Am Abgrund des Geistes: Philosophie und Verzweiflung 9783495994764, 9783495994757, 3495994764


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Philosophie und Verzweiflung: Hinführende Gedanken und Einführung in die Beiträge
I. Verzweiflung – systematische und historische Perspektiven
Zur Phänomenologie der Verzweiflung
Einleitung
Stadien der Verzweiflung
(1) Einengung der Lebensmöglichkeiten
(2) Zweifeln und Verzweifeln
(3) Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit
Exkurs: Die Verzweiflung der melancholischen Depression
(4) Umschlag in Möglichkeit und Handeln aus Verzweiflung
a) Der Suizid als Akt der Verzweiflung
b) Die radikale Selbstermächtigung
c) Der Sprung in den Glauben
d) Das Absurde
Schluss
Verzweiflung als Ausdruck überforderten Daseins
Eine existenzphilosophische Betrachtung
1. Häufige Verwendungen des Wortes »Verzweiflung« in der Alltagssprache
a) »Verzweifelt-sein« als »Sich-verzweifelt-Fühlen« in einer objektiv verzweifelten Situation
b) »Verzweifelt-sein« als »Sich-verzweifelt-Fühlen ohne ersichtlichen objektiven Grund
c) Warum auch der Ausruf »Es ist zum Verzweifeln« ein absolutes Nein enthält
c) Das sachliche Urteil »Es ist absurd« als rationales Äquivalent zum emotionalen Ausruf »Es ist zum Verzweifeln«.
d) Der Ausruf »Es ist nicht zu fassen« als verzweifelter Ausdruck von Sprachlosigkeit
2. Von Kierkegaards christlicher Deutung der Verzweiflung zur existenzialen Verzweiflung
3. Kierkegaards Verwirrspiel mit der adjektivischen und adverbialen Verwendung von »verzweifelt«
4. Kierkegaards Entdeckung des verbalen Sinns von »Selbst« als »Selbstverhältnis«
5. Die dreifache adverbiale Verzweiflung an sich selbst
a) Die uneigentliche Verzweiflung des Ästhetikers
Die Aktualität des ästhetischen Zeitverhältnisses in der Postmoderne
Die Passung von spiritueller »Achtsamkeit« und postmodernem Anforderungsprofil ans Individuum
b) »Verzweifelt nicht man selbst sein wollen«
c) «Verzweifelt man selbst sein wollen»
6. Verzweifelt-Sein als Grundemotion des modernen Subjekts
a) Heideggers Einführung von »geworfen« an Stelle von »gesetzt«
b) Das moderne Selbst: Weder »durch einen Andern gesetzt« noch »sich selbst setzend«
c) Die verzweifelte Auflehnung gegen die Kontingenz des eigene Selbst-seins
7. Kierkegaards eigentliche Formen der Verzweiflung als verneinende Antworten auf die »Angst«
a) Warum die Angst bei Kierkegaard »gänzlich verschieden« ist von der Furcht
b) Warum es dem Menschen ob seiner Freiheit »schwindlig« wird
c) Das Paradox von gleichzeitiger Auszeichnung und Überforderung
8. Die Neubestimmung des Verhältnisses von adverbialem und adjektivischem »verzweifelt« in modern-existenzphilosophischer Sicht
a) Vom »Sowohl-als-auch« zum »Entweder-Oder«
b) Der Verlust jeglicher Hoffnung im Verzweifelt-sein
c) Das Trauern als die einzige Alternative zur depressiven Verzweiflung
Fazit
Das verzweifelte Selbst
Zur Phänomenologie existenzieller Verzweiflung am Leitfaden der Affektivität
1. Skizzierung des Problemhorizonts und begriffsgeschichtlichen Hintergrunds: Verzweiflung – Zweifel – Entzweiung
2. Heideggers existenzial-ontologische Analyse der Angst als hermeneutischer Orientierungspunkt einer Phänomenologie der Verzweiflung
3. Das verzweifelte Selbst in leibphänomenologischer Sicht zwischen Pathos und Response
Der Tod macht alles lächerlich. Zur Verzweiflung als Lebensunmöglichkeit bei Thomas Bernhard
Einleitung
Wittgensteins Neffe: Todesverzweiflung
Gehen: Verzweiflung als Ausweglosigkeit des Verstandes
Beton: Die Verzweiflung des Geistesmenschen
Ja: Verzweiflung als schweigende Negation
Verzweiflung als Lebensunmöglichkeit: Bernhard und die Philosophie
Über die Macht der Ohnmacht
Theodor W. Adornos Reflexionen auf das Phänomen der Verzweiflung
I. Die Objektivität der Verzweiflung und die Objektivität des Glücks
II. ›Die Kraft zur Angst und die zum Glück‹
Jenseits der Verzweiflung, diesseits der Transzendenz?
Immanente Bejahung der Existenz zwischen Trotz und Erleuchtung
1. Einführung
2. Kierkegaards Phänomenologie der Verzweiflung
3. Friedrich Nietzsches Verzweiflung des Trotzes: Ja-Sagen als Nein-Sagen zum Nein
4. Keiji Nishitani: Überwindung der Verzweiflung durch Überwindung einer falschen Selbst-Konzeption
5. Die Überwindung der Verzweiflung: Sinnsetzung (Nietzsche) und Sinnpreisgabe (Nishitani)
6. Schluss
Verzweiflung an der Wahrheit
Das Pathos der Philosophie
1. Die Krankheit zum Tode
2. Die Verzweiflung allgemein
3. Die Arten der Verzweiflung
4. Nietzsches These und Aporie zur Verzweiflung an der Wahrheit
5. Die Verzweiflung an der Wahrheit und Gefahren der Existenz
6. Verzweiflung und die Gefahr einer entsetzlichen Liebe
7. Übungen in Liebe, Hass und Entsetzen
8. Die Liebe zur Wahrheit als Sinn für die Not des Denkens
9. Philosophie und die Not der Notlosigkeit
10. Die Arten der Wahrheit
11. Der geschichtliche Ort der Verzweiflung an der Wahrheit
12. Die Wahrheit im umgedrehten Platonismus
13. Die Aufgabe der Philosophie und die Furcht vor sich selbst
14. Verzweiflung am asketischen Stern
II. Friedrich Nietzsches Verzweiflungen in Leben und Werk
Der Mitmensch als Grund zur Verzweiflung: Richard Wagner und Lou von Salomé
Mit einem Seitenblick auf Nietzsches kategorialen zoologischen Fehler
1 Resonanzen. Ein Anfangsverdacht
2 Zoologische Vorüberlegungen. Rousseau als Paralleldenker. Wagner und die Kuhglocken
3 Vom Raubtier zum Herdentier? Nietzsches zoologischer Irrtum
4 Richard und Cosima Wagner: Ein verzweiflungsursprünglicher Lebensabschiedsbund. Dritte unerwünscht
5 Der Dritte
6 Weihnachten 1882
7 »Aufgabe unserer Zeit: die Kultur zu unserer Musik zu finden!«
8 Bruch mit Wagner? Nietzsche bricht mit Nietzsche oder Der Verlust einer großen Illusion
9 Lou von Salomé und die Biografie Gottes
10 Resonanzen. Ein Schlussverdacht
»Sich als Gegenargument gegen Gott fühlen« – Nietzsches Verzweiflung des Trotzes coram Deo
Einleitung
1. Wehmut des Todes in biographischer Durchsichtigkeit der Existenz
2. Philosophie der Verzweiflung – durch Sturz der teleologischen Welt (Dysteleologie)
3. Blick auf den gekreuzigten Christus als Durchblick auf Nietzsches eigene Passionsgeschichte
4. Der ›Tod‹ Gottes. Die melancholische Dimension dieses Todes in einer Grabesklagemelodie
5. Der europäische Nihilismus als Gottestodfolge
6. Verzweifelte Selbstverachtung – trotz vollbrachter Entwertung der christlichen Wertewelt
7. Leidenschaftliche Antitheodizee
Glaube, Verzweiflung, Geist bei Nietzsche und Kierkegaard
I. Einleitung: Nietzsche und Kierkegaard als Vertreter einer »scientia affectiva«
II. »Gott ist todt!«
III. Gott ist schon länger tot
IV. Gott ist Atheist
V. Religiöse (Nietzsche) und anthropologische (Kierkegaard) Verzweiflung
VI. Verzweiflungsformen in der »Krankheit zum Tode«
VII. Gottesmord ist Selbstmord
VIII. Gegen die Verzweiflung: Geist im Leib
IX. Transzendenz bei Nietzsche: Liebe
X. Schluss
Um Abgründe wissen
Der neuzeitliche Zweifel und Nietzsches Verständnis von Verzweiflung
1 Klassische Verzweiflung: Strafe und Verlassenheit
2 Descartes Verzweiflung des Zweifels
3 Fichtes Verzweiflung der Reflexion
4 Hegels Weg der Verzweiflung
5 Nietzsches Weg der Verzweiflung
6 Verzweiflung und Schein
7 Verzweiflung und Weltoffenheit
8 Planetarische Verzweiflung
9 Transfigurative Verzweiflung
»Faunische Züge der Verzweiflung« – Nietzsches stilistische Transformationen
I. An der Wahrheit verzweifeln?
II. Verzweifeln und verspotten
Verzweiflung und Melancholie in speziellem Hinblick auf Nietzsche
(1)
(2)
(3)
(4)
III. Ausblick
Kultur und Verzweiflung – Gedanken zur Lebbarkeit und Unlebbarkeit des Lebens
(1) Das mit sich entzweite Lebewesen
(2) Von der Lebbarkeit und Unlebbarkeit des Lebens
(3) Existentielle Verzweiflung und Unlebbarkeit des Lebens
(4) Jenseits der Verzweiflung
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Am Abgrund des Geistes: Philosophie und Verzweiflung
 9783495994764, 9783495994757, 3495994764

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Henrik Holm | Christina Kast [Hrsg.]

Am Abgrund des Geistes Philosophie und Verzweiflung

https://doi.org/10.5771/9783495994764 .

https://doi.org/10.5771/9783495994764 .

https://doi.org/10.5771/9783495994764 .

Henrik Holm | Christina Kast [Hrsg.]

Am Abgrund des Geistes Philosophie und Verzweiflung

https://doi.org/10.5771/9783495994764 .

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-495-99475-7 (Print) ISBN978-3-495-99476-4 (ePDF)

1. Auflage 2023 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2023. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet verlag-alber.de https://doi.org/10.5771/9783495994764 .

Inhaltsverzeichnis

Henrik Holm, Christina Kast Philosophie und Verzweiflung: Hinführende Gedanken und Einführung in die Beiträge . . .

I.

7

Verzweiflung – systematische und historische Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15

Thomas Fuchs Zur Phänomenologie der Verzweiflung . . . . . . . . . . .

17

Alice Holzhey-Kunz Verzweiflung als Ausdruck überforderten Daseins Eine existenzphilosophische Betrachtung . . . . . . . . . . . . .

35

Till Heller Das verzweifelte Selbst Zur Phänomenologie existenzieller Verzweiflung am Leitfaden der Affektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

65

Henrik Holm Der Tod macht alles lächerlich. Zur Verzweiflung als Lebensunmöglichkeit bei Thomas Bernhard . . . . . . . . .

93

Felix Brandner Über die Macht der Ohnmacht Theodor W. Adornos Reflexionen auf das Phänomen der Verzweiflung

Sebastian Hüsch Jenseits der Verzweiflung, diesseits der Transzendenz?

Immanente Bejahung der Existenz zwischen Trotz und Erleuchtung . .

109

133

5 https://doi.org/10.5771/9783495994764 .

Inhaltsverzeichnis

Emanuel Seitz Verzweiflung an der Wahrheit. Das Pathos der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

155

II. Friedrich Nietzsches Verzweiflungen in Leben und Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

185

Kerstin Decker Der Mitmensch als Grund zur Verzweiflung: Richard Wagner und Lou von Salomé Mit einem Seitenblick auf Nietzsches kategorialen zoologischen Fehler

187

Edith Düsing »Sich als Gegenargument gegen Gott fühlen« – Nietzsches Verzweiflung des Trotzes coram Deo . . . . . . . . . . . .

217

Peter Nickl Glaube, Verzweiflung, Geist bei Nietzsche und Kierkegaard

247

Michael Meyer-Albert Um Abgründe wissen Der neuzeitliche Zweifel und Nietzsches Verständnis von Verzweiflung

267

Corinna Schubert »Faunische Züge der Verzweiflung« – Nietzsches stilistische Transformationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

297

Kurt Röttgers Verzweiflung und Melancholie in speziellem Hinblick auf Nietzsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

315

III. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

337

Christina Kast Kultur und Verzweiflung – Gedanken zur Lebbarkeit und Unlebbarkeit des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

339

6 https://doi.org/10.5771/9783495994764 .

Henrik Holm, Christina Kast

Philosophie und Verzweiflung: Hinführende Gedanken und Einführung in die Beiträge

»Ich bin wie einer der sich im Schiffbruch zu retten sucht: Ich strenge alle meine Kräfte an: aber sie ermatten nach und nach und ich werde zuletzt doch noch untersinken... “ (Christoph Martin Wieland)

Der Mensch ist das Lebewesen, das nach sich selbst fragt – nach sich selbst fragen kann und nach sich selbst fragen muss. Anders als das Tier, welches immer schon ist, was es sein soll, vermag der Mensch es nicht, einfach zu leben: »Der Mensch lebt nur, indem er ein Leben führt«.1 Diese qua Existenz in den Menschen eingeschriebene Aufgabe fordert ihm immerwährend Antworten auf die Frage, wie er zu leben habe, ab. Alle kulturellen Kräfte arbeiten beständig daran, seine natürliche Gleichgewichtslosigkeit ins Gleichgewicht zu brin­ gen und inmitten des Nichts – der eigenen Ort- und Heimatlosigkeit2 – ein lebbares Etwas zu schaffen. Und doch ist der Mensch nicht gefeit vor der Erfahrung des Nichts, der Auflösung aller hartnäckig konstruierten Sinnzusammenhänge, dem Verlust des Grundes und dem Blick in den Abgrund: In der Verzweiflung entziehen sich dem Menschen alle Daseinsgründe. Aus der normativen Frage, wie man zu leben habe, wird die existentielle Frage, ob das Leben überhaupt lebbar, weiter lebbar sei. Die Verzweiflung lässt nur eine Antwort zu: Sie verneint und hinterlässt die Unmöglichkeit zu leben. In ihr klingt das Lebensende an. Sinnigerweise bezeichnete Sören Kierkegaard die Verzweiflung als »Krankheit zum Tode« – der Verzweifelte ist ein Todkranker, der im Grunde kaum mehr auf Heilung und Genesung hoffen darf. Er hat seine Zeit nurmehr abzuleben, fertigzuleben. 1 2

Plessner, Helmuth: Die Stufen des Organischen und der Mensch, Berlin 2016, 384. Vgl. Ebd., 385.

7 https://doi.org/10.5771/9783495994764 .

Henrik Holm, Christina Kast

Hier ist innezuhalten, denn: Sterben kann man bekanntlich nur den einen Tod, den physischen. Dieses Geschick ist dem Menschen mit dem Tiere gemein. In der Verzweiflung indes zeigt sich der Mensch begabt zu einer Todesform, die dem physischen Ende voran­ geht und der Lebensform des Tieres vorenthalten bleibt. Der Grund liegt im Menschen selbst, denn »der Mensch ist Geist«3. Mit Kierke­ gaard gesprochen, ist Verzweiflung eine genuine Angelegenheit des menschlichen Geistes: Weil der Mensch Geist ist, verzweifelt er. Der Tod, den der Verzweifelte stirbt, ist ein geistiger; der Verzweifelte ist im Geiste unheilbar erkrankt. Das bedeutet freilich nicht, dass das physische Sein davon unberührt und unversehrt bleiben muss: Verzweiflung kann auch die Physis vernichten, und zwar im Freitod. Das Leben endet im Kopf, der physische Körper folgt lediglich und hat, einer Hülle gleich, nurmehr abzufallen. In der Verzweiflung zeigt sich exemplarisch, was die geistige Mit­ gift für den Menschen bedeutet, ja was das Geistige vermag – nämlich nichts Geringeres, als dem Leben ein Ende vor dem eigentlichen Ende zu setzen. Dies macht die Verzweiflung zu einem Schlüsselphänomen, von dem her die Verfasstheit der geistigen Natur des Menschen erschlossen werden kann und das weitreichende, Existenz und Leben umgreifende Fragen aufwirft: Was sagt es über unser Mensch-Sein aus, dass wir zur Verzweiflung begabt sind? Was lässt uns verzweifeln, und was bedeutet es, Verzweiflung an sich zu erfahren? Kann es Tröstung, Linderung oder Heilung für die Krankheit zum Tode geben? Und überhaupt: Ist die menschliche Begabung zur Verzweiflung etwas Auszeichnendes oder zu Verdammendes – etwas, das bejaht werden sollte oder das zu verneinen ist, ja das besser gar nicht sein sollte? Gilt es, so denn möglich, die Verzweiflung als Äußerung von Negativität abzuschaffen oder könnte die Verzweiflung gar notwendige Erfahrung sein, die uns über uns hinauszutragen vermag? Gibt es eine Weisheit der Verzweiflung und ist Verzweiflung vielleicht Negation jeder Mög­ lichkeit von Weisheit? Mit diesen Fragen im Blick wendet sich der vorliegende Sam­ melband dem im philosophischen Diskurs weithin vernachlässigten4 Phänomen der Verzweiflung zu, mit der Intention, den Begriff der 3 Kierkegaard, Sören: Die Krankheit zum Tode. Eine christlich-psychologische Darle­ gung zur Erbauung und Erweckung, Stuttgart 1997, 13. 4 Als Ausnahme seien zu nennen: Theunissen, Michael: Der Begriff Verzweiflung. Korrekturen an Kierkegaard, Berlin 1993, sowie Decher, Friedhelm: Verzweiflung. Anatomie eines Affekts, Lüneburg 2002.

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Philosophie und Verzweiflung

Verzweiflung näher zu bestimmen, die Verzweiflung selbst in ihrer Bedeutsamkeit für die geistige Konstitution des Menschen zu erfas­ sen und die Verwobenheit von Geist, Existenz und Negativität zu beleuchten. Auf Grundlage dieser Zielsetzung umkreisen die hier versammelten Beiträge in systematischer und philosophiegeschichtli­ cher Form das Phänomen der Verzweiflung auf den Pfaden Sören Kierkegaards, Friedrich Nietzsches, Martin Heideggers, Theodor W. Adornos und Thomas Bernhards. Besonderes Gewicht liegt auf der Philosophie Friedrich Nietzsches, was ebenso naheliegend wie befremdlich erscheinen mag: naheliegend, da es vielleicht nie einen Klassiker des philosophischen Denkens gab, der so unter der Ver­ zweiflung gelitten hat; befremdlich, da der Begriff der Verzweiflung kein philosophischer Grundbegriff im Werk Friedrich Nietzsches ist. Und doch ist die Verzweiflung, so unsere These, in Leben und Werk Nietzsches allpräsent. Die Verzweiflung gehört zum natürlichen Bestandteil in einer komplexen Landschaft, ja vielleicht eher in unterschiedlichen Land­ schaften seines Denkens und seines Lebens. Die Verstrickung des Denkens in das Leben wird gerade an der Verzweiflung deutlich. Nietzsche ist ein philosophisches Drama dieser Verstrickung in die Verzweiflung. Die Verzweiflung ist da. Immer da. Jeder Gedanke bei Nietzsche trägt die Spur einer verzweifelten Erinnerung an einer Faktizität des Lebens. Hinter jedem freigeistigen Projekt verbirgt sich diese Spur. Denken ohne Faktizität gibt es so bei nicht ihm. Der Begriff der Verzweiflung bei Nietzsche kann in diesem Sinne sowohl als Sachbegriff als auch als Interpretationsbegriff verstanden werden. Dies stellt den Nietzsche-Leser vor interpretatorische Schwierigkei­ ten. Wie kann man der Verzweiflung auf der Spur kommen, wenn man sicher ist, dass sie da ist, sie aber dennoch nicht konkret auf­ weisen kann? – Man könnte die Verzweiflung als den »Geist der Erzählung«5 bei Nietzsche interpretieren. Bei Thomas Mann ist der »Geist der Erzählung« das, was die Erzählung zu dem macht, was sie ist, ohne dass der Autor darüber verfügen kann. Es entscheidet über den »Geist der Erzählung« letztendlich, wie Imre Kertész im Anschluss an Thomas Mann ausdrückt, »irgendein geheimer und gemeinschaftlicher Beschluss, der offenbar echte seelische Motive und

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Mann, Thomas: Der Erwählte. Frankfurt am Main 2002, 10.

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Henrik Holm, Christina Kast

Bedürfnisse widerspiegelt und in dem die Wahrheit hervortritt«.6 Dieser Geist individualisiert die Sprache und ist überall anwesend in der einen, begrenzten Erzählung. Wir haben den Verdacht, dass »der Geist der Erzählung« bei Nietzsche mit Verzweiflung zu tun hat. Darum ist die Frage brisant: Inwiefern können wir anhand der einzigartigen Beweglichkeit seines Denkens an seiner Verzweiflung teilnehmen? Wie kommt die Verzweiflung zur Sprache in seinem Denken? Und wie vernehmen wir heute den »Geist der Erzählung« bei Nietzsche? Dem geschilderten Gedankengang folgend gliedert sich der Band auf in drei Teile: Der erste Teil ist der systematischen und philosophiege­ schichtlichen Erkundung des Phänomens der Verzweiflung gewidmet (I). Der zweite Teil gilt der Präsenz der Verzweiflung in Leben und Werk Friedrich Nietzsches (II). In einem dritten Abschnitt wird ein abschließender thematischer Ausblick gegeben. (I) Thomas Fuchs nähert sich dem Phänomen der Verzweiflung aus philosophischer und psychiatrischer Perspektive. Im Mittelpunkt sei­ nes Beitrags steht der zentrale Gedanke, dass der Verzweiflung ein eigentümlicher Prozess vorangeht, der Ausgang nimmt im Zweifel und über verschiedene Stadien hinweg in die finale Form der Ver­ zweiflung mündet. Die prozessuale Entwicklung hin zur Verzweiflung wird als zunehmende Einengung bis zum Verlust des Grundes von Hoffnung charakterisiert, die – dem Menschen die Grundlage aller Lebensmöglichkeit raubend – am Kulminationspunkt von völliger Hoffnungslosigkeit umschlagen kann in neue Möglichkeitsräume: in Form des Suizids, der Selbstermächtigung, des Glaubens und des Absurden. Alice Holzhey-Kunz stellt das Konzept der Verzweiflung Sören Kierkegaards in den Mittelpunkt ihres Beitrags, mit dem Anlie­ gen, Kierkegaard mittels einer existential-anthropologischen Lesart anschlussfähig für Überlegungen zur conditio humana in säkulären Kontexten zu machen. In diesem Sinne deutet sie Verzweiflung als Ausdruck überforderten Daseins, d.h. als dem Mensch-Sein immanente Überforderung. An die Stelle des Kierkegaardschen mora­ lisch-normativen Urteils tritt so das hermeneutische Verstehen der Kertész, Imre: Eine Gedankenlänge Stille, während das Erschießungskommando neu lädt, Essays, Hamburg 2002, 44.

6

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Philosophie und Verzweiflung

Verzweiflung als ein radikales Nein gegen die Geworfenheit in ein individuelles Schicksal, dem man sich nicht gewachsen fühlt. Till Heller beleuchtet das Phänomen existentieller Verzweiflung aus hermeneutisch-phänomenologischer Perspektive. Auf Grundlage der heideggerschen Daseinsanalyse wird das Phänomen der Verzweif­ lung als welterschließende Stimmung gedeutet und den Grundbefind­ lichkeiten der Angst und Langeweile ergänzend zur Seite gestellt. Intention ist es, die Verzweiflung als spezifische Selbsterfahrung zu fassen, welche auf ein leiblich-affektives Eingelassensein in der Welt verweist, in Abgrenzung zum neuzeitlichen weltlosen Subjekt einer­ seits und den metaphysischen Dualismen von Subjekt und Objekt, Psyche und Soma, Innen und Außen andererseits. Henrik Holm wendet sich der Verzweiflung im Schaffen des öster­ reichischen Literaten Thomas Bernhard zu. Der Grundgedanke des Beitrags besagt, es sei bei Bernhard die Lebensunmöglichkeit, die den Menschen in die Verzweiflung führe. Als nicht lebbar erweist sich das Leben angesichts der Abwesenheit von Sinnhaftigkeit menschlichen Daseins, was sich nach Bernhard in radikaler Form im Tod – im Ster­ ben-Müssen – bewahrheitet. Dieser Spur der Lebensunmöglichkeit folgt die Untersuchung durch vier Romane Bernhards hindurch, um mit Bernhard schließlich im Lachen über die Absurdität menschlichen Daseins die entscheidende Überlebenskunst zu konstatieren. Der praktisch-politischen und theoretisch-philosophischen Kri­ tik am Negativismus Theodor W. Adornos zufolge lässt sich dessen Scheitern an seinem verzweifelt-resignativen Charakter festmachen. In Auseinandersetzung mit dieser Kritik folgt der Beitrag von Felix Brandner Adornos Reflexionen auf das Phänomen der Verzweiflung und zeigt, wie diese in einer zunächst paradox anmutenden Wendung die Haltung der Verzweiflung mit der Haltung der Hoffnung verknüp­ fen. So wird schließlich die im Namen von Optimismus und Positivität geübte Kritik am verzweifelten Charakter der Philosophie Adornos selbst als Resignationsbewegung lesbar. Der Beitrag von Sebastian Hüsch nimmt seinen Ausgang im Konzept der Verzweiflung Sören Kierkegaards, mit dem Ziel, Mög­ lichkeiten der Überwindung der Verzweiflung sowie Perspektiven nicht verzweifelten Existierens zu eruieren, unter Verabschiedung des Transzendenzbezugs des dänischen Philosophen. Dazu werden zwei Denker in der Kierkegaardschen Spannung von Immanenz und Transzendenz verortet und in ihren Versuchen der Überwindung von Verzweiflung kritisch gegenübergestellt: Friedrich Nietzsche und

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Henrik Holm, Christina Kast

der in der Zen-buddhistischen Tradition der Kyoto-Schule stehende japanische Philosoph Keiji Nishitani. Am Leitfaden der Philosophie Friedrich Nietzsches entfaltet Emanuel Seitz eine grundlegende Reflexion auf die Verzweiflung an der Wahrheit und wirft darin die grundlegende Frage nach der Unumgänglichkeit der Verzweiflung für den Philosophen auf. Der Beitrag zeigt den radikal existentiellen Anspruch der Philosophie, wie wir ihn bespielhaft in Nietzsches Denken finden, auf. Entlang der Begrifflichkeit des Pathos der Wahrheit wird ein Verständnis von Philosophie entwickelt, das – in Abgrenzung zur rein theoretischen Auseinandersetzung mit der Wahrheitsfrage – die Wahrheitsliebe tief in der Existenz verankert und das Denken somit zum radikalen Wagnis, das in Abgründe führen kann, macht. (II) In Kerstin Deckers Beitrag kommt die Verzweiflung des Men­ schen Friedrich Nietzsche in literarischer Form zur Sprache. Verzweif­ lung, so die Ausgangsthese, sei als Resonanzphänomen zu begreifen: In ihr komme der Verlust von Resonanz, des existentiell notwendigen Schwingungskreises, zum Ausdruck. Verzweiflung beginne da, wo man gänzlich ohne Resonanz – ohne Antwort auf die eigene Existenz – bleibt. Am Leitfaden dieses Gedankens zeichnet die Autorin Nietz­ sches Weg in die Verzweiflung an den ihm nächsten und liebsten Mit­ menschen nach: Richard Wagner und Lou von Salomé. Der Beitrag macht durch literarische Sprachkunst erfahrbar und fühlbar, wie der Bruch mit beiden die Welt um Friedrich Nietzsche resonanzlos werden lässt. Edith Düsing geht der Verzweiflung in der Biografie und Philo­ sophie Friedrich Nietzsches nach und versucht anhand einer sowohl historischen wie systematischen Verortung die kulturellen, philoso­ phischen und religiösen Lebensspuren der Verzweiflung bei Nietzsche darzulegen. Besondere Aufmerksamkeit widmet der Beitrag der in seiner Philosophie dramaturgisch in Szene gesetzten Auseinander­ setzung Nietzsches mit der Gestalt Jesu Christi und dem theologisch postulierten Tod Gottes. Hierdurch wird der Begriff des Nihilismus in seiner Dimension der Verzweiflung klar herausgearbeitet und religionsphilosophisch gedeutet. Peter Nickl verortet den Begriff der Verzweiflung im Gedanken der scientia affectiva, wie sie in der mittelalterlichen Philosophie hervortritt. Der Beitrag geht auf die religionsphilosophischen Facet­ ten der Verzweiflung ein und vergleicht dabei das Phänomen der

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Philosophie und Verzweiflung

Verzweiflung bei Nietzsche mit Kierkegaards Begriff der Verzweif­ lung. Anhand dessen widmet sich der Autor essayistisch Gegenwart­ sphänomenen und versucht so, die Bandbreite der Verzweiflung im Rahmen der in der Moderne problematisch gewordenen Begriffe des Geistes und des Glaubens einzufangen. In diesem Sinne ist der Beitrag als Versuch einer Wiederentdeckung der scientia affectiva als Bestandteil der Philosophie der Verzweiflung zu verstehen. Michael Meyer-Albert stellt die Philosophie Friedrich Nietzsches in die Tradition des neuzeitlichen Skeptizismus von Descartes zu Hegel, um sich davon ausgehend dem Phänomen der Verzweiflung in Nietzsches Denken zu nähern. Von der Verortung der Verzweif­ lung in dem von Nietzsche diagnostizierten Ende der Metaphysik, wird der Bogen gespannt zur Grundthese des Beitrags, Nietzsche transfiguriere die Verzweiflung hin zur Weltoffenheit und denkenden Vitalisierung des Lebens. Im Mittelpunkt des Beitrags von Corinna Schubert steht Friedrich Nietzsches stilistischer Umgang mit dem Phänomen der Verzweif­ lung. Maßgebend für die Untersuchung ist der Begriff des Faunischen, der synonym für das Satyrhafte steht und anhand dessen gezeigt wird, mittels welcher Formen der Sprachkunst Nietzsche versucht, der Verzweiflung Herr zu werden. Die Autorin weist auf, dass es die radikalen Kommunikationsformen des Auslachens, Verlachens und Spottens sind, durch die Nietzsche ein Gegengewicht zur Schwere der Verzweiflung zu schaffen sucht. In seinem Beitrag prüft Kurt Röttgers die Möglichkeit, den Begriff der Verzweiflung durch den Begriff der Melancholie zu ersetzen. Aus­ gehend von der These, dass dem Begriff der Verzweiflung die Anthro­ pozentrik einer subjektiven Befindlichkeit anhaftet, unternimmt der Autor den Versuch einer Annäherung an Nietzsches Denken mittels des Begriffs der Melancholie. (III) Ausgehend von der philosophischen Anthropologie Helmuth Plessners stellt Christina Kast grundlegende Überlegungen zur Leb­ barkeit und Unlebbarkeit des Lebens für den Menschen als exzentri­ sche und kulturschaffende Lebensform an. Der Beitrag verortet die existentielle Verzweiflung in diesem Kontext und stellt sie als Schlüs­ selphänomen, von dem aus man der Grenzen des menschlichen Geis­ tes sowie die Verwobenheit von Existenz und Geist erschließen kann, heraus.

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Henrik Holm, Christina Kast

Wir danken der Oslo Metropolitan University für die finanzielle Unterstützung der Publikation des Bandes. Henrik Holm (Oslo Metropolitan University) Christina Kast (Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg)

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I. Verzweiflung – systematische und historische Perspektiven

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Thomas Fuchs

Zur Phänomenologie der Verzweiflung

Einleitung Die Verzweiflung ist ein zentrales Thema für die Philosophie ebenso wie für die Psychiatrie. Denn zum einen stellt sie im Sinn von Karl Jaspers (1925/2019) eine Grenzsituation dar, in der alle vertrau­ ten Annahmen und Erwartungen an das Leben zerbrechen und die Beheimatung in der Welt verloren geht; solche extremen Situationen aber rufen in besonderer Weise nach philosophischer Deutung und Besinnung. Zum anderen bildet die Verzweiflung in den meisten Fällen die Ausgangssituation für den Suizid und damit eine zentrale Herausforderung für das psychiatrische Erkennen, Verstehen und Behandeln. Mit den folgenden Überlegungen will ich aus der Sicht beider Disziplinen einen Beitrag zum Verständnis der Verzweiflung leisten. Ich gehe von zwei grundsätzlichen Annahmen aus: 1)

Dem alltäglichen Sprachgebrauch zufolge kann man an einem bestimmten Vorhaben oder einer Zielsetzung »verzweifeln«, die sich als nicht mehr erfüllbar darstellt.1 Die existenzielle Tiefe der eigentlichen Verzweiflung wird dabei allerdings nicht erreicht. Ich verstehe unter Verzweiflung im Folgenden eine gefühlsmäßige Reaktion auf eine als hoffnungs- und ausweglos erlebte Lebenssituation von höchster persönlicher Bedeutung. Unter dieser Voraussetzung wird erkennbar, dass es dem wirklich Verzweifelten nicht nur um bestimmte Umstände seines Lebens, sondern um sein Leben als Ganzes geht, oder mit Kierkegaard gesprochen, um sein Selbst, das in seinen zentralen Bezügen, Wünschen und Projekten gescheitert erscheint. »Verzweifeln über etwas ist mithin noch nicht eigentlich Verzweiflung«, so

Garrett (1994) bezeichnet dies als »project-specific despair« und unterscheidet diese Verzweiflung von »personal despair« (an seinem Leben als Ganzem verzweifeln).

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Kierkegaard (1992, 15); eigentliches Verzweifeln heißt an sich selbst verzweifeln. Die deutsche Sprache gibt mit dem Begriff des »Ver-zweifelns« einen ersten Hinweis auf die Eigentümlichkeit des Prozesses, der von einem anfänglichen Stadium des Zweifelns bis zur eigentli­ chen Verzweiflung führt; ein Prozess, der, wie wir noch sehen werden, eine zunehmende Einengung, immer weiter gesteigerte Intensität und schließlich einen dialektischen Umschlag impli­ ziert. Die lateinischen Sprachen und das Englische kennen diesen Begriff nicht; das Äquivalent zur Verzweiflung ist die desperatio (franz. désespoir, span. desesperación, engl. despair), abgeleitet von lat. spes, die Hoffnung – also die Hoffnungslosigkeit, die aber eher das Resultat als den Prozess bezeichnet, und daher seine Dialektik nicht in gleicher Weise erfasst.

Im Folgenden will ich die Stadien dieses Prozesses in Grundzügen nachzeichnen. Er führt vom Zweifeln über das Verzweifeln bis hin zur vollständigen Verzweiflung, die die Person in radikaler Weise mit sich selbst konfrontiert und in einem paradoxen Umschlag einen neuen, ganz eigenen Möglichkeitsraum eröffnet. Die Einbeziehung der Psychopathologie der Verzweiflung und ihrer Konsequenzen kann diesen Möglichkeitsraum zusätzlich erhellen. Die Stadien lassen sich folgendermaßen einteilen: (1) (2) (3) (4)

Einengung der Lebensmöglichkeiten Zweifeln und Verzweifeln Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit Umschlag in Möglichkeit und Handeln aus Verzweiflung

Gehen wir diesen Stadien nun im Einzelnen nach.

Stadien der Verzweiflung (1) Einengung der Lebensmöglichkeiten Die Ausgangssituation der Verzweiflung lässt sich zunächst metapho­ risch mit Kafkas »Kleiner Fabel« illustrieren: »Ach«, sagte die Maus, »die Welt wird enger mit jedem Tag. Zuerst war sie so breit, dass ich Angst hatte, ich lief weiter und war glücklich, dass ich endlich rechts und links in der Ferne Mauern sah, aber diese

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langen Mauern eilen so schnell aufeinander zu, dass ich schon im letz­ ten Zimmer bin, und dort im Winkel steht die Falle, in die ich laufe. – »Du musst nur die Laufrichtung ändern«, sagte die Katze und fraß sie. (Kafka 1997)

Dies ist die Ausgangslage des Prozesses: Der Verzweifelnde sieht sich in einer Sackgasse seines Lebens. Er findet sich, sei es durch die Umstände oder durch eigene Schuld, in eine Situation hineingezwun­ gen, in der die Alternativen schwinden und die finale Ausweglosigkeit sich bereits erahnen lässt. Er erkennt, dass eine von außen oder durch eigene Entscheidungen herbeigeführte Lage nicht die ist, mit der er weiterleben könnte. Dabei kann es sich um eine unmittelbare Todesbedrohung handeln, etwa durch eine tödliche Erkrankung oder ein Todesurteil. Oder es geht um eine für den eigenen Lebensentwurf wesentliche Orientierung, eine Erwartung oder ein Streben, dessen sich abzeichnendes Scheitern unerträglich erscheint, weil sich zentrale mit dem eigenen Selbstideal verbundene Werte nicht mehr realisie­ ren lassen. Nun entwickelt sich eine Einengung, die mit zunehmender Beklemmung, Angst oder gar Panik erlebt wird, man könnte auch sagen, eine existenzielle Klaustrophobie: Der Verzweifelnde sieht sich in eine bedrohliche Lage eingeschlossen, deren Konsequenzen unaufhaltsam auf ihn vorrücken, so »wie ein Schiff im Packeis einge­ schlossen ist und von ihm zerquetscht zu werden droht«, wie Decher (2002, 122) in seiner Analyse der Verzweiflung treffend schreibt. Jaspers hat der unmittelbaren Daseins- oder Todesangst vor dem physischen Untergang die »existenzielle Angst vor der Möglichkeit des Nichts« an die Seite gestellt, die »vernichtende Angst, schuldig mich selbst zu verlieren« (Jaspers 1973, 266). Es ist die Angst davor und schließlich die Verzweiflung darüber, die eigene Bestimmung verfehlt zu haben. Auch ohne eine physische Todesgefahr kann doch der drohende Verlust des möglichen Selbstseins in seinen zentralen Wertorientierungen als nicht minder schrecklich erlebt werden, als die vernichtende Unmöglichkeit aller Möglichkeiten mitten im Leben.

(2) Zweifeln und Verzweifeln Die zunehmende existenzielle Einengung führt nun in die eigentli­ che Dynamik der Verzweiflung, nämlich zu einem Sich-Aufbäumen

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gegen den drohenden Verlust zentraler Lebensmöglichkeiten. Der Verzweifelnde sucht innerlich oder äußerlich nach einem Ausweg; drangvoll, ruhelos und getrieben versucht er der Einengung zu ent­ kommen, er will es nicht wahrhaben, dass es zu Ende sein soll. Noch besteht Zweifel, noch scheint anderes möglich, noch ist das Tor nicht zugefallen. Der sprichwörtliche »Mut der Verzweiflung« kann den Betroffenen zu sonst ungeahnten Handlungen motivieren. Er greift nach dem buchstäblichen Strohhalm, nach jedem Mittel, von dem er glaubt, es könne noch eine rettende Wendung herbeiführen. Die Angst und Anspannung wird dabei umso größer sein, je höher der Betroffene »die Pyramide seines Daseins in die Luft gespitzt hat«, um eine Selbstbeschreibung von Goethe zu verwenden2, je höher also das Selbstideal gespannt ist, das in der prekären Situation auf dem Spiel steht. »Zweifeln« bedeutet an sich zunächst zweifachen Sinnes sein, also sich zwischen zwei Möglichkeiten in der Schwebe halten. Wer zweifelt, wägt die sich darbietenden Möglichkeiten ab, prüft die Alternativen und gewichtet ihr Für und Wider, oder er enthält sich überhaupt skeptisch der Entscheidung. Zum Prozess des Verzweifelns jedoch gehört die intensive Spannung eines Zweifels, der kein skep­ tisches Bezweifeln mehr bedeutet, sondern eine leidenschaftliche Ambivalenz oder Zerrissenheit, nämlich ein Alternieren zwischen Hoffnung und Angst, Widerstand und Sich-Ergeben, Kampf und Resignation. Verzweiflung ist in diesem Stadium also eine innere Aufwallung, die man leiblich – in der Terminologie von Hermann Schmitz (2011, 15f.) – als Konflikt zwischen zentripetaler Spannung und zentrifugaler Schwellung erfährt, d.h. als ein krampfhaftes SichAufbäumen, das sich häufig in ziel- und ruheloser körperlicher Akti­ vität manifestiert. Reißt der Zwiespalt im Menschen weiter auf und wird das Erreichen des zentralen Lebensziels immer unwahrscheinlicher, dann verschärft sich das Schwanken zwischen den Extremen von Hoffnung und Furcht, von Selbsterhaltung und Selbstvernichtung; es geht nun buchstäblich um alles oder nichts. Immer mehr wird dem Verzweifeln­ den bewusst, dass die scheinbar verbliebenen Auswege letztlich nur Wunschvorstellungen und Trugbilder sind. Er wird in seinen rastlosen »Diese Begierde, die Pyramide meines Daseins, deren Basis mir angegeben und gegründet ist, so hoch als möglich in die Luft zu spitzen, überwiegt alles andere und läßt kaum augenblickliches Vergessen zu.« Goethe an Lavater, 20. September 1980 (Goethe 1889, 299). 2

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Gedanken weiterhin unmögliche Möglichkeiten durchspielen oder die Vorgeschichte der Situation rekapitulieren, um wenigstens in der Vergangenheit nach der rettenden Abzweigung zu suchen, die alles geändert hätte – vergeblich. Die innere und äußere Suche bringt keine neue Hoffnung hervor, sie verstärkt nur das Gefühl der Ausweglosig­ keit. Nirgendwo zeigt sich noch ein Lichtstreif, der neue Zuversicht aufkommen lassen könnte. Und so tritt dem Verzweifelnden immer deutlicher vor Augen, dass er nun keine Wahl mehr hat, dass ihm jegliche Freiheit zum rettenden Handeln genommen ist. Mit der Realisierung dieses Verlusts der Wahl- und Handlungsfreiheit aber tritt die eigentliche Verzweiflung ein.

(3) Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit Der Umschlag vom Stadium des Schwankens und Zweifelns zur Verzweiflung kommt sprachlich im Präfix »ver-« zum Ausdruck. Es bezeichnet allgemein eine negierende Umwandlung oder Aufhebung, durch die ein Gegenstand sich ver-ändert oder ver-loren geht, wie in »verkennen« »verbrauchen«, »verderben« oder »vernichten«. Ver­ zweifeln bedeutet also, dass der sich immer mehr zuspitzende Zweifel an einen Punkt gelangt, wo er sich selbst aufhebt und in einen neuen Zustand übergeht, nämlich den der Gewissheit. Alle Möglichkeiten sind zunichte, es bleibt kein Ausweg, oder das Unerwünschte ist schon unwiderrufliche Realität geworden. Die Tür ist ins Schloss gefallen. Erst diese Gewissheit, die Erkenntnis der endgültigen Ausweg­ losigkeit mündet in die eigentliche Verzweiflung. »Verzweifeln kann man erst dann, wenn der letzte Zweifel ausgeräumt ist und sich die Gewissheit des Unabänderlichen eingestellt hat« (Decher 2002, 63), wenn also das letzte Fünkchen Hoffnung erloschen ist. Charak­ teristisch für den Übergang vom agitierten Zweifel in die realisierte Verzweiflung ist ein Nachlassen der inneren Zerrissenheit, ein oft schlagartiges Absinken der inneren Ambivalenzspannung, verbun­ den mit einem Gefühl der katastrophalen Eindeutigkeit, der Resigna­ tion und Fatalität: Es ist aus, es bleibt nichts mehr zu hoffen. In Vladimir Nabokovs Roman »Verzweiflung« gelangt der Prot­ agonist nach und nach zu der Einsicht, dass er mit seinem vermeintlich perfekten Mord keine Chance mehr hat und es kein Entrinnen gibt (Nabokov 1997). Damit schlägt der wachsende Zweifel an seiner Tat in blanke Verzweiflung um; ohne jegliche Hoffnung hockt er in seinem

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Zimmer und wartet dumpf auf seine Festnahme. In der realisierten Verzweiflung ist das erwünschte Ziel nicht mehr erreichbar, oder der Untergang kommt unaufhaltsam; in jedem Fall ist das Leben verwirkt. Anstelle der dramatischen Zerrissenheit des vorangehenden Stadiums kann sich nun eine innere Leere, eine stumpfe Ergebenheit, ja Apathie ausbreiten. Der Verzweifelte hat sich aufgegeben, keine Handlung hat jetzt noch Sinn. Hieran knüpft sich eine Beziehung der Verzweiflung zu Zustän­ den der inneren Leere, die in der Existenzphilosophie wiederholt zum Gegenstand wurden: zum Ennui oder Lebensüberdruss, zur Acedia, der depressiv gefärbten Trägheit in mittelalterlichen Mönchsorden, oder zur tiefen, existenziellen Langeweile, wie sie Heidegger (2018, 199ff.) thematisiert hat. In solchen Zuständen der inneren Leere, Trägheit und Apathie, der äußeren Ödnis und Wesenlosigkeit erscheint nichts mehr relevant oder bedeutsam, wird man schließlich des Lebens selbst überdrüssig. Auf diesem Weg kann sich Verzweif­ lung auch ohne den leidenschaftlichen Kampf, ohne das Sich-Auf­ bäumen gegen die Existenzbeengung einstellen. Namentlich Scho­ penhauer hat gezeigt, wie die existenzielle Langeweile der leeren, monotonen Wiederholung des Daseins in eine latente und zuneh­ mend manifeste Verzweiflung übergehen kann: »Die Langeweile aber ist nichts weniger, als ein gering zu achtendes Uebel: sie malt zuletzt wahre Verzweiflung auf das Gesicht« (Schopenhauer 1998, § 57, 408). Doch kehren wir wieder zu den Stadien der Verzweiflung zurück. Die Gewissheit der Ausweglosigkeit bedeutet, wie wir sahen, zugleich den Verlust jeder Hoffnung, also die eigentliche »despera­ tio.« Keine Hoffnung mehr haben heißt keine Möglichkeit mehr haben. Doch »ohne Möglichkeit kann ein Mensch gleichsam keine Luft bekommen«, wie Kierkegaard schreibt (1992, 36). Lebens- und Zukunftsmöglichkeit braucht der Mensch wie die Atemluft, weshalb es bekanntlich heißt: Die Hoffnung stirbt zuletzt. Und doch kann die Hoffnung sterben, ohne dass der physische Tod eintritt. Das ist der eigentümliche Grenzzustand der realisierten Verzweiflung, eine Art Limbus zwischen Leben und Tod, der eine besondere Zeitlichkeit impli­ ziert. In der Verzweiflung ist die Offenheit der Zukunft aufgehoben, sie erscheint nur noch unter dem Aspekt des sicheren Scheiterns oder Untergangs. Als Verlust jeder Zukunftshoffnung hat auch Ernst Bloch die Verzweiflung betrachtet. Dehnt sich die negative Erwartung über die nächste Gegenwart auf alle mögliche Zukunft aus,

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[…] dann tritt der äußerste, härteste Grenzmodus der Furcht, der absolut negative Erwartungsaffekt auf: die Verzweiflung. Und sie erst, nicht die Angst, ist wirklich bezogen auf das Nichts; die Angst ist noch fragend-schwebend, noch von Stimmung und vom Unbestimmten, Unausgemachten ihres Gegenstands bestimmt, wogegen die Verzweif­ lung in ihrem Gemütszustand ein Definitives, in ihrem Gegenstand […] ein schlechthin Definiertes an sich hat. Sie ist Erwartung als auf­ gehobene, also Erwartung eines Negativen, an dem keinerlei Zweifel mehr statthat. (Bloch 1959, 125f.)

Erwartung als aufgehobene aber bedeutet nicht nur den Verlust jeder Zukunft. Es gibt auch kein Zurück in die Vergangenheit, in die verlorene Zeitlichkeit des gemeinsamen Lebens und der offenen Möglichkeiten. Das Subjekt kann sich weder sinnvoll in die Zukunft entwerfen noch in die Vergangenheit entfliehen. Es ist damit zur radikalen Immanenz in einer es vollständig determinierenden und isolierenden Gegenwart verurteilt. Verzweiflung schließt das Subjekt in eine von allen Möglichkeiten, aber auch allen sinnvollen Bezügen abgekoppelte Gegenwart ein wie in ein Gefängnis. Sie verurteilt es zu radikaler Einsamkeit, denn ohne jegliche Sinnbezüge gibt es auch niemanden mehr, der diese Situation mit ihm teilen könnte. Verzweiflung bedeutet damit auch mehr als das bloße Fehlen von Hoffnung. Vielmehr erfährt das Subjekt in der Verzweiflung, wie Steinbock (2007) hervorhebt, den Verlust des Grundes der Hoffnung als solchen. Während die Hoffnungslosigkeit auf eine konkrete Erwar­ tung bzw. Ausweglosigkeit ausgerichtet ist, vernichtet die Verzweif­ lung die Möglichkeit von Hoffnung überhaupt. Der Ausruf Jesu auf Golgotha: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!« gilt zu Recht als Ausdruck der äußersten Verzweiflung, denn er bezeichnet den Verlust der Beziehung zum eigenen Seinsgrund, aus dem die Hoffnung immer wieder erwachsen könnte. Verzweiflung ist Ausweglosigkeit schlechthin, Verlust von Möglichkeit schlecht­ hin, und wenn man diese Verfassung mit einem traditionellen Bild beschreiben möchte, dann bedeutet sie tatsächlich »die Hölle auf Erden«. Verzweifeln, so haben es bereits Thomas von Aquin und Isidor von Sevilla formuliert, heißt »in die Hölle hinabsteigen«.3

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Zit. nach Decher (2002, 107).

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Exkurs: Die Verzweiflung der melancholischen Depression Die zeitliche Struktur der Verzweiflung lässt sich in einem psycho­ pathologischen Exkurs auch anhand der schweren Depression oder Melancholie erläutern. Die melancholische Depression4 ist durch einen fortschreitenden Verlust des Antriebs, einen Verlust jeglicher positiver Gefühlsregungen und eine einschnürende Beklemmung oder vitale Angst charakterisiert (Fuchs 2019). Quälende Gefühle von unwiderruflicher Schuld und unausweichlichem Verhängnis steigern sich immer weiter zur Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung, die hier freilich nicht aus eigenen Entscheidungen oder äußeren Umständen, sondern letztlich aus der vitalen Verstimmung selbst resultiert. Die Störung des Zeiterlebens in der Erkrankung ist in der anthropologischen Psychiatrie vielfach analysiert worden, nämlich als »Hemmung des vitalen Werdens« (v. Gebsattel 1954). Die innere, gelebte Zeit gerät ins Stocken oder kommt regelrecht zum Stillstand, während die äußere, soziale Zeit der Anderen weiterläuft und unauf­ haltsam vergeht. Je mehr sich die Hemmung verstärkt, das Tempo der inneren Zeit verlangsamt, umso mehr verschließen sich die Möglichkeiten der Zukunft, denn diese hängen entscheidend von Antrieb, Interesse und Zuwendung ab. Ohne Zukunft jedoch liegt auch die Vergangenheit ein für alle Mal fest; sie lässt sich nicht mehr durch zukünftiges Leben verwandeln oder ausgleichen. Nun wird alle Schuld, alles Versäumnis mit einem Mal aktualisiert und scheint irreparabel. »Man hat Sachen gesagt, die kann man nicht aus der Welt schaffen ... man kommt nicht mehr raus aus dem, was man gemacht hat,“ formulierte es einer meiner Patienten. Der Psychiater Kuiper (1991, 162) schreibt in seiner autobiographischen Schilderung seiner eigenen Depression: »Der tiefste Abgrund, in den ich stürze, ist der Gedanke, dass selbst Gott mir nicht helfen kann, denn er kann nichts ungeschehen machen.« Das ist die Situation der depressiven Aussichtslosigkeit und Verzweiflung. Sie findet ihre äußerste Steigerung im sogenannten nihilistischen Wahn, in dem die Patienten die sichere Überzeugung haben, bereits tot zu sein und nun für immer in diesem Zustand existieren zu müssen: 4 Als Melancholie wird in der klassischen Psychopathologie die schwere, phasenhafte Depression bezeichnet; sie ist vom alltäglichen Verständnis der Melancholie als Stimmung oder melancholischer Lebenshaltung zu unterscheiden (vgl. auch Tellen­ bach 1983).

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Ich spüre mich selbst nicht mehr. Ich existiere nicht mehr. Wenn jemand zu mir spricht, habe ich das Gefühl, als spräche er zu einem Toten. […] Ich habe das Gefühl, eine abwesende Person zu sein. Kurz gesagt, ich bin ein wandelnder Schatten. (Minkowski 1970, 328; eig. Übs.)

Der völlige Stillstand der gelebten Zeit bedeutet, unentrinnbar in eine dauernde Gegenwart der Verzweiflung eingeschlossen zu sein. Für Kuiper wird dieser Zustand zu einer Hölle ewiger Bestrafung: Jemand, der meiner Frau glich, ging neben mir, und meine Freunde besuchten mich […]. Alles ist genauso, wie es sein würde, wenn es normal wäre. […] (Doch) was wie das normale Leben aussieht, das ist es nicht. Ich befand mich auf der anderen Seite. Und nun wurde mir auch klar, wie das mit der Todesursache gewesen war […] Ich war gestorben, aber Gott hatte dieses Geschehen meinem Bewusstsein entzogen […] Eine härtere Strafe kann man sich kaum vorstellen. Ohne zu wissen, dass man gestorben ist, befindet man sich in einer Hölle, die bis in alle Einzelheiten der Welt gleicht, in der man gelebt hat, und so lässt Gott einen sehen und fühlen, dass man nichts aus seinem Leben gemacht hat. (Kuiper 1991, 136)

Die melancholische Verzweiflung ist so vollständig, dass sie nicht selten in den Suizid mündet. In ihm kann man einerseits den Vollzug des irreparablen Schuldigseins durch das eigene Todesurteil sehen, zum anderen aber auch die Möglichkeit, dem quälenden Zustand der Erstarrung durch einen letzten Willensakt zu entkommen – paradoxerweise die Zukunft noch einmal wiederherzustellen mit der Absicht, sie ein für alle Mal zu vernichten. Dies führt uns zum nächsten Abschnitt, dem eigentümlichen Umschlag von Verzweiflung in Möglichkeit.

(4) Umschlag in Möglichkeit und Handeln aus Verzweiflung Ich habe zuvor die realisierte Verzweiflung bereits als einen Zwischen­ zustand, als einen Limbus zwischen Leben und Tod charakterisiert, der den Verzweifelten in die Immanenz aussichtsloser Gegenwart ein­ schließt. Damit kehrt gewissermaßen die Ruhe der Verzweiflung ein. Denn mit dem Verlust des Grundes jeglicher Hoffnung ist auch der Kampf, das Aufbäumen gegen die Einengung sinnlos geworden. Keine denkbare Rettungsmöglichkeit liegt mehr zwischen dem Verzweifel­ ten und seiner physischen oder psychischen Vernichtung. Er mag

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weiterleben, doch sein Leben ist gleichwohl verwirkt. Es ist fortan dem Tod nur noch gestundet, unwiderruflich »Sein-zum-Tod« geworden. In diesem Limbus zwischen Leben und Tod hat der Verzweifelte auch die Zugehörigkeit zur gemeinsamen menschlichen Welt eingebüßt, und die letzten sozialen Bindungen verlieren ihre Kraft. Jaspers sieht in der Verzweiflung den »Abgrund der Einsamkeit des Nichtseins« (Jaspers 1973, 80), den Zusammenbruch aller gesellschaftlichen und freundschaftlichen Beziehungen. Dadurch aber entsteht, in einem erneuten Umschlag, eine eigen­ tümliche Freiheit. Mit dem Verlust jeglicher Sinn- und Gemein­ schaftsorientierung sind nämlich auch alle bisherigen Maßstäbe und Gültigkeiten außer Kraft gesetzt – was sich in typischen Gedanken ausdrückt wie »jetzt ist alles egal« oder »ich habe nichts mehr zu verlieren«. Damit wird nun aber gerade das möglich, was gänzlich außerhalb der immer weiter gesteigerten Einengung und schließlich der radikalen Unmöglichkeit der Verzweiflung lag. Es treten ganz neue Möglichkeiten in den Blick. Was also ermöglicht, paradox gesprochen, der Zustand der Unmöglichkeit? – Ich will nur einige solcher Möglichkeiten nennen, die, um es vorwegzunehmen, mit der Kierkegaardʼschen Dialektik der Verzweiflung zu tun haben, mit dem Sprung, den nur der wirklich Verzweifelte zu tun vermag.

a) Der Suizid als Akt der Verzweiflung Gewissermaßen in der Richtung der Verzweiflung liegt zunächst die Möglichkeit des Suizids; ja man kann sagen, dass der ernsthafte Suizid überhaupt nur auf dem Boden der Verzweiflung erwogen und vollzogen werden kann. In seiner wegweisenden Untersuchung des Selbstmords hat Erwin Ringel das »präsuizidale Syndrom« als eine zunehmende Einengung der Möglichkeiten, aber auch des Denkens und der Perspektive beschrieben, gewissermaßen als einen Tunnel­ blick, in den der Verzweifelte gerät (Ringel 1953, 118). Er zitiert dazu ein Gedicht aus dem Abschiedsbrief eines Suizidenten: Immer enger wird mein Denken immer blinder wird mein Blick, mehr und mehr erfüllt sich täglich mein entsetzliches Geschick. (Ringel 2001, 83)

Die zunehmende Einengung führt schließlich in die als ausweglos realisierte Verzweiflung, die den möglichen Suizid in den Blick treten

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lässt. Aber der Suizid ist nicht einfach der konsequente Vollzug der Verzweiflung, sondern vielmehr ihre Umwendung in eine neue, von allen bisherigen Rücksichten befreite Möglichkeit. Das Gefühl der Fatalität und Ohnmacht schlägt um in das Bewusstsein der Freiheit, die aussichtslose Situation jederzeit verlassen zu können. Daher die vielfach zu beobachtende, scheinbar unmotivierte Stimmungsaufhel­ lung der Betroffenen, die auf dem gefassten Suizidentschluss beruht und mit dem Rückgewinn von Handlungsfreiheit zu erklären ist. Die damit in gewissem Sinn neu gewonnene Zukunft wird häufig auch über den eigenen Tod hinaus projiziert; sei es in Phantasien der Ruhe, Erlösung, Geborgenheit, ja Seligkeit (Henseler 2000, 90), sei es im Ausmalen des eigenen Begräbnisses, womöglich der heftigen Reue der Angehörigen oder aller, die dem Suizidenten Unrecht taten und nun Abbitte werden leisten müssen (Ringel 1953, 151). Freilich, die Angst vor dem Vollzug des Suizids muss erst noch überwunden werden, aber es geht nun nicht mehr um den aussichtslosen Kampf, um das zentrale Lebensziel wie zuvor, sondern um die Auseinander­ setzung mit einer ganz neuen Möglichkeit, die die aktive Beendigung des Lebens eröffnet. Jaspers sieht die Verzweiflung als das Versinken der Existenz in der nihilistischen Grenzsituation: In diesem Dasein gibt es definitiv keinen Sinn mehr. Der Selbstmord wird dann zu der paradoxen Aussage, dass man sich mit dem Verlust allen Sinns nicht abfindet; in einem Akt der »entschiedensten Eigenständigkeit« (Jaspers 1973, 314) ergreift man die eigene Existenz, aber indem man sie zugleich verwirft. Der Suizid wird »als aktive Handlung der Sinn, mit dem negativ das Dasein erfüllt wird; er ist eine Entscheidung, in der ein eigentliches, wenn auch negatives Selbstsein liegt, das nun erst begin­ nen könnte und den Selbstmord transzendierend wieder aufhöbe in der Ewigkeit« (ebd., 36). Es gibt für Jaspers sogar Fälle, in denen der, der Hand an sich legt, damit geradezu leidenschaftlich seine letzte Freiheit behauptet und sein Leben fortwirft: »er will nicht im Elend, sondern im Jubel verzichten« (ebd. 306). Um ein Beispiel zu geben: Im Film »Runaway Train« (1985) des Regisseurs Andrej Konchalovsky flüchtet ein ausgebrochener Häft­ ling vor seinen Verfolgern auf einer Lok; um seinen Verfolgern und dem sicheren Ende in lebenslänglicher Haft zu entgehen, lässt er die Lok schließlich in den Abgrund fahren, gegen den Schneesturm auf ihr balancierend und dem sicheren Tod triumphierend ins Auge blickend. Durch die äußeren Umstände in seinen zentralen Lebenswünschen

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besiegt, sucht der Verzweifelte im Suizid »sich gegen den Sieger als unbesiegt zu behaupten«, wie Jaspers schreibt (1973, 314). Die Aus­ sichtslosigkeit des eigenen Lebens kehrt sich um in die Erfahrung äußerster, radikaler, ja womöglich triumphaler Freiheit.

b) Die radikale Selbstermächtigung Als zweite der Möglichkeiten, die die Unmöglichkeit der Verzweiflung eröffnet, nenne ich die radikale Selbstermächtigung. Dostojewski wird der Satz zugeschrieben: »Wenn es keinen Gott gibt, ist alles erlaubt.«5 Diese notwendige religiöse Letztbegründung von Moral mag man bezweifeln; doch der Gedanke wirft zumindest ein Licht auf die Situation des Verzweifelten, der sich analog sagen mag: Wenn es keine Hoffnung mehr gibt, ist mir alles erlaubt. Ich bin nichts und niemandem mehr etwas schuldig. Herausgefallen aus allen tragenden Bezügen zu seinen Mitmenschen, zurückgeworfen auf seine nackte Existenz, kann der Verzweifelte sich auch aller moralischen Rücksich­ ten und Hemmungen entledigt fühlen. Verzweiflung befreit, unter Umständen auch zum Bösen. Nicht zufällig bezeichnet das spanische Wort Desperado, wörtlich der Verzweifelte, einen Menschen, der nichts mehr zu verlieren hat und entsprechend rücksichtslos handelt, einen unberechenbaren Gewalttäter. Ich nenne zunächst ein weniger dramatisches Beispiel, nämlich das eines gutmütigen, bislang nie auffällig gewordenen Familienvaters, der sich nach einem unverschuldeten Konkurs und daraufhin drohender Scheidung in einer als zunehmend aussichtslos erlebten Lage befand.6 Den sicheren Ruin und Verlust seiner Familie vor Augen, geriet er in Verzweiflung und quälte sich mit Suizidgedanken, bis er eines Tages in einem plötzlichen Umschlag den Entschluss fasste, seine Rettung in einem Banküberfall zu suchen. Mit dem buchstäblichen Mut der Verzweiflung gelang es ihm, seine Ängste und Hemmungen zu über­ winden und mit Hilfe einer Spielzeugpistole den Überfall erfolgreich auszuführen. Durch den überraschenden Erfolg gewissermaßen »auf Der Satz findet sich nicht exakt, aber sinngemäß in den »Brüdern Karamasow«, etwa wenn Mitja Karamasow formuliert: »Was ist denn der Mensch nach alledem? Ohne Gott und ohne zukünftiges Leben? Das heißt dann doch, dass alles erlaubt ist, dann kann man ja alles machen?« (Dostojewski 1952, 956), eine Formulierung, der Iwan Karamasow zustimmt (ebd. 963). 6 Der Fall unterlag vor Gericht meiner eigenen psychiatrischen Begutachtung. 5

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den Geschmack gekommen«, wiederholte er noch einige ähnliche Überfälle, bis er schließlich gestellt und verhaftet wurde.7

Weitaus gravierender verläuft die entmoralisierende Dynamik der Verzweiflung bei den meist jugendlichen Schul-Amoktätern, die durch Erfahrung von Kränkungen, Insuffizienz, zunehmender Iso­ lation und Ausgeschlossenheit in eine immer ausweglosere Lage geraten. Ihre Verzweiflung resultiert aus der Selbstwahrnehmung, unwiderruflich aus der Gemeinschaft ausgestoßen zu sein und jede Achtung der anderen verloren zu haben. Der Abbruch aller Bindungen geht hier allerdings mit Gefühlen der Kränkung, der Verbitterung und des Hasses einher (Fuchs 2021). Die enthemmende Wirkung der Verzweiflung kann sich nun mit dem Wunsch nach Rache verknüpfen. Entsprechende Vorbildtaten in den Medien verleiten die Betroffenen dann zum Plan der Amoktat, der durch Phantasien künftiger medialer Berühmtheit noch befördert wird. Der Amoklauf bedeutet dann den ultimativen narzisstischen Triumph über die Feinde ebenso wie den Vollzug der Verzweiflung durch den sich meist anschließenden Suizid. Die gleichermaßen suizidale wie homizidale Dynamik der Verzweif­ lung wird in extremer Weise am Beispiel des Todespiloten Andreas Lubitz erkennbar, der 2015 ein Flugzeug der Gesellschaft German­ wings in den französischen Alpen gegen einen Berg lenkte und zer­ schellen ließ; alle 150 Insassen kamen ums Leben.8 Lubitz hatte schon als Kind den Lebenstraum entwickelt, Pilot zu werden, als 16-Jähriger den Segelflugschein gemacht und nach dem Abitur eine Pilotenausbildung absolviert. Bereits während der Ausbildung geriet er jedoch in eine schwere Depression, die später erneut auftrat, als er schon Kopilot geworden war. Aufgrund von depressionsbedingten Sehstörungen und der hypochondrischen Furcht zu erblinden suchte Lubitz in zunehmender Verzweiflung insgesamt 41 Ärzte auf, ließ sich jedoch nicht beruhigen. Schließlich gewann er die wahnhafte Gewiss­ heit, dass er seinen Beruf nicht mehr weiter werde ausüben können

Eine ähnliche Verzweiflungsdynamik liegt der bekannt gewordenen Fernsehserie »Breaking bad« (etwa: »vom rechten Weg abkommen«; 2008–2013) zugrunde; sie zeigt die Wandlung eines an Lungenkrebs erkrankten biederen Chemielehrers zu einem rücksichtslosen, in Drogenhandel verstrickten Kriminellen. 8 Die Darstellung folgt dem abschließenden Bericht der Französischen Luftsicher­ heitsbehörde (BEA): Final Report (2016). Accident on 24 March 2015 at PradsHaute-Bléone (Alpes-de-Haute-Provence, France) to the Airbus A320–211 registered D-AIPX operated by Germanwings. Online verfügbar unter: {https://www.bea.aero /uploads/tx_ elydbrapports/BEA2015–0125.en-LR.pdf} (Stand: Juni 2022). 7

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und suchte verzweifelt nach Möglichkeiten eines sicheren Suizids. Die schließlich begangene Tat war von ihm detailliert vorgeplant.

Der Verlust seines Lebensziels war für Lubitz unerträglich und stürzte ihn in den Abgrund der Verzweiflung. Es wird sich wohl nie ganz aufklären lassen, warum er sich schließlich zu dieser Tat entschloss, unter bewusster Inkaufnahme des Todes von 150 Frauen, Männern und Kindern, denn seinem Charakter nach war er überein­ stimmenden Aussagen zufolge ein freundlicher, gutmütiger, eher konformistischer, hinsichtlich seines Berufs freilich auch ehrgeiziger junger Mann. Umso mehr macht seine extreme Tat deutlich, wie die Verzweiflung das persönliche Wertgefüge so umstürzen kann, dass Verzweiflungsakte von ungeahnter Heftigkeit, Entschlossenheit und Brutalität möglich werden; Akte, die auch Motive des metaphysischen Trotzes, des Aufbegehrens gegen das eigene Schicksal, der Rache an der Welt einschließen können, und zu denen die Betreffenden in ihrem gewöhnlichen Lebensverlauf niemals fähig gewesen wären.

c) Der Sprung in den Glauben Gehen wir nun über zu anderen Möglichkeiten, die die Verzweiflung eröffnen kann, und die besonders in der existenzialistischen Philoso­ phie thematisiert wurden. Für Kierkegaard ist dies bekanntlich der Sprung in den Glauben, letztlich ermöglicht durch die Gnade Gottes, der sich gerade der wahrhaft Verzweifelte überlassen kann; denn »alles ist möglich bei Gott« (Kierkegaard 1992, 35). Der Gläubige oder zum Glauben Entschlossene kann Gott anheimstellen, wie ihm geholfen werden soll; er kann auf eine Rettung in aussichtsloser Situation setzen. Doch dieser Sprung ist nur als ein dialektischer denkbar, wenn nämlich der Verzweifelte, wie Kierkegaard es fordert, den Mut findet, »sich selbst zu verlieren, um sich selbst zu gewinnen« (ebd., 67). Im Trotz der sich aufbäumenden Verzweiflung will das Selbst noch »verzweifelt es selbst sein«, d.h. sein eigener Herr sein, über sich verfügen oder gar sich selbst nach eigenem Willen neu erschaffen. Diesen Trotz gilt es abzulegen und sich Gott zu überantworten. »Das Selbst muss gebrochen werden, um Selbst zu werden« (ebd., 65); es muss den Anspruch aufgeben, sein eigener Herr zu sein.9 9

Vgl. zur näheren Analyse aus theologischer Sicht auch Welz (2010).

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Zur Phänomenologie der Verzweiflung

Im Gegensatz zum triumphierenden Suizid, der als letzter Akt der Eigenmächtigkeit erlebt werden kann, geht es hier also gerade um einen Verzicht auf die Autonomie des endlichen Subjekts gegenüber dem Unendlichen; im Durchgang durch die Verzweiflung, aber nun in Form der radikalen Selbstaufgabe kann sich das Selbst neu gewinnen oder vielmehr sich selbst neu geschenkt werden.

d) Das Absurde Für Camus schließlich ist das Analogon zur Verzweiflung die Erfah­ rung des Absurden: der unauflösliche Widerspruch zwischen der Sinnwidrigkeit der Welt einerseits und der Sehnsucht des Menschen nach einem Sinn andererseits. Die »offensichtlichste Absurdität« ist der Tod (Camus 1959, 53). Das Bewusstsein des Absurden stellt dem Menschen die einzig philosophisch ernste Frage, nämlich die nach dem Selbstmord: Lohnt es sich, weiterzuleben? Doch der Selbstmord wäre nur die Flucht vor dem Absurden, eine Niederlage. Aber auch die Denker der Existenz, mit denen sich Camus auseinandersetzt, Kierke­ gaard, Heidegger, Jaspers, Dostojewskij und andere, hätten aus der grundlegenden Antinomie des Daseins die falschen Konsequenzen gezogen, nämlich: Der Mensch solle der Absurdität – unter Aufopfe­ rung des Verstandes – durch einen »Sprung« in die Transzendenz entfliehen. Diese metaphysische Ausflucht lehnt Camus ab: Wenn es das Absurde gibt, dann nur im Universum des Menschen. Sobald dieser Begriff sich in ein Sprungbrett zur Ewigkeit verwandelt, ist er nicht mehr mit der menschlichen Klarsichtigkeit verbunden. Dann ist das Absurde nicht mehr die Evidenz, die der Mensch feststellt, ohne in sie einzuwilligen. Der Kampf ist dann vermieden. Der Mensch integriert das Absurde und löscht damit sein eigentliches Wesen aus: Auflehnung, Zerrissenheit und Zwiespalt. Dieser Sprung ist ein Ausweichen. (Camus 1959, 35)

Die einzige Haltung, die der Absurdität des Daseins gerecht wird, ist für Camus der Kampf, die Auflehnung. Aber gerade die Revolte gegen das Absurde bedeutet zugleich die Annahme der Absurdität; in ihr kann der »absurde Mensch« zur Freiheit finden. Der »Verlust der Hoffnung und der Zukunft bedeutet für den Menschen einen Zuwachs an Verfügungsrecht« (ebd., 51) – man könnte sagen, dass gerade die Verzweiflung an der Absurdität des Daseins ihn zum eigenen Leben befreit, wie Camus es in der Figur des Mersault in »Der Fremde«

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literarisch dargestellt hat. Das Leben in der Absurdität schließt »die Gleichgültigkeit der Zukunft gegenüber« ein, und »das leidenschaftli­ che Verlangen, alles Gegebene auszuschöpfen« (ebd., 54). Die Revolte ist also der nicht resignierte, sondern leidenschaftliche Kampf dessen, der am Sinn der Welt verzweifelt, ein Aufbäumen, das nun als solches bejaht, auf Dauer gestellt und zu einer neuen Form des Lebens wird: Darin besteht die verborgene Freude des Sisyphos. Sein Schicksal gehört ihm. Sein Fels ist seine Sache. […] Der absurde Mensch sagt ja, und seine Anstrengung hört nicht mehr auf. […] Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisy­ phos als einen glücklichen Menschen vorstellen. (Camus 1959, 101)

Schluss Verzweiflung, so haben wir gesehen, ist die affektive Erschütterung, die die wahrgenommene Unmöglichkeit zentraler Lebenswünsche und Lebensziele hervorruft. Sie bezeichnet einerseits einen Prozess zunehmender Einengung, verbunden mit existenzieller oder Todes­ angst, die zu einem verzweifelten Sich-Aufbäumen gegen die dro­ hende Unmöglichkeit führt. Dieser leidenschaftliche Kampf um das eigene Selbstsein und Selbstsein-Können mit seinem dramatischen Schwanken zwischen Angst und Hoffnung mündet schließlich in die Resignation der realisierten Verzweiflung: in die Einsicht der Ausweglosigkeit und in die absolute Hoffnungslosigkeit, nämlich den Verlust des Grundes jeglicher Hoffnung. Damit ist der Verzweifelte in eine radikale Immanenz aussichtsloser Gegenwart eingeschlossen. In diesem Limbus zwischen Leben und Tod entsteht nun, in einem erneuten Umschlag, eine eigentümliche Freiheit. In der Grenz­ situation der Verzweiflung sind die bisherigen Sinnbezüge, Maßstäbe und Gültigkeiten außer Kraft gesetzt, und auf paradoxe Weise wird möglich, was jenseits der radikalen Unmöglichkeit der Verzweiflung liegt. Diese Möglichkeiten eröffnen sich durch den Sprung in ein neues Bezugssystem, in dem alle bisherigen Rücksichten aufgehoben sind. Ich habe dafür einige Beispiele benannt: die Bejahung des Suizids als Umkehr der Ohnmacht in eine letzte, paradoxe Aktivität; die radikale Selbstermächtigung, die alle moralischen Hemmungen suspendiert und damit auch zum Bösen befreien kann; den Kierke­ gaard՚schen Sprung in den Glauben durch eine radikale Selbstaufgabe; oder Camusʼ Annahme des Absurden in einer Haltung der Revolte,

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Zur Phänomenologie der Verzweiflung

die die Verzweiflung am Sinn in eine Form des leidenschaftlichen Lebens umwandelt. Von der Grenzsituation der Verzweiflung her kann damit ein Licht auf das Leben fallen, das ja immer in die letzte Grenze des Todes eingeschlossen ist und sich doch mit dieser Aussicht nicht abfinden will. So soll am Schluss dieser Überlegungen noch einmal eine Parabel stehen, das Gegenstück zu Kafkas aussichtsloser »Kleiner Fabel«; es ist die Parabel von der Beere aus den überlieferten Lehren Buddhas (zit. n. Reps 2008, 40): Ein Mann, der über eine Ebene reiste, stieß auf einen Tiger. Er floh, den Tiger auf seinen Fersen. Da tat sich vor ihm ein Abgrund auf. In seiner Not suchte er Halt an der Wurzel eines wilden Weinstocks und schwang sich über die Kante. Der Tiger beschnupperte ihn von oben. Zitternd schaute der Mann hinab, wo weit unten ein anderer Tiger darauf wartete, ihn zu fressen. Nur der Wein hielt ihn noch. Doch nun sah er zu seinem Schrecken zwei Mäuse, eine weiße und eine schwarze, die sich daran machten, nach und nach die Weinwurzel durchzunagen. In diesem Augenblick erblickte der Mann eine saftige Erdbeere neben sich. Während er sich mit der einen Hand am Wein festhielt, pflückte er mit der anderen die Erdbeere. Wie süß sie schmeckte!

Kafkas Maus wird von der Katze gefressen, und das wird auch das Schicksal des Mannes am Abgrund sein. Doch Buddha zeigt noch einmal eine andere Weise des Umgangs mit der Verzweiflung auf, die das Bewusstsein der Absurdität der Existenz hervorruft. Es ist nicht Camus՚ heroische Auflehnung im Angesicht des Todes, sondern die Befreiung zur Gegenwart des Augenblicks und zum Erleben seines unauslöschlichen Sinns. Die Verzweiflung muss nicht das letzte Wort haben.

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Verzweiflung als Ausdruck überforderten Daseins Eine existenzphilosophische Betrachtung

Kierkegaards Konzept der Verzweiflung verdient, so meine Überzeu­ gung, heute weit mehr Beachtung, als tatsächlich der Fall ist. Was steht im Wege? Es lassen sich meines Erachtens zwei Hindernisse ausmachen. Erstens sind Kierkegaards hellsichtige Beschreibungen einer bislang kaum beachteten Form von Verzweiflung gebunden an die normative Vorstellung eines gelingenden Existenzvollzugs, was dazu führt, dass jegliche Form von Verzweiflung als Ausdruck eines verfehlten Lebens verurteilt wird. Was sich bei Kierkegaard ändert, ist lediglich der Massstab, an dem die Verfehlung gemessen wird: In der frühen Schrift Entweder-Oder ist dieser Massstab noch die ethische Existenz, in der späteren Schrift Die Krankheit zum Tode hingegen die religiös-christliche. Ich sehe in dieser für Kierkegaard fraglos-selbst­ verständlichen Einbettung seiner philosophisch-anthropologischen Erkenntnisse in einen normativen Kontext des gelingenden Lebens das Haupthindernis für eine seiner Bedeutung angemessene Rezep­ tion innerhalb des modern-säkularen Nachdenkens über die conditio humana. Ein weiteres Hindernis liegt meines Erachtens in seiner völlig unüblichen und darum zunächst verwirrenden Verwendung des Begriffs Verzweiflung, die keine Rücksicht nimmt auf den vertrauten Wortsinn, dem Leser aber auch die nötige Anleitung zur angemesse­ nen Lektüre vorenthält. Das erste Hindernis auszuräumen kann nur darin bestehen, Kier­ kegaards «Verzweiflung» aus ihrer moralischen bzw. christlichen Ein­ bettung herauszulösen. Hier bringe ich Martin Heidegger ins Spiel, weil ich davon ausgehe, dass seine in Sein und Zeit vorgelegte Analytik des Daseins exakt dies beinhaltet: nämlich eine klammheimliche Aneignung von Kierkegaards Perspektive auf die menschliche Exis­

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tenz, in welcher nun allerdings die religiöse Abhängigkeit von Gott zur radikalen Endlichkeit menschlicher Existenz säkularisiert wird. Die Ausräumung des zweiten Hindernisses bedingt eine Anlei­ tung des Lesers, die ihm ermöglicht, zwischen der geläufigen adjek­ tivischen und der unüblichen, aber von Kierkegaard durchgängig benutzten adverbialen Verwendung von Verzweiflung («Ich bin verzweifelt» kontra «ich will verzweifelt etwas Unerreichbares errei­ chen») zu unterscheiden. Mein Vorschlag im Titel meiner Arbeit, Kierkegaards Verzweif­ lung als Ausdruck überforderten Daseins zu fassen, ist das Resultat meines Bemühens, Kierkegaards Verzweiflungs-Konzept rein exis­ tenzial-anthropologisch zu fassen und damit den Schatz von ebenso tiefsinnigen wie originellen Einsichten Kierkegaards in die conditio humana für den heutigen Philosophen und Psychologen anschlussfä­ hig zu machen.

1. Häufige Verwendungen des Wortes »Verzweiflung« in der Alltagssprache Es mag erstaunen, dass ich mit Überlegungen zum Sinngehalt des Wortes Verzweiflung in der deutschen Alltagssprache beginne, obwohl es mir in diesem Text hauptsächlich darum geht, den exis­ tenzphilosophischen Sinn des auf Kierkegaard basierenden Verzweif­ lungs-Konzepts herauszuarbeiten. Ein Grund dafür ist die schon in der Einleitung erwähnte Krux, dass bei Kierkegaard eben dieser übliche Sinngehalt von Verzweiflung gar nicht vorkommt, was aufmerksame Leser unweigerlich zuerst einmal verwirrt. Es scheint mir darum hilfreich, sich als Einstieg noch einmal des üblichen Wortsinnes von Verzweiflung zu vergewissern, um sich dann auch mit der gera­ dezu gegensätzlichen Verwendung von Verzweiflung bei Kierkegaard anfreunden zu können, ohne unmerklich wieder in die gewohnte Verwendung zurückzufallen. – Der zweite Grund liegt darin, dass ich selber nicht einfach bei Kierkegaards Konzept einer aktiven (adverbia­ len) Verzweiflung stehen bleiben will, sondern gegen Schluss noch auf dessen Einseitigkeit aufmerksam mache, die genau darin besteht, einen bisher unbeachteten, aber ungemein wichtigen Aspekt von Verzweiflung entdeckt zu haben, dabei aber den ebenso wichtigen Aspekt, der in der adjektivischen Verwendung von Verzweiflung zum Ausdruck kommt, seiner normativen Denkweise geopfert zu haben.

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Verzweiflung als Ausdruck überforderten Daseins

Zu einem existenzial-anthropologischen Konzept von Verzweiflung gehören aber beide Aspekte, die erst noch in einer geheimen Dynamik miteinander verbunden sind.

a) »Verzweifelt-sein« als »Sich-verzweifelt-Fühlen« in einer objektiv verzweifelten Situation Auf dem Sender »Arte« ist seit dem 11. März 2022 für ein Jahr ein 33minütiger Doku-Film aufgeschaltet mit dem Titel: »Unterwegs mit Verzweifelten. Ukrainer auf der Flucht vor Putins Truppen.« Als »Ver­ zweifelte« werden hier jene ukrainischen Zivilpersonen, hauptsäch­ lich Frauen mit Kindern und Alte bezeichnet, die ihr Land sowie ihr Hab und Gut fluchtartig verlassen, um den Bomben und Raketen zu entkommen, welche gezielt die Zivilbevölkerung töten und die zivile Infrastruktur zerstören sollen. Dass die Situation dieser Flüchtenden verzweifelt ist und diese sich darum auch verzweifelt fühlen, ist frag­ los. Der Satz »Ich bin verzweifelt« gibt hier dem eigenen Gefühlszu­ stand Ausdruck angesichts einer Situation, die generell als »zum Ver­ zweifeln« beurteilt wird, weil höchst bedrohlich und unberechenbar.

b) »Verzweifelt-sein« als »Sich-verzweifelt-Fühlen ohne ersichtlichen objektiven Grund Der Satz »ich fühle mich verzweifelt« sagt per se noch nichts über das Motiv für einen subjektiven Verzweiflungszustand aus, gibt es doch Menschen, die sich verzweifelt fühlen, ohne dass ihre objektive Situation von außen betrachtet Anlass zur Verzweiflung geben würde. Hier kommt die Psychiatrie ins Spiel, welche sich mit den sogenannt ›abnormen‹ Erlebens- und Verhaltensformen von Menschen befasst. Als ›abnorm‹ gelten dabei alle Erlebens- und Verhaltensweisen, welche sich nicht als nachvollziehbare Reaktion auf real gegebene Verhältnisse oder Ereignisse verstehen lassen. Die Psychiatrie ist Teil der Schulmedizin und beurteilt alles, was als abnorm auffällig wird, als krankhaft und ordnet es der Psychopathologie zu. Der objektiv unbegründete emotionale Verzweiflungszustand gilt bekanntlich als ein zentrales Symptom einer schweren Depression.

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Umso erstaunlicher ist es, dass der Ausdruck »Verzweiflung« in der »Internationalen Klassifikation psychischer Störungen« (ICD-10)1 in beiden Bedeutungen benutzt wird, nämlich nicht nur als ein Symptom der Depression und damit als ein pathologisches Phä­ nomen, sondern auch als normal-adäquates, weil objektiv begründe­ tes Erleben. Die letztere Bedeutung taucht im Zusammenhang der »posttraumatischen Belastungsstörung PTBS« auf – jener Diagnose, die in den 1980er Jahren aufgrund der chronisch gewordenen Lei­ denssymptome der kriegstraumatisierten Vietnam-Veteranen neu eingeführt wurde. Hier taucht nun der Gefühlszustand der »Verzweif­ lung« gerade nicht als abnorme individuelle Reaktion auf, sondern als eine normale (gesunde!) Reaktion auf eine völlig abnorme objektive Situation: »Diese [posttraumatische Belastungsstörung] entsteht als eine verzögerte … Reaktion auf … eine Situation aussergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigen Ausmasses …, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde« (ICD-10, 2008, S. 183; kursiv von mir). Was aber fast jeden in einen Zustand der Verzweif­ lung stürzt, muss durch eine reale und überaus starke Gewalteinwir­ kung erzeugt sein, lässt sich somit nicht mehr durch eine besondere individuelle Vulnerabilität erklären. Die subjektive Verzweiflung ist also immer dann eine angemessene (normale) Gefühlsreaktion, wenn sie als Reaktion auf eine abnorme Realität verstanden werden kann, wohingegen eine emotionale Indifferenz auf eine solche Realität als eine krankheitswertige psychische Störung einzustufen ist.

c) Warum auch der Ausruf »Es ist zum Verzweifeln« ein absolutes Nein enthält Es ist mir im Zusammenhang meiner Auseinandersetzung mit dem Ukraine-Krieg aufgefallen, dass sich mir oft die Wendung »Es ist zum Verzweifeln« aufgedrängt hat. Nun bin ich als Schweizerin ›weit vom Schuss‹, weshalb es merkwürdig wäre, wenn ich mich so verzweifelt fühlen würde wie die direkt vom Krieg betroffenen Ukrainerinnen und Ukrainer. Dennoch bringt auch der Ausruf: »Es ist zum Verzweifeln« eine eigene emotionale Betroffenheit zum Ausdruck. 1 Die ICD-10 (Kapitel V F) ist das von der WHO herausgegebene und bis heute allgemein gültige Klassifikationssystem für psychische Störungen.

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Verzweiflung als Ausdruck überforderten Daseins

Ich versuche Unterschied und Gemeinsamkeit zu fassen, indem ich von der Verneinung ausgehe, welche dem Wort Verzweiflung in der Alltagssprache innewohnt. Eine analog elementare Verneinung eignet auch dem Ekel und dem Neid, nur dass sie dort nicht so umfassend ist wie in der Verzweiflung, sondern je auf einen bestimmten physischen oder zwischenmenschlichen Bereich eingegrenzt.2 Eine umfassende Verneinung bringt nun auch der Ausruf »Es ist zum Verzweifeln« zum Ausdruck: Obwohl man sich selber nicht völlig verzweifelt fühlt, lehnt man dennoch das, was man als empathischer Beobachter mitbekommt, genauso radikal ab wie jene Menschen, die dadurch in die Verzweiflung gestürzt werden, und zwar nicht nur rational, sondern auch emotional, sei es im Gefühl des Entsetzens, der Abscheu oder einer ohnmächtigen Wut. Damit drückt diese Redewendung auch eine tiefempfundene Solidarität mit den direkt betroffenen Opfern aus, die unschuldig in eine objektiv verzweifelte Situation geraten sind.

c) Das sachliche Urteil »Es ist absurd« als rationales Äquivalent zum emotionalen Ausruf »Es ist zum Verzweifeln«. Uno-Generalsekretär Antonio Guterres beurteilt bei seinem Besuch in den zerstörten Vororten Kiews (Bucha, Borodianka, Irpin) den russischen Angriffskrieg gegen die Ukrainer als eine »Absurdität«. Der Begriff der Absurdität gehört in den Bereich der Logik: Absurd ist, was allen Regeln der Logik widerspricht. Demzufolge ist ein absurder Krieg ein Krieg, der allen Regeln politischer Vernunft widerspricht und deshalb auch dem Angreifer keinen rational einsichtigen Gewinn bringen kann. Dass der Uno-Generalsekretär ein Wort gewählt, das auf die kognitive Ebene gehört, ist gewiss politischer Vorsicht geschul­ det, bleibt er damit doch auf der sachlichen Ebene, statt direkt ein moralisches Urteil zu fällen. Dennoch beinhaltet auch das logische Urteil, dieser Krieg sei »absurd«, ein absolutes Nein gegen den Aggressor, ist doch ein Angriffskrieg, der erst noch aus absurden Gründen erfolgt, wider alles Völkerrecht und darum völlig illegitim. Vgl. dazu in A. Holzhey-Kunz: Emotionale Wahrheit. Der philosophische Gehalt emotionaler Erfahrungen, die beiden Kapitel über Ekel und Neid als elementare Verneinungen, 75 – 107.

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d) Der Ausruf »Es ist nicht zu fassen« als verzweifelter Ausdruck von Sprachlosigkeit Die ebenfalls übliche Redewendung »Es ist nicht zu fassen« steht der Wendung »Es ist zum Verzweifeln« näher als die Wendung »Es ist absurd«, weil damit gesagt ist, dass etwas unser Vorstellungsvermö­ gen so sehr übersteigt, dass sich auch keine Worte mehr finden lassen, um es auszusagen und mitzuteilen. Was aber für uns so unfassbar ist, dass es uns »die Sprache verschlägt«, fühlt sich emotional als »zum Verzweifeln« an. Darum sind auch Ausrufe wie: »Das hätte ich nie gedacht« resp. »Das hätte ich mir nie vorstellen können«, immer zugleich auch Ausrufe emotionaler Erschütterung. Dasselbe trifft auf die beiden Ausrufe zu: »Ich kann es einfach nicht glauben!« oder: »Es kann (oder darf) doch einfach nicht wahr sein!« Auch mit ihnen sagt man implizit: »Falls es sich wirklich so verhält, ist es für mich emotional ›zum Verzweifeln‹“.3

2. Von Kierkegaards christlicher Deutung der Verzweiflung zur existenzialen Verzweiflung Für ein philosophisches statt wie üblich psychologisches Verständ­ nis von Verzweiflung ist Sören Kierkegaard wegweisend, und zwar sowohl mit seiner Analyse der »ästhetischen« Lebensform in der Schrift Entweder – Oder von 1843 (im Folgenden EO) als auch mit der Analyse der »dreifachen Verzweiflung« in der Schrift Die Krankheit zum Tode von 1849 (im Folgenden KT).4 Als erstes muss man sich klarzumachen, dass Kierkegaard seiner Analyse der Verzweiflung beide Male ein normatives Menschenbild zugrunde legt, was bedeutet, dass die Verzweiflung immer ein Ver­ fehlen anzeigt: In Entweder-Oder sind all jene verzweifelt, die den Sinn des wahren Menschseins verfehlen, indem sie statt der ethischen Lebensform die ästhetische wählen; in »Die Krankheit zum Tode« sind all jene Menschen verzweifelt, die an der »Krankheit zum Tode Der Ausruf »Es ist nicht zu fassen« kann allerdings auch positiv konnotiert sein, nämlich dann, wenn uns ganz unerwartet ein Glück widerfährt, von dem wir nicht einmal zu träumen gewagt hätten. 4 Vgl. dazu das Kapitel Verzweiflung als Nein zur conditio humana in: Emotionale Wahrheit, a. a. O. Teil II, 107–123. 3

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leiden«, indem sie ein gottloses Leben wählen, das mit dem Tode endet und so das wahre Leben verfehlen, das sich von Gott »gesetzt« weiß. Unabhängig davon, ob die Verzweiflung zuerst noch aus ethi­ scher oder später aus religiös-christlicher Perspektive abgehandelt wird, ist sie für Kierkegaard ein allgemein verbreitetes Phänomen: »Das Seltene ist nicht, dass jemand verzweifelt ist; nein, das Seltene, das überaus Seltene ist, dass jemand es in Wahrheit nicht ist« (KT 24). Schon dieser Hinweis zeigt, dass Kierkegaard die Verzweiflung nicht im heutigen Sinne psychologisch, sondern ontologisch fasst, nämlich als die verneinende Antwort auf die Grundtatsache, selber ein Mensch und als Mensch den konstitutiven Bedingungen der conditio humana unterworfen zu sein. Die enorme Bedeutung von Kierkegaards Entdeckung der Ver­ zweiflung als einem ontologischen Phänomen lässt sich aber für eine moderne philosophische Anthropologie erst dann fruchtbar machen, wenn sie aus ihrer normativen Einbettung in eine christli­ che Anthropologie herausgelöst wird. Wenn ich nun anerkennend darauf hinweise, dass Heidegger mit seinem frühen Hauptwerk Sein und Zeit eben dies geleistet habe, sage ich zugleich, dass sich seine »Analytik des Daseins« im Wesentlichen einer heimlichen Rezeption und zugleich Säkularisierung von Kierkegaards christlicher Anthro­ pologie verdankt. Nun ist auch eine gelungene Säkularisierung eine beachtliche philosophische Leistung, nur wird sie durch die Tatsache überschattet, dass Heidegger die Autorschaft für sich allein bean­ sprucht und Kierkegaard nur gerade in zwei Anmerkungen die Rolle eines in der Dimension der Psychologie verbleibenden christlichen Vordenkers zugesteht, womit er ihm in keiner Weise gerecht wird.5 Heidegger hat durch seine gelungene Säkularisierung Kierke­ gaards auch meinem Anliegen einer existenzialen (statt christlichen) Auffassung von Verzweiflung den Weg geebnet, obwohl er den Begriff »Verzweiflung« aussen vor gelassen hat, statt ihn ebenfalls ins Repertoire seiner direkt von Kierkegaard entliehenen Begriffe aufzunehmen, zu denen insbesondere »Existenz«, »Angst« sowie »der Einzelne« (umformuliert zu »Jemeinigkeit«) gehören.6 Dieses Versäumnis Heideggers hat dazu geführt, dass die herausragende Vgl. dazu Heidegger M. (1927).: Sein und Zeit, 190; 235 (im Folgenden SZ). Wer mit Kierkegaards Konzept der »Verzweiflung“ vertraut ist, wird allerdings in Heideggers Analyse der »Uneigentlichkeit« und des »Man-Selbst« in SZ vieles davon wiederfinden, allerdings zu Modi des »dem Man zugehörigen Verstehens und Aus­

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Bedeutung von Kierkegaards Konzept der Verzweiflung im modernen existenzphilosophischen Denken zu wenig gewürdigt worden ist. Soweit mir bekannt, ist Michael Theunissen der einzige Philo­ soph, der die Schwierigkeit erkannt hat, sich als moderner Philosoph mit Kierkegaards Konzept der Verzweiflung auseinanderzusetzen, richtet sich doch die Schrift Die Krankheit zum Tode an christliche Leser und will, wie der Untertitel sagt, »zur Erbauung und Erwe­ ckung« dienen. Theunissen gibt darum gleich am Anfang seiner kritischen Abhandlung zu Kierkegaards Begriff der Verzweiflung darüber Rechenschaft, wie er gegen Ende des 20. Jahrhunderts mit Kierkegaards christlichem Text von 1849 umgeht: »Demgegenüber behandle ich seine Verzweiflungsanalyse wie ein Stück Philosophie, das man in gewissem Masse aus dem Ganzen herausbrechen kann«. Er rechtfertigt dieses Vorgehen mit der Begründung, es sei ihm »im Folgenden nicht primär um Kierkegaard zu tun, sondern um die Sache«.7 Wenn ich hingegen im Titel die Verzweiflung als »Ausdruck überforderten Daseins« bezeichne, dann will ich auch Kierkegaards Auffassung von Verzweiflung damit gerecht werden, obwohl ich eine rein existenziale Auffassung von Verzweiflung vorschlage. Dies des­ halb, weil es erst dadurch möglich wird, die unveränderte Aktualität von Kierkegaards Analyse der Verzweiflung hervortreten zu lassen.

