und Truppen der deutschen Wehrmacht und Waffen-SS im Zweiten Weltkrieg 1939– 1945. Bd. 14. Die Landstreitkräfte: Namensverbände. Die Luftstreitkräfte (Fliegende Verbände). Flakeinsatz im Reich 1943–1945, Osnabrück 1980, S. 260. 571 Zu den SS-Junkerschulen vgl. Jens Westemeier, Die Junkerschulgeneration, in: Schulte / Lieb / Wegner (Hrsg.), Waffen-SS, S. 269–285, und ders., Himmlers Krieger. Joachim Peiper und die Waffen-SS in Krieg und Nachkriegszeit, Paderborn 2014, S. 52–75 und S. 846, sowie Wegner, Hitlers politische Soldaten, S. 149–171. 572 Vgl. BStU, MfS SdM 296, Bl. 40, Stammrolle Spilker, BArch, R 9361-III/557492, und Lebenslauf vom 12. 4. 1950, StA München, SpkA K 1557. 573 Vgl. Struve, Herrschaft, S. 561. Das war auch die durchschnittliche Stärke einer Waffen-SS-Division zu dieser Zeit; vgl. Jean-Luc Leleu, La Waffen-SS. Soldats politiques en guerre, Paris 2007, S. 1112. 574 D. Pohl, Judenverfolgung, S. 70. Vgl. auch das detaillierte Kapitel »Verbrechen der Waffen-SS Division ›Wiking‹« in: Struve, Herrschaft, S. 561–630.

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fehl, sondern begingen »die blutigsten Gewaltexzesse […] in Ostgalizien« wohl in einem »emotionalem Ausnahmezustand«.575 Struve belegt, dass Angehörige des Regiments »Westland« ab dem 2.  Juli 1941 offenbar als Reaktion auf den Tod ihres Kommandeurs Wäckerle im Raum Lemberg mehrere Tausend galizische Juden ermordeten.576 In Zoločiv töteten SSMänner des Regiments gemeinsam mit ukrainischen Nationalisten am 3. Juli etwa 1.000 Juden, am folgenden Tag in Zboriv um die 600 Juden.577 Insgesamt fielen nach Struve den Massakern durch Soldaten der Division »Wiking« im Sommer 1941 je nach Berechnung zwischen 4.000 und 7.000 Menschen zum Opfer.578 Spilker diente bis in den Herbst 1943 in der Division »Wiking«.579 Die vorhandenen Quellen, darunter ein handschriftlicher Lebenslauf, deuten darauf hin, dass er auch im Juli 1941 dem genannten Regiment »Westland« angehörte.580 Da sowohl unbekannt ist, welche Bataillone und Kompanien jeweils an den Verbrechen beteiligt waren, als auch, in welchem Teil des Regiments SS-Untersturmführer Spilker zu diesem Zeitpunkt kämpfte,581 lassen sich keine Aussagen zu seinen konkreten Handlungen treffen.

575 Beide Zitate ebenda, S. 628 und S. 629. 576 Ebenda, S. 564. Vgl. auch Mark P. Gingerich, Felix Steiner. Himmlers »aus­ gesprochenes Lieblingskind«, in: Smelser, Ronald (Hrsg.), Die SS: Elite unter dem Totenkopf. 30 Lebensläufe, Paderborn 2000, S. 431–440, hier S. 435 f. 577 Vgl. detailliert Struve, Herrschaft, S. 585 und S. 586–588, knapp Gingerich, Steiner, S. 436. Bei Struve, Herrschaft, S. 629, heißt es: »Hohe Zahlen von Opfern gab es auch in den Kleinstädten Skalat und Hrymajliv, die auf dem weiteren Marschweg des Regiments ›Westland‹ lagen.« 578 Vgl. ebenda, S. 669. 579 Vgl. seinen Lebenslauf vom 12. 4. 1950, StA München, SpkA K 1557, die BDCAuskunft vom 21. 6. 1950, ebenda, Bl. 37, die Stammrolle Spilker, BArch, R 9361III/557492, sowie die Zusammenstellung der Staatssicherheit, BStU, MfS SdM 296, Bl. 40. 580 So schrieb Spilker in seinem handschriftlichen Lebenslauf vom 12. 4. 1950, »Ich wurde dem SS Regiment Westland nach München überstellt, kam aber schon nach kurzer Zeit mit diesem Rgt. zum Truppenübungsplatz Heuberg in Württemberg. Kurz vor Beginn des Rußlandfeldzuges wurde ich im Rahmen der Division Wiking nach Oberschlesien (Raum Breslau) verlegt und nahmen von Anfang Juli 1941 am Rußlandfeldzug teil.« Vgl. StAM 201, SpkA K 1557, Lebenslauf, S. 2. 581 Die Sollstärke eines Regiments der Wehrmacht und der Waffen-SS betrug 2.500 Mann.

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Karl-Heinz Spilker wurde an der Ostfront mehrmals schwer verwundet.582 Er blieb zu 70 Prozent kriegsversehrt.583 Seine vorübergehende Versetzung nach Klagenfurt zum SS-Infanterie-Ersatz-Bataillon des Regiments »Westland«584 zwischen August und September 1941 war wohl die Folge einer Verwundung. Wann Spilker wieder zur Feldtruppe versetzt wurde, wissen wir nicht. Zum 20. April 1943 wurde der mehrfach ausgezeichnete Offizier zum SS-Obersturmführer (Oberleutnant) befördert.585 Von einem unbekannten Zeitpunkt bis Mitte Oktober 1943 kam Spilker, offenbar erneut aufgrund einer Verwundung, zum SS-Panzer­grenadier-Ausbildungsund Ersatz-Bataillon 5 der Division »Wiking« nach Ellwangen.586 Am 15.  Oktober 1943 wurde der nun frontuntaugliche Spilker in die »Dienststelle« von Hans Hinkel (auch »Büro Hinkel«) in Berlin versetzt.587 Hans Hinkel hatte 1933 als Staatskommissar im Preußischen Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung den Auftrag erhalten, sämtliche Kulturbereiche durch Berufsverbote für nichtarische oder unerwünschte Künstler zu »entjuden«.588 Ab 1935 übernahm er dieselbe Aufgabe in Goebbels Reichsministerium für Volksaufklärung und Pro582 Entgegen der Darstellung bei Wikipedia (Stand 12.2021) kann er nicht bei Stalingrad verwundet worden sein, da die Division »Wiking« 1942 /43 dort nicht operierte. 583 Eintrag »Karl-Heinz Spilker«, in: Munzinger Online [20. 11. 2021]. Die Kriegsbeschädigung vereitelte auch Spilkers ursprüngliches Ziel, nach dem Krieg Sportmediziner zu werden; vgl. ebenda. 584 Vgl. Tessin, Verbände, Bd. 14, S. 260. 585 SS-Stammrollenauszug Heinz Spilker, BArch, R 9361-III/557492. Spilker trug das Eiserne Kreuz erster und zweiter Klasse, das Infanteriesturmabzeichen in Bronze, die Ostmedaille und das Verwundetenabzeichen in Schwarz. 586 Vgl. Georg Tessin, Verbände und Truppen der deutschen Wehrmacht und Waffen-SS im Zweiten Weltkrieg 1939–1945, Bd. 2. Die Landstreitkräfte 1–5, Frankfurt a. M. 1973, S. 322. Das SS-Pz.Gren. Ausb. und Ers.Btl. 5 (der Div. Wiking) ging am 1. 5. 1943 aus dem Ers.Btl. Westland, 1940 in München, ab August 1941 in Klagenfurt, hervor. Vgl. Tessin, Verbände, Bd 14, S. 261. 587 Laut WASt trat Spilker seinen Dienst bei Hinkel erst am 2. 11. 1943 an. 588 Ernst Klee, Das Kulturlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, Frankfurt a. M. 2009, S. 225 f.; Peter Patzelt, Ein Bürokrat des Verbrechens. Hans Hinkel und die »Entjudung« der deutschen Kultur, in: Behmer, Markus (Hrsg.), Deutsche Publizistik im Exil 1933–1945. Personen, Positionen, Perspektiven. Festschrift für Ursula E. Koch, Münster 2000, S. 307–317; Felix Moeller, Der Filmminister. Goebbels und der Film im Dritten Reich, Berlin 1998; Alan Steinweis, Hans Hinkel and the German Jewry 1933–1941, in: Year-Book / Leo Baeck Institute 38 (1993), S. 209–219; Willi A. Boelcke (Hrsg.), Kriegspropaganda 1939–1941. Geheime Ministerkonferenzen im Reichspropagandaministerium, Stuttgart 1966, S. 85–88 und Vorstudie über ein historisches Porträt von

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paganda (das einen Teil der Kompetenzen des preußischen Ministeriums übernommen hatte), wo er auch für die politische Beurteilung sämtlicher deutscher Künstler zuständig war.589 Ab 1938 leitete Hinkel in der institutionell unter ihrem Präsidenten Goebbels eng mit dem Reichspropagandaministerium verflochtenen Reichskulturkammer (RKK) die Abteilung IIA, die mit der »Kulturellen Betätigung von Nichtariern« befasst war, d. h. mit deren Verdrängung aus dem öffentlichen Leben.590 Sicherlich auch, weil dieses Ziel mittlerweile erreicht war, wurde mit dem Beginn des Krieges die Truppenbetreuung (Organisation von künstlerischen Darbietungen auf Frontbühnen, Lieferung von Instrumenten, Gesellschaftsspielen, Unterhaltung an die Front) zu einer zentralen Aufgabe der RKK.591 Der Ministerial­ direktor und SS-Gruppenführer Hinkel war seit Ende 1942 auch Chef des gesamten Unterhaltungsprogramms im Rundfunk, ab Mai 1944 auch Vizepräsident der RKK. Im selben Jahr, also schon während Spilkers Tätigkeit in seiner Abteilung, wurde Hinkel auch Reichsfilmintendant und Leiter der Filmabteilung und verantwortete unter anderem Propaganda- und Durchhaltefilme wie »Kolberg«.592 Auch die Filmaufnahmen der Volksgerichtshof-Prozesse und der Hinrichtungen der Widerstandskämpfer nach dem 20. Juli 1944 gingen auf eine Initiative Hinkels zurück.593 Zweifellos Dr. Alfred Bauer (1911–1986), verfasst von Tobias Hof im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte München–Berlin, München 2020, S. 14–29. 589 Vgl. Hermann Weiß (Hrsg.), Biographisches Lexikon zum Dritten Reich, Frankfurt a. M. 1998, S. 213 f. 590 Die RKK gliederte sich in sieben Einzelabteilungen (Reichsfilm-, Reichsmusik-, Reichstheater-, Reichspresse-, Reichsschrifttumskammer, Reichskammer der bildenden Künste und Reichsrundfunkkammer). Vgl. die Bestandsbeschreibung zum Bestand R 56-I »Reichskulturkammer / Zentrale« im BArch, portal.ehriproject.eu/units/de-002429-r_56_i [13. 12. 2021] sowie Volker Dahm, Die Reichskulturkammer und die Kulturpolitik im Dritten Reich, in: Stephanie Becker (Hrsg.), »Und sie werden nicht mehr frei sein ihr ganzes Leben«. Funktion und Stellenwert der NSDAP, ihrer Gliederungen und angeschlossenen Verbände im »Dritten Reich«, Berlin 2012, S. 193–221. 591 Ab 1940 war die neue Abteilung BeKa (besondere Kulturaufgaben) für die Truppenbetreuung zuständig, die unter Hinkels Leitung zur Nachfolgerin der alten Abteilung II A wurde. Im August 1941 wurde die BeKa »faktisch aufgelöst«, ihre Aufgaben übernahm das neue »Generalreferat Reichskulturkammersachen« im Reichspropagandaministerium, wiederum unter Hinkel. Vgl. ebenda. 592 Vgl. Boelcke, Kriegspropaganda, S. 87. 593 Hinkel war auch persönlich bei Hinrichtungen in Plötzensee anwesend, vgl. Günter Agde, Der Sprung durchs Bild der Kamera. Stauffenberg und der 20. Juli 1944 im Film, in: Zeitgeschichte-online, 1. 7. 2004, zeitgeschichte-online.de/film/ der-sprung-durchs-bild-der-kamera [20. 11. 2021]; Hans-Gunther Voigt, »Verräter vor dem Volksgericht«. Zur Geschichte eines Films, in: Die Angeklagten des

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war Hinkel einer der einflussreichsten nationalsozialistischen Kulturfunktionäre, der skrupellos eine rassistische Kulturpolitik durchsetzte. Was genau Spilkers Aufgabe in der »Dienststelle Hinkel« war, wissen wir nicht. 1994 und 1995 gab er an, hauptsächlich mit musikalischer Truppenbetreuung befasst gewesen zu sein.594 Während seines Spruchkammerverfahrens verschwieg er 1950 die Tätigkeit im Umfeld von Hans Hinkel.595 Am 5.  Dezember 1944 wurde Spilker vom SS-Führungshauptamt, gleichsam dem Generalstab der Waffen-SS, als Ordonnanzoffizier im Divisionsstab zur 1. SS-Panzer-Division »Leibstandarte Adolf Hitler« abgestellt, die sich zu diesem Zeitpunkt auf die deutsche Ardennenoffensive vorbereitete.596 Ob der aufgrund seiner Verwundungen eigentlich frontuntaugliche Spilker auf eigenen Wunsch wieder in den Einsatz ging, ist unbekannt.597 Angehörige der »Leibstandarte« begingen in den Ardennen 20. Juli vor dem Volksgerichtshof, hrsg. von Bengt von zur Mühlen unter Mitarbeit von Andreas von Klewitz, Berlin-Kleinmachnow 2001, S. 398–401. Vgl. auch den Bericht des Kameramannes Erich Stoll über die Wochenschau-Aufnahmen des Prozesses zum 20. Juli 1944, IfZ-Archiv, ZS A 33 /4. 594 So Spilker gegenüber dem »Focus« »in einer schriftlichen Stellungnahme«. »Er habe von der Existenz der Abteilung II A nichts gewußt. Seine Aufgabenstellung sei vielmehr ›auch aus heutiger Sicht vollständig bedenkenfrei‹.« Er habe sich mit »›Truppenbetreuung, vornehmlich auch der verwundeten Soldaten‹ befaßt und sei ›im Rahmen kultureller Belange‹ mit Aufgaben ›des Film- und Rundfunk­ wesens mit dem Schwerpunkt auf Musik‹ betraut worden.« Olaf Wilke, Belasteter Kläger, in: Focus, 28 (1994). – Recherchen in den Akten der Reichskulturkammer im Bestand BArch, R 56-I blieben ohne Ergebnis. Der Name Spilker konnte hier nicht gefunden werden, was aber auch daran lag, dass der Schriftverkehr in der Regel ohne namentliche Zeichnung geführt wurde. Außer Frage steht, dass die »Dienststelle Hinkel« auch mit musikalischer Truppenbetreuung befasst war. Vgl. auch den Nachruf: Florian Tempel, Karriere mit einem Höhepunkt, in: SZ, Landkreisausgabe Erding, 26. 10. 2011, S. R1. 595 Vgl. Lebenslauf vom 12. 4. 1950, S. 2, StA München, SpkA K 1557. 596 SS-Stammrollenauszug Heinz Spilker, BArch, R 9361-III/557492. Der handschriftliche Eintrag ist stark ausgeblichen, die »01«, die Spilker als Ordonnanzoffizier ausweisen würde, konnte nicht zweifelsfrei identifiziert werden. Zur »Leibstandarte« vgl. Westemeier, Himmlers Krieger. 597 In einem Artikel des »Focus« hieß es 1994, Spilker sei zum »Kampf um Berlin« in die Leibstandarte versetzt worden. Gegenüber dem »Focus« erklärte Spilker, sich schon vorher »auf eigene Faust an die Westfront zur kämpfenden Truppe begeben« zu haben, ohne »seine Vorgesetzten hierüber in Kenntnis gesetzt zu haben«; Olaf Wilke, Belasteter Kläger, in: Focus, 28 (1994). Die Darstellung erscheint nicht schlüssig, Spilkers Versetzung zur Leibstandarte ist in seiner SSStammrolle ordnungsgemäß vermerkt, im Kampf um Berlin wurde die Division jedoch im Winter 44 /45 nicht eingesetzt.

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mehrere schwere Kriegsverbrechen, darunter die Ermordung amerikanischer Kriegsgefangener in Malmedy und Wereth. Nach dem Scheitern der Offensive kämpfte die »Leibstandarte« in Ungarn. Spilker, der nach eigenen Angaben während der Verlegung an den Plattensee einen Unfall erlitten hatte und schwer verletzt worden war, gehörte ihr zu diesem Zeitpunkt nicht mehr an. Im Spruchkammerverfahren erklärte er, »kurz vor der Einschließung« nach Berlin befohlen worden zu sein, an den dortigen Kämpfen aber nicht mehr teilgenommen zu haben.598 Er habe sich »nach Süden durchgeschlagen« und sei am 8.  Mai 1945 in Österreich »überrollt«599 worden. Offenbar gelang es ihm, sich jeglicher Internierung zu entziehen.600 Als Waffen-SS-Führer unterlag er dem automatischen Arrest und hätte zwingend interniert werden müssen, wäre er in die Hände der Alliierten gefallen. Diese Praxis wurde erst im Herbst 1945 gelockert. Um eine Haft zu vermeiden, wechselte auch Spilker – ähnlich wie Josef Brandl601  – seine Identität. Offenbar noch im Laufe des Jahres 1945 wurde aus Karl-Heinz Spilker der lautlich nur leicht veränderte KarlHeinz Spölker. Wie auch Brandl alias Karl Müller behielt Spölker das ­Geburtsjahr (1921) bei und erfand einen alternativen Geburtstag und -monat (15. Juli statt 3. Mai) sowie Geburtsort (Berlin statt Bad Oeynhausen). Warum Spilker nur eine minimale Modifizierung seines Nachnamens vornahm, ist unklar. Möglicherweise konnte er so vorübergehend wieder in seinem heimatlichen Umfeld in Bad Oeynhausen unterkommen,602 wo im Alltag die lautliche Verschiebung vielleicht gar nicht offenkundig wurde. Im Juni 1946 meldete Spilker unter falschem Namen einen Wohnsitz in München.603 Noch im selben Jahr heiratete er eine Münchnerin; aus der 598 Vgl. Lebenslauf vom 12. 4. 1950, S. 3, StA München, SpkA K 1557. Im genannten Artikel des »Focus« (Anm. 597) hieß es 1994, Spilker sei zum »Kampf um Berlin« in die Leibstandarte versetzt worden, vgl. ebenda. 599 Lebenslauf vom 12. 4. 1950, S. 3, StA München, SpkA K 1557. 600 Dafür spricht auch, dass in seinen Personalunterlagen aus dem Atomministerium der 8. 5. 1945 als Ende seines Kriegsdienstes angegeben ist; BArch, B 106 /114666, B126 /17030, PERS 101 /80514. In den Unterlagen der WASt findet sich kein Hinweis auf eine westliche Kriegsgefangenschaft. 601 Vgl. oben S. 316; hier auch generelle Hinweise zu dem nach Kriegsende nicht seltenen Phänomen des (zeitweisen) Identitätswechsels. 602 Gemäß dem handschriftlichen Lebenslauf vom 12. 4. 1950, S. 3, lebte Spilker erst seit 1946 in München; StA München, SpkA K 1557. Nach schriftlicher Auskunft der Polizeiverwaltung Bad Oeynhausen vom 25. 4. 1950 an die Münchner Spruchkammer war Spilker allerdings seit 1937 nicht in dem westfälischen Ort gemeldet; ebenda. 603 Vgl. zum Folgenden v. a. die ausführliche Spruchkammerakte aus dem Jahr 1950, ebenda.

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Ehe ging 1947 ein Kind hervor. Frau und Kind lebten zunächst ebenfalls unter dem Namen Spölker. Aufgrund der Angaben im Meldebogen, in dem er lediglich eine verkürzte HJ-Mitgliedschaft angegeben hatte, erhielt Spölker im April 1947 von der Spruchkammer München VIII eine Postkarte, auf der vermerkt war, dass er »auf Grund der Angaben in [seinem] Meldebogen […] von dem Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus nicht betroffen« sei604 – d. h., Spölker fiel unter die Jugendamnestie, was bei einer konstatierten SS-Zugehörigkeit ausgeschlossen gewesen wäre. Vom Wintersemester 1946 /47 bis zum Sommersemester 1949605 studierte Spölker in München und kurzzeitig wohl auch in Mainz Rechtswissenschaften sowie Volks- und Betriebswirtschaft. Daneben arbeitete er als Werkstudent und Journalist beim Bayerischen Rundfunk. Möglicherweise wollte Spilker alias Spölker damit nicht nur sein Studium finanzieren, sondern sich auch eine berufliche Option eröffnen, falls sich bei einer juristischen Karriere Probleme mit der NS-Belastung ergeben würden. Ende Februar 1950 legte Spilker / Spölker seine Erste Juristische Staatsprüfung ab und war dann für einige Monate erneut als Journalist beim Bayerischen Rundfunk beschäftigt. Zwischenzeitlich stellte er zusammen mit seiner Familie wieder seine wahre Identität her: Wie auch Brandl nutzte Spilker das »Gesetz über die Gewährung von Straffreiheit« vom 31. Dezember 1949.606 Er erstattete am 24. März – eine Woche vor Ablauf der Frist  – auf einer Münchner Polizeistation Selbstanzeige wegen Führung »falscher« Personalien. Mitte April 1950 füllte er erneut einen Meldebogen der Stadt München aus – diesmal mit Angabe der Zeit in der Waffen-SS (1939–1945) und des erreichten Dienstrangs (Obersturmführer). Was Spilker weiterhin verheimlichte, war die seit 1939 bestehende Parteimitgliedschaft. Diese Falschangabe wurde ihm rasch nachgewiesen, nachdem das Berlin Document Center um Auskunft gebeten worden war.607 Negative Konsequenzen hatte dies freilich nicht. Im Juli 1950 wurde nun gegen Spilker in München ein Spruchkammerverfahren durchgeführt. Der öffentliche Kläger beantragte, ihn als »Belasteten« einzustufen. Da eine »materielle Belastung nach Art. 5–9 des Befreiungsgesetzes« nicht ermittelt werden konnte, stellte er es aber der Kammer »anheim« »über die endgültige Einstufung des Betroffenen zu 604 Ebenda; die Mitteilung trägt das Datum vom 10. 4. 1947. 605 Auskunft Universitätsarchiv der LMU vom 29. 11. 2018. 606 Vgl. oben S. 318 f. 607 StA München, SpkA K 1557, Liste des BDC mit Datum zum Parteieintritt und detaillierter SS-Laufbahn vom 21. 6. 1950.

