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German Pages 879 [880] Year 2006
Die Luftwaffe 1950 bis 1970. Konzeption, Aufbau, Integration
Sicherheitspolitik und Streitkräfte der Bundesrepublik Deutschland Herausgegeben vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt Band 2
R. Oldenbourg Verlag München 2006
Bernd Lemke · Dieter Krüger Heinz Rebhan · Wolfgang Schmidt
Die Luftwaffe 1950 bis 1970 Konzeption, Aufbau, Integration
Mit Beiträgen von Hillrich von der Felsen, Peter Klatte, Axel B. Kleppien, Siegfried Pacholke, Klaus-Peter Scheibe und Winfried Schwenke
R. Oldenbourg Verlag München 2006
Umschlagabbildungen: F-104 G auf einem Testflug in Nordamerika/Privatbesitz Rentel Atombombentest Juli 1970/AP Photo Trotz sorgfältiger Nachforschungen konnten nicht alle Fotografen ermittelt werden. Wir bitten nicht genannte Urheber, sich beim Militärgeschichtlichen Forschungsamt zu melden.
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei der Deutschen Bibliothek erhältlich
© 2006 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH, München Rosenheimer Str. 145, D-81671 München Internet: www.oldenbourg.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (chlorfrei gebleicht). Satz: Militärgeschichtliches Forschungsamt, Potsdam Umschlag: Maurice Woynoski, Militärgeschichtliches Forschungsamt, Potsdam Herstellung: Wuhrmann Druck & Service GmbH, Freiburg ISBN-13: 978-3-486-57973-4 ISBN-10: 3-486-57973-8
Inhalt Gruß wort des Inspekteurs der Luftwaffe Vorwort Bruno Thoß: Einführung Bernd Lemke: Vorwärtsverteidigung, Integration, Nuklearisierung. Die gesamtstrategische Entwicklung bis 1959 I. Die Grundlinien der westlichen Strategie bis Ende der 50er Jahre II. Die Bedeutung der strategischen Entwicklung als Grundparameter für den Aufbau der Luftwaffe Dieter Krüger: Der Strategiewechsel der Nordatlantischen Allianz und die Luftwaffe I. Zweifel an der gültigen Nuklearstrategie II. Die Aufweichung der Massiven Vergeltung III. Das neue Kriegsbild und die Bundeswehr IV. Der Übergang zur flexiblen Reaktion und die künftigen Aufgaben der Luftwaffe V. Bilanz Bernd Lemke: Konzeption und Aufbau der Luftwaffe I. Einleitung II. Kriegsbild und Einsatzprinzipien im Kontext westalliierter Strategie bis Mitte der 50er Jahre III. Die konzeptionellen Anfänge der Luftwaffe im Rahmen der EVG IV. Strategie und Kriegsbild 1955 bis 1967 V. Der organisatorische Aufbau VI. Die Beschaffung der Waffen im politischen, strategischen und technologischen Beziehungsfeld VII. Logistik, Versorgung und Landbeschaffung: Probleme auf dem Weg zur Einsatzfähigkeit VIII. Eintritt in die moderne Datenverarbeitung: Die Einführung von Operation Research und elektronischen Führungssystemen IX. Fazit: Der Standort der Luftwaffe 1970
VII IX 1
17 19 29 41 43 47 57 61 69 71 73 79 113 151 269 321 425
457 479
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Inhalt
Dieter Krüger: Die Entstehung der NATO-Luftverteidigung und die Integration der Luftwaffe I. Die Integration der Luftverteidigung: Die Vorstellungen des Bündnisses II. Von der Koordination zur Integration: Die Verabschiedung der MC 54/1 III. Der Einbau der Luftwaffe in die NATO-Luftverteidigung IV. Das NATO Air Defence Ground Environment Programm (NADGE) V. Probleme der Luftverteidigung in Mitteleuropa 1960 bis 1967 VI. Bilanz
509 525 535 543 555
Heinz Rebhan: Aufbau und Organisation der Luftwaffe 1955 bis 1971 I. Die deutsche Wiederbewaffnung II. Erste Aufbauphase 1956 bis 1960 ΙΠ. Zweite Aufbauphase 1961 bis 1966 IV. Dritte Aufbauphase 1967 bis 1971 V. Schlussbetrachtung
557 559 565 605 629 645
Wolfgang Schmidt: Briefing statt Befehlsausgabe. Die Amerikanisierung der Luftwaffe 1955 bis 1975 I. Einleitung II. Die strukturellen militärischen Rahmenbedingungen III. Die US-Ausrüstungs- und Ausbildungshilfe IV. Die Erfahrung Amerika
649 651 655 661 677
Zeitzeugen Hillrich von der Felsen und Axel B. Kleppien: Die Entwicklung des Selbstverständnisses der Flugabwehrraketentruppe
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Siegfried Pacholke: Vom Leichten Kampfgeschwader zum Tactical Fighter
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Winfried Schwenke: Pilot im Starfighter. Faszination und Herausforderungen
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Peter Klatte: Die Logistik der Luftwaffe im Spannungsfeld zwischen militärischer Struktur und industriellen Betriebsabläufen. Erfahrungen Technischer Offiziere in fliegenden Verbänden
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Bilder und Übersichten Chronologie Abkürzungen Quellen und Literatur Personenregister Die Autoren
751 789 837 847 865 869
485 487
Grußwort des Inspekteurs der Luftwaffe
Angehörige der Luftwaffe! Liebe Leserinnen, liebe Leser! Im Jahre 2006 begeht die Luftwaffe ein rundes Jubiläum. Seit 50 Jahren leistet sie einen bedeutenden Beitrag im Rahmen des transatlantischen Bündnisses für den Frieden und die Freiheit unseres Landes. In diesen Jahrzehnten ist die Luftwaffe zu einem international anerkannten NATO-Partner gewachsen und auch zu einem Bestandteil in den Biografien vieler Deutscher geworden. Dabei war der Aufbau neuer Luftstreitkräfte, der nicht erst mit dem Dienstantritt der ersten Freiwilligen bei der Luftwaffenlehrkompanie in Nörvenich im Januar 1956 begann, ein an Herausforderungen reicher Prozess. Schon zu Beginn der Planungsphase ab 1950 zeichnete sich ab, dass eine zukünftige deutsche Luftwaffe als Teil einer Verteidigungsarmee in einem multinationalen Bündnis integriert sein würde. Mit dem Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zur NATO im Jahre 1955 erfolgten dann die wesentlichen Weichenstellungen für Auftrag, Aufgaben, Organisation, Technik, Logistik und Ausbildung der neuen Luftwaffe. Mit Pragmatismus und Realitätssinn orientierte sich die Aufbaugeneration zur Lösung der komplexen, untrennbar miteinander verwobenen Aufgaben an den Vorstellungen und Strukturen der Partnerluftmächte - allen voran der USA. Von dort kam auch entscheidende Unterstützung. Binnen weniger Jahre waren einsatzfähige Verbände aufzubauen und der NATO zu assignieren. Es galt die luftfahrttechnologische Entwicklung seit 1945 ebenso in kurzer Zeit nachzuvollziehen wie mit Personalknappheit und logistischen Schwierigkeiten umzugehen sowie die Strategiewechsel des Bündnisses adäquat umzusetzen. Trotz viel Enthusiasmus und Elan bei allen Angehörigen der Luftwaffe sowie großer Erfolge bei Einrichtung der Dienstteilbereiche forderte der rasche Aufbau seinen Tribut. Die tragischen Verluste von Besatzungen und Luftfahrzeugen belasteten die Luftwaffe in den 1960er Jahren sehr. Die sogenannte Starfighter-Krise lastete schwer auf der noch jungen Bundeswehr, einer Armee, die erstmals in der deutschen Geschichte unter dem Primat einer demokratischen Politik und im Blickpunkt einer durchaus militärkritischen Öffentlichkeit stand. Aber auch Rückschläge wurden gemeistert. Im Wissen um die Abhängigkeit von der Technik wie im Vertrauen auf die Fähigkeit im Team zu arbeiten, öffnete sich die Luftwaffe modernen, zeitgemäßen und sehr effektiven Managementstrukturen.
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Grußwort des Inspekteurs der Luftwaffe
Die Geschichte der Bundeswehr und der Luftwaffe unterstreicht, wie wichtig glaubwürdige Abschreckung für die Erhaltung des Friedens ist. Natürlich waren Westeuropa und die Bundesrepublik auch auf den nuklearen Schutz durch die USA angewiesen. Die Luftwaffe hat auf diesem Gebiet durch ihren Beitrag zur nuklearen Teilhabe eine bedeutende Rolle gespielt. Aber auch unterhalb der nuklearen Schwelle wäre viel Raum für Provokation und Erpressung geblieben, hätten die Mitgliedstaaten der NATO nicht mit modernen konventionellen Waffensystemen und Fähigkeiten gegengehalten. Auch in diesem Spektrum war und ist die Luftwaffe ein Garant für Frieden in Freiheit. Heute befindet sich die Luftwaffe, wie die gesamte Bundeswehr, in einem tiefgreifenden Prozess der Neuausrichtung auf ein verändertes Aufgabenspektrum, das durch globale Einsätze und asymmetrische Bedrohungen charakterisiert ist. Die Luftwaffe wird diese Aufgaben erfolgreich bewältigen. Als Inspekteur der Luftwaffe danke ich dem Militärgeschichtlichen Forschungsamt, dass es sich aus wissenschaftlichem Interesse heraus erstmalig mit der Konzeptions- und Aufbauphase der Luftwaffe befasst hat. Gestützt auf bisher unveröffentlichte Quellen werden dem Leser analytische Erkenntnisse zu zentralen Rahmenbedingungen und Vorgaben des Entwicklungsprozesses der Luftwaffe geboten. Damit leistet diese Publikation auch einen wichtigen Beitrag zur Geschichte unserer Streitkräfte wie der Bundesrepublik Deutschland insgesamt. Weil die Luftwaffe nicht ohne die Menschen zu denken ist, die sie aufgebaut und in ihr gedient haben, freut es mich umso mehr, dass in diesem Buch auch Zeitzeugen etwas von der Atmosphäre vermitteln, an die sie sich aus ihrer Laufbahn in den verschiedenen Dienstteilbereichen erinnern. Allen Autoren danke ich sehr für ihre facettenreichen und gelungenen Beiträge. Ich wünsche dem Band eine gute Resonanz in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit und bin mir sicher, dass das hier dokumentierte Wissen auch einen Beitrag zur historisch-politischen Bildung innerhalb der Luftwaffe leistet sowie zur weiteren Formung des Teams Luftwaffe beiträgt.
Klaus-Peter Stieglitz Generalleutnant
Vorwort Als Verteidigungsminister Theodor Blank den ersten 101 Freiwilligen am 12. November 1955 ihre Ernennungsurkunden überreicht, war nach langem politischen Ringen der westdeutsche Verteidigungsbeitrag wieder ein Stück näher gerückt. Immerhin gab es jetzt erstmals westdeutsche Soldaten in Uniform. Zuvor schon waren mit dem Beitritt zur westlichen Allianz noch bestehende Souveränitätsbeschränkungen weitgehend gefallen. Die Bundesrepublik wurde handlungsfähig nach innen und außen. Sie fand Sicherheit durch Verteidigung im Bündnis. Noch aber hatte die Aufstellung von Verbänden nicht begonnen. Der Aufbau von Heer, Luftwaffe und Marine sollte erst 1956 einsetzen. Im Jubiläumsjahr der Bundeswehr 2005 hat das Militärgeschichtliche Forschungsamt mit seiner neuen Publikationsreihe »Sicherheitspolitik und Streitkräfte der Bundesrepublik Deutschland« begonnen, Studien zur Entwicklungsgeschichte der Bundeswehr vorzulegen. Eingebettet in die Rahmenbedingungen des Kalten Krieges, die Vorgaben der NATO sowie die politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten unseres Landes, konzentrieren sich die Folgeuntersuchungen nun in deren Jubiläumsjahr 2006 auf die Teilstreitkräfte. Innerhalb kurzer Zeit kann somit das im ersten Band der Reihe vorgestellte Zusammenspiel von bündnisstrategischen Vorgaben und nationaler Verteidigungsplanung auf der Ebene der faktischen Realisierung fortgesetzt werden. Mit dem Band »Die Luftwaffe. Konzeption, Aufbau und Integration einer Teilstreitkraft der Bundeswehr 1950 bis 1970« ist wissenschaftliches Neuland betreten worden. Dem Leitbild vom »Team Luftwaffe« gleichsam folgend, bündeln sich im Band die Forschungsleistungen mehrerer Autoren. Ich danke besonders dem Wissenschaftlichen Rat z.A. Dr. Bernd Lemke. Mit großem Engagement und in knapper Zeit hat er umfängliche, bislang unbearbeitete Quellen erschlossen. Wesentliche Erkenntnisse zur Geschichte der Luftwaffe stammen von ihm. Ebenso gilt mein aufrichtiger Dank Herrn Leitenden Wissenschaftlichen Direktor Dr. Bruno Thoß für seine Einführung in den militärhistorischen Gesamtzusammenhang. Dem Wissenschaftlichen Direktor Dr. Dieter Krüger, Oberstleutnant a.D. Heinz Rebhan und Oberstleutnant Dr. Wolfgang Schmidt danke ich besonders deshalb für ihre Beiträge, weil in ihnen das weitgespannte Beziehungsgeflecht des Luftwaffenaufbaus facetten- und kenntnisreich dargestellt wird. Major Hans-Peter Scheibe danke ich ebenfalls, hat er sich doch der mühevollen Aufgabe unterzogen, eine Chronologie zu erarbeiten, die bis an die unmittelbare Gegenwart heranreicht.
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Vorwort
Das Militärgeschichtliche Forschungsamt wäre indes schlecht beraten gewesen, wenn es sich im Hinblick auf den Erscheinungstermin dieser Publikation auf die Erforschung weitgehend struktureller Zusammenhänge beschränkt hätte. Es sind Menschen, die die Bundeswehr aufgebaut haben. Deshalb freut es mich besonders, dass sich die Generalleutnante a.D. Peter Klatte, Axel-Björn Kleppien, Siegfried Pacholke und Winfried Schwenke zusammen mit Oberst a.D. Hillrich von der Felsen bereit gefunden haben, sich ihrer Zeit in den jeweiligen Dienstteilbereichen zu erinnern und von ihrem Erleben zu berichten. Zeitzeuge ist auch General a.D. Eberhard Eimler. Kurzfristig vom Wissenschaftlichen Beirat des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes darum gebeten, hat er uns sein Wissen um die Vergangenheit der Luftwaffe als Gutachter für wesentliche Teile dieser Publikation spontan zur Verfügung gestellt. Ich danke ihm sehr für die fruchtbare und angenehme Zusammenarbeit. Die Schriftleitung des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes unter Dr. Arnim Lang übernahm mit Dr. Aleksandar-S. Vuletic (Koordination), Antje Lorenz (Textgestaltung), Maurice Woynoski (Bildlayout und Coverentwurf), Bernd Nogli, Sabrina Ghercsfeld, Margit Hefner und Harald Wolf (grafische Beigaben) sowie Marina Sandig (Bildrecherche) im Zusammenwirken mit der Lektorin Christa Gudzent, Potsdam, die Betreuung des Werkes bis zur Druckreife. Ihnen allen sowie Christian Kreuzer M.A. und dem Oldenbourg Wissenschaftsverlag, München, gilt mein aufrichtiger Dank für die gute Zusammenarbeit bei der Realisierung dieses Bandes. Sich der Geschichte der Luftwaffe in ihrer Anfangsphase zuzuwenden, liegt ein wissenschaftliches Erkenntnisinteresse zu Grunde. Das Wissen um die Vergangenheit mag aber auch die Angehörigen der Teilstreitkräfte selbst zu neuen Erkenntnissen führen und vielleicht auch das Handeln mit anleiten. Daher bin ich dem Inspekteur der Luftwaffe, Generalleutnant Klaus-Peter Stieglitz, für sein Grußwort außerordentlich dankbar.
Dr. Hans Ehlert Oberst und Amtschef des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes
Bruno Thoß Einführung Als am 12. November 1955 in der Bonner Ermekeilkaserne die ersten 101 Soldaten in einem für den Geschmack des Bundeskanzlers wenig feierlichen Akt1 ihre Ernennungsurkunden überreicht bekamen, wurde dies in der Presse als »Die Geburtsstunde der neuen Streitkräfte« herausgestellt 2 . In der Militärischen Abteilung des Verteidigungsministeriums sah man darin jedoch vorerst nur einen aus der Not geborenen Akt, mit dem an die immer besorgter nachfragende NATO endlich ein öffentliches Signal über den Beginn des angemahnten Streitkräfteaufbaus abgegeben werden sollte3. Durch den gewählten Tag, den 200. Geburtstag des preußischen Heeresreformers Gerhard von Scharnhorst, hatte man dies immerhin mit einem Zeichen für die eigene Reformorientierung verbinden können. Jetzt wie nach der Niederlage Preußens gegen Napoleon 1806 müsse es darum gehen, »aus den Trümmern des Alten wirklich etwas Neues wachsen [zu lassen], das unserer veränderten sozialen, politischen und geistigen Situation gerecht wird« 4 . Die neuen Streitkräfte sollten mithin von Anfang an nicht nur ihrem militärischen Auftrag gerecht werden, sondern anders als die Reichswehr der ersten deutschen Republik auch voll in den vorgegebenen Rahmen einer parlamentarischen Demokratie und ihrer pluralistischen Gesellschaftsordnung integriert werden. Aus Sicht des Leiters der Militärischen Abteilung, Generalleutnant Adolf Heusinger, blieb es aber dabei, dass nicht eine derartige »Schaunummer für die Presse«, sondern erst der Dienstbeginn in den Lehrkompanien des Heeres (Andernach), der Luftwaffe (Nörvenich) und der Marine (Wilhelmshaven) am 2. Januar 1956 als »Geburtsstunde neuer Wehrmacht anzusehen« [sie!] sei5. Die Absicht, den Aufbau der neuen Armee mit der Aufstellung ihrer Teilstreitkräfte einsetzen zu lassen, korrespondierte im Übrigen voll mit der Berechnung des Zeitbedarfs für den Abschluss des gesamten Aufrüstungsprozesses in der Bundesrepublik, für den man der NATO gegenüber nach entspre1 2 3
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Schreiben Adenauers an Blank, 17.11.1955, zit. nach Schwarz, Adenauer, Bd 2, S. 246. So die Überschrift eines Artikels in: Die Welt, 14.11.1955. Zu den Begleitumständen dieser Veranstaltung: Thoß, Allgemeine Wehrpflicht, S. 147-150. Rede Blanks und Antwort des dienstältesten Soldaten, GenLt a.D. Heusinger, 12.11.1955, BA-MA, BW 9/2527-121, Bl. 82-88. Tgb. der Militärischen Abteilung, 17.11.1955, ebd., BW 9/2527, Bl. 65.
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Bruno Thoß
chenden Zusagen des Bundeskanzlers Konrad Adenauer drei Jahre veranschlagt hatte. Auch bei SHAPE hatte man deshalb als Einstieg dazu den Jahresbeginn 1956 ins Auge gefasst, die Verfügbarkeit einsatzfähiger und der NATO assignierter deutscher Heeresverbände mithin auf 1959 angesetzt6. In Fontainebleau wie in Bonn verband sich damit die Erwartung, dass man erst dann auch wirklich an die Implementierung einer nach Osten an die Grenzen der Allianz vorgeschobenen Verteidigung (forward defense) gehen konnte, wenn die seit 1949 dafür angenommene Streitkräftelücke in Mitteleuropa über vollwertige deutsche Landstreitkräfte geschlossen war. Mit Bezug auf die Luft- und Seestreitkräfte des neuen deutschen Partners hatte man bei der NATO wie bei der politischen und militärischen Führung in Bonn von vornherein einen höheren Zeitansatz in Aussicht genommen7. Die daran anknüpfenden Forderungen nach einer verzugslosen Einleitung des Aufbaus einsatzfähiger Verbände im Rahmen ihrer Teilstreitkräfte dürfen indes nicht dahingehend missverstanden werden, als habe man sich in der künftigen Bundeswehrführung oder gar bei den für die Operationsplanung verantwortlichen NATO-Stäben einem Denken verschrieben, das einen künftigen europäischen Krieg in ein Nebeneinander von Kriegsszenarien zu Lande, in der Luft und zur See auseinanderfallen sah. Gerade die angelsächsisch geprägte und geführte nordatlantische Allianz wusste sich aus den Erfahrungen der Westalliierten in zwei Weltkriegen dem Grundsatz einer Gesamtkriegführung verpflichtet. SHAPE hatte dies im Übrigen für die angenommenen Hauptgefahrenzonen von Nordnorwegen über Mitteleuropa bis in den östlichen Mittelmeerraum auch bereits in die Planung eng miteinander verzahnter Operationen von Land-, Luft- und Seestreitkräften umgesetzt8. Das korrespondierte vollkommen mit den Vorstellungen führender deutscher Militärexperten seit ihrem ersten Gedankenaustausch im Eifelkloster Himmerod (3. bis 6. Oktober 1950). Sie sahen eines der wesentlichsten Mankos deutscher Kriegführung im Zweiten Weltkrieg darin, dass die militärischen Verantwortlichkeiten in der Wehrmachtführung mit Blick auf die Führungsabläufe und Einsatzräume letztlich nur über die Person des »Führers« Adolf Hitler koordiniert werden konnten. Im Gegensatz dazu war nunmehr schon in Friedenszeiten eine Spitzengliederung angedacht, bei der einem verantwortlichen »Inspekteur [...] alle dem >Deutschen Kontingent angehörenden Wehrmachtsteile unterstehen« sollten9. Ganz im Sinne einer insbesondere von der Führungsmacht USA geforderten ökonomischen wie militärischen Lastenteilung im Bündnis (burden sharing) konzentrierte sich die deutsche Operations- und Streitkräfteplanung dabei arbeitsteilig auf die erwartete große Land-Luft-Schlacht um das angenommene 6 7
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Zu den zeitlichen Aufbauplanungen im Amt Blank vgl. ΑWS, Bd 3, S. 632 f. (Beitrag Greiner). Das Problem der »Streitkräftelücke« ist eingehend beschrieben bei Thoß, NATO-Strategie, S. 17-38. Bedrohungsschwerpunkte der NATO und die in den entsprechenden Räumen geplanten 9 Schlachten sind bereits im Strategiepapier MC 14/1 vom 9.12.1952 festgelegt, abgedr. in: NATO Strategy Documents, S. 193-229. Rautenberg/Wiggershaus, Die Himmeroder Denkschrift (1985), S. 41.
Einführung
Hauptgefechtsfeld der Allianz in Mitteleuropa. Vorrangiges deutsches Interesse musste es von daher sein, durch den eigenen Streitkräftebeitrag so rasch wie möglich die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die NATO ihre Grundabsicht einer »forward defense« wahr machen und das Bündnisgebiet damit »so weit ostwärts wie möglich verteidigt werden« 10 konnte. Nur so mochte es möglich sein, der Bundesrepublik mittelfristig das Schicksal zu ersparen, im Rahmen einer bislang an der Rhein-Ijssel-Linie einsetzenden Verteidigung lediglich das vorgeschobene Schlachtfeld des Bündnisses mit all seinen verheerenden Folgen für Bevölkerung und Infrastruktur des eigenen Landes abgeben zu müssen. Bundeskanzler Adenauer brachte die nationalen Erwartungen in der entscheidenden Bundestagsdebatte um die Ratifizierung der Pariser Verträge im Februar 1955 noch einmal nachdrücklich auf den Punkt, dass »wir im Falle eines heißen Krieges zwischen Sowjetrussland und den Vereinigten Staaten das europäische Schlachtfeld [sind], und wenn wir in der Atlantikpaktorganisation sind, dann sind wir dieses Schlachtfeld nicht mehr«11. Entgegen solchen sehr optimistischen Annahmen würde freilich auch dann noch das westdeutsche Territorium von seiner wehrgeografischen Lage wie von seiner Truppendichte her die Hauptlast einer Kriegführung mit ihren erheblich gesteigerten Waffenwirkungen zu tragen haben. Solche totale Kriegführung hatte aber schon in der Endphase des zurückliegenden Weltkrieges ein herkömmliches Denken und Planen in den Kategorien von Front und Heimat obsolet gemacht. Das setzte auch dem Eigeninteresse der Teilstreitkräfte aus Sicht der in Himmerod tagenden Militärexperten von vornherein enge Grenzen; erzwang die Vertretung nationaler Interessen in der Bündnisverteidigung wie die Notstandsvorsorge im Bundesstaat doch von Anfang an gebieterisch eine Einbettung aller Anstrengungen zur militärischen wie zivilen Verteidigung in den Rahmen einer »Gesamtverteidigung« 12 . Hinzu kamen die Ansichten der in der künftigen Bundeswehrführung dominierenden Heeresoffiziere, die aus ihren spezifischen Ostkriegserfahrungen eigene operative Vorstellungen in die gemeinsame Bündnisplanung einzubringen gedachten. Danach waren in einem Krieg gegen die Sowjetunion die größten Erfolgsaussichten »in beweglicher Kampfführung« zu erwarten 13 . Folgte man diesen Vorstellungen, dann erhielt die angestrebte Gesamtstreitkräftelösung auch rein militärisch-operativ zusätzliches Gewicht. Aus solcher Einschätzung einer mit absoluter Priorität geforderten Vorneverteidigung des eigenen Territoriums im Zusammenwirken mit den ostwärts des Rheins stationierten Kontingenten der NATO-Partner leitete sich in der Himmeroder Denkschrift ein dezidiert landkriegsorientiertes Kriegsbild und ein darauf abgestimmtes 10 11
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Ebd., S. 39. 70. Sitzung, 25.2.1955, Verhandlungen des Deutschen Bundestages, Bd 23, S. 3736; zu den dt. Sorgen um ein »Schlachtfeld« Westdeutschland allgemein: Maier, The Federal Republic, und Thoß, Deterrence. Rautenberg/Wiggershaus, Die Himmeroder Denkschrift (1985), S. 39. Ebd., S. 39 und 40; vgl. dazu auch Buchholz, Strategische und militärpolitische Diskussionen, und Gablik, Strategische Planungen.
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Bruno Thoß
Streitkräfteprofil für ein künftiges westdeutsches Kontingent ab. Eng angelehnt an ein für den Bewegungskrieg als besonders geeignet angesehenes panzerstarkes Heer waren dazu Luftstreitkräfte angedacht, die wesentlich der unmittelbaren Kampfunterstützung in der erwarteten großen Landschlacht um Mitteleuropa dienen und deshalb hauptsächlich aus »Heeres-Fliegerverbänden« bestehen sollten. Ähnlich zurückhaltend nahmen sich die Überlegungen für die eigenen Seestreitkräfte aus, denen vorrangig die Unterbindung des »russischen Nachschubverkehrs in der Ostsee«, ein »Minenfreihalten von eigenen Nachschubwegen und Verkehrswegen« sowie ein Flankenschutz »des eigenen an das Meer angelehnten Heeresflügels gegen Beschießungen und überflügelnde Landungen« von See her zufallen sollte. Dagegen erschien ganz im Sinne der im Bündnis geforderten Arbeitsteilung zu diesem frühen Zeitpunkt »eine Übernahme der Luftverteidigung des Luftraumes der Bundesrepublik ohne technische Schwierigkeiten durch die Westmächte möglich«, wie man auch die Verantwortung für eine weiträumige Sicherung der lebensnotwendigen Atlantikrouten bei den angelsächsischen Seemächten verortete14. Diese Vorüberlegungen trafen sich zunächst vollkommen mit den Forderungen der Westmächte bei den EVG-Verhandlungen von 1951/52 wie bei den Beitrittsverhandlungen zu NATO und WEU im Herbst 1954. Im Bündnisrahmen - sei es in einer Europa-Armee oder als NATO-Kontingent - ließ sich das Interesse der künftigen Partner an einem westdeutschen Streitkräftebeitrag nämlich auf die doppelte Formel bringen: Sicherheit mit Deutschland bei gleichzeitiger Sicherheit vor Deutschland. Einerseits sollten deutsche Verbände so zügig und effizient wie möglich die ausgemachte Streitkräftelücke in Mitteleuropa schließen, dabei aber nach personellem Umfang, weitreichender Bewaffnung und operativen Eigenspielräumen unter strikter Bündniskontrolle gehalten werden. Auf der Frühjahrskonferenz der Allianz in Lissabon 1952 hatte man dazu noch den Aufbau von NATO-Verbänden in einem Umfang angesteuert, der gegenüber den Armeen des Ostblocks gleichwertig sein sollte und in den deshalb insbesondere die zwölf in Aussicht genommenen deutschen Heeresdivisionen fest eingeplant waren. Dieses umfassende Aufrüstungsprogramm ließ sich indes in den westeuropäischen NATO-Staaten nicht umsetzen, sodass man bereits ab 1953 eine Strategiereform einleiten musste. Da sich herkömmliche Streitkräfte nach Zahl und Einsatzwert nicht im geforderten Umfang realisieren ließen, wollte man dies durch überlegene nukleare Feuerwirkung aufwiegen und dazu taktisch-atomare Gefechtsfeldwaffen bis in die operativen Verbände der NATO hinein integrieren. Diese Nuklearisierung der Bündnisstrategie seit 1953/54 löste allerdings sofort auch in Westeuropa eine in den USA bereits voll im Gange befindliche Debatte zwischen den Teilstreitkräften über die ausschlaggebende Waffe in einem künftigen Krieg aus15.
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Zu »Umfang, Art und Bewaffnung der Verbände des Deutschen Kontingents« vgl. Rautenberg/Wiggershaus, Die Himmeroder Denkschrift (1985), S. 42-49. Vgl. dazu Greiner/Maier/Rebhan, Die NATO, S. 65-101.
Einführung
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In solcher Perspektive einer wesentlich großräumigeren und vor allem vom frühzeitigen Einsatz des eigenen Atompotenzials abhängigen Verteidigungsplanung der Allianz gewannen die Teilstreitkräfte damit wieder erheblich an Gewicht. Im Grundsatz blieb zwar auch weiterhin auf der Bündnisebene wie innerhalb der Bundeswehrführung die Orientierung an einer Gesamtkriegführung unstrittig. Gerade die atomare Schwerpunktsetzung in der ab 1955 implementierten Strategie der »massive retaliation« verschärfte aber in allen NATOStaaten die Konkurrenz der Teilstreitkräfte um eine Neuverteilung der finanziellen Ressourcen, abgeleitet von ihrem Rollenverständnis in der Abschreckungsstrategie wie in einem möglichen Krieg der Zukunft. Angelsächsisches Denken in den Kategorien weiträumiger See- und Luftoperationen musste dazu abgeglichen werden mit den Forderungen der Westeuropäer, die sich am absoluten Vorrang der Territoriumsverteidigung auf dem europäischen Kontinent orientierten. Die Diskrepanzen darüber fielen naturgemäß gegenüber dem neuen deutschen Partner besonders groß aus, da hier die Forderung nach unbedingter Vorneverteidigung zusammentraf mit dessen Vorstellungen von beweglicher Operationsführung. Wenn daher die künftige Bundeswehrführung die NATO-Verteidigung auch weiterhin in einer großen Land-Luft-Schlacht um Mitteleuropa gipfeln sah, dann konnte und musste man demgegenüber aus der Sicht der angelsächsischen Führungsmächte zu Lande durchaus zeitweilig Raum aufgeben, weil man die Entscheidung in den eigenen strategischen Gegenoffensiven in der Tiefe der gegnerischen Territorien zu suchen gedachte16. Durchsetzen musste sich zwangsläufig die angelsächsische Perspektive, da sie nicht nur auf den ausschlaggebenden nuklearen Mitteln im Krieg der Zukunft aufbaute, sondern ihre Einschätzungen über die bei SHAPE konzentrierte operative Planung und Führung auch in entsprechende Vorgaben für die Bündnisverteidigung umsetzen konnte. Für die aufwachsenden deutschen Verbände bedeutete dies, dass sie zwar als Gesamtkontingent in das NATOKommando Europa-Mitte (Allied Forces Central Europe, AFCENT) eingegliedert, ihre Land-, Luft- und Seestreitkräfte aber in der Operationsplanung wie im Einsatzfall nicht mehr auf nationaler Ebene koordiniert, sondern ihre spezifischen Rollenzuweisungen erst auf der Unterebene der nach Teilstreitkräften organisierten Subkommandos von AFCENT für dessen Land-, Luft- und Seestreitkräfte (LANDCENT, AIRCENT und NAVCENT) erhalten würden. Bei aller grundsätzlichen Ausrichtung am Prinzip der Gesamtverteidigung empfingen die aufwachsenden Teilstreitkräfte der Bundeswehr mithin ihre entscheidenden Impulse für Aufbau, Gliederung und Bewaffnung letztlich aus den Besonderheiten ihrer spezifischen Einsatzprofile. Diese gegenläufigen Tendenzen einer Grundorientierung an den Prinzipien einer aufeinander abgestimmten Gesamtkriegführung bei gleichzeitiger Ausdifferenzierung in gesonderte Einsatzszenarien unter atomaren Bedingungen bündelten sich beim Aufbau der Das Aufeinanderprallen angelsächsischer und kontinentaleuropäischer Vorstellungen ist eingehend analysiert bei Wampler, Ambiguous Legacy, und Greiner/Maier/Rebhan, Die NATO, und bei Thoß, NATO-Strategie.
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Bruno Thoß
Bundeswehr mit den Eigeninteressen der beiden kleineren Teilstreitkräfte. Die Marine hatte sich seit ihrem forcierten Aufbau im Kaiserreich durchgängig als eigenständige Streitmacht verstanden und entwickelt, die Luftwaffe strebte Ahnliches vor und während des Zweiten Weltkrieges ebenfalls an. Das sollte auch auf die Bundeswehr ausstrahlen als fortdauerndes Spannungsverhältnis zwischen prinzipiell akzeptierter gemeinsamer Verteidigungsplanung im nationalen wie im Bündnisrahmen bei gleichzeitigem und durch die Integration in die N A T O sogar noch verstärktem Bestreben nach angemessener Eigenständigkeit. Diese Mischung aus geforderter Gesamtplanung für die Bundeswehr bei weiterwirkendem Eigeninteresse der Teilstreitkräfte durchzieht die gesamte Geschichte der Streitkräfte, zusätzlich verschärft durch das Ringen um entsprechende Anteile an den zur Verteilung stehenden personellen wie materiellen Ressourcen. Sie spiegelt sich auch wider im Auftrag des Stellvertreters des Generalinspekteurs, Vizeadmiral Hans Frank, an das Militärgeschichtliche Forschungsamt von 1998, vorausschauend auf das Jubiläumsjahr der Bundeswehr 2005 neben der Erforschung der Gesamtstreitkräfte nunmehr zusätzlich Konzeption und Aufbau von Heer, Luftwaffe und Marine in den Blick zu nehmen. Realisiert werden sollte dazu eine auf die Teilstreitkräfte ausgedehnte Forschung zur Militärgeschichte der Bundesrepublik in enger Vernetzung mit den darüber angesiedelten Vorgaben aus dem Bündnis wie aus den nationalen Rahmenbedingungen des Bundeswehraufbaus allgemein. Die Geschichten der Teilstreitkräfte verstehen sich danach als integrale Bestandteile der Bundeswehrgeschichte. In diesem Rahmen stellen Heer, Luftwaffe und Marine auftragsorientierte abgeleitete Teilelemente einer übergeordneten Bundeswehrplanung dar. Dabei konkretisiert sich erst auf dieser Ebene der Umsetzung von der Planung zur Realisierung der Gesamtauftrag wirklich über die Verfügbarkeit von militärischen Verbänden in Zugehörigkeit zur jeweiligen Teilstreitkraft. In so verstandener Geschichte von Teilstreitkräften liegen die Schwerpunkte auf vier konstitutiven Untersuchungsfeldern. Da ist an erster Stelle ihr spezifischer Auftrag zu nennen, der sich aus der strategischen Grundkonzeption des Bündnisses und ihrer nationalen Umsetzung im Rahmen des Streitkräfteaufbaus ergibt. In ihn fließen die Besonderheiten aus einem je eigenständigen Denken in den Kategorien des Land-, Luft- und Seekrieges ein. Angemessen zu berücksichtigen sind zudem die spezifischen Herausforderungen aus der Revolutionierung der Waffentechnik, wie sie aus der Nuklearisierung der Bündnisstrategie - wenn auch in unterschiedlicher Intensität - auf alle Ebenen des Streitkräfteaufbaus durchschlug. Abgeleitet aus einer Analyse des Auftrages erschließen sich zweitens die Vorgaben für die Organisation und Dislozierung der Verbände einschließlich ihrer erforderlichen Infrastrukturen im nationalen wie im Bündnisrahmen. Die Planung der Verbände auf der Basis ihrer spezifischen Einsatzgrundsätze, ihrer Bewaffnung und ihres Einsatzraumes nimmt im Anschluss daran Gestalt an im Prozess der personellen und materiellen Rüstung. Darin fließen alle Maßnahmen zu Personalplanung und -bewirtschaftung ebenso ein wie Rüstungsentwicklung, Ausrüstung und Logistik. Aus der histori-
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sehen Entwicklung von Land-, Luft- und Seestreitkräften ragen schließlich die fortdauernden Ausprägungen eines Sonderbewusstseins bis in die Erziehung, die Ausbildung und den Dienstalltag hinein. Zusammen mit den Spezifika ihres Kriegsdenkens und ihrer Auftragslage sowie deren personeller wie materieller Umsetzung bildet sich davon abgeleitet ein spezifischer Geist und Habitus in den Teilstreitkräften aus. Die Möglichkeiten zur Realisierung eines derart umfassenden Ansatzes hatten sich an der Terminvorgabe einer Publikation zum 50-jährigen Bestehen der Teilstreitkräfte, an der weiteren Auftragslage des Militärgeschichtlichen Forschungsamts und vor allem an der Zugänglichkeit der benötigten Quellen auszurichten. Die wesentlichste Herausforderung lag dabei in der Auswertung der umfangreichen Aktenbestände aus dem Bundesarchiv-Militärarchiv in Freiburg, die bislang nur zum geringsten Teil archivisch erschlossen waren und deshalb erst einmal unter hohem Zeitdruck einer Erstauswertung unterzogen werden mussten. Vor diesem Hintergrund waren konzeptionelle Kompromisse im Sinne einer Auswahl und einer thematischen Konzentration erforderlich, mit der zwar nicht letzte thematische Vollständigkeit zu erreichen war, die sich dafür aber an den eindeutigen Schwerpunktproblemen beim Aufbau der Bundeswehr ausrichtete. Unter diesen Voraussetzungen stellen die vorgelegten Bände in ihrer Quellendichte und in ihrer Differenziertheit die bislang ersten und wohl auf absehbare Zeit fundiertesten wissenschaftlichen Analysen zur Aufbauphase der drei Teilstreitkräfte dar. Mit Blick auf die Quellenlage wurde der behandelte Zeitraum chronologisch eingegrenzt auf die bereits historisierbare Konzeptions- und Aufbauphase von Heer, Luftwaffe und Marine. Darunter sind die zwei Jahrzehnte von den ersten Planungsvorstellungen in der Himmeroder Denkschrift von 1950 bis zum Abschluss der Aufstellung von Einsatzverbänden zu verstehen, je nach Teilstreitkraft zeitlich voneinander abweichend bis an die Wende von den 60er zu den 70er Jahren. Die dafür gewählte Festlegung der thematischen Schwerpunkte bei Konzeption, Aufbau und Gliederung jeder der drei Teilstreitkräfte ergibt sich aus der Dominanz dieser Fragen in den Planungs- und Aufbaujahren der Bundeswehr. Eingebettet in die beiden Hochphasen des Kalten Krieges - von der Berliner Blockade 1948 bis zu Stalins Tod 1953 und vom sowjetischen BerlinUltimatum 1958 bis zur Kubakrise 1962 - standen das atlantische Bündnis wie sein neues westdeutsches Mitglied durchgängig unter dem Eindruck einer Bedrohungsperzeption, die den Kalten Krieg jederzeit zum »heißen« umschlagen lassen konnte17. Die Forderung nach voller Einsatzfähigkeit und schneller Schließung der Streitkräftelücke in Mitteleuropa als Voraussetzungen für eine Vorneverteidigung des deutschen Territoriums ließen deshalb in diesem frühen Zeitraum der Bundeswehrgeschichte die gewählten Untersuchungsfelder Konzeption und Aufbau von militärischen Verbänden bei der politischen und militärischen Führung im Bündnis wie in der Bundesrepublik absolute Priorität Die Strukturen dieser Bedrohung sind eingehend analysiert von Schmidt, in: Mastny/ Schmidt, Konfrontationsmuster, S. 1-380.
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genießen. Das mindert nicht den Stellenwert der übrigen Fragestellungen zum personellen und materiellen Aufbau wie zum Selbstverständnis der Soldaten innerhalb ihrer Teilstreitkräfte, die in künftiger Forschung noch zu vertiefen sein werden. Dazu leisten schon jetzt die parallel erarbeiteten Studien zur militärischen Infrastruktur, zur Inneren Führung und zum Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages auf der Ebene der Gesamtstreitkräfte gerade auch für die Aufklärung über die Probleme und Lösungsansätze in den Teilstreitkräften ganz erhebliche Vorarbeit18. Das Verständnis für und die Entwicklung von Luftstreitkräften machen einen Rückblick in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts notwendig, als sich der Prozess der Industrialisierung voll auf die technologische Modernisierung von Streitkräften mit ihren Folgen für eine zunehmend totalere Kriegführung auszuwirken begann. Ein damit verbundenes großräumigeres Kriegsdenken rückte schon an der Jahrhundertwende auch die dritte Dimension, den Luftraum, in das Blickfeld militärischer Planung. Vorreiter dafür waren zunächst noch Verfasser von Zukunftsromanen, die sich mit der Doppelnatur moderner Technik als förderndes Element des Fortschritts und als sein dämonischer Begleiter gleichermaßen auseinander setzten19. Für die militärischen Denker eröffneten sich dagegen aus dem Eindringen moderner Technik in den Luftraum Möglichkeiten für eine neue Art indirekter Kriegführung (indirect approach), die nicht mehr nur die gegnerischen Streitkräfte in direkter Konfrontation, sondern deren industrielle Ressourcen wie auch die Zivilbevölkerung in den Blick nahmen. Noch bevor die nach Reichweite und Entwicklung begrenzten Luftkriegsmittel dafür die technologischen Voraussetzungen bereitstellen konnten, zeigten sich bereits im Ersten Weltkrieg aus solcher Perspektive erste Ansätze zu einer Operationsführung in den Kategorien eines strategischen Luftkrieges, etwa gegen London, Paris und das westdeutsche Industrierevier, die vor allem in Großbritannien in der konsequenten Forderung nach eigenständigen Luftstreitkräften gipfelten. Eng damit verbunden war die davon untrennbare Komponente von Luftverteidigung in und über den bedrohten Räumen als Gegenmittel. Die vorhandene Technologie grenzte solches vorausschauende Denken im Ersten Weltkrieg allerdings zunächst noch erheblich ein auf eine vorrangig unterstützende Rolle für die nach wie vor dominierenden Landstreitkräfte20. Zwischen den beiden Weltkriegen führte die Auswertung der Kriegserfahrungen unter dem Eindruck der gesellschaftlich inakzeptablen Massenverluste bei den Befürwortern moderner Luftstreitkräfte zu der einvernehmlichen Forderung nach einem Herauslösen aus der bisherigen Abhängigkeit von den Landstreitkräften. Großbritannien hatte diesen Schritt als erste Nation bereits 1917 mit der Gründung der Royal Air Force vollzogen. Im Unterschied zu her18
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Zur Publikation vorbereitet für 2006 werden dazu derzeit im MGFA die Bde von Nägler, Die personelle Rüstung; Schlaffer, Der Wehrbeauftragte; Schmidt, Integration und Wandel. Beispiele dafür: Martin, Berlin - Bagdad, und Wells, The War in the Air. Zum Luftkrieg 1914-1918: Kennett, The First Air War, und Morrow, The Great War in the Air.
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kömmlicher Kriegführung lag der Vorzug von unabhängigen Luftstreitkräften in der Möglichkeit zu schneller Schwerpunktbildung in wesentlich ausgeweiteter räumlicher Dimension. Von daher richtete sich die Entwicklung bei den angelsächsischen Luftmächten bereits vor dem Zweiten Weltkrieg zunehmend am strategischen Luftkrieg aus, verbunden mit einer entsprechend auszubauenden Verteidigung des eigenen Luftraumes. Mit seinem Denken in den Kategorien von »Luftherrschaft« als ausschlaggebendem Mittel zum militärischen Sieg verstand sich der italienische General Giulio Douhet (1869-1930) als Protagonist solcher Revolutionierung künftiger Kriegführung als »Raumkrieg«, selbst wenn er die Wirkungen des favorisierten Bombenkriegs erheblich überschätzte. In seinen Augen waren Flugzeuge wegen ihrer Eindringtiefe die ideale Angriffswaffe, deren massenhafter Einsatz im Flächenbombardement die Moral der Zivilbevölkerung beim Gegner erheblich schneller zusammenbrechen lassen würde als der zeit- und kräfteraubende Versuch zur Vernichtung seiner Streitkräfte in herkömmlicher Gefechtsführung 21 . Die messbaren Auswirkungen des Bombenkriegs im Zweiten Weltkrieg auf die Kriegsmoral und Durchhaltefähigkeit moderner Massengesellschaften sollten so weit gesteckte Erwartungen zwar nicht erfüllen. Mit der Verfügbarkeit von Atomwaffen als totale Waffen würden die Diskussionen über Luftstreitkräfte als ausschlaggebende Streitmacht im Zukunftskrieg aber nach 1945 zusätzlich an Gewicht gewinnen 22 . Die Entwicklung der deutschen Luftwaffe vor und im Zweiten Weltkrieg schloss sich gedanklich an die im angelsächsischen Denken weit vorangebrachte Option unabhängiger und zum strategischen Luftkrieg befähigter Luftstreitkräfte an, selbst wenn dies mit Blick auf die Hitlersche Forderung nach schneller Kriegsbereitschaft rüstungsmäßig nie wirksam umzusetzen war. So sollte denn auch im Zweiten Weltkrieg der Hauptbeitrag deutscher Luftstreitkräfte auf ihrer unterstützenden Rolle für Belange des Bewegungskrieges an den Landfronten ruhen. In der zweiten Kriegshälfte würde die strategische Dimension des modernen Luftkrieges freilich mit den Bomberoffensiven der Alliierten und dem davon erzwungenen Erfordernis der Luftverteidigung über dem europäischen Kontinent, schließlich zurückgedrängt auf den Luftraum über dem Reich, nachhaltig auf die deutsche Luftwaffe zurückschlagen 23 . Es waren vor allem diese Erfahrungen aus dem Bombenkrieg mit einem nie zu schließenden »Dach über Deutschland«, die sich nach 1945 auch der Aufbaugeneration neuer deutscher Luftstreitkräfte als eine Hauptherausforderung darstellten. Die zunächst vorrangig geplante Heimatluftverteidigung aus den Komponenten boden- und luftgestützter Abwehrsysteme stieß indes so schnell an ihre nationalen Grenzen, dass die deutsche Luftwaffenführung frühzeitig und durchgängig zur Vertreterin einer integrierten Luftverteidigung im Bündnis wurde. 21
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Vgl. dazu sein Hauptwerk: Douhet, Die Vorherrschaft; eine konzentrierte Übersicht über sein Denken bietet Wallach, Kriegstheorien, S. 328-342. Vgl. dazu die Auswertung des Strategie Bombing Survey durch die U.S. Air Force und ihre daraus gezogenen Folgerungen bei Gentile, A-Bombs. Wichtigste Standardliteratur zur Luftwaffe 1933-1945: Boog, Die deutsche Luftwaffenführung; Luftkriegführung im Zweiten Weltkrieg; Corum, The Luftwaffe.
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Dabei waren die neuen deutschen Luftstreitkräfte von allen Teilstreitkräften am unmittelbarsten von den veränderten Rahmenbedingungen betroffen, die sich aus der seit 1953 eingeleiteten Nuklearisierung der Bündnisstrategie ergaben. Deshalb werden dem Hauptbeitrag über Konzeption und Aufbau zwei strategische Einführungen vorangestellt. Bernd Lemke konzentriert sich zunächst auf die Grundzüge der massiven Vergeltungsstrategie (massive retaliation), die mit ihrer Ausweitung des Einsatzes von Atomwaffen aus ihrer ursprünglich strategischen Rolle zu unmittelbaren taktischen Gefechtsfeldwaffen sehr schnell auch die deutsche Luftwaffe zu anteiliger Umrüstung zwingen sollte. Da sich herkömmliche Territoriumsverteidigung mit den begrenzten konventionellen Mitteln der NATO nicht mehr wirksam realisieren ließ, erwies sich ein von der Bundeswehrführung anfangs bevorzugtes enges Zusammenwirken von Heer und Luftwaffe (close air support) schnell als mit den im Bündnis dominierenden angelsächsischen Vorstellungen über den Luftkrieg zunächst unvereinbar. Ab 1957 sahen sich daher auch die deutschen Luftstreitkräfte voll in die taktisch-atomare Verteidigungsplanung der Allianz integriert. Damit verbunden war ein klarer Bedeutungszuwachs gegenüber dem Heer, da die Luftwaffe nunmehr zumindest zeitweilig als die Hauptträgerin einer Kriegführung erschien, die mit Vorrang auf Kriegsverhinderung durch Abschreckung baute, bei deren Scheitern aber auch auf den umfassenden Einsatz taktischer Atomwaffen ausgelegt war. Daraus leiteten sich komplexe Herausforderungen ab, die den Aufbau der Luftwaffe in ihren ersten Aufbaujahren insbesondere auf den Gebieten der Organisation, Technik, Logistik und Ausbildung maßgeblich bestimmen sollten. Stärker als auf die anderen Teilstreitkräfte würde sich deshalb in den 60er Jahren für die Luftwaffe auch der Strategiewechsel zur »flexible response« auswirken, weil er ihr in die angelaufene Ausstattung mit atomfähigen Trägersystemen hinein eine erneute Umrüstung abverlangte, die sie wieder enger auf eine unterstützende Rolle im konventionellen Krieg festzulegen suchte. Dazu wendet sich Dieter Krüger zunächst der Kritik der 1961 in die Verantwortung gelangten Kennedy-Administration am nuklearen Automatismus zu, der auf dem Höhepunkt der Vergeltungsstrategie die politisch-militärischen Handlungsoptionen der NATO und damit auch der USA dominiert hatte. Im Gegensatz dazu nahmen der neue US-Verteidigungsminister Robert McNamara und seine vorwiegend akademischen Strategieanalytiker begrenzte Konfliktszenarien als die wahrscheinlichste Bedrohung in Gegenwart und Zukunft an, denen man zweckmäßig mit abgestuften Verteidigungsoptionen von der rein konventionellen Abwehr über die taktisch-atomare Eskalation bis zum totalen Atomkrieg begegnen wollte. Für die Deutschen drohte sich damit allerdings ihr strategisches Dilemma zu erhöhen, dass sich ihr Territorium mit Blick auf die begrenzten konventionellen Mittel der NATO letztlich nicht ohne den frühzeitigen Einsatz taktischer Atomwaffen verteidigen ließ, der andererseits unannehmbare und nachhaltige Verwüstungen im eigenen Lande nach sich ziehen musste. Mit der Durchsetzung der Strategiereform nach ihrer jahrelangen Blockade durch den 1966 aus der Militärorganisation ausscheidenden Partner
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Frankreich wurde schließlich ab 1967/68 die Umstellung der Luftwaffe und ihres vorerst noch ausschlaggebenden Einsatzmittels, des Starfighter F-104 G, auf eine Doppelrolle im konventionellen wie taktisch-atomaren Krieg (dual use) unausweichlich. Im Hauptkapitel, das der Analyse von Konzeption und Aufbau neuer deutscher Luftstreitkräfte nachgeht, setzt sich Bernd Lemke vor allem ein zentrales methodisches Ziel: einer für die Funktionsfähigkeit dieser Teilstreitkraft unabdingbaren Verknüpfung der strategischen Vorgaben mit der dazu erforderlichen Luftkriegstechnik einschließlich ihrer Logistik und Elektronik sowie dem zweckmäßigen Zusammenwirken der genannten Faktoren über angemessene Organisationsstrukturen. Dabei ließ sich die Luftwaffe als das dynamischste Element moderner Verteidigungsplanung und Kriegführung im Jet- und Raketenzeitalter nicht mehr in nationalen Kategorien planen und einsetzen, weil ihre Einsatzräume von vornherein »grenzüberschreitend« auszulegen waren, ihre Einsatzmittel mithin nur noch auf Bündnisebene koordiniert und geführt werden konnten. Die Abhängigkeit von modernster Technik richtete diese Teilstreitkraft in ihrer Binnenorganisation zudem auf engstes Ineinandergreifen von Einsatzkräften mit ihren technischen und logistischen Unterstützungskomponenten aus. Die Spitzentechnologie ihrer fliegenden Verbände wie ihrer Raketentruppen und die Größenordnungen ihrer Beschaffungsprogramme setzten sie im Vergleich zu den anderen Teilstreitkräften aber auch einer weit höheren öffentlichen Aufmerksamkeit aus, machten also die Wechselbeziehungen von Luftwaffe und öffentlicher Meinung zu einem ausschlaggebenden Faktor ihrer Positionierung gegenüber der Politik wie in der Konkurrenz zu Heer und Marine. Die Störanfälligkeit ihrer Technik, aber auch die von ihr ausgehenden Umweltbelastungen stellten sie freilich ebenso schnell in die öffentliche Kritik, so dass sich ihre internen Probleme immer wieder krisenhaft zuspitzten. Modernität ihrer Waffen und Einsatzmittel forderten den Angehörigen der Luftwaffe daher eine adäquate Bereitschaft und Fähigkeit zum Umgang mit Politik und Medien ab. Bei alledem begann die Luftwaffenführung jedoch weder bei ihren konzeptionellen Vorüberlegungen ab 1950 noch bei deren Umsetzung in Aufbauvorhaben ab 1955 an einem Nullpunkt. Natürlich hatte sie die lange Pause zwischen 1945 und 1955 technologisch weit ins Hintertreffen gelangen lassen und machte sie deshalb in der Aufbauphase in erhöhtem Maße von amerikanischer Expertise und materieller Unterstützung abhängig. Der Autor kann jedoch auch aufzeigen, wie prägend dabei zumindest für ihre Aufbaugeneration Rückgriffe in die eigenen Luftkriegserfahrungen während des Zweiten Weltkrieges blieben. Erst aus der Verbindung dieser komplexen Wechseleinflüsse eigener Erfahrungen, bündnisstrategischer Vorgaben und Abhängigkeiten vom technisch am weitesten fortgeschrittenen Partner in der US Air Force kann ein hinreichend trennscharfes Bild von Aufbaufortschritten und Rückschlägen der deutschen Luftwaffe ab 1955 entwickelt werden. Anders als ihre Vorgängerin in der NS-Zeit sah sich die neue Luftwaffe allerdings schon bei ihren konzeptionellen Vorüberlegungen ab 1950 vor das
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Dilemma gestellt, mit Blick auf das vorrangige Ziel der Kriegsverhinderung in erster Linie einer Strategie der Abschreckung verpflichtet zu sein, bei deren Scheitern aber in weit über alle historischen Erfahrungen hinausreichender Perspektive totaler Kriegführung handeln zu müssen. Es nimmt daher auch nicht wunder, dass sich die Luftwaffe nach der Entscheidung für ihre volle Integration in die atomaren Strike-Verbände der westlichen Allianz zeitweilig am weitesten von allen Teilstreitkräften aus den Vorstellungen herkömmlicher Einsatzplanung und Kriegführung löste und insbesondere ihre Führung an der Seite des verantwortlichen Verteidigungsministers Franz Josef Strauß (1956-1963) zur Vertreterin einer reinen Abschreckungsdoktrin wurde. Erst die seit Anfang der 60er Jahre von den USA schrittweise in der Allianz durchgesetzte Strategiereform mit ihrer partiellen Denuklearisierung brachte sie mit der jetzt wieder geforderten Befähigung zur atomaren und konventionellen Doppelrolle erneut näher an kombinierte Einsatzplanungen mit Heer und Marine heran. Dabei blieb sie aber auch danach und bis heute von ihren Einsatzoptionen wie von ihren Luftkriegsmitteln her ein besonders dynamisches Element im Rahmen moderner Streitkräfte. In der Frage einer effizienten Luftverteidigung unter atomaren Bedingungen - das zeigt der Beitrag von Dieter Krüger nachdrücklich - war die deutsche Luftwaffenführung frühzeitig eine Vertreterin voller Integration im Bündnis, wie sie bei SHAPE von 1951 bis 1953 als dringendes Desiderat erkannt und ab 1954/55 in die Form integrierter Kommandoorganisationen umzusetzen versucht wurde. Dabei musste sich der NATO-Oberbefehlshaber freilich noch über Jahre mit der Rolle eines Koordinators ohne ausreichende Befehlsbefugnisse begnügen. Zu stark erwies sich die Abneigung der größeren europäischen Luftmächte Großbritannien und Frankreich gegen ein vollständiges Herauslösen ihrer Luftverteidigungsverbände aus nationaler Einsatzführung. Erst 1960 gelang die Verabschiedung des erforderlichen NATO-Dokuments MC 54/1, wonach der SACEUR schon im Frieden den Oberbefehl über die ΝΑΊΌLuftverteidigung übernahm, sie allerdings an nachgeordnete Kommandostäbe delegierte. Mit Blick auf Frankreich musste man sich indes auf eine PseudoIntegration einlassen, bei der nur die in Ostfrankreich stationierten Verbände in die 4. ATAF integriert wurden, die Masse der französischen Verbände dagegen als Heimatluftverteidigung in nationaler Verfügung verblieben. Auf dieser Basis konnte in Westdeutschland immerhin in den 60er Jahren ein durchlaufender Abwehrgürtel von FlaRak-Verbänden mit integrierter Radaraufklärung aufgebaut werden. Deutsches Interesse'machte sich dabei vor allem an der Frage einer gemeinsamen Finanzierung des dafür erforderlichen Führungssystems NADGE geltend, um die Kosten dafür anteilig auf die Teilnehmerstaaten umlegen zu können. Zentrale Probleme blieben durchgängig in den 60er Jahren die wachsende Bedrohung durch ballistische Raketen des Gegners und die schwer zu ortenden Gefahren, die von Tieffliegern ausgingen, da es gegen beide Bedrohungen nur begrenzte Abwehrmittel gab. Mit seiner Frage nach dem Grad der »Amerikanisierung« der Luftwaffe greift Wolfgang Schmidt ein Thema in vertiefender Perspektive nochmals auf,
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das bereits im Hauptbeitrag angerissen wurde. Ausgehend von dem Faktum, dass die deutsche Luftwaffe als integraler Bestandteil der NATO-Luftverteidigung ausschließlich mit amerikanischem Gerät ausgestattet, nach den Richtlinien der US Air Force ausgebildet und nach deren Luftkriegsprinzipien eingesetzt werden sollte, wird vor allem drei leitenden Fragestellungen nachgegangen: 1. Haben solche ausbildungs- und einsatzmäßigen Abhängigkeiten tiefer greifende Veränderungen nach sich gezogen? 2. Falls ja, blieben diese auf den Bereich einer militärisch-funktionalen Modernisierung begrenzt oder stießen sie einen darüber hinaus reichenden Wandel innerhalb des deutschen militärischen Milieus an? 3. Wie wirkungsmächtig war die so verstandene »Amerikanisierung« in einer Teilgruppe des neuen deutschen Militärs, die sich besonders nachdrücklich als professionelle Funktionselite verstand? Im Ergebnis wird eine grundlegende Umorientierung in der Luftwaffe konstatiert, die sich nicht auf die militärtechnische Anlehnung an US-Luftwaffenvorstellungen reduzieren lässt, sondern auch militärkulturelle Veränderungsprozesse mit prägenden Einflüssen auf den Habitus dieser Teilstreitkraft anstieß, über den sich Luftwaffensoldaten bis in die Gegenwart charakteristisch von Heeres- und Marineangehörigen unterscheiden. Im operativen Rahmen ist dies besonders deutlich messbar am Beispiel des antizipierten Einsatzes von Atomwaffen, die als sogenannte »pre-planned missions« die Übernahme einer bis auf den einzelnen Piloten durchgreifenden Befehlstaktik nach amerikanischem Vorbild zwingend machten, deutsche Führungsprinzipien der Auftragstaktik damit aber erheblich aufweichten. Von diesem militärimmanenten Wandlungsprozeß her lassen sich jedoch auch Hinweise auf eine über das Militär hinausweisende gesellschaftliche Relevanz ausmachen, die dem »Faktor Amerika« für die Entwicklung der deutschen Nachkriegsgesellschaft mehr als die gelegentlich angenommene, eher marginale Bedeutung beimessen lässt. Anders als für das Heer mit einer zunächst geplanten Aufstellungszeit von drei Jahren war für die Luftwaffe von vornherein eine um ein Jahr verlängerte Zeitmarge ins Auge gefasst. Dass freilich selbst diese vier Jahre unter den verfügbaren personellen, materiellen und infrastrukturellen Voraussetzungen eine überoptimistische Annahme darstellten, weist der Überblick von Heinz Rebhan über die Organisationsgeschichte der Luftwaffe nach. Eines der Hauptprobleme stellte dabei die Frage nicht ausreichender Standorte dar, weil man hier in Konkurrenz zu den bereits etablierten Verbänden der Westmächte stand. Häufige Ortswechsel von zunächst provisorisch untergebrachten deutschen Verbänden waren die Folge. Mit der wachsenden atomaren Bedrohung von Luftwaffenstandorten der NATO in Westeuropa potenzierte sich dieses Problem noch durch die zusätzlichen Allianzforderungen nach Härtung der Einsatzflughäfen und deren Ergänzung um feldmäßige Ausweichflugplätze. Ausgehend von der Annahme eines jederzeit möglichen militärischen Konflikts erhielten die Kampfverbände beim Aufbau absolute Priorität, mussten dafür aber bei den Elementen der Führungsdienste und Logistik auf Jahre hinaus erhebliche Ein-
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schränkungen verkraften. Eine weitere Herausforderung stellte die Umrüstung der Jabo-, Jagd- und Aufklärungsgeschwader auf das Waffensystem F-104 G in den Jahren 1961 bis 1965 dar. Unter diesen Rahmenbedingungen konnten die der NATO zu assignierenden Einsatzverbände ihrer Zahl nach erst nach sechs Jahren, mit Blick auf die vom Bündnis geforderten Qualitätsstandards sogar erst weitere sechs Jahre später, nämlich ab 1968, erreicht werden. Dabei blieben die leichten Kampfgeschwader wegen ihrer geringen Eindringtiefe und ihrer fehlenden Allwetterfähigkeit auch dann noch in ihrem Einsatzwert beschränkt. Die mit Pershing ausgerüsteten Flugkörpergeschwader erreichten bis Ende der 60er Jahre ebenfalls nur zum Teil die geforderte Einsatzfähigkeit. Ab diesem Zeitpunkt waren die deutschen Kampfverbände aber immerhin bereits in der Lage, verstärkt an NATO-Ubungen und -Wettbewerben teilzunehmen. Die grundlegenden Analysen in den vorangestellten Untersuchungen auf Aktenbasis werden durch die Erfahrungsberichte hochrangiger Zeitzeugen aus den fliegenden Verbänden, der Flugabwehrraketentruppe und der Logistik weiter angereichert. Dazu schildert Generalleutnant a.D. Winfried Schwenke, Flugzeugführer und Geschwaderkommodore in den Aufbaujahren, schließlich Befehlshaber AIRBALTAP (1984-1987), seine Erfahrungen mit dem bekanntesten und gleichzeitig umstrittensten Einsatzjet dieser Jahre, dem Starfighter F-104 G. Aus dem persönlichen Miterleben treten dabei Einführung, Einsatz und Probleme des Flugzeugs ebenso plastisch hervor wie die Faszination des Piloten beim Fliegen mit einer Maschine im Mach 2-Bereich. Den operativen Hintergrund gibt der geplante und geübte Einsatz im Rahmen atomarer StrikeVerbände ab. Als gute Ergänzung stehen dem die Erfahrungen des späteren Befehlshabers der 4. ATAF (1992-1993), Generalleutnant a.D. Siegfried Pacholke, in den 60er Jahren Flugzeugführer und Staffelkapitän in einem leichten Kampfgeschwader, zur Seite. Damit rückt auch ein zweites wichtiges Einsatzflugzeug der frühen Jahre, die Fiat G-91 mit ihrer stärker unterstützenden Funktion für den Einsatz der Landstreitkräfte ins Bild. Als Geschwaderkommodore sollte er zudem aus eigenem Erleben noch an der Einführung der F-4 Phantom in ihrer Doppelrolle als Jagdflugzeug und Jagdbomber gestaltend mitwirken. Entwicklung und Selbstverständnis der Flugabwehrraketentruppe werden in dem Gemeinschaftsbeitrag zweier Offiziere vorgestellt, die als Geschwaderkommodore aus dieser Truppe hervorgegangen sind: Generalleutnant a.D. AxelBjörn Kleppien, später Kommandierender General der Luftwaffengruppe Nord (1994-1999), und Oberst a.D. Hillrich von der Felsen, zuletzt Kommodore des FlaRak-Geschwaders 6 (1993-1997). Deutlich wird darin die Abhängigkeit von amerikanischem Gerät und der Ausbildung daran in den USA herausgestellt. Bei aller Einbindung in das starre US-Reglement heben sich davon aber zwei Charakteristika fortdauernden deutschen Führungsdenkens ab: die Grundorientierung an einem kooperativen Führungsstil, wie ihn das Erfordernis von mitdenkenden Soldaten für die Betriebsabläufe und der Einsatzauftrag ebenso gebieten wie die Prinzipen der Inneren Führung. Unter den besonderen Bedingungen eines durchgängigen Schichtdienstes im Rahmen der NATO-Luftverteidigung gestalteten sich dabei gerade in den Aufbaujahren der Luftwaffe
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die Anforderungen in den Einsatzstellungen außerordentlich schwierig, zusätzlich verschärft durch streng reglementierte Einsatzabläufe innerhalb einer Kampfbesatzung. Die überragende Bedeutung der Logistik und Technik im Zusammenwirken von Einsatz- und Unterstützungskräften stellt der zum Diplom-Ingenieur (FH) ausgebildete Technische Offizier, schließlich Kommandierender General Luftw a f f e n u n t e r s t ü t z u n g s k o m m a n d o ( 1 9 9 1 - 1 9 9 3 ) , Generalleutnant
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in den Mittelpunkt seiner Überlegungen zum Stellenwert der Unterstützungskomponente für die Funktionsfähigkeit moderner Luftstreitkräfte. Dazu wird zunächst in einer knappen Skizze die Entwicklung der logistischen Strukturen in der aufwachsenden Luftwaffe vorgestellt. Den Ausgangspunkt für das eigene Miterleben und Mitgestalten bilden dann seine Erfahrungen als Technischer Offizier in den 60er Jahren, die ihn mit den fliegenden Verbänden wie mit der zuliefernden Industrie in sehr engen Kontakt brachten. Daraus leitet er die zentrale Frage nach dem Durchschlagen industrieller Betriebsabläufe auf die Logistik der Luftwaffe, aber auch die Grenzen ihrer Übernahme unter den Bedingungen von militärischen Strukturen ab, die vorrangig der Herstellung und dem Erhalt der Einsatzbereitschaft zu dienen haben. Eine eingehende Chronologie sucht dem Leser abschließend Informationen darüber zu bieten, was historiografisch bislang noch nicht quellengestützt darzustellen ist. Mit der dafür erstellten, sehr detaillierten Datenübersicht über den Gesamtzeitraum von 50 Jahren Geschichte der Luftwaffe (1955-2004) kann aber schon jetzt dem Anlass der Publikation entsprechend ein erster repräsentativer Gesamtüberblick als Orientierungsrahmen für künftige Forschung und Information zur vorgestellten Teilstreitkraft gewonnen werden. Mit der Analyse der wichtigsten Planungsabschnitte, der Einnahme der Grundgliederung und den zentralen Entscheidungen für die Rüstungsperspektiven sind die wesentlichen Einstiege in die künftige Erforschung der Luftwaffe geschaffen. Sie müssen in der weiteren Forschung auf den Gesamtzeitraum des Kalten Krieges ausgedehnt und thematisch insbesondere in die Bereiche hinein ausgeweitet werden, die unter den begrenzten Möglichkeiten dieser wissenschaftlichen Erstbewertung von Konzeption und Aufbau deutscher Luftstreitkräfte nach 1945 gerade einmal angerissen oder auch lediglich kenntlich gemacht werden konnten. Detailstudien zu den herausragenden Bereichen Rüstung und Technik müssen insbesondere das Zusammenwirken von Politik, Militär und Industrie auf nationalem wie internationalem Feld vertiefen. Das Selbstverständnis der Luftwaffe aus ihrer starken Technisierung, aber auch im Kontrast zu den anderen Teilstreitkräften verlangt nach wissenschaftlichen Antworten, die bis in die Alltags- und Mentalitätsgeschichte reichen und deshalb methodisch nicht ohne ein Ausgreifen in die sozialwissenschaftlichen Nachbardisziplinen zu haben sind. Unverzichtbar erscheinen mittelfristig schließlich auch Studien über das militärische und operative Zusammenwirken der Luftwaffe mit ihren Bündnispartnern.
Bernd Lemke Vorwärtsverteidigung, Integration, Nuklearisierung. Die gesamtstrategische Entwicklung bis 1959
I. Die Grundlinien der westlichen Strategie bis Ende der 50er Jahre Die politisch-strategischen Grundparameter für das Wiederentstehen der deutschen Luftwaffe ergaben sich alsbald nach der Niederlage des Deutschen Reiches und Japans 1945 1 . Die Kriegskoalition zwischen den Westalliierten und der Sowjetunion, die vor allem aus dem gemeinsamen Interesse zur Niederringung Hitler-Deutschlands entstanden war und schon während des Zweiten Weltkrieges Divergenzen aufwies, löste sich relativ rasch auf, wobei sich innerhalb der Westmächte, vor allem Großbritanniens, u.a. längerfristige Entwicklungsperspektiven bemerkbar machten. Man hatte die UdSSR schon bei ihrem Entstehen und in den 20er Jahren bekämpft. Vor allem für Churchill, der im Oktober 1951 erneut an die Macht kam, hatte sich die grundsätzliche Auseinandersetzung mit der kommunistischen Großmacht durch die Ereignisse bis 1945 keineswegs erledigt. Ich danke folgenden Menschen besonders: für die Beratung im BundesarchivMilitärarchiv Herrn Marschner, Frau Zandeck und Herrn Reichel sowie allen Magazinmitarbeitern der Halle 2, für die Bereitstellung von Bildern Herrn Görigk in Jever, den Mitarbeitern der Firmen EADS und Dornier, hier insbesondere Herrn Willbold und Frau Piroth, Herrn Rentel in Strausberg, den Mitarbeitern der Wehrtechnischen Sammlung des BWB, hier vor allem Frau Resmini, den Mitarbeitern des Luftwaffenmuseums in BerlinGatow, Hauptmann Schruwe an der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg, dem Major d.R. Martin Rink in Potsdam und Oberst a.D. Dietmar Rink in Großhansdorf, Oberstabsfeldwebel Müller in Kalkar, Oberstleutnant Dr. Heiner Moellers im Luftwaffenamt Köln für die gute Zusammenarbeit bei der Erstellung der Chronologie, für allgemeine Hinweise und Diskussionen Herrn Stürmer in Pürgen/Landsberg, Herrn Hünken, Herrn Slavig in Stade und Herrn Wurm in Wiesmoor. Von den Mitarbeitern des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes sind besonders hervorzuheben Antje Lorenz, Marina Sandig, Bernd Nogli und Dr. Aleksandar-Sasa Vuletic. Gedankt sei vor allem auch den Mitgliedern des Stabes des MGFA für die dynamisch-effiziente Absicherung des Projektes im organisatorischen Bereich. Zu erwähnen ist ferner Harald Sylvester Wolf für die überaus gelungene Gestaltung der Grafiken. Besondere Verdienste erwarb sich die Lektorin des Gesamtbandes Christa Gudzent durch effiziente und umsichtige Arbeit. Last but not least sind zu erwähnen Oberstleutnant Poppe und Major Scheibe, die mit unermüdlichem Einsatz wertvolle Arbeit zum Gelingen des Projekts geleistet haben. Vor allem KlausPeter Scheibe wurde in vier Jahren harter, nicht immer problemfreier Arbeit zum unverzichtbaren Mitarbeiter und Freund. Allen, denen ich an dieser Stelle nicht gedankt habe, sei gesagt, dass nicht ihr Beitrag zu diesem Band geringer ist als der der namentlich Erwähnten, sondern dass mein Gedächtnis Lücken aufweist, die vielleicht schon dem beginnenden Alterungsprozess eines Menschen jenseits der Vierzig geschuldet sind. Zum Folgenden vgl. grundsätzlich Bald, Hiroshima, Kap. 2 und 3, Greiner, Die Entwicklung der Bündnisstrategie 1949 bis 1958, S. 13-69; AWS, Bd 1, S. 1 - 1 1 8 (Beitrag Wiggershaus).
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Bernd Lemke: Vorwärtsverteidigung, Integration, Nuklearisierung
Der einzige Punkt des Kriegsbündnisses von dauerndem Bestand war die Absicht, eine nochmalige Bedrohung durch Deutschland auszuschalten. Dies jedoch reichte als Stabilitätsfaktor nicht aus und trat gegenüber den ständig wachsenden Spannungen zunehmend zurück. Die Westalliierten empfanden einen steigenden Druck durch den Ostblock, dies insbesondere in Europa, und sahen sich großen Truppenkonzentrationen gegenüber2. Die Blockade von Berlin 1948 schien darin alle diesbezüglichen Befürchtungen zu bestätigen. Die Sowjetunion sah sich ihrerseits nach und nach durch den massiven Aufbau von US-Luftstützpunkten überall auf dem Globus eingeschnürt und glaubte Mitte der 50er Jahre dann schließlich ihre Lebensinteressen durch die Stationierung strategischer Atombomberverbände von allen Seiten bedroht3. Der Übergang von Koalition zu Konfrontation erfolgte innerhalb weniger Jahre. Die Grundgestalt der Nachkriegsordnung in geografisch-politischer und nationaler Hinsicht wurde auf der Potsdamer Konferenz im Sommer 1945 festgelegt, die die Teilung Deutschlands und Europas sowie die Vertreibung der deutschen Ostbevölkerung und die Westverlagerung Polens beschloss. Die direkte Konfrontation zwischen West und Ost manifestierte sich ab 1946 und fand auch ihren Niederschlag in schriftlichen Ausarbeitungen, die dann schließlich zu entscheidenden Setzungen führten. Drei wesentliche Wegemarken sollten fürderhin die Grundlage für alle weiteren Geschehnisse und die Herausbildung des »Kalten Krieges« bilden. Am 12. März 1947 hielt US-Präsident Truman eine Rede vor dem US-Kongress, in der er allen »freien« Nationen, darunter auch den Westeuropäern, Beistand bei der Auseinandersetzung mit dem Kommunismus versprach. Dieses als Truman-Doktrin bekannt gewordene Programm machte einerseits offiziell Schluss mit der in der Zeit bis 1941 als »splendid isolation« bekannt gewordenen und inzwischen als unzureichend für die Auseinandersetzung mit Diktaturen empfundenen Haltung der USA und beinhaltete andererseits eine politische Kampfansage an die kommunistischen Machthaber. Im selben Jahr verkündete der ehemalige US-General George Catlett Marshall ein gigantisches Wirtschaftsprogramm zur Stabilisierung Europas, den sog. Marshall-Plan, in den auch osteuropäische Länder einbezogen werden sollten. Damit sollte die Ausbreitung des Kommunismus verhindert (containment) bzw. der sowjetische Einfluss in Europa sogar zurückgedrängt werden (roll back). Das militärische Äquivalent zu dieser ökonomischen Maßnahme wurde 1950 geschaffen, als die obersten Planer der US-Regierung angesichts des Tests der ersten sowjetischen Atombombe eine grundsätzliche Lageanalyse erstellten. Festgehalten wurden die Ergebnisse im grundlegenden Paper Ν SC 68 (April 1950), das weitsichtig bereits alle Elemente der Entwicklung bis 1970 und darOb diese Bedrohungsperzeption vor 1950 tatsächlich den Tatsachen entsprach, muss indes bezweifelt werden. Nach Bald, Hiroshima, S. 75 f., rüstete die Sowjetunion ihre Truppen nach 1945 zunächst ähnlich radikal ab wie die Westmächte. Grundsätzlich zu den entsprechenden Vorstellungen siehe Wiggershaus, Nordatlantische Bedrohungsperzeptionen, insbes. S. 1 7 - 2 1 . Wiggerhaus, Nordatlantische Bedrohungsperzeptionen, S. 46.
I. Die Grundlinien der westlichen Strategie
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über hinaus enthielt. Angesichts der nunmehr auch nuklearen Bedrohung durch die Sowjetunion glaubte man sich nicht mehr auf die bisherigen, eher begrenzten Rüstungsanstrengungen verlassen zu können und entschied sich in diesem Papier für eine massive Aufrüstung in allen Bereichen. Man beschloss, strategische Atomwaffen (inkl. der Wasserstoffbombe) zu bauen, gleichzeitig kleinere taktische Nuklearwaffen zu entwickeln, darüber hinaus aber auch eine massive Aufstockung der konventionellen Streitkräfte zu unternehmen, wobei man insbesondere auf die Unterstützung der Westeuropäer und dann auch der Deutschen hoffte. Es war bereits 1950 abzusehen, dass in Zukunft ein »nukleares Patt« Platz greifen würde, das gerade eine starke konventionelle Komponente unerlässlich machen würde. Damit waren die Eckpfeiler für alle späteren Strategiedebatten und -entscheidungen bereits gesetzt. Die Realisierung der aufwändigen konventionellen Rüstung wurde durch den Ausbruch des Korea-Krieges im Juni 1950 recht eigentlich in Gang gesetzt. Hier hatte man unmissverständlich vor Augen geführt bekommen, dass sich die kommunistischen Staaten und Bewegungen durch das bloße Vorhandensein von Atomwaffen im Besitz der USA keineswegs von Expansionsbestrebungen abhalten lassen würden. Zwischen den genannten drei Eckdaten ergaben sich weitere wesentliche Entscheidungen für die späteren Entwicklungen. Belgien, Frankreich, Großbritannien, die Niederlande und Luxemburg schlossen sich im März 1948 zum Brüsseler Pakt zusammen, der ab 1955 als Westeuropäische Union (WEU) mit deutscher Beteiligung weitergeführt wurde. Im Jahre 1949 rief man dann die NATO ins Leben und die deutsche Teilung manifestierte sich durch die offizielle Gründung der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik. Von diesen Parametern aus ergaben sich die strategischen Rahmenbedingungen für den Aufbau westdeutscher Streitkräfte, auch der Luftwaffe. Die Entwicklung der westlichen Strategie vom Ende der 40er Jahre bis zur >vollgültigenLeistung< der Akteure aus, entstand ein Kontinuum, ein mehr oder weniger stabiles Geflecht politisch-militärischen Zusammenhaltes. Die Entwicklungsstränge standen in Wechselwirkung. Die erste, und für Europa wohl wichtigste Tendenz, betrifft die grundlegende militärische Perspektive der USA, wie sie sich insbesondere ab dem Krieg in Korea entwickelte: die Verlagerung der europäischen Verteidigungslinie nach Osten. Die ersten, in den 40er Jahren erstellten Konzepte zur Abwehr einer möglichen Aggression des neuen Gegners, der Sowjetunion und ihrer Bündnispartner, sahen de facto die Aufgabe des europäischen Festlandes vor. Als wichtig erschien lediglich das Halten peripherer Stützpunkte, von denen aus dann das Strategie Air Command (SAC), die strategische Bomberflotte der USA, massive Angriffe mit Atomwaffen vortragen konnte. Nach erfolgreicher Vernichtung des Kriegs- und Wirtschaftspotenzials der UdSSR sollte später die Wiedereroberung Europas erfolgen. Vor allem die US-Luftwaffe betrachtete die nachhaltige Zerschlagung des sowjetischen Systems als durchaus möglich, wenn man die schweren Kampfverbände massiv zum Einsatz brachte. Als strategisches Ziel definierte die USAF in diesem Zusammenhang: »overthrowing the Soviet government by the atomic assault of 104 cities«5. Ein derartiges Denken war durchaus nicht neu. Die britische Luftwaffe, die Royal Air Force, hatte schon in den 20er und 30er Jahren ihre Existenz mit ähnlichen Argumenten legitimiert: die Luftwaffe als strategisches Vernichtungsinstrument und »war winner«6. Die Konzepte blieben allerdings innerhalb der amerikanischen Teilstreitkräfte keineswegs unwidersprochen, erfuhren vielmehr massive Kritik, als sie die reinen Planungszirkel verließen und Gegenstand von Verteilungskämpfen wurden. Vor allem die US Navy, die mit ihrem Projekt eines Superflugzeugträgers (USS United States) an der Finanzierungsfrage scheiterte, begann Sinn, Zweck und Wirkung strategischer Bombenangriffe gegen die Sowjetunion massiv in Zweifel zu ziehen. Die 5
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Jordan, Norstad, S. 77. Vgl. auch AWS, Bd 1, S. 271 f. (Beitrag Greiner). Die Spitzen der US-Army hegten allerdings erhebliche Zweifel an dieser Strategie, siehe Wampler, Ambiguous Legacy, S. 293-310. Zur brit. Luftkriegstheorie bis 1939: Smith, British Air Strategy; Webster/Frankland, The Strategie Air Offensive, 1; Pimlott, The Theory and Practice of Strategie Bombing; Powers, Strategy without Slide-Rule; Probert, Die Führung der Royal Air Force; Robertson, The Development of RAF; Smith, Die Luftbedrohung; Terraine, Theorie und Praxis.
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Auseinandersetzungen, die durchaus eine >Universaltendenz< innerhalb moderner Militärorganisationen, auch der neuen Bundeswehr ab 1955, widerspiegeln, manifestierten sich an der Genehmigung eines Interkontintentalbombers für die USAF, der B-36, die bereits im Zweiten Weltkrieg entwickelt wurde und in der Nachkriegsversion eine Mischung aus sechs Propeller- und vier Jettriebwerken aufwies. Die USAF setzte sich einstweilen durch, ohne jedoch die Zweifel an ihrer Strategie wirklich ausräumen zu können 7 . Diese Einstellung ließ sich auf Dauer dann auch nicht durchhalten, wollte man die Verbündeten nicht verlieren, bzw. das westeuropäische Gebiet, das, nicht nur militärisch, immerhin eine Schlüsselstellung besaß, preisgeben. Die Erfahrungen des Korea-Krieges, die die Gefahr einer Taktik von Stellvertreterkriegen zur Aufweichung des westlichen Systems manifest werden ließen, und die Perspektive absehbarer nuklearer Aufrüstung der Sowjetunion mit der Möglichkeit eines nuklearen Patts und entsprechender Blockierung der eigenen strategischen Schlagkraft wirkten hier geradezu als Katalysator, bildeten aber nicht das einzige Element. Schon vorher hatte sich der Gesinnungswandel in den USA abzuzeichnen begonnen 8 . Dwight D. Eisenhower, 1945-1947 Generalstabschef der US-Streitkräfte, und die Spitzen der US-Army hatten schon Ende der 40er Jahre auf einen wirksamen Schutz Westeuropas gedrängt 9 . Da allerdings die eigene Leistungsfähigkeit einstweilen sehr begrenzt war, glaubte man anfangs, bestenfalls eine Linie Rhein-Ijssel halten zu können. Die weitere Entwicklung führte die Planer dann zu der Einsicht, dass weiter östlich verteidigt werden musste und auch konnte. Hier spielte vor allem die Einbeziehung des westdeutschen Potenzials eine wesentliche Rolle. Man ging schließlich dazu über, die deutsch-deutsche Grenze als Verteidigungslinie zu betrachten. Dieses Konzept der »Vorwärts«-Verteidigung entsprach den Vorstellungen der kommenden militärischen Führungsspitze in Deutschland. Adolf Heusinger hatte schon in den 40er Jahren für eine aktive Abwehr, beginnend an der Ostgrenze, plädiert und - außer für taktische Zwecke - jegliche freiwillige Preisgabe deutschen Gebietes kategorisch abgelehnt10. Die zweite Entwicklungslinie betraf die Einbeziehung Westdeutschlands in das alliierte Bündnis. Schon früh, ebenfalls bereits in den 40er Jahren, hatten Churchill und auch der amerikanische Generalstab, die Joint Chiefs of Staff, die Nutzbarmachung des deutschen Potenzials ins Auge gefasst 11 . Als der Kalte
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Es wurden 380 Stück beschafft, die dann Ende der 50er Jahre von der B-52 abgelöst wurden. Beschreibung und Geschichte auf der Homepage des USAF Museum, Dayton, Ohio, http://www.wpafb.af.mil/museum/air_power/ap39.htm, http://www.wpafb.af.mi1/museum//research/bombers/b3-68.htm. Dazu auch Gentile, ABombs, S. 22-29. AWS, Bd 1, S. 271-280 und 317 f. (Beitrag Greiner). Ebd., S. 294 (Beitrag Greiner); Wampler, Ambiguous Legacy, S. 298 und 316. Gablik, Strategische Planungen, S. 40-50. Pommerin, Von der »massive retaliation«, S. 525 f.
Die Welt dreht sich um die Atomwaffe: Verdeutlichung der strategischen Folgen der atomaren Rüstung Karikatur von Fritz Behrendt
Atomtest Tumbler-Snapper (Nevada Proving Grounds April 1952). Explosion einer taktischen Atombombe (luftgestützt) vor zivilen und militärischen Beobachtern AP Photo
Taktische Nuklearbombe Mk-28 aus amerikanischer Produktion (ab 1958): Standardausrüstung für die F-104 Starfighter und andere Jagdbomber National Museum of the United States Air Force
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Krieg 1947/48 langsam in Gang kam, gewann die Idee eines aktiven westdeutschen Militärbeitrages immer mehr Anhänger. Die Art dieser Leistung blieb allerdings lange unklar und verzögerte die Integration dadurch erheblich. Das >Abenteuer< EVG wirkte hierbei nicht gerade förderlich, lieferte allerdings zahlreiche Ansatzpunkte, die als Basis der späteren Integration dienen konnten. Die Lösung von 1955 (NATO-Beitritt der Bundesrepublik) unterschied sich daher, zumindest was die konzeptionelle und organisatorische Grundgestalt der Streitkräfte anging, eher graduell vom EVG-Ansatz und manifestierte sich stärker in Umorganisation als in grundlegender Neukonzeption 12 . Einen der zentralen Dreh- und Angelpunkte des entstehenden Bündnisses unter Einschluss der Bundesrepublik stellte die militärtechnische Entwicklung dar, insbesondere die Einführung der Atomwaffen. Dabei spielte für Deutschland und Europa nicht einmal so sehr die Steigerung der absoluten Anzahl der nuklearen Kampfmittel als vielmehr die Ausdifferenzierung des Atomwaffenpotenzials und des dazugehörigen Einsatzszenarios die bestimmende Rolle. Ausgehend von einer begrenzten Anzahl von Atombomben zum strategischen Einsatz vornehmlich durch das SAC gelangten die USA durch technologische Fortschritte in der ersten Hälfte der 50er Jahre in den Besitz immer kleinerer Waffen, die taktisch, d.h. vor allem auf dem Schlachtfeld und gegen das Hinterland des Feindes, verwendet werden konnten 13 . In NATO-Studien des Jahres 1955 rechnete man für den taktischen Einsatz mit Größenordnungen von 2 - 5 0 0 kt in der Unterteilung von 2, 20, 75, 100, 200 und 500 kt. Eine Auflistung um die Mitte der Dekade enthält nicht weniger als 11 verschiedene Atomwaffenarten von 1 kt - 5 Mt, wobei die besonderen Möglichkeiten der Effizienzsteigerung bei der Weiterentwicklung der Wasserstoffbombe noch nicht berücksichtigt wurden 14 . Als Trägermittel sah man bereits das gesamte Instrumentarium moderner Streitkräfte vor: für die kleineren Kaliber Artilleriegeschütze, für die größeren Waffen Fernraketen und Flugzeuge. Die Möglichkeit der Verwendung von Jagdbombern wurde ausdrücklich bejaht. Den Einsatz von atomaren Minen betrachtete man als möglich. Es ergab sich das Bild eines allumfassenden nuklearen >Feuerwerks< unter Ziehung aller Register, das unter der Bezeichnung »general war« rangierte. Die Absicht zur Zerstörung der Kernindustrien der Sowjetunion durch strategische Bomber war damit durch die Vorbereitung einer systematischen nuklearen Zertrümmerung des ganzen Ostblocks sowohl von innen als auch an den Rändern, mindestens soweit diese an das NATOGebiet grenzten, abgelöst worden 15 . Im Bereich der Luftabwehr kam es ebenfalls zu speziellen Entwicklungen, insbesondere in Verbindung mit der Verbesserung im Bereich der Flakraketentechnologie. Man entwickelte atomar bestückte 12 13
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AWS, Bd 2, S. 199 ff. (Beitrag Maier), und AWS, 3, S. 570-602 (Beitrag Greiner). AWS, Bd 1, S. 180-196, 271-275, 280-286 (Beitrag Greiner); Theiler, Die Rezeption, S. 485 ff.; Greiner, Zur Rolle Kontinentaleuropas, S. 154. BA-MA, BW 2/1945, »betr. Antworten der BNS auf det. Fragen 1957 Α-Technik« und BW 2/2717-2, Aufstellung »Waffen - Explosion - Einsatzmittel >von A-Waffen«« mit drei weiteren Aufstellungen. Die zentralen Passagen in der MC 14/2, in: NATO Strategy Documents 1949-1969, S. 293.
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Luftabwehrraketen, die, in anfliegende Feindverbände geschossen, einen Teil der Angreifer durch die Explosionswirkung direkt vernichten, einen anderen durch Hitze und Strahlung zum Absturz bringen sollten16. Auf deutscher Seite stand man derlei Perspektiven nicht ungeteilt gegenüber. In den Kreisen ehemaliger Luftwaffenoffiziere und auch bei führenden Ingenieuren etwa war man von der Option eines Masseneinsatzes atomarer Luftverteidigungsmittel über dem dicht besiedelten Gebiet der Bundesrepublik alles andere als begeistert und betonte, dass die Anwendung solcher Waffen bestenfalls »über dem Eismeer und über dem Atlantik« vertretbar sei17. Insgesamt gesehen blieb jedoch nichts anderes übrig, als sich der Entwicklung anzupassen und der Tatsache, dass ein reichhaltiges Instrumentarium zur Verfügung stand und im Kriegsfall auch eingesetzt würde, Rechnung zu tragen18. Den theoretischen Hintergrund dieser Annäherung an die nukleare Realität bildete die Radikalisierung der westalliierten Atomwaffenstrategie. Die wenigen Atomwaffen, die Ende der 40er Jahre den USA zur Verfügung standen, hatte in erster Linie das SAC zugewiesen bekommen, wobei Harry S. Truman den Einsatz zunächst ausdrücklich untersagte und sich die Entscheidung über Ausnahmen vorbehielt (»instrument of last resort«)19. In den folgenden Jahren ergab sich erst eine Fortentwicklung und dann eine radikale Kehrtwende. Für die direkte Verteidigung des Bündnisgebietes, insbesondere Westeuropas, blieb zunächst die konventionelle Komponente allein bestimmend. Starke Heeresverbände mit Unterstützung taktischer Luftstreitkräfte sollten einen oder mehrere Stöße aus dem Osten soweit wie möglich zum Stehen bringen, dies nicht zuletzt auch als Schutz für die strategischen Bomberverbände (Konzept Schwert und Schild). Die zentrale Grundlage hierfür bildete die strategische Direktive MC 14/1 vom 9. Dezember 195220. Bald aber hatte man zu erkennen, dass insbesondere die aus dem Zweiten Weltkrieg nicht gerade gestärkt hervorgegangenen europäischen Staaten die Kraftanstrengung für die nötige Rüstung und Mobilisierung nicht würden aufbringen können und auch die USA nicht über unerschöpfliche Reservoirs an Menschen und Material verfügten. Auf Drängen Großbritanniens, das den kostspieligen Einsatz von konventionellen Truppen auf dem Festland zu reduzieren wünschte, begann man die Atomwaffen als Ersatz für die teure konventionelle Rüstung heranzuziehen21.
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AWS, Bd 1, S. 285 (Beitrag Greiner). B A - M A , B W 2/1945, Vortrag Dr. Benecke, »Technische Situation des Atomwaffeneinfluges und seiner Abwehrmöglichkeiten«, S. 6; B L 1/1584, 4. Koberner Luftfahrtgespräch, Die Anforderungen der deutschen Luftverteidigung an Forschung und Entwicklung a m 27.9.1956, S. 27 f. Die offiziellen Vertreter der dt. Lw, die hier ebenfalls anwesend waren (Kammhuber, Steinhoff), schwiegen sich allerdings aus. Ebd., B W 2/1945, Beitrag z u m Sprechzettel des Herrn Ministers für die Pressekonferenz a m 19.12.1956. AWS, Bd 1, S. 188 f. (Beitrag Greiner), und Theiler, Die Rezeption, S. 458. N A T O Strategy Documents 1 9 4 9 - 1 9 6 9 , S. 1 9 3 - 2 7 7 . Für die Entwicklungslinien der Nuklearstrategie der USA, Großbritanniens und der N A T O unter Berücksichtigung der Entwicklung taktischer Atomwaffen, der Bedeutung
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Die Fortentwicklung der Nukleartechnologie im taktischen Bereich kam da gerade zur rechten Zeit und so zeichnete sich die Abstützung auf Atomwaffen als Hauptkampfmittel ab. Für das Bündnis stellte die NATO-Richtlinie MC 48 (22. November 1954) den entscheidenden Meilenstein in dieser Entwicklung dar. Hatte man bislang vorgesehen, die nuklearen Bomberverbände (»Schwert«) durch konventionelle Streitkräfte zu schützen (»Schild«), um ihren Einsatz gegen strategische Ziele sicherstellen zu können, so plante man zunehmend die Ausstattung auch der bislang konventionellen »shield forces« mit Atomwaffen ein 22 . Dieser Richtungsänderung lag der Gedanke zugrunde, dass man ohne Nuklearwaffen keine realistische Chance besitzen würde, einen Großangriff abzuwehren: »NATO would be unable to prevent the rapid overrunning of Europe unless NATO immediately employed these [atomic] weapons both strategically and tactically 23 .« Die durch die MC 48 eingeleitete Wandlung radikalisierte sich in der Folgezeit noch, als maßgebliche Teile der politischen und insbesondere der militärischen Führung vor allem der USA und Großbritanniens den sofortigen Einsatz von Atomwaffen schon bei Grenzverletzungen (z.B. Sperrung der Zugänge nach Berlin) propagierten. Die Atomwaffen erhielten dabei - entgegen ihrer >technischen< Einstufung als »special weapons« - den Status »normaler« Waffen, die wie die konventionellen Mittel bisher einzusetzen seien 24 . Das auf dieser Basis denkbare radikalste Szenario basierte auf der Annahme eines allumfassenden nuklearen Krieges nach einem Angriff der Ostarmeen, auch wenn diese nur durch kleinere Einheiten verübt würden. Wie Arthur Radford, Vorsitzender der US Joint Chief of Staff, gegenüber Franz Josef Strauß betonte: »If enemy attacks, regardless where, regardless when, regardless of what military strengthes, regardless with what military means so ever - if he will not be back to the point of departure next morning, we shall hit back with all retaliation means we have 25 .« Strauß widersprach hier nicht, obwohl teils massive Bedenken in seinem eigenen Ministerium hinsichtlich der Nuklearstrategie bestanden 26 . Zumindest bis Ende 1956 besaßen die nukleare Aufrüstung und die Option auf eine sofortige Anwendung der entsprechenden Waffen im Bündnis das eindeutige Ubergewicht. Nicht umsonst enthielt die MC 48 die geradezu schon litaneihafte Betonung, dass bei einem Angriff »sofort« zu antworten sei und
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konventioneller Streitkräfte und den wirtschaftlichen E r w ä g u n g e n der Beteiligten am detailliertesten W a m p l e r , A m b i g u o u s Legacy, Kap. I, V, VIII, IX, XI und XIII. Z u r d a m i t v e r b u n d e n e n U m d e f i n i t i o n der taktischen V e r b ä n d e auch der späteren Luftwaffe zu »Schwert«-Kräften vgl. B A - M A , BL 1/14650, Tgb. InspLw, Eintrag vom 16.12.1959, mit Protokoll K o m m a n d e u r - B e s p r e c h u n g 2/1959, S. 4. N A T O Strategy D o c u m e n t s 1 9 4 9 - 1 9 6 9 , S. 233 ( M C 48). B A - M A , B W 2/2717-2, >hands.< A u s z u g aus Force Posture 60/62; Maier, A m e r i k a n i s c h e Nuklearstrategie, S. 236; Theiler, D i e Rezeption, S. 483. Strauß, Die Erinnerungen, S. 354, und D e u t s c h e K o r r e s p o n d e n z , Febr. 1960. Dazu Gablik, Strategische Planungen, S. 130 f., und Kelleher, G e r m a n y and the Politics, S. 76 mit A n m . 19. Theiler, Die Rezeption, S. 5 0 3 - 5 0 6 .
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dass schon eine kurze Verzögerung nicht in Frage käme: »delay [...] even measured in hours could be fatal«27. Dieser Tendenz entsprach auch das Bestreben, die Entscheidung über den Einsatz der Atomwaffen, die bislang ausschließlich bei dem amerikanischen Präsidenten gelegen hatte, nach unten zu delegieren. Die heutige Forschung ist sich ziemlich sicher, dass zumindest der SACEUR in bestimmten Fällen die Genehmigung hatte, die Atomwaffen selbstständig einzusetzen28. Daneben gibt es Vermutungen, dass auch US-Heeresbefehlshaber die Genehmigung besaßen, die ihnen zur Verfügung gestellte atomare Artilleriemunition einzusetzen, wenn die Vernichtung ihrer Verbände drohte29. Für den Kriegsfall ging die NATO von zwei Phasen aus, einer ersten, von massivem Atomwaffeneinsatz geprägten Schlagabtausch (30 Tage), und einer zweiten >nachnuklearen< Phase, in der der Sieger aus der ersten Phase den Krieg endgültig für sich entscheiden würde. Man rechnete sich hierbei nicht die schlechtesten Chancen aus. Die entscheidende Richtlinie für die neue strategische Richtung bildete die Direktive MC 14/2 (23. Mai 1957), bekannt als Konzept der »massive retaliation«30. Einen vorläufigen Abschluss lieferte dann die MC 70 vom 29. Januar 1958 (THE MINIMUM ESSENTIAL FORCE REQUIREMENTS, 1958-1963), die als zentrale Richtlinie für den weiteren Aufbau konkrete Vorgaben für die Streitkräfte der einzelnen Bündnispartner machte31. Für die Bundeswehr, insbesondere für die Luftwaffe und das Heer, endeten damit die Tage >nuklearer Unschuld< endgültig und machten einer umfassenden atomaren Aufrüstung Platz. Die Konsequenzen für Verständnis und Stellenwert der Luftwaffe im Gesamtkontext sollten sich als enorm erweisen.
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NATO Strategy Documents 1949-1969, S. 242 (MC 48). Eine Auswertung der MC 48 ergab, dass auf den 20 Seiten des Papieres nicht weniger als zwölfmal der »sofortige« Einsatz der Atomwaffen verlangt wurde. Greiner, Die Entwicklung der Bündnisstrategie, S. 162; Maier, Die politische Kontrolle, Kap. IV, v.a. S. 354-396. Maiers Beitrag ist bislang der umfassendste zu diesem Thema in dt. Sprache. Indes kann auch er wegen der immer noch bestehenden Geheimhaltung keine letztgültigen Belege liefern. Siehe dazu v.a. ebd., S. 389 u.ö. Maier, Amerikanische Nuklearstrategie, S. 236-283, und Maier, Die politische Kontrolle, v.a. S. 327-394. NATO Strategy Documents 1949-1969, S. 277-313. NATO Public Disclosure Programme CD 003 Exs(95)l CD 2 von 7, MC_70_ENG_PDP.pdf, MC 70 vom 29.1.1958. Das NAC genehmigte die MC 70 am 9.5.1958, ebd., MC_70_FINAL_ ENG_PDP.pdf. Dazu Tuschhoff, Deutschland, v.a. Teil Α und B, und Greiner, Die Entwicklung der Bündnisstrategie, S. 120, 127 f., 162-166.
II. Die Bedeutung der strategischen Entwicklung als Grundparameter für den Aufbau der Luftwaffe Die Entwicklung der westlichen Strategie bis zu diesem Zeitpunkt und die Umsetzung der Inhalte auf die Ebene der Teilstreitkraft Luftwaffe vollzog sich keineswegs in stets geordneten Bahnen. Insbesondere die inhaltliche Ausgestaltung der Forderungen verlief streckenweise unübersichtlich 1 . Über die nähere Definition der grundlegenden Begriffe herrschte zu keiner Zeit wirklich widerspruchsfreier Konsens, ja gerade zu Beginn kam es regelrecht zu babylonischer Verwirrung 2 , die unter anderem auch darauf zurückging, dass die inhaltlichen Grundpositionen häufig nicht offen dargelegt, sondern durch politisches Taktieren verschleiert wurden. Gerade die Amerikaner ließen die Verbündeten über ihre eigentlichen Absichten teilweise im Dunkeln und unternahmen stattdessen Beruhigungsversuche 3 , um die Europäer bei der Stange zu halten, dies etwa bei der Frage der nuklearen Mitbestimmung, hier insbesondere hinsichtlich der Mittelstreckenraketen und der MLF, deren Genese und »Untergang« in der NATO teils spöttisch kommentiert wurde 4 . Es stellte sich heraus, dass die Umsetzung theoretischer Vorgaben in praktische Bahnen, d.h. konkrete Setzungen über den Verlauf eines künftigen Krieges aus Sicht des Bündnisses und seiner einzelnen Mitglieder sowie die jeweils anzuwendenden militärischen Einsatzprinzipien, unter den gegebenen Bedingungen ein tückisches Unternehmen darstellte 5 . Dazu trugen nicht zuletzt die komplexen Strukturen des Bündnisses mit seinen vielfältigen Verflechtungen bei. Für die Konzipierung und den Aufbau der praktischen Instrumente, d.h. auch der Luftwaffe, konnte keineswegs davon die Rede sein, dass ein geradliniger, widerspruchsfreier Pro-
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Kelleher, G e r m a n y and the Politics, Kap. 3 - 5 , v.a. S. 124 f. und 136 f. Vgl. a u c h Buteux, T h e Politics of N u c l e a r Consultation, S. 4 f. u n d 13. Für die höchst w i d e r s p r ü c h l i c h e Situation der B u n d e s r e p u b l i k vgl. Bluth, Britain, Kap. 2, v.a. S. 3 0 - 4 2 . Deutlich auch bei Greiner, D i e E n t w i c k l u n g der Bündnisstrategie, S. 139 ff. und 147 ff. Vgl. auch P o m m e r i n , Von der »massive retaliation«, S. 532, u n d Schwartz, N A T O ' s Nuclear D i l e m m a s , S. 1 8 - 3 4 . Bis z u m heutigen T a g e wird die B e t r a c h t u n g s w e i s e der N A T O - S t r a t e g i e in entscheidend e m M a ß e von der jeweiligen Definition der Begriffe »flexible«, »limited war«, »local hostile action« b e s t i m m t . Dies gilt auch und i n s b e s o n d e r e für die historiografische Forschung, vgl. z.B. Greiner, Die E n t w i c k l u n g der Bündnisstrategie, S. 166, mit A n m . 86. D a z u S t e i n h o f f / P o m m e r i n , Strategiewechsel, Abschnitt C v S. 119 und 130 f. S c h m ü c k l e , A u f der Suche, S. 547, bietet in seinem A u g e n z e u g e n b e r i c h t einen sehr guten Ausschnitt über die teils höchst problematischen und abenteuerlichen Ansätze und Diskussionen. D a z u a u c h T u s c h h o f f , D e u t s c h l a n d , S. 215 f.
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zess, d.h. politische Beschlussfassung in der NATO, strategische Ausgestaltung in den militärischen Gremien des Bündnisses, Einbringung in die obersten nationalen Planungsstäbe und schließlich Umsetzung durch die Teilstreitkräfte, stattfand6. Der Weg der Strategie bis zur Schaffung der Kampfinstrumente war ein zerklüfteter, von Konkurrenz und Diskussionen geprägt auch innerhalb der nationalen Führungsgremien, selbst zwischen den Teilstreitkräften. Dem Betrachter bieten sich erhebliche Schwierigkeiten, wenn er feststellen will, wie die damit verbundene Problematik in die verschiedenen Ebenen und Bereiche einfloss und - vor allem - wie interagiert wurde. Das Eigeninteresse einer organisatorischen Einheit, wie zum Beispiel der Luftwaffe, prägte die Grundhaltung ihrer Führung gerade auch in strategischen und konzeptionellen Fragen in entscheidendem Maße mit. Dazu kam, dass sich just in der Zeit von 1955 bis 1960 sowohl intern als auch in der Öffentlichkeit eine streckenweise mehr als verworrene Diskussion über die Nuklearisierung entspann, die von raschen inhaltlichen Veränderungen geprägt war7. Vor allem in den Fragen wie Kriegsbild und (nuklearem) Einsatzszenario herrschten keineswegs immer klare Linien, sondern vielmehr eine teils chaotische Vielfalt von Ansätzen. Die westliche Hegemonialmacht stand vor dem Dilemma der strategischen Notwendigkeiten, die Sowjetunion und die wirtschaftliche und militärische Schwäche ihrer Bündnispartner sogar einzudämmen bzw. zu bekämpfen8. Europa wurde von den US-Regierungen zumindest seit der Ära Eisenhower durchgängig als unverzichtbarer Eckstein der Bemühungen zum Erhalt bzw. Ausbau der eigenen Werteordnung betrachtet9. Ein Verlust musste mittel- oder langfristig zur existenziellen Bedrohung des eigenen Kontinents und schließlich zur Niederlage führen. Dieses Diktum sollte durch die Vorgänge um Kuba 1962 und in Südost-Asien (vgl. die Domino-Theorie) bestätigt und verstärkt werden. Aus diesen Zwängen heraus begann man mit der Nuklearisierung der gesamten NATO10. Man wusste, dass die Partner insbesondere auf dem europäischen Festland trotz deren Defizite bei der konventionellen Aufrüstung nicht so ohne Weiteres davon überzeugt werden konnten, und startete deswegen einen >Erziehungsfeldzug 04908-09
Trend« der britischen und amerikanischen Linie lagen, begannen 11 . Über Jahre hinweg ergaben sich daraufhin innerhalb der NATO Diskussion und Debatten, in denen sich unter anderem maßgebliche Kräfte in Deutschland (Heusinger) und andere Partner, etwa Dänemark, gegen eine allzu radikale Festlegung auf einen sofortigen Atomwaffeneinsatz sträubten 12 . Auch in der amerikanischen Öffentlichkeit blieb der strategische Kurs überaus umstritten 13 . Die Massive Retaliation in Reinform, also das Konzept der sofortigen und allumfassenden nuklearen Vernichtung ohne Wenn und Aber, stellte zu keiner Zeit eine widerspruchsfrei akzeptierte Leitlinie dar 14 . Die Diskussionen und Kompromisse, die bei der Erstellung der entscheidenden Papers (neben der MC 48/2 der MC 14/2, vor allem die Politische Direktive vom 13. Dezember 1956), spiegelten dies sehr deutlich wider. Es gelang über die nötigen Minimalkompromisse hinaus keine verbindlichen Handlungsabsprachen zu treffen. Die Kohärenz des Bündnisses konnte daher als keineswegs gesichert betrachtet 11
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Greiner, Die Entwicklung d e r Bündnisstrategie, S. 113-120 u n d 132; Steinhoff/Pommerin, Strategiewechsel, S. 28. Greiner, Die Entwicklung der Bündnisstrategie, S. 148 f., 152 f. u n d 166 ff. Greiner, Die Entwicklung der Bündnisstrategie, S. 123 f. Vgl. etwa d e n öffentlichen Widerstand, d e r Dulles bereits 1954 entgegenschlug, als er die eigenen Möglichkeiten z u r massiven Vernichtung der Sowjetunion als probates Mittel der Strategie propagierte. Steinhoff/Pommerin, Strategiewechsel, S. 22; Greiner, Die Entw i c k l u n g der Bündnisstrategie, S. 123 f. Dulles sah sich schließlich zu einem Rückziehen genötigt.
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werden. Dies betraf - unabhängig von den nuklearen Besitzverhältnissen - etwa die Gewichtung zwischen konventioneller und atomarer Option. Sprengstoff lag auch in der Möglichkeit der alten Kolonialmächte, Truppen aus den Schildstreitkräften für überseeische Aufgaben abzuziehen15, eine Perspektive, die sich, wie die Suezkrise 1956 zeigte, nicht gerade als beruhigend erwies. Die Klüfte und Risse zwischen den Nationen waren für die Beteiligten nicht zu übersehen. De facto setzte sich darin aber die atlantische Führungsmacht mit Großbritannien, ihrem Adlatus in dieser Angelegenheit, durch, da sie der Besitzer der Atomwaffen war. Dies bedeutete real gesehen eine hohe Wahrscheinlichkeit für einen umfassenden Atomwaffeneinsatz im Ernstfall. Letzte Sicherheiten gab es jedoch nicht. Am klarsten trat dies für das exponierteste Gebiet, Deutschland, hervor, da hier im Ernstfall die Nagelprobe stattfinden würde. Die USA und mit ihnen Großbritannien verstanden die Forderung nach »Flexibilität«, wie sie in den NATO-Richtlinien gefordert worden war, vornehmlich unter nuklearen Auspizien16. Das heißt: Selbst bei kleineren Angriffen der Sowjetunion, auch schon bei örtlichen Aktionen (local hostile actions) konnte nuklear geantwortet werden. Die entsprechenden Übungen (Carte Blanche, Fox Paw, Make Fast VIII, Lion Noir) sahen zum Entsetzen der deutschen Militärs, im Falle von Carte Blanche auch der deutschen Öffentlichkeit, den Einsatz zahlreicher Atomsprengkörper beiderseits der deutsch-deutschen Grenze vor17. Insbesondere aus Sicht der USRegierung und zumindest eines Teils ihrer Militärspitze hatte diese harte Nuklearstrategie den Sinn, politische, strategische und wirtschaftliche Ziele möglichst deckungsgleich zu verwirklichen. Da Europa unbedingt gehalten werden musste, die Verbündeten dazu nicht in der Lage waren und die USA aufgrund ihrer weiteren globalen Verpflichtungen keine unbegrenzten Mittel zur Verfügung hatten, sollten die Atomwaffen die entstandene Lücke füllen18. Aus einer Mischung von schematischer Militärlogik, Vernachlässigung der Auswirkungen der Atomwaffen19 und eindeutiger Bevorzugung der Machtpolitik als erste
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Diese Konzession wurde in der MC 14/2 festgelegt. NATO Strategy Documents 1949-1969, S. 294. Ebd., S. 291 (MC 14/2, § 19) und S. 327, MC 48/2 (6m). Fü Η II an den Genlnsp der Bw, mit 2 Dok. zu Make Fast VIII vom 21.9.1960, NHPDok. 052, IV A 2; Einsatz von Atomsprengkörpern im Rahmen der Übung Lion Noir vom 11.4.1957, ebd. 010; Greiner, Die Entwicklung der Bündnisstrategie, S. 132 f. Der dt. Beobachter bei einer entsprechenden Einweisung, GM Schnez, kam völlig konsterniert nach Bonn zurück. Die NATO-Planer hatten vorgesehen, ein Ziel auf dt. Boden auch mehrmals nuklear anzugreifen und dabei den recht sarkastischen Ausdruck »nachheizen« verwendet. Tuschhoff, Deutschland, S. 160. Greiner, Die Entwicklung der Bündnisstrategie, S. 111,171 u.ö. Die in manchen Studien (z.B. Steinhoff/Pommerin, Strategiewechsel) aufgestellte Behauptung, dass die Regierungen und ihre Militärs, insbes. auch im Falle der Bundesrepublik, die Wirkungen der Atomwaffen überhaupt noch nicht kannten und dementsprechend naiv im Umgang waren, ist weitgehend ins Reich der Legenden zu verweisen. In der Tat wusste man auch in der Bundesrepublik schon ab 1954 in etwa um die furchtbaren Konsequenzen der Atomwaffen (dazu unten, S. 110, Anm. 132 und Tuschhoff, Deutschland, S. 82 f., mit Anm. 26, S. 99 und v.a. S. 141 ff.), stellte dies aber zugunsten der
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Priorität betrachtete man die nuklearen Einsatzmittel offenbar zumindest in der ersten Planungsphase zu den taktischen Atomwaffen als eine Art >Hammergenug hattetechnisch< erreichbar war, zu etablieren30, obwohl man gleichzeitig mit der MC 70 bereits Ausgewogenheit zwischen konventioneller und nuklea23 24 25
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Greiner, ebd., S. 111 f. und 159 ff. Ebd., S. 159-168. Dazu auch BA-MA, BL 1/14697, Fernseh-Interview von Gen Norstad, gesendet vom N W R V a m 25.2.1958, S. 11. Dazu auch Steinhoff/Pommerin, Strategiewechsel, S. 31. Ebd., S. 126-128. Maier, Die politische Kontrolle, S. 364. Die US-Army gruppierte ihre Divisionen dann auch vorübergehend entsprechend einer solchen Perspektive u m (sog. Pentomic Division). Greiner, Die Entwicklung der Bündnisstrategie, S. 153 f. und 167 f. BA-MA, BW 1/54931, Vtdg.-Ausschuss, 147. Sitzung, II. Legislaturperiode, Vortrag des Obersten Alliierten Befehlshabers in Europa, Gen. Norstad, 21.3.1957, S. 10 f. und 2 1 - 2 8 .
II. Die Bedeutung der strategischen Entwicklung für den Aufbau der Luftwaffe
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rer Bestückung der Einsatzverbände forderte 31 , um ggf. unterhalb der Atomschwelle kämpfen zu können 32 , und obwohl Lauris Norstad in einem Vortrag vor dem Verteidigungsausschuss des Deutschen Bundestages am 21. März 1957 betont hatte, dass die schon zu diesem Zeitpunkt vorhandenen taktischen und strategischen Verbände eine ungeheure Schlagkraft besaßen 33 . Der Inspekteur der deutschen Luftwaffe, Josef Kammhuber, nannte dies die »Saturierung des Westens mit Α-Bomben« 34 . Salopp formuliert könnte man als dahinterstehendes Motto formulieren: »Jeder, der mitmacht, ist willkommen.« Offenbar befand man sich geistig in einer Art lückenfüllendem Automatismus, ohne zu bedenken, dass man dadurch eine strategische Situation schuf, deren Folgen in einem Krieg sich »der rationellen Beurteilung entzogen« 35 . Ihre markanteste Ausprägung fand diese Entwicklung in radikalen Auslegungen der Massive Retaliation, wie sie etwa Bernhard Montgomery Mitte der 50er Jahre vertrat. Wenn man davon ausging, dass der künftige Krieg ohnehin eine eher technische Auseinandersetzung der beteiligten Luftwaffen um die Ausbringung möglichst hoher Zerstörungspotenziale darstellen würde, benötigte man einen hohen Grad an technischer Steuerungssicherheit 36 . Die aktuelle Spitze der NATO, insbesondere Norstad, vertrat jedoch nicht zuletzt vor allem mit Rücksicht auf die Deutschen, die er ja in seinem strategischen und politischen Interesse als SACEUR benötigte, eine gemäßigtere Linie und verlangte ausgewogenere Streitkräfte, d.h. Truppen, die nicht nur nuklear, sondern auch konventionell kämpfen konnten, wenn auch nicht wirklich genau definiert wurde, ob und wann die konventionelle Komponente zum Einsatz käme 37 . Die Nuklearisierung bot einen strategischen Ausweg aus der angenommenen konventionellen Unterlegenheit gegenüber dem Osten, dies umso mehr als man zumindest teilweise ohne radikale Änderungen in der grundlegenden Streitkräftekonzeption auskam, wie gerade das Beispiel der taktischen Luftwaffen zeigt. Als die Fortschritte der Sowjetunion in der Raketentechnologie im Herbst 1957 dann für alle Welt sichtbar wurden, bewegte sich die NATO bereits mit Höchstgeschwindigkeit der nuklearen Komplettierung auf allen Ebenen entgegen. Der Einstieg in den nuklearen Automatismus, das Drehen an der Rüstungsspirale, hatte begonnen. Es wurde zunehmend deutlicher, dass das eigene Potenzial kaum wirklich einsetzbar war, wenn man umfassende Vernichtung verhindern wollte. Die öffentliche Hauptlegitimation für die nukleare 31 32
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Dazu auch BA-MA, BL 1/14649, Tgb. InspLw, Eintrag vom 6.6.1958. Fü Β III Leiter, Kurze Inhaltsangabe der MC 70 vom 18.2.1958, dazu Fü Β III 2, Sprechzettel für Sitzung des Bundesverteidigungs-Rats am 25.3.1958, Unterrichtung über Dok. MC 70 (Entwurf) vom 20.3.1958, NHP-Dok. 018. Ebd., S. 11-14. BA-MA, BL 1/14705, Kommandeur-Besprechung 2/58 vom 20.6.1958. Steinhoff/Pommerin, Strategiewechsel, S. 34. Greiner, Die Entwicklung der Bündnisstrategie, S. 134. BA-MA, BW 1/54931, Vtdg.-Ausschuss, 147. Sitzung, II. Legislaturperiode am 21.3.1957, Vortrag des Obersten Alliierten Befehlshabers in Europa, Gen Norstad, S. 10 f. Kelleher, Germany and the Politics, S. 78 f. und 85 f., 136-139; Greiner, Die Entwicklung der Bündnisstrategie, S. 166-171.
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Bernd Lemke: Vorwärtsverteidigung, Integration, Nuklearisierung
Aufrüstung, der Gedanke der Abschreckung, geriet dadurch in eine existenzielle Krise, die die Amerikaner dann in den 60er Jahren durch eine Neudefinierung der Flexibilität hin zur Stärkung der konventionellen Abwehrkraft der NATO zu bewältigen versuchten38. Beschleunigt wurde dies durch die BerlinKrise 1961 und die Kuba-Krise 1962, die vor allem aus Sicht der Amerikaner beide zeigten, dass Radikalszenarien mit der Gefahr einer schnellen Eskalation, wie sie Übungen nach dem Muster von Lion Noir beinhalteten, keine Lösungen boten, sondern die eigene Handlungsfähigkeit einschränkten39. Auf deutscher Seite betrachtete neben Konrad Adenauer vor allem Strauß es sowohl aus der Perspektive bundesdeutscher Interessenpolitik als auch aus eigenem Machtkalkül heraus als unerlässlich, in irgendeiner Form zu einer nuklearen Teilhabe zu kommen40. Vor diesem Hintergrund ist auch der von ihm veranlasste Umschwung in der Aufstellungsplanung der Bundeswehr nach dem Scheitern der Pläne des glücklosen Theodor Blank zu verstehen41. Die Bundesrepublik hatte der NATO 1955 versprochen, innerhalb von drei Jahren 605 000 Mann bereitzustellen und schon Ende 1956 zwölf Heeresdivisionen zumindest kadermäßig zu aktivieren. Dies erwies sich vor dem Hintergrund der tatsächlichen Möglichkeiten des Landes als vollkommen utopisch und angesichts der Atomwaffen für Strauß auch entbehrlich. Die von ihm in dieser Situation ausgegebene Devise »Qualität vor Quantität«42 entsprang daher nicht traditioneller deutscher Volksweisheit, sondern der Einsicht in die strategische Entwicklung der NATO und der Nuklearisierungspolitik der Führungsmacht. Nicht eine unerfüllbare konventionelle Aufrüstungsplanung sollte erfolgen, sondern die Aufstellung zahlenmäßig begrenzter, dafür aber nuklearfähiger Verbände auf dem allerneuesten Stand der Technik. Die Luftwaffe mit ihrem hervorstechenden technischen Gepräge, das durch die Anforderungen der Massive Retaliation noch erheblich stärker in den Vordergrund trat, als dies ohnehin schon der Fall war, stand hier im Zentrum der Überlegungen. Strauß' Grundhaltung trat dann später auch bei der Debatte um die Einführung von Boden-Boden-Raketen im Vorfeld der Diskussion um die Mittelstreckenraketen deutlich zutage und könnte analog zur Devise von NATO-Generalsekretär Lord Hastings L. Ismay (»Wir kämpfen als ein Team«)43 wie folgt umschrieben wer-
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Unter der großen Anzahl der dazu bereits veröffentlichten Werke vgl. etwa Tuschhoff, Deutschland, Kap. C, v.a. S. 215 ff.; Bald, Hiroshima, Kap. 4. Steinhoff/Pommerin, Strategiewechsel, S. 81 - 9 2 und 1 3 3 - 1 4 6 . Zu Strauß' Machtkalkül: Kelleher, Germany and the Politics, S. 6 4 - 7 4 . Zur Position der dt. Regierung, insbes. auch Adenauers, siehe Hoppe, Zwischen Teilhabe und Mitsprache, S. 3 1 - 3 9 ; Bluth, Britain, S. 1 8 - 4 2 ; Heuser, NATO, Britain, S. 1 2 4 - 1 3 0 . Z u m Folgenden vgl. Theiler, Die Rezeption, S. 4 9 8 - 5 0 6 ; Fischer, Zwischen Abschreckung und Verteidigung, S. 2 8 1 - 2 9 1 . Zu den Details der Aufstellungsplanung und deren Problemen siehe Α WS, Bd 3, S. 7 3 2 - 8 4 4 (Beitrag Greiner). AWS, Bd 3, S. 768 (Beitrag Greiner). Fü Β III an den Bundespräsidenten v o m 7.11.1960, Vorgeschichte M C 70, NHP-Dok. 053, S. 3.
II. Die Bedeutung der strategischen Entwicklung für den Aufbau der Luftwaffe
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den: »Wer mitreden will, muss mitmachen 44 .« Dies wurde dann von Dwight D. Eisenhower und Norstad entsprechend ihren Interessenlagen auch honoriert 45 . Demgegenüber sträubte sich Heusinger, der oberste deutsche Planer, anfangs gegen ein allzu schnelles Verlassen auf die Atomwaffen und kritisierte einen entsprechenden »Abmarsch« in Richtung der Amerikaner, wie er von Kammhuber und Adolf Graf von Kielmansegg getätigt werde 46 . Stattdessen propagierte er die Option einer beweglichen Panzerkampfführung mit der Hoffnung, die Angreifer im Kriegsfalle so rasch und so weit im Osten wie möglich aus der Bundesrepublik und damit auch dem Bündnisgebiet wieder hinauszuwerfen 47 . Diese Absichten, die im Vertrauen auf militärische Führungsund Reaktionskunst gefasst wurden, gerieten allerdings je mehr ins Wanken, je mehr man sich bewusst wurde, dass eine konventionelle Aufrüstung vor allem der Bundeswehr nur unter Mühen vollzogen werden konnte, und man sehr rasch zugeben musste, dass man die zahlenmäßigen Anforderungen der NATO nicht rechtzeitig erfüllen konnte48. Damit korrespondierten steigende Zweifel, ob ein Gegner im Zeitalter der Atomwaffen mit konventioneller Strategie aufzuhalten war, selbst wenn man höchste Effizienz an Schlagkraft, beste Führungsqualitäten und eine maximale Vorbereitung der Abwehr auch im Bereich der Territorialverteidigung erreichte. Vor diesem Hintergrund traten in der NATO und der Bundesrepublik je nach Grundansatz und nuklearer Perspektive (Atomwaffen für Heer und/oder taktische Luftwaffe und Mischungsgrad mit konventioneller Bewaffnung) die verschiedensten Auffassungen zu Tage. Das Meinungsspektrum reichte von den radikalen Ansichten Montgomerys, der von einem sofortigen unterschiedslosen Einsatz aller Atomwaffen von der kleinsten taktischen Granate bis zu den schweren strategischen Waffen des SAC ausging, auf der einen Seite bis 44
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Es ging, a n d e r s ausgedrückt, u m die » M a x i m i e r u n g der v o r h a n d e n e n Machtmöglichkeiten d e r B u n d e s r e p u b l i k Deutschland« u n d d a s Bestreben, «als in jeder Hinsicht gleichberechtigte Macht e t w a wie England oder Frankreich b e h a n d e l t z u werden.« Strauß, Die Erinnerungen, S. 436. Vgl. a u c h ebd. die e n t s p r e c h e n d e n Passagen S. 297-380 u n d 434 f. Strauß - ebd., S. 437-439 - v e r b a n d diese Ziele direkt mit der allgemeinen historischen Perspektive, d.h. der Historisierung der Verbrechen w ä h r e n d des Zweiten Weltkriegs. Fast nahtlos mit d e r A t o m w a f f e n p r o b l e m a t i k v e r k n ü p f t er die F o r d e r u n g nach einer Politik »des a u f r e c h t e n Ganges« o h n e historisierende D e m u t s h a l t u n g , u m zu verhindern, dass die B u n d e s r e p u b l i k »auf ewig ein Wischi-Waschi-Staat oder eine Art Halbkolonie bleiben [wird], eine Art internationale Fürsorgeerziehungsanstalt, die von a u ß e n kontrolliert wird«. Strauß' H a l t u n g w i r d d u r c h die Kontrastierung d u r c h die teils scharfe A r g u m e n tation von H e l m u t Schmidt in der Sitzung sehr gut erkennbar. Jordan, N o r s t a d , S. 109. BA-MA, BW 2/980, Notiz f ü r Studie, G e d a n k e n Gen. H e u s i n g e r z u r A t o m k r i e g f ü h r u n g (o.D., w o h l 1956). D a z u M a t e r i a l s a m m l u n g f ü r Studie (u.a. Mahlke, M i t p r ü f u n g s n o t i z 12.11.1956). Ebd., BL 1/1504, Fü Β IV Α, Brief v o n H e u s i n g e r an SACEUR u n d Valluy, CINCENT, v o m 18.7.1957. Zu d e n A n f ä n g e n der strategischen Debatte in u n d ü b e r die Bundesrepublik in Bezug auf konventionelle u n d a t o m a r e K r i e g f ü h r u n g vgl. grundsätzlich: AWS, Bd 3, S. 563-750 (Beitrag Greiner). BA-MA, BW 9/2528-1, Denkschrift u n d Tgb.-Notizen Gröpler z u A n s p r u c h u n d Realität d e r A u f s t e l l u n g s p l a n u n g , Febr. bis Mai 1957; AWS, Bd 3, S. 750-850 (Beitrag Greiner).
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Bernd Lemke: Vorwärtsverteidigung, Integration, Nuklearisierung
zu Heusinger, der ein »Maginot-Denken« auf nuklearer Basis ablehnte 49 und seine Hoffnungen darauf setzte, bei aller nuklearen Aufrüstung in einem Krieg doch noch möglichst lange konventionell kämpfen zu können, auf der anderen50. Dazwischen gab es fast jede Schattierung für Definition, Einsatzgestaltung, Nuklearschwelle und Relation von »Schild zu Schwert«. Vollends unübersichtlich wurde das Bild durch die rasche technische Fortentwicklung. Mit all diesen Unklarheiten korrespondierte die generelle strategische Unsicherheit der eigenen Phaseneinteilung für den Kriegsbeginn. Niemand konnte zweifelsfrei definieren, was eine »local hostile action«, d.h. ein örtlicher Angriff, sein würde und ob es danach nicht doch ein begrenzter Krieg (limited war) ohne Eskalation und Einsatz aller Atomwaffen, auch der strategischen, kommen würde, der nach der radikalen Interpretation der Massive Retaliation ja eigentlich gar nicht vorgesehen war. Dementsprechend blieb die Frage nach der Nuklearschwelle und der Intensität weiterer Kernwaffenschläge nach einem ersten Atomeinsatz offen. Auch die Vorstellungen der deutschen Planungsspitze wurden von diesen Strömen und Strudeln mitgetrieben. Obwohl sich Heusinger gegen eine allzu schnelle Nuklearisierung gesträubt hatte, verweigerte er sich einer atomaren Zerstörungsstrategie insbesondere auch in Bezug auf die Rolle der Luftwaffe letztlich dann nicht51. So bewegte er sich angesichts einer möglichen Einführung von Mittelstreckenraketen (MRBM) in einem Paper von 1959 (Gedanken zur weiteren Entwicklung strategischer Pläne und ihre Auswirkung auf die Aufstellungsplanungen der Bundeswehr) im Zusammenhang mit der Frage einer Stationierung von Mittelstreckenraketen in gewisser Weise auf die Position von Kammhuber zu, dessen »Abmarsch« er zunächst eigentlich kritisiert hatte, und stellte allen Teilstreitkräften die Frage, ob es nicht doch besser sei, das Schwergewicht der Rüstung vornehmlich auf die Luftwaffe zu legen52. Die Perspektive flexiblerer Handhabung des Kampfpotenzials unter nachhaltiger Aufwertung der konventionellen Streitkräfte sollte so richtig erst nach dem Regierungswechsel in den USA von 1961 an Bedeutung gewinnen und schließlich zur Konzipierung der Flexible Response führen. Zwei Jahre zuvor konnte aber noch niemand absehen, welche Richtung die Entwicklung nehmen 49 50
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Gablik, Strategische Planungen, S. 159 ff. Greiner, Zur Rolle Kontinentaleuropas, S. 166 ff. Vgl. dazu auch oben, S. 31. Zu Montgomery auch Α WS, Bd 3, S. 610 und 727 f. (Beitrag Greiner). Vgl. außerdem ebd., S. 613 f., 737 und 745 ff. Zum Übergang: BA-MA, BW 2/3939, Heusinger, Folgerungen aus einer etwaigen atomaren Bewaffnung der Bw für die Führung der Truppe vom 2.4.1958. Ein nicht zu unterschätzendes Moment dürfte auch die Erkenntnis gewesen sein, dass die vielfältigen Aufgaben einer dt. Lw unter den Bedingungen der immer aufwändiger und komplexer werdenden Technik auf der Basis einer rein konventionellen Waffenauswahl niemals finanziert werden konnten. BW 17/43, Heusinger, Gedanken über die Planung der Lw vom 21.5.1957, v.a. S. 3. Ebd., BL 1/1753, Genlnsp der Bw, Fü Β III, Gedanken zur weiteren Entwicklung strategischer Pläne und ihre Auswirkung auf die Aufstellungsplanungen der Bw vom 7.9.1959, S. 5 ff. Auch in BW 2/1799.
II. Die Bedeutung der strategischen Entwicklung für den Aufbau der Luftwaffe
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würde. Heusinger jedenfalls forderte, wie er dies schon Mitte der 50er Jahre getan hatte, »starke Offensivschläge« 53 gegen einen sowjetischen Angriff. »Ziel dieser [unserer] Verteidigung muss es sein, zu verhindern, dass unser Gebiet überrollt wird, und das Kriegspotenzial des Gegners schwerpunktmässig zu zerschlagen [...] Entsprechend den Zielen, die der Gegner bietet, müssen wir die Reichweiten der vorhandenen Kriegsmittel voll ausnutzen. Wir dürfen uns nicht nur mit dem Kampf um den Eisernen Vorhang oder einer Interdiction an der Elbe, Oder und an der Weichsel begnügen, sondern müssen auch versuchen, den Nerv des Feindes in seinem Hinterland oder an seinen Küsten zu treffen 54 .« Die angriffsweise Kampfführung spielte bei Heusinger trotz der ganzen strategischen Defensivlage eine wesentliche Rolle. Eine klare und widerspruchsfreie Definition der Einsatzrolle der taktischen Luftstreitkräfte, auch der entstehenden Luftwaffe, im Gesamtrahmen blieb angesichts der Unsicherheiten auf der NATO-Ebene von Anfang an schwierig. Insgesamt kann keineswegs a priori davon ausgegangen werden, dass der Luftwaffe von den höheren Ebenen über die Vermittlung der Grundannahmen hinaus stets eindeutige Impulse geliefert wurden. Die generellen Parameter und inhaltlichen Bestandteile wurden zwar meist durchaus klar vorgegeben, nur blieb die Gewichtung im Detail, also etwa die Bedeutung konventioneller Kampfführung - eine zentraler Punkt für den praktischen Aufbau der Truppe häufig umstritten. Die Planungszirkel der Luftwaffe, die - anders als die meisten obersten Beratungsinstanzen - »hard facts« zu schaffen hatten, mussten sich eine eigene Position erarbeiten. Dies geschah unter anderem durch Rückgriff auf langfristige Vorgaben und strukturelle Grundparameter des Luftkrieges. Der technisch-organisatorische Aufbau der Luftwaffe hing, wie im Folgenden noch darzulegen sein wird, insgesamt gesehen überhaupt nicht von den Atomwaffen ab. Diese konnten wie konventionelle Sprengkörper an jeden Jagdbomber mit einem bestimmten, insgesamt nicht allzu hohen Leistungsminimum gehängt oder auf eine Rakete aufgesetzt werden und verursachten damit lediglich einen quantitativen Mehraufwand durch die besonderen Sicherheitserfordernisse und die Alarmbereitschaft. Die Organisation und die Hauptbelastungen wurden entscheidend von den technischen Anforderungen der Waffensysteme und den dahinter stehenden wirtschaftlichen, finanziellen, logistischen und personellen Zwängen bestimmt. Von der praktischen Seite her gesehen konnte man die Situation durchaus auf den Nenner konventionelle Struktur = atomare Struktur bringen, und dies kam auch in der Politischen Direktive und der MC 70 klar zum Ausdruck, was sich gerade im Falle der Luftwaffe ja auch leicht bewerkstelligen ließ, weil Flugzeuge und Raketen ungeachtet aller noch anstehenden technischen Unterschiede und Probleme
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Ebd., BW 2/2717-1, Beurteilung der strategischen Weltlage vom 23.6.1954, S. 11. Ebd., BL 1/1753, Genlnsp der Bw, Fü Β III, Gedanken zur weiteren Entwicklung strategischer Pläne und ihre Auswirkung auf die Aufstellungsplanungen der Bw vom 7.9.1959, S. 5 f. Auch in BW 2/1799.
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Bernd Lemke: Vorwärtsverteidigung, Integration, Nuklearisierung
grundsätzlich als Träger beider Waffenarten taugten55. Dabei wurde von deutscher Seite, nachdem man die Nuklearisierung grundsätzlich akzeptiert hatte, besonders betont, dass, wenn schon ein wesentlicher Teil der Kampfverbände nuklear bestückt werde, dieser Teil im Ernstfall dann auch dafür zurückgehalten und nicht im konventionellen Einsatz >verheizt< wurde56 - ein Diktum, das für die kommenden Auseinandersetzungen um die Strategie bis 1967/69 noch zentralen Charakter gewinnen sollte.
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FüStab BW - A, Sprechzettel für Genlnsp zur Bundesverteidigungsratsitzung 11.10.1957, vom 8.10.1957, und BrigGen de Maiziere, Kurze Zusammenfassung der Ausführungen vor dem Bundesverteidigungsrat am 11.10.1957 im Anschluss an die Ausführungen des Herrn Genlnsp, vom 18.10.1957, NHP-Dok. 014, S. 3 - 6 . Fü Β III, Aufgabe und Planung der Bw, Ministerbesprechung am 4., 5. und 7.12.1959, vom 21.12.1959, NHP-Dok. 041, S. 9 f.
Dieter Krüger Der Strategiewechsel der Nordatlantischen Allianz und die Luftwaffe
I. Zweifel an der gültigen Nuklearstrategie Folgt man den bis 1967 gültigen Strategiedokumenten des Bündnisses, verbürgten vor allem die strike forces die aktive Luftverteidigung im Rahmen einer »Sicherheitspolitik, die, obgleich rein defensiv, dennoch [...] gestützt ist auf ein Angriffsflugzeug, das in seinem Bauch eine atomare Sprengladung mit sich führt« 1 . Tatsächlich hatte schon die Verabschiedung der MC 48 2 im November 1954 die Debatte des Bündnisses über das Verhältnis von nuklearen und konventionellen Kriegsmitteln erst richtig angestoßen. Der Nordatlantikrat hatte 1956 die Suche nach der angemessenen Mischung aus nuklearen und konventionellen Elementen zunächst den militärischen Spitzengremien überlassen. SHAPE nahm an, dass bis 1966 beiden Seiten hinreichend Atomwaffen zur Verfügung stünden. Abschreckend wirkte demzufolge vorrangig die Bereitschaft, in den Atomkrieg einzusteigen. Glaubwürdig wurde diese Bereitschaft mit der Bereitstellung entsprechender Nuklearkriegsmittel, namentlich solcher der Luftstreitkräfte. Allerdings bedurfte es zugleich der Mittel, um die Atomwaffen und ihre Träger gegen einen Uberraschungsschlag zu schützen. Hinreichende konventionelle Kräfte hatten vor allem die Funktion, den Gegner zur Offenbarung seiner Absichten zu zwingen. Sofern sich weitreichende Ziele abzeichneten, lief die massive Vergeltung an. Folgerichtig sollte das Bündnis in erster Linie seine zur möglichst verzugslosen Reaktion befähigten Nuklearstreitkräfte und in zweiter Linie seine präsenten Kräfte stärken. Dagegen mahnten der amerikanische NATO-Oberbefehlshaber im Atlantik (SACLANT), der amerikanische Heeresstabschef, französische, deutsche und Militärs aus anderen Staaten die Fähigkeit des Bündnisses an, auch begrenzte konventionelle Kriege zu führen. Angesichts eines sich abzeichnenden atomaren Patts der Supermächte plädierte auch der Nationale Sicherheitsrat in Washington gegen einen nuklearen Automatismus und für hinreichende konventionelle Fähigkeiten des Bündnisses, die ihm eine abgestufte Reaktion auf sowjetische Aggressionen erlaubten. Briten und Kanadier erkannten darin eine gefährliche Verwässerung der Nuklearstrategie, die den Gegner erst zu begrenzten Aggressionen unterhalb der Schwelle des Atomkrieges ermuntern werde. Die Amerikaner fürchteten den umfassenden nuklearen Schlagabtausch, die Europäer den auf ihre Region begrenzten Nuklearkrieg. Die Deutschen wa-
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So Gallois - Die französische Luftverteidigung, S. 119 - , der Vordenker der franz. Nuklearstrategie. Vgl. auch Rheinbaben, Probleme der Luftverteidigung, S. 225 f. Vgl. NATO Strategy Documents, S. 232-236, 240 f., 248.