3. Kierkegaards Verwirrspiel mit der adjektivischen und adverbialen Verwendung von »verzweifelt« Es fällt uns im Alltag kaum auf, dass wir zwar sowohl das Substantiv »Verzweiflung« wie das Verb »verzweifeln« eindeutig im Sinne eines negativ-verneinenden Gefühlszustandes verwenden, »verzweifelt« hingegen einen je ganz anderen Sinn hat, je nachdem es als Adjek­ tiv oder aber als Adverb verwendet wird. Während das Adjektiv »verzweifelt« dieselbe emotionale Bedeutung behält wie das analoge Substantiv oder Verb, hat das adverbiale »verzweifelt« eine andere Bedeutung. Wer sagt »ich bin verzweifelt«, will damit immer sagen, er legens« (vgl. SZ §§ 31–38; 167) umgedeutet, statt sie den Modi der »Befindlichkeit« (§§ 29–30) zuzuordnen. 7 Theunissen M.: Der Begriff Verzweiflung. Korrekturen zu Kierkegaard, Frank­ furt/M. 1993, 8.

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fühle sich verzweifelt. Sagen wir hingegen, jemand wolle verzweifelt das oder jenes erreichen, oder auch ganz banal, man suche momentan verzweifelt seinen Schlüssel, der spurlos verschwunden scheine, dann drückt das adverbiale »verzweifelt« etwas ganz Anderes aus, nämlich den unbedingten Willen, etwas zu erreichen bzw. etwas wiederzufin­ den. Wer verzweifelt etwas will, der will es unbedingt, wofür wir synonym auch die Wendungen »um jeden Preis« bzw. »um alles in der Welt« einsetzen können. Entscheidend ist nun, dass Kierkegaards ganze Analyse der Verzweiflung von diesem adverbialen Sinn von »verzweifelt« han­ delt. Es geht ihm darum, zu zeigen, dass die meisten Menschen »verzweifelt« nicht die sein wollen, die sie in Wahrheit sind, und darum den Lebenssinn verfehlen. Ebenso entscheidend ist, dass für Kierkegaard jeder, der verzweifelt etwas will, auch im adjektivischen Sinne verzweifelt ist, ob er es nun selber merkt oder nicht. Denn wer den Seins-Sinn des menschlichen Lebens verfehlt, befindet sich objektiv in einem verzweifelten Zustand, ganz unabhängig davon, wie er sich subjektiv fühlt. Auf diese einseitige Vorherrschaft des adverbialen über den adjek­ tivischen Sinn von »verzweifelt« kann man meines Erachtens nicht genug hinweisen, weil sich nur von daher verstehen lässt, dass das adjektivische »Verzweifelt-sein« bei Kierkegaard gar nie jene rein emotionale Bedeutung hat, die ihm sowohl in der Umgangssprache wie auch in der Psychiatrie zukommt. Es bezeichnet stattdessen immer die objektive geistige Verfassung jener Menschen, die »ver­ zweifelt nicht man selbst sein wollen«.

4. Kierkegaards Entdeckung des verbalen Sinns von »Selbst« als »Selbstverhältnis« Weil für Kierkegaard, wie wir noch sehen werden, eigentliche Ver­ zweiflung immer Selbstverzweiflung ist, ist es unumgänglich, hier im Sinne eines Einschubs zuerst Kierkegaards Bestimmung des Selbst zu klären. Auch Kierkegaard spricht oft substantivisch von dem Selbst, das ein Mensch hat, doch diese Redeweise täuscht, geht es ihm doch im Gegenteil darum, in immer wieder neuen Anläufen zu zeigen, dass man das Selbst nicht substantivisch, sondern verbal denken muss, um nicht auf den verbreiteten Irrtum hereinzufallen, das Selbst sei eine

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vorhandene Entität in uns, die es gibt und die man sich darum als jenen inneren Kern vorstellen kann, der uns wesentlich ausmacht. Das bringt bereits der erste Satz seiner Abhandlung über die Verzweiflung als »Krankheit zum Tode« zum Ausdruck, der Antwort gibt auf die philosophische Grundfrage nach dem Wesen des Menschen: »Der Mensch ist Geist. Doch was ist Geist? Geist ist das Selbst. Doch was ist das Selbst? Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält« (KT 13, kursiv von mir). Diese Antwort beinhaltet wie selbstverständlich die Absage an das herrschende Verständnis von Selbst als einer Substanz zugunsten von Selbst als ständigem Vollzug des Sich-zu-sich-selbst-Verhaltens. Diese Definition mutet dem Leser einiges zu, birgt sie doch eine doppelte Enttäuschung. Zum einen zwingt sie uns, von der beruhigenden Vorstellung vom eigenen Selbst als dem kostbarsten innerseelischen ›Schatz‹ Abschied zu nehmen8 zugunsten der beunru­ higenden Vorstellung vom eigenen Selbst als einem bloßen Vollzug – dem Vollzug nämlich des Sich-zu-sich-selbst-Verhaltens; zum andern zwingt sie uns, von der ebenfalls beruhigenden Vorstellung einer innerseelischen Einheit Abschied zu nehmen zugunsten der Tatsache einer Differenz, die zum Vollzug des Sich-zu-sich-Verhaltens gehört und mich von mir trennt. Kein Zweifel: Das Selbst verliert durch Kierkegaards Desubstan­ zialisierung viel von seinem Glanz, der ihm in der modernen Philo­ sophie des Idealismus verliehen worden ist. Das Selbst als Vollzug des Selbstverhältnisses erweist sich nicht nur als entleert und also schwach im Vergleich zum Selbst qua Substanz, sondern ihm ist auch die nie endende Aufgabe übertragen, in immer wieder neuen Anläufen ein Verhältnis zu sich selbst zu finden und für das Wie des jeweiligen Selbstverhältnisses auch selber verantwortlich zu sein. Doch damit nicht genug: Diese neue, schwächere und zugleich anspruchsvollere Bestimmung des »Selbst« als Selbstvollzug lässt noch offen, wer dieses menschliche Selbst setzt: Vermag es sich selbst zu setzen, oder ist es durch ein »Anderes« gesetzt? Für den Christen 8 Auf der Vorstellung des Selbst als einer inneren Entität basiert denn auch beim englischen Kinderarzt und Psychoanalytiker D. Winnicott die bis heute weit über die Psychoanalyse hinaus beliebte Unterscheidung von »wahrem« und »falschem Selbst«; in der Analytischen Psychologie von C.G. Jung ist daraus die geradezu mythische Vorstellung von einem »Selbst« als einer objektiv-psychischen Ganzheit entstanden, in welcher der moderne, heimatlos gewordene Mensch dank eines Individuationspro­ zesses wieder innere Geborgenheit und Halt finden könne.

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Kierkegaard ist die Antwort klar: Das Selbst des Menschen ist »durch ein Anderes gesetzt«, weshalb sich der Mensch nicht nur zu sich selbst, sondern immer auch zu jenem Anderen (Gott) verhält (KT 14). Damit entlarvt Kierkegaard zwar den modernen Begriff der Autono­ mie im Sinne von Selbstbestimmung, Selbsttransparenz und Selbst­ begründung als eine spezifisch moderne Illusion, die der modernen Gott-Vergessenheit geschuldet ist; andererseits kann sich der Christ auch von Gott, der dem menschlichen Selbst den Grund legt, gehalten, ja umsorgt fühlen. Doch das gilt nur für den wahren Christen, der sich ehrlich unter Gott »demütigt«. Alle anderen sind ›objektiv‹ ver­ zweifelt und lassen sich deshalb einer der drei Formen des adverbialen »Verzweifelt-anders-sein-wollens-als-man-ist« zuordnen.

5. Die dreifache adverbiale Verzweiflung an sich selbst Im Sinne einer Überschrift fasst Kierkegaard die drei Grundformen der Selbstverzweiflung so zusammen: a) »verzweifelt nicht sich bewusst sein, ein Selbst zu haben (uneigentliche Verzweiflung)«; b) »verzweifelt nicht man selbst sein wollen«; c) »verzweifelt man selbst sein wollen.« (KT 13) Diese drei Grundformen stehen nicht als drei gleichwertige Formen nebeneinander, sondern sie stellen für Kierkegaard drei seelisch-geistige Entwicklungsstadien dar. Die erste ist die verbrei­ tetste und zugleich die geistloseste. Kierkegaard bezeichnet sie als »uneigentlich«, weil es sich im strengen Sinne noch nicht um eine Selbstverzweiflung handelt, sondern um jene erste und niedrigste Stufe, in welcher der Mensch noch verzweifelt versucht, seinem Schicksal, ein Selbst zu werden, zu entfliehen. Die beiden »eigent­ lichen« Verzweiflungen sind hingegen Selbstverzweiflung, die erst dann möglich werden, wenn sich bereits ein Selbst konstituiert hat. Während man als Leser ahnt, was mit dem »Verzweifelt nicht man selbst sein wollen« gemeint sein könnte, erscheint die andere Form der Selbstverzweiflung qua »Verzweifelt man selbst sein wol­ len« sowohl unsinnig wie auch widersinnig: unsinnig deshalb, weil sie als eine Verneinung der ersten Form der Selbstverzweiflung daher­ kommt; widersinnig deshalb, weil man unmöglich noch verzweifelt wollen kann, was man bereits ist, nämlich »man selbst«. Doch beim Weiterlesen löst sich das Rätsel auf. Kierkegaard spricht hier von jener höchsten und tiefsten Verzweiflung, die nur der Christ kennt, weil nur

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er weiß, dass er nicht nur als ein irdisches (weltliches) Selbst existiert, sondern auch als ein ewiges. Als ewiges Selbst aber ist jeder »durch ein Anderes gesetzt«, nämlich durch Gott. Die Formulierung »Verzweifelt man selbst sein wollen« drückt darum den verzweifelten Willen aus, gleichsam sein eigener Gott zu sein und sich auch selbst zu »setzen«. Da alle drei Formen von großer Aktualität sind, will ich sie einzeln vorstellen.

a) Die uneigentliche Verzweiflung des Ästhetikers Die allgemeinste und zugleich geistloseste Form der Verzweiflung hat Kierkegaard bereits in der 1843 erschienenen Schrift EntwederOder thematisiert, die den damals noch nicht 30jährigen Autor schlagartig berühmt gemacht hat.9 Der Titel weist darauf hin, dass jedem Menschen, in welcher konkreten Situation er sich auch immer befinden mag, zwei Grundeinstellungen zum Leben zur Wahl stehen: die »ästhetische« und die »ethische«. Von dieser Wahl hängt ab, ob jemand verzweifelt ist oder nicht: »Es zeigt sich also, dass jede ästhetische Lebensanschauung Verzweiflung ist und dass ein jeder, der ästhetisch lebt, verzweifelt ist, ob er es nun weiss oder nicht« (EO 746). Kierkegaard meint mit »ästhetisch« die seit alters als »hedonistisch« bezeichnete Lebensform, die auf den größtmöglichen Genuss abzielt. Ich folge hier dieser frühen Schrift, weil Kierkegaard in ihr alles Gewicht auf den Nachweis legt, dass der Ästhetiker »von Moment zu Moment« lebt (EO 730; 791) und dass alles von dieser besonderen Einstellung zur Zeit abhängt. Kierkegaard begründet dies zunächst damit, dass es für jeden Genuss auf den »richtigen Moment« ankomme, den man darum keinesfalls verpassen dürfe. Das aber sei nur möglich, wenn man grundsätzlich nur je im Moment und damit von einem Moment zum andern lebe. Auch hier stoßen wir auf eine philosophisch-anthropologische Entdeckung Kierkegaards, die Heidegger aufgenommen und verallge­ meinert hat, indem er das »Dasein« im zweiten Teil von Sein und Zeit auf seine Zeitlichkeit hin interpretiert. Bezogen auf die ästhetische Existenzform bedeutet »von Moment zu Moment« zu leben, die dreidimensionale Auffassung von Zeit auf eine bloße Abfolge von 9

S. Kierkegaard: Entweder – Oder Teil II, im Folgenden EO.

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miteinander unverbundenen Jetzt-Momenten zu reduzieren, die man dann, von Moment zu Moment fortschreitend, aufeinander folgen lässt. Ein Bezug zu »vorher« und »nachher«, zu Vergangenheit und Zukunft ist hier nicht vorgesehen. Bei Kierkegaard macht sich der Ästhetiker diese reduktive Zeit­ auffassung zu eigen im Dienst seiner hedonistischen Lebensauffas­ sung, denn je weniger man sich darum kümmert, was vorher war und was später kommen könnte, umso ungehinderter, das heißt umso freier von irgendwelchen moralischen Skrupeln, vermag man das, was der jeweilige Moment gerade an Genussmöglichkeiten bietet, für sich zu ergreifen und voll auszukosten. Doch entscheidend ist, dass diese Zerstückelung der Zeit in einzelne aufeinander folgende Zeitmomente jede Selbstwerdung verunmöglicht. Genau darin sehe ich die erstaunliche Aktualität von Kierkegaards Entdeckung.

Die Aktualität des ästhetischen Zeitverhältnisses in der Postmoderne Das Schlagwort vom »Leben im Hier und Jetzt« ist heute in der postmodern-westlichen Welt in fast aller Munde. Das hat gewiss auch damit zu tun, dass wir in einer Konsumgesellschaft leben und ein hedonistisches Lebensideal das Konsumverhalten steigert und damit die Wirtschaft ankurbelt. Doch dahinter steht ein anderes Begehren, das Kierkegaard in Die Krankheit zum Tode dann auf die Formel »verzweifelt nicht sich bewusst sein, ein Selbst zu haben« bringt. In Entweder-Oder hat er dieses Begehren aber prägnanter gefasst, nämlich als das Begehren des Ästhetikers, die eigene Selbstwerdung zu verhindern, was gelingt dank einem rein präsentischen Leben, das von Vergangenheit und Zukunft abgeschnitten ist. Im bloßen Moment kann sich gar kein Selbst konstituieren, braucht es dafür doch einen Zeitraum, der sich in Vergangenheit und Zukunft erstreckt. Nur wer »Gedächtnis hat für sein Leben« (EO, 791), kann wissen, wie er zu dem geworden ist, der er jetzt ist, und das ist wiederum die Voraussetzung dafür, sich für sein Tun jetzt und auch in Zukunft verantwortlich zu wissen. Wer hingegen immer nur im Moment lebt, kann sich jeden Moment neu erfinden, kann heute so und morgen ganz anders sein, ohne Skrupel und ohne Scham. Könnte ein wichtiger Unterschied zwischen Moderne und Post­ moderne darin bestehen, dass es in der Moderne noch ein Erfor­ dernis war, eine Selbst-Identität auszubilden, während genau dies heute mehr Nach- als Vorteile mit sich bringt? Könnte es sein,

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dass das ästhetische »Leben im Hier und Jetzt« deshalb heute ein erstrebenswertes Ideal darstellt, weil es erlaubt, in der postmodernen Lebenswelt erfolgreich zu bestehen, ohne in einen Dauerstress zu geraten und in ein »Burnout« hineinzuschliddern, das nicht zufällig zur Modediagnose von heute avanciert ist? Das 1998 erschienene Buch des französischen Soziologen Alain Ehrenberg mit dem Titel »La fatigue d’être soi« (dt.: Das erschöpfte Selbst) hat offensichtlich den Nerv der heutigen Zeit getroffen. Man fragt sich unwillkürlich, ob das heutige Selbst »erschöpft« ist, wie die deutsche Übersetzung nahelegt, oder ob der ursprüngliche Titel weit treffender ist, der von jenem Selbst spricht, das es müde ist, weiterhin noch als Selbst existieren zu müssen. Im Deutschen kennen wir die analoge Wendung »es müde sein, weiterhin das oder jenes zu tun oder auch zu sein«. Die Wendung »es müde sein« drückt ein »Nicht-mehr-mögen« aus, das sowohl heißt, die Kraft dazu nicht mehr zu haben, als auch, daran keinen Gefallen mehr zu finden und es darum nicht mehr zu wollen. Wer es müde ist, die Anstrengung, ein Selbst zu sein, in postmodernen Verhältnisse noch auf sich zu nehmen, der braucht nicht lange für sich nach einer individuellen Lösung zu suchen, genügt es doch, das Schlagwort von Leben im Hier und Jetzt zu verinnerlichen. Kierkegaards ontologische Analyse der Verzweiflung des Ästhe­ tikers in Entweder-Oder vermag auch die Analyse des amerikanischbritischen Soziologen Richard Sennett, die gleichzeitig mit jener Ehrenbergs erschien und von jenen neuen psychischen Anforderungen handelt, die das weitgehend globalisierte kapitalistische Wirtschafts­ system der Postmoderne an den heutigen Menschen stellt, existenz­ philosophisch zu fundieren. Wiederum bringt schon der Titel das entscheidende zur Sprache: »The Corrosion of Character«, zu deutsch: »Der flexible Mensch«. Beides trifft zu, und beides bedingt sich gegenseitig. Die heutige Zeit verlangt »flexible« Menschen, die fähig sind, sich kurzfristig auf immer wieder veränderte Gegebenheiten einzustellen, und die erforderliche Flexibilität verlangt die Korrosion im Sinne der Fragmentierung dessen, was man in der traditionellen Psychologie noch als »Charakter« bezeichnet hat. In diesem Lichte erscheint Kierkegaards Ästhetiker wie die hellseherische Vorweg­ nahme des flexiblen Menschen, der seine hohe Flexibilität seinem Leben im »Hier und Jetzt« verdankt, welches die Konstituierung eines zeitüberdauernden individuellen Charakters verhindert. In einer glo­ balisierten Welt aber braucht es eben diese Menschen, weshalb sie oft auch beruflich sehr erfolgreich sind. Das hat damit zu tun, dass

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im »Hier und Jetzt« lebende Menschen sich überall flexibel anpassen können, sich darum auch überall auf der Welt einsetzen lassen, wo gerade Bedarf ist und solange Bedarf ist. Da Menschen ohne Charakter respektive ohne Selbst sich weder an Sachen noch an Menschen wirklich binden, führen sie auch Geschäfte aus, die nicht ganz koscher, dafür aber umso gewinnbringender sind. Der »flexible« Mensch ist auch im persönlichen Umgang unfassbar und entsprechend unbere­ chenbar, auf nichts behaftbar.10

Die Passung von spiritueller »Achtsamkeit« und postmodernem Anforderungsprofil ans Individuum Die dem buddhistischen Kulturkreis entliehene Theorie und Praxis der »Achtsamkeit« (mindfulness) nimmt in der Postmoderne die Funktion des ideologischen Überbaus ein, wofür sich drei ineinander spielende Gründe ausmachen lassen. Erstens propagiert die »Acht­ samkeit« eben jenes »ästhetische« Verhältnis zur Zeit, das jene heute ökonomisch und sozial erforderliche »Flexibilität« des Einzelnen generiert; zweitens erhält das ästhetische Zeitverhältnis dank der Lehre der Achtsamkeit die Weihe einer »spirituellen« Haltung und entkräftet dadurch den Verdacht eines diesem reduktiven Zeitverhält­ nis entspringenden Leidens an einer inneren Leere; drittens ist die »Achtsamkeit« immer auch Praxis der Einübung dieses Zeitverhält­ nisses, weshalb unzählige Kurse zu eben diesem Zwecke angeboten und auch eifrig genutzt werden. Ob diese Art, sich auf eine rein präsentische und zugleich wertfreie Wahrnehmung zu begrenzen, wirklich im Sinne des Buddhismus ist oder nur dessen westlichspätmoderne (Miss-)Deutung darstellt, muss ich offenlassen. Dass die Praxis der Achtsamkeit in einem Einüben jenes ästhetischen Zeitverhältnisses besteht, das wir bei Kierkegaard in Entweder-Oder nachlesen können, scheint mir hingegen evident. Im 2014 erschienenen Buch »Daseinsanalyse. Der existenzphilosophische Blick auf seelisches Leiden und seine Therapie« (Wien, Kap. III, 3. 151ff) deute ich auch die Abwehrform der »Spaltung«, die bei Borderline-Persönlichkeiten dominiert, im Sinne Kierkegaards als eine Spaltung der Zeit, die ein Leben im »Hier und Jetzt« bewirkt, wobei ich den geheimen Sinn dieser Abwehrform darin sehe, verzweifelt ein »starkes« statt nur schwaches Selbst sein zu wollen, was sich nur in einer von Vergangenheit und Zukunft abgespaltenen Gegenwart realisieren lässt. 10

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Schauen wir uns noch kurz den Realitätsbegriff an, der die Pro­ pagierung eines Lebens im »Hier und Jetzt« rechtfertigen soll.11 »Wirklichkeit« wird hier mit »Unmittelbarkeit« gleichgesetzt und Unmittelbarkeit wiederum mit »Gegenwärtigkeit«. Daraus ergibt sich vermeintlich schlüssig, dass es allem, was entweder »nicht mehr ist« oder »noch nicht ist«, an Realität mangelt. Für das Leben jedes Menschen lässt sich aus diesen Vorannahmen folgern, dass nur ein im »Hier und Jetzt« verbrachtes Leben auch ein intensiv gelebtes Leben ist, während die Zeit, die man mit Erinnerungen an früher oder mit Plänen oder auch Sorgen bezüglich der Zukunft füllt, als verpasste bzw. als sinnlos vergeudete Zeit gelten muss. So kann es denn nicht verwundern, wenn als »Befreiung zur Gegenwart«12 gefeiert wird, was auf dem Hintergrund eines dreidimensionalen Zeitverständnisses als hochgradig reduziert und damit als pathologisch gelten muss.

b) »Verzweifelt nicht man selbst sein wollen« An sich selbst verzweifeln kann nur, wer – anders als der Ästhetiker – bereits ein »Selbst« geworden ist. Dass hier Kierkegaard zwei Formen von Selbstverzweiflung unterscheidet, liegt daran, dass er in der Schrift »Die Krankheit zum Tode« als Christ zu Christen redet und darum, wie schon einleitend erwähnt, zwischen der Verzweiflung am »irdischen« und der Verzweiflung am »ewigen« Selbst unterscheidet. Verzweifelt nicht man selbst sein zu wollen, sondern ein anderer, beinhaltet die verzweifelte Auflehnung dagegen, in der irdischen Welt der sein zu sollen, als der man sich schicksalshaft vorgefunden hat. Dieser Verzweiflung liegt das tief empfundene Gefühl zugrunde, es sei einem Unrecht geschehen. Verzweifelt ein anderer sein zu wollen, kann dabei im Einzelfall ganz Verschiedenes meinen: nachträglich noch auf die eigene Herkunft Einfluss nehmen zu wollen in der Über­ zeugung, gar nicht in diese Familie zu gehören, sondern in Wahrheit von einer anderen, besseren abzustammen; oder den eigenen Körper nachträglich so ›umschaffen‹ zu wollen, dass er gesund und schön anzusehen ist; Kierkegaard bringt das Extrembeispiel der Devise: Aut Caesar aut nihil (KT 20). Die Inhalte dieses ›Verzweifelt anders sein wollen als man ist‹ mögen sich dem jeweiligen Zeitgeist entsprechend 11 12

Vgl. dazu entsprechende Artikel im Internet von Jon Kabat Zinn. Michael Huppertz: Achtsamkeit. Befreiung zur Gegenwart, Paderborn 2009.

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wandeln, unverändert bleibt aber der verzweifelte Wille, ein Selbst nach eigenem Gusto wählen und diese Wahl dann auch realisieren zu können. Diese Verzweiflung gehört zur westlichen Moderne, ist typisch für das aus feudalen Bindungen befreite Individuum nach 1800. Jetzt ist es dem Einzelnen aufgegeben, sein Leben «autonom» zu gestalten, obwohl sich auch nach 1800 jedes Individuum in körperlichen, seeli­ schen und insbesondere sozialen Bedingungen vorfindet, die es nicht gewählt hat und die seine eigene Lebensgestaltung mehr oder weniger stark begrenzen. Das Ideal einer autonomen Selbstbestimmung jedes Einzelnen und die soziale Realität nach 1800, welche dazu führte, dass man nun statt in eine Stände- in eine sich schnell bildende Klassengesellschaft hineingeboren wurde, klafften extrem auseinan­ der und führten gerade bei sozial Benachteiligten zu eben dieser »irdischen« Verzweiflung am individuellen Schicksal. Diese Verzweiflung ist trotz Sozialstaat weiterhin aktuell und sie wird paradoxerweise gerade dadurch noch verstärkt, dass heute viel mehr als früher machbar und damit auch real veränderbar geworden ist. Unzählige Kurse quasi-psychotherapeutischer Art werben heute bezeichnenderweise nicht mehr nur mit dem Motto: »Optimiere dich selbst«, sondern vermehrt auch mit dem Motto »Erfinde dich neu« und versprechen damit schamlos das schlichtweg Unmögliche. Gewiss sind vor allem in der Medizin Eingriffe in den eigenen Körper möglich geworden, die vor nicht allzu langer Zeit noch unvorstellbar gewesen wären. Diese erlauben zunehmend, den Menschen zu jenem »Prothesengott« zu machen, den Freud bereits 1930 in seinem Aufsatz »Das Unbehagen in der Kultur« dank der Entwicklung von Wissen­ schaft und Technik kommen sah.13 Viele operative Eingriffe dienen heute insbesondere dem »verzweifelten Willen«, Alterserscheinun­ gen unsichtbar zu machen oder real zu verlangsamen, machen sich also zu Komplizen des Kampfes gegen die eigene Vergänglichkeit.

c) «Verzweifelt man selbst sein wollen» Was dieser Satz wirklich meint, kann Kierkegaard zufolge nur der Christ verstehen, weil nur er darum weiß, dass sein eigenes Selbst qua Selbstverhältnis nicht durch sich selbst, sondern »durch ein Anderes 13

Vgl. S. Freud: Das Unbehagen in der Kultur, Ges. W. XIV, 419–506; 451.

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gesetzt« ist (KT, 14). Diese dritte Verzweiflung ist darum die geistigste, weil sie verzweifelt Nein sagt zur Bestimmung, von Gott »gesetzt« zu sein und darum auch in Gott zu gründen. Ging es in b) um die verzweifelte Auflehnung gegen das je individuell-ontische Schicksal, in diesem (irdischen) Lebens als dieses und kein anderes Selbst leben zu müssen, geht es in c) nun um die verzweifelte Auflehnung gegen das ontologische Schicksal, sich als menschliches Selbst nicht selber setzen zu können, sondern von Gottes Setzung abhängig zu sein. Hier spricht Kierkegaard die grundlegende Frage der Moderne an, wie der einzelne Mensch, der nach dem Untergang der feudalen Ordnung in die Freiheit entlassen wurde, angemessen zu verstehen sei. Wir wissen, dass ihn der moderne Idealismus als ein »autonomes Subjekt« bestimmt hat. Zur Autonomie gehört aber nicht nur die konkrete Freiheit und damit auch Verpflichtung, sein Leben selbst zu bestimmen und auch zu verantworten; zu ihr gehört idealiter auch die Macht, sich selbst den Grund zu legen – mit Kierkegaard gesprochen die Macht, sich selbst zu »setzen«. Es ist klar, dass der Christ Kierke­ gaard dies verneinen und darum den Anspruch auf Selbstsetzung als höchste und sogar »potenzierte« Verzweiflung deuten muss, die er darum auch als »Sünde« bezeichnet: »Sünde ist, vor Gott oder mit der Vorstellung von Gott verzweifelt man selbst sein wollen« (KT 87). Diese Auffassung lässt sich heute nur noch entweder in einem christlich-theologischen oder aber einem rein historischen Kontext vertreten und ernsthaft debattieren. Darum müssen wir jetzt auf Heidegger rekurrieren, dem ich bereits am Anfang zugestanden habe, mit seiner »Analytik des Daseins« in Sein und Zeit eine gelungene Säkularisierung von Kierkegaards christlicher Anthropologie vorge­ legt zu haben. Dank ihr kann ich im Titel dieses Beitrags Kierkegaards »Verzweiflung« als »Ausdruck überforderten Daseins« interpretieren. Diese areligiöse Deutung kann sich immer noch auf Kierkegaard berufen, weil darin zwar die Abhängigkeit von einem vormodern-reli­ giösen Gottesglauben aufgelöst ist, die damit verbundene Einsicht in die menschliche Endlichkeit hingegen bewahrt bleibt.

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6. Verzweifelt-Sein als Grundemotion des modernen Subjekts a) Heideggers Einführung von »geworfen« an Stelle von »gesetzt« Heidegger hat das Problem der Säkularisierung von Kierkegaards christlicher Anthropologie auf eine scheinbar einfache und zugleich unauffällige Art gelöst, nämlich durch die kommentarlose Erset­ zung des bei Kierkegaard bestimmenden onto-theologischen Begriffs »gesetzt« durch den rein ontologischen Begriff »geworfen«. Bei Kierkegaard gehört es nicht nur zum menschlichen Selbst, »durch ein Anderes gesetzt« zu sein, sondern auch, sich als »gesetz­ tes« zu diesem Anderen, von dem es gesetzt ist, zu verhalten (vgl. KT, 14). Beide Momente bedürfen der Säkularisierung. Schauen wir also zu, wie dies Heidegger gelingt, indem er in Sein und Zeit das Dasein statt als »gesetzt« als »geworfen« bestimmt. Erstens verweist bei Kierkegaard Gesetzt-sein auf einen »Setzer« (Gott) als den Akteur der Setzung, während Heideggers »Geworfensein« gerade keinen Werfer impliziert, sondern von ihm als reines Geschehnis bestimmt ist, das jedem Dasein widerfährt. Hinter dieses Widerfahrnis, als Dasein ins Existieren geworfen zu sein, lässt sich darum nicht mehr zurückfragen. Es ist das unhintergehbar Letzte, was sich vom Menschen sagen lässt (vgl. SZ, 284f.). Damit wird für die areligiös-existenziale Anthropologie eine Auffassung zentral, die innerhalb des christlichen Horizontes keinen Platz hat: die Auffassung des menschlichen Schicksals als purer Kontingenz und damit als Zufall.

b) Das moderne Selbst: Weder »durch einen Andern gesetzt« noch »sich selbst setzend« Nun könnte man besorgt fragen, ob mit der Einführung der Kontin­ genz in die existenziale Anthropologie die Differenz zu Kierkegaards Menschenbild nicht zu groß werde, und ob mein Anspruch noch zu halten sei, dass sich dank Heideggers Ersetzung von »gesetzt« durch »geworfen« Kierkegaards Menschenbild in die Moderne hinüberret­ ten lasse. Doch das Gegenteil ist der Fall: Nur die Einführung des Zufalls macht dies überhaupt möglich. Die einzige Alternative dazu

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wäre, dem Menschen die Fähigkeit zur Selbstsetzung zuzuschreiben und ihm also gottähnliche Macht zuzuerkennen. Erinnern wir uns nochmals an den Beginn der Moderne um 1800, als der einzelne Mensch aus allen ehemals feudalen Bindungen befreit wurde. Ab dann hat jeder »Bürger« nicht nur das Recht, son­ dern auch die Pflicht, sein Leben selber zu gestalten. Damit wird der Begriff der Autonomie, der früher nur für Kollektive galt, aufs einzelne Individuum übertragen. Darauf stützte sich der moderne Idealismus mit seiner Neubestimmung des Menschen als autonomem Subjekt. Der idealistische Autonomie-Begriff impliziert »Selbstbestim­ mung«, »Selbsttransparenz« und auch »Selbstbegründung«. Darin lebt der Glaube der Aufklärung an die Macht der menschlichen Vernunft fort, die, von den Fesseln religiösen Aberglaubens befreit, die Fähigkeit habe, den »Tod Gottes« zu kompensieren. Die bisherige Geschichte der westlichen Moderne hat diesen aufklärerischen Ver­ nunftglauben allerdings nicht bestätigt. Der Grund dafür liegt zum einen in der menschlichen Angst vor der eigenen Freiheit, auf die wir gleich noch kommen werden, zum andern aber auch daran, dass nach 1800 die frühere soziale Ungleichheit in neuer Form wiedererstanden ist und darum die Chancen der Einzelnen wiederum ganz ungleich verteilt waren. Wenn Heidegger erklärt, das Sein des Daseins sei »ursprüng­ lich von Nichtigkeit durchherrscht« (vgl. SZ, 306), dann bietet er eine moderne Formel für Kierkegaards christlich begründete Hete­ ronomie menschlichen Existierens. Nichtigkeit ist bei Heidegger nicht als »Mangel« verstanden, weil es nicht normativ gemeint ist. Dem Menschen, so betont Heidegger, fehle nichts zu seinem Menschsein, vielmehr gehöre es zum Menschsein, radikal »nichtig« und das heisst «endlich« zu sein. Heidegger greift hier Kierkegaards Begriff der »Endlichkeit» auf, nur dass er jetzt nicht mehr auf eine supponierte Unendlichkeit bezogen ist, sondern nur noch auf das grundlegende anthropologische Faktum, als Mensch in den »Tod« geworfen zu sein. Darum existiert bei Heidegger der Mensch von allem Anfang an als ein Sein zum eigenen Ende. »Zum Tode« zu sein ist jetzt keine »Krankheit« mehr wie für den Christen Kierkegaard, sondern ist das, was das Menschsein grundlegend bestimmt (vgl. SZ, 329).

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c) Die verzweifelte Auflehnung gegen die Kontingenz des eigene Selbst-seins In der Moderne verstärkt sich die Gefahr, als auf sich selbst gestelltes Individuum am eigenen Schicksal, in das man sich «geworfen» weiß, zu verzweifeln. –

»Verzweifelt nicht man selbst sein wollen« wird in der Moderne Ausdruck einer dreifachen Verzweiflung: erstens der Verzweif­ lung darüber, sich persönlich oft in einer so einschränkenden Situation vorzufinden, dass man kaum eine eigene Initiative entfalten kann; zweitens der Verzweiflung darüber, dass man sich aus purem Zufall in dieser benachteiligenden Situation befindet und trotzdem daran kaum etwas verändern kann; drittens der Verzweiflung darüber, nur ein einziges Leben zu haben, das mit dem Tod definitiv endet, und man sich also nicht einmal mit der Hoffnung trösten kann, beim nächsten Mal vielleicht ein besseres Los zu ziehen.

Es versteht sich von selbst, dass das verzweifelte Sich-Auflehnen von modernen Menschen gegen ihr kontingentes Schicksal, zufällig jetzt statt früher oder später, zufällig hier statt an einem anderen Ort, und zufällig durch diese sozialen und psychischen Nachteile eingeschränkt ihr eigenes und einziges Leben selber führen und auch verantworten zu müssen, in existenzial-anthropologischer Perspek­ tive kein »Verfehlen« mehr anzeigt wie bei Kierkegaard, sondern die dem Mensch-Sein immanente Überforderung zum Ausdruck bringt. An die Stelle eines moralisch-normativen Urteils setzt die Existenz­ philosophie darum das hermeneutische Verstehen dieser Verzweiflung als ein verzweifeltes Nein dagegen, in ein individuelles Schicksal geworfen zu sein, dem man sich nicht gewachsen fühlt. Die Existenzphilosophie vertritt als Hermeneutik der Endlichkeit einen Realismus, insofern sie die unbarmherzigen Folgen des Zufalls für den einzelnen Menschen weder leugnet noch schönredet, sondern als Faktum offenlegt und damit auch ernst nimmt. –

»Verzweifelt man selbst sein wollen«, die zweite Form der Selbst­ verzweiflung, wird unter dem Aspekt der Kontingenz nun zur Verzweiflung darüber, auch in »nichtige« ontologische Bedingun­ gen geworfen zu sein, die jeder Mensch zu existieren hat, die ihm aufgrund ihrer Nichtigkeit aber weder Halt noch einen sicheren Boden unter die Füsse zu geben vermögen. Der Wille,

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sich selbst den Grund zu legen, lässt sich auf diesem Hintergrund nicht mehr als menschliche Hybris verurteilen, sondern muss als ein verzweifelter Versuch des modernen Selbst verstanden werden, der »Angst« zu entkommen, die ihn angesichts der ihn überfordernden Aufgabe, sein Leben selber zu übernehmen und zu führen, befällt. Wer sich in die Welt und damit auch in seine Existenz »geworfen« weiß wie der moderne Mensch, dem fehlt zumeist das Selbstvertrauen, das es braucht, um das in der Moderne verloren gegangene Vertrauen, durch eine höhere Instanz zum Leben ermächtigt zu sein, zu kom­ pensieren und für sich selbst und also eigenmächtig dieses Recht zu beanspruchen.14 Das aber wäre gleichbedeutend damit, jene soeben erwähnte »Angst« minimieren zu können, die entdeckt zu haben ein weiteres philosophisches Verdienst Kierkegaards darstellt. Bis jetzt habe ich die existenziale »Angst« außen vor gelassen, obwohl es ein weiteres unschätzbares Verdienst von Kierkegaard ist, diese menschliche Grundemotion erstmals klar von der «Furcht» unterschieden und ihre Besonderheit analysiert zu haben. Doch sobald die Verzweiflung aus dem christlichen Kontext herausgelöst ist, lassen sich alle drei Formen der Verzweiflung auch als verzweifelte Antworten auf die »Angst« deuten, mit dem (illusio­ nären) Ziel, von ihr frei zu werden. Kierkegaard bezieht die Verzweif­ lung deshalb nicht auf die Angst, weil diese Emotion für ihn zwar zum Menschen als Menschen gehört und darum jeder nur über die Angst überhaupt zum Glauben kommen kann, Gott aber die Macht hat, den Gläubigen von der Angst zu erlösen (vgl. KT S. 181–189). Der moderne Mensch hingegen muss nicht nur allein mit der Angst zurechtkommen, es gibt für ihn auch keine wirkliche Erlösung von ihr. Darum ist sein Umgang mit ihr zumeist ein »verzweifelter«.

14 Wohl niemand hat diese Not des modernen Menschen, sich selber zum Leben ermächtigen zu müssen, treffender formuliert als Karl Valentin mit seiner Aussage: »Mögen hätt’ ich schon wollen, aber dürfen hab’ ich mich nicht getraut«.

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Verzweiflung als Ausdruck überforderten Daseins

7. Kierkegaards eigentliche Formen der Verzweiflung als verneinende Antworten auf die »Angst« a) Warum die Angst bei Kierkegaard »gänzlich verschieden« ist von der Furcht Es ist wichtig, sich klar zu machen, dass bei Kierkegaard die »Angst« keineswegs, wie ihm heute meist unterstellt wird, eine (objektlose) Stimmung meint, in welcher man sich im Ganzen verängstigt fühlt, während die Furcht immer auf eine konkrete Gefahr bezogen ist. Kierkegaards »Angst« ist vielmehr deshalb »gänzlich verschieden von Furcht«15, weil es sich bei ihr um eine philosophische Erfahrung handelt, die dem Menschen sein wesenhaftes »Frei-sein« enthüllt.

b) Warum es dem Menschen ob seiner Freiheit »schwindlig« wird Nun hat Kierkegaard die »Angst« bekanntlich als den »Schwindel der Freiheit« bezeichnet (vgl. BA 72). Warum begnügt sich Kierkegaard nicht damit, sie als »Erfahrung der Freiheit« zu bezeichnen? Schon diese Formulierung wäre revolutionär, denn auch sie würde bereits eine enorme philosophische Aufwertung emotionaler Erfahrungen anzeigen, die Heidegger dann unter dem Begriff der »Befindlichkeit« explizit gemacht hat (vgl. SZ, § 29). Bezüglich der »Angst« im Beson­ deren liegt die Aufwertung darin, uns Menschen jene Wahrheit zu offenbaren, die uns in der traditionellen Philosophie einzig das Denk­ vermögen und damit die Vernunft zu enthüllen vermag: die Wahrheit der menschlichen Freiheit. Die in der ontologischen Emotion der »Angst« erfahrene Freiheit darf natürlich nicht mit der ontisch-konkreten Freiheit, sei sie nun politischer oder sozialer oder auch psychischer Art, verwechselt wer­ den. Letztere ist immer von konkret-ontischen Umständen abhängig und wandelt auch ihre Bedeutung je nach Kultur und Zeit. Die uns als Menschen auszeichnende Freiheit hingegen können wir weder verlieren noch können wir freiwillig auf sie verzichten, weshalb

15

S. Kierkegaard (1843): Der Begriff Angst, Stuttgart 1992, 50; im Folgenden zit. BA.

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Jean-Paul Sartre in »Das Sein und das Nichts« provokativ formulierte, der Mensch sei zur Freiheit »verurteilt« (condamné à être libre).16 Was aber rechtfertigt, dass Kierkegaard von der Angst als dem »Schwindel der Freiheit« spricht? Klar ist, dass er dabei an den Höhen­ schwindel denkt: »Wer in eine gähnende Tiefe hinunterschauen muss, dem wird schwindlig« (BA, 72). Der Schwindel befällt einen dann, wenn sich in der Angst die Freiheit als ein gähnender Abgrund in uns manifestiert, und darum zu stark wird, um noch ertragen werden zu können. Der Schwindel und die auf ihn folgende Ohnmacht stellen somit eine verzweifelte Flucht- und damit Schutzreaktion vor der Angst dar. Kierkegaard fügt lapidar an: »In diesem Schwindel sinkt die Freiheit nieder« (ebd.), was heißt, dass der Schwindel der verzweifelte Versuch darstellt, mit der Angst auch die Freiheit loszuwerden, deren abgründiger Charakter uns überfordert und darum in die Verzweif­ lung treibt.

c) Das Paradox von gleichzeitiger Auszeichnung und Überforderung Kierkegaard weist uns schonungslos auf ein grundlegendes Paradox hin, in dem wir als Menschen gefangen sind. Es besteht darin, aufgrund unserer Freiheit zwar über ein Surplus zu verfügen, das uns Menschen vor allen anderen Lebewesen auszeichnet, von dieser Freiheit aber zugleich so sehr überfordert zu sein, dass sie uns nur ängstigen kann. Was uns an ihr ängstigt, ist ihre enge Begrenztheit, die sich darin manifestiert, immer nur Freiheit der Wahl zu sein. – Ich kann hier nur verkürzt auf die mannigfachen Implikationen der menschlichen Wahlfreiheit hinweisen. Kierkegaard betont, dass bei Gott und also auch für Gott alles möglich sei (vgl. KT 42). Das unterscheidet die göttliche von der menschlichen Freiheit. Dem Menschen steht immer nur die Möglich­ keit offen, zwischen zwei oder auch mehreren zur jeweiligen Zeit real gegebenen Optionen eine auswählen zu können. Wir Menschen sind also immer zur Wahl gezwungen. Darin liegt erstens die sprichwört­ liche Qual, auf alle anderen Optionen, die einem prinzipiell auch offen 16 Vgl. J.-P. Sartre (1943): Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologi­ schen Ontologie, Reinbek bei Hamburg 1997, 764; 950; frz. Ausgabe (Gallimard) 515; 639.

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stehen würden, verzichten zu müssen; zweitens ist kein Mensch zum Zeitpunkt der Wahl in der Lage, die zukünftigen Folgen seiner Wahl vorherzusehen, weshalb jede Wahl ein Vabanque-Spiel bleibt, auch wenn wir zum Zeitpunkt der Wahl überzeugt sind, die für uns einzig richtige Wahl zu treffen; drittens sind wir nicht selten gezwungen, einen Entscheid zu früh treffen zu müssen, ohne selber schon zu wissen, was wir eigentlich wollen; und last but not least kann niemand wissen, ob die subjektive Präferenz zugunsten einer der wählbaren Optionen auch objektiv die ›beste‹ Wahl ist, oder ob man mit ihr nicht Optionen opfert, die weit mehr und weit kostbareres Potenzial in sich getragen hätten. – Dennoch ist und bleibt jeder selbst für seine Wahl verantwortlich, weshalb auch jede Wahl zwar nicht moralisch, wohl aber vormoralisch (ontologisch) schuldig macht. In modern-existenzphilosophischer Perspektive radikalisiert sich die »Angst« noch, weil in ihr nicht mehr nur die Freiheit das (ursprüngliche) Objekt der Angst ist, sondern auch der Tod. Ob die Angst uns das existenziale Frei-sein oder das existenziale Sterblichsein enthüllt: Beide Male sagt sie, ganz im Unterschied zur Furcht, immer die Wahrheit, sie täuscht nie. Weil aber beide Wahrheiten nicht verkraftbar sind, können wir gar nicht anders, als vor der Angst in die Selbsttäuschung zu fliehen. Die Flucht in die Selbsttäuschung ist also immer ein Akt der Verzweiflung. Umgekehrt erweisen sich die drei adverbialen Formen der Verzweiflung immer auch als Ausdruck des verzweifelten Willens zur Flucht vor der überfordernden Wahrheit in die Selbsttäuschung.

8. Die Neubestimmung des Verhältnisses von adverbialem und adjektivischem »verzweifelt« in modernexistenzphilosophischer Sicht a) Vom »Sowohl-als-auch« zum »Entweder-Oder« Wir sind in Kierkegaards Konzept der Verzweiflung mit dem Vermerk eingestiegen, dass Kierkegaard zufolge immer beides zugleich der Fall ist: Wer verzweifelt nicht sich selbst sein »will« (adverbiale Ver­ zweiflung), der «ist» auch verzweifelt (adjektivische Verzweiflung), ob er es nun weiss oder nicht. Das ist in säkular-existenzphilosophi­ scher Perspektive ungereimt. In ihr können diese beiden Formen der Verzweiflung unmöglich zusammengehen und bilden darum

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ein Entweder-Oder: Entweder man will verzweifelt nicht sich selbst sein, und führt einen aktiven, wenn auch letztlich immer erfolglosen Kampf gegen sich selbst, oder man ist verzweifelt, was heisst, sich im Gefühlszustand der Verzweiflung zu befinden und jede Hoffnung auf mögliche Veränderung aufgegeben zu haben.

b) Der Verlust jeglicher Hoffnung im Verzweifelt-sein Für Kierkegaard gibt es für den Verzweifelten immer noch Hoffnung, bleibt doch die objektive Möglichkeit, sich zum Glauben zu bekehren und als Gläubiger von der Verzweiflung erlöst zu sein, bestehen, solange jemand lebt. Zudem liegt auch im adverbialen »verzweifelt« selber die subjektive, wenn auch nur illusionäre, Hoffnung, das, was man verzweifelt will, auch zu erreichen. Wenn hingegen beim verzweifelt wollenden Selbst die illusio­ näre Hoffnung, selber verändern zu können, was nicht zu ändern ist, einbricht, bricht auch der bisherige Wille zusammen und an dessen Stelle tritt das Verzweifelt-sein als umfassender Gefühlszu­ stand. Wer sich verzweifelt fühlt, sieht, wie man zu sagen pflegt, nur noch schwarz, weil jeder Lichtschimmer von Hoffnung erloschen ist. Darum kann, wer verzweifelt ist, nicht mehr wollen. Wo bisher ein »verzweifelter« Veränderungswille dominierte, herrscht nun jene Müdigkeit, die sich ganz anders anfühlt als die normale Müdigkeit nach einem aktiv verbrachten Tag. Wer verzweifelt ist, fühlt sich schon am Morgen todmüde, weil durch eine unerklärliche Last zu Boden gedrückt. Diese Müdigkeit lässt auch keine Wünsche mehr aufkommen – es sei denn den Wunsch nach dem eigenen Tod. Klinisch wird diese gefühlte Verzweiflung der »Depression« zugeordnet. Wer depressiv wird, hat jene Illusion verloren, die ihn vordem vor dem Fall in die Depression bewahrt hat. Der Depressive ist im Wahrsten Sinne des Wortes ent-täuscht, ist er doch von seiner bisherigen Selbsttäuschung frei geworden, ohne diese Desillusionie­ rung allerdings als befreiend erleben zu können – ganz im Gegenteil: Er erlebt sie als niederschmetternd, fühlt sich wie gelähmt, weil sein Leben jetzt für ihn jeglichen Sinns entbehrt.

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c) Das Trauern als die einzige Alternative zur depressiven Verzweiflung Die Trauer ist immer Trauer über einen Verlust. Wohl am häufigsten wird der Tod eines geliebten Menschen betrauert. Doch jeder subjektiv als gravierend erlebte Verlust kann statt Trauer auch depressive Verzweiflung hervorrufen. Wo liegt der Unterschied? Wer um einen geliebten Menschen trauert, leidet zwar an diesem Verlust, vermisst den Verstorbenen, sehnt sich nach ihm, weiß aber zugleich, dass dieser Verlust nicht rückgängig zu machen ist. Dieses Wissen mag nebst Trauer auch zeitweiligen Hader hervorrufen, aber in der Trauer liegt das An- und Hinnehmen dessen, was nicht zu ändern ist. Wer hinge­ gen am Verlust eines geliebten Menschen »verzweifelt«, kann und will das Faktum als solches nicht wahrhaben, weil er sich ein Leben ohne diesen Menschen gar nicht vorstellen kann bzw. sich einem Leben ohne ihn nicht gewachsen fühlt. – Beim Verlust von Illusionen ist es nicht anders. Auch dieser Verlust kann in die Trauer oder in die Verzweiflung führen. Wer darüber zu trauern vermag, akzeptiert die Realität des eigenen Menschseins, ja zieht sie, obwohl schmerzlicher, einem Leben in Selbsttäuschung bzw. Selbstvergessenheit vor. Dass die Trauer die Alternative zur depressiven Verzweiflung darstellt, brachte Sigmund Freud bereits mit dem Titel seiner berühm­ ten Schrift »Trauer und Melancholie« von 1916 zum Ausdruck. Er wusste auch, dass uns die Trauer weder einfach überfällt wie die Verzweiflung noch dazu tendiert, sich in uns einzunisten wie letztere, weshalb er von »Trauerarbeit« gesprochen hat.17 Er machte damit unmissverständlich klar, dass die Trauer ein seelischer Prozess ist, der von jedem eine psychische Arbeit abverlangt, die ihre Zeit braucht. Nicht so selten wechseln sich deshalb depressive Einbrüche (sog. »depressive Episoden«) ab mit Phasen einer ›Normalisierung‹, welche oberflächlich betrachtet den Eindruck vermitteln, es gehe wieder bes­ ser, diese Besserung sich allerdings nicht einer Trauerarbeit und damit einer neuen, akzeptierenden Einstellung zum Schicksal, ein endlicher Mensch zu sein und zu bleiben, verdankt, sondern lediglich der wieder möglich gewordenen Rückkehr in ein verzweifeltes Anders-sein-wol­ len.

17

Freud, Sigmund: Trauer und Melancholie, Ges. W. X, 430.

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Fazit In meinem Vorschlag, Verzweiflung als Ausdruck überforderten Daseins zu definieren, ist Kierkegaards bahnbrechende Erkenntnis einer aktiven (adverbialen) Verzweiflung aufgehoben und zugleich für unsere nach-religiöse Moderne und Postmoderne existenzial-anthro­ pologisch reinterpretiert. Dadurch wird Kierkegaard unversehens hochaktuell, erlaubt seine adverbiale Bestimmung von Verzweiflung doch, viele heute in der westlichen Welt besonders verbreitete soziale und psychische Phänomene besser zu verstehen. Mir selber hat die Vertiefung in Kierkegaards Analyse der adver­ bialen Verzweiflung erlaubt, mein Konzept eines hermeneutischen (statt medizinisch-normativen) Zugangs zu psychopathologischen Phänomenen noch eindeutiger existenzial-ontologisch zu fassen. Dies gelingt dank der Verwendung des Terminus der »aktiv-adver­ bialen Verzweiflung« anstelle des vordem benutzten Freudschen Terminus des »Agierens«. Beide Termini bringen nämlich dieselbe Psychodynamik zum Ausdruck mit dem Unterschied, dass Kierke­ gaards Terminus zugleich klarstellt, dass diese Dynamik auf der ontologischen Ebene des »Leidens am eigenen Sein« spielt.18 Zugleich versuche ich, in meiner säkular-existentialen Bestim­ mung von Verzweiflung die beiden gegensätzlichen Formen der adverbialen und der adjektivischen Verzweiflung wieder zusammen­ zudenken. Wenn ich Verzweiflung säkular-existenzial als Ausdruck überforderten Daseins bestimme, dann trifft diese Charakterisierung auf beide Formen zu und bestimmt auch je im konkreten Fall ihre Dynamik, bewegt sich doch die Verzweiflung meist irgendwie zwi­ schen dem verzweifelten Verändern-wollen unabänderlicher eigener Seinsbedingungen und dem desillusionierten Fall in den Gefühlszu­ stand völligen Verzweifelt-seins, das ein radikales Nein gegen die Zumutung beinhaltet, in ein Leben geworfen zu sein, das uns auf­ grund unserer Conditio Humana zu viel Leiden zumutet. Das »depressive« Sich-verzweifelt-fühlen gewinnt in dieser Perspek­ tive unversehens einen Sonderstatus, weil es sich radikaler von allen aktiv-verzweifelten Formen seelischen Leidens unterscheidet als diese untereinander, zugleich aber hinter allen diesen aktiven 18

Vgl. Emotionale Wahrheit, a.a.O. 117ff.

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Formen seelischen Leidens als (noch) abgewehrte Bedrohung lauert. So gesehen lassen sich die vielfältigen Formen des verzweifelten Verändern-wollens des ontologisch Unabänderlichen als verzweifelte Versuche interpretieren, den Fall ins Loch des gefühlten (depressiven) Nur-noch-verzweifelt-seins zu verhindern.19

Literatur Ehrenberg, Alain (1998): Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart, Frankfurt/M 2004. Freud, Sigmund (1916): Trauer und Melancholie, Ges. W. X, Frankfurt/M, 428–446. Freud, Sigmund ((1930): Das Unbehagen in der Kultur, Ges. W. XIV, Frank­ furt/M, 419–506. Heidegger, Martin (1927): Sein und Zeit, Tübingen 2001. Holzhey-Kunz, Alice: Daseinsanalyse. Der existenzphilosophische Blick auf seelisches Leiden und seine Therapie, Wien 2014. Holzhey-Kunz, Alice: Emotionale Wahrheit. Der philosophische Gehalt emotio­ naler Erfahrungen, Basel 2020. Kierkegaard, Sören (1843): Entweder – Oder Teil II, München 1993. Kierkegaard, Sören (1844): Der Begriff Angst, Stuttgart 2003. Kierkegaard, Sören (1849): Die Krankheit zum Tode, Stuttgart 1997. Sartre, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, Reinbek bei Hamburg 1993. Sennett, Richard: Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin 1998. Theunissen, Michael: Der Begriff Verzweiflung. Korrekturen zu Kierkegaard, Frankfurt/M 1993.

19 Vgl. »Daseinsanalyse. Der existenzphilosophische Blick auf seelisches Leiden und seine Therapie« a.a.O., 169–181.

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Das verzweifelte Selbst Zur Phänomenologie existenzieller Verzweiflung am Leitfaden der Affektivität

Im Zentrum dieses Beitrags steht das Problem existenzieller Ver­ zweiflung in hermeneutisch-phänomenologischer Sicht. Damit ver­ sucht er der grundlegenden Einsicht Rechnung zu tragen, dass sich in jedem Verstehen des Verzweiflungsphänomens auch und vor allem ein Sichverstehen artikuliert. Weil in der Verzweiflung, die das menschliche Dasein im Ganzen seiner Existenz erfasst, nicht nur eine schmerzhafte Erfahrung mit der Welt, sondern immer auch spezifische Selbsterfahrung zum Ausdruck kommt, verweist uns die Frage nach der Verzweiflung auf die Frage nach dem Selbst. Wie aber ist es überhaupt zu verstehen, dass wir vom ›Selbst‹ oder von ›uns selbst‹ sprechen? Was genau bedeutet es, ein Selbst zu sein und an welche epistemologischen, ontologischen oder gar ethischen Voraussetzungen ist das Selbstsein des Menschen gebunden? Was für ein Selbstverständnis des Subjekts wird in der Verzweiflung offenbar und was für ein Selbst gelangt auf diese Weise zu seinem Verständnis? Kann das Selbst allein von sich her oder aus sich selbst heraus, d.h. rein egologisch verstanden werden? Oder schwingt in jedem Selbstverständnis bereits ein Mitsein, ein mit anderen geteiltes Weltverhältnis mit, das zur fundamentalen Selbstkonstitution des Subjekts gehört und das jedem Solipsismus einen Riegel vorschiebt? Bei der bereits in den griechischen Anfängen der okzidentalen Philosophie aufgeworfenen1 Frage, ob und wie es dem Subjekt mög­ lich ist, sich durch den Wirbel der Zeit hindurch als ein erstpersonales Selbst gegeben zu sein oder zu verstehen, handelt es sich bis heute um eine anhaltende Herausforderung des Denkens. Insbesondere für die Phänomenologie, die das Wesen des Erscheinens und in eins 1

S. hierzu paradigmatisch Heraklit DK 22 B 49a; Platon Alk. 1 129b1, 130d4.

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damit den Status des im Dativ der Gegebenheit stehenden Subjekts untersucht, stellt die Frage nach der Selbstheit des Subjekts geradezu eine Schlüsselfrage dar.2 Als Ausgangspunkt des Fragens dient dabei nicht selten Heideggers daseinshermeneutische Erschütterung jenes weltlosen und selbstgenügsamen Ich-Subjekts (Ego), das der neuzeit­ lichen Metaphysik der Präsenz seit Descartes als selbststransparen­ tes fundamentum inconcussum oder transzendentaler Ermöglichungs­ grund dienen sollte. Wie im Folgenden am thematischen Leitfaden des Phänomens der Verzweiflung deutlich werden soll, muss demge­ genüber vielmehr der gleichsam relationalen Selbstaffektion3 eines responsiven Subjekts Rechnung getragen werden, das als ein zur Antwort aufgerufenes Selbst nicht allein in sich selbst gründet und keinen in sich verschlossenen Selbstbezug zeitigt. Der schon von Nietzsches genealogischer Metaphysikkritik entlarvte ›Subjekt- und Ich-Aberglaube‹4 der Neuzeit kann phänomenologisch gesehen daher auf die faktische Lebenserfahrung eines leiblichen Selbst abgebaut werden, das im Vollzug seiner verbal verstandenen Existenz je schon aus sich heraus und in einem sowohl verstehenden, als auch affekti­ ven Bezug zur mit anderen geteilten Welt steht. ›Welt‹ aber steht uns dann ihrerseits niemals als gegenständliches Seiendes oder gar als eine irgendwo vorhandene Totalität des innerweltlich Seienden neutral gegenüber, sondern gibt sich als ganzheitlicher Sinnhorizont zu verstehen, in den wir – wie zuerst Heidegger in Sein und Zeit (1927) herausarbeiten konnte – je schon stimmungshaft eingelassen sind und der unser eigenes In-der-Welt-sein und Erleben von Grund auf ›durchstimmt‹. Zu den Stimmungen, in denen Welt erschlossen wird, gehören allerdings – so die These – nicht nur die von Heidegger im Horizont der Seinsfrage daseinsanalytisch untersuchten Grundbefindlichkeiten 2 Zu nennen sind hier u.a. die Untersuchungen der basal-präreflexiven Selbstheit eines ›minimal Self‹ (vgl. Dan Zahavi, Self-Awareness and Alterity: A Phenomenolo­ gical Investigation, Evanston 1999) sowie die phänomenologischen Auseinanderset­ zungen mit der Theorie narrativer Identität und personaler Selbstheit (vgl. Lászlo Tengelyi, Der Zwitterbegriff Lebensgeschichte, München 1998). 3 Es handelt sich folglich nicht um eine ›reine‹ Selbstaffektion, wie sie unterschiedlich akzentuiert bei Heidegger in der Zeitlichkeit (Martin Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik (1929), GA 3, hg. von F.-W. von Herrmann, Frankfurt a. M. 1991) oder Henry in der Sinnlichkeit (Michel Henry, L’essence de la manifestation, Paris 1963) zu finden ist. 4 Vgl. Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, hg. von G. Colli und M. Montinari, 2. Aufl. München und New York 1988, S. 11.

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der ›Angst‹ oder der ›Langeweile‹, sondern auch die für das moderne Selbstverständnis des Daseins charakteristische Verzweiflung, die von sich aus, neben der hermeneutisch-existenzialontologischen, auch eine leibphänomenologische Betrachtungsweise fordert. Anliegen ist es daher, die existenzielle Verzweiflung des Daseins phänomeno­ logisch zu untersuchen und diese als eine Stimmung zu deuten, in der sich ein dezidiert leibliches In-der-Welt-sein erschließt, das rein innerpsychischen Prozessen zuvorkommt und die metaphysi­ schen Dualismen von Subjekt und Objekt, Psyche und Soma, Innen und Außen usw. unterläuft. Denn anders als bloß innerlich erlebte Gefühle, klingen Grundstimmungen dergestalt im selbst welthaften ›Resonanzkörper‹ des inkarnierten Daseins an, dass sie uns auf die unhintergehbare Faktizität unserer eigenen Existenz zurückwerfen, die als solche wiederum untrennbar mit der bedeutungsgeladenen Welt verwoben ist, in der wir je schon stehen.5 Nimmt man die Verzweiflung als welt- und selbsterschließende Stimmung in den Blick, kann sie folglich nicht mehr ausschließlich als eine ›Krankheit des Geistes‹ im Sinne Kierkegaards aufgefasst oder in ihrer Pathogenese auf bloß mentale Zustände reduziert werden, um sie allein von dort aus – etwa rein bewusstseinsphilosophisch oder klassisch psychopathologisch – zu deuten. Anstatt Kierkegaards wegweisende philosophische und psychologische Analysen zur exis­ tenziellen Verzweiflung als einer theologisch konnotierten ›Krankheit zum Tode‹ – die bekanntlich insbesondere darum kreist, verzweifelt man selbst (›Trotz‹) oder verzweifelt nicht man selbst (›Schwachheit‹) sein zu wollen6 – aber einfach zurückzuweisen, gilt es, diese phäno­ menologisch in ihrem Sinn allererst aufzuklären und für die Frage nach der Möglichkeit eines leiblichen Selbstseins neu aufzuschließen. Umgekehrt werden die zwei eigentlichen Formen der Verzweiflung im Sinne Kierkegaards ›Schwachheit‹ und ›Trotz‹, aus leibphänomenolo­ 5 S. hierzu die Arbeiten von Fuchs und Ratcliffe, in denen die eminent leibliche Dimension von ›Stimmungen‹ (Fuchs) oder ›Existential Feelings‹ (Ratcliffe) des Daseins phänomenologisch untersucht und für vornehmlich pyschopathologische Fragestellungen fruchtbar gemacht wird: Thomas Fuchs, „Zur Phänomenologie der Stimmungen“, in: F. Reents und B. Meyer-Sickendiek (Hg.), Stimmung und Methode, Tübingen 2013, S. 17–31; Matthew Ratcliffe, Feelings of Being: Phenomenology, Psych­ iatry and the Sense of Reality, Oxford 2008; Ratcliffe, „Evaluating Existential Despair“, in: S. Roeser, C. Todd (eds.), Emotion and Value, Oxford 2014, pp. 229–246. 6 Vgl. Søren Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, in: Die Krankheit zum Tode. Furcht und Zittern. Die Wiederholung. Der Begriff der Angst, hg. von H. Diem und W. Rest, 2. Aufl. München 2007, S. 25–180.

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gischer Perspektive neu beleuchtet und als Formen eines aktuellen oder habituellen Mangels an Responsivität neu erschlossen. Am ›Leitfaden des Leibes‹ betrachtet, der uns über die Totalität geschlossener Verstehenshorizonte hinausweist, wird in der existen­ ziellen Verzweiflung somit ein sich suchendes Dasein offenbar, das nie ganz zu sich selbst und seiner Welt findet, insofern es in seinem Aufgerufenwordensein auf den ebenso unabweisbaren wie uneinhol­ baren Anspruch des Fremden antwortet, dessen irritierende Fremdoder Andersheit (Alterität) sich keineswegs auf den eigenen Verste­ henshorizont reduzieren und vom sicheren Standpunkt des Vertrau­ ten her kontrollieren lässt. Die Verzweiflung, die ihren Ausdruck im verzweifelten Fragen nach dem authentischen Selbstseinkönnen hat, rührt dann von einer vorgängigen Infragestellung des eigenen Selbst durch die befremdliche ›Spur‹ des (sachlichen oder personalen) Fremden her, die jeder intentionalen Bezugnahme auf innerweltlich Seiendes zuvorkommt und das exponierte Dasein in einen fundamen­ talen Zweifel am eigenen Sein als Möglichsein stürzt. Das Dasein sieht sich in seiner existenziellen Verzweiflung folglich weder – wie für Kierkegaard – auf ein göttliches oder unendliches Seiendes, noch – wie für Heidegger – auf ein neutrales oder fundamentales Sein verwiesen, dem es entsprechen muss, um Selbst-sein zu können. Stattdessen zeichnet sich in der Verzweiflung ein elementarer Fremd­ bezug ab, der unserem leiblichen Selbstbezug nicht äußerlich bleibt, sondern diesen je schon wesentlich betrifft und durchzieht, indem er ihm einen irreduziblen Selbstentzug einschreibt.7 Dadurch aber zeigt sich im aussichtslosen Zustand der Verzweif­ lung gerade kein intaktes Selbst- und Weltverhältnis mehr, sondern eine Art anfängliche Entzweiung und beunruhigende Entfremdung des Daseins, welche unseren Welt- und Selbstbezug unterwandert und die Existenzmöglichkeit eines ›eigentlichen‹ Selbstseinkönnens je schon unterminiert. Stattdessen zieht die unverfügbare ›Grenzer­ fahrung‹ der Verzweiflung ein Fremdwerden der eigenen Erfahrung nach sich, in der das Dasein sich selbst fremd wird und aus seinen sinnhaften Weltbezügen herausfällt. Indem sie dem Dasein gleichsam den ontologischen Boden unter den Füßen wegzieht, lässt die entzwei­ ende Verzweiflung das von den Ansprüchen des fremden Anderen Vgl. Bernhard Waldenfels, Das leibliche Selbst: Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes, 8. Aufl. Frankfurt a. M. 2021; Waldenfels, Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, 5. Aufl. Frankfurt a. M. 2016. 7

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Das verzweifelte Selbst

je schon herausgeforderte und gleichsam ›ver-anderte‹ Selbst seine ›natürliche Selbstverständlichkeit‹ im alltäglichen Vertrautsein mit Welt gerade verlieren.8 Anhand der Aporien der Verzweiflung gilt es also aufzuzei­ gen, dass zum ›ekstatischen‹ Außer-sich-Sein des seinsverstehenden Daseins im Sinne Heideggers, das sich in seiner Transzendenz auf die Welt hin öffnet,9 das ›dia-statische‹ Auseinandertreten des leiblichen Selbst im Sinne Waldenfels gehört, das in seiner Responsivität mit einem nicht zu tilgenden Hiatus zwischen Anspruch und Entspre­ chung, Pathos und Responsive zu kämpfen hat.10 Die Verzweiflung bezeichnet dann keinen primär pathologischen Befund, sondern den existenziellen Zustand eines verwundbaren Selbst, dessen Konstitu­ tion durch die affizierend-infizierende Spur des fremden Anderen bedingt ist und dessen Situation wesentlich durch ein passives Aus­ geliefert- und ursprüngliches Angegangenwordensein charakterisiert ist. Das Selbstsein des verzweifelten Daseins setzt somit ein leib­ körperliches Exponiertsein an die Vulnerabilität durch das Fremde voraus, dessen vorgängigem Anspruch das responsive Selbst mitunter verzweifelt nachzukommen versucht. Um diese eigentümliche ›Ver­ strickung des Anderen im Selben‹ in der Verzweiflung nachzuvoll­ ziehen, muss zunächst ihre affektive Wurzel freigelegt sowie näher auf ihren Grundcharakter als existenzielle Befindlichkeit beziehungs­ weise leibliche Gestimmtheit eingegangen werden, die unser Denken je schon mitbestimmt.

1. Skizzierung des Problemhorizonts und begriffsgeschichtlichen Hintergrunds: Verzweiflung – Zweifel – Entzweiung Ein kurzer Blick in die Philosophiegeschichte verrät bereits, dass die Verzweiflung zwar keineswegs zu den thematischen Kernbeständen der abendländischen Metaphysik gehört, aber auch schon lange vor 8 Siehe dazu Wolfgang Blankenburg, Der Verlust der natürlichen Selbstverständlich­ keit. Ein Beitrag zur Psychopathologie symptomarmer Schizophrenien, Berlin 2012. 9 Vgl. Martin Heidegger, Vom Wesen des Grundes, in: Wegmarken, GA 9, hg. von F.W. von Herrmann, 3. Aufl. Frankfurt am Main 2004, S. 123–175; Heidegger, Brief über den ›Humanismus‹ (1946), in: GA 9, S. 313–364. 10 Vgl. Waldenfels, Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, S. 34ff.

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Kierkegaards Die Krankheit zum Tode (1849) zum Thema gemacht worden ist und den philosophischen Logos gleichsam von seinen Rändern her heimgesucht hat.11 Dabei ist die Verzweiflung zunächst und zumeist als theologisch zu domestizierender oder rational zu regulierender Zustand der naturgemäß nach Gütern strebenden ›Seele‹ angesehen worden, der eine Art Abfall vom Ideal einer gottgefälligen oder kontemplativen, dem obersten Gut verpflichte­ ten Lebensweise darstellt. So war es Augustinus, der die Verzweif­ lung (desperatio) zuerst ausdrücklich als einen Mangel an Hoffnung negativ auslegen, sie dementsprechend mit der Vermessenheit (pra­ esumptio) kontrastieren und beiden Leidenschaften gleichsam eine in seinen Augen angemessene eschatologische Heilserwartung des ›Reich Gottes‹ entgegenstellen konnte. Während die praesumptio eine allzu vermessene Hoffnung auf Heil darstellt, bezeichnet die desperatio eine hoffnungslose Verzweiflung am Heil. Aus dieser (platonisch-)christlichen, die Welt des Sinnlichen transzendierenden Perspektive stellt die Verzweiflung als leidender Seelenzustand der äußersten Hoffnungslosigkeit und Gottesferne somit geradezu eine ›Sünde gegen den Heiligen Geist‹ (blasphemia spiritus) dar, die den Menschen von seinem göttlichen Schöpfer entzweit, indem sie ihn an dessen Barmherzigkeit (misericordia) zweifeln lässt.12 Der Mensch ist verzweifelt – so stellt in der Folge auch Thomas von Aquin in an Aristoteles sowie an Augustinus anknüpfender, moraltheologischer Tradition fest13 – insofern er sich von den mit Lust oder Unlust verbundenen Einwirkungen bewegen lässt, die ihn passiv in seinem sinnlichen Strebevermögen überkommen und affizieren, anstatt auf die intelligible ›Allgüte‹ Gottes zu bauen, gegenüber dem der vom rechten Glauben Abgefallene sich in seiner hoffnungslosen Verzweif­ lung und apathischen Verzagtheit unweigerlich schuldig macht.14 Darin klingt bereits an, dass dem Phänomen der Verzweiflung wesentlich sowohl eine zeitlich-zukunftsgerichtete Dimension, als auch eine affektive Triebfeder zukommt, welche die in der metaphysi­ 11 S. hierzu und im Folgenden: Michael Theunissen, „Verzweiflung“, in: J. Ritter, K. Gründer, G. Gabriel (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd 11, Darmstadt 2001, S. 1028–1034 sowie Martin Bürgy, „Prolegomena zu einer Psychopathologie der Verzweiflung“, in: Nervenarzt 78 (2007), S. 521–529. 12 Vgl. Thomas Gerhard Ring, „Augustins Deutung der ›Sünde wider den Hl. Geist‹ in Mt 12,31f“, in: Augustiniana 50 (2000), S. 65–84. 13 Vgl. Thomas ST I–II q41,II–II q20f. 14 Vgl. Bürgy, „Prolegomena zu einer Psychopathologie der Verzweiflung“, S. 522.

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schen Tradition oftmals vernachlässigte Affizierbarkeit des Leibes als Umschlagstelle und Medium lebensweltlicher Erfahrung voraussetzt. Um die bisher kaum gesehene Schlüsselrolle der Leiblichkeit für eine phänomenologische Neuverortung des ›geistigen Phänomens‹ der Verzweiflung nachzuvollziehen, ist ein kurzer Rückgang auf die bereits von Husserl und Plessner herausgearbeitete Leib-Körper-Dif­ ferenz zwischen Leib-sein und Körper-haben daher unumgänglich.15 Denn erst die phänomenologische Einstellung ermöglicht es bekann­ termaßen, den in all meinem Fühlen, Wahrnehmen und Handeln zunächst nur unthematisch gegenwärtigen, stillschweigend fungie­ renden Leib thematisch werden zu lassen, um diesen vom objektiv beschreibbaren Körper abzuheben. Während der vergegenständlichte, gleichsam ›leblose‹ Körper, den wir haben, als ein intendiertes Objekt in der Welt erscheint, markiert der gelebte Leib, der wir sind, phä­ nomenologisch gesehen unseren basalen Zugang zur vorprädikativ erfahrenen Welt, der unser Selbst- und Mit-sein wesentlich trägt und prägt. Die anatomischen Merkmale und biologischen Funktionen unseres Körpers, der als Körper gegeben sein und stets nur in der Außenperspektive betrachtet werden kann, müssen dementsprechend trennscharf vom aktualen Wahrnehmen und innerlichen Erleben des ins räumliche Außen der Welt ausgreifenden Leibes unterschieden werden, welcher sich in seinem unscheinbaren Fungieren meiner unmittelbaren Wahrnehmung und vollen Gegenwärtigung entzieht. »Derselbe Leib, der mir als Mittel aller Wahrnehmung dient,« so konnte Husserl schon früh bemerken, »steht mir bei der Wahrneh­ mung seiner selbst im Wege.«16 Weil der sich-entziehende Leib phänomenologisch gesehen keineswegs in sich verschlossen, sondern immer schon wesentlich mit der uns umgebenden sinnlichen Welt verwoben ist, gehört zu seiner paradoxen Selbsterfahrung in der ersten Person eine vorreflexive, vorsprachliche und vorwissenschaftliche Welterfahrung, welche als solche jeder begrifflichen Fixierung vor­ ausliegt und die verborgene Voraussetzung jeder wissenschaftlichen Praxis darstellt.17 Als eine Art ermöglichende Leerstelle der lebens­ 15 S. hierzu Emmanuel Alloa, Natalie Depraz, „Edmund Husserl, der Leib, ein merk­ würdig unvollkommen konstituiertes Ding“, in: E. Alloa, T. Bedorf, C. Grüny, T. Klass (Hg.), Leiblichkeit. Geschichte und Aktualität eines Begriffs, Tübingen 2012, S. 7–22. 16 Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Zweites Buch: Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution, Hua IV, hg. von M. Biemel, Nachdruck Den Haag 1952, S. 159. 17 Vgl. Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966.

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weltlichen Erfahrung und nicht-objektivierbares Medium unseres In-der-Welt-seins markiert der Leib somit geradezu jenes ›absolute Hier‹, das nach Husserl »den Nullpunkt aller« zeitlichen, räumlichen und sozialen »Orientierungen in sich«18 trägt: ein faktisch unhinter­ gehbarer, jede innerweltliche Erfahrung und Bewegung begleitender Gesichtspunkt zur Welt, der uns überhaupt erst dazu zwingt, unter­ schiedliche Perspektiven auf Welt einzunehmen und ohne den wir – der Welt gleichsam abhandengekommen – überhaupt nicht affiziert werden, wahrnehmen oder (inter)agieren könnten. Diese Schlüsselfunktion des je-meinigen Leibseins für eine phänomenologische Untersuchung des Verzweifeltseins wird umso deutlicher, wenn wir uns die affekt-theoretischen Deutungsversuche der Verzweiflung in der neuzeitlichen Philosophie vergegenwärtigen, in der das erkennende und handelnde Subjekt zum methodischen Ausgangspunkt und thematischen Zentrum des Philosophierens er­ klärt worden ist. Eine zentrale Rolle kommt dabei dem seit Descar­ tes zunehmend ins Blickfeld geratenen, sachlichen Zusammenhang von affektiv grundierter ›Verzweiflung‹, und kognitiv strukturiertem ›Zweifel‹ zu, welcher der theologisch überhöhten Hoffnung als epis­ temologischer Bezugspunkt des verzweifelten Selbst beiseite gestellt werden kann.19 Hatte Descartes die Verzweiflung im Rahmen seiner Lehre über Die Leidenschaften der Seele (1649) als eine Vereinseitigung im Zusammenspiel der Affekte Hoffnung und Furcht untersucht, in dem die das Individuum isolierende Furcht überhandnimmt,20 verbindet erstmals Spinoza den Zustand der Verzweiflung ausdrücklich mit dem für ihn an konkrete Affekte gebundenen Akt des Zweifelns: »Hoffnung ist nämlich nichts anderes als unbeständige Freude, ent­ sprungen aus dem Vorstellungsbilde eines zukünftigen oder vergan­ genen Dinges, über dessen Ausgang wir im Zweifel sind. Furcht hingegen eine unbeständige Traurigkeit, gleichfalls entsprungen aus dem Vorstellungsbilde eines zweifelhaften Dinges. Wenn dann der Zweifel aus diesen Affekten schwindet, so wird aus der Hoffnung Sicherheit und aus der Furcht Verzweiflung: nämlich Freude oder Husserl, Ideen II, Hua IV, S. 158. Vgl. Bürgy, „Prolegomena zu einer Psychopathologie der Verzweiflung“, S. 522ff. 20 Vgl. Rene Descartes, Die Leidenschaften der Seele, Hamburg 1984, S. 99. „Wenn die Hoffnung extrem groß ist, ändert sie ihre Natur und nennt sich Seelenruhe oder Zuversicht, so wie im Gegenteil die äußerste Furcht zur Verzweiflung wird.“ 18

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Traurigkeit, entsprungen aus dem Vorstellungsbilde eines Dinges, das wir gefürchtet oder gehofft haben.«21

Ähnlich wie für Descartes, gehört die Verzweiflung nach Spinoza zu einem affektiv eingefärbten Prozess mit zeitlichem Horizont, der uns der (vermeintlichen) Unsicherheit des Gewesenen und Zukünf­ tigen in der Vorstellung eines Seienden aussetzt: Da Hoffnung und Furcht als affektive und fehleranfällige Weisen des menschlichen Für­ wahrhaltens auf etwas gerichtet sind, dessen Ausgang uns ungewiss erscheinen mag, säen sie dem Verfasser der Ethik (1677) zufolge den Keim des Zweifels in uns. Wenn der Zweifel schwindet, dann schlägt Hoffnung in Seelenruhe und Furcht in Verzweiflung um. Erst »sobald wir eine klare und deutliche Idee bilden«, so Spinozas These, hört »[e]in Affekt, der ein Leidenszustand ist, (...) auf ein Leidenszustand zu sein.«22 Letztlich ist es daher die intelligible Ein­ sicht in die substanzmetaphysische All-Einheit, in der res cogitans und res extensa zusammen ins göttliche Eine fallen, die allein uns nach Spinoza »von der Trauer, der Verzweiflung, dem Neid, dem Schrecken und andren schlechten Leidenschaften,« die ihm »die wirkliche Hölle selbst sind,«23 befreien kann. Auch wenn cogitatio und extensio für Spinoza Modifaktionen der göttlichen Substanz des absolut Einen bilden, bleibt auch der pantheistische Substanz-Monist bis zu einem gewissen Maße doch dem metaphysischen Erbe eines cartesianischen Dualismus von Geist und Materie verpflichtet, der sich über das Zwischenreich der leibli­ chen Erfahrungsdimension hinwegsetzt und den Körper der Vernunft unterordnet. Nur durch die Vernunfteinsicht in die Notwendigkeit der Natur, die als solche Freiheit ist, kann der Mensch sich nach Spinoza vom Leiden an seinen Affekten loslösen, um in die all-eine Substanz Gottes einzutreten. Doch indem er keineswegs bei der ›unbezweifelbaren‹ Selbstgewissheit des Cartesischen Ego Cogito stehen bleibt, sondern ebenso danach fragen, wer wir sind, wenn wir gerade nicht denken (nämlich ein sinnlich affizierter Spielball unserer Stimmungen, Emotionen, Triebe usw.), zeigt Spinoza bereits indirekt auf, dass die Verzweiflung als ›Leidenszustand der Seele‹ im pathischen Erleiden eines affektiven Getroffen- oder Betroffenseins Spinoza, Ethik III schol. 2 zu prop. 18. Spinoza, Ethik V prop. 3. 23 Spinoza, Kurze Abhandlung von Gott, dem Menschen und seinem Glück, Hamburg 1965, S. 99. 21

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in der Zwischensphäre der Leiblichkeit fundiert ist, zu dem wir uns responsiv verhalten. Diese ursprüngliche – später noch genauer zu erörternde – Passivität und Responsivität des Leibes wird gerade dann besonders augenfällig, wenn wir in zunächst affektiver Resonanz besonders emotional auf einen situativen Reiz reagieren, dessen Erfahrung sich in dieser Reaktion unmittelbar leiblich zum Ausdruck bringt: So erröten wir beispielsweise unweigerlich, wenn wir als »ausdrückender Leib«24 Scham oder Wut empfinden. Das zunächst und zumeist implizit bleibende Sich-verhalten-müssen des je-mei­ nigen Leibes zu etwas, was ihm widerfährt und seinen leiblichen Ausdruck erfährt, bevor es als etwas erkannt werden kann, bleibt als conditio sine qua non von lebensweltlicher Erfahrung und sozialer Orientierung überhaupt aber auch dann noch mit im Spiel, wenn wir an vermeintlich sicheren Gewissheiten oder an den eigenen Gefühlen nachhaltig zu zweifeln beginnen: ein unter Umständen schon auf der Ebene der basalen leiblichen Selbsthabe einsetzender Prozess der Selbstentfremdung und Entkörperung, der sich – wie man heute weiß – wiederum in einer verminderten leiblichen Resonanzfähigkeit und sogar pathologischen Depersonalisierung niederschlagen kann; beispielsweise in Fällen gleichsam pathologischer Verzweiflung, wie der Depression oder der Schizophrenie.25 Geht der auf ein für uns mögliches Gut oder von uns intendiertes Ding gerichtete Zweifel in die existenzielle Halt- und Hoffnungslosigkeit der jeden Objektbezug verlierenden Verzweiflung über, dann kann letztere sich – ähnlich wie die existenzielle ›Grundbefindlichkeit‹ der gegenstandslosen Angst – konkret in Gefühlen der Ohnmacht oder Niedergeschlagenheit, der Beklemmung oder Beengung verkörpern.26 Dass der skeptische oder methodische Zweifel nicht nur etymo­ logisch mit seiner Steigerungsform, der Verzweiflung verbunden ist, sondern gerade auf eine notwendigerweise zu durchlaufende Entzweiung des Geistes oder gar existenzielle Spaltung des Selbst verweist, machen Hegel und Kierkegaard deutlich. In der Einleitung zur Phänomenologie des Geistes (1807) kennzeichnet Hegel den Gang des Geistes in seinen bewusstwerdenden Erscheinungsweisen von der sinnlichen Gewissheit bis zur wissenschaftlichen Selbsterkenntnis Husserl, Ideen II, Hua IV, S. 247. Vgl. Fuchs, „Selbst und Schizophrenie“, in: DZPhil 60 (2012) 6, S. 887–901. 26 Vgl. Waldenfels, Sozialität und Alterität. Modi sozialer Erfahrung, Berlin 2015, S. 118.

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des ›absoluten Wissens‹, in dem der Geist in letzter Selbstgewissheit zu sich selbst kommt, ausdrücklich als einen »Weg der Verzweif­ lung«,27 auf dem der skeptische Zweifel im dreifachen Hegelschen Sinne begrifflich ›aufgehoben‹ wird. Insofern er das Wahre, das für Hegel bekanntlich das Ganze ist,28 im Unterschied zum substanzme­ taphysischen Absoluten Spinozas und zum identitätsphilosophischen Absoluten Schellings, »nicht als Substanz, sondern ebensosehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken«29 versucht, kann er den Zweifel als ein notwendiges Grundmoment des begrifflich erkennen­ den Bewusstseins in das in seinem Werden begriffene Wissen des Absoluten selbst integrieren. ›Zweifel‹ und ›Enttäuschung‹ gehören als movens der dialektischen Begriffserkenntnis wesentlich zum »sich vollbringenden Skepticismus«30 der Phänomenologie des Geistes und dem darin vollzogenen Erfahrungsbegriff selbst, demgemäß das sich zunächst an seinem Gegenstand (Objekt) erfahrende Bewusstsein (Subjekt) über dessen bestimmte Negation im umkehrenden Über­ gang vom alten Wissen zu einem neuen, das alte aufhebende Wissen dieses Gegenstands sich selbst zugleich als ein allgemeineres und höheres begriffliches Wissen des ›sichselbstwerdenden‹ Geistes (Ein­ heit von Subjekt und Objekt) erscheint. Während die Entzweiung des Geistes – als Quellpunkt des Bedürfnisses der sich zum Wissen erhebenden Philosophie überhaupt – im Durchgang durch den Zweifel, der jeder These seine Antithese entgegensetzt, für Hegel durch die bestimmte oder doppelte Negation also dialektisch überwunden wird, verankert Kierkegaard sie in der geistigen Konstitution der konkreten menschlichen Existenz als sol­ cher, die er als ein geistiges Selbst bestimmt: »Der Mensch ist Geist. Aber was ist Geist? Geist ist das Selbst. Doch was ist das Selbst? Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, oder ist das im Verhältnis, dass das Verhältnis sich zu sich selbst verhält; das Selbst ist nicht das Verhältnis, sondern dass das Verhältnis sich

27 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, GW (AA) Bd. 9, Hamburg 1980, S. 56. 28 Ebd., S. 19. „Das Wahre ist das Ganze. Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen. Es ist von dem Absoluten zu sagen, dass es wesentlich Resultat, dass es erst am Ende das ist, was es in Wahrheit ist; und hierin eben besteht seine Natur, Wirkliches, Subjekt oder Sichselbstwerden zu sein.“ 29 Ebd., S. 18. 30 Ebd., S. 56.

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zu sich selbst verhält.«31 Zum Selbstverhältnis des Geistes gehört daher wesentlich das Sich-Verhalten zu seinem eigenen Grund, der die menschliche Existenz setzt, aus dem heraus sie zu sein beginnt und der als solcher etwas dem Menschen Anderes sein muss. Mit dieser anthropologischen Wendung zum Selbst als einem extern gesetzten Selbstverhältnis, das nicht in sich, sondern in Gott gründet, zeigt Kierkegaard in existenzphilosophischer Abhebung von Hegel auf, dass Zweifel stets Ausdruck einer existenziellen, keineswegs in einer höheren Vernunftsynthese aufhebbaren Verzweiflung ist, die er im Innern des Menschen qua Menschsein verortet und in dem gleichnamigen Werk als eine individuell durchzustehende Krankheit zum Tode untersucht. Zwar verhält sich der Mensch für Kierkegaard als in sich synthe­ tisches Selbst stets bewusst oder unbewusst zu sich selbst, indem er das Verhältnis zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit, Zeitlichkeit und Ewigkeit, Freiheit bzw. Möglichkeit und Notwendigkeit aktiv in sich aushält und austrägt.32 Doch gerade weil die menschliche Existenz als dieses Verhältnis sich in ihrer Faktizität und Transzendenz nicht selbst setzt, sondern als relationales Selbst passiv von Gott gesetzt worden ist, ist sie je schon von ihrem eigentlichen, in Gott gründenden Selbst getrennt und in ihrem Sich-zu-sich-selbst-verhal­ ten stets verzweifelt. Dieses aporetische Verzweifeltsein des mensch­ lichen Daseins am Selbstsein gehört nach Kierkegaard wesentlich zum Prozess der menschlichen Selbstwerdung.33 Das Verzweifeltsein – für Kierkegaard Ausdruck eines misslingenden Selbstseins – zeigt und potenziert sich stufenweise anhand des Grades seines Bewusst­ seins: So ist derjenige, der sich seiner Verzweiflung bewusst ist und verzweifelt nicht er selbst oder er selbst sein möchte (die zwei Formen der ›eigentlichen Verzweiflung‹: ›Schwachheit‹ und ›Trotz‹), nur noch verzweifelter als derjenige, der sich seiner Verzweiflung überhaupt nicht bewusst ist und in verzweifelter Unwissenheit darüber lebt, überhaupt ein Selbst zu haben (›uneigentliche Verzweiflung‹).34 Sobald wir die Möglichkeit haben, uns unser selbst bewusst und Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, S. 31. Vgl. Ebd. „Der Mensch ist eine Synthese von Unendlichkeit und Endlichkeit, von Zeitlichem und Ewigen, von Freiheit und Notwendigkeit, kurz eine Synthese.“ 33 S. hierzu insbesondere Günter Figal, „Die Freiheit der Verzweiflung und die Freiheit zum Glauben. Zu Kierkegaards Konzeption des Selbstseins und des Selbstwerdens in der ›Krankheit zum Tode‹“, in: Kierkegaardiana XIII (1984), S. 11–23. 34 Vgl. hierzu und im Folgenden Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, S. 31f. 31

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zufrieden oder unzufrieden mit unserem eigenen Selbst zu sein, haben wir – so zumindest Kierkegaards These – uns bereits das ›Missver­ hältnis‹ der Verzweiflung als seelische Krankheit unseres unendlichen Geistes zugezogen, die als solche über den Tod des endlichen Körpers hinausreicht. Aus diesem Grund muss die Konfrontation jedes Ein­ zelnen mit sich selbst für Kierkegaard auch darauf hinauslaufen, sich in seinem existenziellen Verzweifeltsein und göttlichen Gesetztsein durchsichtig zu werden, um durch den sogenannten ›Sprung in den Glauben‹ die Verzweiflung zu überwinden, sein eingebildetes Selbst abzustreifen und zurück zu seinem ursprünglichen Selbst zu finden, d.h. erst eigentlich Selbstsein zu können.35

2. Heideggers existenzial-ontologische Analyse der Angst als hermeneutischer Orientierungspunkt einer Phänomenologie der Verzweiflung Vor diesem problemgeschichtlichen Hintergrund ist es umso erstaun­ licher, dass ausgerechnet die Phänomenologie als eine Philosophie lebensweltlicher Erfahrung, die es seit ihren Gründervätern Hus­ serl und Heidegger mit der Sinnaufklärung des subjektbezüglichen Erscheinens zu tun hat, die Verzweiflung bisher kaum als Phäno­ men in den Blick genommen hat. Insbesondere von Heidegger, der Husserls phänomenologische Methode hermeneutisch wenden und mit Sein und Zeit in Richtung einer ›phänomenologischen Ontolo­ gie‹ weiterentwickeln konnte, die von der Analytik des Daseins ausgeht,36 hätte man eine existenzialontologische Auslegung der Verzweiflung erwarten können – zumal der erhebliche Einfluss Kier­ kegaards auf Heidegger nicht nur inhaltlich augenfällig,37 sondern auch biographisch belegt ist. So heißt es exemplarisch in einem frühen Selbstzeugnis Heideggers über seine philosophischen Anfänge aus dem Vorwort zur Freiburger Vorlesung Ontologie. Hermeneutik der Faktizität (Sommersemester 1923): »Begleiter im Suchen war der 35 Vgl. Ebd., S. 33. „Dies ist nämlich die Formel, die den Zustand des Selbst beschreibt, wenn die Verzweiflung ganz ausgerottet ist: im Sich-Verhalten-zu-sich-selbst und im Es-selbst- sein-Wollen gründet das Selbst durchsichtig in der Macht, die es setzte.“ 36 Heidegger, Sein und Zeit, 19. Aufl. Tübingen 2006, S. 38. 37 S. hierzu Claudia Serban, „Heidegger lecteur de Kierkegaard. Remarques et per­ spectives“, in: Archives de Philosophie 78 (3/2015), S. 491–507.

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junge Luther und Vorbild Aristoteles, den jener haßte. Stöße gab Kierkegaard, und die Augen hat mir Husserl eingesetzt.«38 Anstatt der Verzweiflung ist es aber bekanntlich die von Kierkegaard als philoso­ phischer Begriff ererbte und zur Grundstimmung umgedeutete Angst, in der das in Sein und Zeit untersuchte Dasein die ursprüngliche (›existenziale‹) Möglichkeit seines ›eigentlichen Selbstseinkönnens‹ erschließt: »Die Angst offenbart im Dasein das Sein zum eigensten Sein-können, das heißt das Freisein für die Freiheit des Sich-selbstwählens und -ergreifens. Die Angst bringt das Dasein vor sein Freisein für (...) die Eigentlichkeit seines Seins als Möglichkeit, die es immer schon ist.«39 Was also hat es mit der im Dasein aufsteigenden Grund­ stimmung der Angst nach Heidegger genau auf sich und inwiefern kann sie als hermeneutischer Orientierungspunkt einer Phänomeno­ logie des verzweifelten Selbst dienen? Heideggers existenzialontologische Auslegung der Angst als Grundstimmung des Daseins hat ihren systematischen Ort innerhalb der in Sein und Zeit (1927) anvisierten, aber unvollendet gebliebenen fundamentalontologischen Ausarbeitung der Seinsfrage. Da sich das in der metaphysischen Tradition zwar stets genannte, in seinem eigentlichen Sinn aber unbefragte Sein nicht ohne Rücksicht auf das Konkret-Seiende untersuchen lässt, wendet sich Heidegger jenem ›ausgezeichneten‹ Seienden zu, das sich auf die Seinsfrage hin öffnet, insofern es in einem verstehenden Bezug zum Sein steht. An ihm kann der ›Sinn von Sein‹ abgelesen werden – und zwar allein durch es selbst.40 Ganz ähnlich wie das Selbst bei Kierkegaard, verhält sich das Dasein in seiner Existenz zu sich selbst, indem es sich zugleich zu einem anderen, d.i. seinem Sein verhält: »Das Seiende, dessen Analyse zur Aufgabe steht, sind wir je selbst. Das Sein dieses Seienden ist je meines. Im Sein dieses Seienden verhält sich dieses selbst zu seinem Sein. Als Seiendes dieses Seins ist es seinem Sein überantwortet. Das Sein ist es, darum es diesem Seienden je selbst geht.«41 Wenn wir also nach dem Sinn von Sein fragen, dann müssen wir nach Heidegger bei demjenigen Seienden ansetzen, das ist, indem es nach dem eigenen Sein selbst fragt und »das wir, 38 Heidegger, Ontologie. Hermeneutik der Faktizität. (Sommersemester 1923), GA 63, hg. von K. Bröcker-Oltmanns, 2. Auflage Frankfurt a. M. 1995. 39 Martin Heidegger, Sein und Zeit, 19. Aufl. Tübingen 2006, S. 188. 40 Vgl. Ebd., S. 7. 41 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, S. 41.