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entscheiden«.608 Der Bescheid der Spruchkammer vom 16.  August sah Spilker dann nur als »Mitläufer«, da »ausser seiner Formalbelastung« »keine Tatbestände der Art. 7–9« festgestellt werden konnten.609 Wenige Wochen später war auch diese Einstufung hinfällig. Nachdem das im Landtag zuvor weitgehend einhellig gebilligte bayerische »Gesetz zum Abschluss der politischen Befreiung vom 27.  Juli 1950« in Kraft getreten und damit die Entnazifizierung in Bayern massiv eingeschränkt worden war,610 wurde der noch nicht rechtskräftige Spruch vom August am 6. September kassiert. Spilker war mit weißer Weste aus der verspäteten Entnazifizierung hervorgegangen. Von September 1950 bis August 1953 absolvierte Spilker den Juris­ tischen Vorbereitungsdienst und schloss seine Ausbildung mit der Zweiten Juristischen Staatsprüfung ab. Danach stand er als Journalist erneut für einige Monate im Dienst des Bayerischen Rundfunks und arbeitete »als Berichterstatter für die Christlich-Soziale Union«.611 1953 scheint er durch ein Interview, das er mit Strauß führte, dessen Aufmerksamkeit geweckt zu haben.612 Die Folge war ein plötzlicher Karrieresprung: Der 32-jährige Jurist und Journalist wurde persönlicher Referent von Strauß,613 zunächst seit Dezember 1953 im neugeschaffenen Strauß’schen Bundesministerium für besondere Aufgaben, dem neben Strauß und Spilker nur noch ein Fahrer

608 Ebenda, Klageschrift vom 31. 7. 1950. 609 Ebenda, Spruch vom 16. 8. 1950; Zitate ebenda, S. 2. 610 Vgl. Hoser, Entnazifizierung; ders., Staatsministerium für Sonderaufgaben, 1. 2. 2013, in: Historisches Lexikon Bayerns, www.historisches-lexikon-bayerns. de / Lexikon / Staatsministerium_für_Sonderaufgaben [20. 11. 2021]. 611 So Strauß am 25. 4. 1969 laut Protokoll in einer Präsidiumssitzung der CSU, die sich mit der Aufstellung der CSU-Kandidaten für die Bundestagswahl 1969 befasste und in der er nachdrücklich für Spilker warb; ACSP, Vorstand / Präsidium: 19690425, S. 19a. Das Verlaufsprotokoll gibt die langen Ausführungen von Strauß für den Kandidaten Spilker auf über zwei Seiten wieder. 612 So Eintrag »Karl-Heinz Spilker«, in: Munzinger Online [20. 11. 2021]. Das Archiv des Bayerischen Rundfunks in München hat auf Anfrage per Mail am 23. 6. 2016 mitgeteilt, dass der einzige verfügbare Bestand ein nicht gesendeter Beitrag Spilkers von der Landesversammlung (d. h. dem Parteitag) der CSU 1953 in Augsburg war. 613 Strauß am 25. 4. 1969 in der erwähnten CSU-Präsidiumssitzung: »Ich habe ihn im Jahr 1953, als ich Minister wurde und sich andere Parteifreunde dafür interessierten, bei mir Referent zu werden, gefragt, ob er bereit sei, Beamter zu werden und seine Arbeit im Rundfunk aufzugeben.« ACSP, Vorstand / Präsidium: 19690425, S. 19a; ebenda auch zum Folgenden.

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und eine Sekretärin angehörten.614 Folgt man dem späteren Bericht von Strauß, dann waren die CSU-freundliche Einstellung des Journalisten Spilker und seine guten juristischen Staatsexamen die wesentlichen Gründe dafür, dass er ihm den Referentenposten anbot.615 Ob Strauß bereits zu diesem Zeitpunkt von der Zugehörigkeit Spilkers zur Waffen-SS wusste, ist unklar; über 15 Jahre später, bei der Diskussion über die Aufstellung Spilkers als CSU-Bundestagskandidat im Jahr 1969, erwähnte der Parteivorsitzende diesen biographischen Sachverhalt, ohne ihn weiter zu thematisieren.616 In den ministeriellen Einstellungs- und Beförderungsunterlagen Spilkers fehlen an der vorgesehenen Stelle die entsprechenden Angaben617  – eine Unterlassung, die offenbar nie bemerkt worden oder bewusst toleriert worden war. Auch nachdem Strauß erster Atomminister geworden war, behielt Spilker seine Referentenfunktion. Als der aufstrebende CSU-Politiker das Ressort im Oktober 1956 wieder aufgab, um nun Verteidigungsminister zu werden, habe er, so Strauß rückblickend, »keine adäquate Position« für Spilker gehabt, weil er »Offiziere brauchte«.618 Spilker blieb im Atom­ministerium und wurde persönlicher Referent und Büroleiter von Siegfried Balke, dem zweiten bundesdeutschen Atomminister, der ebenfalls der CSU angehörte. »Ich wollte meinem Nachfolger im Atomministerium«, so erneut Strauß, »jemanden verschaffen, der sich auskannte.«619 Über Spilkers Tätigkeit im Ministerium finden sich in Quellen und Literatur kaum konkrete Spuren. Es kann davon ausgegangen werden, dass er die klassischen Aufgaben eines persönlichen Referenten ausübte: Konzipieren bzw. Schreiben von Reden und Briefen für den Minister, Begleitung auf Reisen, Koordinierung von Terminen, Kontakte zu anderen Ressorts und zu Journalisten etc. Im Laufe des Jahres 1957 übernahm Spilker zusätzlich

614 Vgl. Strauß, Erinnerungen, S. 212. 615 Strauß am 25. 4. 1969 im Präsidium der CSU: »Ich wollte, es hätten alle Berichterstatter des Bayer. Rundfunks unserer Partei gegenüber eine ähnliche Einstellung damals und später gehabt. Zweitens hat er neben seiner Zeit als Mitarbeiter im Bayer. Rundfunk das juristische Studium durchgeführt und hat es mit zwei erstaunlich guten Examen – er war in der Spitzengruppe – abgeschlossen, was für jemanden, der im Nebenamt studiert, nicht sehr leicht ist.« ACSP, Vorstand / Präsidium: 19690425, S. 19 a. 616 Vgl. unten S. 405 f. 617 Vgl. BArch, B 106 /114666, B 126 /17030. 618 Strauß am 25. 4. 1969 im Präsidium der CSU, ACSP, Vorstand / Präsidium: 19690425, S. 19a.- Gemeint sind wohl aktive Bundeswehroffiziere. 619 Ebenda.

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zu seiner Tätigkeit als persönlicher Referent des Ministers noch die Leitung des neugeschaffenen Referats I A 5 »Kabinettsangelegenheiten«.620 Bereits 1958 jedoch endete die ministerielle Karriere Spilkers, der inzwischen den Rang eines Oberregierungsrats erreicht hatte. Die genauen Umstände liegen im Dunkeln. Der im März 1958 zunächst anvisierte Wechsel zu EURATOM ist auf merkwürdige Weise gescheitert. Balke hatte seinen Referenten als »stellvertretenden Exekutivsekretär« der EURATOM-Kommission vorgeschlagen und ihn als »fachlich und persoenlich bestens geeignet« gepriesen.621 Nachdem sich Spilker bald darauf bei dem bundesdeutschen Diplomaten Heinz Krekeler, seit 1958 Mitglied der EURATOM-Kommission, vorgestellt hatte, konnten drei vorgesehene Termine für eine Vorstellung vor der Kommission jeweils wegen der tatsächlichen oder vermeintlichen Unabkömmlichkeit Spilkers nicht realisiert werden.622 Die Annahme liegt nahe, dass dieser den Posten gar nicht wollte. Die weitergehende Hypothese, dass dabei vielleicht auch die Furcht vor einer Aufdeckung seiner Vergangenheit eine Rolle spielte, muss spekulativ bleiben. Bald darauf wechselte Spilker in die chemische Industrie. Nach dem Bericht von Strauß gab es eine Anfrage Karl Winnackers;623 möglicherweise stand eine erneute Aktion Balkes im Hintergrund. Spilker wurde nun zunächst Prokurist und dann bis 1985 Direktor bei den Farbwerken Hoechst. Von 1964 bis 1974 war er zudem Vorstandsmitglied der Wies­ badener Hoechst-Tochter Kalle AG, die in erster Linie auf die Fabrikation von Wursthäuten spezialisiert war. Gleichzeitig hielt Spilker Kontakt zu seinem bisherigen Betätigungsfeld der Atompolitik: Er war bis 620 Vgl. Organigramm vom 1. 11. 1957, BArch, B 138 Org. Im Organigramm vom Januar 1957 hatte es das Referat noch nicht gegeben. 621 Telegramm Balkes vom 5. 3. 1958 aus Wien nach Brüssel an Krekeler, IfZ-Archiv, ED 135, Nachlass Krekeler, Nr. 176. 622 Vermerk von Dr. [Hans-Werner] Lautenschlager für Krekeler vom 29. 3. 1958: Erst konnte sich Spilker »nicht frei machen«, dann war er »durch Krankheit verhindert« und schließlich war er »wegen starker Inanspruchnahme seines Ministers in Bonn nicht abkömmlich«, ebenda. – Lautenschlager war bundesdeutscher Diplomat und Mitarbeiter des Kommissionsmitglieds Krekeler, vgl. Eintrag »Hans Werner Lautenschlager«, in: Munzinger Online [20. 11. 2021]. 623 Strauß am 25. 4. 1969 im Präsidium der CSU: »Prof. Winnacker, der Chef von Höchst [sic], hat ihn gefragt, ob er bereit sei, Direktionsassistent von Höchst zu werden.« ACSP, Vorstand / Präsidium: 19690425, S. 19a. – Vgl. auch oben S. 74 f. zur Bedeutung Winnackers für die deutsche Atompolitik im Allgemeinen und S. 382 zur Rolle bei der Rekrutierung von Walther Schnurr für das Atomministerium.

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ins Jahr 2000 Mitglied im Deutschen Atomforum, dem 1959 gegründeten Lobbyverband zur Förderung der Atomindustrie, in dem Wirtschaftsvertreter und Politiker agierten und der bis 1973 von Karl Winnacker geleitet wurde.624 Die Vermutung, dass Spilker von Balke »weggelobt« wurde, besitzt eine gewisse Plausibilität, bleibt aber letztlich ohne konkretes Indiz. Balke holte sich nun als persönlichen Referenten einen Mann, der aus seinem eigenen beruflichen Umfeld stammte: Hans von Martius (geb. 1914), wie Balke selbst ein gelernter Chemiker, von 1949 bis 1953 Geschäftsführer des Verbandes der Chemischen Industrie625 und in den Jahren 1954–56 persönlicher Referent des damaligen Postministers Balke. Im Gegensatz zu Spilker wies Martius keine NS-Belastung auf626  – gerade bei Balke könnte auch dieser Faktor vielleicht eine Rolle bei der Wahl seines engsten Mitarbeiters gespielt haben.627 In den späten 1960er Jahren begann dann die eigentliche politische Karriere Spilkers. Im Oktober 1969 scheiterte er zwar als Direktkandidat im Wahlkreis Coburg-Kronach, zog aber mit nachdrücklicher Unterstützung von Strauß und Balke auf einem sicheren Platz der CSU-Landesliste in den Bundestag ein,628 dem er dann seit 1972 als direkt gewählter Vertreter des Wahlkreises Altötting über sieben Legislaturperioden bis November 1994 angehörte. Im Vorfeld der Bundestagswahl 1969, im Kontext der Kandidatenaufstellung, legte Strauß Spilkers einstige Zugehörigkeit zur Waffen-SS in einer Sitzung des Präsidiums der CSU-am 25. April 1969 offen – »damit man nicht sagt, man habe dies oder jenes nicht gesagt«.629 624 Vgl. Sobotta, Bundesministerium, S. 150. 625 Balke war von 1946 bis 1971 Vorsitzender des Vereins der bayerischen chemischen Industrie, vgl. oben S. 225. 626 Zu Martius vgl. BArch, B 106 /114666. Von 1943 bis 1945 war der gelernte Chemiker, der offenbar nicht zur Wehrmacht einberufen worden war, Assistent an der LMU München. Martius, der kein NSDAP-Mitglied gewesen war, blieb persönlicher Referent Balkes bis zum Ende von dessen Amtszeit. 627 Vgl. oben S. 223–226. Kurzbiographie zu Balke. Ob dieser von der SS-Mitgliedschaft Spilkers wusste, ist unklar. 628 Strauß verlas vor seiner eigenen Kandidatenwerbung für Spilker »einen längeren Brief« Balkes, in dem dieser darum bat, »Karl-Heinz Spilker einen sicheren Platz auf der Liste zu geben«. Die Argumentation von Strauß selbst zielte neben der Würdigung der Persönlichkeit Spilkers vor allem auf dessen Rolle als Spendenbeschaffer; er habe die CSU »aus nichtbayerischen wirtschaftlichen Bereichen heraus vorbildlich unterstützt«. ACSP, Vorstand / Präsidium: 19690425, S. 18–19 b (Zitat S. 18). 629 Ebenda, S. 19 a. Möglicherweise kannte Strauß die Erwähnung von Spilkers Waffen-SS-Zugehörigkeit in der 1969 publizierten DDR-Propagandabroschüre:

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Diese eher beiläufige und pflichtschuldige Information über die potentiell belastende NS-Vergangenheit Spilkers, die Strauß in einen ausführlichen Hinweis auf dessen schwere Kriegsverletzung einbettete,630 blieb in der CSU-Präsidiumssitzung ohne jede erkennbare Reaktion. Wie Eichmüllers Studie zur »SS in der Bundesrepublik« am Beispiel der beiden CDU-Bundestagsabgeordneten Otto von Fircks und Hans Wissebach gezeigt hat, war eine bekannte SS-Zugehörigkeit Ende der 1960er Jahre kein »grundsätzliches Problem« für eine Bundestagskandidatur; sie sollte freilich für die beiden eben genannten Parlamentarier im folgenden Jahrzehnt immer wieder zu einem Problem werden.631 Anders verhielt sich dies bei Spilker: In den nächsten 25 Jahren war seine SS-Belastung in der Bundes­republik kein politisches Thema mehr. In den öffentlichen Bundestagshand­büchern war für die Zeit von 1939 bis 1945 lediglich der Hinweis auf den geleisteten Kriegsdienst zu finden. Neben seinen über alle sieben Legislaturperioden wahrgenommenen parlamentarischen Führungsfunktionen in diversen Bundestagsausschüssen übte Spilker seit 1989 das Amt eines stellvertretenden Vorsitzenden der CDU/CSU-Fraktion aus.632 Von 1971 bis 1991 war er zudem als Schatzmeister der CSU tätig. Die Frage, ob ihm ein höheres politisches Amt auch wegen seiner NS-Belastung verwehrt blieb, wird wohl nicht mehr zu klären sein. Größere Bekanntheit gewann der Bundestagsabgeordnete, als am Abend des 9. November 1989 die Information vom Mauerfall das Parlationale Front des Demokratischen Deutschland (Hrsg.), Bonner Kernwaffenkartell, S. 75. Es dauerte über 25 Jahre, bis diese parteiinterne Offenlegung der SS-Vergangenheit erstmals öffentlich thematisiert wurde: Stefan Simon, Nazi-Vergangenheit verschwiegen, in: SZ, Landkreisausgabe Ebersberg, 14. 1. 1995, S. 1; hier wird fälschlicherweise behauptet, es sei in der »Vorstandssitzung von Ende der 60er Jahre« »ausschließlich um die Person Spilkers gegangen«. Ein erneuter Hinweis auf die Sitzung, diesmal mit exakter Datierung auf den 25. 4. 1969, findet sich in: ders., Spilker durch Protokoll entlastet, in: SZ, Landkreisausgabe Ebersberg, 25. 1. 1995, S. 1. 630 Nach Strauß war Spilker »den ganzen Krieg über in Russland, bis er damals bei der großen Entscheidungsschlacht um Stalingrad schwer verwundet wurde«. ACSP, Vorstand/Präsidium: 19690425, S. 19 a. Eine Verwundung Spilkers bei Stalingrad ist sehr unwahrscheinlich; vgl. oben Anm. 582. Die spätere Tätigkeit im Propagandaministerium kam laut Protokoll in den Ausführungen von Strauß nicht vor. 631 Andreas Eichmüller, Die SS in der Bundesrepublik. Debatten und Diskurse über ehemalige SS-Angehörige 1949–1985, Berlin – Boston 2018, S. 271–279, Zitat S. 271. 632 Vgl. Details in der Datenbank »Abgeordnete des Deutschen Bundestages 1949– 2009 (BUMAST)«, http://www.bioparl.de/ [14. 12. 2021]. Die Datenbank ist Teil des Großprojekts der GESIS (»Gesellschaft Sozialwissenschaftlicher Infrastruktureinrichtungen«) zu »Biographien deutscher Parlamentarier 1848 bis heute (BIOPARL)«.

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ment erreichte und als Spilker, der gerade eine Rede hielt, diese Nachricht im Plenum bekannt gab. Parallel zu seiner politischen Karriere arbeitete Spilker seit 1979 als Rechtsanwalt. Hinzu kamen weitere politische und gesellschaftliche Funktionen: So war er von 1983 bis 1993 Präsident des Bayerischen Turnverbandes. Im Laufe seines politischen Lebens sammelte Spilker diverse Ehrungen: Er erhielt 1973 das Große Verdienstkreuz mit Stern des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland,633 den Bayerischen Verdienstorden und eine Ehrendoktorwürde. Spätestens Ende der 1970er Jahre wurde Spilkers SS-Vergangenheit in der bundesdeutschen Öffentlichkeit erstmals punktuell über die CSUSpitze hinaus bekannt. Den Kontext bildete die erstarkende Anti-AtomBewegung, die in vermeintlichen Kontinuitäten der Atomforschung von NS-Zeit zur Bundesrepublik sowie in der NS-Vergangenheit prominenter Figuren der bundesdeutschen Atomwirtschaft eine willkommene Angriffsfläche fand. Gleichzeitig postulierten Atomkraftgegner nicht selten eine Analogie zwischen dem Massenmord an den Juden und einem atomaren »Holocaust«.634 Die Szene-interne Zeitschrift »Atom Express« des Göttinger Arbeitskreises gegen Atomenergie führte im Sommer 1979 unter der Rubrik »Nazis beherrschen die deutsche Atomindustrie« auch Karl-Heinz Spilker an.635 Neben Falschinformationen findet sich hier ein Hinweis auf Spilkers Zugehörigkeit zur Waffen-SS sowie insbesondere auch auf die Teilnahme an einem Lehrgang der Junkerschule in Braunschweig 1940. Vermutlich hatten die Anti-Atom-Aktivisten diese spezielle Information aus der erwähnten DDR-Broschüre zum »Bonner Kernwaffenkartell«.636 Eine öffentliche Wirkung dieser »Enthüllung« ließ sich nicht feststellen. Erst im Sommer 1994, fast 50 Jahre nach Ende der nationalsozialistischen Herrschaft und kurz nach seinem Ausscheiden aus dem Deutschen 633 Hierfür war 1973 von der Bayerischen Staatskanzlei beim Amtsgericht München die Entnazifizierungsakte angefordert worden. Der Inhalt stellte für die Ordensverleihung offenbar kein Problem dar. Vgl. Schriftwechsel in: StA München, SpkA K 1557. 634 Vgl. Eva Oberloskamp, Zwischen Apokalyptik und alternativen Gesellschaftsentwürfen. Anti-Atomkraft- und Friedensbewegungen in den 1970er und 1980er Jahren, in: Seefried, Elke (Hrsg.), Politische Zukünfte im 20. Jahrhundert. Parteien, Bewegungen, Umbrüche, Frankfurt a. M. – New York 2022, S. 317–337, hier S. 328. 635 Atom Express, Nr. 15, Juli / August 1979, S. 33. 636 Vgl. Nationale Front des Demokratischen Deutschland (Hrsg.), Bonner Kernwaffenkartell, S. 75. Eine zusätzliche Munitionierung durch die DDR ist nicht auszuschließen. Aus dem Spilker-Bestand in der BStU, MfS SdM 296, geht dies allerdings nicht hervor.