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Dieter Krüger: Der Strategiewechsel der Nordatlantischen Allianz
ren über eine rein konventionelle Auseinandersetzung besorgt, bei der die Bundesrepublik zu großen Teilen erobert würde3. Der amerikanische Außenminister John Foster Dulles warnte die britische Regierung 1956, das Heil einseitig in Kernwaffen zu sehen und darüber jegliche politische Flexibilität einzubüßen4. Wenn die Abschreckung versagte, stand oder fiel die Strategie des Bündnisses mit der Bereitschaft des Präsidenten der Vereinigten Staaten, den Kernwaffeneinsatz freizugeben. Er hatte ferner zu entscheiden, ob und wann ein Angriff ausschließlich auf Europa mit den eigenen strategischen Atomwaffen zu vergelten war, was voraussichtlich den Einsatz sowjetischer Kernwaffen gegen Nordamerika nach sich zog. Die Deutschen standen vor einer doppelt ungemütlichen Alternative: Entweder sie wurden überrollt oder sie wurden von den Vereinigten Staaten und vom Bündnis verteidigt. Das Bündnis verfügte jedoch nicht über ausreichende konventionelle Kräfte. Die Mitgliedsstaaten wähnten in einer dem Bedrohungspotenzial angemessenen konventionellen Ausstattung den Ruin ihrer Volkswirtschaften, was einem sowjetischen Sieg im Kalten Krieg gleichkam. Mit Aussicht auf Erfolg verteidigen konnte sich die Allianz unter diesen Voraussetzungen nur, wenn sie frühzeitig Atomwaffen einsetzte. Mit dem Atomkrieg auf ihrem Boden riskierten die Deutschen freilich den kollektiven Untergang, wie NATO-Manöver zeigten5. Die Konsequenzen kamen der Quadratur des Kreises gleich: Die Bundesrepublik musste um der Existenz ihrer Bevölkerung willen den Kernwaffeneinsatz vermeiden. Zugleich musste sie eine möglichst niedrige Schwelle des Atomwaffeneinsatzes anstreben, um ihre Integrität zu wahren. Der eigenen Öffentlichkeit gegenüber verschleierte Bundesverteidigungsminister Franz Josef Strauß 1957 das Dilemma, indem er die amerikanischen Atomwaffen auf deutschem Boden - auf die die Luftwaffe im Ernstfall zurückgegriffen hätte - als Ultima Ratio für den Notfall darstellte. Tatsächlich hätte er nur im Ausnahmefall lokaler Zusammenstöße mit dem Gegner darauf verzichten können6. Kein Wunder, dass sowohl Generalinspekteur Adolf Heusinger wie die Inspekteure des Heeres und der Marine skeptisch blieben7. SACEUR Lauris Norstad strebte eine eigenständige nukleare Abschreckung des Bündnisses an8. Er reagierte auf zunehmende Zweifel, die viele Europäer angesichts des nuklearen Patts an der Bereitschaft der Vereinigten Staaten hegten, ihre Verbündeten im Ernstfall nuklear zu verteidigen. Im Dezember 1958 forderte Norstad ein eigenes Potenzial ballistischer Mittelstreckenraketen der 3
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Vgl. SHO, SHAPE History July 1953-Nov. 1956, S. 130-132; Greiner, Die Entwicklung der Bündnisstrategie, S. 147-160; AWS, Bd 3, S. 710 f., 713 f. (Beitrag Greiner); Heuser, NATO, Britain, S. 38 f.; Steinhoff/Pommerin, Strategiewechsel, S. 25 f.; Theiler, Die Rezeption, S. 496. Vgl. FRUS, 1955-1957, vol. 4, S. 99-102, 123-133 (Zitat S. 125), Gespräch Eisenhower, Dulles, Radford u.a., 2.10.1956; Gespräch Dulles, Lloyd, Humphrey, Macmillan u.a., 11.12.1956. Vgl. Steinhoff/Pommerin, Strategiewechsel, S. 32-34. Vgl. AWS, Bd 3, S. 742 f. (Beitrag Greiner). Vgl. ebd., S. 724 f., 740 f.; Theiler, Die Rezeption, S. 503-506. Vgl. BA-MA, BL 1/1753, Vermerk Steinhoff, 19.6.1959.
I. Zweifel an der gültigen Nuklearstrategie
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NATO mit einer Reichweite von ca. 2800 km und Sprengköpfen bis zu einer Megatonne. Sie hätten von Stationierungsräumen in Großbritannien, Frankreich, Italien und im östlichen Mittelmeer einen Großteil der europäischen Sowjetunion erreichen können. Die Mittelstreckenraketen sollten einerseits die Abhängigkeit von den amerikanischen strategischen Luftstreitkräften mindern. Andererseits bot sich hier ein zeitgemäßer Ersatz für die verwundbaren und teuren bemannten strike forces. Die amerikanischen Außenminister Dulles und Christian Herter unterstützten die von Norstad angestrebte Verfügung der NATO über die Atomsprengköpfe. Im Dezember 1960 schlug Herter eine multinationale Atomstreitmacht vor, nicht zuletzt um Frankreich einzubinden, das im Februar 1960 eine eigene Atombombe gezündet hatte. Der Vorbehalt des amerikanischen Präsidenten hätte in beiden Fällen gegolten. Großbritannien, später auch Italien und die Türkei schlossen bilaterale Abkommen und genehmigten die Aufstellung amerikanischer Mittelstreckenraketen auf ihrem Territorium. Frankreich galt nukleare Gleichberechtigung mit den Briten - die einem Einsatz von Kernwaffen von ihrem Territorium aus zustimmen mussten - als Minimalforderung, die sich bald zum Streben nach nationaler Verfügungsgewalt über Atomwaffen verhärtete. Die Briten wollten sich auf die strategischen Luftstreitkräfte konzentrieren und ihre in Westdeutschland stationierten taktischen Luftstreitkräfte abbauen. In Paris interpretierte man folglich die Forderung nach »balanced forces« als eine dem eigenen Selbstverständnis diametral widersprechende Vorstellung, nach der die Angelsachsen »1'arme noble (atomique) et les autres [...] la pietaille« stellten. Im Juni 1960 forderte Norstad vom Nordatlantikrat 300 Mittelstreckenraketen, andernfalls sein Kommandobereich ab 1963 die Fähigkeit zur nuklearen Abschreckung einbüße. Angesichts der Überlegungen, im Rahmen der sogenannten »Force goals 1966« die Luftstreitkräfte des Bündnisses weiter zu reduzieren, sattelte Norstad noch drauf. Er forderte 650 Raketen: zehn Unterseeboote mit 160 Polaris-Raketen, drei Staffeln ballistischer Boden-Boden-Flugkörper zusätzlich zu den 45 Jupiter-Raketen, die in Italien und der Türkei stationiert wurden 9 . Norstad erwartete im November 1959 von den Deutschen, dass sie bei den Verbündeten für seine Nuklearpläne eintraten und selbst geeignete Verbände aufstellten. Strauß sagte die Aufstellung von zwei Flugkörperverbänden zu, die Norstad neben den F-104-Strikeflugzeugen in seinen Atomic Strike Plan einbauen wollte. Allerdings forderte der Bundesverteidigungsminister, dass die Bundeswehr mindestens hinsichtlich der Planung von in Deutschland gelegenen Atomzielen zu beteiligen sei. Norstad beharrte dagegen unmissverständlich auf seiner alleinigen Verantwortung für den Atomic Strike Plan, der den natio9
Vgl. SHO, SHAPE History 1960-1965, I, S. 107-112; BA-MA, BW 2/2804, fol. 51-54, Vermerk v. Hobe, 6.5.1960; ebd., BW 2/20053, Nordatlantikrat, 10.2.1960; Chabot, L'OTAN, S. 153 (Zitat); The Joint Chiefs of Staff, IV, S. 105-112; Gablik, Strategische Planungen, S. 211-213; Hoppe, Zwischen Teilhabe und Mitsprache, S. 37-44; Jordan, Norstad, S. 104-107; Schmitt, Frankreich und die Nukleardebatte, S. 45-51, 61-64, 84-97; Steinhoff/Pommerin, Strategiewechsel, S. 105-111, 122-124; Va'isse, Intra-Alliance Conflict, S. 146-154.
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Dieter Krüger: Der Strategiewechsel der Nordatlantischen Allianz
nalen Verteidigungsministerien nicht zur Kenntnis gegeben werde. Allenfalls über die alliierten Stäbe in Europa-Mitte - und damit über den deutschen COMLANDCENT Hans Speidel - würden die Deutschen mitwirken. Immerhin sollte der Generalinspekteur der Bundeswehr über die Zielplanung in Deutschland und seinem östlichen Vorfeld unterrichtet werden, allerdings ausschließlich mündlich. Anregungen der Deutschen sollten immerhin Berücksichtigung finden10. Der Führungsstab der Bundeswehr reagierte auf die Pläne Norstads. Atomar bestückte Mittelstreckenwaffen sollten jetzt die bislang von den bemannten Luftangriffsverbänden auszuführenden »counter air«- und »air-interdiction«Einsätze übernehmen. Die Luftwaffe stand diesem Paradigmenwechsel angesichts der mangelnden Zielgenauigkeit der ballistischen Flugkörper reserviert gegenüber, ohne deshalb von ihrer Orientierung auf den Atomkrieg abzurücken, darin völlig einig mit dem Bundesverteidigungsminister. Strauß folgte offenkundig der Logik der Franzosen, dass in letzter Instanz nur die Verfügung über strategische Vergeltungsstreitkräfte die Souveränität verbürge. Dagegen plädierten Speidel und Heusinger für ein ausgewogenes Verhältnis zwischen konventionellen und nuklearen Kräften11. Heusinger gab sich weiter überzeugt, dass die Vereinigten Staaten nicht zögern würden, ihr Strategisches Bomberkommando zur Verteidigung Europas einzusetzen, für dessen Ziele in Osteuropa ja auch weiterhin der SACEUR Verantwortung trage12. Im September 1960 kam der Stabsabteilungsleiter III des Führungsstabes der Bundeswehr, Cord von Hobe, zu der Auffassung, dass die ausschließlich auf strategischen Atomwaffen gestützte Abschreckung nicht mehr tauge. Unter den Vorzeichen des atomaren Patts würden die Staatsmänner zögern, in den allgemeinen Atomkrieg einzusteigen. Sie wären im Ernstfall bestrebt, so lange wie möglich konventionell und erst darin unter Einsatz taktischer Nuklearwaffen zu verteidigen, wenn es womöglich zu spät war. Im Übrigen entscheide in letzter Instanz der amerikanische Präsident über den Atomwaffeneinsatz. Damit werde die auf Europa begrenzte Verwendung taktischer Nuklearwaffen immer wahrscheinlicher. Hobe erkannte darin - vor dem Hintergrund der französischen Haltung - eine wesentliche Schwäche des Bündnisses. Als dessen »Festungsglacis« müsse die Bundesrepublik jede Form von Krieg verhindern. Den Weg zur Wiederherstellung der Abschreckung sah Hobe in einem - dank deutscher Truppen - starken Schild und in ausgewogenen Streitkräften mit ausreichender konventioneller Bewaffnung und nuklearen Mehrzweckwaffen für den taktischen Einsatz und die strategische Vergeltung13.
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Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
BA-MA, BL 1/1908, Gespräch Norstad/Strauß, 20.11.1959. Gablik, Strategische Planungen, S. 1 6 6 - 1 7 1 , 1 7 6 f., 181-185. BA-MA, BW 2/2804, fol. 27-33, Heusinger an Strauß, 26.8.1959. ebd., BW 2/2718, Denkschrift v. Hobe, 15.9.1960.
II. Die Aufweichung der Massiven Vergeltung Im November 1960 stellte sich Norstad auf den eben ins Amt gewählten Präsidenten John F. Kennedy ein. Er warb - mit Unterstützung des deutschen CINCENT Speidel - öffentlich für eine Lockerung der massiven Vergeltung im Sinne einer Pause vor dem Ubergang vom konventionellen zum Kernwaffeneinsatz 1 . Am 13. Dezember 1960 folgte eine Strategische Grundsatzweisung des SACEUR. Sie wies in die gleiche Richtung wie die Denkschrift Hobes. Allerdings haftete ihr auch eine ähnliche Unentschiedenheit an. Wenn sich das Bündnis ausschließlich auf die nukleare Gegenoffensive vorbereite, so Norstad, werde seine Strategie missverstanden. Schließlich seien die Schildstreitkräfte dafür ausgelegt, eine »all or nothing response« zu vermeiden. Bei optimaler Ausbildung, Ausrüstung, Organisation und Dislozierung reichten die vorhandenen und noch geplanten Streitkräfte des Bündnisses aus, konventionell zu reagieren, solange dies der militärischen Lage angemessen war. Selbst wenn selektiv Atomwaffen eingesetzt würden, werde dies nicht zwangsläufig in einem totalen Atomkrieg enden. Gleichwohl müssten die eigenen Nuklearstreitkräfte gegnerische Attacken überleben, solange sie nicht eingesetzt wurden 2 . In der Konsequenz sollten »Strike«-Flugzeuge weitgehend durch mobile Mittelstreckenraketen ersetzt werden. Nur in bestimmten Fällen der Selbstverteidigung war der Kernwaffeneinsatz ohne die vorgesehene politische Entscheidung zulässig. Grundsätzlich galt für den SACEUR das Prinzip der Angemessenheit, d.h. konventionelle An- und Ubergriffe unterhalb der Schwelle des allgemeinen Atomkrieges waren möglichst konventionell und durch selektive Atomschläge abzuwehren. Der Gegner sollte sich vor der Alternative sehen: Rückzug oder totaler Atomkrieg 3 . Im Januar 1961 trat die Kennedy-Administration an. Sie war nicht mehr willens, ihre nukleare Verantwortung mit den Verbündeten zu teilen. Das Projekt eines seegestützten multilateralen Nuklearverbandes der NATO (Multilateral Force = MLF) hatte vor allem die Funktion, den Mittelstreckenplänen des SACEUR den Wind aus den Segeln zu nehmen, die französischen und deut1
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Bereits zwei Jahre zuvor sah Norstad die wichtigste Aufgabe der Schildkräfte darin, dem Gegner eine »pause of reconsideration« aufzunötigen. Vgl. FRUS 1958-1960, vol. 7, S. 387, US Delegation an State Department, 18.12.1958; Steinhoff/Pommerin, Strategiewechsel, S. 6 2 - 6 5 ; Speidel, Die Verteidigung Europas, S. 478 f. IMS, CD10, MCM-17-61, Standing Group Memo, 2.2.1961 (Einschluss: Runderlass SACEUR »Basic Strategie Guidance for Allied Command Europe«, 13.12.1960). Vgl. SHO, SHAPE History 1960-1965,1, S. 5 0 - 5 4 ; ebd. 1967, II, S. 85 f.
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sehen Nuklearbestrebungen zu konterkarieren und die Forderung der Verbündeten nach nuklearer Mitbestimmung zu absorbieren 4 . Denn gleichzeitig startete Washington eine Politik der nuklearen Rüstungsbegrenzung und des Verbots der Weitergabe von Atomwaffen. Außerdem sollte die Allianz einer Anhebung der Nuklearschwelle zustimmen. Die Bundesregierung antwortete mit der Forderung nach konventioneller Abrüstung, da sie ihren Staat naturgemäß vor allem durch die konventionellen Fähigkeiten der Sowjetischen Streitkräfte bedroht sah. Ferner forderte sie, den SACEUR mit umfassenden Befugnissen zur Freigabe des Nukleareinsatzes auszustatten: »General Norstad doit avoir le droit de decider, sans qu'il soit question de majorite« 5 . Das stand übrigens in bemerkenswertem Gegensatz zum energischen Bestreben des Bundeskanzlers und der Bundesregierung, den eigenen Streitkräften gegenüber den Primat der Politik durchzusetzen 6 . Im April 1961 monierten die Vereinigten Staaten, die Bündnispartner hätten in den vergangenen Jahren ihre konventionellen zu Gunsten ihrer nuklearen Fähigkeiten vernachlässigt. Sie warnten, die Sowjets könnten den Eindruck gewinnen, ihr wachsendes Arsenal an ballistischen Raketen erlaube ihnen ungestraft begrenzte konventionelle Gewaltstreiche. In der Konsequenz forderten sie die Europäer auf, ihre Rüstungsanstrengungen jetzt auf den konventionellen Bereich zu konzentrieren. Als Ausgleich wollten sie dem SACEUR fünf mit Polaris-Raketen bestückte U-Boote unterstellen. Auch über deren Einsatz entschied jedoch letztinstanzlich der amerikanische Präsident. Freilich wollte dieser sich an politischen Richtlinien des Bündnisses zum Nukleareinsatz orientieren, sobald diese beschlossen waren 7 . Rhetorisch geschickt knüpfte Dean Rusk, der neue amerikanische Außenminister, am Dilemma der Partner an. Manche Europäer fürchteten, die Amerikaner schössen zu schnell. Andere wiederum sorgten sich, dass sie gar nicht schössen. In der Tat seien die Entscheidungsprozesse im Bündnis selbst alles andere als klar. Die Allianz bedürfe eines politischen Spielraums, um angemessen auf Ubergriffe reagieren zu können. Folgerichtig müsse sie die konventionelle Stärke der Sowjetunion durch erweiterte eigene konventionelle Fähigkeiten ausgleichen. Rusk gab vor, die Strategie der NATO nur neu zu interpretieren. Tatsächlich debattierte das Bündnis seit Mitte der 1950er Jahre über das ausgewogene Verhältnis nuklearer und konventioneller Fähigkeiten. Jetzt war 4
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Vgl. FRUS 1961-1963, vol. 13, S. 253-256, 268, 271, 287-290, 333-335, 362, 366-368, Memos, 1.2. und 15.3.1961, Dowling an State Department, 10.4.1961; Policy Directive, 20.4.1961; Rusk an McNamara, 29.10.1961; Gespräch Kennedy, Stikker u.a., 6.2.1962; Memo, 15.3.1962; Binder, Lemnitzer, S. 321 f. So Adenauer gegenüber de Gaulle. DDF 1960, II, S. 480, Entretiens franco-allemands, 7.10.1960. Vgl. FRUS 1961-63, vol. 13, S. 347-349, 353-355, Lemnitzer an Kennedy, 20.12.1961; Runderlass Rusk, 8.1.1962. Gablik, Strategische Planungen, S. 213-215, 222-225, 235-237. Haftendorn, Kernwaffen, S. 35-37, 112-116, 148-152. Hoppe, Zwischen Teilhabe und Mitsprache, S. 46-52, 57-64, 144-151. Steinhoff/Pommerin, Strategiewechsel, S. 76-81, 128-131. Tuschhoff, Deutschland, S. 164-168, 278-307. Vgl. Schwarz, Adenauer, Bd 2, S. 242-247; Hornung, Staat und Armee, passim. Vgl. IS, CD 23, PO/61/449, Statement, 26.4.1961.
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das Ziel jedoch ein anderes. Washington wollte die Parameter grundsätzlich und dauerhaft verändern, wie der Vertreter der Türkei feststellte. Bereits die Streitkräfteziele der MC 708 seien ja als Element der nuklearen Abschreckung formuliert worden. Wenn man künftig konventionell abschrecken wolle, seien ganz andere Anstrengungen notwendig. Vorsichtig unterstützt vom italienischen Verteidigungsminister, warnte der Türke, die sofortige Vergeltung durch die mehr oder minder unklaren Vorstellungen eines begrenzten Krieges (limited war) zu relativieren. Großbritannien - einst Protagonist der massiven Vergeltung - forderte unter ausdrücklichem Hinweis auf die Berlin-Krise9 ebenfalls eine neue Balance zwischen konventionellen und nuklearen Fähigkeiten. Offenkundig war London der rasche Einstieg in den Atomkrieg unheimlich geworden, ohne dass es angesichts knapper Haushaltsmittel bereit war, auf den Ausbau seiner Nuklearkriegsfähigkeit zugunsten konventioneller Aufrüstung zu verzichten. Den Briten ging es allenfalls um die Kampfwertsteigerung, nicht um die Erweiterung der vorhandenen konventionellen Kräfte. Immerhin teilten sie Bedenken der Deutschen und der übrigen Europäer gegen amerikanische Überlegungen, die Nuklearschwelle anzuheben. Die Bundesrepublik sah in der Unterstellung der amerikanischen U-Boote - dem SACEUR nicht assigniert, sondern nur »committed« - kaum mehr als ein Trostpflaster, betrachteten die Amerikaner doch offenkundig damit die Forderung des SACEUR und seiner nachgeordneten Kommandos nach einem eigenen Mittelstreckenpotenzial als abgegolten. Tatsächlich wurde diese Forderung von Amerikanern und Briten zurückgewiesen. Der Einsatz von Mittelstreckenraketen aus dem Schild heraus bringe für die konventionelle Auseinandersetzung auf dem Schlachtfeld nichts außer einer unerwünschten Eskalation. Niederländer, Belgier, Italiener und Griechen unterstrichen dagegen ihr Unbehagen gegen die Revision der bisherigen Strategie, die dem Gegner die Initiative überlasse. Sie lehnten die Anhebung der Schwelle für den Nukleareinsatz ebenso ab wie den auf Norstad zurückgehenden Gedanken einer >Pause< vor der Entscheidung zum Atomkrieg. Als konsequente Neinsager traten Franzosen und Türken auf. Letztere kritisierten den Versuch der Angelsachsen, mit vorgeblicher Neuinterpretation der beschlossenen Strategie in Wahrheit deren Veränderung zu betreiben. Die Deutschen betonten, allenfalls ein konventioneller Angriff durch ein verstärktes Regiment könne noch konventionell abgewehrt werden. Sofern denn die in der DDR stationierten 20 sowjetischen Divisionen überhaupt für einen konventionellen Einsatz vorgesehen seien! Andernfalls sei die Debatte der Allianz ohnehin müßig. Später räumten die Deutschen ein, dass das Bündnis mit ausreichenden operativen Reserven an motorisierten, gepanzerten Verbänden auch rein konventionell die Oberhand behalten werde 10 . 8 9
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Vgl. dazu IMS, CD 03, MC 70 (Final Decision), 9.5.1958. Zur katalysatorischen Wirkung der Berlin-Krise auf die Strategiedebatte vgl. Pommerin, Die Berlin-Krise. Vgl. BA-MA, zwei Verschlusssachen. FRUS 1961-1963, vol. 13, S. 283, 304 f.; Gavin an State Department, 19.4.1961; Finletter an Kennedy, 29.5.1961. IS, CD 14, C-R(61)23, Nord-
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Für den Führungsstab der Bundeswehr deckten sich die Auffassungen der Türken »weitestgehend mit unseren«. Allerdings wähnte man sich selbst - ganz auf der Linie von Heusinger und Speidel - zusehends befähigt zur Führung begrenzter Kriege: »Die Türken wissen, dass sie nie einen >begrenzten Krieg< in unserem Sinne führen können, daher der Wunsch nach der großen Abschreckung.« Gleichwohl solle die Anwendung des Konzepts des begrenzten Krieges auch auf den Mittelmeerraum überlegt werden11. Die offenkundige Reminiszenz an die großen Panzerschlachten vergangener Tage harmonierte freilich nur bedingt mit der Neigung deutscher Militärs, im Übungsalltag rasch nach der Kernwaffe zu greifen und darüber die klassische Operationsführung zu vernachlässigen12. In einer Übung fiel dies auch leichter als im Ernstfall. Am Ende nahm die Bundesrepublik den vorläufigen Verzicht der NATO auf eigene Mittelstreckenraketen hin13. Der NATO-Generalsekretär suchte unterdessen nach einer diplomatischinstitutionellen Brücke über die Kluft, die sich aufgetan hatte zwischen den Atommächten der Allianz und jenen, die im Ernstfall zunächst nur mit den eigenen konventionellen Kräften rechnen konnten14. In einem deutsch-amerikanischen Gipfeltreffen im November 1961 registrierte Strauß verärgert, dass Kennedy und sein Verteidigungsminister Robert S. McNamara die konventionelle Überlegenheit der Sowjets herunterspielten, um einen frühzeitigen Atomeinsatz zu vermeiden. Im Dezember 1961 sprachen Rusk und McNamara offen von einem Strategiewechsel des Bündnisses15. Für den Deutschen Militärischen Vertreter im Militärausschuss hatte die Kennedy-Administration das Bündnis mit einer einseitig durch die Vereinigten Staaten entwickelten Strategie überrumpelt, wobei nicht zuletzt finanzielle Gründe ausschlaggebend gewesen seien. Im Gegensatz zu den Deutschen und selbst den Briten legten die Amerikaner den Schwerpunkt jetzt auf Kriegführung statt auf Kriegsverhütung16. Mit der Tagung des Nordatlantikrates im Mai 1962 zog die Allianz eine vorläufige Bilanz der bisherigen Strategiedebatte. Der Generalsekretär hatte in Absprache mit Washington eine Beschlussvorlage vorbereitet, nicht zuletzt mit dem Ziel, »to contain German nationalism«. Offenkundig bereitete ihm die deutsche Melange aus Sorge und Anspruch Kopfzerbrechen - die Sorge vor dem Wackeln der amerikanischen Nukleargarantie und der Anspruch auf nuk-
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atlantikrat, 6.6.1961. Ebd., CD 16, C-R(62)l, Nordatlantikrat, 5.1.1962. IMS, CD 09, LOSTAN 3771, Standing Group Repr. an Standing Group, 7.6.1961; LOSTAN 3856, Standing Group Repr. an Standing Group, 2.8.1961; SHO, SHAPE History 1967, II, S. 87 f. BA-MA, BW 2/2546, Fü Β III an Chef des Stabes Fü B, 9.6.1961. Vgl. dazu Gablik, Strategische Planungen, S. 257-260. Vgl. BA-MA, BW 2/20055, Nordatlantikrat, 31.10.1961. Vgl. Heuser, NATO, Britain, S. 11-13; Steinhoff/Pommerin, Strategiewechsel, S. 92-98; Tuschhoff, Deutschland, S. 216-218. Vgl. FRUS 1961-1963, vol. 13, S. 360-362, Gespräch Kennedy, Stikker u.a., 6.2.1962. Gablik, Strategische Planungen, S. 245 f., 248-250. Strauß, Die Erinnerungen, S. 357-359. Vgl. BA-MA, BL 1/1027, DMV-Bericht 1962/1, 15.4.1962, S. 25 f., 38 f., 43. Zum finanziellen Aspekt der amerik. Überlegungen vgl. FRUS 1961-1963, vol. 13, S. 516-518, Joint Chiefs of Staff Meeting with the President, 28.2.1963.
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leare Mitbestimmung 17 . Verhandlungsgrundlage des Nordatlantikrates war die Garantie der Vereinigten Staaten, mit ihren strategischen Truppen das gesamte sowjetische Potenzial abzudecken, gleichgültig ob dieses auf Nordamerika, Großbritannien oder Europa gerichtet war. McNamara betonte, dass von den etwa 700 wichtigsten Zielen des SACEUR nur etwa 90 ausschließlich von dessen eigenen Kräften erreicht würden. Dagegen seien weitere 300 Ziele ausschließlich den »external forces« vorbehalten. Letztere traten auch bei etwa 200 weiteren Zielen an, sofern die eigenen Kräfte des SACEUR keinen Erfolg hatten. Die Allianz sollte nur unter folgenden Voraussetzungen auf Kernwaffen setzen: Wenn, erstens, die Sowjetunion selbst unmissverständlich mit Atomwaffen angriff, werde die NATO wie bisher rasch und umfassend reagieren. Diesen Fall hatte McNamara jedoch praktisch ausgeschlossen, weil er keine rationale sowjetische Option darstelle. Ein konventioneller Großangriff sollte, zweitens, nach Konsultationen der Bündnispartner mit selektiven Atomschlägen beantwortet werden. Ein begrenzter Angriff, der die Integrität des betroffenen Mitgliedsstaates gefährdete und der konventionell nicht gestoppt werden konnte, sei, drittens, nach ausreichenden Konsultationen nuklear zu bekämpfen. Zugleich warnte McNamara, dass selbst ein selektiver Ersteinsatz der Allianz einen umfassenden Vergeltungsschlag des Gegners provozieren könne. Mit diesem Argument versuchte er im Übrigen die Sorge der Europäer zu zerstreuen, Amerikaner und Sowjets könnten sich stillschweigend einigen, eine nukleare Auseinandersetzung auf Europa zu begrenzen. Um einen frühzeitigen Atomwaffeneinsatz zu vermeiden, forderte McNamara - wiederum mit Verweis auf die Zugänge nach West-Berlin - im Umfang, aber auch in der Wirksamkeit deutlich gesteigerte konventionelle Fähigkeiten im frontnahen Bereich. Konventionelle Handstreiche im Zeitfenster zwischen der Wahrnehmung von Ziel und Umfang einer Aggression und der Entscheidung des Bündnisses über den Einstieg in den nuklearen Untergang sollten den Sowjets verwehrt werden. Die Vereinigten Staaten und Kanada sicherten schließlich zu, vor dem Einsatz von Atomwaffen außerhalb des Bündnisgebietes den Nordatlantikrat zu konsultieren. Eine echte nukleare Mitbestimmung über den Einsatz der zu 90 % außerhalb Europas stationierten nuklearen Gegenschlagskräfte (second-strike forces) des Bündnisses schloss McNamara jedoch aus. Er unterstrich im Gegenteil die »indivisibility of control« durch den amerikanischen Präsidenten. Aus diesem Grund zweifelte er - wie im Übrigen auch Kennedy - an der Praktikabilität immer kleinerer nuklearer Gefechtsfeldwaffen. Die Allianz beschloss, die skizzierten Grundsätze als »Athener Richtlinie« in den Emergency Defence Plan des SACEUR aufzunehmen 18 . Als einziges 17
,s
Vgl. FRUS 1961-1963, vol. 13, S. 358-360, 362-364, (Zitat S. 363), 452 f., Gespräch McNamara, Stikker u.a., 5.2.1962; Gespräch Kennedv, Stikker u.a., 6.2.1962; Gespräch Kennedv, Adenauer u.a., 14.11.1962. IS, CD 15, C-M(62)48, Special Report, 17.4.1962. Vgl. Vgl. IS, CD 16, C-R(62)23, C-R(62)25, Nordatlantikrat 5.5.1962; ebd., CD 15, CM(62)55, Statement McNamara, 5.5.1962 (Zitate). SHAPE History 1960-1965, I, S. 55-57. FRUS 1961-1963, vol.13, S. 380, Gespräch Kennedy, Rusk, McNamara u.a., 16.4.1962. Gablik, Strategische Planungen, S. 263 f. Haftendorn, Kernwaffen, S. 37-40. Steinhoff/
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Mitglied lehnte Frankreich den Beschluss ab, da die Angelsachsen den Europäern offenkundig keine eigene strategische Abschreckung zubilligten19. Ausgehend von einem weiteren Papier des Generalsekretärs lieferte der Militärausschuss mit der MC 100 vom 24. Januar 1963 die zur Athener Richtlinie passende Bedrohungsanalyse nach. Ein von den Sowjets bewusst vom Zaun gebrochener umfassender Atomkrieg galt als nahezu ausgeschlossen. Kaum weniger wahrscheinlich sei ein konventioneller Großangriff. Dagegen drohten begrenzte Aggressionen unterhalb der Schwelle, an der das Überleben eines Bündnispartners oder gar mehrerer Länder auf dem Spiel stünde. Die Sowjets könnten versucht sein, vor dem Hintergrund ihrer wachsenden strategischen Nuklearfähigkeit Schwächen der Allianz auszunutzen, um in militärischen Handstreichen rasch vollendete Tatsachen zu schaffen, über die sie dann Verhandlungen anböten, bevor der Westen nuklear vergelte. Dabei könnten sie sich eigener Truppen oder solcher ihrer Satelliten sowie revolutionärer Gruppen bedienen. Vor allem Berlin sowie die Süd- und Nordflanke galten als gefährdet20. Im weiteren Verlauf des Jahres entwickelte die Standing Group aus diesen Annahmen mit der MC 100/1 eine strategische Neubewertung für die kommenden Jahre. Grundsätzlich sollte die Allianz in der Lage sein, alle Formen von Aggressionen wirkungsvoll zu beantworten, ohne dem Gegner zuverlässige Annahmen über die voraussichtlichen Reaktionen der NATO zu gestatten. Die Fähigkeit, sich in einem allgemeinen Atomkrieg durchzusetzen, galt weiter als Schlüssel zur kollektiven Sicherheit. Dagegen hielten die Briten die glaubhafte Androhung erheblicher nuklearer Verwüstung durch das Bündnis für ausreichend. Wie bisher forderten die Autoren des Entwurfs MC 100/1 nuklearstrategische Kräfte mit hoher Uberlebensfähigkeit, bestehend aus »nationally controlled external strategic nuclear forces« und den »nuclear forces under NATO commanders«. Beide Elemente sollten weitestmöglich koordiniert werden. Gleichzeitig unterstrich man, dass die Allianz angesichts der selbstzerstörerischen Konsequenzen ihre Glaubwürdigkeit verliere, wenn sie auf ein breites Spektrum begrenzter militärischer Herausforderungen nur durch die Eröffnung des allgemeinen Atomkrieges zu reagieren vermochte. Daher benötige sie die »ability to respond effectively to all but unambiguous major aggression without immediate resort to strategic nuclear warfare«. Ein Stolperdraht mit schwachen konventionellen Kräften am Eisernen Vorhang sei ebenso unangemessen wie eine rein konventionelle Strategie, welche das Bündnis wirtschaftlich überfordere. Zwar wurde eine nukleare Selbstbeschränkung des Bündnisses verworfen. Allerdings sollten vor einem Kernwaffeneinsatz die politischen, wirtschaftlichen und konventionell-militärischen (»lesser military actions«) Möglichkeiten
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Pommerin, Strategiewechsel, S. 99 f.; Tuschhoff, Deutschland, S. 171-178; US Nuclear Strategy, S. 205-222. Vgl. DDF 1962, II, S. 31-33, Entretien de Gaulle/Adenauer, 4.7.1962. Vgl. IMS, CD 10, MC 100 (Military Decision), 24.1.1963; SHO, SHAPE History 1967, II, S. 89 f.; Pedlow, The Evolution of NATO Strategy, S. XXIII.
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ausgeschöpft werden. Frankreich vermisste klare Kriterien, nach denen umfassende von begrenzten Angriffen zu unterscheiden seien. Das lasse »too much room for ambiguity and indecision«. Dabei sei die Bandbreite möglicher Optionen für die Nationen in Mitteleuropa erheblich schmaler als für Nordamerika. In der Konsequenz sollte der Begriff der »limited aggression« durch den der »local aggression« ersetzt werden. In diesem Fall sahen freilich auch die bislang gültigen strategischen Dokumente konventionelles Vorgehen vor. Nach französischer Auffassung erforderte die Glaubwürdigkeit, dass bei aller Flexibilität der operativen Pläne diese ein erkennbares Maß an Automatik in der Durchführung besitzen müssten. Dem Gegner sei unmissverständlich zu signalisieren, dass er ab einem bestimmten Punkt höchste Risiken einging. In ähnliche Richtung zielte die türkische Sorge, Flexibilität münde am Ende in verzögerte politische Entscheidungen und in militärisch fatale Zeitverluste. Die Bundesregierung lehnte eine lange konventionelle Phase ebenfalls ab. Sie unterstützte gleichwohl den Entwurf. Zum einen war das amerikanische Kalkül aufgegangen, dass die Deutschen sich mit der neuen Strategie befreunden würden, wenn ihrem Wunsch nach Verteidigung möglichst nahe der innerdeutschen Grenze Rechnung getragen werde 21 . Zum anderen lag es im deutschen Interesse, dass eine Krise um die Zugänge nach Berlin nicht sofort in den Atomkrieg eskalierte. Die Allianz bereitete dafür besondere Notfallpläne vor22. Nach MC 100/1 sollten die kurzfristig einsatzbereiten konventionellen Kräfte so weit ausgebaut werden, dass sie drei Aufgaben erfüllen konnten: erstens Umfang und Ziel gegnerischer Attacken so rasch als möglich festzustellen; zweitens im Falle eines Großangriffs das Territorium und die Bevölkerung der Bündnispartner so nahe am Eisernen Vorhang wie möglich zu verteidigen, bis die angemessene nuklearstrategische Antwort erteilt war, und drittens begrenzte Übergriffe ohne den eskalierenden Rückgriff auf Atomwaffen zurückzuschlagen. COMLANDCENT Speidel rechnete sich diesen vom früheren Konzept abweichenden Grundsatz als Erfolg seiner Bemühungen um die Vorwärtsverteidigung an23. Nur sofern diese am Ungleichgewicht der konventionellen Kräfte scheiterte, sollten selektiv militärische Ziele im Bereich der begrenzten Aggression nuklear angegriffen werden. Das Risiko der Eskalation müsse dann eingegangen werden. Die Luftstreitkräfte der Allianz hatten zunächst Ziele und Umfang eines Angriffs aufzuklären, eine Aufgabe von »overriding importance«. Eine ähnliche Rolle kam der Luftverteidigung mit ihren Frühwarn-, Meldeund Leiteinrichtungen sowie den Abfangjägern und Boden-Luft-Raketen zu. Neues Gewicht erhielt die Luftunterstützung, ohne die eigene Bodentruppen kaum wirksam konventionell zu operieren vermochten. Problematisch wurde das bislang den Luftkrieg dominierende »counter air«. Weiterhin galt, dass aktive Luftverteidigung nicht ausreichte, die Kräfte und Einrichtungen der
~
Vgl. FRUS 1961-1963, vol. 13, S. 368-373, Taylor an Kennedy, 3.4.1962. Vgl. d a z u Pedlovv, Allied Crisis M a n a g e m e n t . Vgl. d a z u SCR, 35 m m , P01B R62, L-008, C o m m a n d e r - i n - C h i e f C e n t r a l E u r o p e Conference, 17.1.1963.
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Allianz hinreichend zu schützen. Die eigenen Landstreitkräfte würden erheblich behindert, solange der Gegner einen begrenzten Angriff wirkungsvoll aus der Luft unterstütze. Folglich müssten die Luftstreitkräfte des Bündnisses die Fähigkeit besitzen, die notwendigen konventionellen »counter air-Operationen« gegen alle Kräfte und Einrichtungen des Gegners vorzutragen, die an einem begrenzten Angriff beteiligt waren. Freilich dürften dadurch »NATO's nuclear capabilities [···] not be eroded to ineffectiveness«. Die Luftangriffsverbände sollten sich also nicht so weit in konventionellen Operationen verschleißen, dass sie am Ende keine Atomschläge mehr ausführen konnten. Das hätte die Allianz ihrer Ultima Ratio weitgehend beraubt. Die Niederländer mahnten daher, sich in begrenzten Konflikten stets des Risikos bewusst zu bleiben, dass die Atomkriegsfähigkeit auf dem Spiel stand. Diese war auch für die Autoren der MC 100/1 ausschlaggebend; sei doch »the major deterrent to limited aggression [...] the danger of escalation«. Sie räumten im Übrigen ein, dass konventionelles »counter air« auch die gegnerischen Nuklearstreitkräfte bedrohe, was ebenfalls die Gefahr der Eskalation berge. Man tröstete sich mit dem weitaus höheren Risiko der Eskalation, wenn die für ein wirksames »counter air« erforderlichen konventionellen Fähigkeiten fehlten und das Bündnis daher rasch Atomwaffen einsetzen müsse24. Der Vorsitzende der Standing Group betonte, MC 100/1 sei kein Strategiedokument. Nichtsdestoweniger war ein neues strategisches Paradigma formuliert worden, dessen Verabschiedung Frankreich prompt blockierte25. Obwohl am Ende auch die Amerikaner das Dokument fallen ließen26, beeinflussten die hier formulierten Überlegungen die weiteren Planungen von SHAPE. McNamara war es nach Auffassung des Deutschen Militärischen Vertreters bis 1963 gelungen, den Einfluss der Vereinten Stabschefs in Washington zurückzudrängen. Die gültige NATO-Strategie sei aufgeweicht und durch die Athener Richtlinien in Teilen »außer Kraft gesetzt« worden27. Norstad hatte zwar seit langem vor einem nuklearen Automatismus der Allianz gewarnt, der den Primat der Politik aushöhle. Aber in letzter Instanz teilte er die Auffassung von Strauß, dass das Bündnis eines eigenen nuklearen Abschreckungspotenzials bedürfe, auch wenn Norstad kein wirklich strategisches Arsenal anstrebte. Vielmehr hatte er klar erkannt, dass seine - in hohem Maße durch konventionelle und nukleare Angriffe verwundbare - flugzeuggestützte Erstschlagskapazität veraltete, bevor sie überhaupt vollständig ausgebaut war. Dagegen sah sich McNamara - zum Leidwesen Konrad Adenauers - durch die Kuba-Krise Ende 24
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Vgl. IMS, CD 10, MC 100/1 (Draft), 3.5.1963; ebd., MC 100/1 (Draft), 11.9.1963 (Zitate); ebd., CD 15, SGM-517-63, Standing Group, 27.11.1963 nebst Einschlüssen (Zitate). DDF 1963, II, S. 585 f., Note, 7.12.1963. AAP 1964, S. 1105, Vermerk Carstens, 3.10.1964. Vgl. IMS, CD 15, SGM-407-63, Standing Group an SACEUR u.a., 19.9.1963 Einschluss 1: Statement, 16.9.1963. DDF 1963, II, S. 436 f., 442 f., Direktive, 25.10.1963; Note, 28.10.1963. SHAPE History 1967, II, S. 90 f. Gablik, Strategische Planungen, S. 366 f. Haftendorn, Kernwaffen, S. 47-51, 192-195. Pedlow, The Evolution of NATO Strategy, S. XXIII f. Steinhoff/ Pommerin, Strategiewechsel, S. 174. Vgl. DDF 1963, II, S. 576 f., Gespräch Couve de Murville, Bohlen, Finletter, 30.11.1963. BA-MA, BL 1/1753, Steinhoff an Panitzki, 15.3.1963.
II. Die Aufweichung der Massiven Vergeltung
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196228 in seiner Auffassung bestärkt, dass sich die Kernwaffen der Supermächte gegenseitig aufhöben. Abschreckend wirkten nur noch konventionelle Fähigkeiten. Die Frage der Modernisierung der strike forces - Mittelstreckenraketen statt Atombomber - hatte sich also zu einem strategischen Dissens entwickelt. Spätestens die Abberufung Norstads verdeutlichte allen Bündnispartnern, dass sich die Vormacht der Allianz aus der massiven Vergeltung verabschiedet hatte. Die Tagung des Nordatlantikrates im Mai 1963 zeigte, dass selbst die Türken den Strategiewechsel im Grunde geschluckt hatten, plante das Bündnis doch einen konventionellen Eingreifverband zur Verstärkung der Flankendeckung. Die Amerikaner hatten ferner dem Konzept einer multilateralen Nuklearflotte neues Leben eingehaucht, was vor allem in Bonn auf großes Interesse stieß. Die Briten propagierten alternativ eine Zusammenfassung der vorhandenen nationalen »strike force«-Kontingente zu einer Inter-Allied Nuclear Force. Offenkundig war es gelungen, damit die Sorgen der Europäer vor einer Strategie zu zerstreuen, bei der die angelsächsischen See- und Luftmächte in der rückwärtigen Position mehr oder minder autonom über den Zeitpunkt entschieden, zu dem sie - mit dem Risiko der nuklearen Verwüstung der eigenen Länder Atomwaffen einsetzten 29 . Im Grunde kehrten die Verhältnisse der frühen 1950er Jahre wieder: Die Europäer stellten die Masse der Bodentruppen im Vorfeld der Nordamerikaner und Briten, die ihrerseits die strategischen Nuklearstreitkräfte im Zweifel nach nationaler Interessenlage einsetzten oder auch nicht. Charles de Gaulle unterstellte, die Amerikaner wollten die nukleare Eskalation möglichst lange vermeiden und sie im Zweifel auf Europa westlich der Sowjetunion begrenzen, was Kennedy bestritt. Der General warnte Adenauer gar vor einem »tacite accord« der Supermächte, keine Atomwaffen einzusetzen. Der Kanzler vertraute gleichwohl bei allem Misstrauen gegen Washington darauf, dass den Amerikanern ein kommunistisches Westeuropa als kaum hinnehmbare Bedrohung galt. Sein Nachfolger, Ludwig Erhard, war ebenfalls überzeugt, allein die nukleare Macht der Vereinigten Staaten verbürge die Sicherheit der Bundesrepublik. Kein Wunder, hatte de Gaulle doch gegenüber dem NATO-Generalsekretär betont, dass französische Kernwaffen ausschließlich zur Verteidigung Frankreichs eingesetzt würden. Allerdings konnte die Bundesrepublik - angesichts ihres völkerrechtlich halbwegs verbindlichen Kernwaffenverzichts aus dem Jahre 1954 - auch nicht wie Frankreich schlicht eine begrenzte eigene Vergeltungskapazität aufbauen, die ausreichte, den Sowjets als ultimatives Risiko die nukleare Verwüstung ihrer Großstädte anzudrohen 30 . Mithin waren die Deutschen gleichsam dazu verdammt, sich auf die Amerikaner zu verlassen. Dabei erkannte Erhard nach wie vor in der Logik von atomarem Schlag und Gegen:s
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Vgl. A A P 1963, S. 112, Gespräch A d e n a u e r / d e Gaulle, 21.1.1963. Zur Kuba-Krise vgl. Conze, Die Kuba-Krise. Vgl. IS, C D 18, C-R(63)27 f., Nordatlantikrat, 22.5.1963. A A P 1963, S. 64 f., Schmoller an AA, 12.1.1963. A A P 1965, S. 1516, Vermerk II A 7, 27.9.1965. FRUS 1961-1963, vol. 13, Runderlass Rusk, 29.5.1963, S. 587-589. Vgl. d a z u Schmitt, Frankreich u n d die Nukleardebatte, S. 124-126.
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Dieter Krüger: Der Strategiewechsel der Nordatlantischen Allianz
schlag die zuverlässigste Form wechselseitiger Abschreckung. Zweifel daran arbeiteten nur dem Gegner in die Hand31. Dagegen bestätigte Außenminister Rusk im Oktober 1963, dass die amerikanische Strategie weiterhin eine »Pause« vorsah32.
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Vgl. FRUS 1961-1963, vol. 13, S. 309-316, 520, Gespräch Kennedy/de Gaulle, 1.6.1961; Gespräch Kennedy, Stikker u.a., 6.3.1963. DDF 1961, I, S. 690, 693, 695 f., 704 f., Entretien de Gaulle/Kennedy, 1.5.1961. DDF 1962, II, S. 42 f. (Zitat), Gespräch de Gaulle, Adenauer u.a., 5.7.1962; ebd., S. 181-184, Entretien de Gaulle/Adenauer, 6.9.1962. DDF 1963, I, S. 92 f., Tete-ä-tete de Gaulle/Adenauer, 21.1.1963. AAP 1963, S. 418,1470-1478, Gespräch Erhard/Roberts, 18.11.1963; Gespräch Erhard/de Gaulle, 21.11.1963. AAP 1964, S. 790 f., Gespräch Erhard/de Gaulle, 6.7.1964. DDF 1963, II, S. 380, Gespräch Couve de Murville/Rusk, 8.10.1963.
III. Das neue Kriegsbild und die Bundeswehr Bonn versprach sich von einer Nuklearstreitmacht des SACEUR eine Entspannung seines Dilemmas. Gleichwohl drohte die Bundesregierung zwischen die Mühlsteine des Gegensatzes der französischen und amerikanischen Interessen zu geraten. In amerikanischen Augen erschütterten im Januar 1963 das Veto de Gaulies gegen den Beitritt Großbritanniens zur EWG und der deutschfranzösische Elysee-Vertrag die Stabilität des Bündnisses. Washington fürchtete, die Bundesrepublik könne unter den Vorzeichen sicherheitspolitischer Dissonanzen mit Washington womöglich den Sirenengesängen aus Paris erliegen. Offenbar schienen in Bonn Kräfte am Werke, welche die Bestrebungen de Gaulles unterstützten, aus der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft einen Kontinentalblock unter französischer Führung zu bilden. Tatsächlich hielt die Bundesregierung jedoch an ihrem Kurs fest, innerhalb des Bündnisses nach mehr Einfluss und nuklearer Mitbestimmung zu suchen 1 . Die Luftwaffe stand daher - kurz nachdem sie ihre Absicht mitgeteilt hatte, alle F-104 G-Jagdbomber in den Strike Plan des SACEUR aufnehmen zu lassen2 - vor der Aufgabe, sich auf ein konventionelles Kriegsbild einzustellen. Da die F-104 G ausschließlich als Nuklearträger beschafft worden war, so der Führungsstab der Luftwaffe im März 1963, habe »die Luftwaffe das falsche Waffensystem ausgewählt« 3 . Der Inspekteur der Luftwaffe, Werner Panitzki, beschwor Anfang 1964 erneut die Priorität des Strikes in der NATO4. Tatsächlich konnte sich die Luftwaffe durch den französischen CINCENT Jean Crepin bestätigt fühlen. Er meldete im Oktober 1964 als Erfahrung aus der Übung »Hostage Jaune«, die Sowjets könnten Europa-Mitte mit zehn Divisionen einschließlich Luftunterstützung angreifen, ohne damit ihre Fähigkeit einzubüßen, einen allgemeinen Atomkrieg zu führen. Er selbst sei dagegen nicht in der Lage, eine derartige Aggression rein konventionell abzuwehren und zugleich seine Fähigkeit zur Atomkriegführung aufrecht zu erhalten. Ähnliches berichtete AFNORTH. In der Stabsrahmenübung Fallex 1964 wurden Atomwaffen zum Leidwesen der 1
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Vgl. Castigliola, La reaction americaine, S. 403 f., 410 f.; Haftendorn, Kernwaffen, S. 15-18, 44 f.; Heuser, NATO, Britain, S. 46-52; Hoppe, Zwischen Teilhabe und Mitsprache, S. 67-71, 76-80, 99-102; Jordan, Norstad, S. 199-202, 210-212; Schmitt, Frankreich u n d die Nukleardebatte, S. 129 f., 156-158; Steinhoff/Pommerin, Strategiewechsel, S. 146-151, 156-161, 166 f. Vgl. BA-MA, BL 1/1888, Runderlass, 29.1.1962. BA-MA, BL 1/1908, Fü L II 1 an Fü B, 21.3.1963. Vgl. BA-MA, Verschlusssache.
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Dieter Krüger: Der Strategiewechsel der Nordatlantischen Allianz
Deutschen erst eingesetzt, als bereits große Teile ihres Territoriums vom Gegner besetzt worden waren. Mithin waren die Argumente de Gaulies und seines Verteidigungsministers kaum von der Hand zu weisen. Dagegen unterstrich der SACEUR, dass eine flexible Führung grundsätzlich nicht zwischen solchen Kräften unterscheide, die eingesetzt, und solchen, die zurückgehalten würden. Außer den für die Durchführung des automatischen Strike Plan des SACEUR vorgesehenen strike forces seien alle verfügbaren Kräfte einzusetzen. Das galt auch für taktische Atomwaffen, freilich erst nach deren Freigabe. Der SACEUR gab sich überzeugt, dass der Verschleiß der eigenen Kräfte in der konventionell geführten Auseinandersetzung durch entsprechende Verluste des Gegners ausgeglichen würde. Tatsächlich war die Sicherheitsgarantie vor dem Hintergrund des Strategiewechsels der Vereinigten Staaten für die Bundesrepublik Glaubenssache geworden und ein auf Europa begrenzter Atomkrieg nicht auszuschließen5. Im Führungsstab der Bundeswehr setzte sich die mit der Denkschrift Hobe eingeläutete Entwicklung fort. Man suchte nach dem Kompromiss zwischen den deutschen Sicherheitsinteressen und den strategischen Vorstellungen im Bündnis. Der Führungsstab der Bundeswehr schwenkte jetzt auf die - von den Franzosen abgelehnte - angelsächsische Position ein, dass die massive Vergeltung nicht mehr glaubwürdig und eine nukleare Auseinandersetzung eher unwahrscheinlich sei. Die Allianz müsse auf alle Formen von Aggressionen angemessen reagieren können und die dafür erforderlichen Mittel besitzen. Allerdings rechtfertige allein die Vorwärtsverteidigung im Rahmen integrierter Streitkräfte überhaupt einen Militärbeitrag der Bundesrepublik. Dabei sei die wirksame Verteidigung frontnaher westdeutscher Industriegebiete und Bevölkerungszentren selbst im Falle einer begrenzten Aggression ohne den frühzeitigen, selektiven Einsatz zunächst von Atomminen, dann von nuklearen Gefechtsfeldwaffen kaum denkbar. Die Luftwaffe werde sich nämlich durch konventionelle »counter air«-Aufträge, durch die Unterstützung der Bodentruppen und die Luftverteidigung rasch so weit verschleißen, dass sie den Gegner nicht mehr davon abhalten könne, Reserven und Verstärkung aus dem Hinterland zuzuführen. Mit den so weit vorn wie möglich einzusetzenden Atomminen (ADM) verbanden die Deutschen im Übrigen die Absicht, einem stark verzögerten Nukleareinsatz des Bündnisses vorzubeugen6. Sofern nukleare Minen und Gefechtsfeldwaffen den Gegner nicht zum Einlenken bewegten, wollten sie nach herkömmlichem Rezept das gesamte nukleare Potenzial des Bündnisses ins Feld führen. Die Unterscheidung zwischen strategischen und taktischen Atomwaffen - mit letzteren als weiterer Eskalationsstufe - wurde abgelehnt, da die Deutschen als exponierter Frontstaat keine Zonen unter5
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Vgl. SHO, SHAPE History 1960-1965, I, S. 58-60, 75 f. DDF 1965, 1, S. 85, Runderlass Couve de Murville, 21.1.1965. AAP 1964, S. 1262 f., Krone an Erhard, 9.11.1964, sowie Gespräch de Gaulle/Erhard, 11.6.1965. DDF 1965, 1, S. 709-771. AAP 1965, S. 1003-1007. SCR, 35 mm, P05, R163, L-017, Development of NATO Strategie and Military Policy (1966), S. 39 f. Vgl. auch AAP 1965, S. 1517, Vermerk II A 7, 27.9.1965. Vgl. dazu auch Tuschhoff, Deutschland, S. 258-263.
III. Das neue Kriegsbild und die Bundeswehr
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schiedlicher Sicherheit akzeptieren konnten. Genau hier lag jedoch die Bruchlinie zum amerikanischen Denken, wie die bilateralen Verhandlungen zeigten. Die Amerikaner wollten generell Atomwaffen so spät wie möglich und dann auch nur stufenweise einsetzen. Dazu passte die amerikanische Vorstellung, Atomminen womöglich noch auf einer Linie Konstanz-Hanau-Emden zu zünden7. Unbeschadet der letztinstanzlichen Entscheidung des amerikanischen Präsidenten über den Atomeinsatz erkannte der Führungsstab der Bundeswehr in der starken Position des SACEUR die Gewähr, dass die NATO das gesamte Bündnisgebiet mit allen zur Verfügung und zu Gebote stehenden Mitteln verteidigte - und zwar ohne diplomatische Pausen, nachdem die Bundesrepublik bereits große Teile ihres Territoriums eingebüßt hatte. Folgerichtig hielt man am Strike Plan des SACEUR fest. Zugleich wollte man nach Maßgabe der Athener Richtlinien an der Freigabe von Atomwaffen beteiligt werden 8 . Im Übrigen hoffte der Führungsstab, die Kennedy-Regierung werde weder Europa von Kernwaffen entblößen noch eine Auseinandersetzung mit taktischen Atomwaffen auf Europa beschränken 9 . Kaum verwunderlich, hatte Adenauer den Eindruck, seine Generale besäßen nur vage Vorstellungen über einen möglichen Atomkrieg 10 . Generalinspekteur Heinz Trettner machte den Vorschlag, die Hälfte der deutschen F-104 G als Strike-Reserve nach Spanien und Großbritannien zurückzuverlegen und die andere Hälfte konventionell zu bewaffnen. Dahinter verbarg sich die anhaltende Absicht, die Luftwaffe an einer Atomstreitmacht des SACEUR zu beteiligen. Dagegen wollte McNamara von Anfang an die vermeintliche oder tatsächliche taktische Luftüberlegenheit des Bündnisses geltend machen. Bezeichnend für die strategische Zwickmühle der Deutschen war die Vorstellung Trettners, ein konventionelles »counter air« in die Tiefe des gegnerischen Raumes zu vermeiden, um den deutschen Städten die Bombardierung durch die Gegenseite zu ersparen. Bundesverteidigungsminister Kai-Uwe von Hassel bekräftigte das Bestreben, den konventionellen Krieg auf eine 30 bis 40 km breite Zone längs der innerdeutschen Grenze zu beschränken, solange die Sowjets nicht ihrerseits zu umfassenden Bombenangriffen übergingen. Kaum weniger widersprüchlich war die Auffassung McNamaras, dass ein konventionelles »counter air« gegen sowjetische Raketen so gut wie nichts bewirken und sogar Flugplätze nur zu weniger als einem Drittel zerstören würde 1 '. Seine 7 8
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Vgl. d a z u Heuser, NATO, Britain, S. 134-136. Vgl. BA-MA, BL 1/11151, Fü Β III 1, V o r w ä r t s v e r t e i d i g u n g der N A T O , 4.12.1964; 13. dt.frz. GenSt-Besprechungen, 21./22.1.1965: Vortrag Strategie der V o r w ä r t s v e r t e i d i g u n g d e r N A T O , 4.12.1965; www.isn.ethz.ch/php/collections/coll, M e m o of Conversations McNamara, ν. Hassel u.a., 31.7. u n d 9.12.1963 sowie 13.11.1964. Gablik, Strategische Planungen, S. 308-312, 353-358, 405 f. H a f t e n d o r n , K e r n w a f f e n , S. 53 f. Tuschhoff, Deutschland, S. 222 f. Vgl. BA-MA, Verschlusssache. So im G e s p r ä c h mit de Gaulle a m 21.3.1963. Vgl. DDF 1963, I, S. 91 u n d A A P 1963, S. 112. Vgl. www.isn.ethz.ch/php/collections/coll, M e m o of Conversation, 13.11.1964; H a f t e n dorn, Kernwaffen, S. 54 f.
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Zweifel an der Beherrschbarkeit der von den Deutschen und anderen geforderten selektiven Nukleareinsätze waren dagegen mehr als begründet12. Die bisherige Fixierung der Luftwaffe auf den Strike als dominierende Einsatzform war angesichts des Drucks der Amerikaner und der gewandelten strategischen Vorstellungen im Bonner Verteidigungsministerium kaum mehr durchzuhalten. Unter den Vorzeichen des drohenden Abbaus amerikanischer und britischer Truppen in Westdeutschland galt selbst dem Planungsstab des Auswärtigen Amtes das Problem der Umrüstung des Starfighter als Indiz für die Diskrepanz zwischen den sicherheitspolitischen und strategischen Nöten der Bundesrepublik und den gewandelten Vorstellungen der Vereinigten Staaten und des Bündnisses13.
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Vgl. Haftendorn, Kernwaffen, S. 55 f. Vgl. AAP 1966, S. 1082-1089, Vermerk Diehl, 17.8.1966.
IV. Der Übergang zur flexiblen Reaktion und die künftigen Aufgaben der Luftwaffe 1966 war die politische Krise des Bündnisses nicht mehr zu verkennen. Vor dem Hintergrund des Vietnamkrieges und des nuklearen Patts der Supermächte schien die NATO für die Vereinigten Staaten an Bedeutung zu verlieren. Ein weiteres Mal machte in Washington die Forderung nach einem Abbau der amerikanischen Truppen in Europa die Runde. Die Amerikaner pochten angesichts steigender Kriegskosten auf die Einhaltung der mit der Bundesrepublik geschlossenen Abkommen zum Ausgleich der Zahlungsbilanz. Briten und Amerikaner forderten nahezu ultimativ Beiträge aus dem Bundeshaushalt zu den Stationierungskosten ihrer Truppen 1 . Die Briten wurden von einer Währungskrise geschüttelt. Bei den Amerikanern hinterließ der Krieg in Asien immer deutlichere Spuren im Budget. Dabei stand die Bundesrepublik selbst vor der ersten wirtschaftlichen Rezession der Nachkriegszeit. In Paris fühlte man sich durch die Aufweichung der bisherigen Bündnisstrategie in der Uberzeugung bestärkt, dass man sich in letzter Instanz nur auf das eigene nukleare Abschreckungspotenzial verlassen könne. Mit Argusaugen verfolgte Bonn die amerikanischen Bemühungen, im Dialog mit Moskau ein Abkommen über die Begrenzung von Atomtests und die Nicht-Verbreitung von Atomwaffen abzuschließen. Selbst NATO-Generalsekretär Manlio Brosio war überzeugt, dass die Nichtverbreitungspolitik sich letztlich gegen die eigenen Verbündeten richte2; zumal sie mit der klaren Absicht einherging, die Schwelle für den Einsatz von Kernwaffen im Bündnis möglichst hoch zu hängen und eine echte nukleare Mitbestimmung der kontinentaleuropäischen Bündnispartner zu vermeiden. Einmal mehr arbeiteten Briten und Amerikaner auch in dieser Frage Hand in Hand. Die MLF erwies sich je länger desto klarer als Beruhigungspille für die nuklearen Habenichtse 3 . Frankreich gab der gemeinsamen Atomstreitmacht ohne 1
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Vgl. AAP 1966, S. 802-808, 825 f., 909 f., 979-981, 1124-1126, 1365-1370; Knappstein an AA, 10. und 16.6. sowie 22.7.1966; Blankenborn an AA, 1.7.1966; Vermerke, 1.9. und 14.10.1966. AAP 1967, S. 291, 400-402, Gespräch Kiesinger, Wilson u.a., 16.2.1967; Gespräch Kiesinger/McCloy, 4.3.1967. Er regte sogar eine dt.-ital. Initiative im Bündnis gegen den Nichtverbreitungsvertrag an. Vgl. AAP 1965, S. 1216, Grewe an AA, 20.7.1965; AAP 1967, S. 148-150, Grewe an AA, 19.1.1967. Vgl. FRUS 1961-1963, vol. 13, S. 475-478, 494-511, Memos, 12.1. und 12.-21.2.1963. AAP 1965, S. 231-235, 284 f., Knappstein an Carstens, 1.2.1965; Knappstein an Schröder, 9.2.1965. Gillingham, European Integration, S. 68.
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vorherige politische Vereinbarung eines einheitlichen Kommandos keine große Zukunft: »Comment un grand nombre de pays peuvent-ils avoir le doigt ensemble sur la gächette?«4. Ob die Berufung eines belgischen Generals zum DEPUTY SACEUR für Nuklearangelegenheiten im September 1963 oder das 1965 von McNamara vorgeschlagene Special Committee (später die Nukleare Planungsgruppe) zur Beteiligung der Europäer an der Nuklearplanung echte Mitwirkungschancen bot, war unsicher5. So wehrte sich selbst der deutsche CINCENT Jürgen Bennecke gegen die Mitwirkung der Mitgliedsstaaten an der Nuklearplanung auf seiner Kommandoebene6. Die Amerikaner ihrerseits nahmen das europäische Streben nach raschem Kernwaffeneinsatz als Abneigung ihrer Verbündeten wahr, mit konventionellen Rüstungsanstrengungen im Allgemeinen und der Förderung der Landstreitkräfte im Besonderen mehr für ihre eigene Sicherheit zu leisten. Der britische Schatzkanzler plädierte im Juli 1966 unter dem Druck schwindender Devisen und Haushaltsmittel nahezu unverblümt für die Rückkehr zur massiven Vergeltung. Der Deutsche Militärische Vertreter notierte die sich »ausbreitende Tendenz, die Integration zu Gunsten nationaler Belange zu lockern«7. Auf der militärischen Ebene des Bündnisses drängte sich derweil die Notwendigkeit einer Generalrevision der Bündnisstrategie auf. Im Oktober 1966 nahm der Militärausschuss die vor drei Jahren versandete Debatte wieder auf8. Die Griechen als schwache und exponierte Bündnispartner trieb die Sorge vor einer Arbeitsteilung um, bei der die Abwehr einer begrenzten Aggression zunächst vor allem die Aufgabe der Frontstaaten war. Sie erkannten in den eher auf Zusammenarbeit als auf integrierte Einsatzführung abzielenden Formeln die Gefahr, dass die NATO »will gradually deteriorate to an alliance of the preWorld War II type with a simple co-operation of national forces without unified command«. Man forderte, sowohl die konventionellen wie die nuklearen Kräfte entschlossen einzusetzen. Darunter verstanden die Griechen nicht zuletzt ein »counter air« in die Tiefe des gegnerischen Raumes, das sie freilich mit ihren eigenen Kräften nicht hätten durchführen können. Ähnliche Bedenken trugen Italiener und Türken vor. Großbritannien unterstellte den Sowjets weiterhin, keine größere bewaffnete Auseinandersetzung in Erwägung zu ziehen. Einen Überraschungsangriff schloss man aus. Neben einer hinreichenden nuklearen Zweitschlagsfähigkeit hielten die Briten - anders als die Amerikaner - die vor4
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DDF 1963, II, S. 358 f., Gespräch Kennedy, Couve de Murville u.a., 7.10.1963. Vgl. auch AAP 1963, S. 470 f., Gespräch Schröder/Couve de Murville, 9.4.1963. Vgl. dazu AAP 1966, S. 14 f., Knappstein an AA, 12.1.1966. Vgl. dazu SHO, SHAPE History 1969, S. 77 f. Vgl. BA-MA, BL 1/1028, DMV-Bericht 1/1967, 5.4.1967; DMV-Bericht 11/1967, 20.11.1967 (Zitat). SHO, SHAPE History 1960-1965, I, S. 63; SHAPE History 1967, II, S. 148 f. AAP 1966, S. 1040, 1384-1387, Vermerke, 5.8. und 17.10.1966. AAP 1967, S. 1156-1160, Knappstein an AA, 3.8.1967. Drea, The McNamara Era, S. 184-187, 189-192. Haftendom, Kernwaffen, S. 227-274. Zur MLF und zur Nichtverbreitungspolitik vgl. Hoppe, Zwischen Teilhabe und Mitsprache, passim. Vgl. IMS, CD20, MCWM-26-66, MCWM-30-66, MCWM-46-66, MCM-143-66, Memos Militärausschuss, 17.10., 24.10., 21.11. u. 29.11.1966.
IV. Der Übergang zur flexiblen Reaktion und die künftigen Aufgaben der Luftwaffe
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handenen konventionellen Kräfte für ausreichend, um Zeit für eine politische Entscheidung über den Atomwaffeneinsatz zu gewinnen. Der Ausbau konventioneller Fähigkeiten werde dem Gegner nur den Eindruck vermitteln, das Bündnis schrecke letztlich vor einer nuklearen Eskalation zurück. Die deutsche NATO-Botschaft registrierte denn auch, dass London einerseits die Rheinarmee auf einen >Stolperdraht< herunterfahren wollte und andererseits seine PolarisU-Boot-Flotte verstärkte 9 . Zwischenzeitlich verhandelten Amerikaner, Briten und Deutsche ihre gegensätzlichen Interessen trilateral. Die Amerikaner wollten den Kernwaffeneinsatz vermeiden und forderten konventionelle Aufrüstung. Die Briten wollten weder das eine noch das andere. Die Deutschen forderten selektive Kernwaffeneinsätze, besaßen aber kein klares Konzept dafür. Immerhin wollten sie in engen Grenzen ihre konventionellen Fähigkeiten verstärken. Ein Kompromiss überspielte die Gegensätze eher als dass er sie löste. Vor diesem Hintergrund präsentierten die Amerikaner Ende November 1966 der Allianz ein Papier. Danach lag das Problem der flexiblen Reaktion des Bündnisses auf das Spektrum denkbarer Aggressionen in der mangelhaften nuklearen Zweitschlagsfähigkeit und in der notorischen konventionellen Schwäche der landgestützten Schildstreitkräfte. Nur wenn das Bündnis hier entscheidend nachbessere, sei die abgestufte Reaktion glaubhafter als die alte Drohung mit sofortiger massiver Vergeltung. Folgerichtig mahnte der SACEUR den angemessenen Ausbau der konventionellen Kräfte an. Alarmiert registrierten die Deutschen, dass die Amerikaner einen auf Europa beschränkten Atomangriff nicht ausschlossen' 0 . Verärgert registrierte McNamara im Dezember 1966 im Nordatlantikrat, dass selbst die Briten aus der identischen Beurteilung der politischen Lage andere strategische Schlussfolgerungen zogen als die Amerikaner - nämlich die Notwendigkeit der raschen nuklearen Eskalation, sollte die Entspannungspolitik wider Erwarten versagen 11 . Präsident Lyndon Johnson rüffelte Bundeskanzler Kurt-Georg Kiesinger, der von der »atomaren Komplizenschaft« der Amerikaner mit den Sowjets gesprochen hatte 12 . Der überarbeitete Entwurf eines Strategiepapiers vom April 1967 betonte wieder die integrierte Einsatzführung. Briten und Amerikaner gingen weiter von einer wahrscheinlichen Vorwarnzeit von womöglich mehreren Wochen aus, was Deutsche, Griechen, Italiener, Niederländer und Türken anzweifelten. Deutsche, Italiener und Türken forderten auch bei begrenzten Aggressionen einen frühzeitigen selektiven Nukleareinsatz, der ihrer Auffassung nach nicht ' 10
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Vgl. dazu A A P 1966, S. 1 2 7 1 - 1 2 7 5 , Sahm an AA, 28.9.1966. Vgl. IMS, C D 20, M C W M - 6 0 - 6 6 , M e m o Militärausschuss, 23.11.1966 (Zitat); M C W M 2 - 6 7 , M e m o Militärausschuss, 3.1.1967. SHO, S H A P E History 1967, II, S. 9 1 - 1 0 5 . A A P 1966, S. 1 5 1 7 - 1 5 1 9 , 1 5 8 3 - 1 5 8 5 , Runderlasse, 14.11. und 5.12.1966. A A P 1967, S. 2 3 - 2 5 , 3 8 5 - 3 8 7 , Schnippenkötter an AA, 4.1.1967; Duckwitz an AA, 3.3.1967. Haftendorn, Kernwaffen, S. 5 9 - 6 6 , 103, 198 f. Vgl. A A P 1966, S. 1 6 9 1 - 1 6 9 4 , G r e w e an AA, 22.12.1966. Vgl. A A P 1967, S. 397, 399, Gespräch Kiesinger/McCloy, 4.3.1967.
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Dieter Krüger: Der Strategiewechsel der Nordatlantischen Allianz
zwangsläufig in die atomare Eskalation führe. Überhaupt galt in ihren Augen eine konventionelle Reaktion nur dann als glaubwürdig, wenn der Zusammenhang mit der nuklearen Abschreckung stets deutlich blieb. Im Unterschied zu den Europäern gingen die Amerikaner von einer längeren konventionellen Auseinandersetzung aus. Während die Deutschen vor allem den Grundsatz der Vorwärtsstrategie festzuschreiben versuchten, zweifelten die Türken weiter, ob die neue Flexibilität den Gegner abschrecke. Nicht nur sie, auch die Niederländer und SHAPE hielten die der Allianz aktuell zur Verfügung stehenden konventionellen Kräfte für völlig unzureichend13. Falle der Umfang der konventionellen Kräfte zu mager aus, so SHAPE, bleibe es faktisch bei der bisherigen MC 14/2. Tatsächlich verhehlte SACEUR Lyman Lemnitzer dem Militärausschuss gegenüber seine Skepsis nicht. Die mit der neuen Strategie verknüpften Erwartungen erfüllen sich nur, wenn die vorhandenen Kräfte deutlich verstärkt würden. Aber Lemnitzer rechnete nicht mit einer über die für 1970 vereinbarte Anhebung hinausgehende Vermehrung seiner Truppen. Folgerichtig bleibe es zumindest in der Zentralregion bei der bisherigen Strategie des frühzeitigen Kernwaffeneinsatzes. Im Übrigen teilte Lemnitzer die britische Hoffnung nicht, dass politische Indikatoren dem Bündnis genügend Zeit verschafften, sich auf eine bewaffnete Auseinandersetzung vorzubereiten. Militärische Planung sei auf dieser Grundlage kaum möglich, es sei denn, man setzte politische Warnsignale unverzüglich in militärische Alarmmaßnahmen um. Zähneknirschend empfahlen das Auswärtige Amt und das Bundesministerium der Verteidigung, die neue Strategie hinzunehmen. Einerseits hoffte man weiter auf erweiterte politische Mitbestimmung über den Einsatz taktischer Atomwaffen. Andererseits bot die - auf Verteidigung des eigenen Landes ausgelegte Force de frappe - keine echte Alternative zur amerikanischen Nukleargarantie. Am 9. Mai 1967 segneten die Verteidigungsminister das bisher erreichte Ergebnis im Defence Planning Committee ab. Trotz der Warnung des SACEUR blieb es bei der Annahme, dass einem sowjetischen Angriff mit 80 Divisionen auf Europa-Mitte voraussichtlich eine Vorwarnzeit von vier bis 15 Tagen vorausgehen werde. Die eigenen Truppenstärken der Zentralregion galten als hinnehmbar stark14. Vor dem Hintergrund des zwischenzeitlich mit Mühe gefundenen Kompromisses über den Ausgleich der Stationierungskosten der Amerikaner und Briten war eine andere Annahme auch kaum denkbar15. Angesichts der tatsächlichen Möglichkeiten grenzte die Erwartung der Spitzengremien der Allianz, über längere Zeit eine begrenzte konventionelle Auseinandersetzung durchzustehen und zugleich die Atomkriegsfähigkeit zu bewahren, an eine Illusion. Gleichwohl nahm der Militärausschuss am 16. September 13
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Vgl. IMS, CD 20, MCM-10-67, Memo Militärausschuss, 24.4.1967; ebd., CD18, LOCOM 7938, LOCOM 7948, MC Repr., 25. und 26.4.1967. Haftendorn, Kernwaffen, S. 78 - 80. Vgl. AAP 1966, S. 733-735, Sahm an AA, 31.5.1966. AAP 1967, S. 704-710, Vermerk II A 7, 3.5.1967. SHO, SHAPE History 1967, II, S. 105-110. NATO Strategy Documents, S. 333-344. Binder, Lemnitzer, S. 334 f. Haftendorn, Kernwaffen, S. 72-78. Vgl. Haftendorn, Kernwaffen, S. 274-282.
IV. Der Übergang zur flexiblen Reaktion und die künftigen Aufgaben der Luftwaffe
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1967 das neue strategische Konzept als MC 14/3 an. Nach weiterem zähem Ringen mit den Vereinigten Staaten um Formulierungen folgten am 12. Dezember 1967 die Verteidigungsminister der Allianz16. Aus dem Vergleich zwischen dem Beschluss der Verteidigungsminister vom vergangenen Mai und der MC 14/3 schlussfolgerte der Vorsitzende des NATO-Ausschusses für Verteidigungsplanung, Arthur P. Hockaday, die Amerikaner hätten einen »Durchbruch ihrer strategischen Auffassungen« erzielt. Freilich sei die neue Strategie »auch in ihrem konventionellen Streitkräfte-Element nicht mehr glaubwürdig« 17 . Die Vereinigten Staaten unterstrichen einmal mehr die Arbeitsteilung im Bündnis. Danach war die strategische Abschreckung vorwiegend von ihnen und die konventionelle Abschreckung vorwiegend von den Europäern zu leisten. Vorbehaltlich eines Zahlungsbilanzausgleichs wollte sich Amerika weiter an der konventionellen Verteidigung beteiligen. McNamara wiederholte seine Überzeugung, dass das strategische Übergewicht der Vereinigten Staaten gegenüber der Sowjetunion erhalten bleibe und die konventionelle Überlegenheit des Warschauer Paktes überschätzt werde. Seine Forderung nach Kampfwertsteigerung der in Europa dislozierten Truppen, nach Reservestreitkräften und nach realistischen Plänen zum Einsatz taktischer Atomwaffen mit minimal eskalierender Wirkung waren ein Indiz für die Hoffnung, die Washington mit der Flexible Response verband, nämlich eine bewaffnete Auseinandersetzung auf Europa begrenzen zu können. Folgerichtig unterstrich McNamara die qualitative Überlegenheit der taktischen Luftstreitkräfte der Allianz, die mit der nichtnuklearen Bedrohung fertig werden könnten. Die vom SACEUR vorgeschlagene Reduzierung der gut tausend auf 234 Strike-Flugzeuge belasse dem Bündnis eine ausreichende nukleare Abschreckung. Die Kosten für die Umstellung auf eine Zweitrolle hielt McNamara nach wie vor für vertretbar. Möglicherweise ließen sich sogar Ressourcen der Luft- zu den Landstreitkräften umleiten 18 . Der Deutsche Militärische Vertreter, Gerhard Wessel, erkannte in der weitestgehenden Herauslösung der Luftstreitkräfte aus dem Atomic Strike Plan und der damit einhergehenden Schwächung der Stellung des SACEUR das angelsächsische Bestreben, »die militärische Integration mit der ihr innewohnenden Automatik aufzulockern«. Die konventionellen Kräfte würden nämlich nicht vermehrt, wie die neue Strategie erfordere, sondern mit Sicherheit noch verringert werden. Gleichzeitig bewirke der Atomwaffensperrvertrag, dass die Sicherheit der nicht-nuklearen Bündnismitglieder in wachsendem Maße von der Bereitschaft der Vereinigten Staaten abhänge, massiv zu vergelten. Wessel erkannte in der Wechselwirkung von Flexibilität, konventioneller Kriegführung und Proliferationsverbot eine Existenzbedrohung 19 .
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17 18 19
Vgl. N A T O Strategy Documents, S. 345-370; SHAPE History 1967, II, S. 115-117; Haftendorn, Kernwaffen, S. 82-91. Vgl. AAP 1967, S. 1497-1500 (Zitate S. 1497 f.), Grewe an AA, 7.11.1967. Vgl. BA-MA, Verschlusssache. Vgl. BA-MA, BL 1/1028, DMV-Bericht 11/1967, 20.11.1967 Zitat); DMV-Bericht 1/1968, 10.4.1968.
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Dieter Krüger: Der Strategiewechsel der Nordatlantischen Allianz
Freilich hatte die Allianz parallel zur Verabschiedung der MC 14/3 mit dem Harmel-Bericht vom 13./14. Dezember 1967 die Grundlage für eine Entspannungs- und Abrüstungsoffensive gegen den Warschauer Pakt geschaffen. Sie zielte sowohl auf die politische Absicht des Gegners als auch auf seine militärischen Fähigkeiten, seine Interessen gewaltsam durchzusetzen20. Nichtsdestoweniger wähnte auch der deutsche NATO-Botschafter das Bündnis im »Zustand langsamer Erosion«, ohne dass die Bundesrepublik echte Alternativen besaß21. Der 1966 zum Inspekteur der Luftwaffe bestellte Johannes Steinhoff reagierte zu Jahresende auf die Diskrepanz zwischen den strategischen Vorstellungen der Allianz und den eigenen Fähigkeiten mit Überlegungen zur konzeptionellen Neuausrichtung der Luftwaffe. Er kritisierte zwar die einseitig auf die Unterstützung des Heeres durch die Luftwaffe ausgelegte Führungsweisung Nr. 1 des Führungsstabes der Bundeswehr vom Januar 1967: Danach hatte die Luftwaffe wieder vorrangig das Heer durch zeitlich-räumliche Luftherrschaft und durch »close air support« zu unterstützen22. Allerdings akzeptierte der neue Inspekteur den Grundsatz der Arbeitsteilung im Bündnis und die daraus hergeleitete Forderung des SACEUR, dass die Luftwaffe ihre konventionellen zu Lasten ihrer nuklearen Fähigkeiten erweiterte. Folgerichtig stellten die StrikeFlugzeuge um die Jahreswende 1969/70 ihre Einsatzbereitschaft in konventioneller Zweitrolle her23. Steinhoff war freilich nicht bereit, »freiwillig die Beteiligung am Strike aufzugeben, ohne dafür eine politische Gegenleistung zu erhalten«24. Die nukleare Teilhabe galt einerseits als Voraussetzung, um auf die Atomkriegführung der Allianz Einfluss zu nehmen. Die Luftwaffe wusste sich darin mit den Kameraden des Benelux und Italiens einig. Andererseits war sie sich bewusst, damit die Freigabeentscheidung der Amerikaner kaum beeinflussen zu können. Voraussichtlich würden die Atommächte ihre Garantien unter erheblicher Eigengefährdung nur einlösen, wenn sie selbst bedroht waren. Man tröstete sich mit der vagen Hoffnung, die Vereinigten Staaten würden Atomwaffen zur Wahrung deutscher Sicherheitsinteressen einsetzen, wenn »Deutschland bereit ist, die erforderlichen Gegenleistungen in Form starker konventioneller Kräfte zu erbringen«25. Auch die Luftwaffenführung konnte sich dem bekannten Dilemma nicht entziehen. Die Gefahr einer auf die Bundesrepublik begrenzten nuklearen Auseinandersetzung sprach einerseits für die Nutzung aller konventionellen Möglichkeiten. Andererseits glaubte man, dass selbst unter Zuhilfenahme von defensiven Atomminen und bei nuklearem Erdeinsatz von Boden-Luft-Raketen 20 21 22
23 24 25
Vgl. www.nato.int/archives, Harmel-Report. Haftendorn, Kernwaffen, S. 287-344. AAP 1968, S. 504, Grewe an Noebel, 23.4.1968. Vgl. dazu Gablik, Strategische Planungen, S. 413-416, 419 f., 424 f., 449-453, 475, 469-472; Tuschhoff, Deutschland, S. 227 f., 230 f. Vgl. BA-MA, BL 1/1368, Fü L III 3, Runderlass, 14.2.1969. Ebd., BL 1/3505, Protokoll Arbeitsgruppe »Konzeption Lw«, 15.11.1966. Ebd., BL 1/3508, Arbeitsgruppe »Konzeption Lw«, 1.12.1966.
IV. Der Übergang zur flexiblen Reaktion und die künftigen Aufgaben der Luftwaffe
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ein konventioneller Großangriff kaum abzuwehren sei. Steinhoff war überzeugt, dass ein selektiver luftgestützter Nukleareinsatz nach den Vorstellungen des Heeres und der Bundeswehrführung daran scheitere, dass die wenigen noch zur Verfügung stehenden Systeme alle im Rahmen des automatischen Atomic Strike Plan gebunden seien26. Unterdessen versuchten die Vereinigten Staaten, die im Gefolge der MC 14/3 notwendige Revision der MC 48/2 zu nutzen. Sie drängten die Verbündeten, nicht zuletzt die Bundesrepublik, zum Ausbau ihrer konventionellen Kräfte. Die Präferenz für die konventionelle Kriegführung sollte festgeklopft werden. Folgerichtig forderte ein erster Entwurf (MC 48/3) neben maximalen konventionellen Fähigkeiten wieder rasch mobil zu machende Reservestreitkräfte sowie ein »concept of defence in depth and tactical mobility«, um eine Strategie zu implementieren, deren »emphasis on initial non-nuclear operations« liege. Den Beitrag der Luftstreitkräfte dachten sich die Autoren ambitioniert. Sie sollten die Luftherrschaft erringen und bewahren. Sie sollten gleichzeitig ihre Fähigkeiten zum Luftangriff, zur Luftnahunterstützung, zur Gefechtsfeldabriegelung, zur Luftverteidigung sowie zum Strike nachhaltig auf angemessenem Niveau halten und dafür rasch von einer konventionellen in eine nukleare Rolle und umgekehrt schlüpfen 27 . In der Absicht, konventionelle Verteidigung (»direct defense«), Eskalation (»deliberate escalation«) und »general nuclear response« als »aufeinanderfolgende Phasen des Abwehrkampfes« - und dies in der Tiefe des Raums - festzuschreiben, erkannte der Deutsche Militärische Vertreter den Versuch, die »Vorneverteidigung« aufzugeben und wieder an den Rhein zurückzukehren. Allein in den Niederländern sah er zuverlässige Bundesgenossen gegen diese amerikanischen Bestrebungen28. Computersimulationen der in Norddeutschland und im Benelux stationierten Heeresgruppe NORTHAG bestätigten Ende 1968 die deutschen Sorgen. Sie offenbarten nicht nur die mangelnde Fähigkeit der in diesem Raum zuständigen Alliierten Luftflotte 2. ATAF, die auf 20 Tage angelegte, bewegliche Abwehrschlacht zu unterstützen. Andere Erkenntnisse waren noch alarmierender: Die Kräfte der Heeresgruppe waren tiefgestaffelt und standen mit Masse westlich der Weser. Dagegen war der Gürtel mit Boden-Luft-Raketen des Typs HAWK östlich der Weser aufgestellt. Ferner sollten kanalisierte Einbrüche des Gegners mit etwa 50 nuklearen Gefechtsfeldwaffen auf westdeutschem Boden bereinigt werden. Der Führungsstab der Luftwaffe warf der politischen Führung vor, diese Auswirkungen einer unzureichenden konventionellen Kampfkraft nicht bedacht zu haben. Er empfahl daher bei der Überarbeitung der MC 48/3 nicht nur die Vorneverteidigung, sondern auch Parameter festzuschreiben,
26
27 28
Vgl. auch ebd., BL 1/4050, Fü L III 1, Vortrag K o n z e p t i o n u n d R ü s t u n g s p l a n u n g der Lw (Briefing ν. Butler, k ü n f t i g stv. Chef d e r Stabsabteilung Plans a n d O p e r a t i o n s bei SHAPE), 10.11.1967. IMS, C D 18, IMSWM-214-68, M e m o , 12.8.1968 (nebst Einschluss). Vgl. BA-MA, BL 1/1028, DMV-Bericht 1968/11, 6.11.1968; IMS, CD 18, IMSWM-256-68, M e m o , 17.9.1968 (bes. Einschluss 1).
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Dieter Krüger: Der Strategiewechse! der Nordatlantischen Allianz
nach denen ein Angriff bei gegebenem Umfang früh nuklear zu beantworten war 29 . Tatsächlich gelang es, in einer Entwurfsversion der M C 48/3 vom Dezember 1968 die Vorneverteidigung wenigstens im Grundsatz wieder unterzubringen: »The concept of forward defence with echeloning in depth in suitable tactical locations and tactical mobility with effective forces-in-being.« Die Wahl zwischen konventioneller Abwehr, Eskalation und massiver Vergeltung sollte nach Umfang und Ziel eines Angriffs getroffen werden. Präzise Parameter wurden nicht genannt. 1966 hatte sich der Führungsstab der Streitkräfte mit den Amerikanern verständigt, einen Angriff mit bis zu sechs Divisionen als »begrenzt« zu verstehen 30 . Für das Bündnis verbindlich war dies freilich nicht. Immerhin sollte das Überleben der eigenen strike forces ein Kriterium sein. Diese Formulierungen konnten in der Version gehalten werden, die im Mai 1969 vom Militärausschuss und am 4. Dezember 1969 schließlich auch vom Ministerrat gebilligt wurde 3 1 .
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30 31
Vgl. BA-MA, BL 1/3508, Fü L III 1 an Fü S III 1, 18.12.1968; ebd., BL 1/4050, Vermerk Fü S IX, 28.1.1969, Stellungnahme Fü L III 1, 7.2.1969, Steinhoff an GenlnspBw, 14.2.1969. Vgl. Tuschhoff, Deutschland, S. 239 f. Vgl. IMS, MC 48/3 (Draft) (Second Revised) (Referral Note), 2.12.1968, MC 48/3 (Draft) (Third Revised) (Referral Note), 28.3.1969. MC 48/3 Final), 8.12.1968, in: NATO Strategy Documents, S. 371-399 (Zitat S. 376).
V. Bilanz Im »Strategiepoker« 1 hatte die Bundesrepublik ihr strategisches Dilemma nicht zu lösen vermocht, das die Bonner Führungsstäbe auf den Punkt brachten: »Der Spielraum der »Flexiblen Reaktion< vergrößert sich [...] mit dem geographischen Abstand des Betrachters von der Demarkationslinie [d.h. vom Eisernen Vorhang]2.« Und »die Abschreckung wird in ihrer Wirkung [...] dadurch gemindert, dass nicht die am meisten gefährdeten europäischen Nationen, sondern die weit abgelegenen USA über den Einsatz des Atompotentials - den wichtigsten Abschreckungsfaktor - allein entscheiden 3 «. Dabei war eine »langsame Eskalation« für die Bundesrepublik womöglich »ebenso tödlich [...] wie eine zu schnelle Eskalation«, ohne dass eine Mehrheitsentscheidung über den Atomwaffeneinsatz ein dem deutschen Sicherheitsinteresse angemesseneres Ergebnis versprach als die unilaterale Entscheidung des amerikanischen Präsidenten 4 . Der Luftwaffe war im Ergebnis des bündnispolitischen Entscheidungsprozesses eine Strategie aufgenötigt worden, die sie im Ernstfall nicht nachhaltig hätte umsetzen können. Die Bundesregierung begrüßte gleichwohl den mit den neuen Strategiedokumenten in Verbindung mit dem Harmel-Bericht erzielten Kompromiss als Zeichen anhaltender Vitalität des Bündnisses, in dessen Kohärenz sie die Sicherheit des Landes verbürgt sah. Immerhin wurde auch das Problem des Kernwaffenersteinsatzes in der Nuklearen Planungsgruppe weiterverhandelt. Die Amerikaner signalisierten freilich, dass sie den Deutschen keine echte Mitbestimmung oder gar ein Veto über den selektiven Nukleareinsatz vom oder auf deutschem Territorium einschließlich der DDR einräumen wollten 5 . Im Ergebnis wurden 1969 die Athener Richtlinien durch bündnisinterne Konsultationsverfahren ergänzt. Sie sahen eine eher informelle Mitwirkung der Staaten vor, von deren Boden aus Atomwaffen eingesetzt würden 6 .
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Vgl. die vereinfachende, aber sehr anschauliche Z u s a m m e n f a s s u n g der Strategiedebatte im Bündnis bei Tuschhoff, Strategiepoker. BA-MA, BL 1/1762, Sprechzettel Fü S III 1, 29.10.1968. Ebd., BL 1/4925, Fü L 11, Planungskonzeption, 4.7.1966. Bieber, Jeder für sich, S. 23. Vgl. AAP 1968, S. 397-400, 474-476, 1345 f., Vermerk Ruete, 26.3.1968; Grewe an AA, 19.4.1968; Vermerk Sahm, 16.10.1968. Vgl. Haftendorn, Kernwaffen, S. 97-100, 166-180.
Bernd Lemke Konzeption und Aufbau der Luftwaffe
I. Einleitung Luftstreitkräfte sind Ausdruck der modernen Welt. Kein Kriegsmittel besitzt eine so starke Beziehung zur Industrialisierung und Technisierung, wie sie sich im zwanzigsten Jahrhundert entwickelt hat. Bilder und Filme bilden eindrucksvolle Zeugnisse hiervon und man kann sich noch heute nur schwer der medialen Wirkung dieses Instruments, seiner Kampfmittel und auch der Folgen seines Einsatzes entziehen. Das Erscheinungsbild hatte und hat viele weitere Facetten, so etwa die Verherrlichung von Fliegerassen durch das nationalsozialistische Regime und die Kreierung entsprechender Leitbilder. Die Beschäftigung mit dem Phänomen Luftwaffe in der Öffentlichkeit blieb indes häufig an der Oberfläche. Welche Mühe und Aufwand nötig waren, um die Flugzeuge in die Luft zu bringen und dort wenigstens für einige Stunden zu halten, blieb eher im Hintergrund, genauso die Frage, welche Motive, Ideen und Strategien hinter der Tätigkeit von Luftstreitkräften stecken. Die historiographische Forschung hat in den vergangenen zwanzig Jahren diese Defizite zumindest für die Zeit bis 1945 in vielen Punkten beseitigt. Es liegen hervorragende Arbeiten über die Luftwaffen der modernen Industriestaaten vor und in jedem dieser Länder gibt es mindestens einen Fachhistoriker für das Gesamtgebiet. Zwar ist noch etliches zu tun, um die vergleichende Perspektive näher zu studieren, dies gerade, weil die Luftwaffe das flexibelste und grenzüberschreitendste Instrument - auch hier Ausdruck der modernen Zeit darstellt, aber immerhin sind die wichtigsten Grundlagen vorhanden. Die Geschichte der Luftwaffe wurde stets begleitet von teils heftigen Kontroversen um ihre Bedeutung für die Kriegführung. Die Meinungen über die militärische Wirksamkeit, hier insbesondere die Frage, inwieweit die Luftwaffe dazu beitrug, einen Krieg zu gewinnen, gingen im Einzelnen stark auseinander. Vor allem seit der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg entwickelten Strategen zahlreiche Konzepte und Visionen zum Einsatz der neu entstandenen Kampftruppe. Zentrale Bedeutung gewann dabei der Begriff Luftmacht (air power), der die Bedingungen und Möglichkeiten der erfolgreichen Anwendung des Instruments festlegen sollte. Fast alle Ansätze, die dazu entwickelt wurden, gingen als Basis für die weiteren Überlegungen von der Ausübung der Kontrolle in der dritten Dimension aus. Erfolgreich konnte nur der sein, der zumindest zeitlich und räumlich begrenzt die Luftüberlegenheit besaß, d.h., dessen Kampfverbände im Wesentlichen ungestört durch den Feind zu agieren vermochten. Als ideal wurde die Luftherrschaft betrachtet, die darin bestehen sollte, dass der überwie-
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Bernd Lemke: Konzeption und Aufbau der Luftwaffe
gende Teil der feindlichen Luftwaffe ausgeschaltet war1. Die eigenen Kräfte konnten dann mit maximaler Freiheit agieren und dem Gegner unter voller Ausnutzung des Hauptvorteils des Flugzeugs, der Flexibilität, massivste Schläge im Heimatgebiet und an der Front zufügen. Gemäß diesen weitgehend anerkannten Definitionen bestand das Ziel fast aller Luftwaffen im 20. Jahrhundert zunächst darin, die gegnerischen Luftstreitkräfte weitgehend zu zerstören und darin massiv in das Geschehen auf der Erdoberfläche einzugreifen2. Das damit verbundene militärische Handeln ließ sich mit einer theoretischen Formel, bestehend aus drei Leitsätzen, beschreiben3: 1. Krieg aus der Luft: Einsatz der eigenen Kampfverbände gegen den Feind am Boden oder zu Wasser 2. Krieg in der Luft: Bekämpfung der feindlichen Luftwaffe am Himmel 3. Krieg in die bzw. gegen die Luft: Einsatz bodenständiger Mittel (Flak) gegen anfliegende Feindverbände Sämtliche Einsatzkonzepte und -muster wurden aus diesen drei Punkten entwickelt, wobei fast durchgängig betont wurde, dass eine Luftwaffe niemals erfolgreich sein würde, wenn sie rein defensiv vorgehe. Wegen der Dynamik der spezifischen Kriegführung, die, wie man annehmen musste, vom Gegner massiv ausgenutzt würde, konnte man nur eine ausreichende Wirkung erzielen, wenn man selbst in die Offensive ging. Anderenfalls drohte, wenn schon nicht eine direkte Niederlage gegen die gegnerischen Luftstreitkräfte, so doch die umfassende Niederlage infolge der Schäden durch die Tätigkeit des Feindes gegen das eigene Heer, die Marine und die Heimatgebiete. Je nach Reichweite und Intention der Einsatzgestaltung unterschied man zwischen den Kräften für die direkte oder indirekte Unterstützung von Heer bzw. Marine und Angriffen gegen die Kraftquellen des Feindes im Ganzen, insbesondere im Hinterland der Front bzw. gegen die Substanz von Staat und Gesellschaft. Die Zusammenarbeit mit den beiden anderen Teilstreitkräften oblag den taktischen Luftstreitkräften, die Bekämpfung der Kriegsfähigkeit in allen Aspekten den strategischen. Taktischer und strategischer Luftkrieg bildeten zusammen den militärischen Sinn des Krieges in der dritten Dimension. Daneben gab es insbesondere in Deutschland noch Vorstellungen vom »operativen« Luftkrieg, die eine Art Mittelposition zwischen beiden Arten unter Betonung der Flexibilität der Luftwaffe beinhalteten. Dieser Begriff verwischte jedoch die klare Definition insbesondere des strategischen Luftkrieges und wurde darüber hinaus zum Sinnbild für die deutsche Niederlage im Zweiten Weltkrieg4. Die Luftkriegführung im 20. Jahrhundert manifestierte sich in zahlreichen Kriegen bzw. Kampagnen innerhalb von Kriegen, die in den überwiegenden Fällen zum taktischen Luftkrieg gerechnet werden müssen, so etwa die Kriege 1 2 3 4
Feuchter, Der Luftkrieg, S. 300; Buckley, Air Power, S. 11. Feuchter, Der Luftkrieg, S. 146 f. Ebd., S. 300, 477. Der Begriff »operativ« sollte heute am besten nicht mehr verwendet werden.
I. Einleitung
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bis 1939 (Spanien, Abessinien oder Angriffe gegen die Rif-Kabylen), die meisten Feldzüge der deutschen Wehrmacht bis 1943 oder der Korea-Krieg5. Strategischer Luftkrieg wurde vergleichsweise selten geführt. Hier dienen vor allem die anglo-amerikanischen Luftoffensiven gegen Japan und vor allem gegen das Deutsche Reich ab 1943 als Beispiel. Viele Luftkriegstheoretiker, gerade auch in Deutschland - so etwa Georg Feuchter, der vor und nach 1945 in der Öffentlichkeit in dieser Hinsicht eine wichtige Position einnahm 6 - betrachteten wegen der angeblichen Erfolge der Briten und Amerikaner den strategischen Luftkrieg als denjenigen, auf dem die Luftmacht recht eigentlich beruhte, dies insbesondere bei länger dauernden Abnutzungskriegen. Dabei wurde darin recht häufig das Postulat erhoben, dass die Luftwaffe die entscheidende der drei Teilstreitkräfte sei. Die theoretische Legitimation für diese Ansicht stammt im Wesentlichen von den zentralen Vordenkern aus der Zeit bis 1939, hier vor allem dem Italiener Giulio Douhet, dem Amerikaner William (Billy) Mitchell und dem Briten Lord Hugh Trenchard 7 . In Deutschland vertrat Robert Knauss, zeitweise Verkehrsdirektor der Deutschen Lufthansa, diese These8, die insbesondere von Vertretern der anderen Teilstreitkräfte zu Recht in Frage gestellt wurde, da abschließende Aussagen über die Wirksamkeit der Luftwaffe als kriegsentscheidendes Element nur sehr schwer zu treffen sind. Derlei wird daher auch im Folgenden nicht diskutiert. Taktische Luftwaffen erschienen aus dieser Perspektive eher als Unterstützungsinstrumente, die vor allem bei kritischen Situationen wichtige Entscheidungen herbeiführen konnten. Dies sollte sich infolge der gewaltigen Steigerung der Zerstörungsmöglichkeiten durch die Atomwaffen dann ändern. Nach 1945 ergaben sich mit der Nuklearisierung und dem heraufziehenden nuklearen Patt durch das Wettrüsten sowohl im taktischen als auch im strategischen Bereich erhebliche Einschränkungen in der Anwendbarkeit des Instruments. Da insbesondere in Europa beim Kampf der weitgehend atombestückten Luftwaffen ein hohes Risiko der Eskalation und der gegenseitigen Vernichtung drohte, verlor man de facto die Handlungsfreiheit. Ein aktiver Einsatz war nur noch auf globalen Nebenkriegsschauplätzen - etwa in Vietnam - denkbar. Luftmacht als Prinzip diente anders als bis 1945 nicht mehr als Option zur Kriegführung bzw. zur Durchsetzung eigener Interessen vermittels Drohung, sondern als passives, eher handlungsverhinderndes Element der Abschreckung 9 . 5
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Zum Folgenden vgl. Feuchter, Der Luftkrieg, S. 10 f., 38 f., 40 ff., 65 ff., 177 ff., 196 ff., 394 ff., 304, 307 ff., 327 ff., 349 ff., 358 f.; Buckley, Air Power, S. 17. Feuchter sah sich selbst darüber hinaus als offiziöse Stimme der Bw-Führung. Er ließ sein zentrales Werk »Der Luftkrieg« (1954) extra von Panitzki und Heusinger genehmigen. BA-MA, BW 9/2437, Panitzki an den Athenäum-Verlag vom 25.3.1954. Besonders eng gestaltete sich das Verhältnis zu Kammhuber. Feuchter traf sich mit letzterem, auch im Zuge der Erlangung eines Dienstpostens, immer wieder und gestaltete seine Veröffentlichung in enger Anlehnung an dessen Meinung. Siehe dazu BL 1/14683: Schriftwechsel Kammhuber - Feuchter 1958-1962. Buckley, Air Power, S. 3. Boog, Die deutsche Luftwaffenführung, S. 159 f. u.ö. Buckley, Air Power, S. 10 f., 113 f.
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Bernd Lemke: Konzeption und Aufbau der Luftwaffe
Manche Forscher und Theoretiker bezweifelten den Sinn von Luftstreitkräften unter diesen Bedingungen und sahen ihn erst wieder nach der massiven Bedeutungssteigerung der konventionellen Kriegführung der NATO ab den 80er Jahren (FOFA) und dann insbesondere nach der politischen Wende 1989/90 gegeben10. Die folgende Studie behandelt die Geschichte der deutschen Luftwaffe innerhalb dieses strukturellen Beziehungsgeflechts. Aufgabe wird es sein, ihren Weg im Rahmen der Bundeswehr und der NATO von 1950-1970 herauszuarbeiten. Weit über die bekannten und teilweise populärwissenschaftlich-medialen Erzeugnisse hinausgehend sollen die grundlegenden Bestandteile benannt und insbesondere deren Wechselwirkung dargestellt werden. Fußend auf der Erkenntnis, dass eine moderne Luftwaffe eben nicht nur technische Höchstleistung, Waffensysteme mit Kampfdesign sowie Abenteuergeist und fliegerische Romantik ist, sondern harte Planungs-, Organisations- und Führungsarbeit unter teilweise problematischen Rahmenbedingungen erfordert, soll ein Beitrag zur realistischen Darstellung des Instruments geleistet werden. Dazu gehört auch und insbesondere die Einordnung in die historischen Perspektivlinien unter Einbeziehung der diachronen Aspekte, d.h. unter anderem der Frage nach Kontinuität und Diskontinuität. Die Zeit ist im Jahr 1945 nicht Stehengeblieben, anders, als man angesichts der heute immer noch andauernden medialen Beschäftigung mit dem Zweiten Weltkrieg meinen könnte. Dies bedeutet für die Forschung zweierlei. Erstens ist eine neue Runde an Grundlagenforschung eingeläutet worden. Die Forschung hat sich, durch mancherlei Restriktionen in der Archivbenutzung behindert, wiederum angeschickt, die zentralen Tatsachen und Zusammenhänge zu studieren, nachzuzeichnen und der Öffentlichkeit zur historisch-politischen Orientierung anzubieten. Zweitens aber hat man nun eine ausgezeichnete Gelegenheit, die Strukturen der Moderne in den tieferen Wurzeln eines ihrer Teilaspekte zu beleuchten. Die Neuheit der Luftwaffe im Raum-Zeit-Kontinuum und die daraus erwachsenden Probleme erweisen sich hier als geradezu paradigmatisch. Dabei ist das Feld überschaubar - nur wenige Nationen konnten sich überhaupt eine Luftwaffe leisten und hatten auch das technologische Know-how dazu11. Gleichzeitig war und ist die Luftwaffe tief im Gefüge von Staat und Nation verankert, denn sie bildete zusammen mit Heer und Marine ein integriertes Kernelement. Die Zeit des Kalten Krieges brachte zusätzlich zu diesen, bereits vor 1945 manifesten Aspekten einen neuen Integrationsrahmen. Mit der NATO entstand ein Typus von Bündnisstreitkräften, zu deren herausragenden Merkmalen unter anderem der Zugriff der Allianz auf wesentliche Teile der nationalen, im Falle der Bundesrepublik aller, Kampfverbände gehörte. Die Luftwaffe behielt dabei ihren flexiblen sowohl taktisch als auch strategisch buchstäblich übergreifenden Charakter und galt weiterhin als ein entscheidendes, zeitweise sogar als das entscheidende Kriegsmittel. Die Luftwaffen 10 11
Ebd., S. 198-222. Ebd., S. 17, 203.
I. Einleitung
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fast aller Mächte des Zweiten Weltkriegs - in Ost wie West - wurden dabei ungeachtet der Tatsache, dass hier Gegner aus zwei Weltkriegen zusammenspielen mussten, integriert, gewissermaßen regelrecht verzahnt. Es wird zu prüfen sein, inwieweit sich die Konzepte der Luftwaffe aus dem Zweiten Weltkrieg mit den neuen Anforderungen des Bündnisses und der anderen Partnerstaaten bei den Vorbereitungen auf einen Atomkrieg inhaltlich trafen und wie die organisatorischen, logistischen und technischen Grundlagen weiterentwickelt wurden. Dabei darf keineswegs davon ausgegangen werden, dass die Integration in das Bündnis im Falle der deutschen Luftwaffe eine einfache, im Grundsatz schon gelöste Aufgabe darstellte, wie man vielleicht ex post unter dem Eindruck der öffentlichen Selbstdarstellung der NATO insbesondere in den 70er und 80er Jahren annehmen könnte. Infolge der Ängste der ehemaligen Kriegsgegner vor einem aggressiven Wiedererstarken der Deutschen gerade in der dritten Dimension wurde deren Luftwaffe von Anfang an fast vollständig an die Kandare genommen. Die deutsche Seite wiederum musste Wege finden, um trotz der problematischen Vergangenheit einerseits und der neuen Bedrohungen andererseits einen adäquaten Platz zu finden. Die ersten Inspekteure, insbesondere Josef Kammhuber und Johannes Steinhoff, und die hinter ihnen stehenden Führungskräfte hatten fast ausnahmslos in der Reichsluftwaffe gedient und mussten nun den Übergang von der Kriegszeit in die Integration der Luftwaffe in die NATO leisten. Wenn nun also im Folgenden der Aufbau der deutschen Luftwaffe in ihren Kernelementen untersucht wird, so soll dies immer und stets mit Blick auf diese übergeordneten Dimensionen erfolgen. Die Darstellung der Tatsachen und Zusammenhänge ist niemals Selbstzweck oder gar Apotheose oder >Heldengeschichteeinfache< und schnell auszuhebelnde Verbot deutscher Luftstreitkräfte folgten, sollten nicht wiederholt werden 1 . Die ab 1955 neu entstehende Luftwaffe war nur als voll integrierter Bestandteil und auf rein taktischer Ebene vorstellbar2. Vor allem die anglo-amerikanischen Mächte, die von Landstreitkräften nicht unmittelbar bedroht werden konnten, entwickelten hier besondere Wachsamkeit. Ein strategisches Einsatzinstrument kam von vornherein nicht in Frage. Zu Beginn der EVG-Verhandlungen herrschte selbst gegenüber taktischen Luftstreitkräften ein gewisses Misstrauen, als man die Gestalt der künftigen deutschen Luftwaffe besprach. Insbesondere die Franzosen, aber auch SHAPE, wollten nur das aus militärischer Sicht absolut Notwendige, d.h. vor allem Jagdbomber für die Heeresunterstützung, genehmigen 3 . Die deutschen Luftwaffensachverständigen protestierten dagegen und wollten eine nicht zu geringe 1
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Z u m Hintergrund vgl. AWS, Bd 2, S. 609-670, insbes. S. 610-616, zentral S. 614 (Beitrag Meier-Dörnberg), u n d AWS, Bd 3, S. 570-602 (Beitrag Greiner). Die Bundesrepublik kam im Rahmen der G r ü n d u n g der WEU nicht umhin, explizit auf strategische Bomber zu verzichten. AWS, Bd 3, S. 591 (Beitrag Greiner). AWS, Bd 2, S. 677 f. (Beitrag Meier-Dörnberg). In verschiedenen Ansätzen oszillierten die Westalliierten, insbes. die Amerikaner, zwischen dem Eingehen auf dt. Wünsche u n d der Ablehnung einer dt. Luftwaffe überhaupt. Rautenberg/Wiggershaus, Die «Himmeroder Denkschrift«, S. 203, Anm. 207, u n d S. 206, Anm. 244.
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Zahl an Maschinen zumindest für die Luftverteidigung haben. Das Problem konnte in seinen Details bis zum Ende der EVG-Verhandlungen nicht wirklich gelöst werden.
b) Das amerikanische Vorbild Die konkrete Gestalt der EVG-Luftstreitkräfte im Einzelnen musste sich allerdings im Laufe der Aufbauarbeit erst herauskristallisieren. Der Weg wurde dabei zunächst durch die politische und gesamtstrategische Entwicklung festgelegt. Er führte schließlich direkt in die Arme der USA, die ohnehin schon von Anfang an, auch während der EVG-Phase, enormen Einfluss besaßen. Der Verlauf der Verhandlungen in Paris und das Scheitern der EVG, die Entstehung der NATO und nicht zuletzt die militärische bzw. rüstungswirtschaftliche Schwäche der europäischen Partnerstaaten ließen letztlich kaum Alternativen zu. Dies, obwohl Ansätze zu europäischer Kooperation in Entwicklung und Rüstung durchaus vorhanden waren4. Die Amerikaner sagten im Gegensatz etwa zu Großbritannien kostenlose Waffenlieferungen für die Erstausstattung zu, was dankbar angenommen wurde5. Gemäß dem Prinzip »He who pays the piper calls the tune« nahm die zuständige US-Organisation für die Abwicklung der Hilfen, die Military Assistance Advisory Group (MAAG), entscheidenden Einfluss auf Konzept, Organisation und Aufstellungsplanung der Luftwaffe, darüber hinaus auch auf die Ausbildung6. Die Bedeutung dieser Zusammenhänge kann nicht hoch genug in Rechnung gestellt werden, da moderne Luftstreitkräfte, anders etwa als Heerestruppen, ohne die Bereitstellung eines komplexen technisierten Instrumentariums (Flugzeuge, Fernmeldeeinrichtungen, Radar, Wartungseinrichtungen, Bodenorganisation) im Zeitalter des Hochgeschwindigkeits-Düsenflugzeuges mehr oder weniger unbrauchbar waren. In der Folgezeit sollte sich die Luftwaffe auch als das in seiner Technisierung herausra-
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Vgl. z.B. dt. Bestrebungen zu einer Annäherung an Frankreich und den Besuch der dt. Luftwaffenelite zur Vorführung und Diskussion von Kampfflugzeugtypen in Frankreich (1954). BA-MA, BL 1/1438. Schmidt, Von der »Befehlsausgabe« zum »Briefing«, S. 43 ff. Zum Anlaufen der US-Hilfe siehe BA-MA, BW 9/2462 (mit Liste der zu liefernden Ausrüstung - Nachfolgeliste zur Nash-Liste). Die amerik. Dominanz sollte allerdings nicht zu hoch eingeschätzt werden. Als 1955 die Erstausstattung der dt. Luftwaffe mit US-Material anlief, wurde hinsichtlich Gestalt, Struktur und Dislozierung eine allgemeine Abstimmung zwischen den Beteiligten vorgenommen (USAF, Amt Blank, dt. Luftwaffenkreise, ATAFs). Die konkrete Einteilung der dt. Geschwader in der Anfangszeit ergab sich dann letztlich aus dem Lieferplan, ging damit eher mechanistisch auf die technisch-organisatorischen Bedingungen des Materialflusses und weniger auf bewusste Führungsentscheidungen zurück. BA-MA, BW 9/2441: II/Pl/L, Zeitplan für Aufstellung der Einsatzverbände der dt. Luftwaffe und beabsichtigte Dislozierung vom 4.3.1955 mit anl. Zeitplänen und Karten. Bis die Endstandorte dann festlagen, vergingen noch Jahre, da praktische Zwänge, insbes. die fehlende Infrastruktur, die Belegung immer wieder aufhielten.
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gende Kampfinstrument des Bündnisses erweisen. Die Konsequenzen insbesondere für die Grundstrukturen waren allumfassend. Durch den Einfluss der USA auf die europäischen und speziell die deutschen Verhältnisse kamen auch die strategischen Basiskonzepte, die Organisationsprinzipien und taktischen Einsatzrichtlinien über den Atlantik nach Deutschland. Dies bedeutete allerdings nicht, dass die Amerikaner von vornherein das bessere Konzept oder gar Pionierwissen hinsichtlich der Luftwaffe besessen hätten. Die Geschichte der USAF als eigenständige Institution begann erst im Jahre 1947 mit dem National Security Act7. Während des gesamten Zweiten Weltkrieges unterstanden die Luftstreitkräfte, auch die strategische Bomberflotte, der US-Army. Erst eine grundlegende Neuorientierung unter Verarbeitung der Kriegserfahrungen führte dann zur Etablierung einer neuen Spitzengliederung mit der Air Force als selbstständiger Teilstreitkraft. Dieser Prozess ging keineswegs reibungslos vonstatten, sondern führte zu erbitterten Auseinandersetzungen insbesondere mit der US-Marine, die um Einfluss und Ressourcen fürchtete. Die Lösung, die schließlich gefunden wurde, trug maßgeblich die Handschrift von Lauris Norstad, dem Director of Plans and Operations im Generalstab des War Department und späteren Oberkommandierenden der US-Luftstreitkräfte in Europa (USAFE) und der NATO-Luftstreitkräfte in Mitteleuropa (AAFCE)8. In Norstad personifizierten sich Strategie, Einsatzgrundsätze und Organisationsprinzipien der USA und auch der NATO. Er gilt zu Recht als Baumeister der US-Luftwaffe, der NATO-Luftwaffe und - indirekt - auch der deutschen Luftwaffe. Die Tatsache, dass er von 1956 bis 1962 als SACEUR fungierte, kam nicht von ungefähr. Mit seiner Tätigkeit verband sich das strategische Konzept der Massive Retaliation mit dem Luftwaffendenken im praktischen Sinne zu einer Einheit. Diese Kontinuitäten führen die Geschichte der deutschen Luftwaffe zurück in die 40er Jahre. Die Lösung, die die US-Behörden für die Gestaltung ihrer Streitkräfte fanden, besaß richtungweisenden Charakter und war wenigstens, was die Grundeinteilung anging, auch mit den Arrangements der europäischen Kriegsgegner bis 1945, insbesondere Deutschlands und Großbritanniens, mehr oder weniger identisch. Geschaffen wurden drei relativ selbstständige Teilstreitkräfte mit eigenen Ressorts und einem Verteidigungsminister an der Spitze, der im Einzelnen in diesem Modell allerdings eine verhältnismäßig schwache Position innehatte (Koordinator) 9 . Hinsichtlich der Aufgabenstellung der jeweiligen Teilstreitkraft machte man in Washington jedoch insbesondere im Bereich der strategischen Planung und im Einsatz wesentliche Einschränkungen. Die Kontrolle ging nicht von den BA-MA, BW 9/126: Gesetz über die nationale Sicherheit von 1947 (Gesetz 253, 80. Kongress, 26.7.1947, 61 Stat. 495) mit eingearbeiteten Änderungen und weiteren Gesetzen und Erlassen zur US-Vtdg.-Organisation, mit Datum vom 3.11.1954 übergeben vom amerik. Vtdg.-Min. an Adenauer anlässlich dessen Besuchs in Washington. Jordan, Norstad, S. 45-96. The Joint Chiefs of Staff, vol. 2, S. 1-6. Die Spitzen der TStK (Secretaries) hatten u.a. direktes Vortragsrecht beim Präsidenten.
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Führungsstäben der Teilstreitkräfte aus, sondern von den US-Stabschefs. Diese planten und setzten die gesamten Streitkräfte auf den verschiedenen Kriegsschauplätzen (theatres) unter Verwendung von integrierten Befehlshabern ein. Die Teilstreitkräfte besaßen letztlich keine strategische Kommandobefugnis, sondern zeichneten in erster Linie für Organisation, Materialbeschaffung, Technik und Forschung, Personalbeschaffung, Ausbildung und Logistik verantwortlich. Sie erhielten - etwas überspitzt ausgedrückt - den Status von Servicebetrieben zur Sicherstellung der Einsatzfähigkeit der Truppe: »roles restricted primarily to organizing, training, and equipping the forces for operational employment within the unified command structure10.« In diesem Rahmen erhielten sie dann auch Mitspracherechte bei Planung und Einsatzgestaltung. Dieses Integrationsprinzip sollte das entscheidende Grundmuster auch für die NATO und die unter ihrer Führung agierenden nationalen Teilstreitkräfte, ergänzt allerdings durch eine jeweils ebenfalls nationale Gesamtstreitkräfteebene, abgeben. Die ersten Kriegspläne, die unter diesen neuen Bedingungen entwickelt wurden, trugen sehr stark die Handschrift der USAF, eine Tatsache, die angesichts der militärischen Schwäche der USA insbesondere in Europa nicht verwundert. Die zentralen Konzepte, vor allem »Halfmoon« (bzw. »Fleetwood«) und »Offtackle« standen unter dem Diktum des strategischen Bombenkrieges. Ausgehend von der Annahme, dass mit den stark abgerüsteten eigenen Kräften und den schwachen Streitkräften der Verbündeten ein massiver Vorstoß aus dem Osten nicht aufgehalten werden konnte, betrachtete man es als bestenfalls möglich, periphere Gebiete an der Atlantikküste zu halten. Von dort aus und anderen Stützpunkten um den sowjetischen Machtblock herum sollte dann eine strategische Bomberoffensive mit Atomwaffen gegen die Produktionszentren der UdSSR geführt werden. Anschließend gedachte man West- und Mitteleuropa wiederzuerobern11. Die USAF rüstete dementsprechend auch die Verbände des SAC auf. Im Mittelpunkt standen dabei die schweren atomwaffenfähigen Bomber. Dies bedeutete jedoch nicht, dass man die taktische Luftwaffe vollkommen unberücksichtigt gelassen hätte. Deren Verbände wurden nach dem Zweiten Weltkrieg zwar reduziert, aber nicht aufgelöst und 1946 unter das Tactical Air Command in Langely Field (Lt.Gen. E.A. Quesada) gestellt12. Die Prioritäten ruhten allerdings auf dem SAC, was sich vor allem in einer Umschichtung der vorhandenen Mittel zugunsten der strategischen Bomber ausdrückte. Als man im Jahre 1948 gezwungen wurde, Einsparungen vorzunehmen und die USAF auf Anweisung des Präsidenten danach auf 48 Geschwader (groups,
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Jordan, Norstad, S. 59-66, mit 2 Organigrammen. Zitat S. 60. Dazu auch BA-MA, BL1/1798: Leiter Militärattachestab, dt. Botschaft Washington an BMVg, Vtdg.Organisation in den USA, v.a. Anl. 2 und 3. Dazu oben, S. 22. Zus. AWS, Bd 1, S. 163-195 (Beitrag Greiner), und The Joint Chiefs of Staff, vol. 2, S. 289-309. Jordan, Norstad, S. 47-50; Hill/Campbell, Tactical Air Command.
II. Kriegsbild und Einsatzprinzipien im Kontext westalliierter Strategie
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später wings) 13 reduziert werden musste, baute man vornehmlich taktische Luftwaffeneinheiten ab14. Die bestimmenden Kräfte der USAF glaubten unter dem Eindruck der nuklearen Feuerkraft davon ausgehen zu können, dass künftige Kriege mehr oder weniger die Angelegenheit von strategischen Bomberverbänden seien15. Aus dieser Perspektive erschienen Landstreitkräfte und damit automatisch auch die taktischen Luftwaffenverbände als für den Kriegserfolg nachrangig. Die Prioritäten der USAF trafen vor allem bei der US-Army auf Kritik. Insbesondere Dwight D. Eisenhower, der ohnehin schon grundsätzlich gegen eine vorschnelle Preisgabe Westeuropas arbeitete16, hatte ein großes Interesse daran, die taktischen Luftstreitkräfte nicht verkommen zu lassen. Auch hier kamen dann auch die Atomwaffen ins Spiel. Klar erkennend, dass die Erfolgschancen gegenüber der übermächtigen Militärmaschinerie des Ostens auf rein konventioneller Basis eher gering waren, förderte die Army die Entwicklung taktischer Nuklearwaffen (Projekt VISTA ab 21. März 1951)17. Unterstützt durch Forscher wie J. Robert Oppenheimer versuchte man, diese Waffen als Einsatzmittel zu etablieren, stieß dabei aber auf den Widerstand der USAF. Letztere sah darin zunächst einen Versuch, ihr strategisches Konzept aufzuweichen. Kein geringerer als Norstad war es dann, der die gegensätzlichen Positionen aufeinander zuführte und ein Nebeneinander des taktischen und strategischen Instrumentariums ermöglichte18. Die Entwicklung der taktischen A-Waffen schritt zügig voran. Die USAF behinderte dies letztlich nicht und stellte sich Anfang der 50er Jahre recht rasch auf sie ein19. In der >offiziellen< Kriegsplanung im Rahmen der Joint Chiefs of Staff ergab sich eine gewisse Trendwende mit dem Kriegsplan »Reaper« im November 1950. Damit erkannte auch die USAF das Prinzip der Vorwärtsverteidigung, d.h. der Verteidigung Europas so weit östlich als möglich, an20. Die nächsten Jahre sollten darin die Fortentwicklung dieser strategischen Grundperspektive bringen. Dabei spielte das militärische Dreieck taktische Luftwaffe - Atomwaffen - Vorwärtsverteidigung in Europa die entscheidende Rolle. Der ganze Prozess ging innerhalb der US-Administration keineswegs linear vonstatten, sondern verlief eher gebrochen und konfrontativ. Dabei kam 13
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»Wing« (2003), in: globalsecurity.org, hrsg. von John Pike (14.12.2004), URL: , History of the Strategie Air C o m m a n d (ca. 2003), in: strategic-air-command.com (2.11.2004), URL: http://www. strategic-air-command.com/history/organization-01.htm. Vgl. zus. Unterseiten dieser Website: URL: , SAC Wing Organization (Die relevanten Teile der »sites« bei B.L.). The Joint Chiefs of Staff, vol. 2, S. 331 f.; zur weiteren Gestaltung des Stärkeverhältnisses zwischen strategischer u n d taktischer »air power« vgl. ebd., vol. 4, S. 38 f. und 94-107; ebd., vol. 5, S. 59-87; AWS, Bd 1, S. 180-196 (Beitrag Greiner). Dazu Hughes, Overlord, S. 303-314. Dazu oben, S. 23. Maier, Amerikanische Nuklearstrategie, S. 226. Wampler, Ambiguous Legacy, S. 293-323. The Joint Chiefs of Staff, vol. 4, S. 141 -159. Ebd., S. 161-177, insbes. S. 171.
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den verschiedensten Institutionen, nicht zuletzt auch dem Außenministerium, eine zentrale Rolle zu. Angestoßen und forciert wurde die Debatte nicht zuletzt auch durch die >praktischen< Notwendigkeiten bei der Ausgestaltung des nordatlantischen Bündnisses und seiner strategischen Grundlagen, weshalb auch die NATO-Partner, allen voran Großbritannien, erhebliches Gewicht bekamen. Im Zentrum ihrer Bemühungen stand das Ziel, Kontinentaleuropa unbedingt so weit wie möglich im Osten zu halten. Dadurch gelangten Fragen hinsichtlich des Aufbaus taktischer Luftstreitkräfte mit atomarer Bewaffnung in Verbindung mit schlagkräftigen Heeresverbänden wiederum in das Zentrum der Diskussion. In ihnen erblickte man eines der entscheidenden Instrumentarien der Vorwärtsverteidigung. Die schrittweise Annäherung an eine Vorwärtsverteidigung unter Einbeziehung starker taktischer Luftwaffenverbände manifestierte sich in den ersten Strategiepapieren der neuen Allianz (DC 6/1, DC 13, MC 14/1). Hatte man in DC 6/1 (1. Dezember 1949) taktische Luftstreitkräfte lediglich en passant erwähnt und sich darauf festgelegt, dass die europäischen Nationen hier wie auch bei der Luftverteidigung die Hauptlast tragen sollten, während »other nations« mit »kürzester« Verzögerung zu Hilfe eilen sollten21, bildeten die taktischen Luftstreitkräfte in DC 13 (28. März 1950) und MC 14/1 (9. Dezember 1952) bereits integrale Bestandteile der gesamten NATO-Streitkräfte in Verbindung mit der Verteidigung so weit wie möglich im Osten. Dabei enthielt DC 13 (1. April 1950) bereits das ganze Instrumentarium der Einsatzmöglichkeiten, wie sie später in den Einsatzprinzipien und taktischen Doktrinen immer wieder kanonisiert wurden: Kampf um die Luftüberlegenheit durch Zerstörung der feindlichen Luftwaffe und ihrer Einsatzbasen und -mittel sowie Einsatz der Luftverteidigung über dem Heimatgebiet, Unterstützung der Landfront durch Angriffe gegen die feindlichen Nachschubrouten und Verkehrsknotenpunkte und durch direkten Einsatz über dem Kampfgebiet 22 . Das Hauptgewicht der Bündnisstrategie insgesamt lag allerdings weiterhin unbestritten auf der strategischen Bomberflotte »at the outset of hostilities«23, wobei ein gelegentlicher Einsatz für taktische Zwecke nicht kategorisch ausgeschlossen wurde. Nun dürfen die Inhalte der NATO-Papiere nicht einfach mit dem Meinungsbild innerhalb der US-Militärspitze gleichgesetzt werden und die Führung der USAF dürfte sich durch Entschlüsse des Bündnisses allein keineswegs sofort bemüßigt gefühlt haben, die bis dato gültige Strategie grundlegend zu modifizieren. Die Wende hin zu einer stärkeren Betonung der taktischen Luftstreitkräfte kam langsam, eher schleichend und auf britischen Druck. Die Briten drängten seit 1951 infolge ihrer massiven wirtschaftlichen und finanziellen Probleme zunehmend auf die Ersetzung aufwändiger konventioneller Truppen in Kontinentaleuropa durch atomwaffenfähige Einheiten. In diesem Rahmen dachte man weniger an einen Beitrag zum strategischen Luftkrieg durch Rake21 22 23
NATO Strategy Documents, S. 63 (DC 6/1, S. 6). Ebd., S. 155 (DC 13, S. 44), S. 169 f. (DC 13, S. 58 f.). Ebd., S. 174 (DC 13, S. 63), S. 209 (MC 14/1, S. 14) und S. 212 (MC 14/1, S. 17 f.).
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ten und V-Bomber, diese besaßen eher außenpolitische Bedeutung, sondern zunehmend an Jagdbomber und Heeresartillerie und begann mit entsprechenden Studien und Planungen 24 . Die strategische Grundlinie der USAF mit ihrer doch sehr weitgehenden Betonung der strategischen Bomberoffensive geriet infolge der wachsenden Bedeutung der taktischen Verteidigungsfähigkeit unter Druck. Die US-Militäradministration, überhaupt der höhere Staatsapparat, bot, auch hier geradezu paradigmatisch für andere moderne Staatsverwaltungen, keineswegs ein geschlossenes, sondern ein eher zerklüftetes Bild. Es ergaben sich Interessenkonflikte und Kämpfe zwischen verschiedenen Ministerien und Institutionen unter Einflussnahme auch äußerer Mächte, etwa Großbritanniens, das im vorliegenden Fall wenigstens partiell den Interessen der US-Army nützte. Als Folge bildeten sich, bewusst oder unbewusst, zeitweilige Koalitionen innerhalb des Apparats, so etwa zwischen Heer und Marine. Entscheidungen fielen gewissermaßen im Zick-Zack-Kurs 25 . Dies ging jedoch durchaus nicht bis zu einer grundsätzlichen Obstruktionspolitik. Die USAF begann sich, nicht zuletzt auch im praktischen Bereich, recht rasch an die neuen Tendenzen anzupassen und trug - wenigstens in Europa den Verhältnissen Rechnung. Man entsandte im Jahre 1952 schlagkräftige taktische Luftwaffenverbände auf den europäischen Kontinent, von denen mindestens zwei Geschwader atomwaffenfähig waren: den 20. und den 48. Fighter Bomber Wing. Von diesen wiederum war der 20. von Anfang an auf eine nukleare Einsatzrolle festgelegt 26 . Die Bestückung mit Nuklearwaffen erfolgte allerdings erst ab März 1955 im Rahmen der allgemeinen Stationierung von AWaffen in Europa, in deren Verlauf dann auch die US-Army ihre ersten Atomgranaten erhielt (April 1955) 27 . Die zentralen Weichenstellungen erfolgten mit der Entsendung Norstads als Oberbefehlshaber der US-Luftstreitkräfte in Mitteleuropa. Er vereinigte ab Ende März 1951 dieses Amt mit dem des Oberbefehlshabers der NATO-Luftstreitkräfte, damit das Spitzenführungsprinzip in der Frühphase der NATO widerspiegelnd: die Personalunion von US- und NATO-Befehlshaber. Gleichzeitig hatte die Realisierung eines Gesamtpaketes für die NATO-Luftwaffe ih24 25
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Wampler, Ambiguous Legacy, S. 293-370. Eine detailliertere Darstellung der Entwicklung v.a. innerhalb der US-Spitzen ist an dieser Stelle nicht möglich. Insbes. die Frage, wie sich die Position der USAF zur Frage der Vorwärtsverteidigung und dem Stellenwert taktischer Verbände im Einzelnen veränderte, müsste noch näher geklärt werden. Gordon, Thunderjet to Phantom, S. 55 f. History of the Custody and Deployment of Nuclear Weapons (U), July 1945 through Sept. 1977, Prepared by Office of the Assistant to the Secretary of Defense (Atomic Energy), Febr. 1978 (Auszüge), mit App. Β, Chronology - Deployments by Country (Fiscal Years 1951-1977), (10.12.2003), URL: http://www.gwu.edu/-nsarchiv/news/ 19991020/#docs. Dazu »Where They Were«, by Robert S. Norris, William M. Arkin & William Burr, Nov./Dec. 1999, S. 26-35, ©1999 The Bulletin of the Atomic Scientists, (10.12.2003), URL: http://www.bullatomsci.org/issues/1999/nd99/nd99norris.pdf. In der dt. Forschung werden dazu teilweise andere Sichtweisen vertreten. Dies dürfte im Wesentlichen auf der Verwechslung von Atomwaffen und Trägersystemen beruhen. Vgl. etwa Steinhoff/Pommerin, Strategiewechsel, S. 22.
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ren Anfang genommen, ein Paket, das Form, Sinn und Inhalt der beteiligten Kontingente für die nächste Dekade prägen sollte28. Norstad, der zu seinem Amtsantritt von Eisenhower den ausdrücklichen Befehl erhalten hatte, taktische Luftstreitkräfte der NATO als eine »einzige integrierte Streitmacht« zu schaffen29, erstellte das Grundgerüst für den weiteren Aufbau aller bestehenden bzw. noch zu errichtenden Luftstreitkräfte. Darunter fielen insbesondere: 1. Mitarbeit bei der Errichtung einer NATO-Kommandostruktur analog zum US-Modell (Teilstreitkräfte als Servicebetriebe der strategischen Zentrale SHAPE -). 2. Aufbau einer schlagkräftigen taktischen Luftwaffe. Die Erfolge, die Norstad insbesondere auch im technischen und logistischen Bereich erzielte (Ausbau der Einsatzflughäfen), waren augenfällig. Norstad wurde schließlich Stellvertreter Luft bei SHAPE und erhielt in dieser Funktion Weisungs- und Koordinationsbefugnis. Schon zuvor hatte er als Berater für SHAPE für die AWaffen und als Leiter des Einsatzes für die taktischen A-Waffen fungiert30. 3. Koppelung der weiterhin allein unter US-Kontrolle befindlichen Einheiten des SAC mit den NATO-Luftstreitkräften und entsprechende Abstimmung der Einsatzpläne. In dieser Aufgabe beeinflusste Norstad die Konzeption der deutschen Luftwaffe, überhaupt das gesamte deutsche Luftwaffendenken, bereits in der EVGPhase. Die grundlegenden Anstöße und Anregungen - etwa die Konzeption einer europäischen Luftverteidigung betreffend - gingen auf ihn zurück31. Die Entwicklung, basierend auf den Eckpfeilern britische Intervention - taktische Atomwaffen - Vorwärtsverteidigung - Errichtung der NATO-Kommandostruktur, mündete schließlich in die Formulierung eines neuen Kriegsbildes, das die Parameter für die nächsten zehn Jahre und damit auch für den Aufbau der deutschen Luftwaffe festlegte. Die britische Seite erzielte bei ihren Bemühungen zur Nuklearisierung der NATO-Streitkräfte auf der Bermuda-Konferenz Ende 1953 entscheidende Fortschritte beim Nordatlantikrat32. Knapp ein Jahr später, im November 1954, stellte der NATO-Militärausschuss darin die konkrete Ausformulierung der neuen Strategie fertig: die MC 48: »The most effective pattern of NATO Military strength for the next few years«33. Die ame-
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Zum Folgenden grundsätzlich Jordan, Norstad, S. 73-96. BA-MA, BW 9/2156: Ernennungsschreiben für den Oberkommandierenden der alliierten Luftstreitkräfte in Mitteleuropa, Norstad, vom 22.3.1951. Ebd., BW 9/2429: II 1/4, 16.9.1953, Spitzengliederung der NATO-Streitkräfte in Europa. Ebd., BW 9/470: handschriftl. Vermerk »Orientierung über einen [...] wesentlich erscheinenden Punkt der Besprechung Studiengruppe Hvtdg.inneren Linie< gesessen hätte, zu vergleichbaren Resultaten gekommen wäre101. Die Effizienz der taktischen USLuftflotten wurde nach eigenen Angaben vor allem »by brute force [and] wasted manpower, transportation, and storage space rather than by efficiency of operation« erreicht102. Aufgrund dieser Überlegenheit korinte man sich Fehler in der Einsatzkonzeption leisten, weil es keinen Gegner gab, der diese hätte ausnutzen können. Dies änderte sich in der Zeit ab 1950. Das Urteil über die deutsche Luftwaffe bis 1945 sollte rückblickend nicht von einer Art »Vae-victis«-Standpunkt aus geführt werden. Einfache oder gar singuläre, primär von der negativen Wertung der deutschen Niederlage her geleitete Modelle zur Erklärung der Zusammenhänge reichen nicht aus103. Immer muss eine methodische Konfrontation mit den Stärken und Schwächen der gegnerischen Luftwaffen erfolgen. Berücksichtigt werden muss auch die strategische Grundperspektive104 und in Verbindung damit die Verteilung der begrenzten Ressourcen. So hatte man in Deutschland vor 1939 nicht die Mittel, großangelegte Feldzüge zu Lande vorzubereiten, dafür die nötigen taktischen Luftstreitkräfte bereitzustellen und gleichzeitig eine starke strategische Bomberflotte aufzubauen105. Ferner sind Grundbedingungen des politischen Systems zu beachten, die im deutschen Falle vom Effizienzstandpunkt her nicht die allerbesten waren106. Für die Zeit des Wiederaufbaus deutscher Streitkräfte sollte man daher keineswegs von einer einfachen Lehrer-Schüler-Beziehung USAF-deutsche Luftwaffe ausgehen. Die maßgeblichen Kreise der deutschen Luftwaffenführung 100
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Boog, Die deutsche Luftwaffenführung, S. 199-204. Der Initiator dieser Aktivitäten war Gen. der Kampfflieger Peltz. Cescotti, Kampfflugzeuge und Aufklärer, S. 200-202. Dass hier keine Erfolge mehr erzielt wurden, lag an der Materialknappheit und den erheblichen technischen Mängeln der He 177, dem viermotorigen Bomber. Zu den bereits vor 1939 manifesten Ansätzen der dt. Luftwaffe zu einer strategischen Luftkriegführung siehe Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, 2, S. 49 f. (Beitrag Maier). Lieutenant Colonel J.F. Early am 21.5.1944, zit. nach The Army Air Forces, 3, S. 137. Das heißt selbstverständlich nicht, dass hier eine Art Ehrenrettung der Luftwaffe erfolgen soll. Die vorhandenen Defizite beeinträchtigten die Effizienz durchaus in teilweise hohem Maße. Die moralische Verstrickung in die Verbrechen des NS-Regimes sind an dieser Stelle nicht zu thematisieren. Die schlechte Quellenlage erlaubt hier leider nur wenig tiefere Einblicke. Es wäre durchaus interessant, die Rolle etwa von Bodeneinheiten und Transportverbänden der Luftwaffe im Holocaust zu untersuchen. Buckley, Air Power, S. 8 ff. und 19. Boog, Die deutsche Luftwaffenführung, S. 166 f., und Boog, Luftwaffe und Logistik, S. 242 f. Buckley, Air Power, S. 119 f. und 123 f.
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besaßen fast durchweg Kriegserfahrung und wussten durchaus, auf welche Faktoren es ankam, wenn man ein schlagkräftiges Instrument haben wollte. Selbstverständlich konnte man sich der amerikanischen Dominanz nicht entziehen, wollte dies letztlich auch gar nicht. Wie noch zu zeigen sein wird, gab es jedoch zumindest bei Strategie und Taktik an grundsätzlichen Inhalten für die deutsche Seite letztlich gar nicht so viel zu lernen. Abgesehen von den taktischtechnischen Neuerungen, wo die deutschen Luftwaffenleute infolge der Zwangspause nach 1945 Nachholbedarf hatten, lag man nicht weit auseinander. Auf deutscher Seite waren alle Komponenten moderner Luftkriegführung, auch der strategische Luftkrieg, schon vor 1945 angedacht bzw. entwickelt worden. Dass dabei teils auch die Modelle des Feindes Pate standen, gehört zu den Widersprüchen des Krieges generell. So hatte man im Krieg den Luftwaffenbefehlshaber Mitte, später Luftflotte Reich, als zentrales Kommando für die Luftverteidigung der Heimatgebiete errichtet, wie es die Briten von Anfang an getan hatten (Fighter Command)107. Hinsichtlich der Angriffskräfte forderte einer der führenden Köpfe der deutschen Luftwaffe, Dietrich Peltz, 1943 den Aufbau einer Kampftruppe für den strategischen Luftkrieg nach dem Vorbild des britischen Bomber Command' 08 . c) Strukturelle Grundlagen für die Funktionsfähigkeit einer Luftwaffe Hinter diesen Zusammenhängen steht eine system- und nationübergreifende Grundkonstituante moderner Luftstreitkräfte: Die Funktionsfähigkeit einer Luftwaffe hängt von strukturellen Grundbedingungen ab, die infolge der technisch-organisatorischen Verflechtungen und Notwendigkeiten insgesamt nur wenig Raum für individuelle Gestaltungsmöglichkeiten lässt. Es ist daher z.B. letztlich weniger von Belang, ob eine Luftwaffe formell den Status einer eigenständigen Teilstreitkraft besitzt (im Falle der USA war dies im Zweiten Weltkrieg im Unterschied gerade zur deutschen Luftwaffe ja nicht der Fall), sondern wie den technisch-organisatorischen Notwendigkeiten Rechnung getragen wird. Je nach Grad der Erfüllung der Basisbedingungen funktioniert eine Luftwaffe besser oder schlechter. Die Kernbedingungen gründen sich vor allem auf der Basis strategischer, taktischer, logistischer und technischer Flexibilität. Diese Grundforderung wurde von der USAF nach dem Krieg beibehalten und weiterentwickelt. In den 50er und 60er Jahren wurden die Verbände global eingesetzt und dann praktisch allen strategischen Begrenzungen enthoben109. Die deutsche Luftwaffe machte letztere Entwicklung, deren augenfälliger Ausdruck die auf allen fünf Erdteilen auftauchenden Verbände und deren Pi-
107 F e u c hter, Der Luftkrieg, S. 300-304; Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, 7, S. 214-227 (Beitrag Boog). 108 Boog, Die deutsche Luftwaffenführung, S. 159 f. 109 BA-MA, BL 1/4502: USAF Fact Sheet, 1 -66, Tactical Air Power, S. 1 - 4 und 7-22.