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die Fragenden je selbst sind.«42 Deshalb muss die von Heidegger gesuchte »universale phänomenologische Ontologie« ihren Ausgang von der »Hermeneutik des Daseins« nehmen, »die als Analytik der Existenz das Ende des Leitfadens alles philosophischen Fragens dort festgemacht hat, woraus es entspringt und wohin es zurückschlägt.«43 Als universale phänomenologische Ontologie zielt Heideggers Entwurf darauf ab, die Seinsfrage erneut zu stellen und auszuarbeiten. Die Hermeneutik des Daseins stellt als praktisches Verstehen des Daseins dabei selbst die existenzialontologische Möglichkeit der Befragung dar. Aus diesem Grund versucht Heidegger sich der Seinsfrage im Durchgang durch die Analytik des Daseins zu nähern. Sie nimmt die Gestalt einer hermeneutisch angelegten Untersuchung der exis­ tenzial-ontologischen Grundstrukturen (Existenzialien) an, die sich phänomenologisch in der Seinsweise des Daseins aufweisen lassen44 und deren Strukturganzheit die konkrete Existenz des Menschen als in der Welt situiertes Dasein ausmacht. Obgleich Heidegger die neuzeitliche Subjektphilosophie destru­ iert, indem er die in die Metaphysik ungefragt hineingenommenen Begriffe (wie »das Ich, das Bewußtsein, die Person«45 usw.) erschüt­ tert, um sie auf das faktische Sein des Daseins hin abzubauen, hält er in Sein und Zeit doch an einem transzendentalphänomenologischen Ansatz fest: »Jede Erschließung von Sein als des transcendens ist transzendentale Erkenntnis. Phänomenologische Wahrheit (Erschlos­ senheit von Sein) ist veritas transcendentalis.«46 Heideggers funda­ mentalontologische Transformation der transzendentalen Fragestel­ lung richtet ihr Augenmerk jedoch nicht allein auf transzendentale Konstitutionsleistungen des Bewusstseins (Husserl), oder auf subjek­ tive Vermögen a priori (Kant), welche die Möglichkeitsbedingungen von Erkenntnis ausmachen, sondern vielmehr auf die ermöglichende Seinsweise des existierenden Daseins in seiner unhintergehbaren Faktizität selbst. In Sein und Zeit steht daher das sich in seinem Sein als Möglichsein verstehende Dasein – zwar nicht als ein substanziell zu Ebd. Ebd., S. 38. 44 Vgl. Ebd., S. 44. 45 Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit (Wintersemester 1929/30), GA 29/30, hg. von F.-W. von Herrmann, 2. Aufl. Frank­ furt a. M. 1992, S. 84. „Denn das Ich, das Bewußtsein, die Person wird so in die Meta­ physik hineingenommen, daß dieses Ich gerade nicht in Frage gestellt wird.“ 46 Heidegger, Sein und Zeit, S. 38. 42

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Grunde liegendes, vorhandenes Subjekt, aber doch als faktisch exis­ tierender und transzendierender Ermöglichungsgrund von Wahrheit und Welt – architektonisch und systematisch im Zentrum: »Nur wenn Seinsverständnis ist, wird Seiendes als Seiendes zugänglich; nur wenn Seiendes ist von der Seinsart des Daseins, ist Seinsverständnis als Seiendes möglich.«47 Trotz seiner deutlichen Konzentration auf den Ausgangspunkt des existierenden Daseins, darf Heideggers hermeneutische Phä­ nomenologie nicht mit transzendentalen Idealismen verwechselt werden, die das Bewusstsein isolieren und eine selbstgründende Subjektivität als konstituierende Erkenntnis- oder Seinsgrundlage anerkennen. Stattdessen wendet er sich der ganzheitlichen Horizont­ struktur eines umfassenden Bedeutungszusammenhanges zu, in dem wir als Dasein je schon stehen und vor dessen Hintergrund uns das Seiende erscheint. Dieses vorgängige und unscheinbare Ganze, auf das wir je schon bezogen sind, ist die Welt. Dasein und Welt werden von Heidegger daher nicht mehr als zwei eigenständige Pole bestimmt, die sich in einem theoretischen Subjekt-Objekt-Ver­ hältnis gegenüber stehen würden. Vielmehr ist es gerade der als Transzendenz verstandene und je schon stimmungshaft vermittelte Weltbezug, der den zeitlichen Existenzvollzug des Daseins in seinem verbal verstandenen Wesen vom metaphysisch bestimmten Ich-Sub­ jekt unterscheidet. Das ›Da des Seins‹ markiert folglich keine abge­ kapselte Innerlichkeit, sondern vielmehr eine spezifisch gestimmte Weltoffenheit und Selbsterschlossenheit, die besonders treffend in Heideggers existanzialontologischer Grundbestimmung des Daseins als In-der-Welt-sein zum Ausdruck gebracht wird. Als wörtlich aufzu­ fassende Existenz (›Ek-sistenz‹), die Heidegger als ein verstehendes ›Hinaus-stehen‹ in das Ganze der Welt charakterisiert, das – wie es später im Humanismusbrief (1947) heißt – zugleich ein ›ausstehendes Innestehen‹ in der ›Offenbarkeit des Seins‹ ist, sind wir in unserer Gestimmtheit nichts anderes als dieses ›ek-statische‹ Weltverhältnis oder Seinsverständnis selbst.48 Wenn wir das Subjekt als ein vorhandenes Seiendes (ens) vorstel­ len, so Heideggers an Kierkegaard anknüpfende Einsicht, dann sehen wir folglich gerade von denjenigen existenziellen Grundstrukturen (›Existenzialien‹) ab, die unser eigentliches ontologisches Wesen 47 48

Ebd., S. 212 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, S. 52 ff.

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ausmachen und unsere ganzheitliche Existenz als in die Welt einge­ lassenes Dasein konstituieren. Das sich in seinem endlichen Sein verstehende Dasein ist nicht erst für sich, um sich zusätzlich auch noch auf die es umgebende Welt (›Umwelt‹) zu beziehen, in der es dann auch für andere da ist, mit denen es interagiert. Vielmehr vollzieht es seine Existenz (bzw. ›Ek-sistenz‹) immer schon als ein Draußenund Bei-den-Dingen-sein, das in die stimmungshaft erschlossene Offenbarkeit der im Miteinander-sein geteilten Welt hinaussteht. Die präsenzmetaphysische Selbstauslegung des Daseins als substanziell oder transzendental zugrundeliegendes Subjekt ist der Seinsweise des Daseins, dessen Essenz allein in seiner Existenz liegt, daher unangemessen. Statt einer ihm äußerlichen Welt neutral gegenüber zu stehen, ist das sich im zeitlichen Vollzug seiner eigenen Existenz erschließende Dasein immer schon in einer mit anderen geteilten Welt aus Sinnzusammenhängen sowie bedeutungshaften Phänome­ nen verankert und durch seinen befindlichkeitsmäßigen Bezug zu ihr bestimmt: »Der Ausdruck ›Da‹ meint diese wesenhafte Erschlossen­ heit. Durch sie ist dieses Seiende (das Dasein) in eins mit dem Da-sein von Welt für es selbst ›da‹.«49 Einerseits ist die uns ›durchstimmende‹ Welt in ihrem Erschei­ nen bedingt vom seinsverstehenden Dasein, das wir je selbst sind. Andererseits sind wir als Existierende qua Befindlichkeit je schon in die Lebenswelt eingebettet und unsere Existenz lässt sich ihrerseits überhaupt nur in oder aus dieser Welthaftigkeit verstehen. »Die Frage, ob überhaupt eine Welt sei und ob deren Sein bewiesen werden könne,« ist – so Heidegger – »als Frage, die das Dasein als In-derWelt-sein stellt – und wer anders sollte sie stellen? – ohne Sinn.«50 Welt ist also auf der einen Seite wesentlich für das Sein des Daseins, auf der anderen Seite konstituiert Welt sich stets nur in Mitsprache des Daseins. Sie ist dem Dasein immer schon stimmungshaft einge­ schrieben, sowie das Dasein seit jeher verwoben ist in die Netze der Lebenswelt. »Wesenhaft daseinsbezogen,«51 schwingt das Ganze der Welt im affizierten Dasein als dessen bestimmender Grundton mit. Um dieser wechselseitigen Verankerung von Subjektivität und Welt Rechnung zu tragen, bildet Heidegger den Leitbegriff des In-derWelt-Seins, der die Transzendenz als fundamentale Seinsverfassung 49 50 51

Vgl. Ebd., S. 132. Ebd., S. 202. Heidegger, Vom Wesen des Grundes, GA 9, S. 157.

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des zeitlich›ek-sistierenden‹ Daseins zum Ausdruck bringt. Dabei wird die›Weltlichkeit der Welt‹ als existenziale Bestimmung des Daseins bereits in dessen Weise zu existieren hineingenommen: »›Welt‹,« so Heidegger, »ist ontologisch keine Bestimmung des Sei­ enden, das wesenhaft das Dasein nicht ist, sondern ein Charakter des Daseins selbst.«52 Das In-der-Welt-sein darf daher, wie Heidegger betont, nicht räumlich aufgefasst werden,53 sondern bezeichnet viel­ mehr ein (in zunächst praktischer Hinsicht) verstehendes Vertraut­ sein mit Welt, die in ihrer ganzheitlichen Verweisungsstruktur selbst durch Bedeutsamkeit charakterisiert ist. Dass die Welt dem Dasein bedeutsam erscheint, hängt von der Erschlossenheit einerseits des Seienden als Seienden im Verstehen und andererseits des Seienden im Ganzen in der Befindlichkeit oder Stimmung ab.54 Mit der in der Analytik des Daseins untersuchten Grundstim­ mung der›Angst‹ aber ist nun jenes reflexive Grundmoment des In-der-Welt-seins angesprochen, das für Heideggers zwar einflussrei­ che, aber keineswegs unumstrittene Konzeption von Selbstsein und Eigentlichkeit wesentlich ist: Es räumt dem Dasein erst die in der hori­ zontalen Einheit seiner ›ekstatischen Zeitlichkeit‹ gründende und in der Grundstimmung selbst erschlossene Möglichkeit ein, frei für sein eigentliches Selbst zu sein, welches es im entschlossenen ›Vorlaufen‹ in den Tod bewusst zu ergreifen gilt. Warum aber bedarf es für Heidegger überhaupt jener totalen, die Existenz von Grund auf affizierenden ›Grundstimmung‹, die – im Unterschied zur bloßen ›Befindlichkeit‹ – das Dasein nicht nur seine Welt erschließen, sondern darüber hinaus auch sich selbst durchsichtig werden lässt? Zwar ist das Dasein dasjenige sterbliche Seiende, das wir je selbst sind und das sich auf die Seinsfrage hin öffnet, indem es sich um sein eigenes Sein vor dem Hintergrund seiner radikalen Endlichkeit ›sorgt‹. Doch zur Existenz des jemeinigen Daseins gehört je schon die verhängnisvolle Tendenz zur Todesverdrängung und Selbstverges­ senheit, die der Denker als Verfallenheit an das ›Man‹ kennzeichnet. In seinen alltäglichen Lebensvollzügen, so Heideggers Beobachtung, ist das Dasein nicht eigentlich es selbst, sondern existiert vielmehr in einer unausdrücklich bleibenden ›Uneigentlichkeit‹, indem es in der Sphäre der Öffentlichkeit und ihren sozio-kulturellen Konventionen 52 53 54

Heidegger, Sein und Zeit, S. 64 Vgl. Ebd., S. 54 Vgl. Ebd., S. 134ff.

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gleichsam aufgeht: »Das Selbst aber ist,« so Heidegger, »zunächst und zumeist uneigentlich, das Man-selbst. Das In-der-Welt-sein ist immer schon verfallen.«55 Erst in der diffusen Grundstimmung der Angst, die keine Angst vor etwas ist, im Unterschied zur Emotion der Furcht also nicht intentional auf etwas Seiendes bezogen ist, eröffnet sich dem einzelnen Dasein die Möglichkeit, sich vom gewöhnlichen Zustand des alltäglichen Zerstreut- und Verfallenseins an das inner­ weltliche Erscheinende zu lösen, um vom Man-sein zurück zu sich selbst, in sein eigentliches In-der-Welt-sein zu gelangen: »Die Angst benimmt so dem Dasein die Möglichkeit, verfallend sich aus der ›Welt‹ und der öffentlichen Angelegenheit zu verstehen. Sie wirft das Dasein auf das zurück, worum es sich ängstigt, sein eigentli­ ches In-der-Welt-sein-können. Die Angst vereinzelt das Dasein auf sein eigenstes In-der-Welt-sein, das als verstehendes wesenhaft auf Möglichkeiten sich entwirft.«56

Die existenziale Möglichkeit des Daseins aber, sich im Nichts der Angst selbst in seinem Möglichkeitscharakter durchsichtig zu werden und seine Möglichkeiten aus dem praktischen ›Wissen‹ um diese geworfene Offenheit des eigenen Seins heraus eigentlich zu ergreifen, ist seine Freiheit. Indem er die freiheitliche Transzendenz des Daseins auf seinen es bestimmenden Grund hin also rein horizontal fasst, ebnet Heidegger die Kierkegaardschen Differenzierungen von Unendlichkeit und End­ lichkeit, von Zeitlichem und Ewigen, von Freiheit und Notwendigkeit auf das endliche Sein des Daseins ein. Auch die von Kierkegaard als anthropologische Grundbestimmung eingeführte, auf die Transzen­ denz des Göttlichen verweisende Verzweiflung, die sich ihm zufolge in der Angst bemerkbar macht, geht für Heidegger offenbar ganz in der Grundstimmung des Sich-Ängstigens vor der eigenen Gewor­ fenheit und blanken Nichtigkeit der endlichen Existenz auf – zumal Heidegger das Verzweifeltsein in der Analytik des Daseins außer Acht lässt. Auf der einen Seite schiebt Heidegger als phänomenologischer Denker der Endlichkeit so jeder metaphysischen Spekulation, die mit ›leeren‹ oder anschauungslosen Begriffen operiert, einen Riegel vor. Auf der anderen Seite verliert er dabei das Phänomen der Verzweif­ lung zu Gunsten einer einseitigen Betonung der Angst unter dem 55 56

Ebd., S. 181. Ebd., S. 187.

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Vorzeichen der Eigentlichkeit aus dem Blick. Erst in der abgründigen Grundbefindlichkeit der Angst erschließt sich dem sterblichen Dasein die Möglichkeit seines eigentlichen Selbstseinkönnens, insofern es in seiner unausweichlichen Geworfenheit auf sich selbst in seiner wesentlich endlichen Existenz zurückgeworfen ist. »Das Dasein«, so Heidegger, »existiert in der Weise des In-der-Welt-seins, und als solches ist es umwillen seiner selbst. Dieses Seiende ist nicht einfach nur, sondern sofern es ist, geht es ihm um sein eigenes Seinkönnen.«57 Diese Zentrierung Heideggers auf das je-meinige Dasein, das in der Angst vereinzelt und so allererst seinem ureigenen Sein überant­ wortet wird, das es rückhaltlos zu übernehmen hat, kann nicht zuletzt insofern von einer phänomenologischen Warte aus kritisiert werden, als dass sie sowohl unserem elementaren Leibsein, als auch dem in der Zwischenleiblichkeit erfahrenen Anderssein des unfasslichen Frem­ den als wesentlichen Konstituentien des Selbstseins nicht ausreichend Rechnung trägt. Denn obwohl Heidegger die Frage nach dem Sinn von Sein vom Grundphänomen des konkreten In-der-Welt-seins her zu erschließen versucht, klammert er die Leiblichkeit in der Funda­ mentalanalyse von Sein und Zeit aus, um tradierte anthropologische Leibbestimmungen zu suspendieren und das Dasein im Menschen ontologisch zu neutralisieren.58 Es ist daher kein Zufall, dass gleich mehrere Philosophen – darunter so unterschiedliche Denker wie Sartre oder Plessner – Heidegger schon zu Lebzeiten dafür kritisiert haben, die leibliche Verankerung des Daseins in der Lebenswelt über­ gangen zu haben. Während Sartre seine Enttäuschung darüber nicht verbergen kann, dass Sein und Zeit insgesamt »nur sechs Zeilen über den Leib«59 enthalte, betont Plessner in Die Stufen des Organischen und der Mensch (1928) treffend: »Nur ein leibhaftes Wesen kann

Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie (Sommersemester 1927), GA 24, hg. von F.-W. von Herrmann, 3. Aufl. Frankfurt a. M. 1997, S. 242. 58 Erst deutlich später, in den Zollikoner Seminaren, wendet Heidegger sich der Leib­ lichkeit in ihrer welterschließenden Dimension eingehender zu: „Das Leiben gehört immer mit zum In-der-Welt-sein. Es bestimmt das In-der-Welt-sein, das Offensein, das Haben von Welt immer mit.“ Heidegger, Zollikoner Seminare, Protokolle – Gesprä­ che – Briefe, hg. von M. Boss, 2. Aufl. Frankfurt am Main 1994, S. 126. S. dazu insbe­ sondere David Espinet, „Martin Heidegger – Der leibliche Sinn von Sein“, in: Alloa, Bedorf, Grüny, Klass (Hg.), Leiblichkeit. Geschichte und Aktualität eines Begriffs, S. 52–67. 59 Zitiert nach Heidegger, Zollikoner Seminare, S. 292. 57

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gestimmt sein und sich ängstigen. Engel haben keine Angst.«60 Im Unterschied zur Grundstimmung der das Selbst isolierenden Angst im Sinne Heideggers, aus deren Grunderfahrung Leiblichkeit und Andersheit in Sein und Zeit ausgeschlossen werden, verweist die darin ebenfalls übergangene Verzweiflung phänomenologisch gesehen auf eine anfängliche Verwicklung von Selbstheit und Andersheit in der Fremderfahrung eines leiblichen Selbst zurück.

3. Das verzweifelte Selbst in leibphänomenologischer Sicht zwischen Pathos und Response Wie nun abschließend im Rückgang auf Waldenfels responsive Phä­ nomenologie deutlich werden soll, ist es gerade der mit dem leiblichen Selbstbezug des Daseins in der Wahrnehmung je schon verschränkte Fremdbezug, der als Grundmoment unserer faktischen Lebenserfah­ rung untersucht und als verdeckte phänomenologische Grundlage der Verzweiflung offengelegt werden kann. Der Leidenszustand der Verzweiflung – so die These – lässt sich in seiner Genese nämlich nur dann sachgemäß aufklären, wenn er von der affektiven Leidensfähig­ keit und Leiderfahrung eines responsiven Selbst her untersucht wird, welches sich im Antworten auf fremde Ansprüche allererst herausbil­ det. Die existenzielle Verzweiflung erweist sich dabei als spezifischer Ausdruck eines unausdrücklichen Erfahrungsgeschehens, in dem der hinter dem Rücken des Selbst ereignishaft aufbrechende Sinn, durch den erst etwas erscheinen und als etwas von uns verstanden werden kann, nicht mehr auf die Sinngebung eines konstituieren­ den Bewusstseins (Husserl) oder auf die neutrale Vor-Gabe eines anonymen Seins im existierenden Dasein (Heidegger) zurückfahrbar ist. Stattdessen geht die leiblich fundierte Erfahrung, die sich mit Waldenfels näher in Pathos und Response, d.h. in passiv-affektives Getroffensein und aktives Eingreifen auseinanderlegen lässt, von einem überraschenden und übergriffigen Widerfahrnis des Fremden aus, zu dem ich mich antwortend verhalten muss und das in dieser Antwort erst seine konkrete Gestalt erhält als etwas, das mich in meiner affektiven Verletzlichkeit (Vulnerabilität) selbst betrifft und Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin 1975, S. XIV.

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befremdet.61 Inwiefern also lässt sich der Zustand der Verzweiflung vor dem Hintergrund der Fremderfahrung eines affektiv leidensfähi­ gen, d.h. in seiner passiven Empfänglichkeit des Sinnes verwundbaren Selbst neu erhellen? Indem sie den gnoseologischen Bewusstseinsprimat der ego­ logischen Phänomenologie infrage stellt und stattdessen beim leib­ lichen Widerfahrnis der Wahrnehmung ansetzt, stellt Waldenfels responsive Phänomenologie das Grenzphänomen des elementar Fremden als irreduzibles Grundmoment von Erfahrung überhaupt heraus. Bereits Husserl hatte in seiner genetischen Phänomenologie die passive und pathische Dimension der Subjektivität hervorgekehrt und in seinen Analysen zur Fremderfahrung im Kontext der Intersub­ jektivität und (Zwischen-)Leiblichkeit aufgezeigt, inwiefern das sich dem unmittelbaren Zugriff des Bewusstseins verwehrende Fremde als Fremdes stets nur mittelbar in einer gewissen Unzugänglichkeit zugänglich ist:62 Das Fremde zeigt sich, indem es sich entzieht. Die irritierende Erfahrung des nicht dauerhaft aneigenbaren oder restlos ins Eigene assimilierbaren Fremden ist auf Grund unserer eigenen Zugangsweise daher von einer unaufhebbaren Asymmetrie und fun­ damentalen Ambivalenz durchzogen. Auf der einen Seite würde das überraschende Auftauchen des Fremden in seiner unfasslichen Fremdheit aufhören, beunruhigend oder außerordentlich für uns zu sein, sobald wir dieses nahtlos in den eigenen Verstehenshorizont eingliedern, indem wir es vom sicheren Standpunkt einer vertrauten Ordnung aus domestizieren und normalisieren. Auf der anderen Seite aber würde das uns angehende Fremde, wenn es absolut transzendent und vollkommen unzugänglich wäre, gar nicht erst leiblich von uns erlebt und zur Aussprache seines Sinnes gebracht werden können.63 Aus diesem Grund situiert sich die leiblich vermittelte Frem­ derfahrung für Waldenfels in einem intermedialen Zwischenreich, das von einem nicht zu tilgenden Hiatus zwischen vorgängigem Anspruch und nachträglicher Entsprechung gekennzeichnet ist, durch den unsere Erfahrung von etwas als etwas allererst zustande kommt. S. hierzu Robert Stöhr, „Zwischen Pathos und Response. Bernhard Waldenfels über Verletzlichkeit als Grundmoment der Erfahrung“, in: R. Stöhr et al. (Hg.), Schlüssel­ werke der Vulnerabilitätsforschung, Wiesbaden 2019, S. 145–167. 62 Vgl. Husserl, Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, Hua I, hg. von S. Strasser, Den Haag 1973, S. 144. 63 Vgl. Waldenfels, Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, S. 7f. 61

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Mit etwas eine Erfahrung zu machen, d.h. etwas leiblich wahrzuneh­ men, um es als etwas zu verstehen oder zu erkennen, bedeutet dann, pathisch von etwas Fremdartigem affiziert zu werden, zu dem ich mich unmöglich nicht verhalten kann, sondern auf das ich mich in meinem Verhalten je schon bewusst oder unbewusst antwortend beziehe und das sich mir immer auch entzieht.64 Zu jeder tatsächlich gemachten Erfahrung gehört dann ein leibliches Angegangenwordensein durch den jeder Thematisierung zuvor und stets ›von anderswoher‹ kom­ menden Anspruch des Fremden, auf den das getroffene Selbst in einer immer schon verschobenen Zeitlichkeit oder originären Nachträglich­ keit antwortet. Der unumgängliche Anspruch des Fremden trifft das antwortende Selbst dergestalt, dass er dessen Identitätsbildung in der Erfahrung bedingt, es in der zeitlichen ›Dia-stase‹ zwischen Pathos und Response auftrennt und so der Verschließung des Selbstbezugs zu einer restlos geschlossenen Identität in einer ungetrübten Selbst­ gegenwart immer schon zuvorkommt. Weil der vorgängige Anspruch des Fremden stets nur nachträglich im Antworten durch jemanden seine konkrete Gestalt erhält, kommt es im ›dia-statischen‹ Ausein­ andertreten zu einer ›an-archischen‹ Verwirbelung von Ursache und Wirkung, vorher und nachher, die keinen Rückgang auf ein erstes oder ursprüngliches Fundament des Erfahrungsgeschehens mehr zulässt. Stattdessen verweist uns die Spur des Fremden auf eine gleichsam ›absolute Vergangenheit‹, die als solche niemals Gegenwart war.65 Der konstitutive Entzugscharakter des affizierend-infizierenden Fremden, das uns vor jeder intentionalen Bezugnahme angeht, indem es in unser eigenes Selbstverhältnis eingeht, bleibt dem vom Fremden heimgesuchten Selbst also keineswegs äußerlich, sondern wird bereits am eigenen Leibkörper in der chiasmatischen Verschränkung von Eigenbezug und Fremdbezug erfahren. Zur mehrdeutigen Erfahrung und vielgestaltigen Herausforderung des Fremden gehört dann nach Waldenfels immer auch ein Fremdwerden der eigenen Erfahrung.66 Dabei sind es nicht nur die am Rande jeglichen Sinnes verorteten Grenzerfahrungen, wie die des Einschlafens oder Aufwachens, son­ dern auch Affektive, Gefühle und Stimmungen – wie Lachen, Ekel, Scham, Neid, Angst oder Verzweiflung – die uns das unauflösliche Entzugsmoment des Fremden im Eigenen vor Augen halten. 64 65 66

Vgl. Ebd., S. 34f. Ebd., S. 49 Vgl. Ebd., S. 8.

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Mit der das leibliche Selbst ›dia-statisch‹ auseinander- und zusammenhaltenden Spannung zwischen dem Worauf und dem Was des Antwortens, zwischen dem Aufgerufensein zum Antwortgeben und der Unmöglichkeit einer adäquaten Entsprechung (›responsive Differenz‹),67 ist nun das erfahrungsmäßige Fundament der Verzweif­ lung freigelegt, die sich einer mangelnden Responsivität im extremem Auseinanderdriften von Pathos und Response verdankt. So verkör­ pern sich seelische Leidenszustände – wie Angst oder Verzweiflung – dergestalt, dass sie unser Responsivitätsvermögen, »auf die Anfor­ derungen der Lebensumwelt zu antworten,«68 nachhaltig beeinträch­ tigen. Im Extremfall der »Irresponsivität,«69 in dem die eigene Ant­ wortfähigkeit auf fremde Ansprüche stark eingeschränkt wird, weitet sich die konstitutive Lücke zwischen Pathos und Response zu einer unüberwindbaren Kluft, die das verletzte Selbst von seiner Umwelt und Mitwelt abtrennt, sodass sie mitunter kein affektiv-gefühlsmäßi­ ges Antwortenkönnen mehr zulässt.70 Vor diesem leibphänomenolo­ gischen Hintergrund bestimmt Waldenfels die reine oder existenzielle Angst, die bei Kierkegaard und Heidegger nicht auf etwas oder jeman­ den gerichtet ist, sondern auf ein konstitutives und unbestimmes Nichts verweist, als ein Pathos, das sich gegen seine responsive Umsetzung in der aktiv auf etwas gerichteten Furcht und somit »gegen jede Verkörperung in der Welt«71 sperrt. Auch die zwei Grundformen der Verzweiflung im Sinne Kierke­ gaards können nun anhand ihres abgeschwächten Responsivitätscha­ rakters untersucht und in ›Pathos ohne Response‹ (›Schwachheit‹) sowie ›Response ohne Pathos‹ (›Trotz‹) differenziert werden. Im Unterschied zur existenziellen Angst im Sinne Heideggers, verweist die wohlverstandene Verzweiflung keineswegs auf ein neutrales Sein, welches das Dasein allein auf sich selbst zurückwirft, sondern auf den affizierenden Anspruch einer irritierenden Fremdheit, ohne die es keine Selbstheit geben kann. In der Kierkegaardschen Schwachheit des verzweifelten Nicht-man-selbst-sein-Wollens drückt sich dann das aktuelle oder habituelle Unvermögen eines überforderten Selbst Waldenfels, Sozialität und Alterität, S. 120. Ebd., S. 150. 69 Ebd., S. 19. 70 Vgl. Florian Schmidsberger, „Vulnerabilität und affektives Leiden. Philosophische Beiträge zu einem Verständnis von Verletzbarkeit und Gefühlen“, in: Psychotherapie Forum 26 (2022), S. 18–26. 71 Waldenfels, Sozialität und Alterität, S. 142

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aus, aktiv und selbstwirksam eingreifend auf die Ansprüche der Anderen und die Anforderungen der Welt zu reagieren: Das Eigene ist dem Fremden schutzlos ausgeliefert und preisgegeben, was sich in einem überwältigenden Ohnmachtsgefühl niederschlagen kann. Es begegnet uns hier »jene Nachträglichkeit, jenes après coup, das für alles Pathische charakteristisch ist, in der pathologischen Form einer Fixierung auf das Widerfahrnis und einer entsprechenden Antwort­ blockade.«72 Der Trotz des Verzweifelt-man-selbst-sein-Wollens hin­ gegen kann als Ausdruck einer gleichsam weltabgewandten Response ohne Pathos verstanden werden: einer egozentrischen Verengung des Antwortvermögens, in der die ›eigenen‹ Ansprüche ans Selbst ins Maßlose steigen und in keiner Resonanzbeziehung mehr zu denen der anderen stehen. Das fehlende Interagieren in leiblich-responsiver Resonanz mit der Welt führt zu einem Divergieren von Selbst und Selbstbild, an dem wir im ›Trotz‹ verzweifeln. Daran wird deutlich: In beiden Fällen der existenziellen Verzweif­ lung ist das Antwortvermögen oder das Sich-einlassen-Können des leiblichen Selbst durch einen Mangel an Responsivität eingeschränkt und der Spielraum seines Sich-Verhaltens eingeengt, sodass unser Dasein seines Möglichseins oder seiner situativen, geworfenen Frei­ heit beraubt wird. Der Verzweiflung geht somit ein Einbüßen des Responsivitätsvermögens voraus und mit ihr geht ein Verlust von Freiheit in der Verschließung der eigenen Existenzmöglichkeiten ein­ her, zusammen mit anderen in der Welt zu sein. Insofern die so ver­ standene Verzweiflung stets auf ein hereinbrechendes Widerfahrnis des unverhofft Fremden zurückverweist, das sich zwar niemals bruch­ los in die Ordnung meiner Welt einfügt, dem ich als reagierend-ein­ greifendes Selbst aber keineswegs vollkommen schutzlos ausgeliefert bin, ist die Verzweiflung philosophisch gesehen letztlich weder rein negativ zu bewerten, noch theologisch oder existenzphilosophisch zu überhöhen. Vielmehr zeigt sie die unaufhebbare Ambivalenz des Fremden im unabschließbaren Erfahrungsgeschehen eines leiblichen und verwundbaren Selbst auf, das sich in seinem Antworten als solches erst herausbildet und selbst erfährt. Einerseits gehört zum Angegangenwerden des in seiner Affizierbarkeit und Passivität ver­ wundbaren Selbst die Möglichkeit eines Verletztwerdens durch das Fremde, welches das Antwortvermögen und die Entwurfsmöglichkei­ ten des Daseins limitieren und sich in der Verzweiflung habitualisie­ 72

Waldenfels, Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, S. 53.

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ren kann. Andererseits kann das unverhoffte Pathos des Fremden bestehende Ordnungen stören oder aufbrechen und so zu einer erfin­ derischen Response anregen, die etwas Neuartiges im Sinnbildungsund Selbstbildungsprozess zu Tage fördert.73 Die Verzweiflung zeugt somit von der unerschöpflichen Fülle des Sinnes in statu nascendi, indem sie uns an unsere eigene Fremdheit erinnert, die uns je schon auf das Ereignis des ganz Neuen und uneinholbaren Anderen im Erfahrungsgeschehen geöffnet haben wird.

Literatur Emmanuel Alloa, Natalie Depraz, »Edmund Husserl, der Leib, ein merkwürdig unvollkommen konstituiertes Ding«, in: E. Alloa, T. Bedorf, C. Grüny, T. Klass (Hg.), Leiblichkeit. Geschichte und Aktualität eines Begriffs, Tübingen 2012, S. 7–22. Wolfgang Blankenburg, Der Verlust der natürlichen Selbstverständlichkeit. Ein Beitrag zur Psychopathologie symptomarmer Schizophrenien, Berlin 2012. Martin Bürgy, »Prolegomena zu einer Psychopathologie der Verzweiflung«, in: Nervenarzt 78 (2007), S. 521–529. Rene Descartes, Die Leidenschaften der Seele, Hamburg 1984. Hermann Diels, Walther Kranz (Hg.), Die Fragmente der Vorsokratiker, 6. Aufl. Berlin 1951/1952. David Espinet, »Martin Heidegger – Der leibliche Sinn von Sein«, in: Alloa, Bedorf, Grüny, Klass (Hg.), Leiblichkeit. Geschichte und Aktualität eines Begriffs, S. 52–67. Günter Figal, »Die Freiheit der Verzweiflung und die Freiheit zum Glauben. Zu Kierkegaards Konzeption des Selbstseins und des Selbstwerdens in der ›Krankheit zum Tode‹«, in: Kierkegaardiana XIII (1984), S. 11–23. Thomas Fuchs, »Zur Phänomenologie der Stimmungen«, in: F. Reents und B. Meyer-Sickendiek (Hg.), Stimmung und Methode, Tübingen 2013, S. 17–31. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, GW (AA) Bd. 9, Hamburg 1980. Martin Heidegger, Sein und Zeit, 19. Aufl. Tübingen 2006. Martin Heidegger, Zollikoner Seminare, Protokolle – Gespräche – Briefe, hg. von M. Boss, 2. Aufl. Frankfurt am Main 1994. Martin Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik (1929), GA 3, hg. von F.-W. von Herrmann, Frankfurt a. M. 1991. Martin Heidegger, Vom Wesen des Grundes, in: Wegmarken, GA 9, hg. von F.W. von Herrmann, 3. Aufl. Frankfurt a. M. 2004, S. 123–175. Martin Heidegger, Brief über den ›Humanismus‹ (1946), in: GA 9, S. 313–364. 73 Vgl. Waldenfels, Erfahrung, die zur Sprache drängt. Studien zur Psychoanalyse und Psychotherapie aus phänomenologischer Sicht, Berlin 2019, S. 290.

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Martin Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie (Sommersemester 1927), GA 24, hg. von F.-W. von Herrmann, 3. Aufl. Frankfurt a. M. 1997. Martin Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Ein­ samkeit (Wintersemester 1929/30), GA 29/30, hg. von F.-W. von Herrmann, 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1992. Martin Heidegger, Ontologie. Hermeneutik der Faktizität. (Sommersemester 1923), GA 63, hg. von K. Bröcker-Oltmanns, 2. Auflage Frankfurt a. M. 1995. Michel Henry, L’essence de la manifestation, Paris 1963. Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge, Hua I, hg. von S. Strasser, Den Haag 1973. Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Zweites Buch: Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitu­ tion, Hua IV, hg. von M. Biemel, Nachdruck Den Haag 1952. Søren Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, in: Die Krankheit zum Tode. Furcht und Zittern. Die Wiederholung. Der Begriff der Angst, hg. von H. Diem und W. Rest, 2. Aufl. München 2007, S. 25–180. Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966. Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, hg. von G. Colli und M. Montinari, 2. Aufl. München und New York 1988. Platon, Werke in acht Bänden, hg. von G. Eigler. 2. Aufl. Darmstadt 1999. Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin 1975. Matthew Ratcliffe, Feelings of Being: Phenomenology, Psychiatry and the Sense of Reality, Oxford 2008. Matthew Ratcliffe, »Evaluating Existential Despair«, in: S. Roeser, C. Todd (eds.), Emotion and Value, Oxford 2014, pp. 229–246. Thomas Gerhard Ring, »Augustins Deutung der ›Sünde wider den Hl. Geist‹ in Mt 12,31f«, in: Augustiniana 50 (1/2000), S. 65–84. Florian Schmidsberger, »Vulnerabilität und affektives Leiden. Philosophische Beiträge zu einem Verständnis von Verletzbarkeit und Gefühlen«, in: Psycho­ therapie Forum 26 (2022), S. 18–26. Claudia Serban, »Heidegger lecteur de Kierkegaard. Remarques et perspectives«, in: Archives de Philosophie 78 (3/2015), S. 491–507. Benedictus de Spinoza, Die Ethik, lateinisch/deutsch, Stuttgart 2007. Spinoza, Kurze Abhandlung von Gott, dem Menschen und seinem Glück, Ham­ burg 1965. Robert Stöhr, »Zwischen Pathos und Response. Bernhard Waldenfels über Ver­ letzlichkeit als Grundmoment der Erfahrung«, in: R. Stöhr et al. (Hg.), Schlüs­ selwerke der Vulnerabilitätsforschung, Wiesbaden 2019, S. 145–167. Lászlo Tengelyi, Der Zwitterbegriff Lebensgeschichte, München 1998. Michael Theunissen, »Verzweiflung«, in: J. Ritter, K. Gründer, G. Gabriel (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd 11, Darmstadt 2001, S. 1028– 1034. Thomas von Aquin, Summa theologica, Die deutsche Thomas-Ausgabe (Summa theologica), 34 Bde., Graz/Wien/Köln/Heidelberg/Salzburg 1933ff.

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Bernhard Waldenfels, Das leibliche Selbst: Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes, 8. Aufl. Frankfurt a. M. 2021. Bernhard Waldenfels, Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, 5. Aufl. Frankfurt a. M. 2016. Bernhard Waldenfels, Sozialität und Alterität. Modi sozialer Erfahrung, Ber­ lin 2015. Bernhard Waldenfels, Erfahrung, die zur Sprache drängt. Studien zur Psychoana­ lyse und Psychotherapie aus phänomenologischer Sicht, Berlin 2019. Dan Zahavi, Self-Awareness and Alterity: A Phenomenological Investigation, Evanston 1999.

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Der Tod macht alles lächerlich. Zur Verzweiflung als Lebensunmöglichkeit bei Thomas Bernhard

»Das Denken ist das Einzige, was uns vor der Verzweiflung bewahrt, weil es das einzige Vergnügen ist, dessen man nicht überdrüssig wird.«1 »Ich betrachtete mich schon lange als einen Organismus, den ich durch meine eigene Willenskraft immer öfter auf Befehl disziplinieren könne. Freilich erlebte ich zeitweise Rückschläge, die aber zu keiner Verzweiflung führten. Aus dem Zustand der Verzweiflungsanfälligkeit herauszukommen, sagte ich, sei mir die höchste Anstrengung wert. Besser fürchterlich angestrengt, sagte ich, als tief verzweifelt.«2

Einleitung Schaut man sich die berühmten Gespräche auf Mallorca zwischen Thomas Bernhard und Krista Fleischmann an, wird man eines lachen­ den und Spaß machenden Thomas Bernhard gewahr.3 Hier spürt man wenig Verzweiflung. Er ist voller Witz und Ironie und erzählt, mit einem ergreifenden Lächeln um den Mund, über dies und jenes. Er ist zudem auch deutlich fasziniert von seiner Gesprächspartnerin, Frau Fleischmann. Es gibt wenig auf der Welt, das mich so ins Lachen bringt wie Thomas Bernhard. Ich wäre ein anderer ohne die Begegnung mit dem Werk und der Person Thomas Bernhard. Er strahlt in den Interviews eine seltene Freiheit sowie eine Souveränität im Umgang mit den Widerwärtigkeiten des Lebens aus. Ich habe sie mir immer wieder angeschaut und bekomme jedes Mal das Gefühl, dass ich weiterleben möchte. Trotz (oder vielleicht eher aufgrund) Dávila, 169. Bernhard, Werke 2, Verstörung, 43. 3 Man findet Ausschnitte davon auf Youtube: https://www.youtube.com/watch?v= nX6GIrCJY7s (25.8.2022).

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der Verneinungen, der Kritik und der Aufweisung des absoluten Unsinns ermuntert Bernhard indirekt zur lachenden Lebensbejahung. Ich deute dies so: Eigentlich gibt es gar nichts zu lachen, das Lachen ist eine Unmöglichkeit, aber trotzdem wird gelacht, muss und soll gelacht werden. Man kann nicht anders als lachen. Das Lachen ermöglicht das Weiterleben trotz der Unmöglichkeit eines richtigen Lebens. Bernhards Lachen entzündet sich am Absurden, sei es Absurdes in der Realität, in der Fantasie, in der Metaphorik der Sprache oder in der Gestik. Man hört auf, nach dem Sinn zu fragen, und gerade das befreit. Es ist schön, mitten im absurden Theater der Wirklichkeit zu leben. Mascha Kaléko beschreibt dies sehr eindrucksvoll: »Du suchst und suchst, und kannst den Sinn nicht finden, Gib՚s auf, denn so wirst du ihn nicht ergründen. Zieh deines Weges und träume vor dich hin: wie oft enthüllt im Unsinn sich der Sinn.«4 Der Unsinn Bernhards wird zum Sinn für den, der Einsicht in die Unmöglichkeit eines richtigen Lebens erlangt hat. Eigentlich müsste man am Leben verzweifeln und so zu Grunde zu gehen. Aber man lebt und möchte leben. Das Lachen Bernhards ist keine Negation der Verzweiflung, vielmehr deren Bestätigung. Das Leben ist zum Verzweifeln, wenn man es ernst nimmt. Da man aber letztlich am und im Leben scheitern muss, ist das Lachen die gebührende Antwort auf die Verzweiflung. Wie heißt es doch das Motto von Nietzsches Die Fröhliche Wissenschaft: »Ich lache jeden Meister aus, der sich selber nicht ausgelacht.«5 Nietzsches Fröhliche Wissenschaft ist, gemäß seiner Vorrede, das Resultat einer dankbaren Gesundung. So deute ich auch das Lachen Bernhards. Es ist ein gesundes Lachen, geboren aus der Einsicht in die Lebensunmöglichkeit. Keinen Möglichkeitssinn zu sehen, heißt laut Kierkegaard, zu verzweifeln.6 In diesem Sinne ist die Verzweiflung tief in das Lachen Bernhards eingeschrieben. Das Lachen trägt die Spur der Verzweiflung. Bei jedem Lachen lauert die Verzweiflung gleich hinter der nächsten Ecke. Jederzeit kann sie den Lachenden ergreifen, so dass das Lachen verstummt. Die Totalität des Ernstes tritt ein und lähmt den Lachenden. Das Lebensunmögliche lässt verzweifeln, aber es lässt sich in ein Objekt des Lachens verwandeln. Das ist die Lebenskunst Bernhards, die ihm oft, aber natürlich nicht immer gelungen ist. Ich möchte im Folgenden die Verzweiflung 4 5 6

Kaléko, Werke 1, 603. Nietzsche, 343. Siehe vor allem hierzu Kierkegaard, 38–46.

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als Lebensunmöglichkeit anhand einiger ausgewählter Werke Bern­ hards thematisieren. Ich tue dies auch mit dem Ziel, das Lachen Bernhards besser zu verstehen. Und auf diesem Wege, »naturgemäß« wie Bernhard sagen würde, verstehe ich hoffentlich auch mehr über die Verzweiflung als solche. Sie gehört zum Menschsein. Ich habe die Vermutung, dass es eigentlich kein Lachen jenseits des impliziten oder expliziten Wissens um die Verzweiflung gibt. Gerade wenn das Lebensunmögliche als Realität da ist, verzweifelt man. Das gehört auch zum Menschsein. Bernhards literarische Kunst ist dann als existenzielle Transformationskunst zu charakterisieren: Er schafft das Wunder, die Verzweiflung in ein befreites Lachen zu verwandeln. Er entwickelt ein Lachprogramm auf dem Boden der Verzweiflung. Sein Lachen ist ansteckend. Vielleicht liegt hier ein Erklärungsgrund für seine enorme Popularität. Es besteht kein Zweifel, dass auch ich davon unheilbar angesteckt wurde. In der Biografie Bernhards gab es vom Anfang an wenig zu lachen. Seine autobiografischen Werke, die sich mit seiner Kind­ heit befassen, erzählen hiervon ausführlich.7 Seine Kindheit und sein Schulgang waren von Einsamkeit, Krankheit und schmerzlicher Ungewissheit geprägt. Die ehrliche Art und Weise, wie Bernhard dies beschreibt und dabei lacht, ohne den Ernst zu verlieren (oder platt zu werden) oder selbstdestruktiv zu werden, ist sehr eindrücklich und tief bewegend. Ein durchgängiges Thema ist die Verzweiflung und die damit aufs Natürlichste verbundene Todesfrage. Im Folgenden konzentriere ich mich auf eher unbekannte Texte Bernhards. Ich gehe nicht chronologisch vor, sondern habe Werke ausgewählt, in denen unterschiedliche Aspekte der Verzweiflung deutlich werden.8 In jedem Werk trifft man auf Lebensunmöglichkeiten, die den Prota­ gonisten verzweifeln lassen. Wie erscheint und was erscheint hier als lebensunmöglich? Und wie wird damit umgegangen? Die literarische Kunst Bernhards besteht hier gerade darin, anhand der (tödlichen) Verzweiflung die ihr entgegengesetzte Lebensbejahung und teilweise auch das Lachen hervorleuchten zu lassen.

Die autobiographischen Schriften befinden sich in der Werkausgabe, Band 5. Es handelt sich um Werke, die teilweise nicht so bekannt sind wie beispielsweise Verstörung, Der Untergeher, Alte Meister, Holzwege und Auslöschung.

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Wittgensteins Neffe: Todesverzweiflung Wittgensteins Neffe gehört zu den wärmeren Texten Bernhards, weil er von einer tiefgehenden Freundschaft handelt. Hier treffen sich zwei seelen- und geistesverwandte wie kranke Menschen. Wir treffen auf den liebenden, lustigen und komisch-sarkastischen Bernhard und seine Deutung einer Seelenverwandtschaft mit Paul Wittgenstein, trotz aller Unterschiede. Der Autor Bernhard vergleicht die beiden Protagonisten und Freunde, Bernhard und Wittgenstein, und arbeitet so die Vielschichtigkeit der Freundschaft heraus. Ein Beispiel: »Der Paul ist verrückt geworden, weil er sich auf einmal gegen alles gestellt hat und naturgemäß dadurch umgeworfen worden ist, wie ich umgeworfen worden bin eines Tages, weil ich mich wie er gegen alles gestellt habe, nur ist er verrückt geworden aus demselben Grund, aus dem ich lungenkrank geworden bin.«9 Gegen Ende des Textes setzt allerdings eine Stimmung ein, die Momente von Verzweiflung hat, jedoch ohne dabei in ein verzweifeltes Klagelied zu münden. Es han­ delt sich eher um die Ratlosigkeit, wie er denn mit dem wahnsinnigen und im Sterben liegenden Paul umgehen soll. Er beschreibt hierbei sein eigenes Scheitern, ohne sich dabei moralisch zu verurteilen. Kann er nur scheitern? Aber wenn dies der Fall sein sollte, wäre das dann nicht eine Tragödie von tiefster Tragweite? Bernhard schreibt: »Ich getraute mich nicht, ihn anzusprechen. Ich ertrug lieber mein schlechtes Gewissen als die Begegnung mit ihm. Ich beobachtete ihn und ging, mein schlechtes Gewissen unterdrückend, nicht auf ihn zu, ich fürchtete ihn auf einmal. Wir meiden die vom Tod Gezeichneten und auch ich hatte dieser Niedrigkeit nachgegeben. Ich mied in den letzten Monaten seines Lebens meinen Freund ganz bewusst aus dem niedrigen Selbsterhaltungstrieb, was ich mir nicht verzeihe. [...] Ich bin kein guter Charakter. Ich bin ganz einfach kein guter Mensch. Ich zog mich von meinem Freunde zurück wie seine anderen Freunde auch, weil ich mich wie diese, vom Tod zurückziehen wollte. Ich fürchtete die Konfrontation mit dem Tod.«10

Der Autor Bernhard, seit seiner Kindheit mit dem Tod konfrontiert, scheut das Sterben und den Tod seines Freundes. In Wittgensteins Neffe beschreibt Bernhard diese Erfahrung nüchtern und ohne Pathos. 9 10

Bernhard, Werke 13, Wittgensteins Neffe, 226. Ebd., 297f.

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Er stellt die Tatsache seines Scheiterns dar und verzichtet, trotz des Befundes, dass er kein guter Mensch sei, auf jegliche Moralisierung in irgendeiner Hinsicht. Er hätte ein Drama daraus machen können, indem er sich mit Idealen hätte vergleichen und angesichts dieser verurteilen können. Aber Bernhard verzichtet darauf. Darin liegt eine ehrliche Klarheit im Text. Er verdeckt nichts und schlägt keine Interpretationen vor. Dies wird in den zwei letzten Sätzen deutlich: »Er [Paul W., H.H.] liegt, wie gesagt wird, auf dem Wiener Zentral­ friedhof. Sein Grab habe ich bis heute nicht aufgesucht.«11 Dazu kommt, dass Bernhard nicht die Rede gehalten hat, die sich Paul zu seinem Begräbnis gewünscht hat: »Zweihundert Freunde werden bei meinem Begräbnis sein und Du musst an meinem Grab eine Rede halten, hatte der Paul zu mir gesagt.«12 Warum kann man hier von Verzweiflung sprechen? Bernhard scheitert an der Endlichkeit des Lebens. Der Tod ist eine Grenze, die sinnvolles Handeln ins Absurde führt. Was hätte Bernhard für seinen Freund tun können? Alles wäre falsch. Es gibt kein richtiges Handeln, selbst in einer tiefen Freundschaft, dem Sterben und dem Tod gegenüber. Die Realität des unmittelbar bevorstehenden Todes des Freundes treibt Bernhard in ein Nicht-Handeln. Er tut nichts, weil er nichts hätte tun können. Er ist wie gelähmt. Wir treffen hier auf eine Lebensunmöglichkeit des Freundes Bernhard. Das Leben erscheint in Rücksicht auf seinen Freund lebensunmöglich. Dass es so ist, ist aber ein Ausdruck der Verzweiflung. Das Lesen seiner Sätze macht verzweifelt, weil man der Ausweglosigkeit der Konfrontation mit dem Tod ausgesetzt wird. Die klare Beschreibung seines Scheiterns 11 Ebd., 307. Baum legt diese Sätze, von Derrida her, aus als eine »Spannung zwischen Vergegenwärtigung und Totenrede. Das Zitat [d.h. der ausgesprochene Wunsch Paul Wittgensteins, H.H.] erinnert an die Stimme des Freundes und streicht doch zugleich, wie die den gesamten Text rahmende Bitte um eine Grabrede, das Leben nachdrücklich durch.« (Baum, 91) Baum legt eine tiefsinnige Analyse von Wittgensteins Neffe vor, indem er sie mit Derridas Theorie der Freundschaft vergleicht. Ob man jedoch sagen kann, dass der Freund »gespenstisch« (ebd., 93) wirkt, bleibt zu fragen. Für Baum bestätigt Bernhard die These, dass die Liebe und das Gespenstische zusammengehören, weil die Beschreibung der Freundschaft nur in der »Absenz des Anderen« (ebd., 95) den ihr angemessenen Horizont hat. Baum schreibt: »Wenn die Liebe und das Gespenstische miteinander verwandt sind, dann ermöglichen das Medium der Schrift und die Rede von der Freundschaft ihr Erscheinen. Dann ist auch die Literatur nichts anderes als eine Liebeserklärung an das, was nicht ist, ohne freilich nichts zu sein.« 12 Bernhard, Werke 13, Wittgensteins Neffe, 307.

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macht diese Aussetzung nackt. Es gibt nichts zu beschönigen, aber auch nichts zu dramatisieren. Die Lebensunmöglichkeit sieht jeder ein. Aber das ist gerade das beste Beispiel dafür, dass Mensch zu sein heißt zu verzweifeln. Man will etwas tun, aber die Konfrontation mit dem Tod setzt die Handlungsfähigkeit außer Kraft und macht hilflos. Der Tod macht ratlos, weil der Tod die Lebensmöglichkeiten vernichtet, nicht nur für den Sterbenden, sondern auch für den Freund. Bernhard beschreibt also eine verzweifelte und d.h. lebensunmögliche conditio humana in der Konfrontation mit dem Tod. Sterbebegleitung wird per se unmöglich, man kann nur scheitern, weil der »Tod alles lächerlich macht«.13 Wittgensteins Neffe endet mit der Einsicht in die Unmöglichkeit, sinnvoll auf den Tod anderer, und sei es auch den des besten Freundes, zu reagieren. Vielleicht ist Resignation gegenüber und angesichts dieser Einsicht das Einzige, was man tun kann.

Gehen: Verzweiflung als Ausweglosigkeit des Verstandes Gehen als Weg gegen die Verzweiflung: Karrer und Oehler gehen und denken, obwohl sie im Gespräch herausgefunden haben, dass man beide Aktivitäten nicht gleichzeitig tun kann. Sie versuchen es dennoch. So arbeiten sie gegen die Verzweiflung, denn so lange sie gehen, verarbeiten sie das, was sie an der Realität verzweifeln lässt. Sie denken und stellen fest, dass der Verstand, soll er sich selbst treu sein, nur das Leben negieren kann. Daran kann man eigentlich nur verzweifeln. Der Verstand sieht das Unmögliche des Lebens. Seine Konsequenz ist die Negation des Lebens. Er ist der Lebensunmöglichmacher [mein Begriff, H.H.]. Man lebt als Mensch darum trotz der negativen Logik des Verstandes. Es ist unmöglich, zu leben und gleichzeitig mit dem Verstand zu denken. Karrer verzweifelt am Schicksal seines Freundes, Herrn Hollen­ steiner, der am Staat zugrunde ging; das wissenschaftliche Genie durfte nicht leben. Diese Grausamkeit verfolgt Karrer. Das Gehen hebt nicht die Tatsache auf, dass Karrer mit diesem Schicksal nicht klarkommt. Gerade hier entsteht Karrers Einsicht in die Verzweiflung: Das Weiterleben wird unmöglich. Es kommt zum Ausbruch des Wahnsinns bei Karrer. In Gehen tritt die Verzweiflung als Stillstand 13

Bernhard, Werke 22,2, Rede zum Österreichischen Staatspreis für Romane, 23.

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Der Tod macht alles lächerlich

im Wahnsinn auf die Bühne. Dieser Ausbruch ist identisch mit der Erkenntnis der Ausweglosigkeit seiner Existenz. Es gibt keine Lebensmöglichkeiten. Oehler ist der Meinung, es musste bei Karrer so kommen. Karrer nimmt die Lebensunmöglichkeit wahr, erkennt sie und wird wahnsinnig. Bernhard zeigt dies anhand einer Episode im Rustenschacher՚schen Hosenladen auf: Entgegen der Aussage des Verkäufers hält Karrer an seiner Überzeugung fest, dass es sich bei den Hosen um »tschechoslowakische Ausschußware«14 handelt. Karrer beharrt auf seiner Meinung und wird leblos. Es gibt kein Gehen. Karrer steht still in seinem Beharren auf der Richtigkeit seiner Überzeugung. Die sich selbst repetierende Leblosigkeit von Karrer im Hosenladen ist Zeichen seines eingetretenen Wahnsinns. Vielleicht ist das Denken ohne ein Gehen der Weg in den Wahnsinn? Oder ist das Denken, das nie aufhört, der direkte Weg zum Verrücktwerden? Muss man aufhören zu denken, um nicht verrückt zu werden? Aber, was ist ein Leben ohne Denken? In Gehen führt Bernhard in den ambivalenten Wert des Denkens für das Leben ein. Die Lebensunmöglichkeit von Karrer ist an sich ein Ausdruck für die Verzweiflung am Leben. Und für Karrer wird das Leben unter anderem dadurch unmöglich, dass Hollensteiner nicht leben konnte. Warum wird das Leben lebensunmöglich für diejenigen, die denken und eben dieses Denken als etwas verstehen, was gegen den Selbstbetrug schützt? Sieht Karrer das Leben in seiner Nacktheit und wird darum wahnsinnig? Ich lese Gehen als eine verzweifelte Frage: Was bedeutet eigent­ lich Denken für den Denkenden? Wozu führt Denken? Die Erzählung endet mit Karrers Version der vita contemplativa: »Ich mache die Augen zu und lege meine flachen Hände auf die Bett­ decke und verfolge den ganzen vergangenen Tag mit großer Intensität, so Karrer. Mit einer sich immer noch steigernden, einer immer noch zu steigernden Intensität, so Karrer. Die Intensität ist immer noch mehr zu steigern, kann sein, einmal überschreitet diese Übung die Grenze zur Verrücktheit, darauf kann ich aber keine Rücksicht nehmen, so Karrer. Die Zeit, in welcher ich Rücksicht genommen habe, ist vorbei, ich nehme keine Rücksicht mehr, so Karrer. Der Zustand der vollkommenen Gleichgültigkeit, in welchem ich mich dann befinde, so Karrer, ist ein durch und durch philosophischer Zustand.«15 14 15

Bernhard, Werke 12, Gehen, 187. Bernhard, Werke 11, Gehen, 227.

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In dieser Form der vita contemplativa ist wenig Platz für Leben. Denn Leben hieße vielleicht, laut Karrers Logik, Rücksicht auf die Gleichgültigkeit zu nehmen. Karrers Denken ist ein Gehen in den Tod hinein.16 Vermutlich ist die Gleichgültigkeit eben das Andere des Todes. In diesem Sinne ist Denken tötend.17 Man könnte dem­ gegenüber erwägen, ob nicht gerade Karrer sein Leben durch die Radikalität des Denkens rettet? Er verliert sein Leben und bekommt es zurück, aber im Zustand der Verrücktheit. Ungeachtet wie man Karrer interpretiert, alles ist ausweglos und darin liegt die Verzweiflung dieser Erzählung. Das Denken Karrers wird zu einem Denken ohne Faktizität, das sinnliche Element des Denkens, das Denken in Bildern verschwindet zugunsten einer logischen Strenge, einer Abstraktheit, einer Wirk­ lichkeitsentleerung, die letztendlich Karrer in den Wahnsinn treibt. Es ist ein Denken ohne Erfahrung. Es brichts nichts Neues in das Denken ein, sondern alles bleibt in der Negation bestehen. Es gibt keinen Widerstand mehr, alles wird nur wiederholt, das Denken wird ein lebloses Denken. In diesem Sinne holt sich Karrer den Tod in das Denken. Seiner logischen, kompromisslosen Strenge entspricht nur die Leblosigkeit, also der Tod. Das Denken hört auf sich zu bewegen. Karrer ist tot, obwohl er noch lebt. Das ist der Zustand seines Wahnsinnes. Der Augenblick spricht nicht mehr, er darf auch nicht sprechen, denn Karrer hat sich immunisiert. Karrers Denken ist nicht mehr ansprechbar und respondiert nicht mehr auf Reize von außen. Die Immunisierung seines Denkens ist das Programm seines Denkens. Das Leben wird so unmöglich.

Beton: Die Verzweiflung des Geistesmenschen Der kurze Roman Beton ist als Leseerlebnis eine Einübung in das Scheitern am Schreiben einer wissenschaftlichen Arbeit über Men­ Gargani hebt die Unmöglichkeit des Denkens bei Bernhard hervor: »In Bernhards Werk ist das Denken ein Durchbrechen der kohärenten Linearität der Begriffe, das in die Richtung einer Übung geht, die jeden Begriff, jeden Zustand, jedes Wort in sein Gegenteil und dann in seine tödliche Unmöglichkeit hineinführt.« (Gargani, 45). 17 Gargani schreibt über dieses Denken: »Das Denken wird zum unbarmherzigen Zwang, das Ding – jedes betrachtete Ding –, bis zum Verlust jeder Kenntnis und jedes Wissens zu zerlegen.« (ebd., 49). 16

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delssohn. Rudolf, die Hauptfigur, kommt nicht zum Schreiben und reflektiert über sein Scheitern daran. Im Zentrum steht also die Unmöglichkeit, an seinem Projekt konzentriert weiterzuarbeiten. Es handelt sich dabei um das Scheitern eines Geistesmenschen. Das Projekt wird unmöglich gemacht, weil das Leben an sich unmöglich ist. Es gibt für Rudolph nicht die Möglichkeit voranzukommen. Woran scheitert er? Er scheitert an seiner Schwester, er scheitert an sich selbst und seiner Versagensangst und er scheitert letztendlich an der mitlei­ denden Teilnahme des Schicksals von Anna Härdtl. Seine Schwester beschreibt er als eine geistfeindliche Figur. Ihre Anwesenheit bei ihm, ja selbst ihre bloße Anwesenheit in seinem Bewusstsein nach ihrer Abreise, hindert ihn am konzentrierten Schreiben. Allerdings sieht er, dass das Problem auch bei ihm liegt. Er flüchtet von seinem Vorhaben, eine wissenschaftliche Arbeit über Mendelssohn zu schreiben, durch Kleinigkeiten des Alltags. Um von sich loszukommen und seine Schreibhindernis zu überkommen, reist er nach Mallorca. Hier aber geht er in der Erinnerung an Anna Härdtl auf, die er zufällig bei seiner letzten Mallorca-Reise kennengelernt hat. Sie verlor ihren Mann, der, entweder durch Unfall oder Suizid, vom Balkon des Hotel­ zimmers stürzte. Das Ehepaar war nach Mallorca gereist, um sich von den schwierigen Lebensumständen daheim zu erholen. Denn sie waren verzweifelt »auf dem Höhepunkt des Nichtmehraushaltens«18. Rudolph besucht das Grab des Mannes und sieht dabei auch den Namen Anna Härdtl. Hier endet der Roman. Wir erfahren nur, dass Rudolf, nachdem er mehrere Schlaftabletten einnahm, nach sechsundzwanzig Stunden Schlaf »in höchster Angst«19 erwacht. Der Umschwung von der Verzweiflung zur Angst geschieht als Mitleid für Anna Härdtl. Mitleid löst Rudolph innerlich auf. Er kann nichts machen, nichts kann sich ändern, das Leben ist Beton. Die Betonlogik führt dazu, dass Anna Härdtl ihrem Mann durch Suizid nachgefolgt ist und dass sie und ihr Mann nun auf dem Betonfriedhof von Mallorca beerdigt wurden. Beton ist ein Ausdruck einer Verzweiflung am Leben selbst. Die einfache, aber durchaus von einer tiefen Verzweiflung zeugende These lautet, dass alles unmöglich ist, weil immer etwas dazwischenkommt. Ob es sich um den Stumpfsinn anderer oder um tragische Schicksale handelt, das Leben erscheint als Beton für den Geistesmenschen 18 19

Bernhard, Werke 5, Beton, 115. Ebd., 131.

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Rudolf. Der Beton ist hart, er verletzt sich daran und kommt so mit seinem Vorhaben nicht weiter. Geistesarbeit ist unmöglich, das einzige Mögliche, bleibt die Rede über eben diese Unmöglichkeit. »Anstatt über Mendelssohn, schreibe ich diese Notizen, denke ich.«20 Es wird nirgends gesagt, dass die Arbeit über Mendelssohn sinnlos sei. Vielmehr ist es die Verzweiflung darüber, dass er nicht dazu kommt, weiterzuarbeiten, die ihm aufgrund seines Mitleids sinnlos erscheint. Es geht um die Sinnlosigkeit der verzweifelten Rede über das Scheitern des Schreibens. Mit Jon Fosse könnte man sagen, dass die Verzweiflung in der Musik des Bernardschen Schreibens steckt.21 Bernhard berichtet leicht, klar und deutlich, aber das Leben erscheint für Rudolph zunehmend als harter Beton. Es ist unmöglich für den Protagonisten etwas Bestimmtes über Mendelssohn zu denken und dieses Gedachte in sinnvollen Sätzen niederzuschreiben. Es kommt immer Beton dazwischen. Möglich ist nur das Schreiben über diese Unmöglichkeit, aber das ist ja schon mal etwas. Es geht um die Beschreibung eines scheiternden Prozesses, an der aber nicht der Autor selbst scheitert. Ihm ist ja der Roman gelungen. In diesem Sinne schreibt Gargani präzise über das Verhältnis des Autors Bernhard zu seinem Erzählen: »Bernhards Erzählen ist die Geschichte und die Rekonstruktion der Sätze anderer und legt die kritische Schwelle offen, an der die Figuren, das heißt die Autoren von Sätzen, jene Grenzen überschreiten, an der sie zum Wahnsinn und zur Zerstörung hin fortgerissen werden. Eben deshalb konzentriert sich das Erzählen Bernhards auf den Ort des Schreibens, das die Verzweiflung und die Auflösung der Perso­ nen überlebt, die durch ihre Sätze schrittweise zur Verrücktheit, zur Bewusstseinsspaltung und zur endgültigen Auflösung, zum natürli­ chen Tod oder zum Selbstmord gebracht werden.«22

Der Roman Beton thematisiert und problematisiert das Schreiben als ein solches, indem es zeigt, wie irrelevant die Frage nach dem Schreiben angesichts des Lebens ist. Das Leben negiert das Schreiben Ebd., 130. Der norwegische Weltdramatiker Jon Fosse sagt: »Die Verzweiflung steckt in der Musik seines Schreibens. Und diese Musik kommt in den Romanen am besten zum Ausdruck.« Vgl.: https://thomasbernhard.at/das-werk/literarische-antworten-auf -bernhard/ (25.8.2022). Ich würde ergänzen, dass die Erzählungen, wie hoffentlich ersichtlich wird, dazu gehören. 22 Gargani, 55f. 20 21

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und versetzt den Schreiber in Angst. Dies aber darzustellen, impliziert einen Schreiber, der sich schon jenseits des Lebens befindet. Das ist Bernhard selbst. Er vermag, das Unmögliche zu beschreiben, und bestätigt somit die idealistische These des frühen Schelling, dass die Kunst das darstellt, was die Philosophie oder das Leben so nicht darstellen kann.23 Die literarische Kunst dokumentiert das Scheitern und ist somit eine Sprache der Negativität. Weil sie aber eine Kunstsprache ist, ist sie gleichsam eine ironische Sprache, die Distanz vermittelt und so in ein diabolisches oder heiteres Lachen münden kann, selbst da, wie im Fall vom Anna Härdtl, wo das Leben an sich grausam ist. Wie lange man lachen kann, bevor die Verzweiflung einen packt, ist eine andere Frage.

Ja: Verzweiflung als schweigende Negation Hat im Beton das Reden über das Scheitern noch einen Sinn, verliert im Ja alles Reden seinen Sinn. Für den Ich-Erzähler hat sich durch die Begegnung mit der sogenannten Perserin eine neue Existenz eröffnet. »Meine Existenz schien wieder möglich zu sein.«24 Sie reden über Philosophie, Literatur und Musik. Der Ich-Erzähler ist befreit. Es gibt im Ja wunderschöne Sätze, die die neue Existenzmöglichkeit beschreiben. »Es ist schön, mit einem Menschen zusammen zu sein, für den die eigenen Begriffe ebenso klar und ebenso bestimmend sind, wir für einen selbst. In der Perserin hatte ich auf einmal einen solchen tatsächlich als ein Glücksfall aufgetretenen Menschen«.25 Es bleibt aber nicht bei diesem Idyll der Beziehung. Als er sie einst fragte, ob sie sich umbringen werde, hat sie Ja gesagt, und zwar lachend. Hier ist, typisch für Bernhard, die Verzweiflung in das Lachen eingeschrieben. Für die Perserin ist alles absurd geworden. Mit ihrem Ja hat sie die Schlussfolgerung daraus gezogen. Der Ich-Erzähler hat nur die Umsetzung des Ja aufgehalten. Die Entscheidung der Perserin war schon getroffen, obwohl sie dem Erzähler gesagt hat, dass er sie gerettet habe.26 Sie lässt auch den Ich-Erzähler in verzweifelter 23 24 25 26

Schelling, 2000, 299. Bernhard, Werke 13, Ja, 62. Ebd., 101. Ebd., 99.

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Ratlosigkeit zurück, wenn sie ihm sagt, er sei ein absurder Mensch und er solle sie allein lassen.27 Die Erzählung deckt Abgründe der Verzweiflung als Lebensun­ möglichkeit auf. Wovon man hofft, dass es einem Existenzmöglich­ keiten eröffnen wird (dafür stehen in der Erzählung Schumann und Schopenhauer), das fällt ab ins Nichts. Die Perserin bleibt ihrem Ja treu – wenigstens das. Mit der Realisierung ihres Ja hebt sie ihr Lachen auf. Gibt es nun mehr zu lachen? Die Erzählung Ja ist eine extrem pessimistische Erzählung. Das Lachen der Perserin beim Ja sagenden Beantworten der Frage, ob sie sich umbringen werde, wird durch ihren Suizid gnadenlos durchgestrichen. Der Tod macht auch das Lachen lächerlich. Das Lachen verstummt. Alles wird lächerlich. Nichts wird ausgespart. Die Erzählung führt das Sprechen über die Lächerlichkeit ad absurdum. Die Erzählung hinterlässt aber dennoch den Eindruck, dass man nicht die radikale Konsequenz der Perserin als Aufforderung zum Selbstmord verallgemeinern darf. Die Rede der Protagonisten über Schumann und Schopenhauer ist an sich nicht so sinnlos, wie das Schicksal der Perserin es nahelegt. Zur Illusion wird eher die Bedeutung, die dieser Rede über Schumann und Schopenhauer vom Ich-Erzähler zugemessen wird, weil er sie mit dem Leben selbst verwechselt hat. Der Ich-Erzähler sieht dies selbst ein, wenn er vom »Willen zum Scheitern« spricht. »Es gibt ja nur Gescheitertes. Indem wir wenigstens den Willen zum Scheitern haben, kommen wir vorwärts und wir müssen in jeder Sache und in allem und jedem immer wieder wenigstens den Willen zum Scheitern haben, wenn wir nicht schon sehr früh zugrunde gehen wollen, was tatsächlich nicht die Absicht sein kann, mit welcher wir da sind.«28 Das verzweifelte Problem der Erzählung ist, dass das Lebensmögliche, das durch die Begegnung mit der Perserin für den Ich-Erzähler eröffnet wird, gerade das Lebensunmögliche für die Perserin ist. Sie ist in ihrem depressiven und vom Leben enttäuschten Entschluss, dem Leben ein Ende zu setzen, gefangen. Das Gespräch mit dem Ich-Erzähler über »Schumann und Schopenhauer«29 stürzt sie eigentlich nur noch tiefer Ebd., 107. Ebd., 35. 29 Schumann und Schopenhauer sind in der Erzählung die Referenzpunkte der Gespräche über Philosophie und Musik. Allerdings geht es auch um die Tatsache, dass Schumann und Schopenhauer ihre Lebensbedeutung verloren haben: »Und diese Tatsache, weder durch Schopenhauer noch durch Schumann gerettet zu werden, diese fürchterliche Erfahrung, dass es möglich ist, gegenüber Schopenhauer wie gegenüber 27

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in die Lebensunmöglichkeit, als dass sie hier, durch den Philosophieund Musikdiskurs, Rettung erfahren kann. Letztendlich bleibt es bei der Erkenntnis: »Alles an allen Menschen ist nichts als Ablenkung vom Tode.«30

Verzweiflung als Lebensunmöglichkeit: Bernhard und die Philosophie »Es ist nichts zu loben, nichts zu verdammen, nichts anzuklagen, aber es ist vieles lächerlich; es ist alles lächerlich, wenn man an den Tod denkt.«31 Der Tod ist das Andere. Bernhard denkt dieses Andere. Er sucht das Leben in der Nähe des Anders-seins des Todes auf. Darin liegt Bernhards Realismus. Es ist Lebensrealismus vom Tode her und Todesrealismus vom Leben her: Das Leben enthüllt sich als das, was es ist, vom Tode her, sowie der Tod vom Leben her als das Andere erscheint. In diesem Sinne ist Bernhards Realismus ein negativer Realismus. Die Figuren sind umhüllt von Negativität. Für sie ist Sein ein Wunder. Dieses Sein drückt sich aus als Mitmenschlichkeit durch Freundschaft, Gespräche über Musik oder als Irritation. Abgesehen von der Bedeutungstiefe einiger wenigen Begegnungen ist alles vom Tod gezeichnet. Das Leben erscheint leblos. An dieser Leblosigkeit verzweifeln die Figuren Bernhards. Das Leblose ist das Zurückge­ worfensein auf sich selbst. Sein drückt sich demgegenüber als eine eine unmögliche Möglichkeit in der absoluten und verzweifelnden Unmöglichkeit aus. Der Tod als das Leblose ist die absolute Einsam­ keit, die nicht auszuhalten ist. Oder er ist das Tragische, das wir bei anderen nicht ertragen können. Das Leben mit dem Sterben anderer erscheint unmöglich. Nur das eigene Sterben ist vielleicht erträglicher – wie es z.B. Mascha Kaléko schreibt: »Vor meinem eignen Tod ist mir nicht bang, Nur vor dem Tode derer, die mir nah sind. Wie soll ich leben, wenn sie nicht mehr da sind? […] Bedenkt: den eignen Schumann tatsächlich in Geist und Gehör tot zu sein, dieses Erstemal dieser Entde­ ckung, der Philosophie wie auch der Musik gegenüber vollkommen immun zu sein, hatte mich wahrscheinlich in diesen Zustand des tatsächlichen Nichtmehraushaltens meines Wesens, meines Kopfes und meines Körpers, gestürzt und ich war aus dem Haus und durch den Wald zum Moritz.« (ebd., 92) 30 Ebd., 61. 31 Bernhard, Werke 22,2, Rede zum Österreichischen Staatspreis für Romane, 23.

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Tod, den stirbt man nur, Doch mit dem Tod der anderen muß man leben.«32Bernhards Schreibkunst ist Ausdruck eines Denkens über die Unmöglichkeit zu leben. Der Verzweiflung im Denken Bernhards nachzugehen, das heißt, diese Unmöglichkeit wahrzunehmen. In der Wahrnehmung aber erscheint vieles lächerlich. Diese Lächerliche zu sehen, ist eine Überlebensperspektive. Die Komik in der Tragödie verleiht Heiterkeit in der Lebensunmöglichkeit. Die Verzweiflung ist eine Grundstimmung im Schreiben Bern­ hards. Jeder Satz ist von ihr durchdrungen. Darum ist von ihr selten explizit die Rede. Eine philosophische Begriffsbildung der Verzweif­ lung kann von der Stimmung der Verzweiflung nicht absehen. In diesem Sinne ist man der Verzweiflung näher, wenn man sie in der Form wahrnimmt, wie sie bei Bernhard erscheint, als wenn man sie als abstraktes Phänomen durchdenkt. Die Verzweiflung ist bei Bernhard sinnlich, sie hat Gesichter, sie formt Schicksale, sie eröffnet die Teilhabe an Denkmöglichkeiten, die nur in der literarischen Form zur Sprache gebracht werden können. Die Frage, die sich nach der Lektüre Bernhards stellt, ist, welchen Wert eigentlich das Leben hat? Ist Leben nur Selbstquälerei, weil wir alle am Tod scheitern? Bernhard beschreibt dieses Scheitern am Tod auto­ biografisch in Wittgensteins Neffe und literarisch in den drei anderen Werken. Der Wert des Lebens liegt in der Möglichkeit, das Leben zu denken, obwohl die Herren Oehler und Karrer in Gehen dies geradezu vehement bestreiten. Bernhards Schreiben ist literarische Denkkunst. Sie denkt das Scheitern und bringt es zur Sprache. Die Versprachli­ chung des Denkens über das Leben ist ein Möglichkeitsraum, in dem Perspektivierungsprozesse stattfinden können; nicht nur für den Schreiber, sondern für jeden Leser. Was hat Sinn, was hat Gewicht, was hat Bedeutung trotz oder vielleicht aufgrund der Lächerlichkeit des Lebens? Vielleicht entdeckt man hierbei, dass eben das Denken, und das heißt in diesem Fall, die Fähigkeit zur Perspektivierung, eine Untätigkeit ist, die Freiheit verleiht. Darum wird man ihr, wie Dávila schreibt, nicht überdrüssig.33 Ich glaube, hier ist der Ort, an dem Bernhard sich Kraft zum Leben und zum Schreiben geholt hat. Er entdeckte die Freude am Denken und so auch daran, dieses Denken 32 33

Vgl. Kaléko, Werke 1, 227. Die Zeilen sind dem Gedicht »Memento« entnommen. Siehe Zitat zur Fußnote 1.

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literarisch zur Sprache zu bringen. Thomas Bernhard, ein Philosoph und Künstler! Seine Werke vermitteln die Freude des Autors am Denken, denn darin liegt die Möglichkeit, die Verzweiflung zeitweilig zu vergessen. Er nimmt schreibend das Leben aus der Perspektive seiner Lächerlichkeit wahr. Seine Denkkunst glänzt und darin liegt sein wunderbarer Wert – ein Wert, den man als Kunst genießen kann und an dem man eben nicht notwendigerweise verzweifeln muss. Aber letztendlich führt das Lesen der Sätze Bernhards in die Verzweif­ lung, wenn man nicht im Stande ist, eine ironische Distanz zum Autor zu bewahren. Macht man sich die Weltanschauung vieler seiner Protagonisten zu eigen, wird es unmöglich, zu leben. Das führt in die Verzweiflung und kann tödlich enden. Das Denken sondert sich als letzte Instanz des Überlebens im Angesicht der Verzweiflung ab, aber das Resultat dieser Absonderung ist tödlich. Der Wahnsinn ist der Vorhof des Todes. Durch Bernhard wird man gewahr, wie gefährlich das Konsumieren von Literatur sein kann, wenn man sich zu sehr davon beeinflussen lässt. Die Einflussnahme seines Schreibens auf den Leser ist vehement. Führt das Lesen nicht in das Lachen, führt es in die starre Leblosigkeit. Bernhards Sätze machen frei, aber sie machen auch das Leben unmöglich. Darin steckt die Ambivalenz seiner großartigen, literarischen Kunst. Lachen und Verzweiflung gehen Hand in Hand. Die Tatsache, dass bei Bernhard Verzweiflung und Lachen Hand in Hand gehen, macht das Problematische aus. Aber gerade, weil es problematisch ist, zeugt Bernhards Werk von einer eigenartigen Lebendigkeit, die in ihrer Einzigartigkeit den Leser tief zu beeinflussen vermag – ob zum Guten oder zum Schlechten, ist eine andere Frage.

Literatur Baum, Michael: Überleben in Freundschaft. Thomas Bernhard/Jacques Derrida. Wien: Passagen 2011. Bernhard, Thomas: Werke in 22 Bänden, Berlin 2018. Gargani, Aldo Giorgio: Der unendliche Satz. Thomas Bernhard und Ingeborg Bachmann, Wien 1997. Dávila, Nicolás Gómez: Unzeitgemäße Betrachtungen, Berlin: Matthes & Seitz 2022. Kaléko, Masha: Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden, München: dtv 2012. Kierkegaard, Sören: Die Verzweiflung zum Tode, Stuttgart: Reclam 1997.

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Henrik Holm

Nietzsche, Friedrich: Die Fröhliche Wissenschaft, in: Ders.: Sämtliche Werke, Kritische Gesamtausgabe, Band 3, München/Berlin/New York: de Gruyter 1980, 343–651.

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Über die Macht der Ohnmacht Theodor W. Adornos Reflexionen auf das Phänomen der Verzweiflung

Die Frage nach Adornos Reflexionen auf das Phänomen der Verzweif­ lung kann nicht gestellt werden, ohne dass sie sich auf ein mittlerweile tradiertes Urteil über den Adorno’schen Negativismus verwiesen findet. Gemäß der praktischen-politischen und theoretisch-philoso­ phischen Kritik an der Philosophie Adornos ist es nämlich gerade deren ›resignativer Charakter‹, an der sich ihr ›Scheitern‹ ablesen lasse. So brachte etwa die Kritik der Aktionsmodelle und des Opti­ mismus der ›Neuen Linken‹ dem ›Praxisverweigerer‹ Adorno von Seiten des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes den Vorwurf ein, dessen Negativismus bliebe mit seinem Gestus der »gehobene[n] Verzweiflung«1 in »kritischer Ohnmacht«2 stecken und erstarre so in »Unveränderbarkeits-Theoremen«3. In die gleiche Kerbe schlägt der Adorno-Schüler Hans-Jürgen Krahl, der Adorno eine »regressive Angst vor den Formen praktischen Widerstandes«4 diagnostizierte, die sich symptomatisch im »Unvermögen zur Organisationsfrage«5 zeige und zur resignativen Position einer »sich selber fesselnden Theorie [führe], welche unentrinnbar in die Immanenz ihrer Begriffe 1 Sozialistischer Deutscher Studentenbund: ›Flugblatt‹ zit. n. Jean Bollack, Henriette Beese, Wolfgang Fietkau, Hans-Hagen Hildebrandt, Gert Mattenklott, Senta Metz, Helen Stierlin: ›Adornos Vortrag Zum Klassizismus von Goethes Iphigenie‹. In: Dies.: Peter Szondi. Über eine »Freie (d.h. freie) Universität«. Stellungsnahmen eines Philolo­ gen, Frankfurt a. M. 1973, S. 55–59, hier: S. 55. 2 Ebd. 3 Ebd. 4 Hans-Jürgen Krahl: ›Der politische Widerspruch der kritischen Theorie Adornos‹. In: Ders.: Konstitution und Klassenkampf. Zur historischen Dialektik von bürgerlicher Emanzipation und proletarischer Emanzipation. Frankfurt a.M. 2008, S. 291–294, hier: S. 291. 5 Ebd., S. 292.

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verstrickt ist.«6 Anstoß nimmt dieses Urteil über Adornos resignati­ ven Rückzug in die Theorie und seine vermeintlichen ›Unveränder­ barkeits-Theoreme‹ an den ersten Zeilen der Negativen Dialektik, die im Sinne einer Kritik des historischen Marxismus, dem »die Verän­ derung der Welt mißlang«7, trotz der Marx’schen Feuerbachthesen8 am Recht der Philosophie festhalten und »Praxis, auf unabsehbare Zeit vertagt«9 sehen. Anlässlich dieses Festhaltens an der Theorie wandte sich auch Alfred Sohn-Rethel mit der Frage an Adorno, ob »die negative Dialektik keinen Bezug auf die Veränderung der Welt [habe]? Fällt das alles unter ›das affirmative Wesen‹, von dem ›das Buch die Dialektik befreien möchte‹?«10 Der praktisch-politische Vorwurf der ›kritischen Ohnmacht‹ des Negativismus Adornos fand sich durch die theoretisch-philosophi­ sche Kritik im Wesentlichen bestätigt. Jürgen Habermas, ein ande­ rer Adorno-Schüler, diagnostizierte in Bezug auf die theoretischen Positionen der Negativen Dialektik einen resignativen Hang zum »destruktiven Sog des Todestriebes«11 und stimmt damit durchaus mit der Kommune II überein, die in einem Flugblatt schrieb, Adorno möge sich »zu Tode adornieren. So meint er’s ja wohl.«12 Gemäß der später kanonisch gewordene Deutung Habermas, ist Adornos Philosophie wesentlich aporetisch verfasst und verstricke sich aufgrund der Radi­ kalität und Totalität ihrer Kritik in unauflösbare Widersprüche. Die Ebd., S. 294. Theodor W. Adorno: Negative Dialektik. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 6. Hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt a.M. 1970, S. 7–409, hier: S. 15. 8 »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern.« (Karl Marx: ›Thesen über Feuerbach‹. In: Ders. u. Friedrich Engels: Werke, Bd. 3. Hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Berlin 1956ff, S. 5–7, hier: S. 7) Die von jeder Ambivalenz gereinigte Apodiktizität der These kritisiert Adorno: »Schon bei Marx verbirgt sich da eine Wunde. Er mochte die elfte Feuerbachthese so autoritär vortragen, weil er ihrer nicht ganz sicher wußte.« Theodor W. Adorno: ›Resignation‹. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 10.2, 794–799, hier: S. 795. 9 Adorno: Negative Dialektik, S. 15. 10 Alfred Sohn-Rethel: ›Brief 43‹, in: Theodor W. Adorno u. Alfred Sohn-Rethel: Briefwechsel 1936 – 1969. Hg. v. Christoph Gödde. München 1991, S. 150–151, hier: S. 150f. 11 Jürgen Habermas zit. n. Theodor W. Adorno: ›Keine Angst vor dem Elfenbeinturm. Ein Spiegel-Gespräch‹. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 20.1, S. 402–409, hier: S. 408. 12 Kommune II: ›DER GROSSE ZAMPANO DER WISSENSCHAFT KOMMT!‹ zit. n. Bollack u.a.: ›Adornos Vortrag Zum Klassizismus von Goethes Iphigenie‹, S. 56 6

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Negative Dialektik liest Habermas als ein (eigentlich undurchführba­ res13) Exerzitium totalisierender Vernunftkritik, das das Ziel theoreti­ scher Erkenntnis aufgeben und deshalb Wende zum Irrationalismus vollziehen müsse.14 Das Scheitern des konsequenten Negativismus der Negativen Dialektik zeige sich im Übergang zur Ästhetischen Theo­ rie, bzw. der ›Ästhetisierung der Theorie‹. Gegen den Negativismus Adornos kann Habermas zufolge nur durch den »Paradigmenwechsel zur Kommunikationstheorie«15 an dem Programm der kritischen Theorie festgehalten werden, der – entgegen Adornos ›Praxisver­ weigerung‹, aber durchaus nicht im revolutionären Sinne Krahls – auch den Bezug zur Handlungstheorie und einen positiven Begriff von »Vergesellschaftung ohne Repression«16 sichert. In die Reihe der Habermas‘schen Vorwürfe fügt sich auch Michael Theunissens Urteil über das ›Scheitern‹ von Adornos Denken, dass die »negative Dialektik zum Übergang in die Metaphysik nötigt«17, in der »der Negativismus den Halt gewinnen [soll], den er anders nicht findet.«18 Im philosophischen Zeitalter nach der kantischen Fundamentalkritik der metaphysischen Spekulation kommt die Diagnose Theunissens dem Vorwurf des Irrationalismus von einer anderen Seite her nahe. Adorno selbst bringt gegen den Vorwurf der praktischen und theoretischen ›Ohnmacht‹ des verzweifelten Negativismus in einer zunächst paradox anmutenden Wendung ein Zitat aus Christian Dietrich Grabbes Drama Herzog Theodor von Gothland in Stellung: »Denn nichts als nur Verzweiflung kann uns retten.«19 Für Adorno ist der Vorwurf der ›kritischen Ohnmacht‹ recht eigentlich keiner: »ich kann keinen Vorwurf sehen, daß man in der Welt, in der wir leben, verzweifelt, pessimistisch, negativ sei.«20 Dem Urteil, dass die Haltung seiner Philosophie die der Verzweiflung sei, stimmt Adorno zu. Der Unterstellung, dass diese Haltung allerdings auf eine theoretische sowie praktische Sackgasse hindeutet, widerspricht 13 Vgl. Jürgen Habermas: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisie­ rung. Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1. Frankfurt a.M. 1981, S. 517. 14 Vgl. etwa Jürgen Habermas: Nachmetaphysisches Denken. Frankfurt a.M. 1988, S. 45. 15 Habermas: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, S. 518. 16 Ebd., S. 525. 17 Michael Theunissen: ›Negativität bei Adorno‹. In: Ludwig von Friedeburg u. Jürgen Habermas (Hgg.): Adorno-Konferenz 1983. Frankfurt a.M. 1983, S. 41–65, hier. S. 48. 18 Ebd., S. 57. 19 Prominent zitiert etwa in Adorno: ›Keine Angst vor dem Elfenbeinturm‹, S. 405. 20 Ebd.

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Adorno mit Grabbe: tatsächlich ist es einzig die Verzweiflung, die an der Hoffnung auf die rettende Befreiung festzuhalten vermag. Vom Standpunkt des verzweifelten Negativismus ist es also vielmehr die referierte praktisch-politische und theoretisch-philosophische Kritik an der ›kritischen Ohnmacht‹, die die Möglichkeit der Befreiung sis­ tiert und sich als Resignationsbewegung erweist. Die vorliegende Abhandlung verfolgt das Ziel, die von Adorno mit Grabbe formulierte Erwiderung auf den von der praktisch-politi­ schen und philosophisch-theoretischen Kritik erhobenen Vorwurf des in der verzweifelten Grundhaltung des Negativismus sich manifestie­ renden Scheiterns der Adorno’schen Philosophie plausibel zu machen. In einem ersten Schritt soll Adornos philosophischen Reflexionen auf das Phänomen der Verzweiflung gefolgt werden. Um darstellen zu können, dass die Reflexionen auf das Phänomen der Verzweiflung in das Zentrum der Philosophie Adornos führen, die Resignation also nicht das Ende einer Verfallsbewegung innerhalb dessen Denken markiert und der ›Paradigmenwechsel zur Kommunikationstheorie‹ so nicht an einen ›eigentlichen‹, aber in der Entfaltung des Negati­ vismus verlorenen, Gehalt anschließen kann, sollen Adornos philo­ sophischen Reflexionen auf das Phänomen der Verzweiflung von den Frühschriften bis ins Spätwerk gefolgt werden. Auf diesem Weg kann ein Gegenmodell zu Habermas Kritik der ›Ästhetisierung der Theorie‹ und Theunissens Deutung des resignativen ›Übergangs in die Metaphysik‹ erarbeitet werden. In einem zweiten Schritt soll vor dem Hintergrund der Rekonstruktion der philosophischen Refle­ xion des Phänomens der Verzweiflung Adornos Kritik der ›Neuen Linken‹ in den Blick genommen werden. Es wird zu zeigen sein, dass Adornos ›Unvermögen zur Organisationsfrage‹ nicht auf dessen resi­ gnative Abwendung von den ›Formen praktischen Widerstandes‹ ver­ weist, sondern dass paradoxerweise die dem praktischen Optimismus gerade entgegengesetzte Haltung der Verzweiflung die Möglichkeit der Emanzipation nach dem Scheitern des historischen Marxismus festhält. Von hier aus wird schließlich der eigentliche Gehalt von Adornos Verweis auf Grabbes Drama durchsichtig werden.

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I. Die Objektivität der Verzweiflung und die Objektivität des Glücks Systematisch werden Adornos Reflexionen auf das Phänomen der Verzweiflung bereits in dessen früher Arbeit über Kierkegaard, mit der er sich im Februar 1931 an der Frankfurter Universität habilitierte.21 Adornos Auseinandersetzung mit Kierkegaard zielt dabei in zwei Richtungen: zum einen erarbeitet das Kierkegaard-Buch eine Konzep­ tion von Dialektik, die als Kritik des idealistischen »geschlossenen Dialektikbegriff[s]« des (marxistischen) Hegelianismus operiert.22 Zum anderen gibt die Auseinandersetzung mit Kierkegaard Anlass zu einer frühen Kritik der Heidegger’schen Existenzialontologie. Behält man den historischen Ort der Entstehung der Habilitationsschrift im Blick, deren endgültige Fassung nach Adornos Auskunft »am selben Tag [erschien], an dem Hitler die Diktatur ergriff«23, dann erweist sich das Kierkegaard-Buch als implizite Kritik der Geschichtsphilosophie des historischen Marxismus angesichts der Niederlage der proletari­ schen Bewegung und der »Selbstzerstörung der Aufklärung«24. Der Philosophie Kierkegaards – genauer der ›Stadienlehre‹ – entnimmt Adorno das Modell einer Dialektik, die – wie er an Siegfried Kracauer schreibt – »nicht in geschlossenen Denkbestim­ mungen abläuft, sondern unterbrochen wird von der sich nicht einfügenden Realität«25 und also für die Kritik der objektiv-dialekti­ schen Geschichtsphilosophie des historischen Materialismus nutzbar gemacht werden kann, indem sie die Reflexion auf die Realgeschichte als Keil in die spekulative Bewegung der Begriffsbildung eintreibt. 21 Eine weitere frühe systematische Verwendung des Begriffs der Verzweiflung lässt sich in Adornos akademischer Antrittsvorlesung über Die Aktualität der Philosophie aus dem Jahre 1931 nachweisen. Diese steht auch im Zusammenhang mit der Beschäf­ tigung mit Kierkegaard (Vgl. Theodor W. Adorno: ›Die Aktualität der Philosophie‹. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 1, S. 325–344, hier: S. 329) 22 »Alle meine Marxismus-Debatten drehen sich darum und ich operiere wie Du [scil. Kracauer] gegen den geschlossenen Dialektikbegriff mit dem Argument, daß er Kraft der Totalitätstheorie noch idealistisch sei.« (Theodor W. Adorno: ›Brief 62‹. In: Ders u. Siegfried Kracauer.: Briefwechsel 1923–1966. Hg. v. Wolfgang Schopf. Frankfurt a.M. 2008, S. 218–222, hier: S. 218) 23 Theodor W. Adorno: ›Notiz‹. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 2, S. 261–263, hier: S. 261. 24 Theodor W. Adorno u. Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung. In: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften, Bd. 3, S. 13. 25 Adorno: ›Brief 62‹, S. 218.

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Gemäß der Deutung Adornos entwickelt Kierkegaard als Kritiker des Idealismus den »Entwurf einer ›intermittierenden‹ Dialektik, deren wahrer Augenblick nicht das Weitergehen sondern das Innehalten, nicht der Prozeß sondern die Cäsur ist«26. Satt in einer spekulativen, transzendierenden Bewegung durch die Widersprüche hindurch sich auf deren Versöhnung27 zur Totalität zuzubewegen, hält Kierkegaards Dialektik »inne«28, »bewegt [sich] auf der Stelle, nicht in Fortgang und Kontinuität.« 29 Die Hegelsche Kategorie der ›Vermittlung‹ wird aufgegeben zugunsten des Festhaltens an den unversöhnten Wider­ sprüchen, in denen sich das Denken allein bewegen kann. Der tran­ szendierende Prozess bricht so auf in disparate Sphären, die sich bar jeder Vermittlung gegenüberstehen. Wie Adorno anlässlich der dritten Auflage seiner Habilitations­ schrift im Jahre 1966 bemerkt, hätte Hegel dem nachgeborenen Kierkegaard vermutlich vorgeworfen, die Gestalt des ›unglücklichen Bewusstseins‹ aus der Dialektik herauszubrechen und zu fixieren, womit er »unter die ungemilderte Kritik Hegels an jener Stufe des Geistes«30 fiele. Nach Hegel ist im unglücklichen Bewusstsein »die innerliche Bewegung des reinen Gemüts vorhanden, welches sich selbst, aber als die Entzweiung schmerzhaft fühlt; die Bewegung einer unendlichen Sehnsucht, welche die Gewißheit hat, daß ihr Wesen ein solches reines Gemüt ist, reines Denken, welches sich als Einzelnheit denkt; daß sie von diesem Gegenstande, eben darum, weil er sich als Einzelnheit denkt, erkannt, und anerkannt wird. Zugleich aber ist dies Wesen das unerreichbare Jenseits, welches im Ergreifen entflieht, oder vielmehr schon entflohen ist.«31

26 Theodor W. Adorno: Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen. In: Ders.: Gesam­ melte Schriften, Bd. 2, S. 7–213, hier: S. 143. 27 Es sei bezüglich der Verwendung der Begriffe ›Befreiung‹, ›Versöhnung‹, ›Glück‹ und ›Vernunft‹ daran erinnert, dass diese in der kritischen Theorie – dem program­ matischen Text Max Horkeimers gemäß – in den »materialistischen Begriff der freien, sich selbst bestimmenden Gesellschaft umgeschlagen« (Max Horkheimer: ›Nachtrag zu Traditionelle und kritische Theorie‹. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 4. Hg. v. Alfred Schmidt. Frankfurt a.M. 1988, S. 217–225, hier: S. 221) sind. 28 Adorno: Kierkegaard, S. 143. 29 Ebd., S. 144. 30 Theodor W. Adorno: ›Kierkegaard noch einmal‹. In. Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 2, S. 240–259, hier: S. 248. 31 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes. In: Ders.: Werke, Bd. 3. Hg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel. Frankfurt a.M. 1986, S. 169.