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Bundestag, wurde Spilker im Alter von 73 Jahren plötzlich durch seine NS- und SS-Vergangenheit eingeholt: Der damalige Bundesfinanzminister Theo Waigel (CSU) hatte die Rechtsanwaltskanzlei Spilkers damit beauftragt, vor einem Bezirksgericht in Tel Aviv die Klage der Bundesrepublik Deutschland auf Herausgabe eines Teilvermögens der Firma F. C. Gerlach zu vertreten, die zum Bereich Kommerzielle Koordinierung (KoKo) der DDR gehört hatte.637 Prozessgegner war Firmendirektor Michael Wischnewski,638 ein Holocaust-Überlebender, der als enger Vertrauter von Alexander Schalck-Golodkowski galt. Israelische Stellen, die über die Informationen zu den Dienstzeiten Spilkers in der SS und zu seiner zeitweisen Tätigkeit im Reichspropagandaministerium verfügten, die auf dem SS-Stammrollenauszug im Bestand des Berlin Document Center über­ liefert sind, drohten darauf mit einem »Eklat«.639 Als Konsequenz scheint Waigel den Auftrag an die Kanzlei Spilkers zurückgezogen zu haben. Die Angelegenheit wurde am 11. Juli 1994 im Nachrichtenmagazin »Focus« unter dem Titel »Belasteter Kläger« öffentlich gemacht640 – ein Titel, der auch als Beleg für die in den 1990er Jahren allmählich expandierende Verwendung des Belastungsbegriffs im Hinblick auf den Nationalsozia­ lismus gelten kann. Der von dem Journalisten Olaf Wilke verfasste Artikel enthält alle wesentlichen Informationen zur NS-Biographie Spilkers: seine Zugehörigkeit zu den Waffen-SS-Divisionen »Wiking« und »Leibstandarte SS Adolf Hitler« sowie seine Tätigkeit in der »Dienststelle Hinkel« des Reichspropagandaministeriums. Spilker selbst war offenbar vorab zu einer Stellungnahme aufgefordert worden. Soweit diese vom »Focus« wiedergegeben wurde, ging sie lediglich auf die Tätigkeit im Goebbels’schen Ministerium ein: Wie bereits erwähnt, gab der CSU-Politiker an, lediglich mit »Truppenbetreuung« beschäftigt gewesen zu sein.641 637 Vgl. Olaf Wilke, Belasteter Kläger, in: Focus, 28 (1994). Allgemein zur »KoKo« vgl. Matthias Judt, Der Bereich Kommerzielle Koordinierung. Das DDR-Wirtschaftsimperium des Alexander Schalck-Golodkowski  – Mythos und Realität, Berlin 2015. 638 Zur Person ließen sich keine wissenschaftlich fundierten Informationen finden. Vgl. mit Vorbehalt: Gewehr im Papier, in: Der Spiegel, 8. 7. 1991, S. 30–32. 639 Nach dem »Focus«-Bericht (s. Anm. 637) soll ein nicht namentlich genannter israelischer Diplomat gedroht haben: »Sollte jedoch wirklich ein Mann aus Goebbels ›Judenreferat‹ für Deutschland in Israel vor Gericht ziehen, dann kommt es zum Eklat.«. Offensichtlich hat der Diplomat hier eine falsche Zuordnung vorgenommen. Das »Entjudungsreferat« war zum Zeitpunkt der Beschäftigung Spilkers bei Hinkel bereits funktionslos geworden. Vgl. oben S. 398. 640 Vgl. Anm. 637. 641 Vgl. oben S. 399.

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Der »Focus«-Artikel bietet ein spätes Beispiel für die in der bundesdeutschen Politik und Öffentlichkeit seit den ausgehenden 1950er Jahren wiederholt vorkommenden Enthüllungen über die SS-Zugehörigkeit bekannter Personen.642 Ein prominenter Fall war beispielsweise Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre der CSU-Politiker Max Frauen­dorfer gewesen, der ähnlich wie Spilker nach 1945 jahrelang unter falschem Namen gelebt hatte.643 Der lange Zeit charakteristische Skandalisierungseffekt in der bundesdeutschen Öffentlichkeit blieb im Falle Spilkers allerdings ­relativ gering, auch wenn ein SPD-Bundestagsabgeordneter Bundespräsident Roman Herzog im Oktober 1994 aufforderte, Spilker das Große Verdienstkreuz zu entziehen.644 Diese beschränkte Resonanz mag damit zusammenhängen, dass der CSU-Politiker kurz vor seinem Ausscheiden aus dem Bundestag stand, sie entspricht aber auch einem zeitweisen Trend nachlassenden öffentlichen Interesses für die Aufdeckung von einstiger SS-Zugehörigkeiten prominenter Personen. Vermutlich war auch maßgeblich, dass in der ­bundesdeutschen Öffentlichkeit das Bewusstsein über Kriegsverbrechen der Waffen-SS – bis zur berühmten »Wehrmachtsausstellung« von 1995, die diesbezüglich einen Wandel einleitete645 – noch immer schwach entwickelt war. In dieses Bild passt auch, dass im »Focus«-Artikel selbst die Funktion Spilkers als NS-Propagandist im Goebbels’schen Ministerium im Vordergrund stand und die Zugehörigkeit zu diversen Verbänden der Waffen-SS nur am Rande erwähnt wurde. Am 13. Januar 1995 griff ein kurzer Beitrag des Westdeutschen Rundfunks im ARD-Morgenmagazin das Thema »Spilker« erneut auf, berich642 Vgl. Eichmüller, Die SS in der Bundesrepublik, S. 193–279. Im Fall Spilker, der jenseits des ebenda untersuchten Zeitraums liegt, sieht Eichmüller die »Ausnahme« einer »nachträgliche[n] Enthüllung«, ebenda, S. 271, Anm. 285. 643 Der Skandal um Frauendorfer (1909–1989) begann 1958, als dieser für den bayerischen Landtag kandidierte, und spitzte sich nochmals 1963 zu, als der seit 1961 als CSU-Schatzmeister fungierende Politiker in den Bundestag nachrücken sollte. Angesichts der öffentlichen Empörung verzichtete Frauendorfer auf sein Mandat, vgl. Schlemmer, Grenzen der Integration; Eichmüller, Die SS in der Bundesrepublik, S. 205 und S. 257. 644 Stefan Simon, Nazi-Vergangenheit verschwiegen, in: SZ, Landkreisausgabe Ebersberg, 14. 1. 1995, S. 1. 645 Vgl. Hans-Günther Thiele (Hrsg.), Die Wehrmachtsausstellung. Dokumentation einer Kontroverse. Dokumentation der Fachtagung in Bremen am 26.  Februar 1997 und der Bundestagsdebatten am 13. März und 24. April 1997, Bonn 1997; Bernd Ulrich, Eine Ausstellung und ihre Folgen. Zur Rezeption der Ausstellung »Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944«, Hamburg 1999.

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tete über die Forderung nach Aberkennung des Bundesverdienstkreuzes, die SS-Zugehörigkeit des ehemaligen Bundestagsabgeordneten und über dessen Mitarbeit im Propagandaministerium, und warf Spilker vor, seine Vergangenheit verschwiegen zu haben.646 Erneut zeigte sich freilich, dass der Skandalisierungseffekt gering blieb. Lediglich auf der regionalen Ebene des ehemaligen oberbayerischen Wahlkreises gab es wohl einige Aufregung, die sich in diversen Presseartikeln spiegelte. Der von der Landkreisausgabe der »Süddeutschen Zeitung« befragte Spilker widersprach umgehend der WDR-Darstellung und »betonte, daß seine Vergangenheit ›seit Jahrzehnten aktenkundig‹ sei und er auch vor der CSUSpitze nichts verheimlicht habe«.647 Auffallend ist erneut die Engführung der Diskussion, deren Schwerpunkt weiterhin auf der angeblichen Tätigkeit des zeitweise frontuntauglichen SS-Mannes im »Entjudungsreferat der Reichskulturkammer« (Abt. II A) lag. Auch diesen Punkt dementierte Spilker energisch. Als dann im CSU-Parteiarchiv der Hanns-Seidel-Stiftung das bereits oben erwähnte Protokoll einer CSU-Präsidiumssitzung aus dem Jahr 1969 gefunden wurde648 und als eine Anfrage der »Süddeutschen Zeitung« beim Münchner Institut für Zeitgeschichte erbrachte, dass das »Sonderreferat Hinkel« im Sinne eines »Entjudungsreferats« zu der Zeit, als Spilker im Reichspropagandaministerium gearbeitet hatte, bereits funktionslos geworden war, wurde dies von der Regionalausgabe der »Süddeutschen Zeitung« schon fast als Entlastung Spilkers kommuniziert.649 Karl-Heinz Spilker starb 90-jährig am 23. Oktober 2011 in Bonn. Nachrufe fanden sich nur in der regionalen Presse. Hier wurde die NS-Vergangenheit teils nüchtern erwähnt, teils überhaupt nicht thematisiert.650

646 Der knapp vierminütige Beitrag konnte auf einer DVD eingesehen werden. Bestellung über WDR-Mitschnittservice. 647 Stefan Simon, Nazi-Vergangenheit verschwiegen, in: SZ, Landkreisausgabe Ebersberg, 14. 1. 1994, S. 1. 648 Vgl. oben S. 405 f. 649 Stefan Simon, ›Entjudungsreferat‹ war schon aufgelöst, in: SZ, Landkreisausgabe Ebersberg, 19. 1. 1995, S. 2; ders., CSU: Spilker durch Protokoll entlastet, in: SZ, Landkreisausgabe Ebersberg, 25. 1. 1995, S. 1. Im Archiv des IfZ München fanden sich zu der oben erwähnten Anfrage keine Unterlagen. 650 Florian Tempel, Karriere mit einem Höhepunkt, in: SZ, Landkreisausgabe Erding, 26. 10. 2011, S. R1; Karl-Heinz Spilker verstorben, in: Oberbayerisches Volksblatt online, 25. 10. 2011, www.ovb-online.de/muehldorf/karl-heinz-spilker-verstorben-1461352.html [14. 12. 2021].

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6. Synthese Die in den vorhergehenden Kapiteln skizzierten Lebensläufe waren, obgleich nicht repräsentativ im statistischen Sinne, doch in Vielem bezeichnend für das Führungspersonal im bundesdeutschen Atom- und Forschungsministerium im Zeitraum von 1955 bis 1972. Im Folgenden soll nun versucht werden, anhand der einleitend zu diesem Abschnitt der Studie formulierten Fragen ein übergreifendes Resümee zu ziehen.651 Was die personelle NS-Belastung anbelangt,652 so ergab sich ein komplexes Bild. Dies gilt insbesondere auch für die heutige Belastungseinschätzung, bei der manche Frage offenbleiben muss. So zeigte sich in den Einzelbiographien, dass nicht immer klar zu entscheiden ist, ob und in welchem Maße eine spezifische ideologische NS-Belastung vorliegt. Deutlich erkennbar ist hingegen bei vier der fünf behandelten Personen, d. h. bei den Älteren mit Geburtsjahrgängen von 1901 bis 1913, das bereits an anderer Stelle erwähnte »politisch-ideologische Kontinuum«653 von deutschnational-autoritärer Grundeinstellung und späterer, mehr oder minder starker Anpassung an den Nationalsozialismus. Josef Brandl, Wolfgang Cartellieri, Max Mayer und Walther Schnurr kamen jeweils von ihrer Sozialisation her aus dem national-konservativen Spektrum der Kaiserzeit bzw. der Weimarer Zeit, in drei Fällen mit bildungsbürgerlicher Prägung und in einem (Mayer) mit wirtschaftsbürgerlicher. Schulabschluss war jeweils das Abitur, das um 1930 in Deutschland nur gut drei Prozent aller Jugendlichen absolvierten.654 Alle vier waren zu jung, um noch im Ersten Weltkrieg zum Einsatz zu kommen. Drei gehörten der in der Geschichtswissenschaft viel diskutierten »Kriegsjugend­ generation« an (Brandl und Cartellieri geb. 1901, Schnurr geb. 1904),655 die wohl mit Recht als besonders anfällig für rechtsextremes Gedankengut gilt; einer war während des Weltkriegs noch ein kleines Kind (Mayer, geb. 1913). Zwei dieser Bürgersöhne traten – was durchaus charakteristisch ist für die Alters- und soziale Herkunftsgruppe  – zu Beginn der Weimarer Republik in Freikorps ein, um die im November 1918 infolge der sich abzeichnenden deutschen Kriegsniederlage losgebrochene links651 Zu den Fragen vgl. oben S. 286. Im Folgenden wird auf biographische Nachweise verzichtet, vgl. hierzu die einzelnen biographischen Skizzen. 652 Vgl. oben S. 33 f. zu unseren Kategorien der NS-Belastung. 653 Zum Zitat von Hürter vgl. oben S. 37 f. Hier auch Literaturhinweise. 654 Nach Andrä Wolter, Von der Elitenbildung zur Bildungsexpansion. Zweihundert Jahre Abitur (1788–1988), Oldenburg 1989, waren es 1931 3,3 %. 655 Vgl. Wildt, Generation des Unbedingten, und Herbert, Best.

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revolutionäre Bewegung zu bekämpfen. Dass es dabei seitens der untersuchten Personen zu größeren Kampfeinsätzen oder gar zur Beteiligung an Verbrechen gekommen ist, ist in einem Fall (Cartellieri) unwahrscheinlich656 und in dem anderen (Brandl) muss dies infolge fehlender Quellen offen bleiben. Unabhängig von dieser Frage ist davon auszugehen, dass die Mitgliedschaft in einem Freikorps möglicherweise eine Bekräftigung bestehender Dispositionen nach sich gezogen hat. Starke Indizien einer entsprechenden Milieuverhaftung in der Weimarer Zeit zeigten sich bei beiden eben erwähnten Personen: Cartellieri war Mitglied der DNVP und des Stahlhelm, Brandl gehörte einer schlagenden Verbindung, einem nationalistisch auftretenden Ruderverein und wahrscheinlich ebenfalls dem Stahlhelm an. Auch die Hinwendung Mayers zur Flugzeugtechnik – ein vom Versailler Vertrag für Deutschland massiv eingeschränktes Feld  – lässt sich in Verbindung mit dem Wissen über die spätere Biographie als frühes Indiz eines betont nationalen Denkens deuten. Frühe ideologisch motivierte Nationalsozialisten sind unter diesen vier älteren Personen nicht zu finden,657 drei von ihnen wurden dann aber während des NS-Regimes Mitglied der NSDAP: Am frühesten Brandl mit Datum vom 1. Mai 1933, wobei die relativ niedrige Mitgliedsnummer darauf hindeutet, dass der Antrag des jungen Juristen bereits bald nach dem 30. Januar 1933 eingegangen ist. Während in diesem Fall zumindest von einem massiven »vorauseilenden« Opportunismus,658 wenn nicht sogar von einer eigenen Affinität zur NS-Ideologie auszugehen ist, stellt sich die Lage bei den beiden anderen Personen anders dar: Cartellieri trat trotz seiner Position im Justizdienst der NSDAP zunächst nicht bei, kam dann aber als Stahlhelm-Mitglied trotz herrschender Aufnahmesperre 1936 in die Partei; vermutlich war hierbei auch ein gewisser dienstlicher Druck von Bedeutung. Die zusätzliche Mitgliedschaft in einer ganzen Reihe von NS-Verbänden verweist auf ein nicht unerhebliches Maß an  – eventuell auch nur zeitweiligem  – Opportunismus. Allerdings scheint Cartellieri später durchaus in eine gewisse Nähe zu Widerstandskreisen gerückt zu sein. Die spätere Bekundung des Chemikers Schnurr, dass er sich generell von Parteien fernhalten wollte und nach einem Konflikt mit einem SSMann zur Vermeidung etwaiger Probleme mit Datum vom 1.  Mai 1937 nur notgedrungen in die NSDAP eingetreten sei, wirkt durchaus plau656 Vgl. oben S. 334 f. 657 Vgl. auch unsere Ergebnisse zur Gesamtgruppe des ministeriellen Führungspersonals oben S. 201–221. 658 Nach Kupfer, Generation und Radikalisierung, S. 168, und Falter / Khachatryan, NSDAP-Mitglieder, S. 192.

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sibel. Auch der Luftfahrtingenieur Mayer wollte offenbar nicht in die ­NSDAP eintreten und konnte sich dies, da es einen analogen Vorfall wie bei Schnurr nicht gab, als technischer Experte offenbar auch problemlos erlauben. Eine völlig andere biographische Konstellation liegt bei dem Jüngsten unserer Auswahlgruppe vor. Der 1921 geborene Karl-Heinz Spilker kam aus kleinen Verhältnissen und erlebte als Kind und Jugendlicher eine starke nationalsozialistische Prägung. Folgt man seiner eigenen Dar­ stellung, dann wäre ohne den »Freiplatz« in einer »Nationalpolitischen Erziehungsanstalt« für ihn eine Ablegung des Abiturs nicht möglich gewesen. Dass Spilker dann 1939 mit Erreichen des Mindestalters NSDAP-Mitglied wurde und sich zudem – wenige Wochen nach Beginn des Zweiten Weltkriegs – freiwillig der Waffen-SS anschloss, ist daher nicht überraschend. Alle fünf Personen weisen – ähnlich wie die meisten älteren Angehörigen des gesamten Führungspersonals im Atom- und Forschungsminis­ terium im untersuchten Zeitraum – aus heutiger Sicht eine starke bis sehr starke funktionale Belastung durch ihre berufliche und militärische Tätigkeit in der NS-Zeit auf. Am klarsten ausgeprägt ist diese Belastung zweifellos bei Brandl, der eine führende Position in der Verwaltung des Generalgouvernements einnahm und dabei mit der Praxis des Holocaust in engsten Kontakt kam, sowie bei Schnurr, der eine große und in hohem Maße auf Zwangsarbeit angewiesene Sprengstofffabrik leitete. Cartellieri war in der NS-Zeit zunächst als Richter tätig, wobei einiges für eine moderate Amtsführung spricht. Später wurde er dann  – infolge seiner Frontuntauglichkeit und seiner hohen beruflichen Qualifikation  – in den Wehrmachtführungsstab berufen. Trotz wahrscheinlich vorhandener persönlicher Reserven implizierte dies eine Mitwirkung an der Organisation der völkerrechtswidrigen Kriegführung und Besatzungsherrschaft der Wehrmacht. Offenkundig ist die hohe Belastung durch eine militärische Funktion bei Spilker, der als Offizier verschiedenen schwer belasteten Einheiten der Waffen-SS angehörte. Die vorübergehende Tätigkeit des frontuntauglich gewordenen Spilkers im Reichspropagandaministerium war hingegen wohl weniger gravierend als dies nach der Aufdeckung von Spilkers NS-Vergangenheit Ende der 1990er Jahre zunächst in der Öffentlichkeit diskutiert worden war. Die funktionale NS-Belastung des Flugzeugingenieurs Mayer liegt aus heutiger Sicht vor allem in der Abhängigkeit der Erprobungsstelle Peenemünde-West von Zwangsarbeit. Der Umstand, dass Mayer führend an der Entwicklung und praktischen Erprobung einer »Gleitbombe« beteiligt war, der seit 1943 im Seekrieg Tau413 https://doi.org/10.5771/9783835348073

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sende von alliierten Soldaten und Zivilisten zum Opfer fielen, sprengt die Frage einer spezifischen NS-Belastung. Am schwierigsten zu beantworten ist, wie bereits an anderer Stelle ausgeführt wurde, die Frage nach einer unmittelbaren Beteiligung an Mordtaten. Völlig ausgeschlossen werden kann dies wohl nur bei einer Minderheit der deutschen Teilnehmer am Zweiten Weltkrieg – nachwei­sen lässt sich eine derartige Beteiligung nur bei den allerwenigsten. Im Falle Spilkers gibt es infolge seiner Zugehörigkeit zur SS-Division »Wiking«, aus deren Reihen schwerste Verbrechen begangen wurden, zwar eine starke »biografische Erfahrungsnähe zu nationalsozialistischen Gewaltverbrechen«;659 ein konkretes Indiz ad personam liegt allerdings nicht vor. Inwiefern galten die skizzierten fünf Personen in den Jahrzehnten nach 1945 als NS-belastet? Generell ist zunächst festzustellen, dass die Zuschreibung einer Belastung insgesamt in weit geringerem Maße erfolgte als bei einer Analyse, die vom aktuellen Stand der Forschung bestimmt ist. Bei genauerer Betrachtung zeigen sich allerdings sowohl charakteristische zeitliche Entwicklungen als auch ganz unterschiedliche Beurteilungsperspektiven. In den ersten Jahren nach Ende des NS-Regimes war der Belastungsdruck zweifellos noch relativ groß. Zwei Personen entzogen sich einer drohenden Inhaftierung durch einen zeitweisen Identitätswechsel, ein in den Jahren nach Kriegsende gar nicht so seltener Schritt von hoch belasteten Angehörigen der NS-Elite:660 Brandl, der als ehemaliger Spitzenbeamter der Wirtschaftsverwaltung im Generalgouvernement auf einer alliierten Fahndungsliste stand und nach der Kriegsgefangenschaft in zivile Internierungslager überstellt worden war, entging dem drohenden Prozess 659 Mit dieser treffenden Formulierung kennzeichnet Uwe Danker, Geteilte Verstrickung: Elitenkontinuitäten in Schleswig-Holstein – Ergebnisse, in: ders. (Hrsg.), Geteilte Verstrickung, Bd. 2, S. 944–960, hier S. 959, bei ähnlichen Fällen aus dem höheren schleswig-holsteinischen Staatsdienst der Nachkriegszeit (Landessozialverwaltung, Polizeioffiziere und Juristen) die räumliche und institutionelle Nähe zu Massenverbrechen. 660 Vgl. oben S. 316 mit Anm. 168. – Vereinzelt blieb es für lange Zeit bei der angenommenen Identität. Ein bekannter Fall ist die Verwandlung des SS-Hauptsturmführers Hans Ernst Schneider, der führende Funktionen im »Amt Ahnenerbe« bekleidet hatte, in den – 1994 /95 enttarnten – linksliberalen Germanisten und Hochschulrektor Hans Schwerte. Vgl. Claus Leggewie, Von Schneider zu Schwerte. Das ungewöhnliche Leben eines Mannes, der aus der Geschichte ­lernen wollte, München  – Wien 1998. Die auf eine stark erweiterte Quellengrundlage gestützte Dissertation von Angelina Pils zur Biographie von Schneider / Schwerte steht kurz vor dem Abschluss.