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loten waren110, nicht mit und blieb in gewisser Kontinuität zu den Verhältnissen bis 1945 dem Gegner im Osten in derselben Blickrichtung verhaftet. Aber die grundlegende Perspektive wandelte sich dennoch, da die Luftwaffe sich nun als integraler Bestandteil eines im Wesentlichen von den USA gesteuerten weltweiten Streitkräftesystems einfügen musste. Es wird noch zu prüfen sein, ab wann die Einsicht in die neue strategische Lage, gekennzeichnet von den dichtgedrängten Verhältnissen in Mitteleuropa infolge der massiven Truppenstationierungen beiderseits des Eisernen Vorhangs und dem Heraufziehen der Atomwaffen, Platz griff. Dabei darf jedoch keineswegs etwa von einer allgegenwärtigen historischen Überlegenheit der westlichen Luftwaffen ausgegangen werden. Insgesamt lagen die Luftwaffen der Hauptkriegsgegner 1941-1945 entwicklungsgeschichtlich nicht sehr weit auseinander. Bei einem derart technisierten und damit auch sensiblen Feld wie der Luftkriegführung reichten schon Differenzen in wenigen Aspekten (z.B. Bau einer bestimmten Kategorie von Flugzeugen oder technische Fehlkonstruktionen einer Maschine), um einer Kriegsseite zumindest zeitweise einen erheblichen Vorteil zu verschaffen111. Für die folgende Untersuchung darf daher nicht davon ausgegangen werden, dass deutsches Luftwaffendenken aufgrund des >Versagens< bis 1945 nicht als Basis für den Aufbau ab 1955 hätte dienen können. Eine radikale >Umerziehung< unter US-Einfluss war nicht nötig. So erhielten etwa auch die taktischen Verbände der anglo-amerikanischen Luftwaffen vor und nach 1945 keineswegs einen Persilschein für völlige taktische Freiheit. Jeder Luftwaffenkampfverband wurde durchaus einer Heereseinheit zugewiesen, mit der er fernmeldetechnische und führungsmäßige Grundstrukturen für ein wirkungsvolles Zusammenwirken aufzubauen hatte112. Dazu war eine entsprechende Organisation zu schaffen, die für ein schnelles und effizientes Handeln unerlässlich war. Sie basierte auf ständiger gegenseitiger Information auf allen Verbandsebenen und erforderte eine höchst komplizierte Grundstruktur. Ohne diese enge Zusammenarbeit hätte allerdings kein wirksamer Einsatz erfolgen können. Dieser Themenkreis spielte auch bei den EVG-Verhandlungen eine große Rolle. Eine der schwierigsten Hauptaufgaben der Luftwaffen-Arbeitsgruppe der Taktischen Studienkommission innerhalb des EVG-Militärausschusses bestand in der Gestaltung des Systems zur Kooperation zwischen taktischer Luftwaffe und Bodentruppen. Man hatte die Organisation, wie sie die Briten und Amerikaner seit dem Zweiten Weltkrieg entwickelt hatten, zu übernehmen. Dabei trat zu Tage, wie eng verflochten die taktischen Luftwaffenverbände mit den Heerestruppen sein
110 Yeager/Janos, Schneller als der Schall, S. 309-351 und 3 8 6 - 4 0 4 . 111
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Buckley, Air Power, S. 115 ff. Der Vorteil lag bis 1942 z.B. eindeutig auf dt. Seite. Zu den Fehlern des dt. Fernbombers, der He 177, siehe Boog, Die deutsche Luftwaffenführung, S. 50, 54, 56 ff., 99, 139, 145, 148, 177, 182 f., 187 ff., 202 und 529. Zur Bedeutung der P-51 Mustang für den strategischen Luftkrieg gegen Deutschland vgl. Neillands, Der Krieg der Bomber, S. 319-331, insbes. S. 323. Vgl. etwa The Army Air Forces, 3, S. 243 ff. Dies war noch in der Nachkriegszeit ein essentielles Feature der taktischen Verbände der USAF, BA-MA, BL 1/4502: USAF Fact Sheet, 1-66, Tactical Air Power, S. 14 f.
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mussten, wenn sie auch nur einigermaßen effizient kämpfen wollten. Insofern war die Realität der Luftwaffe bis 1945 mit ihrer Bindung an die Landfront gar nicht einmal so weit von den Anforderungen ab 1955 entfernt.
d) Die Angleichung der deutschen Planungsspitze an die westalliierte Position im Rahmen der EVG-Verhandlungen Insgesamt gesehen stand auf deutscher Seite - insbesondere in ehemaligen und künftigen Luftwaffenkreisen - das nötige Wissen über die strukturellen Gesamtzusammenhänge zur Verfügung. Im Laufe der Verhandlungen auf dem Petersberg und dann im Rahmen der EVG nahm man die entsprechenden Weiterentwicklungen recht rasch vor. Auf dem Petersberg trug Heusinger die deutsche Luftwaffenkonzeption im Wesentlichen entlang den Linien der Himmeroder Denkschrift vor, was von den Anglo-Amerikanern prompt mit der Frage quittiert wurde, warum nur Heeresflieger und keine eigene Teilstreitkraft Luftwaffe vorgesehen seien113. Heusinger und die Führungsetage der deutschen Planer setzten diesen Ansichten, wie in allen Luftwaffenangelegenheiten später fast immer auch, keinen prinzipiellen Widerstand entgegen; im vorliegenden Fall wohl nicht zuletzt auch deshalb, weil man hier kein festverbindliches Konzept entwickelt hatte, sondern nur die eigenen Vorstellungen im Rahmen erster direkter Annäherungsversuche unter Berücksichtigung der Rahmenbedingungen und des lückenhaften Kenntnisstandes hinsichtlich der taktisch-technischen Entwicklung seit Ende des Zweiten Weltkrieges präsentierte. Die Einsicht in den geringen Handlungsspielraum, nicht nur betreffs der militärischen und politischen Machtverhältnisse, sondern insbesondere auch in Bezug auf die technisch-taktischen Grundvoraussetzungen, führten dann auch recht bald dazu, dass Heusinger im Laufe der Zeit die Existenz einer eigenständigen Luftwaffe ausdrücklich bejahte. Anfang 1953 richtete Bonin einen handschriftlichen Aktenvermerk an Heusinger, in dem er entgegen den Absichten der genuinen Vertreter des Heeres betonte, »dass es allein aus Gründen der immer mehr in den Vordergrund tretenden ungeheuren Kompliziertheit der Technik ein Unding wäre, einer künftigen deutschen Luftwaffe die Notwendigkeit eines >Eigenlebens< zu bestreiten, wie das seitens Paris, insbesondere von [Kurt] Fett, immer wieder verlangt wird. Es liegen andere Verhältnisse als beim Heer vor. Man kann nicht Alles über einen Kamm scheren. Selbstverständlich muß es bei einer gemeinsamen Spitze bleiben, jede sinnlose Einschränkung der Luftwaffe und auch der Marine unterhalb dieser Spitze aber ist m.E. grundfalsch.« Heusinger quittierte nur kurz: »Auch meine Auffassung [...] Wie bei all' solchen Fragen darf man dies Prinzip [direkte Unterstützung des Heeres durch die Luftwaffe] nicht zu Tode reiten. Dazu neigt in diesem Fall Fett114.« 113 1,4
AWS, Bd 2, S. 636-638 (Beitrag Meier-Dörnberg). BA-MA, BW 9/1875: handschriftl. Notiz Bonins (4.2.1953) mit Kommentar Heusingers (6.4.1953) u n d Paraphe Panitzkis (2.3.1953).
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e) Kehrtwende: Die Verabsolutierung der Luftwaffe im Rahmen der Massive Retaliation und der Widerstand der heeresorientierten Planer War man also grundsätzlich der Schaffung einer eigenständigen Teilstreitkraft Luftwaffe nicht abgeneigt, leistete man zunehmend Widerstand, als man ab 1955 langsam begriff, welche Auswirkungen das NATO-Konzept für die Ausgewogenheit der Streitkräfte, wie man sie selbst definierte, haben würde. Vor allem Heusinger entwickelte eine besondere Frontstellung gegen eine allzu schnelle Nuklearisierung unter einseitiger Betonung der Luftwaffe als eigentlichem »war winner«. Die Eckpunkte seiner strategischen Vorstellungen bauten grundsätzlich auf der beweglichen Panzerkampfführung auf, wie er sie zusammen mit Speidel schon seit Ende des Zweiten Weltkriegs vertrat115. Sie basierte im Grundsatz auf einer offensiven Verteidigung und propagierte auf der taktischen Ebene ein massives Zuschlagen der eigenen Kampftruppen, um den Feind gar nicht erst zur Entfaltung kommen zu lassen und am Besten so rasch wie möglich wieder aus der Bundesrepublik hinauszuwerfen. Die Devise lautete: »den Angreifer angreifen, wo immer sich eine Chance dafür bietet116« und den Kampf so schnell als möglich auf »ostdeutsches Gebiet« zu verlagern117. Dieses Konzept hatte Heusinger schon bei den EVG-Verhandlungen vertreten, ohne zu diesem Zeitpunkt die Atomwaffen mit einzubeziehen. Als dann langsam bekannt wurde, dass diese zunehmend ins Zentrum der Bündnisstrategie rücken würden, modifizierte Heusinger seine Ansichten, ohne jedoch sein Denken in den Bahnen offensiver Verteidigung aufzugeben. Zunächst davon ausgehend, dass Atomwaffen nur eine begrenzte Wirkkraft haben, dann aber einsehend, dass eine schnelle und umfassende Vernichtung Mitteleuropas möglich sein würde, versuchte Heusinger die Abwehr der Angreifer aus dem Osten mit Hilfe der eigenen Panzertruppen möglichst unter Vermeidung des Einsatzes von Atomwaffen. Als dann später die umfassenden Vernichtungsmöglichkeiten der Nuklearwaffen bekannt wurden, strebte man so weit als möglich eine Reduzierung der Nuklearwirkung an. Das Grundziel bestand darin, wenigstens den Einsatz von Η-Waffen zu umgehen118. Es mag ironisch klingen, aber in diesen Zielen stimmte man zumindest mutatis mutandis mit
115
116
117 118
Dazu auch ebd., BW 2/2717-1: Vortrag von Heusinger über Europ. Vtdg.-Fragen (Amt Blank), 1954, S. 3. Heusinger im Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 201, 21.10.1953, S. 1674. Siehe dazu Α WS, Bd 3, S. 603 (Beitrag Greiner). Der Angriffsgedanke war für Heusinger nach wie vor ein zentrales Moment, dies nicht nur für die Lage in Deutschland, sondern auch global-strategisch. Dazu BA-MA, BW 2/2717-1: Beurteilung der strategischen Weltlage vom 23.6.1954, S. 11; BW 2/2717-2: Vortrag über strategische Lage, [handschriftl.:] »1954/55«, S. 11-13: Periphere Verteidigung. Α WS, Bd 3, S. 604 (Beitrag Greiner). BA-MA, BW 2/1945: »Α-Technik«, [handschriftl.:] »betr. Antworten der BNS auf det. Fragen 1957«, S. 17.
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den Redakteuren des Nachrichtenmagazins »Spiegel« überein119. Wo Letztere aus politischen Gründen »der strategischen Doktrin der massiven Vergeltung und der Verteidigung Deutschlands mit taktischen Atomwaffen« misstrauisch gegenüberstanden und deshalb die Nuklearwaffen ablehnten, versuchte Heusinger sein Konzept der Vorwärtsverteidigung umzusetzen, wobei er immer auch den psychologischen Aspekt betonte120. Man konnte aus seiner Sicht der deutschen Bevölkerung und ihren Soldaten nicht zumuten, sehenden Auges ggf. in einen Krieg zu gehen, der aus ihrer Heimat ein nukleares Schlachtfeld machte, oder auch nur dauerhaft unter dieser Perspektive zu leben. Ob Heusinger angesichts der in Gang kommenden massiven nuklearen Aufrüstung taktischer Atomwaffen, der er trotz seiner konventionellen Optionen selbst grundsätzlich widersprach, die Ängste der deutschen Bevölkerung und die aktuelle Wunsch- und Bedürfnislage wirklich verstand, sei hier dahingestellt. Die Masse der Bürger dürfte wohl kaum die Feinheiten der heusingerschen Konzepte erfasst haben, sondern fürchtete sich wohl vor dem gewaltigen Atompotenzial, das nach und nach entstand. Wie noch zu zeigen sein wird, konnte Heusinger keinerlei Garantie dafür geben, dass ein kommender Krieg längere Zeit ohne Atomwaffeneinsatz möglich sei. Die konventionelle Schwäche der NATO führte dazu, dass die frühzeitige Verwendung von Nuklearmitteln integraler Bestandteil der strategischen Diskussion und Planung war. Aus dieser Perspektive sah man auch die Strategie der USA und versuchte, entsprechend Einfluss zu nehmen. Heusinger hegte zu dieser Zeit erhebliche Zweifel darüber, ob die USA ein wirkliches Interesse an der Erhaltung Westeuropas besaßen oder ob sie es lediglich als wichtigen Brückenkopf für ihre Bomberbasen betrachteten: »Mit peripherer Verteidigung [Europas durch die USA] ist es nicht getan. Der Westen kann nicht lebenswichtige Gebiete, wie z.B. Westeuropa, dem Russen überlassen121.« Diese Zweifel sollten auch in den folgenden Jahrzehnten nie wirklich beseitigt werden. Bei Besuchen in den USA drängte er daher schon früh auch auf weitere Informationen und die Zusicherung, dass die USAF und die NATO-Luftwaffen nicht ausschließlich Ziele angriffen, deren Zerstörung sich erst nach Wochen oder Monaten auswirken würde, sondern bestand auf dem direkten Einsatz zum Aufhalten der russischen >DampfwalzeMaginot-Denkens< sehen, sondern dass sie in einer sehr beweglichen frühzeitig zum Gegenangriff übergehenden Verteidigung gelöst werden muss. Dieses gilt ebenso für den konventionellen Teil der Land- und Seekriegführung, wie für den atomaren Teil. Entsprechend den Zielen, die der Gegner bietet, müssen wir die Reichweiten der vorhandenen Kriegsmittel voll ausnutzen. Wir dürfen uns nicht nur mit dem Kampf um den Eisernen Vorhang oder einer Interdiction an der Elbe, Oder und an der Weichsel begnügen, sondern müssen auch versuchen, den Nerv des Feindes in seinem Hinterland oder an seinen Küsten zu treffen.« Den Hintergrund dieser Ausführungen bildeten inzwischen vorgelegten Vorschläge nach Ausstattung der NATO mit neuen Mittelstreckenraketen, die als geeignet erschienen, die Lücke zwischen den rein taktischen Atomflugzeugen der Bündnisstreitkräfte und den strategischen Kräften der USA zu schließen. Aus dieser Perspektive hatte die Zertrümmerung der Sowjetunion und ihrer Verbündeten als Ziel für den Kriegsfall, wie sie schon im Rahmen der Massive Retaliation angeklungen war, in gewisser Weise ihre Komplettierung erfahren. Das entscheidende Gewicht lag dabei im Gegensatz zu Heusingers sonstiger Betonung der konventionellen Landstreitkräfte auf der Luftwaffe, die nunmehr nicht mehr nur taktische Atomträger, sondern möglicherweise auch Mittelstreckenraketen (Polaris) erhalten konnte. So lautete die zentrale Schlussfrage trotz aller beginnenden Betonung einer flexibleren, konventionellen (Land-)Kriegführung auch: »Soll und kann die Bundeswehr den Schwerpunkt mehr auf die Rüstung und Aufstellung der Luftwaffe legen?« Damit vertrat Heusinger eine Position, die die konventionelle Option als mehr oder weniger gering erscheinen ließ. Wie eng der Rahmen für eine solche Strategie im Kriegsfall war, konnte auch Heusingers Vorgesetzter, Strauß, nicht ausschließen, nämlich dass es trotz aller möglichen Begrenzungsversuche nicht doch recht rasch zu einem Einsatz taktischer Atomwaffen kommen könnte und dass dann eine rasche Es-
132
Die offensive Anwendung von Nuklearwaffen in Verbindung mit dem Konzept der beweglichen Panzerkampfführung hat die dt. Planungsspitze schon recht früh antizipiert. Ein dt. Beobachter bei brit. Atommanövern im Nov. 1954 bemängelte die langsame Durchführung des Vorstoßes der Feinde und den dadurch eher gemächlichen Einsatz von A-Waffen. Ein schnell vorstoßender Feind hätte dagegen die ganze Taktik ausgehebelt (BA-MA, BW 2/2722: Vortragsnotiz 26.11.1954: Verwendung taktischer A-Waffen während der brit. Manöver, S. 3). Das Fazit konnte demgegenüber nur lauten: sofortiger Einsatz möglichst noch im Grenzgebiet und weiter östlich. Die in der Forschung immer wieder vertretene Auffassung einer »nuklearen Unschuld« der dt. Seite bis Mitte der 50er Jahre (z.B. Steinhoff/Pommerin, Strategiewechsel, S. 9 - 5 6 ) und darüber hinaus wird dadurch erheblich relativiert. Für die Verbindung von Panzerstrategie und Nuklearwaffen braucht man keine weitgehenden Informationen der Technologie und der entsprechenden Leistungsmerkmale. Grundkenntnisse über die Wirkung reichen völlig aus.
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kalation, damit ein allgemeiner Atomkrieg, wahrscheinlich war 133 . Insgesamt blieb der allgemeine atomare Schlagabtausch trotz der Hinweise auf eine beginnende Flexibilisierung der NATO-Strategie seit 1956/57 überaus stark verankert; und es muss, wenn man alle Äußerungen und Ansätze berücksichtigt, bezweifelt werden, dass Massive Retaliation schon vor 1961 wesentlich aufgeweicht wurde 134 . Robert S. McNamara jedenfalls übernahm bei John F. Kennedys Amtsantritt einen strategischen Plan, der im Falle einer Berlinkrise den sofortigen Atomschlag vorsah, sobald die ersten sowjetischen Truppen den Westteil der Stadt angriffen 135 . Die Prioritäten bei der Auswahl des entsprechenden Kriegsmaterials entwickelten sich entsprechend dieser Grundsituation. In der ersten Hälfte des Jahres 1957 konstituierte sich ein deutsch-französischer Militärausschuss zur Auslotung möglicher gemeinsamer Entwicklungen. Heusinger nahm aktiv daran teil. Die deutschen Vorstellungen hinsichtlich der Luftwaffe hatten sich gemäß der NATO-Strategie bereits eindeutig verfestigt: Man forderte vor allem den schweren Allzweckjäger (hier: Mirage III) zur Bekämpfung der feindlichen Luftwaffe am Boden und des Hinterlandes und die Ingangsetzung eines umfassenden Raketenprogramms zum Kampf gegen die feindliche Luftwaffe in der Luft und zur Luftverteidigung: Boden-Luft und Luft-Luft 136 . Das Motto hieß: die ersten 30 Tage um jeden Preis überleben, danach den Krieg mit den verbliebenen Heereskräften gewinnen. Der Luftwaffenvertreter (BG Martin) betonte bei Gesprächen in Baden-Oos im Beisein Heusingers und Werner Panitzkis: »Priorität soll[e] auf Gegenoffensive und Interdiction liegen, Nahunterstützung der Landstreitkräfte dagegen zurücktreten. Ziel [muss] bemanntes Flugzeug mit Mach 2 - 3 sein 137 .« Bei den Detailsondierungen mit den Franzosen wies man der Entwicklung eines Leichtflugzeuges zur direkten Heeresunterstützung (hier: Etendard IV) ebenso wie dem Kampftransporter (hier: Noratlas 2506) nachrangige Priorität zu 138 . Für die Luftwaffe bedeutete dies eine überaus weitgehende Verselbstständigung und Loslösung von den Heeresstreitkräften. Es war nunmehr keineswegs mehr sicher, ob die deutsche Luftwaffe mit ihrem Atomeinsatz den Interessen der eigenen Streitkräfte diente oder - im Rahmen der NATO - eher der strategischen Gesamtplanung der USA und damit ein Äquivalent oder gar nur eine Ergänzung des Tactical Air Command der USAF bildete: Betrachtet man die Die Position von Strauß zur Strategie im Lichte der Opposition sehr ausführlich Bulletin (wie in Anm. 126). 134 Vgl. auch BA-MA, BW 2/2791: GETI-Studie 6 (Kurzbericht) und Kommentar von Speidel dazu (22.12.1956). 135 Steinhoff/Pommerin, Strategiewechsel, S. 82 f.; dazu auch Pommerin, Von der »massive retaliation« zur »flexible response«, S. 533. I3taktisch< ausgerichteten Einteilung der anderen Stäbe31'. Das Ansinnen Helmut Laegelers wurde von der Abteilung Luft, hier insbesondere den 27
Ebd., B W 9/1401: CM/CR/68, Bericht über die Sitzung des Militärausschusses vom 24.2.1954. Die letzten Änderungen des Dok. in: BW 9/457: CM/Air/D/5323. Ebd., B W 9/1445b: CM/Air/D/2881 vom 19.5.1953, Organisation der höheren Stäbe. Wechsel in: ebd., BW 9/1400: CM/CR/57, Sitzung des Militärausschusses, vom 18.11.1953. Die genaueren Hintergründe dieses Streits müssten noch näher untersucht werden.
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Bernd Lemke: Konzeption und Aufbau der Luftwaffe
französischen und belgischen Vertretern, mit Verweis auf die »besondere Aufgabe der Luftwaffe, ihre höher entwickelte Technik, ihren spezialisierten Einsatz und ihre andersartige Gliederung« massiv abgelehnt31. Es blieb bei den etablierten Regelungen.
4. Die komplexen Strukturen der Territorialorganisation und die Kräfteaufteilung für die Luftverteidigung (Jägerstreit) Im Frühjahr 1954 schließlich begann man mit der konkreten Ausgestaltung der Stellenbesetzung und der Festlegung der Regelungen für die Inbetriebnahme der Organisation für die Zeit ab dem Inkrafttreten des EVG-Vertrages. Wäre die Konferenz dann nicht gescheitert, hätte man in diesem Feld recht rasch praktische Aufbauleistungen erzielen können. Wesentlich komplexer und problembeladener als die Konzipierung eines Generalstabes erwies sich die Erstellung der Territorialorganisation, des logistisch-organisatorischen Rückgrats der Luftwaffe und gleichzeitigen >Trägers< der Luftverteidigung. Drei interdependente Grundprobleme ergaben sich hierbei. Auf der sachlichen Ebene hatte man zu gewärtigen, dass man ein vollkommen neues Gebäude von Grund auf errichten musste, was wiederum bedeutete, dass man eine duale, gewissermaßen sogar janusköpfige Grundstruktur zu schaffen hatte. Aufzubauen waren einerseits rein verwaltungstechnische Strukturen als administrative Basis der Streitkräfte, die Territorialorganisation im eigentlichen Sinne; andererseits ein militärisches Kampfinstrument, die Heimatverteidigung. Beide Elemente durften formell nicht kombiniert werden32, da die Schlagkraft der Heimatverteidigung gelitten hätte, wenn sie mit Verwaltungsaufgaben belastet worden wäre. Andererseits musste eine Koordination erfolgen, da sonst eine Desintegration der nationalen Strukturen zu befürchten war. Die anderen Schwierigkeiten betrafen die Machtverteilung im Gesamtrahmen, wobei wiederum sowohl die Interessen der Nationen untereinander als auch die der Teilstreitkräfte aufeinander prallten. Dazu kam die noch ungeklärte Integration in die NATO unter Einschluss der britischen Komponente. Die Flächenorganisation der EVG sollte von den Nationalstaaten unter Führung des EVG-Kommissariats betrieben werden, die dazu einen Zonenbefehlshaber, später Delegue, eigener Nationalität zu berufen hatten33. Er sollte die Aufstellung der nationalen Kontingente leiten. Die deutsche Delegation wollte diesen Posten zu einer Dauerinstitution machen, scheiterte damit allerdings bei 31
32 33
BA-MA, BW 9/2428: Halbmonatsbericht Abt. Lw/Paris für die zweite Hälfte Mai 1954 vom 29.5.1954 und ebd., 15. Halbmonatsbericht des Militärischen Chefdelegierten für die Tätigkeit des Militärausschusses vom 16.5.-1.6.1954. Dazu auch ebd., BW 9/1400: CM/CR/58, Sitzung Militärausschuss vom 25.11.1953, S. 2. Ebd., BW 9/2736: Entwicklung der Spitzengliederung vom 24.11.1951.
III. Die konzeptionellen Anfänge der Luftwaffe
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Formulierung des EVG-Vertrages schließlich am Widerstand der Franzosen, die offenbar um ihre Handlungsfreiheit im Innern, unter anderem auch möglicherweise um die Kontrolle ihrer Kolonialtruppen fürchteten. Alles, auch nur das Geringste, was künftig eventuell dazu führen konnte, die Kompetenzen der Gestaltungsfreiheit bezüglich der nationalen Wehrhoheit einzuschränken, erwies sich hier als Problem. Man einigte sich schließlich auf die Befristung der Tätigkeit der Delegierten auf 18 Monate34. Die komplizierte verhandlungstechnische Gemengelage sollte später noch in gleicher Weise die Luftverteidigung berühren. Damit war klar, dass in jedem Land eine gesonderte Wehrorganisation aufzubauen war. Arthur Eschenauer, Leiter der deutschen Luftwaffenabteilung in Paris, plädierte in einem Memorandum vom 24. November 1951 dafür, eigene Befehlshaber für die Teilstreitkräfte unter dem Delegue zu installieren, um den Aufbau der Kampfinstrumente sachgemäß und entsprechend der Organisation der Spitzengliederung der EVG zu bewerkstelligen 35 . Dabei kam er auf die Spitzengliederung innerhalb der nationalen Verteidigungsbehörde zu sprechen, ein Thema, das sich im Folgejahrzehnt zu einem wahren Dauerbrenner entwickeln sollte. Gefordert wurde die sog. vertikale Lösung auf gemäßigter Basis, d.h. je ein Planungs- und Einsatzstab für die Teilstreitkräfte mit wirklichen Kompetenzen im nationalen Bereich (Aufstellung, Personalplanung, Technik, Material, Beitrag zur Entwicklung der Taktik und der Einsatzprinzipien), genauso sollten auch Aufgabengebiete in einem übergeordneten Organ zusammengefaßt werden, das zur Wahrung des Zusammenhaltes der Streitkräfte als Ganzes planen, koordinieren und entscheiden sollte36. Eine horizontale Lösung mit Einrichtung eines starken Zentralstabes für alle Streitkräfte unter weitgehender Ausschaltung autonomer Stäbe für die einzelnen Teilstreitkräfte lehnte er vehement unter Verweis auf die etablierte Praxis der bereits existierenden Luftwaffen und der in Entstehung begriffenen zentralen Spitzengliederung der EVG-Streitkräfte ab: »Die gesamte Organisation, nicht nur der europäischen taktischen Luftwaffe, sondern nahezu aller Luftwaffen der Welt ist >vertikal· aufgebaut.« Diese gemischt-gemäßigte Lösung drückte sich auch im Vorschlag für die Errichtung nationaler Territorialkommandos aus: Eschenauer befürwortete mit Unterstützung der Belgier und Niederländer zentral gelenkte »Militärkreise« mit integrierten Luftwaffenabteilungen, eine Perspektive, die im Laufe der EVG-Verhandlungen durch das französische Modell mit einer autonomen Luftwaffenorganisation (autonome Luftkreise neben Wehrkreisen) abgelöst werden sollte37.
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•,6 17
Dazu ebd., BW 9/3313: Zusammenfassender Bericht über das Vertragswerk zur Gründ u n g einer Europ. Vtdg.-Gemeinschaft, 1952, hier S. 20-22. Zur taktischen L u f t w a f f e siehe S. 17-20. ΒA-MA, BW 9/2736: Entwicklung der Spitzengliederung vom 24.11.1951. Wie Eschenauer sich die Verteilung der Aufgaben und Entscheidungsbefugnisse im Einzelnen vorstellte, kann hier aus Platzgründen nicht analysiert werden. Dazu unten, S. 126-128. Frankreich besaß wie Italien eine vom Heer vollständig autonome Luftwaffen-Territorialorganisation, siehe BA-MA, BW 9/3375: S. 171, Sitzung der AG Luft vom 4.12.1951.
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Bernd Lemke: Konzeption und Aufbau der Luftwaffe
Die besonderen Grundlagen der Integration verschiedener Staaten brachten es mit sich, dass ein Modus vivendi erforderlich wurde, der sowohl den weiterhin bestehenden nationalen Vorrechten als auch dem Zusammenhalt der Gemeinschaft Rechnung tragen musste. Im ΕVG-Vertrag (Art. 16-18 und Art. 5 - 1 0 Militärprotokoll) hatte man daher auch eine Mischung beider Komponenten unter Wahrung der nationalen Gerechtsame festgelegt. Die gesamte Organisation sollte einheitlich nach EVG-Richtlinien aufgebaut werden. Die nationalen Territorialbefehlshaber, die Delegues, unterstanden einerseits dem Kommissariat, andererseits dem nationalen Verteidigungsministerium. Es handelte sich also um ein gemischtes System nationaler und übernationaler Zuständigkeiten und Befugnisse, deren Abgrenzung zunächst nicht genauer definiert wurde: Das Basisdokument für den konzeptionellen Anfang nahm zunächst eine Grobeinteilung vor, die dem Kommissariat alle konzeptionellen Aufgaben übertrug, den nationalen Komponenten dagegen eher ausführende Tätigkeiten zuwies38. Derlei konnte nicht unwidersprochen bleiben. Die Grundlagenarbeit des Gesamtgebäudes für die Territorialorganisation verlief nichtsdestotrotz recht konstruktiv, wenn auch teilweise eher zäh. Die Verhandlungen zogen sich durch das ganze Jahr 1953 und mündeten schließlich im Frühjahr 1954 in die Ausarbeitung der »Anweisung für die Aufstellung der Territorialorganisation und Aufbau der Heimatverteidigung«39. CM/D/93 dokumentierte gewissermaßen die bestehenden Ergebnisse und Differenzen. Präsentiert wurde die bereits 1953 allgemein akzeptierte integrierte Lösung, eine Mischung aus nationalen und gemeinschaftsweiten Einrichtungen (etwa für Ausbildung und Logistik) sowie im Detail getrennten Organisationen für Territorialverwaltung und Heimatverteidigung. Vorgesehen waren getrennte Stäbe für die Teilstreitkräfte für die nationalen Territorialbefehlshaber (Delegues), die von sog. Adjoints geleitet werden sollten. Damit sollte in allen nationalen Territorialkommandos quasi ein Abbild des Zentralen Generalstabs gebildet werden40. Die Aufteilung der Aufgaben zwischen nationalen und EVG-weiten Stellen hatte man nicht geändert: Der europäische Generalstab, hier insbesondere die Stäbe der Teilstreitkräfte, erstellten die grundlegenden Anweisungen für Einsatzprinzipien, Ausbildung, Organisation, Personal, Material etc., während die nationalen Stäbe für die Ausgestaltung in ihren Ländern zu sorgen hatten, dies EVG-weit möglichst unter einheitlichen Prinzipien. Wegen der weiterhin bestehenden Probleme blieben Teile der Anweisung bis zum Schluss umstrit-
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Ebd., BW 9/1396: 54. Sitzung des Chefdelegierten-Ausschusses vom 3.7.1952: Verwendung von Dok. CM/Del/D/47 vom 14.6.1952. Dok. ebd. Ebd., BW 9/1398: CM/D/93, Anweisung für Aufstellung der Territorialorganisation und Aufbau der Heimatverteidigung vom 10.4.1954. Neufassung mit demselben Datum in: BW 9/2467-1. Billigung durch Militärausschuss als Entwurf CC/INT/314 siehe BW 9/1401, CM/CR/71: Sitzung vom 17.3.1954, S. 2. Dies war im Grundsatz schon zuvor projektiert worden. Vgl. dazu etwa ebd., BW 9/1320: CM/CC/D/42, Textentwurf des Koordinationsausschusses zum Grundlegenden Text Nr. 2, Titel I, vom 31.7.1953.
III. Die konzeptionellen Anfänge der Luftwaffe
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ten 41 . Die Flächenorganisation erhielt dennoch ihre Grundgestalt. Die Luftwaffe bekam ihre eigenen Territorialbezirke, die sog. Luftbereiche, von denen für Deutschland zwei vorgesehen waren. Sie stellen die Vorläufer der Territorialkommandos der Luftwaffe ab 1955, der Luftwaffengruppen, dar, dies allerdings ohne die entsprechenden militärischen Kommandobefugnisse. Im Grunde waren sie Unterstützungsorgane für die Logistik der Heimatluftverteidigung, Rekrutierung/Grundausbildung, die Erhaltung und den Schutz der bodenständigen Anlagen, z.B. der Flughäfen, und für die Koordinierung der Flugsicherung mit den zivilen Behörden 42 . Logistik, Fernmeldewesen und Flugbetrieb der taktischen Kampfverbände lagen nicht bei ihnen, sondern bei der FAT AC. Die Luftbereiche hatten hier lediglich Unterstützungsaufgaben. Die Verwaltung auf Gesamtstreitkräfteebene und für das Heer übernahmen die Militärbereiche, die regional im Wesentlichen mit den Grenzen der Luftbereiche abgestimmt, organisatorisch aber streng getrennt wurden. Die Luftbereiche gehörten zu den Kernstreitthemen innerhalb der deutschen Delegation. Die Heeresleute, insbesondere auch Fett, versuchten, der Luftwaffe organisatorisch das Wasser abzugraben, indem sie anstrebten, eigenständige Luftbereiche zu verhindern und stattdessen Kampfbezirke, ähnlich den Feldluftgauen der deutschen Luftwaffe bis 1945, zu bilden 43 . Dies hätte bedeutet, dass nur eine einzige Luftwaffen-Territorialbehörde, der Feldluftgau, bestände, die vornehmlich für die Versorgung der Angriffsverbände zuständig gewesen wäre, was aber in der EVG-Konzeption als Aufgabe der FAT AC galt. Alle anderen Befugnisse hätten bei den allumfassenden und damit vom Heer stark abhängigen Militärbereichen gelegen. Die Luftwaffenleute hatten intern, nicht zuletzt auch wegen mangelhafter personeller Ausstattung, einen schweren Stand, weigerten sich aber nachzugeben, wie ein geradezu trotziger Vermerk Eschenauers belegt 44 , der betonte, dass eine derartige Organisation der europäischen Luftwaffe infolge der Loslösung der Kampfverbände von der Logistik einen allzu starken Angriffscharakter gegeben und damit die deutsche Delegation politisch schwer belastet hätte. Die Zweiteilung von Verwaltung und Logistik bei FATAC und selbstständigen Luftbereichen hätte dies verhindert. 41
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43 44
Ebd.: II, 1/5, Stellungnahme zum vorliegenden Text der CM/D/93 und Kommentar zur Struktur der Heimatverteidigung vom 25.5.1954. Hier galt, wie beim Texte Organique no. 1, dass die Billigung durch den Militärausschuss noch keine endgültige Entscheidung über den Wortlaut darstellte. Ergänzungen blieben möglich, dazu BVV 9/1401: CM/CR/71, Sitzung des Militärausschusses vom 17.3.1954, S. 2. Nichtsdestotrotz, und dies entspricht durchaus der pragmatischen Linie des Militärausschusses, wurden am 5.5.1954 erste Richtlinien für die Delegues erstellt und genehmigt. Ebd.: CM/CR/75, Sitzung des Militärausschusses vom 5.5.1954. Ebd., BW 9/303: Bericht Eschenauers vom 10.6.1953, Aufgaben der Luftbereichskdos. Noch vor Abbruch der Verhandlungen begann man auf nationaler und europ. Ebene mit der Ausgestaltung der Stäbe der Luftbereiche. Vgl. BW 9/2428: Halbmonatsberichte Frühjahr/Sommer 1954. Dazu auch AWS, Bd 2, S. 727 (Beitrag Meier-Dörnberg). BA-MA, BW 9/2465: Aktennotiz Eschenauers zur Organisation der FATAC vom 7.11.1952. Zur Besetzung der Abteilung LSK/Paris: BW 9/2428: Geschäftsplan Abteilung LSK/Paris vom 6.2.1954.
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Bernd Lemke: Konzeption und Aufbau der Luftwaffe
Im Hintergrund stand dabei letztlich erneut der Dualismus zwischen der führungs- und bodenorientierten Haltung der deutschen Heeresmilitärs und dem rational-effizienzorientierten Denken der westlichen Luftwaffenführungen. Insbesondere die französische Delegation hatte in einem eigenen Entwurf betont, dass eine rein nach Effizienzkriterien arbeitende Bodenorganisation, die Luftbereiche, neben eine einsatzorientierte, damit organisatorisch und logistisch autonom handelnde, d.h. nach modernen Managementkriterien relativ ineffiziente Kampforganisation (FATAC) treten müsse45. Allerdings, die deutschen Luftwaffenleute hatten nichts zu befürchten, denn nationale Alleingänge besaßen aufgrund der integrierten Verhandlungsstrukturen und -themen keinerlei Aussicht auf Erfolg. Innerhalb der EVG und im Dunstkreis der NATO erwiesen sich die deutschen Heeresmilitärs in Luftwaffenfragen nicht unbedingt als tonangebend. Ihre Versuche scheiterten. Die Heimatverteidigung wurde in CM/D/93 organisatorisch von der Territorialorganisation getrennt, ihre Führung als sog. Spezialisierter Führungsstab behandelt. Für die Luftwaffe bedeutete dies: Unter dem Adjoint Air beim Delegue sollte ein eigener Luftverteidigungsstab eingerichtet werden, der zusammen mit dem nationalen Verteidigungsministerium für den Aufbau und die Betriebsfähigkeit der Luftverteidigung sorgen sollte. Das nationale Verteidigungsministerium hatte sämtliche Grundlagenarbeit, wie z.B. Festlegung der gefährdeten Zonen, Ausstattung, Personalbeschaffung etc., zu leisten. Die operative Führung sollte bei der NATO liegen, wobei allerdings explizit darauf hingewiesen wurde, dass genauere Bestimmungen nicht existierten. Uber die Gestalt des ganzen Gebäudes gab es wenigstens im Generellen wenig Differenzen. Unter der strategischen Führung der NATO sollten die Zentralbehörden und die nationalen Stäbe die Luftverteidigung vorbereiten. Die NATO trat aber nicht als direkter Führer auf, sondern eher als Koordinator46. An der bereits präsentierten Aufgabenteilung zwischen EVG-Ebene und nationalen Kommandos und Dienststellen hatte sich nichts geändert, weswegen auch die Probleme nicht beseitigt werden konnten. Die Schwierigkeiten sollten im Übrigen das EVG-Projekt überleben und erst mit der Beendigung des Koordinationsgedankens und der Einführung einer wirklich integrierten, nationübergreifenden Luftverteidigung enden. Immerhin aber ergab sich schon eine handfeste Richtungsweisung für die künftigen Feinstrukturen. Man machte sich für die Untergliederung der Luftverteidigung im Zuge der Beratung über weitere Abschnitte durchaus Gedanken und schlug vor, Luftverteidigungsgebiete (Zonen) und
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Ebd., BW 9/2467-1: Entwurf der franz. Delegation für die Territorialorganisation der Luftstreitkräfte vom 3.9.1952. Ob diese Grundhaltung und die ihr entspringende Organisation im militärischen Gesamtrahmen wirklich effizienter war oder ob durch die Bildung von eigenständigen Luftbereichen eher Schwerfälligkeit produziert wurde, müsste noch näher geklärt werden. Die neu entstehende Bundeswehr jedenfalls hat auf die Einrichtung von eigenständigen Luftwaffenkommandos verzichtet. Ebd., BW 9/1445b: CM/Air/D/2670, Luftverteidigung mit Anl. »Verantwortung der verschiedenen Ebenen gegenüber der europäischen Luftverteidigung« vom 27.4.1953. Auch zum Folgenden.
III. Die konzeptionellen Anfänge der Luftwaffe
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Luftverteidigungsabschnitte (Sektoren) einzurichten. Die späteren Luftverteidigungssektoren der NATO mit den entsprechenden Kommandostellen (SOCs) waren hier mutatis mutandis bereits vorgedacht. Die Einsatzgestaltung der Luftverteidigung, die wegen der Abhängigkeit von bodengestützten Einrichtungen (v.a. Ortungs- und Flugmeldenetz, Fernmeldeverbindungen, Flak-Kampfeinheiten) stark von der territorialen Organisation abhing, wurde durch deren Grundausrichtung nachhaltig geprägt. Obwohl sich in der Entwicklung der Luftverteidigungsdoktrin die Einsicht in die Notwendigkeit einer NATO-weiten Luftverteidigung auf integrierter Basis zu etablieren begann und Entsprechendes insbesondere von der deutschen Seite immer wieder gefordert wurde, führte die organisatorische Gestaltungsarbeit im Militärausschuss zur Aufteilung der Strukturen und Mittel in national geschlossene Systeme. Im deutschen Fall brachte dies die Wiedererrichtung der Reichsluftverteidigung aus dem Zweiten Weltkrieg, einer zentral gelenkten Luftabwehr mit einer stark objektgebundenen Ausrichtung (Schutz von bestimmten Zentren, z.B. Städten) als Möglichkeit auf die Tagesordnung, eine Option, die den strategischen, taktischen und technischen Möglichkeiten der modernen Luftwaffe nicht gerade gerecht wurde. Gefördert wurde diese eher rückwärtsgewandte Entwicklung durch die Vorgaben der NATO. Die für die Entwicklung einheitlicher Bestimmungen zuständige Behörde, die Military Agency of Standardization (MAS), verteilte Mitte 1953 eine Richtlinie für die Luftverteidigung im Bündnis: die STANAG 309047. Diese verlangte wenigstens theoretisch auch den Aufbau einer integrierten Luftverteidigung mit entsprechenden Stäben. Allein, das taktische Einsatzkonzept war veraltet. Gefordert wurde der Aufbau spezieller Schutzzonen (restricted areas) mit unterschiedlichen Graden für den Einsatz von Jägern und Rohrflak (genaue Feuerregelungen)48. Dies entsprach im Wesentlichen der deutschen Objektschutzkonzeption im Zweiten Weltkrieg, die nicht zuletzt aufgrund ihrer statischen Festlegung auf Schutzzentren relativ ineffizient und materialaufwendig gewesen war (Rundumschutz mit starker Rohrflakkomponente bei hohem Stahlverbrauch und geringer Trefferwirkung). In Deutschland hatte man unter dem Einfluss der Denkschriften des führenden Experten für technisch-taktische Fragen in Bezug auf die Luftverteidigung, Oberst i.G. a.D. Hermann Aldinger, dieses Konzept letztlich schon hinter sich gelassen49. Aldinger forderte den Aufbau einer flächendeckenden Flakraketenabwehr mit Ausrichtung nach Osten und alleiniger Konzentration auf die numerische Vernichtung der angreifenden Verbände durch Kampf auf ganzer Breite und Tiefe, nicht den Schutz bestimmter Objekte innerhalb des zu verteidigenden Gebietes. Die STANAG 3090 ,r
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Ebd., BW 9/3410, G3/Paris; Tgb.Nr. 1309/53 geh., Übersetzung STANAG Nr. 3090 (Ü 604/53) vom 31.7.1953. Ebd., S. 48-66. Ebd., BL 1/2: Studie Taktisch-technische Forderungen für FlaRak vom 27.1.1953. Dazu auch BL 1/1500: DS Aktive Heimatluftverteidigung; hervorgegangen aus einer Tagung über Heimatluftverteidigung vom 14./15.10.1952. Hinweise zur Tätigkeit Aldingers, in: BW 9/109: 2784-2, 466, 3553, 228, 132.
Bernd Lemke: Konzeption und Aufbau der Luftwaffe
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Grundstruktur der Luftverteidigungsführung nach STANAG 3090 C O C = Befehlsoperationszentrale G O C = Gruppenoperationszentrale S O C = Abschnittsoperationszentrale C R C = Leit- und Meldezentrale G O O = Bodenbeobachtungszentrale A A O C = Flakoperationszentrale J A A O C = verbundene Flakoperationszentrale C R P = Kontroll- und Berichtsposten
Flakgeschütze Flakgeschütze an der Küste und Schiffe im Hafen
Quelle: BA-MA, B W 9/3410, G3/Paris; Tgb. Nr. 1309/53 geh.
©MGFA 04910-07
erfuhr daher massive Kritik insbesondere auch von den Amerikanern, die Mitte 1954 den Nutzen der Richtlinie negierten. Da allerdings vorläufig keine andere Einheitsrichtlinie existierte, akzeptierte man sie allgemein als Basisanleitung50. Eine moderne Konzeption sollte erst nach Ende der EVG-Phase erstellt werden. Immerhin ergaben sich in diesem Rahmen, wie schon bei der Konzeption der Organisationsstrukturen, bestimmte Vorentscheidungen auf der Basis der USVorstellungen für die späteren Organisationsstrukturen (Sector Operational Centers, Control and Reporting Centers und Control und Reporting Posts). Der sehr große Einfluss der USA wurde erneut deutlich. Die Amerikaner schrieben nicht nur an den jeweiligen Vorschriften mit, sie bestimmten auch, welche gerade aktuell waren und welche nicht. Hatte man bei den konzeptionell-organisatorischen Fragen trotz aller Schwierigkeiten doch zukunftsweisende Fortschritte erzielt, ergaben sich in der Frage der Zuteilung der Kampfkräfte für die Heimatverteidigung, insbesondere der Luftverteidigung, existenzielle Hindernisse. Die bereits in der Vorphase heftig umkämpfte Frage nach der Zuweisung von Jägern und Flak-Raketen51 für das deutsche Kontingent kam wieder aufs Tapet. Der EVG-Vertrag hatte im Accord Special Obergrenzen für die Kampfflugzeuge festgesetzt, die nicht 50
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Ebd., BW 9/2684: Besprechung von II/Pl mit US-Colonel de la Tour über Fla im Bereich einer Armee und BW 9/1220: Working Party Report on the Principles of Air Defence vom 13.9.1954. Dazu unten, S. 133 f.
III. Die konzeptionellen Anfänge der Luttwaffe
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überschritten werden durften. Eine weitere, darüber hinausgehende Zuteilung für Luftverteidigungszwecke musste neu verhandelt werden. Das Gleiche galt für die Raketen, die wegen ihrer technischen Unausgereiftheit zahlenmäßig noch nicht im EVG-Vertrag erfasst worden waren. Das radikale Gefälle in der aktuellen Kräfteverteilung erwies sich als regelrechte Gefahr für die Verhandlungen: auf der einen Seite der militärische Habenichts Bundesrepublik, auf der anderen die übrigen Staaten, die bereits über entsprechende Einrichtungen und Mittel verfügten. Es setzte ein zähes, interessengesteuertes Ringen ein, wie es bis zum heutigen Tage alle Verhandlungen um europäische Fragen, einschließlich der Osterweiterung 2004, kennzeichnet 52 . Die >besitzenden< Staaten verhielten sich bei der Gestaltung der Übergabe ihrer nationalen Einrichtungen bzw. der Angleichung der Strukturen bis in das Frühjahr 1954 hinein sehr restriktiv, weil sie nicht voreilig Rechte und Anteile an die Deutschen abtreten bzw. - im Falle der Franzosen - Teile der nationalen Streitkräfte generell unter eigener Kontrolle behalten wollten. Deshalb hatte Paris bei der Diskussion um die Einsetzung der EVG-Territorialbefehlshaber anfangs ja gerade die dauerhafte Einrichtung nationaler Komponenten verhindert 53 . So gesehen verwundert es nicht, dass offene Konflikte auftraten, als ein Entwurf der Organisationsabteilung zu einem Papier zur Heimatverteidigung (CM/D/26 vom 22. Dezember 1952) der EVG-Zentralebene alle wesentlichen konzeptionellen Befugnisse zuteilte54, hier vor allem die Gestaltung der Aufstellung und die Zuweisung der Kampfmittel. Wären diese Bestimmungen in Kraft getreten, hätten alle bisherigen Verträge bei der Umsetzung ihre Gültigkeit verloren und einem EVG-Gesamtvertrag Platz machen müssen. Dazu verweigerten die Belgier und die Niederländer ihre Zustimmung, da die bestehenden Verträge vorsahen, dass ihre NATO-Jagdkräfte (69. Wing) ausschließlich zum Schutz des eigenen Gebietes eingesetzt würden. Die deutsche Delegation 52
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Einen guten Überblick zu den Verhandlungen über die Territorialorganisation und die Heimat-Vtdg. aus dt. Sicht bietet der [handschriftl.] Vortrag Entwicklung der Luftverteidigungsplanung im Zuge des Aufbaus der Dienststelle (bis zur Beendigung der E.V.G.), ohne Datum (nach Juli 1954), BA-MA, BW 9/227. Dazu ebd., BW 9/2428: Halbmonatsberichte des Militärausschusses, v.a. die Zusammenfassung der G 3-Abteilung im 8.-11. Bericht 1954. Zum formellen Hintergrund siehe BW 9/1399: CM/CR/10, Sitzung Militärausschuss vom 9.10.1952, S. 2, und BW 9/1400: CM/CR/39, Bericht über Sitzung Militärausschuss vom 24.6.1953, S. 2. Dazu ebd.: CM/CR/52, Sitzung Militärausschuss vom 14.10.1953, und CM/CR/53, Sitzung Militärausschuss vom 21.10.1953. Zum Folgenden vgl. ebd., BW 9/1320: Bericht von G 3/Paris vom 27.6.1953 über den Stand der Verhandlungen über die Territorialorganisation und CM/ORG/I/P/193 vom 24.6.1953, Vorschlag des Textes für die Heimat-Vtdg. (Abt. Organisation). Vgl. zus. sämtliche Dok. in diesem Ordner (viele Zwischendok. zur Erstellung einer Anweisung zur Territorialorganisation/Heimat-Vtdg.) und BW 9/1320: CM/ORG/I/P/210 vom 22.7.1953, HeimatVtdg. (Dieses Papier w u r d e vom Militärausschuss abschließend nicht gebilligt). Dazu BW 9/1397: EVG-Interims-Ausschuss, Militärausschuss, Dok. 7.7.1952-29.6.1953, CM/D 1-55, CM/D/26 vom 22.12.1952. Siehe auch BW 9/1320 und 1399, CM/CR/20: Bericht über die Sitzung Militärausschuss vom 16.1.1953.
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Bernd Lemke: Konzeption und Aufbau der Luftwaffe
versuchte zu erreichen, dass ausnahmslos alle Jägerverbände in Europa sofort bei Kriegsbeginn gegen den Feind geworfen würden, und strebte daher eine Neuregelung unter einem einheitlichen EVG-Kommando an. Die Franzosen wiederum hatten daran kein Interesse, stimmten der Regelung aber deshalb zu, weil sie den Passus des Accord Special, der ihre eigenen Kräfte bestimmte, so auslegten, dass eine nationale Luftverteidigung ohne Unterstellung unter ein EVG-Kommando gewährleistet war. Die Italiener billigten die Regelung vor allem deshalb, weil sie einen eigenen gleichberechtigenden Vertrag wie die übrigen NATO-Mitglieder wollten. Sie dachten letztlich nicht daran, ihre gesamten Jagdkräfte im Ernstfall sofort über die Alpen zu schicken und gegen den Feind in Mitteleuropa zu werfen. Diese Frage konnte bis zum Scheitern der Verhandlungen nicht geklärt werden. Das entsprechende Kapitel für die Anweisung zur Territorialorganisation bzw. Heimatverteidigung wurde vom Militärausschuss formell nicht genehmigt55. Auch in der Frage der numerischen Kräftezuteilung konnte keine Übereinkunft erzielt werden, vielmehr traten die Differenzen bis zum Schluss in aller Schärfe zu Tage56. Die Franzosen weigerten sich weiterhin, der deutschen Seite zusätzliche Jäger zuzugestehen. Über Verfahrensfragen versuchten sie außerdem, den Deutschen die Flak-Raketen zu verwehren. Sie subsumierten in den Vorentwürfen die Raketen unter die Kategorie Jäger. Beim aktuellen Verhandlungsstand (keine Jäger für Deutschland nach Art. 16 ΕVG-Vertrag) wären Lenkwaffen für das deutsche Kontingent tabu gewesen. Die deutsche Seite verlangte daraufhin, dass die Raketen unter den Bodenverteidigungsmitteln des Heeres geführt wurden, und geriet damit erneut in Konflikt mit den Partnern, die Lenkwaffen als Aufgabe der Luftwaffe betrachteten. Die deutsche Delegation befand sich in einer bedrängten Position, was nicht zuletzt auch darauf zurückging, dass die konzeptionelle Arbeit im Argen lag57. Die Koordination zwischen Bonn und Paris ließ v.a. auch in Luftwaffenfragen sehr zu wünschen übrig. Bei aktuellen und kontrovers geführten Diskussionen konnte man nicht schnell genug reagieren, weil die nötigen Informationen und Richtlinien aus Bonn zu spät eintrafen58. Daran konnten auch die in Paris abgehaltenen »Luftwaffen-Waschtage« zur persönlichen Abklärung der Sachlage zwischen den Bonner und Pariser Abteilungen nichts ändern59. Häufig, und 55
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Vgl. dazu ebd., BW 9/1320: CM/ORG/I/P/307 vom 21.1.1954 (Ausarbeitung der Organisationsabteilung des Militärausschusses für Kap. Ε der Weisungen für die Heimat-Vtdg.) und II, 1/5 vom 25.5.1954, Stellungnahme zum vorliegenden Text der CM/D/93. Ebd., Heusinger am 1.6.1954 an Speidel, Stellungnahme zu Kap. G, Ziff. 2c (Zusatzkapitel zu CM/D/93), Heimat-Vtdg. Bezug auf CM/Org/I/336, dazu CM/ORG/D/353 vom 19.6. und Sitzung des Ausschusses der Chefdelegierten vom 13.7.1954. Ebd., BW 9/227: Vortrag Entwicklung der Luftverteidigungsplanung im Zuge des Aufbaues der Dienststelle (bis zur Beendigung der E.V.G.), ohne Datum (nach Juli 1954), III. (Abschnitt). Ebd., BW 9/2428: Tätigkeitsbericht der Abt. LSK/Paris vom 24.2.1954, zweite Febr.-Hälfte. Zu den Luftwaffen-Waschtagen siehe ebd., BW 9/1444: Der Senior-Offz, Programm für den Luftwaffen-Waschtag am 9./10.6.1953, und BW 9/2440-2: Bericht über den Luftwaffen-Waschtag in Paris, 9.6.
III. Die konzeptionellen Anfänge der Luftwaffe
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gerade im Falle der Luftverteidigung, gab es überhaupt kein schlüssiges Konzept. Die Franzosen konnten, nicht zuletzt auch deshalb, weil sie schon über jahrelange Erfahrungen verfügten, häufig die Führung übernehmen, während die deutsche Seite teilweise eher recht und schlecht auf die Rolle des Reagierens beschränkt blieb. Insgesamt entwickelte sich die Luftverteidigung zum verhandlungstechnischen Stiefkind60. Die taktische Luftwaffe, also insbesondere die Frontverbände mit ihren Angriffskräften, dagegen hatte von Anfang an im Mittelpunkt des Interesses gestanden und deshalb auch eine erheblich höhere Entwicklungsstufe erreicht. In dieser Frage gab es allerdings auch die größten Konflikte, dies jedoch weniger in Bezug auf die Konzeption als vielmehr hinsichtlich der Stärkeverteilung; und in der Tat entwickelte sich hieraus eine der größten Blockaden in der praktischen Planungsarbeit. Bezugnehmend auf die Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg gab die deutsche Delegation gleich zu Beginn der Verhandlungen die Mindestzahlen für eine FATAC auf Armee-Ebene mit 1616 an (ohne Transport- und Verbindungsflugzeuge). So viel hatten die Franzosen für eine ganze Armeegruppe vorgeschlagen, d.h., die Deutschen verlangten praktisch doppelt so viele Einsatzflugzeuge. Auch bezeichnete man den Aufbau starker Jägerkräfte als unerlässlich: »Es kommt [...] darauf an, die taktische Jagdwaffe so stark wie möglich zu machen61!« Sowohl die angenommene Zahl der Flugzeuge als auch die starke Betonung der Jäger war für die Franzosen praktisch inakzeptabel. Sehr wohl wissend, dass es eine Obergrenze für die Anzahl der Maschinen für die EVG geben würde, versuchte man jeweils schon vorab, sich ein möglichst großes Stück des Kuchens zu sichern. Verschärft und auf grundsätzliche Dimensionen geführt wurde das Problem durch den deutschen Verweis auf die Luftverteidigung. Die Abwehr der Feindkräfte im Operationsbereich war, darin war man sich allgemein einig, Aufgabe der FATAC. Darüber hinaus verlangte die deutsche Delegation aber den Aufbau einer integrierten europäischen Luftverteidigung, die gesondert auf »gemeinsamer europäischer Basis« mit Kampfkräften auszustatten war: »Jäger, Flak, Radar und Flugmeldenetz«. Dies bedeutete eine weitere Aufstockung der Luftwaffe über das bereits sehr hohe Maß der deutschen Annahmen für die FATAC hinaus. Die Franzosen, die ja bereits eine nationale Luftverteidigung besaßen (DAT)62, hätten es am liebsten gesehen, wenn die deutsche Luftwaffe nur mit den zur unmittelbaren Heeresunterstützung nötigsten Kampfkräften ausgestattet worden wäre63. Diese Meinungsunterschiede zogen sich durch die EVG-Verhandlungen hin, ohne wirklich bereinigt zu werden. Es ergab sich sogar noch eine Verschärfung, als sich im Laufe der Zeit he60
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Zur Position u n d den Schwächen der dt. Delegation bei den Verhandlungen um die Luftverteidigung vgl. ebd., BW 9/227: Vortrag Entwicklung der Luftverteidigungsplanung im Zuge des A u f b a u s der Dienststelle (bis zur Beendigung der E.V.G.), ohne Datum (nach Juli 1954). Dazu auch ebd., BW 9/3235: 8. Sitzung Militärausschuss vom 10.5.1951. Ebd., BW 9/2323. Α WS, Bd 2, S. 678 mit Anm. 25 (Beitrag Meier-Dörnberg).
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Bernd Lemke: Konzeption und Aufbau der Luftwaffe
rauskristallierte, dass die Heimat- und Luftverteidigung unter nationaler Kontrolle stehen würde. Hier griff dann wohl nicht zuletzt auch das grundsätzliche Misstrauen der Franzosen wieder Platz. Eine zahlenmäßig allzu starke deutsche Jägerwaffe hielt man einerseits für überflüssig, da Deutschland ja ohnehin Kampfgebiet sein würde; andererseits wusste man nicht, ob diese Jäger nicht doch auch wieder als Verteidigungsmacht gegen eventuelle Disziplinierungsversuche aus dem Westen eingesetzt würden. Zumindest ein Teil der französischen Militärführung betrachtete Westdeutschland als eine Art Glacis. Eine ausgeprägte Luftverteidigung war aus dieser Perspektive nicht nötig. Der Kampf gegen die feindliche Luftwaffe würde aus den taktischen Einheiten (FATAC, CATAC) heraus erfolgen, dies in erster Linie mit dem Schwerpunkt Unterstützung der Heerestruppen. Dass man etwas für den Schutz der deutschen Zivilbevölkerung tun musste, wurde weitgehend ausgeblendet. Die Parallelen zur Diskussion um die Einsatzkonzeption der französischen Kurzstreckenraketen mit einer rein auf westdeutsches Gebiet begrenzten Reichweite sind offenkundig. Das Schicksal der Lebensgebiete zwischen Elbe und Rhein in einem künftigen Krieg rangierte zumindest in den frühen 50er Jahren augenscheinlich nicht in der ersten Reihe der Prioritäten. Die deutsche Seite, so z.B. Eberhard Kaulbach, beharrte auf ihrer Position und verwies zusätzlich darauf, dass die sowjetische Luftwaffe in starkem Maße direkt auf den Einsatz über der Frontlinie zugeschnitten war und somit eine starke Jagdabwehr dort ebenfalls nötig sei. Dabei präsentierte man auch schon etwas genauere Einsatzszenarien. So heißt es, es werde »kaum möglich sein, die Handlungsfreiheit im Luftraum ständig aufrechtzuerhalten. Vielmehr wird man vermutlich eine Luftüberlegenheit immer nur vorübergehend und örtlich erringen können64.« Die deutschen Ansichten spiegelten die Realität dabei durchaus am Besten wider und sollten sich künftig auch als richtig erweisen. Man hatte gute Argumente, die in militärischer Hinsicht kaum zu widerlegen waren. Der allgemeine Sachstand floss dann in den Politischen Interimsbericht vom 24. Juli 1951 ein: Einen gewissen Fortschritt hatte man bei der Basisstruktur für die künftige europäische Luftwaffe erzielt. Amerikanische STAN-Zahlen übernehmend, wurde auch die präliminarisch festgelegt: »die national homogene Grundeinheit« sollte 50-80 Flugzeuge besitzen: das Geschwader 65 . Bis zum ΕVG-Vertrag 1952 verfestigte sich dies. Die Arbeitsgruppe Luft definierte die Grundstruktur der national homogenen Basiseinheit der Luftstreitkräfte, des Geschwaders (Wing), und erarbeitete vorläufige Stärkezahlen 66 . Man setzte an 64
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BA-MA, BW 9/3157: Militärausschuss, Papier CM/D/24, Beitrag der dt. Delegation über Gliederung und Stärken der taktischen Luftwaffe auf der Ebene einer Heeresgruppe zu 20 Divisionen vom 31.5.1951. Dazu BW 9/3235: 12. Sitzung Militärausschuss, Abschlussberatung (vorläuf.) vom 31.5.1951 über die Luftwaffenfrage. Ebd., BW 9/3168: Politischer Interimsbericht Paris, vom 24.7.1951, S. 26. Ebd., BW 9/3195: CM/GP/GTA/D/2, Bericht der AG Luft für die Planungsgruppe über »Umfang, Organisation und Effektivstärken der Lw-Grundeinheit« vom 15.10.1951. Das Initialdok. für die Arbeit der AG Luft kam dabei erneut von den Franzosen, siehe BW 9/3195: CM/GP/GTA/D/1, Note du Delegue de la France sur l'Unite de Base: La DemiBrigade Aerienne vom 6.10.1951.
III. Die konzeptionellen Anfänge der Luftwaffe
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konkreten Zahlen für die einzelnen Geschwadertypen - vorläufig - ein: 75 Flugzeuge außer den Einheiten der leichten (zweistrahligen) Bomber, die nur 48 Stück erhalten sollten. Für Allwetterjäger und Aufklärer wurde diese Zahl im EVG-Vertrag dann auf 36 bzw. 54 reduziert. In der Geschwadergliederung taten sich allerdings einige Meinungsverschiedenheiten auf67. Die europäischen Partnerstaaten außer Deutschland einigten sich im Wesentlichen auf die Übernahme des US-Modells68, d.h. der Dreiteilung unter dem Geschwaderstab: 1. fliegende Gruppe mit drei Einsatzstaffeln, 2. technische Gruppe mit allen Versorgungs- und Wartungsdiensten inklusive Materialerhaltungsstufe 2 (Wartung) und 3. einer Groupe des moyens generaux, der Fliegerhorstgruppe, zum Betrieb des Fliegerhorstes (u.a. mit Wach-, Feuerlösch-, Flugplatzkontrollzug). Die deutsche Seite stellte sich mit Verweis auf die Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg quer. Ihrer Ansicht nach belastete eine technische Gruppe das Geschwader nur unnötig und schränkte dessen Flexibilität und Kampfwert erheblich ein. Die Partner widersprachen unter Berufung der Meinung von SHAPE, nach der bei einer Verbundlösung wie der EVG fliegende Verbände ohne eigene technische Gruppen bei einer Verlegung sehr häufig auf Fliegerhorstorganisationen fremder Nationalität mit anderer Sprache und unterschiedlichen Organisationsgewohriheiten angewiesen seien69. Wie schon bei der Frage nach der grundlegenden Organisation der Luftstreitkräfte kam es zu einem Aufeinandertreffen der deutschen (Heeres-) Vorstellungen, die eher führungsorientiert und >bodenständig< waren, und der westalliierten Denkart, die die Luftwaffe eher von ihrer inneren technischlogistischen Dynamik her betrachtete. Die Technik erachtete man als derart wichtig, dass man sie als prominentes, dabei aber eigenständiges Element in die Frontverbände integrierte, auch wenn dies bedeutete, dass die Verlegungsfähigkeit dadurch litt. Die deutsche Perspektive war durch die Fronterfahrungen des Zweiten Weltkriegs als fliegende Feuerwehr bestimmt gewesen, die im Gegensatz zur fest etablierten, teils monströsen Maschinerie der Westalliierten in Extremfällen schon als eine Art desperadoartiges Heldentum bezeichnet werden kann. Als die Kräfteverhältnisse vor allem im Osten immer problematischer wurden, oft nur wenige Maschinen an Brennpunkten zusammengezogen werden konnten, kam es vor allem auf Schnelligkeit, große Flexibilität und vor allem das Verständnis zwischen dem Piloten und dem direkten Serviceperso-
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Zum Folgenden vgl. ebd., S. 4 - 7 mit Anl. Zus. ebd., BW 9/3195: CM/GP/GTA/C.R./l, 1. Sitzung der AG Luft vom 10.10.1951; BW 9/3195: Vorschlag der dt. Delegation zur alternativen Ausstattung/Org. der Halbbrigade v o m 11.10.1951; BW 9/3195: CM/GP/GTA/ CR 2, 2. Sitzung der AG Luft, v o m 12.10.1951; BW 9/3195: CM/GP/GTA/CR 3, 3. Sitzung AG Luft v o m 15.10.1951, mit einer Stellungnahme von SHAPE. Dazu ebd., BW 9/303: Übersetzung v o m 1.7.1952 (Cescotti) der US-Vorschrift AFR 2 0 - 1 5 v o m 13.12.1948, Organisation; Gliederung des Fliegenden Geschwaders. Dabei hatte der SHAPE-Vertreter, Richardson, allerdings angemerkt, dass er in seiner Eigenschaft nur eine persönliche Meinung vertrete. SHAPE sei nur an kampfkräftigen Einheiten interessiert. Wie diese genau organisiert seien, müsse die EVG selbst entscheiden.
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nal, hier vor allem den rückblickend teilweise verklärten »Ersten Warten«, an70. Nicht nur die Flugzeugführer in der Luft wurden zunehmend vom überlegenen Gegner gejagt, sondern manchmal auch das Bodenpersonal durch plötzliche Vorstöße der Roten Armee gegen die Flugplätze. In den Memoiren wurde dies nicht selten als großes Abenteuer dargestellt71. Derlei war im Zeitalter der Hochtechnisierung mehr als veraltet, dies gerade im Falle der Bundesrepublik unter der Strategie der Massive Retaliation. Hier mussten die Betriebsabläufe optimiert werden, um in kürzester Zeit reagieren zu können. Als noch wichtigeren Faktor hatte man die inzwischen zur Verfügung stehenden Hochleistungsjäger zu beachten. Für all die damit zusammenhängenden Aspekte war das anglo-amerikanische Servicekonzept erheblich besser zu gebrauchen als das deutsche aus dem Zweiten Weltkrieg. Die deutsche Seite blieb in dieser Angelegenheit dennoch reserviert. Ihr Vertreter gab zwar nach, allerdings unter Vorbehalt. Die Frage sollte für die deutsche Luftwaffe damit nicht erledigt sein, sondern im folgenden Jahrzehnt problematischen Dauercharakter gewinnen. Man hätte sich auch in der Folge bis in die 60er Jahre hinein manche Schwierigkeiten ersparen können, hätte man diese Lösung in das geistige Repertoire übernommen. Die entstehende Luftwaffe wurde, als man die Verteidigungsorganisation nach Beendigung der EVGPhase auf rein nationaler Basis aufzubauen begann, nach den eigenen Vorstellungen organisiert und musste Anfang der 60er Jahre im Zuge der Personalund Ressourcenknappheit organisatorisch dann genau entlang der Linien der Partner gestrafft werden. Einstweilen aber passte man sich vorläufig an, und so floss das westliche Modell auch in den EVG-Vertrag ein. Keinerlei Kompromisse gab es weiterhin bei den Stärken der Kampfverbände72. Im Vorfeld des EVG-Vertrags wurden gemäß den Standpunkten in der Materialfrage zwei Lösungen präsentiert: Lösung Α sah auf der Basis von 5212 Flugzeugen für die EVG für Deutschland insgesamt nicht mehr als 1158 Maschinen zuzüglich einer noch festzulegenden begrenzten Anzahl an Aufklärern und Allwetterjägern vor. Leichte Bomber standen nicht zur Diskussion. Es war
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Toliver/Constable, Holt Hartmann vom Himmel!, S. 38 f., 73 f., 86 f., 129, 305. Die »Ersten Warte« erscheinen als eine Art Mischung zwischen technisch versierten Wartungsgenies, persönlich treu ergebenen Offiziersbegleitern, gleichzeitig aber auch als Schnittstellen zwischen Pilot und Bodentruppe. Dies mag erklären, warum so mancher Protagonist am alten Wartungsmodell festhielt. Jedenfalls erhob sich teilweise Widerstand, als bei den schweren Jabo-Geschwadern die Technische Gruppe eingeführt wurde (Vorwurf an der möglichen Schaffung abgehobener >Herrenfahrer< ohne Kontakt zur Truppe und ohne entsprechende Führungsfähigkeiten). Derlei hatte jedoch wenig Erfolgschancen. BA-MA, BL 1/197: Dok.-Sammlung Zusammenfassung der Technik in den Geschwadern (1959/60), und BL 1/1595, Umgliederung JaboG 31 vom 27.5.1960, und weitere Dok. Im Zeitalter der Hochtechnisierung stand die Beherrschung der Waffensysteme im Mittelpunkt (»funktionales Dienen«), weniger die militärisch-formale Seite oder gar die Verklärung vergangener > Waffenbrüderschaft^ Vgl. dazu Rail, Mein Flugbuch, S. 141 -199. Zum Folgenden vgl. grundsätzlich die Dok.-Sammlung (1951/52), in: BA-MA, BW 9/3195 und 2156.
III. Die konzeptionellen Anfänge der Luftwaffe
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dies die Anzahl, die SHAPE bereits im Rahmen der Petersberger Verhandlungen vorgeschlagen hatte und die nun auch von allen Partnern außer Deutschland akzeptiert wurde. Auf der Basis von 65 Mann pro Frontflugzeug kam man hinsichtlich der Mannschaftsstärke auf 75 270. Die deutsche Position, Lösung B, umfasste auf der Basis einer EVG-Gesamtstärke von 5800 Kampfflugzeugen 1746 Maschinen, darunter auch leichte Bomber und einen starken Jägeranteil, und 113 490 Mann 73 . Die geheime Zusatzvereinbarung des EVG-Vertrages, der Accord Special, enthielt in der Luftwaffenfrage dann die Lösung Α für die Gestaltung der EVGKampfverbände bzw. des deutschen Kontingents mit Personalstärken etc. im Detail. Als vorläufiger Zwischenwert galt für das deutsche Kontingent die Zahl 1326 Maschinen (1122 Jäger und Jagdbomber 74 , 108 Aufklärer und 96 Transportflugzeuge)75, die dann zumindest für einige Jahre die EVG-Phase auch überdauern sollte 76 . Vor allem die Franzosen hatten sich durchgesetzt, obwohl im Accord Special darauf verwiesen wurde, dass in Zukunft Änderungen möglich seien. Die deutsche Delegation hatte nach einem Protest Theodor Blanks Anfang Mai 1952 unter Hinweis auf das krasse Missverhältnis zwischen den Heeres- und Luftwaffenstärken des eigenen Kontingents lediglich die Einfügung eines Vorbehaltes erreicht, der künftige Änderungen des Kräfteverhältnisses grundsätzlich ermöglichte 77 . Hinsichtlich des allgemeinen Verhandlungsstandes hatten sich jedoch gegenüber dem Interimsbericht kaum Fortschritte ergeben. Die unterschiedlichen Standpunkte entsprachen im Grundsatz schon den Positionen seit den Gesprächen auf dem Petersberg 78 . Die deutsche Seite betonte damals, dass eine taktische Luftwaffe stärkemäßig auch dem großen Heereskontingent der Bundesrepublik entsprechen müsse, damit sie die Bodentruppen auch wirkungsvoll unterstützen könne, worauf auch Blank bei seiner Demarche eindrücklich hinwies 79 . Man drohte nunmehr aber, im Falle fortgesetzter Differenzen um die Zahlen eine komplette Neuverteilung erzwingen zu wollen, die dann auf der Basis der jeweiligen Heereskontingente errechnet werden solle, was faktisch
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Ebd., BW 9/1306a: CM/DEL/D/18, Chef-Delegierten-Ausschuss, Antwort auf die Fragen des Harriman-Ausschusses vom 27.10.1951. Franz. Version siehe BW 9/2156. Dazu auch BW 9/3195, S. 142: Bericht über Festlegung der Gesamteffektivstärken der deutschen Luftstreitkräfte vom 27.10.1951. Dazu auch BW 9/3155: Diskussion des Themas im Ausschuss der Militärischen Chefdelegierten, Sitzung vom 18.12.1951. 300 »Verteidigungsjäger«, 750 Jabos, 72 Allwetterjäger. BA-MA, BW 9/554: EVG-Vertrag vom 27.5.1952, komplett mit allen Anhängen, hier: Accord entre les Gouvernements des Etats membres de la Communaute (Accord Special), S. 12-14. AWS, Bd 2, S. 703 f. (Beitrag Meier-Dörnberg). Rautenberg, Die Luftwaffenkonzeption, S. 936. Protest Blanks siehe BA-MA, BW 9/3376: Sitzung Lenkungsausschuss vom 1.5.1952, S. 514-517. Ebd., BW 9/3195: Papiere zur Aufstellungsplanung des dt. Luftwaffenkontingents vom 23.10.1951. AWS, Bd 2, S. 634-639 (Beitrag Meier-Dörnberg). BA-MA, BW 9/3376: Sitzung Lenkungsausschuss vom 1.5.1952, S. 514-517.
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Bernd Lemke: Konzeption und Aufbau der Luftwaffe
einen noch höheren deutschen Anteil als den bereits vorgeschlagenen bedeutet hätte80. Die Differenzen konnten nicht ausgeräumt werden, erweiterten sich im Frühjahr 1952 zusätzlich um die Raketenfrage. Die Westalliierten, hier vor allem die Franzosen, die besonders misstrauisch und eifersüchtig darauf bedacht waren, den Deutschen keinerlei >gefährliche< Rüstung zur Verfügung zu stellen, hatten sich darauf festgelegt, der Bundesrepublik keinerlei Lenkwaffen zur Verfügung zu stellen, auch nicht für Luftverteidigungszwecke. Die deutsche Seite verwies darauf hin, dass derlei die Erfüllung der Schutzpflichten für die eigene Bevölkerung letztlich unmöglich machen würde. Zumindest Raketen mit kurzer Reichweite für die Luftverteidigung müssten genehmigt werden, da sonst eine Ratifizierung im Bundestag unmöglich wurde. Eine Produktion strategischer Lenkwaffen, wie etwa der V-2, sei von Seiten der Bundesrepublik auch gar nicht beabsichtigt81. Die gesamte taktisch-technische Zukunft der Luftverteidigung der Bundesrepublik stand auf dem Spiel, weswegen schließlich auch Konrad Adenauer persönlich eingriff und einen Kompromiss erreichte. Im EVG-Vertrag wurde schließlich in den Bestimmungen für die Deutschland aufzuerlegenden Rüstungbeschränkungen (Art. 107) festgeschrieben, dass alle Lenkwaffen verboten seien, mit Ausnahme von Fla-Raketen mit einer Länge nicht über 2 m und einem Durchmesser von höchstens 30 cm. Derlei stand zum gegebenen Zeitpunkt außerhalb aller technischen Möglichkeiten82. Die Frage wurde nach Abschluss des EVG-Vertrages erneut aufgeworfen.
5. Die Dislozierungsplanung Ähnlich stark prallten die Gegensätze aufeinander, als man daranging, die Dislozierung der Kampfverbände, dies insbesondere im strategischen Brennpunkt Bundesrepublik, festzulegen 83 . Da die strategische Führung hiervon ab80
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Ebd., BW 9/1306a: CM/DEL/D/18, Chefdelegierten-Ausschuss, Antwort auf die Fragen des Harriman-Ausschusses vom 27.10.1951. Franz. Version siehe BW 9/2156. Dazu auch BW 9/3195: S. 142, Bericht über Festlegung der Gesamteffektivstärken der deutschen Luftstreitkräfte vom 27.10.1951. Dazu auch BW 9/3155: Diskussion des Themas im Ausschuss der Militärischen Chefdelegierten, Sitzung vom 18.12.1951. Ebd., BW 9/3072, S. 112, Aufzeichnung von de Maiziere über die Verhandlungen mit den Alliierten am 15.4.1952. Ebd., BW 9/469, S. 25 ff., Studiengruppe Heimat-Vtdg., Besprechung vom 22.7.1954 über die Fla-Rak-Frage (im Beisein u.a. von Heusinger, Steinhoff, Panitzki, Fett u.a.). Z u m Folgenden ebd., BW 9/1399: CM/CR/19, Sitzung Militärausschuss vom 18.12.1952, S. 5; ebd.: CM/CR/21, Sitzung Militärausschuss vom 22.1.1953, S. 1; ebd.: CM/CR/22 vom 29.1.1953, S. 4; ebd.: CM/CR/28, Sitzung Militärausschuss vom 20.3.1953, S. 1; ebd.: CM/CR/30, Sitzung Militärausschuss vom 26.3.1953, S. 4; BW 9/1400: CM/CR/52, Sitzung Militärausschuss vom 14.10.1953, S. 2; BW 9/1401: CM/CR/66, Sitzung Militärausschuss vom 11.2.1954, S. 4. Die entscheidende Sitzung zwischen Europa-Mitte u n d der EVG siehe BW 9/2465: Gemischte Kommission Europa-Mitte/EVG, Sitzung vom 22.1.1954. Dazu
III. Die konzeptionellen Anfänge der Luftwaffe
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hing, hatte man sich dazu mit SHAPE abzusprechen. Man begann Anfang 1953 mit entsprechenden Anfragen und Sondierungen. Die Detail Verhandlungen darüber zogen sich über das ganze Jahr 1953 hin und konnten auch bis zum Frühjahr 1954 nicht abgeschlossen werden. An diesem Sachkomplex hing eine ganze Reihe von Führungs- und Machtfragen und so ergaben sich erneut schwerwiegende Probleme. Die deutsche Delegation, insbesondere Heuser, verlangte nach einer gewissen Zeit nachdrücklich die Behandlung der grundlegenden Führungsgestaltung, insbesondere der Integration in die obersten Stäbe, und forderte dazu gleichzeitig einen Einblick in die strategische Planung der NATO84. Da man festgelegt hatte, die Verteilung der Leitungspositionen vom jeweiligen Mischungsverhältnis der nationalen Kampfkräfte in den integrierten Einheiten (v.a. CATAC) abhängig zu machen, entschied die Dislozierung über den Einfluss an der Spitze. Die westlichen Partner zeigten erhebliches Beharrungsvermögen, indem sie sich weigerten, der deutschen Seite Mitspracherechte einzuräumen. Der Vorschlag zur Dislozierung der Kräfte in der Bundesrepublik kam einer Diskriminierung gleich. Die deutschen Geschwader sollten wie auf einer Perlenschnur von Nord nach Süd stationiert werden, um zu verhindern, dass an irgendeiner Stelle eine Konzentration erfolgte. Somit hätten die deutschen Luftstreitkräfte in keiner integrierten Großeinheit einen nennenswerten Anteil an den Führungsstellen und damit auch keinen Einfluss in den höheren Stäben besessen85. Dies blieb, nicht zuletzt auch wegen der Notwendigkeit zur Bündelung der Kräfte im Einsatz, unannehmbar. Heuser und seine Mitarbeiter versuchten, das Problem bei den ab Ende 1953 anlaufenden Gesprächen mit SHAPE auf die Tagesordnung zu bringen, konnten sich aber nicht durchsetzen. Die Gespräche gerieten an einen toten Punkt 86 . Man weigerte sich überdies, Angaben zum Bestand ihrer Territorialorganisation und den bereits bestehenden Generalstäben zu machen, da man verhindern wollte, hier den Deutschen eine Angriffsfläche zu bieten. Es bestand kein Interesse daran, die nationalen Mittel vorzeitig zur Dispositionsmasse zu machen87. Dieses Verhalten wurde von SHAPE gedeckt und so entstand der Eindruck, die deutschen Luftstreitkräfte würden, wenn überhaupt, nur als Hilfskräfte integriert werden. Zudem drohte die Gefahr, dass einzig die deutsche Territorialorganisation unter der Führung des Kommissariats aufgebaut worden wäre, während alle anderen dies in eigener Regie unternommen hätten88. Die Blockade begann sich erst ab dem Frühjahr 1954 zu lösen, als Frank-
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BW 9/1445b: CM/Air/D/5478, Resultats d e deliberations Centre E u r o p e Air - CED Air v o m 25.2.1954. Dt. Version in BW 9/2428. Ebd., BW 9/2428: Abt. LSK/Paris, Aktennotiz über Sitzung d e r Chefs d e File v o m 29.9.1953. Ebd.: Tätigkeitsbericht d e r Abt. LSK/Paris, zweite Februar.-Hälfte. Ebd.: H a l b m o n a t s b e r i c h t der Abt. LSK/Paris, erste Dez.-Hälfte, S. 1; ebd., 8. Halbmonatsbericht des Militärausschusses v o m 12.12.1953-22.1.1954, S. 10. Ebd.: 8. H a l b m o n a t s b e r i c h t des Militärausschusses v o m 12.12.1953-22.1.1954, S. 7; ebd.: 9. H a l b m o n a t s b e r i c h t des Militärausschusses v o m 17.2.1954, S. 4 f. Ebd.: 15. Halbmonatsbericht des Militärausschusses, 2. Maihälfte, S. 3.
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reich und die anderen Partner langsam die verlangten Angaben vorlegten89 und die Deutschen per Beschluss 23 der 94 Stellen des Generalstabs der Luftwaffe zuerkannt bekamen90. Dies geschah jedoch erst nach massiven deutschen Drohungen. Ein formeller Dislozierungsplan mit konkreten Angaben kam allerdings nicht zustande. Die deutsche Delegation erarbeitete lediglich Aufstellungspläne mit vorläufigen Zeitangaben. Die EVG-Phase endete auf der konzeptionellen Ebene. Wirksam blieb jedoch die vorläufige Stärkeregelung des Accord Special (1326 Einsatzmaschinen für die deutschen Truppen), die 1955 in den Vertrag mit einfloss, den die Bundesrepublik beim Eintritt in die WEU als Vorbedingung für den NATO-Beitritt unterzeichnete91. Diese Zahl blieb auch in der Folge noch gültig, wurde jedoch von der deutschen Luftwaffe in ihren aktuellen Stärkezahlen nie erreicht. Die Komplexität und die Kosten der Waffensysteme, die man ab Ende der 50er Jahre einführte, sollten den Beschaffungsumfang erheblich einschränken.
6. Die taktische Doktrin und die Einsatzprinzipien für die EVG-Luftwaffe In der Entwicklung der taktischen Doktrin, der vierten Großaufgabe der Jahre 1952-1954, gelangte man insgesamt zu befriedigenden Ergebnissen. Die dazu gegründete Taktische Studienkommission begann am 24. Juli 1952 mit ihrer Arbeit und erstellte zunächst ein Basisdokument zum kombinierten Einsatz der EVG-Streitkräfte: die Instruction Provisoire pour l'emploi des forces armees92. Die darin befindlichen Abschnitte zur Luftwaffe93 stellen das Verbindungsglied zwischen dem Urdokument der taktischen Luftwaffe der NATO, dem FM 10020 der USAAF von 1943 und der Massive Retaliation dar. Die Kernpunkte von FM 100-20 beinhalteten vor allem: das Einsatzspektrum (counter air, interdiction, close air support etc.) und die Festlegung der Unabhängigkeit der Luftwaffe von den Heeresbefehlshabern zur Gewährleistung der nötigen Flexibilität und Dynamik der Luftwaffenverbände. Verknüpft wurde dies nun mit der Erkenntnis der Überlegenheit der sowjetischen Kampfkräfte. Letzteres fand unter anderem dadurch Berücksichtigung, dass man von vornherein nicht davon ausging, die 89 90 91
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Ebd., BW 9/1401, CM/CR/74, S. 2. BA-MA, BW 9/2428,12. Halbmonatsbericht, 2. Märzhälfte, S. 10. AWS, Bd 2, S. 703 f. (Beitrag Meier-Dörnberg). Auch dabei kam es noch zu Problemen. Die dt. Seite setzte die gewünschte Zahl an Flugzeugen auf 1700, wurde jedoch von den Franzosen gestoppt, als man den WEU-Vertrag aushandelte. AWS, Bd 3, S. 631 und 656 (Beitrag Greiner). BA-MA, BW 9/309: Taktische Studienkommission, Entwurf einer vorläufigen Anweisung für den Einsatz der Streitkräfte vom 7.10.1952. Die verschiedenen Abschnitte dieses Entwurfs wurden nach und nach als Basis für die Ausarbeitung einer taktischen Doktrin genehmigt. Ebd., Titel VII und VIII.
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Luftherrschaft zu gewinnen. Möglich sei allenfalls, eine zeitlich oder örtlich begrenzte Luftüberlegenheit zu erlangen. Überhaupt sei ein künftiger Krieg nur gewinnbar, wenn man das »Höchstmaß an Wirkung und Leistung« aus den Luftstreitkräften »herausholen« könne94, dies unter weitestmöglicher Ausnützung ihrer Mobilität: Es »wird die Überlegenheit nicht nur durch höchsten Krafteinsatz der einzelnen Waffengattungen erzielt. Sie ist vor allem das Ergebnis eines koordinierten Einsatzes aller Mittel gegen zweckmässig gewählte Ziele [...] Die taktischen Luftstreitkräfte müssen eine Aufsplitterung vermeiden. Ihre Aktion wird um so schlagkräftiger sein, je geballter ihr Masseneinsatz gegen wichtige Ziele ist. Die volle Schlagkraft der Truppe (masse de manoevre) darf unter keinen Umständen für zweitrangige Aktionen geopfert werden95.« In diesem Sinne verband sich das Diktum der unabhängigen Flexibilität der Luftwaffe sowie die Forderung nach deren Unteilbarkeit und nach Vermeidung von unnötigem Verzetteln mit der Notwendigkeit, den Feind schnell und umfassend zu bekämpfen. »Während der Anfangsphase der Operationen besteht das Hauptziel der Luftoperationen des Kriegsschauplatzes darin, die dringlichsten Lebensbedürfnisse sicherzustellen, d.h. Aufhalten des Feindes auf allen Gebieten, ohne sich selbst endgültig vernichten zu lassen. Hieraus ergibt sich die Notwendigkeit, alle Mittel - von den schwersten [!] bis zu den leichtesten - für die Verwirklichung dieses strategischen Ziels einzusetzen, wobei diese Mittel nicht von vornherein unter die nachgeordneten Führungsstellen aufgeteilt werden können, deren Initiative somit auf die Durchführung der Operationen beschränkt wird96.« Bemerkenswert ist, dass man innerhalb der EVG die zweiphasige Strategie der Massive Retaliation, wie sie die MC 48 später festlegte, antizipierte. Ein kommender Krieg würde damit beginnen, die feindliche Luftwaffe zu bekämpfen, aufzuhalten oder zumindest zeitlich und örtlich die Luftüberlegenheit zu gewinnen (counter air), die feindlichen Nachschubwege zu unterbrechen (interdiction) und Aufklärung zu betreiben (I. Phase). Diese Großmanöver würden unter Einsatz aller zur Verfügung stehenden schweren Verbände, also auch, wenn vorhanden, mehrstrahliger Bomber und schwerer Allwetterjäger in großen Höhen erfolgen. Dauerhafte Luftherrschaft betrachtete man als eher unwahrscheinlich; vielmehr würde es darum gehen, zu verhindern, dass der Feind derlei erreichte.
•» 95 %
Ebd., Titel VII, K a p . 16. Ebd., Titel VIII, K a p . I. Ebd., Titel VII, Kap. 16.
Luftetreltkräfte in aer Zeit aer Bereit— Stellung zuts Angriff von Rot.
Beide Luftstreitkrttfte werden versuchen
alt ihren Aufklärunsskräften ein genaues Bild der läge beim Gegner zu erhalten, u.D, gewaltsame Aufklärung; mit Ihren Jagdkräften äen Gegener an der Durchführung seiner Aufklärung und Bombenangriffe zu hindern; mit ihren Bomberkräften
die Jeweiligen Bereitstellungeräume, Artilleriestellungen, Nachschub und Hachuchubszentren, Verkehrswege, Engen ueiv. anzugreifen, AU8 diesen Hint ätzen der Luftstreitkräfte heraus wird sich * chon in diesem Stadium der den Ablauf der Landoperation entscheidend beeinflussende Kampf uc die Luftüberlegenheit entwickeln
•MHitläsu II.Phase
Luftglocke
LaadBtrtitkrjj'te
Verteidiguh{
Angriff
LuftStreitkräfte Anariff von Roti
Hot wird mit allen Mitteln versuchen, zumindest eine zeitlieh una räumlich begrenete Luftüberlegenheit Uber seine Angriffsspitzen zu erringen. Hierzu setzt er die SSaese seiner Luftstroitkräfte zur Bekämpfung der blauen Luftotreitkräfte am Boden und in der Luft ein, seine übrigen Teile zur unmittelbaren Unteretützung seiner Landstreitkräfte (Luftgloctte, Bekämpfung von Artillerie-Stellungen usw). Die Aufklärung wird versucht, weiter durchzuführen. Im Kampf um die Luftüberlegenheit haben die blauen Luftstreitkräfte die Aufgabe, die Angrifie der roten luftstreitkräfte aufzulangen, abzuwehren und ihrerseits eine Luftglocke Uber den eigenen Lan etreitkräfton zu bilden; hierbei Fortsetzung der Angriffe gegen erkar, te Ziele im roter. Hinterland, mit dem Ziel, das Sohlachtfeld zu isolieren. Ο '. » J , "«rate on
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Skizze zum Kriegsszenario, BA-MA, BW 9/1449b, Taktische Studienkommission (Queisner), Tgb. Nr. 264/1953geh. vom 30.4.1953, Anlage 1.
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In der II. Phase würde es darum gehen, einen Luftschirm vor allem über dem Kampfgebiet zu entfalten, um die eigenen Bodentruppen so gut wie möglich unterstützen zu können. Dies nahm man insbesondere aufgrund des Studiums der sowjetischen Luftwaffe an, die mehrheitlich ein direktes Unterstützungselement für die Bodentruppen darstellte. Entsprechend dem flexiblen Grundcharakter der dritten Dimension rechnete man mit wechselnden Lagen, mit ständigem >Oszillieren< der Überlegenheit 97 . Die grundlegenden Setzungen hinsichtlich des Einsatzszenarios dienten letztlich der praktischen Ausgestaltung der Kooperation zwischen Luftwaffe und Heer auf dem Schlachtfeld. Stand diese Einsatzform (close air support) auch in der Prioritätenskala nicht unbedingt an oberster Stelle, so musste sie doch ausführlich behandelt werden, da hierzu überaus komplizierte Organisationsstrukturen aufzubauen waren. Dazu mussten erst einmal grundlegende Setzungen getätigt werden. Den zentralen Aspekt hierbei stellte die gegenseitige Respektierung beider Teilstreitkräfte und der Wille zu einmütiger Zusammenarbeit dar, eine Forderung, die angesichts der Konkurrenz zwischen Heer und Luftwaffe seit Eintritt der letzteren in die militärische Welt keineswegs als selbstverständlich betrachtet werden durfte. Es galt, klar zu verankern, dass die Luftwaffe kein untergeordnetes Instrument des Heeres darstellte, sondern unter eigenen Befehlshabern tätig wurde. Umgekehrt durfte die Luftwaffe trotz aller Festlegung auf »counter air« und »interdiction« die Belange des Heeres nicht vernachlässigen, dies vor allem in der angenommenen II. Phase eines künftigen Krieges. Die prinzipielle Gleichwertigkeit beider Teilstreitkräfte auf allen Ebenen bei aller Notwendigkeit zu einer jeweils selbstständigen Kriegführung musste gesichert werden. Die Instruktion gab dazu einen Leitfaden und definierte auf vorläufiger theoretischer Basis die möglichen Szenarien der Zusammenarbeit in Angriff, Durchbruch, Verteidigung, Gegenoffensive und »Abschirmung« 98 . Die grundsätzlichen Postulate gipfelten in einem militärtaktischen Credo: »Die Aktionseinheit zwischen Land- und Luftstreitkräften kann nur durch vollkommen einheitliche Anschauungen, ein uneingeschränktes gegenseitiges Verstehen, eine sehr entwickelte Organisation der gemischten Stäbe und ein Verbindungswesen erreicht werden, das die schnelle Übermittlung von Nachrichten und Befehlen gewährleistet99.« Nachdem die Delegationen die Instruktion als Basis für der Ausarbeitung der taktischen Doktrinen im Grundsatz akzeptiert hatten, ging man an die praktische Gestaltung der Organisation. Diese wurde ab 1953 nach und nach entwi-
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BA-MA, BW 9/1449b: Taktische S t u d i e n k o m m i s s i o n (Queisner), Tgb.Nr. 264/53 geh. v o m 30.4.1953. D a z u a u c h ebd., Taktische S t u d i e n k o m m i s s i o n (Queisner), Tgb.Nr. 459/53 geh. v o m 29.7.1953, Z u s a m m e n a r b e i t L a n d - Luft u n d Taktische S t u d i e n k o m m i s s i o n (Queisner), Tgb.Nr. 577/53 v o m 10.11.1953, Z u s a m m e n a r b e i t Land - Luft. BA-MA, BW 9/309: Taktische Studienkommission, Entwurf einer vorläufigen A n w e i s u n g f ü r d e n Einsatz der Streitkräfte v o m 7.10.1952, Kap. 20, (S. 47 ff.). Ebd., Kap. 19, (S. 47).
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ekelt und eine Zusammenfassung der Grundlagen am 12. Februar 1954 schließlich als CM/ET/84 vorgelegt100. ET/84 kodifizierte in den Grundlagenkapiteln zu Beginn die üblichen Grundaufgaben der Luftwaffe, zurückgehend auf FM 100-20. Der Hauptteil beschäftigte sich mit der Abstimmung der Feuerunterstützung durch die Luftwaffe für das Heer. Die Zusammenarbeit mit dem Heer erforderte unter modernen Bedingungen eine hochentwickelte Führungsstruktur, die auf allen Ebenen von der Armee bzw. FATAC bis hinab zu den Regimentern bzw. Wings multikomplexe Fernmeldeverbindungen mit ständiger gegenseitiger Unterrichtung der beteiligten Luftwaffen- und Heereseinheiten beinhaltete, dies sowohl zwischen den Ebenen innerhalb der Teilstreitkräfte als auch übergreifend. Im gegebenen Rahmen stellte die Uneinheitlichkeit der konkreten Verfahren allerdings ein besonderes Problem dar. Zur Verfügung standen zwei ausgereifte und erprobte Systeme: das britische und das amerikanische, beide jeweils im Bereich der entsprechenden ATAF angewandt: das britische in der 2., das USSystem in der 4. Beide ATAFs waren seit April 1952 in Funktion101. Die Unterschiede erwuchsen nicht zuletzt aus der Verfügbarkeit entsprechender Ressourcen. Das amerikanische Modell basierte auf der festen Zuweisung von entsprechenden Fernmeldeeinheiten mit den entsprechenden Apparaten bei den Heereseinheiten, d.h., jeder Verband führte einen kompletten Satz an Ausrüstung mit sich. Die finanzschwachen Briten hatten ein weniger umfängliches flexibles System entwickelt. Die Fernmeldeeinheiten gehörten zu einer eigenen Einheit, der ASSU (Air Support Signal Unit). Diese befand sich stets im Frontgebiet und wurde den dort eingesetzten Einheiten insbesondere des Heeres zur Gewährleistung aller nötigen Verbindungen mit der Luftwaffe zugeordnet. Damit erübrigte sich die aufwendige Ausrüstung aller Verbände. Einheiten in rückwärtigen Gebieten oder im Hinterland benötigten die Ausrüstung nicht. Zusätzlich beinhaltete das US-System eine aufwendigere Organisation von Seiten der Luftwaffe zur Abstimmung mit den Heeresgroßverbänden102.
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BA-MA, BW 9/1449b: CM/ET/84, Zusammenarbeit Land-Luft, Ausarbeitung vom 12.2.1954. Dazu auch ebd., Taktische Studienkommission (Queisner), Tgb.Nr. 264/53 geh. vom 30.4.1953. Dazu auch ebd., Taktische Studienkommission (Queisner), Tgb.Nr. 459/53 geh. vom 29.7.1953, Zusammenarbeit Land - Luft und Taktische Studienkommission (Queisner), Tgb.Nr. 577/53 vom 10.11.1953, Zusammenarbeit Land - Luft. Ebd., BL 1/223: Programm Flugplatz Eindhoven, Aufklärungswettbewerb Royal Flush IV. Die NATO-Kdo-Zentrale Europa-Mitte Luft (AIRCENT) nahm mit Norstad als Kommandeur am 2.4.1951 ihre Tätigkeit auf. Jahrbuch der Luftwaffe, 2 (1965), S. 174 f. BA-MA, BW 9/1450: Taktische Studienkommission, Luftunterstützung der Landstreitkräfte, Organisation und Verfahren vom 6.11.1952. Dazu BW 9/1450: Dok. der Taktischen Studienkommission vom Nov. 1953 zur Annullierung einer Sitzung durch den Koordinationsausschuss, Thema: Kooperation Land-Luft.
Anlage
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zu Taktische Studleaxoaaiesslon (Queisner),Sgb.Hr.264/53 geh v. 50.4.1953 ΟΟ'ώ'όΟ
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Modell für Kooperation Land-Luft, BA-MA, BW 9/1449b, Taktische Studienkommission (Queisner), Tgb. Nr. 264/53 geh. vom 30.4.1953.
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Aus diesem Unterschied folgte eine ganze Reihe weiterer Differenzen, die teilweise bis in die Details moderner Kommunikationseinrichtungen und deren Organisation reichte. Die Taktische Studienkommission hatte erhebliche Arbeit zu leisten gehabt, beide Systeme überhaupt erst einmal zu durchschauen und dann Vorschläge zur Harmonisierung vorzulegen. Diese ganze Organisation war bei Vorlage von ET/84 weder komplett fertig noch hatte man alle Probleme und Konflikte ausräumen können. Insbesondere die beiden verschiedenen Systeme harrten noch der praktischen Harmonisierung. Bis Juli 1954 kam es zu keiner abschließenden Lösung103. Die beiden betroffenen ATAFs behielten ihre Systeme weiterhin bei. Erst nach dem Scheitern der EVG-Verhandlungen unternahm man weitere Versuche zu einer Vereinheitlichung104. Insgesamt waren die Bemühungen der Taktischen Studienkommission dennoch nicht umsonst. Man hatte die Grundlagen der Kooperation festgelegt und dabei gewissermaßen integrative Zukunftsarbeit geleistet. Zumindest dürfte ein Problembewusstsein und ein Erfahrungshintergrund geschaffen worden sein. Die Schwierigkeiten hinsichtlich der Abstimmung zwischen den beiden Systemen sollten sich im Übrigen als Dauerthema erweisen. Sie blieben den europäischen Luftstreitkräften in Mitteleuropa bis über die 60er Jahre hinaus erhalten105.
7. Das Ergebnis der EVG-Verhandlungen in historischer Perspektive Betrachtet man die Gestalt der europäischen Luftwaffe am Vorabend des Scheiterns der EVG, kann man durchaus klare Konturen erkennen. Die organisatorischen Strukturen hatten der Militärausschuss und seine Ausschüsse bzw. Abteilungen recht genau ausarbeiten können. Unter der Dachorganisation des Kommissariats bestand ein zentraler europäischer Luftwaffengeneralstab, der direkt auf die Kampfverbände zugreifen konnte. Diese, organisiert in eine oder mehrere verwaltende Großeinheiten, die FATACs mit 2 - 3 Kampfeinheiten, den CATACs mit mehreren, jeweils national geschlossenen Geschwadern, wären zu großen Teilen auf dem Gebiet der Bundesrepublik stationiert worden. Diese 101
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Diskussion in der Taktischen Studienkommission siehe ebd., BW 9/342. Dazu BW 9/1445c: CM/Air/D/6082 vom 22.6.1954, Verbesserungsvorschläge der Abt. Luft zu CM/ET/84 vom 12.2.1954. Ebd., BW 9/1876: Besprechung zwischen Spitzenvertretern der dt. Luftwaffenplanung und Norstad am 10.3.1955. Vgl. dazu Tactical Air Power in Armored Warfare, The divergence within NATO, Dr. Steven L. Canby, Document created: 6 Aug. 2002 (also published in: Air University Review, M a y - J u n e 1979), (20.7.2004), URL: .
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Gesamtorganisation besaß - wenigstens theoretisch - trotz der multinationalen Ausrichtung durchaus ein genügendes Maß an Einheitlichkeit und Kohärenz. Wie effizient das Ganze gewesen wäre, lässt sich nicht sagen; allerdings hätte die Tatsache, dass das Gros der Einheiten auf westdeutschem Boden stationiert gewesen wäre, einen nicht zu unterschätzenden Vereinheitlichungseffekt nach sich gezogen. Konzipiert wurde jedenfalls eine europäische Teilstreitkraft Luftwaffe im besten Sinne des Wortes. Hinsichtlich der Einsatzgrundsätze braucht nicht viel gesagt werden, denn diese bewegten sich innerhalb der Grenzen und Vorgaben von USAF und NATO. Interessant ist die Antizipierung der zweiphasigen NATO-Strategie im Rahmen der Massive Retaliation und das Erkennen der dynamischen Rolle der Luftwaffe als Kriegsinstrument für die Umsetzung des Konzeptes. Es musste letztlich nur noch die nukleare Komponente beigefügt werden. Es ist in der Fachliteratur mehr als einmal angemerkt worden, dass bei den EVG-Verhandlungen die Atomwaffen ausgeklammert wurden, und in der Tat geben die Quellen fast keinerlei Hinweise auf entsprechende Initiativen. Die Instruction Provisoire deutete deren Einsatz lediglich an, indem sie eine Wirkungssteigerung durch das Vorhandensein »einer genügenden Zahl von Waffen mit großer Vernichtungskraft« voraussagte, darüber aber keine weiteren Überlegungen anstellte. Die EVG-Konferenz behandelte überhaupt das Thema eher am Rande. Die EVG erscheint in gewisser Weise als fast noch problemfreies Hilfsorgan für NATO und USA im Zeitalter der heraufziehenden Massenvernichtungswaffen, insbesondere im taktischen Bereich. Von einer »nuklearen Unschuld« kann dennoch nicht ausgegangen werden, selbst wenn man einen ungenügenden Kenntnisstand über die Technik annimmt. Nukleare Planung muss nicht auf der Kenntnis aller technischen Möglichkeiten basieren. Es genügt, die ungefähre Wirkkraft etwa taktischer A-Waffen zu berücksichtigen, was bei Militärs mit entsprechender Voraussicht durchaus möglich gewesen sein dürfte. Jedenfalls zeigen sowohl das dargestellte Einsatzszenario als auch die reale Entwicklung ab 1955, dass der Schritt zur umfassenden Nuklearisierung ein relativ kleiner war und auch rasch vollzogen werden konnte. Das konzeptionelle Instrumentarium, das man sich erarbeitete, war für einen solchen Schritt absolut tauglich und ließ sich entsprechend problemlos anwenden. Einstweilen, 1953/54, aber beschränkte sich das Interesse der EVG-Partner auf die Sammlung von Fakten und die Vorbereitung des Zivilschutzes auf den Atomkrieg. War die EVG-Luftwaffe also in strategisch-taktischer Hinsicht ausbaufähig, so bestanden erhebliche Probleme in der Organisation. Die komplexe Struktur des gesamten Gebäudes barg die große Gefahr der Schwerfälligkeit und Unbeweglichkeit. In der modernen Luftkriegführung hätte sich derlei geradezu fatal auswirken können. Dabei traten die geringsten Schwierigkeiten noch bei der Spitzengliederung und der taktischen Luftwaffe auf. Der europäische Luftwaffen-Generalstab enthielt die üblicherweise notwendigen Elemente, die zu einem ordentlichen Funktionieren nötig waren (Führungsgrundgebiete). Es erhebt sich allenfalls die Frage, ob einige weitere Gebiete, so etwa das Inspektionswesen,
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Bernd Lemke: Konzeption und Aufbau der Luftwaffe
nicht in eine besondere Dienststelle hätten ausgelagert werden können, wie dies später bei der deutschen Luftwaffe im Falle des Luftwaffenamtes geschah. Verzichten konnte man auch darauf jedoch nicht. In den unteren Ebenen erscheint insbesondere die FATAC als mögliches Blockadeelement. Sie hatte keine Kampfaufgaben, sondern sollte in erster Linie für Ersatz und Logistik sorgen. Als besonders hemmend fällt die Tatsache auf, dass die FATAC sämtliche Nachschubfragen, also auch die Übernahme und Lagerung des Materials von den Luftwaffenbeschaffungsstellen, versehen sollte. Derlei gehörte nämlich keineswegs zu den Aufgaben der Luftbereiche. Gleichzeitig war sie aber Kommandobehörde der Kampfverbände und hätte in dieser Funktion alle Bewegungen und Verlegungen mitmachen müssen. Mit einem ausgeprägten Nachschubapparat hätte dies nicht gerade ein mustergültiges Bild an Flexibilität ergeben. Uberhaupt stellte sich die Frage nach dem Sinn der FATAC, wie die deutsche Luftwaffenabteilung in Paris schon Ende 1953 vermerkte. Die FATAC befand sich mutatis mutandis organisatorisch auf gleicher Ebene wie die NATO-ATAFs und war daher eigentlich überflüssig106. Die größten Probleme aber bestanden in der Territorialorganisation mit der Heimatverteidigung. Diese war durch die nationale Unterstellung zerfasert und schwer zu vereinheitlichen. Man hatte entsprechend der Anzahl der Teilnehmerstaaten sechs verschiedene Stäbe, die zu einem nicht genauer bestimmten Teil nicht der Kommandogewalt der EVG-Zentrale unterstanden. In den alten Kolonialstaaten existierten daneben noch militärische Kommandos für überseeische Truppen, die nicht der EVG unterstellt waren. Insbesondere im Falle Frankreichs lag eine gewisse Manipulationsgefahr vor. Es konnte nicht ausgeschlossen werden, dass Paris alle Arten von Kräften, auch Hauptkampfverbände für Europa, als Kolonialtruppen definiert und damit der EVG entzogen hätte. In diese Richtung wies auch die Weigerung der Franzosen, Zonenbefehlshaber unter der Kontrolle der integrierten Militärorganisation dauerhaft einzurichten. Die Luftverteidigung war einsatzmäßig nicht definiert und wäre im Ernstfall zunächst nicht integriert gewesen, was die Erfolgschancen gegenüber massiven Angriffen aus dem Osten erheblich herabgesetzt hätte. Darüber hinaus verfügte man über eine veraltete Luftverteidigungsdoktrin, die dem heraufziehenden Zeitalter von Jet und Rakete nicht genügte. Die administrative Seite war ebenfalls eher zerklüftet und schwerfällig. Die Existenz gesonderter Luftbereiche mit äußerst beschränktem Aufgabenbereich (keine direkte logistische Zuständigkeit für die taktischen Kampfverbände) wirkte rückschauend betrachtet eher als Ballast. Man kann sich nicht des Verdachts erwehren, dass die Territorialorganisation bei einem Großkrieg nicht effizient einsetzbar gewesen wäre. Abhilfe hätte hier wohl nur ein europäischer Zentralstaat gebracht. Insgesamt gesehen stellten die EVG-Verhandlungen dennoch einen wichtigen Meilenstein für den Aufbau der deutschen Luftwaffe ab 1955 dar. Dass das Projekt schließlich an den politischen Widerständen insbesondere Frankreichs 106
BA-MA, BW 9/2424: Abt. LSK/Paris vom 23.11.1953, Dislozierung.
III. Die konzeptionellen Anfänge der Luftwaffe
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scheiterte, hob die konzeptionelle Arbeitsleistung nicht auf. Das gesamte Gebäude der Luftwaffe wurde in fast allen Bereichen sehr weitgehend entworfen, häufig sogar schon bis in die Details hinein. Die galt insbesondere für die hier behandelten Aspekte Einsatzprinzipien, Organisation und Dislozierung, aber auch für die Personalplanung, die Ausbildung und viele weitere Bereiche. Man hatte sogar schon begonnen, eine einheitliche Uniform zu entwickeln. In den Bereichen taktische Doktrin und Organisation manifestierten sich zentrale Features und auch Probleme, wie sie in den kommenden Dekaden immer wieder auftreten sollten: Probleme der Integration, nationale Interessen, Konflikte zwischen den Teilstreitkräften, Streitereien um die Verteilung der Mittel. Im Grunde handelte es sich bei den EVG-Verhandlungen um eine Art großangelegtes Brain-storming mit erheblichem Nutzeffekt. Der Aufbau der Kriegsinstrumente, insbesondere der Luftwaffe, in der nachfolgenden Zeit wäre ohne die Erfahrungen in Paris aller Wahrscheinlichkeit nach noch schwieriger verlaufen, als dies in der Realität dann geschah. Die konkrete Gestalt des ganzen Gebäudes und die Tatsache, dass nach 1955 einige erhebliche Änderungen daran vorgenommen werden mussten, als die Bundesrepublik in die NATO eintrat, spielen demgegenüber eine ungeordnete Rolle. Sie waren für die Luftwaffe ungeachtet des Scheiterns des supranationalen Projekts letztlich gradueller Natur. Die Luftwaffe westlicher Prägung, wie sie seit den 50er Jahren aufgebaut wurde, stellte per se ein übernationales Phänomen dar. Diese Tatsache macht, wie noch darzustellen sein wird, einen erheblichen Teil ihrer Modernität aus.
IV. Strategie und Kriegsbild 1955 bis 1967
1.
Kriegsbild und Machttaktik: Die Position der deutschen Luftwaffe zwischen USAF, NATO, Bundeswehrführung und den Schwesterteilstreitkräften
a)
Die Luftwaffe und ihr Kriegsbild in der Ära Norstad/Strauß
Perspektivenwechsel: Von der konventionellen Einsatzluftwaffe zur atomaren Abschreckung Die Führung der neuentstehenden Luftwaffe benötigte trotz aller geforderten Eile einige Zeit, um sich in den gegebenen Verhältnissen zu positionieren. Die vielfältigen Vorgaben, hier vor allem die strategische Lage, die Ergebnisse der EVG-Verhandlungen und der neuen Verhältnisse nach dem NATO-Beitritt sowie die organisatorischen bzw. finanziellen Grundbedingungen gaben die Eckpfeiler dabei ab. Weiterhin spielten auch die Erfahrungen der Führungsriege, die weithin noch aus kriegsgedienten Offizieren bestand, keine geringe Rolle. Kammhuber, der 1956 Panitzki als Abteilungsleiter VI (Luftwaffe) ablöste und dann auch erster Inspekteur der Luftwaffe wurde, setzte in Anlehnung an die deutsche Position bei den EVG-Verhandlungen, zu der er selbst in zwei großen Ausarbeitungen (1953 und 1955) auf der Basis seiner Erfahrungen als Führer der Nachtjagd im Rahmen der Reichsluftverteidigung Stellung genommen hatte, persönlich zunächst große Hoffnungen in die Luftverteidigung, nahm darin aber die atomare Offensive als zentralen Punkt in seine Konzeption auf1. Vor seinen Kommandeuren sprach er sich Ende 1957 sogar für die StatioZur Luftverteidigungskonzeption Kammhubers siehe die Studien von Kammhuber (BAMA, BL 1/1501: Die Probleme der Führung eines Verteidigungsluftkrieges bei Tag und Nacht vom 6.3.1953; BL 1/1502: Einsatz und Führung der bodenständigen Luftverteidigung unter besonderer Berücksichtigung der Bodenabwehr u n d ihrer Zusammenarbeit mit der Luftabwehr vom 22.3.1955) und Aldinger (BW 9/2487-2: Ausschuss für Funkortung: Studie über taktisch-technische Forderungen für FlaRak vom 30.1.1953) sowie die Tätigkeit bei beiden in der Studiengruppe Heimat-Vtdg: BL 1/1500 und BW 9/132. Dazu BW 9/109, 466 und 3553, Paper und Vorträge Aldingers. Im Unterschied zu Pommerin/Steinhoff - Strategiewechsel, S. 50 - ist zu betonen, dass Kammhuber keineswegs in erster Linie auf die Luftverteidigung im engeren Sinne (Abfangjäger, Flak) fixiert war, auch wenn er im Rahmen der EVG-Verhandlungen auf einer starken Defensivkomponente bestanden hatte. Schon vor 1955 forderte er sowohl Luftangriffs- als auch Luftverteidigungskräfte. An dieser paritätischen Aufteilung hielt man bis auf Weiteres fest. Neu
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Bernd Lemke: Konzeption und Aufbau der Luftwaffe
nierung von Mittelstreckenraketen aus, »die, im Falle eines Krieges, Terrorziele angreifen, um dem Feind das gleiche zuzufügen, was er der westlichen Welt anzutun gedenkt 2 .« 1959 dehnte der Inspekteur dann diese Perspektive auf alle Angriffsverbände der Luftwaffe als Hauptzweck aus: »Es geht bei der Ausrüstung der Luftwaffe mit Α-Bomben und A-Raketen darum, ein Verteidigungsdeterrent zu schaffen. Während der Angreifer seine Angriffe auf das militärische Potential richten wird, muss der Verteidigungsdeterrent darauf abgestellt sein, den Feind in seiner Bevölkerung und Wirtschaftskraft zu treffen (also ausgemachte Terrorwirkung). Unter diesen Aspekten muss die Ausstattung der Luftwaffe mit Α-Bomben erfolgen 3 .« Das Einsatzszenario für Luftverteidigung und Luftangriff Bei der Erarbeitung der Primärstrukturen der Luftwaffe 1955/56 ging man erst einmal nicht davon aus, dass die Luftwaffe eine atomare Komponente erhalten würde 4 . Auch herrschte Unklarheit hinsichtlich des nuklearen Einsatzspektrums des Warschauer Paktes5. Die ersten zusammenhängenden Vorstellungen des Kriegsbildes blieben daher ohne genauere Vorhersagen, reflektierten eher die verschiedenen Optionen zwischen konventioneller und atomarer Kriegführung und waren bemüht, die Existenz konventioneller Streitkräfte mit Sinn zu versehen. So konnte sich zunächst auch die Hoffnung breit machen, dass die Bundesrepublik vielleicht doch von einem massiven Atomschlag verschont bleiben würde. Man argumentierte, dass die Sowjetunion ja kein Interesse dar-
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war lediglich die atomare Komponente, die allerdings auch nichts an den grundlegenden Konzepten für den Aufbau der dt. Lw änderte (dazu BL 1/14705: Kommandeursbesprechung 2/59 vom 16.12.1959: 5 schwere Jabo-Geschwader und 5 Jagdgeschwader + Aufklärungsverbände, Transporteinheiten und noch nicht näher bezifferte Verbände mit G-91). Kammhuber forderte zwar die Bereitstellung von atomaren Mittelstreckenraketen, verband damit zunächst aber keineswegs automatisch die Forderung, dass die dt. Luftwaffe derlei Waffen besitzen sollte. Durch die Nuklearisierung änderte sich dann quasi über Nacht zwar die grundlegende Position der Luftwaffe im strategischen Großrahmen, d.h. »die Abkehr von betont defensiver zu offensiver Taktik bzw. StrikeKapazität« (BL 1/1908: Gedächtnis-Protokoll Besprechung Vtdg.-Min. - Gen. Norstad vom 20.11.1959, S. 3, dazu auch Stellungnahme Fü L II 1 vom 7.12.1959); dies ging aber in erster Linie auf die ungeheure Wirkung der A-Waffen zurück, weniger auf die innere Funktionalität der Luftwaffe als TStk und ihren Status als taktisches Einsatzmittel. BL 1/14705: Kommandeursbesprechung 2/57 vom 4.12.1957, S. 4. Insgesamt gilt, dass sich der Betrachter der hektischen Neuformierungsphase bis in die Mitte der 60er Jahre nicht von einzelnen Äußerungen der Protagonisten zu bestimmten Gelegenheiten zu eindeutigen Schlussfolgerungen hinreißen lassen sollte. Die aktuelle Bewusstseinslage gerierte sich widerspruchsvoll und unsicher. Die Denker, Planer und Führungsspitzen befanden sich allzu häufig im Hin und Her der Positionen. Ebd., BL 1/14705: Kommandeursbesprechung 2/57 vom 4.12.1957, S. 3. Vgl. auch BL 1/14705: Kommandeursbesprechung 2/58 vom 20.6.1958 und BL 1/14705: Kommandeursbesprechung 3/58 am 22.7.1958. Ebd., BL 1/14705: Notiz über Besprechung mit den Gen. der Luftwaffe am 5.3.1959, Hardthöhe, Haus 169. Zum Folgenden grundsätzlich ebd., BL 1/2: Rede Kammhubers vor den Stabsoffizieren des Lehrgangs II Gesamt-Streitkräfte in Sonthofen, Aug. 1956, S. 2-6. Ebd., BW 1/54931: Vtdg.-Ausschuss, 147. Sitzung, II. Legislaturperiode. Vortrag des Obersten Alliierten Befehlshabers in Europa, Gen. Norstad, vom 21.3.1957, S. 22.
IV. Strategie und Kriegsbild 1955 bis 1967
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an haben könne, Europa einschließlich der Bundesrepublik mit ihren Kraftquellen zu vernichten, sondern vielmehr möglichst unzerstört in die Hände zu bekommen. Die deutsche Luftwaffe hatte den Status einer konventionell kämpfenden Unterstützungswaffe für das Heer mit einer starken Luftverteidigungskomponente, d.h., man definierte sie als »tactical air force«, wie sie mutatis mutandis im Zweiten Weltkrieg auf allen Seiten eingesetzt und in der EVG propagiert wurde. Wichtigen Einfluss nahm hier Erich von Manstein, der gloriose Feldherr des Zweiten Weltkriegs, der zusammen mit drei Generälen am 20. Juni 1956 vor dem Bundesverteidigungsausschuss einen ausführlichen Bericht über das zu erwartende Kriegsbild ablieferte6. Die Luftwaffe stellte sich hier als konventionelles Unterstützungsorgan für das Heer dar. Ähnliches ließen Kammhuber und Steinhoff in Grundsatzvorträgen verlauten 7 . Ob sich die alten Heerführer ihrer eigentlichen Bedeutung bewusst waren oder nicht, sei an dieser Stelle offengelassen; die zentralen Entscheidungen fielen jedenfalls anderen Ortes. Norstad hatte in den ersten Gesprächen zur deutschen Luftwaffe die Kernwaffenfrage vermieden 8 . Angenommen wurde allgemein, dass bei einem Großkrieg die Sowjetunion und ihre Verbündeten mit massiver Macht zur Luft angreifen würden, d.h. mit ca. 3500 Jägern, Schlachtfliegern und Bombern (bei einer Gesamtstärke von ca. 22 000)9. Der Schwerpunkt der angreifenden Luftwaffe würde nach Einschätzung der Fachleute vor allem auf der Vernichtung des Atompotenzials der NATO in Westeuropa durch hochfliegende mittlere und schwere Bomber bzw. bereits durch Raketen und der Ausschaltung der konventionellen Luftangriffsverbände liegen. Die Luftverteidigung in der Bundesrepublik betrachtete man in diesem Zusammenhang ebenfalls als höchst gefährdet, weil diese gewissermaßen als erste Abwehrlinie für die dahinter liegenden Verbände vor allem in Frankreich und Großbritannien diente. Nach Erreichung dieser Ziele würden die Angreifer dann zur direkten oder indirekten Heeresunterstützung übergehen10. Die Entwicklung mittlerer und vor allem schwerer Bomber wurde als noch in den Anfängen stehend betrachtet, so dass man nur von einer begrenzten Anzahl von einfliegenden Bombern in größeren Höhen ausging. Die Raketentechnologie würde erst in Zukunft eine Rolle spielen, allerdings nicht mehr allzu lange auf sich warten lassen. So vermutete man Luftangriffe in allen Höhen,
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Ebd., BW 2/1960: Vortrag der 4 Gutachter vor dem Vtdg.-Ausschuss des Deutschen Bundestages, S. 9 f., 20-24, 28, 50. Dazu Angaben über die Stärke und Gliederung der NATOStreitkräfte auf d e m europ. Festland nördlich der Alpen u n d kurze Angaben über die sowjetische Wehrmacht. Weitere Begleitdok. Ebd., BL 1/2, Rede Kammhubers vor den Stabsoffz. des Lehrgangs II Gesamt-Streitkräfte in Sonthofen, Aug. 1956, S. 3 - 6 . Ebd.: Vortrag Steinhoffs vor dem Air Force Staff College, RAF, vom 25.7.1957 (evt. auch 1956), v.a. S. 1 f. Ebd., BW 9/1876: Lw-Besprechung am 10.3.1955 bei Gen. Norstad, SHAPE. Dazu auch Aktenvermerk über Besprechung im H Q USAFE in Wiesbaden am 4.2.1955. Z u m Folgenden vgl. grundsätzlich ebd., BL 1/1504: Studie Luftverteidigung 1960 vom 20.3.1957 und BL 1/1751-1: Studie Luftverteidigung (Zeitraum ab 1962) vom 2.12.1957. Ebd., BL 1/1751-1: Studie Luftverteidigung (Zeitraum ab 1962) vom 2.12.1957, S. 29 f.
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Szenario der deutschen Luftwaffe: Position der feindlichen Kampfverbände 30 Min. nach Angriffsbeginn, BA-MA, BL 1/1751-1, Studie Luftverteidigung (Zeitraum ab 1962) vom 2.12.1957, Anl. 12.
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allerdings in unterschiedlicher Stärke. Für die Bundesrepublik sagte man den Angriff des größten Teils der Feindluftwaffe voraus, bestehend vor allem aus leichten Bombern und einmotorigen Jabos, dies insbesondere im Tieffliegereinsatz. Gemäß den immer noch gültigen Vorstellungen vom NATO-Schild als rein konventionellem Element betrachtete man es als weniger wahrscheinlich, dass die Verbände nuklear bestückt sein würden. Die nukleare Gefahr ginge vor allem von den schweren Bombern aus, die in großen Höhen in den Luftraum eindringen würden. Da man nun aber erwartete, dass diese Bomber vor allem die Basen und Stützpunkte der strategischen US-Luftflotte (SAC) mit ihren Atomeinsatzkräften an der Peripherie Europas (z.B. Großbritannien) angreifen, erschien es als wahrscheinlich, dass die Bundesrepublik lediglich überflogen würde. Eine größere Gefahr stellten die mittleren Bomber dar. Uber deren Ziele konnte man nur mutmaßen, genauso wie man nicht exakt sagen konnte, wann die sowjetische Nuklearentwicklung dann doch eine ausgedehnte Ausrüstung einmotoriger bzw. einstrahliger Jagdbomber mit taktischen Atomwaffen ermöglichte. Für die Bundesrepublik ergaben sich damit trotz der bestehenden Unsicherheiten bei der Abwehr feindlicher Luftangriffe insgesamt zweierlei Aspekte. Als Teil der NATO-Luftverteidigung hatte man 1. das eigene Gebiet zu schützen, das gleichzeitig Schlachtfeld sein würde, und stellte 2. gleichzeitig die vorderste Linie für die Abwehr der schweren Bomber gegen das restliche Bündnisgebiet 1 '. Hinsichtlich der zur Verfügung stehenden Mittel und der Erfolgsaussichten der eigenen Abwehr ergaben sich zunächst wenig erbauliche Perspektiven. Im Kriegsfalle hatte man von Beginn an mit massivsten Angriffen der taktischen Luftwaffen des Warschauer Paktes zu rechnen. Insofern diese Kräfte im Tiefflug angriffen, konnte gegen sie vom Boden aus nur wenig ausgerichtet werden, selbst wenn man bereits die neuen Fla-Raketen zur Verfügung hätte. Die RadarTechnologie ließ einen entsprechenden Einsatz gegen Ziele unter 1000 m noch nicht zu. Die Abwehr oblag daher zunächst vor allem den Fla-Maschinenwaffen der Bodentruppen und der Luftwaffe 12 . Für die fliegenden Verbände stand zunächst die Erstausstattung aus USBeständen zur Verfügung, die allerdings eine mehr oder weniger begrenzte Haltbarkeit aufwies und auf absehbare Zeit ersetzt werden musste. Daher forderte man schon im Juni 1956, neue Muster zu entwickeln. Gemäß den Vorstellungen, die man sich vom Bedrohungs- und Einsatzszenario machte, ging man von zwei Haupttypen aus. Für den Einsatz über der Landfront würde man als Hauptverteidigungswaffe einen schnellen und wendigen Tag- oder Gefechtsfeldjäger (IDF, Interception Defence Force) benötigen. Dieser sollte nur mit den nötigsten elektronischen Geräten ausgestattet sein, rasch in den Kampf geworfen werden und nötigen11
Ebd., BL 1/14697: Interview Kammhuber mit Carl Schopen für die Zeitschrift Bundeswehr, S. 1, u n d ebd., Interview in der ARD mit der Führungsspitze der Bw am 8.4.1957 über die Aufstellung, Fragen an Kammhuber. Ebd., BL 1/1751-1: Studie Luftverteidigung (Zeitraum ab 1962) vom 2.12.1957, S. 117.
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falls auch offensive Aufgaben übernehmen können. Dabei antizipierte man auch die Anwendung von Atombomben, ein Beweis, dass die Luftwaffenführung bereits ein halbes Jahr nach der Neugründung die Nuklearisierung zumindest für möglich hielt13. Einfliegende Bomber bis zu einer Höhe von 18 000 m, die möglicherweise auch Ziele im Hinterland angreifen würden, sollten ebenfalls bekämpft werden. Für die Tieffliegerortung wurde die Aufstellung einer Auge-Ohr-Beobachtungstruppe gefordert. Spezielle Luftraumbeobachter (LRB), die in einem Luftwarnnetz ähnlich dem deutschen des Zweiten Weltkriegs tätig sein sollten, hatten in der Nähe der Grenze zur DDR und CSSR alle feindlichen Flugbewegungen zu registrieren und die entsprechenden Beobachtungen weiterzuleiten. Die Luftwaffe versuchte zunächst, diese Aufgabe auf die zivilen Stellen abzuwälzen, scheiterte aber damit14. So hatte man eine militärische Organisation aufzubauen. Ähnlich wie auch bei der FlaRak schwebte den Verantwortlichen zunächst ein flächendeckendes, schachbrettartiges Netz vor. Die Realität holte aber auch hier die Hoffnungen ein. Man plante daher bis 1962, nur einen Bereich direkt an der Grenze zur DDR in einer Tiefe bis zu 45 km zu besetzen, und zwar von mobilen Einheiten. Ab 1963 sollten 11 Kompanien 22 Beobachtungsbezirke (Kleinflukos) besetzen15. Recht rasch kam dann die nukleare Komponente in Spiel. Der LRB-Dienst sollte auch die Atomexplosion nach Kernwaffeneinsätzen beobachten und melden. Diese nicht gerade angenehme Aussicht für die Angehörigen des Dienstes zeigt eigentlich, dass derlei Einheiten in Wirklichkeit nur einen Notbehelf darstellten und im Grunde an den Realitäten des Atomkriegs vorbeigingen. Dass die Luftwaffe diese Obliegenheit nicht gerade schätzte, zeigt die Absicht, hier fast ausschließlich Wehrpflichtige einzusetzen16. Die Vorstellungen von der Bekämpfung der feindlichen Bomber in mittleren und großen Höhen besaß regelrecht futuristischen Charakter17. Man forderte einen schweren, höchst leistungsfähigen und maximal ausgerüsteten Allwet-
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Ebd., BL 1/1562: Militärische Forderung »Front-Jagdflugzeug« vom 29.6.1956. Hier wird erneut die Flexibilität der Luftwaffenführung unter Kammhuber deutlich. Zu einem Zeitpunkt, als man offiziell noch ein rein konventionelles Kriegsbild für den Einsatz der dt. Luftwaffe propagierte, begann man mit der Entwicklung einer Maschine, die explizit auch atomwaffenfähig sein sollte. Dahinter stand wohl ebenfalls die NATOForderung nach einem Light Weight Strike Reconnaissance Fighter. Dazu unten, S. 379-382. Ebd., BL 1/11151: Aktennotiz über Besprechung am 23.1.1956 betr. LS-Warndienst, S. 1. Ebd.: Niederschrift der Besprechung am 14.1.1959 über Zusammenarbeit in der Frage der radioaktiven Niederschläge, S. 2 ff. Begleitdok., und BL 1/1751-1: Studie Luftvtdg. (Zeitraum ab 1962) vom 2.12.1957, S. 147 ff., mit Anl. 57 und 58 (dort allerdings über 30 Kleinflukos). Bis Anfang der 60er Jahre kam man über die Minimalanforderungen nicht hinaus. Ende 1962 konnte man lediglich mobile Einheiten für die unmittelbaren Grenzbereiche der NATO zur Assignierung anbieten. BL 1/1823: SHAPE an BMVg vom 8.10.1962. Ebd., BL 1/14705: Kommandeursbesprechung 2/60 vom 15.7.1960, Anl. 9. Dazu auch ebd., BL 1/183: Ausarbeitung von Maj Rheinbaben, Gedanken zur modernen Luftkriegführung, vom 11.10.1959, S. 11 f.
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terjäger (AWX) oder Interceptor 18 . Dieser sollte möglichst ein Senkrechtstarter sein, in kürzester Zeit in Höhen bis über 25 000 m aufsteigen können und dort in allen Wetterlagen und bei Nacht zu Abschusserfolgen kommen. Da man davon ausging, dass Bomber die Träger der Atomwaffen waren, mussten sie unbedingt ausgeschaltet werden. Die Bedingungen im fast luftleeren Raum ohne Navigationshilfen glichen in den Einschätzungen schon fast dem Bild eines Weltraumkriegs. Die Piloten sollten in speziellen Druckanzügen und -kabinen in Maschinen mit einer Geschwindigkeit über Mach 2 kämpfen, daher die besonders großen Kurvenradien beachten und sich die Ziele, die schweren 4- bis 8-motorigen Bomber, mit allen elektronischen Hilfsmitteln aussuchen. Unterstützt würden die AWX von bodenständigen Flugabwehrwaffen, die in Höhen von 1000 bis 24 000 m operieren sollten19. Es herrschte die einhellige Meinung, dass Kanonen hierfür in keinem Fall mehr in Frage kommen würden, da Lade- und Richtzeiten den Geschwindigkeiten der modernen Jets nicht mehr gerecht werden konnten. Man verlegte sich also auf die Raketentechnologie, die zu diesem Zeitpunkt bereits kurz vor der praktischen Anwendbarkeit stand. Es zeichneten sich erste Serienmuster ab, so z.B. die NIKE, Ajax und Herkules. Der Einsatz sollte aus einer flächendeckenden Batterieaufstellung oder einem FlaRak-Gürtel erfolgen. Die Führung aller Kampfeinheiten oblag den Leitständen im Hinterland (SOC/CRC), wo alle Informationen der Warnsysteme (elektronisch oder menschlich) zusammenlaufen sollten20. Von hier aus sollten dann die Luftverteidigungskräfte eingesetzt werden, so etwa die Steuerung der Jäger zu ihren Zielräumen über Funk, dies entweder individuell (close control, d.h. ein Leitoffizier für eine Maschine) oder - bei Masseneinflügen des Gegners - kollektiv (broadcast control)21. Umgekehrt konnte beim Ausfall der Fernmeldeverbindungen jeder Verband, z.B. ein Raketenbataillon, den Kampf unter Verwendung der eigenen Radar-Einrichtungen aufnehmen. Insgesamt hatte man schon früh recht genaue Vorstellungen sowohl von der Bedrohung als auch den auf beiden Seiten zum Einsatz kommenden Kampfmitteln und dem entsprechenden Kriegsszenario. Im Jahre 1957 ging dies schon so weit, dass man die Abschusswahrscheinlichkeiten auf der Basis der technischen Gegebenheiten und der zu erwartenden Stärken errechnen ließ (kill potential/kill probability). Die Erstellung der Grundlagen basierte auf kontinuierlicher struktureller Entwicklungsarbeit, die keineswegs ausschließlich auf einfache Lernprozesse und Adaptionen der westlichen Partnerstaaten zurückging. Die deutsche Konzeption der FlaRak beispielsweise entstand im Amt Blank unter Berücksichtigung der Luftverteidigung im Zweiten Weltkrieg (Aldinger) und war erheblich fortschrittlicher als die entsprechende NATO18
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Ebd., BL 1/1562: Militärische Forderung Interceptor-Jagdflugzeug vom 29.6.1956. BL 1/1751-1: Studie Luftverteidigung (Zeitraum ab 1962) vom 2.12.1957, S. 46 ff. Ebd.: Studie Luftverteidigung (Zeitraum ab 1962) vom 2.12.1957, S. 93 ff. Z u m Folgenden vgl. Müller, Luftverteidigung, Kap. V-VII. Ebd., S. 110 f. Zu den Details mit Stand ca. 1960 vgl. Jägerleit-Fibel, Jägerleit-Offz. Lehrgänge Technische Schule 2 Lechfeld (Fw. Hasenkopf), Stand: 1.1.1959, Privatbesitz Bernd Lemke (unter Vermittlung von Ulf Balke, MGFA, Freiburg).
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Vorschrift (STANAG 3090)22. Die Strategiedebatten um Kriegsphasen und Schild-Schwert brachten hier keinerlei Hilfe, besaßen vielmehr höchst theoretischen Charakter. Man musste sich ohnehin auf den Maximalfall vorbereiten, wobei letztlich weniger die Möglichkeiten der Angreifer den Maßstab bildeten, sondern die Grenzen der eigenen Leistungskraft, dies vor allem auch im materiellen und personellen Bereich. Recht rasch wurde deutlich, dass ein umfassender Schutz gar nicht möglich sein würde. In pessimistischen Studien wurde die Abschussquote nicht höher als 10-20 % eingeschätzt23. Gegen die heraufziehende Gefahr von Boden-BodenRaketen mit nuklearer Bewaffnung hatte man keinerlei Mittel aufzubieten 24 . Aus deutscher Sicht blieb daher zunächst lediglich die Hoffnung, dass zumindest Atomwaffen nicht über dem Bundesgebiet zum Einsatz kommen würden. Diese Erwartung hielt allerdings nicht sehr lange vor. Spätestens im März 1957 erhielten deutsche Offiziere im Rahmen der Stabsrahmenübung »Lion Noir« Kenntnis davon, dass die NATO von einem massiven Nuklearwaffeneinsatz in der Bundesrepublik und der DDR ausging, und zwar von Kriegsbeginn an25. Hätte man auch nur die bemannten Angriffskomponenten der feindlichen Luftwaffen, die ja meist auch als Nuklearträger in Frage kamen, benötigte man eine erheblich größere Anzahl an Jägern und Fla-Geschossen, als man tatsächlich beschaffte. Letztlich wäre eine flächendeckende und aus Sicht der Munitionsversorgung nachhaltige Abwehr nach dem Vorbild von Aldinger erforderlich gewesen. Allein, die Luftwaffe erhielt noch nicht einmal die 28 Raketenbataillone, die die MC 70 verlangte 26 . Die strukturellen Rahmenbedingungen erwiesen sich trotz des rasanten technischen Fortschritts gegen allzu schnelle Veränderungen resistent. Dieser Befund galt NATO-weit und wurde im Laufe der Zeit erkannt und teilweise als Hindernis kritisiert. »Die gegenwärtigen Pläne und Programme der NATO sind noch tief verwurzelt in einer Ära, in der es noch keine Flugkörper gab und die Luftoperationen die Landkriegsführung entscheidend beeinflussten 27 .« Das für die Luftverteidigung gezeichnete Bild galt mutatis mutandis auch für die Luftangriffskräfte. Vollkommen unabhängig von der Atomwaffenfrage etablierte man ein Szenario, basierend auf Einsatzprinzipien, die im Wesentlichen bereits vor 1939 aufgestellt 28 und durch den Zweiten Weltkrieg kaum verändert wurden. Über die Aufgabengestaltung taktischer Luftwaffen bestand zumindest in den essentiellen Grundlagen supranationaler Konsens. Die Ergebnisse der EVG-Verhandlungen stellten hier keine wesentliche Änderung dar, 22 23
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Dazu oben, S. 129 f. BA-MA, BW 2/20064: Fü L/Kammhuber Sprechzettel für den Min. vom 14.10.1959, S. 2: Verweis auf SHAPE-Studie Survival Measures. Ebd., BL 1/1751-1: Studie Luftverteidigung (Zeitraum ab 1962) vom 2.12.1957, S. 91-95. Greiner, Die militärische Eingliederung der Bundesrepublik, S. 744. Dazu oben, S. 164 f. BA-MA, BL 1/1752: ZOR-Stelle Trier, Luftoperationen u n d Luftverteidigung in der Strategie der Vorwärtsverteidigung von W.B. White vom 1.3.1966, S. 16. Ebd., RLD 3: LDv 16, Luftkriegführung mit eingearbeiteten Deckblättern Nr. 1-12, Berlin 1940.
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konnten gewissermaßen mehr oder weniger bruchlos übernommen werden. Das Schwergewicht sollte weiterhin auf der Bekämpfung der feindlichen Luftangriffskräfte (counter air) und der Abschnürung des Gefechtsfeldes vom Hinterland (interdiction) liegen. Der Kampf gegen die feindlichen Bodentruppen an der Front (close air support) gehörte zu den weiteren Aufgaben, ebenso wie die Aufklärung. In gewisser Hinsicht kann die Luftwaffe des Deutschen Reiches hier sogar als Pionier gelten, denn sie hatte das ganze Spektrum schon im Barbarossa-Feldzug vorexerziert 29 . Das geistige Kernelement bildete die Flexibilität, wie sie schon in der LDv 16 von 1935 festgelegt worden war. Inhaltlich unterschied diese sich von der taktischen Vorschrift der US-Luftstreitkräfte (FM 10020) von 1943 nur wenig, im Wesentlichen nur durch den bis heute problematischen Begriff »operativ«, der den Unterschied zwischen taktischer und strategischer Luftkriegführung verwischte, dabei aber auch gleichzeitig den Kern der deutschen Luftwaffe bis 1945 zum Ausdruck brachte: Sie war eine taktische Luftwaffe mit strategischen Ansätzen gewesen 30 . Die Tatsache, dass sie im Verlauf des Krieges wenigstens im Osten dann zu einer Art Heeresartillerie degenerierte und schwerpunktmäßig in verlustreichen Kämpfen direkt an der Erdfront eingesetzt wurde, ändert an diesen Grundlagen nichts. Insofern benötigte man weder eine >vollkommene Neugeburt< durch die übermächtigen Amerikaner mit ihrer angeblich »world's premier air force« 31 als Hebamme; noch spielte die NATO-Strategiedebatte eine wesentliche Rolle. Kräfteverteilung und Kampfausstattung Die praktische Ausgestaltung der Luftwaffe ab 1955 verlief dementsprechend. Die organisatorische Grundgestalt wurde 1956 von Kammhuber festgelegt, der zumindest in den Konzeptionsfragen keineswegs ein ausschließlich rückwärts29
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Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, 4, S. 652-684 (Beitrag Boog), dazu Beilage Karte 23. Die US-Luftstreitkräfte beeindruckten insbesondere die Erfolge der dt. Stukas. Sie beschlossen, ebenfalls entsprechende Muster einzusetzen. Kennet, Die US-Heeresluftstreitkräfte, S. 530. Ganz neu war der Stuka-Gedanke in Amerika jedoch nicht. Die USMarine hatte entsprechende Maschinen schon vor dem Zweiten Weltkrieg eingesetzt und seit 1938 auch eine überaus leistungsfähige Maschine geliefert bekommen, die »Douglas Dauntless«. Buckley, Air Power, S. 88 und 105. Diese zeitigte dann für die jap. Marine vor Midway verheerende Konsequenzen, denn die dort vernichteten Träger gingen vor allem auf das Konto dieses Sturzkampfbombers. Basisinformationen hierzu in: National Museum of the USAF, Douglas A-24 SBD Daunties (12.6.2004), URL: http://www.wpafb. af.mil/museum/early_years/eyl5b.htm und Curtis Α.25 Helldiver (12.6.2004), URL: , zus. The United States Army Air Forces in World War II, David R. Mortensen, a Pattern for Joint Operations: World War II Close Air Support, North Africa (14.12.2004), URL: , und Douglas SBD Daunties (9.5.2005), http://www.warbirdalley.com/sbd.htm (Sämtliche Websites in Kopie bei B.L.). Zu den strategischen Ansätzen und generell zum Verhältnis der dt. Luftwaffe 1935 zum Verhältnis taktisch, strategisch und operativ siehe oben, S. 74, mit Anm. 4 und S. 101 f. Corum - Starting from Scratch, S. 19 f. - vertritt in sehr starkem Maße die These, dass die Ausrichtung und Angelegenheiten der dt. Luftwaffe zumindest in den Anfangsjahren fast ausschließlich von der USAF bzw. der MAAG gestaltet wurden, weil die dt. Dienststellen insbes. an der Spitze entweder noch nicht existent oder unfähig waren.