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Die Konstruktion der Kierkegaard’schen Philosophie nimmt so die ›Situation‹32 des Existenzialismus vorweg, indem sie das Heteronome hypostasiert und sie sich dem Zusammenhang zwischen dem Allge­ meinen mit dem in ihrer theoretischen Konstruktion bloß abstrakt abgespaltenen Besonderen gegenüber blind macht. Mit der Gestalt des ›unglücklichen Bewusstseins‹ korrespon­ diert ein anderer Bewusstseinszustand: der der Verzweiflung. Diese bestimmt Hegel als »die bewußte Einsicht in die Unwahrheit des erscheinenden Wissens, dem dasjenige das Reellste ist, was in Wahr­ heit vielmehr nur der nicht realisierte Begriff ist.«33 Verzweiflung erfasst das Bewusstsein, wenn es darauf stößt, dass zum einen die begriffliche Identifikation des Wirklichen scheitert und zum anderen sich dieses ›Reellste‹ als die Unwirklichkeit der Vernunft erweist: das »Denken ist eines der Verzweiflung des Geistes an der Realität wie an sich selbst; es erscheint ihm als das Allerrealste, was ihm zutiefst fremd ist, weil es nicht im Begriff aufgeht, und es erscheint ihm deshalb als fremd, weil er sich dessen mit Begriffen nicht bemächtigen kann.«34 Die Verzweiflung gilt Hegel als »Ausnahmezustand des Denkens«, den er im »Ritt durch die Gestalten des Bewusstseins« überwindet, »indem es ihre Widersprüchlichkeit einsieht und an jenen verzweifelt.«35 Hegel konzipiert die Verzweiflung als Movens in der dialektischen Bewegung, die das Bewusstsein von der Ver­ zweiflung schließlich erlöst. Kierkegaard hingegen betont wiederrum die ›Cäsur‹ und stellt die Dialektik still, indem er das verzweifelte Weltverhältnis, in dem »die Vernunft so gewalttätig gegen sich selbst verfährt«36, fixiert. 32 »So ahnen wir langsam das Paradox der Freiheit: es gibt Freiheit nur in Situation, und es gibt Situation nur durch die Freiheit. Die menschliche-Realität begegnet überall Widerständen und Hindernissen, die sie nicht geschaffen hat; aber diese Widerstände und Hindernisse haben Sinn nur in der freien Wahl und durch die freie Wahl, die die menschliche-Realität ist.« (Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie. In: Ders.: Philosophische Schriften, Bd. 3. Hg. v. Traugott König. Hamburg 1991, S. 845f) 33 Ebd., S. 72. 34 Mario Schärli: ›Eine jede Philosophie dreht sich um den ontologischen Gottesbe­ weis? Die Spur natürlicher Theologie bei Adorno‹. In: Marc Nicolas Sommer u. Mario Schärli (Hgg.): Das Ärgernis der Philosophie. Metaphysik in Adornos Negativer Dia­ lektik. Tübingen 2019, S. 237–278, hier: S. 260. 35 Ebd. 36 Immanuel Kant: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissen­ schaft wird auftreten können. Hamburg 2001, S. 27.

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Damit streicht die ›intermittierende Dialektik‹ allerdings die transzendierende Bewegung und trennt die dialektische Vermittlung von Transzendenz und Immanenz wieder zum Dualismus auf: die Transzendenz steht der Immanenz als »fremder und inkommensura­ bler Sinn«37 gegenüber. Mit Kierkegaard – so könnte man es sagen – klagt Adorno gegen Hegel die Reflexion auf die Unversöhntheit des Wirklichen ein, zu der die Katastrophe Realgeschichte das Den­ ken nötigt. Kierkegaard, verweigert sich »Ganzheitsidealen oder ähnlichen Zinnober«38 und kommt so zu seinem kritischen Recht gegenüber Hegel. Indem Kierkegaard aber die Unversöhntheit, den Widerspruch und den Bruch fixiert, gerinnen ihm Unglück und Verzweiflung zu Existenzialen. Bezüglich Kierkegaards ›Lehre von der objektiven Verzweiflung‹ hält Adorno entsprechend fest: »Alles Kierkegaardsche Existieren ist in Wahrheit Verzweiflung […]. Hoffnung hat in ›Exis­ tenz‹ keinen Raum.«39 Die Absage an den Hegel‘schen Automatismus der Versöhnung hat bei Kierkegaard so einen hohen Preis: hält die ›intermittierende Dialektik‹ gegen den Begriff der Vermittlung den Widerspruch fest, so ist sie »verdammt zum hoffnungslosen Kreisen in sich selbst«40: »In der äußersten Tiefe der existentiellen Dialektik: in der Apersona­ lität der Verzweiflung, in welche der bloße Geist des Existierenden durch die Strudel kreisender Wiederholungen endlich versinkt, schlägt Kierkegaards Subjektivismus auf seinen Boden auf. Freilich wo er es am wenigsten vermeinte: nicht im ontologischen ›Sinn‹, sondern in der verewigten Sinnlosigkeit. Es ist die Ontologie der Hölle, die Kierkegaards Existenzlehre als dünne, trügerische Schicht verbirgt.«41

Mit dem Bild des ›Strudels kreisender Wiederholungen‹ ruft Adorno eine Großmetapher des 19. Jahrhunderts auf, die als das exakte Gegenbild, zu dem sich in der dialektischen Bewegung Hegels verkör­ pernden Fortschrittsglauben konzipiert ist: die zerstörende Bewegung des Sogs, der Edgar Allen Poe mit seiner Erzählung Eine Fahrt in Vgl. Adorno: ›Kierkegaard noch einmal‹, S. 251 Theodor W. Adorno u. Helmut Becker: ›Erziehung – wozu?‹. In: Gerd Kadelbach (Hg.): Theodor W. Adorno. Erziehung zur Mündigkeit. Frankfurt a.M. 1971, S. 105– 119, hier: S. 119. 39 Adorno: Kierkegaard, S. 118. 40 Adorno: ›Kierkegaard noch einmal‹, S. 251. 41 Adorno: Kierkegaard, S. 120. 37

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den Maelström die klassische Beschreibung gibt. In der Metapher des Maelström leitet Poe die Selbstzerstörungsphantasien des frühen 19. Jahrhunderts in die Katastrophenerwartung des 20. Jahrhunderts über.42 Dass Adorno in seiner Habilitationsschrift diese Metaphern­ welt aufruft und dem Kierkegaard-Buch ein Zitat aus der MaelströmErzählung Poes als Motto43 voranstellt verweist darauf, dass der Philosophie am Vorabend des Nationalsozialismus die Zukunftser­ wartung zerfällt und diese in der Vorstellung von der Geschichte als selbstzerstörerischen Leerlauf invers zu sich kommt. Weil sich der historischen Reflexion die Wirklichkeit als höllenhafte Vision der ›verewigten Sinnlosigkeit‹, als ›heillose Immanenz‹ zeigt, ist Kierkegaards ›existentielle Dialektik‹ gegenüber Hegel im Recht und die Kritik der hegelianisch-marxistischen Dialektik an der Zeit. In dieser Situation bleibt dem unglücklichen Bewusstsein einzig das verzweifelte Weltverhältnis, nicht als Ausnahme- sondern als Nor­ malzustand. Dass die Dialektik Kierkegaards Adornos Deutung gemäß in ihrer letzten Tiefe auf die Verzweiflung stößt, ist aber nicht nur ein kritischer Einspruch gegen die Hegelsche Dialektik, sondern auch einer gegen die Ontologie Heideggers: »Kein fest gegründetes Sein vermochte Kierkegaards rastlose Dialektik in der Subjektivität erlangen; die letzte Tiefe, die sich ihr erschloß, war die Verzweiflung, 42 Nicht übersehen werden darf, dass in Poes Erzählung der Glaube an die Aufklärung insofern intakt bleibt, als der Protagonist dem Maelström durch die Anwendung archimedischer hydrostatischer Überlegungen, d.h mittels Naturbeherrschung ent­ kommt. Im Strudel versinkt hingegen der Begleiter des Protagonisten, der in seiner Verzweiflung der heilversprechenden Naturgesetzlichkeit keinen Glauben schenkt. In Adornos Verwendung der Metapher gehen die Erfahrungen des ersten Weltkrieges und des Aufstiegs des Nationalsozialismus mit ein, nach denen sich die Realgeschichte nur in eine einzige, nämlich zerstörerische Richtung zu bewegen scheint. Vgl. wei­ terführend Klaus Heinrich: ›Sucht und Sog. Zur Analyse einer aktuellen gesellschaft­ lichen Bewegungsform‹. In: Ders.: Reden und kleine schriften I. anfangen mit freud, Wien 2020, S. 39–68 und Klaus Heinrich: Versuch über die Schwierigkeit nein zu sagen, Wien 2020, S. 137f. 43 In der Übersetzung Adornos »Das Schiff schien wie durch Magie mitten im Falle an der Innenfläche eines Trichters von gewaltigem Umkreis und ungeheurer Tiefe zu hängen. Seine vollkommen glatten Seiten hätte man für Ebenholz halten können, wäre nicht die bestürzende Schnelligkeit ihres rasenden Umlaufs gewesen, und der fun­ kelnde, gespenstige Glanz, der von ihnen ausging, da die Strahlen des Vollmonds aus der runden Öffnung zwischen den Wolken […] in eine Flut voll goldener Klarheit an den schwarzen Wänden bis in die verborgensten Tiefen des Abgrundes hinab nieder­ strömte.« (Adorno: Kierkegaard, S. 8)

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in der die Subjektivität zerfällt«44. Heidegger, der »Kierkegaards Existieren als Sein zum Tode interpretiert«45, versucht der in der Ver­ zweiflung erfahrenen Sinnlosigkeit mit dem Tod noch Sinn und Trost abzupressen. Dass Heidegger nur noch vom Tode her letzte Hoffnung schöpfen kann, ist somit selbst ein Verzweiflungsphänomen, das der wirklichen Bewegung der Selbstzerstörung zuarbeitet, insofern sie angesichts des verzweifelten In-Widersprüchen-Zerrissenseins nur in der Vorstellung des Ausgelöschtwerdens einen Trost finden kann. Heideggers letzte Hoffnung ist recht eigentlich keine: »Unterm Tode eröffnet sich stumm ein Bilderreich: das der zeitentfernten Hoffnungslosigkeit im Verworfen-Unendlichen gestürzter Natur.«46 Dass sich die ›Metaphysik des Todes‹ als der letzte verzweifelte Ver­ such entpuppt, der Sinnlosigkeit einen Sinn abzugewinnen, bedeutet die Verewigung einer Situation, in der weder die Vorstellung des Lebens noch die des Sterbens tröstlich ist. Adorno zitiert Kierkegaards Krankheit zum Tode: »die Qual der Verzweiflung besteht gerade darin, daß man nicht sterben kann. Sie hat so mehr mit dem Zustand des Todkranken gemein, wenn er da liegt und sich mit dem Tode plagt und nicht sterben kann. So heißt zum Tode krank sein nicht sterben können, jedoch nicht, als ob da Lebenshoffnung wäre, nein die Hoffnungslosigkeit ist die, dass selbst die letzte Hoffnung, der Tod nicht kommt. Wenn der Tod die größte Gefahr ist, so hofft man auf Leben; wenn man aber die noch schrecklichere Gefahr kennen lernt, hofft man auf den Tod.«47

Kierkegaards ›intermittierende Dialektik‹, mit der Adorno gegen Hegel und den historischen Marxismus die Reflexion auf die Unver­ söhntheit des Wirklichen und die Realgeschichte einklagt, wird Adorno: ›Die Aktualität der Philosophie‹, S. 329. Adorno: Kierkegaard, S. 119. 46 Ebd. 47 Søren Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode. Jena 1900, S. 14f. Die mit Kierkegaard in der Kritik an Heidegger gewonnene traurige Figur des hoffnungslosen, letzten Menschen, dem angesichts der Sinnlosigkeit der Realgeschichte sowohl das Leben als auch das Sterben misslungen ist, weist voraus auf Adornos Beckett-Lektüre, die dieses Motiv systematisch ausbilden und gegen den Existenzialismus in Stellung bringen wird. (Vgl. zentral: Theodor W. Adorno: ›Versuch, das Endspiel zu verstehen‹. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 11, S. 281–321 oder Theodor W. Adorno, Walter Boehlich, Martin Esslin, Hans-Geert Falkenberg u. Ernst Fischer: ›Optimistisch zu denken ist kriminell. Eine Fernsehdiskussion über Samuel Beckett‹. In: Theodor W. Adorno Archiv (Hg.): Frankfurter Adorno Blätter, Bd. III. München 1994, S. 78–122.) 44

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schließlich aber gerade wegen ihrer radikalen Konzeption des Dua­ lismus der disparaten Sphären der Immanenz und Transzendenz zum Gegenstand der Kritik. Das verzweifelte Denken findet sich »unendlich bewegt und ohne Ausweg«48 in der sinnlosen Imma­ nenz gefangen. Als transzendierende Bewegung führt Kierkegaard die undialektische, irrationale und nicht weiter begründbare Katego­ rie des paradoxen ›Sprunges‹ in die Religiosität ein, in dem »der subjektive Geist sich selber opfern muß und dafür einen Glauben zurückbehält, dessen Inhalte, zufällig für die Subjektivität, allein aus dem Bibelwort entspringen.«49 Im Opfer der Vernunft soll das verzweifelte Bewusstsein Hoffnung schöpfen, die Kierkegaard aber bloß religiös beschwören kann. Ihre Wahrheit hat Kierkegaards Phi­ losophie, die »den Menschen aus der Verzauberung in seiner heillosen Immanenz«50 reißt, in der Lehre von der objektiven Verzweiflung und der Abwehr der Hypostasierung eines positiven Sinns. Unwahr wird sie, weil sie Transzendenz so radikal »von jeglichem Vermittelnden, das sie mit der Welt teilt«51 reinigt, dass keine Perspektive auf die Versöhnung eröffnet werden kann, oder anders: die Antwort auf die sehnsüchtige Frage, »was dem Dasein, sinn-leer für sich selber, einen Sinn gebe«52 als spiritualistischer Trost konstruiert ist, der dem Problem der Versöhnung ›in der Zeit‹ ausweicht.53 Weil Kierkegaards Philosophie das, »was ihr überzeitlich dünkt, heraus[destilliert], indem sie eben jenes Besondere, in Raum und Zeit individuierte durchstreicht, als welches Existenz Existenz ist und nicht deren bloßer

Adorno: Kierkegaard, S. 149. Adorno: ›Die Aktualität der Philosophie‹, S. 330. 50 Adorno: Kierkegaard, S. 120. 51 Adorno: ›Kierkegaard noch einmal‹, S. 252. 52 Adorno: Kierkegaard, S. 98. 53 In dieser Konstruktion kippt Kierkegaards christliche Theologie in die Gnosis: »Tatsächlich bildet seine Philosophie den Opferkult so beharrlich aus, bis er in die Gnosis übergeht, der der Protestant Kierkegaard leidenschaftlich sonst opponiert. Im späten Idealismus bricht Gnosis dort hervor, wo durch Spiritualismus mythisches Denken übers christliche Macht gewinnt und trotz aller Rede von Gnade das Chris­ tentum in die gnadenlose Geschlossenheit des Naturverlaufs hineinzieht.« (Adorno: Kierkegaard, S. 159) Über Nähe und Ferne der Zeitdiagnose der Gnosis und der kri­ tischen Theorie vgl. Julia Jopp: ›Von Markion zu Odradek. Ideologiekritik als Inversion der Gnosis‹. In: Dirk Braunstein, Grażyna Jurewicz u. Ansgar Martins (Hgg.): »Der Schein des Lichts, der ins Gefängnis selber fällt«. Religion, Metaphysik, Kritische Theo­ rie, Berlin 2018, S. 81–101. 48

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Begriff«54, erscheinen Verzweiflung und Unglück als Existenzialen und nicht als Zustand des Bewusstseins, der aus der Reflexion auf ein bestimmtes historisches Weltverhältnis resultiert. So stellt sich für Adorno die Frage, wo in Kierkegaards Philoso­ phie das »Substrat einer ›Lehre von der Versöhnung‹«55 aufzuspüren wäre, das von der »Opfertheologie«56 emanzipiert werden könnte. Ansätze einer solchen ›Lehre der Versöhnung‹ findet Adorno in Kierkegaards Konzeption der ästhetischen Sphäre, die als ursprüng­ liches Lebensstadium des Individuums gefasst ist, in der dieses im Zustand latenter Verzweiflung, gebunden an die Sinnlichkeit und die Immanenz lebt. Zwar lässt Kierkegaard die ästhetische Sphäre eigentlich nur als Vorbereitung des ›Sprungs‹ in die Religiosität gelten, doch gerade im ›Ästhetischen‹ kommt das ›Religiöse‹ und also die Transzendenz zur Erscheinung, ohne sie zugleich als Positivität zu behaupten: »Zu den Häupten des Menschen stürzt theologische Wahrheit nieder in ästhetischen Schein, geht dieser auf als Zeichen von Hoffnung.«57 Im ›Ästhetischen‹ findet die Verzweiflung so ›kon­ krete Bilder ihres Wunsches‹, auf deren ›opferlose Erfüllung‹ sie hoffen kann:58 »Wenn nach seinem [scil. Kierkegaards] Wort, ›die Sehnsucht allein nicht hinreicht, um zu erretten‹, so fallen ihr doch immanent die Bilder des Schönen zu, durch welche, verschwindend, die Bahn der Rettung führt, soll sie jemals zur Landung und Erwachen geleiten […]. Sehnsucht endet nicht in Bildern, sondern lebt fort in ihnen, wie sie aus ihnen kommt. Kraft der Immanenz ihres Gehalts vollzieht sich die Transzendenz der Sehnsucht.«59

In der Reflexion auf die Sphäre des ›Ästhetischen‹ stößt die ›intermit­ tierende Dialektik‹ auf Chiffren der Transzendenz, die zwar erreicht werden soll, aber nur durch die nicht weiter begründbare Bewegung des ›Sprunges‹ erreicht werden kann. Diese im Kierkegaard-Buch aufgespannte Konstellation verweist so unmittelbar und über 30 Jahre hinweg auf den Zusammenhang zwischen der Negativen Dialektik und der Ästhetischen Theorie. In 54 55 56 57 58 59

Adorno: ›Versuch, das Endspiel zu verstehen‹, S. 287. Adorno: Kierkegaard, S. 199. Ebd. Ebd., S. 148. Vgl. Ebd., S. 200. Vgl. Ebd., S. 199.

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jener heißt es bezüglich einer immanent verfahrenden, ›intermittie­ renden‹ Dialektik, dass diese »Grenze daran [habe], daß das Gesetz des Immanenzzusammenhan­ ges eins ist mit der Verblendung, die zu durchschlagen wäre. Aber dieser Augenblick, wahrhaft erst der qualitative Sprung, stellt einzig im Vollzug der immanenten Dialektik sich ein, die den Zug hat, sich zu transzendieren, nicht durchaus unähnlich dem Übergang der Platonischen Dialektik zu den ansichseienden Ideen; […] Aber auch der Sprung ist nicht zu hypostasieren wie bei Kierkegaard. Sonst verlästert er die Vernunft.«60

Die immanente Dialektik hat den Zug zur Transzendenz, weil sie der Einsicht in die Unversöhntheit des sinnlosen Wirklichen nicht durch die Flucht in sinnstiftenden Optimismus oder Nihilismus aus­ weicht und so der Vorstellung von der Objektivität der Befreiung und des Glücks die Treue hält. Paradoxerweise sind Unglück und Verzweiflung also die Haltungen der Hoffnung: »Die Stellung des Gedankens zum Glück wäre die Negation eines jeglichen falschen. Sie postuliert, schroff wider die allherrschende Anschauung, die Idee von der Objektivität des Glücks, wie sie negativ konzipiert war in Kierkegaards Lehre von der objektiven Verzweiflung.«61 Damit wäre die Verzweiflung nicht der Nihilismus, als den sie die Kritik des Negativismus im Namen der Positivität in Verruf bringen möchte: »Die Welt ist schlimmer als die Hölle und besser. Schlimmer, weil nicht einmal die Nihilität das Absolute wäre […]. Der ausweglos geschlossene Immanenzzusammenhang verweigert selbst jenen Sinn […]. [Solcher Nihilismus] denkt fehl, weil er das Gesetz, welches die Immanenz in ihrem eigenen bann hält, unvermittelt zu jenem Wesenhaften erklärt, das von der Immanenz versperrt ist und anders als transzendent gar nicht vorgestellt werden könnte. Besser aber ist die Welt, weil die absolute Geschlossenheit […] ihrerseits erborgt ist vom idealistischen System, reines Identitätsprinzip und trügend wie jegliches. Der verstörte und beschädigte Weltlauf ist, wie bei Kafka, inkommensurabel auch dem Sinn seiner reinen Sinnlosigkeit und Blindheit, nicht stringent zu konstruieren nach deren Prinzip. Er wider­ streitet dem Versuch verzweifelten Bewußtseins, Verzweiflung als Absolutes zu setzen. Nicht absolut geschlossen ist der Weltlauf, auch nicht die absolute Verzweiflung; diese ist vielmehr seine Geschlossen­ 60 61

Adorno: Negative Dialektik, S. 183f. Ebd., S. 347.

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heit. So hinfällig alle Spuren des Anderen sind; so sehr alles Glück durch seine Widerruflichkeit entstellt ist, das Seiende wird doch in den Brüchen, welche die Identität Lügen strafen, durchsetzt von den stets gebrochenen Versprechungen jenes Anderen. Jegliches Glück ist Fragment des ganzen Glücks, das den Menschen sich versagt und das sie sich versagen.«62

Als vom Leben getrennte Sphäre antizipiert die Kunst ›konkrete Bilder‹ des Sinns, fragmentarische Chiffren der Versöhnung, die ihrerseits das Glück zwar in seiner Möglichkeit nur verheißen, aber gerade darum dem Wunsch des verzweifelten Bewusstseins begrün­ deten Anlass zur Hoffnung geben, dass es einmal verwirklicht wer­ den könnte.63 Einen ›begründeten Anlass‹ zur Hoffnung zu haben bedeutet aber nicht die reale Erlösung von der Verzweiflung: »Es genügt nicht, daß der Gedanke zur Verwirklichung drängt, die Wirklichkeit muß sich selbst zum Gedanken drängen.«64 Rückbezogen auf Adornos Auseinandersetzung mit Kierkegaard müsste man also sagen, dass der Dualismus von sinnentleerter Immanenz und der ihr gegenüber­ stehenden ›inkommensurablen‹ Transzendenz geschichtlich produ­ ziert ist:65 die Welt ist eine Hölle, weil die Menschen sie dazu machen, indem sie die sinnlosen und irrationalen Gesetze der Existenz in Geltung setzen. Das Glück ist den Menschen nicht einfach ›bloß‹ versagt, sie versagen es sich selbst: »Die Gefangenschaft in der Immanenz […] ist die der Selbsterhaltung, wie sie den Menschen Ebd., S. 396. Habermas Vorwurf der resignativen ›Ästhetisierung der Theorie‹ verfehlt also den Zusammenhang zwischen der Negativen Dialektik und der Ästhetischen Theorie. Für eine differenzierte Analyse des Verhältnisses von Kritik und Ästhetik vgl. Aljoscha Bijlsma: ›Denunziation und Antezipation sind in ihr synkopiert. Zum Verhältnis von Theorie der Kunst und Kritik der Gesellschaft bei Theodor W. Adorno‹. In: Johann Dvořák, Alex Gruber u. Florian Ruttner (Hgg.): Unabgegoltene Hoffnung. Kritische Theorie, Moderne und Ästhetik. Wien 2021, hier S. 79–110. Zum Verhältnis der gesell­ schaftlichen und künstlerischen Totalität an der Frage der Musik vgl. Aljoscha Bijlsma: ›Sonate, que me veux-tu?‹. In: sans phrase. Zeitschrift für Ideologiekritik 17 (2020/21), hier: S. 162–179. 64 Karl Marx: ›Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung‹. In: Ders. u. Friedrich Engels: Werke, Bd. 1, S. 378–391, hier: S. 386. 65 Vgl. diesbezüglich Adornos Analysen zum Begriff des ›Blocks‹ in Adorno: Negative Dialektik, S. 377–382 oder Felix Brandner: ›Reflexionen über das blockierte Leben. Überlegungen zu Adornos erkenntnistheoretischer Fundierung des Materialismus‹. 2023 i.E. 62

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eine Gesellschaft auferlegt, die nichts konserviert als die Versagung, deren es schon nicht mehr bedürfte.«66 Der ›qualitative Sprung‹ aus dem selbstzerstörerischen ›Strudel kreisender Wiederholungen‹ ist nur ein anderer Name für die ›verändernde Praxis‹, die die Theorie den Menschen allerdings nicht abnehmen kann. Solange sie ›auf unabsehbare Zeit‹ vertagt ist, hält das verzweifelte Bewusstsein der Versöhnung die Treue und antizipiert so Freiheit.

II. ›Die Kraft zur Angst und die zum Glück‹ Adornos Auseinandersetzung mit der ›Neuen Linken‹ bezüglich der ›praktischen Formen des Widerstandes‹ hängt zusammen mit der Frage nach der Bewältigung der Verzweiflung über die Sinnlosig­ keit des Wirklichen. Vor dem Hintergrund der oben ausgeführten philosophischen Reflexionen auf das Phänomen der Verzweiflung wirft Adorno dem »Optimismus der unmittelbaren Aktion«67 die »Sistierung des Denkens bedingt durch die Triebdynamik«68 vor. Mit diesem Vorwurf verweist Adorno auf Freuds massenpsychologische Überlegungen, in denen am Beispiel des Heeres und der Kirche die Wirkung der Auflösung der sinnstiftenden Gemeinschaft auf das moderne Massenindividuum beschrieben wird: »Eine Panik entsteht, wenn eine solche Masse sich zersetzt. Ihr Charakter ist, daß kein Befehl des Vorgesetzten mehr angehört wird und daß jeder für sich selbst sorgt ohne Rücksicht auf die anderen. Die gegenseitigen Bin­ dungen haben aufgehört, und eine riesengroße, sinnlose Angst wird frei.«69 Der Zustand, in den das Massenindividuum gerät, wenn die sinnstiftende libidinöse Identifizierung mit dem Führer und dem Kollektiv aufhört, ist der der Verzweiflung, in dem die einzelnen unglücklichen Bewusstseine die Abwesenheit des sinnstiftenden All­ gemeinen quälend spüren.

Adorno: Negative Dialektik, S. 381f. Adorno: ›Keine Angst vor dem Elfenbeinturm‹, S. 405. 68 Theodor W. Adorno: ›Marginalien zu Theorie und Praxis‹. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 10.2, S. 759–782, hier: S. 773. 69 Sigmund Freud: ›Massenpsychologie und Ich-Analyse‹. In: Ders.: Studienaus­ gabe, Bd. 9. Hg. v. Alexander Mitscherlich, Angela Richards u. James Strachey. Frank­ furt a.M. 1974, S. 61–134, hier S. 90f.

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Paul Tillich, bei dem Adorno sich mit seinem Kierkegaard-Buch in Frankfurt habilitierte, beschreibt in Der Mut zum Sein das 20. Jahrhundert als das Zeitalter, in dem die Menschen der Erfahrung einer »sinvollen[n] Welt« und die eines »Selbst, das aus einem geis­ tigen Zentrum in Sinnbezügen lebt« verlustig gegangen sind und so den »Zusammenbruch aller Sinngehalte« erleben.70 Die Versuche der Bewältigung der Verzweiflung über die Einsicht in die Sinnlosigkeit und Leere des Wirklichen entwickelt Tillich mit Freud: »Der Zweifel entspringt der Trennung des Menschen vom Ganzen der Wirklichkeit, seinem Mangel an universaler Partizipation, der Isolie­ rung seiner individuellen Existenz. Deshalb versucht der Mensch, aus dieser Situation auszubrechen und sich mit einem Überindividuellen zu identifizieren, seine Trennung und Selbstbezogenheit aufzugeben. Er flieht aus seiner Freiheit, Fragen zu stellen und selber Antworten zu suchen, in eine Situation, in der keine Fragen mehr gestellt werden können und ihm die Antworten auf seine früheren Fragen durch Autorität aufgezwungen werden. Um dem Wagnis des Fragens und Zweifelns zu entgehen, gibt er das Recht zu fragen und zu zweifeln auf. Er gibt sich selbst auf, um sein geistiges Leben zu retten. Er ›flieht vor der Freiheit‹ (Erich Fromm), um der Angst vor der Sinnlosigkeit zu entgehen. Nun ist er nicht mehr einsam, nicht mehr in existentiellem Zweifel, nicht mehr in Verzweiflung; er partizipiert an etwas und bejaht durch diese Partizipation die Inhalte seines geistigen Lebens. Der Sinn ist gerettet, aber das Selbst ist geopfert.«71

Die Massenbewegungen führen so auf eine ›Opfertheologie‹, die auf Kosten von Vernunft und Freiheit die vermeintliche Erfüllung des Wunsches nach Versöhnung und Sinn versprechen: »Dieser Akt [der Identifizierung mit dem Kollektiv], nicht unbeirrtes Denken ist resignativ. Keine durchsichtige Beziehung waltet zwischen den Interessen des Ichs und dem Kollektiv, dem es sich überabtwor­ tet. Das Ich muß sich durchstreichen, damit es der Gnadenwahl des Kollektivs teilhaftig werde. […] Das Gefühl neuer Geborgenheit wird bezahlt mit dem Opfer autonomen Denkens. […] Keine höhere Gestalt der Gesellschaft ist, zu dieser Stunde, sichtbar: darum hat, was sich gebärdet, als wäre es zum Greifen nah, etwas Regressives. Wer aber

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Paul Tillich: Der Mut zum Sein. Berlin 2015, S. 99. Tillich: Der Mut zum Sein, S. 43.

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regrediert, hat Freud zufolge, sein Triebziel nicht erreicht. Rückbildung ist objektiv Entsagung, auch wenn sie sich für das Gegenteil hält«.72

Die blinde Identifikation mit der Bewegung erlaubt es den Subjekten, die Reflexion zu sistieren und die Verzweiflung zu betäuben. Die Verschiebung der Ich-Kontrolle in das übergeordnete Subjekt des Kollektivs dient – eine Einsicht, die um jeden Preis unterbunden werden muss – als »Ersatzbefriedigung«73, die die Hoffnung auf die ›Idee der Objektivität des Glücks‹ aufgibt. Angesichts dieser Resigna­ tionsbewegung bewährt sich Adorno zufolge die »Stärke eines Ichs […] darin, daß es fähig ist, objektive Widersprüche in sein Denken aufzunehmen und nicht gewaltsam wegzuschaffen.«74 Anders und mit Tillich gesagt: die Widerstandsfähigkeit eines Ichs bewährt sich daran, dass es fähig ist, den »Mut der Verzweiflung«, der »etwas Positives trotz seines negativen Inhalts ist«75, aufzubringen und die Angst vor der Sinnlosigkeit mit Mut zu balancieren, ohne sich in resignative Positivität oder Nihilismus zu flüchten. Um dem von diesem kritischen Urteil ausgelösten Zweifel an der kollektiven Bewältigung der Verzweiflung zu entgehen ist andau­ ernde und anstrengende Verdrängungsarbeit nötigt, die zur fanati­ schen Wut wird auf diejenigen, die den Zweifel aussprechen: »da der Sieg über den Zweifel ein Opfer bedeutet, nämlich das Opfer der Freiheit des Selbst, hinterlässt er ein Stigma auf der wiedergewon­ nenen Freiheit in Form einer fanatischen Selbstbehauptung. Fanatis­ mus ist das Korrelat der geistigen Selbstaufgabe: die Angst, die der Mensch besiegen wollte, zeigt sich jetzt darin, dass er mit unmäßiger Heftigkeit jeden angreift, der ihm nicht beistimmt und durch seine Ablehnung Elemente in dem geistigen Leben des Fanatikers enthüllt, die dieser in sich unterdrücken muss. Weil er sie in sich selbst unter­ drücken muss, muss er sie auch in dem anderen unterdrücken. Seine Angst zwingt ihn dazu, Andersdenkende zu verfolgen. Die Schwäche 72 Adorno: ›Resignation‹, S. 797f. Solch ein »zur Undurchsichtigkeit verselbststän­ digtes Verhältnis« von Besonderem und Allgemeinen ist das genaue Gegenteil einer »rational durchsichtige[n], wahrhaft freie[n] Gesellschaft« (Theodor W. Adorno: ›Gesellschaft‹. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 8, S. 9–19, hier: S. 12–19), die in der Organisationsform der Massenbewegung daher auch nicht antizipiert wird. 73 Ebd., S. 796. 74 Theodor W. Adorno: ›Kritische Theorie und Protestbewegung. Ein Interview mit der Süddeutschen Zeitung‹. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 20.1, S. 398–401, hier: S. 399. Dies ist freilich auch auf Adornos Kritik am Hegelianismus zu beziehen. 75 Tillich: Der Mut zum Sein, S. 120.

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des Fanatikers liegt darin, dass diejenigen, die er bekämpft, eine geheime Gewalt über ihn ausüben, und dieser Schwäche muss er schließlich erliegen.«76

Vor dem Hintergrund von Adornos philosophischen Reflexionen auf das Phänomen der Verzweiflung sollte deutlich werden, dass der Negativismus Adornos als die Verkörperung des Zweifels an der kollektiven Selbstbehauptung der ›Neuen Linken‹ gelten kann. Es muss daher als Kritik an der autoritätsgebundenen Bewältigung der Verzweiflung durch die Protestbewegung aufgefasst werden, wenn sich Adorno der Rolle des Führers dezidiert widersetzt und darauf verweist, dass seine Philosophie als führende Idee nichts taugt: »Auf die Frage ›Was soll man tun‹ kann ich wirklich meist nur antworten ›Ich weiß es nicht‹.«77 Wichtig zu bemerken ist, dass es Adorno nicht um Verächtlichmachung oder Denunziation des Protestes ging, sondern um dessen antiautoritäre Radikalisierung. Dies führt wieder zurück auf das Diktum, das Adorno Grabbes Drama Herzog Theodor von Gothland entnimmt: »nichts als nur Verzweiflung kann uns retten!« Bezieht man nun den Kontext mit ein, in dem der Spruch im Drama fällt, erschließt sich sein Zusammenhang mit Adornos Kritik der kollektiven Selbstbehauptung angesichts der Angst der Sinnlosigkeit und Leere. Grabbe lässt im Gothland den Spruch über die rettende Macht der Verzweiflung den finnischen Feldherren Berdoa in einer aussichts­ losen kriegerischen Situation ausrufen. Der Übermacht der schwedi­ schen Truppen ausgeliefert, wendet er sich den finnischen Soldaten zu:

Ebd., S. 43f. Adorno: ›Keine Angst vor dem Elfenbeinturm‹, S. 404. Bezüglich dieses autoritäts­ gebundenen Charakters, der Sistierung des Denkens und der Wut auf den Zweifler Adorno vgl. noch einmal das schon einleitend zitierte Flugblatt der Kommune II: »Er [scil. Adorno] der große Durchschauer dieser Gesellschaft wird auftreten um sein durchschauen feilzubieten – wird druckreife Sätze auskotzen […] Wir lauschen nur noch den Worten des großen Vorsitzenden Mao, den Parolen der Revolution. […] Was soll uns der alte Adorno und seine Theorie, die uns anwidert, weil sie uns nicht sagt, wie wir diese Scheiß-Uni am besten anzünden und einige Amerika-Häuser dazu.« (Kommune II: ›DER GROSSE ZAMPANO DER WISSENSCHAFT KOMMT!‹ zit. n. Bollack u.a.: ›Adornos Vortrag Zum Klassizismus von Goethes Iphigenie‹, S. 56) 76 77

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»BERDOA:

So will ich denn zum letzten Mittel greifen: Ich lasse sie verzweifeln! Finnen! Wir Sind hoffnungslos verloren! […]

DIE FINNEN: Rette uns! Errette uns! […] BERDOA:

– und nichts Als nur Verzweiflung kann uns retten!«78

Grabbe ruft hier einen typischen Anlass für die Zersetzung einer Masse auf, wie sie auch aus der Freud’schen Massenpsychologie bekannt ist: »Der typische Anlass für den Ausbruch einer Panik ist so ähnlich, wie er in der Nestroyschen Parodie des Hebbelschen Dramas von Judith und Holofernes dargestellt wird. Da schreit ein Krieger: ›Der Feldherr hat den Kopf verloren‹, und darauf ergreifen alle Assyrer die Flucht. Der Verlust des Führers in irgendeinem Sinne, das Irrewerden an ihm, bringt die Panik bei gleichbleibender Gefahr zum Ausbruch; mit der Bindung an den Führer verschwinden – in der Regel – auch die gegen­ seitigen Bindungen der Massenindividuen. Die Masse zerstiebt wie ein Bologneser Fläschchen, dem man die Spitze abgebrochen hat.«79

Berdoas letztes Mittel besteht nun paradoxerweise gerade darin, seine Rolle als Führer bewusst aufzugeben, die Libidobindung des finnischen Heeres also zu lockern und die verzweifelte Angst ange­ sichts der drohenden Gefahr zu beschwören. So ruft er auch nicht als letzte Ausflucht zwecks religiöser Massenbindung ein höheres Wesen (›niemand als nur Gott kann uns retten!‹), sondern die freigesetzten Einzelnen an, den ›Mut der Verzweiflung‹ aufzubringen, um für sich und die anderen an der unverbürgten Hoffnung auf Rettung ›trotzdem‹ festzuhalten. Allein auf die Macht der Ohnmacht ist noch zu hoffen. Die Vermutung liegt nahe, dass Adorno sein Verhältnis zur Protestbewegung als eine Wiederholung des Verhältnisses des Feld­ herren Beroda zu den finnischen Truppen deutet, wenn er in der Abwehr des Optimismus dessen wunderliche Strategie der Verzweif­ lung zitiert. Mit Grabbes Berdoa kritisiert Adorno die kollektive 78 79

Christian Dietrich Grabbe: Herzog Theodor von Gothland. Leipzig 1870, S. 86f. Freud: ›Massenpsychologie und Ich-Analyse‹, S. 92.

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Bewältigung der Verzweiflung, die nur um das Opfer von Selbst, Vernunft und Freiheit zu haben ist. Gegen diese ›Opfertheologie‹ der Protestbewegung setzt Adorno die Verzweiflung des unglücklichen Bewusstseins, das der Angst der Sinnlosigkeit und Leere trotzt, sich als Einzelheit nicht durch das Einverständnis mit dem Kollektiv durch­ streicht und auf diesem Weg Freiheit antizipiert. So zitiert Adorno in einem Text über Kracauer das Diktum Grabbes und schließt: »Deckbild der Hoffnung wird […] die bis zur Unaussprechbarkeit sich in sich verschließende Individualität, die auf Hoffnung undurchlässig ist. Sie bekundet Sehnsucht, einmal ohne Angst so unabgeschliffen sein zu dürfen, wie die Angst den Abweichenden prägte.«80 Möchte man Adorno also so etwas wie eine praktische Weisung entnehmen, dann wäre es die zum Mut der ängstigenden Verzweiflung: »Die Kraft zur Angst und die zum Glück sind das gleiche […]. Denn verstört ist der Weltlauf. Wer ihm vorsichtig sich anpaßt, macht eben damit sich zum Teilhaber des Wahnsinns, während erst der Exzentri­ sche standhielte und dem Aberwitz Einhalt geböte. Nur er dürfte auf den Schein des Unheils, die ›Unwirklichkeit der Verzweiflung‹, sich besinnen und dessen innewerden, nicht bloß daß er noch lebt, sondern daß noch Leben ist.«81

Auf einen Slogan gebracht ließe sich diese, aus der philosophischen Reflexion auf das Phänomen der Verzweiflung gewonnene, Antwort auf die theoretisch-philosophische und praktisch-politische Kritik am Negativismus Adornos auch so ausdrücken: »Bangemachen gilt nicht.«82

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Theodor W. Adorno: ›Der wunderliche Realist. Über Siegfried Kracauer‹. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 10, S. 388–408, hier: S. 407. 81 Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 4, S. 228. 82 Ebd., S. 77. 80

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Sebastian Hüsch

Jenseits der Verzweiflung, diesseits der Transzendenz? Immanente Bejahung der Existenz zwischen Trotz und Erleuchtung

1. Einführung Wenn die Verzweiflung als philosophische Kategorie thematisiert wird, kommt man an Sören Kierkegaard kaum vorbei. Seine Krankheit zum Tode ist zweifellos eine der einschlägigsten und suggestivsten Auseinandersetzungen mit der Verzweiflung in der modernen Philo­ sophie. Ausgehend von der Bestimmung des Menschen als Geist entwickelt Kierkegaard dort eine Phänomenologie existentieller Ver­ zweiflung, die die Verzweiflung in den Rang einer unhintergehbaren Schlüsselerfahrung des menschlichen Existierens erhebt. Erst die bewusste Verzweiflung eröffnet dabei, Kierkegaard zufolge, den Hori­ zont eines eigentlichen Selbstseins. Ich möchte Kierkegaards Reflexionen zur Verzweiflung als Schlüsselerfahrung menschlichen Existierens zum Ausgangspunkt nehmen, um nach Wegen der Überwindung der Verzweiflung und mithin nach Perspektiven nicht verzweifelten Existierens zu fragen, jedoch diesseits des bei Kierkegaard unvermeidlichen Bezugs zu einer transzendenten Instanz, insofern dieser vor dem Hintergrund des epistemologischen Horizontes der Gegenwart nur noch eingeschränkt anschlussfähig ist.1 Dazu möchte ich zwei Denkwege nachverfolgen und im von Kierkegaards Verzweiflungskonzept aufgespannten Hori­ zont von Immanenz und Transzendenz verorten: Das ist zum einen 1 Vgl. zum Problem des Transzendenzbezugs und insbesondere des Glaubens an Gott beziehungsweise an Götter für die Selbstverortung und Selbstvergewisserung des Menschen in der Gegenwart Ernst Tugendhat: Egozentrizität und Mystik. Eine anthro­ pologische Studie. München 2006, S. 123–124.

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das immanentistische Ja-Sagen Nietzsches. Dieses, so werde ich argu­ mentieren, ist insofern problematisch, als es eine Lösung des Exis­ tenzparadoxes nur im Modus einer negativen Transzendenzbezogen­ heit bietet. Aus diesem Grunde könnte man Nietzsches Existenzkonzept verstehen als Ausdruck jenes verzweifelten Existie­ rens, welches Kierkegaard in der Krankheit zum Tode über den Begriff des »Trotzes«2 fasst. In Abgrenzung zu Nietzsches ›trotzigem‹ JaSagen möchte ich eine alternative Möglichkeit skizzieren, die, wie ich argumentieren werde, das von Kierkegaard postulierte Existenzpara­ dox positiv auflöst, indem sie die der Verzweiflungsanalyse Kierke­ gaards zugrundeliegende metaphysische Grundstruktur unterläuft, von der auch Nietzsche abhängig bleibt. Diese alternative Möglichkeit möchte ich entwickeln unter Bezug auf das Denken des in der Zenbuddhistischen Tradition der Kyoto-Schule stehenden japanischen Philosophen Keiji Nishitani.3 Um dieses Vorhaben umzusetzen, werde ich im Folgenden zunächst in der gebotenen Kürze auf Kierkegaards Verzweiflungsbe­ griff eingehen, insofern dieser als konzeptuelle Grundlage meiner Reflexionen dienen wird. Anschließend werde ich erst Nietzsches und dann Nishitanis Position in den Kontext des Kierkegaardschen Konzepts stellen, um meine These zu entwickeln, dass Nishitanis Ansatz eher als der Nietzsches eine anschlussfähige Perspektive nicht verzweifelten Existierens diesseits eines Transzendenzpostulats eröff­ net.

Vgl. Sören Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode. Der Hohepriester, der Zöllner, die Sünderin. München 1957, S. 67 (Zitate aus der Krankheit zum Tode werden im Folgenden mit der Abkürzung »KzT« nachgewiesen, gefolgt von der Seitenangabe). 3 Keiji Nishitani (1900–1990) gehört zur zweiten Generation der Kyoto-Schule. Sein Denken zeichnet sich durch eine fruchtbare Aufnahme westlicher Philosophie in einen durch den Zen-Buddhismus geprägten Denkrahmen aus. Nicht zuletzt die Philosophie Nietzsches hat einen starken Eindruck auf ihn gemacht. Eine hilfreiche Einführung in Nishitanis Leben und Denken bietet Ryôsuke Ohashi (Hg.): Die Kyôto-Schule. Texte und Einführung. Freiburg 2011, S. 237—280. 2

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2. Kierkegaards Phänomenologie der Verzweiflung Wie gesagt, entwickelt Kierkegaard sein Verzweiflungskonzept syste­ matisch in der Krankheit zum Tode.4 Grundlegend für die Möglichkeit und Wirklichkeit der Verzweiflung im Sinne Kierkegaards ist das Pos­ tulat einer Synthesestruktur des Menschen. So definiert Kierkegaard den Menschen als »eine Synthesis von Unendlichkeit und Endlich­ keit, von dem Zeitlichen und dem Ewigen«.5 Diese Synthese der inkommensurablen Dimensionen des Menschseins wiederum muss durch den Geist geleistet werden, den Kierkegaard bestimmt als ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält. Kierkegaard zufolge kann eine gelingende Selbstsetzung, entsprechend den das Selbst konstitu­ ierenden Syntheseelementen, nur gelingen, wenn der Mensch sich sowohl zur Transzendenz als auch zur Immanenz positiv in Beziehung setzt. Tut er dies nicht, so ist er in Verzweiflung. Als Bedingung der Möglichkeit sich positiv als Selbst zu setzen wiederum führt Kierkegaard als zentrales Postulat ein, dass die Synthese, die unser Selbst darstellt, von einer transzendenten Instanz, das heißt von Gott, als solche gesetzt ist. Den Zustand der Verzweiflungsfreiheit definiert Kierkegaard demgemäß wie folgt: Folgendes ist nämlich die Formel, welche den Zustand des Selbst beschreibt, wenn die Verzweiflung ganz und gar ausgetilgt ist: indem es sich zu sich selbst verhält, und indem es es selbst sein will, gründet sich das Selbst durchsichtig in der Macht, welche es gesetzt hat.6

Aufgrund der dynamischen Konzeption des Selbst als Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, und der Notwendigkeit, sich selbst als Geist durchsichtig zu werden, ergibt sich eine Struktur, in der der Zustand der Verzweiflung, verstanden als bewusste Verzweiflung, wie man in Anlehnung an Heidegger sagen könnte, ontisch nachge­ ordnet ist, während die Verzweiflung dem Selbst ontologisch immer schon zugrunde liegt.7 Mit anderen Worten: Kierkegaard zufolge ist 4 Zuvor hatte er bereits im zweiten Teil seiner Erstlingsschrift Entweder/Oder die Bedeutung der Verzweiflung in ihrer existentiellen Tragweite für das Selbstwerden des Einzelnen aus einer doppelten Perspektivität herausgestellt. Vgl. S. Kierkegaard: Entweder/Oder. Teil I und II. München 2005. 5 KzT, S. 8. 6 Vgl. KzT, S. 10. 7 Heidegger unternimmt diese Bestimmung in Bezug auf eigentliches Existieren und Existieren im Modus der Verfallenheit. Vgl. M. Heidegger: Sein und Zeit, S. 57–61.

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jeder Mensch, insofern er Mensch ist, zunächst und zuerst immer schon in Verzweiflung, jedoch derart, dass diese Verzweiflung in der Regel unbewusst ist. Erst wenn die Verzweiflung bewusst wird, so Kierkegaard, kann jedoch über sie hinausgelangen werden.8 Die Verzweiflung ist zu überwinden durch das Verzweifeln, verstanden als eine Handlung, als ein Akt, in dem sich das Selbst als es selbst ergreift, indem es sich als jene Synthese von Immanenz und Transzendenz setzt, als welche Gott dieses Selbst gesetzt hat.9 Bei Kierkegaard hängt also die Möglichkeit eines als sinnhaft erfahrenen Selbst unhintergeh­ bar an der Möglichkeit einer Verankerung in der Transzendenz. Dies­ seits eines positiven Gottesbezugs existiert, dieser Struktur zufolge, lediglich die Verzweiflung. Dabei unterscheidet Kierkegaard verschiedene Formen der Ver­ zweiflung, je nach dem Ausmaß der Bewusstheit des Selbst ein Selbst zu sein.10 Der Begriff der Verzweiflung deckt entsprechend ein Spektrum von Verzweiflungsformen ab, das von der unwissenden Verzweiflung desjenigen reicht, der noch kein Bewusstsein davon hat, ein Selbst zu sein und damit auch von seiner Verzweiflung kein Bewusstsein haben kann, bis zur äußersten Form bewusster Verzweiflung, in der das Selbst verzweifelt es selbst sein will. Für diese äußerste Form bewusster Verzweiflung verwendet Kierkegaard den Begriff des »Trotzes«. Ich möchte für die folgenden Überlegungen von Kierkegaards Ansatz vor allem die Idee des Selbst als Synthese übernehmen, aus der die Notwendigkeit einer Selbstverortung im Spannungsfeld von Immanenz und Transzendenz hervorgeht, sowie – in Bezug auf Nietzsche – die Kategorie des Trotzes als äußerste Form der Verzweiflung, was ich im Folgenden eingehender explizie­ ren werde.

3. Friedrich Nietzsches Verzweiflung des Trotzes: Ja-Sagen als Nein-Sagen zum Nein Es soll also nun darum gehen, Nietzsches Philosophie immanentisti­ schen Ja-Sagens in diesem Spannungsfeld zu verorten. Dazu soll, wie Vgl. KzT, S. 39. Explizit wird dieser Gedanke bereits in Entweder/Oder formuliert, wo der Ethiker an den Ästhetiker gerichtet schreibt: »Was ist also zu tun? Ich habe nur eine Antwort: verzweifle!« (S. Kierkegaard: Entweder/Oder, S. 764). 10 Vgl. hierzu KzT, S. 39–74. 8

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angedeutet, versucht werden, Nietzsches Denken über den Kierke­ gaardschen Begriff des »Trotzes« zu fassen, womit selbstverständlich zugleich gesagt ist, dass Nietzsches Denken, aus der Perspektive Kierkegaards, als Ausdruck von Verzweiflung zu deuten wäre. Kierkegaard zufolge ist Trotz die Haltung desjenigen, der ver­ zweifelt er selbst sein will und sich in diesem Verzweifelt-man-selbstsein-Wollen sich seiner Verzweiflung bewusst ist. Nun ist der Begriff der Verzweiflung in Nietzsches Denken nicht unbedingt ein zentrales Konzept. Jedoch wäre es naheliegend, das Phänomen der Verzweif­ lung in den Kontext von Nietzsches Auseinandersetzung mit und Bemühung um die Überwindung des Nihilismus zu stellen, wie dies ja in der Forschung bereits verschiedentlich getan worden ist. So führt namentlich Eike Brock in seiner Studie Nietzsche und der Nihilismus die Begriffe des Nihilismus und der Verzweiflung in Zusammenhang mit Nietzsche ausdrücklich zusammen, wenn er notiert: »Klar ist […], dass der Nihilismus kein erstrebenswerter Endzustand ist, denn aktualer Nihilismus ist Verzweiflung.«11 In diesem Sinne ließe sich der 11 Eike Brock: Nietzsche und der Nihilismus. Berlin 2015, S. 19. Auch Karl Jaspers rückt Nihilismus und Verzweiflung bereits explizit zusammen: »Nihilismus ist psycholo­ gisch als Stufe unvermeidlich, wenn das Leben zum Selbstbewußtsein kommen will. Alles Tote, Endgültige muss erst in Frage gestellt werden, muß in den Hexenkessel des Nihilismus geworfen werden, wenn eine neue Gestalt des Lebens entstehen soll. Dem Nihilismus ist nicht zu entrinnen, indem man sich herumdrückt, sondern er ist zu erfahren – was nur unter innerer Verzweiflung möglich ist –, wenn er überwunden […] werden soll […]« (Karl Jaspers, Psychologie der Weltanschauungen, Berlin 1971, S. 303). Vgl. auch Bernard Reginster, The Affirmation of Life: Nietzsche on Overcoming Nihilism, Cambridge (Mass..): Harvard University Press, 2006, S. 27. Bei Volker Ger­ hardt wiederum findet sich ein Gedanke, der Nietzsches Philosophie auch termino­ logisch stark in die Nähe des Kierkegaardschen verzweifelten Selbst-sein-Wollens rückt: »Nietzsches verzweifeltes Philosophieren ist ein Suchen nach sich selbst« (V. Gerhardt: Die Funken des freien Geistes. Neuere Aufsätze zu Nietzsches Philosophie der Zukunft. Hg. Von Jan-Christoph Heilinger und Nikolaos Loukidelis Deneines. Berlin 2011, S. 151). Vgl. auch seine Überlegungen zu Nietzsches Also sprach Zarathustra: »Nietzsches Unbehagen steigert sich zur Qual, wann immer er erfährt, daß er von eben diesem hoffnungslos antiquiert erscheinenden Geschäft nicht lassen kann, daß es gerade die existentiellen Lebensimpulse sind, die das philosophische Fragen nicht vergessen lassen. Gewiß ist Nietzsche nicht der erste, der solche Erfahrungen macht. Aber er hat sie auf unerhörte und schrecklich überzeugende Weise geäußert. Was bei anderen nur Zweifel war, ist bei ihm zur Verzweiflung geworden, die auch noch das scheinbar Selbstverständliche, die Mitteilbarkeit der Gedanken, in Mitleidenschaft zieht« (V. Gerhard: »Die Erfindung eines Weisen. Zur Einleitung in Nietzsches Zara­ thustra«. In ders.: Also sprach Zarathustra. Klassiker auslegen Band 14. Berlin 2000, S. 1–16, hier S. 6).

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Begriff der Verzweiflung, so wie er von Kierkegaard entwickelt wird, prinzipiell dort anlegen, wo in der Erfahrung einer existentiellen Krise in radikaler Art und Weise die Sinnfrage aufbricht.12 Bei Nietzsche ist dies der Fall in der Konstellation der Heraufkunft des Nihilismus in der Folge des Todes Gottes, wie ihn der tolle Mensch in der Fröhlichen Wissenschaft verkündet.13 Der Tod Gottes ist synonym mit dem Verlust jener absoluten Sinnhaftigkeit, wie sie in der christlichen Tra­ dition durch die transzendente Verankerung des Menschen verbürgt war. Die sich daraus ergebenden Konsequenzen entwickelt Nietzsche sowohl im Hinblick auf die Dimension der Orientierungslosigkeit, als auch im Hinblick auf das Problem des Sinnverlusts.14 Beides lässt Nietzsche metaphorisch den tollen Menschen thematisieren. Den Gedanken des Sinnverlusts bringt er anschließend in einem weiteren Aphorismus noch einmal explizit auf den Punkt. Dort heißt es: Indem wir die christliche Interpretation […] von uns stossen und ihren »Sinn« wie eine Falschmünzerei verurtheilen, kommt nun sofort auf eine furchtbare Weise die Schopenhauerische Frage zu uns: hat denn das Dasein überhaupt einen Sinn?15

Insofern nun die Sinnkrise des Nihilismus Nietzsche zufolge durch den Tod Gottes aufbricht, ließe sich argumentieren, dass die nihilis­ tische Verzweiflung bereits über das Kierkegaardsche Verzweiflungs­ modell hinaus ist, insofern ja die Überwindung der Verzweiflung bei Kierkegaard an jenen christlichen Gott gebunden bleibt, dessen Tod der tolle Mensch konstatieren muss. Dies wäre sicherlich die Position, die Nietzsche für sich selbst beanspruchen würde.16 Jedoch werde ich Dies tut im Übrigen Keiji Nishitani explizit in seiner Studie zum Nihilismus. Vgl. K. Nishitani, The Self-Overcoming of nihilism. New York 1990, S. 4. 13 Vgl. Friedrich Nietzsche: Morgenröte. Idyllen aus Messina. Die fröhliche Wissen­ schaft. Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Band 3. München 1999, S. 480–481. 14 Vgl. zu dieser doppelten Konsequenz des Todes Gottes Reginster: »Nietzsche sur­ mises [nihilistic disorientation] is induced by a distinctively human desire, indeed a need, for meaning […]« (B. Reginster: Affirmation of Life, S. 27). 15 F. Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft. S. 600 (Hervorhebungen F.N.). 16 Im Übrigen ließe sich eventuell auch die Position vertreten, dass in einem Sinne der Kierkegaardsche Gott bereits ein Gott nach dem Tode Gottes, das heißt ein postmoderner Gott ist. Zwar ist Gott bei Kierkegaard weiterhin Sinngarant, jedoch nur noch als Möglichkeit. Die Existenz Gottes ist bei Kierkegaard weder metaphysisch noch epistemologisch notwendig, sondern Kierkegaard postuliert Gott allein als existentielle Notwendigkeit und betont stets die Zweideutigkeit, die einem solchen Postulat zugrunde liegt. Der Sinngarant ist bis zu einem gewissen Grad in die Kontingenz des 12

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im Folgenden argumentieren, dass mir eine solche Leseart in dieser Eindeutigkeit fraglich erscheint und der Kierkegaardsche Trotzbegriff zumindest in einigen – durchaus wesentlichen – Teilen Nietzsches Haltung gut zu fassen vermag.17 Kierkegaard definiert die Verzweiflung des Trotzes als die Verzweif­ lung, verzweifelt man selbst sein zu wollen, insofern das Selbst sich weigert, für die Aufgabe der Selbstsetzung die Abhängigkeit von einem transzendenten Schöpfer zu akzeptieren.18 Das Selbst beharrt trotzig auf einer autodeterminierten Selbstsetzung und verweigert die Anerkennung der Tatsache, dass ihm die dem Selbst unterliegenden Bedingungen entzogen sind.19 Trotz ist eine Form der Verzweiflung, die sich bewusst ist, Verzweiflung zu sein, die auch die Überwindung der Verzweiflung am Horizont sich abzeichnen sieht, jedoch trotzig in der Verzweiflung verharrt und auf ihre Verzweiflung beharrt. Der Trotz ist also nicht zuletzt gekennzeichnet durch die Verweigerung des Horizontes der Transzendenz und den Versuch einer immanenten, autonomen Selbstsetzung.20 Nietzsches Philosophie ist meines Erachtens in diesem Sinne deutbar – und zwar indem seine Philosophie des immanenten JaSagens als verzweifeltes Nein zur Verzweiflung verstanden wird und zwar in Form einer Geste rebellischer – oder mit Kierkegaard:

menschlichen Horizontes hineingeholt. Vgl. dazu Sebastian Hüsch: Langeweile bei Heidegger und Kierkegaard. Zum Verhältnis philosophischer und literarischer Darstel­ lung. Tübingen 2014, S. 257–258. 17 Die Anwendbarkeit der Kategorie des Trotzes ist bei Nietzsche etwas weniger offensichtlich als bei Albert Camus, dessen Mythos des Sisyphos sehr viel eindeutiger – nämlich über die Kategorie des Protestes – diese Konfrontation mit einem abwe­ senden Gott strukturell zugrunde legt. Vgl. hierzu Sebastian Hüsch: »Le bonheur du désespoir. Le défi camusien de la conception kierkegaardienne de l’existence esthé­ tique«. In (Re-)Lire Albert Camus. Etudes interdisciplinaires. Hg. von Fernando Gomes. Paris 2016, S. 105–125. Jedoch sehe ich deutliche Parallelen zwischen dem Glück des Sisyphos bei Albert Camus und dem Jasagen Nietzsches, das, wie ich in den folgenden Ausführungen argumentieren werde, letztlich in Bezug auf seine revendizierte Posi­ tivität ambivalent bleibt. 18 Vgl. KzT, S. 74. 19 Der Begriff des »Trotzes« weckt hier selbstverständlich die Assoziation eines »trotzigen Kindes«, das gegen seinen Vater bzw. seine Mutter aufbegehrt – und zwar allein aufgrund der Tatsache, dass es sich nicht ihm äußerlichen Bedingungen und Regeln unterwerfen will. 20 Vgl. KzT, S. 71–72.

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trotziger – Emanzipation.21 Konkreter formuliert scheint mir für Nietzsches Versuch der Überwindung des Nihilismus charakteristisch zu sein, dass dieser durchaus nicht unzweideutig in der durch den Tod Gottes induzierten Sinnkrise aufgeht. Vielmehr präsentiert er sich immer auch als ein Ringen mit dem vorgeblich toten Gott und den durch das Christentum tradierten Sinnfundierungsstrukturen, so dass der Nietzschesche Emanzipationsversuch von Gott als transzen­ dentem Sinngaranten in dialektisch-ambivalenter Weise abhängig bleibt.22 Durchaus zutreffend spricht auch Volker Gerhardt von einer »höchst verdächtigen antichristlichen Fixierung«23 Nietzsches. Die quasi-obsessive Abarbeitung Nietzsches am Christentum wirft in diesem Sinne die Frage auf, ob Nietzsche nicht selbst hierin seine Diagnose widerlegt, wonach dieser Gott bereits tot sei. Denn wenn dem tatsächlich so wäre, dann wäre ein so radikaler Kampf dagegen müßig beziehungsweise schlechter Stil.24 Insofern scheint Nietzsches Ja zur Immanenz über eine doppelte Konsonanz zu verfügen – nämlich nicht nur als ein Überkommen des Nihilismus des letzten Menschen, sondern mindestens ebenso sehr als eine Zurückweisung des Hinterweltlertums derer, die nach wie vor ihren Sinn im Jenseits suchen. Gerade in seinem Postulat der »Umwerthung aller Werthe«25 und des Werteschaffens bleibt Nietzsche dem platonisch-christlichen 21 Dabei handelt es sich freilich, das möchte ich betonen, um eine mögliche Leseart, die in die Ambivalenz des Nietzscheschen Werkes eingeschrieben ist. Sie fußt auf der Attribution einer Erschlossenheit, in welcher die Zustimmung im Sinne des amor fati ein dem Nein abgerungenes Ja ist. 22 Möglicherweise würde eine solche Deutung sogar Nietzsches Zustimmung finden, insofern er das Problem der Abhängigkeit vom Emanzipationsgegenstand in einem Brief an Lou Salomé selbst wie folgt formuliert hat: »Erst hat man Noth, sich von seinen Ketten zu emancipiren, und schließlich muß man sich noch von dieser Eman­ cipation emancipiren! Es hat Jeder von uns, wenn auch in sehr verschiedener Weise an der Ketten-Krankheit zu laboriren, auch nachdem er die Ketten zerbrochen hat« (Friedrich Nietzsche: Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden. Band 6: Januar 1880 – Dezember 1884. München 2003, S. 247–248; Hervorhebungen F.N.). 23 Volker Gerhart: »Die Erfindung eines Weisen. Zur Einleitung in Nietzsches Zara­ thustra«. In: Friedrich Nietzsche. Also Sprach Zarathustra. Hg. von Volker Gerhardt. Berlin 2000, S. 1–15, hier S. 2. 24 Denn dann würde er sich an einem besiegten, unwürdigen Gegner abarbeiten. Vgl. hierzu Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente 1880–1882. München 1988, S. 254 (6 [214]). 25 Vgl. Friedrich Nietzsche: Der Fall Wagner. Götzen-Dämmerung. Der Antichrist. Ecce homo. Dionysos-Dithyramben. Nietzsche contra Wagner. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Band 6. München 1999, S. 253 [62].

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Sinnstiftungshorizont negativ verhaftet.26 Nicht von ungefähr sieht sich Nietzsche noch in seinem Spätwerk mit dem Anti-Christ zum Verfassen eines Textes veranlasst, der diese Negativität als Geste des Trotzes bereits im Titel trägt. Seine Philosophie des »Ja- und Amen«27-Sagens nimmt ihren Ausgangspunkt mithin in einer sol­ chen Geste des Gegen: Nein zur Hinterwelt, Nein zum Nihilismus, Nein zum Nein-Sagen28. Nietzsches Postulat vom Schaffen neuer Werte, die »der Erde treu«29 bleiben, kann hier als der verzweifelttrotzige Versuch verstanden werden, jenes ursprünglich transzen­ dente Sinnbedürfnis, das durch den Tod Gottes ungestillt bleibt, in der Immanenz durch die Schaffung neuer Werte zu stillen.30 Wenn ich also Kierkegaards Begriff des Trotzes auf Nietzsche anwende, so soll damit auf Nietzsches negativen Transzendenzbezug verwiesen sein in dem Sinne, dass Nietzsches Postulat des Ja-Sagens keinen Selbst-Entwurf darstellt, der jene Spannung zwischen Trans­ zendenz und Immanenz, die Kierkegaard an den Verzweiflungsbegriff bindet, positiv zu integrieren vermag. Das Postulat immanenter Sinn­ stiftung verbleibt im Horizont dessen, wogegen es sich wendet und damit im Modus der Negativität. Im Grunde bleibt es ein trotzgier Versuch, Verzweiflung in ein Ja umzudeuten in dem Bemühen, um jeden Preis das zu vermeiden, was Kierkegaard für existentiell unaus­ weichlich ansah: nämlich angesichts der Abgründigkeit des Dasein Rettung zu suchen in der Transzendenz. Aus diesem Grund scheint mir auch der Versuch, Nietzsche allzu sehr in die Nähe fernöstlicher Weisheitslehren zu bringen, problematisch. Vgl. hierzu den Sam­ melband von Graham Parkes (Hg.): Nietzsche and Asian thought. Chicago 1991. 27 Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. München 1999, S. 287. 28 Nicht ohne Grund kommt Eckhard Heftrich zu der Konklusion, Nietzsche sei »ein Genie des Neinsagens« (E. Helfrich: Nietzsches tragische Größe. Frankfurt/Main 2000, S. 60). Nietzsche lehnt sich mithin auf gegen den Nihilismus des Christentums, während das Kierkegaardsche Verständnis des Christentums gerade einen positiven Selbst- und Weltbezug ermöglicht. Insofern ist, mit Bezug auf das Christentum, das Nein zum Nein aus der Perspektive Nietzsches ein Nein zum Ja aus der Perspektive Kierkegaards. 29 Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra, S. 10. 30 Auch Gustav Landauer hatte dies in einem ähnlichen Sinne betont: »Denn jede neue Welt, jede neue Anschauung, jede neue Religion ist immer dann emporgekom­ men, wenn das Leben in der alten Weise nicht mehr zu ertragen war. Nietzsche ist der Sprecher dieser unserer Verzweiflung und dieser unserer gewaltigen Sehnsucht […]« (Hanna Delf: »›Nietzsche ist für uns Europäer...‹: Zwei unveröffentlichte Aufsätze Gustav Landauers zur frühen Nietzsche-Rezeption. Teil II«. In: Zeitschrift für Religi­ ons- und Geistesgeschichte 44/4 (1992), S. 302–321, hier S. 316). 26

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4. Keiji Nishitani: Überwindung der Verzweiflung durch Überwindung einer falschen Selbst-Konzeption Wie bei Kierkegaard und im Unterschied zu Nietzsche fungiert bei Keiji Nishitani die Verzweiflung wieder explizit als Schlüsselerfah­ rung menschlichen Existierens. Insofern Nishitani zudem den Begriff der Verzweiflung quasi synonym mit dem des Nihilismus verwendet, und zwar als Ausdruck einer tiefsten Krise des Selbst, hätte ich mich mithin auch auf Nishitani stützen können, um zu begründen, warum ich Nietzsches Auseinandersetzung mit dem Nihilismus in den Kontext des Verzweiflungsbegriffs stelle. Insofern Nishitani Ver­ zweiflung und Nihilismus synonym verwendet, ist es nur konsequent, wenn er betont, dass der Begriff des Nihilismus, wenn er denn eine tiefere Bedeutung haben soll, existentiell zu verstehen ist, das heißt, wesentlich in Bezug auf das Individuum seine Relevanz erlangt. In diesem Sinne notiert Nishitani: Aber wenn Nihilismus überhaupt etwas ist, dann ist er zuallererst ein Problem des Selbst. Und er wird ein solches Problem erst und nur wenn das Selbst solch ein Problem wird, wenn der Grund der Existenz, den man »das Selbst« nennt, für sich selbst ein Problem wird. Wenn das Problem des Nihilismus jenseits von der Frage des Selbst gestellt wird, oder als ein Problem der Gesellschaft insgesamt, dann verliert es die besondere Ursprünglichkeit, die es vor anderen Problemen auszeichnet.31

Wie ich nun zeigen möchte, konstruiert Nishitani, ausgehend von der im Kontext seiner Nihilismus-Diskussion thematisierten Verzweif­ lungserfahrung, ein Selbstmodell, das sich in ganz eigener Weise im Spannungsfeld von Transzendenz und Immanenz positioniert. Wäh­ rend es einerseits nicht des Postulats eines transzendenten Gottes bedarf, wie dies bei Kierkegaard der Fall ist, konstituiert es sich ande­ rerseits, anders als bei Nietzsche, in seinen Grundstrukturen positiv.

Keiji Nishitani: The Self-Overcoming of Nihilism. Albany 1990, S. 1 (meine Über­ setzung; »But if nihilism is anything, it is first of all a problem of the self. And it becomes such a problem only when the self becomes such a problem, when the ground of existence called ›the self‹ becomes a problem for itself. When the problem of nihilism is posed apart from the self, or as a problem of society in general, it loses the special genuineness that distinguishes it from other problems.«). 31

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Was die Schlüsselfunktion der Verzweiflung angeht, so betont Nis­ hitani in seiner Studie Was ist Religion: »Es ist die Situation der Verzweiflung, die gerade der extreme und wahre Aspekt [des] In-derWelt-Seins ist.«32 Wie für Kierkegaard erschließt sich für Nishitani die Möglichkeit einer positiven Selbstsetzung aus der Erfahrung existentieller Verzweiflung.33 Allein die Verzweiflung offenbart den Horizont eines in einem grundlegenden Sinne verzweiflungsfreien Selbstseins. Das aus der Verzweiflungserfahrung als eigentliches Selbst hervorgehende Selbst konstituiert sich jedoch bei Nishitani in grundlegend anderer Weise als dies bei Kierkegaard der Fall ist.

32 Keiji Nishitani: Was ist Religion? Frankfurt/Main 1982, S. 276. Man darf im Übri­ gen davon ausgehen, dass sich bei Nishitani in ähnlicher Weise wie bei Kierkegaard und Nietzsche Leben und Denken gegenseitig durchdringen und bedingen. So notiert Nishitani über seine Jugendzeit: »Es war eine Periode ohne jede Hoffnung … mein Leben lag zu jener Zeit ganz im Griff der Nichtigkeit und Verzweiflung. … mein Ent­ schluß dann, Philosophie zu studieren, war tatsächlich, so melodramatisch das klingen mag, eine Sache auf Leben und Tod. In der kleinen Geschichte meiner Seele bedeutet dieser Entschluß eine Art Konversion« (K. Nishitani: Was ist Religion?, S. 25). Von daher erschließt sich auch Nishitanis Interesse an einer bestimmten Art abendländi­ scher Philosophie und sein fehlendes Interesse an den zu seiner Zeit ›modernen‹ Denkweisen des Materialismus und Positivismus, denn: »Eine materialistische Phi­ losophie weiß keine Antwort auf das Problem der Seele, das ist mir aus eigener Erfah­ rung klar geworden. Für mich besteht kein Zweifel daran, daß diese Probleme die eigentlichen Fragen des Menschen sind« (K. Nishitani: Was ist Religion?, S. 25). 33 Im Übrigen postuliert Nishitani interessanterweise ganz wie Kierkegaard eine grundlegende Differenzierung – nämlich zwischen Zweifel und Verzweiflung. Wäh­ rend ersterer allein auf die Vernunft bezogen ist, verweist der Begriff der Verzweiflung auf das Sinn- und Transzendenzbedürfnis, das den Horizont der Vernunft übersteigt. Vgl. K. Nishitani: Was ist Religion?, S. 276: »Während der Zweifel eine Sache in der Dimension der Vernunft ist, ist die Verzweiflung eine Sache in der Dimension der Transzendenz und zeigt das Inbild des Seins im offenstehenden Nichts. Dies war gemeint, als von Selbst-Vergegenwärtigung des ›Großen Zweifels‹ die Rede war, den man als jenen unbezweifelbaren Zweifel bezeichnen könnte, der als menschliche Exis­ tenz auf der Stufe der Transzendenz zum Vorschein kommt.« Vgl. in diesem Zusam­ menhang auch Daisetz T. Suzuki, der ebenfalls explizit den Unterschied zwischen rein intellektuellen und existentiellen Herausforderungen betont. In seinen Essays zum Zen-Buddhismus schreibt er: »La solution d’un problème de mathématiques résout le problème et ne va pas plus loin; elle n’affecte pas l’ensemble de la vie du chercheur. Il en est de même des autres questions particulières, pratiques ou scientifiques; elles n’atteignent pas la note fondamentale de la vie de l’individu« (D. T. Suzuki: Essais sur le bouddhisme zen. Paris 1972, S. 271; meine Hervorhebungen). Vgl. auch in die gleiche Richtung argumentierend Eshin Nishimura: »A Zen Understanding of Kierkegaard’s Existential Thought«. In: Kierkegaard and Japanese thought. Hg. on James Giles, New York 2008, S. 71–86, insbesondere S. 77.

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Für Kierkegaard war, wie gezeigt, der einzig gangbare Weg der, die eigene Existenz, das eigene Selbst in seiner Abhängigkeit zum transzendenten Schöpfergott zu gründen. Im Unterschied hierzu konstituiert sich bei Nishitani das verzweiflungsfreie Selbst ohne Referenz auf eine transzendente Instanz. Zunächst betont auch Nis­ hitani die Notwendigkeit, illusorische autonome Selbstkonzepte zu überwinden und der eigenen Abhängigkeit, sowie der Entzogenheit der Bedingungen des eigenen Selbstseins einsichtig zu werden. Statt jedoch diese Notwendigkeit an das Postulat eines transzendenten Dritten zu binden, postuliert Nishitani eine Transzendenz des Selbst in Richtung auf die absolute Leere (sunyata) als den Un-grund aller Phänomene. Verzweiflung beruhe auf dem verzweifelten Anhaften an der Vorstellung des Selbst als »be-gründet« angesichts seiner wesentlichen Nichtigkeit. Wie Nishitani das meint, wird deutlich, wenn er das ontisch primäre, alltägliche Selbstmodell mit dem Begriff des »Ego« fasst – welcher auf das Ego des Descartes als fundamentum inconcussum verweist. Das Selbst als Ego ist mithin zu verstehen im Sinne einer autonomen Entität, von der her sich die Welt aufspannt. Dieses Selbst- und Weltverständnis ist, Nishitani zufolge, quasi natürlich, und wir hängen immer zunächst und zuerst an diesem als Ego konzipierten Selbstmodell34, auch wenn es unausweichlich in die Verzweiflung führt 35 – ähnlich wie der Verzweifelte bei Kierkegaard in trotziger Verzweiflung an jenem Selbstmodell festhält, das der Verzweiflung zugrunde liegt.36 Andererseits werden wir im Zustand der Verzweiflung aber auch mit der Defizienz des Selbstverständnis­ ses in Form des Ego konfrontiert37, derart, dass sich in der und durch die Verzweiflung die Möglichkeit eröffnet, dieses begrenzte Selbstkonzept zu transzendieren, um zu unserem eigentlichen Selbst vorzudringen. Während Kierkegaard das Selbst durch die Veranke­ rung in der Transzendenz aus der Verzweiflung hebt, führt Nishitani Nishitani spricht auch von dem »subjektiven Modus des Selbstseins« (K. Nishitani: Was ist Religion?, S. 275). 35 Vgl. K. Nishitani: Was ist Religion?, S. 275. 36 Vgl. K. Nishitani: Was ist Religion?, S. 286–287: »Die wahre ›Natur‹ des Ich-Selbst zeigt sich im Ich-Selbst und als Ich-Selbst, indem sie immer hinter ihm verborgen bleibt. Die wirkliche Natur, deren Ereignis das Ich-Selbst ist, ist an sich Nicht-Selbst. Der Grund für das Entstehen des Ich-Selbst muß in seiner wesentlichen Natur selber liegen, aber indem es in Erscheinung tritt, verschleiert es stets den Grund seines Seins und seine wahre Natur.« 37 Vgl. K. Nishitani: Was ist Religion?, S. 276. 34

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das Selbst in die Einsicht in seine Nicht-Selbigkeit. Nishitani formu­ liert diesen Gedanken explizit paradox: Wir müssen unser Selbst als Nicht-Selbst begreifen, um zu unserem eigentlichen Selbst zu gelangen: »Dieses Selbst«, so Nishitani, »das nicht selbst ist, das sich im Nicht-Selbst ereignende Selbst, ist das wahrhaft ursprünglichste, eigentliche Selbst.«38 Diese Definition des eigentlichen Selbst soll deutlich machen, dass das Selbst nur es selbst sein kann, wenn es sich hin auf die absolute Leere [sunyata] transzendiert, das heißt, hin auf die wesentliche Leere aller Dinge und damit auch des Selbst. Der Begriff der absoluten Leere beziehungsweise des absoluten Nichts verweist dabei auf etwas grundlegend Anderes als das nihilistische Nichts. Das nihilistische Nichts, das als das Andere des Seins in die Verzweiflung führt, kann aber, wie die tiefste Verzweiflung bei Kier­ kegaard, »als ein Abgrund, in den unser Selbstsein hineingehalten ist«39, zu jenem Tiefpunkt des Selbstmodells werden, von dem aus sich dann das Neue offenbart, das freilich hier nicht Gott ist, sondern das absolute Nichts: Wie […] das nihilum für alles Seiende ein Abgrund ist, so ist die Leere ihrerseits ein Abgrund für den Abgrund des Nichts. So wie man zum Beispiel von einem Tal, wie unermeßlich tief es auch sei, sagen kann, es befinde sich letztlich im grenzenlosen weiten Himmel; kann man auch sagen, das nihilum sei in der Leere.40

Unter Verwendung eines Heideggerschen Begriffes ließe sich sagen, es handelt sich darum, zu einer neuen Art der Erschlossenheit des Selbst durchzudringen41, in der sich das Selbst zu sich selbst als Nicht-Selbst befreit42, indem es sich – durch das Nichts des Nihi­ lismus hindurch – hin auf die absolute Leere transzendiert. Der K. Nishitani: Was ist Religion?, S. 386. K. Nishitani: Was ist Religion?, S. 169. 40 K. Nishitani: Was ist Religion?, S. 172. 41 Vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit. Tübingen 1979, S. 132. 42 Das Erwachen (satori) zum eigentlichen Selbst als Nicht-Selbst ist zu verstehen als eine transformative Erfahrung, in der die Realität sich in neuem Licht zeigt. Daisetz Suzuki beschreibt diese Transformationserfahrung wie folgt: »[Le Zen] nous assure l’acquisition d’un nouveau point de vue, d’où la vie prendra un aspect plus frais, plus profond et plus satisfaisant. Mais, bien entendu, cette acquisition est en réalité le plus grand cataclysme mental qu’on puisse traverser dans la vie. Ce n’est pas une tâche facile, c’est une sorte de batême de feu et il faut passer au travers de tempêtes, trem­ blements de terre, écroulements de montagnes, éclatements de rochers« (D.T. Suzuki: Essais sur le bouddhisme zen, S. 269). Wichtig ist jedoch, dass hier, anders als 38

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Rückgriff Nishitanis auf zahllose paradoxe Formulierungen zeigt die grundsätzliche Schwierigkeit einer sprachlichen Einholung dessen, worum es im Kern geht43 – nämlich um eine grundlegende Differenz in der Konzeption des Selbst und mithin dort, wo – positivistisch betrachtet – keine Differenz in Anschlag gebracht werden kann.44 Das wird auch deutlich, wenn Nishitani sich für sein zentrales Postulat auf eine Einsicht des Ahnherrn der Zen-Tradition, Dōgen, beruft und auf dessen These von einer Indifferenz von samsara und nirvana. So betont Dōgen, dass nirvana nicht zu verstehen ist als etwas, das jenseits unserer immanenten Welt sei. Vielmehr sei nirvana die Welt des samsara, wenn und insofern sie auf die richtige Art und Weise betrachtet wird, das heißt ohne die der Welt des samsara zugrundeliegenden Täuschungen über sich selbst und die Phänomene als substantiell.45 Wenn das Selbst als Nicht-Selbst erschlossen ist, transzendiert sich das Selbst hin auf sich selbst als Nicht-Selbst und auf die Welt als substanzlos. Durch dieses Transzendieren erfährt die Wirklichkeit für das Selbst in einem Sinne eine fundamentale Metamorphose und bleibt doch, in einem anderen Sinne, vollkommen gleich.46 Die Erschlossenheit des Selbst als Nicht-Selbst überwindet bei Kierkegaards ebenfalls grundstürzendem Sprung in den Glauben, keine Anbin­ dung an eine transzendente Instanz impliziert ist. 43 Auch Heidegger verweist auf die Zweideutigkeit wesentlicher philosophischer Probleme und ihrer sprachlichen Einholung. Vgl. M. Heidegger: Sein und Zeit, S. 173– 175 und M. Heidegger: Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsam­ keit. Frankfurt/Main 2004, S. 17–20. Vgl. zur Zweideutigkeit bei Heidegger auch S. Hüsch: Langeweile bei Heidegger und Kierkegaard, S. 268–270. 44 Vgl. hierzu Peter Sloterdijk: Kritik der zynischen Vernunft. Band I. Frankfurt/Main 1983, S. 376. 45 Vgl. James R. Giles: »To Practise One Thing«. In: Kierkegaard and Japanese Thought. New York 2008, S. 87–106, hier S. 98: »But this distinction between the transcendental and the phenomenal – that which presents itself to experience – has no place in Buddhist thought. In Buddhist thought there is no such thing as transcen­ dence. There is only our senses and their objects. There is nirvāna, but it is only samsāra correctly perceived. Or, in Dōgen’s words, the realization of things as they are is enlightenment.« 46 Interessanterweise findet sich ein erstaunlich ähnlicher Verweis auf eine transfor­ mierende Erfahrung im Ergreifen seines eigentlichen Selbst bei Kierkegaard und zwar in Entweder/Oder, wo der Ethiker den Sprung aus der Verzweiflung in den Glauben als eine »Metamorphose« beschreibt, bei der alles fundamental anders wird und dabei doch in einem Sinne vollkommen gleichbleibt: »Alles kommt wieder, jedoch verklärt« (S. Kierkegaard: Entweder/Oder, S. 840), so heißt es dort. Äquivalent zu dieser Bes­ chreibung in Entweder/Oder lesen wir bei Suzuki zur Erleuchtungserfahrung des satori: »[P]our ceux qui ont acquis un satori, le monde n’est plus ce qu’il était aupara­

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die Verzweiflung mithin positiv im ›Diesseits‹ durch die Transzendie­ rung der Ego-Zentrizität, der Selbstbezogenheit, des Selbst hin auf das absolute Nichts bzw. die Leere.47. Freilich bleibt hier eine entscheidende Frage noch offen, nämlich die Frage danach, wie die Transzendierung hin auf die absolute Leere es vermag, das Selbst aus der Verzweiflung zu führen; und die Beantwortung dieser Frage erlaubt es mir nun, die Überlegungen zu Nishitani mit der Nietzsche-Diskussion zu verknüpfen.

5. Die Überwindung der Verzweiflung: Sinnsetzung (Nietzsche) und Sinnpreisgabe (Nishitani) Ich hatte für Nietzsche festgehalten, dass seine Philosophie des Ja-Sagens im Grunde negativ ist, insofern sie gebunden bleibt an die Ablehnung eines transzendenten, sinnverbürgenden Gottes, das heißt genau jenes Gottes, wie ihn Kierkegaard in seiner Verzweif­ lungskonzeption voraussetzt. Nietzsche positioniert sich gegen einen solchen sinnverbürgenden Gott, indem er dem Menschen selbst die Sinnsetzung übereignet.48 Die Sinnkonstitution ist zwar in dieser Form in die Immanenz zurückgeholt, aber die gesamte Denkstruktur vant; il peut garder ses rivières qui coulent et ses flammes brûlantes, plus jamais il ne redevient le même.« (D. T. Suzuki : Essais sur le bouddhisme zen, S. 270–271). Die Erleuchtungserfahrung ist in keiner Weise antizipierbar, sondern sie ereignet sich plötzlich, wie ein Durchbruch zu einer neuen Realität, die aber selbstverständlich im zuvor gesehenen Sinne immer noch die gleiche Realität ist, nur dass sich die Weise ihrer Erschlossenheit transformiert hat: »Sans la réalisation du satori, nul ne peut entrer dans le mystère du Zen. C’est l’éclair soudain d’une nouvelle vérité dont on n’avait même pas rêvé jusqu’alors. C’est une sorte de catastrophe mentale qui se produit d’un seul coup après que l’on a longuement empilé les uns sur les autres les concepts intellectuels et des pensées discursives. La pile a atteint sa limite, tout l’édifice s’écroule, et voici qu’un ciel nouveau s’est ouvert à votre entière vision« (D. T. Suzuki : Essais sur le bouddhisme zen, S. 307). 47 An dieser Stelle sei angemerkt, dass von daher auch Nietzsches Einreihung des Nirwana in die Liste der erlogenen nihilistischen Hinterweltkonzepte im Sinne von Vorstellungen wie »Jenseits«, Gott«, und »das wahre Leben«, wie er sie im Antichrist vornimmt (vgl. F. Nietzsche: Der Fall Wagner. Götzen-Dämmerung. Der Antichrist. Ecce homo. Dionysos-Dithyramben. Nietzsche contra Wagner, S. 173), zumindest in Bezug auf den Zen-Buddhismus unzutreffend ist. 48 So lautet ein zentrales Postulat Zarathustras: »Der Übermensch ist der Sinn der Erde. Euer Wille sage: der Übermensch sei der Sinn der Erde« (F. Nietzsche: Also sprach Zarathustra, S. 14).

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bleibt dem zu überwindenden Modell ex negativo verbunden und ist insofern eine »trotzige« Absage an das metaphysisch-theologische Erbe in dem verzweifelten Versuch einer Emanzipation. Nishitani geht in der Erschließung eines affirmativen Selbst einen gänzlich anderen Weg. Vor dem Hintergrund einer im ZenBuddhismus wurzelnden Ontologie, der die Vorstellung eines tran­ szendenten Schöpfergottes fremd ist, postuliert er, wie gesehen, eine Neukonfigurierung der Erschlossenheit des Selbst und der Welt. Die entscheidende Transformation wird dabei jedoch nicht durch eine Umwertung von Werten oder eine andere Form transformierter Sinngeneration erreicht. Vielmehr geht die Bewegung in die exakte Gegenrichtung des Sinnmodells: Der Übergang von samsara zu nir­ vana erfolgt gerade dadurch, dass die Sinnfrage nicht neu beantwortet, sondern darin, dass sie prinzipiell fallengelassen wird.49 Die von Nishitani nahegelegte Transformation ereignet sich darin, dass der Realität überhaupt kein ›Warum‹, kein ›Um…zu‹ oder ›Woraufhin‹ mehr untergeschoben wird, weder transzendent noch immanent. Denn im Festhalten an der ›Warum‹-Frage drückt sich nach Zen-bud­ dhistischem Verständnis ebenjene Täuschung über die Realität aus, die es zu überwinden gilt. Nishitani formuliert das wie folgt: Wenn unser Sein, Werden und Tun, oder auch: unsere Existenz, unser Leben und Handeln jeweils aus ihrem allerletzten Grund hervorkom­ men, nämlich sich dort ereignen, wo das Nicht-Selbst das Selbst ist, sind sie bar jeden Charakters des »Weswegen« oder des »Wozu«. Die Suche nach einem Ziel oder einer Begründung außerhalb ihrer selbst erlischt. Sie werden in der Tat Ziel und Zweck in sich selbst, grundlos und unbegründet, Leben ohne Warum.50

Dabei ist jedoch die hier zitierte Formel des »Zweckes in sich selbst« eine tendenziell missverständliche Formulierung, die mutmaßlich dem Versuch geschuldet ist, eine Zen-buddhistische Konzeption in der Terminologie westlicher Philosophie zu fassen. Denn im Grunde geht es auch nicht mehr um Zwecke. Das wird sehr deutlich, wenn Nishitani betont jedoch, dass die Sinnleere keinesfalls mit der des Nihilismus zu verwechseln sei. Vgl. K. Nishitani: Was ist Religion?, S. 284–285. 50 K. Nishitani: Was ist Religion?, S. 380. Vgl. auch ebd., S. 282: »Wo die Wahrheit des Sinns bis zum letzten Grund vorangetrieben wird, erscheint Sinn-losigkeit. Was jedoch in dieser Weise als Paradoxon, als Absurdität oder Sinnlosigkeit erscheint, ist in Wahrheit die absolute Realität, der Ort, wo Leben sich wahrhaft selbst lebt. Wenn hier gesagt wird, das Leben an sich sei sinnlos, so zeigt diese Äußerung lediglich an, daß das Leben wahrhaft sich selbst lebt.« 49

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wir zur Veranschaulichung des Sachverhaltes die Reflexionen von Shizuteru Ueda hinzuziehen, einem zeitgenössischen Philosophen und Vertreter der dritten Generation der Kyoto-Schule. Ueda hat sich in seiner Forschung unter anderem eingehend mit Parallelen zwischen westlicher Mystik und dem Zen-Buddhismus befasst. Ausgehend von einer Textstelle aus den Schriften des Mystikers Angelus Silesius erläutert er die Idee eines Freimachens von teleologischen Denkstruk­ turen. Dort heißt es: Die Rose ist ohne Warum. Sie blühet, weil sie blühet. Sie achtet nicht ihrer selbst, fragt nicht, ob man sie siehet.51

Die einleitende Textzeile »Die Rose ist ohne Warum« nimmt zunächst einmal den Gedanken auf, den Nishitani in dem zuvor genannten Zitat zum Ausdruck bringt, der aber durch die Rede vom Ziel und Zweck an sich selbst etwas verdunkelt worden ist. Deshalb ist inter­ essant, wie Ueda diesen Gedanken nun in seiner Interpretation des Angelus-Silesius-Verses radikalisiert. Dazu hebt Ueda hervor, dass es in der darauffolgenden Zeile heiße: Die Rose »blühet, weil sie blühet«. In der Verwendung der Konjunktion »weil« kommt, so Ueda, immer noch ein Rest des zu überwindenden Denkens in Kausalitäten und Zwecken zum Ausdruck, auch wenn die Formulierung tautologisch ist. Es gelte vielmehr zu einer Perspektive vorzudringen, in der auch dieser Restbestand kausalen Denkens hinter sich gelassen wird. Zur Illustration zieht Ueda ein thematisch verwandtes Zen-Wort heran, in dem es schlicht heißt: »The flowers blossom just as they blossom« (»Die Blumen blühen wie sie blühen«).52 Erst hier ist die Erschließung der Phänomene frei auch von den letzten Resten eines Zweck- und Finalitätsdenkens. Analog zu der Betrachtung der Blumen, die blühen wie sie blühen, gilt es auch zu einem Selbstverständnis vorzudringen, das sich jedweder Zweckorientierung entledigt hat. Dieser Gedanke ist sicherlich sowohl vor dem Hintergrund der Kantischen als auch einer nutzenorientierten westlichen philosophischen Tradition nur mit Mühe zu denken. Bezüglich letzterem betont denn auch Gyo­ 51 Angelus Silesius: Cherubinischer Wandersmann. Sämtliche Poetische Werke. Band I. München 1949. Ueda zitiert diesen Vers auf Englisch in S. Ueda: »The Zen Buddhist Experience of the Truly Beautiful.« The Eastern Buddhist, 22/1, Spring 1989, S. 1–36, hier S. 4. 52 S. Ueda: »The Zen Buddhist Experience of the Truly Beautiful«, S. 4.

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may M. Kubose ausdrücklich: Weder der »moderne, pragmatisch orientierte Geist«, noch die »utilitaristische Philosophie können Zen […] verstehen«.53 Dem zweckorientierten Denken entziehe sich die Wahrheit des Zen eines Lebens ohne Warum. Die zentrale Bedeutung der Preisgabe der Frage nach dem Warum und der Suche nach Sinnhaftigkeit wird, direkt oder indirekt, auch immer wieder in den für den Zen-Buddhismus charakteristi­ schen sogenannten kōans adressiert, oft durch radikalen Kommuni­ kationsabbruch. Exemplarisch dafür wäre z.B. ein kōan in dem es hießt: »Ein Mönch fragte Dschau-dschou: Was ist der Sinn davon, daß von Westen her der Patriarch gekommen ist? Dschau-dschou erwiderte: ›Eichbaum vor dem Garten.‹ « 54 Die Frage nach dem Sinn lässt der Zen-Meister mithin ins Leere laufen, um anzuzeigen, dass sie auf einem zu überwindenden Realitätsverständnis basiert, auf jenem Realitätsverständnis, das auch der existentiellen Verzweiflung zugrunde liegt und wie es die menschliche Vernunft in der Form einer Subjekt-Objekt-Struktur induziert. Die Erschließung der Welt als nirwana und die Befreiung des Selbst aus der Gebundenheit an das »Warum« erfolgt konsequen­ terweise durch das Transzendieren der menschlichen Vernunft und damit jener Subjekt-Objekt-Spaltung des Denkens, die der üblichen Selbsterfahrung zugrunde liegt. Das Selbst als Nicht-Selbst liegt jenseits dieser Dichotomie und kann in der Selbsttranszendierung hin zum Nicht-Selbst sich vorbehaltlos jasagend einschreiben in das Werden und Vergehen, das aus dem absoluten Nichts (sunyata) entspringt und dorthin zurückkehrt beziehungsweise sich in dieser absoluten Leere ereignet. Die Sinnfreiheit ist damit gerade nicht mehr die Ursache der Verzweiflung, sondern sie ist nun vielmehr die Basis für ihre Überwindung. Die Überwindung der Verzweiflung nimmt mithin die Form der Transzendenz des Selbst hin zum Nichtselbst an, aus der ein ähnlich umfassendes Ja-Sagen entspringt, wie es bei Nietzsche zu finden ist, jedoch ohne sich gegen etwas zu konstruieren. In der Transzendierung des alltäglichen In-der-Welt-Seins vollzieht sich eine Transforma­ tion der Erschlossenheit, die sich ohne Gegnerschaft konstituiert, Gyomay M. Kubose: Zen Kōans. Chicago 1973, S. 254 (meine Übersetzung; »The modern pragmatic mind and utilitarian philosophers do not understand Zen.«). 54 Zitiert nach S. Ueda: Die Gottesgeburt in der Seele und der Durchbruch zur Gottheit. Die mystische Anthropologie Meister Eckharts und ihre Konfrontation mit der Mystik des Zen-Buddhismus. Gütersloh 1965, S. 153. 53

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anders als bei Nietzsche, dessen Haltung, wie argumentiert, negativ abhängig bleibt von der Idee einer Hinterwelt; und anders als bei Kierkegaard kommt diese Form der Überwindung der Verzweiflung ohne das Postulat eines transzendenten Gottes aus.