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in Polen, nachdem er im November 1946 aus dem Abschiebezug entkommen und dann als Karl Müller untergetaucht war. Spilker wurde zu Spölker und vermied so den automatischen Arrest für SS-Offiziere. Cartellieri und Mayer waren lediglich bis 1946 in Kriegsgefangenschaft und für die Alliierten (USA und Großbritannien) nicht als NS-Belastete interessant, sondern aufgrund ihrer speziellen Kenntnisse in Sachen Wehrmachtführungsstab und Raketentechnik. Schnurr wurde weder interniert, noch war er offenbar von juristischen Konsequenzen seiner hohen Funktion als Sprengstoffexperte und Fabrikdirektor bedroht. Vermutlich aber traute er dieser Situation nicht, zumal er 1947 im Nürnberger I. G.-Farben-Prozess als Zeuge auftreten musste. Die zeitweise Auswanderung nach Argentinien dürfte hiervon zumindest beeinflusst gewesen sein. Bis auf Mayer, der kein NSDAP-Mitglied gewesen war, hatten sich die in Kap. V skizzierten Personen Entnazifizierungsverfahren zu stellen, bei denen jeweils die Zugehörigkeit zur NSDAP und die vermutete ideologische NS-Belastung eine Schlüsselrolle spielten. Zwei Personen wurden als Mitläufer eingestuft: Brandl, der offiziell als verschollen galt, 1948 in Abwesenheit, und Spilker 1950 nach Aufdeckung seiner wahren Identität, in einem verspäteten Verfahren. (»Spölker«, dessen fiktive Biographie weder eine Partei- noch eine SS-Mitgliedschaft aufwies, war 1946 unter die Jugendamnestie gefallen.) Allerdings wurde die Einstufung ­Spilkers umgehend kassiert, als im Herbst 1950 eine Art Generalamnestie für Minderbelastete wirksam wurde. Sowohl bei Brandl als auch bei Spilker war den Spruchkammern die Reichweite der beruflichen und militärischen Tätigkeit der jeweils Angeklagten nicht präsent. Ähnlich verhielt es sich im Falle von Schnurr, dem es 1948 gelang, als »entlastet« durch das Entnazifizierungsverfahren zu kommen – wobei es eigentlich nur um die Frage nach der Intensität seiner NSDAP-Zugehörigkeit gegangen war. Bei Cartellieri war das Verfahren 1948 erheblich komplexer und auch detaillierter im Hinblick auf dessen Tätigkeit in der NS-Zeit. Nach mehreren Verhandlungsrunden und intensivem juristischen Beistand war schließlich auch Cartellieri »entlastet«. Im weiteren Verlauf der 1950er Jahre schien bei allen vier Personen, die in den unmittelbaren Nachkriegsjahren diesbezüglich noch gewisse Probleme gehabt hatten, das Thema NS-Belastung aus der Biographie zu verschwinden. Bei der Einstellung in den Bundesdienst bzw. dann ins Atom- und Forschungsministerium war die NS-Zeit biographisch kein Belastungsfaktor, sondern vielmehr eine Phase positiv gewürdigter beruflicher Erfahrungen. 415

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Dies änderte sich punktuell im Laufe der 1960er Jahre: Brandl musste mehrfach bei Prozessen bzw. Ermittlungen wegen Verbrechen im Generalgouvernement aussagen, die DDR-Staatsicherheit legte über Brandl, Cartellieri, Schnurr und Spilker Materialsammlungen an, Cartellieri, Schnurr und Spilker tauchten Ende der 1960er Jahre in DDR-Propagandapublikationen gegen NS-Belastungen der Bonner Republik auf, Spilkers SS-Vergangenheit wurde  – ohne jede Öffentlichkeitswirkung  – 1969 in einer Präsidiumssitzung der CSU erwähnt. Schnurrs Rolle als Sprengstoffexperte und Rüstungsmanager im NS-Regime kam 1982 noch zu Lebzeiten infolge des britisch-argentinischen Falklandkrieges partiell an die Öffentlichkeit. Die Verbindung mit seiner späteren Rolle als Atom­manager und Spekulationen um den Bau einer argentinischen Atombombe ergaben eine eher bizarre Skandalisierung; das Problem der Zwangsarbeit spielte hingegen keine Rolle. Angereichert mit weitreichenden Spekulationen und Fehlinformationen tauchte die NS-Belastung des »Sprengstoffpapstes« fortan hin und wieder in atomkritischen bundesdeutschen Publikationen auf. Weitergehende Thematisierungen der NS-Belastungen von drei der behandelten Personen erfolgten in Geschichtswissenschaft und Öffentlichkeit vor dem Hintergrund der gewachsenen Kenntnisse über die breite Mitwirkung von Verwaltung, Wehrmacht und Waffen-SS an den Verbrechen des NS-Regimes erst seit Mitte der 1990er Jahre. Dies betraf  – ebenfalls noch zu Lebzeiten – Spilker 1994 /95 sowie Brandl ab 1996 und Schnurr ab 2002. Alle fünf portraitierten Personen machten systemübergreifende berufliche Karrieren, zunächst während des NS-Regimes – bei den beiden ältesten (Brandl und Cartellieri) liegen die Anfänge sogar in der Weimarer Zeit – und dann nach einer kurzen Zwischenphase in der Bundesrepu­blik. Bei Brandl, Schnurr und Spilker führten diese Karrieren jeweils relativ rasch über den Ministerialdienst hinaus in Spitzenpositionen der Atomund Chemieindustrie. Im Folgenden soll nun versucht werden, die damit zusammenhängenden Fragen, die einleitend zu Kapitel V genannt wurden, resümierend zu beantworten. Überbrückung der Phase von 1945 bis zum Karriereneustart: Wie bereits im Kontext der NS-Belastung erwähnt, waren drei Personen (Brandl, Cartellieri und Mayer) bis 1946 in Kriegsgefangenschaft, eine (Brandl) anschließend wegen des Verdachts auf Kriegsverbrechen in ziviler Internierung. Der Auslieferung nach Polen entging Brandl durch Flucht und anschließendem Identitätswechsel. Spilker konnte eine Kriegsgefangenschaft und die automatische Haft für SS-Führer vermeiden und änderte 416

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einen Vokal in seinem Namen. Beide hoben dann im Frühjahr 1950 ihre »Personenstandsverschleierung« wieder auf, indem sie das Amnestieangebot des »Gesetzes über die Gewährung von Straffreiheit« vom 31. Dezember 1949 nutzten. Ihren Lebensunterhalt verdienten alle fünf Protagonisten nach 1945 phasenweise durch freiberufliche Tätigkeit: Brandl alias Müller handelte mit Entrostungsmitteln und Altmetall, Cartellieri fand eine Tätigkeit als betriebswirtschaftlicher Fachredakteur, Mayer hatte kurzzeitig ein eigenes Ingenieurbüro, Schnurr dürfte auch nach seiner Emigration nach Argen­tinien als Chemiker und Sprengstoffexperte tätig gewesen sein, und Spilker alias Spölker scheint sein Jurastudium durch eine Tätigkeit als Rundfunkjournalist finanziert zu haben. Cartellieri, Mayer und Schnurr konnten dabei relativ geradlinig an ihre bisher erworbenen Qualifikationen anknüpfen. Möglicherweise gilt dies auch für Spilker, der vielleicht von seinen Erfahrungen im Propagandaministerium profitierte, und eventuell sogar für Brandl, der als ehemaliger Beamter der NS-Wirtschaftsverwaltung bzw. auch Rohstoffbewirtschaftung in Galizien nun zum Kleinunternehmer in Sachen Altmetall wurde. Der (Wieder-)Einstieg in den öffentlichen Dienst zog sich insgesamt über einen Zeitraum von 1948 bis 1957 hin: Der als unbelastet geltende Mayer kam bereits 1948 in den Dienst der Stadt Bremerhaven und 1949 dann an das Deutsche Patentamt in München, Cartellieri trat 1951 in das Amt Blank ein, Spilker wurde 1953 persönlicher Referent des Bundes­ ministers für besondere Angelegenheiten Franz Josef Strauß, Brandl begann seine neue Karriere 1954 ebenfalls im Amt Blank, und Schnurr kam 1957 aus Argentinien direkt in das junge Atomministerium. Grundlegende mentale Dispositionen: Neben der bereits oben erwähnten Verwurzelung in einem nationalistischen »politisch-ideologischen Kontinuum« lässt sich bei den behandelten Personen  – soweit dies die verfügbaren Quellen hergeben – auch ein Bündel von mentalen Dispositionen erkennen, das den systemübergreifenden beruflichen Erfolg begünstigte. Dies ist zum einen die fachliche Kompetenz als Jurist oder als Ingenieur, die sich bei Brandl, Cartellieri, Mayer, Schnurr und Spilker in guten Zeugnissen, dienstlichen Bewertungen, raschem beruflichen Aufstieg oder auch zahlreichen Patenten (Schnurr) niederschlug.661 Eine zweite wesentliche Disposition war wohl bei allen fünf Personen ein hohes Maß an Selbstbewusstsein und Durchsetzungsstärke. Exemplarisch verwiesen sei hier mit Blick auf die Zeit nach 1945 nur auf 661 Nur bei Spilker ist diesbezüglich die Quellenlage zu schlecht.

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Brandls Weigerung, eine für ihn wenig attraktive Stellung in einer Bundes­ behörde anzunehmen, auf Cartellieris hartnäckigen Kampf um ein günstiges Spruchkammerurteil, auf Mayers publizistischen Beitrag zur technikbegeisterten Verklärung der Versuchsstellen in Peenemünde, auf Schnurrs nachdrückliche Betonung seiner »Qualitäten« und »Fähigkeiten« im Entnazifizierungsverfahren oder auf Spilkers Akkumulierung politisch-gesellschaftlicher Funktionen in der Bundesrepublik. Als dritte Grundeigenschaft, dies zeigt sich meist weniger in einzelnen Quellenbelegen als vielmehr in der Gesamtbetrachtung des beruflichen Lebenslaufs, kam zweifellos ein erhebliches Quantum an Anpassungsfähigkeit bzw. Opportunismus hinzu. Vereinzelt ist allerdings auch erkennbar, dass diese Anpassungsfähigkeit in der sich verändernden Bundes­ republik an Grenzen stoßen konnte: Der als »deutschnational« geltende Abteilungsleiter Mayer kam offenbar mit den Veränderungen im Forschungsministerium nach Antritt der sozialliberalen Koalition 1969 nicht mehr zurecht. Und Schnurrs Entscheidung, Anfang der 1970er Jahre nach seiner Pensionierung wieder in das autoritär regierte Argentinien umzusiedeln, könnte damit zusammenhängen, dass er mental in der Bundesrepublik nie richtig angekommen war. Eine Ausnahme stellt vermutlich Cartellieri dar: Bei ihm zeigen sich – wie gleich noch einmal aufzugreifen sein wird – Indizien einer Aneignung demokratischer Prinzipien, die über bloße Anpassung hinausging. Begünstigung der systemübergreifenden Karrieren durch das politischgesellschaftliche Umfeld. Auch in dieser Beziehung wirkten verschiedene Faktoren zusammen. Von elementarer Bedeutung war sicher, dass bis in die 1980er und 1990er Jahre personelle NS-Belastungen in der bundesdeutschen Öffentlichkeit vielfach nur sehr eingeschränkt und diffus wahrgenommen wurden, insbesondere im Hinblick auf die funktionale Belastung in herausgehobenen beruflichen und militärischen Positionen. Speziell in den 1950er Jahren dominierte zudem in Politik und Öffentlichkeit oftmals ein – im Vergleich zu den späten 1940er Jahren und in Absetzung zu der von den Alliierten initiierten »Entnazifizierung« – intensiviertes Bedürfnis nach Milde im Hinblick auf NS-belastete Biographien. Grundlegend war hierfür zweifellos auch ein weiterhin sehr hohes Maß an nationaler Identifikation. Dies kam auch bei der (Wieder-)Einstellung in den öffentlichen Dienst zum Tragen, wobei hier zudem die schlichte Notwendigkeit herrschte, geeignete Personen für den staatlichen Wiederaufbau zu finden. Vor allem über das 131er-Gesetz zur Wiedereinstellung von Angehörigen des 418

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öffentlichen Dienstes662 wurde seit dessen Inkrafttreten im April 1951 eine aktive Politik der Reintegration ehemaliger Angehöriger des öffentlichen Dienstes in den bundesdeutschen Staatsdienst betrieben. Geeignete juristische und technische Experten wurden für den expandierenden bundesdeutschen Ministerialdienst auch im weiteren Verlauf der 1950er und 1960er Jahre immer wieder dringend gesucht. Die beiden Juristen Cartellieri und Brandl nutzten den Steigbügel des 131er-Gesetzes und profitierten von ihrer Verwaltungserfahrung aus der NS-Zeit, Mayer und Schnurr kam vor allem ihre technische, mit Führungserfahrung verbundene Qualifikation zugute, und dem frisch studierten Juristen und gleichzeitigen Radio-Journalisten Spilker half bei seiner karriereentscheidenden Begegnung mit Strauß vor allem der Zufall. Bei Spilker und dann auch bei Schnurr zeigte sich zudem, dass gerade Strauß, dem persönlich keine Anfälligkeit für den Nationalsozialismus nachgesagt werden konnte, in seinen personalpolitischen Entscheidungen den Faktor einer potentiellen NS-Belastung offenbar kaum beachtete. Cartellieri war insofern ein Sonderfall, als bei seiner Anstellung und seinem Aufstieg im Amt Blank – über die Person von Ernst Wirmer – möglicherweise auch die postulierte Nähe zum Widerstand gegen das NS-Regime eine Rolle spielte. Angemerkt sei, dass beim Einstieg in die neue Karriere in keinem der untersuchten Fälle so etwas wie ein in die NS-Zeit zurückreichendes Netzwerk zu erkennen war, zumindest nicht im Sinne eines größeren sozialen Geflechts.663 Hingegen war bei Brandl und Mayer von erheblicher Bedeutung, dass beide in einer bestimmten Situation auf eine Person stießen, mit der sie während der NS-Zeit beruflich in Kontakt gestanden hatten. Bei ersterem förderte dieser Umstand die Einstellung ins Amt Blank, bei Letzterem war er ausschlaggebend für den Eintritt ins Bundesverteidigungsministerium.664 Beide Begegnungen stellten wohl etwas mehr als nur Zufallsprodukte dar; sie sind vielmehr Indikatoren für eine gewisse 662 Vgl. oben S. 148–151. 663 Dies sei hier – mit Blick auf die Einstellung von Brandl im Amt Blank – nochmals gegen die These von Musiał und Rusinek betont. Zu Details vgl. oben S. 320 f. Zum schillernden und in der Forschung semantisch sehr breit verwendeten Netzwerksbegriff vgl. Christian Marx, Forschungsüberblick zur Historischen Netzwerkforschung. Zwischen Analysekategorie und Metapher, in: Düring, Marten / Eumann, Ulrich / Stark, Martin / Keyserlingk, Linda von (Hrsg.), Handbuch Historische Netzwerkforschung. Grundlagen und Anwendungen, Berlin u. a. 2016, S. 63–84. 664 Vgl. oben S. 320 f. und S. 361.

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»Dichte« der Elitenkontinuität, in der mehr oder minder zufällige berufliche Begegnungen zwischen einander bekannten Führungspersonen aus der NS-Zeit relativ häufig waren. Wenn derartige Personen sich in Spitzenpositionen der frühen Bundesrepublik wiederfanden und Einfluss auf Stellenbesetzungen besaßen, konnten sie jemandem, den sie aus ihrer früheren Tätigkeit kannten, zu einer Einstellung verhelfen. Thesenhaft lässt sich daraus folgern, dass es in der frühen Bundesrepublik so etwas wie eine Eigendynamik der Elitenkontinuität gegeben hat  – eine Eigendynamik, deren Erklärung weitgehend ohne den Einfluss NS-lastiger Netzwerke auskommt, die in der neueren Forschung des Öfteren diskutiert, jedoch bislang nur selten empirisch belegt werden konnten.665 Diese These bedarf jedoch, dies sei hier betont, noch einer breiteren empirischen Überprüfung. Berufliches Selbstverständnis. Für die Beantwortung dieser Frage gibt es bei den fünf näher betrachteten Personen nur relativ wenige Indizien. Diese weisen überwiegend genau in die Richtung, die auch schon von anderen Studien zu Ministerien der frühen Bundesrepublik markiert wurde:666 Es ist das zumindest nach außen hin gepflegte Selbstverständnis des unpolitischen Fachmanns – wobei ansatzweise sowohl eine juristische als auch eine technische Variante zu erkennen ist. So betonte Brandl in seiner Bewerbung für das Amt Blank sein übergeordnetes Leitbild »verwaltungsmässiger Unabhängigkeit«, während Schnurr in seinem Lebenslauf im Kontext der Entnazifizierung und Mayer in seiner Publikation zu Peenemünde nachdrücklich ein biographisches Selbstbild als hochqualifizierte, politisch nicht interessierte technische Experten zeichneten. Dass 665 Belege hierzu gibt es v. a. zur Organisation Gehlen: Vgl. Gerhard Sälter, Kameraden. Nazi-Netzwerke und die Rekrutierung hauptamtlicher Mitarbeiter, in: Die Geschichte der Organisation Gehlen und des BND 1945–1968: Umrisse und Einblicke. Dokumentation der Tagung am 2.  Dezember 2013, hrsg. von Jost Dülffer, Klaus-Dietmar Henke, Wolfgang Krieger und Wolf-Dieter Müller, Marburg 2014, S. 41–52. Sälter spricht von gezielten »Ketten-Rekrutierungen«, ebenda, S. 43 f. – Sehr skeptisch gegenüber der Anwendung des Netzwerkbegriffs zeigt sich auf der Basis breiter Untersuchungen zu Eliten im Schleswig-Holsteinischen Staatsdienst der 1950er Jahre Uwe Danker, Geteilte Verstrickung, S. 295; vgl. ebd. die unseren Bewertungen komplementäre Einschätzung: »Offenkundig bedurfte es einer konspirativ angelegten Knüpfung von Netzwerken überhaupt gar nicht: Wenn die biografischen Erfahrungsmuster so übereinstimmend sind wie in den von uns betrachteten Eliten, dann dürfen wir nämlich von selbst­ verständlicher Verständigung auch ohne intentional angelegte Netzwerke aus­ gehen.« 666 Vgl. oben S. 320.

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dem mit Blick auf die NS-Zeit auch eine selbst-entlastende Funktion zukam, liegt auf der Hand. Etwas anders scheint erneut der Fall bei Cartellieri zu liegen. Seine Positionierung im Amt Blank zeigt deutlich eine politische, auf die bundesdeutsche Demokratie bezogene Vorstellung von der aufzubauenden Bundeswehr. Inwieweit dieses Selbstverständnis auch in Cartellieris langjähriger Tätigkeit im Atom- und Forschungsministerium zum Tragen kam, bedürfte einer detaillierten biographischen Erforschung, die im Rahmen dieser Studie nicht geleistet werden konnte. Das fachliche Spektrum dieses Ministeriums bietet während der Amtszeit Cartellieris bis 1969 für derartige Fragen nur selten klare Anhaltspunkte.667 Auswirkungen ideologischer Kontinuitäten auf das berufliche Handeln. Auch diese Frage ist mit Blick auf die Tätigkeit der fünf exemplarisch untersuchten Personen im Atom- und Forschungsministerium und anderen Karrierestationen nach 1945 nur schwer zu beantworten. Generell lässt sich feststellen, dass die bei allen erkennbare stark nationale bzw. sogar »völkische« Grundprägung sehr gut in eine Zeit passte, in der die Förderung der Atomwirtschaft und dann auch der Luft- und Raumfahrt – bis weit in die 1960er Jahre – in hohem Maße als nationale Aufgabe »für die Zukunft des deutschen Volkes« begriffen wurde.668 Einzelne biographische Hinweise wurden im Rahmen dieses Resümees schon in anderen Kontexten erwähnt: Bei Cartellieri deutete sich ein auf die Demokratie bezogener Lernprozess an, Mayer bekam hingegen mit dem Regierungswechsel von 1969 Probleme, als mit Leussink ein in Sachen Raumfahrt weniger ambitionierter Forschungsminister antrat und innerhalb des Ministeriums neue Schwerpunktsetzungen erfolgten. Von Schnurrs offensichtlicher Affinität zu den autoritären argentinischen Verhältnissen war ebenfalls eben schon die Rede. Systemübergreifende Karrieren bedeuteten nach 1945 in ihrer Summierung auch ein systemübergreifendes Funktionieren NS-belasteter deutscher Eliten. Der erfolgreiche Gründungsprozess der Bundesrepublik und insbesondere auch der Wiederaufbau einer staatlichen Verwaltung wären ohne ein derartiges Funktionieren nicht möglich gewesen. Damit ist ein Grunddilemma des Systemwechsels von einer Diktatur zu einer Demokratie angesprochen – ein Dilemma, das sich im Falle des Übergangs von der nationalsozialistischen Diktatur zur demokratischen Bundesrepublik 667 Ein Indiz könnte die oben S. 326 geschilderte Sensibilität Cartellieris für die öffentliche Relevanz eines Störfalls im Karlsruher Kernforschungszentrum im Jahr 1967 sein. 668 Vgl. hierzu oben S. 163–174 die Ausführungen zur Außendarstellung des Ministeriums.

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in schroffer Form gestellt hat, und das im Einzelfall – man denke nur an die Debatten um den Staatssekretär im Bundeskanzleramt Hans Globke – auch für heftige öffentliche Debatten sorgte. Im Hinblick auf das Atom- und Forschungsministerium erscheint das Problem- und Konfliktpotential, das aus der Spannung zwischen personeller NS-Belastung bzw.  – weiter gefasst  – nationalistisch-autoritärer Grundprägung führender Beamter und aktuellem Agieren unter den Rahmenbedingungen eines demokratischen Staates resultierte, freilich wenig ausgeprägt: Die fachliche Zuständigkeit des Ministeriums lag bis in die späten 1960er Jahre – als auch Aspekte der Bildungspolitik hinzu­kamen – ganz überwiegend auf naturwissenschaftlich-technischem Gebiet, in dem ideologische Dispositionen kaum erkennbar sind. Der Aufbau einer zivilen Atomwirtschaft und die Entwicklung der bundesdeutschen Luft- und Raumfahrtforschung bildeten in den 1950er und 1960er Jahren zudem kein gesellschaftlich-politisches Streitthema, das möglicherweise Aufschluss darüber hätte geben können, wie das Atom- und Forschungsministerium mit pluralistischen Konflikten umgeht. Auch existierte im untersuchten Zeitraum keine nennenswerte Strömung in der politischen Öffentlichkeit, die dem Kurs des Ministeriums grundsätzlich kritisch gegenüberstand. Es gab somit auch keine aktuelle Veranlassung, personelle NS-Kontinuitäten der bundesdeutschen Atompolitik zu skandalisieren bzw. entsprechende propagandistische Impulse aus der DDR aufzugreifen. Erst als sich in der Bundesrepublik das gesellschaftliche Bewusstsein für personelle NS-Belastungen alter Eliten geschärft und sich eine starke, auch der zivilen Nutzung der Kernkraft kritisch entgegentretende Bewegung etabliert hatte, zeigten sich – auch mit Blick auf die NS-Vergangenheit von Brandl, Schnurr und Spilker – seit den späten 1970er Jahren Ansätze einer derartigen Entwicklung.