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gewandter, im Nacht) agddenken der Reichsluftverteidigung hängengebliebener General war, wie laut »Spiegel« für die Militärs teilweise behauptet 32 , sondern durchaus die Notwendigkeit der Flexibilität erkannte 33 . Auf der Basis der Entschlüsse innerhalb der NATO, dass die Luftverteidigung im Sinne schlagkräftiger und flexibler Reaktionsfähigkeit vom Luftangriff getrennt werden musste34, legte er in seinen ersten Entwürfen die Verteilung zwischen Luftangriff und -Verteidigung fast paritätisch fest: 50:50 plus Aufklärer- und Transportverbände. Ausgehend von dem deutschen Bestreben nach Aufbau einer Ν ΑΤΟ-weit integrierten Luftverteidigung 35 und der Eingliederung der eigenen Angriffskräfte in zwei taktische Luftflotten des Bündnisses trennte Kammhuber die Defensiv- von der Offensivkomponente. Für den Luftangriff sah er zwei taktische Fliegerkorps (je eines für eine ATAF) vor, dies mit je fünf Geschwadern, d.h. insgesamt 654 Maschinen. Für die Luftverteidigung wurden insgesamt acht Geschwader, gemischt mit AWX- und Tagjägern, vorgesehen, die, unabhängig von den Luftangriffsverbänden, in eigenen Luftverteidigungsdivisionen organisiert sein sollten, um sie leichter in die NATO-Luftverteidigung eingliedern zu können. Mit insgesamt 672 Maschinen war der Defensivanteil etwas höher als der der Angriffsverbände. Diese Gewichtung war nach Angaben von Kammhuber nicht zuletzt auch durch massiven Druck aus dem Bundestag, insbesondere aus den Reihen der SPD (Helmut Schmidt), zustande gekommen 36 . Damit hatte sich in gewisser Weise die inhaltliche Debatte, wie sie im Jägerstreit mit den Franzosen während der EVG-Phase stattgefunden hatte, wiederholt. Kammhuber profitierte in der aktuellen Situation von der Haltung Schmidts und seiner Parteigenossen, die im Übrigen insbesondere in der Nuklearfrage ansonsten keineswegs dessen Position unterstützten 37 .
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Der Spiegel, 1957, Nr. 50, S. 20. Z u m Folgenden BA-MA, BL 1/1750-2: IV (LW) Leiter, Org. und Integration der dt. Luftwaffe in die NATO vom 23.7.1956 mit Begleitdok. Zusätzlich BL 1/2: Vortrag Steinhoffs vor dem Air Force Staff College, RAF, vom 25.7.1957 (evt. auch 1956), v.a. S. 2-11. Ebd., BL 1/1571: Gesichtspunkte der Luftverteidigung bei der dt. Wiederbewaffnung, Ubersetzung vom 9.4.1956. Dazu auch BW 2/1825: Integration der dt. Luftwaffe in die NATO, Schreiben Juins vom 5.9.1956 u n d andere Dok. Dazu Strauß, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, Nr. 6/1958, S. 47 (Probleme der künftigen Wehrpolitik). BA-MA, BW 1/54941: 30. Sitzung Bundesverteidigungsausschuss, III. Legislaturperiode, 5.11.1958, S. 2. Vgl. dazu etwa die vehemente Ablehnung von Helmut Schmidt in der Frage der Beschaffung der Matador/Mace. Siehe unten, S. 354 f. Vgl. zus. die überaus heftigen Debatten u m die Nuklearisierung der Bw in der ersten Hälfte 1958, die mit einer Niederlage der SPD im Bundestag endete. Siehe Bulletin des Presse- u n d Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 59 (27.3.1958), S. 557 ff. Vgl. auch die zahlreichen weiteren Artikel in dieser Publikation 1957/58 zur Thematik. Kammhuber selbst befürwortete dagegen die Nuklearisierung entschieden, dies insbes. zur Ausrüstung der Lw für die Erfüllung der Aufgaben Interdiction u n d Counter Air. Der bekannte Luftkriegsfachmann u n d Stratege, Georg Feuchter, verfasste dazu einen entsprechenden Artikel für die »Flugwelt«, den er vorab Kammhuber vorlegte. Die Ausführungen von Feuchter, so Kammhuber, »decken sich im wesentlichen mit meinen Vorstellungen«. Der Artikel erschien im Sept. 1958: Feuchter, Kann beim derzeitigen Rüstungsstand eine taktische Luftwaffe ihre Aufgaben noch ohne
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Damit bewegte sich Kammhuber im Wesentlichen in den Bahnen der Linie, wie sie sich bereits im Rahmen der EVG-Verhandlungen ergeben hatte, auch von Speidel 1954 vor der N A T O vorgetragen worden und dort mit geringen Änderungen auch so genehmigt worden war 38 . Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die Luftwaffe noch keineswegs im festen Glauben an die NATO-Integration lebte. Die beiden Fliegerkorps, die man 1959 als Luftwaffengruppenkommandos (Nord und Süd) konzipierte und aufbaute, wurden zu Beginn explizit unter anderem auch zu dem Zweck aufgestellt, um nötigenfalls die unterstellten Verbände rein im nationalen Verband ohne NATO-Beteiligung zu führen: »Nach Ansicht des Inspekteurs müssen die Luftwaffengruppen eine Stellung einnehmen, die sie im Falle eines Alleinseins der Bundesrepublik in einem kriegerischen Zustand befähigt, die Aufgaben einer Luftflotte zu übernehmen 3 9 .« Die ATAFs - und darin lag durchaus ein gewisser Sprengstoff bezeichnete Kammhuber als Zwischenlösung. Offenbar entwarf man angesichts der fortgesetzten Probleme der Bündnisintegration hier eine mögliche Kriegsstruktur in nationaler Eigenverantwortung. Allerdings gab General Martin Harlinghausen, Kommandeur der Luftwaffengruppe Nord, zu bedenken, dass die Luftwaffengruppen in einem solchen Fall ohne Spitzenführungsorgane seien (Generalstab). Dieses Denken in nationalen Bahnen blieb auch nach Kammhuber zumindest latent bestehen, dies nicht zuletzt auch wegen der Probleme im Bündnis und der strategischen Wandlungen, mit denen die Luftwaffe keineswegs immer zufrieden war. So betonte der Stellvertretende Inspekteur der Luftwaffe, Adolf Wilhelm Hempel, im Jahre 1967 vor einem Generalstabslehrgang, dass es kein Geheimnis darstelle, dass »Bestand und Bedeutung« der N A T O bedroht seien. »Für die nächste Zeit« aber sei am Bündnis festzuhalten 40 . Dahinter stand der Austritt Frankreichs aus der militärischen Organisation der N A T O 1966. Eine Rückkehr zu einer Luftwaffe als genuin deutschem Instrument blieb für den Fall weiterer entsprechender Auflösungserscheinungen prinzipiell nicht ausgeschlossen. Diese Perspektive stellte keineswegs nur ein theoretisches Konstrukt dar, sondern wurde auch praktisch verfolgt. Kammhuber beschloss Mitte 1958 den Bau eines entsprechenden Gefechtsstandes im Süden (Bereich 4. ATAF), wo infolge der eher liberalen Führungspraxis der Amerikaner den nationalen Luftwaffen zumindest für den Frieden die eigenständige Führung ihrer Verbände zugestanden wurde 4 1 . Er trug das Konzept auch Strauß vor, der dem
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taktische Atomwaffen erfüllen? Die dazugehörige Korrespondenz in: BA-MA, BL 1/14683: Briefe vom 4.6. sowie 16., 19., 27.7.1958. Α WS, Bd 3, S. 631 - 6 3 8 (Beitrag Greiner). BA-MA, BL 1/14705: Notiz über Besprechung mit den Gen. der Luftwaffe am 5.3.1959, Hardthöhe. Dazu auch BL 1/2: Rede Kammhubers vor den Stabsoffizieren des Lehrgangs II Gesamt-Streitkräfte in Sonthofen, Aug. 1956, S. 12. Ebd., BL 1/1633: Fü L IV 1, Blauer Brief 4/67, Vortrag StvInspLw vor dem 2. Fortbildungslehrgang für Offz. im GenSt/AdmStDienst (Bw) bei FüAKBw, Hamburg-Blankenese, 31.5.1967, S. 6. Ebd., BL 1/14649: Tgb. InspLw, Eintrag vom 23./24., 29.9. und vom 23.10.1958.
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Projekt zustimmte und dem Ausbau auch nachhaltig das Wort redete 42 . So errichtete man in Lechfeld eine Versuchsanlage, den Gefechtsstand »Konrad«, und stattete ihn mit der modernsten Technik der führenden Elektronikunternehmen aus43. Betrieben wurde der Bunker von der Fernmelde-Lehr- und Versuchsabteilung 612 44 . Die Inbetriebnahme sollte ab 1960 erfolgen45. Im Bereich der Luftwaffengruppe Nord begann man, eine ähnliche Anlage einzurichten46, dies jedoch mit erheblicher Zeitverzögerung. Man entschied sich schließlich für die Einrichtung eines Gefechtsstandes in unmittelbarer Nähe des SOC Uedem (Behelfs-SOC »Little Udo«) und stationierte die Führungseinheiten, die Luftwaffengruppe Nord und die 3. Luftwaffendivision, in Kalkar47. Dies sollte u.a. auch der besseren Koordination der Verbände im Nordbereich, der ja zwei NATO-Kommandobereiche, der 2. ATAF und AIRBALTAP, angehörten, dienen48. Kalkar bildete auch in der Folge den zentralen Gefechtsstand der deutschen Luftwaffe, zumindest soweit nationale Aufgaben betroffen waren49. Hier wurde schließlich im Zuge der aufkommenden Terrorismusgefahr ab 2001 das Nationale Lage- und Führungszentrum im Luftraum (NLFZ) eingerichtet, das zusammen mit den angeschlossenen Kampfverbänden ministerienund länderübergreifend Schutz gegen Anschläge aus der Luft bieten soll50. Im Südbereich errichtete man in den 70er und 80er Jahren einen nationalen Gefechtsstand in Meßstetten. »Konrad« ging letztlich nicht in Betrieb, sondern wurde im Jahre 1966 der Technischen Schule der Luftwaffe 2 als Schulstellung untergeordnet. Den Leitstand plante man daneben als Hilfsinstrument für Navigation und Radarunterstützung. Für den Verteidigungsfall sollte er als
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Ebd., BL 1/14649: Tgb. InspLw, Eintrag vom 2.10.1958. Dazu auch BL 1/14705: Kommandeursbesprechung 3/58, am 22.7.1958 in Lechfeld im Anschluß an die Aufstellungsfeierlichkeit JaboG 32, Anl. (Einladung Min.). Ebd., BL 1/14650: Tgb. InspLw, Eintrag vom 22.7. und vom 28.8.1959. Allein die Firma Decca stellte in einer ersten Teillieferung Anfang 1959 6 t an elektronischer Ausrüstung bereit. BL 1/14650: Tgb. InspLw, Eintrag vom 3.2.1959, mit Bericht Kommandeur 1. LVDivision »Konrad« vom 31.1.1959. Zus. ebd., Eintrag vom 15.6.1959. Bewachung durch 1. LV-Div, BL 1/14649: Tgb. InspLw, Eintrag vom 24.11.1958. Ebd., BL 1/201: Fü L III 1, Unterstellung Stab Konrad vom 21.7.1960. Ebd., BL 1/14650: Tgb. InspLw, Eintrag vom 20.7. und vom 17.11.1959. Ebd., BL 1/14705: Notiz über Besprechung mit den Gen. der Luftwaffe am 5.3.1959, TOP 8 c.). Ebd., BL 1/3508: Fü L III 6, Protokoll über die Besprechung Kriegsgefechtsstand 3. LwDiv bei Fü L III 6 in Bonn am 29.9.1969, mit einigen Begleitdok. Ob diese besonderen Schwierigkeiten durch einen nationalen Gefechtsstand gelöst werden, wurde teilweise bezweifelt. Ebd., BL 1/3508: Ergebnisprotokoll über Besprechung bei Fü L, Einsatzbereitschaft des Gefechtsstandes 3. LwDiv in Münster, am 9.8.1968, S. 3. Denkbar war auch der umgekehrte Fall, d.h. die Komplizierung der Verhältnisse. Es wäre näher zu prüfen, was von Kammhubers Vorstellungen, die durchaus noch von zumindest temporären Vorbehalten gegenüber der Bündnisintegration geprägt waren, übrig blieb (Möglichkeit einer eigenständigen nationalen Führung der Kampfverbände im Krieg). http://www.verteidigungsministerium.de/forces/luftwaffe/031021_NLFZ_Kalkar.php, Das Nationale Lage- und Führungszentrum in Kalkar (Kopie der Website bei B.L.).
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»control post« verwendet werden, ohne dass einstweilen eine Definition der genaueren Aufgaben erfolgte51. Verlief die Errichtung von »Konrad« eher im Stillen, so kam es hinsichtlich der taktisch-strategischen Einsatzdoktrin zu Friktionen. Mit seiner Grundkonzeption, insbesondere der Verteilung der Kräfte für Luftangriff und Luftverteidigung, glaubte Kammhuber den anerkannten Notwendigkeiten der westlichen Luftwaffen und der aktuellen, u.a. auch nationalen Bewusstseinslage unter den bestehenden Unsicherheiten am besten Rechnung zu tragen52. In der NATO erregte dies allerdings recht rasch Unwillen, weil man den Angriffsaspekt, das Kernelement der Abschreckung, zu schwach vertreten sah. So forderte Norstad am 16. Oktober 1956 von Kammhuber in Fürstenfeldbruck mehr Aufklärungsgeschwader zur Zielerfassung anstatt der Luftverteidigungsgeschwader aufzustellen, stieß damit aber auf taube Ohren 53 . Kammhuber, der gerade erst sein eigenes Konzept über die parlamentarischen Hürden gebracht hatte54, argumentierte, dass man nunmehr praktische Aufbauleistungen erreichen müsse, was unmöglich sei, wenn man ständig Änderungen vornehme. Der Bundestag würde seine Entscheidung nicht schon wieder revidieren und ohnehin nicht zustimmen, wenn man die Heimatverteidigungsjäger zu stark reduziere. Er sehe die Notwendigkeiten durchaus ein und sei zu späteren Modifizierungen durchaus bereit. Letztlich vertrat Kammhuber damit den konsequenteren Standpunkt, denn die NATO und Norstad fuhren keinen eindeutig klaren Kurs. Der SACEUR selbst beschwerte sich Mitte 1958 über die deutsche Luftwaffenplanung, die seines Erachtens »zu offensives Denken und damit verbunden zu offensive Ausrüstung der Luftwaffe« beinhalte55. Gerade der rückblickend als »cold war commander« bezeichnete Norstad drang seit 1954 selbst massiv darauf, eine starke Luftverteidigung auf integrierter Basis mit den entsprechenden Kampfkräften und einer adäquaten Luftmeldeorganisation zu schaffen, war somit keineswegs immer klar und apodiktisch auf eine reine Angriffsstrategie festgelegt. Die Defensivkomponente blieb stets als essentielles Element enthalten, wenn sich auch ihre Aufgabendefinition dann schließlich in Richtung Schutz nur noch der Strike-Verbände und Befehlszentralen verschob. Die ganzen Kon51 52
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BA-MA, BL 1/4508: Fü L III 6, Aufgaben II./TSLw 2/Anl. Konrad vom 2.5.1966. Ebd., BL 1/14705: Kommandeursbesprechung 2/57, 4.12.1957, Kammhuber, Vortrag über die historische Entwicklung der Luftwaffenplanung seit 1956, S. 2. Ebd., BL 1/1571: Kammhuber an den Dt. Nationalen Militärischen Repräsentanten bei SHAPE, Strümpell, vom 29.10.1956, Protokoll über die Unterhaltung von GenLt Kammhuber mit Gen. Norstad über die Zusammensetzung der dt. Luftverteidigung am 16.10.1956 in Fürstenfeldbruck, mit Begleitdok. Dazu auch BL 1/14647: Tgb. InspLw (bzw. Abteilungsleiter VI), Eintrag vom 16.10.1956, mit entsprechendem Besprechungsprotokoll, S. 2. Ebd., S. 3. Dazu auch Eintrag vom 19.10.1956, mit Besprechungs-Notiz z u m Besuch des NMR bei SHAPE, Gen. Graf Kielmansegg, am 19.10.1956 u n d Eintrag vom 7.11.1956, mit Notiz zur Sitzung des Unterausschusses für Beschaffung unter Vorsitz von Helmut Schmidt, H a m b u r g (SPD). Ebd., BL 1/14649: Tgb. InspLw, Eintrag vom 10.7.1958. Dazu auch Eintrag vom 16.7.1958.
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Sequenzen der Massive Retaliation offenbarten sich den Beteiligten erst nach und nach. Im ersten Gespräch mit der entstehenden deutschen Luftwaffenführung 1955 verlangte Norstad insgesamt neun Jagdgeschwader mit 468 Maschinen und acht Jabo-Geschwader mit insgesamt 600 Flugzeugen, dazu drei Aufklärungs- und zwei Transport-Geschwader56. Man schwankte etwas zwischen beiden Polen, ohne eine überzeugende Lösung für die bestehenden Mängel und Schwächen taktischer Luftkriegführung angesichts der angenommenen Dampfwalze aus dem Osten bieten zu können. Letztlich verlegte SHAPE sich, auch hier traditionelle Wege letztlich nicht verlassend, auf eine Art mittlere Lösung, d.h., man initiierte eine »Planung eines Gleichgewichtes zwischen Luftangriffs- und Luftabwehrwaffen«57. Dahinter standen auch die strategischen Grundsetzungen, d.h. stand das Diktum der »ausgewogenen« Aufrüstung und Ausstattung, d.h. die Verteilung von Atomwaffen und konventionellen Kräften, wie sie sich in der strategischen Entwicklung niedergeschlagen hatte58. Der deutsche Inspekteur Luftwaffe konnte sich indes insgesamt gesehen nicht allzu lange auf theoretische Debatten einlassen, sondern war unter dem herrschenden Zeitdruck angesichts der angenommenen Bedrohung für die Schaffung des Instrumentes verantwortlich, musste quasi die Brötchen backen. Man sah dies offenbar ein, denn es gab einstweilen keine gravierenden Änderungen in der Planung. Die MC 70, das Grundlagenpapier für weitere Aufrüstung, gab diese Zwiespälte eindeutig wieder59. Keineswegs forderte sie für die Bundesrepublik eine massive Streitmacht ausschließlich für den Luftangriff, sondern schrieb ein Gleichgewicht von 50:50 an fliegenden Verbänden vor: acht Geschwader (= 16 Staffeln) an leichten und schweren Jagdbombern mit insgesamt 360 Maschinen, dazu 11 Staffeln an Aufklärern mit 206 Maschinen, für die Luftverteidigung insgesamt 20 Staffeln leichter und schwerer Jäger mit insgesamt 356 Maschinen, dazu 28 Bataillone FlaRak, eine Forderung, die von vornherein utopisch war und an Aldingers Schachbrettmusterkonzept mit flächendeckender Dislozierung von Boden-Luft-Raketen erinnerte60. Schließlich enthielt die MC 70 noch 56 57
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Ebd., BW 9/1876: Lw-Besprechung am 10.3.1955 bei Gen. Norstad, SHAPE. Ebd., BL 1/1908: Fü L VII vom 25.11.1958, Bericht über NATO-Tagung vom 24.11.1958, HAWK in der Luftverteidigung, vom 25.11.1958, S. 3. Dazu oben, S. 34 f. und 39 f. Zum Folgenden vgl. BA-MA, BL 1/4899: Liste Gegenüberstellung MC 70 und eigene Planung vom 29.7.1958 und BL 1/4897: Gesamtumfangsplanung der Bundeswehr vom 5.9.1959, mit Begleitdok. Zus. BW 2/20064: Dok. zum Gespräch Min. Strauß/SACEUR vom 28.4.1960, darunter auch Fü L/Kammhuber Sprechzettel für den Min. vom 14.10.1959. Die Bonner Dok. des NHP-Projektes hat Tuschhoff - Deutschland, S. 112-117 - herangezogen (vgl. v.a. die Tabellen). Allerdings sind bei Tuschhoff einige Fehler bzw. Ungenauigkeiten hinsichtlich der Nuklearisierung enthalten. Details zur Bestückung mit Atomwaffen unten, S. 234 f. mit Anm. 356 und 358. Zur Ablehnung von Aldingers Schachbrettkonzept in Verbindung mit den teuren NIKERaketen vgl. auch Kammhubers deutliche Äußerungen, in: BA-MA, BL 1/14648: Tgb. InspLw, Eintrag vom 14.5.1957, Notiz zur Besprechung Fü L - Vertreter Abt. XII, BMVg. Zu Heusingers Widerstand gegen die 28 FlaRak-Bataillone, siehe oben, S. 112.
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zwei Geschwader bzw. drei Gruppen 61 an Flugkörpern Boden-Boden (atomar bestückt) und schuf damit die Grundlage für die späteren Pershing-Verbände. Kammhuber konstatierte: »Es ist klar, dass unter solchen Aspekten >Abschreckungs- und Angriffsstrategie der NATO< die Luftverteidigung an Wert verloren hat; dennoch kann nicht auf sie verzichtet werden, es gilt nur, ein richtiges Mischungsverhältnis zwischen Interceptoren und Missiles herzustellen und eine erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen beiden zu erzielen. Da die Abwehr einen zukünftigen Krieg nicht verhindern kann, muss das Schwergewicht der Luftrüstung auf den Waffen liegen, die den Gegenschlag - auch ohne Hilfe der USA - führen können62.« Letztlich ließ die Leistungsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland einerseits keine großen Alternativen zu, andererseits war keiner der Hauptbeteiligten, insbesondere auch Norstad nicht, bereit, von den taktischen Standards hinsichtlich der Defensive abzurücken. Einen Abbau der Luftverteidigung hatte nicht einmal Montgomery verlangt. Zur planerischen Reduzierung der Kampfkräfte für die Luftverteidigung kam es dann in den Folgejahren, dies trotz der Verweise Kammhubers auf die Entscheidungsmacht des Bundestages. Die NATO-Strategie, wie sie sich in den entsprechenden Übungen manifestierte 63 , und - nicht weniger bedeutsam - der inzwischen entstandene Sparzwang und eine gewisse Ernüchterung in Bezug auf die Effizienz des Defensivkampfes gegen angreifende Nuklearträger wirkten dabei zusammen 64 . Die konzeptionelle Bedeutungssteigerung der Luftwaffe, die sich infolge der Heraushebung durch die Grundtendenzen der Massive Retaliation ergeben hatte, und nicht zuletzt auch die damit verbundene Stärkung der eigenen Position als Inspekteur, soweit absehbar, dürfte ein Übriges getan haben. Kammhuber, der die atomare Option von Anfang an verfolgt und - etwa in einem Gespräch mit dem bayerischen Ministerpräsidenten Wilhelm Högner im Oktober 1956 angesichts der Errichtung eines Kernforschungsreaktors in München-Garching - die Ausbildung seiner Offiziere in Nukleartechnik verlangt hatte 65 , änderte dann im Herbst 1959 aus diesem Zusammenhang heraus auch formell seine Perspektive und verließ damit gleichzeitig den bisherigen Rahmen der MC 7066. In einem Forderungskatalog für ein Gespräch zwischen Strauß und Norstad verlangte Kammhuber, die Luftverteidigung zugunsten der offensiven, nuklearen Rolle (strike) zu reduzieren. Da man ohnehin
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Die zitierten Dok. zur MC 70 in Anm. 59 machen hier widersprüchliche Angaben. BA-MA, BL 1/14705: Kommandeursbesprechung 2/57 vom 4.12.1957, S. 4. Nach Tuschhoff - Deutschland, S. 114 mit Anm. 119 - hatte man extrapoliert, dass mit atomaren Heereswaffen die Angreifer nicht aufgehalten werden konnten, und verlegte sich daher auf nukleare Interdiction durch die Luftwaffe. Dazu unten, S. 188 f. und 252 f. BA-MA, BL 1/14647: Tgb. InspLw (bzw. Abteilungsleiter VI), Eintrag vom 1.10.1956. Der Reaktor sollte u.a. unter der Aufsicht von Prof. Heisenberg, einem der Pioniere der Kerntechnik, errichtet werden. Zum Folgenden ebd., BW 2/20064: Fü L/Kammhuber Sprechzettel für den Min. vom 14.10.1959, dazu auch Inhaltsverzeichnis für Sprechzettel Min./Gen. Norstad.
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nur einen Teil der Angreifer abschießen könne, sei es erheblich besser, deren Offensivkräfte im eigenen Land zu vernichten und zwar durch Atomwaffen (counter air). Dies bedeutete eine »Schwerpunktverlagerung zugunsten der Jabo-Verbände in zeitlicher und stärkemäßiger Hinsicht«. Die Luftwaffe konnte sich allzu ausführliches Eingehen auf Spielereien um Kriegsbild und planerische Aufstellungsvorhaben letztlich nicht leisten. Trotz der strategischen Positionsschwankungen und Unsicherheiten hatte man die beiden Kernbereiche, Luftangriff und Luftverteidigung, weiter taktisch auszugestalten. Da von Anfang an abzusehen war, dass die Erstausstattung nur von vorübergehendem Nutzen sein würde, mussten sofort die Grundlagen für die weitere Zukunft erarbeitet und vor allem die Ausrüstung, insbesondere die Kampfkomponenten, festgelegt werden. Für den Luftangriff gelangte man gemäß den bereits geschilderten taktischtechnischen Setzungen zu einem zweigliedrigen Grundsystem bemannter Waffensysteme, basierend auf einem leichten und einem schweren Jagdbomber. Die leichte Komponente für den »close air support«, wie sie später durch die Fiat G91 realisiert werden sollte, entstand direkt aus dem NATO-Zusammenhang heraus. Schon 1954 hatte die NATO einen Standardtyp für alle Partner gefordert, den Light Weight Strike Reconnaissance-Fighter (LWSR)67. Diese Maschine sollte leicht und rasch verlegbar sein, auf kurzen Startbahnen starten und landen, damit allzu rascher Vernichtung durch den Angreifer entgehen können. Als Bewaffnung sah man grundsätzlich sowohl konventionelle als auch atomare Munition vor. Der Entwurf beinhaltete allerdings zunächst eine rein konventionelle Bewaffnung und gab dadurch relativierenden Tendenzen in Bezug auf die Massive Retaliation in ihrer theoretischen Reinform Ausdruck. Die taktischtechnischen Grenzen zum Tagjäger für die Luftverteidigung waren fließend 68 . Der LWSR-Fighter sollte die »Einsatzmöglichkeiten der Luftwaffe bereichern«, wobei insbesondere auf die »Unterstützung des Heeres« verwiesen wurde 69 . Kurz gesagt, das Instrumentarium, das die NATO aus ihrer strukturellen Tiefe entwickelte, bot Optionen, die weit über ein mechanisches Zuschlagen hinausgingen, wie man dies aus der Massive Retaliation in ihrer theoretischen Reinform (z.B. Montgomery) eigentlich annehmen könnte. Die G-91 bestimmte man zum NATO-Standardmodell für Europa, ohne dies jedoch verbindlich durchsetzen zu können. Wichtige Staaten, vor allem Großbritannien und Frankreich,
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BA-MA, BL 1/222: SHAPE, Operational Plan for the NATO Lightweight Strike - Recce Aircraft, vom 27.4.1959. Die Planer waren sich über die Kongruenz von LWSR-Fighter u n d Tagjäger nicht ganz im Klaren. Ebd., BL 1/1751-1: Studie Luftverteidigung (Zeitraum ab 1962) vom 2.12.1957, S. 123. Die Tendenz ging jedoch eindeutig zum LWSR-Fighter. Für den Tagjäger sah man aufgrund der fehlenden Nacht- u n d Schlechtwettertauglichkeit keine Zukunft. BL 1/17511: Studie Luftverteidigung (Zeitraum ab 1962) vom 2.12.1957, S. 106, u n d Anl. 69. Dazu auch BL 1/14649: Tgb. InspLw, Eintrag vom 10.6.1958. Ebd., BL 1/222: Fü L II 4, Bericht über die Besprechung bei AIRCENT u n d SHAPE am 24./25.2.1959.
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übernahmen, im Wesentlichen aus wirtschaftlichem Eigeninteresse, den Typ nicht 70 . Der schwere Jabo w u r d e von Anfang an zum Politikum, weil recht rasch erkennbar wurde, dass der A u f w a n d für moderne Düsenmaschinen mit der nötigen Elektronik derart hoch sein würde, dass kein Staat außer den Supermächten mehrere Typen in großem Stile anschaffen konnte 71 . Da die Europäer erkannten, dass für die Hauptaufgaben - Interdiction, AWX-Jagd, Aufklärung - nur ein Typ in Frage kam, dieser dann aber in relativ großen Stückzahlen, richteten sich alle Augen darauf. Die Franzosen versuchten, ihren Typ, die Mirage III, zumindest an alle kontinentaleuropäischen Staaten zu verkaufen 72 . Die Entscheidungsfindung des deutschen Verteidigungsministeriums, deren Verlauf höchst aufschlussreich für die Stellung der Luftwaffe im politisch-militärischwirtschaftlichen Kräftefeld ist u n d daher in einem folgenden Kapitel ausführlicher dargestellt wird, fiel im Sommer/Herbst 1958 allerdings für den F-104Starfighter von Lockheed. Ursprünglich explizit als Hochleistungsjäger (AWXInterceptor) vorgesehen 73 , w u r d e der Starfighter in der Folge als multifunktionales Waffensystem, auch als Jagdbomber mit nuklearer Bewaffnung, beschafft 74 . Damit hatte man bei allem technischen Fortschritt für die bemannten Kampfverbände im Grunde die Typengliederung aus dem Zweiten Weltkrieg übernommen. Die G-91 entsprach im Wesentlichen den leichten Schlachtfliegern (v.a. Ju-87, Fw-190 - Jabo - bzw. Hs-129), die F-104 stellte das Äquivalent zur He-111 bzw. Ju-88 dar. Diese Grundkonstellationen änderten sich auch durch die strategische Entwicklung und die Einführung neuer Typen bis zum Ende des Kalten Krieges nicht wesentlich. Die taktischen Strukturen blieben elastisch genug, so dass ein radikaler Umbau nicht nötig wurde: Zunächst ausgehend von nuklearen Einsatzszenarien mit festen nuklearen Bombenzielen im Hinterland des Schlachtfeldes (Massive Retaliation) w u r d e dann ein Teil der schweren Jagdbomber für einen konventionellen Einsatz auch im Kampfgebiet (Flexible Response) vorgesehen. Auch damit sind zeit- und nationübergreifende Kontinuitäten verbunden: Die Amerikaner hatten beispielsweise 1944 keinerlei Skrupel, selbst ihre schweren strategischen Bomber für die direkte Heeresunterstützung einzusetzen. Die Luftwaffe blieb vom Grundcharakter her das dynamischste Element der Kriegführung. Dabei muss allerdings auch betont werden, 7
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Dahinter stand vor allem das Bestreben, die eigenen Entwicklungen z u m Nutzen der heimischen Rüstungsindustrie durchzusetzen. Die Franzosen z.B. hatten eigene Typen entwickelt (vor allem Etendard). BA-MA, BL 1/1574: Luftwaffenprobleme, die im Ständigen Rüstungsausschuss der WEU erörtert werden sollen, vom 17.4.1957, S. 7. Ebd., BL 1/1755: Vermerk über die Besprechung am 29./30.9.1956 bei Christofini, Chef des Internat. Sekretariats des Stand. Rüstungsausschusses in Hecourt/Normandie, S. 3-6. Ebd., BL 1/1575: WEU, Stand. Rüstungsausschuss, endg. Bericht über die Sitzung der AG f ü r die Erörterung der Luftverteidigung am 3.10.1957, v.a. S. 8 ff. BL 1/1755: Mitteilung über die Auswahl eines Jagdflugzeuges für die Bundesrepublik, mit Begleitdok. Ebd., BL 1/1562: Militärische Forderung Interceptor-Jagdflugzeug vom 29.6.1956. Ebd., BL 1/14697: Vortrag Kammhuber vor dem Vtdg.-Rat am 17.2.1959, S. 8. Ausführlicher dazu unten, Kap. IV.l.
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dass aufgrund der technischen und wirtschaftlich-finanziellen Rahmenbedingungen ein rascher Umbau gar nicht möglich war. Als vergleichsweise neues, wenn aus deutscher Sicht militärisch gesehen auch nicht unbedingt revolutionäres Element (vgl. V-Waffen bis 1939) kam nun die Boden-Boden-Rakete dazu. Ende der 50er Jahre begann man mit den ersten Planungen für die Beschaffung eines entsprechenden taktischen Waffensystems75. Zunächst liebäugelte man mit dem ferngesteuerten Marschflugkörper Mace/Matador, der jedoch wegen schneller Veraltung infolge taktischer Schwerfälligkeit nicht mehr eingeführt wurde76. Beschafft wurde lediglich eine Gruppe, die nicht über das Übungsstadium hinaus gelangte77. Zwischenspiel: Das Ausgreifen in strategische Dimensionen Noch während der Einführung dieses Systems, das Strauß nach einer heftigen Auseinandersetzung mit Helmut Schmidt im Verteidigungsausschuss des Deutschen Bundestages im März 1958 durchgesetzt hatte78, taten sich neue Dimensionen auf. Im Rahmen der Debatte um die Teilhabe an der Kontrolle über die Atomwaffen wurden auf NATO-Ebene ab Ende 1957 Vorschläge zur Einführung von MRBM-Raketen (Mid-Range Ballistic Missiles zur atomaren Vernichtung von Zielen jenseits des taktischen Kampfbereiches, Reichweite bis zu 3700 km79) unterbreitet80. Dahinter standen die Konflikte innerhalb des Bündnisses, wie sie sich bei der Entstehung der Nuklearstrategie ergeben hatten81. Die Kontinentaleuropäer, insbesondere die Westdeutschen, rechneten sich infolge des weitgehenden Nuklearmonopols der USA, der mangelnden Handlungsoptionen der Massive Retaliation bei Krisenlagen und des sich abzeichnenden strategischen Patts zwischen den Supermächten aus, dass es zu Situationen kommen konnte, in der ein beginnender Krieg in Europa von den USA um des eigenen Uberlebens willen gestoppt würde, um zu einem Kompromiss mit den Sowjets zu kommen. Aus der Perspektive der Bundesrepublik entstand die Möglichkeit, dass das eigene Staatsgebiet verwüstet würde, ohne dass es zum allgemeinen Atomkrieg gekommen wäre. Die Supermächte, ggf. auch die kleineren Mächte Großbritannien und Frankreich, hätten den Frieden auf Kosten der vernichteten Bundesrepublik für sich gesichert82. Ein massiver Vertrauensverlust und Ängste vor 75 76
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Ebd., BL 1/14705: Notiz über Besprechung mit den Gen. der Lw am 5.3.1959, Hardthöhe. Ebd., BL 1/176: Vortragsnotiz zu Matador/Mace vom 4.1.1961. Folgedok. Dazu auch Chef Stab Bw an den Min., Kurzbericht über die zweite dt.-franz. GenSt-Besprechung am 12. und 13.5.1961 in Paris, vom 5.6.1961, NHP-Dok. 067, S. 4 f. Dazu auch BA-MA, BL 1/14705: Kommandeursbesprechung 1/59 am 16.12.1959. Ebd., BW 1/54940: 13. Sitzung Bundesverteidigungsausschuss, III. Legislaturperiode (27.3.1958), Beschaffung von Matador-Rak. BA-MA, BL 1/176: Fü L II, Vorl. Kategorisierung/Def. Reichweiten von Missiles vom 12.5.1959. Hoppe, Zwischen Teilhabe und Mitsprache, S. 31-44. Siehe oben, S. 29-34. Dazu Heuser, NATO, Britain, S. 124-147. Es ist allerdings schwer vorstellbar, dass ein solcher Frieden nach einem solchen Krieg dauerhaft gehalten hätte.
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einem Alleingelassenwerden begannen sich zu entwickeln, die durch die von den Briten und Franzosen durchgeführten Truppenabzüge der Alliierten sowie entsprechende Pläne in Washington (Radford-Plan) und Mutmaßungen hinsichtlich eines möglichen Wiederauflebens der alten Koalitionen aus dem Zweiten Weltkrieg noch geschürt wurden. Man befürchtete, dass die Bundesrepublik schon im Frieden von den Alliierten militärisch weitgehend entblößt und in eine ungewisse, (teil-)neutrale Zukunft innerhalb einer entmilitarisierten bzw. truppenreduzierten Zone zwischen den Bündnissystemen entlassen würde83. Derlei Phantasien gingen auch in den Teilstreitkräften um und verstärkten dort ohnehin noch vorhandene nationale Reserven. So strebte Kammhuber danach, die territorialen Kommandobehörden, die Luftwaffengruppen, insgeheim so auszustatten, dass sie ggf. auch ohne Anbindung an die NATO als nationale Befehlsstellen operieren konnten 84 . Damit korrespondierte auch sein anfängliches Bestreben, die Luftverteidigung mit ihren Kampfverbänden nur formell der NATO zu unterstellen und sie de facto weitgehend unter nationaler Befehlsgewalt einzusetzen 85 . Derlei hatte nicht die geringste Chance auf Realisierung86. Mit den Mittelstreckenraketen glaubte man nun eine Möglichkeit zu haben, um aus dieser problematischen Lage herauszukommen, dabei aber die Interessen aller NATO-Partner wahren zu können. Es ging dabei in erster Linie um die Erteilung einer wie auch immer gearteten Verfügungsgewalt für die Bundesrepublik über Nuklearwaffen ggf. im Rahmen einer multinationalen Atomkampftruppe. Bis Mitte der 60er Jahre wurden zahlreiche Modelle präsentiert und diskutiert (MRBM, MLF, ANF, NNF)87. Aus westdeutscher Sicht waren hierbei vor allem drei Momente ausschlaggebend. Man konnte erstens Zugang 81
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BA-MA, BL 1/1753: InspLw, Gedanken zur weiteren Entwicklung strategischer Pläne und ihre Auswirkung auf die Aufstellungsplanungen der Bundeswehr, S. 9 f. Der Hintergrund in: Α WS, Bd 3, S. 148 ff. (Beitrag Thoß). BA-MA, BL 1/14705: Notiz über Besprechung mit den Gen. der Luftwaffe am 5.3.1959, Hardthöhe. Dazu auch BL 1/2: Rede Kammhubers vor den Stabsoffz. des Lehrgangs II Gesamtstreitkräfte in Sonthofen, Aug. 1956, S. 12. Ebd., BL 1/1502: Denkschrift Kammhubers, Einsatz und Führung der bodenständigen Luftvtdg. unter bes. Berücksichtigung der Bodenabwehr und ihrer Zusammenarbeit mit der Luftabwehr vom 22.3.1955, S. 39 und 77-81. Kammhuber, der sich dabei im Übrigen auf die MC 36 von 1951 berief, dabei verkennend, dass die damals getroffenen Regelungen nicht nur aus taktischen Gründen, sondern auch aus politischen (Status der Bundesrepublik als ehemaliger Kriegsgegner) sich nicht ohne Weiteres auf die dt. Lw anwenden ließen, konnte sich mit diesen Gedanken nicht durchsetzen, dies nicht zuletzt auch deshalb, weil sie teilweise genauso veraltet waren wie die bis dato noch gültige NATOVorschrift STANAG 3090. Dazu oben, S. 129 f. und Beitrag Krüger, S. 525-528 in diesem Band. Die MC 36 in: NATO Public Disclosure Programme, Exs (95)1, CD 1 von 7, Datei: MC_36_Eng_PDP, S. 10-13. Tuschhoff, Deutschland, S. 131 f. Zum Folgenden vgl. grundsätzlich Hoppe, Zwischen Teilhabe und Mitsprache, S. 31-370; Haftendorn, Kernwaffen, S. 107-183; Tuschhoff, Deutschland, S. 117-130, 276-344. Haftendorn, Das Projekt; Bluth, Britain, S. 10-104; Kelleher, Germany and the Politics, S. 122-269; Gablik, Strategische Planungen, S. 211-218 und 277-279; Steinhoff/Pommerin, Strategiewechsel, S. 105-131.
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zu wichtigen Informationen der Nukleartechnologie erlangen, zweitens im außenpolitischen Sektor in die erste Reihe vordringen und erhielt drittens eine Sicherheitsgarantie im atomaren Beziehungsfeld der Mächte. Dieser letzte Punkt war nachgerade entscheidend. Wenn die Bundesrepublik im europäischen Verbund bzw. im Rahmen der NATO eine primär den eigenen Interessen dienende Macht, gewissermaßen eine >nukleare< Schutztruppe, besessen hätte, hätte man Aggressionen aus dem Osten aus eigener Kraft begegnen können, ohne gleich auf das volle Atompotenzial der USA angewiesen zu sein. Kammhuber hatte dies vor seinen Kommandeuren 1957 mit den Worten wiedergegeben: »Die Stationierung von Raketeneinheiten in Europa ist [...] notwendig, um nicht sofort einen atomaren Weltkrieg auszulösen, wenn lokale Konflikte zu bereinigen sind. Die USA dürfen nicht in jede militärische Verwicklung hineingezogen werden, da dies die Ausrottung von Mensch und Kultur bedeuten würde. Europa muss die 3. Kraft neben den USA und der Sowjetunion werden88.« Derlei Hoffnungen entsprachen nun aber genauso wenig den amerikanischen Absichten wie die Bestrebungen, in irgendeiner Form eine direkte Kontrolle über Atomwaffen zu erhalten. Wie Charles de Gaulle dann im Juli 1964 gegenüber dem damaligen Staatssekretär im Außenministerium, Karl Carstens, kurz und prägnant erklärte: »Die Bombe bekommen Sie von den USA nie89.« Es wurden zahlreiche Modelle der atomaren Beteiligung geprüft und diskutiert. Die Palette der Vorschläge reichte von einer von den USA unabhängigen Macht auf NATO-Basis bzw. im europäischen Verbund bis zu einer multinationalen Truppe unter Einbeziehung von NATO-strike-forces unter Konservierung der bisherigen atomaren Besitzverhältnisse. Kompliziert wurden die Verhandlungen vor allem deshalb, weil die Amerikaner ja auch Mitglied der NATO waren und daher an der Truppe beteiligt werden mussten. Das Ziel der Bundesrepublik bestand demgegenüber ja gerade im Gewinn eigener Vollmachten, einer zumindest graduellen Loslösung von der totalen nuklearen Abhängigkeit von Washington. Bei der Realisierung von autonomen Modellen, wie z.B. dem Bowie-Plan von 1960, würden die Europäer eigene Entscheidungshoheit über eine begrenzte Anzahl von Atomwaffen bekommen haben. Derlei hätte eventuell dazu führen können, dass sie von sich aus einen Krieg begonnen hätten, in dessen Verlauf die Sowjetunion einen Globalschlag auch gegen Amerika geführt hätte. Derlei war für Washington unannehmbar. Die USA hatten den Gedanken an eine multilaterale Atomstreitmacht von Anfang an ohnehin weniger deshalb vertreten, um den Europäern eine eigene nukleare Kampftruppe zur Verfügung zu stellen, sondern, um das Bündnis politisch zu stärken, dabei gleichzeitig aber möglichst die Kontrolle über die atomaren Streitkräfte und Ambitionen der 88
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BA-MA, BL 1/14705: Kammhuber auf der Kommandeursbesprechung 2/57 vom 4.12.1957. Dazu auch BL 1/14705: Kommandeursbesprechung der Lw 2/61, am 10.6.1961, Fürstenfeldbruck, S. 1-3; auch Heuser, NATO, Britain, S. 145 f. Akten zur Auswärtigen Politik, II, S. 768.
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Europäer, insbesondere der Briten und Franzosen, zu bekommen 90 . Sämtliche Versuche scheiterten endgültig im Jahre 1966. Ende der 50er Jahre hegte man jedoch diesbezüglich noch große Hoffnungen. Insbesondere Strauß reagierte auf eine Ausstattung mit Mittelstreckenraketen positiv, weil er sich über eine mögliche Einflussnahme auf die atomare Planung der NATO eine Steigerung der politischen Bedeutung der Bundesrepublik und nicht zuletzt seiner eigenen Person erhoffte 91 . Für die Bundeswehr und insbesondere für die Luftwaffe stellte sich hier darin allerdings sofort die Frage nach der praktischen Zuordnung der entsprechenden Waffensysteme, sollten diese eingeführt werden. Aus Sicht der Bundesrepublik beinhalteten diese nämlich eine hohe Feuerkraft und erforderten einen vergleichsweise großen Aufwand an Personal und Material. Infolgedessen hätte sich eine massive Bedeutungsverschiebung innerhalb der Bundeswehr ergeben. Diejenige Teilstreitkraft, die sie zugeteilt bekommen hätte, wäre massiv aufgewertet worden 92 . Darüber hinaus stellte sich die Frage, ob derlei Waffen überhaupt angeschafft werden sollten, wenn infolge der begrenzten Ressourcen der Bundesrepublik dadurch wichtige andere Rüstungsprogramme und damit ggf. die Einsatzfähigkeit anderer Teilstreitkräfte im taktischen Bereich unmöglich wurde 93 . Die Luftwaffe winkte aus der praktischen Sicht zwar zunächst einmal ab, weil sie aktuelle, sehr große Probleme mit dem Aufbau und der Schaffung der nötigen Einsatzbereitschaft hatte (Personalmangel, logistische Probleme, Materialengpässe etc.)94, befürwortete jedoch eine entsprechende Entwicklung grundsätzlich, wenn diese im europäischen Rahmen erfolgte, der deutschen Regierung keine politischen Schwierigkeiten bereitete und die Waffensysteme in ihre Obhut kämen. Steinhoff, maßgebliches Mitglied des Führungsstabes der Luftwaffe und späterer Inspekteur, merkte in einer Diskussion mit Strauß Mitte 1959 an, dass die USA sich infolge der Unwägbarkeiten der sowjetischen Nuk90
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BA-MA, BL 1/1027: DMV-Bericht 1962/1, S. 30 ff. Zur Reaktion der Briten und Franzosen siehe Heuser, NATO, Britain, S. 63-123, und Twigge/Scott, Planning Armageddon, v.a. Kap. 5 und 9. Fischer, Zwischen Abschreckung und Verteidigung, S. 290-292. BA-MA, BL 1/1908: Gedächtnis-Protokoll Besprechung Vtdg.-Min. - Gen. Norstad vom 20.11.1959, S. 1-3; dazu auch Stellungnahme Fü II 1 vom 7.12.1959. Zur Gewichtung und Handhabung dieser Grundproblematik ebd., BL 1/4967: Fü S VII 4, 13. Kommandeurstagung der Bundeswehr, vom 21.7.1967, Vortrag von de Maiziere, Die Entwicklung des neuen strategischen Konzepts der NATO, seine Bedeutung und Folgen aus dt. Sicht, S. 19. Auch BL 1/1753: Insp. des Heeres, Auffassung des Heeres zur weiteren Entwicklung strategischer Pläne und ihre Auswirkung auf die Aufstellungsplanungen vom 16.10.1959, S. 24 f. In die Folgeplanungen stellte Fü Β dann bis zu 10 000 Mann für eine entsprechende Streitmacht ein. BL 1/4897: Endplanung der Bundeswehr und Zwischenziele 1965/66 vom 7.9.1962, Anl. 1 und 9. Ebd., BL 1/1753: InspMarine, Gedanken zur weiteren Entwicklung strategischer Pläne und ihre Auswirkung auf die Aufstellungsplanungen der Bundeswehr vom 9.11.1959, S. 3 ff., und Fü Η II, Stellungnahme zu den Studien über strategische Probleme, vom 9.11.1959, S. 10 f. Zum Folgenden vgl. grundsätzlich ebd., BL 1/1753: Aktenvermerk über Besprechung mit dem Min. betr. IRBM-Planung am 18.6.1959 und Aktenvermerk über informelle Besprechung mit Gen. Nicot über IRBM am 9.6.1959. Zahlreiche Begleitdok. Vgl. auch BW 17/12: MFR-Sitzung vom 24.8.1959, Protokoll vom 29.8.59, S. 2 f.
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learrüstung möglicherweise aus Europa zurückziehen würden. Daher müssten die Europäer eine eigene strategische Nuklearkomponente entwickeln 95 . Deutschland müsse sich daran beteiligen, um nicht den Franzosen, die auf jeden Fall eine MRBM-Raketen entwickeln würden, das ganze Feld zu überlassen und damit politisch von ihnen abhängig zu werden. Kammhuber, der schon 1956 der deutschen Rüstungsindustrie Anregungen zur Herstellung einer »operativen Fern-Rakete« gegeben hatte96, beanspruchte die MRBM, soweit sie landgestützt sein sollten, dann eindeutig für die Luftwaffe. In Zusammenarbeit mit US-Offizieren hatte er alsbald nach der ersten größeren Manifestation entsprechender Möglichkeiten, dem Beschluss des NATORates im Dezember 195797, mit ersten Planungen und Sondierungen begonnen. Im Zuge seiner Dienstreise zur Auswahl des Interceptors (Hauptwaffensystem der Luftwaffe) in die USA konferierte er mit Generalmajor Bernard Adolph Schriever über eine Ausrüstung mit Mittelstreckenraketen und erhielt sehr positive Signale98. Im Juni 1958 nahmen die Vorstellungen konkretere Formen an, als der Vertreter der USAF, Col. Nunziato, nähere Angaben machte. So sollte die Rakete ab 1963 zur Verfügung stehen und einen thermonuklearen Sprengkopf besitzen. Kammhuber meldete einen Bedarf von ca. 100 Stück an und gab dabei »zu bedenken, dass 2 - 3 Missile[s] dieser Art genügen, um z.B. Moskau zu atomisieren« 99 . Dem Inspekteur schwebte eine Streitmacht vor, die zwar nicht die ganze Sowjetunion vernichten konnte, aber doch zumindest das westliche Kraftzentrum, gewissermaßen den der Bundesrepublik zugewandten Teil. Nachdrücklich betonte er jedoch, dass eine entsprechende Ausrüstung der Luftwaffe erst nach den entsprechenden Vorgaben der Politik erfolgen konnte100. Auch war er sich nicht sicher, ob und wann diese Waffen überhaupt eingeführt würden 101 . Er erhoffte sich im Falle der Beschaffung aber eine klare Prädominanz der Luftwaffe, dies keineswegs nur im Geheimen. So betonte er etwa Mitte 1959 gegenüber dem Leiter der Luftwaffenabteilung der Führungsaka95
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Zur Position Steinhoffs vor der Nuklearisierung, d.h. auf der nuklearfreien Basis der EVG-Position, siehe BA-MA, BL 1/2: Vortrag Steinhoff vor dem Air Force Staff College, RAF, am 25.7.1957 (?), S. 12. Ebd., BL 1/14647: Tgb. InspLw (bzw. Abteilungsleiter VI), Eintrag vom 19.9.1956, Besprechung mit Vertretern von Telefunken. Vgl. dazu die Äußerungen von Strauß zu einer möglichen Super-Matador aus dt. Fertigung. BL 1/14648: Tgb. InspLw, Eintrag vom 11.12.1957, mit Protokoll über die Besprechung mit Vertretern der dt. Luftfahrt-, Motorenund Elektronik-Industrie, S. 4. Hoppe, Zwischen Teilhabe und Mitsprache, S. 37; Steinhoff/Pommerin, Strategiewechsel, S. 105. BA-MA, BL 1/1755: Einzelbericht Nr. L 20 (zur Insp-Reise), Gespräch zwischen GenLt Kammhuber und GenMaj Schriever am 25.2.1958. Ebd., BL 1/14649: Tgb. InspLw, Eintrag vom 18.6.1958. Ebd., InspLw, Eintrag vom 20.6.1958, mit Protokoll Kommandeursbesprechung 2/58, S. 1; BL 1/14650: Tgb. InspLw, Eintrag vom 21.5.1959. Ebd.: Eintrag vom 21.2.1959. Ob und wie ein europ. Verbund geschaffen werden sollte, sprach Kammhuber im Tagesgeschäft nicht an. Es ging zuallererst einmal um die Position der dt. Luftwaffe selbst. Lediglich einmal erwähnte Steinhoff eine »Gemeinschaftsgruppe« IRBM in Europa für taktisch-technische Forderungen, in die er lt. Kammhubers Anweisung als dt. Vertreter entsandt werden sollte. Ebd.: Eintrag vom 1.4.1959.
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demie der Bundeswehr, Brigadegeneral Sigismund Freiherr von Falkenstein, der anlässlich der Festlegung des Lehrstoffes für die inaugurierte Luftwaffenakademie (Neubiberg) zu bedenken gegeben hatte, dass die deutsche Luftwaffe auch die Verbindung zum Heer suchen müsse und sich daher auf eine direkte Unterstützung desselben an der Front einstellen müsse, dass derlei nicht in Frage komme und die Luftwaffe nicht nur ein eigenständiges Element darstelle, sondern auch mehr oder weniger allein für den Sieg sorgen könne und müsse, dies auch und vor allem durch strategische Kriegführung 1 0 2 . Andere Schwerpunktsetzungen seien einstweilen bedeutungslos. Kammhuber beschäftigte sich auch mit möglichen Kampfzielen und traf sich deshalb mit dem BND. In einer Besprechung ließ er sich von Reinhard Gehlen selbst beraten und bat, Zielunterlagen für strategische Feindobjekte bereitzustellen 103 . Daneben wurden auch taktische Ziele erörtert. Gehlen sagte die Lieferung entsprechender Daten zu. Man kam dann im Laufe der Zeit zur Erkenntnis, dass die sowjetischen IRBM, quasi die Gegenstücke zur geplanten MRBMforce, im Raum Königsberg (Kaliningrad), Lemberg (Lwow) und auf der Krim stationiert waren 104 . Als Vorbild für die Pläne der Luftwaffe diente die amerikanische Luftwaffe, die das Kernelement der strategischen Schlagkraft der USA darstellte und damit wenigstens bis 1961 die Dominanz im nationalen Verteidigungsapparat besaß. Ermutigt durch die starke Stellung der USAF, setzte die Luftwaffenführung die Gedankenspiele zum Aufwuchs zu einem strategischen Kampfelement fort, inaugurierte Kammhuber sogar die Ausrüstung mit der MRBM-Version der Minuteman (Reichweite 3700 km, als ICBM bis zu 10 000 km) 105 oder der Polaris (Reichweite der A l ca. 1800 km, der Al ca. 2800 km) 106 , eine Forderung, die von den anderen Teilstreitkräften als übertrieben und - zwischen den Zeilen - als politisch größenwahnsinnig bezeichnet wurde 107 . Hinter den Ambitionen Kammhubers stand eine Mischung aus einem nuklearstrategischen Absolutismus, noch nicht überwundenem Nationalstaatsdenken sowie der Adaption von Befürchtungen auf der politisch-militärischen Ebene vor einem möglichen stra102 103
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Ebd., Eintrag vom 10.7.1959. Ebd., BL 1/14649: Tgb. InspLw, Eintrag vom 23.7.1958, mit Notizen Besprechung InspLw beim BND. Ebd., BL 1/14650: Tgb. InspLw, Eintrag vom 10.12.1959. Die Parallelen in Bezug auf die Feindstationierung zur Situation Ende der 70er Jahre (NATO-Doppelbeschluss) sind offenkundig. Ebd., BL 1/14649: Tgb. InspLw, Eintrag vom 2.7.1958, mit Notiz über Besprechung mit Gen. Thatcher auf dem Fliegerhorst Büchel, S. 2. Vgl. auch Gablik, Strategische Planungen, S. 169. Ebd., BL 1/1753: InspLw, Gedanken zur weiteren Entwicklung strategischer Pläne und ihre Auswirkung auf die Aufstellungsplanungen der Bw, vom 16.10.1959, S. 17; BL 1/14648: Tgb. InspLw, Eintrag vom 31.1.1958, Protokoll Min.-Besprechung, S. 2; BL 1/14650: Tgb. InspLw, Eintrag vom 8.6.1959. Ebd., BL 1/1753: InspMarine, Gedanken zur weiteren Entwicklung strategischer Pläne und ihre Auswirkung auf die Aufstellungsplanungen der Bw vom 9.11.1959, S. 5 ff., und BL 1/1753: Fü Η II, Stellungnahme zu den Studien über strategische Probleme, vom 9.11.1959, S. 6 ff.
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Versuch zum Aufbruch in die strategische Liga: die Polaris A1 als mögliche Mittelstreckenrakete für die deutsche Luftwaffe picture-alliance/dpa Übernahme der Pershing in den USA: Deutsche und amerikanische Soldaten beim Üben am Fotosammlung Rink Gefechtskopf
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tegischen Alleingelassenwerden seitens der Amerikaner. Aus diesen Beweggründen hatte er auch darauf hingearbeitet, die entstehenden Kommandostrukturen notfalls autonom, ohne übergeordnete NATO-Stäbe, einsetzen zu können108. De facto liefen diese Postulate, wie Heer und Marine durchaus richtig bemerkten, jedoch auf eine Neudefinierung des strategischen Status hinaus. Kammhuber war dabei, ein Aufrücken von Bundeswehr und Luftwaffe in die global- bzw. eurostrategische Liga zu fordern. Dies verlangte er im Grunde schon, seit er sich näher mit der Massive Retaliation beschäftigte, d.h. spätestens seit 1957: »In Europa müssen Einheiten mit Mittelstrecken-Raketen stationiert werden, die, im Falle eines Krieges, Terrorziele angreifen, um dem Feind das gleiche zuzufügen, was er der westlichen Welt anzutun gedenkt [...] Europa muß die 3. Kraft neben den USA und der Sowjetunion werden109.« Worte, die, unabhängig vom näheren Inhalt, auch 2003 einen aktuellen Klang besitzen. Die Luftwaffe hielt sich also grundsätzlich die Option zumindest auf eine eurostrategische Nuklearkomponente offen; dies nicht zuletzt auch deshalb, da mit »den Luftwaffensystemen die Bundesregierung erheblich mehr Staat machen« konnte als mit Heeressystemen 110 . Man hatte bereits auf Weisung des Ministers begonnen, sich erste Überlegungen über die Beschaffung von Mittelstreckenraketen zu machen. Dazu war auch eine USA-Reise von militärtechnischen Spezialisten aus Heer und Luftwaffe für das Frühjahr 1959 anberaumt worden. Da die Amerikaner die Minuteman ausschließlich als schwere Interkontinentalrakete entwickelten111, blieb nur noch die Polaris übrig112. Die USAF bemerkte, dass auch eine Umrüstung auf die Flüssigstoffraketen Thor aus den Verbänden der leichteren Matador, mit der die Luftwaffe gerade versuchsweise ausgerüstet wurde 113 , bzw. der Mace möglich war114. Kammhuber besaß hier analog zur Verfahrensweise bei der Beschaffung des Interceptors - allerdings kein größeres Interesse, da die Thor und die Jupiter, die darin auch in Italien, Großbritannien und in der Türkei stationiert wurden, nicht mehr zu den modernsten Systemen gehörten. Sie wurden im Zuge der Beendigung der KubaKrise auch wieder abgebaut. Für kurze Zeit überlegte man auch, eventuell die alsbald zur Ausmusterung anstehenden F-84 als unbemannte Träger für Nuklearwaffen zu verwenden. Wie der Hersteller, Republic, bei einem Besuch verkündete, hatte man schon
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D a z u oben, S. 161 f. BA-MA, BL 1/14705: K o m m a n d e u r s b e s p r e c h u n g 2/57, 4.12.1957, S. 3 f. D a z u auch Der Spiegel 1961, Nr. 15, S. 23. Vgl. auch BA-MA, BL 1/1753: InspLw, G e d a n k e n z u r weiteren Entwicklung strategischer Pläne u n d ihre A u s w i r k u n g auf die A u f s t e l l u n g s p l a n u n g e n der Bw, v o m 16.10.1959, S. 11-16, sowie BL 1/14705: K o m m a n d e u r s b e s p r e c h u n g 2/61 a m 10.6.1961, Fürstenfeldbruck, P u n k t A.1-A.4. Tuschhoff, Deutschland, S. 112. BA-MA, BL 1/14650: Tgb. InspLw, Eintrag v o m 25.11.1959. Ebd., Tgb. InspLw, Eintrag v o m 30.11.1959. Ebd., BL 1/14648: Tgb. InspLw, Eintrag v o m 9.1.1958. Ebd., BL 1/14649: Tgb. InspLw, Eintrag v o m 31.10.1958.
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sechs Maschinen erfolgreich getestet. Geplant war, Atomwaffen von 300 kt gegen Ziele von bis zu 2400 nautische Meilen Entfernung einzusetzen 115 . Die Sache verschwand jedoch in der Schublade, so dass als einzige Alternative weiterhin die MRBM in Frage kamen. Hätte man sich in Bonn entschieden, die Raketen einzuführen, hätten Luftwaffe und Heer den Anlauf zu einer strategischen Bewaffnung unternommen. Wie dies allerdings in Bezug auf Personal, Material und Finanzen hätte realisiert werden können, bleibt ebenso unbeantwortet wie die Frage nach der Zugehörigkeit der neuen Waffen. Wie bei der bodenständigen Flugabwehr und den Flugkörpern mit geringerer Reichweite beanspruchte man jeweils den entscheidenden Teil für sich. Entsprechende Diskussionen und Entscheidungen hätten erst noch geführt werden müssen. Letztlich erlebte die Luftwaffe mit ihren begrenzten Ressourcen trotz der europolitischen Raketenperspektive Steinhoffs und möglicher Begehrlichkeiten, im Atomkarussell mitzumischen, kein größeres Drama, da die ganze Debatte um die Mittelstreckenraketen und die NATO-Atomflotte (MLF) im Sande verlief. Man blieb auf dem Teppich, musste es auch bleiben und fuhr letztlich nicht schlecht damit. So musste man sich statt der Mittelstreckenraketen mit einem Nachfolgesystem für die Matador/Mace, die technologisch gesehen einen Vorläufer der Cruise Missile darstellte, begnügen 116 . Die Verantwortlichen entschieden sich für die Pershing, eine vergleichsweise leichte Rakete mit einer Reichweite unterhalb der Mittelstreckenraketen (bis zu 740 km)117. Die Pershing wurde in der zweiten Hälfte der 50er Jahre für den Einsatz durch die US-Army auf dem Gefechtsfeld entworfen und für den europäischen Bereich dann von der USFührung als Ersatz für Strike-Flugzeuge definiert118. Im Gegensatz zu den schweren Mittelstreckenraketen besaß sie die Fähigkeit zum mobilen Einsatz. Sie wurde der Luftwaffe im Rahmen der atomaren Strike-Pläne der NATO zugewiesen. Für die Amerikaner dürfte dies den positiven Nebeneffekt gezeitigt haben, dass die Pershing, anders als die Mace, zu einem direkten Einsatz gegen die sowjetischen Westgebiete nicht in der Lage war (Reichweite der Mace ca. 1600 km119) war. Die deutschen Streitkräfte blieben aus US-Sicht dem rein taktischen Bereich verhaftet. Die schwerste Rakete der deutschen Luftwaffe ging 115 116 117
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Ebd., Tgb. InspLw, Eintrag vom 14. und 27.5.1958. BA-MA, BL 1/176: Vortragsnotiz, Beweglicher Einsatz der MACE-B, mit Begleitdok. Die Pershing war von SACEUR ursprünglich als Zusatzwaffe im unteren Bereich (zusätzlich zu den »schweren« MRBM) konzipiert worden. Nach massiven Interventionen der Amerikaner und auch der Briten auf der Ebene der GenSt-Chefs blieb dann die Pershing übrig. Bei der Besprechung machten die USA und Großbritannien die Grenzen von SACEUR in Bezug auf die globale Perspektive, wenigstens so wie sie diese verstanden, recht deutlich. SACEUR und SHAPE besaßen danach klar regionalen Charakter. PRO, DEFE 4/175, Annexure to Appendix 3 to Annex to COS 2274/12/6/64. Zur Frühgeschichte der Pershing bis Mitte der 60er Jahre siehe BA-MA, BL 1/176: Heeresattache Botschaft Washington vom 12.5.1960, dritter erfolgreicher Abschuss einer Pershing, v.a. S. 3 f. BA-MA, BL 1/2106: Unterlagen über Pershing-Briefing am 8./9.2.1961 durch US-Teams bei Fü Β vom 17.3.1961. Ebd., BL 1/1027: DMV-Bericht 1960/1, Anl. 1 Astrolog, A status report on US missiles and rockets and all space vehicles presently in orbit, S. 17.
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nicht über das Äquivalent einer Gefechtsfeldwaffe der US-Army hinaus 120 . An dieser Situation konnte auch die Argumentationskette, die man sich bei Fü Β und auch bei Fü L geschaffen hatte, nichts ändern. Man hatte darauf verwiesen, dass die Strike-Verbände, die man gerade aufbaute, auch die neuen F-104Geschwader, gegenüber den schnelleren und praktisch unverwundbaren ballistischen Raketen veraltet seien und dass dadurch eine gefährliche Sicherheitslücke entstünde, die es der Sowjetunion erlaube, damit zu drohen, Europa getrennt zu vernichten und damit möglicherweise auch Gewinne ohne Krieg zu erzielen121. Derlei Argumentation stieß bei den Briten und Amerikanern genauso auf taube Ohren wie Zweifel in Bezug auf das rechtzeitige Eintreffen der strategischen Verbände (external forces) der USAF bzw. der RAF zum Einsatz in Osteuropa und deren Wirksamkeit. Der Führungsstab der Luftwaffe sah die Ära des Kampfflugzeuges ohnehin noch nicht zu Ende gehen. Wie im folgenden Kapitel noch darzustellen sein wird, bildete auch hier das traditionelle Argument die Hauptbasis: die Flexibilität. Dessenungeachtet beanspruchte man die Pershing selbstverständlich für sich und musste sich daher zunächst wieder mit den anderen Teilstreitkräften, in diesem Falle insbesondere dem Heer, auseinandersetzen, das, gestützt auf Empfehlungen des internationalen Rüstungsorgans Finabel, alle Flugkörper mit einer Reichweite bis zu 300 km für sich beanspruchte 122 . Erst nachdem dieser Anspruch zurückgewiesen werden konnte, war der Weg für die Bewaffnung der Luftwaffe mit bodengestützten Angriffsraketen frei. Die Nuklearisierung und das Einsatzraster der Luftwaffe Die praktische Nuklearisierung wurde von den Diskussionen um die BodenBoden-Raketen nur wenig beeinflusst. Dies lag vor allem daran, dass die gewaltige Steigerung der Vernichtungskraft durch die Atomwaffen zwar Einfluss auf die politisch-strategische Gesamtlage und damit auch auf die geistigstrukturelle Position der Luftwaffe in der NATO hatte, nicht jedoch auf die 120
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Ebd., BL 1/2106: Unterlagen über Pershing-Briefing am 8./9.2.1961 durch US-Teams bei Fü Β vom 17.3.1961, S. 13, und Anl. 1, S. 1 und 8; BL 1/72: Bericht von Ο Rödel über WS Pershing, Stand: 20.3.1962 mit Begleitdok. Ebd., Fü Β III, Sprechzettel für Genlnsp für die Bundesverteidigungsrats-Sitzung am 30.8.1961, NHP-Dok. 071, Begleitdok. Erklärung des Min. zu Punkt II A (2), S. 2 ff.; Fü Β III 1, Besprechung mit US-Präsident, US-Vtdg.-Min. und anderen amerik. Persönlichkeiten - Sprechzettel vom 18.11.1961, NHP-Dok. 081; Fü Β III 1, Sprechzettel für Sitzung Bundesverteidigungsrat (5.12.1961) vom 4.12.1961, NHP-Dok. 082; Fü Β III, Strategische und nukleare Planung der N A T O vom 8.2.1962, NHP-Dok. 086; Fü Β III 1, Sprechzettel für Besuch des Min. bei Gen. Norstad am 6.3.1962, NHP-Dok. 088, Fü Β III, Kurzfassung Stikker-Memo v o m 4.9.1962, Nukleare Strategie der NATO, besonders Frage der Aufstellung einer MRBM-Streitmacht, NHP-Dok. 105, Fü Β III 8, Geheime Arbeitsunterlage, MRBM-Problematik, Kommentar zum Fragebogen, vom 20.10.1962, NHPDok. 110. Siehe auch Dok. 119, 127, 128, 132, 137, 147, 148, 154, 160, 169. Die Argumentation ähnelt im Wesentlichen der im Falle des NATO-Doppelbeschlusses von 1979 zur Einführung der Pershing II und der Cruise Missile, mit dem Unterschied, dass in diesem Fall die Stationierung dann erfolgte. BA-MA, Fü Β III 8, Stichworte für Einleitungsvortrag Min. vom 20.2.1963, S. 12.
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militärische Einsatzstruktur. Insofern nimmt es nicht wunder, dass bei der Ausrüstung mit Atomwaffen in erster Linie personelle, logistische und rechtliche Probleme zu bewältigen waren. Derlei musste vor allem auf organisatorischem Wege angegangen werden. Nach den grundlegenden Entscheidungen und der Verabschiedung der MC 70 begann man darin auch mit den ersten Vorbereitungen. Strauß und der zuständige US-General Herbert Thatcher, Chef der Μ Α AG, trafen sich Ende Mai 1958, die nötigen Grundfragen abzuklären123. Das Unternehmen erhielt die Bezeichnung »Wagon Train« und setzte bei einem der ersten beiden aufgestellten deutschen Jabo-Verbände, der 1. Staffel des JaboG 33 in Büchel (offizielle Indienststellung am 2. Juli 1958) an, die dazu beschleunigt auf Kampfstärke gebracht wurde 124 . Da die neuen Typen erst nach 1960 bereitstehen würden, musste man die Nuklearisierung mit den vorhandenen Maschinen der Erstausstattung vornehmen (F-84 F Thunderstreak), was allerdings den Vorteil besaß, dass man die Prinzipien der USAF, deren erste nuklearfähige Verbände in Europa mit der F84 G Thunderjet, dem Schwestermodell der Thunderstreak, der F-86 Sabre und der Thunderstreak selbst ausgestattet waren, übernehmen konnte125. Die allererste Flugzeugführer-Generation der Staffel wurde im Juli 1958 nach Fürstenfeldbruck entsandt und dort für den Nukleareinsatz ausgebildet126. Die ersten Übungsflüge (Hochangriff) erfolgten auf dem Übungsplatz Siegenburg127. Fast gleichzeitig begann man am Standort des Geschwaders mit der Errichtung eines Sonderlagers für die Atommunition 128 . Im Laufe der 60er Jahre erfolgte dann 123 124
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Ebd., BL 1/14649: Tgb. InspLw, Eintrag vom 27.5.1958. Zu Wagon Train siehe ebd., BL 1/680: Dok.-Sammlung 1958. Vgl. auch die entsprechenden Einträge in BL 1/14649: Tgb. InspLw (21., 23. und 25.6., 17.7., 27. und 30.10. sowie 3.11.1958). Gordon, Thunderjet to Phantom, S. 55-58. Die F-86 Sabres, die im Dienst der dt. Lw standen, waren nicht nuklearfähig und dienten nur als Abfangjäger. Die USAF benutzte atomar bestückte F-86 (Versionen F, F-35 und H). Siehe auch National Museum of the USAF, North American F-86 »Sabre«, (14.12.2004), URL: und North American F-86H »Sabre« (14.12.2004), URL: (Kopien der Websites bei B.L.). BA-MA, BL 1/14649: Tgb. InspLw, Eintrag vom 8.8.1958. Vgl. auch Eintrag vom 16.10.1958. Die Nuklearausbildung fand nach dem Abzug des US-Ausbildungskommandos in den Verbänden (neben JaboG 33 zunächst JaboG 31) selbst statt. BL 1/680: Fü L II 4, Besprechungsnotiz am 2.12.1959 über LABS-Ausbildung bei Jabo 31 und Jabo 33 (Dazu weitere Begleitdok.). Zum Folgenden grundsätzlich ebd., BL 1/4900: Dok. zur Herstellung der sofortigen Einsatzbereitschaft 1./JaboG 33 und Wagon Train, Juni bis Sept. 1958. Die Sonderlager besessen eine doppelte Umzäumung. Die Gesamtanlage wurde von dt. Wachpersonal geschützt, während der nochmals mit Stacheldraht gesicherte Innenbereich mit den Nuklearwaffen von US-Spezialtrupps, den sog. Custodial Teams, besetzt war. Die dt. Lw sorgte in weitestgehendem Maße für Versorgung und Transport, hatte aber zu keiner Zeit Zugriff auf die A-Waffen. Alle direkten technischen Befugnisse, etwa auch die Vernichtung von Atommaterial, lag ausschließlich bei der Custodial-Truppe der USA. BA-MA, BL 1/4900: Entwurf (11.9.1959) zu Technische Vereinbarung zwischen dem OB der US-LSK in Europa und dem Bundesmin. für Vtdg der Bundesrepublik über die von der Deutschen Lw bemannten Flugzeug-Atomeinsatzsysteme und dazugehörigen Anla-
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die atomare Bestückung129. Die praktische Ausbildung für die Flugzeugführer (Bombenabwurf) fand hauptsächlich auf dem NATO-Übungsplatz Decimomannu (Sardinien) statt130. Dort testete man vor allem Tiefangriffe, die zentrale Angriffsform der künftigen atomaren Kampfverbände 131 . Die Nuklear-Geschwader blieben weiterhin vor allem auf »counter air« und »interdiction« angewiesen, mussten die entsprechenden Ziele nunmehr aber mit Atombomben bekämpfen. Jeder Pilot erhielt ein oder mehrere Ziele zugewiesen, die er sich fest einzuprägen hatte. Anders als im Zweiten Weltkrieg war kein fortgesetzter rollender Einsatz der jeweiligen Einheit gegen ein- und dasselbe Ziel mehr zu erwarten. Auch die Beschäftigung mit B- und C-Waffen änderte an den Grundeinsatzkonzepten nichts. Ende der 50er Jahre begann man sich in den Führungsstäben der Bundeswehr mit der Frage zu befassen, was geschehen solle, wenn der Gegner biologische oder chemische Waffen einsetze132. Vor allem das Heer kam
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gen. Auch in BL 1/1908 mit früherem Entwurf. Für die Lw kamen vor allem drei Lagertypen in Frage: Typ C: Jabo; Typ D: Mace/Matador; Typ F: NIKE. Dazu auch unten, S. 233-237. BA-MA, BL 1/182: Fü L II 1, Beiträge zur Handakte für den Genlnsp, Aufstellung und Kartenübersicht der Übungsplätze der Luftwaffe vom 24.7.1961. Informationen zu Decimomarunu und den anderen Schießplätzen in BL 1/4898: Fü L III 3, Aufstellungsstand Bodenorganisation, Abschnitt Luftwaffen-Übungsplätze, 15.9.1962, für die beteiligten Stellen vgl. BL 1/87: Befehl für die Sonderwaffenausbildung für JaboG 32 vom 4.4.1966. BL 1/1886: Mitbenutzung des NATO-Luftwaffen-Übungsplatzes Decimomannu durch die dt. Luftwaffe vom 22.11.1959, mit entsprechender Verbalnote etc. Es waren dies vor allem: Low Altitude Drogue Delivery (LADD), d.h. Wurf unter Ausnutzung der Geschwindigkeit des Jets, danach Abbremsung durch Fallschirm, und Lay Down (LD), d.h. Abwurf aus dem Tiefflug, Zeitzünder bei der Bombe. Acronyms and Codenames FAQ, L-N, hrsg. von Emmanuel Gustin (1.12.2004), URL: , Usenet Archives, collected by Norman Yarvin (1.12.2004), URL: http://yarchive.net/mil/dive_toss.html, USAF INTELLIGENCE TARGETING GUIDE (1.12.2004), URL: (Relevante Kopien der Websites bei B.L.). Es musste eine Zeitmarge zwischen Abwurf und Detonation gegeben sein, um dem Flugzeugführer zu gestatten, sich mit seiner Maschine zu entfernen, um nicht selbst vernichtet zu werden. Andere Einsatzarten (Hochangriff) wurden zwar auch geübt, besaßen aber zumindest bis in die zweite Hälfte der 60er Jahre nur nachrangige Bedeutung. Dies galt im Übrigen auch für konventionelle Einsätze (auch G-91), bei denen v.a. auch Napalm-, Raketen- und Bordwaffen Verwendung fanden. Der klassische Einsatz von Sprengbomben im Hochangriff geriet allgemein mehr und mehr in den Hintergrund. BL 1/4531: Grundplan für die SORTIE-Verteilung für Luft/Boden- und Luft/Luft-Waffeneinsätze fliegender Verbände der Luftwaffe, vom 22.2.1968, mit zahlreichen Begleitdok. zu den dt. Luftwaffen-Schießplätzen und deren dort durchgeführten Ausbildungsarten. Hier auch genaue Auflistungen zu den einzelnen Einsätzen bzw. »slots« in den einzelnen Kampfarten. BL 1/4532: Befehl für die Nutzung des LuftwaffenÜbungsplatzes Decimomannu 1969 vom 18.12.1968. BL 1/903: Programm für die taktische Einsatzausbildung (TCTP - tactical combat training program), Specifications Anhang (Flugzeugführer), o.D. Zum Folgenden vgl., wo nicht anders angegeben, BL 1/5623: Τ II an Min. und Insp. etc., Situationsbericht der Möglichkeiten chemischer und bakteriologischer Kriegführung vom wissenschaftlichen Standpunkt vom 9.9.1959, Fü L III 1, B- und C-Kampfführung vom 29.11.1965 und Fü Η II 3, Bericht über die Planungsarbeiten auf dem Gebiet der ABCKriegführung. Zus. Begleitdok.
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im Laufe der Zeit zu dem Schluss, dass im Interesse einer lückenlosen Abschreckung die Möglichkeit auch zum Gegenschlag mit adäquaten B- und CWaffenbeständen in Betracht zu ziehen sei, etwa im Rahmen von Repressalien im Sinne des Völkerrechts, d.h. Vergeltungsangriffen mit den gleichen Waffen, um den Gegner von weiteren derartigen Angriffen abzuhalten. Die Luftwaffe prüfte die Frage und gelangte zum Ergebnis, dass sie das eigentliche Instrument für derartige Waffen darstelle und von den technischen Möglichkeiten her für entsprechende Einsätze ausgestattet werden könne (z.B. Sprühangriffe), aber wegen fehlender Ressourcen dazu überhaupt nicht in der Lage sei. Außerdem habe der Osten einen gewaltigen Vorsprung infolge massiver Produktion von B- und C-Waffen, der von der Bundeswehr in keinem Falle ausgeglichen werden könne. Von der NATO-Seite aus, in diesem Falle der beiden ATAFs, habe man, wie bekundet worden sei, keinerlei Pläne und Vorbereitungen getroffen. Praktische Vorbereitungen unterblieben daher erst einmal. Man beschränkte sich im Wesentlichen auf weitere Studien und Planungen133. Als das Heer allerdings um Unterstützung für die realistische Gestaltung von Manövern bat, rüstete man 1964/65 einige G-91 mit Übungssprühbehältern für die Feinddarstellung aus134. Der Aufbau der Luftwaffe im Rahmen der integrierten NATO-Luftverteidigung: Möglichkeiten und Grenzen Der Aufbau der Luftverteidigung als zweitem zentralen Gebiet des Aufgabenspektrums der Luftwaffe stützte sich wie beim Luftangriff auf strukturelle Erfahrungen seit 1935, unterlag infolge der Entwicklung auf dem Sektor der FlaRakete und der raschen Veraltung der Kanonenflak ebenfalls einigen technischen Wandlungen. Außerdem gab es, anders als bei der nuklearen Offensivkomponente, größte Schwierigkeiten bei der praktischen Umsetzung, da hier eine fast vollständige Integration auf der Tagesordnung stand. Dies wurde schon zu Beginn der Aufstellungsperiode recht rasch deutlich, als man sich mit den neuen Verbündeten an einen Tisch setzte. Sowohl auf bilateraler Ebene als auch in WEU und NATO wurde durchgängig und eindrücklich gefordert, eine integrierte Luftverteidigung für ganz Westeuropa unter Leitung der NATO aufzubauen135. 1957/58, also just in der Zeitspanne, in der alle wichtigen Entscheidungen über Auftrag und Ausstattung der Luftwaffen fielen (MC 70, 133
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Dazu auch ebd., BL 1/14705: Kommandeursbesprechung der Luftwaffe am 10.6.1961, Fürstenfeldbruck, Punkt 4. Infolge der derzeit eher unübersichtlichen Quellenlage können weitere Aussagen zu evtl. B- bzw. C-Waffenplanungen der Luftwaffe nicht getätigt werden. Ebd., BL 1/899: Kampfstoffdarstellungsmittel für Ausbildung im ABC-Abwehrdienst, Fü L II 1 vom 30.11.1964 (Constanze) mit weiteren Dok. Zu den Anfängen der integrierten NATO-Luftverteidigung vgl. vor allem Beitrag Krüger in diesem Band, S. 487-556. Zus. BA-MA, BL 1/1571. Die Luftverteidigung der NATO war bei ihren Anfängen 1951 eine rein nationale Sache gewesen. Erst im Dez. 1955 hatte der SACEUR von den Min. die Erlaubnis zur Koordination der verschiedenen Systeme erhalten, ohne jedoch integrierte Kdo-Befugnis zu besitzen. Dazu BL 1/5185: Vertretung der Bundesrepublik bei der NATO, Integration der Luftverteidigung, vom 6.1.1959.
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Nuklearisierung, Entscheidung für die Waffensysteme), trafen sich die Generalstäbe der WEU-Staaten und berieten über die Gestaltung 136 . Hier wie schon bei den Luftangriffsverbänden ergaben sich zentrale Grundparameter aus den strukturellen Zusammenhängen. Die technologischen Innovationen und die Weiterentwicklung der taktischen Konsequenzen waren bereits erfolgt (für die deutsche Luftwaffe: Aldingers Schachbrettmusterkonzept für FlaRak) und hatten im Verein mit den Leistungsgrenzen der NATOVerbündeten die strategischen und taktischen Alternativen auf ein Minimum begrenzt. Recht rasch war deutlich geworden, dass die Bundesrepublik und die NATO nicht die nötigen Ressourcen besaßen, um alle Gebiete maximal zu schützen, was angesichts der massiven Bedrohung aus dem Osten eigentlich eine Notwendigkeit gewesen wäre 137 . Es ergaben sich harte Auseinandersetzungen um die Schwerpunktbildung der FlaRak. Die Bundesrepublik hätte, wenn die Mittel schon nicht für eine konzentrierte Schachbrettverteidigung ausreichten, am liebsten einen massiven »missiles belt« an der Zonengrenze gesehen, während die westlichen Verbündeten vor allem einen Flächenschutz weiter im Westen zum Schutz der Strike-Verbände favorisierten. Es kam zu einer l a u warmem mittleren Lösung: Beschlossen wurde ein relativ schwacher FlaRakGürtel an der Grenze zur DDR und schwere FlaRak weiter westlich. Daraus entstand in der Folge die doppelte Luftverteidigung aus HAWK- und NIKERaketen in Kombination mit Jägereinheiten 138 . Die deutsche Seite konnte bei diesen Verhandlungen zunächst noch wenig beitragen, musste vielmehr erst einmal lernen, ihre Interessen näher zu bestimmen und zu vertreten. Die Briten und die Franzosen traten demgegenüber mit ausgeprägten Konzepten auf, hinter denen auch massive wirtschaftliche Interessen standen. Die Briten betrachteten sich nicht nur aufgrund geographischer, sondern auch genuin politischer Erwägungen als Sonderelement, definierten ihren Part im Wesentlichen aus der globalstrategischen Perspektive und verlegten sich in erster Linie auf den Schutz der schweren Bomberverbände 139 . Die Verteidigung der eigenen Zivilbevölkerung bezog man in typisch britischem Effizienzdenken, wie es sich schon bei den Kriegsvorbereitungen in der Zwischenkriegszeit bis 1939 gezeigt hatte (Vermeidung von »waste of effort«), als Nebeneffekt mit ein. Die eigenen Luftverteidigungsverbände schützten, indem sie die Bomberverbände abschirmten, Staat und Gesellschaft quasi automatisch mit. Bezüglich der Ausrüstung dachten sie nicht daran, Flugzeugmuster anderer Staaten zu übernehmen, und präsentierten stattdessen einen eigenen Typ ,3t
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Z u m Folgenden vgl. grundsätzlich ebd., BL 1/1755: Notiz über die Luftverteidigungsbesprechung bei S H A P E vom 2 1 . - 2 3 . 1 . 1 9 5 8 und BL 1/1575: WEU, Ständiger Rüstungsausschuss, endgültiger Bericht über die Sitzung der A G für die Erörterung der Luftverteidigung am 3.10.1957 mit Begleitdok. Ebd., BL 1/1751-1: Studie Luftverteidigung (Zeitraum ab 1962) vom 2.12.1957, S. 113. Über die Gewichtung beider Elemente wurde keine Einigung erzielt. Das dt. Bestreben nach besonderer Gewichtung der vorderen Zone wurde durch den Einspruch der Briten gestoppt. Uber weitere Fragen, etwa den Einsatz atomarer Luftverteidigungsmittel, wurde zumindest zunächst überhaupt kein Konsens erzielt. Als Hintergrund hierzu Melissen, The Anglo-American Relationship.
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(P.l Lightning), eine reine Luftverteidigungsmaschine, die sie gleichzeitig als den letzten bemannten Jäger bezeichneten. Für die Zukunft gedachte man sich ausschließlich auf eine Raketenabwehr zu beschränken. Dies hielt die Briten aber nicht davon ab, den Europäern weitere Neuentwicklungen aus eigener Hand quasi als Konkurrenzprodukte zur Mirage anzubieten (P.177/Fireflash)140. Die Franzosen lehnten eine derart >abgehobene< Perspektive, wie sie die Briten vertraten, als unmöglich ab, da Frankreich im Bereich des kontinentaleuropäischen Schlachtfeldes lag und daher nach Meinung der Militärs auch im Wesentlichen taktisch verteidigt werden musste, ohne jedoch die Unterhaltung strategischer Nuklearverbände überflüssig zu machen. Bekämpft werden mussten feindliche Landstreitkräfte mit Kurz- und Mittelstreckenraketen (Boden-Boden) und taktischen Luftstreitkräften. Dazu hatte man auch die Unterstützung der in der Bundesrepublik stationierten eigenen Heeresteile zu gewährleisten. Für diese und andere Aufgaben präsentierte man den Einheitsjagdtyp, die Mirage III, die seit 1953 entwickelt wurde. Die französischen Vertreter in der WEU versuchten dementsprechend, die Mirage als Standardflugzeug zumindest für die kontinentaleuropäischen Partner durchzusetzen. Für den eigenen Bereich sah man den schwereren Schwestertyp, die Mirage IV (Doppeltriebwerk), zusätzlich als strategischen Nuklearbomber vor141. Mit der Mirage III sollte die Luftverteidigung derart bestückt werden, dass ein Einsatz neben SAM-Raketen (Boden-Luft-FlaRak) möglich wurde. In der Frage der primären Integration der Luftverteidigung stellten sich die Franzosen auf fast allen Ebenen quer, dies insbesondere, nachdem de Gaulle am 8. Januar 1958 als Präsident der V. Republik eingesetzt worden war. Die erkannten und von allen Partnern akzeptierten Grundparameter hätten die Aufgabe gewisser Souveränitätsrechte und vor allem die Einfügung nationaler Militärkomponenten in die europäische Luftverteidigung nötig gemacht. ΝΑΊΌweit war erforderlich: eine integrierte Luftverteidigungsorganisation vom Nordkap bis in die Türkei mittels Einbringung massiver Teile der nationalen Fernmelde- und Radareinrichtungen unter Einschluss der Kampfmittel (Jäger und Flak/FlaRak). Dazu war man in Paris keineswegs bereit und blockierte daher die Verhandlungen über den Aufbau innerhalb der NATO fortlaufend (MC 54/1 )142. Dahinter stand die Weigerung de Gaulles, sich von außerfranzösischen Befehlsstellen irgendwelche Befehle erteilen zu lassen. Erst 1960 erzielte man dann eine Einigung143. Die Franzosen stimmten zu, dass die Kampf- und 140
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BA-MA, BL 1/1575: Note by the United Kingdom Delegation, Co-ordinated Production of Air Defence Equipment in WEU vom 18.12.1957. Ebd., BL 1/11151: Dt.-franz. GenSt-Besprechungen, 18./19.6.1964. Ebd., BL 1/5185: Fü Β III, Vertretung der Bundesrepublik bei der NATO, Integration der Luftverteidigung vom 6.1.1959, mit zahlreichen Begleitdok. zu den Verhandlungen über den Aufbau einer integrierten Luftverteidigung und die entsprechenden NATO-Papers MC 54/1, MC 66 und MC 81; BW 9/2528-1; BMVg, IV - IV A 1, Führungs-Weisung Nr. 3, Die milit. Befehlswege im Kriege, vom 5.1.1957, S. 3, und BL 1/5185, Fü L II 3, MC 54/1, vom 5.10.1959. Zum Folgenden grundsätzlich ebd., BL 1/1027-7 und 1027-9: Berichte des DMV im MC/NATO (BG Steinhoff): 1960/III, S. 30 ff., und 1961/1, S. 73 f.
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Fernmeldeeinheiten der französischen Luftwaffe in der Bundesrepublik und im äußersten Osten Frankreichs (1er CATAC) in die NATO-Luftverteidigung integriert wurde. Das Recht zur Gewaltanwendung lag beim Kommandeur dieses Großverbandes, nicht bei den NATO-Stellen. Die nationale französische Luftverteidigung (DAT) blieb dagegen unter französischem Kommando (nationaler Einsatzstab) und wurde mit der NATO-Luftverteidigung lediglich koordiniert. Das was alle Experten, insbesondere auch die deutschen, als nötig betrachteten, die vollständige Übertragung der Befehlsgewalt an den SACEUR und seine Einsatzstäbe, hatte sich nicht verwirklichen lassen. Die nationalen Egoismen waren und blieben weiterhin ein zentrales Merkmal und gleichzeitig eine Gefahr, die an die Grundfesten des Bündnisses rührte144. Das was in den Rüstungsausschüssen vor allem innerhalb der WEU begonnen hatte, setzte sich hier fort: Nationale Eigeninteressen vor allem wirtschaftlicher Art dominierten über das Kollektivinteresse der Integration145. Die neuentstandene deutsche Luftwaffe bemerkte schnell, dass auf der Basis einer derart vielgestaltigen Meinungslandschaft kein konstruktiver Aufbau möglich sein würde, und betrachtete die Diskussion vor allem innerhalb der WEU bald als überflüssige und lästige diplomatische Pflicht146. Bilaterale Gesprächen boten die gleichen, wenn nicht sogar besseren Anhaltspunkte. Die höchste militärische Ebene der NATO traf letztlich nur minimale eigene Führungsentscheidungen, war auch dazu nur imstande, wenn es gar nicht mehr anders ging, und einigte sich auch dann lediglich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner. Gestalt und technisch-taktische Merkmale, kurz die gesamte konzeptionelle Grundarbeit, kamen von den unteren Ebenen, d.h. den nationalen Instrumenten, also den militärischen Leitungsstäben, den Teilstreitkräften und den jeweils zuständigen Dienststellen und Organen der Wehrplanung und Rüstungsorganisation. Diese bereiteten - teils in internationaler Zusammenarbeit - die strukturellen Grundlagen auf, so z.B. die Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg unter Beachtung der technologischen Fortschritte. Die Tätigkeit der NATO-Führungsgremien erinnert in vielem an das britische Ausschussmodell in der Zwischenkriegszeit. Unter der Führung des Committee of Imperial Defence, einem Spitzenausschuss, war ein kompliziertes Netzwerk 144
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Ebd., BL 1/1575: Bericht über Sitzung des Ständigen Rüstungsausschusses der WEU in Paris am 3.10.1957, S. 1. Die mühsame und zähe Arbeit in der WEU kann durchaus mit den heutigen Bestrebungen und Verhandlungen im Rahmen der europ. Einigung verglichen werden. Allzu häufig blieb außer der Bekundung von gutem Willen und Hoffnungen wenig übrig. Das im Gegensatz zur akut empfundenen Bedrohungslage angesichts des milit. Potenzials der Sowjetunion langsame Fortkommen ist gut dokumentiert, in: ebd., BL 1/1575: etwa Projet de Rapport Semestriel DU CPA au Conseil de L'UEO, 2. Hälfte 1956, vom 19.11.1956, und BL 1/1574: Lw-Probleme, die im Ständigen Rüstungsausschuss der WEU erörtert werden sollen, vom 17.4.1957. Zus. BL 1/1755: Vermerk über die Besprechung am 29./30.9.1956 bei Christofini, Chef des Internationalen Sekretariats des Ständigen Rüstungsausschusses in Hecourt/Normandie, mit Begleitdok. Ebd., BL 1/1575: Fü L an den Delegierten der Bundesrepublik beim Ständigen Rüstungsausschuss der WEU vom 15.11.1957.
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unterschiedlicher Ausschüsse tätig gewesen. Die konzeptionelle Arbeit wurde fast ausschließlich in den unteren Exekutiv- und Organisationsausschüssen erledigt, während die Entscheidungsgremien (Policy Committees) die Ergebnisse der unteren Ausschüsse allzu häufig ins Kabinett durchreichten bzw. - wenn entsprechend legitimiert - endgültig beschlossen und nur dann eingriffen, wenn politische oder propagandistische Probleme drohten 147 . Die deutsche Luftwaffenführung musste sich hier erst einmal eine eigene Position erarbeiten, was dann auch recht rasch erfolgte. Die technisch-taktische Grundlagenarbeit für die Luftverteidigung hatte man im März 1957 im Wesentlichen abgeschlossen und in der »Studie Luftverteidigung 1960« festgelegt148. Die Adaption der NATO-Strategie erfolgte dann in den nächsten sechs Monaten und führte zur »Studie Luftverteidigung (Zeitraum ab 1962)« vom Dezember 1957, ohne dass jedoch die bereits erstellte Grundkonzeption wesentlich geändert wurde 149 . Lediglich die theoretisch-strategische Sinngebung war insofern ausgeweitet worden, als dass jetzt die Abschreckung, also der Schutz der atomaren Kampfverbände, an erster Stelle vor der taktischen Eindämmung der Feindkräfte und dem Schutz von Bevölkerung und Kraftquellen der Nation stand150. Die Einsicht in Leistungsfähigkeit und Grenzen einer Luftverteidigung in Deutschland hatte man schon zuvor gewonnen, akzentuierte sie nun aber unter der Leitfrage »Rakete oder Jäger?« Neue Hoffnungen setzte man in die vielseitige Verwendungsfähigkeit der neuen Flugzeuggenerationen, darin wenigstens mit Frankreich, den anderen kontinentaleuropäischen Staaten und auch mit dem SACEUR übereinstimmend 151 . Man glaubte, die bestehenden Schwächen der Luftverteidigung und die dahinter stehenden wirtschaftlichfinanziellen Unzulänglichkeiten dadurch zu umgehen, indem man den kommenden Allzwecktyp je nach aktueller taktischer Bedrohungslage als Interceptor, als Aufklärer oder als atomar bestückter Jagdbomber einsetzte152. Die formalstrategische Trennung von Luftangriff und Luftverteidigung verwischte infolgedessen. Praktisch hatte dies allerdings kaum Auswirkungen, da die strukturelle Konzeption und die Aufrüstungsforderungen (MC 70) nicht geändert wurden. Das neuentstehende Instrument Luftwaffe blieb physikalisch und geistig in klare taktische Komponenten getrennt und sollte dies auch bleiben nicht zuletzt deshalb, weil sich die Hoffnungen in die Allzweckfähigkeit des Waffensystems zu wesentlichen Teilen nicht erfüllen sollten153.
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Diese Trägheit w u r d e dann auch kritisiert u n d führte u.a. zur Abschaffung des Modells. BA-MA, BL 1/1504: Studie Luftverteidigung 1960 vom 20.3.1957. Ebd., BL 1/1751-1: Studie Luftverteidigung (Zeitraum ab 1962) vom 2.12.1957 ist hier gegenüber BL 1/1504: Studie Luftverteidigung 1960 vom 20.3.1957, v.a. S. 24-33, bis auf die angesichts der rasanten Entwicklung der Jettechnologie (vgl. hier eigene Beschaffung: F-104) unvermeidlichen Aktualisierungen kaum verändert. Ebd., S. 12-15 und 42 f. Zu Norstad: AWS, Bd 3, S. 638 (Beitrag Greiner). BA-MA, BL 1/1751-1: Studie Luftverteidigung (Zeitraum ab 1962) vom 2.12.1957, S. 43; BL 1/14697: Vortrag Kammhuber vor dem Vtdg.-Rat am 17.2.1959, S. 8. Dazu unten, S. 229-231.
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Im Übrigen stellte die Entwicklung eines Allzwecktyps keineswegs vollkommenes Neuland dar. Für die Luftwaffe und ihre Truppe waren Flexibilität und taktische Wandlungsfähigkeit schon von vornherein eine Conditio sine qua non gewesen, wobei sich auch hier seit der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg nichts Neues ergeben hatte. Im technischen Bereich traten bereits vor 1945 Tendenzen zur Mehrzweckmaschine auf, wenn auch ohne größere Erfolge: Mit Typen wie der Ju 88, der Me 210, 410 und der Me 262 hatte man damals schon, wenn auch nicht unbedingt zielgerichtet, versucht, Jäger und Bomber/Jabo in einer Maschine zu realisieren. Wie in einem folgenden Kapitel noch zu schildern sein wird, ist in dieser Erfolglosigkeit vor und nach 1945 ebenfalls ein strukturelles Kontinuitätselement zu erkennen: Die Technik weist trotz aller Hoffnungen und der entsprechenden internen und externen Propaganda sehr enge Grenzen auf. Anders als beim bemannten Jäger, den die größeren Mächte fast ausschließlich im Alleingang beschafften, musste sich die NATO hinsichtlich Fla-Raketen wegen des großen finanziellen Aufwandes infolge der geographischen Ausdehnung des zu verteidigenden Gebietes gemeinsame Anstrengungen leisten. Als Hauptstütze sollte die NIKE Hercules, eine zweistufige Rakete mit der Fähigkeit zu atomarer Bestückung, dienen. Sie stellte die einzige moderne und einsatzreife Fla-Rakete dar und wurde dann auch von der Bundeswehr beschafft154. Kombiniert wurde dies mit leichten Fla-Einheiten, ausgerüstet mit 40 mm Fla L-70. Diese hatte man ursprünglich als Kernelement vorgesehen und daher 13 Bataillone eingeplant. Recht rasch aber erkannte man die zentrale Bedeutung der Raketentechnologie und reduzierte die Fla-Einheiten auf acht155. Sie sollten schließlich als »point defence« für die zentralen Einrichtungen der nuklearen Abschreckung (insgesamt acht Flugplätze und Kommandozentralen der Luftverteidigung) dienen und in den 60er Jahren in den neuen Raketenkampfeinheiten für mittlere und niedere Höhen (HAWK) aufgehen. Etabliert wurde also ein gemischtes Luftverteidigungssystem, bestehend aus bemannten Jägern, einem Raketengürtel und Punktverteidigung durch leichte Fla156. Gesteuert werden sollte dies von den beiden taktischen Luftflotten der NATO, der 2. und 4. ATAF, die dazu ein Netzwerk von speziellen Leitzentren (SOC) mit vorgeschobenen Radarstellungen (CRC bzw. CRP) betrieben157. Die dazugehörige Übertragungstechnik und die Fernmeldeverbindungen wurden von nationalen Truppen, in Deutschland von den Fernmelderegimentern 31-34 bzw. 37, bedient. Das ganze System basierte auf halbautomatischen Leiteinrichtungen, d.h., der Informationsfluss von den Radarstellungen zu den Kampfeinheiten wurde nicht direkt übertragen, sondern durch Leitoffiziere in den Kommandoständen geregelt158. Die Strukturen firmierten unter der Be154 155
156 157 li8
BA-MA, BL 1/1751-1: Studie Luftverteidigung (Zeitraum ab 1962) vom 2.12.1957, S. 91 -95. Ebd., BL 1/14705: K o m m a n d e u r s b e s p r e c h u n g 3/58, am 22.7.1958, mit Angabe der künftigen Standorte. Ebd., BL 1/1751-1: Studie Luftvtdg. (Zeitraum ab 1962) vom 2.12.1957, S. 104, 122 ff., 183 u.ö. Z u m Folgenden vgl. Müller, Luftverteidigung, S. 77-89. Ein vollautomatisches System w a r zu teuer.
Medium Power Radar: Rückgrat der NATO-Luftverteidigung in Deutschland Militärhistorisches
Museum
Dresden
Präsentation in der Öffentlichkeit: Tag der o f f e n e n Tür. N ö r v e n i c h 2 0 . 6 . 1 9 5 9 Wehrtechnische
Studiensammiung/BWB
Koblenz,
FA. P. Strack
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Zeichnung NADGE (NATO Air Defence Ground Environment) und orientierten sich an dem Modell der US-Luftverteidigung (NORAD), das dort SAGE hieß. Bei der Errichtung gab es teilweise erhebliche Kämpfe zwischen den Partnerstaaten um die Kosten und die Beteiligung der nationalen Elektronikindustrien. Bis zur vollen Einsatzfähigkeit aber war es ein weiter und dorniger Weg. Die Briten etwa begnügten sich keineswegs damit, die konzeptionelle Prioritätensetzung von Seiten der deutschen Vertreter zugunsten eines starken »missile belt« an der Grenze zur DDR bzw. CSSR zu blockieren, sondern entschlossen sich auch, die Unterstützung an Kampfeinheiten überhaupt zu verweigern. Die RAF entschied, ihre gesamten Luftverteidigungskräfte, knapp 100 Jäger, bis 1961 vom Kontinent zurückzuziehen und die ihr von der NATO eigentlich zugewiesenen zwei FlaRak-Bataillone, die sie im Norden der Bundesrepublik einsetzen sollte, gar nicht erst aufzustellen 159 . Auch mit den anderen Verbündeten hatte man zu kämpfen, da die zugesagte Unterstützung nicht oder nur unzureichend bereitgestellt wurde 160 . Auf der anderen Seite ergaben sich Reibungen mit dem eigenen Heer, da dieses die Luftverteidigung ähnlich wie schon das Heer der Wehrmacht als ureigenste Domäne betrachtete und auch schon mit der Aufstellung eigener Flak-Truppen, der Korpsflak, begonnen hatte161. Die Luftwaffe erhielt darin aber den Zuschlag für die gesamte Luftverteidigung außer der Frontflugabwehr aller Truppen 162 . In Zeiten der Massive Retaliation mit der - zumindest theoretischen - Annahme eines massiven Schlagabtausches betrachtete man Heeresbelange eher als nachrangig. Wenn möglichst hohe »kill rates« gefordert wurden, blieb etwa die Verlegungsfähigkeit am Boden ein unbedeutender oder sogar störender Faktor. Strauß entschied allerdings nicht nur aus diesen Gründen für die Luftwaffe. Entscheidend dürfte vor allem auch die Nuklearfähigkeit der NIKE sowohl im Boden-Luft- als auch im Boden-Boden-Einsatz gewesen sein. Bis Mitte der 60er Jahre wurden die meisten Einheiten dann auch mit Atomsprengköpfen ausgerüstet 163 . Konzeptionell ließen sich die Ansichten der deutschen Luftwaffe in die NATO-Luftverteidigung durchaus einpassen, wenn auch unter Reduktion infolge der allgemein begrenzten Mittel und Ressourcen. Ihre Ansätze, die Anfang der 50er Jahre unter Auswertung der Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs Gestalt annahmen, waren im Grundsatz mit den Prinzipien des Bündnisses kompatibel. Das von Aldinger entwickelte Konzept der SchachbrettmusterVerteidigung durch FlaRak, das beinhaltete, das gesamte Staatsgebiet in entBA-MA, BL 1/183: Fü L II, Besprechungspunkte für die Englandreise Min./Insp vom 11.-15.5.1959, 5.5.1959, und BL 1/1755: Aktennotiz von GenMaj Plocher vom 8.8.1958, S. 2. Ebd., BL 1/5185: Brief von Norstad/Strauß, Neubeurteilung der Anzahl der Luftverteidigungseinheiten, u n d Fü L II 1, MC 81, vom 12.10.1959. Beginn der Diskussionen darüber an der Spitze der Bundeswehr ab Nov. 1956, siehe ebd., BW 17/36: Militärisches Tagebuch über die Tätigkeit des Mil. Führungsrates (offengelegt), 1.10.1956-31.5.1957, Einträge vom 9. und 20.11.1956. Zur Übernahme der Korps-Fla des Heeres (HAWK) in die Luftwaffe siehe ebd., BL 1/14650: Tgb. InspLw, Eintrag vom 29.6.1959. Spreckelsen/Vesper, Blazing Skies, S. 160-166. Dazu auch unten, S. 250 f.
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sprechende FlaRak-Verteidigungsabschnitte zu unterteilen, um einen eindringenden Feind durch ständiges Beschießen in der ganzen Tiefe des Luftraumes auszubluten, hatte sich schließlich als Gürtel realisiert. Immerhin hatte die FlaRakete - und mit ihr die Prinzipien mathematischer Abschussplanung und -lenkung für den gesamten Abwehrraum - Einzug gehalten. Auch war gerade für den ersten Inspekteur der deutschen Luftwaffe das Denken in den Bahnen der Gürtelverteidigung durchaus nicht neu. Er selbst hatte im Zweiten Weltkrieg entscheidende Pionierarbeit geleistet: Unter seiner Leitung entstand die sog. Kammhuber-Linie, eine dichtgestaffelte Kette von Fernmelde- und Radarstellungen quer über Deutschland und Westeuropa gegen nachts anfliegende Feindverbände164. Dieses System, basierend auf dem sogenannten HimmelbettVerfahren, hatte die bis dato zur Verfügung stehenden technisch-taktischen Mittel integriert: Nachtjäger, Radar, Leitstände und Scheinwerfer. Man bezog auch Flakeinheiten ein, die allerdings unter eigenen Kommandostrukturen eingesetzt wurden, auch eigene Radarstellungen besaßen und deren Masse insbesondere im Vorfeld der großen Städte stand. Trotz aller technischen Neuerungen und des Wegfalls der Rohrflak hatte sich das Grundprinzip nach Kriegsende nur wenig geändert. Auch die NATO-Luftverteidigung bestand im Wesentlichen aus einer Kombination von Radarstellungen, einem Leitsystem und den angeschlossenen Kampfverbänden. Die FlaRak hatte gleichsam die Rolle der Rohrflak übernommen. Die Einschätzungen hinsichtlich der Erfolgsquote blieben jedoch pessimistisch und gaben damit einer Meinung Ausdruck, die selbst in der NATO unbestritten war. Trotz des dreigliedrigen Abwehrkonzepts (Jäger, FlaRak, Kanonenfla) stand von Anfang an zu befürchten, dass ein umfassender Abwehrerfolg nicht möglich sein würde. Die massive Angriffswucht ließ eine frühe Sättigung der Luftverteidigung durch eine Unzahl von Zielen erwarten165. Da insbesondere auch Fla-Raketen nicht gerade billig waren, konnte nur ein sehr begrenzter Vorrat beschafft werden, der eine fortlaufende Feuerdauer von nur kurzer Dauer erlaubte. Selbst die Verwendung atomarer Munition versprach trotz der Steigerung an Waffenwirkung (kill potential) keinen umfassenden Abwehrerfolg166. Die Vorstellungen von der Luftwaffe als einem Einweg-Instrument wurden dadurch bestärkt. Man behalf sich teilweise mit dem Gegenargument, dass bei einem massiven nuklearen Schlag ja auch nur eine kurze Feuerdauer benötigt werde, genau so lange, bis die eigenen Nuklearverbände aufgestiegen seien. Dies aber führte zu neuen Unwägbarkeiten und Unsicherheiten. Keineswegs 164
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Grundsätzlich hierzu: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd 6, v.a. S. 490-493 und 541-545, sowie 7, S. 160-185 (Beiträge Boog). Der damalige Kommandeur des NJG Falck, bezeichnet sich als Initiator des technischen Prinzips (radargestütztes Jägerleitverfahren). Falck, Falkenjahre, S. 136, 160-187. Dort auch weitere Informationen zum Kammhuber-Riegel. Wie genau das Konzept entstand, ist an dieser Stelle nachrangig. Kammhuber jedenfalls war der entscheidende Motor der Entwicklung, dies auch hinsichtlich der Propagierung der Nachtjagd bei der Spitze des NS-Regimes. BA-MA, BL1/1751-1: Studie Luftverteidigung (Zeitraum ab 1962) vom 2.12.1957, Anl. 9 - 1 2 und S. 116. Ebd., S. 99, 101 und 184.
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konnte klar sein, dass die eigenen Angriffseinheiten selbst bei einer voll funktionsfähigen Luftverteidigung einer Bombardierung entgehen würden. Bei der angenommenen Vernichtungskraft der Nuklearwaffen reichte auch schon ein ungefährer Treffer, u m einen Flugplatz komplett auszuschalten. Zudem hatte man noch kein wirksames Konzept gegen Tiefstflieger entwickelt und besaß über die Verteidigung gegen Boden-Boden-Raketen überhaupt keine rechte Vorstellung 167 . So erschien die Luftverteidigung als unvollkommenes System, ohne rechtes Dach und ohne Schutz gegen ein Einsickern von Sturmfluten in den Keller. Überleben im Atomkrieg: Auflockerung, Härtung und Senkrechtstartergedanke Daher überlegte man, wie ein zusätzlicher, passiver Schutz für ein Überleben auch unter Atomschlägen eingerichtet werden konnte. Es kamen vornehmlich zwei Komponenten in Frage. Zunächst sollte, im Einklang mit NATO-Richtlinien, die schon 1956 verabschiedet wurden, eine Härtung (hardening) der Einsatzplätze und Abschusseinrichtungen vorgenommen werden 168 . Dazu prüfte man Möglichkeiten zum Bau von atomsicheren Bunkern, Schutz von Fernmeldeeinrichtungen, für den Bau von Ausweichflugplätzen oder sogar zur Ergreifung taktischer Maßnahmen, wie z.B. dem »vertical dispersal«, d.h. dem Befehl zum sofortigen Aufsteigen im Alarm- und Spannungsfall ohne die Einleitung der Angriffssequenzen 169 . All diese Maßnahmen erwiesen sich jedoch als wenig erfolgversprechend, weil die technischen Grundlagen nicht für eine sichere Nutzung unter Kampfbedingungen ausreichten oder weil der finanzielle Aufwand über die Möglichkeiten der deutschen Luftwaffe hinausging. Das Gleiche galt für die Verbunkerung und alle weiteren Optionen 170 . Insgesamt wäre eine komplett andere Konzeption zu erstellen gewesen. Diese hätte viel mehr Ressourcen auf die Defensivkomponente (Schutz) legen müssen und damit die Angriffskraft entscheidend geschwächt. Es ist ein Grundparadigma der Kriegsvorbereitungen der Staaten des 20. Jahrhunderts, dass beide Komponenten - Schutz und Schlagkraft - nicht gleichzeitig in ausreichender Intensität realisiert werden können. So lehnte beispielsweise die britische Regierung ausgedehnte Verbunkerungsmaßnahmen für die Zivilbevölkerung, wie sie der Kriegsgegner J.B.S.
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Ebd., BL 1/1504: Studie Luftverteidigung 1960 vom 20.3.1957, S. 39, und BL 1/1751-1: Studie Luftverteidigung (Zeitraum ab 1962) vom 2.12.1957, S. 45. Ebd., BW 2/2666: MC 60, Bessere Dislozierung der SACEUR unterstellten LuftwaffenEinheiten zwecks W a h r u n g einer angemessenen Operationsfähigkeit im Falle feindlicher Atomangriffe, vom 9.2.1956. BL 1/14705: Notiz über Besprechung mit den Gen. der Luftwaffe am 5.3.1959, Hardthöhe. Schon die MC 48 hatte entsprechende Maßnahmen gefordert, siehe N A T O Strategy Documents, z.B. S. 236 f. Vgl. auch BA-MA, BW 9/2528-1: Bericht über die Sitzungen des Militär-Komitees der N A T O am 18., 19. und 23.10.1956, S. 4. BA-MA, BL 1/4540: Besprechung über Forderung Einheits-Geschwadergefechtsstand am 31.1.1967, mit Begleitdok.
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Haidane vorgeschlagen hatte (Deep-Shelter-Program) als unrealistisch ab, weil nur auf Kosten der Bomberstreitmacht finanzierbar171. Die vertikale Auflockerung verbot sich, weil dadurch wertvolle Zeit für den Einsatz verloren ging und schon ein Teil des Treibstoffs verbraucht worden wäre. Zusätzlich musste damit gerechnet werden, dass irgendwo im deutschen Luftraum kreisende Kampfverbände ein leichtes Ziel für die Angreifer geworden wären. Versuche zur Auslagerung von Verbänden in die westlichen Partnerstaaten scheiterten, weil die dortigen Regierungen keine Ressourcen bereitstellen wollten bzw. konnten (Frankreich)172 oder weil die taktische Einsatzfähigkeit wegen der erhöhten Reichweiten und des logistischen Aufwandes entscheidend gelitten hätte (Großbritannien)173. Gegen eine Auflockerung im eigenen Land sprach die Tatsache, dass praktisch alle in Frage kommenden Flugplätze von eigenen bzw. verbündeten Kampfverbänden belegt waren. Ein Schutz konnte, wenn überhaupt, zunächst nur für nukleare Verbände gewährt werden174. Dies scheiterte für die nuklearen Habenichtse aber daran, dass die USA den Transport der Atomwaffen restriktiv behandelten. Sie erlaubten den Transport der Atomwaffen an den Kampfmaschinen nicht, sondern verlangten Sonderwege unter Bewachung der »custodial detachments«. Daraufhin ergaben sich Verhandlungen, um diese Bestimmungen zu lockern175. Eine Unterbrechung der Kontrolle außerhalb des eigentlichen Kampfeinsatzes durch Uberstellung an Piloten einer Nation ohne Nuklearfähigkeit kam für die USA nicht in Frage. Dies führte zu erneutem Misstrauen auf deutscher Seite. Die Luftwaffenführung befürchtete, dass die Amerikaner und Briten aus der Führungsposition in den ATAFs heraus ihre Kampfeinheiten nuklear ausgerüstet hielten und damit in Sicherheit bringen konnten, während die deutschen F-104 entweder auf ihren Stammflugplätzen vernichtet oder im konventionellen Kampf verheizt würden. Die Erarbeitung konziser praktischer Verfahren für den Bereich EuropaMitte führte erst im Laufe der 60er Jahre zu konstruktiven planerischen Ergebnissen. Bei den ATAFs begann man, Dispersal-Pläne für Strike-Verbände aufzustellen, allerdings war deren Umsetzung unter anderem wegen der Restriktionen der USA bei den Nuklearwaffen nicht sichergestellt. Dabei spielte auch die 171
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Dazu Lemke, Luftschutz, auch downloadbar unter http://www.freidok.uni-freiburg.de/ voll texte/569, S. 530 ff. BA-MA, BW 17/12: Panitzki an Foertsch am 26.7.1961, S. 2. Auf Seiten der Franzosen spielten politische Bedenken eine gewichtige Rolle. Siehe BL 1/4547, Ordner zu Nutzung von Bremgarten und Verlegung AG 51 von Ingolstadt, Anfragen zu Überfluggenehmigungen über Eisass; BL 1/11151: entsprechende TOP der dt.-franz. GenSt-Besprechungen am 19.10.1962 und am 5./6.2.1964 sowie der dt.-brit. GenSt-Besprechungen am 9.4.1964. Ebd., BL 1/83: Fü L III 3, Stationierung von Luftwaffen-Einrichtungen in Großbritannien vom 30.6.1965 mit Begleit- und Folgedok. Zum Folgenden ebd., BL 1/2129: Sachstandsbericht L III 1 vom 30.8.1967, Saceur's Emergency Dispersal of Nuclear Strike A/C mit Begleitdok. Der ganze Komplex kann aufgrund der Geheimhaltungsbestimmungen hier nicht in allen Details abschließend geklärt werden.
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allgemeine Mangelsituation in Bezug auf Personal, Material und Finanzen eine Rolle. Bei der herrschenden Knappheit der Flugplätze blieb zudem fraglich, ob derlei Pläne überhaupt Sinn machten. Es nutzte relativ wenig, wenn eine NATO-Einheit auf einen Flugplatz kam, der gerade von einer anderen wegen der Luftgefahr geräumt wurde. Zumindest für das Gebiet der Bundesrepublik bestand die Gefahr, dass man die Verbände zwischen Flugplätzen hin und her schob, die sowieso in ihrer Gesamtheit vom Feind angegriffen würden. So blieb als letzte Option nur das sog. »soft hardening«, d.h. Maßnahmen direkt an den Flugplätzen zum Schutz gegen konventionelle Angriffe: Streuung der Maschinen auf dem Gelände, Errichtung von Schutzräumen 176 , Wällen und Gruben mit begrenzter Schutzwirkung, Nutzung von Waldgelände, Ausbau von Ersatzmaterial und zweiten Fernmeldewegen. Selbst diese Vorkehrungen, die gegen nukleare Explosionen - auch wenn diese nur an der Peripherie der Flugplätze stattfanden - keinen Schutz boten, konnten nur ansatzweise umgesetzt werden. In einem Grundlagenbericht von 1965, dessen Wortlaut einem Offenbarungseid gleichkam, wurde in diesem Zusammenhang moniert, dass praktisch nichts geschehen sei: »Die deutsche Luftwaffe hat ihren Friedensauftrag [...] in wesentlichen Punkten nicht erfüllt177.« Entsprechendes vermeldeten die taktischen Überprüfungen der Geschwader in diesem Punkt178. Noch am Ende der Dekade befand man sich mehr oder weniger in der Planung179. Als Alternative zu diesen Bemühungen kam erneut die Flugzeugtechnik in Frage. Als Nachfolger für F-104 und G-91 gedachte man einen Senkrecht- bzw. Kurzstarter (VSTOL - Vertical/Short Take Off or Landing) einzuführen, der in kleinen Einheiten (Schwärmen) oder als Einzelflugzeug in unwegsamem Gelände (z.B. Wald) versteckt werden konnte, dadurch atomare Angriffe überlebte und rasch in die Offensive zu gehen in der Lage war, da er keine oder nur eine sehr kurze Startbahn benötigte180. Die G-91 betrachtete man hier gewissermaßen als Vorläufer, da sie explizit als sehr leichtes Flugzeug für »dispersal« und Kurzstarteigenschaften konzipiert wurde. Aus einer Mischung von futuristischer Technikbegeisterung, die bis hinauf zum Minister reichte, und klammen Befürchtungen hinsichtlich des nuklearen Krieges, setzte man massive Hoffnungen in diese Maschine und begann mit umfangreichen Entwicklungsarbeiten im In- und Ausland. Betrachtet man nun Position und Grenzen der deutschen Luftwaffe im politischen und strategischen Beziehungsfeld, lässt sich Folgendes konstatieren. Die 17b
Ebd., BL 1/681: U m r ü s t u n g auf F-104 G; hier Hallenraum u n d Bunker vom 2.3.1960, mit Begleitdok. Ebd., BL 1/3508: Fü L III 1, Untersuchungen der Grundlagen für die Konzeption der Lw vom 22.10.1965, S. 80; inhaltliche Z u s a m m e n f a s s u n g auf S. 24-38 u n d 78-80. Dieses Fazit galt im Übrigen für alle NATO-Luftwaffen, siehe BL 1/4927: Fü L III 1 vom 22.6.1966, Informationen zu Bericht SG über M a ß n a h m e n zur Erhöhung der Überlebensfähigkeit. 17B Ebd., BL 1/4926: Jahresbericht taktische Kampfverbände für 1965 vom 15.1.1966. 17 '' Ebd., BL 1/4924: Fü L III 1, Konventionelle Luftkriegführung in Mitteleuropa; Positionspapier Fü L zur Vorbereitung der AFCENT Conventional Offensive Air Operations Conference, Jan. 1969 vom 6.1.1969, S. 37-42. 180 Zur Entwicklung des Senkrechtstarters und den Hintergründen dazu siehe unten, S. 400-423. 177
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Luftwaffe erarbeitete ihre strategische Position, ihr Kriegs- und Aufgabenbild massiv unter Zuhilfenahme bereits bestehender Grundsätze u n d Einsatzszenarien. Die Beschaffung der Waffen und das Grundverständnis als genuin taktische Luftwaffe erfolgten eher aus politischen Zusammenhängen (Beschaffung F-104) oder aus bereits zuvor existierenden Standards (EVG-Verhandlungen: Definition der Luftwaffe als taktisches Instrument und eigenständige Teilstreitkraft). Insofern spielte die Strategie, insbesondere die Nuklearkomponente, für die primären Aufbauentscheidungen nur eine allgemeine Grundlagenrolle. Die Atomkomponente wurde quasi additiv hinzugefügt, sie änderte kaum etwas am genuinen Einsatzszenario der Luftwaffe. Die Möglichkeiten, die sich, wie es zeitweise schien, zum Aufstieg in die oberste Liga, d.h. der strategischen Kampfinstrumente, boten (MRBM), hielt man sich offen, trug den dabei zu Tage tretenden Grenzen dann aber auch Rechnung. Man war politisch und militärisch eine Nummer zu klein für derlei Projekte. Die deutsche Luftwaffe wurde damit, aufs Ganze gesehen, ihrer traditionellen Rolle, die als genuin taktische zu verstehen ist181, gerecht. Inwieweit diese Einsicht, die durchaus auch als Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg verstanden werden kann, bei Strauß auch ankam, sei dahingestellt. Das Thema erledigte sich durch die amerikanische Obstruktionspolitik in dieser Frage und das unfreiwillige Ausscheiden des dynamischen Bayern aus dem Verteidigungsministerium im Jahre 1961 ohnehin von selbst. Die Luftwaffe im strategischen und politischen Beziehungsgeflecht So lavierte sich die deutsche Luftwaffe durch das allgemeine Meinungschaos und die bestehenden politischen u n d militärischen Machtfaktoren. Die grundlegende Kampf- und Waffenstruktur, die sie in den ersten Jahren erhielt, änderte sich auch durch die Festlegung auf die neuen Waffensysteme kaum mehr u n d wurde lediglich durch die Haushaltszwänge begrenzt. Sicher kam ihr dabei zustatten, dass das vorherrschende, wenn auch logisch nicht widerspruchsfreie Paradigma, die Massive Retaliation, der mechanistischen Ausbringung von Waffenenergie insbesondere durch die Luftstreitkräfte vor allen anderen Faktoren das Wort redete. Die tages- u n d militärpolitischen Strudel versuchte man möglichst zu vermeiden, u m Fortschritt und Kontinuität der Arbeit nicht zu gefährden. Dazu schreckte man auch vor Pressemanipulation nicht zurück. Kammhuber stand im Kontakt mit dem bekannten Luftkriegstheoretiker Georg Feuchter, der sämtliche Veröffentlichungen im Zusammenhang mit der modernen Luftwaffe vor dem Druck an Kammhuber sandte 182 . Letzterer >genehmigte< auf diese Weise dann auch einen Artikel, in dem Feuchter die Notwendigkeit
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BA-MA, BW 17/36: Militärisches Tagebuch über die Tätigkeit des Mil. Führungsrates, 1.10.1956-31.5.1957, Eintrag vom 6.12.1955 (offengelegt). Dazu Briefwechsel Kammhuber - Feuchter 1958-1962, siehe BA-MA, BL 1/14683. Feuchter versuchte auf diesem Wege, einen Posten bei Fü L bzw. Fü Β zu erhalten. Dies erwies sich jedoch als nicht machbar. Er pflegte seinen Kontakt zu Kammhuber und machte bis zuletzt weitere Versuche, eine Dienststellung zu erlangen. Kammhuber konnte ihm jedoch nicht helfen. Feuchter starb dann kurz vor Kammhubers Ausscheiden im Sept. 1962.
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einer atomaren Bewaffnung der Luftwaffe nachdrücklich forderte183. Auch antichambrierte Feuchter mit Zustimmung Kammhubers über Mittelsmänner bei der SPD, um so deren Haltung zur Atombewaffnung zu beeinflussen. Derlei Bemühungen dürften jedoch eher begrenzten Erfolg gezeitigt haben. Einen Höhepunkt dieser Tätigkeiten bildete die Zusammenarbeit mit dem Nachrichtenmagazin »Spiegel«. Ende 1957 erschien dort ein Artikel über Kammhuber, den der Journalist Conrad Ahlers zuvor zweimal an die Luftwaffenführung zur Redaktion eingesandt hatte184. Der Führungsstab arbeitete an dem Text mit und eliminierte die Passagen zu angeblichen inneren Zerwürfnissen in der Führung, dem sog. Obristen-Aufstand, in der Frage nach dem Sinn bemannter Jäger und der Luftverteidigung überhaupt angesichts der Möglichkeiten nuklearer Abschreckung mit Atomwaffen. Man ereiferte sich in den Randbemerkungen auch über angebliche Zitate von jüngeren Stabsoffizieren, die er offenbar sehr ernst nahm. So enthielt das Manuskript eine Bemerkung, nach der ältere Generale, die »besser mit dem Korkenzieher als mit dem Steuerknüppel umgehen« könnten, nichts in der neuen Luftwaffe zu suchen hätten. Quittiert wurde dies wie folgt: »Ehrgeizlinge noch weniger! Besonders mit solchen dummen und unreifen Redensarten nicht185.« Im Übrigen beließ er aber die wesentlichen Aussagen zur Strategie, soweit sie nicht geheimhaltungsbedürftig waren, mehr oder weniger unverändert. Der Artikel enthielt darin auch - in den Formulierungen entschärfte - Angaben zu den tatsächlich stattfindenden internen Diskussionen über die defensive oder offensive Ausrichtung der deutschen Luftwaffe sowie den grundsätzlichen Sinn von Jägern. Damit war die Öffentlichkeit bis zu einem gewissen Grade auch gar nicht einmal schlecht über die Unsicherheiten hinsichtlich der Strategie in Luftwaffe und NATO informiert. Kammhuber und seine Mitarbeiter achteten darauf, dass die Teilstreitkraft im demokratischen Kontext einerseits als Organisation nicht in Verruf geriet bzw. aus heiklen Fragen herausgehalten wurde, andererseits die eigene Position jedoch auch der Öffentlichkeit trotz aller (Eulen-)»Spiegeleien« des Hamburger Magazins, wie Ahlers selbst zugab, vermittelt wurde. An dieser Stelle dürfte auch ein Ursachenstrang für die Spiegel-Affäre von 1962 seinen Anfang genommen haben. Strauß war nämlich offensichtlich über die Zusammenarbeit
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Siehe oben, S. 160, Anm. 37. BA-MA, BL 1/14697: Manuskripte für den Spiegel-Artikel mit handschriftl. Bemerkungen Fü L. Dazu Der Spiegel, 1957, Nr. 50, vom 11.12.1957, S. 18-32. BA-MA, BL 1/14697: Manuskript vom 18.8.1957, S. 52, handschriftl. Randbemerkungen. Dieses Urteil entsprach im gegebenen Kontext im Wesentlichen der Realität. Im Führungsstab der Luftwaffe hatte m a n die Frage Geschoss oder Jagdflugzeug als Aufhänger für eine Fachdebatte unter wissenschaftlich-milit. Gesichtspunkten zur Erstellung einer Luftverteidigungs-Konzeption benutzt. Siehe BL 1/1751-1: Studie Luftverteidigung (Zeitr a u m ab 1962) vom 2.12.1957, Vorwort. Die sich daraufhin entwickelnde Diskussion versuchte Steinhoff als eher Ausdruck souveräner Auseinandersetzung mit einem Thema als einen Machtkampf darzustellen. Dazu BL 1/14697: Steinhoff an den Stv. InspLw, Interview mit Reporter Volkmar vom 27.7.1957.
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von Fü L und Ahlers informiert 186 . Letzterer veröffentlichte später den Artikel »Bedingt abwehrbereit« und wurde dafür auf Betreiben von Strauß verhaftet 187 . In der Frage der Beschaffung der F-104, die von Anfang an in der Öffentlichkeit kritisch verfolgt wurde, blieb man in Deckung. Die Luftwaffenführung hielt sich tunlichst aus derlei Fahrwassern heraus und versuchte, sich auf die rein technisch-taktische Beraterfunktion zurückzuziehen 188 , eine Position, die zunächst überzeugend vertreten werden konnte, in der Zukunft aber massiv unter Beschuss geraten sollte, als die F-104-Krise manifest wurde. b) Towards Flexible Response: Die Zeit bis 1967/68 John F. Kennedy Den strategischen Planern in den Gremien des westlichen Bündnisses, in den Stäben der nationalen Streitkräfte und den Teilstreitkräften war keine dauerhafte Ruhepause vergönnt 189 . Der bereits Anfang der 50er Jahre zu erwartende Aufbau einer globalen Nuklearmacht durch die Sowjetunion hatte neuerliche Wandlungen angekündigt 190 , die dann durch den Beginn einer neuen politischen Ära jenseits des Atlantik endgültig manifest wurden. Mit der Amtsübernahme Kennedys zu Beginn des Jahres 1961 setzte eine Dynamisierung ein, die bereits in den 50er Jahren erkennbare Tendenzen zu einer strategischen Flexibilisierung verstärkte und schließlich fest auf der Agenda verankerte191. Dies kam, ebenfalls wie schon zuvor, nach einer gewissen, rückblickend inzwischen als typisch zu bezeichnenden Verzögerung auch in Europa an und löste dort teilweise erhebliche Probleme aus. Im politischen und strategischen Bereich sind vor allem zwei Grundtendenzen erkennbar. Der neue US-Präsident versuchte einerseits, die von der Tendenz zu Konfrontation und Hochrüstung gekennzeichnete Situation durch Abrüstung und Konfliktbegrenzung zu entschärfen, dabei aber andererseits von den Zielen amerikanischer Machtpolitik nicht abzugehen. Daraus folgte eine 186 j j j e p r e s s e bekam offenbar Wind davon u n d konfrontierte Strauß damit. Dieser kommentierte kurz u n d prägnant: »Da müssen Sie meinen SPIEGEL-Mitarbeiter Kammhuber fragen, der ist sicher bestens informiert.« Der Spiegel, 1958, Nr. 3, S. 50. Für die späteren Ereignisse u m Ahlers u n d den Spiegel ist bezeichnend, dass das Ministerium schon hier, vertreten durch MR Neudeck (Abt. VIII), bei Kammhuber intervenierte u n d juristische Schritte prüfen wollte. Der erblickte »nirgends einen Anhalt für strafrechtliche Verfolgung des verantwortlichen Redakteurs« (BA-MA, BL 1/14648: Tgb. InspLw, Eintrag vom 6.1.1958), was nicht verwundert, hatte dieser sein Manuskript ja vorher bei Fü L eingereicht. 187 188
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Thränhardt, Geschichte der Bundesrepublik, S. 151-156. BA-MA BL 1/14697: Interview in der ARD mit der Führungsspitze der Bw am 8.4.1957 über die Aufstellung, Fragen an Kammhuber. Zur Entwicklung der NATO-Strategie bis zur Etablierung der Flexible Response vgl. generell den Artikel von Krüger in diesem Band, S. 41 -69. Donelly, Charles H., The United States Guided Missile Program, Untersuchung für den US-Senat, Jan. 1959, in: BA-MA, BL 1/1027: DMV-Bericht 1959/11, Anl. 3, S. 1 5 - 2 3 , u n d DMV-Bericht 1960/1 vom 10.3.1960, S. 44-55. Zum Folgenden vgl. ebd.: DMV-Bericht 1962/1, S. 3 - 4 5 mit Anl. 1; dazu Steinhoff/ Pommerin, Strategiewechsel, S. 72-81.
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neue selbstbewusste, vor allem auch jung-dynamische Haltung vor allem gegenüber der Sowjetunion in Kombination mit Entspannung und Ausgleich. Hinter Kennedy stand eine Elite von Denkern und höheren Regierungsbeamten, die mit ihren Fähigkeiten, ihrem Selbstbewusstsein und einem gewissen visionären Sendungsbewusstsein den Garanten für die Realisierung der ehrgeizigen Ziele darstellte. Die entscheidenden Träger der Administration glaubten mit einem umfassenden Steuerungskonzept alle wesentlichen Teile des die eigene Handlungsfähigkeit bestimmenden Beziehungsgeflechts unter ihre Kontrolle bekommen zu können, hier vor allem Politik, Militär, Wirtschaft, das Bündnis und die globale Ordnung. Der Kernbegriff dabei war Flexibilität. Politik war demnach nicht mehr das Verharren in bestimmten Denkmustern und allzu starker ideologischer Blockade, sondern pragmatisch-dynamisches Management in allen wichtigen Bereichen, allerdings unter Wahrung der US-amerikanischen Interessen. Diese jedoch wurden selbst als Teil des neuen Konzepts begriffen und unterlagen damit einer gewissen Verflüssigung und Dynamisierung. Strategiewandel Die Schwächen der >alten< NATO-Strategie, hier inbesondere das Fehlen handhabbarer Einsatz- und Reaktionskonzepte für militärisch nicht eindeutig definierbare Konflikte, waren in den Krisen u m Berlin und Kuba 1961/62 zu Tage getreten, wobei das »crisis-management« des US-Präsidenten insbesondere im Falle Kubas als Erfolg gewertet wurde 192 . Die neuen Tendenzen zeigten sich allerdings keineswegs in allen Aspekten als radikale Umwälzung. Im G r u n d e hatte sich an den aktuellen Konfrontationsmustern seit den 50er Jahren genauso wenig geändert wie an der globalen Sichtweise Washingtons. Man war, wie schon die Vorgängerregierungen, keineswegs bereit, einer kommunistischen Machtausbreitung tatenlos zuzusehen, sondern trat überall dort auf den Plan, wo ein Eckpfeiler einzustürzen drohte 193 . Umgekehrt hatten Harry S. Truman, Dwight D. Eisenhower und ihre Kabinette außenpolitisch keineswegs nur starre Nuklearkonzepte vertreten. Gerade in den Auseinandersetzungen in Südostastien, um Vietnam und Taiwan, war man den Drohgebärden Chinas und der Sowjetunion flexibel begegnet. Der Einsatz von Nuklearwaffen, etwa auf französischen Wunsch zur Abwehr der sich abzeichnenden Niederlage bei Dien Bien Phu, kam nicht in Frage194. Nun war Europa nicht unbedingt mit Asien gleichzusetzen. Nichtsdestotrotz hatten sich schon bei der Entstehung des theoretischen Maximalfalles nach der Massive Retaliation auch für den Fall von Konflikten hier Aufweichungstendenzen ergeben 195 . Der SACEUR selbst trug dann im Dezember 1960 dazu bei, 192
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BA-MA, BL 1/1027: DMV-Bericht 1963/1, Anhang, Ablauf der Kuba-Krise, S. 62-89 ff.; dazu Steinhoff/Pommerin, Strategiewechsel, S. 81-92 und 133-146. Siehe z.B. die Entsendung von Militärberatern nach Vietnam. BA-MA, BL 1/1027: DMVBericht 1962/1, S. 21 ff. Heuser, NATO, Britain, S. 93, 64 und 79. Dazu auch BA-MA, BW 17/36: Militärisches Tagebuch über die Tätigkeit des Mil. Führungsrates, 1.10.1956-31.5.1957, Eintrag vom 24.1.1957 (offengelegt).
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als er einen Vortrag vor NATO-Parlamentariern hielt, in dem er eine sog. Pause vorschlug196. Nach einem Angriff des Warschauer Paktes sollte nicht sofort mit einem massiven Atomwaffeneinsatz geantwortet werden, sondern den Angreifern eine gewisse Zeit zur Reflexion eingeräumt werden, um den Rückzug zu unternehmen. Wurde dieser Zeitraum nicht genutzt, sollte die NATO mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zuschlagen. Damit hatte zumindest auf der höchsten NATO-Ebene eine Art Staffelung Eingang in das Denken gefunden, die einen Ausgangspunkt für den Weg zur Strategie der Flexible Response markierte197. Auch in Teilen des US-Militärs war die Tendenz zu umfassender Flexibilität bereits vor 1960 zum Ausdruck gekommen. Der Generalstabschef der US-Army, Maxwell D. Taylor, hatte schon Anfang Dezember 1958 ein globalstrategisches Konzept entworfen, in dem er insbesondere auch für die Luftwaffe größte Flexibilität forderte198. Entscheidend war dabei nicht die Stationierung möglichst vieler Nuklearträger am Eisernen Vorhang, sondern weitgehende Dynamisierung und Entscheidungsfreiheit der zur Verfügung stehenden Verbände je nach (außen)politischer und militärischer Notwendigkeit. Die Rolle der USA als Weltmacht verlangte eine umfassende Fähigkeit zur Steuerung der eigenen Ressourcen, dies bis hinein in die taktischen Verbände. Dabei stand Europa in der Prioritätsliste keineswegs automatisch an erster Stelle. Die Reaktion der Bundeswehrführung auf die neuen Perspektiven Für die strategischen Wandlungen und ihre Folgen stellte das Jahr 1961 somit keineswegs eine radikale Zäsur dar, sondern eher eine Art psychologischen Kristallisationspunkt. Dies galt in gleichem Maße für die Reaktion der alliierten Stäbe in Europa, insbesondere auch die obersten Gremien der Bundeswehr. Bereits Ende 1959, also über ein Jahr vor dem Machtwechsel in Washington, hatten die deutschen Führungsgremien die zu erwartenden Tendenzen sowohl in ihrer Grundrichtung als auch bereits in vielen Details erkannt und teils kontrovers diskutiert199. Zu nennen ist hier insbesondere Heusinger, der die we196
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Generell dazu siehe oben den Beitrag von Krüger, S. 4 1 - 5 6 . Steinhoff/Pommerin, Strategiewechsel, S. 62 ff. Generell zu Norstads strategischem Denken: Jordan, Norstad, v.a. Kap. 5. Den Gedanken an eine Pause hatte Norstad in den USA schon 1957/58 ausgesprochen. Schwartz, NATO's Nuclear Dilemmas, S. 57 f. Für die Entwicklung bis 1967-1969 vgl. Steinhoff/Pommerin, Abt. B, v.a. S. 100 ff. Aus Sicht der Luftwaffe als Orientierungspunkt im Raum-/Zeitkontinuum interessant: BAMA, BL 1/183: Ausarbeitung von Maj Rheinbaben, Gedanken zur modernen Luftkriegführung, vom 11.10.1959. Beachte hier vor allem auch die kritischen handschriftl. Randbemerkungen von Mitgliedern des Fü L. BA-MA, BL 1/1027: DMV-Bericht 1959/1, Anl. 3, Rede vor 35. Jahresversammlung des Institute for World Affairs am 8.12.1958, Verbesserung unserer Fähigkeit zur Führung begrenzter Kriege, v.a. S. 5. Nach Greiner - Die Entwicklung der Bündnisstrategie, S. 156 f. hatte Maxwell diese Ansicht schon 1956 ausformuliert. Zur Weiterentwicklung dieser Doktrin für die USAF siehe BA-MA, BL 1/4502: USAF Fact Sheet Tactical Air Power 1-66. Ebd., BL 1/1753: Diskussion um die weitere Entwicklung strategischer Pläne und ihre Auswirkung auf die Aufstellungsplanungen der Bundeswehr, Papers von Heusinger und den Insp. aller TStk Sept. bis Nov. 1959.