6. Schluss Insofern meines Erachtens die Verzweiflung als Schlüsselerfahrung in der Tat auf einen fundamentalen Aspekt des Menschseins verweist und von daher auch für die Gegenwartsgesellschaft noch relevant ist, scheint mir, dass Kierkegaards Phänomenologie der Verzweiflung auch heute noch Aktualisierungspotential hat. Selbst wenn man Kierkegaards theologische Prämissen nicht übernehmen will, was etwa Tugendhat zufolge schlicht ein Gebot der intellektuellen Redlich­ keit ist55, scheint mir die Frage nach gelingender Selbstsetzung vor dem Hintergrund des Kierkegaardschen Modells nach wie vor ein gewinnbringendes Unterfangen zu sein. Dies habe ich versucht, mit Bezug auf Nietzsche und Nishitani sichtbar zu machen. Meine These war, dass sich Nietzsches Philosophie in die von Kier­ kegaard entworfene Konstellation eines Spannungsfeldes zwischen Transzendenz und Immanenz integrieren lässt über die Verzweiflung des Trotzes in dem Sinne, dass das Jasagen als eine negative Geste zu begreifen wäre, anders als das in der Konzeption des Selbst als Nicht-Selbst bei Nishitani der Fall ist. Hier wird die neu konfi­ gurierte Selbst-Konzeption nicht gegen die illusorisch-trügerische Selbst-Konzeption gesetzt, sondern sie fußt auf einer Transformation der Erschlossenheit der Realität, die sich rein affirmativ konstituiert. Pointiert formuliert: Während Nietzsche trotzig-verzweifelt Ja sagt, nämlich im Sinne eines Nein zum Nein, handelt es sich bei jenem Ja, das aus dem Selbst als Nicht-Selbst emergiert, um ein freies Ja, das aus dem Un-Grund des Nichts möglich wird.

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Vgl. Ernst Tugendhat: Egozentrizität und Mystik, S. 124.

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Literatur Angelus Silesius: Cherubinischer Wandersmann. Sämtliche Poetische Werke. Band I. München 1949. Brock, Eike: Nietzsche und der Nihilismus. Berlin 2015. Delf, Hanna: »›Nietzsche ist für uns Europäer...‹: Zwei unveröffentlichte Auf­ sätze Gustav Landauers zur frühen Nietzsche-Rezeption. Teil II«. In: Zeit­ schrift für Religions- und Geistesgeschichte 44/4 (1992), S. 302–321. Gerhardt, Volker: Die Funken des freien Geistes. Neuere Aufsätze zu Nietzsches Philosophie der Zukunft. Hg. von Jan-Christoph Heilinger und Nikolaos Loukidelis Deneines. Berlin 2011. Gerhardt, Volker: »Die Erfindung eines Weisen. Zur Einleitung in Nietzsches Zarathustra«. In: Friedrich Nietzsche. Also Sprach Zarathustra. Hg. von Volker Gerhardt. Berlin 2000, S. 1–16. Giles, James R.: »To Practise One Thing«. In: Kierkegaard and Japanese Thought. Hg. von James R. Giles. New York 2008, S. 87–106. Heidegger, Martin: Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsam­ keit. Frankfurt/Main 2004. Heidegger, Martin: Sein und Zeit. Tübingen 1979. Helfrich, Eckhard: Nietzsches tragische Größe. Frankfurt/Main 2000. Hüsch, Sebastian: »Le bonheur du désespoir. Le défi camusien de la conception kierkegaardienne de l’existence esthétique«. In: (Re-)Lire Albert Camus. Etudes interdisciplinaires. Hg. von Fernando Gomes. Paris 2016, S. 105–125. Hüsch, Sebastian: Langeweile bei Heidegger und Kierkegaard. Zum Verhältnis philosophischer und literarischer Darstellung. Tübingen 2014. Jaspers, Karl: Psychologie der Weltanschauungen. Berlin 1971. Kierkegaard, Sören: Entweder/Oder. Teil I und II. München 2005. Kierkegaard, Sören: Die Krankheit zum Tode. Der Hohepriester, der Zöllner, die Sünderin. München 1957. Kubose, Gyomay M.: Zen Kōans, Chicago 1973. Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden. Band 6: Januar 1880–Dezember 1884. München 2003. Nietzsche, Friedrich: Morgenröte. Idyllen aus Messina. Die fröhliche Wissenschaft. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Band 3. München 1999 Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Band 4. München 1999. Nietzsche, Friedrich: Der Fall Wagner. Götzen-Dämmerung. Der Antichrist. Ecce homo. Dionysos-Dithyramben. Nietzsche contra Wagner. Kritische Studienaus­ gabe in 15 Bänden, Band 6. München 1999. Nietzsche, Friedrich: Nachgelassene Fragmente 1880–1882. Kritische Studienaus­ gabe in 15 Bänden, Band 9. München 1988. Nishimura, Eshin: »A Zen Understanding of Kierkegaard’s Existential Thought«. In: Kierkegaard and Japanese thought. Hg. von James Giles, New York 2008, S. 71–86. Nishitani, Keiji: The Self-Overcoming of Nihilism. Albany 1990. Nishitani, Keiji: Was ist Religion? Frankfurt/Main 1982.

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Jenseits der Verzweiflung, diesseits der Transzendenz?

Ohashi, Ryôsuke (Hg.): Die Kyôto-Schule. Texte und Einführung. Freiburg 2011. Parkes, Graham (Hg.): Nietzsche and Asian thought. Chicago 1991. Reginster, Bernard: The Affirmation of Life: Nietzsche on Overcoming Nihilism. Cambridge (MA) 2006. Sloterdijk, Peter: Kritik der zynischen Vernunft. Band I. Frankfurt/Main 1983. Suzuki, Daisetz T.: Essais sur le bouddhisme zen. Paris 1972. Tugendhat, Ernst: Egozentrizität und Mystik. Eine anthropologische Studie. München 2006. Ueda, Shizuteru: »The Zen Buddhist Experience of the Truly Beautiful.« The Eastern Buddhist, 22/1, Spring 1989, S. 1–36. Ueda, Shizuteru: Die Gottesgeburt in der Seele und der Durchbruch zur Gottheit. Die mystische Anthropologie Meister Eckharts und ihre Konfrontation mit der Mystik des Zen-Buddhismus. Gütersloh 1965.

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Emanuel Seitz

Verzweiflung an der Wahrheit. Das Pathos der Philosophie

Auf den Höhen der Verzweiflung leben heißt, sich in den tiefsten Abgründen wälzen. E.M. Cioran

Der Mensch darf seine Gefühle und Leidenschaften nicht anders behandeln als seine Fertigkeiten und Geschicklichkeiten: Er muss den Umgang mit ihnen üben, sonst geraten sie außer Gebrauch, und er verliert die Fähigkeit, sie im rechten Augenblick anwenden oder beherrschen zu können. Ein Mensch, der nie geliebt wurde oder nie lieben durfte, wird seine Wünsche und Neigungen so ungeschickt ver­ bergen, verhüten und verrätseln, dass er selbst der wohlmeinendsten Person wie ein harter, durchsichtiger Eisblock erscheinen wird, an dem man sich lieber nicht die Finger verkühlt; nach dem Versuch, ihn zum Schmelzen zu bringen, könnte schließlich am Ende Nichts übrig bleiben, außer ein paar roten Händen. Ein Mensch, der nie zu hassen geübt hat, wird naiv, perplex und unverständig auf den Tadel und die Beleidigungen eines Feindes reagieren, wenn er den Fehler begeht, von sich auf andere zu schließen: Wie könnte es Menschen geben, die ihn zerstören wollen, wo er doch selbst nie jemandem feindlich gesinnt war und immer das Glaubwürdige am Andern sucht und findet? Und schließlich ein Mensch, dem Übung in Gleichgültigkeit fehlt, wird das Opfer seiner eigenen Sensibilität werden. Keinem Reiz, keinem Impuls, keiner Empfindung wird er sich zu entziehen wissen; alles überfällt ihn und ist Reflex. Die Reaktion entspringt einem unwillkürlichen Speicher seines Leibes, der nicht mehr in der Gewalt seines Bewusstseins steht. Die Verzweiflung aber gehört zu den Stimmungen und Seelenla­ gen, die am ehesten aus der Übung geraten. Der Entzug der Hoffnung scheint auf den ersten Blick ein seltenes und tragisches Ereignis zu sein, das höchste Unglück, das einem Menschen widerfahren

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Emanuel Seitz

kann. Und wer würde schon raten, den Zusammenbruch zu üben? Wer wollte ihn pflegen oder sich um die bestmöglichen Umstände kümmern, für eine Wiederholung der Verzweiflung? Wer wollte behaupten, es gäbe im Zustand der aussichtslosen Verzagtheit noch Formen des gelungenen Umgangs mit diesem Schmerz ohne Antrieb, der im Ganzen den Entwurf eines Daseins vernichtet? Muss nicht der erste Rat gegen eine solche Ratlosigkeit lauten: »Meidet diesen Zustand des Missratenseins! Wendet euch ab, wenn ihr klug seid! Lebt so, dass ihr nie in Verzweiflung geraten könnt!« Vielleicht. Aber auch hier bleibt ein kleiner Zweifel, ob die unbedingte Vermeidung solcher Abgründe – so glaubwürdig und wahrscheinlich sie auf den ersten Blick erscheint – ein wirklich guter Rat für jede Form der Lebensführung sein kann. Was ist mit dem wagenden Leben, das sich selbst aufs Spiel setzt – das sich mehr traut, als den gewöhnlichen Menschen machbar erscheint? Die Vermeidung der Verzweiflung könnte für ein unternehmerisches Selbst oder ein abenteuerliches Herz sogar ein schlechter Rat sein und ihnen die Lust nehmen an der Angst, am Risiko, an der Gefahr. Sie könnten nicht mehr sein, was sie sind, wenn sie alles vermeiden würden, was sie der Verzweiflung nahe bringt. Der Fortschritt und die neuen Entdeckungen kämen zum Erliegen, denn sie entstehen aus den größten Wagnissen, wenn die höchsten Ratlosigkeiten überwunden werden. Von solchen Neuheiten haben dann auch die bequemsten Stubenhocker ihren Nutzen. Verzweiflung fängt dort an, wo Versicherung aufhört – wo ein Mensch alleine steht, wo die Welt es hart meint, wo es Tapferkeit braucht und Heldenmut. Von solchen Gedanken hat sich wohl unser Zeitalter, das sich selbst als postheroisch beschreibt, – trotz allen Elends, das es gibt – längst verabschiedet. Wörter wie Stolz, Wag­ nis und Tapferkeit klingen in dieser Welt der Nachgeborenen wie Kriegstugend und Kriegstreiberei. Vielleicht werden es tatsächlich erst wieder die großen Tyrannen und Kriegsherren sein, die den Wert solcher Tugenden lehren, aber zu Preisen, die niemand zahlen will. Um die Menschheit ist es schlecht bestellt, wenn ihre Fähigkeit zur Verzweiflung verloren gegangen ist. Denn wo die Verzweiflung außer Gebrauch kommt, fehlt ein Verhältnis zur Wahrheit.

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Verzweiflung an der Wahrheit.

1. Die Krankheit zum Tode Welcher Umgang mit der Verzweiflung philosophisch plausibel ist, scheint in gewisser Weise längst abgehandelt zu sein und vielleicht sogar erledigt. Kierkegaard hat in seiner Abhandlung Die Krankheit zum Tode mit mustergültiger Dialektik herausgearbeitet, dass all die Formen der Verzweiflung – auch die unbewussten, die noch latent sind – den grundsätzlichen Befund selbst nicht in Frage stellen können: Die Verzweiflung ist ein bleibender Besitz, eine unabwendbare Gege­ benheit des Menschen selbst; der Mensch ist das mit Verzweiflung begabte Lebewesen – weil er einen Geist hat. Wer hier ausweichen will, weicht vor sich selbst zurück. Die Krankheit zum Tode tragen die Menschen in sich wie eine Infektion, die ausbrechen kann, aber nicht ausbrechen muss, aufgrund ganz unterschiedlicher Anlässe und Inkubationszeiten. – Der Mensch hat diese Fähigkeit zur Verzweiflung, weil er ein Verhältnis zu sich selbst hat. Im Umgang mit dem eigenen Dasein wendet er sich dem vorhandenen Selbst zu oder wendet sich von ihm ab, und übt so den aufrechten Gang, der uns Menschen auszeichnet, die bewusste Wahl und Stellungnahme in der Welt. Tieren fehlt eine solch artgerechte Haltung zur Verzweiflung; sie haben keine Hoffnung und keinen Glauben. Das Wenige, was sie vielleicht an Geist haben, beglückt sie mit einer unkomplizierten Form des Selbstseins: Sie sind, was sie sind – unter all den Schmerzen und Freuden, die ihnen begegnen, solange sie vorhanden sind. Manche Schweine unter den Menschen beneiden darum die Schweine unter den Tieren; denn diese müssen nicht mehr werden, was jene noch nicht sind. Unter all den verschiedenen Formen der Verzweiflung aber, die Kierkegaard in seiner Abhandlung durchnimmt, fehlt eine Form dieser Missstimmung: die Verzweiflung an der Wahrheit. Man ist zunächst verwundert, blättert vor und zurück, liest noch einmal die Abschnitte über Ewigkeit, Möglichkeit, Unendlichkeit – und kommt doch immer wieder zum selben Schluss: Die Verzweiflung, also das verlorene Selbstverhältnis, hat hier keinen wesentlichen Zusammen­ hang zur Wahrheit; zwar weiß Kierkegaard wohl, dass bewusste Verzweiflung auch ein Wissen um das eigene Selbst umfassen müsste, also wahre Meinung und Klarheit in Bezug auf das eigene Selbst – aber ihn lässt durchaus nicht verzweifeln, dass das Selbst »im letzten

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Grunde ein Rätsel« bleibt.1 Das Selbst verzweifelt am Ausbleiben der Selbstbefriedigung, aber nicht an der Wahrheit. Es geht hier eigentlich zu weit, darüber zu spekulieren, warum ausgerechnet die Verzweiflung an der Wahrheit bei Kierkegaard nicht behandelt wird. Derartiges lässt sich natürlich auf keine Weise sicher sagen, solange man nicht im Kopf des Dänen sitzt und ihn beim Denken beobachten kann; trotzdem will ich hier alle hermeneuti­ schen Vorbehalte beiseite schieben und eine Hypothese wagen: Die Verzweiflung an der Wahrheit fehlt, weil dieser gute Christ noch nicht weiß, dass Gott tot ist. Erst in einer Welt ohne Gott muss die Wahrheit selbst verzweifeln lassen; erst in einer Welt ohne Gott ist die Hingabe an die Wahrheit etwas Furchtbares und Gewaltiges; erst in einer Welt ohne Gott wird die Verzweiflung selbst zu einem Kriterium für Wahrhaftigkeit. Kierkegaard hat von diesem Ereignis in der Weltgeschichte noch nichts vernommen; für ihn gibt es noch einen Glauben, in den sich ein Verzweifelter retten kann. Wenn es jedoch mit Gottes Wahrheit nichts mehr ist, fällt Kierkegaard als Lehrer der Verzweiflung für uns aus und wir müssen uns nach einem anderen Lehrer umschauen. Es gilt, die Verzweiflung von Anfang an erneut zu durchdenken, ohne einen ontotheologischen Rettungsschirm. Wir müssen unser Gewissen unter nihilistischen Vorzeichen auf die Probe stellen und prüfen: Wie weit sind wir fähig, den Zustand auszuhalten, wenn Nichts uns trägt und hält?

2. Die Verzweiflung allgemein Am Beginn einer philosophischen Untersuchung steht gemeinhin die Frage nach dem Wesen. Fragen wir also: Was ist Verzweiflung? Ein jeder Mensch hat da sofort ein paar Beispiele zur Hand: Verzweiflung ist, wenn der junge Mann von seinem Liebhaber verlassen wird und nicht mehr glaubt, dass er je noch einen finden wird. Verzweiflung ist, wenn der Geliebte zu Tode kommt und man selbst der Mörder ist. Verzweiflung ist, wenn sowohl der Antrieb fehlt, weiter zu leben, als auch der Antrieb fehlt zu sterben. Das ist alles richtig. Die Beispiele treffen alle irgendetwas an der Sache selbst und führen in das Problem hinein. Je mehr Beispiele man jedoch anhäuft, die alle irgendwie richtig sind, desto komplizierter wird die Sache, desto weniger lässt 1

Kierkegaard, Sören: Die Krankheit zum Tode, München 1976, S. 103.

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Verzweiflung an der Wahrheit.

sie sich überblicken, und desto eher stellt sich der Eindruck ein, die Verzweiflung sei am Ende etwas Vielfältiges und Komplexes – so komplex und so vielfältig, dass es keine Einheit zwischen all den verschiedenen Phänomenen der Verzweiflung mehr zu geben scheint. Man hat nur noch einen Schwarm von Verzweiflungen, die alle nicht mehr von derselben Art sind und sich voneinander unterscheiden wie Stuhl und Elefant und Leberfleck. Ohne Einheit kann es weder Wesen noch Wahrheit geben. Die meisten Menschen – besonders die heutigen Gelehrten in ihrer hermeneutischen und postmodernen Gestalt – bescheiden sich mit einer solchen Einsicht in die Vielfältigkeit des Phänomens, sam­ meln Erfahrungen und verbringen ihre Lebenszeit damit, möglichst viel von dieser Vielfältigkeit zu finden. Sie beschreiben die verschiede­ nen Interpretationen, relativieren die Positionen gegeneinander und erkennen am Ende eher nichts als etwas. Sie haben die Einheit des Phänomens unter zu vielen Hinsichten so lange verwirrt, bis alles konfus geworden ist. Was wie Mitte und Ausgleich aussieht, ist in Wahrheit ohne eine Stellungnahme zur Welt. Aus Rücksicht und Höflichkeit nenne ich hier keine Beispiele. Die eigentlich methodische Frage aber lautet, sobald man ein paar Verzweiflungen beisammen hat: »Worin sind denn all diese ver­ schiedenen Einzel-Verzweiflungen dasselbe, sodass wir sie überhaupt als Verzweiflungen ansprechen können und nicht als etwas anderes?« Hier schon beginnt das große Zögern. Die Ungeübten im Denken werden hier nur durch Zufall etwas Brauchbares zuwege bringen – doch auch die heutigen Denk-Profis halten sich zurück und äußern höchstens ein paar Meinungen und Ansichten, die auch reflektiert als solche auftreten. Dialektik als Kunst eines Diskurses, der sich um Wahrheit bemüht, der nicht bloß Thesen und Meinungen vertritt, ist längst aus der Mode gekommen. Die geisteswissenschaftliche Gelehrsamkeit nach der Moderne kennzeichnet – wenn man sie insgesamt charakterisieren will – in den Worten Jean Amérys, dass sie »durch Unterlassungsschuld zum Feind der Wahrheit wird.«2 Unterlassungschuld heißt hier: Solche Gelehrte kümmern sich nicht mehr um die Wahrheit; sie fragen nicht mehr nach dem Wesen, das eine Sache eigentlich ausmacht. Sie sind unbekümmerte Achsel­ zucker, sobald solche Fragen auftauchen, und begnügen sich mit einer 2 Améry, Jean: Jargon der Dialektik, in: G. Scheit (Hg.), Jean Améry. Aufsätze zur Philosophie, Stuttgart 2004, S. 294.

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Vielfalt der Thesen, Einstimmigkeiten und Forschungsständen. Die Wahrheit ist nichts mehr, an dem ein solcher Mensch verzweifeln könnte. – Wenn überhaupt, so würde er verzweifeln an einer uner­ träglichen Leichtigkeit des Nichtseins: Alles soll singulär sein, nichts wie ein anderes. An die Stelle der Logik soll Sophistik treten.3 Wo etwas bestimmt wird, soll die Negation aller Bestimmungen geübt werden, bis sich die Identität dem Begriff entzieht. Die Destruktionen einer negativen Dialektik enden im Nichtidentischen, das kein Den­ ken mehr erlaubt. – Diese vielseitig gelobte Gedankenlosigkeit beschwört in ihrer Nachlässigkeit, in ihrer Sorglosigkeit in Bezug auf das Sein selbst einen Moralismus der Beleidigten herauf. An der Spitze dieser neuen Gütertafeln steht nicht der Stolz auf ein erreichtes Sein, sondern das Nichtsein und die Verachtung allen Seins. Die Guten sind nicht zu Opfern bereit, sie machen sich als Opfer bereit.4 Die vielfältigen Singularitäten sind nicht mehr verzweifelt, sie fühlen sich gekränkt und gedemütigt. Eine Kränkung entsteht aus einer eigentümlichen Wechselbe­ stimmung von Macht und Ohnmacht: Menschen sollen die Macht haben, sich selber frei zu bestimmen – und doch können sie nichts in sich finden, das ihrem Dasein einen Grund geben könnte.5 Sie haben nämlich kein Verhältnis zur Wahrheit; sie spüren nur, dass sich etwas falsch anfühlt, ohne den Grund angeben zu können für diese Grimmigkeit. – Der gekränkte Mensch kränkelt an der eigenen Exis­ tenz, aus Schwäche und Ohnmacht, aus Verachtung vor dem eigenen Elend. Er will nicht er selbst sein – und kann doch niemand anderes sein. Sein Geist sucht nach Auswegen und Umwegen, nach Ausflüch­ ten und Entschuldigungen, vor allem aber nach jener äußerlichen Anerkennung für das eigene Selbstsein, das seine Selbstverachtung ihm versagt. Wegen der mangelnden Souveränität in Bezug auf die eigene Person will er sich durch Zank und Streit wenigstens ein kleines Machtgefühl verschaffen, das Gefühl der Genugtuung, wenn er schon nicht fähig ist, sich in seinem Dasein zu verwandeln. – Die zuverlässigste Quelle für Stärke allerdings, die Selbstachtung, bleibt einem solchen gemeinen Menschen versagt. Sie entstände aus der Arbeit am eigenen Selbst, aus all den Überwindungen, die es 3 Vgl. Lyotard, Jean-François: Die Logik, die wir brauchen. Nietzsche und die Sophisten, Bonn 2004. 4 Somek, Alexander: Moral als Bosheit, Tübingen 2021, S. 59–65, 113–135. 5 Große, Jürgen: Der gekränkte Mensch. Metaphysische Miniaturen Bd. III, Leipzig 2014, S. 15.

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Verzweiflung an der Wahrheit.

braucht, um redlich und wahrhaftig der eigene Charakter sein zu können. Echter Stolz kennt keine Kränkungen mehr; er hat vielleicht Krankheiten, aber er kränkelt nicht an ihnen. Bevor ein Mensch jedoch diese seelische Gesundheit erreicht, muss er sich prüfen, erproben und versuchen – er muss sich der Gefahr des Scheiterns stellen, sich an den Abgrund wagen und darf der Möglichkeit nicht ausweichen, dass er vielleicht einmal in größter Ratlosigkeit gefangen sein wird. Die höchste Ohnmacht, in die er stürzen kann, ist der kalte Brand der Verzweiflung: Von sich aus ist nichts mehr möglich. Die Hilflosigkeit zehrt. Der Wille ist da, die Mittel fehlen. Vollkommener Unmut im Entsetzen vor der eigenen Existenz – Betäubung im Schmerz. Man kann nur noch schreien oder schweigen. Man ist verloren. Darin ist alle Verzweiflung gleich.

3. Die Arten der Verzweiflung Die Ohnmacht der Verzweiflung kann zwei Formen annehmen: Ent­ weder verzweifelt ein Mensch über etwas oder er verzweifelt an etwas.6 Jede Verzweiflung über etwas – über den Geliebten, über den Tod, über den Verlust – ist nur ein Moment des Unglücks, ein kleiner Knacks oder Trübsinn des Scheiterns. Viel beständiger und grundsätzlicher ist dagegen eine Verzweiflung an etwas. Woran man verzweifelt, ist kein Anlass, der vergeht. Es ist nicht der Verlust – die Verlorenheit ist es, woran man verzweifelt; nicht der Tod, sondern die Endlichkeit; nicht der Geliebte, sondern die Liebe selbst ist es, woran man glaubt, zugrunde zu gehen. Die beiden höchsten Arten der Verzweiflungen aber sind die Verzweiflung an der Welt und die Verzweiflung über sich selbst, die nichts anderes ist als eine Verzweiflung am eigenen Selbstseinkönnen. Beides vereint ist eine Verzweiflung an der Wahrheit. Die Verzweiflung des Scheiterns ist eine Enttäuschung über die Kräfte in der Welt. Ein Mensch hat zunächst noch Hoffnung und Zuversicht, dass er selbst oder die Welt sich verhalten wird, wie er es entworfen hat. Er glaubt an die Macht des eigenen Selbst, an sein Wissen und Können, an seine Klugheit und Geschicklichkeit – und er glaubt genauso an eine glückliche Fügung seiner Eignungen mit den Kräften und Fähigkeiten in der Welt. Doch unerwartet nimmt 6

Kierkegaard, Sören: Die Krankheit zum Tode, München 1976, S. 91.

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das Weltgeschehen einen anderen Verlauf und lässt ein anderes Ereignis entstehen, als vorgesehen war. Mit einem Mal, dank der Ungerechtigkeit des Zufalls, dank der Missgunst des Schicksals, ist der Entwurf Makulatur geworden, und die Idee von sich und der Welt verwandelt sich zu einem Ding der Unmöglichkeit. Mit nichts lässt sich noch erschleichen, was eigentlich hätte sein sollen; die Aporie ist vollkommen. Der Mensch muss erkennen: Er hat sich geirrt über die Beschaf­ fenheit der Welt, und damit zugleich über seine eigene Stellung im Kosmos. Die Welt fügt sich nicht seinen Plänen, Vorstellungen und Gedankenspielen – sie spielt vielmehr mit ihm selbst; er ist ihr Spielzeug, nicht umgekehrt. Sein Bewusstsein erfasst ein Entsetzen vor der eigenen Nichtigkeit im Angesicht der Welt, die er doch selbst für das Nichtige gehalten hat. Sie hätte sich doch seinen Plänen unterwerfen sollen, weil er glaubte, im Besitz der Wahrheit zu sein. Jetzt weiß er: Er war es nicht. Das ist gewiss. Denn das Gewollte ist verloren, ist gestorben, hat ihn verlassen. Verzweiflung ist eine Gewissheit ohne Zweifel, ein Nichts in höchster Potenz, wenn alles nicht mehr helfen kann. Das in Grund und Boden enttäuschte Bewusstsein weiß mit Sicherheit und ohne Skepsis, dass es ratlos ist. Vor ihm hat sich die Wahrheit verborgen. Nichts bleibt mehr übrig, woran es noch zweifeln könnte, nichts mehr, was noch würdig wäre, versucht zu werden. Der Zweifel, als letzter Lebensretter, ist erloschen; der Mensch kommt dem Selbstmord nahe. Der Absprung lockt wie eine Versuchung, eine letzte Befreiung, ein verzweifelter Beweis der Souveränität über das eigene Dasein – wie das letzte Quäntchen Selbstmacht, das in höchster Not noch übrig bleibt.7 Neben einer solchen Verzweiflung über ein konkretes Scheitern in der Welt gibt es noch ein Scheitern ohne Anlass, ein Gescheitert-Sein ohne Tat: Es ist die Verzweiflung am In-der-Welt-Sein selbst. Der Mensch entsetzt sich vor seiner eigenen Existenz, ihn erfasst ein Grausen vor der eigenen Mittellosigkeit und der Unbestimmtheit allen Wirkens und Hoffens. In der Verzweiflung an der Existenz wird dem Menschen bewusst, dass er alles, was er als Handelnder ist, nur sein kann, und dass alles Seinkönnen notwendigerweise das Nichtseinkönnen umfasst. Ihm kommen jede Sicherheit und 7

Es ist dieser Zweifel, der Emil Cioran 84 Jahre lang vor dem Absprung bewahrt hat.

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jedes Zutrauen abhanden, in alle seine Entwürfe und Setzungen; ihn ergreift die böse Vorahnung, dass sie alle im Nichts verschwinden werden und nichts Bleibendes erschaffen. Dieses höchste Verzagen, dieses mitleidlose Leiden an sich selbst, diese Anklage an die Welt im Ganzen, an die Menschheit und überhaupt an alles, was drängt und wirkt, kennt kein Erbarmen mehr, keine Befriedigung, kein Glück des Augenblicks, sondern nur das unbekümmerte, quälende Weiter und Weiter einer Welt ohne Sinn und Ende. Ein solcher Mensch ist in den Abgrund seiner eigenen Existenz gestürzt und wälzt sich im Schmerz über die Unbeholfenheit von Sein überhaupt. Wenn Nichts in Wahrheit der Grund ist für ein In-der-Welt-Sein, dann geht jeder Anlass verloren, der zu einer Tat motivieren könnte. Existenz selbst ist höchste Ohnmacht – und höchste Ohnmacht vollkommene Verzweif­ lung. Beide Arten der Verzweiflung, die scheiternde Verzweiflung über etwas und die vollkommene Verzweiflung an etwas, sind Formen des Verstelltseins von Selbst und Welt. Entweder bleibt dem verzweifelten Menschen verborgen, was er selbst sein kann, oder es bleibt ihm verborgen, was er in der Welt sein kann, wie also die Welt sein könnte, wenn er sich um eine bestimmte Form des Daseins in der Welt besorgt und das Vorhandene in der Welt gemäß seinen Vorstel­ lungen zu einem dienlichen Zeug für seine Entwürfe zurichtet. Die Enttäuschung des verzweifelten Menschen ist entweder ein Irrtum über das Jeweilige oder ein Irresein und Irrewerden an dem Verhältnis von Selbst und Welt im Ganzen. Der Verzweifelte lebt im Trotz gegen die Wahrheit; ihm bleibt die Wirksamkeit versagt. Er gelangt nie zu einem sich fügenden Selbst-und-Welt-Verhältnis. Auf diese beiden Arten von Verstellung lassen sich ohne Bie­ gen und Brechen alle Formen der Verzweiflung zurückführen, von denen bei Kierkegaard die Rede ist.8 Die bewusstlose Verzweiflung eines Phantasten glaubt an eine unendliche Möglichkeit des eigenen Selbst und kann nie zu einem Ende finden; er bleibt träumerisch in seinen Einbildungen gefangen und bindet seine Ideen nicht an einen geeigneten Stoff in der Welt. Die bornierten Schlauberger, die an ihrer Endlichkeit verzweifeln, verstellen sich selbst ihr Selbst und entwickeln eine geschmeidige Anpassung an die Ziele der Vielen, die nicht sie selbst sein wollen; so werden sie Menschen von Welt, 8

Kierkegaard, Sören: Die Krankheit zum Tode, München 1976, S. 50–108 (unter C.).

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aber ohne Charakter. Sie verfallen dem Man, der uneigentlichen Exis­ tenz. Die Fatalisten wiederum haben einen Mangel an Phantasie und beugen ihr eigenes Seinkönnen unter das Joch einer eingebildeten Notwendigkeit; auch sie bleiben im Anderen gefangen. Die Elenden, die an ihrer Schwachheit verzweifeln, und die Mönche, die sich vor der Welt verschließen, haben zwar den Willen, aber nicht die Fähigkeit, das eigene Selbst in der Welt zu verwirklichen. Die Schwächlinge wollen nicht so sein, wie sie sind, und fallen doch immer wieder in ihr altes, verachtetes Selbst zurück; sie schwanken zwischen Hoffnung und Enttäuschung, sie leiden an ihrer Erinnerung. Die Mönche, die Anachoreten und überhaupt alle Beamten und Soldaten höherer Ideen lösen das eigene Selbst auf, indem sie alle persönlichen Regungen in sich verschließen und so das Ewige und Überpersönliche zu erreichen glauben. Sie können nicht einmal, wenn sie alleine sind, einsam sein. Und schließlich die Trotzigen: Sie wollen unbedingt sie selbst sein, aber als Unendliche; sie wollen sein, wie auch die Welt ist, und ver­ zweifeln an der Vergänglichkeit und Unverfügbarkeit dieses Ganzen, worauf sich ihr Handeln richtet. Der ideale Entwurf wird zu einem Dämon, der sich fortwährend verwandelt und immer wieder dem Zugriff entflieht. Wo ein Mensch sich in das eigene Selbst vergafft, wird er an der Liebe zu dem geliebten Selbst verzweifeln. Am Ende scheitern all diese Formen der bewussten oder unbe­ wussten Verzweiflung immer wieder am In-der-Welt-Sein als sol­ chem und täuschen sich über das Selbst, über die Welt oder die Fügung des Daseins in der Welt. Und so ist jede Form der Verzweiflung letztlich eine Verzweiflung an der Wahrheit, eine schmerzhafte Aporie in sich steigernden Eruptionen der Hilflosigkeit.

4. Nietzsches These und Aporie zur Verzweiflung an der Wahrheit Die Verzweiflung an der Wahrheit ist ein Ausdruck, der auf Friedrich Nietzsche zurückgeht. Er taucht in Schopenhauer als Erzieher an zwei Stellen auf – und doch ist er kein zufälliger Ausdruck, keine beiläufige Fügung im Werk des Wanderers aus Röcken. Ich zitiere die Stelle hier einmal ausführlich: Das war die erste Gefahr, in deren Schatten Schopenhauer heranwuchs: Vereinsamung. Die zweite heißt: Verzweiflung an der Wahrheit. Diese

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Gefahr begleitet jeden Denker, welcher von der Kantischen Philosophie aus seinen Weg nimmt, vorausgesetzt, daß er ein kräftiger und ganzer Mensch in Leiden und Begehren sei und nicht nur eine klappernde Denk- und Rechenmaschine. (…) Sobald aber Kant anfangen sollte, eine populäre Wirkung aus­ zuüben, so werden wir diese in der Form eines zernagenden und zerbröckelnden Skeptizismus und Relativismus gewahr werden; und nur bei den tätigsten und edelsten Geistern, die es niemals im Zweifel ausgehalten haben, würde an seiner Stelle jene Erschütterung und Ver­ zweiflung an aller Wahrheit eintreten, wie sie zum Beispiel Heinrich von Kleist als Wirkung der Kantischen Philosophie erlebte.9

Die dritte Stelle, an der diese Formulierung auftritt, ist die frühe, unveröffentlichte Schrift Über das Pathos der Wahrheit. Sie lautet: »Sie starben und fluchten im Sterben der Wahrheit. Das war die Art die­ ser verzweifelten Tiere, die das Erkennen erfunden hatten.« Dies würde das Los des Menschen sein, wenn er eben nur ein erkennendes Tier wäre; die Wahrheit würde ihn zur Verzweiflung und zur Vernichtung treiben, die Wahrheit ewig zur Unwahrheit verdammt zu sein.10

Man kann an diesen Stellen vieles erkennen, worauf ich nicht einge­ hen möchte. In unserem Zusammenhang sind eigentlich nur zwei Dinge wichtig. Erstens: Nietzsche ist ein Denker der Wahrheit; auch er versucht zu bestimmen, worin das Wesen der Wahrheit liegt und was ihr Wert ist. In diesem Versuch der Bestimmung des Wesens der Wahrheit ist er selbst ein Vertreter des metaphysischen Denkens. Seine Form der Metaphysik ist allerdings eine, die immer von einem atheistischen Standpunkt aus formuliert wird und den redlichen Ver­ such wagt, sämtliche Formen des ontotheologischen Denkens aus der eigenen Philosophie zu vertreiben. – Zweitens: Nietzsche entdeckt, dass die Wahrheit der Philosophie ein bestimmtes Pathos hat, eine bestimmte Psychologie, eine bestimmte Form des Empfindens. Die Philosophen scheinen – wenn sie echte Philosophen sein wollen – eine gewisse Empfänglichkeit für diese ungastliche Stimmung entwickeln zu müssen. Die Fähigkeit zu dieser Empfindung hat selbst Nietzsche, Friedrich: Unzeitgemäße Betrachtungen III. Schopenhauer als Erzieher (KSA I), Berlin/New York 1999, S. 355. 10 Nietzsche, Friedrich: Über das Pathos der Wahrheit (KSA 1), Berlin/New York 1999, S. 759f. In den gleichen Zusammenhang, aufgrund ähnlicher Formulierungen, gehört die folgende Schrift: Nietzsche, Friedrich: Über Wahrheit und Lüge im außer­ moralischen Sinne (KSA 1), Berlin/New York 1999, S. 872–890; 9

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wiederum einen bestimmten Ort in der Geschichte und eine ganz eigene Genealogie; sie ist eine Folge der kantischen Philosophie und entsteht aus einer Einsicht in die Natur des Menschen und dessen Erkenntniskraft. Kant lehrt, in Bezug auf den Menschen, eine Aporie der Wahrheit selbst, die alle Philosophen und höheren Geister ver­ zweifeln lassen kann. Diese Aporie lautet, wie Nietzsche im Pathos der Wahrheit andeutet: Der Mensch ist in Wahrheit ewig zur Unwahr­ heit verdammt. An einer solchen Aporie kann ein Mensch, den’s kümmert, natürlich verzweifeln. Keine Frage. Sie bedeutet, dass alle Versuche, die Wahr­ heit zu finden, schon im Vorhinein und ausgemachterweise im Irrtum enden werden. Kein Mensch wird jemals das eigene Sein oder das Sein der Welt in seinem Wesen bestimmen können und für die Entwürfe des eigenen Daseins angemessen zu gebrauchen verstehen. Jede Sorge um Wahrheit, Erkenntnis, Eigentlichkeit scheinen töricht zu sein und im Vorhinein ihr Ziel zu verfehlen. Hilflos und ratlos steht der Mensch da, aller Mittel beraubt, wenn diese Aporie über die Wahrheit wahr sein sollte. Wenn wir zudem das psychologische Kriterium für die Wahrheit in der Philosophie ernst nehmen und nicht als leeres Pathos abtun, so formuliert Nietzsche – aufgrund der Aporie der Wahrheit selbst – folgende Behauptung über das Wesen der Wahrheit: Wahrheit ist, was verzweifeln lassen kann; und was nicht verzweifeln kann, das ist auch keine Wahrheit.

5. Die Verzweiflung an der Wahrheit und Gefahren der Existenz Und doch – es verzweifeln nicht alle Menschen an der Wahrheit, auch nicht diejenigen, die sich selber auf die Suche nach der Wahrheit machen. Und es sollen auch nicht alle Menschen an der Wahrheit ver­ zweifeln und beständig in den Abgrund eines vollkommenen Unmuts geworfen sein; die Verzweiflung an der Wahrheit ist nur eine von drei Gefahren, eine Drohung, aber keine Wirklichkeit für einen gesunden und lebendigen Geist. Diese drei Gefahren lauern jedem Menschen auf, der sich auf den Weg macht, ein wahrer Philosoph zu werden. Sie

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bedrohen den Menschen in seiner gesamten Konstitution im Dasein.11 Diese drei Gefahren sind: die Vereinsamung, die Verzweif­ lung an der Wahrheit und die Verhärtung zu einer kalten Geistigkeit im Denken und im Leben. Ein gesunder Geist, der nicht erkaltet ist, muss an der Wahrheit nur verzweifeln können – wenn er es nicht kann, ist er ein geistloser Mensch ohne Verhältnis zur Wahrheit. Sein Gemüt versengt nicht seine Federn am Gefrierbrand der Seele, aber es schwingt sich in jene eisigen Höhen der Verzweiflung empor, in denen man Flügel braucht, um nicht in den Tod zu stürzen.

6. Verzweiflung und die Gefahr einer entsetzlichen Liebe Die Unzeitgemäßen Betrachtungen sind eine Hinterlassenschaft dieser Höherzüchtung des Denkens. Im Kern sind es vor allem pädagogische Bücher; sie dienen der Selbsterziehung Nietzsches zu einem wahren Philosophen, zu einem Menschen, der sein Leben nach Wahrhaftig­ keit ausrichtet und es in Wahrheit führen will. Das Echte, das Redliche und das Eigentliche sind die Leitbegriffe eines solchen Verständnisses von Wahrheit als Wahrhaftigkeit und von der Philosophie als Suche nach Wahrhaftigkeit. Die Methode der Unzeitgemäßen Betrachtungen ist ein indirek­ tes Lernen am Modell. Sie betreiben eine Art Lehrerprüfung und vergewissern sich der eigenen Abstammung – nicht unähnlich, aber gründlicher und interessanter als die Schilderungen im erstem Buch von Eis heauton.12 Ein wahrer Philosoph ist demgemäß kein Bildungs­ philister wie David Strauss, er ist kein Historiker wie Jakob Burckhardt und er ist auch kein Künstler wie Richard Wagner. Ein wahrer Philo­ soph nimmt sich viel eher Arthur Schopenhauer zum Vorbild. Der Frankfurter Pudelbesitzer ist für Nietzsche ein Zeuge, Zeugnis und sicherer Beweis, dass »die Liebe zur Wahrheit etwas Furchtbares und Gewaltiges ist«.13 Das Furchtbare ist etwas, wovor man sich fürchten kann, aber nicht fürchten muss. Furchtbar ist auch das Fürchterliche, von dem 11 Nietzsche, Friedrich: Unzeitgemäße Betrachtungen III. Schopenhauer als Erzieher (KSA I), Berlin/New York 1999, S. 359. 12 Aurel, Marc: Selbstbetrachtungen, Stuttgart 2019. 13 Nietzsche, Friedrich: Unzeitgemäße Betrachtungen III. Schopenhauer als Erzieher (KSA I), Berlin/New York 1999, S. 427.

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keine direkte Bedrohung ausgeht, das aber Grauen und Grausen her­ vorruft. Grauenhaft ist das Entsetzliche, vor dem ich erschrecke, weil ich es schrecklich finde. Das Furchtbare und Erschreckende reißt uns aus dem durchschnittlichen Dasein heraus, mit all seinen gewohnten Gewöhnlichkeiten, weil von ihm etwas Unheimliches ausgeht, etwas Gewaltiges, das uns übersteigt in seiner Macht. Die Liebe zur Wahrheit bringt dieses staunende Entsetzen her­ vor, dieses Unheimliche, das nicht mehr alltäglich ist, und ist so das eigentliche Kriterium und Pathos einer echten Philosophie.

7. Übungen in Liebe, Hass und Entsetzen Eine solche Außergewöhnlichkeit steht allen Menschen offen – auch wenn es nicht alle Menschen schaffen, so zu sein. Die Liebe zur Wahr­ heit, die uns zur Verzweiflung an der Wahrheit fähig macht, ist in Wirklichkeit eine Frage der Übung. Nietzsche schreibt ausdrücklich: »Der Mensch, welcher nicht zur Masse gehören will, braucht nur aufzuhören, gegen sich bequem zu sein.«14 Der Schritt, der so einfach erscheint, ist in Wahrheit das Allerschwierigste – der erste Schritt in der Umwendung des gesamten Daseins hin zu einer philosophischen Art der Lebensführung muss den Trainer in sich wachrütteln. Ein Denken mit einem solchen Ziel steht in der Tradition einer Philosophie als Selbsttechnik und Lebenstechnik, wie sie seit der Stoa zur Überlieferung gehört. Ein solches Denken-Können vollzieht sich in geistigen Übungen, die versuchen, eine Herrschaft und Gewissheit über das eigene Selbstsein zu erringen. Eine Art künstliches Gewis­ sen, eine Selbstbeobachtung, eine Instanz der Rechtfertigung im eigenen Selbst vor dem inneren Auge dient hierbei der Umwendung des gesamten Menschen hin zu einer philosophischen Lebensweise, die zu jedem Alter gelernt werden kann. Die Philosophie ist in dieser Tradition ein Können und keine reine Wissenschaft; sie zeigt sich im Charakter, in der Lebensweise und in der konkreten Form des Daseins. Das Vorgehen dieser geistigen Übungen ist immer wieder ähn­ lich und unterscheidet sich nur in ihrer Zielsetzung, je nachdem, ob nun ein guter Christ oder ein stoischer Weiser herauskommen Nietzsche, Friedrich: Unzeitgemäße Betrachtungen III. Schopenhauer als Erzieher (KSA I), Berlin/New York 1999, S. 338.

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sollen – bei Nietzsche ist das Ziel ein freier Geist, ein intellektuell vollkommen gesunder und gelöster Mensch, der ohne Zwang sein Wissen und seine Kenntnisse für neue Gedanken zu gebrauchen weiß. Charakteristisch für diese Art der Übung ist, dass die askesis nach der mathesis kommt – man hat schon ausgelernt und bringt sich jetzt das Verlernen und Umlernen bei, den Schliff und die Vergeistigung des Gewussten.15 Am Anfang dieser Übungen steht ein Rückzug von der Welt und eine Rückwendung der Aufmerksamkeit auf das eigene Selbst, in der Hoffnung, das alte, unphilosophische Dasein möge unter all den Übungen wegsterben und vergehen. Zuerst horcht der Denkende in sich hinein und widmet sich dem nächstbesten Gegenstand, der ihm ins Bewusstsein tritt. Er definiert ihn und nennt ihn beim Namen, unterteilt ihn und beschreibt ihn im Umriss, und legt so, vor sich selbst, das Wesen und die Wichtigkeit des Gegenstandes bloß. Dieses Nacktmachen der Sache, der unverstellte Blick, entlarvt das Übliche, das Gewohnte, das Unbewusste – kurz: das Zeitgemäße –, worüber sich der Betroffene bislang keine Rechenschaft gegeben hat. Ein Wahr-Sprechen soll an die Stelle der gängigen Rede treten. In einem zweiten Schritt – nach einer solchen Entautomatisierung der Wahrheit – fragt der Denkende nach dem Wert der Sache: Was nutzt sie mir? Und welche eine Tugend muss ich verwenden, sobald sie mir in der Welt begegnet? Gibt es an der Sache auch etwas Vergängliches, etwas Niedriges, das keinen Wert mehr für mich hat? In diesem letzten Fall muss sich der Philosoph in Verachtung üben; erst das kataphronein, das »Niederklügeln« des Elenden, Erbärmlichen und Verwerflichen, macht ein Subjekt frei im Umgang mit der Welt und schafft ein Bewusstsein für die Vorteile und Nachteile der jeweiligen Phänomene, an denen ein Denker sein Denken üben kann. Nietzsche tut in seinen Gedichten, Traktaten und Aphorismen nichts anderes, als das wesentliche Denken auf diese Weise zu ver­ wirklichen und sich einzuverleiben. Die Form seiner Schriften erklärt sich nicht aus einer romantischen Liebe zum Fragment oder einer artistischen Neigung zur Sentenz, sondern aus ihrem Charakter als athletische Proben des eigenen Denkens. Es sind die Prüfungen und Versuchungen eines kognitiven Asketen.16 Der Gedanke muss wiederholt werden, muss sich bewähren, muss sich anpassen und 15 Vgl. zur Methode dieser geistigen Übungen: Foucault, Michel: Hermeneutik des Subjekts, Frankfurt 2004, S. 357–383. 16 Sloterdijk, Peter: Du musst dein Leben ändern!, Frankfurt 2009, S. 52–69.

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verwandeln in einem lebendigen Kräftespiel, das den Geist trainiert. Die Sentenz ist der gelungene Wurf am Ende eines Ringkampfs – mit sich selbst – um das richtige Wort und den treffenden Namen. Selbst die Verachtung in Nietzsches Polemiken ist ein Teil der Übung; erst sie setzt die neuen Schätzungen in Kraft, die nach einer Umwertung gelten sollen. Die Formel einer Umwertung aller Werte entspricht selbst dem hypothetischen Imperativ einer übenden Existenz, die darauf hofft, am Ende ihrer Übungen ein neuer Mensch geworden zu sein. Eine solche Philosophie versteht sich als Virtuosität im Denken und im Leben, die erst durch die Arbeit an sich selbst gewonnen wird. Nietzsche sitzt nicht wie ein belletristischer Schöngeist im Café, der jovial die unwillkürlichen Eindrücke, die sich ihm bieten, in einer literarischen ansprechenden und philosophisch reflektierten Form abschildern möchte. Er bemüht sich um ein Wissen im Ganzen, er stellt die Frage nach dem Wesen, selbst wenn er an dieser Übung verzweifeln könnte. Was ihm in den Kopf kommt, das prüft er auf seine Wahrheit und ihren Wert – genauso, wie er sich selber fortwäh­ rend prüft und bewertet. Er beobachtet die Wirkung der Nahrung, die Wirkung der Umwelt, der Musik und der Bewegung auf seinen Geist, seinen Körper und seine Schaffenskraft. Er reflektiert über die Wirkung seiner Erzieher und prüft deren Einfluss, um sich von ihren Mustern zu befreien und einen ungebundenen Gebrauch der gelernten Fähigkeiten machen zu können. All solche Prüfungen gehören klassischerweise in das Repertoire einer geistigen Übung.17 Wer sie erfolgreich absolviert hat, bildet ein Verhältnis zwischen sich selbst und der Welt heraus: Er lernt sein eigenes Wesen kennen und beherrschen, erkundet das Wesen der Welt und macht sich am Ende klar – in der Frage nach Wert und Schätzung –, wie er das eigene In-der-Welt-Sein besorgen soll. Liebe, Hass und Verzweiflung – also all diese großen und ent­ setzlichen Stimmungen, Gefühle und Befindlichkeiten – entstehen erst aus einer Übung des wesentlichen und nicht beliebigen Verhal­ tens mit der Welt.

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Foucault, Michel: Hermeneutik des Subjekts, Frankfurt 2004, S. 111–134.

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8. Die Liebe zur Wahrheit als Sinn für die Not des Denkens Die Liebe zur Wahrheit ist das Pathos des philosophierenden Denkens selbst. Philosophie bedeutet Hingabe – und nicht nur freundschaftli­ che Zuneigung und Beschäftigung mit der Wahrheit. Nur die Liebe ist ein Drang, der so stark ist, dass er verzweifeln lassen kann; und in dieser Stärke, in diesem unbedingten Drang kann die Liebe furchtbar und gewaltig sein. Ein Leben, das die Wahrheit liebt, hält sich fern von den milden und wohltemperierten Gefühlslagen der Wertfreiheit, von dem halbschattigen Grau und der Gräulichkeit einer vernünftigen Seele. Die Verzweiflung an der Wahrheit hat die Liebe zur Wahrheit als ihre Voraussetzung. Die anderen Formen der Verzweiflung an etwas – die Ohnmacht an der Liebe zu einer Person oder all die verschiedenen Ohnmächte der Fatalisten und Phantasten, der Schlauberger und Schwächlinge, der Mönche und mutwillig Trotzigen – sind alles Verzweiflungen des Alltags und der gewöhnlichen Menschen, für deren Bewältigung es überhaupt kein Verhältnis zur Wahrheit braucht – und schon gar keine Philosophie außer Küchenphilosophie, angereichert mit geistreichen Getränken. Die philosophische Liebe zur Wahrheit ist auch etwas anderes als die Neigung zur Wahrheit in den Wissenschaften. Auch dort gibt es lauter Wahrheitsfreunde, kein Zweifel. Einige Wissenschaftler werden in ihrer schwierigen Suche nach einzelnen Wahrheiten viel­ leicht sogar über diese einzelnen Wahrheiten oder über ihre erfolglose Suche nach diesen Wahrheiten verzweifeln, aber sie werden nie an der Wahrheit selbst verzweifeln. Wenn solche Menschen glauben, sie hätten eine Wahrheit gefunden, so lehnen sie sich zufrieden im Sessel zurück und verschnaufen. Ihre Neugier ist befriedigt. Sie freuen sich über ihre Einsicht, ihre Erkenntnis, ihr besseres Wissen darüber, wie es um die Welt beschaffen ist. Sie gehen nach Hause und haben ihre Arbeit erledigt. Welche Wahrheiten sie finden, das stört sie nicht weiter in ihrem täglichen Lebenslauf. Professoren leben nicht anders als die gewöhnlichen Menschen, die nicht nach Wahrheiten suchen. – Ihre Wahrheit ist ein nützliches Geschäft, ein Beruf, vielleicht sogar eine kleine Marotte oder Leidenschaft, aber keine Notwendigkeit, die sie in Not bringt, kein Abgrund, an dem sie verzweifeln könn­

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ten. Ihre Wahrheiten sind gemütlich, ihre Ergebnisse nützlich, ihr Anspruch beschaulich.18 Solche Wissenschaftler des berufsmäßigen Betriebs haben nichts mit den ersten Philosophen gemeinsam, den vorplatonischen Weis­ heitslehrern, deren erstes Ziel es war, in der Höhe zu leben; Thales, Anaximander oder Empedokles suchten keine nützlichen Begriffe vom Dasein – sie verkörperten vielmehr in ihrer Person den Willen zu einer überlegenen Kenntnis der Welt insgesamt, zu den ganz großen Fragen, zu jener furchtbaren Erhabenheit, die erstaunt, verwundert und verschreckt.19 – In solchen Gestalten hat die Liebe zur Wahrheit mit ihrem unbedingten Anspruch alles Rechnerische verloren und schielt nicht mehr auf die Zwecke, wie etwa Hume, der glaubt, eine Erkenntnis habe nur dann einen Wert, wenn sie nützlich ist.20 In diesem englischen Sinn fürs Pragmatische fällt die Neigung zur Wahrheit mit einer wissenschaftlichen Neugier zusammen und hat mit einer echten Liebe so viel gemeinsam wie die Neugier eines Teenagers in seiner Jagd nach erotischer Beute. Die Liebe zur Wahrheit ist nichts Harmloses, das einen tüchtigen Gelehrten anregt; sie ist das hohe Gefühl für die großen und erhabe­ nen Fragen, sie schafft erst die Fähigkeit zu Fallhöhen im Denken, sie macht aus dem Denken eine Not am steilen Rand der Verzweiflung.

9. Philosophie und die Not der Notlosigkeit Nur für die Philosophie ist die Frage nach der Wahrheit eine solche Not und Notwendigkeit. Es gibt keine Philosophie ohne die Frage nach der Wahrheit, und damit auch keine Philosophie ohne die Frage nach Grund und Wesen in der Welt. Selbst in solchen Pseudophilosophien, in denen die klassischen metaphysischen Begriffe geleugnet werden, soll nur etwas anderes, von dem es heißt, dass es wesentlicher sei, die alte Metaphysik ersetzen und eine neue Metaphysik begründen, die einen anderen Sinn von Sein und Wesen propagiert. Sobald ein Nietzsche, Friedrich: Unzeitgemäße Betrachtungen III. Schopenhauer als Erzieher (KSA I), Berlin/New York 1999, S. 351. 19 Vgl. Nietzsche, Friedrich: Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen (KSA I), Berlin/New York 1999, S. 816f. 20 Hume, David: Ein Traktat über die menschliche Natur, II.3,10 Von der Wissbegierde oder der Liebe zur Wahrheit, Hamburg 2013, S. 521–527. 18

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Verzweiflung an der Wahrheit.

Mensch grundsätzlich wird, ist die Frage nach seiner Ontologie unaus­ weichlich. Die Beschäftigung mit solchen Fragen ist allerdings alles andere als unausweichlich. Das alltägliche, gewöhnliche Dasein kann sein Leben auch ohne sie bestreiten. Man kann sich auch gut unterhalten, ohne aufs Wesentliche zu gehen; man kann eine Technik benutzen, ohne zu wissen, was das Wesen des Technischen ist; man kann sich sogar in einer Wissenschaft hervortun und lauter Lösungen finden für ungelöste Probleme, ohne jemals in Not zu geraten und es als notwendig zu empfinden, die eigenen Setzungen auf ihr Wesen zu hinterfragen. Warum auch, solange diese Setzungen funktionieren – weshalb, solange sie praktisch sind? Haben die Philosophen nicht schon seit Thales von Milet das Gelächter der Waschweiber auf sich gezogen, weil sie so angestrengt in die Höhe starren, dass sie in das nächste Wasserloch vor ihren Füßen tappen? Ein ehrlicher Denker gerät hier in Verlegenheit. In gewisser Weise haben solche Menschen recht. Wer sich nicht darüber erstaunen kann, dass seine Begriffe funktionieren, wer sich damit zufrieden gibt, dass er Nützliches herausfindet, wer keine Not verspürt, nach dem Eigentlichen zu fragen – der braucht die Wahrheitsfrage tatsächlich nicht zu stellen und wird nicht in der Stimmung sein, an ihr verzweifeln zu können. Gesund ist eine solche »Not der Notlosigkeit« aber auch nicht.21 Heidegger charakterisierte mit diesem Ausdruck das gängige, zeitge­ nössische Bewusstsein in einer Epoche der Seinsverlassenheit, die noch lange nicht überwunden ist. Wo es einfach unterlassen wird, nach Wesen und Wahrheit zu suchen, beginnt das Kränkeln an einer fehlenden Notwendigkeit. Ein Mensch verliert die Fähigkeit, eine Herrschaft über sein Dasein zu erringen – erst denkend, dann in der Tat –, wenn er über das Sein, den Sinn von Sein und die eigentliche Bedeutung des Seienden nichts mehr wissen will. Ein solches Wissen ist zwar »unmittelbar nutzlos, aber dennoch herrschaftlich.«22 Nutz­ los – insofern es nichts weiter kann, als dem Selbst ein Verständnis über die Möglichkeit seines eigenen In-der-Welt-Seins zu verschaf­ fen, einen bewussten Geist; herrschaftlich – insofern diese Erkenntnis des Wesens von Selbst und Welt schließlich das Verhalten in der Welt anleiten und einen Sinn offenbaren könnte.

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Heidegger, Martin: Grundfragen der Philosophie (GA 45), Frankfurt 1984, § 39. Heidegger, Martin: Grundfragen der Philosophie (GA 45), Frankfurt 1984, S. 2ff.

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Die philosophische Liebe zur Wahrheit schafft erst die Bedin­ gung für die Möglichkeit, dass sich so etwas wie Sinn und Herrschaft ereignen kann. Doch wie jedes Sich-Verlieben ist auch diese Erotik des wesentlichen Fragens nicht ohne Gefahr. Nicht jede Liebe stößt auf Gegenliebe, sondern bedeutet nicht selten eine Hingabe an das Unmögliche, einen Drang ohne Sinn, gefangen in Ohnmacht und Verzweiflung.

10. Die Arten der Wahrheit Auf welche Wahrheiten richtet sich nun diese verzweiflungsfähige Liebe zur Wahrheit? Im Prinzip lassen sich immer zwei Formen unterscheiden: einmal Wahrheit im Sinn der Aussagenwahrheit und einmal Wahrheit im Sinn der Wahrhaftigkeit – also des Wesentlichen und Eigentlichen im Gegensatz zum Unechten und Unwesentlichen. Beide Begriffe von Wahrheit sind nicht unabhängig voneinander zu denken, meinen aber nicht das Gleiche. Im Umriss lassen sich beide Auffassungen der Wahrheit als adaequatio intellectus ad rem beschreiben. Der Geist soll seine Gedanken und Vorstellungen in Übereinstimmung bringen mit dem Verhalten der Sache, die er zu erkennen sucht; und die Sache soll sich verhalten, wie vorgestellt. Es geht allerdings nicht nur um die gedankliche Vorstellung, sondern genauso um das Vorstelligwerden in der Welt. Wenn sich Wahrheit offenbart, ereignet sich das Sein des Seienden, in dem, was es ist und was sein leitender Sinn ist, sei es in Gedanken oder in der Wirklichkeit. Eine Säge zeigt ihr Wesen erst im Sägen und nicht als schmückender Wandbehang. Die Aussagenwahrheiten prüfen, was der Fall ist. Sie antworten auf die Frage, welche Vorstellung richtig und welche falsch ist. Wenn man solche Wahrheiten auf ihren Wert prüft, auf ihre Relation zum Dasein eines Menschen, so erweist sich die Mehrzahl von ihnen als nichtige und unwesentliche Gedanken, als Wahrheiten in Anführungszeichen, die keine Konsequenz für die Lebensführung haben. Sie befriedigen die Neugier und bedienen eine Vielfalt von Interessen, aber sie formulieren keinen Anspruch an den Erkennen­

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den. Aussagenwahrheiten kann man nicht lieben, es sind gemütliche »Wahrheiten« ohne Verzweiflung.23 Nietzsche verachtet sie, denn entweder sind sie wertlos oder unaufrichtig; die angeblich selbstlose Entscheidung über das Richtige und Falsche wird nämlich nicht ohne Willen zur Macht getroffen und dient zumindest der Ausbildung eines herrschaftlichen Wissens über die Welt. Die Wahrheit im Sinn der Wesentlichkeit hat Nietzsche dagegen nie als Begründung der Existenz in Frage gestellt; im Gegen­ teil: Wahrheit als Wesentlichkeit ist überhaupt erst die Bedingung für den Wert eines Daseins, für seine Liebe, seinen Hass und seine Verzweiflung.24 Sie ist kein Residuum des alten Gottes. Für einen solchen Begriff ist wahr, was dem Wesen gemäß ist, und unwahr, was für das Wesen unwesentlich ist, was es verstellt und verfälscht. Dieser Begriff von Wahrheit fragt nach der Relevanz einer Bestimmung für die Sache selbst und versucht herauszufin­ den, was die Sache selbst zu dem macht, was sie ist. Sie antwortet zum Beispiel auf die Frage, was das Erzieherische eines wahrhaften Erziehers ausmacht im Unterschied zu einem Pseudo-Erzieher. Der Gegenbegriff zu dieser Art von Wahrheit ist nicht das Falsche, sondern das Scheinbare und die Nebensache. Es kann durchaus wahr sein, im Sinn der Aussagenwahrheit, dass ein Mensch Leberflecken hat, aber es macht ihn nicht in Wahrheit aus, dass er derart befleckt ist. Ein Gegenstand kann golden sein und trotzdem kein Gold sein. Die Aussagen über die wesentlichen Wahrheiten, die auf das eigentliche Sein zielen, sind in ihrer Zahl weniger mächtig als alles, was der Fall ist, und doch durchherrschen sie jeden Fall, weil jeder Fall ein Fall von etwas ist. Die Wahrheit als Wahrhaftigkeit ist jene Wahrheit, an der man verzweifeln kann. Sie ist der Kernbegriff aller Ontologie ohne theo­ logischen Rettungsschirm. Der Philosoph sucht in seiner Liebe zur Wahrheit das Eigentliche in der Welt und muss von allem, was der Fall ist, das Wesentliche herausfinden, sowohl für sich selbst als für die Welt.

23 Nietzsche, Friedrich: Unzeitgemäße Betrachtungen III. Schopenhauer als Erzieher (KSA I), Berlin/New York 1999, S. 351. 24 Heidegger, Martin: Nietzsche II (GA 6.2), Frankfurt 1996, S. 480–484.

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11. Der geschichtliche Ort der Verzweiflung an der Wahrheit Erst im Angesicht dieser Aufgabe des Denkens lässt sich der geschichtliche Ort der Verzweiflung an der Wahrheit angemessen verstehen. In der antiken Auslegung des Seins als Anwesen ist eine Verzweiflung an der Wahrheit überhaupt nicht angebracht – da verzweifelt man höchstens, wie Ödipus, über die Wahrheit, aber nicht an der Wahrheit. Die Philosophie Kants provoziert jedoch eine absolute Hilflosigkeit in Bezug auf Sein und Wesen. Wenn jede Art von Sein tatsächlich nur ein nominales Prädikat wäre, so ließe sich nirgends in der Welt das Wesentliche erkennen und es wäre unmög­ lich, zwischen Sein und Schein zu unterscheiden. Der erkennende Mensch erkennt nicht mehr das Ding an sich, er kann höchstens noch die Erscheinungen erkennen. Er unterwirft die Erscheinungen dann seiner Perspektive und bildet verschiedene Interpretationen heraus, die relativ sind auf das eigene Dasein. Die Endlichkeit der menschlichen Erkenntnis scheint jede Reflexion auf Wahrheit im Vorhinein sinnlos zu machen. Nietzsche akzeptiert diese Ausgangsstellung der modernen Phi­ losophie und hält sie für die grundsätzliche Aporie der Wahrheit selbst: Der Mensch kann in Wahrheit nicht die Wahrheit erkennen, das Wesen bleibt ihm im Dasein verborgen. Wenn sich ein Philosoph – als Liebhaber der Wahrheit – dieser Wahrheit über die Wahrheit stellt, kann es dementsprechend eigentlich nur drei Reaktionen geben: den Unmut einer Skepsis, die Verzweiflung eines Nihilisten oder eben den Mut eines Schopenhauer.25 Skeptiker und Relativisten entsagen einfach der Erkenntnis und akzeptieren ohne Mut und Zutrauen eine Vielfalt von möglichen Eindrücken und Erfahrungen, die alle ihre Berechtigung hätten und sich bewähren müssten. Sie wollen kein Kriterium für Wahrheit festlegen und akzeptieren die Realität des Scheins, aber nicht des Seins. Am Ende fordern sie eine Trennung von Sein und Sollen – wie die ganzen Neukantianer –, mit dem Hinweis, dass alle Schätzungen bloß subjektiv seien – und damit nicht wahrheitsfähig. Eine solche Unentschiedenheit ohne Kriterium für die Wahrheit lässt sich im 25 An eben jener Stelle über die Verzweiflung an der Wahrheit: Nietzsche, Friedrich: Unzeitgemäße Betrachtungen III. Schopenhauer als Erzieher (KSA I), Berlin/New York 1999, S. 355.

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Verzweiflung an der Wahrheit.

Leben aber nicht durchhalten, weil das Leben Entscheidung fordert. Der Kritizismus der Relativisten hat daher immer etwas Unredliches an sich, wenn er zum Handeln übergeht und ein Begehren formuliert, also eine Entscheidung fordert, die sich aber auf Nichts berufen kann, außer auf allerpersönlichste Eindrücke, etwa des eigenen Leidens. Eine solche Stellung zu sich selbst und zur Welt lebt per se im Unwahren, weicht der Wahrheit aus und ist überhaupt nicht mehr fähig zu einer echten Verzweiflung. Die Aporie, dass in Wahrheit alle Menschen zur Unwahrheit verdammt seien, darf nicht den Anspruch auf Wahrheit schmälern oder die Suche nach Wahrheit zum Erliegen bringen. Der zweite Weg ist daher die wirksame und wirkliche Verzweiflung an der Wahrheit. Nietzsche zitiert hier Heinrich von Kleist, der nach einer Lektüre Kants klagend aufschreit: »Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist oder ob es nur so scheint... Mein einziges, mein höchstes Ziel ist gesunken und ich habe keines mehr.«26 Ein solcher Schmerz über die Sinnlosigkeit der Suche nach der Wahrheit ist nur ein Vorbote zu jenen Exaltationen eines nihilistischen Wahnsinns, die in Emil Cioran ihren Höhepunkt finden. Wenn gar nichts mehr hilft, wird der Mensch an der Nichtigkeit seines Daseins irre und wälzt sich im Lamento seines irreparabel beschädigten Lebens: »Ich bin überzeugt, ein absolutes Nichts im All zu sein, aber fühle, dass mein Dasein das einzig wirkliche ist. Und wenn ich zwischen dem Sein der Welt und meinem eigenen Dasein zu wählen hätte, würde ich jenes mitsamt seinen Gestirnen und Gesetzen beseitigen und mich erkühnen, alleine durchs absolute Nichts zu schweben.«27 Der dritte Weg im Umgang mit der Gefahr der kantischen Philosophie ist das Denken Schopenhauers. Schopenhauer geht den Weg der Vermessenheit. Wenn es stimmt, dass wir von den Dingen in der Welt nur ihre Erscheinungen erkennen, dann muss ich sozusagen den Spieß umdrehen und dieses Vorgestelltsein in der Erscheinung als die eigentliche Wahrheit hin­

26 Nietzsche, Friedrich: Unzeitgemäße Betrachtungen III. Schopenhauer als Erzieher (KSA I), Berlin/New York 1999, S. 356. Vgl. Kleist an Wilhelmine von Zenge, 22.03.1801, in: Kleist, Heinrich v.: Sämtliche Werke und Briefe (hg. v. H. Sembdner) Bd. IV, München/Wien 1982, S. 634. 27 Cioran, Emil: Auf den Gipfeln der Verzweiflung, Frankfurt 1989, S. 47.

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nehmen: Die Welt ist mein Wille und meine Vorstellung.28 Das Ich muss alles, was ihm in der Welt begegnet, als Teil von sich selbst begreifen. In mir fällt die Welt zusammen, ich bin die Welt und wäre zugleich Gott, wenn es ihn gäbe. Der absolute Subjektivismus macht keinen Unterschied mehr zwischen einem Bild von der Welt und der realen Welt selbst. Das erkennende Ich verzweifelt nicht mehr, obwohl es verzweifeln könnte; es schwingt sich auf zur höchsten Ver­ stiegenheit und macht mit einem gewaltigen Zutrauen und einem furchtbaren Mut sich selbst zum Wesen der Welt.

12. Die Wahrheit im umgedrehten Platonismus Ein umgedrehter Platonismus ist der vierte Weg, wie man sich der Aporie der Wahrheit in Möglichkeit stellen kann, ohne aktual in einer Verzweiflung zu verkommen. Nietzsche selbst hat seine Philosophie bekanntermaßen dergestalt charakterisiert und all seiner Metaphysik damit einen Vergleichspunkt gegeben.29 Was bedeutet dieser Vergleich? Zunächst einmal steht die Philo­ sophie Platons unter der Herrschaft der phronesis und der sophia – nicht der episteme. Platon macht klug und weise, nicht wissend. Die Frage nach der Wahrheit und dem Wesen der Wahrheit hat selbst ihren Ort und Zweck in einer Reflexion über das Gute im Praktischen. Die Erforschung des Sinns von allem Seienden, mit all ihrer begleiten­ den Ideenschau, dient letztlich einer Beratung über praktische Fragen und einer dialektischen Erkundung des Daseins. Auch die sokratische Erziehung zur Wissenschaft hat hier ihre Dienlichkeit. Nietzsches Frage nach dem Wert von Erkenntnis und Wahrheit des klugen Tieres Mensch bleibt genau in derselben Ausrichtung der Philosophie wie Platon und ist insofern ein Platonismus. Umgedreht ist dieser Platonismus aber, insofern er die ontolo­ gische Deutung von Sein und Nichts vertauscht und so den Begriff von Wahrheit ins Gegenteil verkehrt. Der Gründer der Akademie interpretierte die übersinnliche Welt der Ideen als das wahrhaft Sei­ ende und alles Sinnliche als me on, als ein seiendes und täuschendes Nichtsein. Das Dasein wurde entwertet zum unwahren Schein der Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstellung, Zürich 1988. Nietzsche, Friedrich: Nachgelassene Fragmente (KSA 7), Berlin/New York 1999, S. 199. 28

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Existenz. Nietzsches dreht diese Deutung des Sinns von Sein um und stellt die Gegenthese auf: Das Sinnliche ist das wahre Sein – und das Übersinnliche ist der unwahre Schein, das Unwesentliche.30 Nicht der Intellekt ist der Ort, wo sich die Wahrheit entbirgt, sondern die Erfahrung selbst, im Leib und den vorhandenen Wirkungen in der Welt. Die Erscheinung und das Phänomen werden der entscheidende Gegenstand der Reflexion. Mit dieser ontologischen Grundsatzentscheidung verwandelt sich alles, was in einem Platonismus als wahr gilt, zu einem Irrtum, einer Fiktion und Erfindung; und alles, was im Platonismus als irrig oder akzidentiell gilt, wird zur eigentlichen Wahrheit. Selbst der platonische Begriff der Wahrheit wird selbst zu einer Art des Irrtums.31 Es geschieht eine völlige Umkehr des Begriffs vom Wesen – und diese Umkehr vollzieht Nietzsche so radikal, dass nicht einmal die Bewertung von Wahrheit und Irrtum dieselbe bleibt. Aus dem Blickwinkel der Klugheit muss man nämlich einsehen, dass diese Irrtümer und Erfindungen aus einer Not des Lebens selbst entspringen. Es braucht den Schein, selbst wenn er Täuschung ist. Die Täuschung ist dem Leben nicht abträglich, sondern gerade umgekehrt, sie ist die spezifische Leistung des Intellekts, ohne die ein Mensch nicht leben kann: »Der Intellekt, als Mittel zur Erhaltung des Individuums, entfaltet seine Hauptkräfte in der Verstellung«, heißt es in der Abhandlung über Wahrheit im außermoralischen Sinne, »denn diese ist das Mittel, durch das die schwächeren, weniger robusten Individuen sich erhalten, als welchen ein Kampf um die Existenz mit Hörnern oder scharfem Raubtier-Gebiss zu führen versagt ist.«32 Die Suche nach der Wahrheit bedeutet in einem umgekehrten Platonismus also die Ausbildung einer Fähigkeit zur Täuschung. Und die Täuschung selbst ist eine Stärke der klugen, menschlichen Tiere gegen die dummen, tierischen Tiere, die an Körperkraft überle­ gen sind. In der Wirklichkeit ist die Aporie, dass alle Wahrheit in Wahr­ heit Irrtum ist, kein hinreichender Grund, um in Hilflosigkeit zu verzweifeln; denn es gehört genauso zu dieser Aporie, dass wir erst Heidegger, Martin: Nietzsche I (GA 6.1), Frankfurt 1996, S. 153–164. Vgl. Heidegger, Martin: Nietzsche I (GA 6.1), Frankfurt 1996, S 202–224. Zur Genealogie: Nietzsche, Friedrich: Wie die »wahre Welt« zur Fabel wurde, in: Götzen­ dämmerung (KSA 6), Berlin/New York, S. 80f. 32 Nietzsche, Friedrich: Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne (KSA 1), Berlin/New York 1999, S. 876. 30

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durch solche Irrtümer Macht und Herrschaft über unser eigenes Dasein erlangen; selbst wenn wir uns irren sollten – das Mittel zur Herrschaft ist und bleibt jene platonische oder umgekehrt platoni­ sche Unterscheidung von Wesen und Unwesen, Sein und Nichtsein, mit der Gefahr eines tragischen Irrtums. Es wäre nicht klug, auf diese Unterscheidung zu verzichten; nur die unklugen Tiere erfinden kein Erkennen.

13. Die Aufgabe der Philosophie und die Furcht vor sich selbst Die Aufgabe eines Philosophen hat sich also auch nach einer Umwer­ tung aller Werte nicht verändert: Er soll den Wert des Daseins festsetzen, unterscheidend zwischen Sein und Nichtsein, selbst wenn die Festlegung ein Irrtum wäre; er soll ein Gesetzgeber sein für das Maß und das Gewicht der Dinge.33 Er soll sich weiter um eine Form des höheren Selbst bemühen, das einen solchen gewaltigen Wurf wagen darf. Eine solche Macht über die Welt entsteht aus der Macht über das eigene Selbst. Ein Mensch muss zuerst das Können können – und sich aus dem Zustand der Fremdbestimmung befreien. Solange er im Modus der alltäglichen Gewöhnlichkeit sein Leben führt, bleibt sein Geist der Geist der Vielen und verharrt in einer unfähigen Bequem­ lichkeit gegen sich selbst. Eine solche Existenz fürchtet sich vor dem Furchtbaren und Gewaltigen, das sie selber ist, und versteckt die eigene Identität hinter den Sitten und Gebräuchen einer Gesellschaft. Der Normalmensch will gar nicht die Einzigkeit sein, die jeder Mensch von sich aus ist. Die Einzigartigkeit eines Menschen ist immer gegeben, sie ist das Nächste – und doch ist sie verborgen und ein Gegenstand der Furcht für Menschen, die sich in einer gleichartigen Herde wohler fühlen – auch in einer Herde von Singularitäten, in der alle Menschen gleichartig anders sind. Auch solche Pseudo-Identitäten als Frau, Schwarzer, Schwuler, Hottentotte, alter weißer Mann oder andere Formen des Vorhandenseins im alltäglichen Dasein sind alles völlig wesenlose Begriffe von Identität, die ihr Heil im Nichtidentischen 33 Nietzsche, Friedrich: Unzeitgemäße Betrachtungen III. Schopenhauer als Erzieher (KSA I), Berlin/New York 1999, S. 360.

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suchen. Solche Menschen führen lieber ein Leben in Unwahrheit, das nicht ehrlich ist gegen sich selbst, als sich den drei Gefahren einer philosophischen Existenz zu stellen. Sie tun alles, um nicht an sich selbst verzweifeln zu müssen. Sie sind nie einsam und verhärten nicht, sondern bleiben flexibel im Umgang dessen, was Wahrheit für sie bedeuten würde. Sie haben eine Wendigkeit, eine Tentakel-Intel­ ligenz, und verstehen sich auf alle möglichen Winkelzüge des Wissens und Sich-Auskennens im Zeitgemäßen. Solche Menschen halten ihre Identität für vielfach, vielfältig und kompliziert, damit sie durch das Wesen, das sie eigentlich sind, nicht in Not kommen. Gegen solche Menschen wollte Nietzsche in Schopenhauer einen »wahren Philosophen als Erzieher finden, welcher einen über das Ungenügen, soweit es in der Zeit liegt, hinausheben könnte, und wieder lehrte, einfach und ehrlich, im Denken und im Leben, also unzeitgemäß zu sein (...); denn die Menschen sind jetzt so vielfach und kompliziert geworden, dass sie unehrlich werden müssen.«34 Die Selbst-Erziehung zu Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit – und damit die Sezession vom Sein als Gewohnheit – beginnt einer radikalen Zuwendung zu sich selbst im Geist der übenden Askese. Wer ein­ fach werden will – wer Jemand werden will –, erschafft sich ein Existenz-Gewissen, das fortwährend flüstert: »Sei du selbst! Das bist du alles nicht, was du jetzt tust, meinst, begehrst!«35 Es erinnert ohne Unterlass: »Dein wahres Wesen liegt nicht tief verborgen in dir, sondern unermesslich hoch über dir oder wenigstens über dem, was du gewöhnlich als dein Ich nimmst.«36 Die Verzweiflung an der Wahrheit ist eine Verzweiflung über die eigene Identität.

14. Verzweiflung am asketischen Stern Die Verzweiflung an der Wahrheit entsteht aus einer Liebe zur Wahrhaftigkeit und verweist auf ein Grundproblem der Identität: Vielfalt können wir nicht sein, sonst lebten wir im Anderen. Wir sind erst, wenn wir Eines sind. 34 Nietzsche, Friedrich: Unzeitgemäße Betrachtungen III. Schopenhauer als Erzieher (KSA I), Berlin/New York 1999, S. 346. 35 Nietzsche, Friedrich: Unzeitgemäße Betrachtungen III. Schopenhauer als Erzieher (KSA I), Berlin/New York 1999, S. 338. 36 Nietzsche, Friedrich: Unzeitgemäße Betrachtungen III. Schopenhauer als Erzieher (KSA I), Berlin/New York 1999, S. 341.

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Eine solche Einheit zu schaffen, bleibt die Aufgabe eines jeden Daseins. Das eine Selbst ist nicht gegeben, nicht statisch und vorhan­ den, sondern ein radikal anti-identitäres Noch-nicht-Sein. Nur dort, wo ein Mensch mehr von sich will als das, was er gerade ist, gibt es die Möglichkeit zur Identität. Die Vertikalspannung zu sich selbst bringt erst das Furchtbare und Gewaltige hervor, das man selber sein kann. Eine solche Askese bedrohen ständig die drei großen Gefah­ ren für die Gesamtverfassung des Menschen – die Vereinsamung, die Verhärtung und der Verzweiflung an der Wahrheit – doch erst durch einen solchen übenden Geist beginnt auch das gekonnte, das freie und selbstbestimmte Dasein. Den wagenden Steuerleuten der eigenen Existenz lautet der Wahlspruch: »Leben überhaupt heißt, in Gefahr sein.«37 Das Pathos der Philosophie entstammt einem solches Wagnis, das verzweifeln lassen kann, aus einer Liebe zur Wahrheit. Und selbst wenn es die Wahrheit nicht gäbe, wären wir keine Zweifler, sondern verzweifelte Verehrer des Nichts, im schwarzen Rausch verzückt von den Winken des Nichts, ewig bewahrt vor der Agonie eines Daseins ohne Wert.

Literatur Améry, Jean: Jargon der Dialektik, in: G. Scheit (Hg.), Jean Améry. Aufsätze zur Philosophie, Stuttgart 2004. Aurel, Marc: Selbstbetrachtungen, Stuttgart 2019. Cioran, Emil: Auf den Gipfeln der Verzweiflung, Frankfurt 1989. Foucault, Michel: Hermeneutik des Subjekts, Frankfurt 2004. Große, Jürgen: Der gekränkte Mensch. Metaphysische Miniaturen, Leipzig 2014. Heidegger, Martin: Nietzsche (GA 6), Frankfurt 1996. Heidegger, Martin: Grundfragen der Philosophie (GA 45), Frankfurt 1984. Hume, David: Ein Traktat über die menschliche Natur, Hamburg 2013. Kierkegaard, Sören: Die Krankheit zum Tode, München 1976. Kleist, Heinrich v.: Sämtliche Werke und Briefe (hg. v. H. Sembdner), München/ Wien 1982. Lyotard, Jean-François: Die Logik, die wir brauchen. Nietzsche und die Sophisten, Bonn 2004. Nietzsche, Friedrich: Unzeitgemäße Betrachtungen (KSA I), Berlin/New York 1999. 37 Nietzsche, Friedrich: Unzeitgemäße Betrachtungen III. Schopenhauer als Erzieher (KSA I), Berlin/New York 1999, S. 360.

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Verzweiflung an der Wahrheit.

Nietzsche, Friedrich: Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne (KSA 1), Berlin/New York 1999. Nietzsche, Friedrich: Über das Pathos der Wahrheit (KSA 1), Berlin/New York 1999. Nietzsche, Friedrich: Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen (KSA I), Berlin/New York 1999. Nietzsche, Friedrich: Wie die »wahre Welt« zur Fabel wurde, in: Götzendämme­ rung (KSA 6), Berlin/New York. Nietzsche, Friedrich: Nachgelassene Fragmente (KSA 7), Berlin/New York 1999. Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstellung, Zürich 1988. Sloterdijk, Peter: Du musst dein Leben ändern!, Frankfurt 2009. Somek, Alexander: Moral als Bosheit, Tübingen 2021.

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II. Friedrich Nietzsches Verzweiflungen in Leben und Werk

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Kerstin Decker

Der Mitmensch als Grund zur Verzweiflung: Richard Wagner und Lou von Salomé Mit einem Seitenblick auf Nietzsches kategorialen zoologischen Fehler

1 Resonanzen. Ein Anfangsverdacht Dass der Mitmensch ein Grund zur Verzweiflung sein kann, werden die meisten von uns unwillkürlich bestätigen – unwillkürlich, also noch vor jeder Reflexion. Neben unlösbaren finanziellen Problemen, schwerer Krankheit und dauerhaft verweigerter Anerkennung werden sie ihrem Nächsten – je nach dem – den ersten bis vierten Rang im Ranking der fatalsten Unzuträglichkeiten durchaus zubilligen. Manchmal muss mehr dem Phänomen seiner erschöpfenden Anwe­ senheit gedacht werden, vielleicht genauso oft aber noch dem seiner Abwesenheit, seltener einer Mischung aus beiden. Die Verzweiflung über das Fehlen des Nächsten nennt man auch Einsamkeit. Über die Einsamkeit sprach Friedrich Nietzsche viel, über die Verzweiflung nicht. Vielleicht, weil diesem Wort beim besten Willen keine Perspek­ tive innewohnt. Es ist gleichsam nackt, wie der Verzweifelte selbst. Tragödie, amor fati, Einsamkeit – allesamt Hauptwörter Nietzsches – sind doch, obgleich verzweiflungsnah, solche mit Perspektive. Der Mitmensch: Richard Wagner und Lou von Salomé also. Die beiden Nächsten, die Friedrich Nietzsche zum Schicksal wurden. Ich schlage vor, das Phänomen der Verzweiflung zunächst provisorisch so zu formulieren: Es ist immer dann latent gegeben, wenn uns entzogen wird, was uns leben lässt. Also zunächst einmal der Boden. Nietzsche ist natürlich der Auffassung, dass wir uns in Fässern ohne Boden einrichten sollten, die dionysische Welt habe grundsätzlich keinen Boden. Die höchste Existenzform, zu der man es dort bringen kann, hat er kongenial formuliert, und zwar als Selbstaussage: »Ich lebe

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seltsam, wie auf den Wellenspitzen des Daseins – eine Art fliegender Fisch.«1 Das ist eine durchaus artistische Existenzform. Aber wo ist man am Ende dieses Schwimmfliegens? Und was, wenn man dann gar keine Küste mehr sieht? Die Dichterin Else Lasker-Schüler, eine Virtuosin auch darin, den Nächten der Seele Worte zu finden, beschrieb diesen Zustand so: »Immer muß ich wie der Sturm will, / Bin ein Meer ohne Strand.«2 Die dionysische Welt ist ohnehin am ehesten eine Wasserwelt, und Richard Wagner war vielleicht der erste, der wirklich Wasser komponiert hat, denken Sie an den Anfang des »Rheingolds«, wäh­ rend Händels »Wassermusik« etwa Festlandsmusik par excellence ist. Aber ein Phänomen, vielleicht das zentralste wäre noch zu ergänzen: Resonanz. Musiker leben im Reich der Resonanzen, und wir haben gleich zwei: Wagner und Nietzsche. Re-sonare: zurücktönen. Aber wir übrigen befinden uns auch in diesem Reich; wäre es anders, wir würden nicht nur keine Musik hören, wir würden über­ haupt nicht leben können. Gelingendes Dasein ist enthalten in einem irgendwie gearteten Schwingungskreis. Behauptet sei: Vielleicht lässt sich die Verzweiflung am elementarsten als Resonanzphänomen bestimmen. Glück ist, sich in einem Resonanzkreis zu befinden, wo alles Antwort gibt auf die eigene Existenz. Verzweiflung ist, ganz ohne Resonanz zu sein. Die vier eingangs genannten Unzuträglichkeiten fügen sich diesem Zugriff wie von selbst: zweimal handelt es sich um die Infragestellung der Existenz des Resonanzbodens selbst, einmal um Misstöne, zuletzt um das erzwungene Schweigen dessen, was doch zur Antwort gemacht ist. Und die Rede ist hier, bei Nietzsche und Wagner, von zwei im höchsten Maße schwingungsempfindlichen Menschen; im Fall Lou von Salomés, der jungen Lou von Salomé, ist das durchaus anders. Sie ist mehr als eine frühe Inkarnation des Willens zu Macht. Heißt: Mein Resonanzraum bin ich selber und im Erweiterungsfall bestimme ich über seine Besetzung! Der Wille zur Macht ist – nicht als heuris­ tisches Prinzip gedacht – in gewissem Sinn ein Ersetzungsphänomen der Resonanz. 1 Friedrich Nietzsche an Heinrich Köselitz, 8. Dezember 1881, in: Friedrich Nietzsche, Sämtliche Briefe, Kritische Studienausgabe (KSA), Bd. 6, München, Berlin, New York 1986, S. 148. 2 So im Gedicht »Nur dich«. Die Wendung vom »Meer ohne Strand« kehrt auch in den Briefen der Dichterin wieder, geradezu als Formel der Verzweiflung.

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Sie hoffen vielleicht, dass es jetzt richtig konkret wird, aber ich möchte noch eine andere Spur legen, einen zweiten Blickwinkel vorschlagen. Und darum muss ich um Verständnis bitten, dass ich noch eine etwas längere zoologische Vorbemerkung machen möchte, deren Befund dem hier verhandelten Phänomen absolut nicht äußerlich ist.

2 Zoologische Vorüberlegungen. Rousseau als Paralleldenker. Wagner und die Kuhglocken Was der Mensch ist, lässt sich nur vom Tier her verstehen. Friedrich Nietzsche gehört zweifelsohne zu den größten Tierdenkern unter den Philosophen, vielleicht ist er der größte. Und dabei vollkommen frei von jeder intellektuellen Arroganz. Seine Basisdefinition, der gene­ relle Befund lautet: Der Mensch sei das missratene Tier. Die Fröhliche Wissenschaft konkretisiert: »Ich fürchte, die Thiere betrachten den Menschen als ein Wesen Ihresgleichen, das in höchst gefährlicher Weise den gesunden Thierverstand verloren hat, — als das wahnwit­ zige Thier, als das lachende Thier, als das weinende Thier, als das unglückselige Thier.« 3 Da haben wir schon, aus Nietzsches eigenem Mund, das ganze Thema dieses Buches. Heißt genauer: Der Mensch ist das Tier, das verzweifeln kann. Die weitere Perspektive für dieses also ohnehin höchst gefähr­ dete Tier findet sich im Zarathustra. Sie lautet: Ab aufs Seil mit dem Absturz-Kandidaten! Im Wortlaut: »Der Mensch ist ein Seil, gespannt zwischen Thier und Übermensch, – ein Seil über einem Abgrunde.«4 Es ist ohne Frage der Abgrund der Verzweiflung. Alle Sätze Zarathustras, die nun folgen und gewöhnlich beginnen mit »Ich liebe die, welche ...« oder »Ich liebe den, welcher ...« lassen sich auf den gleichen Nenner bringen, obwohl das Wort selber nie fällt: Ich liebe die, die noch ihre Verzweiflungen bejahen. Nun ist aber Tier keineswegs gleich Tier. Es gibt die, die andere fressen und die, die gefressen werden. Wo die Sympathien des Autors liegen, ist jedem Nietzsche-Leser klar. Wir haben es ohne Zweifel mit einem Apologeten der Raubtiere zu tun. Friedrich Nietzsche wird nicht verfehlen, der Petersburger Generalstochter Lou von Salomé den Mut eines Löwen und den Scharfblick eines Adlers zu attestieren. 3 4

Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Drittes Buch, 224, KSA 3, S. 510. ders., Also sprach Zarathustra I, KSA 4, S. 16.

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Gewöhnlich werden die Tugenden junger Frauen eher mit den Vor­ zügen von Blumen oder Haustieren beschrieben, Rosen und weiße Tauben liegen nahe, aber niemals Löwen und Adler. Doch wenn Nietzsche zoologisch rühmen will, kommt nur das Raubtier in Frage. Sein prominentestes Beispiel haben ohnehin noch immer viele im Ohr, auch Nicht-Philosophen: Es ist die »blonde Bestie«. Sie halten sie aber nicht vorzugsweise für ein Tier, sondern für einen SS-Mann. In der Grundbedeutung ist sie nichts weiter als ein Löwe, wie der Name schon sagt. Nietzsche ist an der Möglichkeit des Miss­ verständnisses jedoch nicht unschuldig. Die einschlägigen Passagen aus der Genealogie der Moral sind hier nicht zu erläutern, doch möchte ich bei dieser Gelegenheit am Grunde von Nietzsches Werk einen kategorialen zoologischen Fehler vermuten. Der größte Gegensatz zum Raubtier ist das Haustier, das Her­ dentier. Herdentiere leben grundsätzlich jenseits der Verzweiflung: eben in der Herde. Leib an Leib mit ihrem Nächsten, spüren sie nichts vom Anhauch des leeren Alls, nichts von der Geworfenheit der Existenz, um es mit einem Nachfahren Nietzsches zu sagen. Darum verachtet er sie. Und für die Art ihrer Wegwahl natürlich. Schafe brauchen immer einen Hirten, um zu wissen, wohin sie laufen sollen. »Einstmals war das Ich in der Herde versteckt«, stellt Friedrich Nietzsche fest, »und jetzt ist im Ich noch die Herde versteckt.«5 So kann man durchaus die Evolution des Menschen beschreiben. Die Botschaft lautet: Tötet das Herdentier in Euch, erlangt endlich die Qualifikation zur Verzweiflung! Denn das Herdentier kennt nur einen Grund zur Verzweiflung: sich abseits der Herde zu befinden. Und insofern Friedrich Nietzsche die Verzweiflungs-Prävention als bloßes Herdentier-Symptom fasst, verachtet er sie. Aber auch Friedrich Nietzsche ist, das müssen wir feststellen, ein Herdentier. Denn das Wort, angewandt auf die Gesellschaft in bloßstellender Weise, ist keineswegs von ihm. Da ist, so darf man das vielleicht formulieren, noch ein Leithammel vor ihm. Die Gesellschaft als Herde, der Mensch als Herdentier tritt vielleicht zum ersten Mal in dieser neuen Betonung bei Rousseau auf. Das christliche Gesellschaftsideal war noch ganz offensiv nach dem Vorbild einer Schafherde gebildet: Hirt und Herde. Es konstatiert, 5 Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente. November 1882 – Februar 1883, KSA 10, S. 110.

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gleichsam beiläufig, die Haustierhaftigkeit des Menschen. Schaf an Schaf, dem Hirten und dem Licht des Herrn folgend: So beschreibt sie, gleichsam als Zentralmotiv, die einzig gelungene Existenzform. Und welche ist das? Die Existenz jenseits der Verzweiflung. Bei Rousseau wird das anders, durchaus in Nietzsches Sinn. Rousseau: »Heute ... herrscht in unseren Sitten eine niedrige und trügerische Uniformität, und alle Geister scheinen nach ein und dem­ selben Muster gebildet zu sein: unaufhörlich erfordert die Höflichkeit, gebietet der Anstand; unaufhörlich folgt man dem Gebräuchlichen, nie dem eigenen Wesen. Man wagt nicht mehr zu scheinen, was man ist, und unter diesem ständigen Zwang machen die Menschen, die diese Gesellschaft genannte Herde bilden, in den gleichen Umständen alle das Gleiche ...«6 Das ist doch sehr interessant, zumal Nietzsches Ursprung der Tra­ gödie durchaus als Variation auf Rousseaus erste Akademie-Abhand­ lung gelesen werden kann. Beide Male lautet die Diagnose: Schon an den Fundamenten unserer Kultur muss etwas entsetzlich schiefgelau­ fen sein. Beide Male ist die (falsche) Emanzipation des logos schuld. – Und dann die Berufung auf die Natur bei Nietzsche und Rousseau! Und auf die Einsamkeit! Dazu, nicht zuletzt: zwei Philosophen, die eher Musiker sind. Rousseau und Nietzsche sind die beiden großen Eremiten der jüngeren Philosophiegeschichte, beide nehmen dieses Schicksal an, doch Rousseau in einer überaus anspruchsvoll zu denkenden DoppelIdentität: als freier Naturmensch, also allein, ohne sich darüber zu betrügen, dass er – als Europäer des 18. Jahrhunderts – zugleich ein Gesellschaftstier, also ein Herdentier ist, genauer: ein von der Herde versprengtes Herdentier, was er als die Quelle seiner Ver­ zweiflung durchaus anerkennt. Nietzsche dagegen präsentiert sich zunehmend in Raubtierattitüde. Raubtiere brauchen im Fall der Fälle keine Gefährten, der Tiger ist immer allein. Rousseau hat den Typus Philosoph – den Typus Nietzsche – bereits sehr klar erkannt: »... seine Verachtung für die anderen kommt seinem Hochmut zugute, seine Eigenliebe wächst in demselben Maße Jean-Jacques Rousseau, Von der Akademie zu Dijon im Jahre 1750 preisgekrönte Abhandlung über die von dieser Akademie aufgeworfene Frage, ob die Wiederher­ stellung der Künste zur Läuterung der Sitten beigetragen habe. Von einem Bürger Genfs (im Folgenden Erste Abhandlung genannt), in: ders., Kulturkritische und poli­ tische Schriften I, Berlin 1989, S. 64., S. 57f.