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VI. Resümee: Das Atom- und

Forschungs­ministerium zwischen Vergangenheit und Neubeginn

Der Untertitel unserer Studie benennt ein für das bundesdeutsche Atomund Forschungsministerium wesentliches Spannungsverhältnis: die Beziehung zwischen Vergangenheit und Neubeginn. Diese Polarität bildete ein Charakteristikum der frühen Bundesrepublik, das aus dem Gewicht der – durch Krieg und Verbrechen belasteten – jüngsten deutschen Vergangenheit und der gleichzeitigen Notwendigkeit eines politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Neubeginns resultierte. Kontinuitäten und Diskontinuitäten mischten sich dabei auf vielfache Weise. In dem von uns für die Zeit von 1955 bis 1972 untersuchten Atom- und Forschungsministerium war diese Spannung besonders stark ausgeprägt: Einerseits stützte es sich  – wie auch die anderen bundesdeutschen Ressorts – personell weitgehend auf Angehörige einer Elite, deren Wurzeln zumeist in die Kaiserzeit reichten und die in der NS-Zeit wichtige berufliche Funktionen, nicht selten im Staatsdienst, wahrgenommen hatte. Andererseits war der Neubeginn materiell eindeutiger und diskursiv prononcierter als in den übrigen Ressorts: Fachlich ging es um Forschungsgebiete und Technologien, die über Jahre hinweg in Deutschland nicht mehr hatten weiterverfolgt werden können, die sich sehr rasch entwickelt hatten und weiter entwickelten und deren Nutzbarmachung mit einem überaus hohen Stellenwert für die Zukunft verbunden wurde. Das Dienstgebäude, in dem das Ministerium bis 1968 untergebracht war, das ehemalige Hotel »Godesberger Hof« mit seiner wilhelminischen Substanz und seiner im Umbau von 1949 /50 geschaffenen modernen Außengestalt (s. Titelbild und Abb. 1), wirkt wie ein bauliches Symbol dieses grundlegenden Spannungsverhältnisses. Was den Blick auf die NS-Zeit und auch auf die Epoche vor 1933 betrifft, so zeigten sich in unserer Untersuchung genau genommen zweierlei Vergangenheiten, die aus dem Anlegen einer gegenwartsbezogenen und einer historisierenden Perspektive resultieren und zwischen denen eine erhebliche Diskrepanz herrscht. Zum einen ist dies die Vergangenheit, so wie sie die ministeriellen Akteure des Zeitraums von Mitte der 1950er bis Anfang der 1970er Jahre empfanden und behandelten. 423

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lisierend und pointierend lässt sich feststellen, dass in der damit verbundenen Bewertung der Vergangenheit das Problem von NS-Belastungen allenfalls eine marginale Rolle spielte  – jedenfalls nach dem zu urteilen, was sich in schriftlichen Quellen niedergeschlagen hat. Weitaus wichtiger war über lange Zeit die Vorstellung, in gewisser Weise als bundesdeutscher Staat selbst ein Opfer der jüngsten Vergangenheit geworden zu sein, da das NS-Regime und spätere alliierte Beschränkungen einen signifikanten technologischen Rückstand im Vergleich zu anderen großen Industriestaaten verursacht hätten. Seit Mitte der 1960er Jahre trat dieses für die frühe Bundesrepublik insgesamt durchaus charakteristische Bewusstsein zurück, während sich gleichzeitig in der Außendarstellung des Ministe­ riums ein Erfolgsnarrativ bundesdeutscher Atom- und Forschungspolitik breit machte. Das Problem der NS-Belastungen geriet dabei noch stärker in den Hintergrund. Neben dem Rückstandsdenken gab es aber auch so etwas wie ein ungebrochen positives Verhältnis zu einer weiter zurückreichenden Vergangenheit. Dies lässt sich insbesondere in der bis Mitte der 1960er Jahre deutlichen Persistenz eines ganzheitlichen Volksbegriffes erkennen sowie in der Vorstellung einer naturwissenschaftlich-technischen Pionierrolle Deutschlands, an die es nun auf den Schlüsselfeldern des Ministeriums wieder anzuknüpfen gelte. Zum anderen hat sich unsere Studie mit der Vergangenheit des Atomund Forschungsministeriums bzw. seiner führenden Mitarbeiter befasst, so wie sie sich aus heutiger Sicht darstellt. Diese Perspektive ist von einer langdauernden wissenschaftlichen und politisch-gesellschaftlichen Aus­ einandersetzung mit dem NS-Regime geprägt. Dass an dessen Verbrechen weit mehr Menschen aktiv beteiligt waren, als es das gängige Geschichtsbild der frühen Bundesrepublik zugestand, ist eine wichtige Erkenntnis der zeitgeschichtlichen Forschung. Im Lichte dieses Wissensstandes herrschte im untersuchten ministeriellen Führungspersonal – wir haben die Ebenen ab dem Referatsleiter aufwärts betrachtet – eine sehr hohe individuelle NS-Belastung. Legt man das übliche, allerdings nicht unproblematische formale Kriterium der NSDAP-Parteimitgliedschaft an, dann ist festzustellen, dass sich für etwa 55 Prozent der von uns genauer betrachteten ministeriellen Führungspersonen bis Geburtsjahrgang 1927 eine Mitgliedschaft in der NSDAP feststellen ließ. In der zeitlichen Entwicklung lag der Anteil ehemaliger Parteigenossen an der jeweiligen Zahl der Führungspersonen bei Einbeziehung der jüngeren Jahrgänge anfangs bei knapp 70 Prozent, um bis 1959 auf über 74 Prozent zu steigen und schließlich bis 1972 deutlich auf etwa 20 Prozent abzufallen. Diese Ergebnisse sollten angesichts einer 424

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relativ kleinen Untersuchungsgruppe und der zwischen den Aufarbeitungsstudien divergierenden Bezugskriterien nicht überbewertet werden. Insgesamt lag das Atom- und Forschungsministerium im Gesamttrend der Anteile ehemaliger NSDAP-Mitglieder im Führungspersonal bundesdeutscher Ministerien und oberster Bundesbehörden. Und ähnlich zu anderen vergleichbaren Institutionen gab es eine zeitliche Spitze in der Präsenz ehemaliger NS-Mitglieder um 1960. Angemerkt sei, dass im Atom- und Forschungsministerium bis 1972 auch auf den Ebenen der Minister und Staatssekretäre relativ viele ehemalige Parteimitglieder zu finden waren.1 Versucht man die Frage nach einer personellen NS-Belastung in einer stärker qualifizierenden Weise zu beantworten – worum sich unsere Studie in besonderer Weise bemüht hat –, dann zeigt sich, dass nur für sehr wenige Angehörige des ministeriellen Führungspersonals eine Belastung im Sinne einer besonderen Affinität zur NS-Ideologie ausgemacht werden kann. »Alte Nazis« im ideologischen Sinne hat es im Ministerium wohl nur wenige gegeben. Zahlreich waren hingegen Führungspersonen, die aus heutiger Sicht eine massive funktionale NS-Belastung aufwiesen, da sie in der Endphase des Regimes in hohen und verantwortungsvollen beruflichen oder militärischen Positionen gestanden und diese auch aktiv ausgefüllt haben. Bei der Einstellung in den Bundesdienst stellte dieser Umstand in der Regel kein Problem dar, sondern fiel – angesichts einer gewünschten Verwaltungs- oder sonstigen beruflichen Erfahrung  – eher positiv ins Gewicht. Dass sich in bundesdeutschen Ministerien, die einer hohen fach­ lichen Kompetenz bedurften, zahlreiche Vertreter derart funktional hoch belasteter Eliten wiederfanden, ist nicht verwunderlich. Eine Besonderheit des Atom- und Forschungsministeriums liegt darin, dass die Juristen eine weniger klare Dominanz besaßen als in anderen Ministerien. Aufgrund des Ressortprofils waren hier Angehörige einer naturwissenschaftlichtechnischen Elite stark vertreten. Die formale und funktionale NS-Belastung war bei diesen Personen jedoch kaum geringer als unter den Juristen. Die politische Prägung vor 1933 erfolgte, wie unsere vertieften biographischen Analysen gezeigt haben, bei den Angehörigen beider Berufsgruppen in der Regel im konservativ-nationalen Lager der Weimarer Repu­blik. Die soziale Herkunft lag oft im kaiserzeitlichen Bildungsbürgertum. Trotz mancher mentaler Reserven, auf die dann nach 1945 großer Wert gelegt wurde, konnten sich die von uns untersuchten Personen, die diesem Ty-

1 Zwei Minister und drei Staatssekretäre; vgl. oben Kap. IV.2.

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pus entsprachen, meist problemlos mit dem Nationalsozialismus arrangieren, bis hin zur aktiven Unterstützung seiner Verbrechen. Nach Ende des NS-Regimes haben diese Angehörigen deutscher Eliten ihren beruflichen Weg und vielfach ihren Aufstieg nach unterschiedlich langen Unterbrechungen fortgesetzt. Dies entspricht dem generellen Bild, das insbesondere zu den Juristen aus der Forschung bekannt ist.2 Wir ­haben uns im Hinblick auf ausgewählte Personen unserer Untersuchungsgruppe um eine Konkretisierung bemüht: Eine mehr oder minder kurze Kriegsgefangenschaft oder zivile Internierung, freiberufliche Tätigkeiten und der (Wieder-)Einstieg in den öffentlichen Dienst sind idealtypische Stationen im Zeitraum der späten 1940er und frühen 1950er Jahre. Die Spruchkammerverfahren fielen oftmals milde aus, und manchmal hat neben der einschlägigen fachlichen Qualifikation das 131er-Gesetz geholfen, wieder eine dienstliche Stellung auf dem bis 1945 erreichten Niveau zu erlangen. Auch alte Bekanntschaften aus der beruflichen Tätigkeit während der NS-Zeit waren im Einzelfall und unter Mitwirkung des Zufalls – wir haben dies vor allem am Beispiel von Josef Brandl und Max Mayer gesehen – von entscheidender Bedeutung. Es scheint daher, dies bedürfte sicher der weiteren Untersuchung, eine Eigendynamik der Elitenrekrutierung gegeben zu haben, die personelle Kontinuitäten erzeugte.3 Hinweise auf den intentionalen und systematischen Einfluss größerer, in die NSZeit zurückreichender Netzwerke konnten wir hingegen nicht finden.4 Vor der Einstellung in das Atom- und Forschungsministerium lagen in der Regel bereits Tätigkeiten in anderen bundesdeutschen Ministerien, aus deren Personal sich das 1955 neu geschaffene Ressort bis in die 1960er Jahre bei der Besetzung von Führungspositionen meist bediente. Ansätze von Netzwerksbeziehungen, die auf das Reichsluftfahrtministerium und Peenemünde zurückreichten, zeigten sich allenfalls – ausgehend von der Einstellung Max Mayers 1962 – im Bereich der Raumfahrtforschung. Die wohl von Karl Winnacker vermittelte Rückholung von Walther Schnurr aus Argentinien steht im Kontext der früheren Kooperation bei der I. G.Farben. Hier von einem »Netzwerk« zu sprechen, dürfte übertrieben sein. Das gilt ebenso für die anzunehmende länger zurückreichende Bekanntschaft von Schnurr und Otto Groos, der ersterem 1958 aus Argentinien nach Bad Godesberg nachfolgte. 2 Vgl. mit Bezug auf weitere Literatur Görtemaker / Safferling, Akte Rosenburg, S. 18. 3 Vgl. auch oben S. 420. 4 Zum Netzwerksbegriff und resümierend zu unseren Ergebnissen im Rahmen biographischer Detailstudien vgl. oben S. 419 f. mit Anm. 663 und 665.

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Für das Politik- und Verwaltungssystem der frühen Bundesrepublik bot die »politisch gewollt[e]«5 Elitenkontinuität zweifellos Vorteile: ein hohes Maß an Verwaltungserfahrung bzw. technischer Expertise gekoppelt mit politischer Anpassungsfähigkeit. Die damit verbundene staatliche Einstellungspolitik und das gleichzeitige »kommunikative Beschweigen« (Hermann Lübbe) der NS-Verbrechen,6 an denen viele der ministeriellen Akteure über ihre berufliche und militärische Funktion mitgewirkt hatten, mag aus heutiger Sicht skandalös erscheinen.7 Während des untersuchten Zeitraums trug das Schweigen jedoch zur politisch-gesellschaftlichen Integration dieser Eliten und damit zur Funktionsfähigkeit des jungen bundesdeutschen Staates bei – so die bekannte und im Kern wohl nicht ganz falsche These Lübbes aus dem Jahr 1983. Einzuräumen ist, dass diese These, wie Axel Schildt mit Recht betont hat, auch eine apologetische Rechtfertigung des frühen bundesdeutschen Umgangs mit dem Nationalsozialismus in sich trägt.8 Zudem unterschätzt sie die gerade bei Juristen gegebenen Potentiale einer stärkeren Heranziehung unbelasteter Kräfte für den neuen Staat.9 Im Hinblick auf die ursprünglich wichtigsten Zuständigkeiten des Atom- und Forschungsministeriums lässt sich feststellen, dass in der Bundesrepublik der Aufbau einer, so die zeitgenössische Perspektive, durchaus erfolgreichen Atomwirtschaft und Raumfahrtforschung stattfand. Das 5 So Görtemaker / Safferling, Akte Rosenburg, S. 23, im Hinblick auf die Kontinuität der Juristen: »Die Nutzung der Funktionseliten, auch wenn sie einen hohen Belastungsgrad aufwiesen, war also politisch gewollt, weil von ihnen, wie man meinte, nicht nur das Funktionieren des neuen Staates abhing, sondern weil man davon auch eine Integrationswirkung erwartete, die, anders als in der Weimarer Republik, wesentlich zur inneren Stabilität der Bundesrepublik beitragen sollte.« 6 Lübbe, Der Nationalsozialismus im Bewusstsein der deutschen Gegenwart, S. 32, auch zum Folgenden. Katrin Hammerstein, Gemeinsame Vergangenheit  – getrennte Erinnerung?, S. 72, weist mit Recht darauf hin, dass »nicht über die NS-Zeit als solche geschwiegen [wurde], sondern vielmehr über die konkrete Involviertheit der breiten Bevölkerung«. 7 Kritik an der Elitenkontinuität blieb in den 1950er und 1960er Jahren noch punktuell. Kogon, Rücken, S. 641, spricht z. B. von der »stille[n], allmähliche[n], schleichende[n], unaufhaltsame[n] Wiederkehr der Gestrigen«, wobei er allerdings nicht allein die NS-Belasteten meint. Eindeutiger ist die pointierte Formulierung ebenda, S. 642, zur Wiedereinstellung in den Staatsdienst gemäß dem Ausführungsgesetz zu Art. 131 GG: »Allzuviele 131er haben über allzuviele 45er bereits gründlich gesiegt.« 8 Schildt, Zur Durchsetzung einer Apologie. 9 Vgl. Ronen Steinke, »Man findet nirgends Worte des Bedauerns«, in: SZ, 10. 10. 2016, S. 6 [Interview mit Christoph Safferling].

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Ministerium erfüllte die ihm zugedachte Funktion, war an der Gestaltung der Rahmenbedingungen beteiligt und gab über seine Forschungsförderung immer wieder bedeutsame Impulse. Die konkreten Zusammenhänge dieser wissenschaftspolitischen Entwicklungen bilden ein Themengebiet, das über den Zuschnitt der vorliegenden Studie weit hinausreicht. Letzteres gilt auch für die Frage nach den außenpolitischen und mili­ tärischen Implikationen der Bonner Atompolitik. Inwieweit beim Aufbau einer eigenständigen bundesdeutschen Atomwirtschaft militärische Erwägungen trotz vielfacher gegenteiliger Beteuerungen doch unausgesprochen eine Rolle spielten, ist wie dargestellt in der Forschung umstritten. Zivile und militärische Einsatzmöglichkeiten der Kernkraft waren und sind  – Atomminister Balke hat dies ganz offen zugegeben10  – nur schwer zu trennen. Klargestellt sei nochmals, dass die bundesdeutsche Atom­politik, die zweifellos auch eine wichtige außenpolitische Funktion besaß,11 die fachliche Zuständigkeit des Atom- und Forschungsministeriums weit überschritt. Fragen der möglichen Ausrüstung der Bundeswehr mit atomaren Waffen und generelle Aspekte des globalen Umgangs mit dem Thema »Atom« betrafen das Verteidigungsministerium, das Auswärtige Amt und das Bundeskanzleramt. Dass die immensen staatlichen Fördermittel, die in den Atomsektor geflossen sind,12 angesichts des sich gegenwärtig vollziehenden bundesdeutschen »Atomausstiegs« und der immer noch nicht gelösten End­ lagerproblematik mehr als fragwürdig erscheinen, relativiert die positive Selbstwahrnehmung der frühen bundesdeutschen Atompolitik. Doch dies ist – von einzelnen Ausnahmen abgesehen13 – die Perspektive unserer Ge10 Vgl. oben S. 69. 11 Vgl. Geier, Schwellenmacht. 12 Folgt man einer im Auftrag von Greenpeace erstellten Studie, dann waren es insgesamt bis 2010 151 Milliarden € – überwiegend in Form von Finanzhilfen und Steuervergünstigungen. 28,7 Milliarden € werden davon als Fördermittel des Bundes verzeichnet. Für die Zeit bis 1974 werden 7,2 Milliarden € Bundesförderung angesetzt. Vgl. Bettina Meyer / Swantje Küchler, Staatliche Förderungen der Atomenergie im Zeitraum 1950–2010. FÖS-Studie im Auftrag von Greenpeace, Hamburg 22010, S. 5 f. und 30 f. 13 Vgl. oben S. 185 f. zur Kritik an der zivilen Nutzung der Atomenergie durch den von Franz Josef Strauß massiv öffentlich angegriffenen Physiker Karl Bechert. Speziell zur vereinzelten Kritik an der Verkennung der Atommüllproblematik vgl. Christian Synwoldt, Dezentrale Energieversorgung mit regenerativen Energien: Technik, Märkte, Wiesbaden 2016, S. 23. Demnach wies Heinrich Schöller, Vorstandsmitglied der RWE und Mitglied der Deutschen Atomkommission, 1957 in einem Gespräch im Bundeswirtschaftsministerium nachdrücklich darauf hin,

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genwart. Die aus Sicht des Atom- und Forschungsministeriums gezeichnete Erfolgsgeschichte wurde offenbar auch dadurch nicht beeinträchtigt, dass die ursprüngliche Präferenz für die Technologie des Schwerwasserreaktors, wie sie vor allem im Mehrzweckforschungsreaktor Karlsruhe verfolgt worden war, letztlich in eine Sackgasse führte: Bereits im Laufe der 1960er Jahre setzte sich in der bundesdeutschen Atomwirtschaft das aus den USA übernommene Modell des Leichtwasserreaktors durch. Generell fällt auf, dass das atompolitische Profil ressortintern infolge der fachlichen Erweiterungen hin zu einem Forschungsministerium seit den frühen 1960er Jahren immer mehr verblasste. Die nationalkonservative Grundprägung, die bei den genauer untersuchten ministeriellen Führungspersonen der 1950er und 1960er Jahre erkennbar ist, scheint den Einsatz für eine ehrgeizige bundesdeutsche Atom-, Raumfahrt- und Forschungspolitik getragen und begünstigt zu haben. Darüber hinausgehend ist die Frage nach dem Zusammenhang zwischen historischen Prägungen bzw. Vorbelastungen und der sich vollziehenden Praxis ministerieller Politik im Falle des Atom- und Forschungsressorts nur sehr schwer zu beantworten. Dessen naturwissenschaftlich-technische Aufgabenbereiche stellten insgesamt weniger heikle Kompetenzfelder dar als jene des Innen- oder Justizministeriums, die jeweils maßgeblich für den Wiederaufbau von Rechtsstaat und Demokratie verantwortlich waren.14 Die Frage nach etwaigen, in die NS-Zeit und weiter zurückreichenden Kontinuitäten in der Wissenschaftspolitik und speziell in der Forschungsförderung des Atom- und Forschungsministeriums kann nur im größeren Kontext einer breiter gefassten Analyse der ministeriellen Wissenschaftspolitik beantwortet werden. Diese muss Aspekte einbeziehen, die eher aus der bundesdeutschen Gegenwart als aus ihrer Vergangenheit heraus erklärbar sind – etwa das wichtige Feld der trans-, inter- und supranationalen Kooperation. All das hätte den thematischen Rahmen und die begrenzten personellen und zeitlichen Ressourcen der vorliegenden Studie überfordert. Wir werden diesen Forschungsfragen einen eigenen Band widmen, der den bisherigen disparaten Kenntnisstand zusammenfassen und neue Forschungsansätze eröffnen soll.15 »dass die Entsorgung der radioaktiven Abfälle am Ende so kostspielig werden könnte wie die gesamte atomare Stromerzeugung.« 14 Vgl. z. B. Bösch / Wirsching, Einleitung, S. 14, zum Bundesministerium des Innern: »Viele seiner alltäglichen Entscheidungen berührten zugleich Fragen, die nach dem Nationalsozialismus besonders sensibler Natur waren.« 15 Hettstedt / Raithel / Weise (Hrsg.), Im Spielfeld der Interessen.