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sentlichen Elemente bei einem Auftritt vor dem Verteidigungsausschuss des Deutschen Bundestages am 13. Januar 1960 beschrieb200. Die kritischen Fragen der Parlamentarier, hier vor allem Helmut Schmidt, offenbarten weitere zentrale Punkte. Im Grunde hatte man in Bonn schon früh erkannt, worum es gehen würde. Als Kernpunkt identifizierte man die Änderung der zentralen Einteilung der Phasen eines künftigen Krieges, quasi das Grundgerüst allen strategischen Planens. Man stellte fest, dass sich das Schwergewicht von den Extrempunkten, also der »local hostile action« bzw. dem allgemeinen Nuklearkrieg, auf ein neues Element verlagern würde: den begrenzten Krieg (limited war). Die Amerikaner waren bemüht, eine Ausweitung eines etwaigen Krieges möglichst zu verhindern, das heißt bei Angriffen aus dem Osten nicht sofort zum globalen Atomschlag greifen zu müssen. Daher konzentrierten sie sich darauf, einen Krieg, wenn er schon ausbrach, möglichst einzugrenzen. Dazu mussten zwangsläufig eine oder mehrere Zwischenphasen eingeplant werden, in denen ein Stoppen ermöglicht werden konnte. Für die Bundesrepublik als vorderster Frontstaat in Europa und mögliches Schlachtfeld beinhaltete diese Perspektive bedrohliche Optionen. Es konnten Situationen entstehen, in der ein beginnender Krieg in Europa von den USA um des eigenen Uberlebens willen gestoppt würde, um zu einem Kompromiss mit den Sowjets zu kommen. Die Supermächte, ggf. auch die kleineren Mächte Großbritannien und Frankreich, hätten damit den Frieden auf Kosten der Bundesrepublik, deren Staatsgebiet zu diesem Zeitpunkt bereits konventionell oder nuklear verwüstet worden wäre, für sich gesichert201. Die Divergenzen und Unsicherheiten, unterschiedliche Konzepte und Perspektiven führten, wie nicht anders zu erwarten, zu angestrengter Denkarbeit in den deutschen Stäben und einer wahren Flut von Lösungsvorschlägen und Szenarien. Wie schon in den Formationsjahren des Bündnisses entstand eine geradezu chaotische Meinungsvielfalt mit allen strategischen Schattierungen202. Nur langsam kristallisierten sich die bestimmenden Tendenzen heraus. Heusinger und auch sein Nachfolger, Friedrich Foertsch, waren Anfang der 60er Jahre noch weitgehend von einem nuklearen Szenario ausgegangen, wobei die Logistik-Übung »Side Step« wichtige Impulse speziell für die Lebensgrundlagen von Armee und Bevölkerung in der Bundesrepublik lieferte203. Man hatte versucht, die Konsequenzen eines atomaren Krieges auf deutschem Boden zu extrapolieren, und war dabei zu erschreckenden Ergebnissen gelangt. Es war mit einer weitgehenden Vernichtung zu rechnen. Die obersten Planer konnten 200
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Z u m Folgenden vgl. grundsätzlich u n d w o nicht anders angegeben ebd., BW 1/54944: 70. Sitzung Bundesverteidigungsausschuss, III. Legislaturperiode, vom 13.1.1960, S. 2-69, Gesamtbericht über die strategische Lage von Heusinger (darin, S. 51-69: Bericht zur Log.-Übung Side Step), dazu ebd., 71. Sitzung vom 14.1.1960. Für Steinhoff vgl. BL 1/1027: DMV-Bericht 1962/1, S. 3 - 4 5 mit Anl. 1. Dazu Heuser, NATO, Britain, S. 124-147. Es ist allerdings schwer vorstellbar, dass ein solcher Frieden nach einem solchen Krieg dauerhaft gehalten hätte. Dazu vor allem Gablik, Strategische Planungen, S. 129-485. Z u m Folgenden vgl. Der Spiegel 1960, Nr. 32, S. 22.
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hier keine überzeugende Lösung anbieten, sondern verlegten sich auf die Forderung nach unbedingtem Durchhalten unter flexibler Ausnutzung aller Möglichkeiten. Hier spielte bei vielen wohl noch die Existenzkampfperspektive des Zweiten Weltkriegs mit204. Daraus hatte sich ein ganzer Forderungskatalog ergeben, der vom Aufbau autarker militärischer Schwerpunktversorgung (notwendig durch angenommene Inselbildung nach massiven Vorstößen der Angreifer) über atomsichere Depotplanung bis zur Forderung taktischer Auflockerung für die Luftwaffe unter Einführung von Senkrechtstartern reichte205. Von dieser Warte mit ihren düsteren Perspektiven aus trat man in die Beschäftigung mit dem neuen US-Konzept, der Flexible Response, ein und entwickelte die eigenen Ansätze entsprechend weiter. In der Folge kam es daher zu einem Perspektivenwechsel und zu einer Verfeinerung der Szenarien, die insbesondere auch für die Luftwaffe bedeutungsvoll werden sollten206. Man kam zunehmend davon ab, von einem umfassenden Gesamtschlag gleich zu Kriegsbeginn auszugehen, weil Washington dies auf keinen Fall mehr unternehmen würde. Gleichwohl - und dies ist ein zentrales und durchgängiges Paradigma hielt man an einem frühzeitigen Einsatz von Atomwaffen hartnäckig fest207. Die Bundeswehrführung war zwar bereit, auch - wie von den USA gefordert - eine Reduzierung der Nuklearverbände in Angriff zu nehmen und ein erheblich stärkeres Gewicht auf die konventionelle Kriegführung zu legen, weigerte sich aber beharrlich, die nuklearen Kampfmittel gänzlich aus den Planungen zu entlassen208. Dahinter standen neben militärstrategischen vor allem politische Erwägungen, wobei den weiterbestehenden Interessenkonflikten mit den westlichen Partnern, vor allem den USA, das Hauptgewicht zukam. Die Amerikaner waren keineswegs davon überzeugt, dass man einen frühen Ersteinsatz unternehmen sollte, legten sich auch nicht darauf fest, sondern schwiegen sich darüber aus. Für sie war es in allererster Linie wichtig, dass das Bündnis solange wie möglich konventionell widerstehen konnte, um eine nukleare Eskalation zu verhindern. Die Bundeswehrführung dagegen versuchte alles, um eine möglicherweise stillschweigende Verabschiedung der Atomwaffen aus der Bündnis204
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Dies ganz deutlich in der sog. >Auflockerungsrede< von Foertsch. Dazu unten, S. 436. Allerdings gab es solche Durchhalteszenarien auch schon vor 1939 und dies nicht nur in Deutschland. In Großbritannien hatten verschiedene Planer bereits in den 20er Jahren unter dem Eindruck der extrapolierten Schäden moderner Bomberflotten das Weiterleben und >Steinzeitbedingungen< vorgesehen und verlangt. BA-MA, BW 1/54944: 70. Sitzung Vtdg.-Ausschuss des Dt. Bundestages, III. Legislaturperiode, vom 13.1.1960, Vortrag Gen. Hobe zur NATO-Übung Side Step, S. 51 ff. Zum Folgenden vgl., wo nicht anders angegeben, ebd., BL 1/4029: Vortrag Trettners anlässlich der 12. Kommandeurstagung der Bw, Kriegsbild und strategisches Konzept aus dt. Sicht, vom 28.6.1966, und BL 1/4967: Fü S VII4,13. Kommandeurstagung der Bw, vom 21.7.1967, Vortrag von de Maiziere, Die Entwicklung des neuen strategischen Konzepts der NATO, seine Bedeutung und Folgen aus dt. Sicht. BL 1/4027: Rede des Genlnsp zum Abschluss der 16. Kommandeurstagung der Bw am 2.7.1970. Heuser, NATO, Britain, S. 143. Dazu auch BA-MA, BL 1/14705: Kammhuber auf der Kommandeursbesprechung der Lw 2/1961, am 10.6.1961, Fürstenfeldbruck, S. 1 f. BA-MA, BL 1/4568: STS BMVg, Auftritt des Vtdg.-Min. vor dem Vtdg.-Ausschuss des Dt. Bundestages am 2.2.1967, S. 4.
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planung für die direkte Verteidigung der Bundesrepublik (direct defence) zu verhindern und damit die Option auf eine aktive Teilhabe an der Entscheidung über die Nuklearwaffen und deren Einsatz und damit auf strategischen Schutz durch die NATO-Abschreckung aufrechtzuerhalten 209 . Die unterschiedlichen Standpunkte prallten ab Ende 1964 direkt aufeinander, als man auf Anregung des US-Generalstabschefs Earle Gilmore Wheeler vier gemeinsame Studien in Angriff nahm. Zentrale Bedeutung besaß hier die Studie Nr. 3 über den Einsatz der taktischen Luftstreitkräfte der NATO 210 . Die Amerikaner versuchten, ihre Auffassung unter anderem dadurch durchzusetzen, dass sie am Kriegsszenario manipulierten und nur begrenzte Angriffe annahmen. Im Übrigen argumentierte Wheeler in recht deutlichen Worten, dass es besser sei, ein begrenztes Gebiet auf dem Territorium der Bundesrepublik zumindest kurzfristig preiszugeben, als die ganze Allianz der Vernichtung anheim fallen zu lassen. Dem entgegnete Heinz Trettner nicht minder eindeutig, indem er die Vorstellungen der US-Militärs als realitätsfern bezeichnete. Mit den begrenzten Kräften der NATO war es vollkommen utopisch, Angriffe über einen minimalen Rahmen hinaus mit rein konventionellen Mittel zu verteidigen. Hinter all diesen Argumenten schwang immer die jeweilige Perspektive mit. Die Amerikaner argwöhnten europäische Leistungsschwäche und Bequemlichkeit, während die Deutschen amerikanische Unerfahrenheit und Uberoptimismus, gepaart mit den Zwängen aufgrund der Lage in Südostasien, vermuteten 211 . Die USA hatten den Zweiten Weltkrieg mit vielen Bündnispartnern und materieller Überlegenheit relativ komfortabel gewonnen und führten in Vietnam jetzt einen Krieg gegen einen militärischen Zwerg 212 . Gegen einen übermächtigen Gegner hatten sie noch nie gekämpft und wussten daher auch nicht, was dies konkret bedeutete. Die Position der Luftwaffe: Atomwaffen als Hauptkampfmittel gegen eine Dampfwalze aus dem Osten Die Luftwaffe trug ihren Teil zur Durchsetzung dieses Standpunktes, der auch in der Folge immer wieder vertreten wurde, bei und versuchte für ihren Bereich, die Ambitionen Washingtons hinsichtlich einer möglichst langen konventionellen Kriegführung als realitätsferne Träumerei zu entlarven. Steinhoff, seit 1966 Inspekteur der Luftwaffe, hielt beispielsweise an der Air University in Maxwell einen Vortrag vor hohen US-Militärs, in dem er die Vorstellungen 209
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Ebd., BL 1/3505: Fü L III 1 an Leiter Fü L III, DMV-Bericht 11/69, Kurzfassung vom 10.11.1969, S. 1 - 4 ; BL 1/4027: Rede des Genlnsp z u m Abschluss der 16. K o m m a n deurstagung der Bundeswehr am 2.7.1970, v.a. S. 8 - 1 0 . Ebd., Fü Β III 1, M e m o r a n d u m , Tätigkeitsbericht über die gemeinsame US-dt. Studie Nr. 3, Die Rolle der taktischen Luftstreitkräfte der N A T O in Mitteleuropa, 26.5.1965 (= NHP-Dok. 155, 18 ff.), S III 1, Stand der Bearbeitung der dt.-amerik. Studien vom 24.8.1965 (= N H P - D o k . 160), S III, Dt. Standpunkt z u m strategischen Konzept der N A T O vom 9.5.1966 (= NHP-Dok. 165, S. 6 f., mit Begleitdok.). Dazu auch Tuschhoff, Deutschland, S. 156. Die Zeiten der Ernüchterung hinsichtlich Vietnams waren Mitte der 60er Jahre noch weit entfernt.
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hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit, die Luftüberlegenheit für die »direct defence« auf konventionellem Wegen auch nur örtlich und zeitlich begrenzt herzustellen, für kaum möglich hielt213. Er bezichtigte die Amerikaner, keinen wirklichen Einblick in die strategische Situation in Europa zu besitzen, da sie niemals in einer Position der Unterlegenheit gewesen seien. Man könne weder die Luftglocke der USAAF im Zweiten Weltkrieg noch die Erfahrungen des Vietnamkrieges heranziehen. Die deutsche Luftwaffe dagegen habe 1943-1945 im Osten erfahren, wie die Verhältnisse eigentlich lägen. Diese Argumentationskette wurde von der Luftwaffe auch mit den >ehernen< Regeln des Luftkrieges begründet. Die Luftwaffe sei das dynamischste Element der Streitkräfte und im erheblichen Maß darauf angewiesen, dass man schnelle Änderungen der Taktik und des Einsatzes vornehmen könne. Gerade in Europa sei es infolge der Gesamtunterlegenheit lebenswichtig, dort flexibel zuzuschlagen, wo die größte Gefahr drohe. Nur so könne man den Feind in die Schranken weisen. Dazu gehöre auch die Option, aktiv Nuklearwaffen einzubeziehen. Von dieser Perspektive aus wurden die Atomwaffen als natürliche Erweiterung der Luftwaffendoktrin im 20. Jahrhundert gesehen. Eine >künstliche< Einschränkung auf kleine geografische Räume (CAS) oder nur eine Waffenart (konventionelle Munition) war nicht akzeptabel214. Damit machte man allerdings bei höchsten US-Stellen wenig Eindruck. Diese betonten, dass ein ausreichender Abwehrerfolg auch unter den genannten Bedingungen erzielt werden könne, und präsentierten zur Legitimierung angeblich günstige Prognosen für den zu erwartenden Kriegsverlauf215. Wie im 20. Jahrhundert insbesondere in anglo-amerikanischen Planungsstäben immer wieder praktiziert, hatte man unter dem Druck der großen Verpflichtung das sog. »scaling down« betrieben: Weil die Kräfte für einen überlegenen Einsatz nicht überall ausreichten, manipulierte man die Bedrohungsszenarien. Da man an einer weiteren Zuspitzung des Kalten Krieges nicht interessiert war und zusätzlich nichtsdestotrotz in Vietnam einen heißen Krieg ausfocht, der einen erheblichen Teil der Ressourcen beanspruchte, stufte man die Gefahren in Europa - wenigstens relativ gesehen - herab: »Entspannungspolitik und die Notwendigkeit, den Schwerpunkt der Anstrengungen nach Südostasien zu verlagern, veranlassen die USA zu einer weniger kritischen Beurteilung der Bedrohung Europa und führen zu einem gewissen Zurücktreten der Bedeutung Europas in den amerikanischen strategischen Überlegungen216.« 213
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215 216
BA-MA, BL 1/4027: Fü L III 1, Presentation by Chief of the German Air Staff given to the Air War College - Air University Maxwell, Alabama, 24.2.1970: Central Europe - Theatre of War sui generis, vom 24.2.1970. Dazu BL 1/3508, Fü L III 1: Entwurf zur Stellungnahme zur Studie der Stiftung Wissenschaft und Politik über Streitkräfteplanung vom 3.1.1969, S. 3 f. Fü Β III, Führungsweisung Nr. 1, Dt. Auffassung zum strategischen Konzept der NATO, 21.7.1965, NHP-Dok. 159, Begleitdok. Fü L III 1, Entwurf der Führungsweisung Nr. 1, Besprechung am 15./16.7.1965 bei Fü Β III, S. 4. Zum Druck der Amerikaner auf ihre Verbündeten siehe unten, S. 219 f. und 231. BA-MA, Fü Β III 1, MLF/ANF und die nukleare Frage vom 18.5.1965, NHP-Dok. 154, S. 5 f.
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Im Fall der Studie Nr. 3 einigte man sich schließlich, indem man die Szenarien einander anglich. Ausgegangen wurde von einem Angriff mit acht Division in begrenztem Raum. Die Amerikaner, die ursprünglich fast nur theoretisch von sehr begrenzten Luftstreitkräften ausgegangen waren, d.h. lediglich von sowjetischen und ostdeutschen, rückten auf Druck der Bundeswehr davon ab und bezogen nunmehr das ganze Potenzial ostwärts des Eisernen Vorhangs ein. D.h., die Angreifer hatten damit unerschöpfliche Reserven zugebilligt bekommen. Die Konsequenz war, dass die Kernwaffen nicht von vornherein aus dem Einsatzszenario ausgeschlossen, sondern mit den übrigen Optionen zumindest theoretisch verzahnt wurden 2 1 7 . Die westdeutsche Seite nahm im Gegenzug eine optimistischere Haltung hinsichtlich des konventionellen Kampfpotenzials ein. Die Bedeutung der Studie für die gesamte Diskussion ist zentral. Es ging letztlich weniger um die eigenen Handlungsmöglichkeiten und die eigene Planung von militärischen Zügen als vielmehr um die rationale Abwägung der Szenarien bzw. deren Intensität. Hier lagen dann auch die Grenzen der Kompromisse. Die US-Vertreter versuchten, für die weitere Arbeit eine Ausdehnung des Kriegsbildes auf einen massiven Atomeinsatz zu verhindern, während die deutschen Planer gemäß der Beschlusslage bei Fü S zum deutschen strategischen Standpunkt (Führungsweisung Nr. 1) bei jeglicher Ausdehnung über den sehr beschränkten Grundrahmen hinaus den »Allgemeinen« Krieg vorsahen 218 . So blieb nichts anderes übrig, als die Planungs- und Studientätigkeit fortzuführen und auf weitere Kompromisse zu hoffen. Insbesondere rechnete man mit der Entwicklung von hochwirksamer Munition für die konventionelle Kriegführung (COFRAM, Streu-, Schütt-, Bombletmunition). Die Luftwaffe bewegte sich zwischen Bundeswehrführung und den USForderungen. Sie reihte sich zwar mit ihrer kritischen Haltung in Bezug auf die begrenzten Möglichkeiten einer konventionellen Verteidigung Europas in die Argumentation der Bundesregierung und der Bundeswehrführung nach außen ein, dies jedoch nicht unbedingt in hundertprozentiger Ubereinstimmung mit Fü Β bzw. Fü S 219 , sondern eher aus Eigeninteresse. Ihre Position und ihre Bedeutung gerade auch in Bezug auf das Heer hing in wesentlichem Maße von der Beibehaltung der atomaren Verbände ab; und in der Tat hatte man ja Ende 217
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Tuschhoff, Deutschland, S. 224 ff. Es ist hier erneut zu bemerken, dass derlei Übereinkommen und Zusagen keinerlei Garantie für das Handeln der US-Regierung im Ernstfall bedeuteten. Sie stellten letztlich in erster Linie Mittel zur Erhaltung der Bündniskohärenz dar. Zur Führungsweisung Nr. 1: Fü Β III, Führungsweisung Nr. 1, Dt. Auffassung zum strategischen Konzept der NATO, 21.7.1965, NHP-Dok. 159, S III, Dt. Standpunkt zum strategischen Konzept der NATO vom 9.5.1966, NHP-Dok. 165, S III 1, Dt. Strategisches Konzept, Führungsweisung Nr. 1, Teil I, 26.1.1967, NHP-Dok. 173, S III 1, Strategische Auffassung in der NATO und der dt. Standpunkt, Beurteilung der Sicherheitslage der Bundesrepublik (2. Neubearbeitung des aide-memoire) vom 12.6.1966, NHP-Dok. 167. Der Führungsstab der Bw (Fü B) wurde im Zuge der Umorganisation und Zusammenfassung der einzelnen Ressorts des BMVg in Hauptabteilungen ab dem 1.8.1965 zum Führungsstab der Streitkräfte (Fü S) umbenannt. Bundesarchiv, Beständeübersicht (14.12.2004), URL: (Kopie der Website bei B.L.).
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der 50er Jahre unter der Option der MRBM eine Möglichkeit gesehen, eventuell der zentrale Bestandteil der Bundeswehr zu werden. Die Verlagerung auf vornehmlich konventionelle Kampfführung dagegen barg, wie noch darzulegen sein wird, die Möglichkeit einer Konzentration auf direkte Heeresunterstützung und damit die Gefahr einer starken Abhängigkeit vom Heer, möglicherweise sogar die Ausrichtung als eine Art Heeresfliegertruppe, in sich. Die anderen Einsatzarten, vor allem »interdiction«, machten bei konventioneller Bestückung aufgrund deren äußerst beschränkter Zerstörungswirkung kaum noch Sinn. Einstweilen aber blieb die Position der Luftwaffe gewahrt. Die politische Führung - und auch die oberste Ebene der Bundeswehr - konnte und wollte auf die nuklearen Potenziale nicht verzichten und weigerte sich bis auf Weiteres, hier irgendwelchen Reduzierungen zuzustimmen. Dies galt explizit auch für die F-104-Verbände. Diese hatte man, wie Fü Β betonte, in allererster Linie für den atomaren Einsatz beschafft220. Die begrenzten Kräfte der deutschen Luftwaffe - und auch die der übrigen NATO-Partner - wären im Ernstfall bei rein konventionellem Einsatz nach Stunden bzw. Tagen aufgerieben gewesen. Damit hätte man dem Feind die Lufthoheit überlassen - mit katastrophalen Folgen, weil die eigenen Bodentruppen zur Panzerabwehr schutzlos den Angriffen der feindlichen Jagdbomber gegenüber gestanden hätten. Der Zweite Weltkrieg verdeutlichte mehr als einmal, was dies bedeutete, und im Falle der Bundesrepublik hatte man auch kaum geographische Ausweichmöglichkeiten mehr. Deutschland wäre mit hoher Wahrscheinlichkeit dem Uberrennen preisgegeben gewesen221. Der formelle Strategiewechsel: Der Limited W a r und seine Unwägbarkeiten
Wie in demokratischen Systemen häufig zu beobachten, hatte man dann in allen Lagern einzusehen, dass stures Weiterdiskutieren nicht half, und raufte sich infolgedessen zusammen 222 . In den zuständigen NATO-Gremien erfolgte die Synthetisierung der verschiedenen Ansätze und Ergebnisse zu Kompromissen, was schließlich zur Neubearbeitung der konstitutiven strategischen Richtlinien führte. Am 12. Dezember 1967 bzw. am 4. Dezember 1969 verabschiedete das Defence Planning Committee (DPC), der oberste Planungsausschuss der NATO, die Papiere MC 14/3 und MC 48/3, mit denen der Umbruch seinen formellen Abschluss fand 223 . Keiner der beteiligten Partner konnte sich durchsetzen und
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Statement of the Federal Minister of Defence concerning Item II, Part, of the Agenda, Mai 1963, NHP-Dok. 137, Begleitdok. Stellungnahme zum Schreiben Mr. Gilpatric vom 8.5.1963, S. 3. Dazu auch Tuschhoff, Deutschland, S. 148-152 und 232 f. Belege wie in Anm. 224. Bei den dt. Führungsgremien ging die Bereitschaft dazu auf die Erkenntnis zurück, dass ohne die USA »Europa nicht verteidigt werden >kannNukleare Schwelle< unter besonderer Berücksichtigung des Luftkrieges, vom 30.11.1961. Ebd., BL 1/1753: InspLw, Gedanken zur weiteren Entwicklung strategischer Pläne und ihre Auswirkung auf die Aufstellungsplanungen der Bw, vom 16.10.1959, S. 9 f. Ebd., BL 1/1027: Studie von Steinhoff, NATO-Strategie und >Nukleare Schwelle< unter besonderer Berücksichtigung des Luftkrieges, vom 30.11.1961, S. 19-40.
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aus, ohne dass diese eine nennenswerte Verteidigungswirkung erzielt hätten. Die Überlegenheit der sowjetischen Luftwaffe im konventionellen Bereich sei insbesondere aufgrund der Tatsache, dass sie das Gesetz des Handelns bei einem Angriff bestimme, derart drückend, dass ein Kampf kaum gewonnen werden könne. Die anfliegenden Verbände könnten mit bodengestützten Verteidigungsmitteln nur wenige Minuten bekämpft werden, da der Munitionsvorrat an Raketen infolge ihrer hohen Anschaffungskosten rasch verbraucht sei. In diesem Zusammenhang verwies Steinhoff nochmals auf die frühe Luftverteidigungsstudie Aldingers (1953), in der dieser gefordert hatte, das ganze Bundesgebiet schachbrettartig mit FlaRak zu belegen. Derlei Gedankenexperimente waren in der gegebenen wirtschaftlichen und finanziellen Situation vollkommen utopisch240. Auch im offensiven Bereich gab es bei einem rein konventionellen Kampf wenig Hoffnung. Wie die »Studie Offensive Verteidigung« ermittelt hatte, gab es in Osteuropa (inkl. der sowjetischen Westgebiete) etwa 2000 Ziele, davon mindestens 600 allein für die NATO-Luftstreitkräfte (Jabos und Raketen)241. Eine rein konventionell kämpfende Truppe hatte, wenn sie nicht schon beim Erstschlag vernichtet worden wäre, hier nicht nur kaum eine Chance auf Erfolg, sondern musste gewärtigen, in kurzer Zeit aufgerieben zu werden 242 . Selbst die atomar bestückten NATO-Luftstreitkräfte konnten bei einem angenommenen Verlust von 30 % am Boden und weiteren 30 % Ausfall durch technische Mängel in den ersten drei Tagen insgesamt höchstens 1110 Ziele, also etwas über die Hälfte, vernichten243. Dies bedeutete, dass der Ostblock es sich leisten konnte, zunächst rein konventionell zu kämpfen, gleichzeitig aber jederzeit massive Nuklearschläge auszuführen 244 . Steinhoff ging detailliert auf die taktisch-technische Dimension ein, für die Luftwaffe ein konstitutives Kernelement. Die voranschreitenden Innovationen im technischen Bereich mit der Tendenz zu hochgerüsteten komplizierten Waffensystemen erlaubte die Anschaffung einer nur relativ geringen Anzahl an 240
241
242
243
244
Ebd., S. 14 f. Vgl. auch Kammhubers deutliche Ablehnung dieses Gedankens, in: ebd., BL 1/14648: Tgb. InspLw, Eintrag vom 14.5.1957, Notiz zur Besprechung Fü L - Vertreter Abt. XII, BMVg. Ebd., BL 1/1753: Fü L II, Studie Offensive Verteidigung 1959 (vor dem 16.10.), S. 23-32, mit Tafeln 4-10. Dieser Zahl entsprach nach Fü Β in etwa die Planung von SACEUR (für den Zeitraum 1967-1970). Dort waren 1850 Ziele vermerkt. Fü Β III 8, Sprechzettelbeitrag für Besprechung bei SACEUR am 27.1.1964, NHP-Dok. 147. Ebd., S. 49. BA-MA, BL 1/1027: Studie von Steinhoff, NATO-Strategie und »Nukleare Schwelle< unter besonderer Berücksichtigung des Luftkrieges vom 30.11.1961, S. 12-18. Ebd., BL 1/1753: Fü L II, Studie Offensive Verteidigung 1959 (vor dem 16.10.), Tafel 16. Hierbei waren schon sehr günstige Grundbedingungen angenommen worden (nur 10 % Verluste im Kampf). Dennoch nahm man an, dass nach den ersten 3 Tagen nur noch knapp über 1/3 der Kräfte vorhanden waren. Bei der Betrachtung der Schlagkraft muss berücksichtigt werden, dass 1959 sowohl die Umrüstung auf den Starfighter und andere verbesserte WS noch bevorstand als auch die Ausrichtung der dt. Luftwaffe auf den Strike nur mit 2 Stff = 50 Flugzeuge vorgesehen war. Die Einplanung aller 10 Jabo-Stff auf FBS ging möglicherweise auf die defizitäre Zielabdeckung zurück. Ebd., S. 19 und 27.
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Maximale Aktionsradien der deutschen Luftwaffe (Vergleich F-104 und F-105), Stand: 1959*
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Quelle: BA-MA, BL 1/1753, Fü L II, Studie Offensive Verteidigung 1959.
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Maschinen245. Diese Tatsache kam einem Angreifer, der dazu noch unglaublich große Reserven und unzählige militärische Stützpunkte besaß, sehr zustatten. Für den Westen schuf dies fortlaufend Zwangslagen. Die mögliche Alternative eines Rückfalls in die Verhältnisse des Zweiten Weltkriegs und damit die Produktion von Tausenden von Maschinen alten Typs bezeichnete Steinhoff als abwegig, weil der Ostblock dann eine noch größere Überlegenheit bekomme 246 . Schwere >Hammerschläge< gegen die dichtgedrängten Einrichtungen auf dem Bundesgebiet würden die Niederlage perfekt machen, bevor zahlreiche >Bienenstiche< der NATO mit derlei Flugzeugen überhaupt irgendeine Wirkung gezeigt hätten. Nein, man musste trotz aller Schreckensvision die technischen Möglichkeiten konsequent zu Ende führen und dies bedeutete: moderne Kampfverbände, im Falle der Luftwaffe auf der Basis der F-104 in Kombination mit der weitgehenden Ausrüstung mit Atomwaffen. Der Einsatz der teuren Starfighter im konventionellen Kampf stellte in den Augen der Luftwaffenführung eine durch nichts zu rechtfertigende Verschwendung von Material und Piloten dar247. Diese Linie hatte Kammhuber in den Diskussionen mit den anderen Teilstreitkräften und der Bundeswehrführung 1959 nachdrücklich vertreten und darüber hinaus noch die relativ hohe Kosteneffizienz angeführt 248 . Den Standpunkt insbesondere des Heeres betrachteten er und sein Führungsstab als teilweise wirklichkeitsfremd. Dies durchaus nicht vollkommen zu Unrecht. Das Heer hatte in seiner Konzeption nahezu alle Hoffnungen auf eine konventionell geführte Vorwärtsverteidigung gesetzt und die Atomwaffen lediglich als additives Mittel zur Bereinigung von Einbrüchen eingeplant. Durch bewegliche Kampfführung sollten die Feindkräfte in ihrer Masse rasch wieder zurückgedrängt werden. Nur rasch vorgestoßene Verbände, die im ersten Treffen nicht hätten besiegt werden können und daher nach Abschluss des Hauptkampfes noch auf Bundesgebiet standen, wären mit taktischen Nuklearwaffen vernichtet worden 249 . Kammhuber kritisierte, dass das Heer die Atomwaffen strategisch damit marginalisiert habe und an den Realitäten vorbeigegangen sei250. Als Alternative präsentierte er ein Modell, das den modifizierten Ansätzen der Massive Retaliation entsprang, und befand sich damit im Grundsatz auch schon auf dem Wege der Einteilung der Kriegsphasen gemäß der Flexible Response. Er behauptete keineswegs, dass ein künftiger Krieg von Beginn an mit allen zur Verfügung stehenden nuklearen Waffen geführt werden müsse, sondern ge245 246 247
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Ebd., S. 7-10. Ebd., S. 10 u n d 35 f. Die dt. Luftwaffen-Führung konnte sich - zumindest in der frühen Diskussion - auf entsprechende NATO-Studien berufen, in denen genau dies bestätigt wurde. Siehe BA-MA, BL 1/1885: Fü L II 1, Einsatz und Bevorratung der F-104 G Verbände für konventionelle Aufgaben vom 14.5.1963 mit einem Begleitdok. Ebd., BL 1/1753: InspLw, Stellungnahme zu den Studien von InspHeer und InspMarine, S. 14 ff. Ebd., InspHeer, Auffassung des Heeres zur weiteren Entwicklung strategischer Pläne und ihre Auswirkung auf die Aufstellungsplanungen, vom 16.10.1959, S. 9-18. Ebd., InspLw, Stellungnahme zu den Studien InspHeer u n d InspMarine, S. 9 ff.
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stand dem Heer durchaus eine wichtige Funktion zu. In den ersten beiden möglichen Phasen östlicher Angriffe sollte konventionell unter Beteiligung der Luftwaffe verteidigt werden 251 . Daher hatte die Luftwaffenplanung auch mehrere Geschwader an leichten Jagdbombern eingeplant (G-91), die zwar eine Nuklearfähigkeit252 besitzen, aber in erster Linie zur direkten Heeresunterstützung eingesetzt werden sollten. Die konventionelle Periode endete in Kammhubers Perspektive aber recht rasch - dann nämlich, wenn die nuklearen Kernverbände insbesondere auch der Luftwaffe in Gefahr standen, vernichtet zu werden. Die Pause, in der dem Osten klargemacht werden sollte, dass es nun Ernst war, definierte die Luftwaffenführung aufgrund der technischen Gegebenheiten äußerst kurz, im Extremfall handle es sich möglicherweise nur um Minuten253. Danach, in Phase 3, würde das Zuschlagen mit allen atomaren Mitteln, insbesondere auch den StrikeVerbänden der Luftwaffe, erfolgen. Das Heer hätte in diesem Geschehen nur noch Wach- und Grenzschutzaufgaben. Ein längerer konventioneller Kampf käme allein schon deshalb nicht in Frage, weil eine dauerhafte Herstellung der Luftüberlegenheit, eine der unverzichtbaren Grundvoraussetzungen für eine erfolgreiche Abwehr, auf keinen Fall erreichbar sei254. Letztlich gestand Kammhuber dem Heer damit eine nur begrenzte Rolle zu. Dies bedeutete nicht, dass er dessen weitgehende Abrüstung verlangt hätte. In seinen Planungen waren für die deutschen Landstreitkräfte 12 Divisionen vorgesehen, die allerdings zur Hälfte statisch an der Grenze zur DDR stationiert werden und außerdem einen abgestuften Bereitschaftsgrad haben sollten255. Dieses Modell ließ sich allerdings nicht durchsetzen. Fü Η seinerseits ging da-
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Ebd., InspLw, Gedanken zur weiteren Entwicklung strategischer Pläne und ihre Auswirkung auf die Aufstellungsplanungen der Bundeswehr, vom 16.10.1959, S. 14-32, für konventionelle Unterstützung S. 31. Die Ausstattung der G-91 mit Atomwaffen war ein fester, wenn auch erst für die Zukunft anvisierter Bestandteil des ursprünglichen NATO-Konzepts für den Light Weight Strike and Reconnaissance Fighter gewesen, das bei seiner Entstehung auf der sich gerade etablierenden Massive Retaliation basierte. Siehe BA-MA, BL 1/222: SHAPE, Operational Plan for the NATO Lightweight Strike-Recce Aircraft (2nd Draft, Col. J.J. Driscoll vom 27.4.1959). Die dt. Luftwaffe bereitete sich entsprechend vor und ließ den Atomwaffeneinsatz in den USA testen, rüstete auch eine Mustermaschine zum Einsatz mit der Mk. 57 - Atom-Bombe ( 2 - 1 0 kt) aus und versuchte dazu auch möglichst rasch die Genehmigung der US-Atomenergiebehörde Joint Atomic Energy Group (JAEG) zu erhalten. Siehe ebd., BL 1/1885: Note for record (mit dt. Übersetzung), an Speidel, Paraphe von BG Wilde, Dual capability for Fiat G-91 and F-104 G vom 29.10.1963. Eine Einführung der Atomwaffen kam jedoch nicht zustande, da man teils erhebliche grundsätzliche Technikprobleme mit der Maschine hatte (Siehe unten, S. 3 8 4 - 3 8 6 ) und infolge des Strategiewechsels dann eine entsprechende Ausrüstung auch konzeptionell ausschied. Siehe unten, S. 218 und 238. Ebd., BL 1/1753: InspLw, Stellungnahme zu den Studien InspHeer und InspMarine, S. 12 f. Ebd., S. 2 ff. Ebd., Gedanken zur weiteren Entwicklung strategischer Pläne und ihre Auswirkung auf die Aufstellungsplanungen der Bundeswehr, vom 16.10.1959, S. 14-32, für konventionelle Unterstützung S. 30, und ebd., InspLw, Stellungnahme zu den Studien InspHeer und InspMarine, S. 10 f.
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von aus, dass der Westen selbst im globalen Atomkrieg den Warschauer Pakt nicht so schnell vernichten konnte, dass ein Einmarsch der Osttruppen zu verhindern war256. In etwas traditioneller Sichtweise ging man davon aus, dass im Bündnis »jeder Partner einen ihm artgemäßen Verteidigungsbeitrag« leiste257. Im deutschen Falle sei dies das Heer, dass von den Teilstreitkräften am Besten geeignet sei, den Hauptauftrag, den unmittelbaren Schutz des eigenen Landes und seiner Bevölkerung, zu bewerkstelligen. Anstatt zu stark und zu rasch mit der nuklearen Vernichtung zu liebäugeln, solle die Luftwaffe darauf hinarbeiten, das Heer mit taktischen Verbänden zu unterstützen. Landstreitkräfte nach Gusto von Kammhuber seien möglicherweise noch nicht einmal in der Lage, begrenzte Angriffe abzuwehren. Die Luftwaffe antwortete darauf mit der Frage, was es nach massiven Atomschlägen, die ja schon nach dem Einsatz einzelner Atomwaffen - einer Option, die von Heer und Marine ja nicht abgelehnt werde - zu erwarten seien, denn noch zu schützen gäbe. Die Marine wies mit Unterstützung des Heeres darauf hin, dass es in erster Linie darauf ankomme, der Politik im Ernstfall einen Spielraum zu schaffen, d.h. so lange wie möglich konventionell zu kämpfen, um den Konflikt rasch ohne größere Vernichtung zu beenden 258 . Letztlich waren schon zu diesem Zeitpunkt sämtliche Elemente der Diskussion um die Flexible Response enthalten. Alle Konzepte stiegen und fielen mit den Nuklearwaffen und den Unsicherheiten in Bezug auf deren Ersteinsatz sowie die zu erwartenden Folgen. Niemand konnte hier sichere Voraussagen treffen, weshalb der ganze Streit auch kein inhaltliches Ergebnis zeitigte. Heer und Marine betonten die Möglichkeiten konventioneller Verteidigungsführung unter Einschluss taktischer Atomwaffen, während die Luftwaffe, hinsichtlich der Weiterentwicklung des Gesamtverteidigungsspektrums, die Führung eines Krieges letztlich als unmöglich bezeichnete und daher eigentlich vor allem die Abschreckung in den Vordergrund stellte. Die Beantwortung der Frage, ob das Führen eines begrenzten und möglichst auf konventionelle Waffen zugeschnittenen »limited war« ein wirklich realistisches Konzept darstellte, hing davon ab, wie man die Einsatzoptionen der Atomwaffen bewertete. Von dieser Lage aus ergaben sich dann auch die Detaildiskussionen in der aktuellen und allen folgenden Debatten. Es kam zu einem dauernden Ringen um die Verteilung der knappen Haushaltsmittel, wobei alle Register gezogen wurden. Die Teilstreitkräfte und Fü S jonglierten mit Zahlen, Strukturen, Mannschaftsstärken und technischen Basisdaten. Dem Betrachter bietet sich ein verworrenes, kaum zu durchschauendes Bild. Konzepte, Planungsansätze und
256
257 258
Ebd., Fü Η II, Stellungnahme zu den Studien über strategische Probleme, vom 9.11.1959, S. 7 ff. Ebd., S. 7. Ebd., InspMarine, Gedanken zur weiteren Entwicklung strategischer Pläne u n d ihre Auswirkung auf die Aufstellungsplanungen der Bw, S. 1 ff.
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Stärkeberechnungen erreichten mitunter sehr wenig praktische Relevanz, weil sie allzu rasch von neuen Einflüssen und Forderungen überholt wurden 259 . Problematisch wurde es insbesondere bei der Gewichtung der Mittel vor dem Hintergrund der möglichen Einführung der Mittelstreckenraketen (MRBM). Es war klar, dass eine Schwerpunktbildung stattfinden musste, bei der eine Teilstreitkraft möglicherweise den Vorzug vor den anderen bekommen konnte260. Dass eine solche Atomstreitmacht zusätzliche, ausgedehnte Ressourcen beanspruchen und damit alle finanziellen Spielräume ausschöpfen würde, war allen Beteiligten klar. Deshalb nimmt es nicht wunder, dass vor allem das Heer auf den Plan trat. Die Heeresführung verlangte als Alternative die Ausstattung mit weiteren Panzer- und Grenadierbrigaden und vor allem die Aufstellung einer eigenen kampfkräftigen Heeresfliegertruppe für die direkte Unterstützung auf dem Schlachtfeld (close air support) 261 . Außerdem beanspruchte man weiterreichende Raketen wie die Pershing für sich262. Kammhuber wiederum lehnte dies vehement ab. Gegen leichte Heeresfliegertruppen auch mit entsprechenden Kampfaufträgen hatte er grundsätzlich nichts einzuwenden 263 , aber einen Kernbereich der Luftwaffenaufgaben, den »close air support« (neben counter air, reconnaissance, interdiction und Lufttransport), zu teilen oder gar ganz abzugeben, stand für ihn außerhalb aller Möglichkeiten264. Ähnlich erging es den Konzeptionen der Marine. Leichte Marineflieger wurden akzeptiert, auch besaß Kammhuber keine Vorbehalte gegen seegestützte Nuklearwaffen im Rahmen der MLF265, aber schwere strikefähige Marineflieger lehnte er ab266. Letztlich ergaben sich auch in diesen Fragen keine endgültigen Ergebnisse und revolutionäre Änderungen unterblieben. Einstweilen stellte der Fü S in den praktischen Aufstellungsplanungen bis zu 10 000 Mann für eine MRBMStreitmacht ein, ohne über die genauere Zuordnung zu entscheiden267. Das
259
Für die ü b e r a u s komplizierte u n d teils auch unübersichtliche A u f s t e l l u n g s p l a n u n g a u s Sicht der L u f t w a f f e (u.a. A u f s t e l l u n g s w e i s u n g e n 6 - 1 0 ) siehe etwa in BA-MA, BL 1/1908, 4022, 1796, 1797, 1815, 1817, 2186, 4899, 508. D a z u BL 1/4897: Fü Β IV 1, E n d p l a n u n g d e r B u n d e s w e h r u n d Zwischenziele 1965/66 mit Begleitdok. Ein sehr guter Uberblick über die allgemeine Hektik in: BL 1/4568: Fü L VI an Steinhoff, v o m 1.9.1966. 260 Z u r G e w i c h t u n g u n d H a n d h a b u n g dieser G r u n d p r o b l e m a t i k siehe BA-MA, BL 1/4967: Fü S VII 4, 13. K o m m a n d e u r s t a g u n g der B u n d e s w e h r , v o m 21.7.1967, Vortrag v o n d e Maiziere, Die Entwicklung des n e u e n strategischen K o n z e p t s der N A T O , seine Bedeut u n g u n d Folgen a u s dt. Sicht, S. 19. 261 Ebd., BL 1/1753: InspHeer, A u f f a s s u n g des Heeres z u r weiteren Entwicklung strategischer Pläne u n d ihre A u s w i r k u n g auf die A u f s t e l l u n g s p l a n u n g e n v o m 16.10.1959, S. 18 f. u n d 30. 262 Ebd., S. 30 u n d 32-34. 2 « Ebd., BL 1/14647: Tgb. InspLw (bzw. Abteilungsleiter VI), Eintrag v o m 10.11.1956, mit Anl., Notiz Rücksprache mit Gen. Röttiger u n d Ο Pape. 2M Ebd., BL 1/1753: InspLw, S t e l l u n g n a h m e zu den Studien der Insp. des Heeres u n d der Marine, S. 7 f. 265 Ebd., InspLw, G e d a n k e n z u r weiteren Entwicklung strategischer Pläne u n d ihre A u s w i r k u n g auf die A u f s t e l l u n g s p l a n u n g e n der Bw, v o m 16.10.1959, S. 32 f. 2h6 Ebd., InspLw, S t e l l u n g n a h m e zu d e n Studien der Insp. des Heeres u n d der Marine, S. 13. 2 7 " Ebd., BL 1/4897: Fü Β IV 1, E n d p l a n u n g der Bw u n d Zwischenziele 1965/66, Anl. 1 u n d 9.
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Problem erledigte sich dann Mitte der 60er Jahre von selbst, da sich die Pläne für die Beschaffung solcher Raketen im Bündnis nicht durchsetzen ließen268. Hatten sich 1959 also Heer und Marine einer Forderungsdominanz der Luftwaffe zu erwehren, so begann sich die Gewichtung nach Antritt der Kennedy-Regierung dann langsam zu ändern. Aus der Luftwaffe selbst in diesem Prozess gingen wesentliche Impulse von Steinhoff aus. Dieser hatte die Veränderungen im Zuge der Neuausrichtung der US-Administration sehr genau mitbekommen. Insbesondere registrierte er, wie der zivile Apparat die Leitung der Militärpolitik zunehmend selbst in die Hand nahm und dabei Heer und Marine unterstützte 269 . Die Luftwaffe, die unter dem sehr dogmatisch auf die strategische Bomberstreitmacht festgelegten Curtis LeMay weiterhin die globale Abschreckung unter maximaler Auslegung der Massive Retaliation vertrat, geriet dadurch ins Abseits. Die US-Army begann, wie schon ihr früherer Stabschef Maxwell D. Taylor, der 1962 Vorsitzender der Joint Chiefs of Staffs wurde, gefordert hatte, den Aufbau einer global einsetzbaren Heeresfliegertruppe zu inaugurieren. Gegen diese neue Machtkonstellation konnte die Luftwaffe nicht ankommen, wurde sogar in den Besprechungen zunehmend ignoriert. Um nicht vollkommen unter Druck zu geraten und möglicherweise einen substantiellen Verlust im Bestand an Kampfkräften abgeben zu müssen, begann die USAF das Spiel der anderen Teilstreitkräfte mitzuspielen. Dass damit eine strategischinhaltliche Gratwanderung begann, war den verantwortlichen Luftwaffenleuten sehr wohl bewusst. Die Planspiele wurden durch diese machttaktischen Änderungen inhaltlich beeinflusst und gewissermaßen zurechtgebogen. Die Szenarien bei einem konventionellen Krieg in Europa blieben grundsätzlich gleich - sie endeten, wie auch Steinhoff in seinem Papier von 1961 angeführt hatte, zunächst immer mit der raschen Vernichtung der NATO-Luftwaffe, ohne dass diese substantielle Wirkung erzielt hatte. Man führte nun aber einen neuen Zentralaspekt ein, das sog. »hardening«, den Schutz der Flugplätze und Maschinen durch Bunker, Auflockerung etc. Diese Überlebensmaßnahmen hatte man zwar schon seit 1955 ins Auge gefasst, auf der strategischen Planungsebene infolge der praktischen Schwierigkeiten bei der Umsetzung aber nie wirklich als entscheidend betrachtet. Die Planspiele wurden, wie Steinhoff anmerkte, mit diesem Element »schlagartig« geändert: Ein Einsatz machte nun auch in konventioneller Kriegführung wieder Sinn. Ob sich die zugrunde gelegten Maßnahmen nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund der Ressourcen- und Kassenlage vollständig realisieren ließen und selbst bei großzügiger Umsetzung ein optimistisches Szenario auch tatsächlich deckten, darf bezweifelt werden. Steinhoff erkannte jedenfalls, dass es wohl nicht lange dauern würde, bis die neuen Perspektivlinien in Europa ankommen würden. Gerade das Heer hätte unter diesen Umständen seine Pläne für eine umfangreiche eigene Fliegertrup268 269
Siehe dazu Beitrag Krüger in diesem Band, S. 47-50 und 60-65. Zum Folgenden vgl. BA-MA, BL 1/1753: Steinhoff am 15.3.1963 als DMV an Panitzki. Dieser Brief ist ein Schlüsseldok. für die Geschichte der dt. Luftwaffe bis 1970.
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pe beleben können. So galt es für die Luftwaffe unter Ausnutzung des (Zeit-) Vorteils, den sie aufgrund der Tätigkeit von Steinhoff als Deutscher Militärischer Vertreter im Militärausschuss der NATO besaß, zu handeln. Steinhoff änderte seine offizielle Meinung recht schnell und erstellte noch vor Beendigung seiner Tätigkeit in Washington ein neues Papier, in dem moderatere Töne angeschlagen wurden 270 . Letztlich war auch er ein eindeutiger Vertreter des Aufrückens in die strategische Liga, wie dies von Kammhuber seit Jahren schon vertreten wurde, nur warnte er vor schnellen Festlegungen auf entsprechende Raketenstreitkräfte, dies gar noch auf Kosten der schweren Jabo-Verbände. Man hatte sich nach den Verhältnissen in den USA zu richten. »Ich bin, um das klarzustellen, absoluter Anhänger der Norstadschen Strategie Anschaffung von MRBM für die europäischen NATO-Staaten mit strategischer Ausrichtung gegen die Sowjetunion^ aber seien wir uns darüber klar, daß wir weit davon entfernt sind, sie durchzusetzen 271 .« In den folgenden Jahren fuhr die Luftwaffe dann einen Kurs der hinhaltenden Verteidigung. In der Sache letztlich keineswegs zu Konzessionen gewillt, fand man sich in den Verhandlungen zu Kompromissen bereit272. Man sträubte sich 270
Gablik - Strategische Planungen, S. 358 ff. und 457 ff. - stellt in diesem Rahmen die These auf, dass Steinhoff einer der Vordenker gewesen sei, die eine »Behinderung der Strategie« (S. 358) durch ein allzu starkes Beharren auf den Nuklearwaffen erkannt hätten (dazu auch Anm. 199 auf S. 479). Dies ist nicht korrekt. Steinhoff war kein strategischer Idealist, sondern handelte in hohem Maße aus machttaktischen Erwägungen im Zusammenhang der Vtdg.-Administration heraus. Ende 1966, als er bereits InspLw war, sprach er sich noch einmal nachdrücklich dafür aus, dass der Hauptauftrag der Luftwaffe ein nuklearer sei und kein Anlass bestehe, freiwillig auf die Atomwaffen für die Luftwaffe zu verzichten. Siehe BA-MA, BL 1/3508: Fü L III 1, AG Konzeption der Lw; Untersuchung des Auftrages der Lw in der Führungsweisung Nr. 1 vom 1.12.1966, S. 5 f. und 16 f. Die These Gabliks, nach der Steinhoff und ihm nachfolgend Fü L aus »strategischer Einsicht; bereitwillig eine umfangreiche Unterstützung des Heeres mit konventionellen Mitteln befürwortet hätten (S. 457 f.), entspricht ebenfalls so nicht den Tatsachen. Die konventionelle Option wurde - allein schon wegen der weiterhin als unmöglich betrachteten Erlangung dauerhafter Luftüberlegenheit - nur im Rahmen der allgemeinen Kompromisse in Bw und NATO mitgetragen. D.h., man ließ den genauen Zeitpunkt für den Einsatz von Kernwaffen explizit offen, definierte ihn indirekt aber recht genau. Für die Luftvtdg. wurde etwa die »Freigabe atomarer Sprengköpfe« nachdrücklich gefordert, »wenn die konventionellen Luftverteidigungs-Mittel nicht ausreichen«. BA-MA, BL 1/3508: Fü L III 1, AG Konzeption der Lw; Untersuchung des Auftrages der Lw in der Führungsweisung Nr. 1 vom 1.12.1966, S. 19 f. Da die Feuerdauer der NIKE-Batterien wegen der relativ gesehen geringen Anzahl von Raketen auf unter 60 Min. begrenzt blieb und AtomSprengköpfe ohne Flugkörper nicht verschossen werden können, blieb für einen Einsatz von Atomwaffen aus Sicht des Fü L nach wie vor eine Zeitspanne von Minuten nach Kriegsbeginn im zentralen Fokus. Man musste - quasi um der TStk selbst willen - immer zuerst das technisch-taktische Kalkül im Auge behalten. Idealismus für eine wie auch immer geartete Weiterentwicklung der Strategie dürfte wohl kaum ein beherrschendes Element gewesen sein. Insofern darf auch nicht angenommen werden, dass die TStk inklusive ihrer Insp., wenn es um ihre Interessen ging, allzu stark über ihren eigenen Tellerrand geblickt haben.
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BA-MA, BL 1/1753: DMV (Steinhoff) an Ο i.G. Büchs, Fü L II vom 22.10.1962, S. 3. Zum Nachstehenden vgl. grundsätzlich die folgenden Kerndokumente: ebd., BL 1/11151: Fü L II 1, Militärische Beurteilung der Lage der NATO bis 1970, hier: Grundsätzliche Stellungnahme vom 17.7.1963; BL 1/1822: Fü L II 1, Aufstellungsplanung der Lw 1970
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nicht, den Sinn der Flexible Response grundsätzlich anzuerkennen, wobei man aufgrund der Unsicherheiten in Bezug auf den Ersteinsatz der Atomwaffen auch Spielraum bei der Auslegung der Strategiemodelle hatte273. So beteiligte man sich aktiv an der Umgestaltung der Einsatzstruktur der Luftwaffe unter US-Ägide274. Die Amerikaner verlangten zumindest die Einführung einer Doppelrolle für die schweren Jabo-Geschwader. Im Rahmen des bilateralen Austausche vereinbarte man unter US-General Wheeler die Erstellung der speziellen Studie (Studie Nr. 3) zur Auslotung der konventionellen Ausrichtung der deutschen Kampfverbände 275 . Das Ausmaß der Veränderungen konnte von Fü L durch eine geschickte Verhandlungstaktik begrenzt werden. Die Luftwaffe betonte, dass sie ja mit den vier G-91-Geschwadern schon eine starke Komponente zur Unterstützung des Heeres eingebracht habe, und verstärkte dies durch die endgültige Verabschiedung aller Pläne, die G-91 nuklear auszurüsten. Die schweren Geschwader, d.h. die insgesamt 10 Staffeln F-104, wurden wie folgt neu eingestuft: sieben Staffeln erhielten als Erstrolle den Strike-Auftrag (FBS, Fighter Bomber Strike), saßen also gewissermaßen weiterhin auf der Atombombe und sollten erst im Ernstfall, je nach Befehl der NATO, auf eine konventionelle Kampfführung umgerüstet werden: die JaboG 31, 33, 34 und die 1. Staffel des JaboG 36276. Die restlichen drei Staffeln erhielten als Erstrolle einen konventionellen Auftrag (FBA, Fighter Bomber Attack) und hätten bei einem Angriff sofort zur konventionellen Unterstützung eingesetzt werden müssen 277 . An dieser Konstellation änderte sich bis 1971 nichts. Verteidigungsminister Schmidt entschied dann, zum 1. Januar 1972 die 1. Staffel des JaboG 36 aus dem Strike-Auftrag herauszulösen - dies nicht zuletzt auch wegen der per-
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vom 7.3.1964; BL 1/2107: Fü L II, NATO-Vtdg.-Planung, hier: Bearbeitung der Force Goals 1970 vom 30.10.1964; BL 1/3508: Fü S III 2, Paper zur Führungsweisung Nr. 1 vom 2.6.1972, mit Begleitdok.; BL 1/3508: Fü L III 1, AG Konzeption der Luftwaffe; Untersuchung des Auftrages der Luftwaffe in der Führungsweisung Nr. 1 vom 1.12.1966; BL 1/3508: FüAk Abt. Lw an Fü L III, Beitrag für die Gesamtstellungnahme der FüAk (Stellungnahme Abt. Lw) vom 5.1.1967, und BL 1/6441: Fü L11, Führungsweisung Nr. 1 (Kommentar/Mitzeichnungsbemerkungen), mit Begleitdok. Ebd., BL 1/4050: Fü L III 1, Vortrag Konzeption und Rüstungsplanung der Luftwaffe, Einweisung GenMaj v. Butler als zukünftiger StvChef des Stabes SHAPE, Planung und Führung DCPO, am 10.11.1967, v.a. S. 3-13. Zum Folgenden als Kerndok.: BA-MA, BL 1/1908: Fü L III 1 an Abt. S, Nukleare Unterstützung der deutschen Jabo-Stffn durch die USA vom 12.1.1966 mit zahlreichen Telegrammen und weiteren Dok. 1966/67. Ebd., BL 1/4029: Fü L III 1, Bestmögliche Reduzierung der fliegenden Strike-Kapazität der Luftwaffe vom 18.3.1966, S. 2. Ebd.: Fü L III 1, Untersuchung über Reduzierung von Strike-Aufgaben bei JaboG vom 19.7.1971, S. 1. Dazu BL 1/104: S III 1, Nukleare Unterstützung für die schweren JaboVerbände vom 13.6.1966. Ursprünglich hatte man für die JaboG 32, 34 und 36 jeweils die 1. Staffel als FBS assigniert, dies jedoch aufgrund taktischer Anweisungen von SACEUR geändert. Siehe ebd., BL 1/4029: Fü L III 1/3, Weisung zur Neuverteilung der Einsatzrollen und zur Herstellung der Einsatzbereitschaft der schweren JaboG mit konventionellem Kampfauftrag vom 11.7.1968, mit Begleitdok. Ebd., BL 1/4924: Fü L III 1, Konventionelle Luftkriegführung in Mitteleuropa; Positionspapier Fü L zur Vorbereitung der AFCENT Conventional Offensive Air Operations Conference, Jan. 1969, vom 6.1.1969, S. 27 ff.
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sonellen Mangelsituation, die die Zusatzaufgaben (z.B. Bewachung der Sonderlager für Atommunition; sehr hohe Anforderungen für die ständige Einsatzbereitschaft im Alarmverfahren, QRA) nicht mehr zuließ278. Die Luftwaffenführung wusste sehr wohl, dass eine rasche und radikale Änderung der Einsatzstruktur aufgrund der menschlichen, technischen und logistischen Beschränkungen und Grundbedingungen gar nicht möglich war, und wurde auch nie müde, entsprechend vorstellig zu werden. Insbesondere wies man immer wieder darauf hin, dass die Ausbildungssituation der Piloten durch eine Doppelunterweisung im »strike« wie auch im »attack« menschlich nur schwer und auf keinen Fall ad hoc zu bewältigen sei279. Weiterhin betonte man, dass die aktuell zur Verfügung stehende konventionelle Munition viel zu wirkungsschwach sei, und verlangte die Ausstattung mit modernen Feuer- und Streubomben280. Schließlich wandte man ein, dass sich der Starfighter für eine konventionelle Kampfführung kaum eigne281. Interdiction unter diesen Bedingungen betrachtete man mehr oder weniger als sinnlose Verschwendung und sagte generell die Vernichtung der eigenen Kampfkräfte innerhalb von Tagen voraus282. Diese Argumente konnten auch von den Amerikanern, aus deren nationaler Produktion die F-104 ja ursprünglich stammte, nicht widerlegt werden283. Die amerikanischen Partner versuchten dennoch, massiven Druck auszuüben, indem sie die Deutschen und die Briten an den Verhandlungstisch bemühten und ihnen ausführliche Auflistungen über die tatsächlichen Stärken und die Einsatzfähigkeit der Luftstreitkräfte in Europa präsentierten 284 . In einer für die Angesprochenen als unerhört empfundenen Weise behaupteten sie, dass die USAF in Europa den anderen alliierten Luftwaffen, insbesondere der deut-
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Ebd., BL 1/4029: Fü L III 1, Bestmögliche Reduzierung der fliegenden Strike-Kapazität der Lw, vom 18.3.1966, S. 5, und Fü L IUI, Untersuchung über Reduzierung von StrikeAufgaben bei JaboG vom 19.7.1971, S. 1. Die tatsächliche Beendigung des Strike-Auf träges endete aber erst am 1.7.1972. Offenbar hatte man ursprünglich geplant, die Herausnahme zum 1.1.1970 vorzunehmen, hatte dann aber auf Ersuchen von SACEUR bis auf Weiteres davon abgesehen. Siehe BL 1/2129: Fü L III, telegr. vom 25.6.1969 an Fü S IX. Ebd., BL 1/3508: Fü L III 1, Untersuchungen der Grundlagen für die Konzeption der Luftwaffe vom 22.10.1965, v.a. S. 94-113. Dazu u.a. ebd., BL 1/4926: Orientierung durch DOD Washington über War Reserve Requirements (Munition) vom 14.3.1966. Zum Folgenden grundsätzlich ebd., BL 1/84: Fü 1 III 3, Kurzstudie über die Möglichkeiten des Einsatzes des WS F-104 G in einer FBA-Rolle vom 13.8.1965. BL 1/3508: Fü L III 1, Untersuchungen der Grundlagen für die Konzeption der Luftwaffe vom 22.10.1965; BL 1/4029: Fü L III 1, Untersuchungen über Reduzierung von Strike-Aufgaben bei JaboG vom 19.7.1971, S. 1 f., und Bestmögliche Reduzierung der fliegenden Strike-Kapazität der Luftwaffe, vom 18.3.1966, S. 6. Ebd., BL 1/4924: Fü L III 1, Konventionelle Luftkriegführung in Mitteleuropa; Positionspapier Fü L zur Vorbereitung der AFCENT Conventional Offensive Air Operations Conference, Jan. 1969, vom 6.1.1969, S. 5, 15-20, 30 ff. Ebd., BL 1/1908: Fü L II 1, Nukleare Ausrüstung der Strike-Flugzeuge F-104 G vom 21.3.1963, S. 1. Zum Folgenden ebd., BL 1/2132: Dreier-Gespräche über Imbalances among US and Allied Forces in Europe, zahlreiche Dok. 1966/67: Sitzungsberichte, Zahlentabellen, Auflistungen, Stellungnahmen, Ausschussberichte.
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sehen Luftwaffe, konventionell gnadenlos überlegen sei und die USA somit mehr für die Verteidigung der europäischen Staaten übernähme als diese selbst. Die Luftwaffen seien viel zu stark auf den nuklearen Einsatz ausgerichtet und besäßen insbesondere viel zu wenig Munition für den konventionellen Kampf. Zudem wiesen sie auf ihre angeblichen Erfolge im konventionellen Kampf in Vietnam hin. Die deutsche Luftwaffe antwortete mit dem Vorwurf der Blauäugigkeit hinsichtlich der zu erwartenden Bedingungen auf einem europäischen Schlachtfeld285 und monierte, dass ihre Verbände auf eine Doppelrolle zugeschnitten worden seien und dass für die konventionelle Rolle sehr wohl genügend Munition vorhanden sei (über 8000 t an Raketen, Bomben und Gurtmunition = 26 t pro Einzelmaschine). Außerdem habe man als einzige Streitmacht mit der G-91 eine Maschine, die rein konventionell kämpfe. Die Amerikaner konnten sich nicht durchsetzen. Gravierende Änderungen in der Einsatzstruktur mussten daher bis zur Einführung neuer Waffensysteme unterbleiben. Trotz aller Betonung der strategischen und taktischen Flexibilität blieb die Luftwaffe erheblich auf ihre Tiefenstrukturen angewiesen und musste im wahrsten Sinne des Wortes auf dem Boden der Tatsachen bleiben286. Die Hauptoption der Amerikaner, die generelle nukleare Abrüstung der F104-Geschwader, konnte die Luftwaffe unter Ausnutzung der politischen Grundinteressen auch der obersten Bundeswehrführung abwehren. Die Amerikaner hofften eigentlich, den größten Teil des Kampfpotenzials der Bundeswehr, vor allem auch die schweren Jabogeschwader für die konventionelle Kriegführung freizubekommen287. Quasi als Ersatz verwies man auf die Pershing, die die Strike-Rolle dann allein übernehmen sollte288. Dies machte insofern Sinn, als dass die Pershing mobil verlegbar war und damit nicht wie die F104-Verbände, die auf Flugplätze mit einer kilometerlangen Startbahn angewiesen waren, auf dem Präsentierteller für feindliche Luftangriffe lagen. Die Luftwaffe misstraute dennoch diesen Angeboten nachhaltig und vermutete, wohl nicht ganz zu Unrecht, dass derlei den Einstieg in den Ausstieg des nuklearen Einsatzauftrages der Bundeswehr bedeuten könnte289. Die Lebensdauer der Pershing war begrenzt, und man konnte keineswegs sicher sein, dass die USA ein Nachfolgesystem liefern würden. Auf oberster Ebene wurde dies ebenso
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Dazu oben, S. 199 f. BA-MA, BL 1/1321: Fü L V 1, Vorwärtsverteidigung, Gedanken OTL i.G. Scholz (Ablage vom 27.1.1964). BL 1/3508: Fü L III 1, Untersuchungen der Grundlagen für die Konzeption der Luftwaffe vom 22.10.1965, S. 38 ff. Ebd., BL 1/1885: InspLw an Lemnitzer vom 27.5.1964 über Forderungen aus dem USVtdg.-Ministerium zur Denuklearisierung der dt. Jabo-Verbände, S. 1. Ebd., Stellungnahme Fü L zu Introduction of the F-104 G into ACE, zahlreiche Begleitdok. Ebd., BL 1/1885: InspLw an Lemnitzer vom 27.5.1964 über Forderungen aus dem USVtdg.-Ministerium zur Denuklearisierung der dt. Jabo-Verbände, S. 2 f.; BL 1/1908: Fü L II 1, Nukleare Ausrüstung der Strike-Flugzeuge F-104 G vom 21.3.1963, mit Begleitdok., u.a. Telegrammen von der dt. Botschaft bei der NATO (milgerma); BL 1/1822: Aufstellungsplanung der Lw 1970 vom 7.3.1964; BL 1/4050: Fü L III 1, Vortrag Konzeption und Rüstungsplanung der Lw, Einweisung GenMaj v. Butler als zukünftiger StvChef des Stabes SHAPE, Planung und Führung DCPO, am 10.11.1967, S. 11 f.
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gesehen. De Maiziere beharrte daher auch auf einem »begrenzten Anteil a m Strike« 290 . Als dann 1966 die Große Koalition in Bonn antrat und sich in der Politik massive Forderungen erhoben, die Bundeswehr prinzipiell zu denuklearisieren, wehrte m a n sich gemeinsam und hatte Erfolg 2 9 1 . Die Luftwaffe blieb nukleare Kampftruppe und ist dies in Teilen bis heute 2 9 2 . Die Position der Luftwaffe im Beziehungsgeflecht der Teilstreitkräfte blieb infolge dieses hinhaltenden Widerstandes zunächst einmal gesichert. Im Laufe der Beschäftigung mit der Thematik entstanden innerhalb des Fü L teilweise massive Ängste einer zumindest konzeptionellen Vereinnahmung durch das Heer 2 9 3 . Vor den A u g e n der Beteiligten erschien das alte Bild, das seit Anbeginn der Luftkriegführung immer als Horrorszenario mitgeschwungen hatte, der Verlust der Eigenständigkeit und die Unterordnung unter die Landstreitkräfte. Man erkannte eine »Neufestlegung der Aufgaben der deutschen Luftwaffe [...] zweifellos mit d e m Ziel den Schwerpunkt mehr und mehr auf die Unterstützungsaufgabe für die Landstreitkräfte zu legen und dafür den Anteil an der selbständigen Aufgabe des Kampfes gegen das gegnerische Atompotential und die gegnerische Luftwaffe zu verkleinern 2 9 4 .« Eine derartige Dominanz sollte auch in Zukunft abgewendet werden. Gegen mögliche, wie auch immer geartete organisatorische Subordinationspläne, wenn es derlei überhaupt noch gab, konnte m a n wie schon zuvor weiterhin den komplizierten technischen und logistischen A p p a r a t ins Feld führen, mit d e m das Heer maßlos überfordert gewesen wäre, genauso wie den hohen Grad an Integration in der NATO-Einsatzstruktur. Die Force Goals 1970 von S A C E U R sahen
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Ebd., BL 1/4967: Fü S VII 4, 13. Kommandeurstagung der Bundeswehr, vom 21.7.1967, Vortrag von de Maiziere, Die Entwicklung des neuen strategischen Konzepts der NATO, seine Bedeutung und Folgen aus dt. Sicht, S. 22, vgl. auch S. 6 ff. Ebd., BL 1/3508: Fü L III 1, AG Konzeption der Luftwaffe; Untersuchung des Auftrages der Luftwaffe in der Führungsweisung Nr. 1 vom 1.12.1966, S. 4 f. Noch im Sommer/Herbst 2003 ergaben sich massive Proteste gegen die Lagerung von A-Waffen beim JaboG 33 in Büchel. Die Anti-Atombewegung behauptet, es lagerten noch bis zu 150 Α-Bomben auf dem Gelände des Geschwaders. Netzwerk Friedenskooperative, Posaunen gegen Atom-Waffen - Jericho in der Eifel, (14.12.2004), URL: . Laut Angaben der Bewegung wurden die Atomwaffen beim JaboG 31 in Nörvenich 1995 abgezogen (Verabschiedung der Custodial-Truppe, der 604th Munitions Support Squadron). Wilfried Meisen, Nehmen Amerikaner die Atom-Waffen mit? Die US-Streitkräfte sollen bis zum Juni den Nato-Flughafen Nörvenich bei Köln verlassen haben, 24.2.1996, (14.12.2004), httpV/www.dasan.de/j/ medien/texte/14_zeitungen/14-043.htm) (Kopien der Websites bei B.L.). Ebd., FüAk Abt. Lw an Fü L III, Beitrag für die Gesamtstellungnahme der FüAk (Stellungnahme Abt. Lw) vom 5.1.1967, S. 2 - 4 , und BL 1/6441: Fü L 11, Führungsweisung Nr. 1 (Kommentar/Mitzeichnungsbemerkungen), S. 1 f., Begleitdok. Weiterhin BL 1/183: Fü L II, Notiz für Chef, Erarbeitung einer Konzeption der Lw als Grundlage für die langfristige Planung, vom 15.3.1962. Ebd.: Fü L II, Notiz für Chef, Erarbeitung einer Konzeption der Luftwaffe als Grundlage für die langfristige Planung, vom 15.3.1962, S. 1 f.
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jedenfalls die komplette Integration der deutschen F-104-Verbände in den »strike-plan« vor295.
2. Die Einsatzprinzipien der Hauptwaffensysteme und das praktische Kriegsszenario der deutschen Luftwaffe Das Eigengewicht der Luftwaffe verhinderte nicht nur radikale und schnelle Umgestaltungen trotz einer Neuausrichtung der Strategie im globalen Zusammenhang, sondern verhinderte in Bezug auf das Bild eines künftigen Krieges substantielle Änderungen. Die Einsatzprinzipien, basierend auf den Hauptelementen Counter Air, Interdiction, Close Air Support und Aufklärung, blieben auch unter der Flexible Response die gleichen, wie schon seit Jahrzehnten. Danach gedachte die Luftwaffe einen angreifenden Feind zurückzuschlagen, egal, ob konventionelle Waffen zum Einsatz kämen oder sich ein nukleares Szenario ergäbe296. Die Einsatzprinzipien sind prinzipiell auch heute noch gültig, auch wenn sich unter den neuen politischen und strategischen Verhältnissen im Einzelnen ganz neue Aufgaben stellen, die stärker von der Luftverteidigung und Spezialeinsätzen als von Großschlachten geprägt sind297.
a) Der F-104-Starfighter: Der Traum vom flexiblen Mehrzweckwaffensystem und die Realität Der Fokus der Luftwaffenführung blieb bis zur Entwicklung neuer Waffensysteme weiterhin auf den schweren Jagdbomberverbänden mit der nuklear bestückten F-104298. Im Gegensatz zur G-91 und zur Pershing besaß man für diese Verbände allerdings vorderhand keine Möglichkeit zur Auflockerung und Zerstreuung, da die Maschine derart schwer war, dass sie Startbahnen über 2400 m benötigte299. Die einzige Chance, die gegen eine rasche nukleare Vernichtung bestand, war ein schnelles Aufsteigen und sofortiger Einsatz. Dies erreichte 295
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Allerdings scheint man bei SHAPE von der ursprünglichen Fassung der Force Goals 1970 zumindest in der praktischen Perspektive langsam abgerückt zu sein. BA-MA, BL 1/3508: Fü L III 1, AG Konzeption der Luftwaffe; Untersuchung des Auftrages der Luftwaffe in der Führungsweisung Nr. 1 vom 1.12.1966, S. 3. Ebd., BL 1/4926: Orientierung durch DOD Washington über War Reserve Requirements (Munition), vom 14.3.1966, S. 2. Siehe dazu unten, S. 482 f. Die Einsatzprinzipien der dt. Luftwaffe werden sich wohl erst in Zukunft ergeben. Belege in Anm. 270 und 272. BA-MA, BL 1/1885: Fü L II an Fü Β u n d Unterabteilung Fü L Aufstellungsplanung der Luftwaffe 70 mit Zwischenzielen 64 u n d 65 vom 21.1.1964 mit Anl. Vergleichende Untersuchungen über die Leistungen der WS F-104 G u n d G-91 als labo mit nichtnuklearer Bewaffnung, S. 6.
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man durch ein besonderes Alarmbereitschaftssystem, den Quick Reaction Alert (QRA). Dieses System hatte man im Rahmen der MC 14/2 eingeführt. Für jede Staffel standen einige Maschinen, in der Regel zwei, in einem speziell eingerichteten Bereich in der Nähe des Atomwaffenlagers bereit und konnten in wenigen Minuten einsatzklar gemacht werden. Der Start sollte höchstens 15 Minuten nach Alarmierung erfolgen300. Die Piloten saßen in einer abgesperrten Unterkunft direkt bei der QRA-Anlage und konnten das Cockpit sofort besteigen301. Dieses System erlaubte einen Start innerhalb von Minuten, erforderte aber aufgrund der Notwendigkeit, die Maschinen ständig auf einem Voreinsatzmodus, gewissermaßen >aufgewärmt< zu halten, einen erheblichen Bedarf an Gerät und Technikern. Dazu kam das Spezialwachpersonal für das Atomlager, das sich in einem eigenen, stark gesicherten Sperrkreis innerhalb der Geschwaderumzäunung befand. Mindestens 2/3 des Personals musste ständig (24 Std.-Dienst) anwesend sein302. Zugleich wurde die Einheit durch den Aufwand für die Piloten belastet. Der allgemeine Dienst der Staffeln bestand aus ständigem Übungseinsatz, da die technische Kompliziertheit des Waffensystems einen hohen Kenntnis- und Befähigungsstand verlangte303. Durch die QRA-Gestellung wurde den Staffeln ein Teil ihrer Kräfte entzogen, so dass es häufig schwierig wurde, die Mindestflugstundenzahl zu erreichen. Die Piloten konnten auch nicht zu zusätzlichem Dienst verpflichtet werden, wollte man sie nicht rascher Erschöpfung aussetzen. Dazu kamen die Verpflichtungen zu Weiterbildung, Kommandierungen und der Krankenstand 304 . Die NATO hatte ursprünglich sogar die Gestellung von vier QRA-Maschinen pro Staffel verlangt, eine Forderung, die sich als vollkommen unerfüllbar erwies305. Die Leistungsgrenzen der Luftwaffe wurden recht rasch offenbar und sollten ein unangenehmes, weil letztlich nicht lösbares Dauerthema werden. Eng mit der QRA-Regelung zusammen hing der Einsatzmodus für die nuklearen Einsatzflugzeuge, die sog. Force Generation. Beide Systeme stellten für die deutsche Luftwaffe zentrale Richtungweisungen dar. Von hier aus ergaben sich fast alle Probleme in organisatorischer, personeller und logistischer Sicht. Die Force Generation war eingeführt worden, um eine adäquate Anzahl an 300
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BA-MA, BL 1/4925: Auf Basis der Technischen Vereinbarung zwischen dem OB der USLSK in Europa u n d dem BMVg über die von der dt. Luftwaffe bemannten FlugzeugAtomeinsatzsysteme und dazugehörigen Anlagen vom 10.4.1960, Neufassung der Anlagen Α u n d Β vom 25.4.1966. Ebd., BL 1/1753: Fü L II, Einsatzbereitschaft der assignierten Verbände ab 1.1.1960, vom 28.12.1959. Dazu auch Steinhoff/Pommerin, Strategiewechsel, S. 38 ff. BA-MA, BL 1/89: Fü L III 8, Einsatzkonzeption JaboG F-104 in Kurzform vom 16.6.1967, S. 2. Dazu auch ebd., BL 23/2: Einsatzbefehle JaboG 31 1965-68. Ebd., BL 1/89: Fü L III 8, Einsatzkonzeption JaboG F-104 in Kurzform vom 16.6.1967, S. 4; BL 1/1888: Kommodore-Arbeitstagung bei Fü L II vom 9.4.1963. Ebd., BL 1/80: Fü L III 3 an KG LwGrp Süd vom 4.1.1965, QRA in Büchel, mit Begleitdok.; BL 1/681: QRA-Einsatzbereitschaft bei JaboG 32 und 34 vom 30.4.1962; BL 1/1885: Fü L III 3, Dual-Role F-104 G vom 23.3.1965 mit Anl. Untersuchung einer Dual-Role der deutschen F-104 G-Jabo-Verbände und Fü L III 3 an SHAPE, QRA Requirements for FBS Squadrons F-104 G vom 9.1.1966.
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startbereiten Atomträgern, entsprechend den allgemeinen Alarmstufen der NATO, zur Verfügung zu haben306. Im Frieden bildeten die QRA-Flugzeuge das zahlenmäßige Minimum. Mit aufsteigender Alarmstufe (Military Vigilance, State Orange, State Scarlet bzw. Simple-, Reinforced-, General-Alert, S-Hour, R-Hour)307 sollten mehr und mehr Strike-Flugzeuge einsatzklar gemacht werden, bis schließlich die ganze Streitmacht bereitstand (in der Regel 70 % der Gesamtzahl an Flugzeugen). Im Rahmen des strategischen Perspektivwandels und den dadurch entstehenden Notwendigkeiten zur Flexibilisierung und Anpassung an die jeweilige Angriffsintensität des Ostens änderte man darin den Einsatzmodus und koppelte ihn von den Alarmstufen ab, um die Einheiten besser steuern zu können308. Alle Verbände mit Doppelrolle, d.h. die überwiegende Mehrheit, erhielten ein Einsatzspektrum mit einem jeweils genau festgelegten Mischungsverhältnis zwischen nuklearer und konventioneller Bestückung309. Je nach Bedrohung änderte SACEUR das Niveau, das sog. Force Generation Level. Im Frieden sollte der nukleare Anteil der allgemeinen, nicht alarmbereiten Verbände bei Null sein, d.h. alle Maschinen außer den QRA-Kräften waren nur konventionell bestückt (Peacetime QRA-FGL (Q)). Je nach Intensität der militärischen Gewalt und der Aussicht auf einen Abwehrerfolg sollte die konventionelle Komponente zurückgefahren werden. Bei der Entscheidung zur Eskalation hatten alle Maschinen dann die nukleare Bestückung (Fully Generated - FGL (FG)). Für die 4. ATAF kamen beispielsweise folgende Zahlen zustande 310 : Insgesamt 576 Maschinen in »dual role« und 36 in »attack« (letztere ohne Doppelrolle, weil technisch nicht möglich), davon jeweils 70 % aktuell einsatzbereit. Tab.: Force Generation - Mischungsverhältnis konventionelle - atomare Bestückung der Kampfverbände FGL (Force Generation Level) peace augmented sustained full
QRA = strike 84 168 248 403
Attack, 70 % + 36 aircraft 355 271 191 36
Anfang der 60er Jahre verfügte die NATO bei den ATAFs in Deutschland über einen eher uneinheitlichen Korpus von 1521 Jagdbombern verschiedenster Typen für »strike« und »attack«, zusätzlich noch externe Kräfte vor allem der
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Ebd., BL 1/4924: Fü L III 1, Konventionelle Luftkriegführung in Mitteleuropa; Positionspapier Fü L zur Vorbereitung der AFCENT Conventional Offensive Air Operations Conference, Jan. 1969 vom 6.1.1969, S. 27. Zu den Alarmstufen der NATO vgl. Tuschhoff, Deutschland, S. 135 f. Die ersten Anweisungen von SACEUR ergingen 1965. Die ATAFs hatten die entsprechenden Pläne Ende 1967, also pünktlich zur Verabschiedung der MC 14/3, fertig. Zum Folgenden vgl. grundsätzlich BA-MA, BL 1/4050: LwGrp Süd an Fü L III 1, Fragen der Einsatzführung vom 1.2.1968. Ebd.
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USAF und der RAF von 362 Jagdbombern und V-Bombern 311 . In Bezug auf die Führungsebenen herrschte klare Arbeitsteilung. SACEUR bestimmte den StrikeAnteil und gab in Abstimmung mit dem US-Präsidenten ggf. den Einsatzbefehl. Die ATAFs berechneten ausführlich den technischen Aufwand und forderten alle Nationen auf, höchste Anstrengungen für die Bereitstellung der nötigen zusätzlichen Ressourcen zu unternehmen. Man extrapolierte auch die Wahrscheinlichkeiten der Abnutzung und kam zu dem Ergebnis, dass unter rein konventionellen Bedingungen - also auf Friedensniveau - und mit höchster Kampfintensität die konventionellen Kräfte nach 1 - 2 Tagen aufgebraucht sein würden. Spätestens dann musste die Entscheidung fallen, ob die verbleibenden Strike-Träger (84 Stück) mit ihren Atomwaffen losgeschickt oder ebenfalls im konventionellen Kampf eingesetzt werden sollten. Diese Voraussagen blieben aber mehr als theoretisch, denn man hatte die Schäden durch Angriffe gegen die eigenen Flugplätze explizit nicht berücksichtigt. So manches Mitglied des Fü L dürfte sich gefragt haben, ob zu diesem Zeitpunkt überhaupt noch irgendwelche Maschinen übrig sein würden. Zusätzlich misstraute man den Partnern, insbesondere den USA. Die Force Generation wurde von SACEUR gesteuert, so dass die deutsche Luftwaffe keine Eingriffsmöglichkeiten besaß. Es stand zu befürchten, dass die NATO die Kampfverbände für einen zu großen Zeitraum auf dem Friedensniveau, d.h. also rein konventionell bestückt, halten würde - so lange, bis den Kampfkräften, insbesondere den deutschen, der Atem ausgegangen war 312 . Mit derlei Ansichten war man im Übrigen von den Realitäten gar nicht so weit entfernt. Das Einsatzprozedere der NATO diente durchaus dazu, die strategischen Vorstellungen der USA durch die Hintertür umzusetzen. So im Falle des zentralen Einsatzplanes für den Ernstfall, den Emergency Defence Plan (EDP) von SACEUR. Dort hatte man 1963 stillschweigend neue Definitionen für die Kriegsphasen und -option eingeführt und damit die Massive Retaliation, zumindest wie sie zu diesem Zeitpunkt aus deutscher Sicht definiert worden war, aufgeweicht. Die deutsche
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Ebd., BL 1/1753: FüAk Bw, Abt. Lw, Welche Voraussetzungen sind zu erfüllen und welche Möglichkeiten gibt es, um einen mit konventionellen Waffen von sowjetischer Seite gegen Westeuropa unternommenen Angriff mit konventionellen Waffen abzuwehren?, 25.4.1961. Anl. 2. Zeitgleiche Zahlen zu den vorigen Ausführungen, die auf Dok. aus dem Jahre 1968 basieren, konnten aufgrund der noch unübersichtlichen Quellenlage nicht ermittelt werden. Die Unterschiede zwischen 1961 und 1968 dürften allerdings eher gering gewesen sein. Die Zahlen basieren auf der MC 70, die noch strikt zwischen StrikeMaschinen und konventionellen Kräften unterschieden hatte, ohne eine flexible Force Generation vorzusehen. Sie sind daher als Verdeutlichung der allgemeinen Dimensionen zu verstehen. Der einsetzbare Kampfbestand wurde mit 70 % der Gesamtzahl veranschlagt. Es wäre noch näher zu prüfen, wieviele Maschinen auf die Dauer tatsächlich einsatzbereit waren. Die vorgesehenen Flugzeugtypen verdeutlichen die Probleme für die Zusammenarbeit: F-104, Canberra, F-105, F-84, F-100, Mirage III, Hawker Hunter, G-91, B-66, (brit.) V-Bomber. Ebd., BL 1/11151: 4. dt.-brit. GenSt-Besprechung am 28.2/1.3.1963, Protokoll vom 28.3.63, S. 5.
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Bernd Lemke: Konzeption und Aufbau der Luftwaffe
Seite befürchtete zu Recht, »daß [...] auf dem Umweg über den EDP das bisherige Strategische Konzept verändert wird«313. Der bereits oben beschriebene 'Wegwerfaspekt' tat ein Übriges, um die Ängste zu schüren. An Reserven war praktisch nicht zu denken. Man hatte Anfang der 60er Jahre zwar geplant, eine feste Reserve von 75 F-104 in den USA einzulagern, die im Ernstfall hätte nachgeschoben werden können, hatte über den Nutzen von derlei Konzepten allerdings einige Zweifel gehegt314. Im Zuge der Ausbildung in den USA wurde dann dort ein Kontingent von knapp 100 Maschinen geschaffen315. Danach wären auch die letzten Möglichkeiten ausgereizt gewesen. Kontingentierungen versprachen generell strategisch gesehen nicht unbedingt Erfolg, da sie auch zur Zersplitterung und Schwächung in der entscheidenden Phase beitragen konnten. Uberhaupt stellte sich die grundsätzliche Sinnfrage. Die letzten Verbände hätten bei entsprechendem Kampfverlauf und raschem Einsatz umfassender nuklearer Mittel möglicherweise bei ihrem Eintreffen - Botschaftern einer vergangenen Zeit gleich - über vernichtete Regionen gewacht. Immerhin demonstrierte man Optimismus, als man in der zweiten Jahreshälfte 1969 in einer spektakulären Aktion sechs deutsche Starfighter im Verband über den Atlantik schickte, um zu beweisen, dass es möglich war, Reserven einzubringen. Ahnliche Projekte für die G-91 erwiesen sich ebenfalls als wenig erfolgversprechend. Steinhoff ließ Ende der 60er Jahre prüfen, ob nicht Reservestaffeln aufgestellt werden konnten, die im Ernstfall mit ehemaligen Piloten besetzt würden316. Bis 1970 kam man auf kein konzises Ergebnis. Im Gegenteil, schon Anfang der 60er Jahre war Fü L in einer Untersuchung zu der Erkenntnis gelangt, dass die Luftwaffe gerade in der Lage war, ihre aktuellen Hauptwaffensysteme und die dazu nötigen Einrichtungen zu warten bzw. instand zu halten, und schon damit genug Schwierigkeiten hatte317. Die teils empfindlichen und schnell verschleißenden Komponenten konnte man nicht einfach in Baracken oder Betonkellern unterbringen und dort jahrelang lagern. Dazu kam die Inübunghaltung der Piloten, die großen Zeitaufwand bedingte, wenn die nötigen Fähigkeiten erhalten werden sollten. Das Gleiche konstatierte man, als Manfred Wörner, damaliger Verteidigungsexperte der CDU und späterer Verteidigungsminister, einen ähnlichen Vorschlag zur Bildung von Reserveeinheiten
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Fü Β III 1, McNamara-Rede Athen, 1.8.1963, NHP-Dok. 140, 2. Anl., EDP SACEURS, S. 3. Dazu auch Tuschhoff, Deutschland, S. 239. BA-MA, BL 1/2107: Fü L V 1, Kooperative Logistik BRD/USA, Projekt 57, gemeinsame Logistik im Kriegsfall vom 19.7.1963, mit Randbemerkungen. Zum Folgenden vgl. Der Spiegel, 1969, Nr. 34, S. 18, und 1969, Nr. 43, S. 105 (Interview mit Steinhoff). BA-MA, BL 1/4968: BMVg, Planungsstab/Fü S VII 4, Lehrbacher Lesebuch 69, Klausurtagung des BMVg und der Hauptabteilungsleiter/Abteilungsleiter am 19./21.12.1969, vom 19.12.1969, S. 50. Vortrag mit Begleitbemerkungen auch in BL 1/4027. Auch BL 1/1374: LWA, Untersuchung über Aufstellung von Reserve-Stffn G-91 vom 2.4.1969. Ebd., BL 1/4897: Fü L III, Endplanung der Bw und Zwischenziele 1965/66, vom 12.11.1962.
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mit dem leichten Trainings- und Kampfflugzeug vom Typ Fouga Magister unterbreitete 318 . Dazu kam, dass sich sämtliche Hoffnungen in Bezug auf die Herstellung von Schutzmaßnahmen zum Überleben, vor allem zur »Erhaltung der Hauptkampfgeräte« 319 , in den 60er Jahren in der Praxis zerschlugen. Auf allen Ebenen wurden auf der Basis der MC 60 von 1956 intensive Anstrengungen unternommen, um die Möglichkeiten auszuloten und dann entsprechende Vorkehrungen zu treffen 320 . Insbesondere wurde geprüft, inwieweit eine Verbunkerung der Flugplätze möglich war. Weiterhin unternahm man Versuche, eine Auflockerung von Menschen und Material zu bewerkstelligen. Außerdem überlegte man, ob eine vertikale Auflockerung, d.h. das frühzeitige Aufsteigen von Kampfverbänden zur Vermeidung einer Vernichtung am Boden, in Frage kam. Große Hoffnungen setzte man auf die Verbesserung der Schutzmaßnahmen für die F-104. Kammhuber selbst beabsichtigte, Autobahnen als Ausweichlandeplätze für die Jabo-Geschwader zu nutzen 321 . Anfangs herrschte noch ein sehr großes Vertrauen in die Technik, das u.a. auch in Planungen zum Ausdruck kam, die F-104 mit »fliegenden Kränen« (Hubschrauber Sikorsky Skycrane) auf Ausweichlandeplätze verlegen zu können 322 . Sehr intensiv prüfte man die Einführung von technischen Zusatzeinrichtungen zur Herstellung einer Kurz- bzw. Nullstartfähigkeit. Dazu wurden zwei Verfahren sehr ausführlichen Tests unterzogen 323 :
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Ebd., BL 1/4531: Vorschlag Wörners zur Aufstellung von Reservisten-Stffn mit Magister anlässlich deren bevorstehender Verschrottung, vom 14.12.1967. Ebd., BL 1/11151: Dt.-franz. GenSt-Besprechungen 18./19.6.1964, Vortrag Fü Β III 3: Langfristige Planung der Bewaffnung und Ausrüstung der Bundeswehr, S. 6. Zum Folgenden vgl. grundsätzlich ebd., 7. dt.-brit. GenSt-Besprechungen am 9.4.1964, Vorträge (Entw. und gen. Endfassungen), Thema 1 Überleben der Flugzeuge am Boden, BL 1/4540: Taktische/technische Richtlinien für den Ausbau von Geschwadergefechtsständen vom 30.3.1965 mit Folgedok. BL 1/4898: Fü L III 8, Grundsatz-Infrastruktur der Luftwaffe vom 13.9.1962, S. 7 f.; BL 1/1633: Fü L III 1, Führungs- und Einsatzgrundsätze für die WS F-104 G und G-91 (Entwürfe) vom 18.4.1968, S. 9 ff. Für die Anfänge im Zeichen der Massive Retaliation BL 1/14705: Notiz über Besprechung mit den Gen. der Luftwaffe am 5.3.1959, II.l.) Lage und Lagebeurteilung. MC 60 vom 9.5.1956, in: BW 2/2666. Für die praktischen Anfänge nach der MC 60 vgl. Historical record, 1 Air Division HQ, (2.12.2003), URL: http://www.pinetreeline.org/metz/otherml/otherml-13.html, Grostenquin, France, Deployment Airfields, (2.3.2003), URL: (Kopien der Websites bei B.L.). BA-MA, BL 1/14697: Interview Kammhuber mit einem Reporter des Stern vom 8.6.1962, S. 9 f. Ebd., BL 1/14652: Tgb. InspLw, Eintrag vom 17.8.1961. Kemordner für die Anfänge beider Verfahren siehe ebd., BL 1/903, für das Ende: BL 1/4927: Ende ZELL/SATS-Versuche vom 8.11.1966 (Entscheidung InspLw vom 4.10.1966) und BL 1/4927: Fü L III 8 an SHAPE über Ende Zero-Launch F-104 G vom 23.12.1966 und Fü L I 4, Weisung für die Durchführung von SATS/ZELL-Versuchen beim JaboG 32 - Lechfeld, hier: Außerkraftsetzung, vom 8.11.1966. Vetter/Vetter, Versuchsprojekte, S. 4 6 - 5 3 .
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Bernd Lemke: Konzeption und Aufbau der Luftwaffe
1. ZELL: Zero Length Launch. Ein am Rumpf der F-104 installierter Booster sollte die Startbahn der Maschine auf Null reduzieren. Dazu hätten die Maschinen allerdings auf ein spezielles Gestell aufgebockt werden müssen324. 2. SATS: Short Airfield for Tactical Support. Dieses Verfahren hatte man den Amerikanern abgeschaut, die es u.a. in Vietnam angewandt hatten. Das Prinzip basierte auf den Start- und Landetechniken auf den USFlugzeugträgern. Die Maschinen sollten mit einem Katapult zusätzlich beschleunigt werden und dadurch mit einem Minimum an Startbahnlänge auskommen. Die Landung sollte mit einer speziellen Fanganlage bewerkstelligt werden. Derlei wurde auch mit Bunkerkonzepten verbunden. In futuristisch anmutenden Plänen, die an Science-Fiction-TV-Serien aus den 70er und 80er Jahren erinnern, war an einen Start von senkrechtstartenden F-104 direkt aus ihren Sheltern heraus gedacht325. All diese Optionen erledigten sich entweder, weil die technischen Grundlagen nicht für eine sichere Nutzung unter Kampfbedingungen ausreichten oder weil der finanzielle Aufwand über die Möglichkeiten der deutschen Luftwaffe hinausging. Das Gleiche galt für die Verbunkerung und alle weiteren Optionen326. Der sich abzeichnende Strategiewechsel hin zur Flexible Response und zur konventionellen Kriegführung brachte hier wenig Beruhigung. Im Gegenteil, der Problemcharakter stellte sich nun auf andere Weise. Da der Einsatz von Atomwaffen durch die NATO unwahrscheinlich wurde, erhöhte sich die Möglichkeit einer raschen Vernichtung durch überlegene Angreifer auf konventionellem Weg. Die Grundhaltung der Luftwaffenführung änderte sich vor diesem Hintergrund genauso wenig wie deren Taktik: grundsätzliches Einverständnis mit den neuen Einsatzprinzipien, aber im praktischen Handeln Widerstand gegen alle Versuche, auf welchen Wegen auch immer, die eigenen Verbände der nuklearen Komponente zu berauben327. Durch die ganzen 60er Jahre versuchte die Luftwaffenführung, die Forderungen der Amerikaner nach verstärkter konventioneller Kampfführung zu umgehen. Erst nach und nach schwenkte man ein 324
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Ein Modell der F-104 G mit Atomwaffe und ZELL-Booster wird im Luftwaffenmuseum Berlin-Gatow ausgestellt. BA-MA, BL 1/4898: Fü L III 8, Grundsatz-Infrastruktur der Lw, vom 13.9.1962, S. 7. Ebd., BL 1/4540: Besprechung über Forderung Einheits-Geschwadergefechtsstand am 31.1.1967, mit Begleitdok. Zu den Versuchen, die Kampfverbände vor feindlichen Angriffen zu schützen, und deren eher bescheidenen Erfolge siehe oben, S. 189-192. Dazu Lemke, Bernd, Luftschutz in Großbritannien und Deutschland 1923-1939. Zivile Kriegsvorbereitungen als Ausdruck der staats- und gesellschaftspolitischen Grundlagen von Demokratie und Diktatur, URL: , S. 530 ff. BA-MA, BL 1/1885: Fü L II 1, An den Sonderbeauftragten der Bundesregierung für Fragen der Atlantischen Verteidigung; Duale Rolle fliegender Verbände der Lw vom 23.10.1963 mit Note for Speidel, Dual capability for Fiat G-91 and F-104 G vom 29.10.1963. Vgl. auch ebd., Fü L II, Antwort auf ein Telegramm der LwGrp Süd vom 2.7.1963, Zweitauftrag für Flugzeuge der 4. ATAF, vom 12.7.1963.
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und auch hier nur unter der Bedingung, dass die Beteiligung an der Nuklearschlagkraft erhalten blieb328. Um Kompromisse kam man dann aber nicht herum. Obwohl Fü L noch 1965 unter Berufung auf die Angaben des NATO-Grundlagenpapiers MC 26/4 darauf beharrte, dass alle 10 Staffeln ausschließlich in der Strike-Rolle eingesetzt würden 329 , wurde die bereits erwähnte 7/3-Regelung bestätigt und in den darauffolgenden Jahren auch planerisch umgesetzt330. Mitte 1967 waren sechs der Jabo-Staffeln als Strike-Verbände assigniert. Die letzte Staffel sollte 1968 dazukommen331. Die verbleibenden drei Staffeln erhielten einen konventionellen Auftrag als Jagdbomber und als Zweitrolle die Gefechtsfeldjagd (ASF, Air Superiority Fighter), d.h., sie sollten ggf. den Luftraum über dem Schlachtfeld wenigstens zeitlich und örtlich begrenzt freihalten und auch eigenen angreifenden Jagdbombern Schutz bieten332. Damit war das alte Konzept des Tagjägers wiederbelebt worden, dies allerdings im Rahmen eines großen Gesamtwaffensystems. Von den taktischen Fragen, die im Zusammenhang mit der Flexible Response in den zentralen Fokus rückten, war die nach der Multifunktionalität des Starfighters wohl die wichtigste. Die F-104 war ja gerade deshalb beschafft worden, weil man sich von ihr ein übergreifendes Einsatzsatzschema versprach. Die Hoffnungen basierten auf der Vorstellung, dass jede Maschine innerhalb kürzester Zeit auf ihrer Einsatzbasis für jede benötigte Rolle umgerüstet werden korinte333. Damit hätte man auch die Force Generation optimal bedienen können. Allein, die Realität sah anders aus. Erneut erwies sich, dass sich mit der Technik die Verhältnisse nicht so einfach gestalten ließen, wie man sich dies ursprünglich vorgestellt hatte. Zur Erfüllung der Anforderungen an Mensch und Maschine bot die Technik keineswegs einfache Lösungen. Schnell erwies
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Ebd., BL 1/1625: Fü L, Ausgewogene beiderseitige Truppenverminderungen OST/WEST, vom 9.8.1968, S. 13 f. Dazu auch S. 125-135 mit Anm. Ebd., BL 1/1908: Fü L III 1 an Abt. S, Nukleare Unterstützung der dt. Jabo-Stffn durch die USA vom 12.1.1966, S. 2. Die MC 26/4 hatte vorgesehen: 7 Stffn FBS + 3 Stffn FBS als Senkrechtstarter (VTOL). Die Angaben der MC 70 beliefen sich auf nur 2 Stffn FBS, wobei aber betont worden war, dass diese Zahlen nur formale Angaben gewesen seien, weil »ein größerer nuklearer Beitrag [der deutschen Lw] während dieser Zeit nicht möglich war«. Zur Gesamtthematik vgl. auch BL 1/3508: Fü L III 1, Untersuchungen der Grundlagen für die Konzeption der Luftwaffe vom 22.10.1965, S. 43 f. Zum Hintergrund oben, S. 216-220 und 303-306. Grundlegend hier ebd., BL 1/4063: Fü L III, Aufgaben und Aufteilung der 10 Stffn F-104 G FBS der Lw, mit zahlreichen Begleitdok. zu Neuausrichtung und technischer Umrüstung. Ebd., BL 1/89: Fü L III 8, Einsatzkonzeption JaboG F-104 in Kurzform vom 16.6.1967, S. 1. Ebd., BL 1/1633: Fü L III, Führungs- und Einsatzgrundsätze für die WS F-104 G und G-91 (Entwürfe) vom 18.4.1968, S. 7; BL 1/4924: Fü L III 1, Konventionelle Luftkriegführung in Mitteleuropa; Positionspapier Fü L zur Vorbereitung der AFCENT Conventional Offensive Air Operations Conference, Jan. 1969, vom 6.1.1969, S. 28 ff. Ebd., BL 1/14697: Interview Kammhuber mit einem Stern-Reporter vom 8.6.1962, S. 10 f. Die Hoffnungen hatten, wie der Insp. in diesem Zusammenhang zugeben musste, zu diesem Zeitpunkt allerdings schon einen gewissen Knacks erhalten.
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Bernd Lemke: Konzeption und Aufbau der Luftwaffe
sich, dass ein riesiges Instrumentarium an Einzelkomponenten mit teils höchst empfindlichem Grundcharakter nötig war334. In der Tat zerplatzten alle Träume auf ein ständig und vollkommen flexibel einsetzbares Waffensystem. Die meisten Versionen waren ohne größere Umrüstzeiten gar nicht austauschbar; bei einigen konnte mit Improvisation ein Wechsel in vergleichsweise kurzer Zeit bewerkstelligt werden. Dies ging nicht zuletzt auch auf Beschränkungen innerhalb der einzelnen Rollen zurück. So baute man beispielsweise bei den nuklear bestückten F-104 die Bordkanone (M-61, 20 mm) aus, um die Reichweite zu erhöhen, damit Ziele im polnischen Hinterland besser bekämpft werden konnten335. Im Zuge der neuen Anforderungen aufgrund der Doppelrolle musste diese wieder eingebaut werden, wodurch eine Einschränkung des nuklearen Zielspektrums erfolgte. Über die fehlende Ausbildung der Piloten für die konventionelle Kriegführung sowie die überaus mangelhafte Wirksamkeit der aktuell zur Verfügung stehenden konventionellen Munition wurde bereits berichtet. Die Luftwaffe bemerkte immer wieder, dass die NATO-Grundforderungen in Bezug auf die jährliche Flugstundenzahl pro Flugzeugführer (240) schon für die nukleare Rolle nicht habe eingehalten werden können336. Die Jagdversion der F-104 benötigte neben den Luft-Luft-Raketen Sidewinder die Bordkanone für den Luftkampf und war somit mit der Strike-Version inkompatibel. Umgekehrt besaß die FBS-Version nicht die nötige Flexibilität, weil sie organisatorisch und personell an die Atomwaffenlager gebunden war und über die Schutzeinrichtungen des Geschwaders auch für deren Sicherheit bürgte. Man gefährdete die SAS-Lager, wenn man die Fliegerhorstorganisation kurzfristig wegverlegte337. Eine rasche Verlegung in Brennpunkte des Kampfes wurde damit schwierig. Bei der Aufklärerversion hatte man teils noch kompliziertere Verhältnisse zu gewärtigen. Wie die G-91 besaß die Maschine weder Nacht- noch Allwetteraufklärungskapazität und war somit nur für die Augen- und Kameraaufklärung unter Schönwetterbedingungen einzusetzen338. Da aber die F-104 ihre besten Leistungen gerade auch im Schutz gegen das feindliche Luftverteidigungssystem im Tiefflug bei hohen Geschwindigkeiten erzielte, blieben die Möglichkeiten sehr begrenzt. Augenaufklärung bei Geschwindigkeiten über Mach 1 bot
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Ebd., BL 1/176: Studie über Zuverlässigkeit von Flugzeugen vom 8.5.1962. Als Kerndok. für das Folgende, wo nicht anders angegeben: BL 1/1885: Fü L III 3, Dual-Role F-104 G vom 23.3.1965 mit Anl. Untersuchung einer Dual-Role der dt. F-104 G-Jabo-Verbände. Ebd., Fü 1 II 4 an die Lw-Gruppen und weitere Dienststellen, Strike-Mission-Profiles für F-104 vom 31.1.1964, mit Begleitdok. Ebd., BL 1/89: Fü L III 8, Einsatzkonzeption JaboG F-104 in Kurzform vom 16.6.1967, S. 3. Die dt. Luftwaffe hatte die Stundenzahl auf 180 reduziert. Erreicht wurden im Durchschnitt aber nur 160. Ebd., BL 1/3508: Fü L III 1, Untersuchungen der Grundlagen für die Konzeption der Luftwaffe vom 22.10.1965, S. 43 f. Ebd., BL 1/1633: Fü L III, Führungs- und Einsatzgrundsätze für die WS F-104 G und G-91 (Entwürfe) vom 18.4.1968, S. 28.
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nicht unbedingt Gewähr für präzise Ergebnisse 339 . Außerdem mussten die Einsatzführungsstellen auf die Auswertung warten, bis die Einsatzflugzeuge gelandet waren. Im Krieg waren die Informationen möglicherweise dann schon veraltet. Erst mit Einführung eines speziellen Radars mit Antenne in der Bugnase, dem SLAR (Side Looking Airborne Radar), veränderte sich die Lage. Dies kam allerdings vor 1970 nicht mehr zum Tragen 340 . Die hier geschilderten Probleme stellten nur einen Teil der Schwierigkeiten dar. Insgesamt erwies es sich als unerlässlich, den Geschwadern eine Spezialrolle zuzuweisen, d.h. entweder Jabo oder Aufklärer oder Jäger 341 . Die Grenzen blieben eng gezogen. Mag diese Inflexibilität auch dem Selbstverständnis der Luftwaffe als modernem flexiblen Instrument einige Kratzer versetzt haben, so machte sich bei den Verantwortlichen letztlich keine allzu große Trauer darüber breit. Man betonte vor allem auch, dass eine reibungslose Umrüstung von einem nuklearen Einsatzprofil (FBS) auf ein konventionelles (FBA) unter Kampfbedingungen höchst prekär, weil sehr zeitaufwendig, sei 342 . Der umgekehrte Weg, die Umrüstung von FBA auf FBS wurde als vollkommen unmöglich betrachtet 343 . Das hieß im Klartext: Wenn Strike-Einheiten einmal auf konventionelle Kampfführung eingestellt worden waren, konnte man eine Rückorientierung nur unter grundlegender Neuvorbereitung erreichen. Mit diesem Befund wandte man sich gegen einen als willkürlich empfundenen Zugriff von außen und die Verabschiedung aus der Strike-Rolle durch ein allzu bereitwilliges Eingehen auf die »dual role«. Zu einem regelrechten Aufbegehren kam es dann, als die Amerikaner eine spezielle Studie präsentierten, in der sie den PartnerLuftstreitkräften genaue Hinweise gaben, wie sie sich die Ausrüstung und den Einsatz der Kampfverbände vorstellten (Dual Capability Study: Non-US NATO Air Forces 1969-1974) 3 4 4 . Dies wurde als ein Versuch vollkommener Bevormundung betrachtet, was es in der Tat auch war. 339
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Ebd., BL 1/3508: Fü L III 1, Untersuchungen der Grundlagen für die Konzeption der Luftwaffe vom 22.10.1965, S. 47 f. Ebd., BL 1/4924: Fü L III 1, Konventionelle Luftkriegführung in Mitteleuropa; Positionspapier Fü L zur Vorbereitung der AFCENT Conventional Offensive Air Operations Conference, Jan. 1969, vom 6.1.1969, S. 13 f. Vetter/Vetter, Versuchsprojekte, S. 44 f. BA-MA, BL 1/1633: Fü L III, Führungs- und Einsatzgrundsätze für die WS F-104 G und G-91 (Entwürfe) vom 18.4.1968, S. 7. Vgl. auch S. 18 ff. BL 1/14652: Tgb. InspLw, Eintrag vom 23.3.1961. Ebd., BL 1/1885: Fü L III 1, Ausbau Extended Range Tanks und Einbau von Waffen. Allein für den Ausbau der Zusatztanks und den Wiedereinbau der Kanone veranschlagte man ein Minimum von 70 Std. pro Geschwader, und dies stellte lediglich die Industrienorm dar. Das Personal der Einheiten würde zusätzlich noch einen kompletten Tag benötigen. Damit waren schnelle Umrüstaktionen vollkommen ausgeschlossen. Es wäre interessant festzustellen, wie man auf der praktischen Ebene verfuhr, d.h., ob die Maschinen im FBAoder im FBS-Modus bereitgehalten wurden. Dies muss kommenden Studien überlassen bleiben. Ebd., Fü L III 3, Dual-Role F-104 G vom 23.3.1965 mit Anl. Untersuchung einer Dual-Role der dt. F-104 G-Jabo-Verbände, v.a. S. 9 f. BL 1/1888: Mehrzweckverwendung F-104 G vom 4.12.1963. Ebd., BL 1/4050: Stellungnahme der verschiedenen Abt. Fü L zur US Dual Capability Study: Non-US NATO Air Forces 1969-1974, Jan. bis Aug. 1969. Dazu BL 1/3508:
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Für die nukleare Zielplanung der schweren Jagdbomber liegen im Gegensatz zu den Verhältnissen bei den Flugkörperverbänden einige genauere Informationen vor, die es ermöglichen, das Gesamtspektrum recht exakt auszuloten 3 4 5 . Die deutsche Luftwaffenführung unterschied aus planerischen Gründen zwei Hauptzielgebiete: das erste mit Zielen geringerer Reichweite (bis zu 1 8 0 - 2 0 0 nm), für die die F - 1 0 4 eigentlich nicht gedacht war. Das zweite Gebiet beinhaltete die zentralen Ziele für Counter Air und Interdiction (bis zu 5 0 0 nm) 3 4 6 . H i e r lag d e r H a u p t f o k u s des Interesses. Der A k t i o n s r a d i u s d e r F - 1 0 4 betrug maximal 535 n m (= 9 9 0 km), bei vollständigem Tiefflug 4 1 0 n m (= 760 km, in beiden Fällen Version mit ausgebauter Kanone und Aufrüstung mit Zusatztanks) 3 4 7 . Dies bedeutete, dass die H a u p t m a s s e der Ziele westlich der Weichsel lag. Der Perspektivenwechsel hin zur Flexible Response bedingte dann die Definition beider geographischer Gebiete nach Kriegsverlauf: Bei einem begrenzten Krieg w ü r d e m a n in Zone 1 vornehmlich konventionell eingreifen, im Falle der Eskalation dann zu Z o n e 2 mit nuklearen Waffen übergehen 3 4 8 . A n dieser Unterteilung kristallisierte sich auch die Position der Luftwaffe zur neuen strategischen Linie. Von den USA, der N A T O und auch v o m eigenen Führungsstab der Streitkräfte w u r d e eine stärkere Ausrichtung auf den direkten konventionellen A b w e h r k a m p f an den Grenzen zur DDR bzw. CSSR gefor-
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Fü L III 1, Untersuchungen der Grundlagen für die Konzeption der Luftwaffe vom 22.10.1965, S. 44. BL 1/11151: Fü L II, Beitrag zu den 13. dt.-franz. GenSt-Besprechungen (Ende Okt. 1964) vom 24.8.1964, Probleme der Dual-Role bei den dt. schweren JaboVerbänden mit einem Begleitdok. Die taktischen Überprüfungen der Kampfverbände gaben der Luftwaffenführung durchaus Recht. BL 1/4063: Fü L/SBWS F-104, Konventionelle Bewaffnung F-104/G-91 vom 29.1.1969 mit zahlreichen Begleitdok. Die konkreten Ziele mit den entsprechenden Koordinaten unterliegen immer noch der Geheimhaltung. Letztlich sind sie allerdings auch eher zweitrangig, da, wie im Folgenden kenntlich gemacht wird, die Betrachtung der Grundprinzipien recht eindeutige Schlüsse zulässt. Eine zentrale Studie über die Auswahl von VTOL-Waffensystemen (BA-MA, BL 1/1753) vom 15.10.1962, die von Fü L II 1 erstellt und von Panitzki offiziell in Umlauf gesetzt wurde (an Min., Sts und Fü Β, Η, M), definierte die Ostgrenze des Zielraums 1 auf einer Linie, die zwischen 13° und 15° östlicher Länge verlief, also zwischen Stralsund, Potsdam, Liberec, die Ostgrenze des Zielraums 2 zwischen 17° und 18° östlicher Länge, also etwa auf einer Linie Stolpe, Posen (Poznan), Gleiwitz (Gliwice), Budapest. S. 6 ff. und anl. Karten und Zielkataloge. Dazu auch BA-MA, BL 1/2109: Blauer Brief Nr. 17 vom 19.1965, Grundlinien für die Nachfolgemuster Flugzeug-WS, S. 3 f. Ebd., BL 1/1885: Fü 1 II 4 an die Lw-Gruppen und weitere Dienststellen, Strike-MissionProfiles für F-104 vom 31.1.1964, S. 3. BL 1/1885: Fü L II an Fü Β und UAbt. Fü L Aufstellungsplanung der Luftwaffe 70 mit Zwischenzielen 1964 und 1965 vom 21.1.1964 mit Anl. Vergleichende Untersuchungen über die Leistungen der WS F-104 G und G-91 als Jabo mit nichtnuklearer Bewaffnung, S. 2. Ebd., BL 1/4925: Fü L I an Fü L III, Schreiben mit anliegender Planungskonzeption für Luftangriffsverbände (18.8.1966) vom 28.9.1966, S. 8 ff. Diese Grundeinteilung war schon recht früh erstellt worden. Vgl. BL 1/1753: Fü L II 1 an Min., Studie über die Auswahl von VTOL-Waffensystemen vom 15.10.1962. Karte dazu: siehe hinteres Vorsatzblatt dieses Bandes.
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dert 349 . Praktisch bedeutete dies die Aufgabe aller Versuche, die feindlichen Luftstreitkräfte in einem Gesamt-Counter-Air zu neutralisieren und auch die Interdiction konnte unter konventionellen Kampfbedingungen kaum mehr durchgeführt werden. Die Luftwaffe reagierte darauf nach bewährtem Muster: Sie rezipierte die neuen Paradigma im Grundsatz, meldete aber sofort Bedenken im Detail an. Ein begrenzter Kampf in Zone 1 bot nur wenig Aussicht auf Erfolg und würde rasch die nuklearen Fähigkeiten in Frage stellen. Kurz formuliert bedeutete dies: Während der Zeit der Massive Retaliation lagen unter den herrschenden Einsatzprinzipien und gemäß den Vorgaben der nuklearen Zielplanung der NATO die DDR und die westlichen Gebiete der CSSR und Polens flächendeckend und vornehmlich als Atomziele im Fokus, beim Wechsel zur Flexible Response wandelte sich dies hin zu einer Konzentration auf den konventionellen Kampf im Raum des Schlachtfeldes (Close Air Support) und, soweit den Luftstreitkräften möglich - auf die weiteren Zielkategorien. Ein nuklearer Einsatz blieb weiterhin grundsätzlich möglich - die praktische Verfahrensweise (Force Generation Level) in Kombination mit den Umrüstschwierigkeiten ließ derlei jedoch immer stärker in den Hintergrund treten 350 . Die neue strategische Ausrichtung brachte auch eine ganz praktische Reichweitenverkürzung, weil die Kanone in die F-104 wieder eingebaut wurde und damit keine Zusatztanks mehr mitgenommen werden konnten. Fü L bemühte sich daraufhin um Zuweisung von Zielen weiter im Westen 351 . Stets war man darauf bedacht, allen Bestrebungen nach Denuklearisierung entgegenzutreten. Daher entschloss man sich, trotz der herrschenden Personalknappheit in den eigenen Reihen der NATO bei der Erarbeitung der Zielunterlagen zu helfen. Den ATAFs fehlten für ca. 500 Ziele (v.a. FlaRak-Stellungen, Truppenkonzentrationen, Straßen- und Eisenbahnknoten) zuverlässige Informationen 352 . Betrachtet man die Entwicklung der Nuklearfähigkeit als Ganzes, ergibt sich folgendes Bild. Die Aufrüstung hatte zäh begonnen. Zwar wurden schon 1958 die ersten Grundlagen für den Atomeinsatz gelegt, jedoch führte dies nicht zu einer raschen Kampffähigkeit. Der Führungsstab Luftwaffe setzte alles daran, die am weitesten fortgeschrittenen Staffeln (2./JaboG 31 und l./JaboG33)
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Zum Folgenden ebd., BL 1/4050: Fü L III 3; Entwurf Vortrag Fü L vor dem Vtdg.Ausschuss des Bundestages am 24./25.1.1968, Die heutige und zukünftige Luftwaffe vom 26.1.1968 (Vortrag wurde gehalten), S. 15 ff.; BL 1/2107: Fü Β III 4: Milit. Leitlinie für die Aufbauplanung der Bw 1965-1970, S. 2 ff.; BL 1/3508: Fü L III 1 an Fü Β III 1; Entwurf für Führungsweisung Nr. 1 vom 21.7.1965, Bezug: Besprechung am 15./16.7.1965 bei Fü Β III mit Begleitdok.; BL 1/3508: Fü L III 1, AG Konzeption der Lw; Untersuchung des Auftrages der Luftwaffe in der Führungsweisung Nr. 1 vom 1.12.1966. Die Detailzielplanung der NATO für die einzelnen Stffn müsste in einer Spezialstudie noch näher untersucht werden, sobald die Akten freigegeben werden. BA-MA, BL 1/4063: Fü L III 1, Sprechzettel für UAL Fü L III, Einsatz der F-104 G in der konventionellen Rolle mit zahlreichen Begleitdok., darunter Fü L III 1 an Min., Konventionelle Einsatzbereitschaft der Jabo-Version F-104 G, Entwurf vom 18.7.1967. Ebd., BL 1/2107: Unterstützung der NATO durch Bearbeitung und Produktion von Zielunterlagen vom 13.7.1964, mit 2 Begleitdok. Mit der Zielplanung für die NATOLuftwaffen-Verbände stand es insgesamt offenbar überhaupt nicht zum Besten.
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einsatzklar zu bekommen 353 . Kammhuber selbst verknüpfte das Schicksal der F-104 direkt mit der Nuklearfrage: »Wenn die deutsche Luftwaffe die Strike Role nicht bekommen hätte, hätten wir die F-104 gecancelt 354 .« Dementsprechend weigerte er sich auch, bei der Umrüstung der Verbände die Jabo-Geschwader konventionell zu bestücken, und ließ nur atomare Munition zu 355 . Nicht zuletzt auch wegen der personellen, materiellen und finanziellen Mangelsituation erzielte man jedoch nur langsam Fortschritte. Die (SAS-)Lager für die Atommunition für JaboG 33 und 31 waren nicht vor 1961/62 fertig, für die restlichen Geschwader wohl nicht vor 1966/67 356 .
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Ebd., BL 1/2108: Fü L II 4 an LwGrp Nord, Richtlinien für die Ausbildung und den Einsatz der Strike- und Attack-Stffn vom 22.6.1961, S. 1. Vor allem Büchel stand im Zentrum der Bemühungen: BL 1/222: Vortrag OTL Schmoller vor Gen. Crispi, 4. ATAF, Dez. 1960, S. 1. »First priority has always been assigned to the strike squadron at Büchel«. Ebd., BL 1/14653: Tgb. InspLw, Eintrag vom 5.5.1962 Kommandeurs- und Gen.Besprechung. Dazu auch BL 1/1888: Stv. InspLw Einsatzplanung F-104 G JaboG vom 29.1.1962. Vgl. dazu auch Strauß, Die Erinnerungen, S. 315-319. Die Herstellung der StrikeFähigkeit hatte sich unter anderem dadurch verzögert, weil die USA die nötigen Bombenzielgeräte nicht zeitgerecht lieferten (M2 und dual timer). Der Bombencomputer M2 erwies sich schließlich sogar als Fehlentwicklung, die für Jabo-Maschinen nicht verwendet werden konnte. BA-MA, BL 1/14651, 14652 und 14653: Tgb. InspLw, Einträge vom 12. und 19.10. sowie 9.11.1961,11. und 18.1. sowie 5.-7.6.1962. BA-MA BL 1/14652: Tgb. InspLw, Eintrag vom 19.1.1961. Ebd., BL 1/1908: Fü L II 1, Nukleare Ausrüstung der Strike-Flugzeuge F-104 G, vom 21.3.1963 mit Telegrammen der dt. NATO-Botschaft in Washington. BL 1/83: Fü L III 3, Vorbefehl für die Vorbereitung der Übernahme einer Strike-Rolle durch JaboG 32 vom 14.6.1965, S. 2. BL 1/82: F Ü L I I I 3 , Sonderwaffenausbildung JaboG 34 vom 28.5.1965. BL 1/85: Fü L III 3 an LwGrp, Tele Zeitplanung Einsatzbereitschaft JaboG 36 vom 1.10.1965 mit Folgedok. Termine für die Herstellung der Einsatzbereitschaft in der StrikeRolle der JaboG 34 und 32 vom 15.3.1965. Die Ausbildung litt unter den fehlenden SASLagern, da die US-Vorschriften ein Üben unter Kampfbedingungen unter Simulation von scharfen Α-Bomben erst erlaubten, wenn die »storage sites« komplett fertiggestellt waren. Die Vorschriften für die Bewachung der Lager und den Einsatz der A-Waffen waren noch in den 50er Jahren erlassen worden, siehe oben, S. 178, Anm. 128. Sie wurden entsprechend der organisatorischen und technischen Entwicklung immer wieder modifiziert. BL 1/4925: Fortsetzung Wagon Train, neue Vereinbarungen über custodials etc. auf Basis der Technischen Vereinbarung zwischen dem OB der US-Luftstreitkräfte in Europa und dem BMVg über die von der dt. Luftwaffe bemannten Flugzeug-Atomeinsatzsysteme und dazugehörigen Anlagen vom 10.4.1960, Neufassung der Anlagen Α und B, vom 25.4.1966. Die ersten Spezial(SAS)-Lager mit der nötigen Infrastruktur für die A-Waffen konnten nicht vor Ende 1962 vollendet werden (Büchel und Nörvenich). BL 1/4898: Stand der Objekt-Bearbeitung Infrastruktur vom 1. und 11.9.1962, S. 4 - 7 ; BL 1/1908: Fü L II 1, Nukleare Ausrüstung der Strike-Flugzeuge F-104 G vom 21.3.1963, S. 2. Laut Dok. der Friedensund Anti-Atombewegung wurde das JaboG 33 in Büchel 1965 mit A-Waffen ausgerüstet. Netzwerk Friedenskooperative, Posaunen gegen A-Waffen - Jericho in der Eifel, (14.12.2004), URL: http://www.friedenskooperative. de/themen/akt02-01.htm und GA A-Waffen Abschaffen, Programm Friedenssommer 2003, (2.3.2003), URL: (Kopien der Texte bei B.L.). Die Angabe ist nicht korrekt. Nach Angaben des BMVg war am 15.5.1963 das JaboG 33 der einzige dt. Luftwaffen-Verband, der mit A-Waffen ausgestattet und einsatzbereit war. Statement of the Federal Minister of Defence concerning Item II, Part, of the Agenda, Mai 63, NHP-Dok. 137, 10. Anl. JaboG 31 hatte sein Custodial-Team noch nicht erhalten. Generell ist zu sagen, dass der Kenntnisstand auch innerhalb der Bundeswehr-Führungsstellen nicht in allen Aspekten überein-
IV. Strategie und Kriegsbild 1955 bis 1967
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Die Gestellung von QRA-Kräften lief der nuklearen Einsatzfähigkeit voraus. Alarmrotten mit konventioneller Bestückung wurden schon Anfang der 60er Jahre mit F-84F-Maschinen (6 Maschinen) aufgeboten357. Für die Umrüstung auf die F-104 wurden zur Gewährleistung des QRA-Betriebes dann dritte Staffeln aufgestellt. Diese sollten die Auftragserfüllung, auch für die nuklearen Ziele, mit F-84 sicherstellen358. Die formelle Zuweisung von atomaren Zielen erfolgte ab 1963, wohl direkt nach der Belegung der Sonderwaffenlager359. Das JaboG 33 erhielt drei Ziele (28 kt) aus dem SSP, einem automatisch abzuleistenden Unterplan des allgemeinen atomaren Einsatzverfahrens der NATO (Atomic Strike Plan, ASP)360. Die QRA-Maschinen hatten bei R-Hour diese Objekte sofort anzugreifen361. Die restlichen einsatzbereiten Kräfte des Geschwaders hatten darin im sog. Followon-Programm sieben weitere Ziele mit 28 kt anzufliegen. Alle Angriffspunkte
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stimmte, dies insbes. auch, was die Umrüstungstermine der Verbände auf die F-104 angeht (hier im NHP-Dokument 137 Umrüstung des JaboG 31 erst 1964, nach Fü L aber bereits im Sommer 1962 beendet). Offenbar wusste im komplizierten Getriebe manchmal die Linke nicht, was die Rechte tat. Die Verbände waren infolge der Umrüstung auf den Starfighter vor 1964 auch ausbildungsmäßig gar nicht in der Lage, A-Waffeneinsätze zu fliegen (JaboG 31 frühestens am 1.4.1964, JaboG 33 am 1.7.1964). BL 1/1908: Fü L II 1, Nukleare Ausrüstung der Strike-Flugzeuge F-104 G vom 21.3.1963, S. 2. Wann die anderen Verbände folgten, ist aufgrund der Restriktionen bei der Quellenbenutzung infolge der Sicherheitsvorschriften derzeit nicht genau feststellbar. Der Zeitraum dürfte wohl um 1966/67 liegen. Ebd., BL 1/2108: LwGrp Süd, Richtlinien für die Ausbildung und den Einsatz der Strikeund Attack-Stffn vom 22.6.1961, S. 1. Ebd., BL 1/14652: Tgb. InspLw, Einträge vom 17. und 24.11.1961. Für das JaboG 31 war diese 3. Stff letztlich nicht nötig, da die Umrüstung vor der Fertigstellung der A-Waffenlager abgeschlossen war. Das Sonderwaffen-Lager war nicht vor Ende 1962 fertig. Das JaboG 33 sollte die Stff erhalten, als das SAS-Lager schon fertig war. Die Umrüstung sollte erst im Herbst 1962 beginnen. BL 1/679: Fü L III 2, Befehl für die Umrüstung des JaboG 33 auf Flugzeugmuster F-104 vom 23.11.1961 mit Korrekturbefehl vom 7.3.1962 (Änderung der Umrüsttermine von 1.4.-30.9. auf 1.7.-30.12.1962). BL 1/4898: Fü L III 9, Stand der Objekt-Bearbeitung Infrastruktur vom 11.9.1962. Das SAS-Lager war spätestens an diesem Tag, dem 11.9.62, fertig. Die nukleare Einsatzfähigkeit hat möglicherweise mit dem Tag der Indienststellung der 3. Stff begonnen, evt. aber auch schon etwas früher. Der früheste Zeitpunkt ist nach der derzeitigen Aktenlage der 5.9.1961 (erfolgreicher Abschluss des Evaluation Test). Die QRA-Einsatzbereitschaft der dt. Luftwaffe begann mit rein konventioneller Bestückung. Vor dem 1.4.1961 war man ausrüstungs- und ausbildungsmäßig zu nuklearen Strike-Einsätzen nicht in der Lage. Dies ging allerdings u.a. auch auf die überaus schlechten Zielunterlagen der ATAFs zurück. BL 1/1753: Fü L II, Einsatzbereitschaft der assignierten Verbände ab 1.1.1960, mit zahlreichen Begleitdok. Im Herbst 1962 war an A-Waffenlagern lediglich das des JaboG 33 fertiggestellt. BL 1/4898: Fü L III 9, Stand der Objekt-Bearbeitung Infrastruktur vom 11.9.1962, S. 4 ff. Nach Fü Β III 1 befanden sich am 23.1.1963 2 JaboStff der dt. Luftwaffe in nuklearer Bereitschaft. Fü Β III 1, Grundsätze der Verteidigungspolitik, insbes. Auswirkungen des Nassau-Abkommens, 23.1.1963, siehe NHP-Dok. 119, S. 25. Zum SSP (SACEUR Scheduled Programme) siehe unten, S. 242, und Tuschhoff, Deutschland, S. 162, Anm. 245. BA-MA, BL 1/2132: Fü L II 4 an Stv.InspLw, Besprechungspunkte zur Vorlage bei dem Min. vom 20.3.1963, Zielzuteilung für JaboG 33 (strike) für die Zeit vom 1.7. bis 21.12.1963.
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lagen in Polen und der CSSR. Zu Friktionen kam es, als die NATO ab dem 1. Juli 1963 erstmals ein nukleares Ziel in der DDR zuteilte. Es handelte sich um 9 kt gegen ein Ziel »am Nordrand einer Kleinstadt«. Dazu kamen noch einige Ziele in der CSSR in Grenznähe zur Bundesrepublik. Dies löste Probleme aus, weil sowohl einige Piloten als auch die Luftwaffenführung moralische Zweifel hegten, einen Teil der eigenen Nation nuklear anzugreifen. Die Skrupel scheinen sich insgesamt, vor allem auch bei den Flugzeugführern, in Grenzen gehalten zu haben. Anders als bei Steinhoff/Pommerin dargestellt, wo relativ undifferenziert und allgemein von »Gewissensnot«362 gesprochen wird, scheinen sich viele Flugzeugführer, auch die der atomar bestückten Maschinen, vor allem auf das Fliegen selbst, dies nicht selten mit Begeisterung und unter Betonung der Courage, konzentriert zu haben363. Die moralische Problematik wurde offenbar, ähnlich wie die Gefahr des Absturzes (Starfighterkrise)364, meist als negative Seite des Berufs gesehen, die zu akzeptieren war. Im politischen Bereich wurde dann die Opposition, insbesondere Helmut Schmidt, aktiv und forderte ein umfassendes Veto-Recht für Atomwaffeneinsätze von deutschem Boden365. Es bestand hier in gewisser Weise ein dauerhaftes Konfliktfeld, das man auch als >Weimar-Syndrom< bezeichnen könnte, d.h. die Vorstellung, westdeutsche Piloten würden mit ihren Atomwaffen bei entsprechender Einsatzplanung nicht nur eigene Landsleute vernichten, sondern dazu auch noch das Zentrum deutscher Geisteskultur 366 . Fü L versuchte im vorliegenden Fall mit Genehmigung von Minister und Inspekteur Luftwaffe, bei der NATO eine Hintertür zu öffnen, indem er für sich das Recht in Anspruch nahm, derlei problematische Ziele zurückzuweisen, ohne die NATOGesamtplanung in Frage zu stellen367. Insgesamt bekam das JaboG 33 18 automatische und 16 je nach Frontlage abrufbare Ziele zugewiesen. Dies entsprach annähernd der Sollstärke des Geschwaders. Insgesamt bleibt es aber äußerst zweifelhaft, dass sich die NATO vor Errichtung der NPG von deutscher Seite aus in die Zielplanung hineinreden ließ, und auch danach dürften die Möglichkeiten, nicht zuletzt auch für die Detailzielplanung im Einzelnen, begrenzt gewesen sein.
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Steinhoff/Pommerin, Strategiewechsel, S. 39. Interview mit Rentel (25.3.2004), bis 1967 Angehöriger des JaboG 33 und später Kommodore des JG 71. Dazu oben, S. 367. S III 6, Dt. Veto-Recht (Forderung MdB Helmut Schmidt) vom 14.4.1966, NHP-Dok. 164. Heuser, NATO, Britain, France, S. 137. BA-MA, BL 1/2132: Fü L II 4 an LwGrp Süd, Besprechungspunkte zur Vorlage bei dem Min. vom 20.3.1963, Zielzuteilung für JaboG 33 (strike) für die Zeit vom 1.7. bis 21.12.1963. Derlei Vorhaben hatte man schon auf höherer Ebene durchzusetzen versucht. Fü Β III 1, an Leiter Fü Β III, Einsatz alliierter A-Waffen auf Territorium der Bundesrepublik, hier: Überprüfung entsprechender Hinweise im EDP bzw. ASP von SACEUR vom 30.6.1961, NHP-Dok. 069.
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Wie begrenzt die atomaren Fähigkeiten der deutschen Luftwaffe Mitte der 60er Jahre waren, geht aus einer Auflistung von 1967 hervor. Man konnte mit der F-104 im Jahre 1966 nicht mehr als 36 Nuklearziele automatisch angreifen368: Tab.: Strike-Kapazität der deutschen Luftwaffe (SSP) 1967 QRAKräfte l./JaboG 31 2./JaboG 31 l./JaboG 33 2./JaboG 33
Maschinen Follow-On (50 % der restlichen Ge= Ziele schwaderstärke) 2 2 2 2 8
l./JaboG 31 2./JaboG 31 l./JaboG 33 2./JaboG 33 +
Maschinen Flugkörper = Ziele (noch kein QRA) 7369 FKGrp 12 7 7 7 + 28
Ziele Insgesamt 4
4
= 40
Für 1970 sah Fü L dann 84 Ziele + 32 Ziele für Flugkörperverbände vor. Die Planer sahen sich eher überfordert. Allein in der DDR lagen mindestens 400 Anlagen und Einrichtungen für Counter Air und Interdiction, zusätzlich über 200 für den Close Air Support, der ggf. auch nuklear geflogen werden konnte370. Selbstverständlich standen darüber hinaus noch die Verbände der übrigen NATO-Partner zur Verfügung. Demgegenüber ist allerdings zu berücksichtigen, dass in den anderen Staaten noch eine erhebliche Anzahl von Zielen zu bekämpfen war (insgesamt für den Warschauer Pakt ca. 1850-2000)371. Außerdem musste man mit einer überaus hohen Verlustrate schon beim ersten Einsatz rechnen, die Maschinen, die möglicherweise durch den Gegner schon am Boden zerstört wurden, noch nicht eingerechnet. Aus deutscher Sicht blieb allerdings die Option, dass die Wirkung von 36 Atomwaffen allein von der eigenen Luftwaffe schon zu schweren Schäden bei Bevölkerung und Militär des Warschauer Paktes in Mittel- und Mittelosteuropa führen konnte. b) Die G-91 und das Prinzip »Hit and Run«: Die Hoffnung auf Erfolg durch flexible Einsatzgestaltung Vor dem Hintergrund der hier zu Tage tretenden technischen und organisatorischen Beschränkungen und Unzulänglichkeiten der praktischen Perspektive aus relativierten sich alle strategischen Großraster. So widerlegt beispielsweise das ** Zum Folgenden BA-MA, BL 1/3508: Fü L III, Durch dt. Luftangriffsverbände abdeckbare Ziele des SSP von 1967. Diese Planungen dürften im Großen und Ganzen realistisch gewesen sein, denn bis 1970 wurden alle bemannten Atomverbände der Lw einsatzbereit. w Dem damaligen Bearbeiter ist hier offenbar ein Rechenfehler unterlaufen. Bei einer Geschwaderstärke von 36 Maschinen (abzgl. 4 QRA) müssten es für Follow-On-Einsatz zumindest 16 Maschinen, d.h. insges. 4 Ziele mehr, gewesen sein. 170 BA-MA, BL 1/3508: Zielkarten »SBZ Deutschland« mit eingezeichneten Zielen und Reichweitenlinien. lrl Siehe dazu die Ausführungen oben, S. 207 f. und S. 233, Anm. 352. Auch zum Folgenden.
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Bernd Lemke: Konzeption und Aufbau der Luftwaffe
leichte bemannte Waffensystem, die G-91, allzu starre Kategorisierungen von Grundstrategien wie Flexible Response bzw. Massive Retaliation372. Ursprünglich geplant als leichtes Unterstützungsflugzeug mit nuklearer Fähigkeit sollte sie zunächst durchaus als konventionelles Kampfmittel dienen, später dann auch mit taktischen Kernwaffen bestückt werden. Die entsprechenden militärischen Forderungen von AIRCENT wurden zu einer Zeit erstellt, als man noch von massiven Atomschlägen ausging. Die Ausstattung mit Atomwaffen scheiterte dann in den 60er Jahren, u.zw. nicht ausschließlich aufgrund des strategischen Wandels und der entsprechenden Unsicherheiten373, sondern auch deshalb, weil die G-91, ohnehin schon mit technisch-taktischen Mängeln und Unzulänglichkeiten behaftet, sich als Nuklearträger nicht ohne Weiteres eignete374. De facto war sie auch in Planungen nie wirklich als festes Instrument des nuklearen Großschlages verankert. Insofern kam auch die Massive Retaliation in der realen Existenz der Luftwaffe niemals restlos an. Die G-91 war als Unterstützungsflugzeug für die Landstreitkräfte gedacht und sollte daher vor allem Close Air Support fliegen. Dies erforderte, dass die Verbände möglichst nah bei der kämpfenden Bodentruppe an der Front disloziert werden mussten. Dies war allein schon auch deshalb nötig, weil die Maschinen eine überaus geringe Reichweite besaßen (max. 200 nm = 370 km)375. Damit bestand bei ihnen wohl die größte Gefahr, rasch vernichtet zu werden.
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Die Basisdaten für das Folgende in: BA-MA, BL 1/177: Vorläufige Einsatzgrundsätze für LWSR-Verbände vom 11.6.1959; BA-MA, BL 1/896: Vortrag des Referenten Fü L II 4 - Ο Krupinski - anlässlich 6. TWOATAF Tactical Convention am 14. und 15.3.1963 bei HQ 2. ATAF; BL 1/1622: Fü L III 1, Blauer Brief 1/68, vom 13.3.1968, Das WS Fiat G-91, Vortrag bei AFCENT (22.1.1968), 2. ATAF (19.2.1968), 4. ATAF (29.2.1968), BL 1/1633: Fü III 3, Blauer Brief 5/67, vom 19.7.1967, Sachstand und Probleme des WS G-91; BL 1/1321: Fü L III 3, Vorläufige Einsatzgrundsätze für das WS Fiat G-91 (leichte Kampfgeschwader), gültige Version, von Panitzki offiziell erlassen, vom 8.10.1965. Von der Formulierung der Strategie bis zur Arbeit der Stäbe war es ein langer und teils unübersichtlicher bzw. widersprüchlicher Weg und es ist hier die Frage zu stellen, ob die strategischen Vorgaben in den entscheidenden NATO-Dok. und die aktuelle Kriegsplanung immer übereinstimmten. Versuche bei USAF 1963 zeigten, dass die G-91 sich wohl generell für die Ausrüstung mit Atomwaffen eignete. BA-MA, BL 1/1885: Note for record (mit dt. Übersetzung) für Speidel, Dual Capability for Fiat G-91 and F-104 G vom 29.10.1963 (vgl. hier insbes. auch die nachträglich gestrichene Begründung des Sachbearbeiters). Die dt. Luftwaffe verzichtete dann aber auf entsprechende Schritte, weil der personelle, materielle und auch log. Aufwand bei den ohnehin begrenzten Ressourcen zu groß gewesen wäre. BL 1/2107: Fü L II, NATO-Vtdg.-Planung, hier: Bearbeitung der Force Goals 1970 vom 30.1.1964, S. 2 f., BL 1/3508: Fü L III 1, Untersuchungen der Grundlagen für die Konzeption der Luftwaffe vom 22.10.1965, S. 46. Zu nennen sind hier vor allem die Zusatzaufwendung für Piloten und Bodenpersonal und nicht zuletzt auch für die dann zu errichtenden SAS-Lager. Zu den Hintergründen des Verzichts hinsichtlich der Strategie und der Machttaktik vgl. oben, S. 213-220 und unten, S. 384-386. Im Einsatzspektrum erhielt die G-91 eine »conventional dual role« zugewiesen. BL 1/4924: Fü L III 1, Konventionelle Luftkriegführung in Mitteleuropa; Positionspapier Fü L zur Vorbereitung der AFCENT Conventional Offensive Air Operations Conference, Jan. 1969 vom 6.1.1969, S. 24 f. Dies galt nur für die Aufklärerversion mit großem Zusatztank. Die Jabo-Version erreichte bei voller Waffenzuladung (ohne Zusatztanks) nur 100 nm (= 180 km).