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wie seine Gleichgültigkeit für das übrige Universum. ... er ist nicht Vater, nicht Bürger, nicht Mensch, er ist Philosoph«7, kurz: eine Existenzform mit akuter Neigung zur Selbsthypostase am Rande der Verzweiflung. Nietzsche erkennt Rousseau freiwillig das Prädikat »des ersten modernen Menschen« zu, um wie folgt zu konkretisieren: Er sei »die Missgeburt, welche sich an der Schwelle zur neuen Zeit gelagert hat«8. Widerwärtig der ganze Kerl. Im Kern, dürfen wir vermuten, geht es um eine zoologische Meinungsverschiedenheit. Undenkbar, Nietzsche hätte wie Rousseau bekannt: »Ich bedarf eines treuen Freundes, eines liebenswürdigen Weibes, einer Kuh und eines kleinen Bootes. Und niemals werde ich auf Erden vollkommen glücklich sein, solange ich das nicht besitze.«9 Nun können Sie fragen: Wie kommt der Wiederkäuer in eine Vision ultimativen Glücks? Woher eine Kuh ausgerechnet dort? Doch Rousseau ist mit dieser Stellungnahme keineswegs allein. Hören Sie – nun endlich – Richard Wagner über die Vorzüge Trib­ schens, seiner Herberge am Vierwaldstätter See: »Tag und Nacht hörst du das Geläute. Dies Geläute ist schöner als alles Tönen, das ich kenne« – einschließlich meiner eigenen Musik, hätte er vielleicht um ein Haar gesagt, fährt dann aber fort: »Die Willkür des Klangwechsels ist von unbeschreiblichem Zauber. Ich gäbe alle Glocken Roms dafür hin.«10 Sie begreifen nichts vom Typus Wagner, wenn Sie diesen Satz nicht vollkommen ernst nehmen. Wagner ist nicht kokett, und in solchen Dingen am allerwenigsten. Wagner war, wie Sie schon aus seinen Opern wissen, im höchsten Maße erlösungsbedürftig. Heißt weiterhin, er führte hauptsächlich eine Existenz an den Ufern der Verzweiflung. Heißt weiterhin, musi­ kologisch und auf das Tribschener Rindvieh bezogen: Aller Trost der Erde liegt in diesem Geschepper der Kuhglocken. Was schließlich bringt den bereits tödlich verwundeten Tristan wieder ins Leben zurück, auch wenn es nur ein Sterbeleben ist? Es ist eine alte Hirtenweise. Eine veritable Haustiermelodie also, der Sound der Herdentiere. Wir halten fest: Die Musik ist ein Bollwerk gegen die Verzweiflung, und das Herdengeläut, in all seinen Dissonanzen, ist die Urmusik des befriedeten Daseins. Die Analogie trägt in der Tat Jean-Jacques Rousseau, Vorrede zum Narcisse, ebd., S. 169. Friedrich Nietzsche, Götzendämmerung, 48, KSA 6, S. 150. 9 Jean-Jacques Rousseau, Bekenntnisse, Frankfurt a.M. 1985, S. 230. 10 Richard Wagner an Cosima von Bülow, 31. März 1866, in: Richard Wagner, Briefe, ausgewählt und herausgegeben von Hans-Joachim Bauer, Stuttgart 1995, S. 444.

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ziemlich weit: Ein Spezialfall der Kuhglocke ist die Kirchenglocke, das Sammelgeläut für die andere Herde, und Sie wissen, welche Wirkung dieser Klang zu Ostern auf die vielleicht bekannteste Gelehrtenexis­ tenz am Rande der Verzweiflung hatte: Faust überlebte. Friedrich Nietzsche ist natürlich zu klug, geistig viel zu empfindlich, um all das nicht zu bemerken. Und er konstatiert bündig: »Das Himmelreich aber ist bei den Kühen«11, um schon kurz darauf das ganze Himmelreich durchzustreichen: Ihr Schlüssel zum Glück? Fres­ sen, wiederkäuen. Im Zarathustra, diesem Nach-Wagner-Werk par excellence, als der Held eben vom hässlichsten Menschen kommt, trifft er inmitten einer Kuhherde den Bergprediger, der ihm erklärt: »Am weitesten freilich brachten es diese Kühe: die erfanden sich das Wiederkäuen und In-der-Sonne-Liegen. Auch enthalten sie sich aller schweren Gedanken, welche das Herz blähn.« Worauf Zarathustra erwidert: »Wohlan ... du solltest auch meine Tiere sehn, meinen Adler und meine Schlange – ihresgleichen gibt es heute nicht auf Erden.« Schon wieder: Beutegreifer.

3 Vom Raubtier zum Herdentier? Nietzsches zoologischer Irrtum Im November 1869 in Leipzig treffen also zwei Repräsentanten ihres Zeitalters aufeinander – dreißig Jahre Altersunterschied liegen zwischen ihnen –, die grundverschiedene Ansichten über Raubtiere und Rindviecher haben und immer behalten werden. Auffällig aber ist: Beide denken den Menschen ohne jeden artspezifischen Hochmut vom Tier her, unter Philosophen ist das längst nicht die Regel, unter Musikern auch nicht. Sie denken von unten. Und von wem haben sie das nicht zuletzt? Sie haben beide Schopenhauer gelesen. Richard Wagner hat nie irgendeine Art von Hochachtung oder sonstiger Anteilnahme für Raubtiere geäußert. Dafür zeigt er zeitle­ bens Reaktionen wie diese: Am Tag der Uraufführung seiner »Wal­ küre« in München – von der er demonstrativ ausgeschlossen ist –, trägt er in Luzern seinen kleinen räudigen Pinscher zum Arzt. Aber nicht um ihn einschläfern zu lassen, wie jeder andere es getan hätte 11 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra IV, Der freiwillige Bettler, KSA 4, S. 335f.; Zitate bis auf Weiteres ebd.

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– immerhin hatte der Pinscher schon ein Auge an die Räude verloren –, sondern um das andere mitsamt des ganzen Hundes um jeden Preis retten zu lassen, egal welche Frist dem Pinscher noch bliebe. Raubtier-Denker sehen solche Dinge gewöhnlich anders. Richard Wagner lag jede Herrenmoral fern, um mit dem späteren Nietzsche zu reden, und wenn man ihm mitgeteilt hätte – was heute als erwiesen gilt –, dass der Mensch ein Haustier ist, und zwar gewissermaßen der König der Haustiere – hätte er vermutlich geantwortet: Das habe ich mir gedacht! Nietzsche dagegen wäre wohl sehr ungehalten gewesen bei dieser Nachricht. Haustiere! Also Herdentiere, nicht ihren schlechten Angewohnheiten und Leitbildern nach, sondern gewissermaßen von allem Anfang an? Diese Anthropologen und Evolutionsbiologen brin­ gen seine ganze menschliche Zoologie durcheinander. Haben Sie keine Sorge, wir sind noch immer bei der Verzweif­ lung, wir bestimmen ihren Resonanzraum nur genauer. Dass der Mensch ein Haustier ist, hatte bereits Aristoteles vermutet. Schon seine erstaunliche Friedfertigkeit im gewöhnlichen Umgang – wenn er nicht gerade in den Krieg zieht –, hatte ihm diesen Gedanken nahegelegt. Auch Darwin kam er. Aber der Verdacht war immer wieder an der latent unbeantwortbaren Frage abgeprallt: Wer um Himmels willen hat uns gezähmt? Der Zivilisationsprozess selbst war es, lautet eine populäre Vermu­ tung, die Friedrich Nietzsche zutiefst erbost. Er sieht das so: »Gesetzt daß es wahr wäre, was jetzt jedenfalls als ›Wahrheit‹ geglaubt wird, daß es eben der Sinn aller Kultur sei, aus dem Raubtiere ›Mensch‹ ein zahmes und zivilisiertes Tier, ein Haustier herauszuzüchten, so müßte man unzweifelhaft alle jene Reaktions- und Ressentiment-Instinkte, mit deren Hilfe die vornehmen Geschlechter samt ihren Idealen schließlich zuschanden gemacht und überwältigt worden sind, als die eigentlichen Werkzeuge der Kultur betrachten; womit allerdings noch nicht gesagt wäre, daß deren Träger zugleich auch selber die Kultur darstellten. Vielmehr wäre das Gegenteil nicht nur wahrscheinlich – nein! es ist heute augenscheinlich!«12 Die mutmaßliche Wahrheit ist indes noch schlimmer, als Nietzsche vermutete: Der Homo sapiens trat seinen Weg nicht als schönes 12

Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, KSA 5, S. 276.

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Raubtier an, nicht einmal als wilder Affe, der schließlich zum Haustier degenerierte. Er verdankt seinen Erfolg vielmehr einer frühen spekta­ kulären Selbstzähmung. Heißt in der tödlichen urzeitlichen Praxis: Herrenmenschenexemplare, Alpha-Tiere flogen aus der Horde. Das ist die Antwort, die Evolutionsbiologen und Primatenforscher inzwi­ schen auf die Zähmungsfrage geben. Kennzeichen der Haustiere sind: Juvenile Eigenschaften verer­ ben sich, der gesamte Aggressionsapparat wird zurückgebildet, die männlichen Exemplare gleichen sich zunehmend den weiblichen an und immer so weiter. Läse Friedrich Nietzsche Richard Wranghams Die Zähmung des Menschen. Warum Gewalt uns friedfertiger gemacht hat13, er wäre wohl erschüttert vor Abscheu. Des Weiteren fallen bei Haustieren regelmäßig Schlappohren und Ringelschwänze auf – beim Menschen nicht ganz so kenntlich – und die Homosexualität natür­ lich. Dieser Prozess der Selbstzähmung ermöglichte die einzigartige menschliche Fähigkeit zur Kooperation, die den Erfolg der Gattung ausmacht. Letztlich erklärt er wohl auch, dass sich der homo sapiens gegenüber dem Neandertaler und allen anderen Hominiden behaup­ ten konnte, denn dümmer waren die kaum: aber wohl nicht so gut vernetzt, wie mancher das heute vielleicht formulieren würde. Der Weg zum Triumpf unserer Art war der systematische Ausschluss der Exemplare mit Raubtiercharakter aus der Gesellschaft, heute vorzugsweise Alpha-Männer genannt. Deren Stunde schlug erst sehr spät wieder, gattungsgeschichtlich betrachtet vor nicht einmal fünf Minuten, nämlich im Zuge der Spätfolgen der neolithischen Revolu­ tion. In unsere biologische und instinktmäßige Grundausstattung ist dieser Augenblick aber kaum eingegangen. Der Verhaltensforscher Eibl-Eibesfeld hat das Phänomen einmal so zusammengefasst: Wir hätten uns eine Welt geschaffen, für die wir nicht geschaffen seien.14 Und was Friedrich Nietzsche besonders beunruhigen müsste: Raubtiere und Wildtiere spielen nicht, nicht mehr als Erwachsene. Nur Haustiere spielen. Es ist wohl ein Entlastungsphänomen. Nietz­ sche hat auf das Spielenkönnen aber immer besonderen Wert gelegt, denn es ist das Geschwisterkind der Phantasie, des Schöpferischen. Richard Wrangham, Die Zähmung des Menschen. Warum Gewalt uns friedfertiger gemacht hat, München 2019. 14 vgl. Irenäus Eibl-Eibesfeldt, Der Mensch – das riskierte Wesen. Zur Naturge­ schichte menschlicher Unvernunft, München 1988 13

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Und was wird, so betrachtet, aus Nietzsches Übermensch über dem Abgrund der Verzweiflung? Ist er als Weiterentwicklung eines Haustiers überhaupt denkbar, und wie genau? Wir lassen an dieser Stelle vorerst die Frage offen, ob ein Haustier per se ein Herdentier ist. In dieser Hinsicht kann die Betrachtung Richard Wagners sehr aufschlussreich sein. Ich vermute mit Nietz­ sche, der Mensch ist das Tier, das verzweifeln kann. Zu konkretisieren wäre an dieser Stelle: Der Mensch ist das Haustier, das verzweifeln kann. Und dafür ist Wagner nun in der Tat ein gutes Beispiel. Die junge Lou von Salomé aber kommt dem von Nietzsche intendierten Raubtiercharakter erstaunlich nahe, sie darf ohne Zweifel als die die erste Inkarnation seines Übermenschen gelten, gewissermaßen als das Übermädchen, und das nicht ohne Folgen für seine Philosophie.

4 Richard und Cosima Wagner: Ein verzweiflungsursprünglicher Lebensabschiedsbund. Dritte unerwünscht Und jetzt wird es sehr, sagen wir, privat, so gar nicht theoretisch, akademisch auf den ersten Blick. Aber auch die Verzweiflung ist schließlich kein akademisches Phänomen. Und man muss das Glück eines Menschen – auch eines Philosophen – kennen –, um seine Verzweiflungen zu ermessen. Ich behaupte: Nicht der verlorene, der getötete Gott trägt die Schuld als vielmehr ein verlorener Resonanz­ raum, der so selbstverständlich erschien, wie das Glück immer, wenn es da ist. Dass es das Glück war, wird erst kenntlich, wenn es fort ist. »Mir graut immer vor dem Gedanken, ich könnte abseits von Ihnen liegengeblieben sein«, wird Friedrich Nietzsche Richard Wag­ ner immer wieder wissen lassen. Dabei war nichts unwahrscheinlicher als ihre Begegnung. Denn Wagner war im November 1868 nur aus einem Grund vollkommen incognito und sehr kurz in Leipzig: aus Verzweiflung. Und darum wollte er hier auch niemanden sehen. Im Sommer erst hatten die Meistersinger in München Premiere gehabt, und es wurde der größte Triumph seines Lebens, größer noch als der Erfolg des Rienzi, aber zurück in Tribschen fiel er in eine schwere Depression, auf deren Höhepunkt er der Baronin von Bülow, Frau seines Freundes, des Ausnahmekapellmeisters Hans von Bülow, des weiteren Mutter von zwei kleinen Bülow- und zwei kleinen

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Wagnerkindern mitteilte: So könne das alles nicht bleiben! Sie müsse endlich ganz zu ihm kommen. Wagner war schon immer ein Bewohner der dionysischen Welt gewesen. Er hatte im Grunde – anders als Nietzsche – eine Anar­ chistenseele, sein Selbsterhaltungstrieb war mitunter unzulänglich ausgebildet, was bei einem Künstler seines Ranges, eines Errichters von musikalischen Reichen und ganzen Festspielhäusern, eine durch­ aus ungewöhnliche seelische Disposition darstellt. Wer würde schon, nach all den Pariser Elendsjahren endlich Königlich Sächsischer Hof­ kappellmeister in Dresden geworden, sich vorbehaltlos auf die Seite der 1848er-Revolution stellen, ja höchstpersönlich Handgranaten für die Dresdner Citoyens ordern? Richard Wagners kürzestes Selbstporträt ist nur zwei Sätze lang und lautet: »Im wunderschönen Monat Mai kroch Richard Wagner aus dem Ei, drum wünschen alle, die ihn lieben, er wäre lieber drin geblieben.« Es handelt sich um den seltenen Fall eines komischen Ver­ zweiflungssatzes, eines gleichsam pränatalen Weltvorbehalts, post­ natal verifiziert. Er kann das natürlich auch viel länger sagen, dann dauert es fünf Stunden, heißt Tristan und Isolde und ist nichts anderes als eine überlange Agitation zum Gemeinschaftssuizid in drei Akten. Es ist in der Tat erstaunlich, dass es so etwas im 19. Jahrhundert auf die Bühne schaffte. Und der Leipziger Student Friedrich Nietzsche wusste genau, was da an sein Ohr drang. Erst Anfang Oktober 1868 hatte er in Leipzig das Tristan- und das Meistersinger-Vorspiel wieder gehört, mit folgenden Symptomen: »Jede Faser, jeder Nerv zuckt an mir, und ich habe lang nicht ein so andauerndes Gefühl der Entrücktheit gehabt.«15 Da ist also, zumindest was den Tristan-Part anbetrifft, zweifellos eine Empfänglichkeit für Unlebbarkeiten, also Verzweiflungen aller Art, insofern sie sich in Noten ausdrücken lassen. Das neue Lebens-Projekt Wagners erfüllte jedoch auch alle Kriterien einer Verzweiflungstat. Denn der König von Bayern per­ sönlich hatte gegenüber seinem Volk eine Ehrerklärung für seine Lieblings-Musikanten abgegeben, also für die Unbedenklichkeit des Verhältnisses des Ehepaars von Bülow zu Richard Wagner. Bisher konnte Wagner sich sagen, er lebe mit Cosima in einer Art Bachscher Doppelfuge. Wenn nun aber die Baronin von Bülow vor aller Augen ihren Mann verließe, hätte Wagner nicht nur seinen Freund auf 15

Friedrich Nietzsche an Erwin Rohde, 27. Oktober 1868, KSA SB 3, S. 332.

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empfindlichste Weise bloßgestellt, so dass diesem nach den Maßstä­ ben der Zeit bloß noch blieb, Wagner zu erschießen, sondern auch der König würde vor aller Öffentlichkeit zum Falscheidschwörer. Auf dessen Gunst brauchte Wagner danach also nicht mehr zählen. Andererseits kam Ludwig für die Unkosten der Anwesenheit seines Lieblingskomponisten auf Erden auf und die neigen nicht zur Uner­ heblichkeit. Richard Wagner spielt also, und das keineswegs zum ersten Mal, mit seiner ganzen Existenz, und er ist inzwischen schon Mitte 50. Ich sage das hier so ausführlich, weil Friedrich Nietzsche nun bald im Begriff ist, in eine Gemeinschaft einzutreten, die ein empfindlichs­ ter Zweierbund gegen eine ganze Welt ist und in der eigentlich kein Platz ist für einen Dritten. Und diesem Dritten wird das sehr wohl bewusst sein. Richard Wagner also hatte Cosima in München gegen ihren Mann beistehen wollen, wurde aber nicht vorgelassen, wollte so nicht zurück nach Tribschen und fuhr einfach weiter nach Leipzig – irgendwo musste er ja hin – zu seiner Schwester Ottilie, der Frau des Philologieprofessors Brockhaus. Und da sagte deren Freundin, ihrer­ seits Gattin des Philologieprofessors Ritschl, die Meistersinger kenne sie schon, zumindest das Meisterlied, der beste Student ihres Mannes habe es ihr vorgespielt. Den schaue ich mir doch mal an, beschloss Richard Wagner. Und dass er am Ende des gemeinsamen Abends zu dem Studenten sagte, wenn ihn sein Weg irgendwann einmal am Vierwaldstätter See vorbeiführe, solle er ihn doch besuchen, war das, schon in Anbetracht seiner Gemütsverfassung, keineswegs eine bloße Höflichkeit, wie man sie Fremden zum Abschied sagt. Sie wissen, was folgt: Die nächste denkbar größte Unwahrschein­ lichkeit. Das neue Jahr ist gerade zehn Tage alt, als der 24jährige Student erfährt, dass er an den Vierwaldstätter See als Professor berufen werden soll, also eher in einen Vorort: nach Basel. Ohne irgendetwas zu besitzen, wie jeder Nietzsche-Leser weiß, was übli­ cherweise solche Delegierungen rechtfertigt, eine Dissertation etwa. Der Student hatte sie schon deshalb nicht geschafft, weil er ganz im Studium von Wagners Oper und Drama versunken war, und das ist nicht die einfachste Lektüre. Friedrich Nietzsche hatte aber, und zwar noch bevor er Wagner persönlich traf, eine Entdeckung gemacht, wahrscheinlich als Einziger unter allen Philologen weit und breit. Er hatte einen alten Schulfreund gefragt: »Und weißt Du, wer der wahre

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Heilige der Philologie ist ... und weißt Du, wie er heißt? Wagner, Wagner, Wagner!«16 Auf dem Weg nach Basel merkt er, dass der halbe Zug in Karlsruhe aussteigen will, um die Meistersinger zu hören. Wenn die das können, kann ich das auch, sagt sich der verbummelte Professor und steigt aus. Natürlich ist Friedrich Nietzsche nicht der Typus, der geradewegs nach Tribschen fährt, aber noch weniger ist er jemand, der solche Einladungen vergessen könnte. Zu Pfingsten 1869 unternehmen vier Basler Jungakademiker einen Ausflug zur Tellsplatte, es ist noch etwas Zeit bis zur Abfahrt des Dampfschiffs, und er läuft vom Luzerner Bahnhof probeweise einen Weg, der an den See führen könnte. An dessen Ende hört der Professor einen Akkord, immer denselben, tief und schmerzlich: »Verwundet hat mich, der mich erweckt.« Siegfried findet Brünnhilde. Wagner hatte den Ring 12 Jahre zuvor an dieser Stelle liegen gelassen und Freunde werden der Baronin von Bülow immer sagen, ohne sie hätte er ihn nie mehr aufgenommen. Es zeugt vom Typus Friedrich Nietzsche, dass er sich nicht bemerkbar macht; das, was er da hört, kann er nicht unterbrechen, aber Diener Jakob entdeckt ihn, schon im Gehen, und alles nimmt seinen Lauf. Und das ist bemerkenswert. Denn Wagner und Cosima, die ihm schon im Januar für immer gefolgt ist, leben hier gewissermaßen in einem 2-Mann-und-4-Kinder-Exil unter strengstem Weltabschluss. Besuche unerwünscht. Die Tochter Franz Liszts ist ohnehin entschlos­ sen, die Öffentlichkeit nie wieder zu betreten. Die Katholikin fühlt sich schuldig, ja verworfen. Und es kommt vor, dass der Hausherr sie fragt, ob sie es noch schaffe, sie könne auf ihn zählen. Heißt genauer: Wenn sie meine, dass das alles zu schwer werde für sie, würden sie gemeinsam aus dem Leben gehen. Der Bund, den sie sechs Jahre zuvor geschlossen hatten, war gewissermaßen ein Weltabschiedsbund gewesen, eine Geheimver­ schwörung zum Zweck des Gemeinschaftssuizids. Und die gilt immer noch. Allerdings ist Cosima von Bülow vierfache Mutter und zudem im höchsten Maße schwanger. Nach Art und Unart aristokratisch erzogener junger Frauen ist sie meist schneidend und rücksichtslos in ihrer Ablehnung von Fremden, aber das Wunder geschieht: Sie findet den Professor »sehr angenehm«. So angenehm, dass sie ihn, ohne 16

Friedrich Nietzsche an Paul Deussen, September 1868, KSA SB 2, S. 316.

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Wissen ihres Mannes, zu Richard Wagners Geburtstag kaum eine Woche später einlädt. Und was macht Friedrich Nietzsche? Der sagt ab, und zwar »vom Standpunkt der Tugend«, was natürlich nicht sein Standpunkt ist. Doch in seiner Eigenschaft als Basler Professor kann er unmöglich einen irgendwie offiziellen Geburtstagsbesuch bei die­ sem lasterhaften unverheirateten Paar mit den vielen Kindern machen. Aber er schreibt einen Brief.

5 Der Dritte Und dann ist Friedrich Nietzsche doch gleich wieder persönlich da, wenn auch aufgrund eines Missverständnisses. Und er ist im Haus, als Siegfried Wagner geboren wird. Er gehört gewissermaßen schon jetzt zur Familie, bei seinem zweiten Besuch. An Siegfrieds 1. Geburtstag wird Wagner auch an den ersten längeren Aufenthalt Nietzsches denken. Und er denkt noch weiter: Wenn Siegfried größer wird, muss er unter Menschen kommen, er muss den Weltwiderstand kennenler­ nen. Sie werden ihn zu Nietzsche geben, sagt er zu Cosima. Das ist schon bald die größere Perspektive. Friedrich Nietzsche ist adoptiert, insofern man denn Professoren adoptieren kann. Nietzsches Vater, den er nie kannte, ist im gleichen Jahr geboren wie Wagner. Jetzt hat der Professor endlich einen Vater, der zugleich Freund und Bruder im Geiste ist. Auch Nietzsche-Kennern ist über aller Anti-Wagner-Pole­ mik des Autors gewöhnlich nicht klar, wie tief dieses Verhältnis war. Im Sommer erlebt der Basler Professor das Rheingold-Drama mit, denn Ludwig hat beschlossen, es aufführen zu lassen. Es ist nur ein Vorspiel zu etwas, das es noch gar nicht gibt, zumindest ist es längst nicht fertig, aber das ist Ludwig egal. Das Rheingold gehört ihm, er hat längst den ganzen Ring gekauft und nicht vor, auf die Egoismen von lügnerischen Musikern Rücksicht zu nehmen. Natürlich darf Wagner nicht nach München kommen. Der Komponist entwirft ein »Gnade für mich und mein Werk«-Telegramm nach dem anderen. Vergebens. Am Tag der größten Turbulenzen, nach der Premiere – zu der auch die französischen Wagnerianer und Turgenjew etwa pilgerten – findet Cosima noch die Kraft zu einer Notiz ins Haustagebuch: »Zwischen all dies Pr. Nietzsche, immer angenehm.«

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Tribschen wird zur einzigen Heimat, die Friedrich Nietzsche je hatte. Zur einzigen Familie, die Nietzsche je hatte. Aber lassen wir ihn das selber sagen: »Hier, wo ich von den Erholungen meines Lebens rede, habe ich ein Wort nöthig, um meine Dankbarkeit für das auszudrücken, was mich in ihm bei weitem am Tiefsten und Herzlichsten erholt hat. Dies ist ohne Weiteres der intimere Verkehr mit Richard Wagner gewesen. ... ich möchte um keinen Preis die Tage von Tribschen aus meinem Leben weggeben.«17 Sie kennen gewiss die Stelle aus dem Ecce homo und wissen, dass hier der Nietzsche schreibt, Verfasser des Falles Wagner, der soeben in den schärfsten Tönen gegen den Komponisten vorgegangen ist, was ihn fast alle seine letzten Freunde kostete. Kleinere Geister können hier nur Widerspruch erkennen. Ich möchte Sie daran erinnern, wie Friedrich Nietzsche das erste Weihnachten auf Tribschen – im selben Jahr, also 1869 – verbracht hat: Zu Weihnachten ist jeder bei seiner Familie. Also wird Fried­ rich Nietzsche in Tribschen erwartet, und zwar – Zitat Wagner – »mit Jubel«. Die Tribschener richten im Advent seine »Denkstube« neu ein, jetzt mit Bibliothek, denn Professoren, so argwöhnen sie, können ohne Bücher nicht denken. Und da wäre es doch großartig, wenn Nietzsche in Basel »die Klassiker« bestellen könnte, also den schrift­ lichen Nachlass der Griechen und Römer. Wenn er aber nun ohnehin schon einkaufen geht, so Cosima, wäre es nicht übel, er schaue gleich noch beim Spielwarenhändler in der Eisengasse vorbei. Er brauche dort nur den beiliegenden Zettel abgeben und nachher natürlich alles, was darauf steht, abholen. Während Cosima die Wunschliste ausfüllt, webt Wagner unter ihr am Nornenseil und schreibt zwischendurch seinerseits einen Wunschzettel an den Professor. Nur Tage später meldet sich die Baronin wieder: »Kennen Sie den Herrn K i e p e r gegenüber der Post?« Bei dem gibt es Wasserkrüge. Und was gäbe sie drum, so einen »Wasserkrug von sechs oder vier Gläsern umgeben auf gläsernem Plateau« zu bekommen. Der Buch­ händler und der Buchbinder, der Puppen- und der Gläsermann mögen die Rechnungen nur direkt an sie schicken.

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Friedrich Nietzsche, Ecce homo, KSA 6, S. 288.

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Außer als Christkind hat Friedrich Nietzsche auch noch ein Engage­ ment als Professor, doch darauf kann Cosima jetzt keine Rücksicht nehmen. Was wirklich noch fehle zum Fest, teilt sie dem späteren Philosophen des Willens zur Macht und Erfinder des Übermenschen mit, das sei »Tüll mit Goldsternen oder Pünktchen«. Das gibt’s nicht in ganz Luzern. Nur er könne hier helfen, und »falls keinen Tüll«, dann eben »T a r l a t a n e«. So kurz vor dem Fest, beladen mit Tüll mit Goldsternen, denkt Friedrich Nietzsche über die Natur der Feste nach. Woher haben wir die? Woher hatten sie die Griechen? Und sollte nicht ein Fest der Schlüssel zur Einmaligkeit ihrer Kultur sein? Friedrich Nietzsche kommt zu folgendem Schluss: »F e s t e setzen Triebe voraus: später verstimmen sie durch die Convention und die Gewohnheit, beim Nachlassen der Kraft. Frühlingsfeste als Freiheits- und Gleichheits­ feste, Wiedervereinigung mit der Natur.«18 Was aber wäre dann Weihnachten? Und wann genau beginnt es? Aus Tribschen klingt Kritik an seinen Reiseplänen herüber. Was muss Richard Wagner hören, er wolle erst »am Freitag« in Tribschen eintreffen? Das ist doch schon der Geburtstag des Christkinds selbst. Auch Cosima findet den »Freitag« höchst bedenklich, er solle lieber »etwas früher« kommen und die »Äpfel und Nüsse vergolden hel­ fen«19. In dem Fall würde sie ihm auch verraten, was »Iftekhar« ist, welcher soeben eingetroffen sei. Der Professor bleibt eigensinnig beim Freitag, trifft aber statt um 3 Uhr schon am Vormittag ein und hilft Cosima, das Puppentheater aufzubauen. Oben am Puppentheater bringen sie gemeinsam »Iftekhar« an, den Orden, den der Bey von Tunis Wagner soeben verliehen hatte, ganz aus Blech. Sie vergolden die letzten Äpfel und Nüsse. Weihnachten, könnte man sagen, ist das Fest der Herde, ganz gewiss aber ist es das oberste Haustierfest. Und allein die Geborgenheit einer neuen Familie hätte Friedrich Nietzsche kaum veranlasst, Tribschen »die Insel der Seligen« zu nennen. Die Seligen: Das sind in diesem Fall drei Menschen, die – im Gegensatz zu Mutter und Schwester etwa – um alle Abgründe wissen, insbesondere die eigenen. Und Friedrich Nietzsche, Notizen aus dem Nachlass, KSA 7, S. 77. Cosima von Bülow an Friedrich Nietzsche, 15. Dezember 1869, in: Nietzsche und Wagner. Stationen einer epochalen Begegnung, hrsg. von Dieter Borchmeyer und Jörg Salaquarda, im Folgenden NW genannt, Bd. I, S. 36. 18

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sich gerade, wie auf Nietzsches Seil, auf wunderbare Weise darüber befinden. Und zudem einer Geheimverschwörung zur Erneuerung der deutschen Kultur angehören, wenn nicht der Kultur überhaupt. Das ist sehr wichtig. Das Band ist zugleich geistig. Sie bilden eine Arbeits-, Denk-, Musik- und Lebensgemeinschaft. In Tribschen wird immer vorgelesen, bald treffen Nietzsches erste Vorträge ein. Und um es sehr konkret zu machen: Schon bei seinem ersten Besuch fand sich Friedrich Nietzsche gewissermaßen unter seinem Schicksals-Aquarell wieder, das schon über Wagners Kindheit hing: Dionysos, erzogen von den Musen des Apoll des klassizistischen Malers Bonaventura Genelli. Wagner nennt es das »Weltursprungsbild«. Nie ist es den Verehrern der Griechen bisher eingefallen, die Namen beider Götter zugleich zu nennen, sie gar auf demselben Bild zu zeigen. Cosima hat es aus dem Nachlass von Friedrich Brockhaus holen lassen. Es gibt Friedrich Nietzsche tief zu denken. Kurz, diese Insel der Seligen ist zwar vollkommen isoliert und schon vom anderen Seeufer aus geächtet, aber sie ist der vollkommene Resonanzraum. Die Welt ist Schwingung. Sie kennen sicher das Diktum Nietzsches, für den Parsifal hätte Wagner nicht in Venedig, sondern im Zuchthaus sterben sollen. Es lohnt vielleicht zu wissen, dass Friedrich Nietzsche außer Cosima der früheste Mitwisser des Parsifal ist, Wagner liest an diesem Weihnach­ ten 1869 die Textdichtung vor. Der Parsifal ist kein spätes Zurückkrie­ chen zum Christentum, sondern ein sehr früher Plan, der bis in die Jugend des Komponisten zurückreicht, noch ohne Noten ausgeführt übrigens in einem starken antikatholischen Affekt, wie Wagner sagt, ihm sei »dieser ganze katholische Kram zutiefst zuwider«. Parsifal ist gewissermaßen der Gegenentwurf zu Liszts Oratorium »Die heilige Elisabeth«. Nietzsche wird einmal etwas anderes suggerieren, aber er weiß es besser, schon jetzt, 1869. Schauen wir nun, schon um des Kontrastes willen, auf ein anderes Weihnachten, über zehn Jahre später, das mehr zum Thema passt.

6 Weihnachten 1882 »An jedem Morgen verzweifle ich, wie ich den Tag überdaure. Ich schlafe nicht mehr! Was hilft es 8 Stunden zu marschieren! Woher habe ich diese heftigen Affekte! Ach etwas Eis! Aber wo gibt es f ü r

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m i c h noch Eis? Heute Abend werde ich so viel Opium nehmen, daß ich den Verstand verliere.«20 Rapallo im Dezember 1882. Vielleicht spricht er laut vor sich hin auf seinen immer gleichen Wanderungen. Morgens von Rapallo nach Zoagli, nachmittags von Rapallo nach Portofino. Mag sein, man redet schon über ihn. Nur Verrückte fahren um diese Jahreszeit ans Meer. Friedrich Nietzsche ist der einzige Gast weit und breit. In einem plötzlichen Entschluss, der vielleicht für ihn selbst am überraschendsten kam, war er aufgebrochen. Sitzengelassen in Leipzig, er, der größte Philosoph des Äons, nun gut, der größte unbe­ kannte Philosoph des Äons! Sitzengelassen von einem Mädchen. Alles, was ihm jetzt noch helfen konnte, worauf er hoffte, waren klare blaue Tage. Es gibt sie an der ligurischen Küste, er weiß das. Aber nicht jetzt, nicht für ihn. Es herrschte Weltuntergang am Strand, über ihm hingen Himmel wie Grabsteine. Und unter dem schwer verhangenen ligurischen Himmel beschwor er die Freundin Lou von Salomé, einen anderen, viel wich­ tigeren aufzuklären: »Und nun, Lou, liebes Herz, schaffen Sie einen reinen Himmel! Ich will nichts mehr, in allen Stücken als reinen hellen Himmel: sonst will ich mich schon durchschlagen, so hart es auch geht.«21 Die Antwort muss übel ausgefallen sein, so wie er sie – nach dieser Geste der Großmut – nie erwartet hätte. Und nun brechen alle Dämme. Er versucht, sich Rechenschaft über Lous Charakter zu geben. Der erste Befund: »ein Gehirn mit einem Ansatz von Seele«. Selbst die Raubtiere, die Löwen werden ihm nun verdächtig, er nimmt sie plötzlich aus der Perspektive des Naumburger Stubenkaters wahr. Er notiert über Lou: »Charakter der Katze – des Raubtiers, das sich als Haustier stellt«. Anders hätte selbst Elisabeth das nicht formulie­ ren können, und seine Schwester hat bei der Gelegenheit Lou von Salomés die vielleicht einzigen wirklich originellen Befunde ihres Lebens formuliert: »Fritz ist anders geworden«, schreibt sie einer

20 Friedrich Nietzsche, Briefentwurf v. November 1882, zit. nach: Friedrich Nietzsche, Paul Rée, Lou von Salomé. Die Dokumente ihrer Begegnung, hrsg. von Ernst Pfeiffer, Frankfurt a.M. 1970, im Folgenden Dokumente genannt, S. 271. 21 Friedrich Nietzsche an Lou von Salomé, vermutlich am 24. November 1882, KSA SB 182, S. 281.

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Freundin, »er i s t so wie seine Bücher.« Lou sei »die p e r s o n i f i c i e r t e Philosophie«22 ihres Bruders. Er nimmt seine unermüdlichen Wanderungen zwischen Zoagli und Portofino auf, er schickt Weihnachtsgrüße an die Freundin und den Freund: »Erwägen Sie Beide doch sehr miteinander, daß ich zuletzt ein kopfleidender Halb-Irrenhäusler bin, den die Einsamkeit vollends verwirrt hat.«23 Wahrscheinlich haben sich die Fischer von Rapallo längst an den merkwürdigen Strandläufer gewöhnt. Heiligabend kommt ein Brief der Mutter; er schickt ihn, ohne ihn geöffnet zu haben, nach Naumburg zurück. Er hat keine Familie mehr, nicht diese, eine andere auch nicht. Zuletzt hat ihn Lou also auch noch um seine Familie gebracht. Es gibt keinen Ort mehr, wo er hin kann, oder doch? Am 1. Feiertag verkündet er den Overbecks in Basel: »Einige Male dachte ich auch … meine Einsamkeit und Entsagung auf ihren letzten Punkt zu treiben und – “24. Doch er überlebt auch den 1. Feiertag, er weiß nur noch nicht wie lange. Es handelt sich um ein geistesgeschichtlich sehr folgenschweres Weihnachten, denn kaum ist es vorbei, entsteht der Zarathustra. Es kommt zu einer Klimakatastrophe in Nietzsches Denken, die gefühlten Minusgrade wandern ein in die Sprache, ich komme darauf zurück. Resonanztheoretisch formuliert: Hier schafft einer seinen ganz eigenen Resonanzraum, nachdem ihm alle anderen genommen wurden. Der Raubtierphilosoph hebt das Haupt. Vielleicht ist es nicht falsch, an dieser Stelle noch einmal ins Gedächtnis zu rufen, was Sie schon wissen: Dieses Weihnachten erlebt ein Pfarrerssohn, ein tief ungläubiger zwar, aber doch ein Pfarrerssohn, der seinen Vater, den er nie gekannt hat, von aller Kritik ausnimmt – etwa von der an seinem Beruf. Und etwas Zweites kommt hinzu. Lange durfte ein Mann mit unentwickelter Gefühlsseite – traditionell ist da von Affekten die Rede – als der vollkommene Philosoph gelten. Die Affekte waren ohnehin nur das, was die Vernunft niederhalten musste. Bei Nietzsche ist das anders. Nicht nur, dass er diesbezüglich geradezu verschwenderisch begabt 22 Vgl. Elisabeth Nietzsche an Clara Gelzer, 24. September bis 2. Oktober 1882, Dokumente, S. 252. 23 Friedrich Nietzsche an Lou von Salomé und Paul Rée, Mitte Dezember 1882, ebd., 269 f. 24 Friedrich Nietzsche an Franz Overbeck, 25. Dezember 1882, KSA SB 6, S. 313.

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war; er verleugnete seine Emotionalität auch nicht, billigte ihr gar Erkenntnisstatus zu, machte sie zumindest zum Partner der ratio, der hier mehr die kontrollierende Funktion zufiel, nicht die schöpferische. Nietzsche wie Wagner darf man eine geradezu feminine emotionale Empfänglichkeit attestieren: Aber leichter hat man es so nicht. Und schon gar nicht zu Weihnachten allein. Eine der schönsten Aufforderungen Nietzsches lautet: Werde, der du bist! Der den Zarathustra schreibt, ist ein Hinterbliebener, der Hinterbliebene einer großen Hoffnung, eines großen Projekts.

7 »Aufgabe unserer Zeit: die Kultur zu unserer Musik zu finden!« Wir machen einen 12-Jahres-Sprung zurück: Noch wird dieses Projekt immer größer; Ende 1870 wird er es so formulieren: »Aufgabe unserer Zeit: die Kultur zu unserer Musik zu finden!« Man muss diesen Satz ganz ernst nehmen und gut im Ohr behalten, denn er bezeichnet eine Fallhöhe, man könnte auch sagen: die Fallhöhe der künftigen Ver­ zweiflung. Dazwischen liegt die Erschütterung des Krieges 1870/71, für Nietzsche ist er schon im Herbst 1870 vorbei. Ich sage hier nichts darüber; Cosima gesteht er beim Wiedersehen, dass er Tag und Nacht »einen nie endenwollenden Klagelaut« höre. Aber dann, kurz vor Ende des Jahres hört er noch etwas anderes. Natürlich ist er wieder in Tribschen, Wagner schickt am 23. Dezember ein Telegramm, er solle am 24. bloß nicht gleich nach Tribschen gehen, sondern nach Luzern ins Hotel du Lac kommen. Am Nachmittag des 24. Dezember 1970 im Hotel du Lac hört Friedrich Nietzsche zum ersten Mal das kleine Stück Musik, das ihm immer das liebste Wagners und das schönste auf Erden bleiben wird. Es ist die Treppenmusik, später, als es sich vom Geburtstagskind ablöst, das Siegfried-Idyll genannt. Cosima hat am 25. Dezember Geburtstag, und morgens um halb acht stehen lauter heimlich engagierte Musiker draußen auf der Treppe und wecken das Geburtstagskind – und Friedrich Nietzsche – mit diesen Noten. Die Erschütterung des Krieges, die Erschütterung, noch am Leben zu sein, und dann aufgenommen in dieses intimste Stück Musik und in ein neues Tribschener Weihnachten. Nach diesen Tagen nennt Cosima Nietzsche nur noch Anselmus, sie selbst ist die Feuerlilie, Wagner der Archivarius Lindhorst. Vielleicht kennen Sie

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das Personal, es stammt aus E.T.A. Hoffmanns »Der goldene Topf«, sie haben die Erzählung über Weihnachten gemeinsam gelesen. Er dürfe in Zukunft so viele Apfelkörbe umrennen wie er wolle, ruft Cosima Nietzsche dem Professor per Brief hinterher. Denn weil der Student Anselmus bei E.T.A. Hoffmann in Dresden am Schwarzen Tor den Apfelkorb eines alten Weibleins umrannte, landet er schließlich, verkorkt in einer Flasche, im Regal des Archivarius Lindhorst. Neben ihm im Regal stehen in Flaschen noch drei Kreuzschüler und zwei Praktikanten. Im Unterschied zu Anselmus aber halten die drei Kreuzschüler und zwei Praktikanten das Dasein in der Flasche für das Leben selbst. Spielen können. Wer so lebt, so gehalten ist, hat keine Raub­ tiermenagerie nötig, um sich selbst Halt zu geben. Und es ist noch mehr: Friedrich Nietzsche weiß sich zudem gehalten von einem großen Gemeinschaftsprojekt. Ludwig II. hat inzwischen auch die »Walküre« aufführen lassen – mit Johannes Brahms, Franz Liszt, Camille Saint-Saëns und vielen anderen als Zeugen. Aber in Abwesenheit ihres Komponisten. Und wer diesem sehr nahesteht, für den ist München schon aus Solidarität tabu. Also auch für Nietzsche. Dafür fällt nun immer öfter der Name einer kleinen fränkischen Stadt. Friedrich Nietzsche erkennt seine Perspektive sofort. Rohde erfährt es schon zu Jahresende: »Also wir werfen einmal dieses Joch ab (das professorale – K.D.), das steht für mich ganz fest. Und dann bilden wir unsere neue griechische Akademie ... Du kennst wohl auch aus Deinem Besuche in Tribschen den Baireuther Plan Wagners. Ich habe mir ganz im Stillen überlegt, ob hiermit nicht zugleich unsererseits ein Bruch mit der bisherigen Philologie und ihrer Bildungsperspektive geschehen sollte.«25 Perspektiven tragen. Perspektiven sind der Gegenpol der Ver­ zweiflung. Und sie werden immer größer. Die Grundsteinlegung von Bayreuth empfindet Nietzsche als Versprechen einer großen Zukunft. Nietzsche hat Wagner noch nie dirigieren gehört. Am 20. Dezember 1871 flieht er trotz akademischer Verpflichtungen im letzten Augen­ blick aus Basel und ist in Mannheim der Mann an Cosimas Seite. Er hört nach dem Kaisermarsch, dirigiert von Richard Wagner, die Ouvertüre zur Zauberflöte, dann Beethovens 7. Symphonie, die Vor­ spiele zum Lohengrin, zu den Meistersingern sowie Vorspiel und Schlusssatz von Tristan und Isolde. Freund Rohde erfährt: »Ach, mein 25

Friedrich Nietzsche an Erwin Rohde, 15. Dezember 1870, KSA SB 3, S. 165f.

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Freund! Daß Du nicht dabei sein konntest! Was sind alle künstleri­ schen Erinnerungen und Erfahrungen, gemessen an diesen allerletz­ ten! Mir gieng es wie einem, dem eine Ahnung sich endlich erfüllt. Denn genau das ist Musik und nichts sonst! Und genau das meine ich mit dem Wort ›Musik‹, wenn ich das Dionysische schildere, und nichts sonst! Wenn ich mir aber denke, daß nur einige hunderte Men­ schen aus der nächsten Generation das von der Musik haben, was ich von ihr habe, so erwarte ich eine völlig neue Cultur!«26 Es kommt darauf an, solche Aussagen vollkommen ernst zu nehmen.

8 Bruch mit Wagner? Nietzsche bricht mit Nietzsche oder Der Verlust einer großen Illusion Sie wissen, was »Cultur« zu diesem Zeitpunkt für Nietzsche heißt: Sie ist die Herrschaft der Kunst über das Leben. Ich breche an dieser Stelle ab, verfolge das Verhältnis Nietzsche-Wagner nicht weiter, aber Sie verstehen nun genau, was der Bayreuther Sommer 1876 für den Philosophen bedeuten musste. Abgesehen davon, dass man mit tausend Migräne-Hämmern im Kopf nicht – Siegfried, I. Aufzug – den Hämmern von Mimes Schmiedewerkstatt zuhören kann: Statt in einer völlig neuen Kultur findet sich Friedrich Nietzsche mitten im Räderwerk der frühen Kulturindustrie wieder. Was, wenn nicht Bayreuth ist Eventkultur? Es ist zugleich viel mehr, und es ist das erste Mal, dass die gekrönten Häupter Europas zu einem Künstler pilgern, statt umgekehrt wie bisher. Aber all das will Friedrich Nietzsche nicht sehen. In Bayreuth 1876 bricht für Friedrich Nietzsche eine Welt zusammen. Und noch mehr. Ich sagte bereits, dass seine Vorlesungen und Aufsätze zuerst in Tribschen, aber auch noch in Bayreuth immer einen kongenialen Resonanzraum fanden und dort vorgelesen wurden, wenn der Autor nicht gleich selber las. Und das begann mit den beiden ersten großen Basler Vorträgen. Zum Sokrates bemerkte der erschütterte Wagner, er könne für die heile Haut des Vortragenden nur eins hoffen: Dass niemand ihn verstanden habe. Eine sehr berechtigte Befürchtung, denn nach Erscheinen der Geburt der Tragödie und dem 26 Friedrich Nietzsche an Erwin Rohde, nach dem 21. Dezember 1871, KSA, SB 3, S. 256f.

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Angriff des Kollegen Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff hatte der Professor der klassischen Philologie Friedrich Nietzsche vorerst keine Studenten mehr.

9 Lou von Salomé und die Biografie Gottes Sechs Jahre sind seitdem vergangen, sechs Jahre miserabler Gesund­ heit, die ihn bereits zur Aufgabe seiner Professur zwang. 1882. Nietz­ sche beschließt, dass dies das Jahr seiner Rückkehr zu den Menschen werden soll. Schluss mit der Einsiedelei. Und er hat Zuversicht sehr nötig, denn ihn erreichten irritierendste Nachrichten aus Bayreuth. Wagner wird den »Parsifal« aufführen. Bayreuth ohne ihn, wie soll er das überstehen? Es ist fast nicht vorstellbar. Sie wissen, die Seele hat ihre eigenen Begriffe von Gegenwart: So viel vergangen und trotzdem nichts vorbei, um es mit einem nicht ganz unbekannten Liedermacher zu sagen. Nietzsche ist über­ zeugt, dass Wagner ihn einladen müsse, schon nach den »Begriffen höherer Schicklichkeit«, wie er formuliert. Außerdem hat Nietzsche ein Anrecht auf einen Platz dort, schließlich ist er Patron. Ich sage Ihnen das, weil die Begegnung mit Lou von Salomé genau diesen Resonanzboden hat. Er muss über dieses Jahr kommen, das höchst­ wahrscheinlich ein Jenseits-von-Bayreuth-Jahr werden wird. Und als er im Frühjahr 1882 Post aus Rom bekommt, sieht er darin ein Zeichen. Seine mütterliche Freundin Malwida von Meysenbug – Wagnerianerin natürlich – berichtet ihm von einer jungen Russin, die bei ihr zu Besuch sei, und zwar mit Worten, die den Philosophen alarmieren mussten: »Ein sehr merkwürdiges Mädchen …, scheint mir ungefähr im philosophischen Denken zu denselben Resultaten gelangt zu sein, wie bis jetzt Sie … Rée und ich stimmen in dem Wunsche überein, Sie einmal mit diesem außerordentlichen Wesen zusammen zu sehen.«27 Sein Freund Paul Rée hatte ihm bereits die gleichen Wunderdinge geschrieben und bekommt sofort einen Auftrag: »Grüssen Sie diese Russin von mir, wenn dies irgend einen Sinn hat: ich bin nach dieser Gattung von Seelen lüstern. Ja ich gehe nächstens auf Raub darnach aus ...«28. Der Denker des Todes Gottes Malwida von Meysenbug an Friedrich Nietzsche, 27. März 1882, Dokumente, S. 104. 28 Friedrich Nietzsche an Paul Rée, 21. März 1882, KSA SB 6, S. 185.

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hatte unlängst die Diagnose vom Tode Gottes notiert, Die Fröhliche Wissenschaft entsteht. Friedrich Nietzsche ist zu Gott gekommen wie fast alle anderen auch: durch Erziehung und Gewöhnung, und er hat ihn ganz unmerklich wieder verloren wie viele andere auch, schon weil sich die gehobene Schulbildung, insbesondere die historisch-kritische Methode – zuviel Einsicht ins Werden und Gewordensein –, schlecht vertragen mit Glaubenswahrheiten. Im Unterschied zu Friedrich Nietzsche aber kann Lou von Salomé mit 21 Jahren schon auf eine eigene hochdrama­ tische intellektuelle Biografie zurückblicken. Es ist eine Tragödie. Sie besitzt, was Nietzsche an einer Frau nie vermutet hätte und auch für völlig deplatziert hält: ein intellektuelles Gewissen. Sonst besitzt sie, zumindest als junge Frau, eigentlich kein Gewissen. Ich kann das alles hier nur andeuten29: Arroganz ist natürlich ein enormer erkenntnistheoretischer Vorteil. Man muss schon etwas herausgehoben sein, um wirklich etwas wahrzunehmen. Und so besah das kleine Mädchen mit leichter Herablassung und Langeweile die Frömmigkeitsübungen seiner Familie. Seine Familie: das ist die des zaristischen Generals Gustav von Salomé. Sie wohnte in Sankt Petersburg dem Winterpalais direkt gegenüber. Was das kleine Mädchen erstaunte, war, dass so stolze Menschen wie ihr Vater und ihre Brüder plötzlich auf die Knie fielen, wenn sie die Hauskapelle betraten. Dieser Wesenswandel, das Devote daran befremdete es durchaus. Und warum jemanden anbeten, wenn man sich auch mit ihm unterhalten kann? Und Lolja, wie sie damals gerufen wurde, rekrutierte Gott als ihren Gefährten, ihren Vertrauten. Er war ihr Eigentum. Sie wird es nie anders beschreiben können. Das ist die Urszene. Der Herr ist nichts als die Erweiterung ihrer selbst in ihrem kindlichen Werderaum, er ist der ideale Ergänzer, der Spiegel ihrer eigenen Herrlichkeit: Es ist ein großartig blasphemisches Verhältnis, das Unendliche selbst wird zum Spiegel, zum Diener des Endlichen. Das ist natürlich eine enorme psychologische Konstellation. Sie wird immer auf der gattungsgeschichtlichen, also der religionsgeschichtlichen Parallele ihres Erlebens beharren. Der Nietzsche-Leser Strindberg vermutete, die schwächsten Charaktere seien am stärksten im Gebet. Sie hält 29 Ausführlicher nachzulesen in: Kerstin Decker, Lou Andreas-Salomé. Der bitter­ süße Funke Ich, Berlin 2010.

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das für dramatisch unterreflektiert. Sie wird stets auf den Effekt ursprünglicher Stärkung hinweisen. Normalerweise werden Frauen vor dem Spiegel nicht zu Philo­ sophen, aber dieses Mädchen wurde es: Das soll ich sein?, fragte sie. So »eingeklaftert«, so verurteilt, beim Nächstliegenden einfach aufzuhören? Nichts zeigte der Spiegel von dem Universum, das sie war, dem unendlichen zweipoligen Raum in sich. Auch der zweite Pol, der Herr, ihr Komplize und Mäzen, war im Spiegel nicht zu sehen, obwohl ihr das noch am ehesten einleuchtete. Und sie wusste: Alle Spiegel lügen. Sie wird diesem Erleben immer auf der Spur bleiben. Und sie wird nie glauben können, dass andere in ihrer Kindheit nicht dieselbe Gotteserfahrung gemacht haben wie sie. In der Psychoanalyse bekommt die Sache einen Namen: Narziss­ mus – Garant einer ungeheuren seelischen Gesundheit und Daseins­ gewissheit (die mag ganz und gar illusorisch sein, aber sie macht erst den Menschen). Wer nie den begründeten Eindruck gewonnen hat, dass das Leben für ihn da ist, statt von ihm nur benutzt zu werden, wird nicht stark. Mädchenerziehung bestand gewöhnlich in der systematischen Vermeidung dieses Eindrucks. Doch aus einer intakten Unendlichkeit heraus beginnt keiner zu denken. Denken fängt an, wenn die Katastrophe bereits eingetreten ist. Darin liegt der Unterschied von Denken und Lernen. Anlässlich einer Schneeschmelze, die dem Mädchen ein Schneemannehepaar nimmt, das es selbst gebaut hat und mit dem es sehr befreundet ist, macht Lou die Erfahrung der radikalen Endlichkeit. Und das Tauwetter nimmt ihr nicht nur den Schneemann und die Schneefrau, sondern auch ihren engsten Vertrauten, den Herrn selbst. Den folgenden Frühling erlebt sie als Eiszeit. Natürlich geht das Leben weiter, nur ist es nicht mehr unendlich. Irrtümlicherweise bezeichnen die meisten Erwachsenen das klaglose Sich-Einrichten in der schlechten Unendlichkeit als Leben. Sie wird das nie tun. Was die Petersburger Generalstochter erlebte, stellt ganz sicher einen Spezialfall dessen dar, was die Existenzphilosophen später als Schock der Existenz beschrei­ ben werden, er fällt oft noch in die Kindheit: das plötzliche Innewerden der eigenen Sterblichkeit. Trotzdem bleiben selbst solche Erlebnisse bei den meisten Men­ schen äußerlich folgenlos. Was die Krisis aber akut machte, war, dass Lou irgendwann zum Konfirmationsunterricht geschickt wurde. Selbst Philosophen pflegten solcherart Exerzitien stets ohne beson­ dere Vorkommnisse zu ertragen, den Diagnostiker des Todes Gottes

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ausdrücklich eingeschlossen. Sie nicht. Lou wird zum ersten Mal kon­ frontiert mit den Lehrmeinungen der protestantischen Orthodoxie, mit der verstandesmäßigen Gefangensetzung des Herrn, lauter gro­ tesken Irrlehren über die Natur und die Existenzweise Gottes. Am meisten empört sie seine vermeintliche Beweisbarkeit. Damals wird sie, was sie immer bleiben wird: die Anwältin Gottes, allerdings auf atheistischer Grundlage. Es gibt nur einen Weg, sie muss aus dieser Kirche austreten. Dummerweise hat ihr Vater, der alte General, den sie sehr liebt, die deutsch-reformierte Kirche in Russland eben erst gegründet, und Gustav von Salomé ist sehr krank. Es macht ihn gewiss nicht gesünder, wenn seine einzige Tochter aus seiner Kirche austritt. Und in dieser ausweglosen Situation nimmt sie mit Hilfe eines holländischen Pfarrers in Sankt Petersburg Zuflucht zur gesamten Geistes- und Religionsgeschichte des Abendlandes. Und lässt sich nicht konfirmieren, weil es eine Lüge wäre. Die Idee bei alldem ist: Wenn sie nur genau genug studiert, wird sich erweisen lassen, dass der Gott, den sie kannte, der richtige ist, auch wenn er nicht existiert. Darum studiert sie jetzt in Zürich. Die Religionsphilosophin Lou von Salomé ist geboren, sie wird es ihr Leben lang bleiben. Sie wird bis zuletzt an der Biographie Gottes schreiben. Es gibt gewiss nicht viele Mädchen von solcher Geistesverfas­ sung im damaligen Europa, und es ist schon ein unglaublicher Zufall, dass Friedrich Nietzsche und Lou von Salomé sich begegnet sind, fast mag man gar nicht an Zufall glauben. Es wird Zeit zu heiraten, hatte ihre Mutter gesagt. Falsch, es wird Zeit zu studieren!, hatte sie geantwortet. Das konnten Frauen damals eigentlich nur in Zürich. Gegen den Willen ihrer Tochter hatte Louise von Salomé die Ältere nie eine Chance gehabt, genauso wenig wie jeder andere in ihrem Leben. Für die Generalscha war die NachRom-Perspektive klar: Zurück nach Russland und ab ins Ehebett. Ohne mich!, antwortete Lou. Sie brauchte in der Tat Verbündete, also Nietzsche und Rée.

10 Resonanzen. Ein Schlussverdacht Noch scheint Friedrich Nietzsche nicht der Gedanke gekommen zu sein, dieses Menschenkind könnte fatale Ähnlichkeit haben mit seinem Übermenschen, den er soeben zu verkünden beginnt: das

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»Ideal eines Geistes, der naiv, das heisst ungewollt und aus überströ­ mender Fülle und Mächtigkeit mit Allem spielt, was bisher heilig, gut, unberührbar, göttlich hiess; für den das Höchste, woran das Volk billigerweise sein Werthmaass hat, bereits so viel wie Gefahr, Verfall, Erniedrigung oder, mindestens, wie Erholung, Blindheit, zeitweiliges Selbstvergessen bedeuten würde; das Ideal eines mensch­ lich-übermenschlichen Wohlseins und Wohlwollens, das oft genug unmenschlich erscheinen wird.«30 Eines, so ließe sich ergänzen, das nur Kreidestriche erkennen will, wo alle Welt bis eben unüberwind­ liche Schranken sah. Der Übermensch, wäre er, in seiner ersten Verkörperung gar ein Übermädchen? Und wie unmenschlich-über­ menschlich es ihm scheinen wird. Den Satz »Der Himmel erhalte mir mein Bischen Humanität!«31 hat er im Herbst 1882 notiert, während der Lou-Krise, kurz vor ihrem Höhepunkt. Nietzsche wusste sehr genau, was für ihn als Denker auf dem Spiel stand. Der Leser Schopenhauers, der diesen Autor nicht zuletzt für seinen klaren Blick auf die Menschen schätzte – die meisten sind ja doch nur Fabrikware der Natur, wozu selbstredend die ganze zweite Hälfte der Menschheit zählt, die schäkernde Existenzform an sich, Nietzsche zufolge mit geschlossenen Augen geboren und ebenso sich zur ewigen Ruhe legend –, der Philosoph also wusste doch, dass es hier ein Maß gab, ein Maß der Verachtung, dass man besser nicht überschreiten sollte. Insofern man ein Haustier ist. Und der Satz verrät zugleich, dass es sich bei Nietzsches Vorräten an Humanität im herkömmlichen Sinn nurmehr um Restbestände handelte. Huma­ nität, verstanden als eine grundsätzliche Menschen-Zugewandtheit, als eine Anteilnahme am Menschlichen, ein Bekenntnis auch – ließe sich hinzufügen – zu unserer Haustierhaftigkeit. Und genau die sollte Lou befördern. Das ist der Anteil an der Kultur, den man Frauen gewöhnlich zubilligte. Nietzsche wollte die Petersburger Generals­ tochter nicht zuletzt wie eine Medizin einnehmen: »... ein Engel, der Manches in mir lindern sollte, was durch Schmerz und Einsamkeit zu hart in mir geworden war«32. Lou sollte seine Rückkehr zu den Menschen werden. Das Gegenteil geschah. Er muss heiraten oder eine Oper schreiben!, hat Wagner immer wieder gesagt als Zeuge der zunehmenden gesundheitlichen Krisis 30 31 32

Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, Fünftes Buch, KSA 3, S. 637. Friedrich Nietzsche an Lou von Salomé, 8. September 1882, KSA SB 6, S. 252. Friedrich Nietzsche an Paul Rée, Mitte Dezember 1882, Entwurf, ebd., S. 301.

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Kerstin Decker

seines Quasi-Sohnes. Das Heiraten schlug fehl, er schrieb also die Oper, den Zarathustra, den er – Sie erinnern sich – ausdrücklich unter die Musik gerechnet wissen wollte. 1882/83 wurde das Jahr der Perser-Kriege. Parsi heißt im Alt­ persischen Tor, fal steht für rein, glaubte Wagner. Nietzsche bietet den Konkurrenzperser auf. Wenn gelegentlich etwas dunkel scheint am Zarathustra: Man muss ihn lesen wie für, respektive gegen Richard Wagner geschrieben, und schon hellt sich alles auf. Und dann: keine Antwort. Schmeitzner, sein Verleger, hatte von den ersten drei Teilen gerade siebzig Exemplare verkauft, »an Wagnerianer und Antisemi­ ten«. Das ist Schmeitzners Kundenkreis. Siebzig Exemplare. Unbe­ sprochen, denn der Verleger hatte es nicht für nötig gehalten, Rezen­ sionsexemplare zu verschicken. Gibt es etwas Traurigeres als ein Evangelium, das keiner hört, das niemanden interessiert, das nicht einmal kritisiert wird? Der Autor Friedrich Nietzsche hatte die Drucklegung seiner Phi­ losophie der Zukunft, vierter Teil, selbst bezahlt. Vierzig Exemplare lässt er binden. Einige verschickt er und hat kurz darauf nicht wenig Lust, auch diese wenigen wieder zurückzuholen. »Nach einem solchen Anrufe, wie mein Zarathustra es war, aus der innersten Seele heraus, nicht einen Laut von Antwort zu hören, nichts, nichts, immer nur die lautlose, nunmehr vertausendfachte Einsamkeit – das ist etwas über alle Begriffe Furchtbares, daran kann der Stärkste zugrunde gehen – ach, und ich bin nicht ›der Stärkste‹! Mir ist seitdem zu Muthe, als sei ich tödlich verwundet«33. Kein Laut von Antwort? Mit dem Zarathustra war Nietzsche zu seinem eigenen Resonanzraum geworden. Nur seine Stimme und er. Aber als Aufruf, als Ansprache sondergleichen. Haustiere sind immer Resonanzwesen, sonst wären sie keine. Der Mensch, das Haustier, das verzweifeln kann, macht da keine Ausnahme. Auch versprengte haustierverachtende Haustiere nicht, die schreiben Bücher. Bücher sind Briefe an alle, und jeder Brief rechnet auf Antwort. Wenn der Löwe brüllt, wird es ganz still in der Savanne. Nein, schon wenn die anderen Tiere spüren, dass er da ist. Auch das ist Antwort, das reicht. Dass die Zweisamkeit des menschlichen Ich mit seiner eigenen Stimme nicht genügt, weiß Friedrich Nietzsche schon 33

Friedrich Nietzsche an Franz Overbeck, 17. Juni 1887, KSA SB 8, S. 93f.

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Der Mitmensch als Grund zur Verzweiflung

lange, denn er hat das Szenario wie kein zweiter vorweggenommen. Es ist Untergangsszenario. »Den letzten Philosophen nenne ich mich, denn ich bin der letzte Mensch. Niemand redet mit mir als ich selbst, und meine Stimme kommt wie die eines Sterbenden zu mir. Mit dir, geliebte Stimme, mit dir, dem letzten Erinnerungshauch alles Menschenglücks, laß mich nur eine Stunde noch verkehren, durch dich täusche ich mir die Einsamkeit hinweg und lüge mich in die Vielheit und die Liebe hinein, denn mein Herz sträubt sich zu glauben, daß die Liebe todt sei, es erträgt den Schauder der einsamsten Einsamkeit nicht und zwingt mich zu reden, als ob ich Zwei wäre.«

Keine Stimme dringt mehr zum letzten Philosophen? Genau so war es zu Jahresbeginn 1873. Die beiden Bayreuther Wehemenschen schwiegen. Kein Gruß, kein Dank. Er hatte Cosima fünf Vorreden zu fünf noch ungedruckten Büchern zum Geburtstag geschenkt. Er hatte geschrieben. Schweigen. Fast den ganzen Januar über: Schweigen. Erst viel später erfuhr Nietzsche den Grund. Wagner hatte ihm nicht ver­ geben können, dass er zu Weihnachten 1872 statt nach Bayreuth nach Naumburg gefahren war. Nietzsche hat eine Mutter in Naumburg, das mag ja sein, aber er hat auch einen Vater in Bayreuth! Und ist ein abwesender Sohn nicht schon fast ein verlorener Sohn? »Höre ich dich noch, meine Stimme? Du flüsterst, indem du fluchst? Und doch sollte dein Fluch die Eingeweide dieser Welt zerbersten machen! Aber sie lebt noch und schaut mich nur noch glänzender und kälter mit ihren mitleidslosen Sternen an, sie lebt, dumm und blind wie je vorher, und nur eines stirbt – der Mensch. – Und doch! Ich höre dich noch, geliebte Stimme! Es stirbt noch einer außer mir, dem letzten Menschen, in diesem Weltall: der letzte Seufzer, e i n Seufzer, stirbt mit mir, das hingezogene Wehe! Wehe! geseufzt um mich, der Wehemen­ schen letzten, Oedipus.«34

Keiner stirbt für sich allein, die eigene Stimme verklingt zuletzt. Das ist die mit geradezu infamer Pointe zuende gedachte Verzweiflung. Das bemerkenswerte resonanztheoretische Fragment aus dem Winter 1873 – als solches noch nie wahrgenommen – heißt »Oedipus. Reden des letzten Philosophen mit sich selbst«.

34 Fragment »Oedipus. Reden des letzten Philosophen mit sich selbst«, KSA 7, S. 460f.

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»Sich als Gegenargument gegen Gott fühlen« – Nietzsches Verzweiflung des Trotzes coram Deo

Motto Kierkegaard: »Zweifel ist des Gedankens Verzweiflung, Verzweiflung ist der Persönlichkeit Zweifel«1

Einleitung Wie Kierkegaard ist Nietzsche hochbegabt und wagemutig im Ergrün­ den seiner Seelenzustände und im Erblicken der Abgründe seines Selbst. Zentral gehört zu Abgründen des Selbst die viel verleugnete Verzweiflung tief im Innersten. Kulturpsychoanalytisch zeigt er Ursa­ chen auf für ein verzweifeln Müssen und verobjektiviert damit seine persönliche Not. »Cultur ist nur ein dünnes Apfelhäutchen über einem glühenden Chaos.« (KSA 10, 362)2 Und jeder Mensch ruht, wie »auf dem Rücken eines Tigers in Träumen hängend« (KSA 1, 760). Nietzsche, Zerstörer aller Mythen und grundlosen Optimismen in Hinblick auf den Menschen, die Welt und Gott, will sich, aus selbst auferlegter intellektueller Redlichkeit, jede tröstliche Ausdeutung des Weltlaufs versagen. Zu dieser Redlichkeit gehört sein beständiges Erinnern der klassischen metaphysischen Sicht auf Seele, Gott und Welt: In einer negativen Dialektik, also ohne positives Resultat der Vermittlung der Gegensätze, erprobt er kontroverse Deutungsmo­ delle, z.B. die Antithesen: Der Mensch ist Bild Gottes. / Er ist reines Produkt der Natur. – Gott ist grausam und seiner Schöpfung untreu. / Sören Kierkegaard: Entweder / Oder. Zweiter Teil (: EO II), übersetzt von E. Hirsch, Düsseldorf 1957, 225. 2 KSA: Kritische Studienausgabe des Werks von Nietzsche, hg. von G. Colli, M. Montinari, Berlin 1967–1977, 2. Aufl. 1988; KSB: Kritische Studienausgabe sämtli­ cher Briefe Nietzsches, hg. von denselben, München 1986. 1

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Der Mensch wird wegen seiner unerträglichen Hässlichkeit zum Mör­ der des Heiligen, Guten. – Ziel ist, die Paradoxie aufzuzeigen, die darin liegt, daß Nietzsche, vom Gottesglauben losgelöst, gleichwohl in ver­ schiedenen Phasen seines Denkweges sich im Horizont des fremd gewordenen Gottes zu verstehen sucht. Seine Kühnheit, dabei jeden Gedanken, der gedacht werden kann, zuzulassen und sich Rechen­ schaft abzulegen über die im Falle des Atheismus leer bleibende – und dem Verzweiflungsabgrund in ihr selbst völlig ausgelieferte – Seele macht den hohen Reiz seines Philosophierens aus. Können Aristote­ les, Kant und Hegel ohne jede Beachtung ihrer Biographie adäquat ausgelegt werden, so gewinnt die Deutung von Nietzsches an Bildern reicher Lehre ihre Tiefenschärfe und Eindeutigkeit durch ergänzende Hinblicknahme auf seine Lebensgeschichte.

1. Wehmut des Todes in biographischer Durchsichtigkeit der Existenz »Warum bin ich so und so?« Sich anschließende Gedanken Nietzsches eröffnen einen Abgrund an Verzweiflung. In Form eines indirekten Beweises aufgrund eines Gefühls als Prämisse, wohl wissend, es entbehre jeglicher Beweiskraft, heißt es: »Sich als Gegenargument gegen Gott fühlen -“! (KSA 12, 123) Denn, so das paradoxe Postulat für Gottes Dasein, worin das eigene nicht Daseinwollen mit dem möglichen Sein des Höchsten verknüpft ist: »Es müßte ein Wesen geben, welches ein sich selbst verachtendes Geschöpf, wie ich es bin, am Entstehen verhindert hätte.»(ebd.)3 Schon früh klingt die negative Lebensmelodie vom Nichtseinwollen an. Im Erstling zur Geburt der Tragödie nimmt Nietzsche den antiken Spruch auf: „’Das Allerbeste ist für dich … unerreichbar: nicht geboren zu sein … Das Zweitbeste …

3 In Kierkegaards Analyse der Verzweiflung in Die Krankheit zum Tode (hg. von E. Hirsch, 4. Aufl. Gütersloh 1992, 67–74) hält das Ich, im Scheitern seines Lebensent­ wurfs sich losreißend von jeder Beziehung zu der Macht, die es ins Dasein ›gesetzt‹ hat, an sich selbst fest in seiner Qual, um im Haß gegen das Dasein und in Aufruhr gegen den Schöpfer ein real existierender Einwand gegen dessen Güte und Weisheit zu sein. – Nahe kommt jener Charakteristik des Dänen Nietzsches Analyse des »para­ doxe(n) Mysterium(s)« religiöser Grausamkeit gegen sich selbst, in der man radikal gottlos »alles Tröstliche, Heilige, Heilende, alle Hoffnung … opfern« müsse (JGB 55).

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bald zu sterben’“ (KSA 1, 35)!4 – Initial zündend für seine Melancholie als Grundstimmung dürfte der Tod sein. Das von Nietzsche aus der Nähe miterlebte Todkrankwerden, Erlöschen des Augenlichts und Sterben seines »geliebte(n) Vater(s)« erschütterte ihn tief, traf ihn wie »verderbend(e) … Schläge des Himmels« (BAW 1, 4ff;5 Lebenslauf von 1858). Schon der Knabe bekundet sich hochgradig theodizee-sen­ sibel; in einem Gewittergedicht schreien in Seenot Geratene: »O Himmel, halt ein, Uns schrecklich zu sein! Erbarmen! Erbarmen!« (BAW 1, 406) Von ihm vielfältig verfasste Lebensläufe und Gedichte können verstanden werden als autotherapeutische Trauerbewältigung und erste philosophische Reflexion der conditio humana.6 Sie bezeu­ gen seine starke emotionale und geistige Betroffenheit und wache Selbstbeobachtung. Im Gedicht Abschied heißt es z.B.: »Ich habe viel geweinet / Auf meines Vaters Grab«, das »mir das liebste bewahrt«; »die Zeit hat die brennenden Wunden / Langsam geheilt und den Schmerz tief in der Seele versenkt. / Aber die Wehmut ist in dem fühlenden Herzen geblieben« (BAW 1: 107, 230f). Vertraut war er auch mit dem christlichen Trost, den er sich zur Jugendzeit lebhaft vorhielt: »Ihr Todten, … ihr sollt auferstehn« (BAW 1, 216; vgl. 391f); denn Christus hat »den Tod bezwungen!« (BAW 2, 401) Diese Auferstehungshoffnung aber verliert er zur Studentenzeit. »Das neue Grundgefühl« ist »unsre endgültige Vergänglichkeit« (M 49).7 Religionskritisch wird fortan die christliche Sicht in Zweifel 4 »Nicht geboren zu sein – was ist / Höhren Werts? Aber lebst du schon – / Dorthin wieder, woher du kamst, / Schleunigst zu gehen, ist das nächste Beste!« Oidipus auf Kolonos, Vers 1124–28, in: Sophokles: Tragödien, Oidipus auf Kolonos, übers. von R. Woerner, Wiesbaden/ Berlin 1961, 357. – Suizidal mutet Nietzsches Gedicht mit dem Titel Verzweiflung aus dem Jahre 1862 an: »Von Ferne tönt der Glockenschlag«, »Des Mondes bleiches Leichenlicht«, »Den Wogen zu, dem Grabe zu. / Mein Herz ist schwer mein Freud ist aus« (BAW 2, 84). 5 BAW: Friedrich Nietzsche: 5 Bände Jugendschriften (1854–1869), hg. von H. J. Mette, München 1933ff. 6 Seit früher Jugend findet Nietzsche sich vom Reich der Toten gleichsam umfaßt. »Und die Toten schaun mir alle Stund / So bleich hinein / Ins Angesicht. / Mein Herz das warfen sie in das All / … Und fandens zerbrochen vom schweren Fall«. »Die Todten … / Vertanzen … / Mein ewiges Leid im Sternenschein« (BAW 2, 108f). 7 Nietzsches Werke werden zitiert mit Aphorismus-Nummer und Werk-Sigle. M: Morgenröte. Gedanken über die moralischen Vorurteile. 1881; FW: Die Fröhliche Wissenschaft. 1882; MA: Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. 1878; WS: Der Wanderer und sein Schatten. 1880; JGB: Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft. 1886; GM: Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift. 1887.

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gezogen, zugleich als verlorener Schatz erinnert. Im Aphorismus Die größte Veränderung (FW 152) deutet Nietzsche geschichtsphiloso­ phisch unser Zeitalter anhand der These, dass nach dem Ende der Geistmetaphysik mit ihrer Ewigkeitshoffnung alles Dasein, vor allem unser Sterben, überschattet ist von Gottferne und unaufhaltsamem Verderben. »Die Beleuchtung und die Farben aller[! ED] Dinge haben sich verändert!« »Unser ›Tod‹ ist ein ganz andrer Tod. Alle Erlebnisse leuchteten anders, denn ein Gott glänzte aus ihnen«. Ist nun die »Far­ benpracht jener alten Meisterin«, der »alten Menschheit« für immer erloschen? (FW 152) Der skeptische Freigeist würdigt im Aphorismus »Das ›Nach-dem-Tode‹“ als lebensfroh die religiöse Sichtweise, in der »niemals wieder auf(zu)erstehen als äußerste Drohung« gilt. Er selbst vertritt die vermeintlich ›wissenschaftliche‹ Annahme vom »endgültigen Tode«, die »jedes jenseitige Leben« ablehnt (M 72), und verkündet, die menschlichen Seelen seien »so sterblich wie die Leiber« (KTA 75, 245).8 Seine These: »Die Angst wohnt im Innersten der menschlichen Phantasie« (KSA 8, 356), deutet auf ein Labilgeworden­ sein des schöpferischen Ich hin und auf eine Leerstelle dort, wo für Augustinus im Innersten der Seele eine Gottesbegegnung möglich ist. »Die Phantasie der Angst ist jener böse äffische Kobold, der dem Menschen gerade dann noch auf den Rücken springt, wenn er schon am schwersten zu tragen hat« (MA 535), als ein Sichpotenzieren der Angst durch Hyperreflexion. Zur Eigendynamik der Angst der Seele, die Gottes Nähe verloren hat, stimmt Nietzsches Klage über die heroische Befindlichkeit: »Du wirst niemals mehr beten, niemals mehr anbeten, niemals mehr im endlosen Vertrauen ausruhen – du versagst es dir, vor einer letzten Weisheit, letzten Güte, letzten Macht stehenzubleiben«; »es gibt für dich … keinen Verbesserer letzter Hand mehr – … keine Liebe in dem, was dir geschehen wird« (FW 285). Das Postulat vom Dasein Gottes als dem Vertrauenswürdigen liegt nahe. Ohne göttliche Ergänzung der eigenen Unvollkommenheit zu bleiben, heißt für ihn, »ohne geheime Beihülfe – ohne Dankbarkeit« sein: »Welche Verarmung!« Du wirst »(a)lles als das ewig Unvollkom­ mene auf deinen Rücken nehmen« müssen (KSA 14, 264), auch die eigne Unvollendung, das ins Nichts Versinkensollen der persönlichen Lebensbahn. »Das Lebende ist nur eine Art des Todten, und eine sehr KTA: Kröners Taschenausgabe. Sämtliche Werke Nietzsches in 12 Bänden mit Registerband. – SA: Schlechta, Karl (Hg.), Friedrich Nietzsche, Werke in drei Bänden mit einem Registerband, München 1954f.

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seltene Art.« (FW 109) An Nietzsche kann Heideggers Variante der ars moriendi anknüpfen: In der Angst ist jedes Dasein als Sein zum Tode in die Welt »geworfen«: in eine »leere Erbarmungslosigkeit«! Das »besorgende Gewärtige findet nichts, woraus es sich verstehen könnte, es greift ins Nichts der Welt«.9 Das hier beschworne Los- und Leersein an Erbarmen (misericordia) ist die Negation eines christli­ chen Theo-logoumenons und besagt: Die erbarmende Liebe des Gottes Jesu Christi ist, in Nietzsches Zweifelsinn, nicht – oder nicht mehr als (in ontologisch wahrer Realität für uns) glaubwürdige – bei uns. – Mit der ›Verzweiflung‹ sinnverwandt sind solche Todesgedanken, ›Angst‹, ›Melancholie‹, ›Wehmut‹. Ohne Scheu durchdenkt Nietzsche die Frage einer begründeten Hoffnung über den Tod hinaus. Eine solche Hoffnung hatte seit Platon und Paulus über zwei Jahrtausende Bestand; revolutionär ist ihr Verlust, der eigens durchlitten werden muss. – Nietzsche versteht unter der ars moriendi sehr handgreiflich, wenig fromm, aber richtungweisend für das 21. Jahrhundert, die bittere Pflicht, jeder möge den Kairos für seinen Abtritt selbst wählen. Denn zur ›Logik des Atheismus‹ gehört für ihn, – Dostojewskijs Analyse der Romanfigur Kirillov (Dämonen) folgend, – dass der Mensch seine neue schreckli­ che Freiheit durch Suizid besiegle.10 Im Lehrstück »Vom freien Tode« fordert Zarathustra dazu auf: „’Stirb zur rechten Zeit!’“ und erklärt: »Meinen Tod lobe ich euch, den freien Tod, der mir kommt, weil ich will.« (KSA 4, 93f) Jene schroffe Härte steht im Kontrast zu früheren zarteren Äußerungen zum Tode, wo es heißt, dass »wir mit Gestorbenen leben und in ihrem Sterben mitsterben« (M 441). Krea­ Martin Heidegger: Sein und Zeit (zuerst 1927), 12. Aufl. Tübingen 1972, 343. Im Aphorismus Vom vernünftigen Tode (WS 185) sollen Freitod – Suizid und Euthanasie – plausibel gemacht werden, wobei das Gemeinte oszilliert zwischen der Selbst- und Fremdtötung. Würdewidrig gegen die Achtung der Person wird eine vorgeblich »weisheitsvolle … Verfügung des Todes« angepriesen, mithilfe utilitaristi­ scher Thesen über »Vergeudung der Unterhaltskosten« oder »Mißbrauch« der Kraft Bedienender; was hier zunächst »unmoralisch« klinge, sei gleichwohl, – ach, wie wahr, – die »Moral der Zukunft«; denn außerhalb der christlich »religiösen Denkungsart« sei der unverfügbare Tod nichts Wünschbares (WS 185). So die Vorausklänge der mittleren Werkphase auf den heiklen Koinzidenzpunkt, in welchem Nietzsches indi­ vidualistisches Moralkonzept umschlägt in Pläne zu einer Biopolitik. Im Abschnitt Moral für Ärzte schlägt er in der Götzen-Dämmerung noch härtere Töne an für einen »Tod zur rechten Zeit«; ein feiges »Fortvegetieren«, wenn der Kranke als »Parasit« der Gesellschaft »das Recht zum Leben verloren« habe, soll »eine tiefe Verachtung nach sich ziehn« (KSA 6, 134). 9

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tiv entwerfend stellt Nietzsche im Aphorismus Die ewige Totenfeier vor: »Es könnte jemand über die Geschichte weg eine fortgesetzte Grabrede zu hören glauben: man begrub und begräbt immer sein Liebstes!« Der »Leichenredner«, – so wird das am Geschichtsverlauf zuerst betonte persönliche Leid in eine nüchtern-ironische Perspek­ tive überführt, – ist, ohne wahre Trostgründe zu vermitteln, »der größte öffentliche Wohltäter« (M 520). Nietzsches Denken zeigt die Oszillationsspannung zwischen Hoffendürfen und Verderbensollen. In der Gotteserfahrung kennt schon der jugendliche Nietzsche sowohl das mystisch beseligende Faszinosum wie das abgründig Menschen erschreckende Tremendum.11 Das erste gehört für ihn zum christlichen Gott der Liebe, der sich in Jesus offenbart hat, das zweite zum Deus absconditus. Autobiographische Dokumente bekunden die regelmäßig wiederkehrende Vorfreude des Sieben- bis Siebzehnjähri­ gen auf das Weihnachtsfest, an das zu denken ihn »ganz überselig« stimmt (KSB 1, 30ff). Ergriffenheit und Geborgenheit empfindet er im Feiern dieses Festes, dessen Lichtfülle für ihn sinnbildlich das durch Jesu Geburt erzeugte Hellwerden der Nacht des Menschen darstellt. Weihnachten ist für ihn selbst und in gut begründeter Universalität der Kulminationspunkt des schwindenden Jahres (BAW 1: 25, 397f). Der nicht mehr an Jesus als den Heilsbringer glauben Könnende aber erleidet als Student und als Baseler Professor zur Weihnachtszeit regelmäßig eine depressive Verstimmung; auch seine Erkrankung 1888 bricht zur Weihnachtszeit über ihn herein. Schon für den Schüler Nietzsche bildet der archaische antike Deus absconditus als finstere, gegen Menschen willkürlich und grausam waltende Macht eine Alternative zu dem gütigen christlichen Deus revelatus. Die Evidenz des dunklen Gottes speist sich aus der biogra­ phischen Tatsache, dass auf dem Kind das schwere Erleben des frühen Tods seines Vaters lastet.12 Die in antiker Religion sich Ausdruck 11 Siehe historisch-systematisch Rudolf Otto: Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, 35. Aufl. München 1963. 12 Rudolf Kreis sieht im kindlichen Miterleiden von Siechtum und Agonie des Vaters Kernthesen von Nietzsches Philosophie vorgezeichnet, zentral eine »Selbstaufhebung Gottes«. Dieses frühe Schlüsselerlebnis breche sich später Bahn im Satz: »Gott ist tot!« Zum Gottesmörder, der den Vater rächen und den »Henker-Gott« töten will, sei Nietzsche nicht erst als freigeistiger Philosoph, sondern schon »als ein im Innersten von Gott geschlagener Fünfjähriger« geworden (Der gekreuzigte Dionysos. Kindheit und Genie Friedrich Nietzsches, Würzburg 1986, 10–13, 53–57). Im sterbenden Vater habe Nietzsche Gott verloren, religionsphilosophisch den guten Vater in Gott.

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verleihende Erfahrung erlittener Ungerechtigkeit und Grausamkeit im Walten der Götter, die im Widerspruch steht zum biblischen Gottesbild der Güte, übte auf den jugendlichen Nietzsche starke Anziehung aus.13 Die Spannung von ererbter Christlichkeit und anti­ ker Religion initialisiert sein frühes Denken. Als Identifikationsfigur, in die er ein Selbstportrait einzeichnet, hat den jungen Nietzsche Charakter und Schicksal des Ödipus fasziniert, der »zwischen trotzi­ gem Selbstgefühl und bodenloser Selbstverachtung« einen »Kampf« austrägt; aber »je aufgeregter er das Wahre zu ergründen strebt«, in umso »tiefere Irrsale« reißt ihn das hinein (BAW 2: 370, 374). – Auch Hiobs Klagelied14 taucht bei ihm auf: In einer altphilologischen Schulaufgabe über das erste Chorlied des Sophokleischen Oedipus Rex lässt Nietzsche einen Passus von Hiob einfließen: »Und meine Tage eilen schneller als Läufer, / Sie fliehen und sahen kein Glück; / Hinfahren sie gleich Kähnen auf reißendem Strom, / Wie ein Adler stürzt auf die Beute« (Hiob 9, 25f; BAW 2, 394f). An die Hiob-Zitation anschließend hebt Nietzsche die griechisch antike Bedeutung hervor, die »der unsichtbare, dunkle … Gott« bei Sophokles gewinnt (BAW 2, 395f). Jener dunkle Gott steht in der Antike für den Gott des Hades und der Unterwelt, der als Richter über die Toten ebenso herrscht wie Zeus in der oberen himmlischen Welt sowie in der irdischen Menschenwelt. Das Motiv des verborgenen dunklen Gottes, dessen Bedeutungs­ gehalt oszilliert zwischen dem unbegreiflichen, zuletzt erbarmungs­ vollen Gott Hiobs und dem düster drohenden archaischen Gott, lässt Nietzsche nicht los. In Dionysos-Dithyramben figuriert er als der vernichtende »Henker-Gott«, – zornige Bestreitung der naiven Annahme, geheime Güte walte im Wesen der Dinge.

Hermann J. Schmidt hat die Bedeutung der Theodizeefrage für das Kind und den Jungen Nietzsche bis in Nuancen ausgeleuchtet (Nietzsche absconditus oder Spurenlesen bei Nietzsche, I. Kindheit, Berlin/ Aschaffenburg 1991, 546–555, 716–725, 812–817, 878–889 u.ö.) 14 Gerhard Kaiser (Das Buch Hiob, Dichtung als Theologie, Frankfurt 2010, 68–72) ergründet Hiobs abgrundtiefe Verzweiflung, die Nietzsches Kampf mit Gott in der Suche nach dem Vater an Intensität in nichts nachsteht, z.B. im Abschnitt »Gott als Todfeind. Hiobs erste Anrede Gottes«, dessen ›Giftpfeile‹(!) er in sich stecken empfin­ det. 13

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2. Philosophie der Verzweiflung – durch Sturz der teleologischen Welt (Dysteleologie) Heuristisch sind Dimensionen der ›Verzweiflung‹ in Nietzsches Den­ ken voneinander abzuheben: A) Die Objektseite: a) erkenntnistheoretisch ontologisch am Wahrheitsbegriff; b) naturphilosophisch der Verlust des teleologischen Weltbe­ griffs; c) religionsphilosophisch die Anti-Theodizee; B) die emotionale Subjektseite: a) biographisch psychosomatische Befindlichkeit; b) ethisch das häßliche eigene Ich. Die Frage, an das eigene Denken gerichtet, ist im Jahr 1878: »Ist es wahr, bliebe einzig noch eine Denkweise übrig, welche als per­ sönliches Ergebnis die Verzweiflung … nach sich zöge« (MA 34). Das Resultat seiner Philosophie wird charakterisiert als Sturz des teleologischen Weltbegriffs. Zunächst erblickt er in Kants Vernunftkritik, die das Erkennen auf Erscheinungen begrenzt, ein tragisches Verhängnis, das über die Geschichte menschlicher Wahrheitssuche hereingebrochen sei. In früher Charakteristik »empfindet« der »Philosoph der tragischen Erkenntniß«, der er selbst sein will, »den weggezogenen Boden der Metaphysik tragisch« (KSA 7, 427f). Dahinter steht die Wirkung von Kants Philosophie im Spiegel der Kantkrise H. v. Kleists, die Nietzsche als »Verzweiflung an aller Wahrheit« charakterisiert (KSA 1, 355).15 Weshalb wird das in der freigeistigen Werkphase für ihn maßgebliche Motiv der »Leidenschaft der Erkenntnis« (M 429) zur existentiellen Tragödie? Es ist die Verzweiflung an Wahrheit nun nicht mehr wegen ihrer – gemäß Kants Lehre – ontologischen Uner­ kennbarkeit, sondern wegen ihrer lebensbedrohlichen Furchtbarkeit. Das Vernichtende der Wahrheit, soweit sie uns erreichbar ist, betrifft zugleich Gott und das Selbst. »Gram ist Erkenntnis. – Wie gern möchte Kleist am 23. März 1801: »Der Gedanke, daß wir hienieden von der Wahrheit nichts, gar nichts wissen … hat mich in dem Heiligtum meiner Seele erschüttert. – Mein … höchstes Ziel ist gesunken, ich habe nun keines mehr.« Heinrich von Kleist: Geschichte meiner Seele. Das Lebenszeugnis der Briefe, hg. von H. Sembdner, Bremen 1959, 177f. 15

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man die falschen Behauptungen der Priester, es gebe einen Gott, der« (selbst nur das Gute wolle, ja als das Gute selbst zu denken sei, und der) »das Gute von uns verlange, Wächter, Zeuge jeder Handlung, jedes Augenblicks, jedes Gedankens sei, der uns liebe, in allem Unglück unser Bestes wolle« (vgl. Römer 8, 28), – »wie gern möchte man diese mit Wahrheiten vertauschen, welche ebenso heilsam ... wären wie jene Irrtümer! Doch solche Wahrheiten gibt es nicht«, erklärt er im dogmatischen Unglauben. Denn »die Tragödie« sei, »daß man jene Dogmen der Religion und Metaphysik nicht glauben kann, wenn man die strenge Methode der Wahrheit im Herzen und Kopfe hat, andrerseits durch die Entwicklung der Menschheit so zart, reizbar, leidend geworden ist, um Heil- und Trostmittel der höchsten Art nötig zu haben; woraus also die Gefahr entsteht, daß der Mensch sich an der erkannten Wahrheit verblute.« (MA 109) Dieser Wille zur Wahrheit folgt der asketischen Maxime, »opfere ihm das Beste, das Liebste«! (KSA 8, 397) In solchen Reflexionen gewinnt man Einblick in Nietzsches persönlich erlittenes Denkschicksal. Wie im analytischen Drama ist entwicklungsgeschichtlich ergründbar, was die Ursache seiner Verzweiflung war: die Herausfor­ derung durch Darwins Modell zur natürlichen Artenentstehung und D. F. Strauß’ radikale Kritik historischer Zuverlässigkeit der Evange­ lien im Neuen Testament. Mit jedem zentralen Anstoß zur Verzweif­ lung des Geistes hat Nietzsche intensiv gerungen, mit D. F. Strauß nach ureigener Aussage ein ›Duell‹ ausgefochten.16 Strenge Wissen­ schaft präsentiert sich für Nietzsche in Gestalt mathematisch natur­ wissenschaftlicher Forschung und, für geistseelische Kulturinhalte, des Historismus in seiner methodischen, z.B. philologischen Genau­ igkeit. In den Jahren 1867/68 hat Nietzsche Dissertations-Entwürfe zur Teleologie seit Kant verfasst, mit der Absicht, mithilfe von Kants dritter Kritik dem Verlust der Teleologie entgegenzutreten. In seiner Geschichte des Materialismus, die Nietzsche studiert, verabschiedet 16 Zur Auseinandersetzung mit D. F. Strauß von der Frühschrift zur Historie bis Götzendämmerung vgl. Düsing: Gottvergessenheit und Selbstvergessenheit der Seele. Religionsphilosophie von Kant zu Nietzsche, Paderborn 2021, 473–483. Als bedeutsam erweist sich der Passus: »Wie die ›wahre Welt‹“ – das ist die unsichtbare geistige göttliche Welt bei Platon und im Christentum – »endlich zur Fabel wurde. Geschichte eines Irrthums« (KSA 6, 80f). »Fabel« spielt an auf Strauß’ Schlüsselbegriff des Mythus und dessen konsequente Entmythologisierung der Jesus-Überlieferung, durch Nietzsches Wortwahl noch drastisch verstärkt: er spricht von Fabel, ja von Märchen.

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F. A. Lange die Teleologie der Natur aufgrund von Darwins Konzept der Artenbildung. Denn die Natur folge, wie der 22-jährige Nietzsche im Anschluss an die Lektüre von Langes Werk lakonisch eindrücklich notiert,17 einer »sinnlose(n) Methode« (BAW 3, 374), nämlich zufäl­ liger Auswahl, die nichts von göttlicher Güte und Weisheit verrät. Embryonal findet sich hier Nietzsches Antitheodizee und NihilismusPrognose angedeutet. Durch seinen neuen darwinianischen Blick in die Grausamkeit der Natur, die höheres Leben durch das millionenfa­ che Sterben des Untauglichen erwirkt, wird für ihn der vormals als weise und gut geglaubte Schöpfergott dämonisiert, insofern er auf diese Weise Arten zustande bringt. Die Gottesfrage ist für Nietzsche verknüpft mit naturphilosophischen Fragen. So gewinnt der unheim­ lich fremd gewordene, verborgene Gott für Nietzsche dämonische Züge, weil er in naturphilosophischer Hinsicht als der mögliche Initiator und Promotor des grausigen Lebenskampfes gemäß dem Darwinschen Selektionsprozessmodell in den Blick genommen wird. Als antiteleologische »entsetzliche Consequenz des Darwinis­ mus« (KSA 7, 461) entdeckt er, dass der Mensch im Kosmos sich selbst überall nur als Zufallsprodukt der Natur begegnet, das zudem über Millionen Gräbern von fehlgeschlagenen Entwicklungsversuchen sich empor entwickelt hat. »Die Ordnung in der Welt, das mühsamste … Resultat entsetzlicher Evolutionen als Wesen der Welt begriffen«, zuerst »Heraklit« (KSA 7, 459f), nun Darwin. Das Ende der abendlän­ dischen Geistmetaphysik wird in lakonischer Prägnanz zornig und mit Bedauern ausgesprochen: »Den ›Geist‹, das Gehirnerzeugniß als übernatürlich zu betrachten! gar zu vergöttern, welche Tollheit!« (KSA 7, 460) Das, was den frühen Nietzsche noch erschaudern ließ, lehrt hingegen der spätere in zuweilen grausamer Härte: Auf der Position des »höchsten biologischen Standpunktes« könne der Tod zur Bedingung eines »wirklichen Progressus« erklärt werden (GM II 11. 12). Das erste sich Bewusstwerden dessen, nur als Zufall im All da zu sein, entwirft Nietzsche 1872/73 in einer melancholischen Monologskizze zum ›sterbenden‹ Oedipus, als »Reden des letzten Philosophen mit sich selbst«, zu dem niemand mehr als er selbst noch rede, dessen eigene Stimme ihm als »Erinnerungshauch« alles verlornen Menschenglücks entgegenkomme, den schaudere wegen 17 Vgl. Jörg Salaquarda, Nietzsche und Lange, in: Nietzsche-Studien Bd 7 (1978), 236– 260; George J. Stack: Lange and Nietzsche, Berlin/New York 1983; Edith Düsing: Nietzsches Denkweg. Theologie – Darwinismus- Nihilismus, 2. Aufl. München 2007, 57f, 208–221; zum Darwin-Komplex vgl. E. Düsing, op. cit. 201–350.