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resümee

Aus Sicht der führenden Akteure im Atom- und Forschungsministerium war, um wieder zur zeitgenössischen Perspektive zurückzukehren, der Neubeginn weitaus wichtiger als die Last der Vergangenheit. Dieser Umstand resultierte zunächst ganz unmittelbar daraus, dass mit dem Souveränitätsgewinn der Bundesrepublik im Jahr 1955 atomwissenschaft­liche Forschungen und atomwirtschaftliche Initiativen freigegeben wurden, und auch daraus, dass das im Herbst 1955 neugeschaffene »Ministerium für Atomfragen« keine direkte Vorgängerinstitution der NS-Zeit besaß. Der Neubeginn stand zunächst im Kontext einer in den Eliten zahlreicher Staaten Mitte der 1950er Jahre aufbrechenden Euphorie für die zivile Nutzung der Atomenergie und war dann zudem von dem Willen getragen, den postulierten wissenschaftlich-technologischen Rückstand der Bundesrepublik gegenüber anderen Industriestaaten aufzuholen. In der Außendarstellung des Atom- und Forschungsministeriums verband sich dies bis Mitte der 1960er Jahre vielfach mit einem pathetischen Zukunftsbezug, der – ganz traditionell – dem »deutschen Volke« galt und der darüber hinaus auf eine neue Etappe der Menschheitsgeschichte bezogen wurde. Der Neubeginn war kein einmaliger Akt, sondern ein Prozess, der unseren gesamten Untersuchungszeitraum durchzog und der auch viel mit dem permanenten Wachstum und der stufenweisen Kompetenzerweiterung des Ministeriums zu tun hatte. Nach den »Atomfragen« und der für wenige Jahre in die Ressortzuständigkeit fallenden Wasserwirtschaft kam in den frühen 1960er Jahren die neuartige Weltraum- und Raumfahrtforschung hinzu sowie Ende der 1960er Jahre auch die Luftfahrtforschung. Im Laufe der 1960er Jahre gewann die langsam vordringende Datenverarbeitung an Bedeutung. Hinzu traten weitere fachliche Zuständigkeiten, die aus der Entwicklung zu einem breit angelegten Forschungs- und Wissenschaftsministerium resultierten. Von allgemeinerer Bedeutung war  – erst jetzt zeigt sich dies in den ministeriellen Tätigkeitsberichten  – ein langsamer Bedeutungsgewinn des Demokratiebegriffs, verbunden mit ersten Bezugnahmen auf partizipatorische und pluralistische Grundvorstellungen sowie mit einer Abschwächung des bisherigen autoritativen Duktus fachlicher Kompetenz und Fürsorge. Dazu passt, dass in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre der ganzheitliche Volksbegriff aus dem ministeriellen Diskurs verschwand. Der bildungspolitische Aufbruch der späten 1960er und frühen 1970er Jahre, an dem das Ministerium seit 1969 direkt beteiligt war, verband sich mit einem breiten gesellschaftlich-politischen Umbruch im Kontext der »68er-Bewegung« und des Regierungswechsels von 1969. Wenngleich der neue Minister Hans Leussink parteilos war, bekam die Politik des in seinen Kompetenzen und personell größer 430

resümee

wordenen Ministeriums nun erstmals eine sozialdemokratische Färbung, wie sich auch in den Tätigkeitsberichten deutlich zeigte. Die große Beliebtheit des auf die gesamte Gesellschaft bezogenen Reformbegriffes seit den späten 1960er Jahren spiegelte gleichsam den Willen zum permanenten Neubeginn, der allerdings im Falle der bildungspolitischen Offensive rasch an strukturelle Grenzen stieß, vor allem auch im Hinblick auf die Beharrungskraft des weit in die deutsche Geschichte zurückreichenden Föderalismus. 1972, am Ende unseres Untersuchungszeitraums, schien die Vergangenheit zumindest aus den an der Spitze des Ministeriums gepflegten, schriftlich überlieferten Diskursen nahezu vollständig verschwunden zu sein. Und die Masse des neueingestellten ministeriellen Führungspersonals stand nun altersmäßig jenseits der Grenze einer möglichen NS-Belastung. Die im Dezember 1972 vollzogene und über zwei Jahrzehnte andauernde Teilung in ein Bildungs- und Wissenschaftsministerium und ein naturwissenschaftlich-technologisch orientiertes Forschungsressort markierte einen weiteren Neuaufbruch. Gleichzeitig aber waren seit den 1960er Jahren mehrere (ehemalige) Ministeriumsangehörige, die eine massive berufliche oder militärische NS-Belastung aufwiesen, als Zeugen in das Visier staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen geraten, freilich ohne erkennbare öffentliche Resonanz.16 Diese scheinbar widersprüchlichen Befunde passen in das ambivalente Bild, das die neuere Forschung von der Präsenz der NS-Zeit in den »Gedächtnisdiskursen« der 1960er und frühen 1970er Jahre in der Bundesrepublik zeichnet.17 Es sollte noch Jahrzehnte dauern, bis im Zuge der gegenwärtigen Aufarbeitungsforschung auch das Interesse für das Atom- und Forschungsministerium geweckt wurde. Unsere Studie ist diesem Interesse auf unterschiedlichen Wegen nachgegangen. Dabei wurde die große Vielfalt individueller NS-Belastungen innerhalb eines stark natur- und technikwissenschaftlich geprägten Bundesministeriums deutlich und an exemplarischen Lebensläufen konkretisiert. Gleichzeitig belegen unsere Ergebnisse die unabhängig vom Bildungsgang festzustellende hohe Anpassungs- und Funktionsfähigkeit deutscher Eliten von der Weimarer Republik über das NS-Regime bis in die frühe Bundesrepublik und damit verbunden die langwährende Beharrungskraft nationalkonservativer und autoritativer 16 Vgl. oben S. 326 f. und S. 380. 17 Die teils widersprüchlichen Einschätzungen der Geschichtsschreibung resümiert K. Hammerstein, Gemeinsame Vergangenheit  – getrennte Erinnerung?, S. 99– 104. Der Begriff »Gedächtnisdiskurse« ist zentral für die Analyse Hammersteins und findet sich bereits im Untertitel.

431

resümee

Grundhaltungen bis in die 1960er Jahre. Die NS-belastete Vergangenheit im heutigen Sinne war – ähnlich wie in anderen Ressorts – in dem von uns untersuchten Ministerium kaum ein Thema, vielmehr erschien die jüngste deutsche Geschichte als verantwortlich für einen wissenschaftlichen und technologischen »Rückstand«, der nun aufzuholen war, um die Zukunft zu sichern. Das für die frühe Bundesrepublik generell charakteristische markante Spannungsverhältnis von Vergangenheit und Neubeginn erhielt auch deshalb im Falle des Atom- und Forschungsministeriums eine ganz besondere Zuspitzung.

432

ANHANG

1. Organigramme des Atom- und ­Forschungsministeriums Organigramm 1. Das Bundesministerium für Atomfragen (1957), BArch, B 138 Org Organigramm 2. Das Bundesministerium für wissenschaftliche Forschung (1968), BArch, B 138 Org (siehe hinten eingelegte Faltkarte)

2. Das untersuchte ministerielle Führungs­personal: biographische Basisdaten und ­spezifische archivalische Quellen Name1, Vorname

Geburts­ datum

Funktion im spezifische archivalische Ministerium2 Quellen3

1 Balke, Siegfried

1. 6. 1902

M

2 Bebber, Ferdinand van

10. 12. 1922

RL

3 Bengeser, Gerhard

9. 5. 1923

RL

BArch, B 106 /114666

4 Beutler, Otto

26. 8. 1900

RL

BArch, B 106 /114666, R 9361-II/72712; PA AA,

siehe oben S. 223, Anm. 79

Personalakten 001015001017¸LA Baden-Württemberg, Abt. StA Sigmaringen, Wü 13 T 2, Nr. 2630 /142 5 Blatzheim, Ernst-Wilhelm

20. 6. 1925

RL

BArch, B 138 /40317, PERS 101 /61392.

6 Boulanger, Werner

20. 2. 1920

RL

BArch, B 106 /114667, B 138 /40317; WASt

7 Brahms, Reinhard

15. 4. 1926

RL

BArch, B 138 /40317

8 Brandl, Josef

30. 4. 1901

RL, stv. GL

siehe oben S. 287, Anm. 4

9 Brieskorn, Hans

13. 7. 1921

RL

BArch, B 138 /40317

10 Cartellieri, Wolfgang

5. 10. 1901

UAL, AL, StS

siehe oben S. 334, Anm. 242

11 Clodius, Siegfried

17. 12. 1901

RL

BArch, B 138 /40317

1 Akademische Grade sind nicht berücksichtigt. 2 Abkürzungen: AL = Abteilungsleiter, GL = Gruppenleiter, M = Minister, PR = persönlicher Referent; PStS = Parlamentarischer Staatssekretär, RL = Referatsleiter (einschl. Leiter der Pressestelle), StS = Staatssekretär, stv = stellvertretend, UAL = Unterabteilungsleiter. Die Reihenfolge der Nennung folgt einer chronologischen Ordnung. 3 Die Aufstellung enthält jeweils die wichtigsten archivalischen Quellen, die im Hinblick auf die aufgeführten Personen ausgewertet wurden. Nicht eigens genannt werden die Organigramme des Atom- und Forschungsministeriums im Bestand BArch, B 138 Org, die maßgeblich für die Erfassung der Funktion im Ministerium waren, sowie Material in der Zentral- und Gaukartei der NSDAP (BArch, R 9361-VIII KARTEI und R 9361-IX KARTEI). Weitere spezifische Quellenhinweise ­finden sich im Anmerkungsapparat. Quellenangaben zu Personen, die im Rahmen der Kap. IV.2 und V. detailliert behandelt werden, stehen zu Beginn der jeweiligen biographischen Skizze (s. Querverweise).

438

biographische basisdaten

Name1, Vorname

Geburts­ datum

Funktion im spezifische archivalische Ministerium2 Quellen3

12 Costa, Hermann

4. 10. 1916

RL

BArch, B 106 /114666,

B 138 /40317, B 162 /7748,

PERS 101 /61284; WASt

13 Dieterich, Bernd

3. 7. 1925

RL

BArch, B 126 /16949

14 Donth, Hans

9. 3. 1927

RL

BArch, B 106 /14669

15 Engelhardt, Hans

1. 8. 1907

RL, GL, AL

BArch, B 106 /114666, B 138 /27428, 40317; WASt

16 Finke, Wolfgang

29. 10. 1925

RL, UAL

BArch, B 138 /40317, 40318

17 Funck, Walter

?4

RL

18 Gaedke, Bernhard

29. 8. 1908

UAL, RL

19 Giese, Kurt

27. 9. 1910

RL

20 Gieseke, Ludwig

31. 12. 1925

RL

BArch, B 138 /40318

21 Grau, Wilhelm

18. 11. 1901

stv. M

BArch, B 106 /11466, B 138

22 Groos, Otto

30. 8. 1905

RL

BArch, B 106 /114667,

BArch, B 106 /114668,

B 138 /27428, 40317,

PERS 6 /144648

BArch, B 106 /114666,

B 138 /40317

/40317; StA Hamburg, 221–11, Ad 11320

B 138 /40317, R 3001 /59980;

BStU, MfS HA III, Nr. 4.021

23 Güntsch, Fritz-Rudolf

27. 9. 1925

AL

BArch, B 106 /114668,

24 Haase, Werner

7. 12. 1902

RL, UAL

BArch, B 106 /114667, B 138 /27428, 40317, PERS 6 /146385, PERS 101 /73271

25 Hamm-Brücher, Hildegard

11. 5. 1921

StS

siehe Literatur oben S. 240, Anm. 150

26 Haßmann, Walter 15. 9. 1916

RL

BArch, B 106 /114667,

27 Heppe, Hans von

StS

9. 8. 1907

B 138 /40318

B 138 /40317

BArch, B 106 /114667, B 138/40317, R 3001 /59980; BStU, MfS HA IX/11 PA 2700; StA Hamburg, 221–11, Ad 7288; WASt

4 Das Geburtsdatum und spezifische archivalische Quellen ließen sich nicht ermitteln. Da Funck bereits 1957 eine Stelle als Referatsleiter bekleidete, kann mit einiger Sicherheit ein Geburtsjahrgang bis 1927 angenommen werden. Bald nach seiner Einstellung in das Atomministerium wechselte Funck zu EURATOM.

439

biographische basisdaten

Name1, Vorname

Geburts­ datum

Funktion im spezifische archivalische Ministerium2 Quellen3

28 Heyne, Gernot

27. 11. 1906

RL

BArch, B 138 /40317, PERS 101 /73344

29 Hocker, Alexander

29. 4. 1913

RL, GL

BArch, B 106 /114666,

30 Holtzem, Hubertus

20. 12. 1918

RL

BArch, B 106 /114666, B 138 /40317, PERS

31 Jouanne, Jules von

25. 8. 1904

RL

BArch, B 126 /16983; WASt

32 Kaißling, Karl Walter

17. 7. 1900

GL, AL

BArch, B 106 /11466,

B 126 /16976, B 138 /40317

101 /49417-49426

B 138 /40317, B 162 /5185,

PERS 101 /82475, R 9361I/1522; LA NRW, Abt. Ost­-

westfalen-Lippe, D 72, Nr. 1, 3

33 Kolb, Friedrich

24. 9. 1900

RL

BArch, B 126 /16991

34 Kreter, Erich

11. 2. 1916

RL

BArch, B 106 /114667, B 138 /27428, 40317; BArch, R 9361-III/107182; LA NRW, NW 1039-K-5642

35 Kriele, Rudolf

04. 8. 1900

AL

BArch, B 106 /114666,

B 126 /16995, B 138 /40317,

PERS 101 /82477-82483; HHStA Wiesbaden, Abt. 520

Frankf., Kriele, Rudolf 36 Kühne, Hans

8. 9. 1919

RL

BArch, B 106 /114666

37 Kullmer, Hans

17. 6. 1920

RL

BArch, PERS 101 /13979

38 Kumpf, Walther

22. 6. 1899

RL, GL, UAL

BArch, N 1772 /1, PERS 101 /81409-81412, R 9361-II/601309

39 Lechmann, Heinz 26. 6. 1920

RL

BArch, B 106 /114666,

40 Lehr, Günter

19. 3. 1923

UAL, AL

BArch, B 106 /114668,

41 Lenz, Hans

12. 7. 1907

M

ADL, ÜP 58 /1988 11787– 11796; WASt

42 Leussink, Hans

2. 2. 1912

M

NLA, OS Rep 980, Nr. 23362; WASt

43 Lindner, Herbert

10. 4. 1920

RL, GL, UAL

BArch, B 106 /114666,

440

B 138 /40317 B 138 /40317

B 138 /27428, 40317

biographische basisdaten

Name1, Vorname

Geburts­ datum

Funktion im spezifische archivalische Ministerium2 Quellen3

44 Lunke, Erwin

12. 4. 1926

RL

BArch, B 126 /17001

45 Martius, Hans von

20. 2. 1914

PR

BArch, B 106 /114666

46 Massow, Valentin von

3. 11. 1925

RL

BArch, B 138 /40317

47 Mayer, Max

30. 6. 1913

AL

siehe oben S. 350 f., Anm. 326

48 Meyer-Cording, Ulrich

22. 5. 1911

RL, GL

BArch, B 138 /40317

49 Motz, Maximilian 19. 2. 1921

RL, AL

BArch, B 138 /40318

50 Petersen, Konrad

31. 3. 1918

RL

BArch, B 106 /114666,

51 Pfaffelhuber, Josef

29. 3. 1923

RL

BArch, B 106 /114667,

52 Pohland, Erich

7. 6. 1898

RL

BArch, B 106 /11466, B 138 /40317, PERS 6 /193565, PERS 101 /82488-82490

53 Pretsch, Joachim

5. 3. 1909

RL, GL, AL

BArch, B 106 /114667, B 138 /27428, 40317, PERS

B 138 /40317 B 138 /40317

101 /82491, 82493, R 9361I/914

54 Prior, Leo

30. 12. 1915

RL

BArch, B 138 /27428, 40317

55 Raffert, Joachim

16. 3. 1925

PStS

AdsD, Sammlung Personalia, 6/SAMP007809; LA NRW, Abt. Rheinland, Gerichte Rep. 434, Nr. 76; WASt

56 Regula, Walter

2. 1. 1915

RL

BArch, B 106 /114667,

57 Roeloffs, Karl

18. 4. 1927

UAL

58 Rommel, Hans Georg

28. 12. 1920

RL

BArch, B 138 /40318

59 Roth, Albert

20. 7. 1910

RL

BArch, B 106 /114667

60 Sauer, Hans

1. 12. 1918

RL, AL

BArch, B 138 /40318

61 Scheidemann, Karl-Friedrich

22. 8. 1912

RL, AL

BArch, B 106 /114667,

B 138 /40317

BArch, B 106 /114668,

B 138 /40317, 40318

B 138 /27428, 40317, R 3101 /35548, HHStA Wiesbaden, Abt. 520 /27, Nr. 238; WASt

441

biographische basisdaten

Name1, Vorname

Geburts­ datum

Funktion im spezifische archivalische Ministerium2 Quellen3

62 Scheidwimmer, Max

11. 9. 1922

RL, GL, UAL

BArch, B 106 /114666,

63 Schendel, Artur

3. 11. 1913

RL

BArch, B 138 /40317, PERS 101 /80583

64 Schlephorst, Eberhard

17. 12. 1925

RL

BArch, B 106 /114667,

65 Schnurr, Walther

3. 11. 1905

GL, AL

siehe oben S. 366 f., Anm. 409

66 Scholz, Ernst

11. 10. 1914

RL

BArch, B 106 /114667,

67 Schramm, Hans

9. 3. 1922

RL

BArch, B 106 /114667,

68 Schramm, Werner

8. 8. 1922

UAL

BArch, B 106 /114668

69 Schug, Helmut

28. 6. 1924

RL

BArch, B 106 /114667,

70 Schulte(-Meermann), Walter

8. 12. 1906

GL, UAL

71 Schuster, Hans-Günter

17. 12. 1918

RL, UAL

BArch, B 126 /17040,

72 Slemeyer, Hans

25. 1. 1917

RL

BArch, B 106 /114666,

73 Sobotta, Johannes

22. 10. 1918

RL

BArch, B 106 /114667,

74 Spaeth, Arnim

12. 10. 1926

RL

BArch, B 138 /40318

75 Spilker, KarlHeinz

3. 5. 1921

PR, RL

siehe oben S. 390 f., Anm. 544

76 Straimer, Georg

14. 8. 1908

RL, GL, UAL

BArch, B 106 /114667,

77 Strauß, Franz Josef

06. 9. 1915

M

siehe Literatur oben S. 222, Anm. 75

78 Trabandt, Heinz

13. 8. 1912

RL, GL

BArch, B 106 /114666,

79 Vulpius, Axel

24. 3. 1926

RL

BArch, B 126 /17051

442

B 138 /27428, 40317

B 138 /27428

B 138 /40318

B 138 /40317-40318

B 138 /40317

BArch, B 106 /114666,

B 126 /17039, B 138 /27428, 40317, R 3001 /75519, R 9361-I/3261, R 9361II/906522; PA AA, Personalakten 013973- 0139474; StA München, SpkA., K 2607 B 138 /40317

B 138 /27428, 40317 B 138 /27428, 40318

B 138 /27428, 40317

B 138 /40317

biographische basisdaten

Name1, Vorname

Geburts­ datum

Funktion im spezifische archivalische Ministerium2 Quellen3

80 Wagner, Hubert

29. 8. 1906

RL

BArch, B 138 /40317, PERS 101 /52371, 52376,

52379, 52380. 81 Weber, Albrecht

16. 7. 1922

RL

BArch, B 106 /114667,

82 Westermann, Dietrich

15. 9. 1912

RL

BArch, B 106 /114666

83 Wolf, Karl August

21. 1. 1904

AL

BArch, B 126 /17059,

84 Zingel, Rudolf

19. 2. 1920

RL

BArch, PERS 101 /89545

85 Zurhorst, Dietrich

13. 4. 1925

RL

BArch, B 106 /114667,

B 138 /40317

B 138 /40317

B 138 /27428

443

Abkürzungsverzeichnis

AA ABC-Waffen ACDP ACSP ADAC ADL

AdsD AEG AG AL Amt W AOK AVA BArch BayHStA BBC BDC BDM BHE BKA BKAmt BM BMA BMAt BMBF BMBW BMELF BMF BMG BMI BMJ BMV BMVt BMwF BMWi BMWo BND BPA BStU BT CDU CERN CIC CROWCASS

444

Auswärtiges Amt Atomare, biologische und chemische Massenvernichtungswaffen Archiv für Christlich-Demokratische Politik, Sankt Augustin Archiv für Christlich-Soziale Politik, München Allgemeiner Deutscher Automobil-Club e.V. Archiv des Liberalismus, Gummersbach Archiv der sozialen Demokratie, Bonn Allgemeine Elektricitäts-Gesellschaft Amtsgericht Abteilungsleiter Amt Wissenschaft Armeeoberkommando Aerodynamische Versuchsanstalt, Göttingen Bundesarchiv Bayerisches Hauptstaatsarchiv, München British Broadcasting Corporation Berlin Document Center Bund Deutscher Mädel Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten Bundeskriminalamt Bundeskanzleramt Bundesministerium Bundesministerium für Arbeit Bundesministerium für Atomfragen Bundesministerium für Bildung und Forschung Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Bundesministerium der Finanzen Bundesministerium für Gesundheit Bundesministerium des Innern Bundesministerium der Justiz Bundesministerium für Verkehr Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte Bundesministerium für wissenschaftliche Forschung Bundesministerium für Wirtschaft Bundesministerium für Wohnungsbau Bundesnachrichtendienst Presse- und Informationsamt der Bundesregierung Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, Berlin Bundestag Christlich Demokratische Union Deutschlands Conseil Européen pour la Recherche Nucléaire Counter Intelligence Corps Central Registry of War Criminals and Security Suspects

abkürzungsverzeichnis

CSU DAF DAtK DDP DEMAG DESY DFG DFL DGB DH DHI DLR DNVP DP

dpa Drs. DVL DVP DWDS EKD ELDO ERP ESA ESRO EURATOM EVG FAZ FDP FRG Gedob gesis GG GKSS GL GuG H. HHStA HJ HMT hs. HStA HTO HWA HZ IAEO IfZ I. G.-Farben IPP KAS KfK KIT