Notlandeplätze für G-91 auf Bundesautobahnen: Übung »Seitensprung«, September 1968. Versorgung von 4 G-91 mit Betriebsstoff und Munition (turnaround) auf einem Autobahnparkplatz. Zur Gewährleistung des Nachschubs ein Transportflugzeug vom Typ Noratlas. Bundesarchiv-Militärarchiv
Freiburg,
Bestand
Boden-Boden-Rakete Pershing in einer Feldstellung Fotosammlung
Dieter
Mütter
BL
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Dem versuchte man zu begegnen, indem man ein hochmobiles Verbandssystem entwarf. Die Einheiten sollten nicht mehr geschwaderweise disloziert werden, sondern in Schwärmen zu drei bis fünf Maschinen. Jedes Geschwader sollte einen Leithorst mit den zentralen Führungseinrichtungen besitzen, von dem aus eine Reihe von Nebenhorsten und Feldflugplätzen zu steuern war: je Staffel mindestens drei Plätze feindwärts und im rückwärtigen Raum weitere Landeplätze. Der Feind sollte niemals wirklich wissen, wo die Kampfeinheiten sich gerade befanden. Die Verbände hatten ständig in Bewegung zu sein, dabei schwerpunktmäßig vom Heer über die Feuerleitorganisation angefordert werden können. Die verlegenden Teileinheiten nahmen zunächst Material- und Ersatzteilpackungen mit, um sich selbst zu versorgen. Bei fortschreitender Zeit sollte dann durch flexible Nachschubwege (v.a. auch Lufttransport mit Flugzeugen und Hubschraubern) der Materialfluss gewährleistet werden. Der logistische, materielle und personelle Aufwand war enorm und überstieg letztlich die Möglichkeiten der Luftwaffe. Die Notwendigkeit, mehrere Flugplätze gleichzeitig zu versorgen und ständig die Wanderungen der Verbände zu überwachen und zu begleiten, bereitete große Probleme. Realisiert wurde letztlich dann auch nur ein abgeschwächtes Modell, dies nicht zuletzt auch infolge der sehr begrenzten Möglichkeit bei der Landbeschaffung für die Plätze. Dazu kamen technische Enttäuschungen. Die G-91 war von vornherein als leichter Jagdbomber konzipiert worden, um auf Grasplätzen landen zu können. Der Hersteller, FIAT, hatte diese Fähigkeit auch garantiert, war allerdings von italienischen Verhältnissen, d.h. einem eher trockenen Klima, ausgegangen. In Mitteleuropa waren aufgrund der häufigen Regenfälle die Verhältnisse anders. Infolgedessen scheiterten alle Versuche mit Graslandebahnen376. An der Misere konnten auch spektakuläre Aktionen zur Errichtung von befestigten Behelfslandebahnen letztlich nichts ändern. Die Luftwaffenführung ließ auf neuentstehenden Bundesautobahnen Starts und Landungen von G-91Schwärmen erproben, um beim Ausfall von Haupthorsten Ausweichmöglichkeiten zu haben. Diese Versuche zur Errichtung von Notlandeplätzen (NLP) erwiesen sich mit der Unterstützung des leichten Kampftransporters, der Noratlas 2501, als technisch möglich, aber auch als sehr kompliziert377. Noch schwieriger wären entsprechende Versuche mit der F-104 gewesen, die man ebenfalls vorgesehen hatte. Steinhoff lehnte derlei als unrealisierbar ab378.
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BA-MA, BL 1/223: FIAT G-91, Start- und Landeversuche (einschl. Fahrwerkserprobung) auf einer Startbahn in Erding vom 12.9.1963, S. 3. Kernakte für die Versuche mit NLP 1966/67 (mit Bildern): ebd., BL 1/4538. Vgl. auch BL 1/4925: Verwendung von Notlandebahnen im Alarm- und Vtdg.-Fall vom 2.9.1966. Für die Integration der F-104 in das Erprobungsprogramm fand Steinhoff wenig schmeichelhafte Worte: »Keine F-104. Spielerei! Was soll der Unsinn? Wegen einer Autobahnstelle so ein Aufwand. Für F-104 m. Er. kein Bedarf.« (Herv. i. O.). Ebd., BL 1/4538: Fü L III 3 Erprobung des Notlandeplatzes II/3 NLP (II/3) vom 20.7.1967, Paraphe von Steinhoff vom 21.7.1967.
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Die begrenzten Möglichkeiten wirkten auf das Organisationskonzept zurück. Man kehrte zur Staffel als taktischer Grundeinheit zurück und schaffte die Aufteilung in Schwärme wieder ab. Jedes Geschwader bestand aus zwei Staffeln, die beide sowohl für Aufklärung als auch für Jabo-Einsatz einsetzbar sein sollten. Infolge der technisch schwierigen Umrüstung wies man einer Staffel von vornherein die Aufklärerrolle (Recce = R) zu, der anderen die Jaborolle (Attack = Α). Für den Kriegsfall war die Verlegung beider Staffeln auf vorgeschobene Ausweichplätze geplant, wobei die Geschwaderführung auf dem Haupthorst verbleiben sollte. Da auch diese Minimalvariante bis Ende der 60er Jahre nicht realisiert werden konnte, entschied man sich, zunächst nur eine Staffel nach vorn zu schicken. Dies musste zwingend die Attack-Staffel sein, weil sie die geringere Reichweite besaß. c) Die Pershing I: Mobilität als Schutz Das Zerstreuungskonzept, mit dem man die G-91 zu schützen versuchte, besaß übergreifenden Charakter. Das Flugkörpersystem Pershing I, für das die Luftwaffe nach einigen Auseinandersetzungen mit dem Heer 1960 grundsätzlich die Zuständigkeit erhielt, war von Anfang an konsequent darauf abgestellt379. Die Waffe war voll verlegungsfähig und nur insofern an feste Standorte gebunden, als dies aufgrund der logistischen Versorgung und der Sicherheit insbesondere der Gefechtsköpfe nötig war. Die Kampfeinheiten sollten wie die G-91Verbände über mehrere Standorte verfügen und zwischen diesen pendeln. Geplant war für die deutsche Luftwaffe ursprünglich die Bereitstellung von insgesamt zwei Geschwadern mit je zwei Gruppen. Diese wiederum sollten unterteilt sein in je zwei Staffeln mit zwei Abschusszügen mit je einem Startgestell, dem »launcher«. Ein Teil der Kräfte (25 %) hatte in den Stellungen kampfbereit, d.h. ähnlich wie die schweren Jagdbomber in QRA, zu sein. 50 % sollten innerhalb von drei Stunden die Feuerstellungen beziehen und dort den QRA herstellen können. Der Rest wurde für den Status »released«, d.h. in Ruhe bzw. Instandsetzung vorgesehen. Im Spannungsfall sollten dann möglichst alle Abschusszüge in die Alarmstellungen rücken. Um einer raschen Vernichtung zu entgehen, war geplant, die QRA-sites in unregelmäßigen Abständen zu wechseln. Die einzelnen Abschusszüge hatten also so häufig wie möglich mit den Flugkörpern zwischen ihren Kampfstandorten hin- und herzufahren, um die Ortung und eine rasche Vernichtung unmöglich zu machen. Dies machte die Bereitstellung von entsprechendem Gelände nötig. Pro Flugkörpergruppe sollten je zwei fest ausgebaute QRA-Stellungen sowie drei weitere provisorische Feldstellungen eingerichtet werden. Für den Ernstfall schlug man vor, für jeden Abschusszug mindestens fünf weitere Feldstellungen bereitzustellen, die allerdings im Vorhinein nur ansatzweise ausgewählt und vermessen werden sollten. 379
Z u m Folgenden vgl. grundsätzlich ebd., BL 1/1824: Fü L III 3 vom 21.1.1965, SHAPEEinsatzkonzept Pershing vom 26.11.1964, Inhaltsangabe u n d vorläufige Stellungnahme mit Begleitdok.
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Die Belegung und die nötigen Sicherheitsmaßnahmen waren dann durch die Einheiten selbst vorzunehmen. Die Rotation der Alarmeinheiten sollte im Frieden alle 1 - 8 Tage erfolgen, im Krieg alle 24 bis 72 Stunden. Im Einsatzspektrum stellte die Pershing das Äquivalent zur F-104 G in der Jagdbomberrolle dar, d.h., sie sollte vornehmlich im Counter Air und in der Interdiction eingesetzt werden. Dazu erhielten Verbände Ziele aus den automatischen Einsatzplänen der NATO, dem Saceur Scheduled Programme (SSP) und dem Regional Priority Programme (RPP), zugewiesen. Uber diese Programme (Priorität I) hinaus gab es noch sog. Abruf-Programme (Priorität II), die je nach militärischer Lage gefahren werden konnten380. Die Bataillone und Abschusszüge waren mittels einer Mischung aus Fernschreiber-, Kabel- und Richtfunkverbindung mit den ATAF-Hauptquartieren verbunden und sollten im Ernstfall ihre Befehle direkt von dort erhalten381. Die genauen Zielkoordinaten unterliegen weiterhin der Geheimhaltung, aber die »Studie Offensive Verteidigung« läßt grundlegende Aussagen über die Zielkategorien zu. In erster Linie waren alle gegnerischen Luftangriffsmittel zu vernichten, also Flugplätze, Raketenstellungen und deren Führungseinrichtungen, dabei vorrangig die nuklearen Trägermittel. Im Rahmen der »Interdiction« waren alle Ziele zu bekämpfen, die dem Fluss von Unterstützung vom Hinterland zur Front dienten, also u.a. Verkehrsknotenpunkte, Eisenbahnzentren, Versorgungsdepots, Truppenaufmarschräume 382 . Schließlich visierte man noch zentrale Führungseinrichtungen und Befehlsstände an. Der geographische Zielbereich für die NATO-Truppen in Mitteleuropa endete mit 24° 30' östlicher Länge (Luftaufklärungsgrenze), also in etwa an der Ostgrenze Polens383. Die
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Ebd., BL 1/4050: Fü L III 3; Entwurf für Vortrag Fü L vor dem Vtdg.-Ausschuss des Bundestages am 24./25.1.1968, Die heutige und zukünftige Luftwaffe, S. 19 (Vortrag wurde gehalten). Der Hauptfokus der Luftwaffe lag auf den automatischen Programmen. Ob die Abruf-Programme durchgeführt werden konnten, hing auch davon ab, was an Kampfverbänden nach den ersten Schlägen bzw. Kampftagen noch Übriggeblieben war. Gerade die Wendung zur Flexible Response hatte ja zur Folge, dass die Einheiten weniger für Nuklearprogramme als eher für den konventionellen Kampf eingeplant wurden. Über die Fernmeldeverbindungen herrschte einige Verwirrung. Eigentlich waren direkte Verbindungen von SACEUR zu den Abschusseinheiten vorgesehen (Status Control, Alert, and Reporting System, SCARS, ebd., BL 1/4925: Fü L I V 5, SCARS, hier SHAPEVersorgungsplan vom 6.5.1966). Zu den Details vgl. zus. BL 1/4508: Fü L III 5, Arbeitsunterlage für Besprechung S 6, FKG (Pershing) vom 8.6.1967 mit Begleitdok. (u.a. Karte über Fm-Leitungen NATO/USA). Diese Verbindungen konnten allerdings nicht gewährleistet werden, so dass zunächst die Zwischenstufen SHAPE - ATAF - Bat/Abschusszug eingeführt werden mussten. Schließlich hatte man sich mit einer Verbindung bis hinab zu den Bataillon Operation Center zu begnügen. Es bestand also keine direkte Verbindung von SHAPE zu jedem individuellen Abschusszug. Real installiert wurden bis 1966 ohnehin nur Verbindungen bis zu den Geschwadern (Nörvenich, Büchel, Landsberg [FKG 1]). Die Leitstände dort trugen die Bezeichnung BOC, was irreführenderweise Base Operations Center hieß. BL 1/4925, ebd. Ebd., BL 1/1753: Fü L II, Studie Offensive Verteidigung 1959 (vor dem 16.10.1959), S. 23-32 mit Tafeln 4-10. Ebd., BL 1/223: Aktenvermerk F-104 Recce vom 16.2.1962, S. 1. Dazu GenlnspBw an Strauß vom 26.8.1959, NHP-Dok. 036, S. 9 f.
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»Studie Offensive Verteidigung« und weitere Dokumente, v.a. von Fü B, enthielt darüber hinaus noch Ziele in der westlichen Sowjetunion, aber es ist fraglich, ob SHAPE dies jemals wirklich in die Pläne für die deutsche Luftwaffe einbezog384. Die Spitzenvertreter der USA traten jedenfalls bei der NATO im Rahmen der Ablehnung der MRBM-Truppen mit recht energischer Kritik an allen, auch nur theoretischen, Vorstellungen auf, Ziele in der Sowjetunion selbst - allerhöchstens mit Ausnahme von direkt an der Westgrenze gelegenen - von dem NATO-Mittelabschnitt in Europa aus nuklear bekämpfen zu wollen. Wie Steinhoff anmerkte, sei es »ganz gewiss [...] hier feststehende Ansicht der verantwortlichen Leute im State Department und Department of Defense, daß Norstad seinen sog. taktischen Bereich viel zu weit nach dem Osten ausgedehnt hat. Es wird bestritten, daß ein MRBM als faktisches Missile< bezeichnet werden kann und deshalb vorgeschlagen, daß die >external forcesklassischen< Aufgaben und Prioritäten der Luftkriegführung auch für den konventionellen Krieg nichts
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Ebd., S. 20. Zum Folgenden vgl. ebd., BL 1/2103, Fü L III 1, Unterlagen für Kriegsspiel bei Fü L III über Einsatz und Wirkung konventionell bewaffneter Luftstreitkräfte vom 16.9.1965; BL 1/4968: BMVg, Planungsstab/Fü S VII, Lehrbacher Lesebuch 69 vom 19.12.1969, Einführungsvortrag des InspLw, Steinhoff, S. 35-67. Vorläufer in BL 1/4027: Fü L III 1, Einführungsvortrag Lw für die Klausurtagung des BMVg und der Hauptabteilungsleiter/Abteilungsleiter, 19./21.12.1969 (Fassung vom 17.12.1969), Datum des Dok. 1.12.1969. Ebd., BL 1/1762: Fü L III 1, Beiträge zu den 16. dt./brit. GenSt-Besprechungen, vom 29.5.1969, Anl. 1, S. 8.
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geändert466.« Dies galt in gleichem Maße für das Verhältnis von Luftangriff und -Verteidigung. Beide Grundelemente wurden wie schon seit 1955 als essentiell betrachtet, auch wenn man gewisse Schwankungen in der Gewichtung als unausweichlich ansah und überdies eine Verwischung der traditionellen Grundaufgaben Offensive, Defensive und Aufklärung infolge der neuen Forderungen nach Doppel- und Mehrfachrollen für das zur Verfügung stehende Einsatzinstrumentarium erkannte467. Die Gewichtung wurde entsprechend der neuen Perspektiven etwas geändert, ohne dass jedoch dies wirklich als erfolgversprechend akzeptiert wurde. Man hatte verstanden, dass in der allerersten Phase eines Konfliktes die Einheiten auf dem Schlachtfeld unterstützt werden mussten. Dies sollte durch Close Air Support und die Herstellung einer begrenzten Luftüberlegenheit über der Front zur Sicherung des Einsatzes der eigenen Jagdbomber geschehen. Letzteres wurde als unabdingbar für jeden größeren Einsatz betrachtet. Im Bewusstsein der begrenzten eigenen Kräfte bestand man auf Flexibilität, straffer Einsatzführung und Schwerpunktbildung, alles Grundtugenden der Luftwaffenstrategie seit Anbeginn der Geschichte der Teilstreitkraft in allen Staaten seit 1914. Eine Offensive gegen die feindlichen Luftangriffsysteme mit konventionellen Waffen erachteten die Planer als fast unmöglich, weil zu kräfteraubend. Sinnvoll war Counter Air nur mit Atomwaffen, wobei sich dann aber rasch ein »selbstständiger Luftkrieg« ergäbe. Damit wiederum unmittelbar verknüpft war die Eskalationsfrage und damit das Grundproblem. Hier differierte man auch mit den britischen Partnern, die ihrer Hoffnung Ausdruck gaben, man könne u.a. mit einem ausgedehnten konventionellen Counter-Air-Programm die nukleare Phase bis zu sechs Tagen hinauszögern. Derlei war für den Führungsstab der Luftwaffe vollkommen utopisch468. Die Parameter, die man anwandte, um das Szenario im Detail zu verdeutlichen, trugen teilweise einen willkürlichen Zug und dienten letztlich zur Auslotung der eigenen Maximalfähigkeiten. Dies stellt im Übrigen ein Paradigma 466
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Ebd., BL 1/4924: Fü L III 1, Konventionelle Luftkriegführung in Mitteleuropa; Positionspapier Fü L zur Vorbereitung der AFCENT Conventional Offensive Air Operations Conference, Jan. 1969 vom 6.1.1969, S. 6 und 16. Ebd., BL 1/1762: Fü L III 1, Sprechzettel Thema 3 zu den 15. dt./brit. GenSt-Besprechungen vom 29.10.1968 u n d Fü L III 1, Beiträge zu den 16. dt./brit. GenSt-Besprechungen, vom 29.5.1969, Anl. 1, v.a. S. 2 ff., mit zahlreichen Begleitdok. Ebd. Die Differenzen fanden ihren Ausdruck insbes. auch in der Definition von »strike«. Für die maßgeblichen brit. Luftwaffenexperten bedeutete dies in erster Linie generell (auch nicht-nukleare) L u f t k a m p f m a ß n a h m e n über den Close Air Support hinaus, für die dt. Seite (Lw) war »strike« immer nuklear. Dazu auch BL 1/1885: tele DMV vom 9.9.1963 an Fü 1 II und III, mit zahlreichen Folgedok., Definitionsstreit »strike« u n d »attack«. Ansonsten stimmten die zuständigen Verantwortlichen beider Delegationen sehr stark überein. Dies galt insbes. f ü r die A b l e h n u n g einer reinen K o n z e n t r a t i o n auf die direkte Heeresunterstützung auf dem Schlachtfeld u n d Betonung der Notwendigkeit zu eigenständiger Luftkriegführung und der unbedingten Bereitstellung von Kräften für den taktischen Angriff vor allem für Counter-Air u n d Interdiction. Auch sind Kontinuitäten über Jahrzehnte hinweg zu erkennen: Die Eigenständigkeit der Luftwaffe als eigene Teilstreitkraft blieb Conditio sine qua non.
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Bernd Lemke: Konzeption und Aufbau der Luftwaffe
westlicher Verteidigungsplanung im 20. Jahrhundert dar. Schon die britischen Planer für den Luftschutz etwa hatten in den 20er Jahren ihre Konzepte auf die realen Fähigkeiten hin abgestellt und notfalls ein »scaling down« der Szenarien durchgeführt. Konkret stellte man sich einen initialen Angriff von acht Divisionen des Warschauer Paktes vor. An Luftstreitkräften würden den Angreifern eine Frontluftarmee mit insgesamt 750 Flugzeugen zur Verfügung stehen. Diese wären in der Lage, einen Luftschirm über der Front zu bilden, der zu jeder Zeit aus mindestens 150 Flugzeuge bestünde 469 . An nuklearen Kampfkräften würden beide Bündnisse je 600 Maschinen zurückhalten 470 . Den Einsatz von B- und CWaffen schloss man aus. Die Überlegenheit des Ostens wurde vor allem darin gesehen, dass aus der Tiefe des Raumes immer wieder Verstärkungen herangeholt werden konnten, während die NATO rasch erschöpft würde, dies auch in Bezug auf die FlaRak, die mit ihrer Reichweite über die Grenzen zur DDR hinweg zwar zum Schutz des Gefechtsfeldes beitragen konnten, aber aufgrund der begrenzten Munitionsvorräte schnell kampfunfähig wären. Steinhoff schätzte die weiteren Kräfte der Angreifer auf 80 Divisionen mit insgesamt 2000 Flugzeugen, dazu noch einmal 2000 Jäger für die Luftverteidigung 471 . Als einzige Hoffnung für die deutsche Luftwaffe blieben wiederum die >alten< Tugenden. »Wenn die eingangs dargestellten Vorzüge von Luftstreitkräften zur Geltung gebracht werden sollen - wie die Fähigkeit zum raumdeckenden Einsatz, zu schneller Reaktion und zur Schwerpunktbildung dann ist die zentrale integrierte Führung in einem möglichst ausgedehnten Bereich unerläßlich.« Die Ausweitung auf atomare Kampfführung war ständig zu befürchten, konnte aber nicht vorausgesagt werden. Die konkrete Planungsarbeit endete auch mit diesem Fall, da man aus den Tagen der Massive Retaliation wusste, was dann zu erwarten war. Wenn alle Maßnahmen einschließlich eines strikt selektiven Einsatzes nicht genügten, um die Angreifer rasch zu stoppen, würde es entweder automatisch Eskalation und Vernichtung (Follow-on-Einsatz und dann Anwendung des ganzen Spektrums) geben oder eine rasche Niederlage auf konventionellem Wege. Was man für den Bestand der Luftwaffe für den letzteren Fall erwartete, sprach man in den zentralen Konzepten nicht aus, konnte sich aber vorstellen, was anstand: weitgehender Verlust der Kampfkraft und Überranntwerden der Bodeneinrichtungen durch die vorrückenden Feindtruppen 472 . Die Perspektive für das Erstere hatten Verlustberechnungen aus den Jahren 1961-1963 erge-
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Ebd., BL 1/4968, BMVg: Planungsstab/Fü S VII, Lehrbacher Lesebuch 69 vom 19.12.1969, Einführungsvortrag des InspLw, Steinhoff, S. 38 ff. Ebd., BL 1/2103: Fü L III 1, Unterlagen für Kriegsspiel bei Fü L III über Einsatz u n d Wirkung konventionell bewaffneter Luftstreitkräfte vom 16.9.1965, S. 9. Ebd., BL 1/4968: BMVg, Planungsstab/Fü S VII, Lehrbacher Lesebuch 69 vom 19.12.1969, Einführungsvortrag des InspLw, Steinhoff, S. 39. Der begrenzte Zeitrahmen ließ eine nähere Beschäftigung mit der Verlustplanung ab Mitte der 60er Jahre leider nicht zu. Weitere Forschungen wären nötig.
IV. Strategie und Kriegsbild 1955 bis 1967
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ben 473 . Damals hatten ca. 61 600 Mann zur Verfügung gestanden. Nach einem Einsatz über einen Zeitraum von sieben Tagen mit Atomwaffen blieben an einsatzfähigen Kräften noch übrig ca. 17 800 Mann, d.h., man hatte etwa 71 % an Gesamtverlusten zu gewärtigen (21 200 Tote und ca. 22 500 Verwundete). Bei den primären Kampfverbänden rechnete man mit 90 % Ausfällen. Insofern blieb man von allen Teilstreitkräften dem nuklearen Dilemma vielleicht am stärksten verhaftet: Einsatzauftrag und Vernichtung waren untrennbar verbunden. Als einzige Hoffnung bestand weiterhin das Vertrauen auf die Abschreckung als kriegsverhinderndes Prinzip.
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BA-MA, BL 1/1908: Fü L II 1 an Fü L III 1, Berechnung der zu erwartenden Kriegsverluste vom 26.1.1961, mit einem Folgedok. vom 23.7.1963.
V. Der organisatorische Aufbau 1. Zwischen Verwaltungsstab und Kommandolösung: Die Teilstreitkraft Luftwaffe in den Kämpfen um die Spitzengliederung a) Der politisch-organisatorische Gesamtrahmen Der organisatorische Aufbau der neuentstehenden Luftwaffe spielte sich nicht im luftleeren Raum, quasi am geistigen Reißbrett, ab, sondern wurde von Anfang an von massiven Machtinteressen gespeist, wobei nicht zuletzt auch die Erfahrungen und Denktraditionen aus der Zeit vor 1945 eine zentrale Rolle spielten. Von der strukturellen Grundgestalt und den Führungsprinzipien hingen infolge wechselseitiger Abhängigkeit zahlreiche andere Faktoren ab, so etwa Charakter und Funktionsweise der Befehlshierarchie, die Effizienz des ganzen Apparates sowie nicht zuletzt auch die taktische Schlagkraft der Kampftruppen. Wie noch darzulegen sein wird, ergaben sich gerade in diesen Bereichen teils heftige Auseinandersetzungen. Die grundlegenden Entscheidungen über die Organisation fielen an der militärischen und politischen Spitze. Diese Weichenstellungen bestimmten auch die Stellung und organisatorische Konzeption der Luftwaffe. Daher wird im Folgenden zunächst auf die Gestaltungsphase der Bundeswehr und die Rolle von Fü Β und den Teilstreitkräften darin eingegangen. Danach wird in einem weiteren Teilkapitel beleuchtet, wie die Luftwaffe, ausgehend von den daraus resultierenden grundlegenden Entscheidungen, ihre Binnenstrukturen ausgestaltete und in den 60er Jahren dann reformierte. Dabei wird besonders darauf einzugehen sein, wie die Entwicklung auf der obersten Ebene und der Ebene der Teilstreitkräfte verzahnt waren und welche Schwierigkeiten sich für die Luftwaffe ergaben, als es im Zuge der Prüfung einer Neuorganisation der Bundeswehr (sog. Wehrmachtlösung) zu Kontroversen und zeitweise auch zu Planungsstaus kam. Die Grundparameter für die Organisation ergaben sich zu Beginn der Aufstellung ab 1955. Im Ergebnis der negativen Erfahrungen bis 1945 waren sich die maßgeblichen Politiker einig, dass es keinen Generalstab mit eigener Machtbefugnis geben würde. Das Horrorbild eines Generalissimus an dessen
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Bernd Lemke: Konzeption und Aufbau der Luftwaffe
Spitze mit eigener Machtvollkommenheit wirkte sich nachhaltig auf die Initialgestaltung aus. Die Politiker der ersten Stunde, darunter vor allem auch Helmut Schmidt, hatten dabei durchaus gesehen, dass der praktische Wert der Truppe entscheidend von einer konzisen und schlagkräftigen Führungsorganisation abhing, und deshalb auch ausdrücklich auf der Konstituierung von Teilstreitkräften bestanden 1 . Damit war allen Bestrebungen insbesondere von Seiten der Heeresmilitärs nach einer grundlegenden Neugestaltung unter Ausschaltung der Teilstreitkräfte und unter Aufbau einer einheitlichen Gesamtorganisation mit nur einem Führungsstab an der Spitze das Wasser abgegraben worden. Die Diskussion über dieses Thema fiel zeitlich in etwa mit den Auseinandersetzungen um den strategisch-taktischen Sinn einer eigenständigen Teilstreitkraft Luftwaffe in und um die EVG zusammen 2 . Die Teilstreitkräfte, insbesondere die Luftwaffe, profitierten beim Aufbaubeginn 1955 darin von dem doppelten Interesse der politischen Spitzen: einerseits Schaffung eines möglichst schlagkräftigen Instrumentes, andererseits Verhinderung eines allmächtigen Militärapparates auf der Basis eines monolinearen Befehlsstranges mit Zuschnitt auf einen einzigen militärischen Befehlshaber bei gleichzeitig möglichst übersichtlicher Gestaltung der Gesamtstrukturen 3 . Eine Art spezieller Gewaltenteilung verhinderte eine kompakte eingliedrige Führungsstruktur. Die praktische Richtungsweisung für die Grundgestalt der Spitzengliederung erfolgte in informatorischen Gesprächen von Vertretern der politischen Parteien unter Einbeziehung von Heusinger und anderen Spitzenmilitärs, wobei der Kernvorschlag von Blank geliefert wurde 4 . Insbesondere Helmut Schmidt stimmte diesem Entwurf im Prinzip dann nachhaltig zu. Die strukturellen Grundparameter sollten gemäß einer entsprechenden, in § 66 SG enthaltenen Verpflichtung dann in einem eigenen Organisationsgesetz niedergelegt
BA-MA, BW 2/2768: Entwürfe u n d Diskussionen über Organisationsgesetz für die Bundeswehr, darunter Protokolle über die informatorischen Aussprachen des Bundesmin. für Vtdg. mit Abgeordneten des Sicherheitsausschusses des Bundestages über Fragen der Vtdg.-Organisation vom 23.9., 30.9. u n d 14.10.1955. Siehe die Diskussion u m die »Gliederung einer modernen Wehrmacht« zwischen Helmut Staedke, Otto Wien u n d Holm Schellmann, in: Wk, 3 (1954), S. 191-202, 438-441, 4 (1955), S. 32-34, 157-159 u n d 261-267. Der in diesem Zusammenhang regelmäßig gebrauchte Begriff »Wehrmachtlösung« ist teilweise irreführend, da unter ihm sowohl die Zusammenfassung aller Teilstreitkräfte unter einen Gesamtstab an der Spitze als auch die tatsächlich in der Wehrmacht praktizierte Vierteilung (OKW, OKH, OKL, OKM) verstanden werden kann. Wie noch zu zeigen sein wird, näherte man sich Letzterem im Laufe der 60er Jahre an (Kdo.-Lösung). Dazu insbes. auch BA-MA, BW 1/54942: 36. Sitzung Bundesverteidigungsausschuss, III. Legislaturperiode, 2105/Tgb.Nr. 1/59,14.1.1959, v.a. Nachmittagssitzung Bl. 25 f., dazu noch ergänzend Vormittagssitzung, S. 22 f., 38-48. Ebd., BW 2/2768: Entwürfe und Diskussionen über Organisationsgesetz für die Bundeswehr, darunter Protokolle über die informatorischen Aussprachen des Bundesmin. für Vtdg. mit Abgeordneten des Sicherheitsausschusses des Bundestages über Fragen der Vtdg.-Organisation vom 23. und 30.9. sowie 14.10.1955.
V. Der organisatorische Aufbau
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werden, für das auch schon sehr elaborierte Entwürfe erstellt wurden. Heusinger und Speidel wandten sich Anfang 1956 in einer Gegendarstellung und einem massiven Aufruf gegen die Beschränkungen, konnten sich aber nicht durchsetzen 5 . Das Gesetz wurde allerdings dann verschoben und kam trotz neuer Anläufe Mitte der 60er Jahre nicht zustande 6 . Sowohl die Grundorganisation des Ministeriums als auch die Arbeitsprinzipien wurden auf weitgehende Beschränkung der Macht des obersten Militärs hin abgestellt7. Man beschloss die Einrichtung von insgesamt elf Abteilungen, darunter nur vier militärische: eine Abteilung für die Führung der Gesamtstreitkräfte und je eine für die Teilstreitkräfte. Diese Abteilungen waren vom Status her Verwaltungsorgane, keine Befehlsstäbe, d.h., sie mussten alle Entscheidungen im Mitzeichnungsgang nach der Gemeinsamen Geschäftsordnung (GGO) mit den zivilen Ressorts abstimmen 8 . Das militärische Prinzip von Befehl und Gehorsam, nach dem die führenden Offiziere in persona die Leitung innehaben, wurde auf der obersten Ebene praktisch eliminiert. Die Anwendung ziviler Verwaltungsregeln auch auf den ureigensten Bereich der Militärs führte bei fast allen wichtigen Fragen zu zahlreichen Friktionen. Viele Offiziere empfanden die dadurch entstehenden Bindungen und Restriktionen als schädlich für die Zusammenarbeit und letztlich auch für die Schlagkraft der Truppe. Der oberste Soldat, der gleichzeitig Leiter der Abteilung Gesamtstreitkräfte wurde, stand den Teilstreitkräften nicht vor, sondern rangierte auf gleicher Ebene. Die Befehlsgewalt lag alleinig beim Minister, der sie nur an die obersten Militärs delegierte. Diese handelten alle »im Auftrag« des Ministers. Auch das oberste militärische Gremium unter seiner Leitung, der Militärische Führungsrat, besaß nur beratende Funktion.
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Heusinger u n d Speidel an Min. u n d Sts., Entwurf eines Gesetzes für die Organisation der militärischen Landesverteidigung, vom 26.1.1956 mit Stellungnahme von Abt. I/A vom 31.1.1956. Nochmaliger Aufruf von Heusinger u n d Speidel vom 3.2.1955 anbei. Vgl. auch Edition »Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung« online, (15.12.2004), URL: . Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung (1957 u n d 1958), 5. Kabinettssitzung 27.11.1957, 6. Verhandlungen über Pläne zur Ä n d e r u n g des Wehrpflicht- und des Organisationsgesetzes, BMVg, Anm. 33. Die Kabinettsprotokolle sind auch in Buchform erschienen. Siehe ggf. dort. Z u m Folgenden vgl. grundsätzlich BA-MA, BW 2/20272: Fü IV 2, Spitzenorganisation der Streitkräfte mit Beilage, Beilage 1, Die Organisation der militärischen Spitze der Bundeswehr von 1956 bis heute; BL 1/5215: Arbeit FüAkBw, Abt. Lw, Hörsaal Β, E. Resch, Maj, Überlegungen zur Spitzengliederung der Bundeswehr an H a n d der bei den bisherigen NATO-Ubungen getroffenen Lösungen aus der Sicht der Luftwaffe, vom 1.6.1962, v.a. S. 6 ff.; BW 2/20272: Fü S IV 2 vom 23.12.1969, Konzept des Aufgabenbereichs Fü S nach Vollzug der vom Min. beabsichtigten Maßnahmen. Dazu AWS, Bd 3, S. 678-694 (Beitrag Greiner). Verteidigung im Bündnis, S. 128-131. Auch z u m Folgenden.
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Bernd Lemke: Konzeption und Aufbau der Luftwaffe
b) Die Auseinandersetzungen um die Spitzengliederung: Die Luftwaffe und ihre Fachkompetenz vs. Gesamtstreitkräftedenken Eine Neuordnung der Verhältnisse im Jahre 1957 brachte insofern eine Stärkung der militärischen Spitzenposition, als der höchste Soldat, nunmehr Generalinspekteur, ein Weisungsrecht über die Leiter der Teilstreitkräfte, nunmehr Inspekteure, erhielt. Dieses Vorrecht wurde allerdings dadurch eingeschränkt, dass die Inspekteure von Heer, Luftwaffe und Marine im Konfliktfall ein unmittelbares Vortragsrecht beim Minister besaßen. Da die Entscheidungsgewalt in jedem Falle dann bei Letzterem lag, blieb der Generalinspekteur damit in seiner Machtfülle äußerst beschränkt. Kammhuber selbst hatte sich gegen eine Konzentration aller Führungsverantwortung in einem einzigen Stab (Wehrmachtlösung) ausgesprochen, dies mit der Begründung, es sei »unmöglich, dass ein Mann i.e. Generalinspekteur alle Aufgaben der verschiedenen Teilstreitkräfte wahrnehmen kann. Wenn ein solches Genie vorhanden wäre, würden die ihm unterstellten Leute keinesfalls ihren Aufgaben gerecht werden können 9 .« In einem Interview mit Ahlers, dem späteren Hauptprotagonisten der SpiegelAffäre, propagierte er stattdessen »die kollegiale Lösung (Generalrat)« 10 . Dies wurde dann mit dem »Militärischen Führungsrat« auch realisiert. Die Luftwaffe mit ihrem neuen Inspekteur Kammhuber erfreute sich also einer relativ großen Eigenständigkeit und Integrität, konnte dementsprechend agieren. Man baute in Abstimmung mit der NATO zwei territoriale Kommandobehörden auf: die Luftwaffengruppen sowie eine zentrale Ausbildungsleitung, das Kommando der Schulen, dazu ein Materialkommando (später Materialamt) und das Allgemeine Luftwaffenamt, eine Zentrale für Personal, Flugsicherung, allgemeine Verwaltung und einige Sonderaufgaben 11 . Der Stab Gesamtstreitkräfte, der Führungsstab Bundeswehr, versah mit seinen Referaten nur grundlegende Koordinationsarbeit bzw. Angelegenheiten, die alle drei Teilstreitkräfte betrafen. Im Bereich der Waffenbeschaffung hörten seine Kompetenzen rasch auf, da die Grundausstattung der Teilstreitkräfte fast überall massiv voneinander abwich. Hier liefen die Fäden bei der Materialbeschaffungsorganisation, insbesondere beim Bundesamt für Wehrtechnik und Beschaffung zusammen 12 . Wer nun allerdings geglaubt hatte, dass die Luftwaffe ein unabhängiges Dasein führen könne - möglicherweise durch neue Ausrüstung, wie sich dies dann durch die Mittelstreckenraketen (MRBM) vermuten ließ, eine Bedeutungssteigerung zu erfahren und anschließend vielleicht doch noch eigene Zuständig9 10 11 12
BA-MA, BL 1/14647, Tgb. InspLw (bzw. Abt.-Leiter VI), Eintrag vom 28.9.1956. Ebd.: Eintrag vom 8.11.1956, mit Notiz Presse-Interview durch Ahlers vom Spiegel. Siehe dazu unten, Teilkapitel 2 a), S. 291-298. Verteidigung im Bündnis, S. 158-160. Fü Β war vom Entstehungsgang natürlich nicht vollkommen ausgeschlossen, besaß aber letztlich doch nur eine Art Relaisfunktion. Die Teilstreitkräfte als Empfänger und Bedarfsträger hatten eine stärkere Stellung inne. Über die Machtverteilung im Detail müsste in einer verwaltungstechnischen Spezialstudie einmal der Mitzeichnungsgang in Theorie und Praxis untersucht werden.
V. Der organisatorische Aufbau
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keiten bei der Rüstung und anderen Bereichen zu erhalten - hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Der Führungsstab Bundeswehr unter Heusinger (bis 1957 Abteilung Gesamtstreitkräfte unter Speidel) hatte sich keineswegs mit den Verhältnissen abgefunden und arbeitete auf eine innere Straffung mit der Option auf eine zentrale Spitzenorganisation hin. Das Mittel dazu fand man in den ab Ende der 50er Jahre anstehenden NATO-Übungen. Um hier realistisch partizipieren zu können, benötigte die Bundeswehr eine entsprechende Einsatzgliederung, die automatisch die Kriegsspitzengliederung präjudizieren musste. Erste wichtige und umfassende Ansätze ergaben sich im Rahmen der Übungen Side Step, Flash Back und insbesondere Fallex 60. Die Lösungen, die gefunden wurden, gingen im Wesentlichen auf die Ideen von Fü Β zurück und fanden keineswegs den Beifall der Luftwaffe 13 . Die Planer hatten nämlich die Teilstreitkräfte auf der Spitzenebene eliminiert und sämtliche Befugnisse für die national verbleibenden Truppen auf einen einzigen Stab unter Leitung des Oberkommandos der Deutschen Streitkräfte (ODS), später Kommando der Nationalen Deutschen Streitkräfte (KNDS), übertragen 14 . Die Inspekteure waren in diese Organisation praktisch als Zuschauer mit rein ministeriellen Aufgaben unter Ausschaltung des direkten Zugriffs auf die Truppe integriert. Die Arbeits- und Machtorgane, im Falle der Luftwaffe der Fü L, waren aufgelöst worden. Die Unterabteilungen mit den Referaten zur Bearbeitung der Führungsgrundgebiete hatte man in den Stab des ODS eingegliedert. Diese Lösung bedeutete aus Sicht der Luftwaffe keineswegs eine theoretische Ausrichtung für einen ohnehin sehr unwahrscheinlichen Kriegsfall, sondern stellte letztlich einen Generalangriff auf die Integrität der Teilstreitkraft dar 15 . Man legte massiv und dauerhaft Protest ein 16 . Dabei spielte auch die Territorialgliederung eine Rolle. Man hatte die Möglichkeit, Kommandowege nach massiven Angriffen zu unterbrechen, berücksichtigt, eine Eventualität, die gerade Kammhuber nicht aus den Augen verlor, als er befahl, die Luftwaffengruppen als oberste Truppenführungsstäbe auch für eine rein nationale Kampfführung auszulegen 17 . In der Folge sollte sich ein 13
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Zum Folgenden zentral: BA-MA, BL 1/5215, Arbeit FüAkBw, Abt. Lw, Hörsaal Β, E. Resch, Maj, Überlegungen zur Spitzengliederung der Bw an Hand der bei den bisherigen NATO-Übungen getroffenen Lösungen aus der Sicht der Luftwaffe, vom 1.6.1962. Dazu auch BL 1/1798, Erfahrungsbericht von Chef des Stabes Fü Β zu Flash Back, vom 11.1.1961. Vgl. überhaupt BL 1/1798 insgesamt. Das BMVg war für die Übungen in 3 Stffn unterteilt worden: (A) die Spitzen des Min. mit den Insp. im Rahmen der Regierung, (B) das Kommando der Deutschen Streitkräfte und (C) die »Arbeitsstaffel« mit den Verwaltungsabteilungen, Rüstungs- und Ersatzwesen. Diese Aufteilung stellte die Basis für alle weiteren Überlegungen dar. Ebd., BL 1/1798, Chef Stab Bw, Kriegsspitzengliederung, vom 29.3.1961. Inwieweit dies allen Beteiligten in letzter Konsequenz klar war, muss allerdings einstweilen offenbleiben. BA-MA, BL 1/1798, handschr. Notiz zu Spitzengliederung, Chefbesprechung bei Chef Fü B, vom 17.3.1961. Dazu InspLw an Genlnsp vom Juli 1961, Kriegsspitzengliederung und zahlreiche weitere Dok., darunter Organigramme und Skizzen. Siehe oben, S. 161 f.
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Bernd Lemke: Konzeption und Aufbau der Luftwaffe
Gutteil der Debatten und Auseinandersetzungen auf den Status der Luftwaffengruppen im Verhältnis zu den Territorialbefehlshabern der Gesamtstreitkräfte (DBv, Deutsche Bevollmächtigte) erstrecken. Berücksichtigt man dann noch die praktischen Führungsprinzipien auf der ATAF-Ebene, hier insbesondere bei der 4. ATAF, die die Errichtung rein nationaler Leitzentren für die Kampfverbände vorsah (Tactical Operation Center, TOC), erschien eine wenigstens faktische Befehlsführung auf nationaler Ebene für den Kriegsfall gar nicht so abwegig, auch wenn das Integrationsprinzip das Kernelement der NATO und die Legitimation ihrer Existenz darstellte. Niemand wusste, ob die Kommandostrukturen des Bündnisses nicht doch zerbrechen würden. Ob nationale Organisationsmodelle als Ersatz in Frage kamen oder angesichts des starken Integrationsniveaus gerade der deutschen Verbände im Gesamtzusammenhang eine wirkliche Alternative darstellten oder eher Spielereien waren, steht auf einem anderen Blatt. Dazu kam die massive Bedrohung durch die Kriegsmittel des Feindes, die ein unverzügliches Umschalten auf die Kriegsorganisation erforderlich machte. Man konnte es sich im Ernstfall nicht leisten, die Spitzeninstrumente tagelang für die Kriegführung umzugestalten. Letztlich erschien es als unabdingbar, dass Friedens- und Kriegsgliederung weitgehend identisch sein mussten. Dieses Diktum wurde von allen wichtigen Entscheidungsträgern, auch den Spitzen der Luftwaffe, akzeptiert 18 . Genau hier lag aber die Crux. Es war nämlich keineswegs gesagt, dass die Kriegs- an die Friedensgliederung angepasst werden musste. Genau betrachtet wies die Friedensgliederung zumindest aus Sicht Heusingers und seiner Mitarbeiter schwere Mängel auf. Daher bot sich der umgekehrte Weg an: die Anpassung der Friedensgliederung an die noch auszuarbeitende Kriegsgliederung. Die ganzen 60er Jahre hindurch kam es zu fortgesetzten Verhandlungen um die weitere Gestaltung der Spitzengliederung, ohne dass jedoch ein befriedigendes Ergebnis erzielt werden konnte. Man versuchte selbstverständlich, bei den USA Anleihen zu nehmen, kam aber bei allen Ähnlichkeiten und Analogien, etwa in der Definition der Teilstreitkräfte als Servicebetriebe, zum Schluss, dass ein einfaches Kopieren nicht möglich war. Die Situation der Bundeswehrführung musste infolge der einzigartigen historischen Erfahrungen, den strategischen, politischen, nicht zuletzt auch verfassungsrechtlichen Verhältnissen individuell gestaltet werden 19 .
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Vgl. z.B. ebd.: Fü L III, Sprechzettel für InspLw, Spitzengliederung vom 14.9.1961, S. 4, mit Folgedok. Ebd.: Dt. Botschaft Washington, Leiter Mil.-Attachestab, Vtdg.-Organisation in den USA, vom 17.7.1963. Es wäre äußerst reizvoll, hier einen Systemvergleich auf der Basis politikwissenschaftlichen Instrumentariums anzustellen. Leider bleibt hierfür kein Raum. Zu den teilweise markanten Unterschieden bei der Rüstung (in den USA weitgehend im Zuständigkeitsbereich der Teilstreitkräfte) vgl. BL 1/4508 Fü L, Systembeauftragter, Berichtsentwurf für den Vtdg.-Ausschuss über Erfahrungen mit SB und System-Managementgruppen im BMVg, mit Änderungsvorschlägen Fü L z u m Org.-Erlassentwurf vom 2.8.1967, S. 1.
V. Der organisatorische Aufbau
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Für die Übung Fallex 60 hatten Heusinger und sein Stab eine Kompromisslösung dahingehend gefunden, dass den Inspekteuren der Teilstreitkräfte ihre Abteilungen G l (Personalwesen) und G3 (Führung, Organisation, ABCAbwehr) überlassen wurden, während die G2 (Nachrichtenwesen, militärische Lage) und G4 (Logistik, Quartiermeisterwesen) in den obersten Führungsstab integriert werden sollten 20 . Diese Lösung war insbesondere in Bezug auf die Logistik für die Luftwaffe unannehmbar, weil sie in entscheidendem Maße auf eine ihren Bedürfnissen zugeschnittene Versorgung angewiesen war und es sich nicht leisten konnte, die Einsatzbereitschaft der empfindlichen Waffensysteme durch Fehler beim Nachschub und der Ersatzteilversorgung zu gefährden 21 . Eine Steuerung von oberster Stelle betrachtete man selbst beim Einsatz von Luftwaffenoffizieren in den entsprechenden Abteilungen als praxisfern und damit potenziell auch als dilletantisch. Im Hintergrund standen dabei immer noch Befürchtungen nach Auflösung der Luftwaffe als eigenständiger Teilstreitkraft, die organisatorische Atomisierung ihrer Bestandteile und damit einer den Gegebenheiten des modernen Krieges in keiner Weise angemessene Unterordnung unter die Interessen vor allem des Heeres. Wie der zuständige Leiter von Fü L III, Oberst Helmut Mahlke, betonte, bedeutete dies, dass im Verteidigungsfall » - eine verantwortliche Führung der deutschen Luftwaffe nicht mehr besteht - die Schlagkraft der Luftwaffe in den kriegsentscheidenden ersten Tage[n] geschwächt wird - die Zusammenfassung fachlich nicht überschaubarer Verantwortungsbereiche [in einem obersten Führungsstab] die Gefahr eines Führungschaos in sich birgt« 22 . Man prophezeite ein »Auseinanderreißen der sich gegenseitig zuarbeitenden und fachlich ergänzenden Teile der Teilstreitkraft« 23 , was den Anforderungen gerade einer so technisierten Truppe niemals gerecht werden konnte: »Die Luftwaffe ist logistisch gesehen nicht eine Summierung von Materialklassen, sondern eine militärische Bündelung von technisch höchst komplizierten und differenzierten Waffensystemen 24 .« Nur eine eigens dafür angelegte Organisation, eben die Luftwaffe, konnte den Anforderungen des modernen Luftkrieges gerecht werden. Mit den Argumenten »sachliche Leistungsfähigkeit« und 20
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Ebd., BW 2/7785, Ausarbeitung Ο i.G. Berke von 1965 über die Kriegsspitzengliederung vom 24.2.1965, Stand 12.9.1961, und Fü Η III 2, Spitzengliederung in Krieg und Frieden vom 25.2.1965. Ebd., BL 1/1798: Fü L III 1, Kriegsspitzengliederung, vom 24.11.1961., zus. handschriftl. Notiz zu Spitzengliederung, Chefbesprechung bei Chef Fü B, vom 17.3.1961. Ebd.: Fü L III an Genlnsp, Kriegsspitzengliederung vom 11.9.1961 mit Anl. 1, Notiz für InspLw, Grundsätzliche Auffassungen Fü L III zur Spitzenorganisation vom 27.5.60 und Anl. 2, Auffassungen Fü Β und Fü L zur Problematik, dazu ebd., InspLw an Genlnsp vom Juli 1961, Kriegsspitzengliederung und zahlreiche weitere Dok., darunter Organigramme und Skizzen. Der Spiritus rector des Widerstandes war der Leiter der UAL Fü L III, Ο i.G. Mahlke. Ebd., Fü L III 1, Kriegsspitzengliederung vom 24.11.1961, S. 4. Ebd., Schlagwortartige Gegenüberstellung Auffassung Fü Β und Auffassung Fü L vom 15.9.1961, Begleitdok. Die neue Gliederungsskizze, S. 2. Ebd., S. 1.
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»Kompetenz« zog man in den Kampf um die Spitzengliederung. Vertreten wurde 1. eine weitgehende Teilstreitkraft-Lösung bzw. - als Kompromiss - 2. eine gemischte Kompetenz Verteilung. 3. Eine Verlagerung aller Kompetenzen auf einen wie auch immer gearteten Stab für Gesamtstreitkräfte kam nicht in Frage25. Diese Konfliktlage erstreckte sich auch auf die nachgeordneten Kommandos, die Korps. Fü Β führte auf dieser Befehlsebene eigene Stäbe für die Koordination zwischen Bundeswehr und NATO zur Sicherstellung der Versorgung der deutschen Truppen und aller strukturellen Aufgaben im Hinterland der Front, d.h. also für die ganze restliche Bundesrepublik, ein26. Im Verteidigungsfall hätten sie dann auch Führungsaufgaben besessen. Diese DBv sollten damit auch u.a. die praktische Versorgung der Kampfverbände übernehmen, eine Aufgabe, die aus Sicht der Luftwaffe eigentlich den Korps, d.h. den Luftwaffengruppen, zukam. Fü L betrachtete Letztere überdies als einzigen Ansprechpartner für die ATAFs der NATO27 und gestand den Deutschen Bevollmächtigten nur die Versorgung mit »bundeswehreigentümlichem« Material, also Einheitsmaterial, und begrenzte infrastrukturelle Kompetenzen zu28. Der Materialfluss insbesondere für Hauptwaffensysteme gehörte nach dieser Lesart in die Hände der einzig kompetenten >Fachorganisationungeordnete< Nebeneinander von zahlreichen Abteilungen im Ministerium beendet. Es gab noch die Hauptabt. II (Rüstung) und III (Verwaltung), in die die übrigen Abt. eingegliedert wurden. Ebd., BL 1/884: Fü B, Weisungsbefugnis des Genlnsp gegenüber den Führungsstäben der Teilstreitkräfte und der InSan vom 7.10.1964. Zahlreiche Ansätze, in: ebd., BW 2/20272: darunter Fü S IV 2, Spitzenorganisation der Streitkräfte, vom 10.1.1967, Oi.G. Ronnhack, Grundlegende Konzeption für den Ausbau der Spitzengliederung und Kdo.-Struktur der Streitkräfte vom Mai 1966. Sehr instruktiv für Grundelemente und -probleme aus Sicht der Luftwaffe: Chef Stab Bw an Genlnsp vom 23.11.1964, Spitzengliederung »Freudenstadter Protokoll«, mit Grundsätzen und Empfehlungen für ein Neuordnung der mil. Spitzengliederung (Version 1 und 2) aus Arbeitsbesprechung der Org.-Referenten Fü Β und Fü L mit Chef des Stabes Fü Β in Hohenfreudenstadt vom 27.-29.10.1964. Zum Folgenden vgl. grundsätzlich ebd., BL 1/6769: Fü L II, Spitzengliederung, Konzept Aufgabenbereich vom 14.1.1970; vgl. vor allem auch die enthaltenen Vorversionen. Beachte auch die Dok. zur Frage des SBWS F-104. Dazu auch BL 1/4925: Arbeitsgruppe Kommandostruktur vom 23.11.1966, Ausführungen zu Lösungsmöglichkeit 3a etc.
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16. Dezember 1969 nachhaltig gestützt74. Anfang 1970 kam es zu einer neuerlichen Debatte, in deren Verlauf auch Fü L ein Grundsatzpapier einbrachte75. Der Kern der dort erhobenen Forderungen erstreckte sich auf die Aufhebung der GGO für die Luftwaffenspitze und die gleichzeitige Auflösung der Abteilung Ρ unter Eingliederung der Referate für Luftwaffenpersonal in Fü L. Zeitweise spielte man sogar mit dem Gedanken, auch die Haushaltsabteilung des Ministeriums entsprechend zu eliminieren. Damit hätten die Teilstreitkräfte autonome Planungs- und Befehlskompetenz für Personal und Finanzen gehabt. Ähnliches hatte man ursprünglich mit den Systembeauftragten für die Waffensysteme vorgehabt. In der Organisationskommission war geprüft worden, ob man nicht die entsprechenden Referate der Abteilung Τ und des BWB in die Teilstreitkräfte integrieren könne, war dann aber zu einem gegenteiligen Ergebnis gelangt. Es blieb dabei: Die Systembeauftragten blieben trotz der Ambitionen von Fü L, zumindest zur Ausdehnung der Kompetenzen des SBWS zu gelangen, reines Koordinationsinstrument. Die zeitlich und sachlich etwas verstreuten Ansätze der Luftwaffenführung zu einer Maximallösung zusammenfassend, kommt man zu einer doch recht radikalen Lösung: Die Ambitionen der Luftwaffe hätten praktisch zur Auflösung sämtlicher übergeordneter Befugnisse im rein militärischen Bereich, insbesondere auch des Fü S, und darüber hinaus die weitgehende Entmachtung der zivilen Abteilungen nach sich gezogen76. Fü S wäre ein reines Koordinationselement und quasi Sekretariat des Generalinspekteurs geworden. Letzterer hätte auch bei Erhaltung seiner Weisungsbefugnis kaum noch führen können, da ihm das nötige Arbeitsinstrument, eben der Fü S, gefehlt hätte. Er hätte praktisch nur noch den obersten Koordinator und Planungschef im Militärischen Führungsrat abgegeben. Es verwundert nicht, dass sich derlei nicht durchsetzen ließ77. Die Sachbearbeiter in Fü S wiesen, durchaus nicht zu Unrecht, daraufhin, dass mit einer derartigen Lösung die Bundeswehr praktisch auseinanderfallen und ein Kompetenzchaos sowie dauernde Kämpfe der Teilstreitkräfte um die Finanzen und die sonstigen Ressourcen entbrennen würden. Die Folge wären teilweise anarchische Verhältnisse gewesen, wie man sie schon aus der Zeit vor 1945 kannte. Ohne einen von oben bündelnden Gesamtstab würde auf Dauer das Gesamtgebäude funktionsuntüchtig werden.
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Zum Folgenden vgl. grundsätzlich - und w o nicht anders vermerkt - ebd., BL 1/6769: Min.-Weisung zur Spitzengliederung vom 16.12.1969, mit zahlreichen Begleitdok. zur organisatorischen und verfahrenstechnischen Neuordnung des BMVg 1970/71. Dazu auch Verteidigung im Bündnis, S. 273-276 mit Anl. 5 und 6. Wie Anm. 74. Nach Lage der Dinge gibt es keinen Zeitpunkt, an dem Fü L die hier angedeutete Maximallösung komplett vertreten hatte. BA-MA, BW 2/20272: Fü S IV 2, Konzept des Aufgabenbereichs Fü S nach Vollzug der v o m Min. beabsichtigten Maßnahmen v o m 23.12.1969 mit entsprechender Untersuchung v o m 8.12.1969, zus. BL 1/6769: Neugliederung der Führungsstäbe vom 25.6.1970, mit Vermerk über Besprechung beim Min. am 24.6.1970 zur Neugliederung des Fü S.
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Das Gleiche galt für die zivilen Komponenten des Verteidigungsministeriums. Die Vorschläge von Fü L wären auch bei formalem Weiterbestehen der entsprechenden Abteilungen auf ein Schattendasein neben den Teilstreitkräften und damit die Etablierung des Befehlsprinzips für alle wichtigen Fragen quasi durch die Hintertür hinausgelaufen. Unter der gegebenen politischen und verfassungsrechtlichen Situation war derlei undenkbar.
d) Kompromisse Die Lösung, die man schließlich fand, änderte an den Grundfesten des Ministerium nur wenig, verbesserte aber die Handlungsfähigkeit der Beteiligten. Die Errichtung eigenständiger Teilstreitkraft-Kommandos außerhalb des Ministeriums, also quasi Generalstäben, blieb wenigstens für den Frieden wegen der politischen Grundsituation dauerhaft ausgeschlossen. Als Ersatz erhielten die Inspekteure der Teilstreitkräfte nunmehr truppendienstliche Befugnisse aus eigenem Recht, d.h., sie fungierten formal gesehen nicht mehr nur als bevollmächtigte Sekretäre des Ministers, blieben aber im Ministerium mit dem Status von Abteilungsleitern78. Der Generalinspekteur und Fü S behielten ihre organisatorische Stellung. Er legte die Grundlinien für Planung, Innere Ordnung, Ausbildung und Strategie fest und besaß ein eigenständiges Inspektionsrecht gegenüber der Truppe. Die Umsetzung seiner Beschlüsse erfolgte aber auf dem Wege der Weisung über die Inspekteure und ihre Führungsstäbe. Das gleiche Prinzip galt für das Verhältnis zu den zivilen Abteilungen. Diese hatten alle Erlasse über die Führungsstäbe der Teilstreitkräfte zu leiten. Ein direkter Zugriff auf die Truppe, der von den Führungsstäben häufig kritisiert worden war, hatte zu unterbleiben. Damit entsprach man dem Wunsch der Teilstreitkräfte nach Einführung des Befehlsprinzips, für die Arbeit im Ministerium behielt man im Übrigen aber weiterhin die GGO mit ihren Mitzeichnungsregelungen bei. Die Kooperation blieb weiterhin Pflicht, was trotz der dadurch unumgänglichen Schwerfälligkeit durch laufende Kontaktierung zahlreicher Stellen im Sinne einer funktional effektiven Wirkungsgestaltung unerlässlich ist. Der ganze Prozess war im April 1971 beendet. Insgesamt erwies sich erneut, dass Kardinallösungen mit Absolutheitsanspruch nicht erreichten werden konnten. Die 1955 getroffenen Regelungen blieben im Grundsatz in Kraft. Weder wurde das gemischte Modell der Arbeitsteilung zwischen Fü S und den Führungsstäben der Teilstreitkräfte geändert, noch ergaben sich grundlegende Wandlungen in der Verteilung der Gerechtsame zwischen den zivilen und militärischen Komponenten im Ministerium. Die Luftwaffe konnte ihren strukturellen Bestand wahren und stellte im gegebenen politischen, organisatorischen und verfassungsrechtlichen Rahmen den zentra78
Diese Lösung entsprach wenigstens dem Grundsatz nach durchaus der Kdo.-Lösung, wie sie auch der InspLw seit 1963 vertrat, nur eben ohne Ausgliederung des Befehlsstabes aus dem Ministerium.
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len Faktor für Betrieb, Führung und Erhaltung ihres Kampfinstrumentariums dar. Gleichzeitig blieb die Doppelfunktion als militärisches Organ und ministerielles Verwaltungselement mit allen Widersprüchen bestehen. Trotz der Probleme und Gravamina ereigneten sich keine revolutionären Umgestaltungen. Es half nichts, man musste die Gratwanderung zwischen militärischer Einsatzund Führungsfähigkeit auf der einen Seite und den Grundprinzipien demokratischer Verwaltung auf der anderen beschreiten und nachfolgend dann auch fortsetzen. Die Herstellung einer Kongruenz von zivilem Verwaltungs- und militärischem Befehlsprinzip unter demokratischen Auspizien gleicht generell der Quadratur des Kreises. Es spricht für die Akzeptanz der Verfassungsprinzipien der obersten Verantwortlichen, dass diese grundsätzlich bereit waren, die damit verbundenen Unsicherheiten zu tragen. Zweifellos dürfte allerdings mehr als einer der beteiligten Militärs sich gefragt haben, ob man mit einer Organisation wie der gegebenen tatsächlich zu einem Großkrieg in der Lage war, insbesondere auch aus der Perspektive der neuen, eher komplizierten Strategie.
2. Haupt und Glieder: Die Kommandostruktur der Luftwaffe zwischen alter Generalstabsgliederung und moderner Managementorganisation a) Start unter konventionellen Vorzeichen: Spitzengliederung und Kommandostruktur bis Anfang der 60er Jahre Die fünfzehn Jahre zwischen 1955 und 1970 brachten für die Binnenorganisation der Luftwaffe und ihren Führungsstab einschneidende Änderungen. Ausgehend von der konventionellen, sachgebietsbezogenen Betrachtung der zu leistenden Arbeit wandelte sich das organisatorische Gesicht der Teilstreitkräfte hin zu einer dynamisch orientierten Grundgliederung auf der Basis einer analytischen Betrachtungsweise. Der Prozess verlief graduell, teilweise verzögert, wurde auch nicht konsequent zu Ende geführt und schließlich, wenigstens im Falle von Fü L, nach 1970 in wesentlichen Teilen wieder zurückgenommen. Die Organisation zeigte die Grundbedingungen der Existenz einer Teilstreitkraft in all ihren Abhängigkeiten, Zwängen und Bindungen auf. Dabei spielten etwa die unterschiedlichen Phasen der Aufstellung seit 1955 genauso wie die schwere Krise um die Waffensysteme, insbesondere die F-104, eine erhebliche Rolle. Die Initialgliederung der Spitze bei der Aufstellung des BMVg im Jahre 1955 (als Abteilung VI) glich weitgehend der Organisation der EVG-Phase mit all ihren Vorläufigkeiten und spiegelte teilweise noch die dabei zu Tage getretenen
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Unzulänglichkeiten in der Systematik wider79. Noch im September 1955 blieben viele der Referate unbesetzt. Nur drei Gruppen hatte man aufgestellt: Organisation, Ausbildung und Logistik. Personalwesen und militärische Führung fristeten genauso eine Randexistenz wie das Fernmeldewesen und der Vorläufer der Inspizienten der verschiedenen Kampfverbände inklusive ihrer Waffen. Dies ging ebenfalls zum Teil auf den Personalmangel zurück80, hatte aber auch konzeptionelle Gründe. Die militärische Führung konnte noch gar nicht richtig ausgestaltet werden, weil die konkrete Einbindung in die NATO-Struktur nicht abgeschlossen war. Hinsichtlich der Fernmeldekomponenten stand noch deren Niederrangigkeit einer vollgültigen Verankerung in der Führungsleistung im Wege. Vielfach betrachtete man sie, dies insbesondere auch im Heer, als ungeordneten technischen Verbindungsdienst, sozusagen als Strippenzieher, ohne wirklichen Kampfcharakter. Allerdings stand man in der Luftwaffe hier kurz vor einschneidenden Änderungen81. Im Herbst 1955 wurde die gesamte Organisation im Zuge der Entscheidungen zur Konstituierung des BMVg dann systematisch strukturiert. Die Spitze der neuen Teilstreitkraft wurde als Abteilung VI mit vier Grundgebieten im Ministerium verankert: VI A: Führung und Ausbildung, VI B: Organisation, VI C: Logistik und VI D Fernmeldewesen82. Damit hatten das Fernmelde- und Radarwesen sowie die Elektronische Kampfführung die ihr zustehende Aufwertung erfahren, dies wohlgemerkt noch vor dem Amtsantritt des Nachtjägerführers Kammhuber, der seine Ideen aus dem Zweiten Weltkrieg in Studien im Zusammenhang mit den EVG-Verhandlungen erneut aufs Tapet gebracht hatte83. Chef der Abteilung war zunächst Panitzki.
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BA-MA, BW 1/ORG 6/6: Organisationsplan der Dienststelle Blank vom 1.11.1954, Bl. 3, und vom 1.5.1955, Bl. 4, Gliederung des BMVg vom 20.9.1955, Bl. 4. Zur Luftwaffe und ihrer organisatorischen Situation im Rahmen des Amtes Blank bis zum Ubergang zum BMVg 1955 vgl. auch Krüger, Dienststellen, S. V - X X X V I und XC-XCIII. Die namentliche Ernennungsliste der ersten 248 Luftwaffen-Offiziere, in: BA-MA, BV 5/251706: Benennungsliste (Offiziere) Nr. 1 und 2, Teil Β Lw, 1955/56. Freundlicher Hinweis von Maj Michael Poppe, MGFA. Die meisten wurden erst Anfang 1956 ernannt, ein Teil schon Ende 1955. Panitzki erhielt seine Ernennungsurkunde am 30.12.1955. Diese formellen Akte können allerdings nur als ungenauer Anhaltspunkt für die Personalsituation für die Luftwaffen-Abteilung gelten, da ein Teil der Mitglieder bereits auf ihren Posten saßen, als sie offiziell noch Zivilisten waren. Ebd., BL 1/1550: Überlegungen zur Bewertung des A-5-Gebietes vom März 1958, mit Begleitdok. Ebd., BW 1/ORG 6/6: Gliederung des BMVg vom 22.11.1955, Bl. 3. Dazu BW 1/ORG 1/2, Geschäftsverteilungspläne BMVg, Bd 8, Abteilung Lw, v.a. »letzte Fassung« vom 7.11.1955. Siehe unten, S. 325. Zu Kammhuber und dem von ihm bis 1943 heftigst vertretenen Nachtkampf-Modell, zu dem auch der Angriff von eigenen Nachtjägern gegen die feindlichen Flugplätze, sozusagen ein Nacht-Counter Air (Fernnachtjagd), gehörte sowie seiner darauffolgenden Absetzung durch Göring vgl. Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, 7, S. 1 6 0 - 1 8 5 und 217 f. (Beitrag Boog). InfoBitte Zweiter-Weltkrieg-LexikonBereich, s.v. »Kammhuber«, (15.12.2004), http://www.infobitte.de/free/lex/ww2_LexO/k/ kammhuber.htm (Kopie der Website bei B.L.).
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Diese vierteilige Gliederung betrachtete man allerdings als nicht adäquat und arbeitete daher auf eine Ausfaltung hin. Insbesondere wollte man eine eigene Referatsgruppe für den Sachbereich Führung einrichten, da man, ungeachtet der direkten Unterstellung der Hauptverbände unter die NATO, Einfluss auf die Einsatzprinzipien erlangen wollte84. Die Führung der Einsatzverbände stellte traditionell das Hauptgebiet deutscher Luftwaffenorganisation dar. In der Zeit vor 1945 lag die Betonung sogar derart stark auf diesem Aspekt, dass die anderen wichtigen Gebiete, insbesondere die Logistik und die technische Entwicklung, vernachlässigt worden waren85. Beide Brennpunkte blieben weiterhin aktuell und höchst problembehaftet, wenn auch unter neuen Auspizien; hier sind insbesondere die Konflikte mit der zivilen Ministerialbürokratie zu nennen86. Ein weiterer Ausbau der Grundeinteilung erfolgte durch die Aufstellung einer eigenen Personalgruppe. Hier musste der militärische Bereich gewissermaßen Terrain, das er ursprünglich für sich reklamiert hatte, zurückgewinnen. Dies hatte seine Gründe in einer ministeriumsweiten Entscheidung gehabt. Entgegen den Plänen der Gründerväter, insbesondere Heusingers, das Personalwesen von den militärischen Abteilungen bzw. von Fü Β allein verwalten zu lassen, richtete die Leitung des Ministeriums bei der Initialgliederung des BMVg eine eigene Personalabteilung direkt unter dem Staatssekretär ein87. Daraufhin verloren alle militärischen Ressorts ihre Personalunterabteilungen bzw. deren als Vorläufer gedachten Komponenten88. Nach einiger Zeit erhielten sie dann wieder entsprechende Referatsgruppen. Diese arbeiteten jedoch lediglich auf den Gebieten Personalplanung, Personelle Grundsatzforderungen und Innere Führung, ohne über die Verteilung des Personals entscheiden zu können89. Schließlich kam noch eine letzte Referatsgruppe hinzu, die bodengestützte Flugabwehr betreffend90. Man hatte bei der FlaRak noch prinzipielle Grundlagenarbeit zu leisten, da der Kenntnisstand sehr gering war. Daher richtete man für die verschiedenen Waffenarten und Leitverfahren spezielle Referate ein, um den Aufbau der nötigen Strukturen und die Beschaffung der besten Typen adäquat zu regeln. Die Führung war sich einig darin, dass diese Sparten nur temporär eingerichtet werden sollten. Nach Abschluss der Aufbauarbeit wurden sie 84
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BA-MA, BL 1/1549: Neuausfertigung der Sammelmappe Luftwaffe, Stand der Planung vom 1.6.1956, Anl. 2, Gliederung der Abteilung VI (Lw). Dazu Boog, Führungsdenken, v.a. S. 185 ff. Für die Probleme und Unvereinbarkeiten zwischen ziviler und militärischer Sphäre vgl. oben, S. 271. Die Ineffizienz der GGO und der allgemeinen Gliederung wurde auch bei der Diskussion der Struktur von Fü L moniert. So beklagte Harlinghausen, einer der zentralen Köpfe der frühen Luftwaffe, die teilweise hahnebüchenen Verhältnisse bei der Beschaffung der Ausrüstung und der Versorgung der Verbände und verlangte die Einrichtung eines speziellen Verwaltungsreferates bei Fü L. Kammhuber quittierte dies mit der lakonischen Bemerkung, dass die Verfassungslage einen solchen Schritte nicht erlaube. BA-MA, BL 1/14705: Besprechung mit Generälen der Lw vom 23.6.1959, S. 1. Dazu Α WS, Bd 3, S. 6 7 8 - 6 8 1 und ff. (Beitrag Greiner). Dazu BA-MA, BW 1/ORG 6/6: Gliederung des BMVg vom 22.11.1955. Ebd., BW 1/ORG 6/6: Organisationsplan des BMVg vom 10.1.1958. Zu Aufstellung und Auflösung von Fü L VII siehe unten, S. 301.
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dann auch wieder aufgelöst. Das Gleiche galt ebenso für ein spezielles Referat für Boden-Boden-Flugkörper bei Fü L II zur Auswahl und strukturellen Integrierung des inaugurierten Waffensystems Matador/Mace bzw. später der Pershing I91. Am 10. Januar 1958 hatte die Abteilung VI, ab l.Juni 1957 offiziell Führungsstab Luftwaffe unter der Leitung eines Inspekteurs 92 , mit einem Stellvertreter insgesamt sieben Unterabteilungen bzw. Referatsgruppen, mit denen der primäre Aufbau geleistet werden sollte93. Ergänzt wurde die Organisation zunächst noch durch ein Inspektorat für die verschiedenen Kampfverbände mit ihren Waffen94. Dieser letzte Punkt gewann in den kommenden Jahren eine erhöhte Bedeutung. Solange allerdings nennenswerte Truppenverbände noch nicht existierten und das ganze Gebäude somit eher theoretischen Charakter besaß, bestand keine besondere Notwendigkeit, ein ausgedehntes Inspektionswesen zu errichten. Eng verbunden mit dieser Frage und - bei fortschreitender Zeit - dann auch mit der Existenz des Führungsstabes der Luftwaffe insgesamt, wurde dann die ausgelagerte Zentrale für Verwaltungs- und Spezialfragen, das Allgemeine Luftwaffenamt in Köln. Dieses gründete man 1956 zunächst als »Dienststelle für zentrale Lw-Angelegenheiten« 95 und übertrug ihm eher unsystematisch alle Aufgaben, die weder von Fü L noch von den entstehenden Truppenkörpern zu leisten waren und die dennoch zentral geregelt werden mussten: die Personalverwaltung für Unteroffiziere und Mannschaften (Stammdienststelle der Luftwaffe), die Verwaltung und formelle Bearbeitung der zentralen Dienstvorschriften, die Bearbeitung von Flugsicherheit, Flugsicherung und Wetterberatung 96 . Später kam die truppendienstliche Unterstellung der Flugbereitschaft und des Luftransportkommandos der Bundeswehr dazu 97 . Diese Dienststelle glich zu Beginn eher einem Sammelsurium verschiedenster Aufgaben, sollte ab Ende
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BA-MA, BL 1/649: Entwurf für die Aufstellung eines Missile-Referates innerhalb Fü L II vom 23.2.1959. Ebd., BW 1/ORG 1/6, Bd 3: Entwicklung der Organisation des BMVg unter besonderer Berücksichtigung der milit. Abteilungen, S. 7. Ebd., BW 1/ORG 6/6: Organisationsplan des BMVg vom 10.1.1958, Bl. 4. Es ist an dieser Stelle nicht möglich, die Umgliederungen der mil. Abteilungen 1957/58 (u.a. auch sog. »Mahlke-Ausschuss«) im Detail zu beschreiben. BA-MA, BL 1/1549: Neuausfertigung der Sammelmappe Luftwaffe, Stand der Planung vom 1.6.1956, Anl. 2, Gliederung der Abteilung VI (Lw). Ebd., BL 1/1549, Abt. VI: Sammelmappe Luftwaffe vom 1.6.1956, Anl. l a und 2. Dazu auch Tr, 8 (1972), S. 610. Die Bezeichnung »Allgemeines Luftwaffenamt« führte man offenbar ab dem 1.4.1958 ein. Sein erster Leiter war BG Busch, siehe Verteidigung im Bündnis, S. 456. Hinsichtlich der praktischen Aufstellung sind diese Daten eher ungenau. Schon auf der Kommandeursbesprechung am 4.12.1957 zeichnete der Vertreter aus Köln mit »ALA«. BA-MA, BL 1/14705: Kommandeursbesprechung 2/57 am 4.12.1957. Die genaue Trennmarke für die Aufstellung der Einheiten u n d Kdo.-Stellen ist generell oft nicht genau auszumachen (Aufstellungsbefehl/Bezug der Diensträume/Vollzugsmeldung), besitzt aber methodisch keinerlei Bedeutung. Z u m Lufttransportkdo siehe die Verweise, S. 314 mit Anm. 141.
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VI. Die Beschaffung der Waffen
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schieden aus, weil sie entweder nicht genügend Entwicklungspotenzial besaßen, noch nicht weit genug ausgereift waren oder technische Defizite aufzeigten. Zu Letzteren zählte auch die britische P.l, die nicht nur wegen der grundsätzlichen Perspektive von Strauß (Zusammenarbeit der Kontinentaleuropäer) nur wenig Chancen besaß, sondern auch in taktisch-technischer Hinsicht eine zweifelhafte Option darstellte, weil die Briten regelmäßig betonten, dass die Entwicklung des Jägers am Ende sei58. Außerdem benötigte sie wegen ihrer zwei Triebwerke zu viel Kraftstoff und besaß auch eine zu geringe Reichweite gravierende Mängel aus Sicht der Luftwaffe angesichts ihrer kommenden Aufgaben59. Als die Situation bei den Regierungsinstitutionen und der Öffentlichkeit ruchbar wurde, stieg der Druck auf die deutschen Stellen, insbesondere auch den Minister, erheblich an und erhielt in den folgenden 18 Monaten teilweise den Charakter eines Hexentanzes. Die Franzosen versuchten, ihr neues Modell, die Mirage III, im Ständigen Rüstungsausschuss der WEU durchzusetzen. Daneben gab es immer noch idealistische Vorstellungen, insbesondere vom Vorsitzenden Christofini, hinsichtlich einer gemeinsamen Rüstung mit der Folge der Konstituierung entsprechender Unterausschüsse, die allerdings infolge des von den anderen Akteuren herbeigeführten Entscheidungsdrucks letztlich Totgeburten darstellten. Bei Fü L betrachtete man die Partizipation daran schließlich als lästige Pflicht60. Die Kommission zur Beschaffung des neuen Typs machte sich von Anfang an selbstständig auf die Reise in die Anbieterstaaten, dies sehr zum Ärger des deutschen Delegierten bei der WEU, der sich gewissermaßen kaltgestellt sah61. Die integrative Lösung erwies sich angesichts der aktuellen Lage als viel zu schwerfällig. Wie schon zuvor und auch danach bis heute kam hier das grundlegende Dilemma aller europäischen Projekte zum Ausdruck: Die Integration hätte eigentlich schon in allen wichtigen Bereichen vollzogen sein, um Nutzen zu bringen, und nicht, wie auch hier, anhand der aktuellen Probleme erst geschaffen werden müssen. Bei Fü L fielen im Winterhalbjahr 1957/58 die grundlegenden Entscheidungen62. Die Prüfungen ergaben, dass die Mirage III insbesondere im elektronischen Bereich ungenügend ausgestattet war. Sie musste mittels einer aufwendigen, sehr verwundbaren und dabei noch recht ungenau arbeitenden Bodenorganisation ständig geführt werden. Die anderen beiden Maschinen, insbesondere die F-104, besaßen eigene Radar-Geräte ari Bord und konnten so die Bomber ggf. selbsttätig angreifen. Die Ergebnisse wurden in der autoritativen Studie »Luft-
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Ebd., BW 1/347307: Strauß bei einer Besprechung mit Vertretern der dt. Luftfahrt-, Triebwerks· und Elektronik-Industrie am 5.2.1958, S. 7. Ebd., BL1/183: Fü L II, Besprechungspunkte für die Englandreise Min./Insp. vom 11.-15.5.1959, vom 5.5.1959, S. 3. Dazu ebd., BL 1/1575: Schreiben Christofinis an den Dt. Delegierten vom 30.10.1957 und Antwort von Fü L vom 15.11.1957, auch oben, S. 183. Ebd., BL 1/1574: Der Dt. Delegierte beim Ständigen Rüstungsausschuss der WEU an Abt. X vom 15.5.1957. Zum Folgenden vgl. grundsätzlich die Aktensammlung 1957/58 »Auswahl F-104, Az. 7220-00«, in: ebd., BL 1/1755.
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Bernd Lemke: Konzeption und Aufbau der Luftwaffe
Verteidigung 1962« vom 20. März 1958 präsentiert und ausführlich begründet 63 . Demzufolge fiel dann im Frühsommer 1958 die endgültige Entscheidung zugunsten des Starfighter 64 . Dem vorausgegangen waren Kontakte zu den anderen interessierten Nationen, u.a. auch zu Japan. Dort hatte Grumman versucht, den Super-Tiger mittels eines Preisnachlasses von $ 60 000-$ 100 000 pro Maschine durchzusetzen und damit zunächst auch hoffnungsvolle Zeichen erhalten 65 . Die deutsche Seite erkannte zwar an, dass die Super-Tiger immerhin in vielen Bereichen vergleichbare Leistungen wie die F-104 aufwies, sich aber noch in einem zu frühen Entwicklungsstadium befand, während die F-104, nachdem sie schon zahlreiche Tests, Probeflüge und Verbesserungen erhalten hatte, kurz vor der Einführung in die Truppe stand. Außerdem glaubte man erkannt zu haben, dass die Super-Tiger im Gegensatz zum Starfighter kaum mehr Möglichkeiten zur Weiterentwicklung aufwies 66 . Die Mirage schied im Laufe des Sommers endgültig aus, als klar wurde, dass die deutsche Luftwaffe praktisch keinerlei Einfluss gemäß ihrer taktischtechnischen Bedürfnisse im Entwicklungs- und Bauprozess nehmen konnte. Trotz des erklärten Willens von Strauß, mit Frankreich in diesem Bereich zusammenzuarbeiten, kam es zu keiner Einigung67. Die formelle Entscheidung zog sich dennoch einige Zeit hinaus. Strauß selbst handelte halb aus der europäischen Perspektive der Adenauer-Regierung 68 und aus Angst, den Nachbarn, den man politisch noch brauchte, zu verärgern 69 , halb aber auch aus preistaktischen Erwägungen 70 . Letztlich sah man keine Alternative: Entweder man machte sich abhängig von dem rein national definierten Rüstungsprogramm der Franzosen oder man entschied sich für eine andere Maschine71. Strauß und Fü L setzten endgültig auf die F-104 und brachten eine entsprechende Vorlage in den Verteidigungsausschuss des Deutschen Bundestages ein, das 1. Flugzeugbeschaffungs63
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Ebd., BL 1/1751-2: Fü L II, Studie Luftverteidigung 1962 vom 20.3.1958, S. 77-93, mit den entsprechenden Anl. Die vorläufig autoritative Entscheidung wurde offenbar am 12.6.1958 nach einem letzten Gespräch mit den Testpiloten Werner und Krupinski gefällt. Ebd., BL 1/1755: Besprechung bei dem Min. am 12.6.1958. U.a. waren anwesend: Kammhuber, Steinhoff, Min.Dir. Fischer, OTL Schmückle. Dazu auch BL 1/14705: Kommandeursbesprechungen 2/58 vom 20.6.1958, TOP XI, und 3/58 vom 22.7.1958, TOP Α Interceptor-Auswahl. Ebd., BL 1/1755: Telegramme vom dt. Militärattache Tokio an InspLw, o.D., erstes eingegangen am 18.3.1958. Ebd., BL 1/1755: XII F 1, Technische Gegenüberstellung der Flugzeuge Lockheed F-104 und Grumman F-ll F - 1 F vom 13.12.1957. Siehe dazu unten, S. 341-343. Dort auch alle Belege. Der Spiegel, 1958, Nr. 29, S. 15. Dazu auch BA-MA, BL 1/1755: Fü L II (Steinhoff) an Fü L Chef, Anliegende Vorgänge, Interceptor - Auswahl Mirage III C vom 26.9.1958, S. 1. Aus diesem Grund verabschiedete man auch die Super-Tiger nicht offiziell und hielt Lockheed noch hin. Dazu auch ebd., BL 1/14649: Tgb. InspLw, Eintrag vom 19.6.1958, mit Aktenvermerk. Ebd., BL 1/11171: Fü L II, Anliegende Vorgänge - Interceptor-Auswahl Mirage III Α vom 26.9.1958, mit zahlreichen Begleitdok. Dazu BL 1/14705: Kommandeursbesprechung 1/59 am 24.6.1959, TOP 3.
VI. Die Beschaffung der Waffen
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programm 72 . Vorgesehen war die Beschaffung von 276 Interceptors vom Typ F-104 73 . Der Öffentlichkeit und anderen interessierten Nationen (Belgien, Niederlande) wurde die Entscheidung am 24. Oktober mitgeteilt 74 . Nachdem Kammhuber, Steinhoff und andere Mitglieder von Fü L die strategische und taktische sowie die technische Situation dargelegt hatten, entschied der Ausschuss am 5. und 6. November 1958 einstimmig für die Beschaffung der F-104 75 . Nach letzten Prüfungen wurde der Entwicklungs- und Beschaffungsvertrag mit Lockheed am 18. März 1959 unterzeichnet 76 . Vorgesehen war der direkte Kauf von 66 und der Erwerb von Lizenzen für die restlichen Maschinen. Im Laufe der Zeit ergab sich aufgrund von Schwierigkeiten bei der Lizenzfertigung die Notwendigkeit zum direkten Ankauf von weiteren 30 Stück, um der Truppe für die Ausbildung und die Inübunghaltung der bereits fertig ausgebildeten Flugzeugführer die nötigen Maschinen zur Verfügung zu stellen. Die Fertigung der Maschinen erfolgte im internationalen Verbund. Sie wurde in fünf Firmengruppen aufgeteilt und mit den nötigen Managementinstrumenten ausgestattet 77 . Die Benelux-Staaten und Italien entschieden sich ebenfalls für die F-104, nachdem die deutsche Seite ihr Plazet gegeben hatte 78 . Dabei spielte allerdings nicht ausschließlich das Vertrauen in die deutschen Fähigkeiten eine Rolle, sondern auch die Hoffnung auf amerikanische Hilfe 79 . Schon seit den ersten Tagen der NATO hatten sich diese Staaten darauf verlegt, Unterstützung aus Washington durch integrierte Aktionen und Programme im Bündnisrahmen zu erhalten. Im Unterschied dazu beschafften sich Frankreich und Großbritannien ihren Geld- und Materialfluss durch direkte Kontakte, wobei sie auch von den USA erheblich genauer und strenger unter die Lupe genommen wurden als die anderen 80 . Wie dem auch sei, auf jeden Fall hatte Strauß und mit ihm die Luftwaffe durch diesen ganzen Komplex ein massives Gegengewicht zur Position Frank72
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Ebd., BL 1/1755: Fü L V - Az. 90-15-10-41, Tgb.Nr. 1383/58 geh.; An den Vorsitzenden Vtdg.-Ausschuss des Deutschen Bundestages (Jaeger); Epl. 14, Kap. 19, Tit. 965, (1.) Flugzeugbeschaffungsprogramm; Mehrzweck-Düsenflugzeug; Vorlage für Ausschuss, Okt. 1958. BA-MA, BL 1/87: Antworten InspLw an Minister auf Fragen zum Waffensystem F-104 G (12.2.1966), vom 23.2.1966, S. 3. Ebd., BW 1/347511: BMVg, Pressereferat, Mitteilung vom 24.10.1958; BL 1/14649: Tgb. InspLw, Eintrag vom 14. und 17.10.1957 sowie 13.11.1958. Dabei wurde, wie schon zuvor (siehe oben, S. 193 f.), mit dem Journalisten Ahlers zusammengearbeitet, diesmal auf dem Wege einer Aussprache, nachdem dieser einen problematischen Artikel veröffentlicht hatte. BL 1/14649: Tgb. InspLw, Eintrag vom 28.10.1958. Ebd., BW 1/54941: 30. Sitzung Vtdg.-Ausschuss des Deutschen Bundestages, III. Legislaturperiode, vom 5.11.1958, 31. Sitzung Vtdg.-Ausschuss des Deutschen Bundestages, III. Legislaturperiode, vom 6.11.1958, S. 16. Der Spiegel, 1959, Nr. 6, S. 17. BA-MA, BL 1/87: Antworten InspLw an Minister auf Fragen zum Waffensystem F-104 G (12.2.1966), vom 23.2.1966, Frage 2a. Dazu unten, S. 3 5 5 - 3 6 0 . Schlieper, Die Wechselwirkung, S. 562 f. Diese wurde dann auch gewährt. BA-MA, BL 1/4522: Abschlussbericht der NASPO über das Gemeinschaftsprogramm F-104 G vom 1.12.1966, S. 48. Hammerich, Jeder für sich, S. 131 f.
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Bernd Lemke: Konzeption und Aufbau der Luftwaffe
reichs und Großbritanniens geschaffen und ging nun seinerseits in die Offensive, indem er die F-104 in der WEU als Standardjäger propagierte 81 - ein Vorgehen, das insbesondere bei den Franzosen erhebliche Verärgerung ausgelöst haben dürfte. Japan und Kanada beschafften die F-104 ebenfalls. Dieses Vorgehen war exemplarischer Ausdruck der deutschen Regierungstätigkeit zur Ausdehnung des Einflusses und der Macht der Bundesrepublik innerhalb des Bündnisses und in Europa. Strauß verteidigte dieses Vorgehen insbesondere auch gegen Kritiker aus den Reihen der Vertreter einer schnellen europäischen Einigung in den ihm eigenen kernigen Worten: »[Eine gemeinsame europäische Rüstung ist] einfach nicht gangbar [...] in der chemischen Reinheit, wie es sich manche Europa-Fanatiker vielleicht vorgestellt haben, die gesagt haben: >Nehmen wir alles aus Frankreich oder aus England, dann handeln wir politisch klug und überwinden am leichtesten die innenpolitischen Bedenkens Wenn ich diesen Weg gegangen wäre, hätte ich erstens in der Sache vor einer Fülle größerer Schwierigkeiten, als sie jetzt vorliegen, gestanden 82 .« Der Preis, der dafür zu bezahlen war, sollte sich jedoch als hoch erweisen. Schon im Vorfeld der Grundsatzentscheidung erhob sich Pressewirbel um die Auswahl, der durch das Interesse der französischen Regierung, der Wirtschaft und insbesondere der einzelnen Unternehmen noch angeheizt wurde. Der französische Produzent Dassault, der im März 1957 in den Kampf eingestiegen war und den Brigadegeneral Pierre M. Gallois als offiziellen Verkaufsvertreter nach Bonn entsandt hatte83, bekam schon lange vor der endgültigen Entscheidung noch vor Jahreswechsel 1957/58 - Wind von der Meinung des deutschen Führungsgremiums in Bezug auf die Mängel der Mirage III und intervenierte, um entsprechende Verbesserungen anzubieten 84 . Die deutschen Spitzen hatte bis dato alle Sondierungen und Tests mit Ausnahme derer in den USA, die man bewusst als Schlusspunkt angesetzt hatte85, beendet und machten sich nun auf die Reise über den Atlantik. Mitglieder der Auswahlkommission begaben sich kurz vor Weihnachten 1957 in die USA, um die technischen Grundfragen zu erörtern 86 . Kammhuber selbst reiste vom 7. Februar bis zum 6. März 1958 nach Amerika 87 , gefolgt von Strauß Anfang März88. Insbesondere um die Reise 81
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BA-MA, BL 1/1755: Τ V 2, an MAAG, Interceptor - Auswahl, hier: Informationsaustausch mit Frankreich u n d Italien, S. 1 f. Ebd., BW 1/54942: 43. Sitzung Vtdg.-Ausschuss des Deutschen Bundestages, III. Legislaturperiode, vom 5.2.1959, S. 58. Ebd., BL 1/14647: Tgb. InspLw (bzw. Abteilungsleiter VI), Eintrag vom 7.3.1957, mit Aktennotiz über einen Besuch und Vortrag des BG Gallois als Vertreter der Firma Dassault. Ebd., BL 1/1755: Lw-Attache der dt. Botschaft in Paris an Fü S, Mirage III vom 18.12.1957, mit Anl. Nach den Angaben von Strauß hatte der Testpilot Werner die Mirage im Herbst 1957 probegeflogen, dabei aber erhebliche Mängel festgestellt. BW 1/54941: 31. Sitzung Vtdg.-Ausschuss des Deutschen Bundestages, III. Legislaturperiode, vom 6.11.1958, S. 12. Der Spiegel - 1958, Nr. 36, S. 14 - bestätigte diese Aussage. Offenbar war die Mirage bei Hochgeschwindigkeitsflügen alles andere als stabil gewesen. BA-MA, BL 1/1574: Chef VI an Abteilung X vom 25.5.1957. Ebd., BL 1/1755: Kammhuber an MAAG, Fragen an das Pentagon vom 14.1.1958. Der Spiegel, 1958, Nr. 15, S. 22.
VI. Die Beschaffung der Waffen
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Strauß' ist inzwischen viel gemutmaßt und spekuliert worden. Manche Vermutungen und Vorwürfe gehen dahin, er hätte bei geheimen Gesprächen mit Lockheed Bestechungsgelder erhalten und sich daraufhin für die F-104 Starfighter entschieden89. Nahrung erhielten diese Gerüchte dann schließlich durch die Ereignisse in den 60er Jahren während der Absturzkrise. Derlei Behauptungen dürften auf seriöser wissenschaftlicher Basis kaum zu erhärten oder zu widerlegen sein, weil Besprechungsnotizen wohl nicht angefertigt wurden und auch Interviews mit noch lebenden Beteiligten wenig Gewähr für sachliche Richtigkeit geben können, da die Aussagen nicht zu überprüfen sind90. Es besteht bei derlei Aussagen immer die Gefahr, dass noch ex-post versucht wird, Rechtfertigungen aufzubauen bzw. dass sogar noch aktuelle wirtschaftliche und politische Ziele verfolgt werden 91 . Die vorliegenden Dokumente, insbesondere die Akten von Fü L, lassen keinerlei Rückschlüsse auf Bestechung zu. Die aktuelle Berichterstattung des »Spiegel« während der Entscheidungsfindung gab im Übrigen auch keinerlei Verdachtsmomenten Ausdruck 92 . Die Luftwaffenspitze hatte weit über ein Jahr Daten und Angebote über die in Frage kommenden Maschinen gesammelt und auch Testflüge unternehmen lassen93. Kammhuber selbst hatte sich Anfang 1957 zu einem Informationsbesuch in die USA begeben, wo ihm sämtliche Typen vorgestellt wurden 94 . Die Verknüpfung der Atomfrage mit der Mirage war
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BA-MA, BL 1/1755: Briefing Agenda for Min. Strauss, Minister Defence of Germany, 4.3.1958. Der Spiegel, 1969, Nr. 43, S. 107, und 1970, Nr. 39, S. 50, zitierte aus einer angeblichen Aktennotiz von Lockheed vom 11.3.1958, nach der Strauß ohne Wenn und Aber die 104 als das geeignetste Flugzeug bezeichnet habe. Es entstand der Eindruck von sachfremder Hektik zugunsten schneller Einführung und gleichzeitiger Beteiligung an den Atomwaffen. Dies entspricht nach den Quellen jedoch nicht den Tatsachen. Vgl. etwa Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, 7.1.2000, Nr. 1/2000, downloadbar unter http://www.sonntagsblatt.de/artikel/2000/l/l-sl.htm, vgl auch netlexikon, s.v. Lockheed F-104, (15.12.2004), URL: , F-104 Starfighter und Wolfgang, Bredow, Luftwaffenmuseum Berlin-Gatow, F-104 G »Starfighter«: »Witwenmacher«, (15.12.2004), URL: (Kopien der Websites bei B.L.). Strauß selbst hielt sich bei seiner USA-Reise nach Lage der Dinge nur kurz in Washington auf (fast ausschließlich Gespräche mit Pentagon und dt. Luftwaffen-Team). BA-MA, BL 1/14648: Tgb. InspLw, Eintrag vom 31.1.1958 mit Protokoll Min.-Besprechung. Als Beispiel für die verworrenen Beziehungen und die damit zusammenhängenden politischen und wirtschaftlichen Interessen, die teilweise noch bis heute wirken, gerade um Strauß, seinen Sohn und den Rüstungsspekulanten Schreiber, vgl. Thomas KleineBrockhoff; Bruno Schirra, Wenn der Vater mit dem Sohne, (2.10.2004), URL: (Kopien bei B.L., siehe auch Die Zeit, 25/2000). Vgl. Der Spiegel, 1958, Nr. 15, S. 2 0 - 2 3 ; Nr. 29, S. 15; Nr. 36, S. 14 f.; 1959, Nr. 6, S. 17. In 1958, Nr. 36, S. 15, sprach Der Spiegel von einer »Ein-Mann-Entscheidung des nicht sachverständigen Flakartilleristen Strauß«. Vgl. dazu die entsprechenden Einträge, in: BA-MA, BL 1/14647 und 14648: Tgb. InspLw (6.6.1956-30.3.1957 bzw. 1.4.1957-31.3.1958). Ebd., BL 1/14647: Tgb. InspLw (bzw. Abteilungsleiter VI), Bericht über die Informationsreise (Kammhubers, Steinhoffs u.a.) durch USA und Kanada in der Zeit vom 11.1.-18.2.1957.
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Bernd Lemke: Konzeption und Aufbau der Luftwaffe
schon zum Zeitpunkt des Einstiegs von Daussalt in den Wettbewerb offensichtlich geworden, als Strauß einen Vortrag über Atomwaffenfragen extra für Gallois hatte anfertigen lassen95. Die taktisch-technischen Nachteile der Mirage waren zu diesem Zeitpunkt bereits bekannt und stießen innerhalb von Fü L auf massive Kritik96. Die F-104 wiederum stach lange Zeit nicht aus der Angebotspalette hervor, dies insbesondere, weil sie als nicht AWX-fähig, »noch nicht ausgereift, vermutlich fliegerisch schwierig und einsatzmäßig begrenzt« erschien97. Andere Firmen, wie z.B. Northrop, erhielten positive Signale98, weigerten sich teilweise aus Geheimhaltungsgründen dann jedoch gegen eine ausführliche Prüfung ihrer Typen und wurden schließlich abgelehnt, als keine nachprüfbaren Ergebnisse für einen befriedigenden Einsatz gemäß den deutschen Anforderungen geliefert wurden99. Die tatsächliche Vorentscheidung fiel im Dezember 1957 durch den Besuch der Auswahlkommission in den USA im Vorfeld der Kammhuber/Strauß-Reise. Dabei wurden aus der Angebotspalette vor allem der Starfighter und die Grumman Super-Tiger geprüft und auch Testflüge unternommen100. Beide Maschinen wiesen zumindest theoretisch ähnliche Leistungsdaten auf und konnten, für Kammhuber sehr wichtig, auch mindestens eine 20kt-Atombombe tragen, wobei die F-104 eindeutige Vorteile zu besitzen schien101. Es blieben jedoch zahlreiche offene Fragen, so dass Kammhuber sich persönlich ein Bild verschaffen wollte und daher selbst den Flug nach Amerika antrat und es arrangierte, dass Strauß mit ihm Ende (3./4. März) in Washington zusammentraf102. Man kam schließlich zum Ergebnis, dass der Starfighter die beste Maschine sei, wobei schon zu diesem Zeitpunkt die Tatsache eine Rolle spielte, dass der Starfighter auch in einer offensiven Rolle als atomarer Jagdbomber eingesetzt werden konnte103. Strauß kündigte vor hohen Offizieren des Pentagon daraufhin die Beschaffung der F-104 an104. Die zahlreichen erhaltenen Stellungnahmen und Gutachten der Planungselite, insbesondere Steinhoffs und Kammhubers, 95
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Ebd., BL 1/14647: Tgb. InspLw (bzw. Abteilungsleiter VI), Eintrag vom 15.3.1957, mit Notiz über Telefongespräch mit Frl. Bauer, Vorzimmer Min. Ebd., BL 1/14648: Tgb. InspLw, Eintrag vom 3.4.1957, mit Notiz zur Vorsprache von Dr. Rothe (Süd-Aktiengemeinschaft), S. 2. Ebd., BL 1/1755: VI A F, Anl. zum Reisebericht des Abt.-Ltr. VI vom 12.3.1957, S. 3. Dazu auch ebd., BL 1/14648: Tgb. InspLw, Eintrag vom 11.4.1957, Besprechung-Notiz Dr. Goetze, S. 4, und Eintrag vom 6.5.1957, mit Aktennotiz über eine Besprechung bei Gen Kammhuber, S. 2. Die dt. Seite beharrte diesbezüglich ziemlich rigoros auf einem Kontroll- und Prüfrecht. Die US-Stellen, insbes. auch die USAF, die beim Projekt N-156 selbst federführend tätig war, zeigten keine sonderliche Begeisterung, ihrem Alliierten die Unterlagen der neuesten Entwicklungen vorzulegen. Ebd., BL 1/14648: Tgb. InspLw, Eintrag vom 3.6.1957, Besprechungsnotiz Gespräch mit Präsident der Northrop-Werke. Ebd., Eintrag vom 29.1.1958. Ebd., Tgb. InspLw, Eintrag vom 6.1.1958. Ebd., BL 1/1755: XII F 1, Technische Gegenüberstellung der Flugzeuge Lockheed, F-104 und Grumman F - l l F - 1 F vom 13.12.1957. Ebd., BL 1/14648: Tgb. InspLw, Eintrag vom 10.1.1958 mit Protokoll und Bewertung F-104 - F - l l (Super-Tiger). Ebd., Eintrag vom 29.1.1958. Ebd., Tgb. InspLw, USA-Reise InspLw vom 7.2.-7.3.1958, Bericht vom 13.3.1958, S. 1. Ebd., S. 1 - 4 .
VI. Die Beschaffung der Waffen
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weisen spätestens ab diesem Zeitpunkt mehr oder weniger in dieselbe Richtung, d.h. die F-104 105 . Die Mirage hatte bei ihnen danach keine Chance mehr106. Kammhuber selbst äußerte sich in diesem Zusammenhang sehr kritisch über die Erfolgsaussichten der Ambitionen seines Ministers, eine enge Zusammenarbeit mit Frankreich und Italien zuwege zu bringen107. Damit endete das Hin und Her jedoch nicht. Strauß selbst hatte noch im Januar 1958 angeordnet, dass die Maschine nochmals auf ihre Verwendbarkeit überprüft werden solle108. Im Hintergrund stand hier die mögliche Beteiligung der Bundesrepublik an einem französischen Atomwaffenprojekt, eine Option, die für Strauß generell zumindest zeitweise durchaus von Belang war 109 . Nach den Angaben in Strauß' Erinnerungen war in der Tat just zuvor vom französischen Verteidigungsminister Jacques Chaban-Delmas ein entsprechendes Angebot zur evtl. Beteiligung an der Produktion und der Zuteilung von Atomwaffen überbracht worden. Strauß verweist rückblickend darauf, dass er die Mirage gerade auch deshalb befürwortete 110 . Er war offensichtlich bemüht, sie trotz ihrer Mängel zu übernehmen111, wenn dadurch eine Beteiligung an den Nuklearwaffen gesichert werden konnte. An der Haltung von Fü L und Abt. XII bzw. Τ V im Ministerium112 änderte sich jedoch nichts, wie Strauß im Juni nochmals erkennen musste113. Er ordnete trotz seiner Präferenzen für das französische Projekt daher an, die MAAG und vor allem den sog. Dreier-Ausschuss, ein deutsch-französisch-italienisches Gremium zur Rüstungskoordination, entspre-
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Ebd., BL 1/1755: Fü L/T, Zusammenfassende Beurteilung des franz. Flugzeugmusters Mirage III C (Kammhuber und Min. Dirig. Fischer) vom 21.10.1958, dazu Fü L II, Taktisch-technische Kurzbeurteilung der Mirage III Α vom 20.8.1958 (Steinhoff) und weitere Begleitdok. Dazu auch Strauß, Die Erinnerungen, S. 315 f. und 376. Kammhuber teilte diese Entscheidung am 19.3.1958 seinen Kommandeuren mit. BL 1/14648: Tgb. InspLw, Kommandeursbesprechung 1/58 am 19.3.1958, S. 2. BA-MA, BL 1/1755: Fü L II, Fernschreiben für Attache Tokio vom 20.3.1958. Ebd., BL 1/14648: Tgb. InspLw, Eintrag vom 8.1.1958. Ebd., Eintrag vom 14.1.1958. Auch hier gab es ein Hin und Her, weil diese Überprüfung zeitweise wieder abgesagt wurde. Ebd., Eintrag vom 16.1.1958. Angesichts des bevorstehenden USA-Aufenthaltes wurde sogar der franz. Luftwaffen-Attache Wirth tätig und intervenierte zugunsten der Mirage. Ebd., Eintrag vom 23.1. sowie vom 30. und 31.1. BL 1/14649: Tgb. InspLw, Eintrag vom 14.5., vom 2./3. und vom 10.6.1958. Kammhuber selbst schwankte offenbar zwischen Ablehnung der Mirage und einem Kompromiss. Ebd., Eintrag vom 14. und 10.6.1958. Strauß, Die Erinnerungen, S. 313. Frankreich hatte keineswegs die Absicht, seine Atomwaffen mit Deutschland zu teilen, sondern beabsichtigte, seine Vorherrschaft in Europa mit Deutschland und Italien als Juniorpartner auszubauen. Siehe Fischer, Zwischen Abschreckung und Verteidigung, S. 292. Es sei hier dahingestellt, ob das Angebot von Chaban-Delmas explizit zu diesem Zeitpunkt gemacht wurde, um die Mirage durchzusetzen. Strauß, Die Erinnerungen, S. 315 f. Dabei war noch nicht unbedingt festgelegt worden, dass die Mirage auch als Atomwaffenträger in Frage kommen würde. Es ging zunächst vor allem um die Rolle als Interceptor (Abfangjäger). BA-MA, BL 1/14649: Tgb. InspLw, Eintrag vom 13.6.1958. Zur Haltung Abt. XII bzw. Τ V siehe ebd., BL 1/1755: XII F 1, Technische Gegenüberstellung der Flugzeuge Lockheed F-104 und Grumman F - l l - F - 1 F. Ebd., BL 1/14649: Tgb. InspLw, Eintrag vom 2./3.6.1958.
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chend zu informieren: »Diskussion ist zu unterlassen« 114 . Der französische Delegationsleiter General Jean Accart intervenierte beim diesbezüglichen Treffen am 13. Juni 1958 daraufhin persönlich bei Strauß, der nachfolgend in seiner Entscheidung wieder schwankte und eine nochmalige Prüfung der Mirage in die Wege leitete115. Am 8. Juli begab er sich dann zum Staatsbesuch nach Paris, wo, nach den Angaben in seinen Erinnerungen, durch Chaban-Delmas' Nachfolger Pierre Guillaumat allen deutschen Nuklear-Ambitionen mit Frankreich ein Absage erteilt wurde 116 . Rückblickend behauptete Strauß, er habe damit auch in harschen Worten die Mirage für die deutsche Luftwaffe abgelehnt. Dies entspricht jedoch nicht den Tatsachen, da im Spätsommer weitere Prüfungen dieses Typs stattfanden 117 . Strauß selbst hatte nochmals intern Partei für die Mirage ergriffen und gab noch im September zu verstehen, »dass er [wie gegenüber dem Dreier-Ausschuss erklärt] bis an die Grenze des Vertretbaren hinsichtlich der Brauchbarkeit des Flugzeuges gehen würde« 118 . Gleichzeitig versuchte man, die Franzosen zur Übernahme der F-104 zu bewegen und vielleicht über eine derartige Lösung damit eine gütliche Einigung herbeizuführen. Das Ganze blieb einstweilen offen119. Zwischenzeitlich wurde versucht, einen Ausweg zu finden, der sowohl den Starfighter als auch die Mirage berücksichtigte120. Die Mirage hätte nur als Abfangjäger gedient, während die F-104 als Mehrzweckflugzeug für offensive Aufgaben u.a. als Jabo zum Einsatz gekommen wäre. Wie Steinhoff aber richtig bemerkte, war eine solche Perspektive aufgrund der beschränkten materiellen, personellen und finanziellen Ressourcen vollkommen ausgeschlossen121. Die Mirage wurde von Fü L dabei weiterhin als unzureichend abgelehnt122. Die Konstrukteure von Dassault hatten versprochen, neue Radar-Geräte zu entwickeln bzw. die vorhandenen zu verbessern (Aida). Auch die Interessenten an einer Mirage-Produktion aus der deutschen Wirtschaft waren tätig geworden und hatten ein Gutachten erstellt, in dem die Mirage unter gleichzeitigem
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Ebd., Eintrag vom 10.6.1958. Dazu BL 1/1755: Τ V Protokoll Besprechung bei dem Min. am 12.6.1958. Ebd., BL 1/14649: Tgb. InspLw, Eintrag vom 13.6.1958; BL 1/1755: Fü L/T, Zusammenfassende Beurteilung des franz. Flugzeugmusters Mirage III C vom 21.10.1958, S. 4. Strauß, Die Erinnerungen, S. 315 f. BA-MA, BL 1/1755: Ergebnis der Reise des Min. nach Paris am 8. und 9.7.1958, hier: Interceptor-Auswahl. Zur Reise allgemein auch Der Spiegel, 1958, Nr. 36, S. 15. Ebd., BL 1/1755: Fü L II, Anliegende Vorgänge - Interceptor-Auswahl Mirage III Α vom 26.9.1958, S. 2. Ebd., BL 1/14649: Tgb. InspLw, Eintrag vom 9. und 22.7.1958 mit Protokoll Kommandeursbesprechung 3/58, S. 3. Inwieweit dabei preistaktische Gründe eine Rolle spielten (dazu oben, S. 336), sei hier dahingestellt. Die Äußerungen Kammhubers vom 9.7.1958 gegenüber dem Leiter der Abt. Luftwaffe der MAAG, Colonel Bird, klangen jedenfalls alles andere als gewiefte Verhandlungstaktik. Ebd., BL 1/14649: Tgb. InspLw, Eintrag vom 9.7.1958. Ebd., Eintrag vom 14.7.1958. Ebd., BL 1/1755: Fü L II, Taktisch-technische Kurzbeurteilung der Mirage III Α vom 20.8.1958.
VI. Die Beschaffung der Waffen
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Herbeizitieren des Europagedankens gepriesen worden war123. Im Herbst ergaben sich in diesem Zusammenhang noch Besprechungen der deutschen Fachleute mit den Franzosen, bei denen klar wurde, das Letztere keineswegs gewillt waren, von ihrem hegemonialen Standpunkt, wie er schon bei den EVGVerhandlungen und innerhalb der WEU zu Tage getreten war, abzurücken. Die deutsche Luftwaffe hätte ihre Vorschläge zwar einbringen können, erhielt jedoch lediglich die Zusage auf Realisierung, wenn damit keine größeren Umbauten, insbesondere Zellenänderungen, verbunden waren. Dies wäre für den Einbau der nötigen Elektronik zwingend erforderlich gewesen. Damit wurde klar, dass die französischen Produzenten die Maschine praktisch überhaupt nicht den deutschen Bedürfnissen anpassen wollten. So kam das Ende124. Am 9. Oktober teilte er Kammhuber mit, dass die Mirage »tot« sei125, und erhielt kurz danach auch die Zustimmung von Adenauer, dies »jedoch mit erheblicher politischer Auflage gegenüber Frankreich«126. Man versuchte, den Franzosen die Entscheidung behutsam begreiflich zu machen127, erntete aber teilweise sehr verbitterte Antworten 128 . Ohne an dieser Stelle letzte Sicherheit bieten zu können, sind die Bestechungsvorwürfe doch wohl eher Teil der Legendenbildung und des politischwirtschaftlichen Kampfes als dass sie den Tatsachen entsprechen. Die Haltung von Strauß schwankte teils erheblich zwischen den von den Fachleuten vorgestellten technisch-taktischen Fakten, den Ambitionen nach Beteiligung am französischen Atomprogramm und der politischen Rücksichtnahme auf den kontinentaleuropäischen Partner Frankreich. Am Ende obsiegte aber die Einsicht in die präsentierten Sachargumente und damit auch dem von Strauß gerade im Zusammenhang mit der Interceptor-Auswahl selbst propagierten Anspruch einer technisch bestmöglichen Ausrüstung. Für weitere Erkenntnisse müssten u.a. die Akten des Ministerbüros ermittelt werden, die jedoch infolge der immer noch andauernden Erschließung im Bundesarchiv-Militärarchiv Freiburg nur schwer zugänglich sind. Ob die wichtigen Akten dazu überhaupt noch existieren, steht überdies auf einem anderen Blatt. Die Ursprünge der Debatte um den Starfighter liegen, wie bereits angedeutet, in einem teils ungezügelten und nicht leicht zu durchschauenden Pressekrieg schon vor der eigentlichen Entscheidung. Vor den Augen der Planer und auch den Mitgliedern des Verteidigungsausschusses setzte sich dies fort und erfasste die Beteiligten129. Strauß bezeichnete die verschiedentlich überaus hef-
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Der Spiegel, 1958, Nr. 36, S. 15. Der Spiegel hatte offenbar gute Quellen bei der Industrie oder bei Fü L, denn er zitierte durchaus richtig und ausführlich aus einem offiziellen Dok., das an das BMVg ging. Das Dok. in: BA-MA, BW 1/347307: Siebelwerke-ATG, Dr. B. Weinhardt an Strauß, Jägerbeschaffung Mirage III A, vom 15.4.1958. BA-MA, BL 1/14649: Tgb. InspLw, Eintrag vom 28.8. und 30.9.1958. Ebd., Eintrag vom 9.10.1958. Ebd., Eintrag vom 13.10.1958. Vgl. auch Eintrag vom 15. und 17.10.1958. Ebd., Eintrag vom 31.10.1958. Ebd., BL 1/14650: Tgb. InspLw, Eintrag vom 21.10.1959. Die Mitglieder der Auswahlkommission des BMVg/Lw für die F-104 w u r d e n wegen dieser Umgangsformen, »die nicht mehr tragbar sind«, zu allerstrengstem Stillschweigen
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tige Kritik als reinen » L o b b y i s m u s « zur D u r c h s e t z u n g wirtschaftlicher Vorteile. W e n n der d y n a m i s c h e B a y e r rückblickend a u f g r u n d seiner politischen u n d wirtschaftlichen Skandale m o r a l i s c h nicht g e r a d e als berechtigt erscheint, hier g r u n d l e g e n d e Kritik z u üben 1 3 0 , so hatte er in d i e s e m Falle d o c h w e i t g e h e n d Recht. Die beteiligten U n t e r n e h m e n setzten alle Hebel in B e w e g u n g , u m z u m Z u g e z u k o m m e n . U b e r die Preisnachlässe v o n G r u m m a n g e g e n ü b e r der japanischen R e g i e r u n g w u r d e bereits berichtet. W ä h r e n d des g a n z e n Entscheid u n g s p r o z e s s e s in Deutschland, insbesondere vor, w ä h r e n d u n d n a c h d e n Sitz u n g e n d e s Verteidigungsausschusses, tobte eine regelrechte Schlammschlacht, bei der a u c h die Opposition, insbesondere a u c h H e l m u t Schmidt, partizipierte, w e s w e g e n ihm Strauß »wissentlichen« o d e r »unwissentlichen« L o b b y i s m u s z u g u n s t e n v o n Dassault, d e m P r o d u z e n t e n der Mirage, vorwarf 1 3 1 . V o n d e n interessierten U n t e r n e h m e n u n d Wirtschaftskreisen w u r d e n gezielte (Fehl-) Informationen über die angebliche L e i s t u n g s s c h w ä c h e u n d Fehlfunktionen d e s Starfighter ausgeteilt, d a z u baute m a n regelrechte Fachinformationsdienste auf, u m die P a r l a m e n t a r i e r z u beeinflussen 1 3 2 . Die g a n z e Zeit über, insbesondere vor d e n E n t s c h e i d u n g s t e r m i n e n , w a r d a s Hotel Königshof a m Rheinufer in der N a c h b a r s c h a f t des B u n d e s t a g e s offenbar w e i t g e h e n d m i t e n t s p r e c h e n d e n Interessenvertretern der beteiligten F i r m e n belegt 1 3 3 . Dies ging schließlich so weit, dass sich einige d a v o n v o r d e m E i n g a n g z u m Sitzungssaal als Drohkulisse auf-
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verpflichtet. Ebd., BL 1/1755: Stellv. InspLw, Verkehr mit der Flugzeugindustrie vom 31.10.1957. Schon im Umfeld der Spiegel-Affäre kam es zu entsprechenden Affären (FIBAG-Skandal), in die enge Bekannte von Strauß, dem formaljuristisch selbst nichts nachgewiesen werden konnte, verwickelt waren. Thränhardt, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, S. 152; Biographie Franz-Josef Strauß, 1915-1988, (Deutsches Historisches Museum, 14.12.2004), . Unter dem Stichwort »Amigo« werden in Verbindung mit den Namen Strauß und Streibl bis heute anrüchige und illegale Vermittlungen, Vorteilsnahme, Absprachen und Beraterverträge zwischen Politik und Wirtschaft subsumiert. Ehrensberger, Wolfgang, und Sebastian Sigler, Bayerns Angst vor dem Amigo (14.12.2004), URL: . Dokumentation »Stoiber war meistens mit dabei«, Handelsblatt vom 3.6.2002, (14.12.2004), URL: . Aus den reichhaltigen Veröffentlichungen nur ein Beispiel hierzu: Thomas Kleine-Brockhoff; Bruno Schirra, Wenn der Vater mit dem Sohne, (2.10.2004), URL: (Kopien bei B.L.), siehe auch Die Zeit 25/2000. BA-MA, BW 1/54942: 43. Sitzung Vtdg.-Ausschuss des Deutschen Bundestages, III. Legislaturperiode, vom 5.2.1959, S. 37 ff. Ein Beispiel hierfür in: ebd., BW 1/347307: Flug-Informations-Dienst, Pressebüro Roebel, 5. Jg., Nr. 1, 3.1.1958. Dazu BW 1/54941: 31. Sitzung Vtdg.-Ausschuss des Deutschen Bundestages, III. Legislaturperiode vom 6.11.1958, S. 9. Vgl. auch BW 1/54941: 32. Sitzung Vtdg.-Ausschuss des Deutschen Bundestages, III. Legislaturperiode, Tgb.Nr. 8/58 vom 26.11.1958, S. 14. Ebd., 31. Sitzung Vtdg.-Ausschuss des Deutschen Bundestages, III. Legislaturperiode vom 6.11.1958, S. 11. Der »Königshof« scheint auch in vielen anderen Beschaffungsfragen geradezu die Trutzburg der Industrie-Lobby gewesen zu sein. BW 1/373859: 4. Wahlperiode, Stenographisches Protokoll des Deutschen Bundestages, 157. Sitzung vom 21.1.1965, S. 7755.
VI. Die Beschaffung der Waffen
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bauten. Der Obmanri der CDU, Georg Kliesing, und auch der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, Richard Jaeger, empfanden dieses Verhalten als unwürdig und dem Ansehen des Gremiums als nicht zuträglich134. Auch unter den deutschen Firmen brach Konkurrenzkampf aus, da die Masse der Maschinen in Lizenz gebaut werden sollte135. Schließlich trat sogar die bayerische Staatsregierung auf den Plan, um den landesansässigen Firmen die entsprechenden Aufträge zukommen zu lassen136. Die sachliche Kompetenz der Luftwaffenplaner geriet dadurch im Ausschuss, insbesondere bei den SPD-Mitgliedern, in Zweifel137. Die in der Presse erschienenen Artikel suggerierten über die taktisch-technischen Zweifel hinaus erhebliche Verteuerungen gegenüber den ursprünglichen Abmachungen. Infolgedessen musste im Zusammenhang mit der Vertragsunterzeichnung nochmals eine Sitzung des Verteidigungsausschusses anberaumt werden, die teilweise in persönliche Angriffe zwischen Strauß und Schmidt ausartete, aber an der Lage nichts änderte138. Diese Tendenz wurde noch dadurch genährt, dass Ausschussmitglieder, insbesondere das SPD-Mitglied Karl-Wilhelm Berkhan, von den Studien »Luftverteidigung 1962« erfahren hatten und jetzt deren Offenlegung verlangten. Strauß verweigerte dies mit dem Verweis auf die hohe Geheimhaltungsstufe. Dies hatte durchaus seinen Hintergrund, denn Berkhans Fragen zielten genau auf die entscheidende Schwäche des Luftwaffenkonzepts, die Schrumpfung der Reaktionsmöglichkeiten für bemannte Abfangjäger in der Bundesrepublik 139 . Dabei spielte auch die Frage nach dem Aufbau eines zivilen Luftschutzes eine Rolle, eine Angelegenheit, die im April durch einen Artikel eines Majors Wilhelm Kohler in die Öffentlichkeit gedrungen war. Köhler hatte von angeblichen Plänen zur Massenräumung der Gebiete an der Grenze zur DDR berichtet. Die Stay-at-home-Politik der NATO, d.h. die Unterlassung aller Evakuierungen für die Zivilbevölkerung im Ernstfall, war dadurch zur Disposition gestellt worden. Es war zu einem erheblichen öffentlichen Aufruhr gekommen140. Kammhuber und seine führenden Offiziere hatten jedenfalls im Bestreben nach Durchsetzung der getroffenen Entscheidung in den maßgeblichen Sitzungen am 5./6. November 1958 die technischen Daten und die dahinter stehende Konzeption zwar ausführlich geschildert, dabei auch einen differenzierten Leistungsvergleich vorgenommen und auf die Probleme und Empfindlichkei134 135 136
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Ebd., S. 9. Ebd., BW 1/347307: Strauß bei einer Besprechung mit Vertretern der dt. Luftfahrt-, Triebwerks- und Elektronik-Industrie am 5.2.1958. Ebd., Der bayr. Finanzmin. Eberhard an Strauß vom 30.5.1958, mit anliegender Korrespondenz von Firmen. Ebd., BW 1/54941: 32. Sitzung Vtdg.-Ausschuss des Deutschen Bundestages, III. Legislaturperiode, Tgb.Nr. 8/58 vom 26.11.1958, S. 14. Ebd., BW 1/54942: 43. Sitzung Vtdg.-Ausschuss des Deutschen Bundestages, III. Legislaturperiode vom 5.2.1959, v.a. S. 40-54. Der Spiegel, 1959, Nr. 6, S. 17. BA-MA, BW 1/54941: 31. Sitzung Vtdg.-Ausschuss des Deutschen Bundestages, III. Legislaturperiode, vom 6.11.1958, S. 5 f. Der Spiegel, 1958, Nr. 18, S. 22-24.
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ten moderner Waffensysteme hingewiesen, schließlich aber den Starfighter in durchaus positiven Farben gemalt141. Besonders hob man hervor, dass die F-104 sehr weit entwickelt sei, die Kinderkrankheiten und die bei jeder Entwicklung unvermeidlichen Abstürze schon hinter sich habe. In einem schlaglichtartigen Vergleich wurden die festgestellten Vorzüge der F-104 präsentiert und dabei insbesondere betont, dass die F-104 keine grundlegenden Konstruktionsänderungen brauche, um die deutschen Forderungen zu erfüllen142. Bei der Mirage müsse man dagegen auch die Zelle erweitern. Der Vertreter der zivilen Beschaffungsorganisation des BMVg, Bennecke, verwies dazu nochmals auf die technische Innovationskraft und produktionstechnische Überlegenheit der USA gegenüber den Europäern. Damit, so der Vertreter der CDU/CSU, Dr. Kliesing, sei man im Wesentlichen auf der sicheren Seite: »So bedauerlich die Unfälle, die sich mit dem Starfighter in den USA ereignet hätten, seien, - immerhin sei es ihm lieber, daß sie bereits hinter uns lägen, als daß sie erst noch im Rahmen der Bundeswehr einträten143.« Oberstleutnant Albert Werner, der maßgebliche Testpilot, hatte dazu noch angefügt, »daß die F-104 über den gesamten Geschwindigkeitsbereich einwandfrei ruhig fliegt«144. Die bittere Ironie der späteren Geschehnisse wird hier besonders deutlich, denn gerade die Instabilität der F-104, die der amerikanische Testpilot Yeager trotz der Höhenrekorde, die dieser mit dem Starfighter schaffte, schon früh einwandfrei festgestellt hatte, sollte zu einer der gefährlichsten Unfallursachen werden145. Auch von Werner erwähnte Spezialgeräte zur Erhöhung der Sicherheit konnten dies zunächst nicht beseitigen. Die Äußerungen hinsichtlich des fortgeschrittenen Entwicklungsstandes der F-104, der grundlegende Änderungen ausschließe, wurden später in der Öffentlichkeit massiv angezweifelt146. Im Laufe der Zeit stellte man überhaupt die Begründung von Fü L als Ganzes öffentlich in Frage. In der aktuellen Debatte im Ausschuss allerdings ergaben sich keine grundlegenden Zweifel.
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Zum Folgenden BA-MA, BW 1/54941: 30. Sitzung Vtdg.-Ausschuss des Deutschen Bundestages, III. Legislaturperiode, vom 5.11.1958, S. 2-44, und 31. Sitzung vom 6.11.1958, S. 1-16. Ebd., Kammhuber vor dem Plenum, 32. Sitzung Vtdg.-Ausschuss des Deutschen Bundestages, III. Legislaturperiode, Tgb.Nr. 8/58 vom 26.11.1958, S. 13. Ebd., 31. Sitzung Vtdg.-Ausschuss des Deutschen Bundestages, III. Legislaturperiode, vom 6.11.1958, S. 8 f. Ebd., 30. Sitzung Vtdg.-Ausschuss des Deutschen Bundestages, III. Legislaturperiode, vom 5.11.1958, S. 42. Yeager/Janos, Schneller als der Schall, S. 374 ff. Auf dem Höhepunkt der Starfighter-Krise erschienen Artikel, die behaupteten, dass die F104 G eine vollkommen andere Maschine gegenüber der ursprünglichen US-Entwicklung sei. Schlieper, Die Wechselwirkung, S. 571. Nach den technischen Angaben der EADS, dem derzeit größten Rüstungs- und Luftfahrtunternehmen Europas, war der Grundaufbau aller Versionen (v.a. Maße der Zelle) identisch. Die F-104 G unterschied sich von der F-104 Α vor allem durch ihr um eine halbe Tonne höheres Leergewicht, was wiederum eine Verstärkung der inneren Zellenfestigkeit nötig machte. BA-MA, BL 1/681: Fü L II 4, Vortrag OTL Werner anl. LWSR-WSPG-Sitzung in Rom am 26.1.1961, S. 1 f. Dies rührte vor allem von der elektronischen Ausrüstung her. Meilensteine der Luftfahrt: F-104.
00458
00464 US.AW FORCE.
F-105 Thunderchief der USAF Luftwaffenmuseum Berlin-Gatow Sammlung
Barreis
^ English Electric Lightning, Mk. 1 picture-alliance/dpa
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Die Abgeordneten besaßen einen nur sehr begrenzten Einblick in die technischtaktischen Details und so blieb ihnen nichts anderes übrig, als den Ausführungen von Fü L zu glauben. In der Frage der technischen Leistungsfähigkeit liegt die Schnittstelle für die ganze Krise. Die Luftwaffenführung hatte wegen der mehr als prekären Luftverteidigungslage die F-104 zunächst als ausgesprochenen Interceptor beschafft. Ihre zentralen Eigenschaften und Vorzüge lagen gerade in ihrer großen Geschwindigkeit und enormen Steigleistung. Sie war ein wirkliches Rekordflugzeug, das - wohl beabsichtigt - insbesondere der Sowjetunion demonstrieren sollte, was ihre Bomber in Zukunft zu erwarten hatten, wenn sie in den Luftraum der NATO einfliegen sollten. Dieser Plan ging auf, denn als Yeager die Sowjetunion besuchte, wurde er massiv unter Druck gesetzt, um die entsprechenden Informationen preiszugeben147. Von diesem Ruf wollte auch die deutsche Luftwaffe profitieren und stellte vor dem Verteidigungsausschuss gerade diese Leistungen - seine kurzen Stummelflügel und sein generelles Design - als besondere Vorzüge gegenüber den schweren Maschinen wie der F-101 und der F-105, die explizit als Jagdbomber entwickelt worden waren, dar. In der Tat bekam der Starfighter international dann auch den Ruf einer fliegenden Rakete, was den Tatsachen durchaus nahekam148. Gerade diese fliegende Rakete - und damit stößt man weiter zum Kern der Angelegenheit vor - erhielt von der Luftwaffe in der Folge die Rolle einer multikomplexen Mehrzweckwaffe149. Kammhuber hatte zwar in den Sitzungen des Verteidigungssausschusses am 5./6. November 1958 darauf verwiesen, dass das zur Debatte stehende Programm nur für Abfangjäger gelte und die Ausstattung der taktischen Jagdbomberverbände genauso wie der Aufklärer erst in Zukunft zur Entscheidung anstünde und ergebnisoffen sei150, enthielt damit aber dem Gremium die Wahrheit vor. Zwar wurde für das 2. Flugzeugbeschaffungsprogramm eine Alternativmaschine getestet, die F-105 Thunderchief, die als Jagdbomber gebaut wurde151, gleichzeitig auch leistungsmäßig etwas stärker, vor allem aber stabiler als die F-104 war, gleichwohl ging die Tendenz stark in
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Yeager/Janos, Schneller als der Schall, S. 348 f. Gerade diese Eigenschaft wollte die Luftwaffen-Führung haben. BA-MA, BL1/1584: 4. Koberner Luftfahrtgespräch am 27.9.1956, S. 17-33. Eine Parallele besteht hier zur F-106 Delta Dart, die aus der F-102 Delta Dagger entwickelt wurde. Die USAF versuchte, diese Maschine, einen Deltaflügler, ebenfalls zu einem Multifunktionssystem umzugestalten, hatte damit aber ebenfalls erhebliche Probleme. Die F106 reüssierte dann auch vor allem als leistungsfähiger Abfangjäger für die Luftverteidigung der USA und blieb bis 1988 im Dienst. Sharpe, Angriffs- und Abfangjäger, S. 68 f., und Leihse, F-106, S. 1 4 - 1 7 und 60 f. BA-MA, BW 1/54941: 30. Sitzung Vtdg.-Ausschuss des Deutschen Bundestages, III. Legislaturperiode, vom 5.11.1958, S. 9. Ebd., S. 18.
VI. Die Beschaffung der Waffen
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Richtung Starfighter 152 . Strauß hatte bereits am 2. August festgelegt, dass die F-104 auch für die Verwendung als Jagdbomber beschafft würde 153 . Trotz dieser Entscheidung setzte sich das Hin und Her eine gute Zeit lang fort. Zur allgemeinen Verunsicherung trug wesentlich bei, dass, als man daranging, die Ausrüstung für die bestellten F-104 im Detail festzulegen154, alle Beteiligten recht rasch einsehen mussten, dass wesentliche Komponenten (v.a. Elektronik) von Lockheed noch gar nicht fertig entwickelt worden waren. Entsprechende, vorsichtig formulierte Vorbehalte der US-Militärs bei den Gesprächen mit Kammhuber begannen nun zum Unmut des Ministers zu tragen155. Staatssekretär Josef Rust gar sah ein Fiasko wie bei der Beschaffung des Panzer HS 30 herannahen und betonte, dass im Falle eines Misserfolges die Verantwortung vor der Öffentlichkeit von allen betroffenen Abteilungen selbst zu tragen sei. Kammhuber versuchte einstweilen, die Wellen niedrig zu halten, was im Falle der technischen Zeitschriften (Flugwelt) teilweise auch gelang. So erschien etwa ein Artikel über die Mirage III nicht156. Da die Entscheidung zugunsten des Starfighter nun aber gefallen war, schritt man voran, prüfte dann aber noch genauer, ob für die Modernisierung der JaboVerbände nicht doch die F-105 in Frage käme157. Eine Zeit lang verfolgte man Gedankenexperimente in Bezug auf eine Ausstattung F-104 (reine Jagdaufgaben), F-105 (schwerer Jabo und Aufklärer) und G-91 (leichter Erdkämpfer/ Aufklärer) 158 . Ende Juli musste man allerdings gewärtigen, dass derlei weder zu finanzieren noch personell bzw. logistisch zu betreiben war. Ministerialdirektor Volkmar Hopf, Leiter der Haushaltsabteilung des Ministeriums, rechnete der Luftwaffenführung vor, dass insgesamt für die Beschaffung 3,1 Mrd. DM ausgegeben werden könnten, wohingegen die aktuelle Planung aller Abteilungen bei 6,3 Mrd. liege159. Die Ausrüstung mit einem weiteren Hauptwaffensystem kam unter diesen Bedingungen nicht mehr in Frage. Man sah sich auch nach der grundlegenden Festlegung für ein aufwändiges Luftverteidigungssystem mit zwei Abwehrkomponenten (Jäger und Rakete) nicht mehr in der Lage, die personellen, materiellen, logistischen und organisatorischen Grundbedingungen
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Z u r technischen E r k u n d u n g der F-105, ansatzweise auch als Träger von Luft-BodenRaketen vor d e m H i n t e r g r u n d der MRBM-Problematik vgl. ebd., BL 1/1755: Fü L II 5, A k t e n v e r m e r k , Luft-Boden-Missile-Republic - Entwicklung f ü r F-105 v o m 22.10.1959. Ebd., BL 1/11171: Fü L/T V, Protokoll über die Min.-Besprechung a m 2.8.1958, Beschaff u n g LWSR Fiat G-91 u n d F-104 als Jabo, v o m 13.8.1958, S. 2. BL 1/1908: Fü L II; Plan u n g s g r u n d l a g e n f ü r d e n Zeitabschnitt 1958 bis 1964 v o m 27.6.1958, S. 10. Fü L spielte noch einige Zeit theoretisch mit d e m G e d a n k e n an die F-105, blieb aber bei d e r F-104. BL 1/14704: Tgb. InspLw, Eintrag v o m 19.10.1959, vgl. a u c h Eintrag v o m 23.10.1959 u n d 28.8.1959. Ebd., BL 1/14650: Tgb. InspLw, Eintrag v o m 5., 17./19. sowie 27.1.1959 u.ö. Ebd., Eintrag v o m 22.1.1959, mit Protokoll über eine Sitzung unter Vorsitz des Min. im Bundeshaus. Ebd., Eintrag v o m 3.4.1959. Ebd., Eintrag v o m 27.2.1959. Ebd., Eintrag v o m 28.8.1959. Ebd., Eintrag v o m 31.7.1959.
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dafür bereitzustellen160. Dazu trat, dass auch eine effiziente und evtl. kostensparende Produktion im europäischen Verbund durch die finanzielle Schwäche der möglichen Partner (Belgien, Niederlande) nicht in Frage kam161. So verabschiedete man die F-105 wieder. Kammhuber behauptete vor dem Verteidigungsausschuss am 9. Dezember 1959, dass die F-104 der F-105 fliegerisch eindeutig überlegen sei, und ging dabei eher vom antizipierten Optimum auf der Basis der Sorgen und Nöte der Luftwaffe hinsichtlich ihrer Ressourcen und der taktisch-technischen Grundsituation aus als von problemorientierter Analyse der fliegerischen Zuverlässigkeit162. Die strukturellen Leistungsgrenzen der Luftwaffe zeichneten sich schon hier ab. Diese Tatsache, die schon im Vorfeld der Auswahl Erwähnung gefunden hatte, wurde in den Ausschusssitzungen Anfang November 1958 als Option vorsichtig angedeutet, dann aber mehr oder weniger offen zugegeben163 und diente dann als eines der Standardargumente zur Rechtfertigung der F-104 in allen kommenden Stürmen. Man hatte zunächst einen reinen Interceptor benötigt, der nun als Mehrzweckwaffensystem auch für Aufklärungs- und Angriffsoperationen dienen sollte. Dabei kann keineswegs von Naivität oder Hektik angesichts der knappen Ressourcen gesprochen werden. Die Luftwaffenführung ließ, als offiziell noch die reine Abwehraufgabe im Zentrum stand, schon während der Gespräche mit den Anbietern, vor allem denen in den USA, prüfen, ob der Abfangjäger eventuell auch in anderen Rollen einsetzbar war164. Hier spielte erneut das Vertrauen auf die Leistungsfähigkeit der Technik und der Glaube an die eigene Willensstärke gerade im Angesicht drückender Überlegenheit des Feindes herein. Im Hintergrund dürfte auch das Weiterwirken der ideologisch genährten deutschen Soldatenmentalität und das psychologische Selbstverständnis der Kriegsgeneration, etwa aus den Erfahrungen der Reichsluftverteidigung, gestanden haben. Kammhuber hatte noch in der Weimarer Republik in der Operationsabteilung T1 des Truppenamtes gearbeitet165, wo nach dem Sturz Hans von Seeckts eine überaus radikale Existenzkampfstrategie gepredigt worden war, deren Kern u.a. auch in dem Diktum bestand, dass »deutscher Geist« über »fremde Materie« siegen müsse, wobei der Rüstungsaspekt explizit angesprochen worden war: »Wir brauchen eine starke, wenn auch nicht gleiche Rüstung und müssen - arithmetisch gedacht - durch ein Plus an moralischen Kräften das
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Ebd., BL 1/1908: Fü L II; Planungsgrundlagen für den Zeitabschnitt 1958 bis 1964 vom 27.6.1958, S. 9 ff.; BL 1/14650: Tgb. InspLw, Eintrag vom 19.10.1959. Ebd., Eintrag vom 2.12.1959. Ebd., BW 1/54944: 69. Sitzung Vtdg.-Ausschuss des Deutschen Bundestages, III. Legislaturperiode, 9.12.1959, nachmittags, S. 6. BL 1/14650: Tgb. InspLw, Eintrag vom 23.10.1959. Ebd., BW 1/54941: 32. Sitzung Vtdg.-Ausschuss des Deutschen Bundestages, III. Legislaturperiode, Tgb.Nr. 8/58 vom 26.11.1958, S. 14. Ebd., BL 1/14648: Tgb. InspLw, USA-Reise InspLw vom 7.2.-7.3.1958, Bericht vom 13.3.1958, S. 1. Ritterkreuzträger der Wehrmacht, Ritterkreuzträger Josef Kammhuber, (15.12.2004), URL: (Kopie der Website bei B.L.).
VI. Die Beschaffung der Waffen
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Gleich- oder Uebergewicht anstreben 166 .« Diese >Tugendendes stärkeren Willens, der über die stärkeren Batallione siegtKatastrophenjahren< 1965 und 1966 265 . In diesem Zeitraum hatte man 26 bzw. 22 Totalverluste erlitten. Uber die Hälfte der Abstürze (160) ereigneten sich immerhin von 1971 bis Mitte der 80er Jahre. Insofern brachte die Wende nach dem Amtsantritt Steinhoffs keineswegs den absoluten Frieden. Es blieben, wie Steinhoff selbst in einem vorläufigen Abschlussbericht zugeben musste, einige handfeste Mängel, deren wohl
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Dr. Mann, Konzeption FüSys Bw, Mai 1974 mit Prüfungsbemerkungen des BRH zu den Elektronischen FüSys der Bundeswehr. Der Spiegel, 1966, Nr. 37, S. 30. Dazu insbes. BA-MA, BL 1/6769: Fü L/SBWS, Sprechzettel zu Problemen in der Zusammenarbeit mit dem nichtmilit. Bereich vom 20.11.1969, mit ausführlicher Korrespondenz. Zum Folgenden vgl. Fischbach, 916 Deutsche F - 1 0 4 G Starfighter, S. 832-834; Kröpf, Deutsche Starfighter, S. 138-143.
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Bernd Lemke: Konzeption und Aufbau der Luftwaffe
gravierendster die fehlende Allwetterfähigkeit war 26i . Dennoch hatte man die Spitzen der Unglücksreihe abgebrochen und konnte darauf verweisen, dass man statistisch im internationalen Rahmen blieb. Betrachtet man zusätzlich die Vorleistungen Panitzkis auf technischem Gebiet, so wird deutlich, dass die Hauptleistung Steinhoffs eher in die psychologische Dimension hineinreicht. Er hatte die Maßnahmen, insbesondere auch die Kompetenzzuweisung an den Systembeauftragten, intern durchgesetzt und dann die Öffentlichkeit sowie die Truppe beruhigt. Die letzte Maschine stürzte am 26. April 1989 ab. Insgesamt gingen 297 Maschinen der deutschen Luftwaffe verloren. 108 deutsche Piloten ließen ihr Leben. Tab.: Absturzzahlen F-104 nach Kröpf und Fischbach Jahr 1961 1962 1963 1964 1965 1966 1967 1968 1969
Zahl der Abstürze 2 7 0 10 26 22 14 19 16
Jahr 1970 1971 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979
Zahl der Abstürze 18 19 12 15 10 11 12 10 13 10
Jahr 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989
Zahl der Abstürze 11 9 13 4 8 4 2 0 0 1
c) Lehren für die Zukunft: Die Ausmusterung des Starfighter und seine Bedeutung für die kommenden Waffengenerationen Ab Mitte der 60er Jahre begann die rüstungstechnische Verabschiedung des Starfighter. Planungen für die nächste Waffengeneration hatte man eigentlich schon seit Ende der 50er Jahre begonnen und war in den 60ern zur Ausarbeitung geschritten267. Man begann zahlreiche Projekte zur Realisierung von Senkrechtstartern als Ersatz für die 104. Eigene Entwicklungen waren genauso darunter wie europäische (P. 1127, später Harrier) und transatlantische (AVS). All dies scheiterte jedoch, entweder wegen mangelnden Interesses der Partner, insbesondere der USA, oder mangelnder eigener Fähigkeiten. Die deutschen Senkrechtstarterprojekte wurden sämtlich in der 2. Hälfte der 60er Jahre beendet, dies teils wegen der neuen strategischen Lage, vor allem aber wegen der mangelnden Leistungsfähigkeit der deutschen Entwicklungen. Der Senkrecht266
267
BA-MA, BL 1/4027: Entwurf zur Rede InspLw auf der Gen-Tagung 1968/69: Die Luftwaffe im Jahre 1968/69 Rückblick/Ausblick vom 18.1.1969, S. 66-70. Zum Folgenden siehe unten, S. 379 f. und 402 f.