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der »einsamsten Einsamkeit« und der sich sträube »zu glauben, daß die Liebe todt sei« (KSA 7, 460f). Das schneidende Wort von der »entsetzliche(n) Consequenz des Darwinismus« folgt unmittelbar auf jene ›Ödipus‹-Skizze; sie enthüllt ein tragisches Menschen-, Welt-, Gottesbild, worin der Verlust zwischenmenschlicher Liebe als Folge des Verlusts der göttlichen Schöpferliebe empfunden wird. – Bevor die späte Erkrankung ihn jeder möglichen zielgerechten Kontaktsuche entreißt, schreibt Nietzsche über sich das erschütternde Wort: »Ich bin die Einsamkeit als Mensch« (KSA 13, 641). Als Alternative im Horizont des Darwinismus stellt sich für Nietzsche die Frage, – die er rein experimentalphilosophisch formu­ liert, auslotet und in antithetischen Sätzen in der Schwebe hält, – ob die Welt, das Unbeseelte wie das Lebendige, als Zufallsgemisch von Urelementen, also als blindes Spiel des Werdens, oder durch Teleo­ logie erklärbar sei. »Es muß möglich sein die Welt nach Zwecken« oder »durch Zufall zu erklären« (KSA 10, 162). Seiner ursprünglichen Vorliebe für Teleologie misstrauend, argumentiert er für und wider das eine und andere Deutungsmodell. Ist naturalistisch ein anonymes Chaos oder theozentrisch Gott als letzter Seinsgrund anzunehmen? Ist aber das zweite auszuschließen, so ist die Seele Zufalls- oder Versuchsprodukt der Natur. Und ist Natur nicht, mit Hegel, das Andere des Geistes oder dessen wohl geplantes, teleologisch geordne­ tes Produkt, sondern wie bei Demokrit ein ohne Vernunft oder Geist ›Zusammengeschütteltes‹ (vgl. KSA 8, 106), so erhebt sich in des Menschen Seele die Angst, alles Seiende sei ohne Sinn und Ziel. Der Verlust des teleologischen Weltkonzepts zieht »als persön­ liches Ergebnis die Verzweiflung« nach sich, als »Denkweise« das pessimistische Resümee in Menschliches. Allzumenschliches »Von den ersten und letzten Dingen« (MA 34; vgl. KSA 8, 179). Eine Philosophie der »Verzweiflung« ist im Jahre 1878 Resultat von Nietz­ sches Freigeisterei (MA 34). Sie erkennt die uneingestandene »letzte Ziellosigkeit« des freien Geistes, der ohne »Trost« und »Halt« ist (MA 33). Jeder erste Aphorismus der mittleren freigeistigen Schriften thematisiert hintersinnig den Darwin-Komplex. (Die Frage der »Her­ kunft«, also die Frage der »Anfänge« der Menschheit, von Vernunft, Logik, Empfinden, zu deren Erklärung auf den »Wunderursprung«, also Schöpfung, verzichtet werden soll (MA I). Es geht um die (prä-) »historische Betrachtung«, wie Vernunft aus »Unvernunft« entsteht (M 1), – zeichnet die im 20. Jahrhundert aufgekommene evolutionäre Erkenntnistheorie vor.)

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In Die Fröhliche Wissenschaft ist die Teleologie Nahtstelle zwi­ schen Ethik und Naturauffassung. Nietzsche reißt im ersten Aphoris­ mus eine die Seele aufwühlende, den Geist herausfordernde Kluft auf zwischen teleologisch geistmetaphysischem und naturalistischem Welt- und Menschenbild. Er stellt den Leser vor ein schroffes Ent­ weder-Oder, indem er »teleologische Lehrer« von Platon bis Kant charakterisiert, – implizit an Jesu Wort in Apokalypse 1, 17 erinnernd: »Ich bin der Erste und der Letzte und der Lebendige«, – durch ihre (von ihm leuchtend klar pointierte) These, jeder Mensch sei »etwas Erstes und Letztes und Ungeheures« (FW 1). Besage die (hässliche) Wahrheit des Naturalismus: Die Art ist alles, der Einzelne in seiner »Armseligkeit« ist nichts, und erschalle der zynische Zuruf der Natur: »Geh zugrunde!«18, – so lautet die Antithese der ethisch-teleologi­ schen Lehrer, die mit tiefer Sympathie gezeichnet sind, in ihrem ermutigend lebensfrohen Zuruf: Jeder Einzelne ist wertvoll: »Ja, ich bin wert zu leben!«, jeder ist für sich »immer einer« (FW 1).19 Im Zeitalter des Nihilismus wird die schwere Erschütterung über den propagierten Unwert des Einzelnen von der ganz anderen Botschaft überboten, die beseligtes Staunen erweckt: Ich bin kostbar; es gibt kein lebensunwertes Leben; d.h., die Würde des Menschen endet nicht mit seiner Hinfälligkeit. – Darwinisten und Sozialisten in eins persifliert Nietzsche in der Parole: Einer ist keiner, die Gattung / Gesellschaft ist alles, und assoziiert mit unheimlichem Nachdruck damit jenen uner­ bittlichen utilitaristischen Imperativ: »Geh zugrunde!«, so als würde in ihm, – als schicksalsschwangeres Wort, worin ein Fluch waltet, der kraft seines Wortes zur Tat wird – Euthanasie oder Freuds Todestrieb als Handlungsmaxime proklamiert. Durch Erscheinen solcher Lehrer 18 Die Sicht, Individuen seien nichts, die Gattung (das Volk) alles, teilen Darwinisten und (National-)Sozialisten. Der späte Nietzsche setzt dieses Fluchwort, der teleologi­ schen Antithese (in MA, M, FW) beraubt, verführerisch hart ein, als wollte er die von ihm im Untergang des Christentums als Moral prophezeite ungeheure Logik von Schre­ cken (FW 343) selbst vollstrecken. »Es gibt bei Menschen wie bei jeder andern Tierart einen Überschuß von Mißratenen, Kranken, Entartenden, Gebrechlichen«. Christlich Religiöse jedoch halten die »Mißlungenen« im Leben fest; indem sie Leidenden Trost, Verzweifelnden Mut, »Unselbständigen Stab und Halt gaben«, »Innerlich-Zerstörte« in Klöster aufnahmen, bewahrten sie zu viel schutzhelfend von dem auf, – wie es grausam sozialdarwinistisch heißt, – »was zugrunde gehn sollte« (JGB 62). Jene »sollen zu Grunde gehn«! (KSA 14, 427f) 19 Leibniz’ Definition der Monade als Substanz lautet: Nur, was ein Wesen (monas) ist, ist ein Wesen (ousia). G. W. Leibniz: Hauptschriften zur Grundlegung der Philoso­ phie, hg. von E. Cassirer, 3. Aufl. Hamburg 1966, II, 223f.

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wie Sokrates, Jesus, Paulus, Kant, die Einzelne tief bewegt haben im Gedanken: »Ja, ich bin wert zu leben!«, hat des Menschen Natur, so würdigt Nietzsche mit einfühlsamer Ironie das Sinn suchende Wesen, sich verändert; er wurde ein über die sinnliche Welt hinaus fliegendes »phantastisches Tier«, zu dessen Existenzbedingungen ein festes Zutrauen zum Dasein gehört: Er muß also von Zeit zu Zeit »glauben zu wissen, warum er existiert« (FW 1). Nietzsche durchsinnt den Kältetod der Humanität,20 der aus dem naturalistischen Weltbild folgt. Argumentativ geht es um den Wider­ streit von metaphysischer Thesis und antimetaphysischer Antithesis. Die klassische Thesis: Der Mensch ist Ebenbild Gottes, die moderne Antithesis: Er ist höhere Tierseele. Thesis und Antithesis bleiben in der Schwebe: Nach der Logik des Verstandes (›Weg mit den schönen Illusionen, her mit bitterer Wahrheit!‹) bevorzugt er die Antithesis, in der des Herzens die Thesis. Eben dieses Widerspiel ist der Schlüssel für Nietzsches Freigeisterei, die widerstreitende Sätze aufstellt, in einer Art negativer Dialektik, ohne sie logisch zu vermitteln.

3. Blick auf den gekreuzigten Christus als Durchblick auf Nietzsches eigene Passionsgeschichte Von Jugend an gehört Nietzsche zu den Melancholikern, unter die Theophrast schon Sokrates und Platon zählte.21 Melancholie macht hellsichtig für ungeahnte Hinter- und Abgründe. Und so dürfte das Unheimlichste in Nietzsches Melancholie sein Mutmaßen sein, dass sowohl Sokrates als auch Christus – beide Identifikationsfigu­ ren höchster Ordnung – nicht einfach nur Opfer der berühmtesten Justizirrtümer der Weltgeschichte, sondern heimliche Selbstmörder gewesen seien, – Jesus, weil sein liebesüchtiges Herz über die Armut menschlicher und göttlicher Liebe verzweifelt gewesen sei. Der Gebetsruf am Kreuz, wonach »Jesus mit lauter Stimme rief: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« (Markus 15, 20 Zur gefährdeten Menschenwürde durch Hinstürzen der Imago-Dei-Vorstellung vgl. E. Düsing: Zum revoluti-onären Bruch im Menschenbild zwischen Kant und Nietzsche, in: Düsing: Gottvergessenheit, s. nota 16, 273–290. 21 Vgl. Raymond Klibansky, Erwin Panofsky und Fritz Saxl: Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst, übers. v. C. Buschendorf, Frankfurt a..M. 1990.

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34), wird von Nietzsche im Geist Feuerbachs als Schrei nach Liebe gedeutet, die ins Leere gegangen sei. Erfahrung der Untreue Gottes, die Hölderlin in seiner Sophokles-Deutung22 thematisiert hat und die Nietzsche bei Jesus finden will, macht den Glutkern in Nietzsches ›Tod-Gottes‹-Diagnose und Verwerfung jeglicher Theodizee aus und steht in Einklang mit seinem von der frühen bis in die späteste Zeit reichenden, intensiven Sich-Identifizieren mit dem Gekreuzigten in der Schreckenstiefe seines Verlassenseins.23 In mittleren Schriften entreißt Nietzsche Jesus jeder dogma­ tisch-metaphysischen und religiösen Deutung; er wird entworfen als Mensch mit tragischem Schicksal, der einer Selbsttäuschung über seine Sendung erlegen sei. Anders als in der frühen Christus-Hymne Gethsemane und Golgatha (BAW 2, 401ff), die den Heilsbringer rühmt, pathologisiert Nietzsche in Genealogie der Moral Jesu Lei­ densbereitschaft, die Erlösung bringen will. Hier zeige sich »die furchtbarste Krankheit«, und »wer es noch zu hören vermag«, »wie in dieser Nacht von Marter und Widersinn der Schrei Liebe, der Schrei des sehnsüchtigsten Entzückens, der Erlösung in der Liebe geklungen hat, der wendet sich ab, von einem unbesieglichen Grausen erfaßt … Im Menschen ist so viel Entsetzliches! … Die Erde war zu lange schon ein Irrenhaus!« (GM II 22) Mit der »Nacht von Marter« erinnert Nietzsche an Jesu Gebetsringen vor seiner Hinrichtung, die auf den Verrat durch den Judas-Kuß folgt (Markus 14, 44f). Im Motiv »Erlösung in der Liebe« klingt die Botschaft des Evangeliums durch: »Denn also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen einzigen Sohn dahingab.« (Johannes 3, 16) Mit dem »Entsetzlichen« dürfte weniger der zynische Spott, dem Jesus ausgesetzt war, als das von ihm bejahte Martyrium zur Erlösung der Menschheit gemeint sein; mit »Irrenhaus« zeichnet sich die im Antichrist fortgeführte Psycho­ pathologisierung Jesu ab. In der tiefsten Seelennot habe er Gottes Absenz als dessen grausames Schweigen erlitten, bis zur Grenze, wie angedeutet ist, des Wahnsinnigwerdens über dem Rätselgott, der die Seele martert. Jesu Verlassenheits-Schrei deutet Nietzsche, die 22 Zur religionsphilosophischen Nähe Nietzsches zu Hölderlin in der erlittenen und durchdachten Erfahrung des Deus absconditus vgl. E. Düsing: Gottvergessenheit, s. nota 16, 534–574; zu Hölderlins Sophokles 551–556. 23 Die ihn begleitende, ja verfolgende Frage nach Jesus verlautet in Nietzsches schon von Wahnsinn gezeichneten spätesten Brief-Unterschriften mit: »Der Gekreuzigte«, die er wiederholt anstelle seines eigenen Namens einsetzt, so an August Strindberg, Georg Brandes, Malwida von Meysenberg, Anfang Januar 1889 (KSB 8: 572f, 575).

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Suizid-These (JGB 269) überholend, als verzweifelten Liebes-Schrei. Den schwersten Augenblick in Jesu Passion wählt er aus, um Jesu Wesen zu erblicken. Dabei offenbart das, was er in Identifikation mit dem Gekreuzigten zu sehen glaubt, die Fundamente seines Denkens. Es ist die von ihm gewonnene schmerzliche Überzeugung unendlicher Liebesleere im All: Atomengewirr, »Wurf der Gestirne … aber niemals wird es Güte oder Weisheit oder Liebe sein.« (KSA 10, 123) Nietzsches – ebenso rätselvolle wie verräterische – Wortwahl in seiner Deutung von Jesu Schrei am Kreuz als »Schrei Liebe«, den er seltsam paradox als »Schrei des sehnsüchtigsten Entzückens« (GM II 22) bezeichnet, lässt sich in Richtung biographischer Existenz­ durchsichtigkeit aufschließen. Liegt der Bedeutungsschwerpunkt im Sehnen, hier ungewöhnlich im Superlativ ausgedrückt, so dürfte der ›Vater‹ gemeint sein; liegt er auf dem »Entzücken«, so dürfte es um die ersehnte Frau gehen. Auf Jesus hinschauend blickt Nietzsche in eins in den Abgrund seiner eigenen Passionsgeschichte. Der »entzü­ ckendste Traum« seines Lebens knüpft sich an Lou Salomé,24 in der er die kongeniale Gesprächspartnerin und Lebensgefährtin zu gewin­ nen hoffte.25 Das Scheitern dieser Hoffnung ist für ihn bitterliche Enttäuschung, die ihn in Suizidgedanken stürzt. Im Gedicht: »Aus hohen Bergen. Nachgesang«, das die verzweifelte Suche nach Wieder­ bringung verlorener Freundschaft schildert, klingt der Schmerz um Lou nach: »Weß wart und wart ich noch? Ich weiß es nicht – Dies Lied ist aus, – der Sehnsucht süßer Schrei / [Starb mir] Erstarb im Munde« (KSA 5, 243; KSA 14, 375); – das ist versagte Liebe als Todeserfahrung. Ein Todessehnen nach dem Bruch mit Lou schwingt nach im Brief an Overbeck (März 1883): »Im tiefsten Grunde eine unbewegliche schwarze Melancholie.« Ich »habe einen Begriff von der Unvollkommenheit, den Fehlgriffen und … Unglücksfällen meiner ganzen geistigen Vergangenheit, der über alle Begriffe ist. Es ist Nichts mehr gut zu machen; ich werde nichts Gutes mehr machen. Wozu 24 Im Brieftagebuch für Paul Rée schreibt Lou Salomé am 14. 8. 1882, Nietzsche habe ihr, an den gemeinsamen Aufstieg zum Monte Sacro (Ortasee, Italien) sich erinnernd, erklärt: »Monte Sacro – den entzückendsten Traum meines Lebens verdanke ich Ihnen«. Werner Ross: Der ängstliche Adler. Friedrich Nietzsches Leben, Stuttgart 1980, 616. 25 Zur Zeit der Hochblüte ihrer Freundschaft erlebt Nietzsche eine neue »fatalistische ›Gott-Ergebenheit‹, und er schreibt ihr: »Was ich nie mehr glaubte, einen Freund meines letzten Glücks und Leidens zu finden, das erscheint mir jetzt als … die goldene Möglichkeit am Horizont alles meines zukünftigen Lebens.« (KSB 6, 201)

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noch etwas machen! – Das erinnert mich an meine letzte Torheit, ich meine den ›Zarathustra‹“ (KSB 6, 348). Im Zarathustra hatte Nietzsche das Evangelium vom Übermenschen und Gottes ›Tod‹ verkündet, der unendlich oft als triumphaler atheistischer Lehrsatz aufgegriffen und kolportiert worden ist.

4. Der ›Tod‹ Gottes. Die melancholische Dimension dieses Todes in einer Grabesklagemelodie Das erschütternde Wort: ›Gott ist tot‹ wurde erstmals in Die Fröhliche Wissenschaft veröffentlicht. Die Titelfigur im Aphorismus »Der tolle Mensch« (FW 125) bekundet dieselbe Verzweiflung und Trauer, Gott verloren zu haben, die Nietzsche als Denker und Persönlichkeit exis­ tentiell beseelte. Liest man sein Wort, Gott sei ›tot‹, als atheistisches Dogma, so ist das ein Missverstehen. Denn es ist in geistseelischer Bestürzung gesagt und steht innerhalb einer dichterisch gebildeten Parabel. Ihren Schluss bildet, wie in Notwehr gegen das Nichts, das Programm einer Umwertung aller Werte. Bleibt das Resultat seines Nachforschens nach Gott auch negativ, so hebt sich der ›tolle Mensch‹ von den Alltagsatheisten ab, die Gott durch ihre Gleichgültigkeit getötet haben, seiner Gottsuche nur mit Häme begegnen. Wahnsinnig ist der ›tolle Mensch‹ im Sinne der Platonischen guten theia mania (s. Phaidros 244a-245a), des prophetischen oder kathartischen göttli­ chen Wahns.26 »Der tolle Mensch. – Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittag eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: ›Ich suche Gott! Ich suche Gott!‹ – Da dort gerade viele von denen zusammen standen, welche nicht an Gott glaubten, so erregte er ein grosses Gelächter ... Der tolle Mensch sprang mitten unter sie und durchbohrte sie mit seinen Blicken. ›Wohin ist Gott?‹ rief er. ›Ich will es euch sagen! Wir haben ihn getödtet – ihr und ich! Wir Alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir dies gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was thaten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und 26 Zum ›Tod‹ Gottes vgl. E. Düsing: Nietzsches Denkweg, s. nota 17, 459–495; zum Zarathustra op. cit. 473–495.

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rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Giebt es noch ein Oben und Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? Müssen nicht Laternen am Vormittage angezündet werden? Hören wir noch nichts von dem Lärm der Todtengräber, welche Gott begraben? ... Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getödtet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besass, es ist unter unseren Messern verblutet, – wer wischt diess Blut von uns ab? Mit welchem Wasser könnten wir uns reinigen? Welche Sühnefeiern, welche heiligen Spiele werden wir erfinden müssen?« (FW 125)

Die drastische Metaphorik vom Verbluten des »Heiligsten«, wie Nietzsche Gott hier anspricht, enthält deutlichen Anklang an den Kreuzestod Christi.27 In diesem Anklang des Todes Gottes an Christi Tod liegt eine Reminiszenz an die Trinität, Gott und Mensch vereinigt gedacht in einer Person, so dass eine – dogmenfreie – christliche Dimension durchschimmert. – Im Vorwurf des Gottsuchers an die Agnostiker, die am Ort der Anbetung des Mammon in Gerüchte und Geschäfte eintauchen, ihr seid es, die Gott getötet haben, klingt Petri kühne Rede nach: »Ihr habt ihn [Jesus] ... getötet« (Apg 2, 23), jetzt aber ohne Hoffnung auf sein Auferstehen: Er »bleibt todt«. Wie bei Jesu Kreuzigung eine Finsternis über das Land kam (Mk 15, 33): der Kosmos trauert mit, begleitet in Nietzsches Parabel eine kosmische Katastrophe den Tod Gottes. Im Versuch, die verheerenden Folgen des Gottestodes auszuloten, versagen alle Kategorien zur Beschreibung; das Universum implodiert und explodiert. Gottes Sterben heißt Los­ binden der Erde von ihrer Sonne, Symbol des Heiligsten, göttlich Guten. Ohne das Agathon ist alles nichts wert, so Platon (Politeia 505a), dem Nietzsche, das Sein der Idee bezweifelnd, gleichwohl hinsichtlich der Fundierungsordnung folgt. Dass Nacht hereinbricht, symbolisiert den Verlust der Wahrheit, die Kälte den Verlust der Liebe. Der sich selbst als ›Antichrist‹ und ›Gottesmörder‹ Stilisierende stellt uns vor die große Wahl: Gott oder das Nichts! Wir erleiden 27 In der frühen Hymne auf Christi Selbsthingabe an Kreuz erinnert er das im Evan­ gelium bezeugte Verbluten Jesu: »O Stätten heiligster Vergangenheit! / Gethsemane und Golgatha, ihr tönet / Die frohste Botschaft durch die Ewigkeit: / Ihr kündet, daß der Mensch mit Gott versöhnet, / Versöhnet durch das Herz, das hier gerungen, / Das dort verblutet und den Tod bezwungen! … Gethsemane, du heil’ger Leidensbronnen« (BAW 2: 401, 403f).

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im Gottestod totalen Orientierungsverlust, ein richtungsloses Fallen, wissen nicht mehr, woher wir kommen, wohin wir gehen, wer wir sind. Der visionäre ›tolle Mensch‹ ruft eine Frage aus, die eigentlich eine tiefschürfende Diagnose – und Definition des Nihilismus – ist: »Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts?« Das Agathon als Maß aller Maße, das den Maßstab für alle Dinge abgibt und die Güte des Seins verbürgt, ging verloren. Den einzigen Hinweis, mit dem sich in der Gleichnisrede etwas bestimmtes Reales assoziieren lässt und – wie in einem kriminologi­ schen Indizienbeweis – ein Motiv und der Tathergang (Wir haben Gott getötet) rekonstruierbar werden, enthält das Wort über das ›Verbluten des Heiligsten unter unsern Messern‹, die Mordwaffen in Gestalt von Seziermessern sind und auf die heiße Spur der kritischen Historie zurückführen. ›Sezieren‹, ›Vivisektion‹ sind aus der chirurgischen Medizin entlehnte Begriffe. Die »Geburtsstätte des Christenthums«, das Leben Jesu (D. F.Strauß), sei, nach fertigem wissenschaftlichen Erkenntnisgang, »zu Ende seciert« und damit »vernichtet« (KSA 1, 296ff), so Nietzsches Alarmruf in der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung »Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben«. Die historische Kritik wird mit »Section«, also dem kunstgerechten Öffnen von Leichnamen verglichen; gemeint ist ein erbarmungslos zum Tode führendes Analysieren von etwas bislang lebendig Gewe­ senem. Die Parabel vom blutbefleckten Messer, das Instrument des Gottesmordes ist (FW 125), zielt auf die Sinn zerstörende historischkritische Analyse des Lebens Jesu. Kühnes Sich-selbst-erkennen des aufgeklärten freien Geistes, der Nietzsche ist, führt dahin, dass er in Gestalt des ›tollen Menschen‹ (Fröhliche Wissenschaft Aphorismus 125) die Selbstanklage auf den Punkt bringt: »Gott ist tot!« – Wir haben ihn getötet, ihr und ich, »wir erwachen als Mörder«! Vordergründig ist es die Sezierlust des aufklärerischen Verstandes, die, gemäß Nietzsches Schau, das ›Ster­ ben‹ des christlichen Gottes auslöst, im Abgrund der verlorenen Seele aber ist es deren Strategie zur Verleugnung der eigenen Hässlichkeit, die den Spiegel des göttlichen Wortes stumpf macht, in welchem sie schmerzlich grell sichtbar sein würde.28 Der aufgeklärte Mensch seziert viel lieber den ›Spiegel‹ Bibel, als dass er von ihm sich durch­ 28 ›Gottes Wort‹ mit dem Spiegel zu vergleichen, den man fliehen will (Jak 1, 23ff), oder dem »zweischneidigen Schwert«, das Geist und Psyche trennt (Heb 4, 12f; vgl. Offb 1, 16), dürfte Nietzsche geläufig gewesen sein. – Die Art, wie »bisher die Ehrfurcht vor der Bibel in Europa aufrechterhalten wird«, so rühmt er, – indem er das

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leuchten ließe, so Nietzsches Durchblick. – Das Zentralproblem nach Gottes Tod ist der Verlust der Schöpfungsordnung und die folgende Sinnleere, Melancholie, das sich selbst nichts Wertsein des Menschen, ein epidemisch zu werden drohender Lebensüberdruß. Nietzsches Nihilismus-Prognose ist prophetische Ahnung unsrer Jetztzeit. »Ach, der Glaube an seine Würde, Einzigkeit, Unersetzlichkeit in der Rang­ abfolge der Wesen ist dahin, – er ist Tier geworden«, er, der in seinem früheren Glauben ›Kind Gottes‹ war (GM III 15). Wenn es – vor Freud einen Kulturpsychoanalytiker oder – einen Erdbebenforscher der Kultur gibt,29 so ist Nietzsche ein sol­ cher Titel zuzusprechen, da er mit seismographischer Sicherheit und Genauigkeit – so als sei er mit der Witterung eines verwundeten Tieres ausgestattet, mit dem er sich vergleicht (KSB 8, 363) – das geistige Schicksal des nachchristlichen Europa voraussieht. Schon in der Frühschrift über »Schopenhauer als Erzieher« von 1874, worin nach seiner späteren Auskunft seine »innerste Geschichte«, sein persönliches »Werden« und sein »Gelöbnis« eingeschrieben sei (KSA 6, 320), zeichnet Nietzsche plastisch und vielschichtig eine kulturelle Gesamtdiagnose. Diese ist beunruhigt vom eigenen Erleben, das ihn zeitweise in Misanthropie, in eine »krankhaft hellseherisch gewor­ dene Menschenverachtung« (KSA 3, 346) stürzt, und darüber hinaus von dem geschichtlichen Bewusstsein eines allmählich angereicherten »furchtbaren Explosionsstoffes«, der sich eines Tages entzünden wird. Und er nimmt Symptome schlimmer Entwurzelung wahr. »Die Gewässer der Religion fluten ab und lassen Sümpfe oder Weiher zurück; die Nationen trennen sich wieder auf das feindseligste und begehren sich zu zerfleischen. Die Wissenschaften, ohne jedes Maass und im blindesten laisser faire betrieben, zersplittern und lösen alles Festgeglaubte auf; die gebildeten Stände … werden von einer grossar­ tig verächtlichen Geldwirtschaft fortgerissen. Niemals war die Welt mehr Welt, nie ärmer an Liebe und Güte. Die gelehrten Stände sind verlorene objektiv Heilige perspektivisch subjektiviert zu heiligen Erlebnissen und zum Verehrungswürdigsten, – sei das »beste Stück Zucht und Verfeinerung der Sitte, das Europa dem Christenthume verdankt« (JGB 263). 29 Die Erdbebenmetaphorik illustriert ein zersplitterndes Wertefundament. Histo­ risch-wissenschaftliche Kritik ist es, die religiöse Gewißheit untergräbt. »Wie die Städte bei einem Erdbeben einstürzen … und der Mensch nur zitternd und flüchtig sein Haus auf vulkanischem Grunde aufführt«, so ruft historische Analyse ein Begriffsbeben hervor, das ihm »das Fundament aller seiner Sicherheit«, den »Glauben an das … Ewige« raubt (KSA 1, 330).

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nicht mehr Leuchttürme oder Asyle inmitten aller dieser Unruhe der Verweltlichung; sie selbst werden täglich … gedanken- und liebeloser. Alles dient der kommenden Barbarei«.

Es sind ungeheure Kräfte da, aber ganz und gar unbarmherzige, die schreckliche Erscheinungen erwarten lassen und weitere funda­ mentale Erschütterungen; es entspreche dem »modernen Hange … einzustürzen oder zu explodiren«. Gierige Hast im selbstsüchtigen Glücksjagen der Individuen bekunde ein Ahnen der Gefahr, dass womöglich bald alle Glücksjagdzeit zu Ende sei. »Wir leben die Periode des atomistischen Chaos.« Bald wird fast alles auf Erden nur noch durch die »gröbsten und bösesten Kräfte« bestimmt, durch den konsumhörigen Egoismus der Erwerbstätigen und durch militärische Gewaltherrscher (KSA 1, 366ff),30 also durch konsequentes Lust- und Machtstreben. Atomistisches Chaos bedeutet hier ein Atomengewirr nicht in der Natur oder im Kosmos, sondern in der Gesellschaft, nämlich den eigennützigen »Atomenwirbel der Egoismen« (KSA 7, 661). Nietzsches frühe Zeitkritik richtet sich gegen den damals ausbrechenden Ökonomismus und eine weit um sich greifende Ver­ götzung von Wohlleben und Fortschritt als Religionsersatz.

5. Der europäische Nihilismus als Gottestodfolge Nietzsches Verlieren der Konzeption der Seele, die im göttlichen Guten oder im guten Gewissen sich geborgen fühlt und ihr Sollen gewisser als alles andere weiß, kündigt sich im Herbst 1881 an: »Nachts, bei bestirntem Himmel regt sich wohl ein Gefühl, wie arm­ selig unsere Fähigkeit zum Hören ist. Oh dieser todtenstille Lärm!« (KSA 9, 624; vgl. ebd. 576) Transzendental und ethisch-religiös steht für ihn das Ich ebenso sehr auf dem Prüfstand wie Gott. Ja vielmehr Charles Andler (Nietzsche, sa Vie et sa Pensée. 6 Bde, Paris 1920–1931, Bd I, 99–104)) bemerkt zu Recht die frappierende Ähnlichkeit der moralischen Kultur- und Zeitkritik des frühen Nietzsche mit Fichtes bewegten Klagen über ein Zeitalter der vollendeten Sündhaftigkeit, »qui meurt de sa misère de coeur, et, de la résolution d’être véridiques à tout prix, avec douleur«. Ob Nietzsche Fichtes Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters oder die Reden an die deutsche Nation gelesen hat, ist nicht erwiesen, doch bezieht er sich auf den Moralisten Fichte (vgl. WS 216), und es dürften ihm von Schulpforta her Lehrstücke des achtzig Jahre zuvor hier weilenden Fichte, z.B. über die Zentralstellung des Willens in der praktischen Philosophie und im System der Wissenschaftslehre, vertraut gewesen sein. 30

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noch wahrt Nietzsche die Idee eines tiefgründigen Zusammenhangs beider oder einer impliziten Korrelation von menschlichem Selbst und Absolutem. – Die erste Eintragung des bedrückenden Oxymo­ ron »todtenstiller Lärm« findet sich nämlich zu derselben Zeit, in der Nietzsche erstmals prononciert vom »Tode Gottes« spricht, so dass sich ein Zusammenhang des Erleidens von Gottesferne und Unglaubwürdigwerden der Stimme des Gewissens nahelegt. »Wenn wir nicht aus dem Tode Gottes eine großartige Entsagung und einen fortwährenden Sieg über uns machen, so haben wir den Verlust zu tragen.« »Gott ist todt!«, »Mord der Morde!«, geplante »Grabrede auf den Tod Gottes« (KSA 9: 577, 590, 579), Notate, die im Schweigen des Himmels religionsphilosophisch die Motivlandschaft der Parabel vom tollen Menschen umreißen. Im Sommer 1888 entwirft Nietzsche Fragmente unter dem Titel: »Das eherne Schweigen« – »(Nachts, bestirnter Himmel) oh dieser todtenstille Lärm« (KSA 13, 573) -, die Ansätze zu einem nicht vollendeten Dithyrambus darstellen dürften. In ihm wird ein Zusammenhang von ›Gottesmord‹ bzw. ›Tod Gottes‹ als Resultat eines Mordes, ›Totenstille‹ des nächtlichen Himmels und Ich-Einsamkeit verbildlicht. Im aufrüttelnden Wort vom Erwachen »als Mörder!« (KSA 9, 590) liegt eine Reminiszenz an das Schicksal des Ödipus, der bei Sophokles auf tragische Weise und unwissend zum Mörder seines Vaters geworden ist. Das Wort Pascals in den Pensées dürfte Nietzsche bekannt gewesen sein: »Das ewige Schweigen dieser unendlichen Räume macht mich schaudern«.31 Auch tönt im »todtenstille(n) Lärm« beim Anblick des nächtlichen Himmels der Beschluß von Kants Kritik der praktischen Vernunft durch (vgl. KSA 12, 269): »Zwei Dinge erfül­ len das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.« (Kant AA V, 161f) Das ›eherne Schweigen‹ des Himmels bezeichnet das nicht mehr vernehmen Können eines kategorischen Sollens-Anspruchs, der an die menschliche Seele ergeht, – den Kants Ethik als Stimme des Gewissens erwiesen hat. Jene Hörunfähigkeit beklagt Nietzsche hier wie den ›Tod Gottes‹. ›Totenstille‹ des Him­ mels heißt sonach das erlittene und bedachte Schweigen Gottes. Die »Le silence éternel de ces espaces infinis m’effraie.« Pensées Frg 206. In Frg 194 schreibt Pascal ein Erschauern vor der Stummheit des unendlichen Raumes den Gegnern der Religion zu. Blaise Pascal: Pensées (zuerst 1670), zitiert nach der Nummerierung von Léon Brunschvicg, Paris 1972. 31

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existentielle Dimension ist das Eine; typisch für Nietzsche wird der geistseelische Verlust in einen Sieg des Erkennens umgemünzt. Metaphysikkritisch gegen Johann Gottlieb Fichtes Begriff von Gott als moralischer Weltordnung32 und theologiefeindlich gegen Kants Postulate von Gott und unsterblicher Seele sucht Nietzsche den »Wahn der sittlichen Weltordnung« aufzudecken. Seine Antithese zur Annahme einer göttlichen Ordnung lautet, als eine Verneinung der Theodizee: »Es giebt gar keine ›ewige Gerechtigkeit‹“ (M 563); entspre­ chend das Pendant zur These vom Nichtsein eines gerechten Gottes: Moralität ist Phantom (MA 36). – Entscheidend für die Heraufkunft »der modernen Zeit« des Nihilismus ist für Nietzsche der sowohl von ihm beobachtete als auch durch sein Werk immerzu betriebene, ja überhaupt erst heraufbeschworene »Untergang der moralischen Weltauslegung« (SA III, 881), die, neuzeitlich und aufklärerisch, mit Fichte eine sittliche göttliche Weltordnung annimmt oder mit Kant das Postulat einer durch Gott in seiner Gerechtigkeit zu gewährleistenden Adäquation von Glückswürdigkeit und Glück. »Der ganze Idealismus der bisherigen Menschheit«, – den Nietzsche hier als ethischen Idealismus akzentuiert, – sei dabei, »in Nihilismus umzuschlagen – in den Glauben an die absolute Wertlosigkeit, d.h. Sinnlosigkeit«. Prägnant erfaßt er in beobachtender Vernunft »die Vernichtung der Ideale« als »die neue Öde«! (SA III, 896) und durchleuchtet labile Phänomene, z.B. sittlicher Dekadenz, die er präzise erklärt als Greifen nach Mitteln, die das freie Ich untergraben. In seiner Analyse führt er kulturgeschichtliche Tendenzen radikal zu ihrem schlimmen Ende. Das Bild der »Öde« erinnert an das ›öde‹, wüst und leer Sein der Erde vor der Schöpfung (Genesis 1, 2) und an das Nietzsche seit seinen Dissertationsentwürfen intensiv begleitende (Dys-)Teleologiethema. Für Nietzsche steht die »Heraufkunft« des Nihilismus schmerz­ lich bevor als Selbstbewußtwerdung des Menschen über seine Sinnver­ armung nach Gottes ›Tod‹, in der »allertiefsten Selbstbesinnung«, von der es fraglich sei, ob er jemals wieder »sich davon erholt«. Nihilismus sei das Gefühl totaler Sinnlosigkeit, weil alle überzeugungsmächtigen Ziele abhanden gekommen seien. Wird aber der »Kreis der überlebten und fallen gelassenen Werte«, so verbildlicht er, »immer voller«, so komme uns »die Leere und Armut an Werthen … immer mehr zum Gefühl« (KSA 13, 56f). Nihilist würde der Philosoph sein, der 32 Vgl. Fichtes Werke, hg. von Immanuel Hermann Fichte, Berlin 1845/46, Nachdruck Berlin 1971, Bd V, 184–188.

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hinter den Idealen des Menschen das Nichtige fände. Das Nichtige zu entdecken entspringt dem intellektuellen Zweifel; dessen Folge ist verzweifelte Seelengestimmtheit. Objektiv ist der Nihilismus für Nietzsche die zu Ende gedachte Skepsis gegenüber unseren großen Werten und Idealen, die durch Analyse ihres Fundaments sich als unhaltbar erwiesen. Wir sind „’Enttäuschte’“, so definiert er sich als tonangebenden Philosophen der Zukunft, dem die Augen aufgingen über die schönen „’Wünschbarkei­ ten’“; so blicke er mit »spöttischem Ingrimm« auf das, »was ’Ideal’ heißt« (KSA 13, 60). Nihilist sei, wer von der Welt, wie sie ist, »urtheilt, sie sollte nicht sein«, und von ihr, »wie sie sein sollte, … sie existirt nicht« (KSA 12, 366). Der Sinnlosigkeits-Affekt oder das Pathos des ›Umsonst‹ sei das Nihilisten-Pathos, – als Pathos eine Inkonsequenz. Den praktischen Nihilismus bestimmt er in seiner Spätzeit psychophysiologisch als »Instinkt der Selbstzerstörung«, trostlosen »Willen ins Nichts« (KSA 12, 215) oder als Dekadenz.33

6. Verzweifelte Selbstverachtung – trotz vollbrachter Entwertung der christlichen Wertewelt Den ersten »vollkommenen Nihilisten« Europas nennt Nietzsche sich selbst, da er als erster den Nihilismus in sich zu Ende gedacht und gelebt habe (KSA 13, 190). Versucht hat er in der Tat, dem selbst­ mörderischen Nihilismus und der Melancholie als Gottestodfolge auf den Grund zu gehen. Nach Gottes ›Tod‹ und im Leugnen der Auferstehung Christi herrscht das Bewusstsein der Todverfallenheit. Nietzsche nahm Freuds Erklärung vorweg, dass im Unterschied zur Trauer, welcher die ganze Welt leer ward, in der Melancholie das Ich selbst der Leere und Wertlosigkeit anheimfällt; daher sind die typischen Selbstanklagen eigentlich Vorwürfe gegen einen verlorenen

33 »Das zu-Grunde-Gehen« analysiert er als unbewußten Willen zum »Sich-zuGrunde-richten, als ein instinktives Auslesen dessen, was zerstören muß. Symptome« sind »die Selbstvivisektion, die Vergiftung, Berauschung«. (KSA 12, 215). – Diesen Nihilismus der Schwäche in unterschiedlichen Ausfaltungen bis hin zur Sympathie mit dem Tode darzustellen wird später (1924) zum zentralen Inhalt von Thomas Manns Roman »Der Zauberberg«.

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Liebesadressaten, Vorwürfe, die von jenem Treulosen fort und auf das Ich verschoben werden.34 Erschütternden Ausdruck verleiht Nietzsche dem Sichsuchen der Seele, das zu zerstörerischem sich selbst Verlieren wird, im Dithyrambus: Zwischen Raubvögeln. Die noch lebende Seele sieht sich hier schon von Jägern auf ihrem Kadaver umlauert. Innere wie äußere Realität, das ›Ganze‹ des Seins, wird vom zerbrochenen Spiegel Ich dysteleologisch und als ängstigender Abgrund wahrgenommen. Das Werde du selbst! ›Zarathustras‹, mit dem Nietzsche sich identifiziert, nimmt einen selbstmörderischen Verlauf. »Jüngst noch Jäger Gottes«, nun »von dir selber erjagt«! Im »Jüngst ... nun« liegt eine unheim­ liche Ambivalenz zwischen ursprünglich intendiertem Gottesmord und realer Selbstverwundung. Streng in der Selbstprüfung35 ist die Suche des Sicherkennens, die endet im »Selbstkenner«, der zum »Selbsthenker« wird. Dem früheren triumphalen Selbstverständnis wird Zarathustras Selbstzerreißung gegenübergestellt. Der Angriff des Raubvogels enthüllt symbolisch das tödlich Abgründige der ein­ sam verzweifelten Selbsteinkreisung, die suizidale Selbstzerfleischung des Wahrheitssuchers und Gottesmörders, der mit Gott in eins Gottes Bild, sich selbst als freie, sich erkennen wollende Person zu ›töten‹ bedroht ist: »Jetzt -/ von dir selber erjagt,/ deine eigene Beute,/ in dich selber eingebohrt ... / – Jetzt -/ einsam mit dir, / zwiesam im eignen Wis­ sen, / zwischen hundert Spiegeln / vor dir selber falsch, / zwischen hundert Erinnerungen/ ungewiß, / an jeder Wunde müd, / an jedem Froste kalt, / in eignen Stricken gewürgt, / … Was schlichst du dich ein/ in dich – in dich? .../ – Ein Kranker nun, / der an Schlangengift krank ist .../ dich selber angrabend, .../ ein Leichnam -, / von hundert Vgl. Sigmund Freud: Gesammelte Werke, chronologisch geordnet, Frankfurt a. M. 1999, Bd X, 428–446. 35 Nach Entlarven scheinheiligen »Tugend-Geheuls« ist die Aufforderung im Dithy­ rambus »Die Wüste wächst: weh dem, der Wüsten birgt ...«! hypermoralistisch: »Vergiss nicht, Mensch, den Wollust ausgeloht: / du – bist der Stein, die Wüste, bist der Tod« (KSA 6, 387). Das durch »Wollust« Sich-»ausgeloht«-Finden schließt für den Menschen das memento mori ein, nämlich ein sich Erkennen als caput mortuum in solcher Wüste: ich bin der Erste aller Sterbenden. – Zur Metaphorik der Wüste als Wachsen von Leere und Tod s. W. Groddeck: Friedrich Nietzsche – Die ›Dionysos-Dithyramben‹. Bedeutung und Entstehung von Nietzsches letztem Werk, Berlin/ New York 1991, Bd 2: 58ff, 87–90. Vgl. auch Erich Meuthen: Vom Zerreißen der Larve und des Herzens. Nietzsches Lieder der ›höheren Menschen‹ und die ›Dionysos-Dithyramben‹, in: Nietzsche-Studien Bd 20 (1991), 152–185. 34

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Lasten überthürmt, / von dir überlastet .../ ein Selbsterkenner! / der weise Zarathustra! /... Du suchtest die schwerste Last:/ da fandest du dich -, / du wirfst dich nicht ab von dir .../ Jetzt -/ zwischen zwei Nichtse/ eingekrümmt, / ein Fragezeichen, / ein müdes Räthsel« (KSA 6, 389–392).

Die Wahrheitsjagd wird zur stets sich erneuernden Selbstverwun­ dung, ohne dass das Ich sich jemals seiner selbst gewiss zu werden vermag: Jedes Selbstbild droht schon im Entstehen sich als Lüge zu erweisen. – Das nicht Loswerdenkönnen des Selbst inmitten des ›kalten Brandes‹ der Verzweiflung, die nicht vermag, was sie will, nämlich sich selbst für ewig auslöschen, entspricht Kierkegaards Exis­ tential-Analyse in der Krankheit zum Tode, deren außertheologischem Sinn Nietzsche hier beachtlich nahekommt. Die depressive Seite der Melancholie zeigt sich in Nietzsches Begriff des »passiven« Nihilismus, der nichts mehr glauben, hoffen, lieben, ja überhaupt noch wollen kann; während im »aktiven« Nihilis­ mus (der Kehrseite passiver Trauer) destruktive Energien sich Bahn brechen, eine vom verletzten Ich inszenierte Schreckenslogik, im Extremfall mörderische Impulse auch nach außen. Im Zarathustra spricht Nietzsche den ›häßlichsten‹ Menschen typologisch als den ›Mörder Gottes‹ an, der – so das erklärte Motiv seiner Tat – keinen Kronzeugen seiner Hässlichkeit, mithin seines maximalen Selbstun­ wertgefühles ertrug. Der ›hässlichste Mensch‹ verschiebt – gemäß Nietzsches Tiefenanalyse – auf Grund von ethischer Verzweiflung (über sein konkretes So-und-nicht-anders-Sein) seinen Selbsthass auf Gott, an dem er Rache übt. Im Dionysos-Dithyrambus Zwischen Raubvögeln zeigt sich in ›Zarathustras‹ Zwiesprache mit sich selbst die Einsicht in eine umgekehrte Peripetie und Verschiebung, von der zuerst beabsichtigten Fremdzerstörung hin zur Selbstdestruktion: »Jüngst Jäger noch Gottes«, jetzt aber von dir selbst erjagt, »Selbst­ kenner! Selbsthenker!« – so tituliert er sich in der Höllenfahrt seiner Selbsterkenntnis (KSA 6, 390). Im Wort des sich untergrabenden »Selbst-Henker[s]« klingt der von Nietzsche gebrandmarkte »Hen­ ker-Gott« an (KSA 6, 399), den er im Brennspiegel seiner Anti-Theo­ dizee – ohne schlüssige Beweisgründe – als grausam anklagt. Auch aus der negativen Sicht der Theodizeefrage folgt für Nietzsche die These vom ›Tod‹ Gottes: Fällt der ehemals geglaubte gerechte und gütige Gott durch Skepsis dahin, so erlischt seine Existenz.

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7. Leidenschaftliche Antitheodizee Die Theodizeefrage ist für Kant wegen der Erkenntnisrestriktion auf intellektueller Ebene unlösbar. So ist nicht verwunderlich, dass Nietzsche an ihr scheitern musste, wiewohl auf hohem Niveau. Durch Dezision ersetzt er Argumente, die im Versuch eines Zu-EndeDenkens sich in das von Leibniz als unvermeidlich charakterisierte Labyrinth göttlicher und menschlicher Freiheit verlieren. Etwas, das alles Denken und Fühlen von innen her untergräbt, scheint Prämisse zu sein für Nietzsches negative Beantwortung der Theodizeefrage, also die Entscheidung zuungunsten Gottes, derart, dass er entweder, angesichts schlimmer Übel, nicht existieren dürfe, oder, wenn er doch da wäre, kein Gott der Weisheit, Güte und Gerechtigkeit sein könne. In einer Aufzeichnung aus dem Jahre 1878 heißt es: Der Ursprung einer auf Betrug und Verstellung aufgebauten Welt könne »nicht in einem moralischen Wesen« zu suchen sein, sondern eher in einem »Künstler-Schöpfer«, der sich ein Schauspiel schuf; einem solchen Wesen aber gebühre »durchaus keine Verehrung im Sinne der christlichen (welche den Gott der Güte und Liebe aufstellt)« (KSA 8, 533). Die vage Idee von einem Gott »jenseits von gut und böse« notiert er 1882; christliche Tradition sprengend könnte ein solcher nur Ergebnis einer »Selbstzersetzung Gottes« sein (KSA 10, 105). Im späteren Vorwort zur Geburt der Tragödie fällt im Horizont ästhetischer Weltrechtfertigung, mit Anspielung auf Heraklit, das Wort vom einzig noch stimmig denkbaren Gott, dem »unmoralischen Künstler-Gott«, der, unbedenklich »im Bauen wie im Zerstören«, gleichsam sich selbst von der Not seiner Überfülle, »vom Leiden der in ihm gedrängten Gegensätze« erlöse (KSA 1, 17). Schon der Knabe notiert die kryptische Idee von einem in moralischer Hinsicht Übergegensätzlichen, dass »Gott nicht gut nicht böse« sei, sondern »erhaben über menschliche Begriffe« (BAW 1, 48). »Die Widerlegung Gottes, eigentlich ist nur der moralische Gott widerlegt«. Oder »Populär ausgedrückt: Gott ist widerlegt, aber der Teufel nicht« (KSA 11, 624f; vgl. JGB 37). In diesem markanten Eintrag von 1885 verdichtet sich die Gottesfrage zur Theodizeefrage. Nicht ›widerlegt‹ ist also der Gedanke Gottes in seiner außermoralischen oder transzendenten Göttlichkeit. Nicht Feuerbachs Projektionsver­ dacht ist zentral für Nietzsches Atheismus, sondern, – und wiederum zeigt sich hier die Verwobenheit von intellektuellem und existentiel­

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lem Atheismus, – die Nicht-Unterscheidbarkeit von Gott und Teufel. Die kryptische Notiz: »Wie der Teufel zu Gott wird.« (KSA 10, 27) – et vice versa – wird in Ecce Homo ironisch fortgesetzt als die Metamor­ phose eines so sehr gerühmten Gottes der Güte, der in seiner Schöp­ fung »Alles zu schön gemacht« hatte, in des Teufels ›Schlangen‹Gestalt (KSA 6, 351). Solche freigeistig gedachte Verwechselbarkeit von Deus absconditus und ›Teufel‹,36 – sie ist für Luther schwerste Glaubensanfechtung,37 – ist für Nietzsche permanente Denkaufgabe. Zum Leitmotiv: »Der Wille zur Wahrheit« fragt er die Agnostiker, als »die Verehrer des Unbekannten und Geheimnißvollen an sich«, – sonach nicht theologische Skeptiker, sondern die Vertreter einer negativen Theologie, – ob ihr verborgener Gott der Anbetung wert sei, denn »warum könnte das Unbekannte nicht der Teufel sein?« (KSA 12, 254) Schon der frühe Nietzsche erinnert an die biblische Sicht, der ›Teufel‹ sei »Regent«, ja »Gott« dieser Welt (Joh. 12, 31; 2Kor 4, 3f), in allen Mächten die eigentliche Macht; und es seien gerade die »wahrhaftigsten« Christen, die weltlichen Erfolg und historische Macht in Frage gestellt haben (KSA 1, 321). – Kant sieht die in der Natur anzutreffende Dysteleologie verdichtet im Erleiden des Todes (AA V 452). Nietzsche ist im 19. Jahrhundert zum Denker des Verlusts des Heiligen und Ewigen geworden, deren Bürge vormals Christentum und Platon waren. »Es gibt nichts Ewiges!« (KSA 10, 374) Resul­ tat seiner radikalen Freigeisterei ist, dass überall nichts sei, dessen Gehalt, – z.B. kraft göttlicher Kunst der Platonischen Dialektik – »als ewig und allgültig« erwiesen werden könne (M 544). Da in christ­ 36 Wolfgang Müller-Lauter (Über Werden und Wille zur Macht. Nietzsche-Interpreta­ tionen Bd I: Über Freiheit und Chaos, Berlin/ New York 1999, 264f) macht auf den merkwürdigen Umstand aufmerksam, daß ›der Teufel‹ bei Nietzsche ›herumgeistert‹ und auf Hintergründiges hindeute, – nämlich auf die wehe tuende Theodizeefrage. 37 Luther erklärt in De servo arbitrio, folge man dem Urteil menschlicher Vernunft über Gottes Leitung dieser Welt, so sei »man gezwungen … zu sagen, entweder daß kein Gott ist, oder, daß er ungerecht ist«. Ist »es nicht nach dem Urteil aller sehr ungerecht, daß die Bösen mit Glücksgütern gesegnet sind und die Guten schwer heimgesucht werden? … Hier sind auch die höchsten Geister darauf verfallen zu ver­ neinen, daß Gott sei … Die Propheten aber, welche geglaubt haben, daß Gott sei, sind … hinsichtlich der Ungerechtigkeit Gottes versucht worden«. Erst im »Licht des Evan­ geliums« ist die Frage lösbar, werden Gott und Teufel klar unterscheidbar (WA 18, 784f). Gott behüte uns »vor den hohen tentationibus … do man nicht weiß, ob Gott Teuffel oder der Teuffel Gott ist« (WA TR 5, 600). Thomas Reinhuber: Kämpfender Glaube. Studien zu Luthers Bekenntnis am Ende von De servo arbitrio, Berlin 2000, 58f; Paul Althaus: Die Theologie Martin Luthers, 7. Aufl. Gütersloh 1994, 144–150.

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lich-platonischer Tradition das die Welt transzendierende Höchste und Heiligste als Liebe, Tugend, Sittlichkeit und Recht weltliche Gegenwart gewinnt, ist Nietzsche zu Recht überzeugt, selbst »ein capitales Ereigniß in der Krisis der Werthurteile zu sein« (KSB 8, 259). Denn wenn dieses Heilige Göttliche ontologisch irreal leer, also unbegründbar ist, oder unglaubwürdig wird, verschwindet das Gute aus unsrer Menschenwelt. Seine Psychologie der Entlarvung eingebildeter Tugenden mündet ein in Zarathustras Umwertung des Askese-Ideals mit kardinalen Tugenden wie Mitleid, Demut und Keuschheit in eine Gloriole der Selbstsucht, Herrschsucht und Wol­ lust. Die antichristlich umgewerteten Werte bilden eine brüchige Basis, die fängt keinen Verzweifelten auf. Der sittlichen Ambivalenz des Welturhebers – wie Nietzsche sie ohne Scheu erörtert – entspricht die moralische Ambivalenz und darüber hinaus Verworfenheit des menschlichen Seelenabgrunds. Eine Welt des Irrtums geht unter, bezweifeln wir das nihilistische Dogma des 21. Jahrhunderts: »Nichts ist wahr, Alles ist erlaubt«!38 In ihm verschwunden ist die Weisheit des Skeptikers Sextus Empiricus, wonach der als wahr behauptete Satz, nichts sei wahr, sich selbst aufhebt, also starkem Zweifel unterliegt. Das genannte skeptizistische Motto galt vormals als kaum überbietbar ruchlos. Es taucht in Nietz­ sches Zarathustra als der Verzweiflungsausbruch einer verlorenen Seele auf39 und wird in Zur Genealogie der Moral erneut aufgegriffen. (Es durchtränkt das Lebensgefühl unserer Jetztzeit, meist ohne in seiner abschüssigen Ruchlosigkeit zum Bewusstsein gebracht zu werden.) Nietzsche durchleuchtet dieses maximal freigeistige Motto als einen praktizierten Nihilismus, der aus Entwurzelung und geist­ seelischer Leere des Menschen entspringt und in zerstörerische Taten einmünden kann. Er lässt ›Zarathustras‹ ›Schatten‹ eindrucksvoll seine Verzweiflung durch seine des Lebens müde fatale Ungeborgen­ heit erklären: „’Diess Suchen nach meinem Heim … frisst mich auf … Oh ewiges Überall, oh ewiges Nirgendwo, oh ewiges Umsonst’“ (KSA 4, 340f). In Jesus, dem Vollender aller auf Erden schnell erstorbenen Hoffnung fand der junge Nietzsche der Welträtsel Lösung, ja Erlösung von Todverfallenheitsnot, verlor ihn und suchte ihn allezeit. Will er Dieses Motto hat dem geheimbündischen mohammedanischen Mörderorden der Assassinen als Leitspruch gedient. Zu dessen Quelle vgl. Werner Stegmaier: Nietzsches ›Genealogie der Moral‹, Darmstadt 1994, 199. 39 Zarathustras »Schatten« spricht: „’Nichts ist wahr, Alles ist erlaubt’“ (KSA 4, 340), das in Zur Genealogie der Moral (GM III 24) wiederholt wird. 38

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keinen Satz als absolut gewiss stehen lassen, warum sollte er nicht auch jenen dogmatischen und verführerischen: »Es ist kein Gott!« bezweifeln dürfen?

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245 https://doi.org/10.5771/9783495994764 .

Edith Düsing

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Peter Nickl

Glaube, Verzweiflung, Geist bei Nietzsche und Kierkegaard

I. Einleitung: Nietzsche und Kierkegaard als Vertreter einer »scientia affectiva« Nietzsche genießt eine Sonderstellung unter den Philosophen der Neuzeit. In einem Schaubild, in dem die Verknüpfung zwischen Philosophen dargestellt wird (im Netz zu finden unter »Graphing the history of philosophy«), sind als die größten Knoten zwei griechische und vier deutsche Denker hervorgehoben: Aristoteles und Platon, sowie Hegel, Kant, Nietzsche, Marx. Inwiefern kann Nietzsche mit Kant und Hegel konkurrieren? War er intelligenter? Nein. Das Phä­ nomen Nietzsche erschließt sich eher, wenn man sich erinnert, dass sich die großen scholastischen Theologen, bevor sie ihre Summen schrieben, fragten, wodurch sich ihre Wissenschaft, die Theologie, am besten kennzeichnen ließe.1 Drei Antworten wurden prinzipiell erwogen: Theologie ist eine »scientia speculativa«, sie vervollkomm­ net unser Erkennen. Das ist z.B. die Position von Thomas von Aquin. Eine andere Antwort lautet: Theologie ist eine »scientia practica«, sie vervollkommnet unser Handeln. Das ist z.B. die Meinung des Franziskaners Duns Scotus. Und dann gibt es noch eine dritte Alter­ native, und diesen Begriff muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: Theologie ist eine »scientia affectiva«. Was soll das sein? Ist das nicht eine contradictio in adiecto? Scholastische Theologen, die diese Position vertreten haben (etwa Albertus Magnus oder Bonaventura), argumentieren so: Wissen allein bringt uns Gott nicht näher. Nur wer Gott liebt, kann ihn erkennen, und die Liebe wird auch ein Vgl. dazu vom Verf.: »Philosophie als ›scientia affectiva‹? Ein mittelalterlicher Begriff und seine Spuren in der Neuzeit«, in: Perspektiven der Philosophie. Neues Jahrbuch, 31 (2005), S. 47–70.

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entsprechendes Verhalten hervorbringen. Weil die Liebe Spekulation und Praxis integriert, ist die scientia affectiva die vollkommenste Form der Wissenschaft.2 Waren im Mittelalter die beiden komplementären Kräfte, die den menschlichen Geist konstituierten, als »intellectus« und »affec­ tus« bestimmt, so sind es bei Nietzsche das Apollinische und das Dionysische. Es ist nicht zu übersehen, dass die Philosophie der Neuzeit – ausgehend von Descartes’ »cogito« (von Nietzsche ver­ spottet als »cogital«), über Kants »Kritik der reinen Vernunft«, zu Husserls »Philosophie als strenge Wissenschaft« bis zur analytischen Philosophie – in eine Schieflage zu Lasten des affectus geraten ist. Nietzsche möchte diese Schieflage korrigieren – und versucht, die Philosophie als »scientia affectiva« wieder in ihr Recht einzusetzen, als eine Disziplin, die sich an die Gefühle des Menschen wendet. Bei näherem Hinsehen ist er damit nicht allein, auch Pascal und Rousseau, Jacobi und Scheler, Buber und Levinas gehören hierher, oder Bergson und Heidegger. Und Kierkegaard? Ja, auch er. »Die Gegenwart ist wesentlich ver­ ständig, reflektierend, leidenschaftslos«3, konstatiert er, und: »Was unsere Zeit nötig hat, ist Leidenschaft ... Das Unglück der Zeit sind Verstand und Reflexion.«4 – Oder: »Dergestalt ist die Gegenwart wesentlich verständig, sie ist vielleicht im Durchschnitt so wissend wie keine Generation zuvor es gewesen ist, aber sie ist ohne Leiden­ schaft.«5»Das Mittelalter hat eine gewisse Ähnlichkeit mit Griechen­ land, und zwar hatte es, was die Griechen hatten, Leidenschaft.«6

II. »Gott ist todt!« »Von allen großen Geistesanlagen Nietzsches gibt es keine, die tiefer und unerbittlicher mit seinem geistigen Gesammtorganismus ver­ 2 So Ulrich von Straßburg in: De summo bono, liber 1, tract. 2, cap. 4, hrsg. von B. Mojsisch, Hamburg 1989, S. 37. 3 Kierkegaard: Eine literarische Anzeige (1846), Gütersloh 1983, S. 72 (Hervorh. im Orig.). 4 Kierkegaard: Die Tagebücher, übers. von Hayo Gerdes, 5 Bde., Düsseldorf/Köln 1962 ff., hier 2. Bd., a.a.O., S. 97 (= Pap. VIII A 92). 5 Kierkegaard: Eine literarische Anzeige (wie FN 3), S. 111. 6 Kierkegaard: Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den philosophi­ schen Brocken, 2. Bd., 3. Aufl. Gütersloh 1994, S. 108.

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bunden gewesen wäre, als sein religiöses Genie.«7 Was Lou AndreasSalomé 1894 festgestellt hat, dürfte immer noch gelten. Im § 125 der »Fröhlichen Wissenschaft« – einem der meistkommentierten Texte der Philosophiegeschichte – versucht Nietzsche zu ergründen, was die Nachricht vom Tod Gottes bedeutet. Ein Wirbel von an die dreißig Fragen deutet an, dass mit dem Tod Gottes nicht »alles klar« ist, son­ dern vielmehr ein großer Klärungsbedarf entsteht. »Der tolle Mensch. — Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittage eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: ›Ich suche Gott! Ich suche Gott!‹ — Da dort gerade Viele von Denen zusammen standen, welche nicht an Gott glaubten, so erregte er ein grosses Gelächter. Ist er denn verloren gegangen? sagte der Eine. Hat er sich verlaufen wie ein Kind? sagte der Andere. Oder hält er sich versteckt? Fürchtet er sich vor uns? Ist er zu Schiff gegangen? ausgewandert? — so schrieen und lachten sie durcheinander. Der tolle Mensch sprang mitten unter sie und durchbohrte sie mit seinen Blicken. ›Wohin ist Gott? rief er, ich will es euch sagen! Wir haben ihn getödtet, — ihr und ich! Wir Alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir diess gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was thaten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Giebt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? Müssen nicht Laternen am Vormittage angezündet werden? Hören wir noch Nichts von dem Lärm der Todtengräber, welche Gott begraben? Riechen wir noch Nichts von der göttlichen Verwesung? — auch Götter verwesen! Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getödtet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besass, es ist unter unseren Messern verblutet, — wer wischt diess Blut von uns ab? Mit welchem Wasser könnten wir uns reinigen? Welche Sühnfeiern, welche heiligen Spiele werden wir erfinden müssen? Ist nicht die Grösse dieser That zu gross für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen? Es gab nie eine grössere That, — und wer nur immer

7 Lou Andreas-Salomé: Friedrich Nietzsche in seinen Werken (1894), Taching am See 2019, S. 44.

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nach uns geboren wird, gehört um dieser That willen in eine höhere Geschichte, als alle Geschichte bisher war!‹«8

Nietzsche verkündet keineswegs triumphal, dass wir Gott nun endlich losgeworden seien, und er präsentiert weder sich selbst, noch sein Sprachrohr, den »tollen Menschen«, in prima persona als Gottesmör­ der – diese Tat ist eine kollektive, sie kann weder mit einem konkreten Täter, noch mit einem Ort oder einer Zeit in Verbindung gebracht werden. Es ist ihr eigentümlich, dass den Beteiligten das Bewusstsein fehlt, sie begangen zu haben – und erst recht haben sie keine Ahnung davon, was sie bedeutet. »Diese That ist ihnen immer noch ferner, als die fernsten Gestirne, – und doch haben sie dieselbe gethan!«9 Nietzsche aber formuliert in der letzten der Fragen, die der tolle Mensch kaskadenartig auf die Umstehenden einprasseln lässt, die entscheidende Einsicht: »Müssen wir nicht selber zu Göttern wer­ den ...?« Nietzsche ist nicht der ruchlose Gottesmörder, wie er uns viel­ leicht im Religionsunterricht präsentiert wurde. Er hat nur eine schärfere Wahrnehmung dessen, was seit Jahrhunderten im Gang ist und kaum bemerkt und noch weniger in seiner Konsequenz verstanden wird.

III. Gott ist schon länger tot Seit wann ist der Tod Gottes zu beobachten? Ich greife nur drei Stationen heraus. 1.

Schon 1517 hat Luther die Disputationsthese aufgestellt: »Der Mensch kann nicht aus natürlichen Kräften wollen, dass Gott Gott sei, vielmehr möchte er, dass er selbst Gott ist und Gott nicht Gott ist«.10 Das nimmt den Ausspruch Zarathustras vorweg:11 »wenn es Götter gäbe, wie hielte ich’s aus, kein Gott zu sein!«

Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, III, § 125; KSA 3, S. 480 f. Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, III, § 125; KSA 3, S. 481 f. (im Orig. gesp.). 10 Luther: »Disputatio contra scholasticam theologiam«, These 17, in: WA 1, S. 224– 228, hier S. 225; dt. zit. in: Gisela Kittel: »Die Wiederentdeckung des Evangeliums: Martin Luther«, in dies./Eberhard Mechels (Hg.): Kirche der Reformation? Erfah­ rungen mit dem Reformprozess und die Notwendigkeit der Umkehr, Göttingen 2016, S. 16–44, hier S. 18, FN 3. 11 Zarathustra, II, »Auf den glückseligen Inseln«; KSA 4, S. 110 (Hervorh. im Orig.). 8

9

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2.

3.

In einem Grundbuch der neuzeitlichen Philosophie, dem Werk über die Methode von Descartes, das alle Studierenden der Philosophie einmal in der Hand gehabt haben, und aus dem uns allen zumindest die berühmte Formel »ich denke, also bin ich«, sowie das Versprechen, dass wir bei Befolgung der Methode zu »Herren und Eigentümern der Natur« werden können, in Erinne­ rung sind – in diesem Werk, das den Brand des methodischen Zweifels durch einen Gottesbeweis löscht, kommt etwas vor, das die meisten Leserinnen und Leser verdrängen und das man, so denke ich, als praktischen Atheismus bezeichnen könnte: Ich meine den fünften Teil der kleinen Schrift, wo auf ca. 10 (von insgesamt 60) Seiten der Blutkreislauf der Tiere erläutert wird. Der Autor lässt keinen Zweifel daran, dass er zur Erhärtung seiner Erkenntnisse Tiere bei lebendigem Leib aufgeschnitten hat.12 Descartes konnte das vermeintlich guten Gewissens tun, weil ja die Tiere, als nicht denkende Wesen, für ihn als seelen­ lose Automaten galten, deren Schmerzbekundungen analog zum Quietschen einer schlecht geölten Maschine zu deuten waren. Liegt in einer so gewaltsamen Umwertung der Schöpfung nicht eine (zumindest partielle) Leugnung Gottes? Wir brauchen hier nicht auf Descartes mit dem Finger zu zeigen: Unser Umgang mit der Schöpfung weist ebenfalls darauf hin, dass wir sie längst schon nicht mehr als Werk eines Gottes ansehen, sondern als ein Zufallsprodukt der Evolution, über das wir nach Gutdünken verfügen können. Besonders aufschlussreich für das Verständnis Nietzsches ist aber sein Verhältnis zu David Friedrich Strauß, dem Begrün­ der der Leben-Jesu-Forschung, in dem Nietzsche eigentlich einen Verbündeten hätte sehen können. Immerhin hatte Strauß wesentliche Aussagen der Evangelien ins Reich der Mythen verwiesen, und wenn er in seinem 1872 erschienenen Spätwerk »Der alte und der neue Glaube«13 die Frage »Sind wir noch Chris­

12 Einleitend dazu heißt es: »Damit das Verständnis des folgenden nun weniger Schwierigkeiten macht, wünschte ich, daß in der Anatomie nicht Bewanderte sich die Mühe machten, ehe sie dies lesen, das Herz eines großen durch Lungen atmenden Tieres vor ihren Augen aufschneiden zu lassen ...« Descartes: Von der Methode (1637), Hamburg 1960/1978, S. 38. 13 David Friedrich Strauß: Der alte und der neue Glaube. Ein Bekenntniß, Leip­ zig 1872.

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ten?«14 unerschrocken mit »wir sind keine Christen mehr15« beantwortet, so könnte man meinen, hier müsse Nietzsche doch einen Bruder im Glauben, bzw. im Unglauben, gefunden haben. Stattdessen reagiert Nietzsche mit seiner ersten »Unzeitgemä­ ßen Betrachtung«, die kein gutes Haar an Strauß lässt. Strauß gehört offensichtlich zu denen, die zwar am Obsoletwerden Got­ tes kräftig mitgearbeitet, aber nicht begriffen haben, dass damit die conditio humana eine andere geworden ist. Gott abzuschaffen und dann ins Konzert zu gehen und ein behäbiges Bildungsphi­ listerleben zu führen, im Vertrauen auf den wirtschaftlichen Aufschwung des 2. Kaiserreiches und im wonnigen Besitz der im verflossenen Jahrhundert angehäuften Fülle genießenswerter Kultur – das geht nicht, das ist nicht auf der Höhe der Zeit. Mit dem eingängigen Titel »Der alte und der neue Glaube« (in kür­ zester Zeit 6 Auflagen) hat Strauß eigentlich Etikettenschwindel betrieben, denn was an die Stelle des alten Glaubens treten soll, verdient diesen Namen nicht. Nietzsche findet bei Strauß nicht eine Spur der Verzweiflung, die doch der ungeheuren Überforderung durch das »Müssen wir nicht selber zu Göttern werden ...?« angemessen wäre.

IV. Gott ist Atheist Was wäre Nietzsches neuer Glaube? Man wird ihn vielleicht im »Zarathustra«, im Glauben an den Übermenschen suchen. Aber die Logik des Gottesmords gestattet eine solche Lösung nicht. Und hier, so scheint mir, liegt der tiefste Grund von Nietzsches Verzweiflung. Nietzsche hat, so weit ich sehe, den Widerspruch nicht klar formuliert, darum aber um so deutlicher gespürt: Wenn die Stelle Gottes vakant wird und der Mensch berufen ist, sie einzunehmen, dann muss er die Größe haben, auf allen Glauben zu verzichten. Denn woran sollte man als Gott glauben? Gott ist die einzige Person, die es sich leisten kann, nicht zu glauben – pointiert gesagt: Gott ist Atheist, und nur er kann diese Position ohne Selbstpreisgabe (und ohne Verzweiflung) durchhalten. 14 15

A.a.O., S. 13. A.a.O., S. 90.

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V. Religiöse (Nietzsche) und anthropologische (Kierkegaard) Verzweiflung Bringen wir an dieser Stelle Kierkegaards Analysen der Verzweiflung ins Spiel. Die Schrift »Die Krankheit zum Tode«, 1849 erschienen, ist zum ersten Mal 1881 von Albert Bärthold ins Deutsche übertragen worden. (Also im selben Jahr, in dem Nietzsche seine Aufzeichnungen zur »Fröhlichen Wissenschaft« begann.) Bärthold war sich im Klaren darüber, dass Kierkegaards Verwendung des Begriffs »Verzweiflung« Unbehagen auslösen kann und hat als Alternative den Begriff »Selbst­ verlorenheit« erwogen.16 Andererseits hat Bärthold die ersten Seiten des Textes über­ sprungen, zu abstrakt und den Leser vor den Kopf stoßend erschienen sie ihm. Jedenfalls wird aus Kierkegaards Bestimmung des Menschen sofort ersichtlich, dass es sich hier um ein höchst gefährdetes, vom Scheitern bedrohtes Wesen handelt:17»Der Mensch ist Geist. Doch was ist Geist? Geist ist das Selbst. Doch was ist das Selbst? ... Der Mensch ist eine Synthese aus Unendlichkeit und Endlichkeit, aus dem Zeitlichen und dem Ewigen, aus Freiheit und Notwendigkeit, kurz: eine Synthese.« Im Gegensatz zu Nietzsche legt Kierkegaard seine Analyse der Verzweiflung nicht religiös an (als Folge des Verlusts Gottes), sondern anthropologisch (als Folge des Verlusts des Selbst). Auch Kierke­ gaard hätte auf eine lange Reihe von »Gottesmördern« zurückgreifen können – z.B. auf das »Leben Jesu« von Strauß, das »Wesen des Christentums« von Feuerbach oder auf die damals in Dänemark tonangebende Philosophie Hegels, der die Religion in den Begriff überführt und nichts mehr für den Glauben (höchstens bei der unge­ bildeten Menge) übrig gelassen hatte. Und mehr noch: Kierkegaard hat mit einer Stoßrichtung, von der Nietzsche sich ferngehalten hat, einen praktischen Atheismus im Innersten der dänischen Staatskirche angeprangert – die Pastoren, das sind für ihn Leute, die erst einmal Verhandlungen über ihr Gehalt führen, bevor sie sich an den Altar Albert Bärthold, Vorwort zu Sören Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode, Halle 1881, S. V. – Bärthold hebt hier in einer frappierenden Parallele zu Nietzsche hervor, dass in Kierkegaard »nicht der Professor ..., sondern der Confessor« spricht (a.a.O., S. IV). 17 Søren Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode, übers. von Gisela Perlet, Stuttgart (Reclam) 1997, S. 13. 16

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stellen und larmoyant predigen über das schöne Evangelium »Siehe, wir haben alles verlassen und sind dir nachgefolgt«18! Insofern könnte man sagen, Kierkegaards Überlegungen zum Tod Gottes setzen noch fundamentaler an als diejenigen Nietzsches: Nicht nur außerhalb der Kirche, sondern in der Kirche selbst ist Gott verloren gegangen. Und doch ist von Kierkegaard aus eine Wiederge­ winnung des Göttlichen leichter als von Nietzsche aus. Und um die Pointe gleich vorwegzunehmen: Der Gott Kierkegaards ist Bestandteil der Anthropologie, er gehört zur Konstitution des Menschen. Ja, »Die Krankheit zum Tode« liefert einen neuen, indirekten Gottesbeweis, indem sie zeigt, dass der Mensch nicht zu seinem Gleichgewicht findet, wenn es ihm nicht gelingt, den Ewigkeits-Anteil seines Selbst zu verwirklichen. Allerdings, und das ist das Faszinierende und psy­ chologisch Überzeugende an Kierkegaards Schrift: Hier wird nicht das Ewige gegen das Zeitliche, nicht das Unendliche gegen das Endliche ausgespielt. Beide »Komponenten« müssen korrespondieren, Kierke­ gaard verwendet hierfür die abstrakte Formulierung: »Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält.«19

VI. Verzweiflungsformen in der »Krankheit zum Tode« Konkreter wird es, wenn wir uns einige Formen von Verzweiflung aus der »Krankheit zum Tode« genauer ansehen. 1.

Da gibt es die »Verzweiflung der Endlichkeit« – sie ist »das Fehlen von Unendlichkeit« (S. 36). »Das Fehlen von Unendlichkeit ist verzweifelte Begrenztheit, Borniertheit. ... Die weltliche Betrachtung klammert sich stets an die Differenz zwischen Mensch und Mensch« (das wäre z.B. der neidvolle Blick auf den Nachbarn, der vom Schicksal verwöhnt wird) – sie »weiß nichts von jener Beschränktheit und Borniertheit, die darin besteht, sich selbst verloren zu haben, nicht durch Verflüchtigung im Unendlichen, sondern indem man sich vollkommen verendlicht, so dass man, anstatt ein Selbst zu sein, eine Zahl geworden ist, ein Mensch

Søren Kierkegaard: »Erst das Reich Gottes.« Eine Art Novelle, in: Der Augenblick, Nr. 7 vom 30. August 1855, in: Der Augenblick, Nördlingen 1988, S. 160. 19 Søren Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode (wie FN 17), S. 13. – Die Seitenanga­ ben im Text beziehen sich im Folgenden auf diese Ausgabe. 18

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mehr, eine Wiederholung mehr von diesem ewigen Einerlei.« (S. 36, das letzte Wort im Orig. dt.)

Weiter: »Die verzweifelte Borniertheit besteht darin, dass einem Ursprünglich­ keit fehlt oder dass man sich seiner Ursprünglichkeit beraubt, dass man sich, geistig verstanden, selbst entmannt hat. Jeder Mensch ist nämlich ursprünglich als ein Selbst angelegt, dazu bestimmt, er selbst zu werden; und gewiss hat jedes Selbst als solches Ecken, woraus jedoch lediglich folgt, dass es zurechtzuschleifen, nicht, dass es abzuschleifen ist, nicht, dass es aus Menschenfurcht ganz und gar aufgeben soll, es selbst zu sein, oder gar nur aus Menschenfurcht nicht wagte, es selbst in seiner wesentlicheren Zufälligkeit zu sein (welche gerade nicht abgeschliffen werden soll), in der man doch man selbst für sich selber ist.« (Ebd.)

Kierkegaard sieht bereits das Massenzeitalter heraufziehen (die Schrift wurde 1848 verfasst), was hat sich seitdem nicht exponentiell in dieser Richtung verändert! Hellseherisch warnt er davor, der Mensch sei auf bestem Wege, eine »Nummer« bzw. eine »Zahl« zu werden: »Wenn ein solcher Mensch um sich die Menschenmenge sieht, wenn er sich eifrig mit allerhand weltlichen Angelegenheiten tummelt, wenn er begreift, wie es zugeht in der Welt, vergisst er sich selbst, wie er, göttlich verstanden heißt, getraut er sich nicht, an sich selber zu glau­ ben, findet er es zu gewagt, er selbst zu sein, und viel leichter und sicherer, den anderen zu gleichen, eine Nachäffung, eine Nummer zu werden, gehörend zur Menge.« (S. 37)20

Es ist in etwa das Stadium des »letzten Menschen«, das wir aus dem »Zarathustra« kennen, bzw. die Existenzform von Heideggers »Man«. Martin Buber hat in »Ich und Du« von den »antlitzlosen Nummern«21 gesprochen, denen die staatliche Fürsorge gelte. Könnte man nicht auch die letzten Menschen – »›wir haben das Glück erfunden‹ – sagen die letzten Menschen und blinzeln«22 – als verzweifelt bezeichnen, auch wenn sie nichts davon wissen?

In der Übersetzung von Liselotte Richter: »eine Zahl in der Masse« (Die Krankheit zum Tode, 2. Aufl. Hamburg 1995, S. 32). 21 Martin Buber: Ich und Du (1923), Stuttgart 1995/2001, S. 24. 22 Zarathustra, Vorrede; KSA 4, S. 20.

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Die Alternative wäre: »an sich selber zu glauben«, allerdings wird dieser Glaube nicht durch die Gesellschaft vermittelt, er ist ihr eher verdächtig. Woher also die Stärke nehmen, mit der das Selbst es wagen kann, »es selbst in seiner wesentlicheren Zufälligkeit zu sein«? Kommt sie von außen oder von innen? Kierkegaard würde wohl sagen: sie kommt aus dem Unendlichen, bzw. dem Ewigen in uns. 2.

Mit der Verzweiflung des Determinismus – Kierkegaard nennt sie »Verzweiflung der Notwendigkeit« – verhält es sich so: »Der Determinist, der Fatalist ist verzweifelt und hat als Verzweifelter, da alles für ihn Notwendigkeit ist, sein Selbst verloren. ... Die Persön­ lichkeit ist eine Synthese von Möglichkeit und Notwendigkeit. Daher gleicht ihr Bestehen der Atmung (der Respiration), die ein Ein- und Ausatmen ist. Das Selbst des Deterministen kann nicht atmen, denn es ist unmöglich, einzig und allein das Notwendige zu atmen, welches das Selbst des Menschen schlechthin erstickt. – Der Fatalist ist ver­ zweifelt, hat Gott und also sein Selbst verloren; denn wer keinen Gott hat, der hat auch kein Selbst. Und der Fatalist hat keinen Gott, oder, was dasselbe ist, sein Gott ist Notwendigkeit; denn Gott ist, so wie bei ihm alles möglich ist, dass alles möglich ist. Daher ist die Gottesver­ ehrung des Fatalisten höchstens eine Interjektion, und wesentlich ist sie Stummheit, stumme Unterwerfung, er kann nicht beten. Beten ist auch atmen, und die Möglichkeit ist für das Selbst, was der Sauerstoff für die Atmung ist. Doch wie ein Mensch nicht ausschließlich Sauer­ stoff oder Stickstoff atmen kann, ebenso wenig kann Möglichkeit oder Notwendigkeit allein die Atmung des Gebets bedingen. Um zu beten, muss man einen Gott, ein Selbst – und eine Möglichkeit haben, oder ein Selbst und eine Möglichkeit im prägnanten Sinn, denn Gott ist, dass alles möglich ist, oder dass alles möglich ist, ist Gott; und nur der, des­ sen Wesen so erschüttert wurde, dass er, verstehend, dass alles möglich sei, Geist wurde, nur der hat sich mit Gott eingelassen. Dass Gottes Wille das Mögliche ist, dies bewirkt, dass ich beten kann; wenn Gott nur das Notwendige wäre, dann wäre der Mensch wesentlich genauso sprachlos wie das Tier.« (S. 44 f.)

Offenbar geht Kierkegaard von einem anderen Gottesbild aus als Nietzsche: Gott erscheint für Kierkegaard als Garant von Möglichkeit, von Freiheit – bei Nietzsche als ihr Konkurrent. » ›Ist es wahr, dass der liebe Gott überall zugegen ist?‹ fragte ein kleines Mädchen seine

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Mutter: ›aber ich finde das unanständig‹«, heißt es in der Vorrede zur zweiten Ausgabe der »Fröhlichen Wissenschaft«23.

VII. Gottesmord ist Selbstmord Von Kierkegaard können wir lernen: Der Mensch, der Gott töten möchte, tötet etwas in sich selbst. Wir können unseren Anteil am Göttlichen, salopp gesagt, unser Ewigkeits-, unser UnendlichkeitsGen nicht ausschalten. Gottesmord ist Selbstmord, oder, mit Kier­ kegaards Begriffen: der Versuch, dem Göttlichen in uns, das sich im Selbst zeigt (bzw. zeigen möchte), auszuweichen, führt notwen­ dig in die Verzweiflung. Das einzige Mittel, um der Verzweiflung nicht anheimzufallen, ist der Glaube: »Doch der Gegensatz zum Verzweifeltsein ist Glauben«, sagt Kierkegaard und erinnert an die von ihm aufgestellte »Formel ..., die einen Zustand beschreibt, in dem sich nicht das Geringste von Verzweiflung findet, und dasselbe ist auch die Formel für den Glauben: Indem es sich zu sich selbst verhält und indem es es selbst sein will, gründet das Selbst durchsichtig in jener Macht, die es setzte« (S. 55, vgl. S. 15 und S. 93).

Im Unterschied zu Nietzsche verfügt Kierkegaard neben dem im Alten und Neuen Testament geoffenbarten noch über einen philosophischen Gottesbegriff, der hier aber nicht aus dem »consensus gentium« (fast alle Völker aller Zeiten waren religiös) übernommen, sondern anthro­ pologisch rekonstruiert ist. Die beiden Formen der bewussten Ver­ zweiflung, nämlich »verzweifelt nicht man selbst sein wollen« (S. 56) und »verzweifelt man selbst sein ... wollen« (S. 77) sind ja psycholo­ gisch aufweisbar, und sie zeigen einen dem Menschen immanenten Gottesbezug auf. Kierkegaard hat ein meisterliches Psychogramm des Menschen geliefert, bei dem die »Metamorphose, in der das Bewusst­ sein des Ewigen im Selbst durchbricht, so dass der Kampf beginnen könnte, der entweder die Verzweiflung zu einer noch höheren Form potenziert oder zum Glauben führt« (S. 68), unmittelbar bevorsteht. Aber werfen wir zuvor noch einen Blick auf den, der sich der Reflexion entzieht und sich vollkommen in der Unmittelbarkeit (d.h. 23 Die fröhliche Wissenschaft, Vorrede zur zweiten Ausgabe, § 4; KSA 3, S. 352; noch einmal zitiert in: Nietzsche contra Wagner, KSA 6, S. 439.

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im »Man«) einrichtet: hier wird zwar von Verzweiflung gesprochen, aber uneigentlich, denn auf dieser Existenzstufe ist das Selbst noch gar nicht in den Blick gekommen, alles spielt sich »im Umkreis der Zeitlichkeit und Weltlichkeit« (S. 58) ab. »Seine Dialektik ist: das Angenehme und das Unangenehme; seine Begriffe: Glück, Unglück, Schicksal.« Schicksal wird hier verstanden als das, was von außen über einen kommt und entsprechend äußerlich auch wieder in Ordnung gebracht werden kann – z.B. ein Wasserschaden oder eine Krankheit. Aber der Durchbruch zum Selbst bleibt aus. Kierkegaard beschreibt den Menschen in dieser Phase so: »Gleichzeitig ist er Christ in der Christenheit, geht jeden Sonntag in die Kirche, hört und versteht den Pfarrer, ja sie verstehen sich beide; er stirbt, der Pfarrer führt ihn für zehn Reichstaler in die Ewigkeit ein – doch ein Selbst war er nicht, ein Selbst wurde er nicht.« (S. 59 f.)

Nun kommt, wie angekündigt, ein Fortschritt zu einer qualifizierteren Form der Verzweiflung: »Der Verzweifelnde versteht selbst, dass es Schwäche ist, sich das Irdische so zu Herzen zu nehmen, dass es Schwäche ist, zu verzweifeln.« (S. 70) Es wird ihm bewusst, »dass er am Ewigen verzweifelt, über sich selbst verzweifelt, dass er so schwach sein konnte, dem Irdischen eine so große Bedeutung beizumessen« (ebd.). Wo findet man einen solchen Menschen? Gewiss ist er nicht an seinem Outfit zu erkennen, er ist »gekleidet wie andere ... in der üblichen Oberbekleidung« (S. 72). Kierkegaard gibt folgendes Por­ trait: »Er ist studiert, Mann, Vater, sogar ein ungewöhnlich tüchtiger Beam­ ter, ... angenehm im Umgang, überaus mild gegen seine Frau, die Für­ sorglichkeit in Person gegen seine Kinder. Und Christ? – nun ja, das ist er auch soso, doch vermeidet er am liebsten, davon zu sprechen, obgleich er es gern und mit einer gewissen wehmütigen Freude sieht, dass seine Frau sich zur Erbauung mit dem Göttlichen beschäftigt. In die Kirche geht er sehr selten, denn es kommt ihm so vor, als wüssten die meisten Pfarrer eigentlich nicht, wovon sie reden. ... Dagegen ver­ spürt er nicht selten ein Bedürfnis nach Einsamkeit, die ihm eine Lebensnotwendigkeit ist, manchmal wie das Atmen, zu anderen Zeiten wie das Schlafen. Dass er diese Lebensnotwendigkeit stärker empfindet als die meisten Leute, ist auch ein Zeichen dafür, dass seine Natur tiefer ist.« (S. 73)

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Glaube, Verzweiflung, Geist bei Nietzsche und Kierkegaard

Kierkegaard liefert hier zugleich ein Portrait der Verschlossenheit – wird sie durchgehalten, dann »wird ... die Gefahr des Selbstmords am nächsten liegen.« (S. 75) Was also die Gefährdung des Selbst betrifft, so ist sie bei Kierke­ gaard nicht weniger konkret als bei Nietzsche – allerdings mit einem großen Unterschied: der Selbstmord, mit dem der Gottesmord Hand in Hand geht, führt hier nicht dazu, dass der Mensch selber an die Stelle Gottes tritt. Dies wäre eine weitere Stufe der Entselbstung, wie sie der wahnsinnig gewordene Nietzsche am eigenen Leib erfah­ ren hat.

VIII. Gegen die Verzweiflung: Geist im Leib Zur Verzweiflung gehört Geist – daher ist die »Möglichkeit einer sol­ chen Krankheit ... der Vorzug des Menschen vor dem Tier« (Kierke­ gaard, a.a.O., S. 15). Wie steht Nietzsche dazu? »Leib bin ich ganz und gar«, »[d]er Leib ist eine große Vernunft« – diese Botschaft Zarathu­ stras könnte als Antidot gegen die stets drohende Verzweiflung gedeutet werden. Der Leib verzweifelt nicht. Wohl aber der Mensch, der für Kierkegaard zwar Geist bzw. Selbst, gerade darin aber als »Synthese aus Unendlichkeit und Endlichkeit« (a.a.O., S. 13) konsti­ tuiert ist. Aber sehen wir uns die Perikope »Von den Verächtern des Leibes« genauer an:24 »›Leib bin ich und Seele‹ — so redet das Kind. Und warum sollte man nicht wie die Kinder reden? Aber der Erwachte, der Wissende sagt: Leib bin ich ganz und gar, und Nichts ausserdem; und Seele ist nur ein Wort für ein Etwas am Leibe. Der Leib ist eine grosse Vernunft, eine Vielheit mit Einem Sinne, ein Krieg und ein Frieden, eine Heerde und ein Hirt. Werkzeug deines Leibes ist auch deine kleine Vernunft, mein Bruder, die du ›Geist‹ nennst, ein kleines Werk- und Spielzeug deiner gros­ sen Vernunft. ›Ich‹ sagst du und bist stolz auf diess Wort. Aber das Grössere ist, woran 24 Also sprach Zarathustra, I; KSA 4, S. 39. – Vgl. Helmut Heit: »Nietzsche und die große Vernunft des Leibes«, in: Peter Nickl, Assunta Verrone (Hg.): Wie viel Vernunft braucht der Mensch? Texte zum 3. Festival der Philosophie, Münster / Berlin 2015, S. 63–77.

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du nicht glauben willst, — dein Leib und seine grosse Vernunft: die sagt nicht Ich, aber thut Ich.«

Mit traumwandlerischer Sicherheit polt Nietzsche die Begriffe um, die ein Verzweiflungspotential beinhalten: Eigentlich ist nach dem Tod Gottes Glaube nicht mehr möglich, aber jetzt ist Gegenstand des Glaubens der Leib und seine große Vernunft. Eigentlich lauert die Verzweiflung in der konstitutiven Gefährdetheit des Geistes, bzw. des Selbst, die das labile Gleichgewicht im Verhältnis von Unendlichem und Endlichem, Zeitlichem und Ewigem, Freiheit und Notwendigkeit (vgl. Kierkegaard, a.a.O., S. 14) nicht garantieren können, aber jetzt ist Geist »ein kleines Werk- und Spielzeug des Leibes«.25 Vernunft und Geist werden »heruntergeholt«, herabgestuft – und dass der Leib verzweifelt, ist nicht zu befürchten.

IX. Transzendenz bei Nietzsche: Liebe Wenn es bei Nietzsche keinen Glauben mehr gibt – bzw. nur den Glauben an den Leib – was für eine Form von Transzendenz bleibt dann noch? Eine Schwundform des Glaubens im traditionellen Sinn kennt auch Nietzsche und zeigt damit, dass er in der Lage ist, »die Geschichte der nächsten zwei Jahrhunderte« zu erzählen.26 So wie wir heute trotz besserer Überzeugung amerikanisches Fracking- oder russisches Erdgas importieren, so nehmen »auch wir Erkennenden von heute, wir Gottlosen und Antimetaphysiker, auch unser Feuer noch von dem Brande, den ein Jahrtausende alter Glaube entzündet hat, jener Christen-Glaube, der auch der Glaube Plato’s war, dass Gott die Wahrheit ist, dass die Wahrheit göttlich ist ...«, wie es im fünften Buch der »Fröhlichen Wissenschaft« heißt.27 Ungebrochen ist bis 25 Hierzu passt die Depotenzierung des Geistes in einem Brief an Lou vom 24.11.1882: »Geist? Was ist mir Geist! Was ist mir Erkenntniß! Ich schätze nichts als ANTRIEBE – und möchte darauf schwören, daß wir darin etwas Gemeinsames haben«, zit. in: Art. »Lou-Erlebnis«, in: Nietzsche-Lexikon, hg. von Christian Nie­ meyer, 2. Aufl. Darmstadt 2011, S. 222. 26 Nachlaß 1887–1889, KSA 13, S. 189. Es geht um »die Heraufkunft des Nihilismus« (ebd.). 27 Die Fröhliche Wissenschaft, V, 344; KSA 4, S. 577; Zur Genealogie der Moral, III, 24; KSA 5, S. 400 f.

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Glaube, Verzweiflung, Geist bei Nietzsche und Kierkegaard

jetzt der »Glaube an die Wissenschaft«, und es ist vielleicht eine der epochemachendsten Einsichten Nietzsches, dass es auch mit diesem Glauben zu Ende gehen könnte. Die Wissenschaft setzt voraus, dass »die Affekte kühl geworden«28 sind, und sie zeugt ihrerseits von einer affektiven Verstimmtheit (um nicht zu sagen: Verzweiflung), sie ist »ein Versteck für alle Art Missmuth, Unglauben, Nagewurm ..., schlechtes Gewissen, – sie ist ... das Leiden am Mangel der gros­ sen Liebe«29. Der Glaube an die Wissenschaft ist die letzte Form von Trans­ zendenz, die der Moderne geblieben ist. Doch die Tage auch dieses Glaubens sind gezählt. Was bleibt? Hier wäre an Nietzsche als den Philosophen der Liebe zu erinnern. An die Stelle der vertikalen Trans­ zendenz im Glauben tritt die horizontale Transzendenz der Liebe. Ein besonders beeindruckendes Zeugnis hierfür ist das »Nacht­ lied« Zarathustras, das Nietzsche in »Ecce homo« noch einmal in voller Länge zitiert:30 »Nacht ist es: nun erst erwachen alle Lieder der Liebenden. Und auch meine Seele ist das Lied eines Liebenden. Ein Ungestilltes, Unstillbares ist in mir; das will laut werden. Eine Begierde nach Liebe ist in mir, die redet selber die Sprache der Liebe.«

Und am Schluss wiederholt sich der Anfang: »Nacht ist es: nun reden lauter alle springenden Brunnen. Und auch meine Seele ist ein springender Brunnen. Nacht ist es: nun erst erwachen alle Lieder der Liebenden. Und auch meine Seele ist das Lied eines Liebenden. —«

Nietzsche ist ein Praktiker der schenkenden Tugend. Wenn er in »Jenseits von Gut und Böse« vom »Genie des Herzens« spricht, so verstattet er uns Einblick in die Seele eines Liebenden:31 »— das Genie des Herzens, das alles Laute und Selbstgefällige verstum­ men macht und horchen lehrt, das die rauhen Seelen glättet und ihnen ein neues Verlangen zu kosten giebt, — still zu liegen wie ein Spiegel, dass sich der tiefe Himmel auf ihnen spiegele —; [...] das Genie des Herzens, von dessen Berührung Jeder reicher fortgeht, nicht begnadet und überrascht, nicht wie von fremdem Gute beglückt und bedrückt, 28 29 30 31

Zur Genealogie der Moral, III, 25; KSA 5, S. 403. Zur Genealogie der Moral, III, 23; KSA 5, S. 397 (Hervor. Im Orig.). Zarathustra, II; KSA 4, S. 136, 138; Ecce homo, KSA 6, S. 345–347. Jenseits von Gut und Böse, IX, 295; KSA 5, S. 237.