Christlich-Soziale Union in Bayern e.V. Deutsche Arbeitsfront Deutsche Atomkommission Deutsche Demokratische Partei Deutsche Maschinenbau-Aktiengesellschaft Deutsches Elektronen-Synchrotron Deutsche Forschungsgemeinschaft Deutsche Forschungsanstalt für Luftfahrt Deutscher Gewerkschaftsbund Dachauer Hefte Deutsches Historisches Institut Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt Deutschnationale Volkspartei Deutsche Partei Deutsche Presse-Agentur Drucksache Deutsche Versuchsanstalt für Luftfahrt Deutsche Volkspartei Digitales Wörterbuch der Deutschen Sprache Evangelische Kirche in Deutschland European Launcher Development Organisation European Recovery Program European Space Agency European Space Research Organisation Europäische Atomgemeinschaft Europäische Verteidigungsgemeinschaft Frankfurter Allgemeine Zeitung Freie Demokratische Partei Federal Republic of Germany Generaldirektion der Ostbahn Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland Gesellschaft für Kernenergieverwertung in Schiffbau und Schifffahrt Gruppenleiter Geschichte und Gesellschaft (Zeitschrift) Heft Hessisches Hauptstaatsarchiv Hitlerjugend His Majesty’s Transport handschriftlich Hauptstaatsarchiv Haupttreuhandstelle Ost Heereswaffenamt Historische Zeitschrift Internationale Atomenergie-Organisation Institut für Zeitgeschichte München – Berlin Interessengemeinschaft Farbenindustrie AG Institut für Plasmaphysik Konrad-Adenauer-Stiftung Kernforschungszentrum Karlsruhe Karlsruher Institut für Technologie

445

abkürzungsverzeichnis

KPD KWG KWI LA Berlin LA NRW LATh-HStA LATh-StA LFA LFM LG LMU

Kommunistische Partei Deutschlands Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften Kaiser-Wilhelm-Institut Landesarchiv Berlin Landesarchiv Nordrhein-Westfalen Landesarchiv Thüringen – Hauptstaatsarchiv Weimar Landesarchiv Thüringen – Staatsarchiv Luftfahrtforschungsanstalt Hermann Göring Luftfahrtforschungsanstalt München Landgericht Ludwig-Maximilians-Universität München MdI Ministerium des Innern (DDR) MFP Ministerielles Führungspersonal MfV Ministerium für Verkehrswesen (DDR) MHz Megahertz Min. Minister MINT Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik MPG Max-Planck-Gesellschaft Ms. Manuskript NASA National Aeronautics and Space Administration NATO North Atlantic Treaty Organization Nl. Nachlass NLA Niedersächsisches Landesarchiv, Hannover NMT Nuremberg Military Tribunals N. N. Nomen Nescio NSBO Nationalsozialistische Betriebszellenorganisation NSD auch: NSDDB, Nationalsozialistischer Deutscher Dozentenbund NSDAP Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei NSKK Nationalsozialistisches Kraftfahrkorps NSRK Nationalsozialistisches Reiterkorps NSV Nationalsozialistische Volkswohlfahrt NWDR Nordwestdeutscher Rundfunk OAW Ostbahn-Ausbesserungswerke OECD Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung OKH Oberkommando des Heeres OKW Oberkommando der Wehrmacht OSS Office of Strategic Services OT Organisation Todt PA AA Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Berlin PA-DTB Parlamentsarchiv des Deutschen Bundestages, Berlin PR Persönlicher Referent PSG Physikalische Studiengesellschaft Düsseldorf mbH PStS Parlamentarischer Staatssekretär Pz.Gr.Div. Panzergrenadierdivision RAD Reichsarbeitsdienst RKK Reichskulturkammer RL Referatsleiter RLB Reichsluftschutzbund RLM Reichsluftfahrtministerium RM Reichsministerium RMI Reichsministerium des Innern

446

abkürzungsverzeichnis

RMJ RMP RMV RMWEV RMWi RUGes RuSHA RWE SA SPD SS

StA StS SZ TH TOP TU UAL UK UNWCC USHMM USPD Vf. Verh. VfZ WASt WEU WGLR WI WII WP ZDH ZfG ZSt. ZUG z. Wv.

Reichsministerium der Justiz Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda Reichsverkehrsministerium Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung Reichswirtschaftsministerium Reichsumsiedlungs-Gesellschaft m.b.H. SS-Rasse- und Siedlungshauptamt Rheinisch-Westfälisches Elektrizitätswerk AG Sturmabteilung Sozialdemokratische Partei Deutschlands Schutzstaffel Staatsarchiv Staatssekretär/Staatssekretärin Süddeutsche Zeitung Technische Hochschule Tagesordnungspunkt Technische Universität Unterabteilungsleiter unabkömmlich United Nations War Crimes Commission United States Holocaust Memorial Museum, Washington, D.C. Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands Verfasser Verhandlungen Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte Wehrmachtauskunftstelle (Deutsche Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen deutschen Wehrmacht) Westeuropäische Union Wissenschaftliche Gesellschaft für Luft- und Raumfahrt e.V. Hochschulabteilung im Amt Wissenschaft Forschungsabteilung im Amt Wissenschaft Wahlperiode Zentralverband des Deutschen Handwerks Zeitschrift für Geschichtswissenschaft Zentrale Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen Zeitschrift für Unternehmensgeschichte zur Wiederverwendung

447

Verzeichnis der Abbildungen, Diagramme und Tabellen

Abbildungen Cover: Das Bundesministerium für Atomfragen im ehemaligen Hotel »Godesberger Hof«, Eingangsseite, 1956 (Foto: Heinz Engels, Stadtarchiv und Stadthistorische Bibliothek Bonn, zugeschnitten) S. 12 Abb. 1: Das Bundesministerium für Atomfragen im ehemaligen Hotel »Godesberger Hof«, Rheinseite, 1956 (Foto: Heinz Engels, Stadtarchiv und Stadthistorische Bibliothek Bonn) S. 50 Abb. 2: Zeitgenössische Darstellung der Beziehungen des Reichserziehungsministeriums zu den wissenschaftlichen Institutionen ab 1937 (aus: [Rudolf] Mentzel, Organisation und Planung der deutschen Forschung, in: Illustrirte Zeitung, 22. 8. 1940, S. 119, auch abgedruckt in: Maier, Forschung als Waffe, Bd. 1, S. 435.) S. 83 Abb. 3: Bundespräsident Theodor Heuss überreicht Franz Josef Strauß die Ernennungsurkunde zum Bundesminister für Atomfragen, 20. 10. 1955 (picture-alliance/ akg-images, Bild 3150025) S. 104 Abb. 4: Siegfried Balke, Bundesminister für Atomkernenergie und Wasserwirtschaft, besichtigt das Hahn-Meitner-Institut, 13. 3. 1959 (BArch, B 145, Bild-00088003) S. 199 Abb. 5: Neubau des Bundesministeriums für wissenschaftliche Forschung, 1968 (Foto: Jens Gathmann, BArch, B 145, Bild-00010637) S. 294 Abb. 6: Josef Brandl, Foto aus dem NSDAP-Mitgliedsbuch, 1935 (BArch, R 9361-VIII Kartei/3741062) S. 325 Abb. 7: Rudolf Greifeld, Walther Schnurr, Josef Brandl, 1960er Jahre (www.rentnerblog.com/2013 /04/kit-dafur-stand-rudolf-greifeld.html [11. 9. 2021]); für die Abdruck­ genehmigung danken wir Dr. Willy Marth; trotz intensiver Recherchen konnte kein Rechteinhaber ermittelt werden. S. 347 Abb. 8: Wolfgang Cartellieri, 1965 (Foto: Heisler, BArch, B 145 Bild-F019817–0009) S. 357 Abb. 9: Max Mayer (rechts) am Steuer einer Heinkel He 111, 5. 6. 1941 (HistorischTechnisches Museum Peenemünde, Archiv, Sammlung Botho Stüwe, Bild 25–20) S. 358 Abb. 10: Max Mayer, Mitte 1960er Jahre (Der Spiegel, 22. 9. 1965, S. 133); trotz intensiver Recherchen konnte kein Rechteinhaber ermittelt werden.

Diagramme S. 94

Diagr. 1: Allgemeine Ausgaben des Bundes und der Länder und Gemeinden für Wissenschaft und Forschung, 1955 bis 1962. (Nach: Tabelle I/1, in: Der Bundesminister für Atomkernenergie, Ausgaben des Bundes und der Länder für Wissenschaft und Forschung, Oktober 1962, BArch, B 138 /6130, Bl. 146.) S. 113 Diagr. 2: Ausgaben des Bundes und der Länder für Wissenschaft und Forschung auf dem Gebiet der Atomkernenergie, 1956 bis 1963. (Nach: Tabelle II/1, in: Der

448

verzeichnis der abbildungen , diagramme und tabellen

S. 117

S. 120

S. 121

S. 135 S. 136 S. 139 S. 173

S. 205 S. 207

S. 208 S. 208

S. 209 S. 210 S. 276 S. 277

minister für Atomkernenergie, Ausgaben des Bundes und der Länder für Wissenschaft und Forschung, Oktober 1962, BArch, B 138 /6130, Bl. 148.) Diagr. 3: Ausgaben des Bundesministeriums für Atomkernenergie zur Förderung der Kernforschung, 1956 bis 1963. (Nach: Tabelle II/1, in: Der Bundesminister für Atomkernenergie, Ausgaben des Bundes und der Länder für Wissenschaft und Forschung, Oktober 1962, BArch, B 138 /6130, Bl. 148.) Diagr. 4: Ausgaben des Atom- und Forschungsministeriums für Forschungsförderung nach Sachgebieten, 1956 bis 1965. (Bundesministerium für wissenschaftliche Forschung, in: Deutsche Politik 1965, S. 305–324, hier S. 307: »Entwicklung des Einzelplanes 31«.) Diagr. 5: Haushaltsansätze für Wissenschaft und Forschung der Bundesressorts für 1963 in 1.000 DM. (Nach: Tabelle I/3, in: Der Bundesminister für Atomkernenergie. Ausgaben des Bundes und der Länder für Wissenschaft und Forschung, Oktober 1962, BArch, B 138 /6130, Bl. 147.) Diagr. 6: Geburtsjahre des von 1955 bis 1972 tätigen MFP, Jahrgänge 1927 und älter. (Datenbasis: eigene Erhebung.) Diagr. 7: Bildungsgänge des ministeriellen Führungspersonals (bis Jahrgang 1927). (Datenbasis: eigene Erhebung.) Diagr. 8: Personelle Kontinuitäten zu Vorläuferinstitutionen des Atom- bzw. Forschungsministeriums in der NS-Zeit Diagr. 9: Mit Hilfe des DWDS und des DiaCollo-Systems erstellte graphische Dar­ stellung der relativen Häufigkeit von »Volk« mit seinen jeweils beliebtesten Adjektiven in der deutschen Sprache, 1880 bis 1995, kaskade.dwds.de/dstar/dta+dwds/ diacollo/?query=Volk&_s=submit&date=1880–2000&slice=5&score=fm&kbest=3&cu toff=&profile=2&format=hichart&groupby=l%2Cp%3DADJA+&eps=0 [13. 12. 2021] Diagr. 10: Anteil ehemaliger NSDAP-Mitglieder innerhalb des ministeriellen Führungspersonals, 1956 bis 1972. (Datenbasis: eigene Erhebung.) Diagr. 11: Zeitpunkt des Eintritts ehemaliger NSDAP-Mitglieder in das Führungspersonal des Atom- und Forschungsministeriums (1955 bis 1972). (Datenbasis: eigene Erhebung). Diagr. 12: NSDAP-Mitglieder im ministeriellen Führungspersonal bis Jahrgang 1927 nach Studiengang /Ausbildung, 1931 bis 1945. (Datenbasis: eigene Erhebung.) Diagr. 13: Verteilung der NSDAP-Mitglieder und -Nichtmitglieder im ministeriellen Führungspersonal bis Jahrgang 1927 nach Studiengang/Ausbildung, 1931 bis 1945. (Datenbasis: eigene Erhebung.) Diagr. 14: NSDAP-Beitritte des ministeriellen Führungspersonals bis Jahrgang 1927 nach Jahren. (Datenbasis: eigene Erhebung.) Diagr. 15: NSDAP-Eintritte von Angehörigen des ministeriellen Führungspersonals bis Jahrgang 1927 nach Phasen, 1930 bis 1945. (Datenbasis: eigene Erhebung.) Diagr. 16: Bekannte NSDAP-Mitgliedschaften in der DAtK nach Studiengang / Ausbildung. (Datenbasis: eigene Erhebung.) Diagr. 17: Verteilung der NSDAP-Mitgliedschaften und -Nichtmitgliedschaften in der DAtK nach Studiengang/Ausbildung. (Datenbasis: eigene Erhebung.)

Tabellen S. 86 Tab. 1: Namen des Atom-, Forschungs- und Bildungsministeriums seit 1955 S. 100 f. Tab. 2: Abteilungsstruktur des Atom- und Forschungsministeriums, 1955–1972 S. 129 Tab. 3: Entwicklung des Personalbestands im Atom- und Forschungsministerium

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Quellenverzeichnis

Archivalische Quellen Archiv der sozialen Demokratie, Bonn (AdsD) Sammlung Personalia, 6/SAMP007809 Archiv des Bistums Passau Taufbuch Osterhofen 027_0026 Archiv des Deutschen Museums, München NL 096 [Teilnl. Siegfried Balke] Archiv des Instituts für Zeitgeschichte München-Berlin, München (IfZ-Archiv) ED 135 [Nl. Krekeler], Nr. 176 Fa 506 /15 Gs.5.18 /14 ZA/P, Bd. 21 ZS A 33 /4 Archiv des Liberalismus, Gummersbach (ADL) N 1–2221 [Nl. Thomas Dehler] ÜP 58 /1988 11787–11796 [Nl. Hans Lenz] Archiv für Christlich-Demokratische Politik, Sankt Augustin (ACDP) Balke, Siegfried AO 01–175 AO 01–195 03314 Archiv für Christlich-Soziale Politik der Hanns-Seidel-Stiftung, München (ACSP) LG-2.WP: 67 NLStraussZA_1954_1pdf [16. 12. 2021] NLStraussZA_1955_1.pdf [16. 12. 2021] Atomkommission_Rede.pdf [16. 12. 2021] Vorstand / Präsidium: 19690425 Bayerisches Hauptstaatsarchiv, München (BayHStA) Abteilung IV Kriegsarchiv Schützenbrigade 21, Nr. 24, 366 BBC Written Archives Centre, Reading Transkript der BBC-Reportage: Robert Denselow, Germany and the Argentine bomb,

19. 4. 1982 Bundesarchiv (BArch) Berlin R 5 /7479, 8634 R 3001 /59980 R 3101 /35548

450

quellenverzeichnis



R 4901 /25364 R 9361-I/914, 1522, 3261 R 9361-II/72712, 341289, 601309, 63464, 906522, 958407 R 9361-III/107182, 557492 R 9361-VII/2056087 R 9361-VIII KARTEI/passim R 9361-IX KARTEI/passim

Bundesarchiv (BArch) Freiburg, Abt. Militärarchiv PERS 2 /13074 PERS 6 /144648, 146385, 179294 PERS 15 /12633 RL 36 /70, 454 RL 39 /1337 RW 4 /687, 706 RW 43 /146, 176, 285, 289, 540 Bundesarchiv (BArch) Koblenz B 106 /7643, 114666–114669 B 126 /13728, 16949, 16976, 16983, 16991, 16995, 17001, 17030, 17039, 17040, 17051, 17059 B 136 /2041, 4218 B 138 /1, 50, 118, 1426, 3305, 3546, 6130, 40317–40318, 19736, 27428 B 138 Org B 305 /1838 N 1092 [Nl. Wolfgang Cartellieri]/1, 2, 11, 18–19 N 1772 [Nl. Walther Kumpf]/1 PERS 101 /13979, 49417–49426, 52371, 52376, 52379, 52380, 61284, 61392, 73271, 73344, 73600, 80514, 80583, 81409–81412; 82450, 82462–82463; 82475, 82477, 82482–82483, 82491, 82493, 89545 Bundesarchiv (BArch) Ludwigsburg, Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung von NS-Verbrechen B 162 /2101, 3745, 3812, 4138, 5185, 7067–7079, 7748, 7951 B162/Karteikarte Brandl Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, Berlin (BStU)1 MfS HA III 4021 MfS HA IX/11 PA 5439 MfS HA IX/11 PA 2700 MfS HA IX/11 PA 2703 MfS HA IX/11 SV 15 /77 MfS SdM 296 Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden (HHStA Wiesbaden) Abt. 520 Frankf., Kriele, Rudolf Abt. 520 /27, Nr. 238

1 2021 dem Bundesarchiv unterstellt.

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Institut für Hochschulkunde, Würzburg Kösener Corpslisten (1930) Gesamtverzeichnis des Corps Bavaria München (2016) Landesarchiv Baden-Württemberg, Abt. Staatsarchiv Sigmaringen Wü 13 T 2, Nr. 2630 /142 Landesarchiv Berlin (LA Berlin) B. Rep. 058, Nr. P (K) Js 7 /68 Lo Bm-Bz Landesarchiv Nordrhein-Westfalen (LA NRW), Abt. Ostwestfalen-Lippe D 72 [Nl. Karl Kaißling], Nr. 1, 3 Landesarchiv Nordrhein-Westfalen (LA NRW), Abt. Rheinland, Duisburg Gerichte Rep. 434, Nr. 76 NW 1039-K-5642 NW 1049 67150 Landesarchiv Thüringen – Hauptstaatsarchiv Weimar (LATh-HStA Weimar) Personalakten aus dem Bereich Justiz, Nr. 1475–1477 NS-Archiv des MfS ZA I 7184, Akte 29 Landesarchiv Thüringen – Staatsarchiv Gotha (LATh-StA Gotha) Landgericht Erfurt, Nr. 317, 421 Staatsanwaltschaft beim Landgericht Erfurt 1851–1951, Nr. 309 Niedersächsisches Landesarchiv, Hannover (NLA) OS Rep 980, Nr. 23362 Parlamentsarchiv des Deutschen Bundestages, Berlin (PA-DBT) 3117 3121 Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Berlin (PA AA) Personalakten 001015–001017, 013973–0139474 Staatsarchiv der Oblast Lwiw / Derzhavnyi arkhiv L’vivs’koï oblasti (DALO) R 24, Spr. 196, Ark. 24–25 R 24, Spr. 6, Ark.14 Staatsarchiv Hamburg (StA Hamburg) 221–1, Ad 11320 221–11, Ad 7288 Staatsarchiv München (StA München) SpkA, K 184 SpkA, K 1557 SpkA, K 2607 Stadtarchiv Heilbronn B 11, Nr. 385

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B 15, Meldekarte »Brandl, Josef« B 75, Gewerbesteuerakten Anti-Rost Stadtarchiv München Meldekarte »Mayer, Eduard« Meldekarte »Mayer, Max« Meldekarte »Müller, Karl« (Josef Brandl) Stadtarchiv Passau Auszug Meldeliste, »Brandl, Dr. Josef« United States Holocaust Memorial Museum (USHMM) RG-67.041 M.0014, Brauchitsch, Walter [sic!] von and 213 others RG-67.041 M.NDXP1.00003356 WASt, ehemalige Deutsche Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehöri-

gen von Gefallenen der ehemaligen deutschen Wehrmacht (Wehrmachtauskunftstelle), Berlin2 [Informationen zum militärischen Werdegang: Erkennungsmarkenverzeichnis, Karteikarten u.a.] passim

Gedruckte oder im Internet publizierte Quellen und Quellensammlungen3 Adenauer, Konrad: Erinnerungen, 1945–1953, Stuttgart 1965. Adenauer, Konrad: Teegespräche, 1950–1954, bearb. von Hanns Jürgen Küsters, Berlin 1984. Adreßbuch der Stadt Bad Oeynhausen und der Gemeinden der Aemter Rehme und GohlfeldMennighüffen, 1935, Bad Oeynhausen 1935, wiki-de.genealogy.net/w/index.php?title=­ Datei:Oeynhausen_1935.djvu [19. 11. 2021]. Adreßbuch der Stadt Passau 1939, Passau 1939, wiki-de.genealogy.net/w/index.php?title=­ Datei:Passau-AB-1939.djvu&page=165 [19. 11. 2021]. Ardenne, Manfred von: Ein glückliches Leben für Technik und Forschung. Autobiographie, Zürich – München 1972. Atomexpress. Zeitung der Initiativen gegen Atomenergie Nr. 15, Juli / Aug. 1979. Basler, Otto (Hrsg.): Der Große Duden. Rechtschreibung der deutschen Sprache und der Fremdwörter, Leipzig 111934. Beus, Jacobus Gijsbertus de: Die Zukunft des Abendlandes, Frankfurt a. M. 1956. Brandl, Josef: Das abgekürzte Verfahren vor dem Einzelrichter im Strafprozess. InauguralDissertation der Juristischen Fakultät der Julius-Maximilians-Universität zu Würzburg, 1926. Bruck, Edith: Wer dich so liebt. Lebensbericht einer Jüdin, Neuausg. Berlin 1999. Bundesgesetzblatt online, www.bgbl.de/xaver/bgbl/start.xav?startbk=Bundesanzeiger_ BGB l#__bgbl__%2F%2F*%5B%40attr_id%3D%27I_2021_84_inhaltsverz%27 %5D__­ 1639686566840 [16. 12. 2021].