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start musste mit erheblichen Leistungseinbußen bei Geschwindigkeit, Nutzlast und Reichweite erkauft werden, so dass alle Typen nicht mehr zur Einsatzreife gelangten 268 . Auch hier kam es wieder zu Gerüchten, dergestalt, dass infolge von US-Dominanz deutsche Senkrechtstarter verhindert worden seien. Die in diesem Zusammenhang auch genannte F - l l l , ein Mehrzweckflugzeug, blieb aufgrund zu großer Komplexität und technischer Probleme, die nicht zuletzt auch durch massive Streitigkeiten unter den Teilstreitkräften (US-Navy und USAF) und weiteren Regierungsstellen bei Auswahl und Beschaffung entstanden, jedoch auch eine Fehlentwicklung und wurde von der Luftwaffe genauso wenig beschafft wie die deutschen Projekte 269 . Die Luftwaffe geriet nun in planerische Zwänge, da die aktuellen Bestände an F-104 infolge der Abstürze und des natürlich auftretenden Schwundes infolge Ausbildung und Nutzung mehr und mehr schrumpften 270 und Nachfolgemuster (Neues Kampfflugzeug, NKF), der spätere Tornado, der im europäischen Verbund entwickelt werden sollte, seine Zeit brauchte. Vor die Pflicht zur Erfüllung der NATO-Einsatzfähigkeit gestellt, entschied sich die Luftwaffenführung für eine Zwischenbeschaffung, den sog. »gapfilier«, und beschaffte die Phantom 271 . Zunächst bestellte man 88 RF-4E Phantom, die ab 1971 an die beiden Aufklärungsgeschwader gingen, da sich die F-104 für Aufklärungsaufgaben als nur schwer einsetzbar erwies 272 . Zusätzlich beschaffte man 175 Maschinen der Kampfversion der Phantom (F-4F) und setzte sie als Mehrzwecktyp ein. Beide Jagdgeschwader und zwei Jabogeschwader (JaboG 35 und 36) wurden damit ausgestattet und bereiteten sich gemäß der neuen Strategie sowohl auf Jagd- als auch auf Jaboaufgaben vor, dies unter der jeweils vertauschten Doppelrolle (Attack/Air Superiority Fighter und umgekehrt) 273 . Diese Aufgabenteilung rief unter den Jagdpiloten, die sich als Elite betrachteten und eine Verwässerung ihrer >einzigartigen< Fähigkeiten ablehn26» interview mit dem InspLw, in: FR 2 (1974), downloadbar unter: (Kopie der Website bei B.L.). ^ GlobalSecurity.org, F - l l l Aardvark, hrsg. von John Pike, (15.12.2004), URL: chttp:// www.globalsecurity.org/military/systems/aircraft/f-lll-history.htm> (Kopien der Website bei B.L.). Vgl. auch Sharpe, Angriffs- und Abfangjäger, S. 107. 270 BA-MA, BL 1/3505: Fü L III, Aufgaben und Ausrüstung der Luftwaffe, vom 25.3.1966, mit Arbeitspapier Aufgaben und Ausrüstung der F-104 G/G-91-Verbände der Luftwaffe, mit Vorschlägen für die geforderte Reduzierung der Strike-Kapazität. Begleitdok. 271 Zum Folgenden vgl. Vetter/Vetter, Die Verbände der Bundesluftwaffe, S. 9 2 - 9 4 und 182-185, und Feldmann, Fliegerhorst Hopsten, S. 39. Müller, Luftverteidigung, S. 126 f. 272 Sie war zu schnell und die nötigen Geräte waren in dem engen Rumpf nur schwer unterzubringen. Auch kam die Einführung moderner Aufklärungstechnik (SLAR) zu spät. Es wurden nur einige wenige F-104 zu Versuchszwecken umgerüstet. BA-MA, BL 1/4050, Fü L III 1, Vortrag Konzeption und Rüstungsplanung der Luftwaffe, Einweisung GenMaj v. Butler als zukünftiger StvChef des Stabes SHAPE, Planung und Führung DCPO, gehalten am 10.11.1967, S. 22 ff. Auch BL 1/14707: Tgb. InspLw, Eintrag vom 31.10. und 15.11.1967; BL 1/4050, Fü L III 3, Entwurf Vortrag Fü L vor dem Vtdg.-Ausschuss des Bundestages am 24./25.1.1968, Die heutige und zukünftige Luftwaffe vom 26.1.1968, S. 21 f. und 60. Vetter/Vetter, Versuchsprojekte der Bundeswehr, S. 44 f. Die Phantom erhielt dann SLAR. 271 Die erste Phantom F-4 F traf beim JG 71 im März 1974 ein.
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Bernd Lemke: Konzeption und Aufbau der Luftwaffe
ten, Entrüstung hervor. Als Krupinski das neue Konzept beim JG 71 vorstellte und im Kasino dabei auf den Widerstand des Kommodore Hans-Jürgen Rentel stieß, kam es wegen beabsichtigten oder zufälligen Herabfallens von Biergläsern zum Eklat mit Presseecho in der BILD-Zeitung (sog. Kristallnacht)274. Andern konnten die Piloten das neue Konzept jedoch nicht. Die Strike-Verbände blieben demgegenüber mit der F-104 ausgerüstet und erhielten die freiwerdenden Maschinen der Phantom-Verbände zugewiesen275. Diese Ausrüstungsstrategie kam nicht von ungefähr, sondern war bittere Notwendigkeit. Wie man in allen internen Berichten zugeben musste, besaß die F-104, die ja ursprünglich zunächst als Interceptor beschafft worden war, Ende der 60er Jahre immer noch keine befriedigenden Allwetterfähigkeiten und wies im Luftkampf aufgrund ihrer Pfeilkonstruktion gegen Maschinen unterhalb der Klasse der schweren strategischen und der mittleren Bomber eine zu geringe Wendigkeit auf. So mussten also zunächst die Aufklärer- und die Jagdverbände neu ausgestattet werden. Bei den Strike-Verbänden war dies anders, da hier weiterhin nur der Transport der Nuklearwaffe auf je ein singuläres Ziel erfolgen musste. Allerdings blieben auch hier Zweifel, weil die NATO über die Einführung der Doppelrolle und die Force Generation die Möglichkeit besaß, die deutschen StrikeVerbände im Ernstfall als taktische Jagdbomber im Frontgebiet zu verwenden, wo wiederum die fehlende Wendigkeit und die hohe Geschwindigkeit in Verbindung mit den hohen Sinkraten beim Zielanflug im Schrägangriff ein schweres Handicap darstellten, wodurch die F-104 überaus verwundbar wurde. Die letzte F-104 ging am 23. Oktober 1987 aus dem Dienst bei den Kampfverbänden, der letzte Flug im Dienst der deutschen Luftwaffe überhaupt fand am 22. Mai 1991 statt276. Sie befand sich also noch zehn Jahre länger im Dienst als selbst die schon gestreckten Pläne Ende der 60er Jahre vorsahen. Ferner bleibt die Ironie, dass sich die Phantom, die ursprünglich als Lückenfüller beschafft worden war, heute noch bei der Truppe im aktiven Einsatz befindet. Betrachtet man nun die Geschichte des Waffensystems F-104 in diesem Zusammenhang und die Rolle der Luftwaffe im Raum-Zeit-Gefüge, findet man einen ganzen Komplex von strukturellen Zusammenhängen und Schwierigkeiten vor, die einerseits die Rolle von Streitkräften in modernen Gesellschaftssystemen generell widerspiegeln, andererseits auch die besonderen Verhältnisse der Teilstreitkräfte in einer kritischen Zeit des Wiederaufbaus unter massivem technologischen Innovationsdruck zeigen. Aufgrund militärischer, wirtschaftlicher und politischer Koinzidenzen waren die Luftwaffe und ihr Führungsstab mit sehr großen Anforderungen konfrontiert worden. Dabei hatte man die zu erwartenden Tücken einer hochkomplexen Kampfmaschine genauso erahnt wie man sich der eigenen Schwächen und Defizite nach zehn Jahren Pause bewusst war. Die Luftwaffe war nicht einfach ins kalte Wasser gestoßen Interview mit Hans-Jürgen Rentel (25.3.2004). Der Vorfall ereignete sich 1976. BA-MA, BL 1/4050: Fü L III 3, Entwurf Vortrag Fü L vor dem Vtdg.-Ausschuss des Bundestages am 24./25.1.1968, Die heutige und zukünftige Luftwaffe vom 26.1.1968, S. 83. 276 Meilensteine der Luftfahrt: F-104. Vierzig Jahre Jagdbombergeschwader 34, S. 27 und 33. Vetter/Vetter, Versuchsprojekte der Bundeswehr, S.105 f. 274 275
VI. Die Beschaffung der Waffen
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worden, sondern hatte sich gewissermaßen selbst mit den Füßen abgestoßen. Dabei spielte die prinzipielle Geisteshaltung Kammhubers und wichtiger Entscheidungsträger der Luftwaffe, die sich, etwa im Falle des Inspekteurs, sehr stark aus dem militärischen Herkommen, den Tätigkeiten in den 20er, 30er und 40er Jahren, speiste, eine entscheidende Rolle. Man erwartete in einem teils über- bzw. zweckoptimistischen Vertrauen in die Technik, insbesondere den angeblich fortgeschrittenen Entwicklungsstand der F-104, eine beherrschbare Supermaschine für alle Verwendungen zu bekommen. Der Dampfwalze aus dem Osten sollte stärkerer Wille, größere Kampfkraft, bessere Ausbildung, überlegenere Technik und nicht zuletzt auch effizienterer Einsatz der Mittel (Mehrfachverwendung) entgegen gesetzt werden. Betrachtet man diese Ausgangsposition mit der Krise und deren Bewältigung, erkennt man einen schmerzhaften Lernprozess, dies auch im Umgang mit den Medien. Wesentliche Probleme hatten ihre Ursache darin, dass man sich in komplexe Beschaffungs- und Organisationsstrukturen einordnen musste. Die vielgestaltigen, häufig schwierigen Beziehungen, die das Bündnis insgesamt prägten, wirkten sich auf ihre Weise zum Teil auch hier aus. Insbesondere das Zusammenspiel von mentalen und wirtschaftlichen Problemkreisen kam zum Tragen. Die Europäer, darunter auch die deutsche Luftwaffe, entwickelten, genährt durch die Bestrebungen der Amerikaner nach einem transatlantischen Bündnissystem, eine massive Erwartungshaltung. Man hoffte, eine Art Anschub sowohl für die aktuelle Ausstattung der eigenen Truppe als auch für die Wiederingangbringung der eigenen technologischen Innovation zu erhalten. Gekoppelt war dies mit einer Art Vorurteil gegen eine US-Dominanz, die das Klima zeitweise geradezu vergiftete. Die Europäer wollten eine billige, weit entwickelte Maschine haben, die sie nur noch zusammenzubauen brauchten, und dabei erwarteten sie, quasi en passant, noch alle technischen Neuentwicklungen übernehmen zu können. Als die US-Firmen dann einerseits zugeben mussten, dass insbesondere die Elektronik noch entwicklungsbedürftig war, und andererseits darüber hinaus noch darauf pochten, dass die Patentrechte nur ihnen zustanden, kam es zu teils wilden Auseinandersetzungen, bei denen die Europäer den US-Firmen kapitalistische Ausbeutung vorwarfen. Letztere stellten dann die Frage, wer hier eigentlich wen ausbeute, und verschärften den Streit dadurch noch. Die Situation eskalierte, als die Konsortiumsländer die USAF mit der Problematik konfrontierten. Ein Beobachter berichtet, dass die europäischen Vertreter wie »Hornissen« ins Pentagon einfielen und dort regelrechtes Geschrei erhoben. Bemüht, den Ruf als technologische und strategische Führungsmacht zu sichern, setzte die USAF ihrerseits Lockheed unter Druck, um eine Beilegung der Krise zu erreichen. Lockheed wiederum hatte für die deutsche Luftwaffe nur 96 Maschinen direkt geliefert und kassierte für die restliche Stückzahl eine relativ begrenzte Lizenzgebühr. Durch die Probleme insbesondere bei der elektronischen Ausstattung, die auch daher rührten, dass Lockheed teils unzuverlässige Subunternehmen beauftragte hatte, und die massive Kritik der deutschen Öffentlichkeit an den angeblich überzogenen Profitmargen auf Kosten des deutschen Steuerzahlers, sah sich der Konzern genötigt, eine große
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Anzahl von technischen Beratern für die europäische Industrie und die Truppenverbände bereitzustellen. Die Europäer weigerten sich, hierbei den Löwenanteil zu tragen, so dass Lockheed auf der Masse der Kosten sitzenblieb. Der Gewinn der Firma schmälerte sich damit und durch weitere Kosten merklich. Es ist an dieser Stelle auf seriöser Basis kaum möglich, die gegenseitige Übervorteilung zu bilanzieren. Wichtig ist aber die Erkenntnis, dass bei einem Großprojekt wie der F-104 die grundsätzlich verschiedenen Interessen von Privatwirtschaft und staatlichen Rüstungsprogrammen von vornherein mit eingeplant werden müssen. Die Amerikaner hatten bei den vorigen Projekten einfache Lizenzverfahren angewandt, für die nur ein minimaler Aufwand betrieben werden musste, da meist nur ein Abnehmer, v.a. die USAF, vorhanden war. Die komplizierten Verhältnisse in Europa unterschätzte man. Hier, insbesondere in Deutschland, hatte man sich dagegen noch nicht richtig klargemacht, dass die angeblichen Leistungen im Zweiten Weltkrieg auf technischem Gebiet ein Kinderspiel gegen die neuen Anforderungen waren. Kritisiert wurde in diesem Zusammenhang das stark einschränkende und komplett veraltete Me-109Denken gemäß dem Prinzip: bauen, kaufen, losfliegen277. Als dies klar wurde, reagierte man verletzt und tat sich sehr schwer zu akzeptieren, dass man USTechniker einstellen musste. Die Europäer erwiesen sich nachfolgend in all diesen Punkten als lernbegierig und lernfähig. Die neuen Projekte der 70er Jahre, Alpha Jet und Tornado, profitierten von den schmerzhaften Erfahrungen der 60er Jahre. Für Amerikaner aber war dies mit teils bitteren Erfahrungen verbunden. Den Aufwand, den man bei Lockheed und auch der USAF betrieb, um den Starfighter einsatztauglich zu machen, rechtfertigte man explizit mit den Chancen, die man für kommende Projekte der Europäer erhalten würde278.» Gerade dies erfolgte wenigstens für Deutschland und wesentliche Teile Europas aber nicht. Die Hauptprojekte der kommenden Zeit, d.h. nach der Beschaffung des Phantom, waren im Wesentlichen europäischer Herkunft. In dieser Hinsicht spielte genauso wie im zivilen Sektor Strauß eine paradigmatische Rolle. Man hatte sich gewissermaßen den wirtschaftlichen und technologischen Anschub von jenseits des Atlantiks abgeholt und machte danach auf eigener Basis weiter. In diesem Kapitel der wechselvollen transatlantischen Geschichte spielte die deutsche Luftwaffe eine begrenzte Rolle. Sie war, nicht zuletzt auch aufgrund ihrer eingeengten Kompetenzen im Beschaffungssektor, in wesentlichen Teilen auf eine Manager- und Nehmerrolle beschränkt und hatte ein nachhaltiges Inte277
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BA-MA, BL 1/1755: F ü L V , Log. Lagebericht über das Waffensystem F-104G, Stand: 15.10.1962, vom 17.10.1962, Anl. 12 Übersetzung eines Aufsatzes von Cecil Brownlow in Aviation Week and Space Technology vom 6.8.1962, Bemühungen der F-104 G-Partner, Führungsprobleme zu überwinden, Teil 1, S. 11, Teil 2, S. 8 ff. u.ö. (Dazu auch Der Spiegel, 1966, Nr. 37, S. 26 f.). Ebd., Fü L V, Log. Lagebericht über das Waffensystem F-104 G, Stand: 15.10.1962, vom 17.10.1962, Anl. 17 Übersetzung eines Aufsatzes von Cecil Brownlow in Aviation Week and Space Technology vom 6.8.1962, Bemühungen der F-104 G-Partner, Führungsprobleme zu überwinden, Teil II, S. 1.
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resse daran, zu gütlichen Verhältnissen insbesondere auch mit der USAF zu kommen. Man mischte bei Streitereien durchaus mit, insbesondere dann, wenn man mit fehlerhaftem Material versehen worden war, und wehrte sich einerseits gegen öffentliche Anwürfe auch von nicht zum Zuge gekommenen Konkurrenzfirmen und andererseits gegen den Druck der Lieferfirmen279. Die raue Schule, die man durchlief, förderte dann die drei Fähigkeiten zu Tage, die für die Zukunft der Teilstreitkraft und ihrer Waffensysteme unerlässlich sein sollten: Wahrung des Eigeninteresses gegenüber allen anderen Beteiligten, auch gegenüber der eigenen Bürokratie, Fähigkeit zum Austarieren der Gegensätze und eine offensive Medienpolitik.
2. Bewährung und Scheitern an der Technik: Die G-91 und das Senkrechtstarter-Projekt a) Anpassung an die Nuklearstrategie unter technischen Problemen: Die G-91 als Fortführung des Schlachtflugzeuges und mögliche Vorstufe des Senkrechtstarters Das taktische Aufgabenprofil der G-91: Simplizität und flexible Einsatzdynamik Die taktisch-organisatorische Grundstruktur der Angriffssysteme für die deutsche Luftwaffe blieb in der Praxis seit den 30er Jahren letztlich gleich. Der Kern der offensiven Schlagkraft ruhte auf zwei Komponenten, schweren und leichten taktischen Bombern mit der Option auf ein ansatzweise strategisches Einsatzprofil, ohne dieses jedoch wirklich realisieren zu können280. An diesen Kontinuitäten änderte auch die Tatsache, dass die Luftwaffe unter der Ägide der NATO aufgebaut wurde, nichts. Die G-91 entstand aufgrund von NATO-Forderungen, die bereits in der ersten Hälfte der 50er Jahre erstellt wurden und aus den US-
279
280
Dazu die Materialsammlung zu den Angriffen von Wienand 1965 und die entsprechende Bundestagsdebatte, in: BA-MA, BW 1/373859, und die Dok-Sammlung, in: BA-MA, BL 1/54502. BL 1/2109: Fü L III 1, Blaue Briefe, v.a., Blauer Brief Nr. 2 vom 18.1.1965, Nr. 8 vom 20.5.1965, Nr. 21 vom 15.11.1965. Letzteres hatte sich in der Zeit bis 1945 in den Plänen des Gen. Peltz zu einer strategischen Luftkriegführung und der Produktion der He 177 sowie Versuchen mit schweren viermotorigen (»Amerika«-)Bombem, etwa der Me 264 und der Ju 290, manifestiert (Cescotti, Kampfflugzeuge und Aufklärer, S. 200-212). Seine Entsprechung fand dies nach 1955 in den Planungen für die Aufstellung einer eurostrategischen Raketenstreitmacht (evtl. Polaris). Zu Letzterem siehe oben, S. 168-177. Die Fortentwicklung der Technik, also etwa die Abstellung der Typenvielfalt der Bombermuster nach 1945 und die Einführung von Boden-Boden-Raketen (Pershing I), modifizierte diese Grundstruktur zwar etwas, änderte sie jedoch nicht radikal.
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Erfahrungen in Korea resultierten281. Man verlangte ein leichtes und einfaches Standardflugzeug für die unmittelbare Heeresunterstützung, Aufklärung, evtl. auch Jägeraufgaben, im Frontgebiet und Trainingsaufgaben zur Einführung als Einheitsmuster in die Luftwaffe aller Partnerstaaten. Die Maschine sollte mit so wenig technischem, logistischem und organisatorischem Aufwand wie möglich auskommen und dennoch effizient einsetzbar sein. Gefordert wurde dazu auch die Fähigkeit zum Einsatz von Atomwaffen. Dabei wurde recht rasch auch die defensive Komponente in den Vordergrund gestellt. Das Flugzeug sollte auch vor atomaren Angriffen geschützt werden, d.h., es sollte von primitiven und leicht zu tarnenden Behelfsflugplätzen starten können und das Höchstmaß an Effizienz durch den gezielten Einsatz an den Brennpunkten der Front erreichen. Man plante, es im Ernstfall mehr oder weniger in den Wäldern verschwinden zu lassen, gleichzeitig aber eine hohe Schlagkraft zu gewährleisten. Um die nötige Flexibilität zu erreichen, durfte das Muster nur die nötigste Ausrüstung aufweisen, um nicht von einem komplizierten und aufwändigen Service- und Wartungsapparat abhängig zu sein. Die Ausschreibung endete auf der NATO-Ebene im April 1958 offiziell zugunsten der Firma Fiat282, die mit ihrem Modell G-91 in gewisser Kontinuität zu den vor 1945 entwickelten leichten Jägern und Jagdbombern ausreichende Ausgewogenheit unter Wahrung der größten Simplizität erreicht zu haben schien283. Diese Entscheidung trug jedoch von Anfang an alle Merkmale eines typischen Bündniskompromisses, denn die arrivierten Partner, allen voran die Briten und die Franzosen, dachten angesichts ihrer Eigenentwicklungen nicht daran, ihre Truppen mit einem Fremdmodell auszustatten, wenn nicht gleichzeitig ihre Modelle, etwa die Etendard oder die Taon, berücksichtigt wurden284. Beschaffung Die deutsche Seite entschied sich gleichzeitig mit der Einführung der F-104 auch für die G-9 1285. Der entsprechende Vertrag mit der deutschen Industrie auf der Basis des Lizenzvertrages mit Fiat wurde am 14. Dezember 1959, fast zeit281
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Hoeveler, Fiat G-91, S. 93. Zur Grundkonzeption der G-91 vgl. grundsätzlich BA-MA, BW 1/54941: 30. Sitzung Vtdg.-Ausschuss des Deutschen Bundestages, III. Legislaturperiode, 5.11.1958, S. 4 4 - 5 0 (Vorträge von Steinhoff u.a.). Allgemeine Informationen mit Bildern, in: Flugwerft Schleißheim, S. 116 f. BA-MA, BW 1/347511: W 13, Vermerk, Betr.: G-91 vom 27.10.1958. Ebd., BW 1/54941: Kammhuber auf der 30. Sitzung Vtdg.-Ausschuss des Deutschen Bundestages, III. Legislaturperiode, 5.11.1958, S. 49 f. Wie schon bei der F-104 legten die Vertreter der Luftwaffe angesichts des Rechtfertigungsdrucks vor den demokratischen Entscheidungsgremien einen sachlichen Optimismus an den Tag, der von den wahren Verhältnissen keineswegs gestützt wurde. Hoeveler, Fiat G-91, S. 95. Dies hinderte sie aber offenbar nicht daran, an den Einsatzkonzepten und Spezifika der Maschine mitzuwirken. BA-MA, BL 1/896, Lecture of Colonel Krupinski at the TWOATAF Tactical Convention on 14 and 15 March 1963 at HQ TWOATAF, S. 1 (mit anl. vorläufigen Einsatzgrundsätzen G-91 und Begleitdok.), vom 6.2.1963. BA-MA, BW 1/54941: 31. Sitzung Vtdg.-Ausschuss des Deutschen Bundestages, III. Legislaturperiode, 6.11.1958, S. 16.
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gleich mit dem Lizenzvertrag für die F-104, unterzeichnet 286 . Die inländische Produktion wurde im Wesentlichen auf drei Firmen verteilt, die sich zu einer Arbeitsgemeinschaft zusammenschlossen: Dornier, Heinkel und Messerschmitt287. Produziert wurden die Modelle G-91 R/3 und T/3 (Trainerversion). In den 60er Jahren erhielt man noch eine Anzahl an G-91 R/4, für die man jedoch eigentlich keine Verwendung mehr hatte und die auch eine zu schwache Bordbewaffnung besaß. Dabei spielten auch politische und wirtschaftliche Motive in entscheidender Weise mit. Die Beschaffung der F-104 durch Italien und die damit verbundene Bedeutungssteigerung des Gesamtkonsortiums bei gleichzeitigem Statusgewinn gegenüber Frankreich und Großbritannien stand mit der G-91 in Verbindung. Den Italienern war die Entscheidung für den Starfighter erleichtert worden (Lizenzbauvertrag März 1961), weil sich die Bundesrepublik für die G-91 entschieden hatte. Inwieweit Strauß hier hinter den Kulissen tätig war, müsste noch geklärt werden. Jedenfalls sollte die G-91 als Ersatz dienen, als die Italiener darin infolge ihres verzögerten Einstiegs bei der F-104 in ihres Erachtens nicht genügender Weise an deren Produktion beteiligt wurden. Eine entsprechende Aufstockung des Auftragsvolumens für die G-91 scheiterte jedoch, da sich Anfang der 60er Jahre schon die ersten Kürzungswellen im Verteidigungsetat ankündigten 288 . Die komplexen Interdependenzen zwischen Taktik, Technik, Wirtschaft, Finanzen, Politik und Strategie, wie sie die deutsche Luftwaffe bei der F-104 zu gewärtigen hatte, galten auch für die G-91, und in der Tat hatte man prompt auch ähnliche Schwierigkeiten. Quasi das ganze Programm der Abhängigkeiten und - darauffolgend - der teils sich geradezu im Kreise drehenden Probleme musste auch hier durchgestanden werden. Die entsprechende Krise lief in der Öffentlichkeit jedoch eher glimpflich ab, weil das Hauptaugenmerk auf der F-104 lag. Die G-91 war von den Fachleuten von vornherein als leichter, weniger leistungsfähig und letztlich auch als nicht wirklich entscheidend angesehen worden. Die Masse der Bestellungen erfolgte auf der Basis des 1. und 2. Flugzeugbeschaffungsprogramms 289 . Analog zum Starfighter wurde nur eine begrenzte Zahl an Maschinen bei Fiat direkt bestellt: 50 Einsatzflugzeuge und 20 Trainer. Die Aufträge für die restlichen Maschinen gingen an die deutsche Arge
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Ebd., BW 1/347512: Verträge u n d D o k . - S a m m l u n g ü b e r N a c h b a u G-91 (1958/59). A u c h die e n t s p r e c h e n d e A r g e (Dornier, Heinkel, M e s s e r s c h m i t t ) f ü r die P r o d u k t i o n w u r d e analog z u r F-104 g e g r ü n d e t , n ä m l i c h ein Jahr vor d e m offiziellen Vertrag f ü r d e n Nachbau (16.12.1958). U n d wie bei d e r F-104 schloss d a s BWB d e n eigentlichen Lizenzvertrag mit d e m u r s p r ü n g l i c h e n Hersteller, hier Fiat, selbst ab (11.3.1959). Die B e s c h a f f u n g beider M a s c h i n e n lief rechtlich, firmenorganisatorisch u n d terminlich fast parallel. Ebd. Zu d e n Vertragsabschlüssen f ü r die F-104 siehe oben, S. 337 u n d 354. Ebd., BL 1/11171: Fü L, Protokoll über die Besprechung zwischen S.E. des Vtdg.-Min. d e r Republik Italien On. Guilio Andreotti u n d Strauß a m 1.12.1960, S. 6, mit einigen Begleitdok. Ebd., BL 1/652: Fü L V z u r F l u g z e u g b e s c h a f f u n g , v o m 30.3.1960, S. 2.
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Bernd Lemke: Konzeption und Aufbau der Luftwaffe
z u m Nachbau 2 9 0 . I n s g e s a m t beschaffte die Luftwaffe 3 4 4 G-91 R/3 2 9 1 u n d 6 6 v o n der Trainerversion T/3 2 9 2 . Die T ü c k e n der P l a n u n g w u r d e n d a n n für die G-91 g e n a u s o w i e für die and e r e n W a f f e n s y s t e m e deutlich, als m a n infolge d e r M i t t e l k ü r z u n g e n i m L a u f e der 60er Jahre n u r einen Teil der G e s c h w a d e r aufstellen konnte, die n u n die bereits gekaufte Stückzahl gar nicht vollständig a u f n e h m e n konnten. D a z u erhielt m a n die R / 4 aus U S - H i l f s p r o g r a m m e n , die u r s p r ü n g l i c h für d e n Mittelm e e r r a u m eingeplant g e w e s e n w a r e n . M a n stockte die A n z a h l der Reserveflugz e u g e auf u n d lagerte d e n Rest ein. D i e t e c h n i s c h e A u s s t a t t u n g d e r G - 9 1 a l s Light W e i g h t S t r i k e R e c o n n a i s s a n c e Fighter d e r N A T O V o n A n f a n g an spielten w i e bei der F - 1 0 4 die E r w a r t u n g e n in die Leistungsfähigkeit der Technik, insbesondere der Elektronik, die e n t s c h e i d e n d e Rolle, w e n n a u c h gedanklich g e w i s s e r m a ß e n a u s der entgegengesetzten Richtung, d.h., d a s Ziel bestand darin, mit einer möglichst einfachen A u s r ü s t u n g auszuk o m m e n . Die H a u p t a k t e u r e bei der Beschaffung w a r e n D e u t s c h l a n d u n d Italien. Einberufen w u r d e ein Koordinationsausschuss, d a s Light W e i g h t Strike F i g h t e r - C o m m i t t e e , u m die n ö t i g e n Spezifizierungen z u treffen. Die d e u t s c h e Luftwaffe n a h m d a r a n teil u n d vertrat dort eine recht radikale Position. M a n verlangte insbesondere im elektronischen Bereich m a x i m a l e Vereinfachung u n d Unabhängigkeit v o n komplizierten Geräten 2 9 3 . Die bis d a t o entwickelten techni-
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Ebd., BL 1/14705: Kommandeursbesprechung 1/60 am 18.3.1960, vom 18.3.1960, Anl. 5, Das Flugzeug G-91 R/3, S. 6. Zu den Vertragsverhandlungen siehe BW 1/347511: W, Vermerk, Beschaffung von Flugzeugen vom Typ G-91 vom 24.10.1958, mit Folgedok. Ebd., BL 1/4522: Fü L III 3, Aktenvermerk Fiat G-91 R/3 vom 7.3.1966, mit einem Begleitdok. BL 1/2109: Log. Lage Lw, Stand: 1.4.1965, Anl. 4, Log. Lage der wichtigsten Waffenund Gerätesysteme der Lw, S. 4 f. Die 344 Stück setzten sich zusammen aus 50 ital. Originalmodellen und 294 dt. Nachbauten. Wolfgang Bredow, Luftwaffenmuseum BerlinGatow, Fiat G-91 R/3, Erdkampfflugzeug von 1961, (15.12.2004), URL: und International Model News, Fiat G-91, Ein Bericht von Michael Ulimann, (15.12.2004), URL: (Kopien der Websites bei B.L.). Die letzten Maschinen wurden im Mai 1966 geliefert (Kopie der Website bei B.L.). BA-MA, BL 1/1622: Fü L III 1, Blauer Brief 1/68, Das Waffensystem Fiat G-91, vom 13.3.1968 (gleichzeitig Vortrag vor AFCENT, 2. ATAF, 4. ATAF und Vertretern von BALTAP und AIRBALTAP), S. 5. Vgl. auch BL 1/1374: Die Lw in Zahlen, Faktensammlung zum Vortrag InspLw vor Vtdg.-Ausschuss am 24./25.1.1968 vom 22.1.1968, S. 8. Nach Informationen von Wolfgang Bredow vom Luftwaffenmuseum Gatow beschaffte die Lw 66 Stück T/3. Wolfgang Bredow, Luftwaffenmuseum Berlin-Gatow, (15.12.2004), URL: (Kopie der Website bei B.L.). Dies entspricht den Tatsachen. Bis Mitte der 60er Jahre hatte die Luftwaffe 44 Maschinen gekauft und erhielt wegen gestiegener Ausbildungserfordernisse vom Vtdg.Ausschuss 1968 die Genehmigung für den Ankauf von weiteren 22 Stück. BA-MA, BL 1/4521: Fü L I V 3 , Beschaffung von 22 Flugzeugen G-91 T/3, vom 10.7.1968, mit zahlreichen Begleit- und Folgedok. BA-MA, BL 1/222: Stellungnahme Fü L II 4 zur Sitzung des LWSF-Committee in Turin, vom 29.7.1958, S. 2.
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sehen Komponenten erschienen als zu montrös und zu wenig leistungsfähig Defizite, die man bei der F-104 bezeichnenderweise hintan- bzw. als in kurzer Zeit lösbar dargestellt hatte. Fü L II 4 sah es als überflüssig an, eine Freund/Feindkennung und aufwändige Aufklärungsgeräte, u.a. auch Blindfluginstrumente, einzubauen. Derlei sei im Tiefflug ohnehin nicht anwendbar. Man hatte allerdings die Rechnung ohne die zivilen Beschaffungsinstanzen des BMVg gemacht, die in den Verhandlungen mit Fiat taktisch-technische Forderungen mit mehreren Komponenten stellten, die über die von Fiat selbst angebotenen Elemente hinausgingen 294 . Die Firma gab den deutschen Forderungen nach, lehnte aber eine Garantie für die Betriebssicherheit ab. Man einigte sich insgesamt auf eine weiterhin limitierte Ausrüstung und stieß dabei dennoch bereits an die Grenzen der Aufnahmemöglichkeit des Rumpfes der Maschine. Die G-91 sollte erhalten: - einen Funkkompass, der mit Hilfe von Funkfeuern am Boden ständige Positionsmeldungen liefern sollte; - eine Kreisplattform (Sperry CL-11) mit Dopplerradar und Flugwegrechner (PHI), d.h. ein einfaches, bodenunabhängiges Navigationssystem, um den Piloten von aufwändigen Berechnung zu entlasten; - Zielgeräte: Ein aufwändiges Zielgerät mit der Option auf den Einsatz von Atombomben (LABS - Low Altitude Bombing System) entfiel, da es auf Kosten einer anderen Komponente hätte eingebaut werden müssen. Daher beließ man es bei einfachsten Zielgeräten. Die G-91 wurde aus diesen und anderen Gründen auch nicht nuklearfähig 295 . - zur Aufklärung: drei Kameras der Firma Vinten zum Einbau in die Nase des Flugzeuges (Aufklärerversion). Da gefordert worden war, auch bei Nacht und Schlechtwetterbedingungen Aufklärung zu fliegen, sollten zur Beleuchtung Blitzlichtkartuschen eingesetzt werden 296 . - Bewaffnung: Die G-91 erhielt 2 χ 30-mm-Kanonen, eine Bordbewaffnung, die für die modernen Gefechte als unerlässlich bezeichnet wurde. Ursprünglich hatte die Maschine zwei bzw. vier 12,7-mm-Maschinengewehre der Fa. Colt besessen. Diese Bewaffnung wurde mit Nachdruck durch Colonel Driscoll (USAF) auch der deutschen Luftwaffe angeboten, fiel aber nach massivem Eingreifen von Strauß wieder weg. Der hatte erfahren, dass Driscoll einen größeren Bestand an 12,7 mm verwaltete, den er offenbar gewinn-
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Die Verhandlungen wurden von zivilen Beamten geführt, so z.B. dem Oberregierungsbaurat Pätz. Zum Folgenden vgl. ebd., BL 1/222: Fiat Divisione Aviazione, Antworten auf den Bericht Nr. 10 vom 14.11.1958 mit zahlreichen Begleitdok. zu den Verhandlungen. Einstellung der Strike-Fähigkeiten siehe ebd., BL 1/1822: Fü L V, Planungsrichtlinie 2/64 (Log Lw) vom 2.4.1964, S. 3, und Fü L: Aufstellungsplanung der Luftwaffe 1970, Kräfteplanung 1964/65, vom 12.3.1964. Ebd., BL 1/223: Fü L II 4, Erprobung (night operational trials) Fiat G-91 im Herbst 1960 in der Bundesrepublik, vom 14.12.1959. Vetter/Vetter, Versuchsprojekte der Bundeswehr, S. 41. Ob derlei Versuche angesichts der massiven Bedrohung tatsächlich noch zeitgemäß und nicht doch eher rückwärtsgewandt waren, sei an dieser Stelle dahingestellt.
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Bernd Lemke: Konzeption und Aufbau der Luftwaffe
bringend verkaufen wollte297. Das Profitstreben reichte also bis zur Detailausstattung der Flugzeugmuster. Die 12,7-mm kam dann allerdings noch über die Hintertür in den Bestand der deutschen Luftwaffe. Die G-91 R/4, die die US-Regierung im Rahmen der Militärhilfe an südeuropäische Staaten liefern wollte, war mit dieser Waffe bestückt, wurde aber von den angesprochenen Ländern nicht beschafft, sondern an Deutschland abgegeben (50 Stück)298. Dort hatte man, weil aufgrund der strukturellen Kürzungen ohnehin ein Überhang an der schwerer bestückten Standardversion G-91 R/3 bestand, keine rechte Verwendung. Man bot 40 Stück davon dann für 17,5 Mio. DM den Portugiesen an, um einen Teil der finanziellen Verpflichtungen für den Betrieb der Luftwaffenbasis Beja abzulösen299. An Zuladung für konventionelle und atomare Bomben bzw. Bordwaffen konnte die G-91 je nach Reichweitengestaltung bis zu einer Tonne aufnehmen300. Die ursprüngliche Konzeption, die ja auf eine NATO-Ausschreibung aus der Zeit der Massive Retaliation zurückging, forderte zwar zunächst einen konventionellen Einsatz, sah für die Zukunft aber auch die Ausstattung mit Atomwaffen vor301. Die Luftwaffe ließ die Möglichkeit einer Verwendung der US-Atombombe Mark-57 prüfen, rüstete dazu auch eine Testmaschine aus und drängte
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Ebd., BL 1/222: Stellungnahme zum Einbau von Bord-MG Kaliber 12,7 mm und 30 mm Flugzeugbordkanone in das Flugzeugmuster Fiat G-91, vom 3.6.1959. BL 1/11171: Kammhuber an Strauß, mit handschriftl. Randbemerkungen von Strauß, vom 22.6.1959. Begleitdok. Die R/4 besaß nach Angaben von Sharpe - Angriffs- und Abfangjäger, S. 19 - nur zwei dieser Maschinengewehre, eine Bestückung, die nach Ansicht der dt. Verantwortlichen für den Einsatz in einem Großschlachtfeld vollkommen ungenügend war. [Nach anderen Quellen, Fiat G-91, (20.3.2004), URL: und International Model News, Fiat G-91, Ein Bericht von Michael Ulimann, (15.12.2004), URL: - (Kopien der Websites bei B.L.) - besaß die T/4 vier. Letzteres dürfte wohl den Tatsachen entsprechen]. Zu den Unterschieden zwischen der dt. und der ital. Ausführung der Maschine und die leichtere Ausrüstung der letzteren vgl. BA-MA, BL 1/222: Fliegerische Ausbildung für G91-Verbände, vom 1.12.1960. Ebd., BL 1/1821: Niederschrift der in der dt.-portug. Besprechung vom 5.-8.10.1965 erzielten Ergebnisse, S. 1 f. Die Portugiesen übernahmen die angebotenen 40 Stück. Hoeveler, Fiat G-91, S. 95. BA-MA, BL 1/1622: Fü L III 1, Blauer Brief 1/68, Das Waffensystem Fiat G-91, vom 13.3.1968 (gleichzeitig Vortrag vor AFCENT, 2. ATAF, 4. ATAF und Vertretern von BALTAP und AIRBALTAP), S. 38. Ebd., BL 1/222: Fü L II 4, Neufassung Ziffer 6 des Operational Plan LWSR vom 18.9.1959. Dazu auch BL 1/1449: WEU, Arbeitsgruppe Rüstungsproduktion und -Standardisierung, Musterfälle leichte taktische Angriffsjäger vom 25.4.1955. Probate A-Waffen standen bis Ende der 50er Jahre noch nicht zur Verfügung. Die Mk-57, eine speziell für begrenzte Wirkkraft auch für leichte Jabos zugeschnittene Waffe, wurde ab 1963 produziert. The nuclear weapons archive, a guide to nuclear weapons, (8.1.22004), URL: http://nuclearweaponarchive.org/Usa/Weapons/Allbombs.html (Kopie der Website bei B.L.). Das ursprüngliche Konzept (NATO Operational Requirement) stammt aus dem Jahre 1954. BAMA, BL 1/222: Operational Plan for the NATO Lightweight Strike - Recce Aircraft, 2nd Draft, 27.4.1959, S. 1. Die G-91 lag damit auch im Trend der MC 70, die ja explizit eine Doppelverwendungsfähigkeit für die Waffensysteme postulierte.
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Bernd Lemke: Konzeption und Aufbau der Luftwaffe
die Amerikaner zu weiteren Tests302. Zu einer entsprechenden Bestückung kam es aufgrund der technischen Probleme mit der Maschine und des allmählich in Gang kommenden Strategiewechsels jedoch nicht mehr. Das Vorhaben wurde fallengelassen, als die NATO von der Massive Retaliation abkam303. Darüber hinaus begann man im Laufe der Zeit mit Experimenten zur Verwendung eines Lenkflugkörpers Luft-Boden (AS 20 bzw. 30)304. Auch hier ergab sich eine Überforderung des Piloten, so dass mit Zweisitzern bzw. zwei Maschinen (Waffenträger und Lenkflugzeug) gearbeitet wurde. Die Versuche, die auf dem britischen Schießplatz Aberporth im Herbst 1967 stattfanden, führten zu keinen befriedigenden Lösungen. Man tröstete sich einstweilen damit, dass die Ergebnisse für die Nachfolgemuster nutzbar sein würden305. Die G-91 stellte vor allem hinsichtlich der Bestückung insgesamt eine begrenzte, gewissermaßen lineare Weiterentwicklung gegenüber den Flugzeugmustern des Zweiten Weltkrieges dar. Bomben und Bordwaffen blieben die Hauptkampfmittel. Auch ansonsten war der Fortschritt eher bescheiden. Den technischen Errungenschaften für eine gesteigerte Kampfkraft, die sich infolge der Jettechnologie gegenüber den Kolbenmotoren der alten Flugzeuggeneration ergeben hatten, wurden teilweise dadurch reduziert, dass man jetzt eine Maschine besaß, die auf Graspisten landen sollte, dafür aber zu schwer war, außerdem gleichzeitig einen hohen Wartungsaufwand erforderte. Am weitesten war man bei der elektronischen Ausstattung vorangekommen. Die Maschine bildete gewissermaßen eine Etappe in der Entwicklung von den primitiven Anfängen der Navigation, die bis zu den ersten Erfolgen mit Radar und Funknavigation im Zweiten Weltkrieg noch gewissermaßen auf Kompass, Uhr und Sterne angewiesen war, und der modernen Elektronik. Aber auch hier blieben Mängel und Defizite mit im Vordergrund. Die Ausstattung trug alle Merkmale eines Kompromisses zwischen kostengünstiger, wartungsarmer Simplizität und den nötigen Einsatzerfordernissen unter der angenommenen Dampfwalze aus dem Osten.
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BA-MA, BL 1/1885: Note for record (mit dt. Übers.) an Speidel, Dual capability for Fiat G91 and F-104 G, vom 29.10.1963. Fü L entwickelte zwischenzeitlich sogar Pläne für eine Ausdehnung des Einsatzspektrums über die Aufgaben eines reinen Schlachtflugzeuges hinaus. Dazu erachtete man die Ausstattung mit passenden Α-Bomben, d.h. »immer kleiner werdenden nuklearen Waffen« (passend zur Größe der G-91) als nötig. BL 1/222: Fü L II Stellungnahme zu LWSR 3. Generation vom Okt. 1959, S. 2. Weitere Dok. zur Konzeption der G-91 dort. Die dt. Luftwaffe rüstete die G-91 nicht mehr für atomare Einsätze aus (nach einer mündlichen Aussage des ehemaligen Insp. Eimler im Okt. 2004 waren die Bordsysteme der G-91 für Nukleareinsätze auch nicht verkabelt) und verabschiedete sich dann im Zuge der Auseinandersetzung mit der Flexible Response auch offiziell davon. Siehe oben, S. 218. Vetter/Vetter, Versuchsprojekte der Bundeswehr, S. 23 f. BA-MA, BL 1/4927, Inspektion Kampfverbände der Lw, Truppenversuch G-91 R 3 und G91 Τ 3 mit LFK AS 20, Planung für Durchführung des Truppenversuchs in England, vom 30.9.1966; BL 1/4535, Fü L III 3, Vortragsnotiz Versuchsschießen G-91/R3 - T3 mit LFK AS 20 vom 24.7.1968, mit zahlreichen Begleitdok.; BL 1/1622: Fü L III 1, Blauer Brief 1/68, Das Waffensystem Fiat G-91, vom 13.3.1968 (gleichzeitig Vortrag vor AFCENT, 2. ATAF, 4. ATAF und Vertretern von BALTAP und AIRBALTAP), S. 8.
VI. Die Beschaffung der Waffen
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Die Kehrseite der Medaille: Grenzen und Unzulänglichkeiten der Maschine
Eine wesentliche Ursache der Schwierigkeiten ging auf den Übergangscharakter der Maschine zurück. Nicht zuletzt auch bei der NATO hatte man frühzeitig rasch begriffen, dass die G-91 bei weitem nicht alle Leistungsmerkmale aufwies, die man trotz der Einfachheit der Entwicklung von ihr erwartete. Vor allem Reichweite, Zuladung sowie Allwetter- und Nachteinsatz- bzw. Nachtaufklärungsfähigkeit entsprachen keineswegs den gestellten Anforderungen. Daher entschloss sich SHAPE schon 1959, neue Einsatzanforderungen (General Operational Requirements) zu erstellen, die, wie allen Beteiligten klar war, von der G-91 nicht erfüllt werden konnten. Die Hoffnungen richteten sich daher schon zu diesem Zeitpunkt auf ein Nachfolgemodell mit V/STOL-Eigenschaften306. Auch bei Fü L betrachtete man die G-91 eher als Notlösung bis zur Einsatzreife des Senkrechtstarters307. Das Konzept des Leichtgewichtjägers/jabos erhielt so zeitweise den Charakter eines Sparmodells ohne langfristige Zukunft: »LIGHT WEIGHT ist nur solange wichtigf,] als wir langstartende Flugzeuge haben308.« Größeren Entwicklungsaufwand und hohe Kosten waren aus dieser Perspektive möglichst zu vermeiden. Die Option zerschlug sich später dann allerdings wieder, als der Senkrechtstarter nicht realisiert werden konnte und sich der Wechsel zur Flexible Response vollzog. Einstweilen hatte man aber den Spagat zwischen Erwartungen bzw. Anforderung und den technischen Realitäten des Light-Weight Strike/
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Ebd., BL 1/222: Inspiz Aufklärer, Stellungnahme zum Entwurf GOR for ACE Lightweight Strike/Recee Aircraft Fü L II 4, vom 13.10.1959, mit Begleitdok. Zur Bestandsaufnahme für Konzept und Mängel G-91 siehe BL 1/896: Lecture of Colonel Krupinski at the TWOATAF Tactical Convention on 14 and 15 March 1963 at HQ TWOATAF (mit anl. Vorläufigen Einsatzgrundsätzen G-91 und Begleitdok.), vom 6.2.1963. Die Meinung von Strauß siehe BL 1/11171: Strauß an Kammhuber vom 23.3.1959. Aus den reichhaltigen Unterlagen von Fü L zu den Spezifikationen für das Nachfolgemodell vgl. einstweilen v.a. BL 1/2109: Grundlinien für Nachfolgemuster Flugzeug-Waffensystem vom 19.10.1965, S. 5 f.; BL 1/4521: Τ IV 6, Einladung, Grundausrüstung VAK 191 Β vom 14.12.1965, mit zahlreichen Begleitdok. Im Übrigen siehe Kap. b), S. 400-423. Aus der Zentralquelle für das Tagesgeschäft, dem Tgb. InspLw, geht hervor, dass sich die Spitzengremien schon bei der Einführung der G-91 mindestens genauso stark mit der Entwicklung eines Nachfolgers beschäftigten. Teilweise überwog diese Tätigkeit sogar. BL 1/14651: Tgb. InspLw, Einträge vom 8.8., 26.7. und 20.1.1960; BL 1/14652: Tgb. InspLw, Einträge vom 18.12., 23.11., 19.10., 4.10., 26.9. und 5.6.1961, 22.11. und 6.4.1962, Anl. zum Tgb. InspLw vom 27.11.1961, Fernschreiben InspLw an Militärattaches u.ö. Die Beschäftigung mit Nachfolgern der aktuellen Kampfmaschinen gehört an und für sich zum Tagesgeschäft einer jeden Luftwaffen-Führung. Dementsprechend kümmerte man sich auch um einen V/STOL-Nachfolger für die F-104. Die Beteiligten waren sich jedoch einig, dass für die G-91 eine schnelle und vorrangige Lösung gefunden werden musste. Das ursprüngliche Konzept von Fü L für die G-91 siehe BL 1/14705: Kommandeursbesprechung 1/60 am 18.3.1960, vom 18.3.1960, Anl. 5, Das Flugzeug G-91 R/3. Ebd., BL 1/222: Inspiz Aufklärer, Stellungnahme zum Entwurf GOR for ACE Lightweight Strike/Recee Aircraft Fü L II 4, vom 13.10.59, handschriftl. Randbemerkungen.
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Bernd Lemke: Konzeption und Aufbau der Luftwaffe
Reconnaissance Fighter zu vollziehen. Die Probleme ließen dann auch nicht lange auf sich warten309. Die Ereignisse verliefen entlang der strukturellen Grundgegebenheiten, wie sie schon im Falle der F-104 beschrieben wurden. Die G-91 wies eine erhebliche Anzahl technischer Mängel auf, die durch die schleppend anlaufende Logistik und Verzögerungen bei der Auslieferung der Maschinen potenziert wurden310. Der Funkkompass war technisch veraltet und arbeitete viel zu ungenau. Die Kreiselplattform wanderte teils schon bei geringsten Flugmanövern aus und verhinderte somit die nötige Betriebssicherheit, da sie vom Piloten ständig extra überwacht werden musste. Damit war die G-91 praktisch blind. Die Flugzeugführer hatten sich de facto mehr oder weniger mit der alten Koppelnavigation behelfen müssen311. Da dies jedoch bei weitem nicht ausreichte, drohte der gesamte Betrieb zusammenzubrechen. Für die Zulassung zum Flugbetrieb, insbesondere auch die anstehende Ausbildung, verlangte die Musterprüfstelle der Bundeswehr für Luftfahrtgerät (MBL) mindestens die Fähigkeit zum Instrumentenflug (IFR, Instrumental Flight Rules). Dies war in keiner Weise gegeben, so dass bei anlaufender Umrüstung auf die G-91 die Einsatzfähigkeit gefährdet war. Mit dieser Problemlage korrespondierten die Schwierigkeiten bei der Nachtaufklärung. Die angesichts der Fortschritte der Radar-Technologie nicht gerade visionären Lösungsversuche bezüglich der Kombination Auge/Kamera und Blitzlicht ergaben keine wirklich befriedigenden Ergebnisse, so dass hierauf bis auf weiteres verzichtet werden musste. Überhaupt bestanden wie bei der F-104 gravierende Einschränkungen der Aufklärung mit technischen Hilfsmitteln. Die Kameras lieferten im Tiefflug nur beschränkt taugliche Ergebnisse, dies auch im Tageinsatz. Letztlich war das »Bildgerät der G 91 R/3 [...] somit nicht Hauptaufklärungsmittel, sondern dient der Ergänzung und Bestätigung der Augenaufklärung«312. Erst mit der Einführung des modernen Gefechtsfeld309
Zum Folgenden vgl. grundsätzlich und w o nicht anders angegeben BA-MA, BL 1/1889, siehe Beurteilung der Einsatzbereitschaft des Waffensystems Fiat G-91 vom 22.5.1964; BL 1/1633: Fü III 3, Blauer Brief 5/67, Sachstand und Probleme des Waffensystems G-91 vom 19.7.1967; BL 1/906: Fü L IV, Besprechung über notwendige Maßnahmen zur Behebung der Ausbildungsplanung, die Umschulung von Verbands-FF und den FF-Bestand der Geschwader gefährdenden technischen Mängel der Fiat G-91, vom 2.12.1963, mit zahlreichen Begleitdok.; BL 1/4522: Fü L II 4 vom 11.6.1964 zu Mängeln und Retrofitprogramm G-91. Mit zahlreichen Begleitdok. zu Mängeln und Defiziten. BL 1/1889: Beurteilung der Einsatzbereitschaft des Waffensystems Fiat G-91, Feststellung des Sachstandes vom 27.1.1964; BL 1/1622: Fü L III 1, Blauer Brief 1/68, Das Waffensystem Fiat G-91 vom 13.3.1968 (gleichzeitig Vortrag vor AFCENT, 2. ATAF, 4. ATAF und Vertretern von BALTAP und AIRBALTAP). BL 1/1817: Fü L III 1, Weisung für den weiteren Aufbau der Lw, 1. Ergebnisbericht vom 8.6.1964, S. 9 f.; 2. Ergebnisbericht vom 30.7.1964, S. 12 f.; 3. Ergebnisbericht (Abschlussbericht) vom 26.11.1964, S. 15 f.; BL 1/1633: Fü III 3, Blauer Brief 5/67, Sachstand und Probleme des Waffensystems G-91, vom 19.7.1967.
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Ebd., BL 1/1269: Vortrag BG Gentsch, Fü L V, bei Gen.-Besprechung der Luftwaffe, vom 28.4.1964, S. 10-12. Ebd., BL 1/4534, Inspiz Fliegerverbände der Luftwaffe, Inspizientenbericht 5/65, leKG 44 Leipheim vom 22.9.1965, S. 2 f. Ebd., BL 1/896: Vorläufige Einsatzgrundsätze für das Waffensystem Fiat G-91 R/3 (LWSR), Mitzeichnungsentwurf, 2. Fassung, 18.10.1963. Dazu auch Fü L II, Vortrag des
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VI. Die Beschaffung der Waffen
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radars (SLAR) konnten hier befriedigende Forschritte erzielt werden. Für die G-91 kam dies aber zu spät, außerdem wäre sie ohnehin nicht in der Lage gewesen, die nötigen Geräte aufzunehmen 313 . Insgesamt hinkte man, wie man zerknirscht zugeben musste, bei der Aufklärung um fünf bis sieben Jahre hinter der USAF her 314 . Dazu kamen weitere Probleme mit der Kraftstoff- und Olzufuhr bei Temperaturen von unter -17°C, den Bremsen und den Reifen sowie mitunter auch mit dem Triebwerk 315 . Ein besonderes Problem stellte die erhoffte Fähigkeit zum Landen auf unvorbereiteten Graspisten dar. Die Tests in Italien waren recht positiv verlaufen, was die Verantwortlichen in Deutschland entsprechend hoffnungsfroh stimmte. Leider aber erlebte man herbe Enttäuschungen, da das erheblich feuchtere Klima den Boden viel stärker aufweichte 316 . Die Versuche scheiterten regelmäßig, sobald es zu etwas stärkeren Regenfällen gekommen war. Man experimentierte zäh und auf die Dauer fast schon verzweifelt mit einigen technischen Lösungen, so z.B. mit verlegbaren Stahlrosten, mit Nullstartanlagen, wie sie auch bei der F-104 erprobt wurden (SATS, ZELL), und mit Startraketen. All diese Optionen erwiesen sich jedoch als technisch nicht machbar oder als zu teuer, so dass sich die Hoffnungen zerschlugen. Fast schon bittere Ironie dürfte sich breit gemacht haben, als sich dann herauskristallisierte, dass das Schwarmkonzept mit Behelfspisten aus personellen, logistischen und organisatorischen Gründen ohnehin nicht realisiert werden konnte. Übrig blieb das Minimalmodell: Eine Staffel sollte im Ernstfall auf einen vorgeschobenen Ausweichplatz verlegt werden, die zweite auf dem Friedensstandort verbleiben. Beide Plätze sollten Betonstartpisten haben, so dass spezielle Startvorrichtungen entfielen. Lediglich die Option auf Startraketen blieb erhalten, da man nicht wusste, wie lang die Betonpisten des Ausweichflughafens sein würden. Im Übrigen gab man die Bemühungen um eine weitere Auflockerung und die Einrichtung von Behelfspisten nicht auf, musste sich jedoch einstweilen mit dem Stand begnügen.
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Referenten Fü L II 4 - Ο Krupinski - anlässlich 6. TWOATAF Tactical Convention am 14. und 15.3.1963 bei HQ 2. ATAF, S. 8 ff. Zahlreiche Begleitdok. Ebd., BL 1/4544: Fü L III 3, Einbau eines SLAR/APQ 102 G-91 R 3, vom 13.8.1965. Ebd., BL 1/1625: Betrachtungen zur Entwicklung der Luftaufklärung in den kommenden 10 Jahren und die sich hieraus ergebenden Folgerungen, vom 1.6.1966. Letzteres bewegte sich jedoch im Rahmen der technischen Schwierigkeiten, wie sie in allen Lw vorkamen. BL 1/902: MatALw, Telegramm (msgnr 26623), Eingang bei Fü L III am 3.8.1966, Uberprüfung des Beschleunigungsverhaltens des Triebwerks, mit Begleitdok., u.a. zur Einrichtung von Melde- und Entscheidungswegen für die Sperrung der G-91 und anderen Flugzeugmustem bei Unfällen (u.a. Ad-hoc-Ausschuss bei Fü L etc.). Über diese Problematik war man sich eigentlich schon von Anfang an bewusst, hatte aber auch hier, wie schon bei der F-104, großen Optimismus hinsichtlich der Lösungsmöglichkeiten gezeigt. Dazu BA-MA, BW 1/54941: 30. Sitzung Vtdg.-Ausschuss des Deutschen Bundestages, III. Legislaturperiode, 5.11.1958, S. 47 f. (Vorträge von Steinhoff u.a.).
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Bernd Lemke: Konzeption und Aufbau der Luftwaffe
Tab.: Main Operations Bases (MOB) und Deployment Operating Bases (DOB) der leKG 317 (von Nord nach Süd, Stand: Januar/Februar 1968) LeKG
MOB
DOB
NATO-Verband
41 43 42 44 WaSLw 50
Husum Oldenburg Pferdsfeld Leipheim Fürstenfeldbruck
Hohn Wunstorf, Bückeburg Kitzingen, Giebelstadt Roth, Oberpfaffenhofen (wird im Ernstfall zu einem Einsatzgeschwader auf dem Flugplatz umgebaut)
AFNORTH 2. ATAF 4. ATAF 4. ATAF 4. ATAF
Im Zentrum der Probleme stand jedoch weiterhin die Navigationselektronik. Hier kam es schon zu Beginn zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Fü L und den zivilen Beschaffungsabteilungen. Fü L blieb bei seiner ursprünglichen Haltung, nach der die G-91 nur mit dem Nötigsten ausgestattet werden sollte, vertrat die Meinung, dass das Kreiselsystem ohnehin nicht genau arbeitete, und verlangte dessen Ausbau 318 . Stattdessen solle man die Umrüstung auf das auf Bodensender gestützte NATO-Standverfahren TACAN (Tactical Aerial Navigation), wie es auch die F-104 erhielt, als einziges Element verfolgen 319 . Abteilung Τ und das BWB beschafften jedoch ein verbessertes Kreiselsystem, so dass sowohl TACAN als auch der neue Kreisel eingebaut wurde 320 . Die Umrüstung lief an, legte jedoch erneut erhebliche Defizite frei321. Das TACAN-Gerät erwies sich als zu groß und konnte auf normalem Wege nicht im Rumpf untergebracht werden 322 . So entschloss man sich, die Haupteinheit in der rechten Kanonenkammer einzubauen und stattdessen den Munitionskasten zu entfernen. Damit konnte die G-91 nur mit der linken Kanone schießen. Bei Bedarf, so versicherten die Verantwortlichen, könne man einen Wechsel schnell bewerkstelligen. Ob derlei im Ernstfall bei der zu erwartenden prekären Frontlage überhaupt möglich war und nicht die Wartungsfähigkeiten überlastete, war alles andere als
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Ebd., BL 1/1622: Fü L III 1, Blauer Brief 1/68, Das Waffensystem Fiat G-91, vom 13.3.1968 (gleichzeitig Vortrag vor AFCENT, 2. ATAF, 4. ATAF und Vertretern von BALTAP und AIRBALTAP), S. 38-41, dazu die Dok.-Sammlung zu den DOB, in: BL 1/4535. Ebd., BL 1/4520: Fü III 3, Sperry Plattform SYP 820 für Fiat G-91, vom 15.3.1965, mit zahlreichen weiteren Dok. zu den Defiziten und Mängeln der Kreiselplattformen und des Funkkompasses. BL 1/1824: Situationsbericht über die Flugsicherheitslage der Luftwaffe vom 29.10.1965, S. 11 f. Ebd., BL 1/2109: Blauer Brief Nr. 14, Informationen über TACAN-Boden, vom 9.8.1965. Ebd., Blauer Brief Nr. 4 vom 5.4.1963, Anl. 2; ebd., Blauer Brief Nr. 15, Umrüstung der Sabre 6-Verbände JaboG 42 und 43 auf Fiat G-91 und TACAN-Nachrüstung, vom 30.8.1965. Ebd., BL 1/1633: Fü III 3, Blauer Brief 5/67 Sachstand und Probleme des Waffensystems G91, vom 19.7.1967, S. 3; BL 1/4518: Fü L III 3, Ergebnisprotokoll, Besprechung am 26.4.1967 im Führungsstab der Lw über das Waffensystem Fiat G-91 mit Begleitdok. Zentral hierfür siehe ebd., BL 1/4530: TACAN-Einbau in G-91, vom 6.5.1964, mit ausführlichster Dokumentation über die technischen Daten und Probleme. Die ersten Geräte mussten aus der Kreislaufreserve der F-104 entnommen werden. BL 1/681: Fü L II, Bordausrüstung der G-91 zur Durchführung von IFR-Flügen, vom 17.12.1962.
Fiat G-91, W a f f e n r a u m bei Einbau d e s Navigationsgerätes T A C A N . Der Munitionsbehälter für die K a n o n e fehlt
Bundesarchiv-Mihtärarchiv
Freiburg.
Bestand
BL
1-4530
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sicher. Der gesamte Beschaffungsvorgang trug nicht gerade die Merkmale optimaler Professionalität. Immerhin hatte man nach den Ergebnissen der Truppenversuche die nötige Navigationsausrüstung bestimmt. Die Waffenschule der Luftwaffe 50 stellte fest: »Mit TACAN ausgerüstete, navigationsklare Flugzeuge G-91 sind als IFR-tauglich anzusehen323.« Die Probleme wirkten sich schließlich auch auf die Umrüstung aus. Aufgrund der Kürzungen bei den leichten Jabogeschwadern sollten nicht mehr sechs, sondern nur noch vier aufgestellt werden324. Es waren dies zunächst: leKG 41 (aus dem JaboG 35) und das leKG 44 (aus dem AG 53325). Die beiden anderen Geschwader, das leKG 42 und 43, sollten aus den nicht mehr aufzustellenden Jagdgeschwadern 72 und 73 entstehen, wobei die dort eingeführten Sabres einstweilen als Jagdbomber vorgesehen waren. Aufgrund der defizitären Elektronik entschloss man sich, die Umrüstung der leichten Kampfgeschwader 42 und 43 zu verschieben und die blindflugtaugliche Sabre 6 in Dienst zu halten - dies nicht zuletzt auch, um Peinlichkeiten vor der NATO zu vermeiden. »Um der NATO nicht ein blindfluguntaugliches Waffensystem (G-91) als Ersatz für ein voll einsatzbereites Waffensystem (Sabre 6) anbieten zu müssen, wurde die Luftwaffe gezwungen, die Umrüstung von 2 Sabre 6-Verbänden teilweise abzubrechen und um zwei Jahre zu verschieben326.« Diese beiden Geschwader beendeten die Umrüstung erst Anfang 1968327. Das ganze Dilemma der Luftwaffe wurde deutlich, als sich die Umrüstung wegen der fortgesetzten Probleme bei der Navigation verzögerte und man sich überlegen musste, ob man die Sabre nicht noch länger in Dienst halten sollte. Dazu aber fehlten die nötigen Ersatzteile und Serviceelemente, so dass eine Nachbeschaffung anstand. Diese aber konnte man sich nicht leisten328. Auf der anderen Seite besaß die Luftwaffe Mitte der 60er Jahre einen Überhang an Fiat G-91, bestehend aus ca. 100 Stück R/3 und R/4, letztere aus der US-Lieferung für einige Mittelmeerländer329, für den man keine Verwendung hatte. Man entschloss 323
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Ebd., BL 1/4530: Waffenschule der Lw 50, Bericht über den Truppenversuch mit Navigationsanlage TACAN AN/ARN-52, S. 3. Wann und ob die formelle Zulassung durch die MBL erfolgte, konnte infolge der problematischen Quellenlage noch nicht festgestellt werden. Zum Folgenden grundsätzlich ebd., BL 1/1822: Fü L V, Planungsrichtlinie 2/64 (Log Lw) vom 2.4.1964, S. 3, und Fü L Aufstellungsplanung der Lw 1970, Kräfteplanung 1964/65 vom 12.3.1964. Zus. BL 1/1822: Aufstellungsplanung der Lw 1970 vom 7.3.1964, Anl. Die beiden ursprünglich vorgesehenen reinen Aufklärungsgeschwader G-91 konnten nicht realisiert werden. BA-MA, BL 1/1822: Fü L V, Planungsrichtlinie 2/64 (Log Lw) vom 2.4.1964, S. 15 f.; BL 1/1824: Situationsbericht über die Flugsicherheitslage der Luftwaffe vom 29.10.1965, S. 11 f. Ebd., BL 1/1622: Fü L III 1, Blauer Brief 1/68, Das Waffensystem Fiat G-91 vom 13.3.1968 (gleichzeitig Vortrag vor AFCENT, 2. ATAF, 4. ATAF und Vertretern von BALTAP und AIRBALTAP), S. 6. Ein großer Teil der Sabres wurde an den Iran verkauft. BL 1/4516: Telegramme zur Verlegung der Sabre-Maschinen in den Iran, ab März 1966. Ebd., BL 1/4516: Umrüstung der Sabre 6-Verbände JaboG 43 und 43 auf Fiat G-91, vom 2.7.1965. Die betreffenden Länder, Griechenland und die Türkei, dürften die G-91 vor allem deshalb nicht eingeführt haben, weil sie sich als zu leistungsschwach erwiesen hatte. Dazu
VI. Die Beschaffung der Waffen
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sich, die leistungsfähigsten Maschinen, also Typ R/3, zu behalten und dazu auch die Anzahl der Reserveflugzeuge bei den Kampfgeschwadern zu erhöhen und die R/4 über Abt. W abzustoßen. Man zog sogar eine Verschrottung in Betracht330. Die Luftwaffe befand sich im Falle ihrer Hauptwaffensysteme in einem Geflecht von Abhängigkeiten und geriet ins Schwimmen, wenn nur ein einziges Element, hier die Navigationsausrüstung der neuen Maschine, versagte. Man drohte dann in einen Teufelskreis von Technik, Taktik, Finanzen, ggf. auch Strategie und Politik zu geraten, und musste alle Kunst aufbieten, um nicht Schiffbruch zu erleiden. Die Probleme mit der zivilen Wehrverwaltung taten ein Übriges. Die Luftwaffe monierte mehr als einmal, dass sie alles Erdenkliche und in ihrer Macht Stehende getan habe, um der Lage Herr zu werden, bei den zivilen Stellen, insbesondere dem BWB, aber keinen Einfluss besitze331. Die Probleme mit der Technik gingen auch an die Substanz der Betriebs- und Einsatzfähigkeit, da der sehr niedrige Klarstand der Geschwader und Schulen die Ausbildung, Umschulung und Aufstellung gefährdete 332 . Insbesondere die sehr aufwendige Neuausbildung von Piloten drohte bei Anhalten der Schwierigkeiten zum Erliegen zu kommen. Damit wäre ein Kernelement für die Existenz der Luftwaffe weggefallen. Die Luftwaffenführung wandte sich in ihrer Not an die USAF und bat, Ausbildungsmöglichkeiten in den Vereinigten Staaten bereitzustellen. Die Amerikaner lehnten derlei jedoch ab, weil sie die G-91 nicht beschafften und daher auch keinen entsprechenden Apparat aufbauen wollten. Sie boten stattdessen eine Erhöhung der allgemeinen Ausbildung auf den Trainern T-37/T-38 an333. In Deutschland beschloss man, zeitweise verstärkt auf den alten Standardtrainer, die instrumentenflugtaugliche T-33, eine Weiterentwicklung des ersten einsatzfähigen US-Jägers vor 1945 (Lockheed F-80 Shooting Star), zurückzugreifen 334 . Mit technischem und organisatorischem Geschick, Entschlossenheit und auch, wie beschrieben, mit schmerzhaftem Verzicht auf mancherlei Leistungselemente erreichte man dann aber die Entspannung. Die Umrüstung war bis Ende 1968 erfolgt, wenn auch noch einige Defizite weiter bestanden. unten, S. 394 ( N A T O - Ü b u n g Sunshine Express). O f f e n b a r fiel die Entscheidung auf Betreiben d e r USA, die nicht zuletzt auch a u s wirtschaftlichem Eigeninteresse handelten, als sie die G-91 beurteilten. Beide Mittelmeerländer f ü h r t e n d a n n auch die N o r t h r o p F-5 ein. Hoeveler, Fiat G-91, S. 95. 330 BA-MA, BL1/1817, Fü L III 1, W e i s u n g f ü r d e n weiteren A u f b a u d e r Luftwaffe, 1. Ergebnisbericht v o m 8.6.1964, S. 9 f.; 2. Ergebnisbericht v o m 30.7.1964, S. 12 f.; 3. Ergebnisbericht (Abschlussbericht) v o m 26.11.1964, S. 15 f. 331 Ebd., BL 1/906: LWA, Inspektion K a m p f v e r b ä n d e , Detaillierter technischer Bericht über die U n t e r s u c h u n g d e r technischen Einsatzbereitschaft d e r WaSLw 50, Erding, v o m 8.11.1963, v.a. S. 11. 332 Ebd., Fü L IV, Besprechung ü b e r n o t w e n d i g e M a ß n a h m e n z u r Behebung d e r die Ausbild u n g s p l a n u n g , die U m s c h u l u n g von Verbands-FF u n d d e n FF-Bestand d e r G e s c h w a d e r g e f ä h r d e n d e n technischen Mängel der Fiat G-91, v o m 2.12.63, mit zahlreichen Begleitdok. 333 Ebd., Fü L II, Notiz f ü r InspLw, V e r g r ö ß e r u n g der Jet-Ausbildungskapazität in d e n USA, v o m 9.6.1965 mit einigen Folgedok. ™ Ebd., Fü L IV 2, Besprechungsprotokoll (6.2.1964), FF-Ausbildungslage G-91-Sektor, Fortg e s c h r i t t e n e n a u s b i l d u n g auf Τ 33. Folgedok.
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Bernd Lemke: Konzeption und Aufbau der Luftwaffe
Die komplexen Probleme blieben den Verbündeten und auch SHAPE nicht verborgen und nahmen damit auch übernationale Dimensionen an, wobei der Ruf der Luftwaffe in Gefahr geriet335. Bei internationalen Wettbewerben, etwa den Aufklärungsübungen Royal Flush VII, und Kampfwertabschätzungen im Vergleich zum Warschauer Pakt landete die G-91 aufgrund ihrer technischen Probleme und ihrer viel zu geringen Reichweite fast regelmäßig auf dem letzten Platz336. Die Luftwaffe kritisierte zwar die technisch-taktischen Vorgaben, die auf die Konzeption der westlichen Verbündeten mit ihren teilweise erheblich leistungsfähigeren Maschinen (u.a. viel höheren Reichweiten) zugeschnitten waren, und verlangte einen fairen Umgang mit den gegebenen Umständen, konnte sich aber damit nicht durchsetzen. Die Angesprochenen verwiesen darauf, dass die Angreifer im Ernstfall auch nicht nach fairen Wettkampf- und Sportregeln kämpfen, sondern jede Schwäche gnadenlos ausnutzen würden. An den Rand der Blamage geriet man im Rahmen der Übungen der NATOEingreiftruppe AMF (Allied Mobile Force) zur Verhinderung bzw. Eindämmung von kleineren Konflikten (small wars), in denen auch G-91-Verbände eingesetzt wurden. So etwa bei der Übung Sunshine Express (Sommer/Herbst 1967), die ein rasches Eingreifen in Südosteuropa simulierte. Da die G-91 noch immer nicht über Blindflugeigenschaften verfügte, musste der Verband Schlechtwettergebieten ausweichen, was wegen der geringen Reichweite der Maschine wiederum zu zahlreichen Umwegen und untragbaren Zwischenstopps, insgesamt sechs, führte. Der Verband kam mit erheblicher Verspätung im angenommenen Einsatzgebiet an. Diese Probleme versuchte man u.a. mit der Bestellung von Zusatztanks zu lösen. Damit ließ sich die Reichweite erhöhen, und mit der verbesserten Navigationsausrüstung hätte man dann befriedigende Ergebnisse erzielen können. Dies jedoch stieß an die Grenzen der Sicherheitsmargen, wie sie der Hersteller festgelegt hatte. Im Ernstfall hätte man vor der Wahl gestanden, entweder die Tanks nicht ganz aufzufüllen oder einen Teil der Waffen auf der Basis zurückzulassen. Bei abrupten Wendemanövern auf dem Boden oder bei Startabbruch mit voller Zuladung drohte der Bruch des Fahrwerks. Nach einigen Verhandlungen hatte man eine Erhöhung des Maximalgewichtes auf 5750 kg erreicht. Um die erforderliche Höchstlast von 5850 kg entbrannten Diskussionen mit Fiat, da Fü L Verdacht auf Profitinteressen schöpfte. Offensichtlich wollte Fiat ein neues Fahrwerk verkaufen. Man stand vor der Wahl: entweder eine sichere Variante wählen, dafür aber Einbußen in der Kampfkraft hinnehmen, oder aber die technischen Risiken als begrenzt einstufen (scaling-down). Fü L wählte das Letztere und führte an, dass eigene Versuche gezeigt hätten, dass ein Startge-
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Zum Folgenden vgl. grundsätzlich ebd., BL 1/4536: Größere Zusatztanks für Fiat G-91, Sachstandsbericht vom 6.11.1967, mit zahlreichen Begleitdok. (u.a. auch Leistungstabellen G-91 bei verschiedenen Rüstzuständen). Ebd., BL 1/4029: Fü SIX 6 an Fü L III 1, Streitkräftevergleich NATO - Warschauer Pakt, vom 26.2.1969.
VI. Die Beschaffung der Waffen
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wicht von sogar 5950 kg noch vertretbar sei 337 . Wirklich eindeutige Sicherheit gerade für den Ernstfall besaß man nicht und musste auf weitere Untersuchungen des BWB warten 338 . Auch ohne diese Probleme waren die Standardparameter schon bescheiden genug. Mit der maximalen Zuladung von einer Tonne konnte die G-91 von den Hauptbasen (Rückhaltehorste bzw. Main Operation Bases) im Tiefflug noch nicht einmal die Grenze zur DDR erreichen. Für ein Eindringen in deren westliche Randgebiete mussten 500 kg an Kampfmitteln auf der Basis zurückgelassen werden 339 . Von den vorgeschobenen Basen aus erreichte man in etwa die Mitte des Staatsgebietes der DDR, nicht aber Berlin. Diese Einschränkungen gefährdeten eines der Hauptmerkmale der Luftwaffe, die taktische Flexibilität. Die Verbände konnten nur in begrenzten Abschnitten, d.h. hauptsächlich im unmittelbaren Vorfeld der NATO-Heereskräfte, in deren rückwärtigem Gebiet sie angesiedelt waren, kämpfen 340 . Bei Angriffen in örtlich konzentrierter Form, wie sie nach der Flexible Response ja angenommen wurden, möglicherweise auch bei Durchbrüchen, mussten die leKG möglicherweise über die ATAF-Grenzen hinweg zusammengefasst werden. Dies ließ sich nur bewerkstelligen, wenn die zu verlegenden Geschwader komplett umdisloziert wurden. Die ATAF-Befehlshaber hatten dies bemerkt und die Aufstellung von entsprechenden Verlegeplänen über die ATAF-Grenzen hinaus verlangt 341 . Die deutschen Kommandobehörden sahen hierbei keine grundsätzlichen Probleme; aber niemand konnte sagen, ob die Prozedur im Ernstfall nicht zu entscheidenden Zeitverlusten führen würde. Zudem waren die vorgeschobenen Basen durch feindliche Angriffsverbände zu Lande und aus der Luft mehr als gefährdet. Die G-91 erfüllte insgesamt die Erwartungen, die man in sie gesetzt hatte, nicht. Wie Krupinski schon 1964 in klaren und knappen Worten darlegte, hatte man versucht, Kampfkraft und Schutz vor Atomschlägen mittels eines Kompromisses vereinen zu wollen, war dabei aber letztlich gescheitert: »Ein Waffensystem (G-91), dessen Leistungsschwäche (geringere Reichweite und Zuladung) zugunsten einer besseren Uberlebenschance am Boden in Kauf genommen werden mußte, wird z.Z. in die Luftwaffe eingeführt, und es ist kein Geheimnis mehr, daß die Forderung zur Verbesserung der Überlebenschance am Boden infrastrukturell, materiell und personell nicht durchführbar ist 342 .«
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Ebd., BL 1/1622: Fü L III 1, Blauer Brief 1/68, Das Waffensystem Fiat G-91, vom 13.3.1968 (gleichzeitig Vortrag vor AFCENT, 2. ATAF, 4. ATAF und Vertretern von BALTAP und AIRBALTAP), S. 14. Ebd., BL 1/4536: BWB, Fahrwerksfestigkeitsuntersuchungen, vom 4.7.1960. Ebd., BL 1/1622: Fü L III 1, Blauer Brief 1/68, Das Waffensystem Fiat G-91, vom 13.3.1968 (gleichzeitig Vortrag vor AFCENT, 2. ATAF, 4. ATAF und Vertretern von BALTAP und AIRBALTAP), S. 3 8 - 4 1 . Ebd., S. 17 ff., und Zielraumkarten, S. 40 f. BA-MA, BL 1, LwGrp Nord, Verlegung von G-91 der LwGrpN in den Bereich LwGrpS, vom 22.7.1966 mit Begleitdok. Ebd., BL 1/900: Fü L II 4, Stellungnahme zur Planung der Luftangriffskräfte ab 1971 (Studie Fü L II 7) vom 6.4.1964, S. 2 f.
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Bernd Lemke: Konzeption und Aufbau der Luftwaffe
Übrig geblieben war eine Maschine, die sich für die modernen Bedingungen eines Hauptschlachtgebietes in Mitteleuropa als eine halbe bis eine Nummer zu klein erwies. Dies stand wohl auch hinter der US-Haltung zur G-91. Die Amerikaner hatten zwar an der Entwicklung der Maschine mitgewirkt und auch einige Exemplare in den Vereinigten Staaten getestet343, darin aber ihr Desinteresse bekundet. Neben den erkannten und auch benannten Mängeln im technischen Bereich besaß die G-91 den Verantwortlichen der USAF offensichtlich zu wenig Kampfkraft. Dazu kamen Kompetenzstreitigkeiten zwischen Heer und Luftwaffe um die Zugehörigkeit der Maschine und der tödliche Unfall des bekanntesten Testpiloten der G-91344. Im Hintergrund standen aber auch konzeptionelle Unterschiede in der taktischen Einsatzdoktrin. Die USAF brachte ihre Kräfte in den 60er/70er Jahren und auch danach auf breiter Basis rollend an den Feind. Dabei kamen zentral gelenkte Führungsmittel mit erheblichem elektronischen Aufwand - gewissermaßen nach dem Leitsatz »klotzen statt kleckern« - massiv zum Einsatz345. Die Europäer, auch die Briten, verlegten sich demgegenüber aus ihren Erfahrungen und wegen ihrer schwachen Leistungsbasis auf gezielte sparsame Schläge, auch wenn diese einen vergleichsweise hohen organisatorischen Aufwand erforderten. Dem entsprachen auch teils erhebliche Unterschiede in den Auffassungen über Organisation und Logistik. Aus Sicht der Europäer, insbesondere auch der deutschen Luftwaffe, ersetzten die Amerikaner Führungskunst und Effizienz im Einsatz der beschränkten Mittel durch verschwenderischen Großverbrauch mit fast zivilen Managementmethoden. Aus US-Sicht war gerade dies aufgrund der höheren Gesamtschlagkraft der Schlüssel zum Erfolg. Maschinen für die direkte Heeresunterstützung, wie die G-91, stellten aus dieser Perspektive nicht gerade geeignete Kampfmittel dar. Ab Mitte der 70er Jahre trat dann allerdings eine gewisse Änderung ein, als die USAF ein Hochleistungsflugzeug für den Close Air Support einführte, die Fairchild A-10 Thunderbolt II, die v.a. hinsichtlich Leistungsfähigkeit, Zuladung und Reichweite der G-91 über eine Generation voraus war346. Die Geschichte der G-91 endete vergleichbar der der F-104, allerdings auch hier unspektakulärer. Als sich die Senkrechtstarterpläne Ende der 60er Jahre zerschlagen hatten, entschied man sich für ein Nachfolgemodell mit Kurzstarteigenschaften. Man gedachte kurzzeitig, den Tornado (NKF) für alle Angriffsgeschwader zu kaufen, sah aber aus »technischen, operationellen, zeitlichen und finanziellen Gründen« davon ab. Es erwies sich aufgrund der strukturellen und technischen Abhängigkeiten als praktisch unmöglich, die auf ein leichtes 343
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Ebd., BL 1/681: Fü L II 4, Aktenvermerk über eine Besprechung Colonel Driscoll, SHAPE, und Otl i.G. Kahler Fü L II 4 in Erding am 8./9.12.1960. Hoeveler, Fiat G-91, S. 95. Dr. Steven L. Canby, Air University Review, May-June 1979, Tactical Air Power in Armored Warfare, the divergence within NATO, (20.10.2003), URL: , passim (Kopie der Website bei B.L.). National Museum of the United States Air Force, Fairchild A-10A Thunderbolt II, (15.12.2004), URL:
(Kopie der Website bei B.L.).
Futuristische Projekte vor dem Hintergrund nuklearer Massenangriffe: der Ringflügler Coleopter C 450 Otto
Ε Pabst.
Kurzstarter
und Senkrechtstarter
S.
T88
J&JIP
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Bernd Lemke: Konzeption und Aufbau der Luftwaffe
Waffensystem zugeschnittenen Verhältnisse für die Aufnahme des schweren Jagdbombers Tomado zu ändern, wenn man die Kampfbereitschaft nicht ernsthaft gefährden wollte347. Es musste ein Flugzeug mit vergleichbaren Spezifikationen wie die G-91 beschafft werden. Die Wahl fiel auf den Alpha Jet, für den bereits am 23. Juli 1970 mit den französischen Rüstungsdirektoren ein Entwicklungsabkommen auf der Basis einer Gemeinschaftsproduktion der Firmen Dassault/Breguet und Dornier geschlossen wurde. Die G-91 blieb noch bis 1982 im Dienst348. Lehren für Struktur, Einsatzkonzeption und Bewertung der Technik Letztlich hatte die deutsche Luftwaffe im Falle der Fiat G-91 wie bei der F-104 erhebliches Lehrgeld beim Einstieg in die Produktion und Indienststellung von Waffensystemen aus eigener Fertigung bzw. Lizenzbau zu bezahlen. Die Logistiker in Fü L, die wie bei zahlreichen anderen Gelegenheiten betonten, wieder einmal nicht von Anfang an gefragt worden zu sein, erstellten eine realistische, teils auch schonungslose Bilanz der Missstände und Defizite. Als Grundübel der Verhältnisse erkannte man, zu Recht, die hektische, teils ungerichtete Beschaffungspraxis unter der angenommenen Bedrohung, die die logistischen und organisatorischen Grundprinzipien für den Betrieb einer modernen Luftwaffe, wie sie nicht erst seit 1955 bekannt waren, in massiver Weise verletzten. Vor allem hatten sich die Verantwortlichen in ungenügender Weise der Realität gestellt, als sie praktisch vom Reißbrett und vom grünen Tisch die Ausrüstung der Maschine festgelegt hatten, ohne vorherige Erprobungen und Truppenversuche349. Aus solchen Defiziten erwuchsen dann wenig erbauliche Alternativen, wie die der Entscheidung zwischen rechter Kanone oder Instrumentenflugtauglichkeit. Wie schon bei der F-104 erwies es sich als absolut unerlässlich, von Anfang an eine integrierte Planung unter Einbeziehung aller Führungsgebiete und -ebenen aller Sparten aus allen beteiligten Nationen zu initiieren. Auch hier galt das Prinzip: »Jeder muss zu jeder Zeit alles wissen.« Gleiches galt für die Einführung moderner Managementprinzipien mit einem, wenigstens teilweise entscheidungsberechtigten Koordinator an der Spitze. Es ist sowohl für sein Fehlen als auch das herrschende Informationsdefizit bezeichnend, dass das BWB, als es die Unterrichtung des Systembeauftragen G-91 forderte, von Fü L erfahren musste: »Gibt es nicht350!« 347
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BA-MA, BL 1/6724: Erarbeitung der Entscheidungsgrundlagen für den Umrüstplan der Luftwaffe vom 25.8.1970, S. 2 f. Auch zum Folgenden. Hoeveler, Fiat G-91, S. 95. BA-MA, BL 1/924: Fü L V1, Entwicklung eines Kampfaufklärungsflugzeuges, leicht, V/STOL (Nachfolgemuster G-91), vom 19.3.1964. Auch in: BL 1/1321, dort auch Vorschläge zur Gestaltung einer rationellen Methode bei der Einführung der VTOL-Nachfolgemodelle (Management, analytische Methoden bei der Grundgestaltung der Beschaffung, angemessene Berücksichtigung der Log.): Operations Research Gruppe der IABG an Fü L IV 1 vom 19.5.1965. Ferner BL 1/1269: Vortrag BG Gentsch, Fü L V, bei Gen.Besprechung der Luftwaffe, Lw-Log., vom 28.4.1964, S. 15. Ebd., BL 1/4536: BWB, Fahrwerksfestigkeitsuntersuchungen, vom 4.7.1968. (Der Kommentar entsprach den Tatsachen. Zwar weitete man die Kompetenzen des Systembeauf-
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Die gesamte Problemlage wird erst deutlich, wenn man einen weiteren Themenkreis mit einbezieht, den der Organisation der Technik in den Geschwadern. Die Organisation der deutschen Geschwader war schon im Rahmen der F-104-Verbände Thema heftiger Kontroversen gewesen, wobei die USAF als Folie immer eine große Rolle spielte351. In diesem Zusammenhang ging es darum, wie die Technik in den Geschwadern zu organisieren sei. Die Frage kulminierte anlässlich der Umrüstung der beiden Jagdgeschwader zu den leKG 42 und 43352. Als Jagdgeschwader hatten diese nämlich gemäß den Erprobungen Anfang der 60er Jahre drei Gruppen (= Bataillone): eine fliegende, eine technische und eine Fliegerhorstgruppe. Die G-91-Geschwader waren STAN-mäßig mit nur zwei Gruppen ausgestattet, der fliegenden und der Fliegerhorstgruppe. Nach dem ursprünglichen Konzept war man davon ausgegangen, dass das Geschwader ohnehin auseinandergerissen und in Schwärme aufgeteilt würde, so dass eine zentrale Regelung der Technik nicht nötig, ja sogar hinderlich sein würde. Hier stand immer noch das Bild einer maximal flexiblen und schlagkräftigen Truppe im Vordergrund, die ständig in der Luft ist und durch raschen schwerpunktmäßigen Einsatz auch einen wesentlich stärkeren Feind zu schlagen im Stande ist. Darauf basierte auch das Initialkonzept der G-91. Dass derlei angesichts der erheblich gestiegenen Bedeutung der Technik und der massiven Probleme mit den modernen Waffensystemen, gerade auch der G-91, möglicherweise nicht mehr den modernen Anforderungen gerecht wurde, bestritten die Vertreter dieser Linie. Als Gegenbild erschienen die logistikorientierten Vorstellungen der Versorgungsabteilungen des Luftwaffenamtes und vor allem auch der zivilen Industrie. Dort vertrat man mit Verweis auf die Verhältnisse bei der USAF die Meinung, dass es die Komplexität der Waffensysteme zwingend erforderte, die gesamte Technik in einer zentralen Einheit, eben der technischen Gruppe, zusammenzufassen und dort managementmäßig zu steuern. Dies sei auch deshalb
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tragten F-104 ab 1967 auf, indem m a n ihn als Systembeauftragten für »fliegende Waffensysteme im Bereich des Verantwortungsbereiches der Luftwaffe« ernannte. Eigene Referate erhielten jedoch hier n u r die F-104, die Transall, die Bell UH-1D, die Phantom und später das NKF. Die G-91 w u r d e dabei nicht berücksichtigt u n d w u r d e - wenn ü b e r h a u p t - offenbar nur nebenbei mitbearbeitet. BW 1/ORG 1/6: Organisationspläne BMVg vom 1.4.1967, Bl. 7, vom 15.1.1968, Bl. 7, vom 1.3.1969, Bl. 7.) Ähnlich defizitär war die allgemeine Informationslage zwischen den Abteilungen bei >einfachen< technischen Koordinationsorganen. Man besaß bis 1963 immer noch kein technisches Büro. BL 1/906: LWA, Inspektion Kampfverbände, Detaillierter Technischer Bericht über die Untersuchung der technischen Einsatzbereitschaft der WSLw 50, Erding, vom 8.11.1963, S. 11. Für die Beschaffung der F-104 hatte man ein solches errichtet. Dazu die ausführliche Dok.-Sammlung, in: BA-MA, BL 1/197: Zusammenfassung der Technik in den Geschwadern, vom 10.11.1959 (erstes Dok. im Ordner) und Luxenburger, Der Weg zur Technischen Gruppe, S. 90-100. Z u m Folgenden BA-MA, BL 1/1633: Fü L II Führungs- und Einsatzgrundsätze für das Waffensystem G-91, vom 18.4.1968, mit Fü L II 2, Stellungnahme dazu vom 29.5.1968; BL 1/4518: Fü L IV, Besprechungsprotokoll·. Einführung der rationalisierten, zentralisierten Technik in G-91-Verbänden (leKG), 1.8.1968 (Basis: LWA, InVersTrTLw- Studie G-91 vom März 1968). Zahlreiche Begleitdok.
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geboten, weil die Staffelkapitäne auf keinen Fall in der Lage seien, die komplizierte Technik quasi neben ihren Hauptaufgaben, insbesondere der Einsatzführung, ebenfalls zu bedienen. Implizit klang hier, nicht zu Unrecht, der Vorwurf mit, dass ältere Luftwaffenoffiziere die Zeichen der Zeit immer noch nicht erkannt hatten. Maschinen wie die G-91 und die F-104 konnten keinesfalls mehr mit einem Minimalaufwand betrieben werden, wie dies damals mit den Propellerjägern geschehen war. Das sog. Me-109-Denken zählte in dieser Lesart als rückwärtsgewandtes Wunschdenken. Damit konnte man sich indes vorläufig nicht durchsetzen. Die Geschwaderorganisation blieb einstweilen wie sie war, d.h., eine technische Gruppe wurde nicht aufgebaut. Derlei Diskussionen zeigten, wie sehr Kontinuitäten aus der Zeit bis 1945 und neue Erfahrungen aufeinander trafen. Die deutsche Luftwaffe orientierte sich zumindest teilweise aufgrund der anfänglichen materiellen Abhängigkeit von der USAF organisatorisch, insbesondere in den logistischen und ausbildungstechnischen Detailstrukturen, an Letzterer353. Dies bedeutete jedoch nicht, dass hier eine Einbahnstraße bestand. Gerade die konservativen Offiziere weigerten sich, die in ihren Augen in Unterlegenheitssituationen unerfahrenen Amerikaner stets und in allen Dingen als Vorbild zu akzeptieren. Gestärkt wurde dies durch die Verfahrensweise der politischen Führung, insbesondere durch Strauß, der sich nicht von fremden Industrien abhängig machen wollte und stattdessen begann, einen eigenen Weg für Entwicklung, Produktion und Organisation zu beschreiten. Umgekehrt kam man jedoch an der Tatsache nicht vorbei, dass man nicht zuletzt auch u.a. im Ergebnis dieser Sichtweise mit den neuen Waffensystemen teilweise Schiffbruch erlitten hatte. Hier wie schon in vielen anderen Zusammenhängen erwies sich aufs neue, dass gerade die Luftstreitkräfte und ihre Waffensysteme in entscheidendem Maße ständig darauf angewiesen sind, über den eigenen Tellerrand hinauszublicken, sei es in Bezug auf die Entwicklungen bei Verbündeten, sei es durch Beobachtung potenzieller Gegner. Nirgendwo wirkten und wirken sich Defizite so stark, teils sogar verhängnisvoll aus wie beim Kampfinstrumentarium, in Sonderheit den bemannten Komponenten.
b) Dead End Road: Verlauf und Scheitern der deutschen Senkrechtstarterprojekte Wie unzureichend das Beschreiten rein nationaler Wege geworden war, zeigte sich auch bei den letzten großen rein deutschen Militärflugzeugprojekten und deren Scheitern: bei den Senkrechtstartern. Deren Geschichte leitete endgültig die Etablierung der internationalen Rüstungskooperation ein, trug dabei zu einer allgemeinen Ernüchterung hinsichtlich der Möglichkeiten der Technik bei und machte allen Beteiligten deutlich, wie umfassend man planen musste. Sämtliche Faktoren, Strategie, militärische Planung, Forschung, Logistik, Wirt353
Dazu Schmidt, Von der Befehlsausgabe, passim.
VI. Die Beschaffung der Waffen
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schaft, Organisation u.a.m., mussten von Anfang an mit einbezogen werden. Im Laufe der Zeit entstand dabei das, was inzwischen als militärisch-industrieller Komplex bezeichnet wird354. Die technologischen Grundprinzipien Die Anfänge des Senkrechtstarters sind fast so alt wie die militärische Luftfahrt selbst. Schon vor dem Ersten Weltkrieg gab es Ausarbeitungen zum Bau von Flugzeugen, die ohne Startbahn bzw. mit nur kurzer Anlaufstrecke starten und landen konnten355. Im Laufe der Zeit, insbesondere seit der Zunahme der allgemeinen Aufrüstung in den 30er Jahren, wurden in fast allen Industriestaaten entsprechende Modelle entwickelt und teilweise auch gebaut356. Man unterschied dabei zwischen zwei Grundarten: - den reinen Senkrechtstartern, also Flugzeugen, die vollkommen ohne Startbahn auskamen. Sie rangierten dann unter der Bezeichnung VTOL (Vertical Take Off or Landing). - den Kurzstartern. Darunter fielen Flugzeuge, die noch auf traditioneller Starttechnik mit Anlauf und Ausnutzung des Luftauftriebes infolge der Beschleunigung basierten. Durch spezielle Vorrichtungen, so z.B. leichte Bauweise oder auftriebfördernde Klappen, konnte jedoch die Startstrecke minimiert werden. Diese Maschine bezeichnete man als STOL-Flugzeuge (Short Take Off or Landing). Die Kurzstarter benötigten im Gegensatz zu den Senkrechtstartern noch Rollbahnen. Wenn diese im Falle eines massiven feindlichen Angriffs zerstört wurden, blieben sie am Boden. Im Unterschied zu den Senkrechtstartern stellten sie aber erheblich geringere Anforderungen an die Technik, weil sie beim Start mit dem Luftauftrieb arbeiteten. Die Senkrechtstarter mussten dagegen sämtliche Energie für den Aufstieg aus der Triebwerkleistung beziehen, was große Anforderungen an die Konstrukteure stellte, dies insbesondere vor dem Hintergrund der hohen Leistungserwartungen der Militärs an die Kampfstärke, vor allem in Bezug auf Wendigkeit, Stabilität, Zuladung und Geschwindigkeit. Die Senkrechtstarter leiden bis heute an der Notwendigkeit, hohe Energiemengen und damit auch einen großen Teil des Startgewichts einzig und allein für den Start aufbringen zu müssen. Waren die Senkrecht- oder Kurzstarter im Zweiten Weltkrieg noch eher als Spezialflugzeuge angesehen worden, rückten sie in den 50er Jahren rasch ins 354
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Buckley, Air Power, S. 200. Für die Forderung nach integrierter großangelegter Rüstungsplanung bei Fü Β vgl. BA-MA, BL 1/11151: Dt.-franz. GenSt-Besprechungen 18./19.6.1964, Vortrag Fü Β III 3: Langfristige Planung der Bewaffnung und Ausrüstung der Bundeswehr vom 8.6.1964, S. 12. Pabst, Kurzstarter und Senkrechtstarter, S. 10 f. Erste Ideen zur Ringflügeltechnik, einer möglichen Variante für VTOL-Maschinen, siehe BA-MA, BW 1/347443, Niederschrift über eine Besprechung mit Arentoft, Leiter der Patentabteilung, Fa. Heinkel, Stuttgart über Ringflügelideen seit 1911, vom 28.10.1958 und W I 5, Vermerk, Vertrag mit SNECMA vom 15.10.1958. Für die dt. Entwicklungen siehe Pabst, Kurzstarter und Senkrechtstarter, S. 19-97, 124 f. und 166-179.
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Zentrum des Interesses. Die USA hatten schon im Koreakrieg erkannt, wie sehr man Kampfmaschinen benötigte, die mit wenig logistischem und infrastrukturellem Aufwand betrieben werden konnten. Als dann abzusehen war, dass die Sowjetunion in der Lage sein würde, mit einem massiven Atomwaffenaufgebot anzugreifen, sah sich die NATO vor die Notwendigkeit gestellt, ihre eigenen Kampfverbände soweit wie möglich der Vernichtung zu entziehen. Eine Methode war das Verstecken der Einheiten in entlegenen Gebieten, etwa Wäldern, um sie von den Hauptzerstörungszentren fernzuhalten. Ob derlei für die Bundesrepublik angesichts der Dichte des Territoriums und der anzunehmenden Waffenstärke überhaupt realistisch war, konnte man und kann man auch heute nicht wirklich abschätzen. Die Verantwortlichen damals glaubten jedenfalls, wenigstens die Zerstreuungs- und Schutzmöglichkeiten bis zum Äußersten nutzbar zu machen. Der militärische VTOL auf Jetbasis ist ein Kind der Massive Retaliation. Konzeption und Einsatzprofil Die NATO forderte deshalb sehr früh eine sog. NBMR (NATO Basic Military Requirement), eine Konzeption für senkrechtstartende Kampfflugzeuge als Nachfolger für die G-91 und den Starfighter. Die einzelnen Partnerstaaten beteiligten sich an den Planungsentwürfen und erstellten zusätzlich Forderungen aus ihrer nationalen Sicht. Auch die deutsche Luftwaffenführung wurde entsprechend tätig und erarbeitete im Jahre 1962 spezielle Studien, die schließlich mit Nachfolgeempfehlungen für die F-104 und die G-91 abgeschlossen wurden 357 . Wie schon bei der Studie Offensive Verteidigung besaß man recht genaue Vorstellungen über das Zielspektrum und ging in der Folge von zwei Kampfräumen aus. Kampfraum I war in erster Linie für die direkte Heeresunterstützung (Close Air Support) vorgesehen und sollte das Frontgebiet abdecken. Für die Bekämpfung der feindlichen Luftwaffe (Counter Air) und die Abschnürung des Gefechtsfeldes (Interdiction) sah man den Kampfraum II vor. Einige wenige Ziele lagen noch weiter östlich, die im Bedarfsfalle ebenfalls angegriffen werden konnten, dann allerdings den Verlust von Flugzeugführer und Maschine nach sich zogen, da für eine Rückkehr der Treibstoff nicht mehr ausreichte. Als maximale Kampfreichweite legte man 600 nm fest. Man forderte zwei bemannte Waffensysteme, um den Anforderungen an eine taktische Luftwaffe im Nuklearzeitalter gerecht werden zu können, einen leichten Typ vornehmlich für Kampfraum I (Aktionsradius 160-170 nm bei 11 Waffenzuladung) und einen schweren für Kampfraum II (Aktionsradius 280-290 nm bei 11 Nutzlast), der
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Zum Folgenden vgl. BA-MA, BL 1/1753: Fü L II 1 an Min., Studie über die Auswahl von VTOL-Waffensystemen vom 15.10.1962, mit Zielkarten und -katalog. Das Gleiche in: BL 1/14697: Vortrag Otl Dr. Meier vor der Advisory Group for Aeronautical Research and Development, Derivation of German Military Requirement for V/STOL Weapon Systems vom 1.9.1964. Inhaltsgleich auch BL 1/4544: US/German Discussion Panel on Advanced V/STOL A/C Requirements, Session I, vom 14.12.1964.
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gleichzeitig Nachfolger der F-104 sein sollte. Beide Maschinen sollten Atomwaffen mit einer Sprengkraft von bis zu 500 Kilotonnen mitführen können. Die konzeptionellen Setzungen basierten auf der formellen NATO-Ausschreibung (AC 169) und wiesen gegenüber den Vorgängermodellen bis auf die Erhöhung der Leistungsforderungen kaum Änderungen auP58. Man hatte auf beiden Planungsebenen die bestehenden Verhältnisse schematisch fortgeschrieben. Dies war nicht gerade ein Beweis für die militärische Flexibilität des Bündnisses. Allerdings sah man nun aufgrund der technischen Fortschritte zusätzlich Boden-Boden-Raketen vor, glaubte aber dennoch nicht, auf den schweren bemannten Kampftyp verzichten zu können, da man annahm, dass ein nicht zu unterschätzender Teil der Ziele für die Interdiction beweglich sein würde. Der Gegner würde bei Kriegsbeginn die Interdiction-Linie nach Westen zu unterlaufen suchen, um der atomaren Vernichtung zu entgehen. Gedacht war beispielsweise an eine motorisierte Einheit, eine Division, die sich im rückwärtigen Gebiet befand und dann rasch ins Frontgebiet vorrücken würde, um den nuklearen Interdiktionskräften der NATO zu entkommen. Für solche Fälle musste flexibel reagiert werden können. Mit Boden-Boden-Raketen wie der Pershing konnte man nach Meinung großer Teile von Fü L nur unbewegliche Ziele wie Bahnanlagen und große Befehlszentren angreifen. Die konkreten Aufstellungsplanungen waren schon vor diesen Studien angestellt worden und beinhalteten einen leichten und einen schweren Typ359. Die Stückzahlen des schweren Typs (F-104-Nachfolger) kürzte man dann in der Folge wegen der komplexen Ausstattung und des damit verbundenen hohen Aufwandes entscheidend360. Man konnte sich derlei Maschinen in großen Serien schlichtweg nicht mehr leisten361. Das Konzept und auch die entsprechende Planungsrichtung stieß bei Krupinski, der zu dieser Zeit das Referat für die taktischen Angriffsverbände (Fü L II 4) innehatte, auf heftigen Widerspruch362. Er vertrat nach wie vor das Prinzip maximaler taktischer Freiheit für die Luftwaffe und kritisierte deshalb insbesondere die Forderung nach einem leichten Erdkampftyp. Stattdessen verlangte er einen einzigen Kampftyp mit der Fähigkeit zur Mehrzweckverwendung. Krupinski schlug dazu die F-104 mit Zero-Launch-Fähigkeit und verbesserten Uberlebensvorkehrungen am Boden vor, eine Forderung, die von 358
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Ebd., BL 1/14652: Tgb. InspLw, Eintrag vom 19. und 13.10.1961, Technisch/taktische Forderungen der dt. Luftwaffe für AC 169. Ebd., BL 1/1908: Fü L/Fü L II, Langfristige Planung, vom 21.2.1962. Zus. BL 1/4897: Fü Β IV, Weiterer Aufbau der Bundeswehr vom 29.5.1962. Folgedok. Ebd., BL 1/4897: Fü L III 1, Endplanung der Bundeswehr und Zwischenziele 1965/66, hier Lw, vom 12.11.1962. Dazu BL 1/14653: Tgb. InspLw, Eintrag vom 22.11.1962. Vgl. dazu etwa ebd., BL 1/3505: Chef Stab S an S III u.a. (u.a. auch Fü L III), Vortrag Fü L beim Min. über Luftwaffen-Konzeption für die 70er Jahre, vom 11.8.1966, S. 2. Zum Folgenden vgl. ebd., BL 1/900: Fü L II 4 (Krupinski) im Fü L II 7, Stellungnahme zur Planung der Luftangriffskräfte, vom 6.4.1964; BL 1/1321: Fü L II/Fü L II 7, Nachbesprechung der Min.-Vorlage über Planung der Luftangriffskräfte bis 1976, vom 28.1.1964, mit Aktennotiz über die Besprechung (stattgefunden am 3.2.1964).
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seiner Tätigkeit als Kommodore des JaboG 33 und der Begeisterung für den Starfighter herrührte 363 . Die Ernüchterung über die praktische Undurchführbarkeit der Mehrzweckverwendung hatte außerdem noch nicht richtig gegriffen. Die F-104 sollte die meisten Aufgaben, auch die für die Heeresunterstützung, übernehmen. Die G-91, die Krupinski als viel zu leistungsschwach ansah und deren Konzept ihm aus den logistischen und infrastrukturellen Begrenzungen der Luftwaffe nicht realisierbar erschien, war ab Anfang der 70er Jahre auszusondern und sollte durch die F-104 ersetzt werden. Anschließend wäre ein weiterer, noch schwererer Typ einzuführen gewesen (z.B. F-lll), der besondere Hochleistungsaufgaben zu erfüllen gehabt hätte. Krupinski konnte sich mit seinem Schwerkampfkonzept dann zwar nicht durchsetzen, sollte aber mit seinem Misstrauen gegen die Senkrechtstarter Recht bekommen. Das Scheitern der internationalen Rüstungskooperation Hinsichtlich der Umsetzung der Projekte kam man inzwischen in keinem Fall mehr um die Beteiligung anderer Partnerstaaten und deren Industrien herum. Dies galt insbesondere für den schweren VTOL-Typ (Gewicht ab 14 bis zu 201). Dessen Ausstattung, die insbesondere durch die Zusatzanforderungen für den Senkrechtstart noch kompliziert wurde, war nicht mehr rein national zu entwickeln und einzuführen 364 . Man entschloss sich nach etlichen Gesprächen letztlich zur Zusammenarbeit mit den Amerikanern und gründete eine Entwicklungsgruppe für das sog. AVS (Advanced V/STOL)-Flugzeug, der dann jedoch kein Erfolg beschieden sein sollte365. Der leichte Typ dagegen konnte gerade noch in eigener Regie gebaut werden, weshalb man auch größeren Spielraum besaß366. Dennoch hatte man Anfang der 60er Jahre zusammen mit den USA und Großbritannien ein gemeinsames Projekt begonnen, das auf der britischen VTOL-Technik basierte367. Die Firma Hawker hatte die P.1127 entwickelt, die am 21. Oktober 1960 ihren Erstflug absolvierte368. Diese Maschine war vor allem deshalb so interessant, weil sie ein sehr fortschrittliches Triebwerk besaß, die Bristol Pegasus-Turbine. Diese 363
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Krupinski war einer der ersten Piloten, die auf der F-104 ausgebildet wurden, und zählte nach Berichten aus interessierten Kreisen zu ihren begeisterten Befürwortern. Air University Maxwell, »eaglebios«, (15.12.2004), URL: http://www.au.af.mil/au/goe/eaglebios/ 95bios/krupin95.htm (Kopie der Website bei B.L.). BA-MA, BL 1/14653: Tgb. InspLw, Eintrag vom 9.11.1962 Entscheidung InspLw nach Vortrag Ο i.G. Büchs zum Thema Einführung VTOL-Waffensystem, Punkt 6. Dazu unten, S. 417-419. BA-MA, BL 1/1321: Fü L II/Fü L II 7, Nachbesprechung der Min.-Vorlage über Planung der Luftangriffskräfte bis 1976, vom 28.1.1964, mit Aktennotiz über die Besprechung (stattgefunden am 3.2.1964). Ebd., BL 1/897: Schreiben von R.A.Bradly, Chief Air Force Section, MAAG, an Panitzki mit Sachstandsbericht über Zusammenarbeit USAF - GAF vom 15.1.1964, S. 23. Vgl. dazu auch ein Initialdok. in: BL 1/111. Zur Entwicklung der P.1127 (Kestrel - Harrier) vgl. im Folgenden, wo nicht anders angegeben, Militärische V/STOL-Technik; Gütschow, Als die Jets das Schweben lernten, S. 91; Wallis, Amerikas Harrier; Gütschow, Senkrecht-Starter; Redemann, Aus dem Stand; Leihse, Feuerprobe.
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verband die unvermeidliche Hubkomponente mit dem Vorwärtsschub durch schwenkbare Düsen und machte so reine Hubtriebwerke überflüssig 369 . Schwere leistungsarme VTOL-Antriebskomponenten gehörten damit der Vergangenheit an. Die P.1127 (Kestrel) war der direkte Vorläufer der Harrier, dem bis heute einzigen Senkrechtstarter, der als Serienflugzeug zum Einsatz gelangte. Die drei Partner arbeiteten bis Mitte der 60er Jahre zusammen und stellten 1964/65 auch eine Tripartite Evaluation Squadron zusammen, die auf der RAFBasis Raynham in Norfolk/England bis 1966 ausgedehnte Testprogramme durchführte 370 . In der Zwischenzeit entstanden dann jedoch unüberbrückbare Gegensätze, die weniger von konzeptionellen Unterschieden herrührten als eher ein Zeichen der Uneinigkeit über die rüstungswirtschaftliche und die finanzielle Seite, der alten Krankheit der NATO-Partner, waren371. Das deutsche Verteidigungsministerium zeigte sich durchaus an der Weiterentwicklung der P.1127 zur Serienmaschine interessiert, bestand aber auf einer weitestgehend gemeinsamen Projektierung 372 . Dagegen verlangte Hawker gesonderte Lizenzgebühren. Die deutsche Seite fand die entsprechenden Forderungen viel zu hoch und fürchtete außerdem das Entstehen von Präzedenzfällen. Nach deutschem Verständnis waren anders als in Großbritannien die Ansprüche der Entwicklungsfirma weitgehend abgedeckt, wenn es zur Serienfertigung mit einer entsprechend großen Gewinnmarge kam373. Alle Einigungsbemühungen blieben aber erfolglos, da sich die deutsche Seite letztlich schon Mitte 1961 auf eigene Entwicklungen festgelegt hatte. Dafür stand mit der Fw 1262 auch bereits ein entsprechendes Projekt zur Verfügung, die spätere VAK-191 B374. Diese hatte man gegenüber den Briten noch vor dem Erstflug der P.1127 als Alternative beim Ν ΑΤΟ-Ausschreibungsverfahren für den Nachfolger der G-91 als Light Weight Strike Fighter vertreten. Insbesondere Strauß hatte hier vehement auf einer rein nationalen Linie bestanden, aber auch Kammhuber verlegte sich dabei auf die kompromisslose Ablehnung des briti-
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De facto stand am Anfang die Entwicklung des Triebwerks, die ursprünglich auf die Idee eines Franzosen zurückging. Die Harrier wurde gewissermaßen um diese Turbine herumgebaut. Dazu auch BA-MA, BL 1/1816: Dok. zur Entwicklung der Ρ 1127 (Harrier-Vorläufer), u.a. Abstellung von Offz. nach London, Dok. ab 1962. Die Zusammenarbeit wurde am 28.2.1966 eingestellt. BL 1/4508: Auflösungsbefehl für Lw-Erprobungskdo Ρ 1127 vom 15.2.1966. Die dt. Seite verzichtete auf die Übernahme der ihr eigentlich zustehenden Testmaschinen. Diese gingen stattdessen an die USA. Ebd., BL 1/900: Ministerialdirigent A. Wahl, Τ IV an Mr. Dodds, Ministry of Defence, Ρ 1127/VAK 191 Β, Vorschlag von informativen Besprechungen zwischen den Firmen Hawker und VFW vom 22.4.1965, v.a. S. 1. Ebd., BL 1/14654: Tgb. InspLw, Eintrag von Anl. zum Tgb. InspLw vom 27.11.1963, Abschrift des Textes eines Fernschreibens an die Luftwaffen-Attaches in Rom, London, Paris und Washington. Ebd., BL 1/1908: Besuch des brit. Vtdg.-Min. und hoher Militärs am 9.9.1963, Bericht vom 3.10.1963, Anl. 1, S. 7-9. Zum Folgenden vgl. Pabst, Kurzstarter und Senkrechtstarter, S. 228 ff.; Der Spiegel, 1963, Nr. 49, S. 40-42.
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sehen Projekts375. Abgerundet wurde das Meinungsbild durch das Statement von Messerschmitt, »daß die deutsche Industrie im Alleingang eher zum Ziele komme als bei einer Zusammenarbeit mit den Engländern 376 . Hier hatte sich offenbar die radikale High-Tech-Linie mit allgemeinem Monopolisierungsanspruch von Strauß und Kammhuber mit einem gewissen Überlegenheitsgefühl von Seiten der Industrie vermischt. Möglicherweise hätte den Industriellen ein selbstkritischer Blick in die Vergangenheit vor 1945 gutgetan. Schon damals nämlich hatten sich die Westalliierten dem deutschen Entwicklungspotenzial alles andere als unterlegen gezeigt. So ließ das deutsche Verteidigungsministerium die P.1127 fallen und begab sich gemäß den konzeptionellen Grundsätzen für den leichten Typ auf einen nationalen Pfad. Die Industrie sprach sich ab: Die Konzerne im Norden sollten das Projekt von Focke-Wulf in die NATO-Ausschreibungen einbringen, während die Südgruppe die Entwicklung des schweren Typs vorantrieb377. Italien beteiligte sich nun am deutschen Vorhaben und so schloss man 1964 einen entsprechenden Vertrag und begann mit dem Bau von Prototypen. Der HarrierVorläufer hatte damit einen Konkurrenten bekommen, der auch bei den entsprechenden Rüstungstreffen präsentiert wurde. Es nimmt nicht Wunder, dass die Briten ihn dann ablehnten378. Wie schon bei der G-91 dachte man jenseits des Kanals nicht daran, andere als die eigenen Entwürfe für eine Serienproduktion zu akzeptieren, solange diese technisch für die eigenen Bedürfnisse ausreichten. In gewisser Weise hatten die deutschen Entwickler die britische Suprematie anzuerkennen, denn die Triebwerke auch der VAK-191 Β kamen aus Großbritannien, da man in Deutschland keine vergleichbaren Entwicklungen hatte379. Eingebaut wurde ein ähnliches Triebwerk wie der Pegasus, dieses jedoch ergänzt um zwei reine Hubtriebwerke - eine Kombination, die sich im Vergleich zur Harrier nicht unbedingt als vorteilhaft erweisen sollte. Geliefert wurden die Motoren von der Firma Rolls Royce, die Bristol in der Zwischenzeit aufgekauft hatte. Von deutscher Seite beteiligte man dabei MTU. Insgesamt kam erneut das ganze europäische Rüstungsdilemma zum Ausdruck. Anstatt miteinander arbeitete man teilweise gegeneinander. Die Sitzungen der dazu eingesetzten Arbeitsgruppe, der Ad-hoc mixed Working Group on VSTOL Strike Reconnaissance Aircraft, verliefen wie schon die entsprechenden Treffen des WEU-Rüstungsausschusses meist unbefriedigend, weil die Beteiligten eher auf eigene Vorteilswahrung bedacht waren als auf Kooperation380. Dass eine Gemeinschaftsproduktion der Harrier-Vorläufermaschine 375
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Das Projekt firmierte anfangs unter der Bezeichnung EK-18 (Erdkämpfer). BA-MA, BL 1/14652: Tgb. InspLw, Eintrag vom 22.8. und vor allem vom 6.7.1961, Besprechung EWR Süd mit Min. Strauß. Ebd., Eintrag vom 3.5. u n d 18.12.1961. Ebd., Eintrag vom 6.7.1961, Besprechung EWR Süd mit Min. Strauß, Bl. 4. Ebd., Eintrag vom 18.12.1961, Bl. 3. Ebd., BW 1/362882: Ad-hoc mixed Working Group on VSTOL Strike Reconnaissance Aircraft vom 15.1.1964 mit Begleitdok. Ebd., BL 1/14652: Tgb. InspLw, Eintrag vom 20.10.1961. Ebd., BW 1/362882, wie in Anm. 378.
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nicht zustandekam, lag auch daran, dass Hawker dem Projekt von Focke-Wulf (Fw 1262) im formellen Ausschreibungsverfahren Konkurrenz gemacht hatte381. Weitere Konkurrenten waren Fiat und das deutsche Südkonsortium (EWR Süd) gewesen. Versuche zum Abgleich oder möglicherweise doch noch zur Kombination zwischen Harrier und der VAK-191 B, die von der Abteilung Τ im BMVg unternommen wurden 382 , führten zu keinen wesentlichen Ergebnissen. Deutscherseits entschied man sich daraufhin ein letztes Mal, alle Hoffnungen auf die eigenen Entwicklungen zu setzen. Die VAK-191 Β wurde damit sozusagen das Auslaufmodell der rein deutschen Rüstungsplanung im großen Stil. Technik aus nationaler Perspektive Anfang der 60er Jahre hatte man, noch unter dem Einfluss von Strauß, die letzte umfassende nationale Großperspektive für die Flugzeugproduktion entwickelt. Diese umfasste neben dem leichten Typ einen schweren Jäger/Jabo und ein Transportflugzeug, die Do 31, alles VTOL-Maschinen 383 . Die ersten handfesten Bemühungen zu einer eigenen Senkrechtstarterentwicklung hatte man schon Mitte der 50er Jahre unter Zuhilfenahme französischer Partner, insbesondere der SNECMA, getätigt. Letztere hatte ein futuristisch anmutendes Projekt in Angriff genommen, die Entwicklung des Coleopter C 450384. Dieser war ein sog. Ringflügler, d.h., er besaß keine geraden Tragflächen, sondern bestand aus einer Art Rohr, das den Rumpf umschloss. Das Vorhaben stand jedoch unter keinem guten Stern. Die Entwicklungsphase wurde von heftigen Patentstreitigkeiten überschattet, bei denen das BMVg zwischen die Fronten der Parteien (SNECMA, der angebliche Erfinder, Prof. Helmut Zborowski, und Heinkel) geriet. Als dann am 25. Juli 1959 der erste mehr oder weniger freie Flug stattfand, stürzte die Maschine nach kurzer Zeit ab. SNECMA beschuldigte zwar den Piloten, schwere Fehler begangen zu haben, aber die deutsche Seite erkannte sehr schnell385, dass die Maschine derart instabil war, dass sie, zumal nur von einem Piloten, nicht ordentlich geflogen werden konnte - ein Problem, das bei allen weiteren Entwicklungen, auch bei der Harrier, noch zentralen Stellenwert gewinnen sollte. Man zog sich zurück und beendete nach weiteren streitigen Verhandlungen mit SNECMA den Vertrag unter Mitnahme der bis dato gemachten Erfahrungen insbesondere bei der Triebwerks- und Steuerungstechnik.
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Pabst, Kurzstarter u n d Senkrechtstarter, S. 228 f. BA-MA, BL 1/900: Ministerialdirigent A. Wahl, Τ IV an Mr. D o d d s , Ministry of Defence, Ρ 1127/VAK 191 Β, Vorschlag v o n i n f o r m a t i v e n Besprechungen zwischen d e n Firmen H a w k e r u n d VFW v o m 22.4.1965. D a z u auch Vetter/Vetter, Versuchsprojekte der B u n d e s w e h r , S. 19 u n d 29-39. Z u m Folgenden vgl. BA-MA, BW 1/347443 u n d 347444: A k t e n s a m m l u n g zu d e n Verh a n d l u n g e n über d e n Bau des Coleopter 1956-1962; Pabst, Kurzstarter u n d Senkrechtstarter, S. 179-188, u n d Der Spiegel, 1959, Nr. 43, S. 36 f. K a m m h u b e r hatte sich im Vorfeld zu keinerlei vorzeitigen Kaufabschlüssen d r ä n g e n lassen. BA-MA, BL 1/14648: Tgb. InspLw, Eintrag v o m 16.5.1957, mit Besprechungsnotiz.
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Fliegende Rakete auf VTOL-Basis: Die VJ 101 Inzwischen hatte man in der Bundesrepublik selbst mit einem Nachfolger für den schweren Jagdbomber, der F-104, begonnen386. Überzeugt von der zukunftweisenden Entscheidung für den Starfighter entschloss man sich, einen senkrechtstartenden Nachfolger mit ähnlichen Spezifikationen zu bauen387. Die entsprechenden Aufträge wurden unter maßgeblichem Einfluss Kammhubers bereits 1957 erteilt, also noch vor der formellen Entscheidung, die F-104 auch als Jagdbomber zu nutzen388. Beauftragt wurden die Firmen Dornier, Heinkel und Messerschmitt, im Wesentlichen dieselben, die für den Bau und die Betreuung der F-104 zuständig waren, sowie Bölkow. Wie schon beim Starfighter ergaben sich auch in diesem Falle wieder Probleme mit der Produktionsorganisation, da sich die Firmen weigerten, den Forderungen des BMVg nach vollständiger Fusionierung nachzukommen. Dahinter standen erneut die teilweise vehementen Konkurrenzverhältnisse, die noch aus der Zeit vor 1945 stammten. Strauß und Kammhuber konnten sich zwar nicht mit ihren Zusammenlegungsplänen durchsetzen, verlangten aber die Umsetzung des VTOL-Gedankens auf der Basis der Spezifikationen der F-104. Die neue Maschine sollte genau die gleichen Leistungsdaten und die gleiche Kampfperformance wie die F-104 aufweisen389. Gegenargumenten in Bezug auf die möglichen Leistungsminderungen durch den Aufwand für den Senkrechtstarter verweigerten sie sich und sahen darin teils auch Ausflüchte der Industrie. Die beteiligten Firmen schlossen sich zu einer vergleichsweise lockeren Gruppierung, dem Entwicklungsring Süd (EWR Süd), zusammen und bildeten eine Arbeitsgemeinschaft in den Bibliotheksräumen des Deutschen Museums in München. Nach anfänglichen Konflikten um die eingebrachten Entwürfe einigte man sich schließlich auf einen Kompromiss unter der Bezeichnung VJ-101 C (VJ, Vertikaljäger). Die Entwicklungsarbeit verlief zunächst im Wesentlichen erfolgreich und zeigte, dass der Senkrechtstart prinzipiell machbar und erfolgversprechend war. Dies gelang unter Anwendung schwenkbarer Düsen an den Tragflächenenden, die durch reine Hubtriebwerke im Rumpf ergänzt wurden. Man bewerkstelligte sowohl die Transition von Vertikal- zu Horizontalflug als
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Zum Folgenden vgl. grundsätzlich und wo nicht anders angegeben Pabst, Kurzstarter und Senkrechtstarter, S. 189-206; Vetter/Vetter, Versuchsprojekte der Bundeswehr, S. 29-39 (Beide, insbesondere letztere jedoch mit einigen Ungenauigkeiten hinsichtlich der Termine und Hintergründe der Anfänge und des Endes der VTOL-Projekte). BA-MA, BL 1/347275: Aktensammlung zur Entwicklung der VJ-101 seit 1957. Dazu auch Meilensteine der Luftfahrt: Die deutschen Senkrechtstarter, S. 5-13. Ferner die sehr instruktive Website V/STOL Fighter Programs in Germany: 1956-1975, Mike Hirschberg, 1.11.2000, (1.12.2004), URL: (Kopie der Website bei B.L.). BA-MA, BL 1/14650: Tgb. InspLw, Eintrag vom 4.7.1959. Ebd., BL 1/14697: Interview Kammhuber mit einem Reporter vom Stern, vom 8.6.1962, S.7f. Ebd., BL 1/14651: Tgb. InspLw, Eintrag vom 4.7.1960; BL 1/14652: Tgb. InspLw, Eintrag vom 6.7.1961, Besprechung EWR Süd mit Min. Strauß.
Realität: die S e n k r e c h t s t a r t e r t e c h n o l o g i e war a u f w ä n d i g und störanfällig. » C o m p r e s s o r - S t a l l « bei e i n e m V e r s u c h mit der VAK 191Β V2. Der durch Rezirkulation von Luft und S c h m u t z bedingte Ausfall d e s T u r b o v e r d i c h t e r s führte z u m sog. T r i e b w e r k s p u m p e n .
EADS CORPORATE HERITAGE
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auch vollständig konventionelle Landungen ohne VTOL-Technik. Und am 24. Juli 1964 sogar den ersten Uberschallflug eines Senkrechtstarters. Aussehen und Aufbau des Rumpfes glichen infolge der nachdrücklichen Forderungen von Strauß und Kammhuber weitgehend denen der F-104390. Die Maschine litt allerdings unter erheblichen technischen Beschränkungen, hier insbesondere bei der Waffenzuladung, ein Defizit, das sich unter dem raschen Wandel der taktischen und strategischen Anforderungen als fatal erweisen sollte. Absturz Die Entwicklung in den 60er Jahren zeigte darin, dass ein Hochleistungsjäger von der Art der F-104 den Anforderungen nicht mehr genügte. Gefragt war zunehmend nicht mehr Abfangjagd in großen Höhen oder Strike-Fähigkeit, sondern Wendigkeit, hohe Zuladung an konventionellen Kampfmitteln und die Fähigkeit auch zur Erdunterstützung im Frontbereich. Schon die F-104 konnte dies nur unzureichend leisten, die VJ-101 entweder gar nicht oder nur unter erheblichen Problemen391. Diese Entwicklung führte zu interner und externer Kritik und dem Eindruck, die Luftwaffe habe Millionen für einen entwicklungstechnischen Blindgänger investiert. Aus Sicht des Bundesrechnungshofes hatte die NATO schon im Mai 1962 die VJ-101 C abgelehnt, weshalb man bereits zu diesem Zeitpunkt von einer Entwicklung hätte absehen müssen392. Das BMVg bekam die angeblich vergeudeten Kosten vorgerechnet und konnte sich mit Halbwahrheiten und Entschuldigungen eher schlecht als recht über Wasser halten393. »Der Spiegel« zitierte Bundeswehrplaner, nach denen schon im November 1963 festgestanden hatte, dass die VJ-101 unter dem zu erwartenden konzeptionellen Wandel nicht bestehen würde394, und in der Tat hatte Fü L in einer entsprechenden Presseerklärung bereits zu diesem Zeitpunkt die Maschine als Experimentalentwicklung bezeichnet395. Das Nachrichtenmagazin warf der Luftwaffe und dem BMVg vor, über eine Milliarde DM für VTOL-Projekte »verzettelt« zu haben396. Später gab »Der Spiegel« dem Verdacht Ausdruck, dass die deutsche Forschungsarbeit für Senkrechtstarterprojekte, u.a. den Transporter Do 31, von den USA ausgebeutet und dann über die Hintertür der deutschen Luftwaffe wieder angeboten wür-
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Möglicherweise spielten hier auch die sich im Laufe der Zeit ansammelnden technischen Erfahrungen aus dem Nachbauprogramm der F-104 eine Rolle. Meilensteine der Luftfahrt: Die deutschen Senkrechtstarter, S. 3; Senkrechtstarter VAK 191B, S. 18 ff. (Artikel FR, downloadbar unter http://www.flug-revue.rotor.com/ FRHeft7X/FRHeft75/FRH7504/FR7504a.htm, Abschnitt »Flugerprobung« (Kopie der Website bei B.L.). BA-MA, BL 1/347275: Prüfbericht des BRH vom 11.12.1962. Vgl. ebd., Antwort von Τ I 3 auf den Prüfbericht des BRH, vom 4.3.1963. Der Spiegel, 1964, Nr. 39, S. 76. Dazu auch 1963, Nr. 49, S. 4 0 - 4 2 . BA-MA, BL 1/14654: Tgb. InspLw, Eintrag von Anlage zum Tgb. InspLw vom 27.11.1963, Abschrift des Textes eines Fernschreibens an die Luftwaffen-Attaches in Rom, London, Paris und Washington. Der Spiegel, 1966, Nr. 43, S. 37.
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de397. Derlei Thesen entsprachen nun nicht unbedingt der Realität - die USA bauten selbst keine VTOL-Großserie, sondern übernahmen den britischen Harrier - bzw. drehten die Realität geradezu um, weil die Europäer beim Starfighter das US-Potential ausgekundschaftet hatten. Immerhin aber lag man mit der Vermutung in Bezug auf den Sinn der Milliarden-Investitionen letztlich ziemlich nahe an der Wahrheit398. Das Duo Strauß/Kammhuber hatte zu Beginn der 60er Jahre offenbar etwas voreilig geglaubt, dass sich ein Senkrechtstarter recht rasch entwickeln und bauen ließe. Bereits Ende 1961 hatten die Entwickler aber zugeben müssen, dass die Triebwerkstechnologie der VJ-101 C veraltet war. Inzwischen hatte auch der Verteidigungsausschuss des Bundestages Kenntnis vom drohenden Fehlschlag erhalten und die Entwicklungskosten als Verschwendung bezeichnet. Das Verteidigungsministerium musste dabei zugeben, dass für die Rechnungsjahre 1963 und 1964 über die Hälfte aller Forschungsgelder für die Luftwaffe bereitgestellt worden waren, davon wiederum die Masse für den Senkrechtstarter. Letztlich konnten auch Verweise auf die Unwägbarkeiten technischer Entwicklungsarbeit und auch die weiterhin hoffnungsvollen Visionen der VTOLAnhänger 399 den Misserfolg und die nachfolgende kritische Grundhaltung der Öffentlichkeit nicht wesentlich mildern. Die Verantwortlichen in den Führungsstäben und den zuständigen Bundeswehrbehörden hatten als Konsequenz die Lehre zu ziehen, dass bei den beschränkten Finanzmitteln, die zur Verfügung standen, in Zukunft effizienter und (selbst)kritischer geplant werden musste. Insgesamt hatte sich die Maschine für eine Serienproduktion als untauglich erwiesen, dies auch deshalb, weil ein nationaler Alleingang wegen der - nicht zuletzt auch technischen - Komplexität und der finanziellen Anforderungen nicht in Frage kam. Eine kleine Serie machte betriebswirtschaftlich keinen Sinn, also benötigte man ausländische Partnerstaaten, die man aber nicht fand. Die Luftwaffe stellte das Programm VJ 101 Mitte der 60er Jahre ein. Die Versuche liefen bis 1971 auf Experimentalbasis weiter, mussten dann aber endgültig aufgegeben werden. 397 3,8
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Ebd., 1967, Nr. 9, S. 29 f., u n d 1969, Nr. 4, S. 43 f. Z u m Folgenden vgl. BA-MA, BL 1/14652: Tgb. InspLw, Eintrag v o m 6.7.1961, Besprec h u n g EWR Süd mit Min. Strauß, Eintrag v o m 26.9.1961, N A T O - A u s s c h r e i b u n g AC-169 u n d AC-170, Eintrag v o m 18.12.1961, Besprechung mit d e m Min. beim EWR Süd, M ü n chen, Deutsches M u s e u m ; BL 1/14653: Tgb. InspLw, Eintrag v o m 9.7.1962, Besuch des B u n d e s m i n . in Manching, Eintrag v o m 9.11.1962; BL 1/14654: Tgb. InspLw, Anl. z u m Tgb. InspLw v o m 31.3.1963 - Vermerk über die V o r b e s p r e c h u n g mit d e n Berichterstattern des H a u s h a l t s a u s s c h u s s e s des Bundestages a m 31.1., Anl. z u m Tgb. InspLw v o m 3.5.1963, Ergebnisprotokoll, Betr.: N a c h f o l g e F-104 G - VJ 101 D, hier: Sitzung mit EWR Süd u n d Abt. Τ a m 3.5.1963, Anl. z u m Tgb. InspLw v o m 27.11.1963, Text eines Fernschreibens an die L u f t w a f f e n - A t t a c h e s in Rom, London, Paris u n d Washington, Anl. z u m Tgb. InspLw v o m 28.11.1963, Betr.: Konzentration d e r Entwicklungskapazitäten d e r U n t e r n e h m e n d e r L u f t f a h r t i n d u s t r i e in S ü d d e u t s c h l a n d , hier: Ergebnisprotokoll der Sitzung v o m 28.11.1963 bei H e r r n AL W, Bl. 3. Pabst, Kurzstarter u n d Senkrechtstarter, S. 253-256, u n d Senkrechtstarter VAK 191B, S. 18 ff. Artikel FR, d o w n l o a d b a r u n t e r http://www.flug-revue.rotor.com/FRHeft7X/ FRHeft75/FRH7504/FR7504a.htm (Kopie der Website bei B.L.).
412
Bernd Lemke: Konzeption und Aufbau der Luftwaffe
Das Ende der großen nationalen Rüstungsprojekte: Die VAK-191 Β Hatte sich das Ende der VJ-101 schon relativ früh angekündigt, so schien der leichtere Typ, die VAK-191 B, erheblich erfolgversprechender zu sein. Wie schon bei der Fiat G-91 kam es auch hier nicht zu einer gütlichen Entwicklung im NATO-Rahmen, sondern zu einem heftigen Konkurrenzkampf der erwähnten vier Firmen, darunter auch dem EWR Süd und den dahinter stehenden Regierungen. Focke-Wulf besaß einen gewissen Vorteil, da die Firma einen Teil des Personals u n d des Know-how aus der Coleopter-Entwicklung hatte übernehmen können. Man entwarf ein konkretes Projekt, die Fw 1262, und schloss sich mit der Firma Weserflug zu den Vereinigten Flugtechnischen Werken (VFW) zusammen. Dieses Konsortium erhielt den Zuschlag und schloss sich mit Fiat zusammen, da Italien, wie schon bei der G-91, bei der Entwicklung partizipieren wollte. Komplettiert wurde der Komplex durch die Firma Heinkel, die nach Streitigkeiten u m die Ideen eines ihrer Mitarbeiter aus dem EWR Süd ausgeschieden war 400 . War die Projektarbeit auch nicht ausschließlich national, so hatte die deutsche Seite doch die überwiegenden Anteile daran. Dennoch war das ganze Vorhaben letztlich keineswegs vollkommen deutsch dominiert, denn die Italiener stellten eigene Leistungsanforderungen mit - nach deutscher Auffassung - erheblichen Einschränkungen, die dann auch zum Scheitern des Projekts aus Sicht von Fü L beitrugen 401 . Die Primärentwicklung verlief für die Konstrukteure insgesamt zufriedenstellend u n d verhieß insbesondere für die Umsetzung des Senkrechtfluges bzw. das fliegerische Umschalten von Vertikalstart auf aerodynamischen Normalflug gute Ergebnisse. Man verwendete eine Mischung aus reinen Hubtriebwerken und einer Turbine mit verstellbaren Düsen für Senkrecht- u n d Waagrechtflug, wie sie beim Harrier zum Einsatz kam. Die Erprobungen und Tests begannen an einfachen Gestellen, wurden schließlich mit einer kompletten Zelle vorgenommen und erreichten ihren Höhepunkt im Jahre 1972, als zum ersten Mal ein regulärer Senkrechtstart mit Transition auf Waagrechtflug gelang. Die VTOLTechnologie erwies sich als grundsätzlich praktikabel. Als die entsprechenden Testergebnisse vorlagen, wurde man sich bei Fü L aber rasch einig, dass die Maschine für einen künftigen Krieg nicht die nötige
400
401
Der aktuelle Grund für den Bruch lag in dem Streit u m den Entwurf eines KippflüglerTransporters, den der Ingenieur Siegfried Günter, führender Entwickler bei Heinkel schon vor 1945 u n d Konstrukteur u.a. der He 111, erstellt hatte. Das Verhältnis der deutschen Flugzeugfirmen untereinander war ohnehin gespannt. Der EWR Süd hatte selbst auch einen Entwurf ins Rennen u m den leichten VTOL-Erdkämpfer geschickt, eine Weiter- bzw. Neuentwicklung aus der VJ 101, die VJ 101 D. Dieses Projekt endete dann, weil der Zuschlag an VFW ging. Pabst, Kurzstarter u n d Senkrechtstarter, S. 205 f. Günter arbeitete nun mit Letzterer zusammen. Der Spiegel, 1964, Nr. 47, S. 60 f. Dazu auch Pabst, Kurzstarter und Senkrechtstarter, S. 246-252. Die Struktur der dt. Luftfahrtindustrie vor diesem Eklat siehe Der Spiegel, 1964, Nr. 3, S. 27-33. BA-MA, BL 1/900: Fü L I, Entwicklung VAK 191 B, Erfüllung milit. Forderungen, vom 20.12.1965, S. 1 f.