2 Seit 01. 1. 2019 Abteilung PA (Personenbezogene Auskünfte zum Ersten und Zweiten Weltkrieg) im Bundesarchiv. 3 Internetlinks zu Quellen, die auch im Druck veröffentlich sind, werden nur genannt, wenn die Print-Version schwer zugänglich ist.

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quellenverzeichnis

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4 Artikel der »Zeit« und des »Focus« wurden über die Online-Plattformen der beiden Presseorgane eingesehen; die Seitenzahlen der Printausgaben sind dort nicht angegeben.

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Personenregister Seitenverweise auf Anmerkungen sind kursiv gesetzt. Namen aus dem Vorwort sowie aus bibliographischen Angaben im Anmerkungsapparat sind nicht berücksichtigt.

Abs, Hermann Josef 273, 277, 278 Adenauer, Konrad 11, 17, 69–85, 87, 91, 92, 99, 102–103, 117–119, 149, 151, 167, 223, 277–278, 345 Aly, Götz 332 Ardenne, Manfred von 63–64 Asbach, Hans-Adolf 292, 328–329 Backe, Wilhelm 52 Balke, Karoline 223 Balke, Siegfried 69, 77–78, 79, 87, 97, 102–105, 107, 110, 112, 114–118, 165–167, 170, 172, 176, 178, 181, 186–187, 193, 195, 204, 213, 221, 223–226, 263, 267, 271, 347, 362, 383, 390, 403–405, 428, 438 Balke, Wilhelm 223 Barth, Eberhard 296, 320 Bauer, Otto 311 Bebber, Ferdinand van 213, 438 Bechert, Karl 185, 186, 428 Becker, Karl 51 Beer, Mathias 29 Benecke, Theodor 361 Bengeser, Gerhard 213, 438 Bergemann, Günther 80 Berger, Rolf 128 Beutler, Otto 38, 88, 138, 140, 145, 147, 212, 248–249, 264–265, 438 Bisanz, Alfred 312 Bischoff, Friedrich 101 Blanck, Eugen 11 Blank, Theodor 77, 79, 99, 223, 319 Blatzheim, Ernst-Wilhelm 147, 154, 438

Bleek, Karl Theodor 80 Blücher, Franz 79, 80, 82 Boden, Hans C. 273, 277, 281 Böning, Eberhard 101, 124–125 Borst, Walter 125 Bösch, Frank 22, 24–25, 29 Boettcher, Alfred 378 Bonhoeffer, Dietrich 239 Bötzkes, Wilhelm 77 Boulanger, Werner 144, 438 Brahms, Reinhard 214, 438 Brandl, Josef 23, 40, 88–89, 131, 140, 142, 145, 150–151, 155, 211, 218, 260, 265, 267–268, 270, 285–333, 334, 341, 366–367, 368, 385, 389, 400–401, 411–420, 422, 426, 438 Brandl, Joseph 287 Brandl, Sophie 287 Brandt, Leo 96, 272, 282 Brandt, Willy 124, 126, 189, 232, 240 Brauchitsch, Walther von 314–315 Braun, Wernher von 353 Bräutigam, Otto 302 Brentano, Heinrich von 79 Brettschneider, Albert 268 Brieskorn, Hans 152, 213, 438 Bruck, Edith 374 Brüning, Heinrich 236 Bülow, Bernhard von 179 Bürckel, Josef 296 Caemmerer, Ernst von 273, 277 Cartellieri, Alexander  333–334 Cartellieri, Ulrich 338 Cartellieri, Wolfgang 23, 40, 42,

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personenregister

88–89, 92, 100, 104–105, 109, 112, 122, 140, 146–147, 168, 172, 181, 183, 188, 194, 204, 205, 212, 217, 221, 235, 238, 258, 259, 262, 268–269, 285, 323, 326, 333–350, 411–413, 415–419, 421, 438 Churchill, Winston 72 Classen, Christoph 196 Clodius, Siegfried 147, 152, 154, 213, 217, 438 Cockcroft, John 79 Coelln, Karl-Günther von 257 Conze, Eckart 21, 253 Cordes, Oskar 293 Cornelißen, Christoph 195 Costa, Hermann 87–89, 146–147, 213, 258, 268, 439 Darré, Richard Walther 52 de Gaulle, Charles 92 Dehler, Thomas 84, 178 Diebner, Kurt 59–61, 67 Diels, Rudolf 256 Dieterich, Hermann 137, 142, 146, 152, 154, 213, 439 Dietl, Eduard 289 Dittmar, Rupprecht 273 Dohnanyi, Christine von 239 Dohnanyi, Klaus von 124, 130, 136, 191, 221, 232, 239–240, 243, 264 Dohnanyi, Hans von 239 Donth, Hans 439 Dörk, Emil 377 Dustmann, Hanns 199 Ehmke, Horst 130 Ehrenstein, Maximilian 369 Eichmüller, Andreas 406, 409 Einstein, Albert 59 Eisenhower, Dwight D. 13, 67–68, 176 Engelhardt, Hans 88–89, 100, 144, 146, 153, 204, 213, 323, 439 Epp, Franz Ritter von 289 Epstein, William 379 Erhard, Ludwig 70–73, 75–80, 82, 84–85, 90, 92, 118, 229 Etzel, Franz 107

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Falter, Jürgen W. 211, 246, 336 Fermi, Enrico 58, 64 Finke, Wolfgang 128, 147, 214, 439 Fircks, Otto von 406 Fischer, Peter 18 Fischer, Richard 273, 275, 276, 280–281 Forschbach, Edmund 80 Frank, Günter 378 Frank, Hans 289, 298, 300–302, 304, 308–309 Franzen, K. Erik 29 Frauendorfer, Max 409 Frei, Norbert 21, 149 Frick, Wilhelm 46 Fromm, Friedrich 59 Funck, Walter 135, 155, 439 Gaedke, Bernhard 138, 147, 211, 217, 248–249, 254, 255, 266, 363–364, 439 Gareis, Hanns 330–331 Geier, Stephan 17–18, 69, 92, 108 Gerlach, Walther 61, 64–65 Geyer, Gerhard 273, 277, 280 Giese, Kurt 143, 213, 261, 439 Gieseke, Ludwig 439 Glaesser, Wolfgang 80 Glahé, Philipp 325 Globke, Hans 73–74, 76, 80, 234, 422 Goebbels, Joseph 47, 314, 397–398, 408 Goerdeler, Carl Friedrich 321, 345 Goñi, Uki 381 Göring, Hermann 51–53, 55, 61, 65, 301 Görtemaker, Manfred 197, 265 Goudefroy, Hans 273, 275, 277, 281 Grau, Wilhelm 87–88, 89, 105, 138, 143, 145, 147, 152, 154, 212, 213, 214, 233–235, 255, 347, 439 Grau, Wilhelm (Historiker) 233 Greifeld, Rudolf 325–326, 332–333, 385, 389 Grobelny, Miłoz 367, 373, 390 Groos, Otto 137–138, 143, 145–146, 211, 247, 248, 254, 383, 426, 439 Gropius, Walter 199 Großmann, Johannes 29

personenregister

Groth, Wilhelm 59 Grünbaum, Léon 385 Güntsch, Fritz-Rudolf (zeitweise auch Toepffer-Güntsch) 101, 128, 147, 152, 204, 214, 363, 439 Haase, Werner 138, 147, 211, 246, 247, 254, 255, 439 Haberland, Ulrich 273, 275, 276, 278 Hadeler, Hans 328–331 Hagemann, Christa 230 Hahn, Lothar 85 Hahn, Otto 12, 58, 60, 64, 96, 140, 193, 273, 275, 282 Halem, Nikolaus Christoph von 268 Hallstein, Walter 77, 80 Hamm-Brücher, Hildegard 15, 124, 126, 130, 132, 146–147, 204, 221, 240–241, 439 Hanel, Tilmann 17–18, 69, 108 Harteck, Paul 59 Haßmann, Walter 439 Haunschild, Hans-Hilger 101, 130, 241–242 Haxel, Otto 140, 273, 276–277, 282, 333 Hayes, Peter 21 Heidemeyer, Helge 365 Heimerich, Hermann 344–345 Heinemann, Gustav 35 Heines, Edmund 10 Heisenberg, Werner 60–61, 64–65, 67, 70–71, 75, 78, 93, 95, 97, 107, 140, 186, 274, 277, 282 Heißmeyer, August 393 Hellwege, Heinrich 30 Hembera, Melanie 29 Hentschel, Klaus 162 Heppe, Hans von 122, 124, 137–138, 143, 147, 205, 213, 214, 217, 218, 221, 235–238, 242, 255, 268–269, 439 Heppe, Theodor von 235 Heppe, Wilhelmine von 235 Herbert, Ulrich 20, 288 Herzog, Roman 409 Hess, Gerhard 274 Heß, Rudolf 49, 289

Heuss, Theodor 83, 170 Heydemeyer, Helge 29 Heyne, Gernot 147, 152, 153–154, 258, 440 Hildebrandt, Dieter 203 Himmler, Gebhard 289 Himmler, Heinrich 49, 54, 251, 289, 304, 311–312, 314, 393–394 Hindenburg, Paul von 211, 391 Hinkel, Hans 397–399, 408 Hirschmann, Walter 287 Hitler, Adolf 35, 47, 49, 51, 54, 58, 63–64, 202–203, 211–212, 289, 293, 299, 339–340, 344, 369, 380 Höcherl, Hermann 119 Hocker, Alexander 88–89, 99, 146, 155–156, 213, 258, 440 Hofer, Franz 341 Hoffmann, Johannes 290 Holtzem, Hubertus 137, 143, 440 Holzhauser, Thorsten 29 Höpker-Aschoff, Hermann 330 Hürter, Johannes 37 Ilberg, Konrad von 343 Inquart, Ernst 328 Jens, Walter 203 Jodl, Alfred 289, 339 Johler, Reinhard 29 Jooss, Kurt 375–376 Jouanne, Jules von 141, 144, 154, 213, 217, 440 Kaiser, Jakob 79 Kaißling, Karl 100, 106, 138, 140, 143, 145–147, 155, 204, 213, 218, 249, 250, 255, 260, 267, 268, 270, 440 Kaltenbrunner, Ernst 344 Kapp, Wolfgang 290 Karlsch, Rainer 61, 64 Katzmann, Fritz (Friedrich) 305, 307–308, 310–311, 327–328 Kennedy, John F. 92 Khachatryan, Kristine 210–211, 246 Kiesinger, Kurt Georg 122, 180, 223, 229

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personenregister

Kilb, Hans 80 Klaiber, Manfred Otto 80 Klüger, Ruth 374 Knieper, Werner 346 Knott, Carl 274, 276, 279 Kögler, Franz 230 Kogon, Eugen 149–150, 427 Kohl, Helmut 229 Kolb, Friedrich 140, 143, 146–147, 211, 258–259, 260, 440 Kraft, Waldemar 80 Kratz, Philipp 162 Kratz, Walter 11 Krekeler, Heinz 77–78, 404 Kreter, Erich 146–147, 155, 213–214, 219, 250–251, 252, 440 Kriele, Rudolf 100, 105, 140, 143, 146–147, 155, 204, 211, 259, 440 Krone, Heinrich 79 Krüger, Friedrich Wilhelm 306 Kühne, Hans 440 Kullmer, Hans 146, 155, 440 Kumpf, Walther 104, 137, 140, 142, 147, 154, 211, 217, 248–249, 254, 262, 440 Kupfer, Torsten 221 Lakeberg, Beate 367 Läpple, Christhard 378 Lasch, Karl 304, 314 Lautenschlager, Hans-Werner 404 Lechmann, Heinz 88, 89, 90, 153, 213, 440 Lehr, Günther 101, 124–125, 146, 155, 440 Lehr, Robert 30 Lenz, Hans 118–119, 146, 171, 177, 181–182, 187, 204, 211, 226–227, 347, 440 Lenz, Siegfried 203 Leussink, Hans 123–124, 126–128, 130, 132, 137, 143, 146, 161, 174–175, 189, 191, 204, 212, 213–214, 229–232, 238, 240–241, 363, 421, 430, 440 Lindner, Herbert 40, 88–89 Löbner, Martina 380, 389 Löffler, Bernhard 19

492

Loose, Ingo 300 Lorenz, Robert 105, 114 Lübbe, Hermann 25, 162, 427 Lunke, Erwin 441 Marth, Willy 382, 386 Martius, Hans von 137, 140, 405, 441 Massow, Valentin von 146, 214, 441 Maunz, Theodor 241 Mayer, Eduard 350 Mayer, Max 40, 55, 100, 101, 115, 125, 128, 146–147, 260, 261, 266, 285, 350–366, 411–413, 415–421, 426, 441 Medzlewski 357 Meichßner, Joachim 343 Mengele, Josef 283 Menne, Wilhelm Alexander 274, 277, 283 Mentzel, Rudolf 48, 51–53, 448 Merkatz, Hans-Joachim von 79, 81–82 Meßner, Jonas 215 Meyer-Cording, Ulrich 88, 138, 146–147, 154, 213, 255, 441 Milch, Erhard 52, 55 Möhl, Arnold von 290 Möller, Detlev 18, 103 Möller, Horst 2 2 Motz, Maximilian 147, 441 Mücke, Hellmuth von 335 Müller, Karl (= Brandl, Josef) 316– 318, 400, 415, 417 Müller, Paul 373, 376 Müller, Wolfgang 18 Musiał, Bogdan 299, 320, 419 Musso, Renate 15 Mutschmann, Martin 231 Nahm, Peter Paul 80 Nauwerck, Albrecht 368 Neumann, Heinz-Georg 330 Neumayer, Fritz 79, 82 Nitschke, Richard 326–327 Nobel, Alfred 370 Noske, Gustav 289 Nothnagel, Kurt 323 Nützenadel, Alexander 22

personenregister

Ohnesorge, Wilhelm 62–64 Onganía, Juan Carlos 385 Packheiser, Christian 104 Pahlke 297 Paneth, Friedrich 283 Perón, Juan 247, 380, 389 Petersen, Alfred 274 Petersen, Konrad 147, 152, 154, 441 Pfaffelhuber, Josef 213, 441 Pferdmenges, Robert 77 Picker, Henry 64 Pils, Angelina 414 Planck, Max 52 Pohl, Dieter 395 Pohland, Erich 88–89, 96, 140, 143, 145, 147, 152, 155, 441 Pollex, Curt 346 Pretsch, Joachim 57, 87–89, 95, 100–101, 122, 125, 145–147, 152, 204, 213, 217, 261, 441 Prior, Leo 147, 212, 441 Prüß, Karsten 97 Quoos, Oskar 376 Radkau, Joachim 18, 69, 85, 108, 326, 389 Raffert, Joachim 141, 146, 214, 205, 219, 221, 242–244, 250, 262, 441  Raiser, Ludwig 77 Ratz, Heinz 373 Ratzel, Ludwig 171 Reemtsma, Jan Philipp 201 Regula, Walter 138, 363, 441 Reinke, Niklas 19, 364 Rentrop, Wilhelm 322, 323 Reusch, Hermann 274, 279–280 Reuter, Hans 274, 279 Richter, Gustav 267 Riedl, Erich 366 Riezler, Wolfgang 140, 274, 276, 277, 282 Ritter, Gerhard 333, 384, 385 Röder, Rudolf 299, 304, 306, 327 Roeloffs, Karl 153, 214, 441 Röger, Maren 29

Röhm, Ernst 289 Rohrer, Rudolf M. 227 Romberg, Dennis 19 Rommel, Hans 153, 441 Roosevelt, Franklin D. 59 Rosenberg, Alfred 49 Rosenberg, Ludwig 274, 277, 283 Rosenmund, Karl Wilhelm 368 Roth, Albert 88, 89, 146–147, 213, 441 Ruhkopf, Jan 29 Rusinek, Bernd-A. 288, 296, 297, 299, 303, 311, 316, 320, 324, 325, 333, 369, 374, 376, 380–381–383, 389, 419 Rust, Bernhard 46–49, 51–54, 62, 393 Safferling, Christoph 22, 197, 265, 427 Sandkühler, Thomas 311 Sauer, Hans 154, 441 Sauerborn, Maximilian 80 Schäfer, Hermann 76, 80, 82 Schäffer, Fritz 77, 79, 81–82, 365 Schalck-Golodkowski, Alexander 408 Scheibe, Arnold 274, 276, 282 Scheibe, Egon 353 Scheidemann, Karl-Friedrich 100–101, 119, 125, 138, 146–147, 155, 204, 211, 255, 256–257, 258, 441 Scheidwimmer, Max 88–89, 146, 153, 442 Schendel, Artur 145, 152, 213, 231, 363, 442 Schildt, Axel 162, 427 Schiller, Karl 240 Schlephorst, Eberhard 442 Schneider, Franz 293 Schneider, Hans Ernst (alias Hans Schwerte) 414 Schneidhuber, August 289 Schnurr, Camilla 367 Schnurr, Reinhold 367 Schnurr, Walther 40, 75, 89, 100, 105, 131, 143, 145, 155, 204, 212, 213, 215, 248, 260–261, 267–268, 270, 285–286, 325–326, 333, 366–390, 404, 411–413, 415–422, 426, 442 Schober, Kurt 191, 200 Schöller, Heinrich 274, 276, 324, 428

493

personenregister

Scholz, Ernst 140, 213, 442 Schramm, Hans 147, 154, 442 Schramm, Werner 147, 442 Schreck, Julius 289 Schreiber, Ludwig 322 Schröder, Gerhard 79, 80 Schubert, Gerhard 274, 276 Schug, Helmut 154, 442 Schulenburg, Fritz-Dietlof von der 237 Schulhoff, Georg 275, 283 Schulte(-Meermann), Walter 138, 143–145, 154–155, 219, 252–254, 255, 256, 267–269, 442 Schuster, Hans-Günther 146, 154, 442 Schwartz, Michael 29, 41 Schweiger, Hans 317 Schwerte, Hans (= Schneider, Hans Ernst) 316, 414 Selbach, Josef 80 Seyß-Inquart, Arthur 296–297 Siebenmorgen, Peter 84 Siemens, Daniel 217 Six, Franz 289 Slemeyer, Hans 144, 155, 442 Sobotta, Johannes 17, 144, 161, 163–164, 168, 193, 442 Sonnemann, Theodor 80 Spaeth, Arnim 146–147, 442 Specht, Anton 268 Speer, Albert 58, 61, 65, 199, 264 Spilker, Caroline 390 Spilker, Karl-Heinz 40, 87–88, 89, 138, 141, 145, 146, 153, 213, 219, 250, 261, 263–264, 266–267, 270, 285–286, 319, 390–410, 413–419, 422, 442 Spilker, Wilhelm 390 Spölker, Karl-Heinz (= Spilker, Karl-Heinz) 319, 400–401, 415, 417 Stange, Irina 10, 29 Stark, Johannes 48, 51 Staudte, Wolfgang 262 Stauffenberg, Claus Schenk von 343 Steinacher, Gerald 381 Stoll, Erich 399 Stoltenberg, Gerhard 9, 39, 121–124, 159, 167, 169, 171, 173, 177, 181–182,

494

188, 190–192, 196, 227–229, 238, 247, 282, 386 Storch, Anton 80 Straimer, Georg 88–89, 143, 145, 186, 255, 261, 442 Straßer (auch: Strasser), Gregor 289 Straßer (auch: Strasser), Otto 289 Straßmann, Fritz 58, 193 Strauß, Franz Josef 11, 68, 71, 73–80, 82–91, 97–99, 102, 105, 110–111, 115, 117, 144, 146, 152–153, 165–169, 172, 176–178, 184–186, 213, 221–223, 225, 261, 263, 266–267, 272, 275, 347, 362, 382, 390, 402–403, 404–406, 417, 419, 428, 442 Strauß, Franz Josef (Vater) 222 Strauß, Walpurga 222 Strauß, Walter 80, 265 Strub, Hermann 363 Struve, Kai 395–396 Stuckart, Wilhelm 234, 299 Stucke, Andreas 17, 103 Stücklen, Richard 79 Stüwe, Botho 352, 354 Take, Gunnar 348 Taubert Niels C. 18 Telschow, Ernst 77 Thiele, Rudolf 357 Tillmanns, Robert 76, 80, 81–82 Tippelskirch, Werner von  341–342 Todt, Fritz 58 Trabandt, Heinz 88, 143, 213, 442 Trischler, Helmuth 19, 25 Udet, Ernst 55 Unruh, Walter von 143 Üxküll-Gyllenbrand, Nikolaus von 268 Vahlen, Theodor 48 Veesenmayer, Edmund 281 Verschuer, Otmar von 179, 283 Vulpius, Axel 146–147, 442 Wächter, Otto Gustav (von) 297–299, 304, 309, 311–312

personenregister

Wacker, Otto 48 Wäckerle, Hilmar 394, 396 Wagner, Hubert 154, 213–214, 259, 443 Wagner, Josef 268 Waigel, Theo 408 Wandersleb, Hermann 80 Wartenburg, Peter Yorck von 268 Webb, James Edwin 362 Weber, Albrecht 89, 153, 155, 213, 443 Weingart, Peter 18 Weizsäcker, Carl-Friedrich von 60, 97, 186 Wengst, Udo 19 Westermann, Dietrich 147, 213, 443 Westrick, Ludger 80 Wieland, Heinrich 240 Wildt, Michael 288 Wilke, Olaf 408 Winkhaus, Hermann 275–276, 280

Winnacker, Karl 74, 75, 78, 96, 109, 273, 276, 278–279, 382, 384, 404–405, 426 Wirmer, Ernst 321, 322, 323, 345–346, 419 Wirmer, Josef 321 Wirsching, Andreas 22, 24 Wirtz, Karl 61, 65, 68, 97 Wischnewski, Michael 408 Wissebach, Hans 406 Woite, Hans-Joachim 213 Wolf, Karl 100, 143, 204, 443 Wolff, Karl 312 Wuermeling, Franz-Josef 80 Zimmermann, Moshe 21 Zingel, Rudolf 141, 144–145, 155, 443 Zinser, Hans-Walter 292, 328–329 Zurhorst, Dietrich 146, 443 Zuse, Konrad 193

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