VI. Die Beschaffung der Waffen
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Kampfstärke aufweisen würde 402 . Dies ging, wie man vermerkte, unter anderem auch darauf zurück, dass man sich mit Italien hatte absprechen müssen, wodurch Einschränkungen in den deutschen Anforderungen zuungunsten der Leistungsfähigkeit Platz griffen. Im Zentrum der Kritik standen hier zunächst einmal die ungenügende Tragfähigkeit und Flexibilität bei der Waffenzuladung (keine Stationen an den Tragflächen, sondern Begrenzung auf einen Bombenschacht) sowie die mangelnde Flugstabilität. Die VAK-191 Β war nur mit kleinen Stummelflügeln ausgestattet worden, da sie als reines VTOL-Muster auf die Reißbretter gelangt war. Nach der sich im Gange befindlichen Neuausrichtung der Luftwaffe auf Tiefangriffe und Close Air Support bedeuteten diese für die meisten VTOL-Flugzeuge durchaus typischen Einschränkungen untragbare Leistungsminderungen. Es drohte die Entwicklung einer kampfschwachen und fehlerbehafteten Maschine, die einen Einsatz gegen die Panzermassen aus dem Osten vollkommen illusorisch machte. Abgerundet wurde die Mängelliste durch die Tatsache, dass im Friedensbetrieb (z.B. in der Ausbildung) ein VTOLBetrieb viel zu unwirtschaftlich war und daher überwiegend konventionelle, d.h. rollende Starts unternommen werden mussten. »Der Spiegel« berichtete fast schon hämisch, dass die VAK-191 Β in Piloten- und Fachkreisen als Neuauflage des >Krückentyps< G-91 betrachtet wurde 403 . Insbesondere Fü L III (vor der Umgliederung vom November 1964 Fü L II), wo Krupinski als Referent bis Mitte 1966 immer noch Dienst tat404 und wo man sich mit einem speziellen Erdkampfflugzeug ohnehin nicht anfreunden konnte, befürwortete weiterhin tendenziell die Einführung eines einzigen, schweren Typs, der dann alle anstehenden Aufgaben hätte übernehmen können, dies auch und vor allem für die konventionelle Kriegführung 405 . Die Rechnung von Fü L III ging jedoch nicht auf 406 . Die Entscheidung, die zeitlich mit dem Höhepunkt der Panitzki-Krise zusammenfiel, etablierte nach einer Entscheidung von Hassels auf Anraten von Fü S, der die Rolle der Luftwaffe auch als direktes Unterstützungsinstrument des Heeres weiterhin ganz klar betonte 407 , das zweigliedrige Flugzeug-Konzept. Geplant war die Einführung einer begrenzten Anzahl hochentwickelter schwerer Maschinen. Diese Z u m Folgenden vgl. BA-MA, BL 1/4927: Fü L I, Projekt V A K 191 B, Protokoll über die Besprechung am 10.10.1966; BL 1/900: Fü L I, Entwicklung V A K 191 B, Erfüllung milit. Forderungen v o m 20.12.1965. 403 Da Der Spiegel recht häufig ziemlich gut über die wirkliche Lage in den Stäben informiert war, liegt es im Bereich des Möglichen, dass den zuständigen Redakteuren interne Kritik, wie sie Krupinski übte (s.o., S. 395 und 403 f., Fü L II 4 etc.), zugetragen wurde. 4lM Krupinski wurde noch während der laufenden Diskussionen in die U S A versetzt (Kommandeur des dt. Lw-Ausbildungskommandos). Der Spiegel, 1966, Nr. 37, S. 22. -105 B A - M A , BL 1/4925: Fü L I an Fü L III, Schreiben mit anliegender Planungskonzeption für Luftangriffsverbände (18.8.1966) vom 28.9.1966, S. 2. Für atomare Einsätze waren aus dieser Perspektive vor allem Boden-Boden-Raketen (Pershing) vorgesehen. 4«· Z u m Folgenden vgl. ebd., BL 1/3505: Chef Stab S an S III u.a. (u.a. auch Fü L III), Vortrag Fü L beim Min. über Luftwaffen-Konzeption für die 70er Jahre vom 11.8.1966. 407 Dazu auch ebd., BL 1/11151: Dt.-franz. GenSt-Besprechungen 18./19.6.1964, Vortrag Fü Β III 3: Langfristige Planung der Bewaffnung und Ausrüstung der Bundeswehr, vom 8.6.1964, S. 8. 41,2
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Bernd Lemke: Konzeption und Aufbau der Luftwaffe
sollten in V e r b i n d u n g m i t d e n Pershing-Einheiten für die Interdiction sorgen, daneben a u c h J a g d - u n d A u f k l ä r u n g s a u f g a b e n ü b e r n e h m e n . Die g e n a u e r e n Details für die Arbeitsteilung z w i s c h e n Raketen u n d F l u g z e u g e n b e i m Nukleareinsatz ließ m a n allerdings offen, dies nicht zuletzt auch, weil auf der politischen Ebene n o c h gar nicht geklärt w a r , w i e die nukleare Beteiligung der B u n d e s w e h r a u s s e h e n sollte. Ahnlich vorläufig äußerte m a n sich einstweilen über die Senkrechtstarterfrage 4 0 8 . F ü r d e n Close Air Support, der unter der sich entfaltenden Flexible R e s p o n s e g e r a d e für die Konflikterkundung u n d - e i n d ä m m u n g i m m e r g r ö ß e r e B e d e u t u n g g e w a n n , sollte eine relativ g r o ß e A n z a h l einfacher Senkrechtstarter des leichten T y p s eingeführt w e r d e n . D e r S t a n d p u n k t v o n Krupinski u n d seinen Mitstreitern, die in d e n nicht g a n z u n b e g r ü n d e t e n V e r d a c h t gerieten, d e facto ein M o d e l l einführen z u w o l len, d a s in erster Linie für J ä g e r a u f g a b e n u n d A u f k l ä r u n g tauglich w a r u n d alle a n d e r e n V e r w e n d u n g e n , insbesondere d e n Close Air Support, n u r n o c h a m R a n d e berücksichtigte 4 0 9 , ließ sich d e m g e g e n ü b e r in keiner W e i s e durchsetzen. N i c h t n u r F ü S, s o n d e r n a u c h die N A T O , hier insbesondere die 2. A T A F , die im Vergleich zur 4. A T A F ohnehin eher ärmlich ausgestattet w a r , verlangte eine ausreichende A n z a h l an leichten Erdkampfflugzeugen 4 1 0 . Die konventionellen 408 Deren konzeptionelles Ende folgte dann gleichwohl rasch. Sehr gut für den Sachstand im Aug. 1966: ebd., BL 1/4925: Fü L I 2, Ergebnisprotokoll einer Besprechung am 31.8.1966 über Luftangriffskräfte. 409
Ebd., BL 1/4925: Fü L I an Fü L III, Schreiben mit anliegender Planungskonzeption für Luftangriffsverbände (18.8.1966) vom 28.9.1966, S. 2. Fü L III genoss selbst innerhalb von Fü L keinen umfassenden Rückhalt. BL 1/14697: Vortrag OTL Dr. Meier vor der Advisory Group for Aeronautical Research and Development, Derivation of German Military Requirement for V/STOL Weapon Systems vom 1.9.1964, S. 9. Meier war Referent für Führungsplanung (Fü L II 7) und damit direkter Gegenpart für Krupinski und dessen Vorstellungen; BL 1/900: Fü L II 4, Stellungnahme zur Planung der Luftangriffskräfte ab 1972 vom 6.4.1964, S. 1; BL 1/2109, Blauer Brief Nr. 17, Grundlinien für Nachfolgemuster Flugzeug-Waffensystem vom 19.10.1965, S. 5. Dass alle Pläne zur Loslösung der dt. Luftwaffe vom Heer eher Luftgebäu darstellten, zeigte dann die Entwicklung Anfang der 70er Jahre. Gerade Krupinski, der sich nachdrücklich gegen die Einführung leichter Erdkampfflugzeuge gewehrt hatte, musste 1976, inzwischen Chef des Luftflottenkommandos, bei seinem Stammverband, dem JG 71, das mit der Phantom ausgerüstet war und sich als Jagdeinheit recht eigentlich als Elite verstand, genau die Erdunterstützung verordnen und provozierte dabei einen öffentlichen Skandal, weil die Piloten, insbesondere deren Kommodore (Rentel), dagegen protestierten (sog. Kristallnacht). Interview mit Hans-Jürgen Rentel, ehem. Starfighterpilot und Kommodore JG 71, am 25.3.2004, Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, vom 23.5.1976, S. 18. Ein »Halali« für die Jagdflieger? (N. v.d. Heyde). Es reichte nicht aus, dem Heer leichte Unterstützungsflieger zur Verfügung zu stellen (Alpha Jet), sondern ein Teil des Aufgabenspektrums der schweren Verbände, auch der Phantom-Einheiten, musste ebenfalls zum Schutz der Erdfront eingesetzt werden (sog. Air Superiority Fighter mit Doppelrolle Abfangjagd und Jabo, dazu BA-MA, BL 1/2107: Fü B, Milit. Leitlinie für die Aufbauplanung der Bw 1965-1970 vom 29.2.1964, S. 2). Krupinski musste noch im selben Jahr nach einem Zusammentreffen mit dem ehemaligen Wehrmachtsobristen Rudel, einem Kriegshelden und bekennenden Nationalsozialisten, in dessen Gegenwart er fragwürdige politische Äußerungen tätigte, den Hut nehmen. Die Welt, Sonderdruck, Dez. 1976.
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BA-MA, BL 1/4521: Grundausrüstung VAK 191 B, Erfüllung der Pflichten gegenüber der 2. ATAF/Vorstellungen eines leichten Kampfflugzeuges, S. 3.
VI. Die Beschaffung der Waffen
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Ziele der 2. ATAF reichten in der Masse bis zum 12. Breitengrad, also Höhe Halle. Die östlichsten Angriffspunkte lagen beim 14. Breitengrad in der Nähe der DDR-Ostgrenze. Damit stellte sich gleichzeitig erneut das Problem des passenden Kampfflugzeuges. Da die VAK-191 Β doch offensichtlich große Unzulänglichkeiten besaß, erkannte der Luftwaffenführungsstab dann auch endgültig, zusätzlich ernüchtert von den Erkenntnissen bezüglich der G-91, dass das VTOL-Konzept, das ja von zahlreichen Klein- und Miniflugplätzen ausging, vollkommen utopisch war 411 . Es erwies sich als unmöglich, in jedem Waldstück bzw. Hinterhof das nötige Luftwaffenservicepotenzial bereitzustellen 412 . Dazu kam, dass die VTOL-Maschinen mit ihrer komplizierten Triebwerks- und Steuerungstechnik einen gesteigerten Servicebedarf nötig machten. Nachschub, Logistik, Wartungspersonal mussten zentral organisiert, dabei sparsam und effizient eingesetzt werden. Bei der vorherrschenden Haushaltslage blieb nur die Konzentration auf eine eng begrenzte Zahl von Versorgungszentren, Depots und Flugplätzen übrig 413 . Bestärkt wurde man in diesen Auffassungen durch die Briten, die in den Generalstabsbesprechungen 1968 zugeben mussten, dass sie noch erhebliche Probleme mit dem organisatorischen und logistischen Konzept für ihren Senkrechtstarter hatten 414 . Damit korrespondierten die aktuellen Nöte der britisch dominierten 2. ATAF, die nach eigenen Angaben 400 leichte Angriffsflugzeuge benötigte, aber nur 130 besaß. Sie setzte daher alle Prioritäten auf die rasche Beschaffung einer maximalen Anzahl von Flugzeugen durch die Verbündeten, dies zur Not auch auf Kosten der Verwirklichung einer reinen Senkrechtstarterlösung zugunsten der STOL-Technologie 415 .
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Zentralen Charakter besaß hier die Studie BA-MA, BL 1/3505: Fü L I, Planungskonzeption für Luftangriffsverbände, vom 18.8.1966, v.a. S. 25-33. (Diese basierte im Wesentlichen auf der Studie über die Auswahl von VTOL-Waffensystemen, s.o., Anm. 357. Man hatte hier lediglich die Leistungsanforderungen etwas modifiziert bzw. erhöht). Fü L III behauptete in der Folge zwar, dass gravierende Unterschiede zwischen seiner Studie vom 18.8.1966 und der Konzeption von Fü L I bestünden, fand damit aber keinen Anklang. BL 1/4925: Fü L I an Fü L III, Schreiben mit anliegender Planungskonzeption für Luftangriffsverbände (18.8.1966) vom 28.9.1966. Ebd., BL 1/14707: Tgb. InspLw, Eintrag vom 11.2. und 29.3.1966. Der Spiegel, 1963, Nr. 49, S. 4 0 - 4 2 , hatte schon Ende 1963 von den ungeheuren Belastungen und den diesbezüglichen Bedenken von Sts Hopf berichtet. BA-MA, BL 1/1762: Fü S, 14. dt.-brit. GenSt-Besprechungen (18./19.6.1968), Dt. Sitzungsprotokoll, 2.7.1968, S. 4, Thema 4: Harrier und VTOL. Dazu ebd., Operational Concept for the Use of Harrier Following Deployment to Airfields in the Federal Republic of Germany ..., Ausarbeitung der brit. Delegation. Wie sich dann im Laufe der Zeit zusätzlich herausstellen sollte, wies auch die Harrier technische Schwachstellen auf, insbesondere bei Koordination und Steuerung des Vertikalschubes, was Ende der 70er Jahre dann zu zahlreichen tödlichen Abstürzen führte, weil die Maschine dadurch sehr schwer zu fliegen war. Wallis, Amerikas Harrier, S. 44. Für die dt. Seite bedeutete dies jedoch allenfalls einen schwachen und späten Trost. Ebd., BL 1/4521: Grundausrüstung VAK 191 B, Frage Angaben der 2. ATAF über Vorstellungen eines leichten Kampfflugzeuges, S. 3.
Der so genannte Nullstart (ZELL = Zero Length Launch) eines deutschen Starfighters mit dem amerikanischen Testpiloten Ed Brown am 18.05.1966 auf dem Fliegerhorst im bayerischen Lagerlechfeld. Durch einen Raketentriebsatz unterhalb des Rumpfes wird der Starfighter im steilen Winkel in die Luft geschossen und zündet dort sein eigenes Raketentriebwerk.
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Insgesamt herrschte schließlich bei der Verabschiedung der Senkrechtstarteridee weitgehend Konsens. Alle maßgeblichen Verantwortlichen votierten in der entscheidenden Sitzung unter der Leitung des frisch eingesetzten Inspekteurs Steinhoff am 10. Oktober 1966 für die Absetzung der VAK-191 Β und damit das Ende der deutschen VTOL-Entwicklung416. Fast gleichzeitig stoppte man die Entwicklung der Starthilfen SATS und ZELL417. Man entschloss sich stattdessen, technologisch gesehen einen Schritt zurückzutreten und die unkompliziertere Stufe, das STOL-Flugzeug, zu realisieren418. Entscheidende Impulse ergaben sich durch die Zusammenarbeit mit den USA beim Projekt AVS (Advanced V/TOL), einem Entwurf für einen schweren Senkrechtstarter, der nach dem Scheitern der gemeinsamen Bemühungen um ein leichtes Modell, die P.1127, aufgelegt wurde419. Dazu wurde ein Kooperationsvertrag geschlossen, der Erprobungen in den USA vorsah. Dadurch sollte zunächst ggf. doch noch der Nachfolger der F-104 auf VTOL-Basis gefunden werden420. Man erreichte konstruktive Ergebnisse und entwickelte eine Maschine mit Pfeilflügeln und ausklappbaren Hubtriebwerken fortschrittlichster Art. Trotz dieser Erfolge brachen die Amerikaner das Projekt ab, weil ihnen der Typ zu schwer und zu kompliziert erschien. Da die Entwicklung eines schweren VTOL-Typs die Möglichkeiten der Bundesrepublik bei weitem überstieg, blieb der Luftwaffe nichts anderes übrig, als die Maschine zu Grabe zu tragen. Steinhoff war es dann, der am 18. August 1967 die inoffizielle Grabrede vor Vertretern der Abt. Τ, H, W und Fü L hielt421. In diesem Vortrag kam die Position der Luftwaffe im Beziehungsgeflecht von NATO und Bundeswehr genauso 416
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Ebd., BL 1/4927: Fü LI, Projekt VAK191 B, Protokoll über die Besprechung am 10.10.1966. Ebd., Fü L I 4, Weisung für die Durchführung von SATS/ZELL-Versuchen beim JaboG 32, Lechfeld, hier: Außerkraftsetzung vom 8.11.1966. Ebd., BL 1/3505: Fü L 1, Planungskonzeption für Luftangriffsverbände, vom 18.8.1966, v.a. S. 25-33; vgl. auch BL 1/14707: Tgb. InspLw, Eintrag vom 11.2. und 29.3.1966, auch vom 8.8.1967, Besprechung InspLw mit BG Fahlbusch, Ο i.G. Libera, Ο Czolbe, Thema: Projektuntersuchung bei VFW. Dazu auch Der Spiegel, 1969, Nr. 4, S. 43 f. Es gab auch hier ein Konkurrenzprojekt, die brit.-franz. VG. Das Lavieren zwischen militärischen und wirtschaftlichen Interessen blieb also in allen Bereichen akut. Ebd., BL 1/14707: Tgb. InspLw, Eintrag vom 24.1 1967, Betr. Kampf- und Aufklärungsflugzeuge für die dt. Luftwaffe, AVS-Vereinbarung mit den USA (Phase 2), Engl./Franz. Projekt VG, und Eintrag vom 31.3.1967, Betr. Reise InspLw nach Großbritannien zur Besprechung im Ministry of Defence London und Besichtigung brit. Flugzeugindustrie. Zu den Anfängen und Erwartungen für den AVS aus dt. Sicht vgl. ebd., BL 1/4544: US/German Discussion Panel on Advanced V/STOL A/C Requirements, Session I vom 14.12.1964, v.a. S. 9. BL 1/2109: Fü L I 2, Gemeinsame US-dt. Entwicklung eines V/STOLFlugzeuges vom 21.12.1964 und ebd., Blauer Brief Nr. 17, Grundlinien für Nachfolgemuster Flugzeug-Waffensystem vom 19.10.1965. Geplant war, bis 1970 12 Prototypen zu bauen und zu testen. Zum Folgenden vgl. ebd., BL 1/146707; Tgb. InspLw, Eintrag vom 18.8.1967, Anl., Besprechung über AVS/G-91, Teilnehmer: T/H/W/Fü L I. Dazu Eintrag vom 3.10.1967, Besuch GM Glaser (R&D, Department of Defence, Washington) und Eintrag vom 12.10.1967, Notizen über Gespräche InspLw in Washington v. Lilienfeld, Mr. Warnke, Assistant Secretary of State für International Security, Gen McConnell, Chief of Staff, USAF und Eintrag vom 27.11.1967, Besuch InspLw bei FüAkBw, Abt. Lw.
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Bernd Lemke: Konzeption und Aufbau der Luftwaffe
schlagend zum Ausdruck wie die Abhängigkeit von den USA. Zwischen den Zeilen verwies Steinhoff zwar fast schon protestierend darauf, dass die USA Projekte wie das AVS mit dem Argument abgelehnt hätten, derartige Flugzeuge seien viel zu schwer, zu komplex und zu teuer, als dass man sie im Ernstfall dem »Gewehrschuss« eines Infanteristen aussetzen könne, genau Letzteres dann aber in Vietnam (etwa mit der überschweren F-105) tat. Gleichzeitig gab der Inspekteur offen den inneren Zwistigkeiten in der NATO Ausdruck und thematisierte die Möglichkeit einer Alleinverteidigung im Ernstfall, eine Option, die seit den Tagen Kammhubers zumindest theoretisch offenbar nie wirklich und absolut verabschiedet worden war422. Trotz dieser Gravamina kam Steinhoff zum Schluss, dass es keine Alternative zu den Amerikanern und ihrer Luftwaffe gab. Diese war im Zeichen der Flexible Response zur Einsicht gelangt, dass schwere Jagdbomber, dazu noch als Senkrechtstarter mit einem überaus hohen Aufwand an Logistik, Material und Personal, kein probates Mittel für die Zukunft seien. Stattdessen propagierte sie leichtere Maschinen mit kurzer Startbahn und verwies auf die Fortschritte bei der Entwicklung konventioneller Munition423. Der deutschen Luftwaffe blieb angesichts der Dimensionen des AVS-Projektes keine andere Wahl, als auf die gleiche Linie einzuschwenken, dies zumal, als die Briten genauso argumentierten wie die Amerikaner. Für einen nationalen Alleingang war man eine Nummer zu klein: »Ich halte es, selbst wenn wir in Kürze einen Boom in der Wirtschaft haben würden, für ausgeschlossen, dort in Größenordnungen der AVS-Serie zu denken, die einfach unrealistisch sind [...] Das ganze - glaube ich - ist in unserer Finanzkrise einfach zu komplex, als daß man es konzeptionell weiter verfolgen sollte424.« Wie schon in vielen Bereichen und Entscheidungssituationen zuvor gaben nicht nur die Leistungsdaten, sondern insbesondere die strukturellen Grenzen der Luftwaffe den Ausschlag. Alle Beteiligten hatten zu gewärtigen, wie wenig betriebswirtschaftliche Kalkulation und militärische Planung getrennt werden konnten und dass alle Ansätze für die Entwicklung neuer Typen Aufwand und Nutzen berücksichtigen mussten425.
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Dazu oben, S. 161 f. Sehr gut für die Haltung der USAF (Befürwortung leichtere Jabos bei gleichzeitiger Ablehnung überschwerer VTOL-Maschinen) siehe BA-MA, BL 1/14655: Tgb. InspLw, Eintrag vom 26.10.1965, Nachfolge-Waffensystem, InspLw berichtet über sein Gespräch mit Gen. Schriever am 21.10.1965 in Hopsten. Bei der Projektierung der AVS hatte die dt. Seite aus Haushaltsgründen selbst bei einer dauernden Partizipation der USA keine Garantie für eine Serienfertigung übernommen. Ebd., BL 1/146707: Tgb. InspLw, Eintrag vom 31.3.1967, Gedächtnisnotiz über Besprechung InspLw mit Colonel Howell, US Air Attache, und Colonel Kendig, Projektoffizier AVS MAAG Germany, am 31.3.1967 über das in der Presse angekündigte neue amerik. lagdflugzeug. Ebd., BL 1/4925: Fü L I an Fü L III, Schreiben mit anliegender Planungskonzeption für Luftangriffsverbände (18.8.1966) vom 28.9.1966.
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Epilog auf dem Boden der Tatsachen: Der Übergang zum Tornado So endete das Kapitel Senkrechtstarter. Ohne die Unterstützung der USA besaß die Luftwaffenführung kaum Wahl- und Handlungsmöglichkeiten. Letztlich war sie ein Korps technisch-militärischer Manager im Getriebe der NATOStrukturen. Wie schon im Falle des Coleopters flössen die gewonnenen Erkenntnisse bei der Entwicklung des AVS dann in die Nachfolgeprojekte ein. Der AVS wies äußerlich schon erhebliche Ähnlichkeiten mit dem Tornado auf und sein direkter konzeptioneller Nachfolger, das Neue Kampfflugzeug, glich diesem noch mehr. Letztlich bildete der AVS den Übergang der praktischen Entwicklung von der VTOL- auf die STOL-Technik426. Deutschland, Großbritannien und Italien vereinbarten nun, nach Jahren fruchtloser Verhandlungen unter nationalen Egoismen427 und nach dem Scheitern großer nationaler Projekte, die Produktion des Multi-Role-Combat-Aircraft (MRCA), des Tornados. 1968/69 kam es zu den entsprechenden Übereinkünften und der Gründung eines Produktionskonsortiums, der Panavia428. Der Entwicklungsvertrag wurde am 22. Juli 1970 unterzeichnet429. Die Franzosen beharrten, was die Hauptkampfflugzeuge anging, auf rein nationalen Projekten (Mirage, Etendard, Rafale), kooperierten aber in anderen wichtigen Bereichen mit den Deutschen bzw. den Briten. So begrub die deutsche Seite die Do 31, ebenfalls ein ehrgeiziges VTOL-Projekt, als Nachfolge des Kampfzonentransporters Noratlas und baute stattdessen zusammen mit Paris die Transall. Für die Nachfolge der G-91 schließlich gab es ein deutsch-französisches Gemeinschaftsprojekt unter maßgeblicher Beteiligung von Dassault und Dornier, das »Neue Trainerflugzeug« (NTF), den Alpha Jet, ebenfalls ein Kurzstarter430. Mit
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Dies sehr schön in: ebd., BL 1/2109: Blauer Brief Nr. 17, Grundlinien für Nachfolgemuster Flugzeug-Waffensystem vom 19.10.1965, v.a. S. 3 ff. Zum Hin und Her um die Entwicklung des schweren V/STOL-Typs zwischen Großbritannien und der Bundesrepublik siehe ebd., BL 1/897: Schreiben von R.A.Bradly, Chief Air Force Section, MAAG, an Panitzki mit Sachstandsbericht über Zusammenarbeit USAF - GAF, vom 15.1.1964, S. 23 f.; BL 1/1908: Besuch des britischen Verteidigungsministers und hoher Militärs am 9.9.1963, Bericht vom 3.10.1963, Anl. 1, S. 9 f.; BL 1/11151: 5. dt.brit. GenSt-Besprechung am 4./5.7.1963, Bericht vom 10.7.1963, S. 4 f. Die Briten hatten erheblich früher als die Deutschen erkannt, dass ein schweres Flugzeug wie der AVS nur STOL-Eigenschaften zuließ, und hatten in alter Manier angekündigt, dass sie, ungeachtet der weiteren Entwicklung auf dem Kontinent, auf jeden Fall einen eigenen Typ produzieren würden. Aber auch die dt. Seite hatte, zumindest anfangs, noch unter Strauß/Kammhuber, teilweise eine harte und kompromisslose Haltung an den Tag gelegt. BL 1/14651: Tgb. InspLw, Eintrag vom 30.3.1960. Für den leichten Typ aber verlegten sich die Briten mit der Harrier auf den reinen Senkrechtstart, während die dt. Seite für ihr Modell, den Alpha Jet, nur STOL-Fähigkeit realisierte. BL 1/1762: Fü S, 14. dt.-brit. GenSt-Besprechungen (18./19.6.1968), dt. Sitzungsprotokoll, 2.7.1968, S. 4, Thema 4: Harrier und VTOL. Ebd., BL 1/4027: Entwurf zur Rede InspLw auf der Gen-Tagung 1968/69: Die Luftwaffe im Jahre 1968/69 Rückblick/Ausblick, vom 18.1.1969, S. 2 - 6 ; Pabst, Kurzstarter und Senkrechtstarter, S. 143-147. Vetter/Vetter, Versuchsprojekte der Bundeswehr, S. 59 und 79 f. BA-MA, BL 1/1622: Fü L I 3, Blauer Brief 3/70, Informationen über den gegenwärtigen Stand der Luftwaffen-Rüstungsplanung vom 23.7.1970, S. 4 f.; Vetter/Vetter, Versuchsprojekte der Bundeswehr, S. 70 ff. (auch zum Folgenden).
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Bernd Lemke: Konzeption und Aufbau der Luftwaffe
den Briten zusammen entwickelten die Franzosen den Jaguar, der lange Zeit auch von der deutschen Luftwaffe als möglicher Nachfolger für die G-91 betrachtet wurde431. Mit der neuen Generation von Flugzeugen waren die Probleme allerdings keineswegs automatisch beseitigt. Der Alpha Jet war gemäß den Vorstellungen der Franzosen, die ihn in der Folge hauptsächlich entsprechend einsetzten, ursprünglich als Trainer entwickelt worden432 und wies, etwa hinsichtlich der Waffenzuladung, letztlich keineswegs bessere Leistungsmerkmale auf als z.B. die VAK-91433.Dies galt genauso für die meisten anderen Kurz- und Senkrechtstarter, die der deutschen Luftwaffe angeboten wurden. Außer den schweren US-Langstreckenträgerflugzeugen, wie z.B. der A-6 Intruder und der A-7 Corsair II, die unter dem entstehenden neuen Konzept die Doppelrolle Jäger/Jabo nicht ausfüllen konnten, weil sie unter anderem für Jagdaufgaben wegen ihrer relativen Schwerfälligkeit nicht in Betracht kamen434, war kein Modell den deutschen Mustern hochgradig überlegen, auch nicht die F-5, die Jaguar (zumindest in der ursprünglichen Version), und schon gar nicht die Harrier, die man bei Fü L auch deshalb intern ausschied, weil sie »zu wenig Leistung bringt«435. 431
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Zum Folgenden vgl. BA-MA, BL 1/146707: Tgb. InspLw, Eintrag vom 18.8.1967, Anl., Besprechung über AVS/G-91, Teilnehmer: T/H/W/Fü L I, S. 11; BL 1/146707: Tgb. InspLw, Eintrag vom 24.7.1967, Notiz und Besprechung über Ergebnisse der Jaguar-Konferenz in Paris am 20.7.1967; Sharpe, Angriffs- und Abfangjäger, S. 250-252. Sharpe, Angriffs- und Abfangjäger, S. 70 f. Zu den Anfängen des Umschwenkens auf STOL anstatt VTOL beim leichten Waffensystem vgl. BA-MA, BL 1/900: Rohentwurf für milit. Forderung für ein leichtes Unterschall-STOL-Erdkampfflugzeug, 2-sitzig mit 2 Triebwerken, vom 27.8.1965; BL 1/4521: Fü L14, Bewaffnungsvorschlag für die VAK191B vom 30.3.1966 mit Begleitdok. Milit. Forderung für ein STOL-Erdkampfflugzeug. Die dt. Luftwaffe beschaffte den Alpha Jet hauptsächlich für den Kampfeinsatz, behielt aber die Trainerfunktion mittels Schnellumrüstsätzen bei. Daneben nutzten noch andere Nationen den Alpha Jet, hier insbes. die Belgier. Basisinformationen und Bildmaterial in: Federation of American Scienties, Military Analysis Network, Alpha Jet, (15.12.2004), URL: , Avion de Combat, (15.12.2004), URL: , aerospaceweb.org, Dassault/ Domier, Alpha Jet, Light Attack & Trainer, (15.12.2004), , Bilder hierbei unter , The Belgian Alpha Jets' homepage, (10.9.2004), URL: (Kopien der Websites bei B.L.). Die Luftwaffe zeigte sich insbes. wegen der begrenzten Leistungsdaten und auch der fehlenden Panzerung in Folge vom Alpha Jet dann auch alles andere als begeistert. Vetter/Vetter, Versuchsprojekte der Bundeswehr, S. 74-76. BA-MA, BL 1/146707: Tgb. InspLw, Eintrag vom 18.8.1967, Anl., Besprechung über AVS/G-91, Teilnehmer: T/H/W/Fü L I, S. 11. Dazu auch ebd., Eintrag vom 24.7.1967, Besprechung über Ergebnisse der Jaguar-Konferenz in Paris am 20.7.1967. In diesem Zusammenhang hatte Steinhoff in Bezug auf die Corsair auch von »politischer« Untragbarkeit gesprochen. Was er genau damit meinte, bleibt ungeklärt. Möglicherweise sprach er deren Verwendung durch die US Navy in Vietnam an. Ebd., BL 1/14655: Tgb. InspLw, Eintrag vom 24.11.1965. Die VAK 191, auch die schwerere Version, bewegte sich nach einer anderen Aufstellung allerdings in der Nähe des unteren Endes der Leistungsskala (Direkte Vergleiche waren hier wegen der hypothetischen Leistungen stark theoretischer Natur). Auf dem letzten Platz landete wieder einmal die G-91, die allerdings nur als Ausgangspunkt aufgeführt worden war. Zu den Einzelheiten vgl. BL 1/4521: Auflistung Nachfolgemuster Vergleichsdaten o.D. (um 1966/68).
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Bernd Lemke: Konzeption und Aufbau der Luftwaffe
Die Militärs standen wie schon bei der F-104 und wie überhaupt generell bei Neuentwicklungen vor einer Entscheidung, die eine gewisse Zukunftsabschätzung nötig machte. Dabei mussten Vorteile und Risiken abgewogen werden, was gerade im vorliegenden Fall wegen der Neuheit der Technik immer mit einer Gratwanderung verbunden war. Risikobereitschaft und konventionelles bzw. konservatives Denken standen hierbei in Konkurrenz, genauso wie dies schon bei Kammhuber und Strauß Mitte der 50er Jahre der Fall gewesen war. Die konzeptionelle Ausrichtung von Fü L blieb auch in der Folge weiterhin konservativ: Entgegen den Initiativen von Fü L III zu einer weitgehend raketengestützten Nuklearkomponente behielt man die hergebrachte Gliederung (zwei bemannte Angriffsmuster)436 bei und kaufte eine nur begrenzte Stückzahl an Boden-Boden-Raketen ein. Technologisch versuchte man weiterhin das Maximale aus der Innovativkraft der Forschung herauszuholen, dabei allerdings die Erfahrungen der vorangegangenen Jahre mit einbringend. Zumindest im Fall des Tornado sollte man dann auch keine derartigen Enttäuschungen erleben wie bei der F-104, obwohl auch er Probleme mit sich brachte. Den Vertretern des Senkrechtstartergedankens blieb angesichts dieser Entwicklung schließlich nichts anderes übrig, als das Scheitern zu bedauern und auf die verpassten Chancen zu verweisen. Bis in die 70er und 80er Jahre hinein wurden sie nicht müde, das Zukunftspotenzial der VTOL-Technik zu betonen. Realistisch argumentierende Vertreter der VTOL-Technik kamen aber an den Misserfolgen nicht nur der deutschen Seite437 nicht vorbei und auch für die Luftwaffe änderte sich die Grundperspektive in der Folge nicht mehr438. Angesichts der herben Rückschläge in der Luft- und Raumfahrttechnik, so z.B. der erheblichen Probleme der Briten mit der Harrier oder, weiter gefasst, der Katastrophen, die die Amerikaner später mit ihren Raumfähren erlebten, scheint es angebracht, keinen zu großen Enthusiasmus hinsichtlich der praktischen Verwendbarkeit der Technik aufkommen zu lassen. Im Falle des Senkrechtstarters verkündete eine der zentralen Gestalten der deutschen Luftwaffenplanung der 60er Jahre, Herbert Büchs, das richtungweisende Schlusswort: »Wir geraten leicht in die Gefahr, zu hohe militärische Forderungen an die Technik zu stellen. Wegen zu perfektionistischer, gelegentlich aber auch zu unrealistischer und den Stand der Technik außer acht lassender militärischer Forderungen nehmen manche wehrtechnische Entwicklungen zu lange Zeit in Anspruch. Manche sind deshalb sogar undurchführbar [...] Überzogene Ebd., BL 1/1622: Fü L I 3, Blauer Brief 3/70, Informationen über den gegenwärtigen Stand der Luftwaffen-Rüstungsplanung vom 23.7.1970. Das Vtdg.-Ministerium entschied wie schon bei den beiden Vorgängermodellen fast zeitgleich für die MRCA am 21.7.1970 und für den Alpha Jet am 23.7.1970. BL 1/6724: Erarbeitung der Entscheidungsgrundlagen für den Umrüstplan der Luftwaffe, vom 25.8.1970. 437 Dazu Der Spiegel, 1967, Nr. 23, S. 146 f. 438 Flug-Senkrechtstarter VAK 191B, S. 18 ff. (Artikel F-R, downloadbar unter http://www. flug-revue.rotor.com/FRHeft7X/FRHeft75/FRH7504/FR7504a.htm (Kopie der Website bei B.L.). Interview mit dem InspLw (Rail), S. 15 ff. (Artikel F-R, downloadbar unter http:// www.flug-revue.rotor.com/FRHeft7X/FRHeft74/FRH7402/FR7402c.htm (Kopie der Website bei B.L.). 436
VI. Die Beschaffung der Waffen
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Forderungen an die Technik schwächen die Kampfkraft, wenn die Truppe nicht zeitgerecht ausgerüstet werden kann oder wenn sich aus der Einführung überkomplizierten Geräts zu hohe Ausbildungsforderungen ergeben439.« Vielleicht ist dies eine der wichtigen Lehren, die die deutsche Luftwaffe aus ihren ersten großen Rüstungsprojekten gezogen hat. Inwieweit dies nützlich war, muss sich nun erneut beweisen: Die Einführung des Eurofighter, der Typhoon, steht bevor.
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BA-MA, BL 1/4967: Fü S VII4, 13. Kommandeurstagung der Bw, Vortrag GenLt Büchs, Stv. Genlnsp, Probleme der Rüstungsplanung aus dt. Sicht, vom 21.7.1967, S. 8 f.
VII. Logistik, Versorgung und Landbeschaffung: Probleme auf dem Weg zur Einsatzfähigkeit 1. Defizite der Luftwaffenlogistik in historischer Perspektive In der Geschichte der deutschen Luftwaffe spielt die Logistik die Rolle eines in die zweite Reihe verbannten Stiefkindes. Bereits in der Zeit vor 1945 besaß sie einen untergeordneten Stellenwert, obwohl man die überragende Rolle der Technik für das ganze Kriegsinstrument - insbesondere die Bedingungen bei der praktischen Nutzbarmachung und Inganghaltung - erkannt und auch propagandistisch immer wieder herausgestellt hatte. Drei wesentliche Merkmale standen im Zentrum. Zum einen blieb infolge des hektischen, überhitzten Aufbaus der Verbände bis 1939, bei dem nicht zuletzt auch aus propagandistischpolitischen Erwägungen des Regimes vor allem die Kampfeinheiten Priorität erhielten, der strukturelle Tiefenaspekt vernachlässigt. Vorausschauende Entwicklung neuer Flugzeugtypen, entsprechende Rüstung und dazu der Aufbau und der Betrieb einer angemessenen Versorgungsorganisation traten hinter dem Kampfaspekt, d.h. vor allem der Schaffung und dem Einsatz der Angriffstruppen, zurück. Dies ging unter anderem auf den zweiten Grundaspekt, die Haltung der Luftwaffenspitze, zurück. Die führenden Generäle, überhaupt das Offizierkorps im Allgemeinen, betrachteten logistische Dienste, so z.B. die Quartiermeisterangelegenheiten, als nachrangig gegenüber der Einsatzführung. Dahinter stand die Wertschätzung, teilweise sogar Verherrlichung von Schlachtenlenkung, Truppenführung und direktem Kampf gegen den Feind ein spätestens seit dem Kaiserreich traditionelles Denkmuster deutscher Militärs. Im Falle der Luftwaffe wurde dies nach der entsprechenden Leitungsabteilung im Generalstab bzw. Führungsstab als »la/A3« 1 -Denken bezeichnet. Drittens spielte dann das aktuelle Geschehen im Krieg bis 1945 eine entscheidende Rolle. Nach dem Ende der Blitzkriegserfolge, bei denen schon ein guter Teil der erfahrensten Kampfverbände verloren gegangen war, sah sich die Luftwaffe einer hoffnungslosen Überforderung angesichts der zunehmend drückenden Überlegenheit der Gegner, gerade auch im Osten, konfrontiert. Als die Verluste ab 1943 dann rasch zunahmen, konnte man trotz der Effizienz- und Ausstoßsteigerung bei der Industrieproduktion mit dem Material- und Personalersatz kaum mehr mit den Anforderungen Schritt halten. Anders als etwa Boog, Luftwaffe und Logistik, S. 249; Boog, Führungsdenken, S. 187.
426
Bernd Lemke: Konzeption und Aufbau der Luftwaffe
die Westalliierten, die im Schutze ihrer Überlegenheit relativ ungestört ein gigantisches Logistikpotenzial aufbauen konnten, lebte man in Deutschland zunehmend von der Hand in den Mund, eine Situation, die durch die strukturellen Verhältnisse innerhalb des Regimes und die dadurch bedingten zahlreichen Eingriffe und Interventionen von Adolf Hitler und seinen Günstlingen mit allen Auswirkungen auf die Ressourcen- und Materialgestaltung noch verschärft wurde. Beim Aufbau der neuen Luftwaffe ab 1955 bildeten, unter neuen Vorzeichen, diese drei Faktoren teilweise wieder den Hintergrund. Besonders der Zeitfaktor hatte sich kaum geändert. Unter der aktuellen Bedrohung begann man wie zuvor mit überstürzter Aufbauarbeit und wie zuvor konzentrierte man sich vor allem auf die Kampfverbände. Man beeilte sich, rasch ein Schlaginstrument in die Hand zu bekommen. Die Logistik, die ja gerade auf vergleichsweise ruhige rationale Gestaltungsarbeit angewiesen war, hatte auch ab 1955 zunächst einmal das Nachsehen. Verstärkt wurden die strukturellen Anforderungen innerhalb des Bündnisses und seiner Strategie zunächst durch die personellen Kontinuitäten des Spitzenführungspersonals der ersten Zeit, das meist aus alten Kriegsteilnehmern bestand, die häufig noch die Prägungen aus den Jahren 1933-1939 oder sogar noch davor mitbrachte. Panitzki glaubte noch 1965 seinen Truppenführern gegenüber darauf hinweisen zu müssen, »daß Kommandeure nicht nur für den >EinsatzTechnik< verantwortlich sind«2.
2. Der Stellenwert der Logistik beim hektischen Wiederaufbau ab 1955 Aufbau und Gestaltung der Logistik der neuen Luftwaffe entwickelten sich entsprechend. Es wurde als unerlässlich betrachtet, zur Erhöhung der Abschreckung und dem damit untrennbar verbundenen politischen Gewicht der Bundesrepublik so rasch als möglich zumindest sichtbare Jabo-, Jagd- und Raketeneinheiten zu bekommen. Dabei stand zunächst weniger die technische Nachhaltigkeit als vielmehr die direkte taktische Einsatzfähigkeit im Vordergrund. Etwas salopp ausgedrückt: Man wollte schnell eine gewisse Anzahl an nuklear bestückten, zumindest aber nuklearfähigen Maschinen auf den Fliegerhorsten stehen haben, um den Abschreckungswillen zu demonstrieren3. Diese Tendenz, die sich mutatis mutandis durchaus den fast schon verzweifelten Aufrüstungsbemühungen der britischen RAF vor 1939 (Schaffung einer sog. ShopDazu BA-MA, B1 1/14655: Tgb. InspLw, Eintrag vom 25.8.1965, TOP 3. Vor allem Büchel stand im Zentrum der Bemühungen: BA-MA, B11/222: Vortrag OTL Schmoller vor Gen. Crispi, 4. ATAF, Dez. I960, S. 1. »First priority has always been assigned to the strike squadron at Büchel.«
VII. Logistik, Versorgung und Landbeschaffung
427
Window-Force, einer Truppe mit vorwiegendem Demonstrationscharakter) vergleichen lässt, führte zu einer bewussten Hintanstellung des logistischen Aufbaus. Die Konsequenzen dieser Entscheidung wurden recht schnell offenbar. Rasch stellten sich erhebliche Schwierigkeiten bei der Herstellung und Erhaltung der Einsatzfähigkeit ein, die teilweise zur Störung bzw. sogar zum Erliegen des Einsatz- und Ausbildungsbetriebes führten. Die Versorgung hinkte, wie man bereits im März 1958 eingestehen musste, um ca. anderthalb Jahre hinter den Einsatzverbänden hinterher 4 , eine Marge, die sich in der Folge noch vergrößerte. Die Luftwaffe fristete somit fast von Beginn ihrer neuen Existenz an in allen logistischen Bereichen eine defizitäre Existenz. Im Bereich der militärischen Luftfahrttechnik erwies sich derlei als hochsensibel, weil die modernen Militärjets komplexe Apparate mit einer hohen Anzahl von essentiellen Komponenten darstellen. Gerade vor dem Hintergrund der rasanten technologischen Entwicklung manifestierte sich, zunächst ausgehend vor allem von den Logistikern selbst, zumindest im konzeptionellen Rahmen dann doch zunehmend die Erkenntnis, dass das ganze Sachgebiet grundlegende und immense Bedeutung besaß. »Während wir früher vom toten Material sprachen, müssen wir heute feststellen, daß unser Material, unser technisches Gerät lebt 5 .« Schon der Ausfall eines einzigen Ersatzteils konnte Flug- oder Einsatzunfähigkeit bedeuten. Eng damit zusammen hing die Personalsituation. Von Anfang an mangelte es an technischem und logistischem Spezialpersonal, da man nicht genug Freiwillige für die entsprechenden Dienste bekam 6 . Dies hing unter anderem mit der Attraktivität des zivilen Sektors für Berufsanfänger zusammen. Da insbesondere längerdienende Zeitsoldaten knapp waren, musste man sich teilweise mit Wehrpflichtigen behelfen (Ausbildung direkt bei den Einsatzeinheiten: AAP - Ausbildung am Arbeitsplatz) 7 . Dadurch aber verschlechterte sich teilweise die Wartungs- und Bedienungsqualität, so dass es zu einem vermehrten Bedarf an Ersatzteilen kam. Personal- und Materialsituation bedingten sich derart, dass ständig reziproke Rückwirkungen erfolgten, die die reale Einsatzfähigkeit bedrohten 8 .
Ebd., B1 1/14705: Kommandeursbesprechung 1/58, am 19.3.1958, vom 19.3.1958, TOP 5. Ebd., B11/1269: Vortrag BG Gentsch, Fü L V, bei Generalsbesprechung der Luftwaffe, vom 28.4.1964, S. 2. Ebd., B1 1/14705: Kommandeursbesprechung 1/58, am 19.3.1958, vom 19.3.1958, TOP 7. Siehe auch ebd., Kommandeursbesprechung 2/58 am 20.6.1958, TOP IV, und Notiz über Besprechung mit den Gen. der Luftwaffe am 5.3.1959, TOP 4. Ebd., BI 1/2109: Blauer Brief Nr. 5, Fü L IV 1, Log. Lage Luftwaffe vom 1.4.1965, Anl. 1, sowie die entsprechenden Abschnitte in Bl 1/1633: Fü L IV 1, Blauer Brief Nr. 7/66, Log. Lage Luftwaffe 1965, vom 30.3.1966, und ebd., Blauer Brief 3/67, Log. Lage der Lw 1966, vom 29.3.1967; Bl 1/14705: Kommandeursbesprechung 2/60, Kommandeursbesprechung bei Fü L am 15.7.1960 vom 15.7.60, Anl. 7. Die AAP wurde von den Amerikanern entwickelt (OJT = On-the-Job-Training) und in der Bw ab Juli 1959 eingeführt. Zu den Anfängen hier ebd., Bl 1/14705: Kommandeursbesprechung 2/60, Kommandeursbesprechung bei Fü L am 15.7.1960 vom 15.7.1960, Anl. 6 und 7.
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Bernd Lemke: Konzeption und Aufbau der Luftwaffe
Komplettiert wurden die Schwierigkeiten durch die Infrastruktur9. Infolge der schleppenden Landfreigabe durch die Renitenz der Länder und wegen der Schwerfälligkeit der entsprechenden Bauämter sowie der entstehenden Finanzkrise fehlten nicht nur geeignete Flugplätze und Abschussbasen, sondern es gab massive Engpässe insbesondere für die Unterbringung der Versorgungseinheiten sowie der Lager und Depots10. Auch hier machte sich die Bevorzugung der Einsatzverbände bemerkbar11. Flugzeuge und Material mussten daher in teils ungenügenden, u.a. auch zur Baufälligkeit neigenden Gebäuden bzw. sogar im Freien gelagert werden - einer der wesentlichen Gründe für die technischen Krisen insbesondere der fliegenden Verbände in den 60er Jahren. Noch 1968 beklagte Fü L, dass die modernen Versorgungsartikel eines logistischen Verbandes, insgesamt 180 000, das, wie man betonte, 10-15fache eines deutschen Großversandhauses, in alten Fabriken, ehemaligen Ställen und Garagen lagere12. Dazu kam, dass ein Teil der Depots und Versorgungsverbände in taktisch ungünstiger Lage eingerichtet werden musste, d.h., sie waren entweder zu weit von den Einsatzverbänden entfernt oder sie standen aufgrund exponierter Lage in Gefahr, im Ernstfall rasch vernichtet zu werden13. All diese Probleme, die nicht zuletzt auch auf die Präsenz der alliierten Truppen und ihres erheblichen Bedarfs an Versorgungseinrichtungen zurückgingen, begleiteten die deutsche Luftwaffe bis in die 70er Jahre und darüber hinaus.
3. Die Entwicklung der logistischen Basisstrukturen bis 1967 Vor diesem Hintergrund vollzog sich der strukturelle Aufbauprozess. Die logistische Wiege der neuen Luftwaffe stand in Erding, die Hebamme war die USAF. Schon seit Juni 1945, also praktisch seit Kriegsende, fungierte an diesem Standort der 7485th Air Depot Wing als logistischer Verband für die USLuftwaffe, der nun gewissermaßen sowohl als Paten- und als Schleuseneinheit 9
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13
Zum Folgenden grundsätzlich ebd., B1 1/4898: Stand der Objekt-Bearbeitung Infrastruktur vom 1.9.1962, vom 11.9.1962, S. 4 7 - 6 6 ; B11/897: Schreiben von Colonel R. Bradly, Chief Air Force Section, MAAG, an Panitzki vom 15.1.1964, S. 19. Ebd., B11/1821: Fü L III (Mahlke), Vortrag bei der Kommandeursbesprechung am 27.1.1961, S. 20-24. Das Problem hielt sich bis Ende der 60er Jahre und darüber hinaus. B11/4027, Fü L III 1: Einführungsvortrag Lw für die Klausurtagung des BMVg und der Hauptabteilungsleiter/Abteilungsleiter, 19.-21.12.1969, Fassung vom 17.12.1969 (auch enthalten in: B1 1/4968: BMVg, Planungsstab/Fü S VII4, Lehrbacher Lesebuch 69 vom 19.12.1969), S. 35 ff. Ebd., S. 6; B1 1/4898: Fü L III 8, Grundsatz-Infrastruktur der Luftwaffe, Stand: Sept. 1962, vom 13.9.1962, S. 1-11. Ebd., B11/4050: Fü L III 3, Entwurf Vortrag Fü L vor dem Vtdg.-Ausschuss des Bundestages am 24./25.1.1968, Die heutige und zukünftige Lw, vom 26.1.1968, S. 32 und 41. Ebd., B1 1/14654: Tgb. InspLw, Anl. zum Tgb. InspLw vom 21.1.1963, Aktenvermerk über die Besprechung beim InspLw am 21.1.1963 betr. Depotplanung der Luftwaffe, (Objektfragen und Stand der Bearbeitung).
VII. Logistik, Versorgung und Landbeschaffung
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diente, dabei gleichzeitig eine der Folien für die neue Struktur abgab 14 . Aus seiner Substanz entstanden durch allmähliche Transferierung zunächst das Materialübernahmekommando, aus diesem wieder die erste deutsche logistische Territorialeinheit, das Luftwaffen-Parkregiment 1 (zunächst Luftwaffenversorgungsregiment 1), das man offiziell am 1. Oktober 1956 aufstellte, sowie das Materialkommando. Letzteres fungierte zunächst wie sein amerikanisches Vorbild als Schleuse für das ankommende US-Material der Erstausstattung und als Keimzelle für fast alle anderen deutschen Versorgungsstellen und Verbände ab Regimentsebene aufwärts. In Zusammenarbeit mit der neu entstehenden Spitzengliederung kam es in der Folge rasch zu einer Welle von Ausfaltungen und Neuaufstellungen, die zu einer Dreiteilung des logistischen Apparates, soweit er in der Bundesrepublik selbst angesiedelt war, führte. Für die allgemeine Steuerung und Verteilung der gesamten Logistik richtete man die zentralen Versorgungsdienste unter der Leitung des Allgemeinen Luftwaffenamtes, später des Luftwaffenamtes, ein. Als Steuerungskopf für Logistikund Materialerstellung bzw. -lenkung, soweit die Luftwaffe dies beeinflussen konnte, diente das Materialamt der Luftwaffe, das aus dem Materialkommando nach dessen Verlegung von Erding nach Köln-Wahn entstanden war (offizielle Aufstellung am 1. April 1958). Es zeichnete verantwortlich für die Gestaltung und Steuerung sämtlicher Aspekte der Beschaffung insbesondere auch der Waffensysteme (Forderungen an die zentralen Beschaffungsstellen bei Abt. Τ und BWB), des Nachschubs und der Instandhaltung. Dazu verfügte es über sog. Typenbegleiter. Jede dieser Stellen betreute und steuerte alle technischlogistischen Fragen eines Einsatzmusters von seiner Beschaffung bis zu seiner Ausmusterung 15 . Das Materialamt agierte in der Kommandohierarchie zunächst selbstständig auf der Ebene wie das Allgemeine Luftwaffenamt, das Kommando der Schulen und die Luftwaffengruppen. Im Zuge der ersten Aufwertung des Luftwaffenamtes 1962/63 wurde das Materialamt dort eingegliedert und der Inspektion Versorgung und Truppentechnik der Luftwaffe, der auch die Parkregimenter, die bislang dem Materialamt nachgeordnet waren 16 , sowie die Technische Schule der Luftwaffe 3 und die Nachschubschule erhielt, unterstellt 17 . Dieser Dienststelle oblag in der Folge unter dem General der Versorgung und Truppentechnik die direkte Leitung der Logistik. Auf der Spitzenebene war Abt. VI C, dann Fü L V, später Fü L IV verantwortlich. Die Logistikabteilung bei Fü L gab den neuen Prinzipien entsprechend alle praktischen Steuerungs-, Kontroll- und Überwachungsfunktionen an die Inspektion Versorgung und Truppentechnik der Luftwaffe und das Materialamt ab, konzentrierte sich stattdessen
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Zum Folgenden ebd., B1 1/14692: Ausarbeitung Kommandeur LwPkRgt 1, Werdegang des LwPkRgt 1, an Kammhuber vom 25.9.1961, und Chronik des Luftwaffenunterstützungskommandos 1970-2001, S. 21 ff. und 407-413. Chronik des Luftwaffenunterstützungskommandos 1970-2001, S. 381 f. BA-MA B1 1/14652: Tgb. InspLw, Tagesprotokoll vom 1.9.1961. Chronik des Luftwaffenunterstützungskommandos 1970-2001, S. 26 ff.; BA-MA, B1 2/ORG 1/21: Gliederungsskizze LWA mit unterstelltem Bereich vom 1.5.1967.
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Bernd Lemke: Konzeption und Aufbau der Luftwaffe
auf die Festlegung der Grundlinien, die ministeriellen Aspekte und fungierte als oberster Entscheidungsträger. Die Entscheidungsgremien im Luftwaffenamt hatten trotz ihrer neuen Befugnisse nur eingeschränkte Macht, da die Forderungen und die Entscheidung für Neubeschaffungen, insbesondere für die Waffensysteme und alle dazugehörigen Komponenten, auf Bundeswehrebene, d.h. vor allem Abt. Τ und dem ihr unterstellten BWB lagen. Die Institutionen der Luftwaffe konnten zwar eigene Forderungen stellen, wurden auch am Entstehungsgang beteiligt, besaßen aber keinerlei Entscheidungsmacht. Sie zeichneten gewissermaßen ab dem Punkt verantwortlich, an dem das Material bei der Teilstreitkraft selbst ankam, d.h. für alle Fragen der Versorgung, Instandhaltung, Wartung und Pflege. Die praktischen Ausführungsorgane waren die beiden Luftwaffenparkregimenter, je eines pro Luftwaffengruppe: das LwPkRgt. 1, das in Erding verblieb, und das LwPkRgt. 2, das man in Diepholz aufstellte. Neben der ursprünglichen Funktion als Schleuse für alles ankommende Schwerpunktmaterial hatten die Parkregimenter für die Erledigung aller Großaufgaben, insbesondere die schwere Instandsetzung und die Grundüberholung der Kampfgeräte und Waffensysteme (MEST 3 und 4) sowie für die Verteilung von luftwaffeneigentümlichem Gerät und Treibstoff, zu sorgen. Dazu besaßen sie spezielle Untereinheiten, die Instandsetzungs-, Nachschub- und Transportgruppe18. Die Verteilung an die Truppe erfolgte im zweiten Bereich der Luftwaffenlogistik und war Aufgabe der Luftwaffenversorgungsregimenter, die anfangs etwas ungeordnet den Luftwaffengruppen direkt unterstellt waren, ab 1962/63 dann in spezielle Luftwaffenversorgungsdivisionen (je eine pro Luftwaffengruppe) eingegliedert wurden. Die Luftwaffengruppen und -divisionen hatten die höheren Kommandofunktionen wahrzunehmen, also etwa den Ausgleich des logistischen Potenzials in ihrem Bereich. In der Tat stellte die Versorgung letztlich die Hauptaufgabe der Luftwaffengruppen dar, obwohl Kammhuber anfangs versucht hatte, sie auch auf genuine Führungstätigkeit vorzubereiten19. Im Süden wurde dies dann auch teilweise realisiert, weil die amerikanisch dominierte 4. ATAF die Kampfführung an die nationalen Kommandobehörden delegierte. Der kommandierende General der Luftwaffengruppe Nord hingegen war in erster Linie Logistiker, der über keine eigenen Befugnisse zum Einsatz von Kampfverbänden verfügte. Die Luftwaffenversorgungsregimenter ihrerseits stellten gewissermaßen die zentralen Ausgabe- und Servicestellen für alle Einheiten in ihrem Bereich dar, wobei jedoch Großgerät auch direkt von den Parkregimentern an die Einsatzverbände geliefert wurde. In ihrem Bereich lagerte der Kriegsvorrat der Luftwaffe für den Ernstfall (8.-30. Kampftag, d.h. Material für 23 Tage Intensiveinsatz). Die Struktur und das Materialsortiment der Regimenter sollte sie dazu befähigen, auch bei Unterbrechung der Verbindungslinien die Versorgung 18
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BA-MA, B11/14692: Ausarbeitung Kommandeur LwPkRgt 1, Werdegang des LwPkRgt 1, an Kammhuber vom 25.9.1961. Ebd., B1 1/14705: Notiz über Besprechung mit den Gen. der Lw am 5.3.1959, TOP 2.
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VII. Logistik, Versorgung und Landbeschaffung
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J) c : υ) to - ο unbewaffnetem Auge< betrachtet, in den zwölf Jahren seit dem faktischen Ausrüstungsbeginn erheblich geändert. Die Erstausstattung bestand noch aus vergleichsweise einfachem Material, dies vor allem bei den Flugzeugen, die in vielem noch eher an die Modelle des Zweiten Weltkriegs erinnerten als an die nachfolgenden Muster. Die Standardausrüstung 1970 dagegen erfasste nicht mehr nur Flugzeuge, Flak und Fernmeldegeräte, sondern hochkomplizierte Waffensysteme, Raketen und elektronische High-Tech. Das Paradebeispiel bildete der F-104 Starfighter, der als Hauptträger der Aufgaben nicht nur fast alle Verwendungen abdeckte, sondern wegen seiner komplizierten Ausstattung als Waffensystem klassifiziert wurde, d.h. als technischer Organismus mit einem organisatorisch-logistischen Eigenleben, das nur unter Anwendung eines umfassenden Rundumkonzeptes unter integrierter Einbeziehung sämtlicher Elemente von der Ausbildung der Piloten bis zur Wartung der Detailkomponenten am Fliegen gehalten werden konnte. Diese Entwicklung bezeichnete ein Zeitzeuge als regelrechten »Quantensprung« 1 . Nach und nach definierte man alle Haupteinsatzmittel als Waffensysteme, auch z.B. Transportflugzeuge. Bei der technischen Entwicklung der Waffensysteme hatte die Luftwaffe Niederlagen hinnehmen müssen. Nicht nur hatte man alle Mühe, die Absturzserie der F-104 in den Griff zu bekommen, man hatte auch große Beträge in die Entwicklung von letztlich dann nicht einsetzbaren Mustern, den Senkrechtstartern, investiert. Wie die Luftwaffen anderer Nationen auch zog man danach die nötigen Konsequenzen und auf der Basis von internationaler Rüstungskooperation unter Beachtung der Balance finanzieller Leistungsfähigkeit, strategischer-taktischer Notwendigkeit, technischer Machbarkeit und organisatorischer Beherrschbarkeit nahm man neue Projekte in Angriff, die nun entweder kurz vor der Einführung bzw. vor Entwicklungsbeginn standen (Phantom, Alpha Jet, MRCA). Organisatorisch hatten sich ebenfalls sichtbare Veränderungen ergeben. Nicht zuletzt wegen des finanziellen Spardruckes, aber auch wegen der Notwendigkeit effizienter Betriebs- und Einsatzgestaltung hatte man die Kommandostrukturen reformiert. Angetreten war die Luftwaffe mit einem - gemessen an den dann zur Verfügung stehenden Mitteln - opulenten Konzept, das eine relativ ausgedehnte Ausbildungsorganisation unter einem eigenen Kommando, Gen. a.D. Eimler, ehem. InspLw, Okt. 2004.
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Bernd Lemke: Konzeption und Aufbau der Luftwaffe
eine Einsatzstruktur auf geographischer Basis (Luftwaffengruppen) mit 20, zeitweise 24 Geschwadern und einer ausgedehnten, ebenfalls auf geographische Abdeckung hinzielende Logistik beinhaltete. 1970 besaß man noch 17 Geschwader, davon 13 Kampfgeschwader, ein im Luftwaffenamt konzentriertes Ausbildungs- und Inspektionswesen, eine gestraffte, auf die tatsächlich vorhandenen Objekte (z.B. Depots) zugeschnittene Logistikorganisation und vor allem eine gänzlich umgestaltete Korpsstruktur. Man hatte die Luftwaffengruppen abgeschafft und durch bundesweit zuständige Funktionskommandos ersetzt. Wie und ob hier die RAF mit ihrer Grundstruktur (Fighter Command, Bomber Command) Pate gestanden hatte, konnte nicht eindeutig geklärt werden. Jedenfalls war der deutschem Luftwaffengeschichte ein Denken in Kommandos nicht unbedingt neu. Schon im Zweiten Weltkrieg hatte man eine Luftflotte Reich und einen Angriffsführer England geschaffen und die Gliederung, mit der man 1955 an den Start ging, war eine Mischung aus geographischen Elementen (Luftwaffengruppen) und Kommandos gewesen2. Die Frage ist, ob diese Tradition den Erfolgen der Alliierten bis 1943/44 geschuldet ist. Mit der Einführung der Funktionskommandos korrespondierte die Umgliederung des Spitzengremiums, des Führungsstabes Luftwaffe, vom traditionellen Muster, das auf den Führungsgrundgebieten beruhte, hin zu einer stark, wenn auch nicht vollkommen durchkonzipierten, >analytischen< Grundstruktur. Diese basierte auf den Elementen Planung, Einsatz und Einsatzunterstützung. In der Folge ließ sich dies jedoch angesichts anderer Vorstellungen bei Fü S und den anderen Teilstreitkräften nicht durchhalten. Im personellen Bereich stand eine gewisse Zäsur zu erwarten, die allerdings erst nach einigen Jahren wirklich greifen würde. Die ersten Führungskader, insbesondere in den Spitzenpositionen von Kommandostruktur und Einsatzverbänden, sahen langsam das Ende ihrer Dienstzeit nahen. Hierzu gehörten vor allem auch ehemalige Mitglieder des legendär verklärten Jagdgeschwaders 52 aus dem Ostfeldzug 1941-1945 (u.a. Steinhoff, Rail, Hrabak, Obleser, Barkhorn, Krupinski, Hartmann)3, deren Namen vor allem in den anglo-amerikanischen Ländern teils geradezu gefeiert wurden und die dann auch Spitzenpositionen im deutschen Luftwaffenapparat innehatten. Eine neue Generation von nicht mehr kriegsgedienten Offizieren, die ihre Vorgänger nicht selten als Vorbilder betrachteten, stand bereits in den Startlöchern, um die Nachfolge anzutreten. Als Symbol und Beispiel mag hier unter anderen Hans-Jürgen Rentel dienen, der Kommodore des JG 71 ab 1972. Bei den Unteroffizieren und Mannschaften griffen die allgemeinen Neuerungen. Gefragt war letztlich nicht mehr der Kämpfer (die Reichsluftwaffe hatte u.a. noch überaus mannschaftsstarke Luftwaffen-Feldbataillone unterhalten), sondern der Techniker. Hier hatte die Luftwaffe trotz ihrer Versuche, die TechSehr gut ersichtlich in BA-MA, BW 9/441: Organisation der künftigen dt. Luftwaffe, 29.11.1957, Anl. 4 Kdo-Stäbe (von II/Pl/L 223/55 vom 2.4.1955). Toliver/Constable, Holt Hartmann vom Himmel!, S. 1 0 6 - 1 1 6 und 306-309. Vgl. auch die entsprechenden Abschnitte bei Rail, Mein Flugbuch, S. 141-180.
IX. Fazit
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nik als Propaganda- und Rekrutierungsmittel zu verwenden, erhebliche Schwierigkeiten insbesondere im Bereich längerdienender Spezialisten, die man nur unter Rückgriff auf Wehrpflichtige, die in ihrer kurzen Dienstzeit nur beschränkte technische Fähigkeiten erwerben konnten, halbwegs bewältigen konnte. Bei Fü L sah man dies angesichts der Starfighter-Krise und weiterer Probleme verschiedentlich als ernstes Problem an. Hinsichtlich der strategischen Lage und der teilweise daraus folgenden Stellung der Luftwaffe im Gesamtkontext von Bundeswehr und NATO hatte man wenigstens für Deutschland einen Bedeutungszenit erreicht und bereits hinter sich gelassen. Unter der Massive Retaliation überragte die Luftwaffe als vorrangiger Atomwaffenträger die anderen Teilstreitkräfte zumindest theoretisch. Wenn man davon ausgeht, dass es bei einem Krieg nur noch darum geht, eine möglichst große Vernichtungswirkung auf >technischem< Wege an den Feind zu bringen, war die Kombination (taktisches) Kampfflugzeug und Atomwaffe auch gemessen am Quotienten Aufwand-Nutzen unschlagbar. Die Luftwaffe hatte sich daher auch unter ihrem ersten Inspekteur Kammhuber angeschickt, ins Zentrum der Verteidigungsanstrengungen zu rücken und selbst die Anschaffung von strategischen Mittelstreckenraketen avisiert. Die Führungsebene der Bundeswehr (Heusinger) fragte zeitweise sogar ernsthaft, ob das Schwergewicht in Zukunft nicht bei der Luftwaffe - vor allem auf Kosten des Heeres - liegen sollte4. Weiter war es dann aber nicht gegangen. Praktische Konsequenzen folgten derlei Gedankenspielen nicht, dies nicht zuletzt auch deshalb, weil die Massive Retaliation schon in der zweiten Hälfte der 50er Jahre erkennbare Schwächen als Instrument für die Bewältigung der Bedrohungen des Kalten Krieges zeigte. Ab 1961 wurde sie langsam durch eine beweglichere Strategie (Flexible Response) abgelöst. Die damit verbundene massive Betonung konventioneller Kriegführung zur Vermeidung bzw. möglichst langen Hinauszögerung eines Kernwaffeneinsatzes im Kriegsfall ging ans Mark der bisherigen Planung und Argumentation der Luftwaffe. Nunmehr rückte das Heer wieder in den Mittelpunkt und die Luftwaffe, die sich, obwohl sie prinzipiell und durchgängig taktisch ausgerichtet war, wegen der großen Vernichtungskraft der Atomwaffen gegen die Feindtruppen und deren Einsatzfähigkeit ein gutes Stück von der Heeresunterstützung verabschiedet und sich damit verselbstständigt hatte, sah sich in ihrer Einsatzfähigkeit und ihrer Wirkkraft bedroht. Der nach eigener Ansicht wesentliche Teil des Aufgabenspektrums, der Kampf gegen die feindliche Luftwaffe und die Abschnürung der feindlichen Front vom Hinterland, machte ohne den Einsatz von Atomwaffen angesichts der numerischen Überlegenheit des Warschauer Paktes kaum Sinn und kam eher einer Vergeudung der eigenen Kräfte gleich. Die unmittelbare Unterstützung des Heeres auf dem
Strauß gibt in seinen Erinnerungen zumindest f ü r die Zeit der Massive Retaliation eine Vorliebe für die Luftwaffe offen zu. Dazu und zu den daraus resultierenden, teils heftigen Auseinandersetzungen bei Fü S (um die Position von Strauß) siehe Strauß, Die Erinnerungen, S. 282 u n d 370-379.
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Bernd Lemke: Konzeption und Aufbau der Luftwaffe
Schlachtfeld betrachtete die Luftwaffe eher als Nebenaufgaben bzw. lehnte sie weitgehend ab (Krupinski). Man wollte schwerpunktmäßig nicht als Heeresfliegertruppe agieren, betonte auch, dass die F-104 für einen derartigen Einsatz kaum geeignet war. Die Konzeption hing daher 1970 in gewisser Weise in der Luft. Formell blieben die schweren Jabo-Geschwader atomar ausgerüstet; nur besaß die Luftwaffe im Ernstfall keinerlei Einfluss auf ihre Bestückung. Die NATO hätte ohne weiteres einen rein konventionellen Einsatz bis zum Ende der Kampfhandlungen befehlen können. Man befand sich in einer gewissen Grauzone zwischen der Verabschiedung der Atomwaffen und der Hoffnung auf neue, hocheffiziente konventionelle Munition. Diese sollte dann erst ab Ende der 70er Jahre geliefert werden (z.B. Cluster-Bomben). Man benötigte Zeit, um sich auf die neuen Verhältnisse einzustellen. Einen ersten Schritt in diese Richtung stellte die Vorbereitung auf die AFCENT Conventional Offensive Air Operations Conference im Januar 1969 dar. Bis zum Erreichen neuer konzeptioneller Ufer verlegte sich die Luftwaffe darauf, den Strategiewechsel zwar nicht grundsätzlich in Frage zu stellen; aber sie leistete unter Hinweis auf die technischen, organisatorischen, logistischen und materiellen Engpässe gewissermaßen hinhaltenden Widerstand gegen eine möglicherweise vollständige Denuklearisierung. Keinesfalls war man bereit, an den eigenen Einsatzprinzipien zu rütteln. Dieser Punkt leitet über zu den tieferen, den strukturellen Zusammenhängen. Diese verweisen im Gegensatz zu den augenfälligen >technischen< Aspekten insgesamt dann doch in erheblichem Maße auf beharrende Faktoren bzw. zeit- und nationübergreifende Aspekte. Das Einsatzraster hatte sich seit Beginn der konzeptionellen Grundlagenarbeit Mitte der 30er Jahre praktisch nicht geändert und galt, zumindest für die USA(A)F, die RAF und die Luftwaffe, auch weiterhin. Die zentralen Elemente für den Einsatz einer taktischen Luftwaffe blieben, wenn auch in unterschiedlicher Formulierung: - Counter Air - Interdiction - Close Air Support - Reconnaissance Dieses Raster war in Antizipierung großer Schlachten entstanden und setzte sich nach 1945 mehr oder weniger nahtlos fort. Die Atomwaffen änderten dies bei allen zu erwartenden Detailneuerungen (z.B. Reduzierung der zu erwartenden Einsätze der eigenen Kampfverbände) nicht, da sie im Falle der Luftwaffe kaum technische oder organisatorische Wandlungen nötig machten. Taktische Nuklearbomben konnten betriebstechnisch gesehen wie konventionelle Bomben an die Jabos gehängt werden. Es ist eigentlich bemerkenswert, dass sich diese Perspektive kaum gewandelt hat, und dies spricht auch gegen eine allzu starke Betonung des revolutionären Aspektes der Atomwaffen für die Kriegführung. Wie von amerikanischer Seite Mitte der 50er Jahre betont, seien die Atomwaffen zumindest im taktischen Bereich als normale Waffen zu betrachten, d.h., sie stellten in erster Linie eine quantitative, keine qualitative Neuerung dar. Tief-
IX. Fazit
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greifende Änderungen ergaben sich erst im Zuge der strategischen Umgestaltung ab 1990, der Verabschiedung des Hauptschlachtszenarios in Mitteleuropa und der nuklearen Abrüstung. Erst danach fielen wichtige konzeptionelle Komponenten und die damit verbundenen Waffensysteme weg, wie z.B. die Pershing Ia und der Alpha Jet. Wenig geändert hatten sich auch die primären Organisationsgrundlagen. Es kam keineswegs zu einschneidenden Änderungen der Strukturen, dies vielleicht im Unterschied zum Heer, wo unter dem Atomkriegsszenario doch teils gewichtige Wandlungen eintraten (z.B. Divisions-/Brigadestruktur). Bei der Luftwaffe blieb das Geschwader die zentrale Einsatzeinheit, die - aus technischen und organisatorischen Gründen - um ein Element, die technische Gruppe, erweitert wurde. Auch die prinzipielle Einteilung der Spitzengliederung, der höheren und mittleren Kommandoebene bzw. des Ausbildungs- und Inspektionswesens wurde keineswegs umgestoßen. Die Neuerungen, die sich bis 1970 ergaben und die dann durchaus einen qualitativen Unterschied zu den Jahrzehnten zuvor bedeuteten, hatte eher den Charakter evolutionärer Weiterentwicklung. Schließlich hatte sich auch die allgemeine Position des Faktors Luftwaffe im allgemeinen Beziehungsgeflecht des 20. Jahrhunderts, insbesondere der deutschen und europäischen Geschichte, nur wenig gewandelt. Man hatte bis 1970 gewissermaßen zwei Zyklen von Ruhephase und hektischer Betriebsamkeit durchlaufen. Nach 1918 war die Luftwaffe ca. 15 Jahre nicht existent und wurde danach in rasendem Tempo unter Schaffung teils erheblicher Defizite aufgebaut. Nach der Katastrophe 1939-1945 ruhte der Betrieb um 10 Jahre und wurde danach erneut von hektischer Aufstellung abgelöst. Strauß selbst, einer der Initiatoren des Aufbauprogramms, merkte nach eigenen Angaben in der heftigen Diskussion um die Realisierung der Aufstellungspläne Mitte der 50er Jahre im allgemeinen Bundeswehrrahmen an, dass die aktuelle Planung ein Tempo vorgebe, dass das der Nationalsozialisten 1933-1938 noch übertreffe 5 . Strauß selbst sorgte in der Folge unter dem Eindruck der Atomwaffen für eine langsamere, realistischere Basis, ohne jedoch die Probleme beseitigen zu können. Die Luftwaffe hetzte bis 1970 durch einen Aufstellungsmarathon, der zu erheblichen Schwierigkeiten führte, der nicht nur die Starfighter-Krise mit sich brachte, sondern vor allem auch die Logistik betraf, wie der peinliche Zwischenfall des Diebstahls einer Sidewinder-Luft-Luft-Rakete aus einem Luftwaffen-Depot bewies oder die Verhältnisse bei einem Geschwader in Norddeutschland, wo die konventionelle Munition zeitweise offenbar in Zelten lagerte. Die Zustände gerierten sich teils katastrophal. Im Gesamtzusammenhang versuchte man angesichts dieser und vieler anderer Probleme die Aufstellung der Luftwaffe durch Maßnahmen zur Konsolidierung in den Griff zu bekommen. Dies verweist auf ein letztes zentrales Moment. Moderne Streitkräfte leben immer unter der Dichotomie Einsatzplanung/Einsatzführung und Realisierung (Logistik etc.). Es genügt nicht, Einsatzpläne zu erstellen und Waffen einzukau5
Ebd., S. 270 f.
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Bernd Lemke: Konzeption und Aufbau der Luftwaffe
fen, sondern man muss diese betriebsfähig machen und halten. Gerade bei der Luftwaffe erforderte diese Aufgabe einen sehr großen Teil der Kräfte. Immerhin steht sie damit nicht allein. Alle Luftwaffen müssen sich damit auseinandersetzen, wie gerade die Royal Air Force, im 20. Jahrhundert in verschiedenen Mischungen Gegner, Konkurrent und Partner der Luftwaffe, bewies. Sie hatte bis 1939 dieselben Probleme und schaffte es nicht, eine Truppe aufzubauen, die zu massiven Schlägen in der Lage war. Man besaß eine Schemtruppe, eine »shop window force«, die sich erst ab 1942 für eine größere Luftschlacht eignete. Der Aufbau einer Luftwaffe braucht bei aller nach innen und außen demonstrierten Dynamik in erster Linie Ruhe und Zeit.
Dieter Krüger Die Entstehung der NATO-Luftverteidigung und die Integration der Luftwaffe
I. Die Integration der Luftverteidigung: Die Vorstellungen des Bündnisses 1. Die Anfänge der alliierten Luftverteidigung Der Zweite Weltkrieg lehrte, dass militärische Operationen in aller Regel nur dann Aussicht auf Erfolg hatten, wenn sie von zumindest vorübergehender Luftüberlegenheit begleitet waren. Unter Luftverteidigung als defensiver Dimension des Ringens um Luftüberlegenheit wird der passive und aktive Schutz gegen Luftangriffe verstanden. Dabei stellt der Angriff auf die offensiven Luftkriegsmittel des Gegners am Boden (counter air) bereits den Ubergang zum Luftangriff dar. In der Luftschlacht über England und im Zusammenbruch der deutschen Heimatluftverteidigung gegen den strategischen Luftkrieg der Angelsachsen im Zweiten Weltkrieg zeigte sich die Bedeutung der Zusammenfassung aller Komponenten der Luftverteidigung zu einem System unter einheitlicher Führung. Der Übergang von der freien Jagd gegnerischer Flugzeuge zu einer bodenständigen Jägerleitorganisation ist dafür ebenso charakteristisch wie das Scheitern der deutschen Heimatluftverteidigung an der notwendigen Abstimmung von Jägern und bodenständiger Flakartillerie. Der Luftmelde- und Warndienst, die Führungsorganisation sowie die bodenständigen und luftgestützten Verteidigungsmittel (Rohr- und Raketenartillerie bzw. Jäger) samt Infrastruktur und Versorgung bilden die wesentlichen Komponenten des Systems Luftverteidigung. Die Luftverteidigung sah sich nach dem Zweiten Weltkrieg durch Strahlflugzeuge, Flugkörper und vor allem durch deren nukleare Bewaffnung vor völlig neue Herausforderungen gestellt. Hohe Geschwindigkeiten angreifender Flugzeuge reduzierten die Anflugzeiten und damit die Reaktionsspanne der Luftverteidigung auf ein Minimum. Ballistische Raketen konnten überhaupt nur ausgeschaltet werden, solange sie noch nicht abgefeuert waren. Gleichzeitig verlieh die Atombewaffnung dem Flugzeug wie dem einzelnen Flugkörper eine vervielfachte Feuerkraft. Die durch Schwärme von Flugzeugen vorzutragenden Bombenteppiche gehörten der Vergangenheit an. In bisher nicht gekanntem Ausmaß besaß jetzt der Angreifer die Initiative im Luftkrieg. Die Luftverteidigung konnte diesen operativen Vorteil nur technologisch und organisatorisch verringern. Einerseits galt es, die radargestützten Melde- und Warnsysteme durch größtmögliche Reichweiten zu optimieren und die Informationsübermittlung im gesamten Führungsprozess maximal zu beschleunigen. Andererseits war die Luftverteidigung so großräumig zu organi-
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Dieter Krüger: Die Entstehung der NATO-Luftverteidigung
sieren, dass sie nicht umflogen werden, sondern im Gegenteil selbst Schwerpunkte bilden konnte1. Besaßen Nordamerika und die Sowjetunion große Staatsgebiete mit maritimen bzw. territorialen Vorfeldern, wurde die Luftverteidigung der kleinräumigen westeuropäischen Nationen den oben erwähnten Herausforderungen offenkundig nicht gerecht. Folgerichtig plante schon die kurzlebige Militärorganisation des am 17. März 1948 von Großbritannien, Frankreich und den Staaten des Benelux unterzeichneten Brüsseler Paktes eine integrierte Luftverteidigung. Deren Befehlshaber sollte in Krieg und Übungen »full control« über die Luftverteidigungskräfte des Bündnisses übernehmen. Allerdings wurde der gemeinsame Luftverteidigungsausschuss der Western European Defence Organisation von den Vertragspartnern des am 19. April 1949 unterzeichneten Nordatlantikvertrages nicht übernommen. Mit seinen ersten strategischen Entscheidungen MC 3 bis MC 3/2 sowie DC 6 und DC 6/12 nahm das Bündnis eine Arbeitsteilung vor. Danach trugen die Vereinigten Staaten die Verantwortung für den nuklearen strategischen Luftkrieg. Der Schutz der atlantischen Seeverbindungen oblag Amerikanern und Briten gemeinsam. Dagegen war die Verteidigung des Kontinents zu Lande und in der Luft zunächst einmal Sache der Europäer selbst. Sie wurden durch die in Europa stationierten Verbände der Vereinigten Staaten unterstützt. Im Vertrauen auf den Nuklearschirm der Vereinigten Staaten und aus Sorge vor Eingriffen in die nationale Lufthoheit blieb die Luftverteidigung in nationaler Verantwortung. In Westdeutschland war jede der drei Besatzungsmächte selbst für die Luftverteidigung ihrer Zone zuständig3. Im März 1950 definierte das Bündnis in seinem Medium Term Defence Plan den Auftrag an seine Luftstreitkräfte. Sie hatten durch offensives »counter air« die Lufthoheit zu erringen. Der gegnerischen Luftmacht sollte verwehrt werden, die eigenen See- und Landstreitkräfte, Industrie und Bevölkerung zu beeinträchtigen. Allein der fliegenden Luftverteidigung sollten einst ca. 3927 Tag- und Allwetterjäger zur Verfügung stehen4. In den ersten Überlegungen zu einem Beitritt der Bundesrepublik zum Atlantikpakt bzw. zur geplanten Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) waren deutsche Luftstreitkräfte ganz auf die Unterstützung der Landstreitkräfte ausgelegt. Die Luftverteidigung blieb nationale Angelegenheit und zum Leidwesen der Deutschen - denen die Bombenangriffe auf deutsche Städte noch vor Augen standen - eher Stiefkind des westdeutschen Militärbeitrages5.
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Vgl. Böker, Aktive Luftverteidigung, S. 91; Gustke, Luftverteidigungsfragen; Stecken, Luftverteidigung, passim; Müller, Luftverteidigung, S. 13-15. Vgl. NATO Strategy, S. 6 f., 16 f., 46 f., 54 f., 62 f. Vgl. SHO, SHAPE History July 1953-Nov. 1956, S. 211; SHAPE History 1959, S. VI 1 f.; Roth, Integration der Luftverteidigung, S. 168 f. Vgl. DC 13 vom 28.3.1950, in: NATO Strategy, S. 169 f. Die hier (S. 177) genannte Zahl von 7084 schließt offenbar Jabos mit ein. SCR, 16 mm, P12E R02, MC 26/1 (Final), 21.11.1951, nennt 3927 Tag- und Allwetterjäger, davon 1874 in Mitteleuropa. Vgl. Meier-Dörnberg, Die Planung des Verteidigungsbeitrages, S. 636-638, 677 f.
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I. Die Integration der Luftverteidigung
Alliierte Kommandostruktur in Europa ab Dezember 1953 Supreme Headquarters Allied P o w e r s Europe Paris Allied Forces Northern Europe Oslo
Allied Forces Central Europe Fontainebleau
Allied Forces Southern Europe Naples
Allied Forces Mediterranean Malta
Allied Land Forces Norway Oslo
Allied Land Forces Central Europe Fontainebleau
Allied Land Forces Southeastern Europe Izmir
Western Mediterranean Area Algiers
Allied Land Forces Denmark Copenhagen
Allied Air Forces Central Europe Fontainebleau
Allied Land Forces Southern Europe Verona
Gibraltar Area Gibraltar
Allied Air Forces Northern Europe Norway Sandvika
Allied Naval Forces Central Europe Fontainebleau
Allied Air Forces Southern Europe Naples
Central Mediterranean Area Naples
Naval Striking and Support Forces Southern Europe Naples
Eastern Mediterranean Area Athens
Allied Naval Forces Northern Europe Oslo
Northeastern Mediterranean Area Ankara
Q u e l l e : S h a p e History, J u l y 1 9 5 3 - N o v e m b e r 1 9 5 6 , S. 14.
©MGFA
04902-06
Southeastern Mediterranean Area Malta
Unter der Schockwirkung des Koreakrieges begannen die Mitglieder des Atlantikvertrages mit dem Ausbau der ständigen Paktorganisation (NATO). Die Militärorganisation gliederte sich in drei Kommandobehörden für Europa, den Atlantik und den Ärmelkanal. Das Supreme Headquarters Allied Powers Europe (SHAPE) wurde bald von London nach Fontainebleau bei Paris verlegt. Der erste Supreme Allied Commander Europe (SACEUR), Dwight D. Eisenhower, richtete für Nord- und Südeuropa jeweils eigene Oberkommandos ein (AFNORTH und AFSOUTH). Damit waren die ersten Major Subordinate Commands (MSC) geschaffen worden. In Mitteleuropa (Westdeutschland, Benelux und Frankreich) sah er dagegen von einem regionalen Oberkommando ab. Der französische Oberbefehlshaber Landstreitkräfte (CINCLANDCENT), Marschall Alphonse Juin, der amerikanische Oberbefehlshaber Luftstreitkräfte (CINCAIRCENT), Lauris Norstad, und ein französischer Naval Flagg Officer unterstanden dem SACEUR vorläufig direkt. Ausschlaggebend war die Sorge, ein französischer Oberbefehlshaber Mitteleuropa könnte den Einsatz der alliierten Luftstreitkräfte zu sehr an den Bedürfnissen der Landstreitkräfte ausrichten und den zwei am 2. April 1952 eingerichteten Alliierten Taktischen Luftflotten (ATAFs) eine eigenständige Rolle verwehren. Die britisch dominierte 2. ATAF in Mönchengladbach war für Norddeutschland, die von den Amerikanern geprägte 4. ATAF in Ramstein für Süddeutschland zuständig. Das jeweilige Führungsverhalten orientierte sich an den unterschiedlichen Erfahrungen der Briten im Zweiten Weltkrieg und der Amerikaner im Koreakrieg. Eisenhowers Nachfolger, Matthew B. Ridgway, betraute dann doch Juin mit dem Oberbefehl über die alliierten Streitkräfte in Mitteleuropa (CINCENT). Damit hatte Ridgway das
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Dieter Krüger: Die Entstehung der NATO-Luftverteidigung
dritte MSC geschaffen. Er unterstellte ihm Basil Embry, den britischen Befehlshaber der Luftstreitkräfte (COMAIRCENT). Bei dessen Stab handelte es sich um eines der dem MSC nachgeordneten Principal Subordinate Commands (PSC). Im Gegenzug wertete er Norstad im Juli 1953 zu seinem Stellvertreter für Angelegenheiten der Luftstreitkräfte (AIR DEPUTY) auf. Der amerikanische Luftwaffengeneral plante Ziele und Einsatz der Luftangriffsverbände. Dabei spielte der Einsatz taktischer Atomwaffen und die Koordination mit der strategischen Luftmacht der Vereinigten Staaten eine zunehmend wichtige Rolle. Norstad sollte im Übrigen auf Angleichung von Ausbildung, operativen Verfahren sowie personeller und materieller Rüstung der Luftstreitkräfte der europäischen Bündnispartner hinwirken6. Die Skizze (S. 489) zeigt das Schema der MSC und PSC in Europa. Am 21. November 1951 verabschiedete der Nordatlantikrat die Direktive MC 36. Sie übertrug dem SACEUR die Verantwortung für die Luftverteidigung in der Kampfzone, ohne diese räumlich zu definieren. Im Übrigen verblieb die Luftverteidigung in nationaler Zuständigkeit7. Norstad hatte schon im Oktober 1951 im Vorfeld die Koordination der europäischen Luftverteidigung durch SHAPE im Allgemeinen und die Neuordnung der Zuständigkeit in der Zentralregion im Besonderen empfohlen. Im Ergebnis erster Absprachen zwischen SHAPE und den betroffenen Nationen oblag Norstad ab 1952 die Koordination der Luftverteidigungskräfte Belgiens, der Niederlande, Frankreichs und Großbritanniens8. Durch MC 14/1 vom 9. Dezember 1952 überarbeitete das Bündnis den Auftrag an seine Luftstreitkräfte. Diese sollten in der ersten Kriegsphase strategische Luftschläge, insbesondere solche mit Atomwaffen, durchführen. Folgerichtig waren die Luft- und Seebasen einschließlich der notwendigen Unterstützungspunkte (z.B. Atomdepots) besonders zu schützen. Jetzt hatte die durch »counter air« zu erringende Lufthoheit das Ziel, die Land- und Seestreitkräfte sowie den strategischen Luftkrieg zu unterstützen9. COMAIRCENT Embry traute weder den strategischen noch den taktischen Luftstreitkräften der Allianz zu, nach dem Vorbild der Alliierten in der zweiten Hälfte des Zweiten Weltkrieges eine halbwegs dauerhafte Luftüberlegenheit herstellen zu können. Um gleichwohl die wirksame Unterstützung der Bodentruppen durch die taktischen Luftstreitkräfte sicherzustellen, forderte er im November und Dezember 1953 mit Unterstützung des CINCENT Juin eine integrierte Luftverteidigung für die Zentralregion. Embry kritisierte den Mangel an Radareinrichtungen und die unzureichende Tieffliegerabwehr. Er forderte, hinter den vorderen Linien eine Luftabwehrzone mit leichter Flakartillerie und 6
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Vgl. SHO, SHAPE History July 1953-Nov. 1956, S. 6 - 8 , 290 f.; Pedlow, The Politics, S. 22 f., 25; Rebhan, Der Aufbau, S. 201-203, 210-216; Sommerfeldt, Luftverteidigung 1945-1966, S. 529; Wampler, Ambiguous Legacy, S. 311-319. Vgl. IMS, CD02, MC 36 Einschluss, 8. und 21.11.1951. SHO, SHAPE History July 1953-Nov. 1956, S. 205; SCR, 16 mm, R 12 Ε R02, Historical Background. Vgl. NATO Strategy, S. 206, 209, 212; SHO, SHAPE History July 1953-Nov. 1956, S. 24; Greiner, Die militärische Eingliederung, S. 608-611.
I. Die Integration der Luftverteidigung
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vor allem mit Lenkflugkörpern aufzubauen. Ein direkt dem COMAIRCENT verantwortlicher Luftverteidigungsbefehlshaber sollte die operative Kontrolle über die bislang national organisierten Luftabwehrkräfte Frankreichs und des Benelux übernehmen. Die Vorschläge Embrys stießen bei SHAPE auf Zustimmung. Der im Juli berufene dritte SACEUR, Alfred Gruenther, schilderte im Dezember 1953 dem Militärausschuss die Mängel der Luftverteidigung als seine größte Sorge. Allerdings standen sowohl die Kosten als auch die fehlende rechtliche Grundlage der raschen Verwirklichung der Vorschläge Embrys entgegen10. In Rekordzeit legte Embry am 30. Januar 1954 eine Studie zur Organisation der Luftverteidigung in Mitteleuropa vor. Sie enthielt bereits wesentliche Elemente der späteren Überlegungen. In der mehr als vierfachen Überlegenheit der gegnerischen Luftstreitkräfte und in der Zeitspanne von ca. 13 Minuten zwischen dem Auftauchen des gegnerischen Flugzeuges auf dem Radarschirm bis zum Abheben des eigenen Abfangjägers erkannte er die wesentliche Herausforderung. Er wollte dieser Gefahr durch ein Sektorensystem begegnen, dessen Kommandeur eigenverantwortlich über den Einsatz seiner Luftverteidigungsmittel (Frühwarn- und Kontrollradar, Jäger und Rohrartillerie) in seinem Bereich entschied. Ein übergeordnetes Air Defence Operations Center sollte die Luftlage für den gesamten Bereich und den Einsatzstand der eigenen Kräfte nachvollziehen und gegebenenfalls Kräfte von einem Sektor in den anderen verlegen. Die elektronische Kampfführung wollte Embry zentral geführt wissen11. Die Schwachstelle des ausgewogenen Verhältnisses zwischen dezentraler Operationsführung und zentraler Gesamtverantwortung bestand im Verhältnis zwischen den Luftverteidigungsstäben des Bündnisses und den nationalen Kommandobehörden. Diese hätten, so Embry, »no place in the minute-tominute chain of control«. Andererseits bleibe jede Nation »entirely responsible« nicht nur für Ausbildung, Verwaltung und Logistik, sondern auch für die Dislozierung ihrer Kräfte: »The Air Defense Commander can only bring about redeployment in agreement and conjunction with the national authorities concerned12.« Der Vorstoß Embrys stand im Zusammenhang mit seinem Bemühen, den Luftstreitkräften eine eigenständige Befehlskette zu sichern. In der strategischen Dimension galt dem Briten die Verbindung von Luftmacht und Atombewaffnung als »the main deterrent to war« neben der taktischen Unterstützung der See- und vor allem der Landstreitkräfte. An deren Gliederung sollten die Luftstreitkräfte folglich nicht zu eng angebunden werden. Obwohl CINCENT Juin den Ruf Embrys nach einer integrierten Luftverteidigung und sogar dessen Forderung nach einer eigenständigen Rolle der taktischen Luftflotten billigte,
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Vgl. SHO, SHAPE History July 1953-Nov. 1956, S. 142, 205-211, 291-293; SCR, 16 mm, R 12 Ε R02, Historical Background. Vgl. SHO, SHAPE History July 1953-Nov. 1956, S. 211-214. Zit. nach SCR, 16 mm, Ρ 12 Ε R02, Historical Background.
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Dieter Krüger: Die Entstehung der NATO-Luftverteidigung
versuchte er seine eigene Gesamtverantwortung als regionaler Befehlshaber zu wahren und auszubauen13. Embry hatte die künftige Entwicklung angestoßen. Denn die Standing Group der NATO - gleichsam das von Amerikanern, Briten und Franzosen besetzte Exekutivkomitee des Militärausschusses - forderte SACEUR Gruenther im Februar 1954 auf, eine europaweite Studie zur Luftverteidigung anzufertigen14. Dieser betonte wenig später vor dem Nordatlantikrat, die nationalen Vorstellungen zur Luftverteidigung hätten sich in die Gesamtstrategie des Bündnisses einzuordnen: »nationalistic thinking is anathema to this problem«. Selbst das auf seinen Status als Großmacht bedachte Frankreich signalisierte, dass es sich der Logik moderner Luftverteidigung nicht entziehen konnte. In einer ersten Bestandsaufnahme notierte SHAPE im März 1954 erhebliche Defizite. Nur wenig mehr als die Hälfte der für 1957 geplanten Flugzeuge ständen tatsächlich zur Verfügung. Davon sei ein Großteil mangels ausgebildeten Personals nicht einsatzbereit. Noch ernster war die Lage der Flakartilleriebataillone. 1957 würden nur 390 ausgerüstete Bataillone bereitstehen. Raketenartillerie sei vor 1957 überhaupt nicht zu erwarten. Die vorhandenen Radaranlagen erlaubten eine nur lückenhafte Abdeckung und vor allem keinen Dauerbetrieb. In Süddeutschland betrieb die amerikanisch-französisch-kanadische 4. ATAF ihre Radaranlagen rund um die Uhr; die britisch-belgisch-niederländische 2. ATAF in Norddeutschland machte nur Tagesbetrieb. Gleichzeitig wollte SHAPE vermeiden, dass die betroffenen Nationen sich in Erwartung einer neuen Organisation der Luftverteidigung zunächst einmal zurücklehnten und eigene Anstrengungen aussetzten. Im Juli 1955 kam eine SHAPE-Studie15 zu dem Ergebnis, dass die Sowjetunion selbst mit einem begrenzten nuklearen Überraschungsangriff die europäischen Luftstreitkräfte des Bündnisses ausschalten könne. Ab 1960 werde dem Gegner obendrein eine große Zahl von Atomwaffen zur Verfügung stehen. Die Verlegefähigkeit der fliegenden Verbände, ihre Auflockerung und die der Flugplatzeinrichtungen galten als einzige relativ rasch umzusetzende Antwort auf diese Bedrohung. Das erforderte freilich zusätzliche Flugplätze einschließlich der Bevorratung mit Betriebsstoffen, Munition und anderem. Zusätzlich empfahl man Splitterschutz als kostengünstige Maßnahme gegen die Wirkung sowohl konventioneller wie nuklearer Waffen. Dagegen scheiterte die umfangreiche Verbunkerung an zu hohen Kosten. Große Hoffnung setzte man auf neue Flugzeuge mit Kurz- und Senkrechtstarteigenschaften, da sie nicht an aufwändige und verwundbare Startbahnen gebunden waren. Nach einer ersten Studie im Oktober 1954 - welche die Einrichtung eines Air Defence Directorate bei SHAPE ermöglichte - legte Gruenther der Standing Group am 26. August 1955 einen weitergehenden Plan vor. Er forderte, allmäh13
14 15
Vgl. SCR, 16 mm, Ρ 12 Ε ROI, Embry an Juin, 13.8.1954; SHAPE History July 1953-Nov. 1956, S. 291-299. Vgl. IS, CD05, C-R(54)5, C-R(54)9, Nordatlantikrat, 17.2. und 24.3.1954. Vgl. dazu BA-MA, Verschlusssache.
I. Die Integration der Luftverteidigung
493
lieh eine koordinierte Luftüberwachung und Verteidigungsführung in Abhängigkeit vom Umfang der Informationen zu schaffen, welche die Mitgliedsländer den NATO-Stäben zur Verfügung stellten. Dabei sollte das europäische Bündnisgebiet in die Luftverteidigungsregionen Nord (Dänemark, Norwegen), Mitte (Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Benelux) und Süd (Italien, Griechenland, Türkei) gegliedert werden, deren Kommandeure sich direkt mit den nationalen Luftverteidigungsbehörden ihres Sprengeis verständigten. Die Luftverteidigung Großbritanniens sollte weiterhin unter nationaler Zuständigkeit erfolgen. Etwas unklar blieb die Einbindung der Defense Aerienne du Territoire (DAT), also des westlich des Zuständigkeitsbereiches der 4. ATAF liegenden französischen Hoheitsgebietes, in die Zentralregion. In den ehemaligen deutschen Besatzungszonen sollte die Lufthoheit weiterhin durch die Alliierten ausgeübt werden. Überhaupt wollte der SACEUR die eigentliche Einsatzführung bei den Luftflotten oder den nationalen Luftverteidigungsstäben belassen. Ein Luftverteidigungsausschuss bei SHAPE hatte zwischen den Nationen und Regionen zu vermitteln und deren Verfahren anzugleichen. Seine geplanten zentralen Befugnisse wurden im Oktober 1955 allerdings noch etwas abgeschwächt 16 . Nachdem die Standing Group, der Militärausschuss und schließlich am 15. Dezember 1955 auch der Nordatlantikrat den Luftverteidigungsplan von SHAPE gebilligt hatten, wurde er als MC 54 verabschiedet. Der französische Verteidigungsminister begrüßte das Prinzip der engen Koordination der nationalen Systeme. Dagegen erklärte Gruenther mit ausdrücklicher deutscher Zustimmung, dass er die Direktive nur als Etappe hin zur Vollintegration betrachte17, beschränkte sie ihn doch auf die Rolle eines Moderators der Nationalstaaten. Diese tauschten ihre Luftverteidigungspläne aus, vereinheitlichten Ausbildungsprogramme und verständigten sich über technischtaktische Forderungen für Waffen und Gerät, um wenigstens einige Voraussetzungen für eine erfolgreiche Luftverteidigung im Einsatzfall zu schaffen. Ausschlaggebend war für den SACEUR die Integration der Frühwarnsysteme aller vier Luftverteidigungsregionen. Parallel zur Verabschiedung der MC 54 hatte der SACEUR den Verteidigungsministern der NATO nämlich vorgeschlagen, in zwei Jahren ein Radarfrühwarnsystem aufzubauen. 40 Mio £ für den Auf- und weitere 35 Mio £ für den Ausbau wollte er multilateral finanzieren. Dem Argument, Abschreckung durch strategische Luftstreitkräfte funktioniere nur, wenn der Gegner nicht damit rechnen konnte, diese am Boden zu zerschlagen, dies jedoch von ausreichender Vorwarnzeit abhänge, konnte sich niemand entziehen. Die beste Luftverteidigung nutzt nichts ohne ausreichende Reaktionszeit. Allerdings spielten die Bevölkerung und die materiellen Lebensgrundla16
17
Vgl. SHO, SHAPE History July 1 9 5 3 - N o v . 1956, S. 145, 2 1 4 - 2 2 4 (Zitat S. 218), 2 2 6 - 2 2 8 ; SCR, 16 mm, Ρ 12 Ε R02, Historical Background; ebd., Gruenther an Standing Group, 26.8.1955; IMS, CD009, LOSTAN 970, Standing Group Liaison Office Paris an Standing Group, 2.11.1954; The Joint Chiefs of Staff, vol. 6, S. 141 f. Vgl. IS, CD06, C-R(55)57, C-R(55)59, Nordatlantikrat, 13. und 15.12.1955; IMS, CD02, MC 54, 11.10.1955, MC 54 (Final), 12.12.1955.
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Dieter Krüger: Die Entstehung der NATO-Luftverteidigung
gen der Mitgliedsstaaten in den Überlegungen des SACEUR keine Rolle mehr. Ihm ging es allein um den Schutz der nuklearen Vergeltungsstreitkräfte gegen einen Überraschungsangriff. Dabei konnte sich Gruenther auf den Nordatlantikrat berufen, der diese Priorität in seiner Tagung am 20. Februar 1956 »in aller wünschenswerten Klarheit«18 gebilligt hatte. Nachdem die Briten zunächst die für sie nachteilige integrierte Finanzierung des Frühwarnsystems abgelehnt hatten, erteilten der Militärausschuss und am 7. März 1957 der Nordatlantikrat auch diesem Vorhaben mit der Direktive MC 61 ihren Segen19. Am 6. April 1957 bestätigte der Militärausschuss in seinem Bericht MC 48/2 zur Umsetzung der Strategie der Massiven Vergeltung die Aufgabe der Luftverteidigung im Rahmen des künftigen Luftkrieges. Diese allein werde in den kommenden Jahren keine wirksame Verteidigung gegen einen Großangriff sicherstellen können. Daher bleibe die Erringung der Lufthoheit durch »counter air« die wichtigste Aufgabe der Luftstreitkräfte. Die Unterstützung der Landstreitkräfte durch Luftunterstützung (air support und close air support) war jetzt eindeutig nachrangig. Freilich hänge die Erfüllung des Auftrages der Luftstreitkräfte davon ab, einen Überraschungsangriff zu überleben. Die eigenen nuklearen Offensivkräfte wiederum sollten durch die »coordination, and control as practicable, of all aircraft and missiles associated with air defense« geschützt werden20. Gleichzeitig unterstrich der SACEUR, dass die »atomic counter-offensive [...] the most important factor in overall air defense« bleibe21. Mithin wurden die Luftverteidigungseinrichtungen der NATO in Abhängigkeit von den nuklearen Luftangriffsverbänden gesehen.
2. Künftige Organisation und Ausstattung Die Koordination der technisch immer anspruchsvolleren Luftverteidigung erforderte zunächst Expertise. Um sich diese zu verschaffen, hatte SHAPE im Dezember 1954 mit Mitteln aus der amerikanischen Militärhilfe in Den Haag ein SHAPE Air Defence Technical Center (SADTC) eingerichtet. Es beschäftigte sich neben anderem mit Fragen des Frühwarnsystems, der Datenübertragung, Feinderkennung, mit Flugkörpern und der elektronischen Kriegführung. Um dem SADTC nationale Informationen zugänglich zu machen, wurde ihm ein Advisory Board mit Vertretern nationaler Forschungs- und Verwaltungsstellen 18 19
20 21
Greiner, Die Entwicklung der Bündnisstrategie, S. 145. Vgl. IMS, CD03, MC 61, 21.6.1956, MC 61 (Final Decision), 8.3.1957; SHO, SHAPE History July 1953-Nov. 1956, S. 228-232, 2 4 7 - 2 5 1 ; SCR, 16 mm, Ρ 12 Ε R02, Historical Background; ebd., Memo Plans and Operations, Oct. 1956; BA-MA, mehrere Verschlusssachen; Roth, Integration der Luftverteidigung, S. 169. Vgl. NATO Strategy, S. 325 (Zitat), 330 f. Zit. nach SCR, 35 mm, P05, R163, L-017, Development of NATO Strategie and Military Policy (1966), S. 17.
I. Die Integration der Luftverteidigung
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zur Seite gestellt. Deutsche Beobachter hatten freilich den Eindruck, dass die Briten und andere dem SADTC die gewünschten Informationen nur zögernd zur Verfügung stellten. Tatsächlich bat Gruenther auch die amerikanischen Joint Chiefs of Staff um Hilfe, um den über die Luftverteidigung im Atomzeitalter besorgten Europäern nicht zuletzt über die erforderlichen Waffensysteme Auskunft geben zu können 22 . Mit Hilfe der im Januar 1956 angeforderten nationalen Vertreter für Luftverteidigung wollte er seine Politik definieren 23 . Deren Umsetzung delegierte der SACEUR weitgehend an die MSC, die wiederum mit den nationalen Stellen ihres Verantwortungsbereichs zusammenarbeiteten. Die PSC AIRCENT, AIRNORTH, AIRSOUTH und die 6. ATAF (Griechenland/ Türkei) hatten Luftverteidigungskoordinatoren zu ernennen. Gleichzeitig sollten die regionalen Air Operation Center und das Air Operation Center bei SHAPE im Rahmen des europaweiten Frühwarnsystems - das in vorläufiger Form im Frühjahr 1956 die Arbeit aufnahm - eine Luftlageabteilung (warning component) einrichten. Dafür wurde zusätzliches Personal benötigt, das 1956/57 von den Mitgliedsstaaten angefordert wurde. Als besonders komplex empfand der SACEUR die Luftverteidigung in Mitteleuropa. Hier gelte es nicht nur die Kräfte Frankreichs, Belgiens und der Niederlande zusammenzufassen, sondern auch einen wachsenden deutschen Anteil aufzunehmen. Daher benötige COMAIRCENT einen »especially strong and authoritative air defense staff«, dessen Leitung dem französischen Generalleutnant Lionel Max Chassin übertragen wurde 24 . Um die Sorgen vor dem möglichen Verlust der nationalen Lufthoheit zu zerstreuen, leitete AIR DEPUTY Norstad die erste Konferenz der nationalen Vertreter für Luftverteidigung am 24. Mai 1956 mit der Versicherung ein, dass man die Mitgliedsstaaten niemals vor ein »fait accompli« stellen werde. Im Übrigen ging es um handfeste Fragen wie die Gewährleistung einer 24Stunden-Bereitschaft der Abfangjäger, den Einsatz von Reservisten in voll präsenten Luftverteidigungseinrichtungen und eine einheitliche Etikettierung von erfassten Flugobjekten. Der deutsche Vertreter betonte das Problem der Erfassung und Bekämpfung von Tieffliegern, denen AIRCENT vorläufig noch mit der herkömmlichen leichten Rohrartillerie begegnen wollte25. Bei SHAPE wurde im September 1956 das bisherige Direktorat zu einer eigenen Stabsabteilung Luftverteidigung aufgewertet, die im November 1956 weiterführende Vorstellungen entwickelte. Danach bildete die bloße Koordination der fortbestehenden nationalen Zuständigkeit noch keinen Endzustand. Tatsächlich brannte das Problem der nach wie vor unzulänglichen Luftverteidigung dem Bündnis auf den Nägeln; war es doch just zu dieser Zeit nicht-identifizierten Objekten gelungen, unbehelligt die Türkei zu überfliegen. Es war weder abschließend geklärt, wer in solchen Fällen die operative Verantwortung übernahm, noch war 22 23
24
25
Vgl. d a z u BA-MA, BL 1/1558, Vermerk, 10.7.1956, Reisebericht Wahl, 6.6.1956. Vgl. S H O , S H A P E H i s t o r y July 1 9 5 3 - N o v . 1956, S. 232, 2 4 0 - 2 4 3 ; BA-MA, Verschlusssache. SCR, 35 m m , P01B R23, L-165, G r u e n t h e r an Standing G r o u p , 11.6.1956. Vgl. SHO, SHAPE History July 1 9 5 3 - N o v . 1956, S. 233-239; ebd., SHAPE History 1957, S. 170 f. SCR, 35 m m P O I B R23, L-165, M i n u t e s 24 May 1956, 21.6.1956.
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Dieter Krüger: Die Entstehung der NATO-Luftverteidigung
der konkrete Umfang der Luftverteidigungsmittel bekannt, die dem SACEUR zur Verfügung standen. Er konnte aktuell auf kaum mehr als 100 Allwetterjäger zurückgreifen26. Im Juni 1957 nahmen die Vorstellungen von SHAPE mit Hilfe des SADTC die Gestalt eines Planentwurfs an. Er sollte das europäische Bündnisgebiet für die 1960er Jahre mit Planungsgrundlagen für die Koordination der Waffensysteme sowie für weitere Standardisierung und Integration versehen. Großbritannien und die französische DAT blieben vorläufig außer Betracht. Das Papier sprach alle wesentlichen Probleme des kommenden Jahrzehnts an - mit einer Ausnahme: Die Abwehr ballistischer Flugkörper wurde mit einer etwas geschraubten Begründung, »defence against ballistic missiles [...] will consist of a combination of the over-all nuclear offensive operations of NATO and appropriate passive measures«, ausgeklammert, weil auf absehbare Zeit schlicht keine geeignete Abwehrtechnologie zur Verfügung stand. Man ging von einer Bedrohung durch mittlere und schwere Bomber aus, die vor allem strategische Ziele in Nordamerika, auf der britischen Insel, in Nordafrika, Spanien und in Fernost angreifen, jedoch teilweise ihren Weg über den europäischen Kontinent nehmen würden. Dagegen stellten die leichtem Bomber und Jagdbomber die größte Gefahr für die Zentralregion dar, die dann auch im Zentrum der Überlegungen stand. Ohne angemessene Luftverteidigung konnte dem Gegner die rasche und nachhaltige Vernichtung der »operational capability [...] including the retaliatory forces« des Bündnisses bei minimalen eigenen Verlusten kaum verwehrt werden. Folgerichtig sollte eine allwetterfähige Abfangfähigkeit mit hohem Bereitschaftsgrad vom Berg Ararat bis zum Nordkap aufgebaut werden. Tag- und Allwetterjäger galten als flexibles und effektives Mittel zur Verteidigung großer Räume. Im Nahbereich des Gegners jedoch, so die Autoren des Planentwurfs weiter, entfalte eine Raketenartillerie mit hohem Bereitschaftsgrad besonders zu Beginn der Kämpfe die größere Wirkung. Neben einer zu Lasten der Tagjäger erweiterten Zahl von Allwetterjägern sollten folglich 35 Bataillone mit Boden-Luft-Raketen aufgestellt werden. 25 Bataillone, darunter 12 deutsche, sollten hinter der innerdeutschen bzw. tschechischen Grenze eine vorgeschobene Abfangzone bilden. Man wollte die gegnerischen Flugzeuge zwingen, zunächst gegen diese Batterien zeitlich und räumlich Schwerpunkte zu bilden, die wiederum nuklearen Gefechtsköpfen lohnende Ziele boten. Abfangjäger sollten dann westlich der Raketenzone die übriggebliebenen Gegner stellen. Diese Konzeption minderte im Übrigen das Problem des gleichzeitigen Einsatzes von Flugzeugen und Flugkörpern im selben Luftraum. Im Gegensatz zum Raketengürtel mit nachgelagerter Abfanglinie in der Zentralregion sollten in den flankierenden Regionen im Norden und Süden Räume verteidigt werden: industrielle Zentren, die Ausgänge der Ostsee und des Schwarzen Meeres sowie weitere operativ wichtige Gebiete. Die ebenso schwerfällige wie aufwändige manuelle Bearbeitung der Luftlage- und Luftzielinformationen musste 26
Vgl. BA-MA, BW 2/2681, BMVg, Abt. IV an SACEUR, 23.7.1956; SHO, SHAPE History July 1953-Nov. 1956, S. 239 f., 274; SHAPE History 1957, S. 7.
I. Die Integration der Luftverteidigung
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dringend durch ein NATO-weites elektronisches Datenverarbeitungssystem abgelöst werden, das Informationen über die eigenen Kräfte und die des Gegners allen Führungsebenen gleichzeitig zugänglich mache. Femer waren die Control and Reporting Stations (CRS) mit Gerät zur Freund-Feind-Kennung auszustatten. Die von AIRSOUTH und AIRNORTH geplanten Luftverteidigungssektoren galten als ausreichend, während im Bereich der Zentralregion eine völlige Neuordnung erforderlich werde. Die bestehende, an den drei westdeutschen Besatzungszonen orientierte Organisation wollte man - deutschen Vorstellungen entsprechend - durch vier Sektoren ersetzen. In sie sollten die deutschen Kräfte mit jeweils einer Division pro Sektor eingegliedert werden. Entsprechend MC 61 hatten 18 NATO- und zwei nationale britische Radarstationen das Bündnis mit Frühwarnung für ein Gebiet von 225 nm und 75 000 Fuß Höhe östlich der Bündnisgrenze zu versorgen. Für Tiefflieger war ein zusätzliches Meldesystem einzurichten. 65 Flugmelde- und Flugleitzentralen, Control and Reporting Centers (CRC), mit einer Höhenabdeckung von 45 000 Fuß sollten den Einsatz der Luftverteidigungsmittel stützen. Dabei erlaubten die 26 in Mitteleuropa und davon wiederum 9 für den Bereich Westdeutschland geplanten CRC ein hinreichendes Verhältnis von einer Kontrolleinheit pro zwei Waffeneinheiten. Die Führung der Luftverteidigung oblag den europaweit 28 Sector Operation Centers (SOC), die mit den CRC ihres Sprengeis, mit den benachbarten Sektoren sowie mit den übergeordneten Air Defence Operation Centers (ADOC) zu vernetzen waren. In der Region Europa-Mitte waren zehn SOC vorgesehen, davon in Westdeutschland vier: die vorläufig noch von den Briten betriebenen SOC in Sundern und Wahn, das SOC Kindsbach der Amerikaner und das SOC Achern der Franzosen. Die SOC sollten dann europaweit neben den 35 Raketenbataillonen über 1357 Tag- und 854 Allwetterjäger auf 99 Flugplätzen verfügen. Allerdings machte die Belegung mancher Plätze mit zwei oder drei Staffeln die fliegende Luftverteidigung sehr verwundbar. Folgerichtig strebte man die Belegung mit nur einer Staffel an. Hier sollte das vom SACEUR vorgeschlagene und vom Nordatlantikrat im August 1956 in reduziertem Umfang beschlossene Infrastrukturprogramm für den Flugplatzbau Abhilfe schaffen27. Für Europa-Mitte waren 44 Staffeln Tagjäger mit 957 Flugzeugen und 36 Staffeln Allwetterjäger mit 587 Flugzeugen auf 67 Flugplätzen vorgesehen. Sie sollten sich, wie in der folgenden Tabelle dargestellt, auf die Nationen verteilen. Danach stellte die deutsche Luftwaffe ca. 41 % der Tagjägerstaffeln, 44 % der Allwetterjägerstaffeln und 48 % der Raketenartillerie, die dem AIRCENT im Einsatzfall zur Verfügung gestanden hätten28.
27 28
Vgl. dazu The Joint Chiefs of Staff, vol. 6, S. 147-149. Vgl. SCR, 35 mm, P01B R 32, L-051, Draft of Plan for Coordination of Air Defences of NATO Europe in the 1960 Period, 7.6.1957; SHO, SHAPE History 1957, S. 2 4 5 - 2 4 7 ; BA-MA, BW 2/2664, Reisebericht Jenett, 31.5.1957, Jenett an Genlnsp, 26.6.1957, Kammhuber an Genlnsp, 16.7.1957.
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Dieter Krüger: Die Entstehung der NATO-Luftverteidigung
Die geplante Dislozierung der NATO-Luftverteidigungsverbände in Europa-Mitte Nation Niederlande Niederlande Niederlande Belgien Belgien Belgien Großbritannien Großbritannien Frankreich* Frankreich* Frankreich* Frankreich* USA USA Kanada Kanada Kanada Kanada Bundesrepublik Bundesrepublik Bundesrepublik
Art (Staffeln bzw. Bataillone) Tagjäger Allwetterjäger Raketenartillerie Tagjäger Allwetterjäger Raketenartillerie Tagjäger Allwetterjäger Tagjäger Tagjäger Allwetterjäger Raketenartillerie Allwetterjäger Raketenartillerie Tagjäger Tagjäger Tagjäger Allwetterjäger Tagjäger Allwetterjäger Raketenartillerie
Zahl
Dislozierung
5 3 1 10 3 1 3 4 2 2 3 1 3 10 2 1 1 4 18 16 12
Niederlande Niederlande Bundesrepublik Belgien Belgien Bundesrepublik Bundesrepublik Bundesrepublik Frankreich Bundesrepublik Frankreich Bundesrepublik Bundesrepublik Bundesrepublik Bundesrepublik Luxemburg Frankreich Frankreich Bundesrepublik Bundesrepublik Bundesrepublik
* nur 1. (französisches) Corps Aerien Tactique (CATAC). Quelle: SCR, 35 mm, P01Β R 32, L-051, Draft of Plan for Coordination of Air Defences of NATO Europe in the 1960 Period, 7.6.1957.
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Der Führungsstab der Bundeswehr gab der Planung zwar seinen Segen, signalisierte jedoch, dass man die Aufstellungserwartungen des SACEUR wohl nicht vollständig werde erfüllen können 29 . Die Stellungnahmen der übrigen Nationen reflektierten vor allem deren geostrategische Lage. Die Italiener sorgten sich angesichts des Vorranges, den die Zentralregion genoss, u m die hinreichende Abdeckung der Poebene und des Luftraumes zwischen Rom und Neapel durch Boden-Luft-Raketen. Die Briten waren einverstanden mit dem vorgeschobenen Raketengürtel, forderten jedoch ergänzenden Objektschutz für die Basen der Vergeltungsstreitkräfte. Dagegen äußerten die Niederländer Zweifel an der Durchhaltefähigkeit eines vorgeschobenen Raketengürtels. Ferner kritisierten sie die Vernachlässigung der Tieffliegergefahr, gegen die sie die Raketenstellungen zusätzlich mit Rohrartillerie ausstatten wollten. Die Ambivalenz des niederländischen Integrationsstrebens schlug sich in der Forderung nieder, einerseits die Nordsee, die Britischen Inseln u n d Frankreich in die integrierte Luftverteidigung einzubeziehen und andererseits die Grenzen der SOC möglichst an denen der Nationalstaaten auszurichten. Weitaus kritischer äußerte sich die französische Luftwaffe. Die Möglichkeiten der funktionalen Zusammenarbeit, welche die MC 54 eröffnete, seien noch nicht im Entferntesten ausgeschöpft. Gleichwohl werde bereits eine organisatorische Veränderung der Luftverteidigung angestrebt. Deren Ausbau widerspreche im Übrigen der 29
Vgl. BA-MA, BW 2/2664, Heusinger an SACEUR, 22.7.1957.
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Bündnisstrategie, der zufolge der Schwerpunkt der Luftkriegführung bei »counter air« liege 30 . SHAPE sprach in seinem Papier das Verhältnis von Luftverteidigungs- zu Luftangriffskapazitäten des Bündnisses nicht an. Für AIRCENT hatte die klassische Offensive gegen die gegnerischen Luftstreitkräfte Vorrang 31 . Folgerichtig billigte man der Luftverteidigung »nur ein Minimum von defensiven Waffen zu Gunsten der Verstärkung der Angriffswaffen« zu. Bei der Luftverteidigung sollten am besten Flugzeuge eingesetzt werden, die auch als Jagdbomber zu gebrauchen waren. Der britische Befehlshaber der 2. ATAF und sein amerikanischer Kollege von der 4. ATAF billigten diese Haltung ausdrücklich; zumal SHAPE offensichtlich zu Lasten der ATAFs ein einheitliches Luftverteidigungskommando bei AIRCENT zu schaffen beabsichtigte. Diese Vorstellung wurde von den Niederlanden unterstützt, während sich Belgien mit einem Luftverteidigungsstab unter Leitung eines Benelux-Offiziers bei der 2. ATAF begnügen wollte. Die Luftflotte beharrte auf ungeschmälerter Kommandogewalt. Die Bundesrepublik unterstützte den belgischen Vorschlag. Sie wollte aber vermeiden, dass die Befehlshaber der Luftflotten die Kräfte der Luftverteidigung taktisch für Zwecke des Luftangriffs und der Luftverteidigung der Bodentruppen einsetzten. Zum Leidwesen von SHAPE wie des deutschen Vertreters - der eine Integration dringend einforderte - fehlte dem SACEUR jedoch jedes Weisungsrecht. Mithin blieb die Frage offen. Ahnlich ungeklärt war die Zuständigkeitsabgrenzung zwischen DAT und 4. ATAF, denjenigen Teil des ostfranzösischen Territoriums betreffend, der mit dem 1. Corps Aerien Tactique (CATAC) zum Zuständigkeitsbereich der 4. ATAF gehörte. Obendrein lagen auf diesem Territorium amerikanisch und kanadisch belegte Flugplätze und ein von den Kanadiern betriebenes modernes CRC. Immerhin konnten sich die betroffenen Nationen der Zentralregion auch auf dem Wege der Koordination auf die Einrichtung einer Air Defense Identification Zone (ADIZ) entlang der innerdeutschen, tschechischen, österreichischen und Schweizer Grenze einigen. Es handelte sich um einen ca. 50 km breiten Streifen im Luftraum. Sobald nicht identifizierte Flugobjekte in diesen Bereich einflogen, erhielt eine Alarmrotte der Abfangjäger den Auftrag, die Flugobjekte zu identifizieren und gegebenenfalls zur Landung zu zwingen 32 . Bei der 4. ATAF existierte diese Zone bereits. Die 2. ATAF hatte zunächst gezögert, sie in Norddeutschland fortzusetzen. Für den Benelux machte eine eigene ADIZ angesichts der Kleinräumigkeit ohnehin wenig Sinn und selbst Frankreich verzichtete darauf, sofern die DAT von den in der ADIZ anfallenden Informationen profitierte. Einigkeit bestand auch, dass der im Vergleich zur 4. ATAF veraltete und mangelhafte radargestützte Flugmelde- und Leitdienst der 2. ATAF zu modernisieren und namentlich die Verfahren (control and reporting procedures) zu vereinheitlichen seien 33 . v
"
Vgl. SCR, mehrere Verschlusssachen. Zu den Einsatzformen der Lw vgl. Hauptbeitrag Lemke, in diesem Band, S. 88-105 und 152-159. Vgl. dazu Müller, Luftverteidigung, S. 112 f. Vgl. BA-MA, BL 1/1558, Besprechung, 26.-27.2.1957; mehrere Verschlusssachen; Bloch (AIRCENT), Die Luftverteidigung, bes. S. 21.
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3. Das Integrationskonzept des SACEUR Im Rahmen der WEU hatten alle europäischen Staaten »von der Notwendigkeit der Integrierung der Luftverteidigung einleitend gesprochen, nachher aber nur nationale Forderungen [...] vorgetragen«, so ein deutscher Teilnehmer34. Kein Wunder, dass Norstad sich durch MC 54 auf »patchwork measures to harness separate endeavours« beschränkt sah. Der künftige Atomkrieg werde in den ersten Stunden entschieden, mithin genau zu dem Zeitpunkt, an dem der Übergang der Einsatzführung der Luftverteidigung von nationalen Stellen auf das Bündnis ein Maximum an Verwirrung stifte. Folgerichtig müssten die nationalen Systeme bereits im Frieden integriert werden. Nur dann könnten die Flugabwehrraketen - für die Norstad der Standing Group bereits ein gemeinsam zu finanzierendes Infrastrukturprogramm vorgelegt hatte35 - so disloziert werden, dass sie der gemeinsamen Verteidigung aller dienten, statt nur nationale Objekte zu schützen. Weiter erfordere der anstehende Einbau der deutschen Luftverteidigung Strukturen, in denen diese Kräfte bei maximaler Wirtschaftlichkeit die größte Wirkung erzielten. Nationalen Interessen wollte Norstad dadurch Rechnung tragen, dass Kräfte der Luftverteidigung nicht ohne nationale Zustimmung anderweitig verwendet wurden. Dies war ja auch eine deutsche Sorge. Ferner sollten die Nationen integrierte NATO-Stäbe im Verhältnis der von ihnen gestellten Truppen besetzen, was langfristig nur im Interesse der Deutschen sein konnte. Schließlich waren die Luftverteidigungspläne mit den betroffenen Nationen auszuhandeln und der Standing Group vorzulegen. Konkret wollte Norstad die Luftverteidigung im bestehenden Zuständigkeitsbereich der zwei Luftflotten der Verantwortung des Bündnisses unterstellen. In einer weiteren Phase sollte die 4. ATAF für halb Frankreich nordostwärts einer Linie von der Bretagne bis zum Genfer See zuständig werden. Am Ende hätten neben einer zentralen Luftverteidigungsregion der beiden Luftflotten Frankreich südwestwärts der oben erwähnten Linie einschließlich Algerien eine zweite und die Britischen Inseln eine dritte Region unter alliierter Verantwortung schon im Frieden gebildet36. Die Standing Group billigte das Konzept und empfahl dem Nordatlantikrat darauf auch ein Infrastrukturprogramm für 17 mit der Boden-Luft-Rakete NIKE ausgerüstete Einheiten. Im Militärausschuss erhoben Frankreich und Großbritannien zunächst Bedenken gegen Norstads Luftverteidigungsvorstellungen, stimmten am Ende einer Billigung im Grundsatz doch zu. Der Nordatlantikrat folgte der Empfehlung des Militärausschusses und erteilte dem SACEUR den Auftrag, gemeinsam mit den europäischen Staaten ein Konzept zu entwerfen37. 34 35 36 37
Ebd., BW 2/2664, Bericht Klennert, 14.10.1957. Vgl. dazu SHO, SHAPE History 1957, S. 250 f. Vgl. SCR, 35 mm, P01B, R 32 L-053, Norstad an Standing Group, 6.12.1957; SHO, SHAPE History 1957, S. 247-250. Vgl. SCR, 35 mm, P01B, R 34, L-105, SACEUR an CINCENT, CINCSOUTH, CINCNORTH, CINC UK Fighter Command, 30.4.1958, Einlage; SHO, SHAPE History
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Der Abteilungsleiter Luftverteidigung bei SHAPE, der britische Air Vice Marshal H.D. McGregor, leitete Anfang Januar 1958 eine Konferenz, die nicht das Ob, sondern das Wie eines alliierten Kommandos in Krieg und Frieden zu verhandeln hatte. Das Ergebnis sollte mehr sein als die Zusammenfassung der nationalen Komponenten. Der SACEUR wollte künftig ein einheitliches Konzept formulieren, das die Mitgliedsstaaten gemäß Einstimmigkeitsregel im Nordatlantikrat gegebenenfalls verwerfen konnten. Außerdem verblieben die den alliierten Luftverteidigungsbefehlshabern zur Verfügung stehenden Verbände in nationaler Verantwortung, würden aber weiterhin dem Bündnis für bestimmte Aufgaben assigniert. Die Herstellung der materiellen und personellen Einsatzbereitschaft und die Verwaltung sollten ohnehin national wahrgenommen werden. Eine gemischt national-alliierte Verantwortung wie bisher lehnte SHAPE ausdrücklich ab. Neben der Zentralregion - bestehend aus der 2. ATAF, der erheblich erweiterten 4. ATAF und der DAT unter alliiertem Kommando sollten die Südregion (AFSOUTH), die Nordregion (AFNORTH) und Großbritannien alliierte Luftverteidigungsregionen werden. In der Zentralregion war ein klarer Kommandostrang (operational command in peace and war) vorgesehen. Er sollte von SHAPE über den AIR DEFENSE DEPUTY des COMAIRCENT über die ADOC der zwei Luftflotten und der dann alliierten DAT Frankreich bis zu den alliierten SOC verlaufen, welche die Truppen führten. Um diesen Kommandostrang wirksam werden zu lassen, wollte SHAPE eine einheitliche Bodenorganisation (Radarstellungen, Fernmeldeverbindungen, Datenverarbeitung, Datensichtgeräte u.a.) aus einem integrierten Fonds des Bündnisses gemeinsam finanzieren. Dagegen blieb es hinsichtlich der Luftangriffsverbände bei der bisherigen Koordination im Frieden und der Einsatzführung durch das Bündnis im Krieg. Die Gesamtverantwortung der MSC und PSC für den defensiven und offensiven Luftkrieg - und damit die Möglichkeit, Luftverteidigungskräfte offensiv einzusetzen - wurde ausdrücklich und zu deren Missfallen eingeschränkt. McGregor hielt dem COMAIRCENT jedoch entgegen, dass es diesem bislang ja nicht einmal gelungen sei, ein Einsatzkonzept mit den beiden Luftflotten in seinem Verantwortungsbereich abzustimmen. Frankreich wünschte, dass das alliierte Luftverteidigungssystem seine Zivilverteidigung mit Informationen versorgte und die Luftverkehrskontrolle nach nationalen Vorgaben wahrnahm. Das erschien McGregor unproblematisch. Dagegen lehnte er die Forderung Großbritanniens und Frankreichs ab, die NATO-Kommandeure britischer und französischer Nationalität zusätzlich dergestalt mit nationaler Befehlsgewalt auszustatten, dass die Nationalstaaten ihre assignierten Verbände auch für rein nationale Aufgaben einsetzen konnten. Angesichts einer Gemengelage von alliierten und nationalen Aufgaben sei die gemeinsame Finanzierung der Bodenorganisation kaum möglich. Tatsächlich unterstützten neben Kanada und Island fast alle frontnahen Staaten (Belgien, 1958, S. 180; BA-MA, BL 1/1570, Heusinger an Strauß, 23.12.1957; ebd., BL 1/11189, Verschlusssache.
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Bundesrepublik, Griechenland, Italien, die Niederlande, Norwegen und die Türkei) eine alliierte Zuständigkeit im Frieden. Nur Dänemark machte verfassungsrechtliche Bedenken geltend. Dagegen wollten die Briten die Frage der gemeinsamen Finanzierung der Bodenorganisation von derjenigen der operativen Kontrolle im Frieden trennen. Frankreich forderte, die komplexen und teuren Geräte integriert zu finanzieren, aber die Radargeräte in nationaler Verantwortung zu belassen; es sei denn, dass deren internationale Beschaffung ebenso rasch vonstatten gehe. Die Vereinigten Staaten wollten zwar ein Maximum an alliierter Zuständigkeit, aber zugleich finanzielle Festlegungen vermeiden. Belgier und Niederländer begrüßten ebenfalls eine Gemeinschaftsfinanzierung, sofern die Beschaffung in angemessener Zeit möglich sei. Dagegen zweifelten nicht nur CINCENT und COMAIRCENT, sondern selbst der deutsche Vertreter am Segen einer Gemeinschaftsfinanzierung. Unzufrieden resümierte McGregor, dass keine gemeinsame Haltung gefunden wurde38. Im Ergebnis machte die Konferenz die Notwendigkeit einer möglichst klaren Abgrenzung nationaler und alliierter Zuständigkeiten offenkundig. Mit Billigung des Militärausschusses hatte die Standing Group das Projekt am 9. April 1958 in die Form des Entwurfs MC 54/1 gegossen39. Die geplante Luftverteidigung war danach elementare Voraussetzung der NATO-Nuklearstrategie: »The NATO strategic concept is based essentially on the deterrent power of our retaliatory forces. In order that these forces shall be able to maintain their effectiveness in the face of surprise attack, [...] it is essential that in time of peace an effective system of air defense should give them both warning and protection, so minimizing the effects of surprise attack.« Um das nukleare Schwert des Bündnisses gegen einen Überraschungsangriff zu wappnen, sollten die Staaten den Oberbefehl über ihre gesamten Jagdflugzeuge, Boden-Luft-Raketen und ihre Flugabwehrartillerie der Befehlsgewalt des SACEUR unterstellen. Das operative Kommando besaßen dann die MSC, die operative Kontrolle die ATAFs und DATs, während die taktische Kontrolle von den SOC ausgeübt wurde. Die operative und taktische Kontrolle unterlag den Regelungen für die Feuereröffnung (Rules of Engagement), über welche die politischen Gremien des Bündnisses später zu befinden hatten. Im Bereich der Luftverteidigung war maximale Einheitlichkeit und Angemessenheit zugleich herzustellen - und dies bei allen Wetterbedingungen und unter Berücksichtigung aller Waffensysteme. Das hieß vor allem, die Regeln mussten eine geringfügige Luftraumverletzung ebenso abdecken wie einen massiven Luftangriff mit Flugzeugen und Flugkörpern. Dabei hatte die defensive Reaktion der jeweiligen Bedrohung zu entsprechen, um nicht selbst eskalierend zu wirken. Folgerichtig musste jede Region den Umfang gegnerischer Einflüge definieren, bei dessen Überschreitung die Gefahr bestand, einen Großteil der Vergeltungskräfte und/oder der eigenen Verteidigungsfähigkeit einzubüßen. McGregor 38 39
Vgl. BA-MA, Verschlusssache; SHO, SHAPE History 1958, S. 180 f. Vgl. IS, CD08, C-R(58)25, Nordatlantikrat, 17.4.1958.
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hegte die Vorstellung, die operative Kontrolle über die Atomsprengköpfe wie über konventionelle Waffen gleichermaßen zu dezentralisieren, um sich gegen einen Überraschungsangriff zu wappnen. Dagegen sah der Stabschef von SHAPE getrennte Regeln für den konventionellen und den nuklearen Einsatz vor 40 . Die Regionen sollten im Benehmen mit den betroffenen Nationen Luftverteidigungspläne ausarbeiten. SHAPE hatte diese zu einem Gesamtkonzept zusammenzufassen und dem Militärausschuss, also den versammelten obersten Militärs der Nationalstaaten, zur Billigung vorzulegen. Die MSC sorgten dann im Benehmen mit den nationalen Kommandobehörden - die parallel zu den NATO-Stäben der entsprechenden Ebene bestanden oder noch einzurichten waren - für die notwendige Fortschreibung des Konzepts. Immerhin räumte SACEUR ein, dass NATO-Kommandeure im Ausnahmefall auch nationale Funktionen besitzen sollten, solange sie hinsichtlich der Luftverteidigung ausschließlich dem nächsthöheren NATO-Befehlshaber verantwortlich waren. Den nationalen Belangen wollte der SACEUR im Übrigen durch Beschränkungen bei der Verwendung und Dislozierung der ihm assignierten Verbände gerecht werden. Über deren Umfang und Ausrüstung entschieden weiter in letzter Instanz die Nationen auf der Grundlage von Empfehlungen des Bündnisses. Die Verwendung der Verbände zu anderen als zu Zwecken der Luftverteidigung unterlag ebenfalls nationaler Zustimmung. Dagegen gestand der SACEUR jetzt den Nationen das Recht zu, unter besonderen Umständen, etwa zur Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit, ihre Luftverteidigungsverbände temporär wieder unter nationalen Befehl zu stellen. Die Dislozierung auf nationalem Territorium konnte mit Rücksicht auf die besonderen Verhältnisse der Zentralregion nur im Grundsatz gelten. Der SACEUR glaubte nicht mehr, dass ein abgestimmtes technisch-taktisches Anforderungsprofil allein die zeitgleiche Einführung eines gleichartigen Systems der Datenübertragung in allen betroffenen Nationen möglich mache. Daher sollte das moderne Flugmelde- und Leitgerät gemeinsam finanziert werden. In nationaler Verantwortung waren dagegen die Radargeräte und Fernmeldeverbindungen zu beschaffen und die Operationszentralen herzustellen. Sie sollten dann assigniert und in das einheitliche System eingepasst werden. Der Zuständigkeitsbereich des SACEUR als oberstem Luftverteidiger umfasste in der Endstufe die Nordregion (Norwegen, Dänemark und Schleswig-Holstein), die Südregion (Türkei, Griechenland, Italien mit Sardinien und das gesamte Mittelmeer) und als weitere Regionen die Britischen Inseln und Mitteleuropa. Hierzu gehörten danach zunächst nur die Bundesrepublik, die Beneluxstaaten und Ostfrankreich (im Gebiet der 1. CATAC), danach dann ganz Frankreich mit Korsika. Offen blieb zunächst die naheliegende Einbeziehung der Nordsee und des Kanals. Für letzteren war ja ein eigener, dem SACEUR gleichgeordneter Kommandobereich zuständig. Die Standing Group plädierte, beide Seegebiete dem SACEUR zu unterstellen. Da40
Zu den Rules of Engagement vgl. auch SCR, 35 mm, P12C, R 5, L-002, Vermerk Roeder, 2.7.1958; ebd., 35 mm, P01B, R 34, L-104, Schuyler an CINCENT u.a., 16.7.1958.
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gegen blieb Portugal ausgenommen. Zum Leidwesen Norstads meldeten Dänemark und Norwegen Bedenken an, da ihre Verfassungen keine ΝΑΊΌUnterstellung ihrer Luftverteidigungskräfte bereits im Frieden zuließen41. Im Oktober 1958 legte der Luftverteidigungskoordinator des COMAIRCENT, Lionel Max Chassin, einen vorläufigen Plan für Europa-Mitte als Kompromiss zwischen dem gegenwärtigen und dem für 1963 geplanten Zustand vor. Er war zugleich der Versuch, das Konzept von SHAPE auf die Verhältnisse in der Zentralregion herunterzubrechen. Die fehlende Tiefe des Raumes sollte durch Neugliederung der Sektoren, durch deren Koordination und durch maximale Automatisierung der vertikalen und horizontalen Datenübertragung kompensiert werden. Bislang waren für die territoriale Gliederung noch die nationalen Grenzen ausschlaggebend. Das sollte sich ändern. Die zwei Sektoren Niederlande und Belgien sowie die zwei Sektoren des ehemaligen britischen Besatzungsgebietes in der Bundesrepublik sollten unter der 2. ATAF und ihrem ADOC im Kriegshauptquartier der Luftflotte zusammengefasst werden. Desgleichen der amerikanische und der französische Sektor in der Bundesrepublik einschließlich des ostfranzösischen Zuständigkeitsbereichs des 1. CAT AC unter der 4. ATAF mit dem ADOC in Kindsbach. Die Befehlshaber der Luftflotten nahmen danach die Gesamtverantwortung für den Luftkrieg wahr, delegierten die Zuständigkeit für die Luftverteidigung an einen Stellvertreter (AIR DEFENCE DEPUTY) an der Spitze des ADOC. Dieses Modell hatte die 2. ATAF im Verlauf des Jahres 1958 mit Billigung des CINCENT und des SACEUR eingeführt. Der Air Deputy kommandierte das rund-um-die-Uhr besetzte ADOC als ständiges Element eines Joint Command Operations Centre der Luftflotte. Im Kriege übte der Air Deputy die operative Kontrolle über sämtliche Luftverteidigungseinheiten und die taktische über die gesamte FlugabwehrRohrartillerie im Zuständigkeitsbereich aus. Er delegierte diese Aufgabe an die Sektorenbefehlshaber. Für die Dauer von 12 Stunden konnte er auch ohne nationale Zustimmung Kräfte zwischen den Sektoren verlegen42. Die 4. ATAF und die Kanadier bestanden darauf, die Führung der - erst im Kriege unterstellten Luftangriffsverbände mit der bereits im Frieden zu integrierenden Luftverteidigung durch eine Operationsabteilung ihres Luftflottenstabes zu verknüpfen. Sie lehnten die Sonderstellung der Luftverteidigung auf der Kommandoebene der Luftflotten nach dem Vorbild der 2. ATAF ab. Der Befehlshaber der französischen DAT sollte nach dem Konzept von AIRCENT mit seinem rein französisch besetzten ADOC in Taverny gleichwohl dem COMAIRCENT operativ verantwortlich sein. Damit entstanden drei Luftverteidigungszonen, die sich wiederum in Sektoren gliederten. Das SOC im ostfriesischen Brockzetel führte den für das nördliche Norddeutschland und die 41
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Vgl. IS, CD08, C-R(58)21, Nordatlantikrat, 15.4.1958; SCR, 35 mm, P01B R 34, L-101, Norstad an Standing Group, 27.2.1958; ebd., L-105, SACEUR an CINCENT u.a., 30.4.1958, nebst Einlage (Zitat) und Anl.; IMS, CD014, SGM-543-58, Standing Group an SACEUR, SACLANT u.a., 25.8.1958; SHO, SHAPE History 1958, S. 181-185, 188 f.; BA-MA, BL l/215a, Vermerk Fü L II 3, 28.10.1958. Vgl. dazu BA-MA, Verschlusssache.
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nördlichen Niederlande zuständigen Sektor 1 der 2. ATAF. Das SOC in Uedem am Niederrhein wurde für den Sektor 2 der 2. ATAF zuständig, der sich von Belgien und Südholland bis Südniedersachsen erstreckte. Das SOC im lothringischen Metz befehligte den Sektor 1 der 4. ATAF von Lothringen bis Hessen. Hier plädierten die 4. ATAF43 und die Deutschen für eine Verlegung auf den pfälzischen Langerkopf oder den Erbeskopf im Hunsrück. Dem Sektor 2 der 4. ATAF stand das SOC im nordelsässischen Drachenbronn vor, dessen Zuständigkeit vom südlichen Ostfrankreich bis zur tschechischen Grenze reichte. Die DAT zerfiel in einen nördlichen (SOC Romilly), südwestlichen (SOC Mont de Marsan) und südlichen (SOC Aix) Sektor. Den Vertretern Frankreichs missfiel an dieser territorialen Gliederung vor allem, dass sie nicht vorab mit den Nationen besprochen worden sei. Dagegen forderten die Belgier und die Vertreter der 2. ATAF, die Sektorengrenzen müssten eindeutiger in West-Ost-Richtung verlaufen. Zudem zweifelten sowohl Niederländer und Belgier als auch Kanadier am räumlichen Umfang der Sektoren. Immerhin musste AIRCENT zugestehen, dass der »sector controller« womöglich von der Vielzahl seiner Aufgaben in seinem großen Zuständigkeitsbereich überfordert werde. Ahnlich zweifelte der Vertreter der für den Südteil der Bundesrepublik zuständigen Heeresgruppe Central Army Group (CENTAG) - die ihre Flugabwehrraketen der Kontrolle der Luftflotte unterstellen sollte - an der Fähigkeit der SOC, bei einem Großangriff die Masse der Ziele zuzuweisen. Jedes SOC verfügte über CRC, deren Vernetzung durch ein automatisiertes Datenverarbeitungssystem, so die Studie von AIRCENT weiter, kaum vor 1963 begonnen werden konnte. Immerhin sollte 1959 eine Frühwarnstation in Regensburg und zwischen Kindsbach, Uedem und dem Air Operation Center des COMAIRCENT ein automatischer Datenaustausch in Betrieb gehen. Die Hoffnung, vielleicht eines Tages sogar die Zahl der Radarstellungen dank moderner Datenübertragung reduzieren zu können, wurde namentlich von den Deutschen angezweifelt. Obwohl die Radaranlagen bis 1959 etwas ausgebaut werden sollten, blieben sie >tieffliegerblind
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