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sondern reicher an sich selber, sich neuer als zuvor, aufgebrochen, von einem Thauwinde angeweht und ausgehorcht, unsicherer vielleicht, zärtlicher zerbrechlicher zerbrochener, aber voll Hoffnungen, die noch keinen Namen haben, voll neuen Willens und Strömens, voll neuen Unwillens und Zurückströmens..... aber was thue ich, meine Freunde? Von wem rede ich zu euch? Vergass ich mich soweit, dass ich euch nicht einmal seinen Namen nannte?«

Ja, von wem ist die Rede? Dieser »fragwürdige Geist und Gott« ist »kein Geringerer ... als der Gott Dionysos«, dem Nietzsche seine ersten Werke gewidmet hat und als dessen letzten Jünger und Ein­ geweihten er sich bezeichnet.32 Mit dem Bekenntnis zu Dionysos scheint Nietzsche dem Atheismus des »tollen Menschen« noch einmal eine neue Wendung zu geben, er garniert es mit der selbstironischen Bemerkung:33 »denn ihr glaubt heute ungern, wie man mir verrathen hat, an Gott und Götter.«

X. Schluss Es fehlt nicht an Versuchen, aus Nietzsche doch noch einen Gläubigen zu machen, ihn sozusagen in die Gemeinde zurückzuholen. Da sind die »Auferstehungstexte«34 aus dem Nachlass, in denen eine Wie­ derkehr Gottes erwogen wird, oder das Wieder-fromm-werden des Geisteskranken, der mit seiner Mutter den Gottesdienst besucht.35 War das der eigentliche Nietzsche? Edith Düsing wird wohl mit ihrer

Ebd., S. 238. Ebd. 34 Vgl. Alois Maria Haas: Nietzsche zwischen Dionysos und Christus. Einblicke in einen Lebenskampf, hgb. von Hildegard Elisabeth Keller, Wald 2003, S. 64 f., Anhang: »Friedrich Nietzsches ›Auferstehungstexte‹«. Nur ein Beispiel: »— Und wie viele neue Götter sind noch möglich! ... Mir selber, in dem der religiöse, das heisst gottbildende Instinkt mitunter wieder lebendig werden will: wie anders, wie verschieden hat sich mir jedes Mal das Göttliche offenbart! ... Ist es nöthig, auszuführen, daß ein Gott sich jeder Zeit jenseits alles Vernünftigen und Biedermännischen zu halten weiß? jenseits auch, anbei gesagt, von Gut und Böse? ... Nochmals gesagt: wie viele neue Götter sind noch möglich! — Zarathustra selbst freilich ist bloß ein alter Atheist.« Nachgelassene Fragmente, Mai—Juni 1888; KSA 13, S. 525 f. 35 Ludger Lütkehaus: Die Heimholung. Nietzsches Jahre im Wahn. Eine Erzählung, Basel 2011, S. 71. 32

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Glaube, Verzweiflung, Geist bei Nietzsche und Kierkegaard

behutsamen Einschätzung recht haben, wenn sie schreibt:36 »Die in kindhaftem Bewusstsein von Nietzsche nach seinem Zusammen­ bruch erlittene Rückkehr zum Glauben der Väter dürfte eine jahrelang verdrängte Sehnsucht bezeugen.« Die Faszination, die von Nietzsche ausgeht, verdankt sich auch dem Umstand, dass er zu den Philosophen gehört, die für ihr Den­ ken mit ihrem Leben bezahlt haben – die sich völlig verausgabt haben, so dass Leben und Werk eine unauflösliche Einheit bilden. Nietzsches letzte Geste, in der er sich einmal mehr als Liebender zeigt: er umarmt ein Pferd, auf das der Kutscher unbarmherzig eingeschlagen hatte.37 Damit hat er den praktischen Atheismus, den wir beim vivisezierenden Descartes konstatiert haben, rückgängig gemacht. Kurz danach versinkt er in geistiger Umnachtung. Seine »Wahnsinnszettel« unterschreibt er wahlweise mit »Dionysos« oder »Der Gekreuzigte«, sein Freund Jacob Burckhardt erhält die Nachricht »Lieber Herr Professor, / zuletzt wäre ich sehr viel lieber Basler Professor als Gott«38. Hier zeigt sich die unerbittliche Konsequenz, dass die Mörder Gottes »selber zu Göttern werden«, das heißt aber auch: verzweifeln, wenn nicht gar dem Wahnsinn verfallen müssen. Hören wir noch einmal Kierkegaard, der ebenfalls seine Erfah­ rungen mit der Verzweiflung hatte, dem aber hierfür ein Adressat zur Verfügung stand. In einem Gebet, das er 1850 in seinem Tagebuch notiert, schreibt er:39 »Wie viele Male wurde ich doch ungeduldig, wollte verzagen, wollte alles aufgeben, wollte den fürchterlich leich­

Edith Düsing: »Gottestod – Nihilismus – Melancholie. Nietzsches Denkweg als Diagnose und Therapie des Nihilismus«, in: Carlo Gentili, Cathrin Nielsen (Hg.): Der Tod Gottes und die Wissenschaft, Berlin/New York 2010, S. 31–65, hier S. 65. 37 Walter Nigg hat auf die erstaunliche Parallele hingewiesen zu dem Traum Raskol­ nikows, der als Kind mit ansehen muss, wie ein Pferd tot geprügelt wird. »Der arme Knabe ist außer sich. Schreiend drängt er durch die Menschen zu dem Pferd hin, umarmt dessen totes, bluttriefendes Maul und küßt es, küßt es auf die Augen, auf die Nüstern ...« Dostojewskij: Schuld und Sühne, München 1960, S. 78. Vgl. Walter Nigg: Friedrich Nietzsche, Zürich 1994, S. 198. — Vgl. die Nachlassaufzeichnung aus dem Frühjahr 1888, 15 [6–10]: »Jesus: Dostoiewsky. Ich kenne nur Einen Psychologen, der in der Welt gelebt hat, wo das Christenthum möglich ist, wo ein Christus jeden Augenblick entstehen kann ... Das ist Dostoiewsky. Er hat Christus errathen ...« KSA 13, S. 409 (Hervorh. im Orig.) 38 Am Sa, 5. Januar 1889, in: Friedrich Nietzsche. Chronik in Bildern und Texten, München (dtv) 2000, S. 731. 39 Gebet, in: Kierkegaard: Journal NB15, übersetzt von Gerhard Schreiber; DSKE, Bd. 7, S. 14, Nr. 15, Berlin 2018. 36

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ten Ausweg nehmen, den der Verzweiflung; aber Du verlorst nicht die Geduld.« Der Vergleich mit Kierkegaard sollte Nietzsche nicht widerlegen. Denn wie Lou Andreas-Salomé gesagt hat:40 »... der Werth seiner Gedanken liegt nicht in ihrer theoretischen Originalität, nicht in dem, was dialektisch begründet oder widerlegt werden kann, sondern durchaus in der intimen Gewalt, mit welcher hier eine Persönlichkeit zur Persönlichkeit redet, – in dem, was nach seinem eigenen Ausdruck wohl zu widerlegen, aber doch nicht ›todtzu­ machen‹ ist.«

Literaturverzeichnis Andreas-Salomé, Lou: Friedrich Nietzsche in seinen Werken, Taching am See 2019. Bärthold, Albert: Vorwort zu Sören Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode, Halle 1881. Buber, Martin: Ich und Du, Stuttgart 1995/2001. Descartes, René: Von der Methode, Hamburg 1960/1978. Düsing, Edith: Gottestod – Nihilismus – Melancholie. Nietzsches Denkweg als Diagnose und Therapie des Nihilismus, in C. Gentili, C. Nielsen (Hg.), Der Tod Gottes und die Wissenschaft, Berlin/New York 2010. Haas, Alois Maria: Nietzsche zwischen Dionysos und Christus. Einblicke in einen Lebenskampf, hg. von E. Keller, Wald 2003. Heit, Helmut: Nietzsche und die große Vernunft des Leibes, in: P. Nickl, A. Verrone (Hg.), Wie viel Vernunft braucht der Mensch? Texte zum 3. Festival der Philosophie, Münster/Berlin 2015, 63–77. Kierkegaard, Søren: Eine literarische Anzeige, Gütersloh 1983. Kierkegaard, Søren: Die Tagebücher, Düsseldorf/Köln 1962 ff. Kierkegaard, Søren: Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den philo­ sophischen Brocken, 3. Aufl. Gütersloh 1994. Kierkegaard, Søren: Die Krankheit zum Tode, Stuttgart 1997. Kierkegaard, Søren: Der Augenblick, Nördlingen 1988. Lütkehaus, Ludger: Die Heimholung. Nietzsches Jahre im Wahn. Eine Erzählung, Basel 2011. Luther, Martin: Disputatio contra scholasticam theologiam, in: Weimarer Aus­ gabe, Bd. 1, 224–228.

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Lou Andreas-Salomé (wie FN 7), S. 17.

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Glaube, Verzweiflung, Geist bei Nietzsche und Kierkegaard

Nickl, Peter: Philosophie als »scientia affectiva«? Ein mittelalterlicher Begriff und seine Spuren in der Neuzeit, in: Perspektiven der Philosophie. Neues Jahrbuch 31 (2005), 47–70. Nigg, Walter: Friedrich Nietzsche, Zürich 1994. Niemeyer, Christian (Hg.): Nietzsch-Lexikon, 2. Aufl. Darmstadt 2011. Nietzsche, Friedrich: Die fröhliche Wissenschaft, in: Kritische Studienausgabe, Bd. 3. Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra, in: Kritische Studienausgabe, Bd. 4. Nietzsche, Friedrich: Jenseits von Gut und Böse, in: Kritische Studienausgabe, Bd. 5. Nietzsche, Friedrich: Zur Genealogie der Moral, in: Kritische Studienausgabe, Bd. 5. Nietzsche, Friedrich: Nietzsche contra Wagner, in: Kritische Studienausgabe, Bd. 6. Nietzsche, Friedrich: Ecce homo, in: Kritische Studienausgabe, Bd. 6. Nietzsche, Friedrich: Nachlaß 1887–1889, in: Kritische Studienausgabe, Bd. 13. Strauß, David Friedrich: Der alte und der neue Glaube. Ein Bekenntniß, Leip­ zig 1872. Ulrich von Straßburg: De summo bono, hg. von B. Mojsisch, Hamburg 1989.

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Um Abgründe wissen Der neuzeitliche Zweifel und Nietzsches Verständnis von Verzweiflung

»›Kein Pfad mehr! Abgrund rings und Totenstille!‹ – So wolltest dus! Vom Pfade wich dein Wille! Nun, Wanderer, gilts! Nun blicke kalt und klar! Verloren bist du, glaubst du – an Gefahr.« Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft

Es sind nicht die Begriffe, es sind die Nerven. Die Geburt der Phi­ losophie findet immer wieder aus dem Geist der Tragödien und Komödien statt, in die das Leben verstrickt ist. So ist Theorie keine neutrale Angelegenheit. Sie entdeckt eine Art von Schauspiel, bei dem die Welt, die Geschichte und das Leben in einen Dialog treten können. Transzendierte Nervosität wird zu einer dramatischen Refle­ xion. Gedanken sind Überwindungen. Philosophie ist eine gelungene Flucht aus dem Abgrund der Verzweiflung. Friedrich Nietzsche hat diesen Begriff der Philosophie inaugu­ riert und ihn als eine »Kunst der Transfiguration« beschrieben. Phi­ losophie erfasst er als eine Art errungene, dem Schmerz abgerun­ gene Gesundheit: »Ein Philosoph, der den Gang durch viele Gesundheiten gemacht hat und immer wieder macht, ist auch durch ebenso viele Philosophien hindurchgegangen: er kann eben nicht anders, als seinen Zustand jedesmal in die geistigste Form und Ferne umsetzen – diese Kunst der Transfiguration ist eben Philosophie.«1

Das Denken entsteht so aus einer Verzweiflung, die es in einer dramatischen Epoché in Begriffe und abstrakte Themen transfiguriert

1

Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, S. 12.

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und so eine »künstlerische[] Ferne«2 gewinnt. Im Folgenden werde ich versuchen, Nietzsches Philosophie der Verzweiflungstransfiguration genauer zu bestimmen. Die Bestimmung erfolgt dabei nicht in einer intensivierten, werkimmanenten Detaillektüre, sondern durch eine Kontextualisierung mit dem Skeptizismus der Neuzeit repräsentiert durch Descartes, Fichte und Hegel. Verzweiflung entsteht einerseits durch den Glauben an die Aus­ weglosigkeit einer Lage. Diese Ausweglosigkeit kann einen sozialen Charakter besitzen: etwa durch das Ende einer Beziehung, die Aus­ lieferung an eine Macht, die Ungerechtigkeit der Umstände, in die man hineingeboren wird. Verzweiflung kann aber auch existenziell entstehen: etwa durch die Einsicht in die Endlichkeit und Verletzlich­ keit alles Irdischen oder durch die Erfahrung der Absurdität des Lebens. Gegen diese soziale und existenzielle Ausweglosigkeit hat sich die Erfindungskraft des Humanen antidesperate Wirklichkeiten geschaffen. Verzweiflungen, die die Kraft zu dem Willen aufbringen, nicht mehr nur verzweifelt zu sein, erzeugen Verzweiflungskompen­ sationen. Wo Verzweiflung aber ist, wächst das Rettende auch. Sowohl metaphysische Narrative – Etwa: Deine Seele lebt ewig. Vor Gott wird alles gerecht. – als auch säkulare Forschungsergebnisse – Etwa: Länger leben durch gute Diäten. Gerechteres Rechtswesen durch Grundrechte. – lassen sich so gesehen als kollegiale Kräfte begreifen, die gemeinsam in einer ausdifferenzierten Kultur die Arbeit der Nicht­ verzweiflung bewerkstelligen. Kultur ist, wenn man diese verwegene These zulassen möchte – ich werde später darauf zurückkommen –, insgesamt als ein existenzielles Versicherungswesen gegen Verzweif­ lung zu begreifen. Verzweiflung entsteht damit aber nicht nur aus dem Glauben an die irreversible Umzingelung durch eine soziale oder existenzielle Situation. Sie entsteht auch aus dem Verfall des Glaubens an die eta­ blierten antidemoralisierenden Kräfte einer Kultur. Der Ernstfall von Verzweiflung tritt dann ein, wenn das selbstverständliche Vertrauen, der explizite Glaube und die ausharrende Hoffnung an eine gute Veränderung einer Lage durch die dazu fähigen Mächte kollabieren. Damit öffnet sich der Abgrund der Verzweiflung. Für die Einordung von Nietzsches Verständnis von Verzweiflung ist es wichtig, den qualitativen Unterschied herauszustellen, der zwischen der klassischen und der neuzeitlichen abgründigen Ver­ 2

Ebd., S. 112.

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Um Abgründe wissen

zweiflung liegt. Der Abgrund des Geistes öffnet sich der klassischen Verzweiflung durch den Unglauben an den Glauben, dass die Götter einem beiseite stehen: Auch wenn Gott nicht tot ist, so scheint es doch, dass man selbst für ihn gestorben ist. Das Paradigma der Verzweiflung wird metaphysisch verstanden. Der Abgrund der Verzweiflung für den neuzeitlichen Geist entsteht, indem dieser an seiner Kompetenz zu zweifeln beginnt, Wahrheit zu erkennen: Auch wenn es das Denken gibt, so scheint es doch keine hinreichende Teilnahme am Wahren zu bedeuten. Das Paradigma der Verzweiflung ist nunmehr philoso­ phisch. Nietzsches Philosophie, so wird zu zeigen sein, versucht die Ver­ zweiflung des metaphysischen und des philosophischen Abgrundes zu denken und denkend zu transfigurieren. Zentral dafür ist dann nicht ein Gott und auch nicht das Denken, sondern das Leben. Auch wenn Gott und das Denken tot sind, so bleibt doch immer noch die Aufgabe, das Leben denkend zu vitalisieren.

1 Klassische Verzweiflung: Strafe und Verlassenheit Der Abgrund der Verzweiflung vor der Neuzeit ist metaphysisch aufgeladen durch den schwankenden Glauben an die Gunst einer primordialen Hierarchie. Verzweiflung ist eine Verzweiflung über die gestörte Beziehung zu den ontologisch höher gewerteten Zonen des Göttlichen. In der antiken Tradition wird ein derartiges Beziehungs­ problem prototypisch durch das Bild einer Folter versinnbildlicht. Bekannt sind etwa Sisyphos und Tantalus, oder auch Prometheus, der an einen Felsen angeschmiedet die christliche Tradition der Kreuzi­ gung Jesus Christus ikonographisch antizipiert. Mit dem Christentum kommt es zu einer Intimisierung der Gottesbeziehung und damit zu einer Ausdifferenzierung der Verzweiflung. Einerseits wird damit die Kluft von Diesseits und Jenseits als Sünde individualisiert und in der dunklen Theologie von Augustinus als Erbsünde in die Natur des Menschen kulturell eintätowiert. Andererseits gewinnt die Zone des Seelischen durch diese Intimisierung eine erstaunliche Ausdruckkraft, wobei insbesondere die Gefühlsbeziehung von Verzweiflung und Sehnsucht eine bedeutende Rolle spielt. Zentral dafür ist die Akzent­ verlagerung des metaphysischen Beziehungsproblems. Weniger der die Hybris der Kreatur mit einer gerechten und heilsamen Verzweif­ lung belegende bestrafende Gott, als der abwesende allmächtige

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Gott sorgt für Verzweiflung. Nicht die Strafe Gottes, sondern die Ferne zu Gott ist es, die nun verzweifeln lässt. Verzweiflung wird so zu einer verzweifelten Sehnsucht nach der absoluten Liebe. Die klassische Stelle dafür ist im Matthäus-Evangelium überliefert. Jesus am Kreuz, laut schreiend: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlas­ sen?« (Mth. 27,46) In der Neuzeit gibt es einen Paradigmenwechsel im Verständnis der Verzweiflung. Dieser Wechsel ließe sich so ausdrücken, dass nicht mehr der Glaube an den Beistand einer objektiven Intelligenz erschüt­ tert ist, sondern der Glaube an die eigene subjektive Intelligenz. Dabei kommt es immer wieder zu einem backflash des antiken Konzeptes von Verzweiflung. Metaphysische Dramatiken reaktualisieren sich blind in säkularen Formen. Prominent ist die Konversion einiger Frühromantiker in die Arme der katholischen Kirche und somit ein Rückfall von selbstironischer Ironie hin zu der Erhabenheit einer ernsten, entschiedenen Dogmatik. Am eindrücklichsten geistert das Gespenst vorneuzeitlicher Verzweiflung als Verlassenheit jedoch in der Philosophie des Existenzialismus umher. Bei Camus wird Sisy­ phos zum Emblem eines absurden Lebensgefühls, dessen Kern in der Spannung einer Sehnsucht nach Sinn angesichts des »Schweigens der Welt«3 besteht. Explizit wird die Beziehung von Camus‘ Denken zu der antiken Verzweiflung in dem Zitat: »Das Absurde ist die Sünde ohne Gott.«4 Auch Heidegger greift in dem reformatorischen Expres­ sionismus seiner Frühphilosophie und in der säkularen Frömmigkeit seiner mönchischen Spätphilosophie auf topologische Gesten und Konzepte des metaphysischen Weltalters zurück. Am deutlichsten in der Großinterpretation seiner Zeit als einer Epoche der »Seinsverlas­ senheit«.5

2 Descartes Verzweiflung des Zweifels In der Neuzeit ändert sich die Form der Verzweiflung. Neuzeitliche Verzweiflung manifestiert sich in einem umfassenden Zweifel am subjektiven Erkennen. Sie ist epistemisch und nicht mehr ontologisch motiviert. Verzweiflung und Erkenntniszweifel gehören so zusam­ 3 4 5

Camus, Der Mythos des Sisyphos, S. 41. Ebd., S. 56. Heidegger, Wegmarken, S. 339.

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Um Abgründe wissen

men. Die Dynamik der Neuzeit als philosophische Infragestellung von allem Erkennen beginnt mit Descartes. Bei ihm wird die Frage nach dem Sein zu der Frage nach dem Wissenkönnen. So führt die Frage nach der Erkenntnisfähigkeit des Subjektes zu der Frage, inwie­ fern das davon explizit gewordene Selbstbewusstsein des Bewusst­ seins zu einer Antwort beitragen kann. Wissen wird die Frage nach einem Wissen um das Wissen.6 Dabei fällt dem Selbstbewusstsein auf, dass es in seiner Frage nach einem festen Grund an kein Ende kommt. Descartes ließ als erster explizit die Frage zu, ob die Welt, wie sie uns erscheint, nicht bloß eine Sinnestäuschung sei oder ein Traum oder gar eine Illusion eines bösen Geistes. Das Ergebnis ist bekannt: Descartes findet in dem Selbstbe­ wusstsein selbst wieder einen Halt. An allem kann gezweifelt werden, aber letztlich nicht am selbstbewussten Wissen um das Zweifeln an allem. Der Fall in den Abgrund wird aufgehalten durch das denkende Ich, das sich als Denken denkt. Descartes schreibt 1641: »Das Denken ist’s, es allein kann von mir nicht getrennt werden. Ich bin, ich existiere, das ist gewiß. Wie lange aber? Nun, solange ich denke. Denn vielleicht könnte es sogar geschehen, dass ich, wenn ich ganz aufhörte zu denken, alsbald auch aufhörte zu sein.«7

Descartes abgründiger Zweifel, der alles ins Virtuelle taucht, bleibt selbst aber virtuell. Es ist ein Gedankenexperiment, dass als eine pro­ duktive Übertreibung dient, die zu einer Sicherheit der Evidenz more geometrico führen soll. Das Ausmalen einer möglichen Unmöglichkeit von Wissen der Wirklichkeit nutzt Descartes, um die Stelle in all dem Zweifeln zu finden, die eine Sicherheit gibt: das sich selbstbewusste Denken als Vorstellen. Stabilisiert wird diese Vorstellung von der Sicherheit des Selbst­ vorstellens von einem Glauben an einen guten Gott, der dafür sorgt, dass sich das Vorstellen von der Realität mit der Realität verbinden lässt. Die epistemische Verzweiflung Descartes‘ wird wieder eingebet­ tet in Gott.8 Der Glaube an das Denken wird wieder erneuert durch den Glauben an den guten Gott. Damit kehrt Descartes Denken, das den Aufbruch in die Neuzeit bedeutet, wieder in die Tradition 6 Eine leicht überlesbare Kernstelle dafür ist etwa: Descartes, Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, S. 29 (15). 7 Ebd., S. 23. 8 Vgl. ebd., S. 72.

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der Scholastik zurück. Die Geister aber, die er rief, dachten seinen radikalen Zweifel weiter.

3 Fichtes Verzweiflung der Reflexion Die philosophische Verzweiflung entsteht bei Descartes aus der potenziellen Trennung des Geistes von der Welt. Der Abgrund des Geistes liegt somit zwischen Welt und Geist. Der zweite Abgrund, der hier vorgestellt werden soll, klafft im Geist selbst auf. Dies geschieht erstmalig in Fichtes Denken. Wurde bei Descartes die Objektivität virtualisiert, so wird bei Fichte auch die Subjektivität virtualisiert. Am eindrucksvollsten zeigt sich dieser radikalisierte neuzeitliche Zweifel in der Schrift »Die Bestimmung des Menschen« aus dem Jahr 1800. Hierbei wird in einer idealistischen Wendung zunächst der Zweifel von Descartes aufgelöst. Durch den Gedanken einer Bewusst­ seinsaktivität, die die Welt zu einer Welt macht, wird die Dualität von Geist und Welt vermieden. Die res cogitans wird extensiviert zur ontologischen Kraft: »Ich mache mich selbst: mein Sein durch mein Denken; mein Denken schlechthin durch das Denken.«9 Es gibt kein Bewusstsein der Dinge, es gibt nur ein Bewusstsein von einem Bewusstsein der Dinge und so kein unberührbares Außen und daher keinen Abstand dazu.10 Der Skeptizismus löst sich so auf in einen Animismus der Reflexion. Dann kommt es aber zu einer neuartigen gesteigerten Explika­ tion des Skeptizismus. Wenn die Welt Konstruktion ist, ist dann nicht auch das, was sie konstruiert Konstruktion? Warum braucht es ein Ich, das Welt konstruiert? Damit fällt bei Fichte die Sicherheit zusammen, die für Descartes der archimedische Punkt sein sollte. Genau an der Stelle des unerschütterlichen Fundamentes eines selbstbewussten Vorstellens öffnet sich in Fichtes Denken der Abgrund: »Ich kann sonach wohl sagen: Es wird gedacht – doch: kaum kann ich auch dies sagen – also, vorsichtiger, es erscheint der Gedanke: dass ich empfinde, Fichte, Die Bestimmung des Menschen, S. 29f. Vgl. ebd., S. 51f. Vgl. auch S. 65: »Ich bin ein lebendiges Sehen. Ich sehe – Bewusst­ sein – sehe mein Sehen – Bewusstes.« Fichte kommt hier auf die geniale Formulierung für den dynamischen Aggregatzustand dieses Verständnisses des Bewusstseins als ein »Herausschauen meiner selbst aus mir selbst«. 9

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anschaue, denke; keineswegs aber: Ich empfinde, schaue an, denke. Nur das erstere ist Faktum· das zweite ist hinzu erdichtet.«11 Der Zweifel an sich selbst als an etwas Festem, sorgt dafür, dass der Zweifel auch an der Teilnahme an dem selbstgemachten Sein zweifelt. Ich-Zweifel wird Ich-Verlust wird Seins-Zweifel. Dieses Zweifeln eskaliert zur Verzweiflung als Realitätsverlust. Betraf bei Descartes die Verzweiflung den Realitätsverlust der Welt, so greift die Verzweiflung bei Fichte auf das eigene Ich über. Das Zweifeln an der Realität wird nicht mehr die Grundlage für die Zweifello­ sigkeit des Zweiflers. Selbstbewusste Reflexion wird ein ständiges Transfigurieren von Reflexionen und gerät damit in die Gefahr einer Depersonalisierung der res cogitans: »Und denke ich denn auch wirklich oder denke ich nur zu denken? Und denke ich wirklich zu denken, oder denke ich etwa nur ein Denken des Denkens? Was kann die Spekulation verhindern, so zu fragen, und so fortzutragen ins Unendliche? Was kann ich ihr antworten, und wo ist ein Punkt, da ich ihren Fragen Stillestand gebieten könnte? – Ich weiß allerdings [...], dass man auf jede Bestimmung des Bewusstseins wie­ der reflektieren, und ein neues Bewusstsein des ersten Bewusstseins erzeugen könne, dass man dadurch das unmittelbare Bewusstsein stets um eine Stufe höher rückt, und das erste verdunkelt und zweifelhaft macht· und dass diese Leiter keine höchste Stufe hat.«12

Philosophische Verzweiflung bei Fichte ist somit der Zustand einer Depersonalisierung eines Ich-Zentrums. Dabei geschieht diese Ent­ wirklichung durch das Denken. Als ein Sturz in eine ständige Trans­ figuration von Reflexionen rutscht Denken in einen Abgrund aus Gedanken. Ohne Halt an der Welt und ohne Halt in sich kollabiert die von Descartes neu eroberte Substanzialität einer res cogitans. Hermann Schmitz hat in Fichtes Konzept von Selbstbewusstsein daher eine »Wasserscheide des menschlichen Selbstverständnisses gesehen«13. In ihr, so schreibt er, »öffnet sich sozusagen der Abgrund der Entfremdung nach oben, als unendliche Treppe der Reflexion«14. Allerdings wird diese Art der philosophischen Verzweiflung bei Fichte, analog zu Descartes, auch wieder entwertet. In Fichtes Gedanken kommt es zu einem Sprung aus dem Denken in den 11 12 13 14

Ebd., S. 80f. Ebd., S. 88f. Schmitz, Die entfremdete Subjektivität, S. 13. Ebd.

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Glauben. Denken rettet sich vor sich selbst, indem es sich erneut dem Glauben überlässt und somit vermeintlich sicheren Boden unter den Füssen gewinnt. Ein »Wille zum Glauben« (William James) als ein »freiwilliges Beruhen bei der sich uns natürlich darbietenden Ansicht«15 und die Entfaltung dieses dezisionistischen Glaubens zu den gängigen Dogmatiken bewahrt den Menschen vor dem Fall in ein unendliches reflexives Bestimmen von Bestimmungen von Bestim­ mungen von Bestimmungen...16

4 Hegels Weg der Verzweiflung Die dritte Form der philosophischen Verzweiflung wird von Hegel konzipiert. Dabei werden Descartes und Fichte synthetisiert. Die Irrealisierung der Welt und die Irrealisierung des Subjekts werden verbunden und überwunden, indem sie im hegelschen Sinne auf­ gehoben werden. Hierbei werden diese Formen des Skeptizismus eingerückt in die zweite Natur einer Geschichte der Reflexion. In dieser geht es um »Gestalten des Bewusstseins«17 als bestimmte Paradigmen von Verständnissen von Wissen und ihre morphologi­ schen Veränderungen in einer Dynamik des Lernens, die Hegel als »Dialektik« begreift. Die Dialektik der Bewusstseinsgestalten entwickelt sich auf­ grund der immer auffälliger werdenden internen Beschränkungen der Wissenskonzeptionen, die eine Tendenz besitzen, mit sich selbst in Widerspruch zu geraten. So werden letztlich die internen Widersprü­ che der Bewusstseinsgestalten explizit reflektiert, so dass sie sich Fichte, Die Bestimmung des Menschen, S. 89. Allerdings ließe sich hier anmerken, dass Fichtes rettender philosophischer Glaube, analog zu seiner Konturierung des Selbstbewusstseins, strukturell kein reiner Glaube sein kann. Antireflexiver Glaube ist ein reflexiver Glaube an einen naiven Glauben. Das Bewusstsein des Glaubens ist ein Bewusstsein des Bewusstseins des Glaubens und somit keine Absorption des Subjekts. Das Selbstbewusstsein kann dem Subjekt keine Absolution von sich geben. Auch wenn Fichte wieder über den Graben springt, mit dem er sich von Welt und sich selbst getrennt hat: Sein Denken bleibt ein Springen. Es kann sein Springen nicht wegspringen, d.h. der Glauben hat die Struktur eines Wissens um das Nichtwissenwollens eines Wissens. Um sich seine Substanzialität zu beweisen, schwankt er zwischen autohypnostischer Trance mit Gleichgesinnten und dem Angriff auf Kritiker. 17 Vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 77ff. 15

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transfigurieren in eine neue, qualitativ andere Bewusstseinsgestalt, mit neuen typischen Widersprüchen. Insofern ist Hegel Begriff des Skeptizismus als eine Reflexion des Skeptizismus zu verstehen, der sich in der Formel von einem »sich vollbringende[n] Skeptizismus«18 beschreibt. Damit gibt es keinen reinen Zweifel mehr, sondern Zwei­ fel ist immer ein Bewusstsein von einem Bewusstsein des Zweifels als eine bestimmte Form des Zweifels. In diesem Fall: Hegel kann nicht in den neuzeitlichen Zweifel in der Weise von Descartes und Fichte verfallen, weil er um diese Formen des Zweifelns weiß. Er fällt so aus ihnen heraus. Hegel muss anders, reflexiver zweifeln. Wissen ist Exodus. Bei Hegel geschieht dies aber als ein Paradigmenwechsel. Der wissendere Skeptizismus gewinnt nunmehr eine derart neue Qualität, dass es zu einer Zäsur kommt. In Hegels Thematisierung des Skeptizismus geht es nicht mehr um die Unmöglichkeit von Wissen – sei es der Welt oder des Subjekts –, sondern vielmehr um die Bedingung der Möglichkeit von Wissen in einem nicht nur transzendentalen, statischen Sinn wie bei Kant. Der Zweifel wird dialektisch eingegliedert in den Prozessen des Erkennens als Selbsterkennen.19 Er vollbringt sich nicht als etwas, was stillgestellt werden soll, sondern er lebt weiter als Aspekt des sich bewusst werdenden Erkennens. Liegt bei Descartes der Abgrund zwischen Welt und Geist, klafft bei Fichte im reflektierenden Subjekt der Abgrund auf, so deutet Hegel den Abgrund des Zweifels als einen Phasenzustand auf dem Weg einer dialektischen Bewusstwerdung von Bewusstsein. Der Zweifel wird in das Subjekt als ein Teil seines Erkennens integriert. Dadurch werden die Irrealisierungen der Welt und des Subjekts von Descartes und Fichtes irrealisiert. Hegel spricht dabei von einem »Weg der Verzweiflung«20. Dieser wird beschritten von einem Erkennen, das immer wieder zu einem Wegbrechen von gewohnten Selbstverständ­ lichkeiten des Erkennens führt. Aus diesen Negationen entwickelt sich das Erkennen durch immer neue Formen der Verzweiflung weiter. Verzweiflung ist die emotionale Signatur eines Herausgerissenwer­ dens aus gewohnten Sinnwelten. Verzweiflung ist ein Taumel der Freiheit. Für Hegel ist das Leben somit der mehrfache psychische Tod eines auf immer wieder neue Weise beschränkten Erkennens, das Ebd., S. 69. Bei Kant ist der Skeptizismus unumgänglich, aber dieses Vorhandensein bleibt für ihn ein »Skandal der Philosophie«. Vgl. Kant, Die Kritik der reinen Vernunft, BXXXIX. 20 Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 69. 18

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immer wieder neu lernen muss zu verzweifeln. In der »Phänomeno­ logie des Geistes« heißt es dazu: »Was auf ein natürliches Leben beschränkt ist, vermag durch sich selbst nicht über sein unmittelbares Dasein hinauszugehen; aber es wird durch ein anderes darüber hinausgetrieben, und dies Hinausgeris­ senwerden ist sein Tod. Das Bewußtsein aber ist für sich selbst sein Begriff, dadurch unmittelbar das Hinausgehen über das Beschränkte, und, da ihm dies Beschränkte angehört, über sich selbst; [...]. Das Bewußtsein leidet also diese Gewalt, sich die beschränkte Befriedigung zu verderben, von ihm selbst.«21

Allerdings: Hegel schreibt zwar von einem Weg der Verzweiflung. Er geht ihn aber nicht. Hegels philosophische Eule gleitet über die Abgründe des Geistes und seine Verzweiflungen abstrakt reflektie­ rend hinweg. Er denkt, als habe er alles hinter sich. Hegels Zwei­ fel kennt keine Verzweiflung mehr. Das Bewusstsein des Zweifels als Aspekt der Selbsttransparenz wird so formal. Die Aufhebung des neuzeitlichen Skeptizismus neutralisiert sich in eine abstrakte Geschichtsphilosophie als dialektische Morphologie der Reflexion mit ihren Begriffen und ihren Verständnissen. Hegels Bewusstseins­ gestalten sind Begriffsskelette, die nicht verzweifeln können.22

5 Nietzsches Weg der Verzweiflung Hatte Hegel versucht den Skeptizismus zu vollbringen, indem er ihn in den selbsttransparenten Erkenntnisprozess integriert, so bleibt doch der Grad der Abstraktheit seiner philosophischen Explikationen so hoch, dass die Verzweiflung aus dem Blick gerät. Hegels Formalis­ mus immunisiert den Zweifel gegen die Verzweiflung. An dieser Stelle betritt Nietzsches Denken die Bühne der neu­ zeitlichen Verzweiflung. Nietzsche lässt sich so lesen, als vollziehe Ebd., S. 71. Diese abstrakte Stabilität wird deutlich in Hegels späteren Denken, das vermehrt konservative Züge zeigt. Der Skeptizismus des späten Hegels vollbringt sich als Selbstbewusstwerden des Geistes in dem Typus des Beamtenphilosophen Hegel. Her­ mann Schmitz merkt mit Blick auf Hegels Denklaufbahn daher geistreich an: »Hegels Ideal ist der zum Beamten gewordene Romantiker.« Schmitz, Die entfremdete Sub­ jektivität, S. 280. Im selbstbewussten Beamten ist die Geschichte des Geistes als ein Weg der Verzweiflung an ein Ende gekommen. 21

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er eine Erdung der Gedanken Hegels in einer physischen Medialität, insofern Denken nunmehr als etwas verstanden wird, was konstitutiv mit dem Leib verbunden ist.23 Wenn Hegels Dialektik den Begriff und die Verständnisse dominieren lässt, so beruht Nietzsches Denken auf der physiologischen Nervosität der Reflexion.24 Denken heißt jetzt: Die Arbeit des Begriffs ist immer auch eine Arbeit des Leibes. Das meint im Zusammenhang mit der Thematik des Skeptizismus, dass Nietzsche die Dimension der Verzweiflung in den Mittelpunkt rückt. Um diese Konkretisierung abstrakter zu fassen: Nietzsche vollbringt Hegels Vollbringung des Skeptizismus, indem er einen Wissensbegriff konzipiert, der stärker die Folgen für den Wissenden reflektiert. Nicht das historisch sich entfaltende Verständnis von einer Wissenskonzeption, sondern das Pathische dieser Konzeption für den Wissenden rückt in den Mittelpunkt. Aus der Gefahr einer haltlosen und zu engen Perspektive eines bloßen philosophischen Verzweifelns – so bei Descartes und Fichte – entsteht durch Hegels Reflexion der Verzweiflung die zweite Gefahr einer zu formalistischen, bloß systematisch präzisen Thematisierung. Genau gegen diese inhärente Tendenz der Philosophie, die die Phä­ nomene an den Rand drängt von denen sie redet, positioniert sich Nietzsches gesamtes Denken. Nietzsche geht den »Weg der Verzweif­ Eine frühe Stelle aus dem Werk markiert wie für Nietzsche Denken und Empfinden zusammengedacht werden müssen: »[S]o ist man jetzt, im Niedergange der Sprachen, der Sclave der Worte; unter diesem Zwange vermag Niemand mehr sich selbst zu zeigen, naiv zu sprechen, und Wenige überhaupt vermögen sich ihre Individualität zu wahren, im Kampfe mit einer Bildung, welche ihr Gelingen nicht damit zu beweisen glaubt, dass sie deutlichen Empfindungen und Bedürfnissen bildend entgegenkomme, sondern damit, dass sie das Individuum in das Netz der `deutlichen Begriffe´ einspinne und richtig denken lehre: als ob es irgend einen Werth hätte, Jemanden zu einem richtig denkenden und schliessenden Wesen zu machen, wenn es nicht gelungen ist, ihn vorher zu einem richtig empfindenen zu machen.« Unzeitgemässe Betrachtungen. Viertes Stück. Richard Wagner in Bayreuth, S. 388. – Aus der Perspektive von Nietz­ sche erscheint daher der Versuch einer Erdung der Philosophie Hegels in der Variante von Marx als Reduktion von Leiblichkeit auf bloße Arbeit. Damit wird nicht nur die Vielfalt leiblicher Erscheinungsweisen empfindlich verkürzt. Durch den Fetischcha­ rakter der Arbeit bei Marx kann Nietzsches Idee einer pluralen Durchlässigkeit der Reflexion für physische Impulse nicht gedacht werden. 24 Heidegger ergänzt Hegels Begriffe und Verständnisse dann um die Befindlichkei­ ten. Die Trias von Verstehen, Rede und Befindlichkeit konstituiert für Heidegger ein vollwertiges »In-der-Welt-sein«. Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, S. 134ff. Darin ließe sich eine formalistischere Version von Nietzsches Erdung des Denkens im Leib sehen und insofern eine Existenzialisierung des Somatischen, allerdings ohne eine explizite Thematisierung des Leibes. 23

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lung«, gegen den sich Hegels Denken unbewusst durch Philosophie immunisiert. Dabei lässt sich Nietzsches Philosophie so lesen, dass sie die Dialektik Hegels auf eine intelligente Art dramatisiert. Nietzsche hebt den Effekt der Immunisierung durch Philosophie in einem dialektischen Sinn in seinem Denken auf. So wird Hegels Formalismus nicht nur kritisch verneint, sondern, Hegels Bewegung der Reflexion folgend, abermals reflektiert und als generelle Tendenz der Philosophie begriffen. Der Grund dafür liegt in der von Nietz­ sches Philosophie eröffneten neuen Erlebnisdimension der philoso­ phischen Verzweiflung. Dabei geht es nicht mehr um Widersprüche, die aus bestimmten Wissensbeständen entstehen, sondern um den Grad an Unwissenheit, den bestimmte Wissensbestände freilegen. Anders als bei Hegel entfalten sich für Nietzsche aus Verständnissen keine neuen »Bewusstseinsgestalten«, die für einen erneuten Halt des Erkennenden sorgen. Die fortschreitende Selbsttransparenz des Erkennenden im Erkennen führt vielmehr dazu, dass die Zone des Unwissens zunimmt. Hegels Dialektik wird zu einer »negativen Dialektik« (Adorno)25. Dialektik als negative begreift den Zuwachs an Wissen als Zuwachs an Unwissenheit. Im Laufe der Erfahrung steigert sich der Zweifel und damit die Verzweiflung. Bewusstseinsgestalten sind Verzweiflungsgestalten.26

6 Verzweiflung und Schein Nietzsche denkt die philosophische Verzweiflung anders als Descartes und Fichte. Es kommt nicht zu einer ins Hysterische übergehenden philosophischen Paranoia angesichts der Tatsache, dass es keine ver­ lässlichen Tatsachen mehr gibt. Nietzsches Verständnis der neuzeit­ 25 Auch wenn die Nähe zu Adorno sich hier aufdrängt: Adornos Begriff einer nega­ tiven Dialektik verbleibt aber insofern stärker bei Hegel als bei Nietzsche, als er Erkennen allein als begriffliches Erkennen begreift. Da der Begriff als »Identifikation« immer auch das Begriffene verstellt, kann er letztlich nicht erkennen, dieses Nichter­ kennen aber als »Aporie der Reflexion« einsehen. Erkennen des Begrifflichen im begrifflichen Erkennen begreift immer genauer die Unfähigkeit des Begrifflichen zum Erkennen. Daher wird Dialektik negativ. Vgl. Adorno, Negative Dialektik, S. 397. Allerdings zeigt Adornos kritische Begriffstheorie interne Widersprüche, die die Dimension eines sinnlichen Erkennens als »Vorrang des Objektes« (ebd., S. 193ff.) fundamental berücksichtigen müssten. Vgl. Meyer-Albert, Objekte als souveräne Informanten. Adornos Idee des »Vorrangs des Objektes«, S. 198f. 26 Instruktiv dazu: Sloterdijk, Der Denker auf der Bühne, S. 72ff.

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lichen Verzweiflung zentriert sich nicht um erkenntnistheoretische Fragestellungen, sondern um die vitalen Auswirkungen von Zweifeln auf einen verkörperten Intellekt. Es geht ihm weniger um die Wahr­ heit des Denkens, als um die Lebendigkeit des Lebens. Nietzsche porträtiert daher den Skeptizismus als eine Konfrontation mit einer letalen Desillusionierung. In dieser erfrieren zuerst die feststehenden Ideale, dann die feststehenden mentalen Kategorien und zuletzt die ontologischen Verständnisse: »Ein Irrthum nach dem anderen wird gelassen aufs Eis gelegt, das Ideal wird nicht widerlegt – es erfriert ... Hier zum Beispiel erfriert ›das Genie‹; eine Ecke weiter erfriert ›der Heilige‹; unter einem dicken Eiszapfen erfriert ›der Held‹; am Schluß erfriert ›der Glaube‹, die sogenannte ›Überzeugung‹, auch das Mitleiden kühlt sich bedeutend ab – fast überall erfriert das,Ding an sich' ...«27

Die Selbsttransparenz des Erkennens im Erkennen führt bei Nietzsche zu einem dramatischen Wissen um das Wissen: Der Zweifel lässt eine so große Verzweiflung entstehen, dass eine Immunisierung für das denkende Leben nötig ist, um ihn ertragen zu können. Verzweiflungs­ gestalten benötigen Immunisierungsgestalten. Erkenntnisgewinne stellen für Nietzsche somit immer auch Überwindungen von Ver­ zweiflungen dar. Seine Konzepte versuchen dramatisches Wissen, das verzweifeln lässt, zu integrieren. Für Descartes und Fichte, bei denen das Ausmaß der Verzweiflung nur angedeutet wird, besteht diese Immunisierung in einem Rückfall aus der Philosophie in den Glauben. Nietzsches Philosophie aber, die in einem eminenten Sinn von der modernen Megatatsache des Todes Gottes ausgeht, kennt eine solche Zuflucht nicht mehr.28 Sie weiß aber um die Notwendig­ keit, die Sicherheit, die ein Glaube an Gott bot, kompensieren zu müssen. Daher stellt Nietzsches »toller Mensch« moderne Fragen angesichts der Agonie von vormodernen Sicherheiten und wiederholt Nietzsche, Ecce homo, S. 1118f. Auch wenn Nietzsche die tröstlichen Wahrheiten der Metaphysik ablehnt, so reflektiert er in seinen Gedanken immer noch deren Kraft und Bedeutung. In diesem Sinne ließe sich das Denken des Pastorensohnes Nietzsches als eine säkularisierte Reaktualisierung der soteriologischen christlichen Dramatiken deuten. Die Dramatik der neuzeitlichen philosophischen Frage nach einem sicheren Erkennen, wäre so eine Fortsetzung der christlichen Verzweiflung angesichts der Unsicherheit um den Heils­ zustand der eigenen Seele. Die Verzweiflung aus dem epistemenologischen Zweifel ist emotional präformiert durch die Prädestinationslehre. Vgl. Weber, Die protestan­ tische Ethik und der,Geist' des Kapitalismus, S. 68. 27

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die Dramatik der metaphysischen Verzweiflung noch einmal in einem nachmetaphysischen Kontext: »›Wohin ist Gott?‹, rief er, ›,ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet – ihr und ich. [...] Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? [...] Wohin bewegen wir uns? [...] Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort Nacht und mehr Nacht? [...] Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besaß, es ist unter unsern Messern verblutet – wer wischt dies Blut von uns ab? Mit welchem Wasser könnten wir uns reinigen? Welche Sühnenfeier, welche heiligen Spiele werden wir erfinden müssen?‹«29

Die Wucht der metaphysischen Unsicherheit wird in Nietzsches intimem Denken unter veränderten Vorzeichen aufgenommen. Im Grunde ist das eine erneute dialektische »Aufhebung« des neuzeit­ lichen Skeptizismus in integrierende Konzepte. Dadurch kommt es erstmalig im Abendland zu einem neuen Begriff von Wahrheit.30 Weil es ein Wissen um ein Nichtwissenkönnen des Erkennens gibt, das den Wissenden zu sehr desintegriert, kann es wahr sein, den unbedingten Willen zur Wahrheit zu brechen. Die Verzweiflung des Zweifels wird so nicht durch das Auffinden einer erneuten substanziellen Größe beschwichtigt. Der Abgrund des Geistes bleibt bestehen, wird aber bewusst ignoriert, damit der Geist mehr sein kann als denkende Verzweiflung. So wird Nietzsche der Entdecker der Wahrheit des Scheins als säkularisierter Gnade. Ein Vorspiel für diesen Begriff der Wahrheit als Scheinwahrheit findet sich in Fichtes freiwilliger Konversion der Reflexion in den Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, S. 127. Nietzsches gesamtes Denken ist von diesem neuen Begriff der Wahrheit bestimmt. Schon in seinem genialen Frühwerk findet sich eine halbausgeführte Konzeption von Wahrheit als Ökonomie von Schein und Wahrheit in der dramatischen Dialektik von »dionysischen« und »apollinischen« Energien. Der zentrale Gedanke lautet, dass es ohne einen »Verklärungsschein« kein Sein gäbe und damit einen Vorrang des Apol­ linischen: »Könnten wir uns eine Menschwerdung der Dissonanz denken – und was ist sonst der Mensch? –, so würde diese Dissonanz, um leben zu können, eine herrliche Illusion brauchen, die ihr einen Schönheitsschleier über ihr eigenes Wesen decke.« Nietzsche, »Die Geburt der Tragödie«, S. 133. 29

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Glauben als ein »freiwilliges Beruhen bei der sich uns natürlich darbietenden Ansicht«31. Diese reflexive Reflexionslosigkeit wird bei Nietzsche nun aber verflüssigt. Und das zweifach. Sie widersetzt sich der Kopplung an eine gängige Dogmatik und sie wird in ihrer Dyna­ mik in einem ästhetischen Sinn aufgefasst. Als Kunst wird Religion säkularisiert. Irdische Gnade liegt für Nietzsche in einem »guten Willen zum Scheine«32, der sich in der Kunst und in einer kunstaffinen Philosophie manifestiert. Philosophie wird zu der Erfindung eines modernen heiligen Spiels.33 Gelungene Philosophie ist daher eine Ästhetisierung des neuzeitlichen Skeptizismus und damit auch eine Ästhetisierung der metaphysischen Sicherheit. Dabei geht es nicht nur um eine Animierung von trostloser Faktizität durch Begriffsspiele oder eine ermutigende Deutung entmutigender Realitäten. Es geht vor allem um die Erschaffung einer Distanz. Aus der zu großen Nähe eines unerträglichen Seins wird philosophisch eine »künstle­ rische[] Ferne«34 herbeiphilosophiert. Wir haben die Philosophie, damit das von der Philosophie zu sehr in Zweifel gestürzte Leben nicht verzweifelt. Intelligentes Leben gewinnt einer Resilienz in dem Maße, in dem es durch Philosophie einen Abstand zu sich selbst gewinnt. Philosophie ist eine Kunst der Zäsur. Dazu gehört auch eine Philosophie, die mit der Philosophie Schluss zu machen versteht.35 Fichte, Die Bestimmung des Menschen, S. 89. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, S. 113. 33 Nietzsches Denken ließe sich so insgesamt als eine apollinische Dialektik auffas­ sen. Es verbindet dabei Hegel und Fichte, indem es die Dimension des Leibes im Erkennen mitberücksichtigt. Apollinik zeigt sich als spielerische Ästhetik mit Fichtes dogmatischer Zäsur des Denkens durch einen Pluralismus der Zäsuren. Daraus ergibt sich kein System wie bei Hegel, sondern ein apollinisches Konstruieren. Daher fällt Nietzsches Denken auch auseinander in einen vielstimmigen Pluralismus von Apho­ rismen, die eine philosophische Prosa entwickeln, die eine appellative Kraft besitzt und die Präzision der Arbeit des Begriffs auch über eine literarische Dimension ergänzt. Kohärenz geht einher mit einer Inszenierung von Stimmungen als Umstimmungen von Verstimmungen. 34 Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, S. 113. 35 Auch bei Wittgenstein finden sich philosophisch plausible Gedanken zu einem guten Enden von Philosophie: »Denn die Klarheit, die wir anstreben, ist allerdings eine vollkommene. Aber das heißt nur, daß die philosophischen Probleme vollkommen verschwinden sollen. Die eigentliche Entdeckung ist die, die mich fähig macht, das Philosophieren abzubrechen, wann ich will. – Die Philosophie zur Ruhe bringen, so daß sie nicht mehr von Fragen gepeitscht wird, die sie selbst in Frage stellen.« Witt­ genstein, Philosophische Untersuchungen, S. 305 (§ 133). Vgl. auch ebd., S. 360 (§ 255). 31

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Nietzsches invertierter Platonismus versucht so die Höhle des Scheins, aus der nach Platons berühmtem Gleichnis der wahre Phi­ losoph zum Licht der Wahrheit hinausklettert, in ein neues Licht zu rücken. Gerade der Philosoph hat die Höhle nötig. Die redliche Ver­ blendung hält das Leben als Träger des Erkennens fit. Nietzsche cha­ rakterisiert das aktive Konstruieren einer Höhle für das Erkennen als »Willen zum Schein, zur Vereinfachung, zur Maske, kurz zur Ober­ fläche [...] [,als] ein plötzlich herausbrechender Entschluss zur Unwis­ senheit, zur willkürlichen Abschließung, zum Zumachen seiner Fens­ ter, ein inneres Neinsagen zu diesem und jenem Dinge, ein Nichtherankommen-lassen, eine Art Verteidigungs-Zustand gegen vieles Wißbare, eine Zufriedenheit mit dem Dunkel, mit dem abschließen­ den Horizonte, ein Ja-sagen und Gut-heißen der Unwissenheit [...].«36 Ein epistemologischer Pragmatismus verlangt einen Umgang mit gnadenlosen Wahrheiten, der therapeutisch zuträglich ist für den Erkennenden und ihn verschont. Mit dieser Herausstellung einer Ökonomie des Erkennens, die zwischen einem redlichen Willen zur Wahrheit und einem guten Willen zum ausblendenden Schein oszil­ liert, entsteht in Nietzsches Denken ein allgemeiner Ästhetizismus des erkennenden Lebens. Die »Kunst der Transfiguration«37 von Verzweiflungen expandiert zu einer Dichtung des Lebens, die ausgeht vom »Kleinsten und Alltäglichsten«: »Sich von den Dingen entfernen, bis man vieles von ihnen nicht mehr sieht und vieles hinzusehen muss, um sie noch zu sehen – oder die Dinge um die Ecke und wie in einem Ausschnitte sehen – oder sie so stellen, dass sie sich teilweise verstellen und nur perspektivische Durchblicke gestatten – oder sie durch gefärbtes Glas oder im Lichte der Abendröte anschauen – oder ihnen eine Oberfläche und Haut geben, welche keine volle Transparenz hat [...]. [W]ir [...] wollen die Dichter unseres Lebens sein, und im Kleinsten und Alltäglichs­ ten zuerst.«38

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Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, S. 695f. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, S. 12. Ebd., S. 125f.

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7 Verzweiflung und Weltoffenheit Nietzsches Ästhetizismus des Erkennens lässt sich mit dem Begriff der »Weltoffenheit« weiter bestimmen. Der Terminus stammt von Scheler, der ihn verwendete, um das Besondere des Menschen in der Differenz zum Tier auszudrücken.39 In dieser Perspektive spielte Weltoffenheit dann eine Rolle in der philosophischen Anthropologie des 20. Jahrhunderts. Dabei werden Menschen zu Wesen, die ein Mangel an Instinkten dazu verurteilt, sich durch Intelligenz in der Welt zu orientieren. Als unfertige, immer zu früh geborene Tiere sind sie von ihrer natürlichen Konstitution her zu offen für die Welt. Men­ schen müssen lernen zu leben, indem sie feste Strukturen, Rituale und Rhythmen blind übernehmen und dann immer mehr bewusst ausbilden.40 Ein nichtreduktiver Naturalismus müsste daher den Akzent von einem Existenzkampf zu einer Existenzkunst verlagern. Daraus wird klar, dass Weltoffenheit nicht einfach gegeben ist. Sie wird gewonnen, errungen, bewahrt durch regulative Weltoffenheits­ rituale, die das Verhältnis von Gefahr und Entlastung, von Angst und Vertrauen, von Fremde und Eigenem immer wieder neu abstimmen. Überträgt man diese Gedanken auf Nietzsches Denken, so zeigt sich, dass es Nietzsche nicht darum geht, einen Neokonservativismus der Werte, Manieren und Sitten einzuführen – oder gar einen plum­ pen Naturalismus der Kraft. Wenn Sitten sich durch eine »Indiskuta­ bilität«41 auszeichnen, so votiert Nietzsches Philosophie für eine Sitte der Diskutabilität, allerdings – und das unterscheidet sein Denken von dem Postmodernismus oder einen radikalen Konstruktivismus – mit dem Wissen um die Fragilität der Weltoffenheit. Indiskutabel ist Nietzsche also im Hinblick auf die strukturierte Oszillation von Schein und Wahrheit. Das Kriterium für eine gelungene Austarie­ rung liegt in der Lebendigkeit, die sie bewirkt, indem sie fähig Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, S. 30. Heidegger hat den Begriff Weltoffenheit dann beiläufig philosophisch legitimiert: »Die Gestimmtheit der Befindlichkeit konstituiert existenzial die Weltoffenheit des Daseins.« Sein und Zeit, S. 137. 40 Neben den anthropologischen Gedanken von Scheler ist hierbei auch auf Gehlen und Plessner zu verweisen. In einer ungewöhnlichen anthropologischen Wendung spricht Nietzsche einmal luzide von der existenziellen Unfestgestelltheit des Men­ schen: »[D]er Mensch ist kränker, unsicherer, wechselnder, unfestgestellter als irgend ein Thier sonst [...].« Zur Genealogie der Moral, III, S. 13. 41 Nietzsche, Morgenröte, S. 1028. 39

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ist, Verzweiflungen zu transfigurieren. Die Sitte der Moderne ist nicht die Sittenlosigkeit des freien Denkens, sondern die Sitte der transfigurativ-lebendigen Weltoffenheit als Balance von Eigenem und Fremdem. In Nietzsches Denken steckt somit – bei aller Explikation einer Notwendigkeit von Grenzen, Abschottungen, Selektionen – eine Passion zur Weltoffenheit. Sie ließe sich ausdrücken mit dem Slogan: Erschaffe deine Höhle und lebe gefährlich. Damit erreicht das Verständnis der Verzweiflung eine dritte Qualität. Nach einer metaphysisch kodierten Verzweiflung, bei dem die Seele über ihre Welthaftigkeit als Kluft zu Gott verzweifelt und einer philosophisch kodierten Verzweiflung, bei der das Denken über seine potenzielle Unsicherheit des Erkennens verzweifelt, geht es bei Nietzsche um eine vitale Verzweiflung, bei der ein Leben über seine zu große Nähe zu abgründigen Wahrheiten verzweifelt. Die Lösung der drei Verzweiflungsformen entspricht ihrem Verzweiflungsgrund: Eine sichere Nähe zu Gott, eine Sicherheit um das Erkennen-Können des Denkens und eine sichere – das heißt eine Verzweiflungen sicher transfigurierend verarbeitende – scheingeschützte Lebendigkeit.42 Entscheidend ist, dass es Nietzsches Denken so insgesamt gelingt, den Sinn von Sein in einem anderen Sinn zu interpretieren als in der Tradition üblich. Nietzsches Denken bewegt sich latent in dem Rahmen einer halbartikulierten Ontologie, in der das Sub­ stanzielle neu verstanden wird. An seinem Verständnis der Lösung des Problems der neuzeitlichen Verzweiflung lässt sich ablesen, dass Substanzialität bei Nietzsche nicht mehr in der klassischen Bedeutung eines festen Fundamentes oder einer ursprünglichen basalen Größe gedacht wird. 43 Während der Skeptizismus immer noch in den Bah­ Ergänzen ließe sich bei diesem Vergleich der drei Verzweiflungsparadigmen noch, dass es bei Nietzsche zu einer säkularisierten Reaktualisierung der metaphysischen Verzweiflung kommt. Auch ihm geht es wieder um einen Gewinn von Höhe, nun aber im Bereich des Diesseits. Höhe wird definierbar als antinihilistische Lebendigkeit, die so kreativ fruchtbar ist, dass sie anderes Leben zu einer kreativen Lebendigkeit stimu­ liert. 43 Vgl. etwa Nietzsche, Götzen-Dämmerung, S. 977f. Ein Jenseits einer dualistischen Ontologie wird an einer der enigmatischsten Stellen in Nietzsches Werk als frohere Botschaft von den Tieren Zarathustras verkündet – sie reden dabei wie ein dionysisch gestimmter Heidegger –, um ihren Herrn aus einer suizidalen Depression zu befreien: »Alles bricht, alles wird neu gefügt; ewig baut sich das gleiche Haus des Seins. Alles scheidet, alles grüßt sich wieder; ewig bleibt sich treu der Ring des Seins. In jedem Nu beginnt das Sein; um jedes Hier rollt sich die Kugel Dort. Die Mitte ist überall. Krumm ist der Pfad der Ewigkeit.« Also sprach Zarathustra, S. 463 42

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nen der Metaphysik denkt und seine Panik des Realitätsverlustes durch eine Teilhabe an einem tieferen Grund auflösen will – sei es als Rückbindung an eine Dogmatik oder als Geschichtsphilosophie – arbeitet Nietzsches Philosophie an einer Ontologie des Scheins. Sein wird eine Dynamik der Existenz.44 Denken als Existenzkunst arbeitet nicht mehr an der Herausstellung elementarer Gründe, sondern expli­ ziert das Wesenhafte in der Horizontalität als Verdichtung, Zusam­ menhang, Komposition. Denken ist das Hüten des guten Scheins. Substanzielles Sein meint nun die gelungene Kalibrierung von Welt­ offenheit, bei der das Herausgehaltensein in Welt, die zweifeln lässt, reguliert wird von einem Hineingehaltensein in vertraute Zweifello­ sigkeit. Das Wesen des Daseins ist die vitalisierende Ökonomie von Alterität und Immunität.45 Diese äußert sich in einer entlasteten Ferne und dem daraus entwachsenen Sinn für emotionale und reflexive Panoramablicke, die die Erfahrung des Lebens als »golddurchwirkter Schleier von schönen Möglichkeiten«46 wachhalten. Es gibt so keine, wie Heidegger lehrte, Verlassenheit vom Sein, sondern nur eine disfunktionelle Offenheit zur Welt. Verzweiflung ist das Zeichen einer prekären Konfiguration von Weltoffenheit und kein substanzieller ontologischer Defekt.47 Durch Nietzsches Neuverständnis von Substanzialität lässt sich nun auch die neuzeitliche Geschichte der philosophischen Verzweif­ Natürlich ist Heidegger hier der entscheidende Denker für eine Übersetzung des Seinsdenkens in ein Existenzdenken. An seiner Ontologie der Existenz hat sich die Tradition der Ontologie der Metaphysik gebrochen. Allerdings, und das zeigt eine Konfrontation mit Nietzsches Denken, gelingt Heideggers Ausbruch aus der Tradition nur zur Hälfte. Er bleibt einem Denken verbunden, dass Sein als primordiale Reinheit denkt, dem sich ein subjektives Denken nur pflanzenhaft passiv ausliefern kann. Es gibt für ihn keinen anderen Ort für Technik, Kunst, Kultur, Ironie als einen Abfall vom Sein. So muss Heidegger Nietzsches Willen zum Schein lesen als Wille zum Seins­ abfall und dessen Konzept eines »Willens zur Macht« überbetonen und metaphysisch düster interpretieren. Für Heidegger substanzialisiert Nietzsche das Sein zu einem Wert. Vgl. Heidegger, Holzwege, S253ff. Liest man Heidegger von Nietzsches Kritik an dem »Ägypticismus« der Philosophie her, so ergäbe sich: Heideggers »Seinsver­ gessenheit« ist Scheinvergessenheit. Vgl. Nietzsche, Götzen-Dämmerung, S. 957. 45 Vgl. Sloterdijk, Der Denker auf der Bühne, S. 156ff. 46 Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, S. 201. 47 Die Lehre vom Sein als Lehre vom Abstand zum Guten ist in die Kultur des Abendlandes eintätowiert: Augustinus Idee der »Erbsünde« ist eine moralisierende Dramatisierung von Platons Idee der »Anamnesia«. Aus tragischer Melancholie wird damit ressentimer Selbsthaß. Nietzsches Denken ist das Projekt einer Umstimmung dieser Grundstimmungen. 44

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lung umdeuten. Die Verzweiflung des Geistes in der Neuzeit wird jetzt lesbar als eine zweifelhafte Regulierung der Weltoffenheit des Geistes, bei der die Fähigkeit der Transfiguration gestört ist. Inso­ fern wird die philosophische Verzweiflung deutbar als eine geistige Autoimmunkrankheit, die auch spezifische psychopolitische Wirkun­ gen besitzt. Bei Fichte und Descartes ist der Geist zu offen zur Welt: Der Zweifel als Suche nach einer Sicherheit wird mit seinem Zweifel an sich selbst zu einer paranoiden Macht. Skeptischer Geist wird zu einer Kraft, die den Geist bedroht. Dabei kollabiert die Offenheit zur Welt. Die Gestimmtheit der Verzweiflung lässt existenzial keine Konstitu­ tion der Weltoffenheit des Daseins zu. Es kommt zu einem Übermaß an Fremdwerden des eigenen Denkens wie bei Fichte oder zu einem paranoiden Verhältnis zur Welt wie bei Descartes. Es fehlt die Kraft zur Transfiguration. Ohne die Beziehung von Welt und Geist regulativ offen zu halten, wird die philosophische Verzweiflung leicht zu einer paranoiden Verschwörungstheorie oder zu einem verrücktmachenden Routieren in Haltlosigkeit. Aus beiden, auch das zeigen Fichte und Descartes, wächst dann wiederum das Charisma eines aufopfernden Gehorchens gegenüber einer metaphysischen Dogmatik. Bei Hegel ist der Geist als systembauende Arbeit des Begriffs zu unoffen zur Welt: Verzweiflung wird abstrakt und ihrer existenziellen Basis im Leib beraubt. Transfigurationen laufen leer ab. Diese zu mas­ sive Immunität führt zu einem Systementwurf ohne Welt. McDowell hat diesen wahrnehmungslosen »Kohärentismus« als ein »frictionless spinning in a void« bezeichnet.48 Anders als bei Fichte und Descartes zeigt sich bei dieser Form einer geistigen Autoimmunkrankheit aber keine Verlorenheit eines irritierten Subjekts, sondern es leitet sich aus ihr ein robuster Wille zum System ab.

48 McDowell, Mind and World, S. 11. McDowell bleibt aber, bei aller verdienstvollen Öffnung des Diskurses, innerhalb der Thematiken der analytischen Diskurse hängen. Seine therapeutische Philosophie bewegt sich nicht in der Problemtiefe, die die soge­ nannte kontinentale Philosophie auszeichnet. Daher ist er aufmerksam und hochgra­ dig differenziert in seinem Blick auf die Gefahr des Formalismus, allerdings nur in der Hinsicht einer Dualität von sinnlicher Wahrnehmung und begrifflichem Erkennen. Die Gefahr einer Gewalt des Formalistischen oder die Gefahr einer sachlichen Blind­ heit eines formalistischen Erkennens – siehe Adorno – oder die Gefahr eines reduk­ tiven, nur optischen Begriffs von Wahrnehmung sieht er nicht. Vgl. Meyer-Albert, Die Welt denken, S. 104ff.

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8 Planetarische Verzweiflung Abschließend werde ich versuchen, Nietzsches Begriff der Verzweif­ lung auf unsere Zeit anzuwenden und so seine Gedanken durch Aktualität noch einmal bestimmter werde zu lassen. Nietzsches Ästhetizismus des Erkennens besitzt eine Tendenz zu einem Singularismus. Vor allem Nietzsches spätes Denken wird krampfhaft unpessimistisch und verfällt zunehmend in einen philo­ sophischen Heroismus im Sinne eines einsamen Kampfes gegen die Welt. Nietzsches Ja zum Leben verklumpt so mitunter zu einem übertriebenen Kult des Siegens, der sich in dem Konzept des »Willens zur Macht« verfestigt. Seine Philosophie stilisiert sich zu einer Art antichristlicher imitatio christi, die alle Verzweiflung der Welt, die aus fatalen kulturellen Prägungen stammt, auf sich nimmt, um sie leidend auszutragen und für alle als umgewertete Ontologie lebbar zu machen. Zieht man das Übertriebene an dieser Selbsteinschätzung ab, so zeigt sich Nietzsches Denken nicht nur als eine Philosophie des Scheins, sondern selbst wieder als ein imitierbarer Schein. Denken als Kunst des Erkennens liefert nicht nur eine Lizenz zum Schein, sondern bietet ein Anschauungsbeispiel dafür, wie Philosophie als Existenzästhetik aussieht, klingt, abläuft. Daraus lässt sich wieder indirekt ablesen, wie Scheinwelten zu entwerfen wären. Nietzsches Thematisierung von »Werten« im Sinne einer vitalistischen Evalua­ tion überführt seine Konzeption der Wahrheit des Scheins dann explizit in eine psychopolitische Perspektive.49 Nietzsches Denken schützt so vertikal wie eine gute Atmosphäre vor der Kälte eines Alls, dessen unendliche gottlose Räume einen in Schrecken versetzen und es schützt horizontal vor den Übergriffen eines toxischen kultu­ rellen Ressentiments. Es wehrt sich gegen eine Agonie, die mit dem Ausfall des Basiswertes »Gott« losbricht und es wehrt sich gegen die Kompensationen dieses Nihilismus durch aktivistische nihilistische Lebensanimationen. Nietzsche will so das Erkennen nicht nur als ein »heiliges Spiel« verstehen lernen, das dabei hilft, die vermeintlich sinnlos gewordene Welt mit provisorischem Sinn zu bevölkern. Er

49 Peter Sloterdijk hat die Suggestionen von Nietzsches Sein des Scheins in einer umfassenden Weise in seinem philosophischen Hauptwerk »Sphären« gewürdigt. Vgl. insbesondere: »Sphären III«, S. 202ff.

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zeigt auch auf, dass es prekäre Sprachspiele von Schuldzuweisungen gibt, die Frustrationen mobilisieren und instrumentalisieren.50 In diesen teils hysterischen, teils übergenerösen Zügen zeigt sich eine philosophische Ungenauigkeit in Nietzsche Konzeption der transfigurativen Verzweiflung. Nietzsche lässt genau die Dimension zu sehr außer Acht, die Hegel zu einseitig betont. Leben als ein Drama des Wissenszuwachses muss sich zwar immer wieder regulieren zu einer lebbaren Weltoffenheit. Diese Regulation ist aber keine Leistung, die der Einzelne allein vollbringen muss und kann. Es war Nietzsches Irrtum zu glauben, dass eine Elite von einsamen Einzelnen heroisch auf sich gestellt die Welt Alteuropas in neue Angeln heben müssten, weil sie von Grund auf von der Metaphysik korrumpiert sei. Nietzsches Kulturkritik übersieht, dass in seiner Kulturumgebung der Wert »Leben« seit der Neuzeit latent immer mehr gelebt wird. Tatsächlich ist auch alteuropäisches Leben getragen ist von einer am Vitalistischen orientierten zweiten Natur, die sich in Institutio­ nen, Sitten, Symbolen, Ritualen und Beziehungen manifestiert und vererbt. Nietzsche denkt die Bedeutung des Scheins für das Leben zwar als erster in philosophischer Explikation. Er reflektiert allerdings dessen implizite Ausformung im Abendland zu wenig. Ohne eine übersteigerte Kulturkritik ließe sich von Nietzsche ableiten: Kulturen sind funktionierende Immunsysteme der Weltof­ fenheit.51 Die Funktion der Philosophie besteht zum einen darin, Vor­ schläge für die Wartung dieser kulturell durch Erziehung und Lernen vererbten Immunität vorzutragen und zum anderen für das zeitnahe Erwerben einer erregerspezifischen Immunantwort zu sorgen. Für die Geschichte der zweiten Natur gilt so, dass es in ihr krisenhaft gewon­ nene Erkenntnisgewinne gab, die schmerzhaft errungen wurden und die eingearbeitet sind in den von Hegel sogenannten »objektiven Geist«. Kultur ist immer auch gelungene und geteilte Verzweiflungs­ transfiguration.52 Um Heideggers Vokabular zu verwenden, der im 50 Am deutlichsten ist Nietzsche die Analyse der ressentiment-Sprachspiele in sei­ nem späteren Werk »Zur Genealogie der Moral« gelungen. Vgl. insbesondere das dritte Kapitel, Nr. 19ff, S. 877ff. 51 Die minimale Version eines solchen Kulturimmunsystems, das er »anthropogene Insel« nennt, hat Sloterdijk vorgestellt und neun konstitutive Eigenschaft herausge­ arbeitet. Vgl. »Sphären III«, S. 357. 52 Dabei erlangen Kulturen ihre transfigurative Kompetenz durch die Auseinander­ setzung mit internen Krisen und durch die Konfrontation mit anderen funktionie­ renden Weltoffenheitsimmunsystemen. Daraus lässt sich ableiten, dass jede Kultur

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20. Jahrhundert eine philosophische Parallelaktion zu Nietzsches Kult der einsamen Denker vollführte: Die Geworfenheit des jemeinigen Lebens wird reguliert von der Getragenheit einer Kultur. Ausdifferen­ zierte Getragenheit entfaltet sich in technischer Innovation, einem wissenschaftlichen Forschen, dem Wohlfahrtsstaat, der Ausbreitung der Konsumzone, der Expansion von Grundrechten, einem komple­ xen Versicherungswesen.53 Die latente Getragenheit der Kultur ist es, die im 20. Jahrhundert mehr und mehr wegfällt und in ihrem Fehlen aufzufallen beginnt. Das Signum der Moderne ist es, dass der Abgrund der Verzweiflung nicht mehr metaphysisch und philosophisch verstanden werden kann. Der Abgrund des Geistes: Er klafft nunmehr nicht im unbedingten Willen zum Erkennen auf, der schonungslos gefährliches Wissen zu Tage fördert. Auch für ein gedimmtes Erkennen wird das abgründige Wissen unvermeidlich. Der Abgrund selbst wird so überdeutlich, dass er in jedes Erkennen fällt. Die Evidenz lässt sich nicht mehr durch Scheinwelten verhindern. Im 20. Jahrhundert beginnt die Welt im Ganzen am Abgrund zu stehen. Das hat Paul Valérie nach dem Ersten Weltkrieg im Hinblick auf den Fortbestand der Zivilisation in seiner Schrift »Die Krise des Geistes« in den Worten festgehalten: »Und nun sehen wir, der Abgrund der Geschichte ist groß genug für alle.«54 Das Wissen um die Sterblichkeit von Zivilisationen steigert sich im Laufe des 20. Jahrhunderts durch die Erfindung der Atombombe inmitten der Zeit des Kalten Krieges und die Einsicht in die ökologi­ schen Folgen eines zu einseitig gedachten technischen Fortschritts. So kommt es zu einer planetarischen Verzweiflung, bei der einerseits – als terristrische Verzweiflung – die Erde als materielle Totalität und andererseits – als zivilisatorische Verzweiflung – die Erde als Ort der Entwicklung von biophilen Hochkulturen auf dem Spiel steht. Philosophisch wird die planetarische Verzweiflung damit zu einer Metaverzweiflung. Sie begreift das Ausmaß der Verzweiflung als mögliches Ende jedweder Verzweiflung. nicht nur die Funktionsfähigkeit ihrer Immunität zu gewährleisten hat, sondern dabei auch das Vorhandensein anderer alterrnativer Immunitäten berücksichtigen muss. Beides verlangt eine Arbeit der Reflexion, wobei Solidarität als lokale Größe, d.h. kulturintern, und als globale Größe, d.h. multikulturell, gedacht werden muss. Verzweiflung verpflichtet. Solidarität wäre damit als Appell zu denken. Idealerweise: Das Telos der Kultur ist Globalität. Das Telos der Globalität ist Zivilisation. 53 Vgl. Sloterdijk, Sphären III, S. 677ff. 54 Valéry, Die Krise des Geistes, S. 12.

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Diese Lage hat Camus in seiner Nobelpreisrede im Jahr 1957 arti­ kuliert: »Jede Generation sieht zweifellos ihre Aufgabe darin, die Welt neu zu erbauen. Meine Generation jedoch weiß, dass sie sie nicht neu erbauen wird. Aber vielleicht fällt ihr eine größere Aufgabe zu. Sie besteht darin, den Zerfall der Welt zu verhindern.«55 Die Aktualität Nietzsches erklärt sich daraus, dass er Verzweif­ lung nicht mehr von Gott oder der Philosophie, sondern vom Leben her versteht. Darin deckt sich das Zentrum seiner Überlegungen mit dem Zeitgeist der Moderne. Allerdings bedeutet Leben bei Nietzsche mehr als ein nacktes Überleben. Er sah darin eine von Reflexionen transfigurativ sich entwickelnde Selbstüberwindungsbewegung, die Lebendigkeit steigert. Diese meinte er gegen eine Welt verteidigen zu müssen, die sich unter der Vorherrschaft ressentimer Werte befin­ det. Mit dem Wegfall einer latenten Getragenheit einer biophilen Kultur durch eine planetarische Verzweiflung kommt es darauf an, Nietzsches Denkbewegung zu wiederholen. Mit der Perspektive auf das Weltgeschehen als der implizite Appell zu einem neutechnischen Schonen der Ökosphäre und einer posthistorischen Zivilisierung der Kultursphären, wirkt die Tonart von Nietzsches Denken jedoch befremdlich. Seine Werbung für ein Leben in der Nähe der Gefahr irritiert. Wenn er schreibt: »Baut eure Städte an den Vesuv!«56, so möchte man antworten: Eigentlich ist heute jede Stadt an den Vesuv gebaut. Auf den Appell zu einer Umwertung der Werte, bei der mit Wahnsinn geimpft werden soll, scheint doch eher die Forderung geboten, mit Normalität zu impfen.57 Auch der Spruch, dass man noch Chaos in sich haben müsse um Sterne gebären zu können, wirkt unzeitgemäß.58 Aktueller formuliert könnte der Gedanken lauten: Man muss noch Ordnung in sich haben, um diesen Planeten bewahren zu können und halbwegs verträglich mit seinen Bewohnern zu koexistieren. Ein zeitgemäßes »amor fati« könnte lauten: Verzweifle verantwortungsvoll.

55 56 57 58

Camus, Fragen der Zeit, S. 265. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, S. 166. Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 281. Vgl. ebd., S. 284.

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9 Transfigurative Verzweiflung Doch auch wenn Nietzsches Denken in seiner appellativen Struktur und in seiner Kulturkritik der ressentiment Vernunft mitunter jenseits des Prinzips der globalen Verantwortung und der Realität einer dichten und verletzten Welt liegt: Sein Appell zur Transfiguration der Verzweiflung wirkt weiter. Er zeigt: Es geht dem Leben nicht nur um ein bloßes Überleben, sondern um eine intelligente Lebendigkeit. Nietzsches Denken gewinnt damit indirekt eine solidarische Dimen­ sion. Sein Denken der Wahrheit des Scheins, die ein Verzweifeln immer wieder überwindet, schafft nicht direkt ein neues Decorum von globalverträglichen kulturellen Getragenheiten. Aber es wird in seinem Denken eine notwendige zivilisierende Grunddynamik dafür entfaltet. Nietzsches Philosophie ließe sich verstehen als der unum­ gängliche Appell, kulturelle Konstruktionen so umzugestalten, dass sie eine selbstbejahende, weltoffene Lebendigkeit schützen und för­ dern. Nietzsches Denken negiert damit einen Absolutismus der Ver­ zweiflung, der angesichts der epochalen Aufgabe aufkommen kann, den Abgrund des Planetarischen zu vermeiden. Camus hat 1951 in seiner Schrift »Der Mensch in der Revolte« in diesem Sinn einen auch selbstkritischem Blick auf den Existenzialismus der Verzweiflung geworfen, der für ihn eine ganze Epoche bestimmte: »(A)us der Intensität eines Gefühls geht nicht sein universeller Cha­ rakter hervor. Der Irrtum einer ganzen Epoche war es, von einem Gefühl der Verzweiflung ausgehend, allgemein gültige Regeln des Handelns zu verkünden oder für verkündet zu halten, während die eigentümliche Bewegung dieses Gefühls darin besteht, über sich hinaus zu führen.«59

Für Camus führt eine Kritik der reinen Verzweiflung zu einer zwei­ fachen Revolte. Zum einen kommt es darauf an, gegen die absurde Banalität der Existenz zu revoltieren. Dafür ist es aber auch wichtig, die absurden Revolten einer ins Extreme verstiegenen Form der Revolution zu mäßigen. Selbstbewusste Verzweiflung weiß, dass es kein Jenseits der Verzweiflung gibt. Sie hört auf, am Verzweifeln zu verzweifeln. Dass die Verzweiflung aber nicht alles sein darf, das ist heute die minimale Gemeinsamkeit eines zivilisatorischen Globalis­ mus. 59

Camus, Der Mensch in der Revolte, S. 16.

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Transfigurative Verzweiflung als Revolte wird so in einem dop­ pelten Sinne solidarisch. Sie transfiguriert Konzepte einer philosophi­ schen Verzweiflung. Sie schärft dabei den Sinn für die Gefahr der Gefahrenerzählungen und rettet so vor Rettungen. Dafür wird vor allem mit Blick auf die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts eine Kritik der »Revolution« nötig.60 Für die Philosophie nach 45 im deutschen Kontext hieße das: Die Sichtweisen auf die Existenz als ein »nacktes Das« (Heidegger) und auf die Welt als »verwaltete Welt« (Adorno) erscheinen zu sehr von der Verzweiflung bestimmt. Auch aktuelle hysterische Narrative und binäre Deutungsmuster wie etwa die in der westlichen Welt als toxische Selbstbeschreibungen herumgeisternden Konzepte »Patriarchat« oder »deep state« müssten in diesem Sinn dekonstruiert werden. Positiv erscheint solidarische Verzweiflung als Engagement für plausible utopische Lagebeschreibungen. Philosophie verneint so operativ den Gedanken, dass nur die Verzweiflung einen retten kann. Sie setzt sich dabei dezidiert von den Nachwirkungen theologischer Denkmuster ab. Somit wird etwa das Denken von Ernst Bloch auf­ gelöst, da dessen eschatologisches »Prinzip Hoffnung« immer nur wieder zu einem Prinzip Frustration aus enttäuschter Erlösung führen kann. Der »Möglichkeitssinn« (Musil) hält sich vielmehr wach mit einem säkularisierten Prinzip Versprechen, das auf die Gestaltungs­ kraft der Intelligenz vertraut. Diese manifestiert sich als Sinn für Proportionen und als Engagement für das Vage, das Gemischte, das Diversifizierte, für konstruierte Kontinuitäten und neuerfundene Bindungen, vor allem aber als die Fähigkeit, eine affirmative und produktive Haltung gegenüber der Exzellenz und dem Streben nach schon erreichter und neu zu erfindender Überdurchschnittlichkeit einnehmen zu können. Auch angesichts der Abgründe auf der dichten und verletzten Welt im »Anthropozäen« (Crutzen) wird damit weiter­

60 »[D]ie Revolte ist die Weigerung des Menschen, als Ding behandelt und auf die bloße Geschichte zurückgeführt zu werden. [...] Wenn die Revolte [...] eine Philoso­ phie begründen könnte, wäre es eine Philosophie der Grenzen, der berechneten Unwissenheit und des Wagnisses. Wer nicht alles wissen kann, kann nicht alles töten. [...] Die Revolte zielt [...] nur auf das Relative ab und kann nur eine gewisse Würde im Verein mit einer relativen Gerechtigkeit versprechen. [...] Ihre Welt ist die des Relativen. Statt mit Hegel und Marx zu sagen, dass alles notwendig sei, wiederholt sie bloß, alles sei möglich [...].« Camus, Der Mensch in der Revolte, S. 281, S. 326ff.

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hin auf das Prinzip eines zu einer erstaunlichen Selbstoptimierung fähigen Humanismus gesetzt.61 Vor allem aber wird Nietzsches Begriff einer transfigurativen Verzweiflung inmitten des derzeitigen Abgrundes der Verzweiflung wirksam als die Lizenz zur Distanz und die Fähigkeit, diese Distanz zu einer »künstlerischen Ferne«62 auszubauen. Durch diese Kunst des Abstandes wird die Offenheit zu einer Welt gewahrt, die am Abgrund steht, ohne durch den Schwindel des Abgrundes in eine resignative oder hysterische Verzweiflung zu verfallen. Nietzsches Denken lehrt »zwischen zwei Lärmen noch seine Stille zu finden«63. Das gelingt aber paradoxerweise nur, indem das Akute der Lage ignoriert wer­ den darf. Weltoffenheit stabilisiert sich durch das Kultivieren einer Weltvermeidungswelt, die sich durch eine »Kommunikationsvermei­ dungskommunikation«64 in Form hält. Dazu gehört eine apollinische Philosophie, die eine Distanz zum Unvermeidlichen aufbaut. Der Schein der Übersichtlichkeit ist die Luft in einer Welt, die einen nicht zu Atem kommen lässt. Um Heideggers berühmten pathetischen Ausspruch abzuändern: Nur noch eine Intelligenz, die bereit ist das Weltchaos denkend auf sich zu nehmen und die verzweifelte Situation in distanzierende Begriffe zu transfigurieren, kann uns retten. Wovor man nicht fliehen kann, damit muss man spielen. Für Nietzsche entsteht durch die Arbeit am Spiel der Begriffe eine Umstimmung. Als philosophisches Phänomen ist das Leben nicht nur zu ertragen, son­ dern es verlockt auch immer wieder neu zu der Libido des Erkennens: »Besorgt, doch nicht trostlos stehen wir eine kleine Weile beiseite, als die Beschaulichen, denen es erlaubt ist, Zeugen jener ungeheuren Kämpfe und Übergänge zu sein. Ach! Es ist der Zauber dieser Kämpfe, dass, wer sie schaut, sie auch kämpfen muss!«65

Für die Vorstellung eines zeitgemäßen Abgrundes der Verzweiflung, der sich von Ungeheuerlichkeit des menschlichen Einfallsreichtums beunruhigen lässt, genügt der Hinweis auf technische Durchbrüche, die in den letzten Monaten gelangen und unter den Stichworten »ChatGtp« – ein smarter Chatbot –, »Dishbrain – ein intelligenter Zellhaufen – und »Atlas« – ein humanoider Roboter – leicht zu finden sind. Es gehört wenig Phantasie dazu, eine Synthese dieser drei Erfindungen so zu vergegenwärtigen, dass eine ungute Fom von »Transhumanismus« am Horizont des Möglichen erscheint. 62 Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, S. 113. 63 Ebd., S. 192. 64 Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 235. 65 Nietzsche, Geburt der Tragödie, S. 87. 61

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Bei Nietzsche finden sich immer wieder Stellen, die mit einer besonderen Kraft diesen Zauber ausdrücken.66 Sie zeugen davon, dass auch ein Wissen um Abgründe stimulierend zu wirken vermag. Tatsächlich wird damit die Bedeutung von Abgründen umgewertet. Aus Verzweiflung wird Vitalität. Der Abgrund wird zum Grund für ein Staunen über das Dasein. Das Erstaunlichste dabei: Die Geburt einer Hoffnung aus dem Geiste der Verzweiflung: »Denn wenn die Welt wie ein dunkler Tierwald ist und aller wilden Jäger Lustgarten, so dünkt sie mich noch mehr und lieber ein abgründ­ liches reiches Meer, ein Meer voll bunter Fische und Krebse, nach dem es auch Göttern gelüsten möchte, dass sie an ihm zu Fischern würden und zu Netz-Auswerfern: so reich ist die Welt an Wunderlichem. [...] Sonderlich die Menschen-Welt, das Menschen-Meer – nach dem werfe ich nun meine goldene Angelrute aus und spreche: tue dich auf, du Menschen-Abgrund! [...] O welche vielen Meere rings um mich, welch dämmernde Menschen-Zukünfte! Und über mir – welch rosenrote Stille! Welch entwölktes Schweigen!«67

Literatur Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik. Frankfurt a. M. 1996. Camus, Albert: Fragen der Zeit. Essays. Übers. Guido G. Meister. Reinbek bei Hamburg 1960. Camus, Albert: Der Mensch in der Revolte. Übers. Justus Streller. Reinbek bei Hamburg 2001. Camus, Albert: Der Mythos des Sisyphos. Übers. Vincent von Wroblewski. Reinbek bei Hamburg 2000. Fichte, Johann Gottlieb: Die Bestimmung des Menschen. Hamburg 1979. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Die Phänomenologie des Geistes. Frankfurt a.M. 1992. Heidegger, Martin: Sein und Zeit. Tübingen 1953. Heidegger, Martin: Holzwege. Frankfurt a. M. 1980. Heidegger, Martin: Wegmarken. Frankfurt a.M. 1992. Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1998.

66 Nietzsche war sich dessen bewusst, dass in seinem Denken ein neuer Ton als »hal­ kyonischer« Ton angeschlagen wird. Insbesondere im »Zarathustra«: »Hier redet kein Fanatiker, hier wird nicht,gepredigt', hier wird nicht Glauben verlangt: aus einer unendlichen Lichtfülle und Glückstiefe fällt Tropfen für Tropfen, Wort für Wort – eine zärtliche Langsamkeit ist das Tempo dieser Reden.« Nietzsche, Ecce homo, S. 1067. 67 Nietzsche, Also sprach Zarathustra, S. 478.

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McDowell, John: Mind and World. (2nd Edition with a New Introduction by the Author). Cambridge/MA. 1996. Meyer-Albert, Michael: Objekte als souveräne Informanten. Adornos Idee des »Vorrangs des Objektes«. In: »Der Stand der Dinge. Theorien der Aneignung und des Gebrauchs«. S. 191–208. Basel 2022. Meyer-Albert, Michael: Die Welt denken. Versuch einer kritischen Reformulie­ rung von McDowells Begriff der Offenheit des Geistes zur Welt. Berlin 2017. Nietzsche, Friedrich: Unzeitgemässe Betrachtungen. Viertes Stück. Richard Wagner in Bayreuth. In: Werke in drei Bänden. Bd. 1. Hrg.: Karl Schlechta. München 1994 Nietzsche, Friedrich: Geburt der Tragödie. In: Werke in drei Bänden. Bd. 1. Hrg.: Karl Schlechta. München 1994. Nietzsche, Friedrich: Morgenröte. In: Werke in drei Bänden. Bd. 1. Hrg.: Karl Schlechta. München 1994. Nietzsche, Friedrich: Die fröhliche Wissenschaft. In: Werke in drei Bänden. Bd. 2. Hrg.: Karl Schlechta. München 1994. Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. In: Werke in drei Bänden. Bd. 2. Hrg.: Karl Schlechta. München 1994. Nietzsche, Friedrich: Jenseits von Gut und Böse. In: Werke in drei Bänden. Bd. 2. Hrg.: Karl Schlechta. München 1994. Nietzsche, Friedrich: Zur Genealogie der Moral. In: Werke in drei Bänden. Bd. 2. Hrg.: Karl Schlechta. München 1994. Nietzsche, Friedrich: Götzen-Dämmerung. In: Werke in drei Bänden. Bd. 2. Hrg.: Karl Schlechta. München 1994. Nietzsche, Friedrich: Ecce homo. In: Werke in drei Bänden. Bd. 2. Hrg.: Karl Schlechta. München 1994. Scheler, Max: Die Stellung des Menschen im Kosmos. Bonn 2007. Schmitz, Hermann: Die entfremdete Subjektivität. Von Fichte zu Hegel. Bonn 1992. Sloterdijk, Der Denker auf der Bühne. Nietzsches Materialismus. Frankfurt a. M. 1986. Sloterdijk, Peter: Sphären III. Schäume. Frankfurt a. M. 2004. Valéry, Paul: Die Krise des Geistes. 3 Essays. Übers. Herbert Steiner, Frank Rümelin. Wiesbaden 1956. Weber, Max: Die protestantische Ethik und der ›Geist‹ des Kapitalismus. Wein­ heim 2000. Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen. Frankfurt a.M. 2006.

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Corinna Schubert

»Faunische Züge der Verzweiflung« – Nietzsches stilistische Transformationen

Kaum ein Ereignis lässt die unabwendbare Endlichkeit ins Leben so schockhaft einbrechen, wie der plötzliche Tod eines Kindes, das gerade erst geboren wurde. Am 30. Dezember 1777 schreibt Gotthold Ephraim Lessing an den Braunschweiger Freund und Literaturhisto­ riker Johann Joachim Eschenburg einen denkwürdigen Brief: Meine Freude war nur kurz: Und ich verlor ihn so ungern, diesen Sohn! denn er hatte so viel Verstand! so viel Verstand! – Glauben Sie nicht, daß die wenigen Stunden meiner Vaterschaft, mich schon zu so einem Affen von Vater gemacht haben! Ich weiß, was ich sage. – War es nicht Verstand, daß man ihn mit eisern Zangen auf die Welt ziehen mußte? daß er sobald Unrat merkte? – War es nicht Verstand, daß er die erste Gelegenheit ergriff, sich wieder davon zu machen? – Freilich zerrt mir der kleine Ruschelkopf auch die Mutter mit fort!1

Zehn Tage später stirbt auch Eva Lessing im Kindbett. Die tragikomi­ sche Erzählung, die Lessing aufbietet, um von dem erschütternden Unglück zu berichten, kann als Zeichen eines bitteren, bissigen Ver­ suchs der Ermächtigung gelesen werden. Im größten Kummer legt Lessing den eigenen Weltüberdruss, den er manchmal empfunden haben mag, der Situation unter und erhöht das kleine Geschöpf damit zum Weisen und Wissenden. Kaum auf die Welt gekommen, habe der Kleine schon so viel von ihr begriffen, dass er sich sofort wieder abwenden musste. Ja, man habe ihn noch zum Blick auf diese Realität zwingen müssen, indem er gar nicht freiwillig den Weg ins Leben neh­ men mochte. Mit dieser Umdeutung erscheint der grausame Zufall nicht als solcher, sondern wird zur eigenmächtigen Entscheidung des Neugeborenen, nicht auf dieser Welt leben zu wollen. Stilistisch 1 Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hrsg. v. Wilfried Barner, Bd. 12: Briefe von und an Lessing 1776–1781, Frankfurt a. M. 1994, S. 116.

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entsteht die Tragikomik dadurch, dass dem Kindchen so viel Verstand und Einsicht in die reichlich unvollkommene Verfasstheit der Welt zugesprochen wird, dass sein Tod der Weigerung gleicht, auf dieser Welt auch nur einen Tag lang leben zu wollen. Friedrich Nietzsche mag Lessings Brief an die sagenhaften Worte des gefangenen Silen erinnert haben, der dem König Midas bekannt­ lich nur widerwillig seine Weisheit preisgab: Das Beste für den Men­ schen sei es, nicht geboren zu werden, das Zweitbeste aber, möglichst bald zu sterben (vgl. etwa GT 3 und GG 2).2 Bereits im Herbst 1869 hatte sich Nietzsche notiert: »Faunische Züge der Verzweiflung: z.B. bei Kleist, siehe den Abschiedsbrief, oder das Bild Lessings über den Tod des Kleinen sammt der Mutter.« (NL 1869, 1[84], KSA 7, S. 37) Der Dramatiker Heinrich von Kleist hatte sich, gerade vierunddreißig­ jährig, zusammen mit der an Krebs erkrankten Henriette Vogel am 21. November 1811 am Kleinen Wannsee bei Potsdam erschossen. Im noch am Vormittag verfassten Abschiedsbrief an die Halbschwester Ulrike betont er seine heitere, ruhige Stimmung angesichts seines Entschlusses und versichert ihr, sie habe alles Menschenmögliche getan, ihn zu retten, allein ihm sei nicht zu helfen gewesen. So wenig liegt Kleist jetzt am Leben und so sehr ist seine Gedankenwelt beherrscht von der Nähe des unausweichlichen Endes, dass er Ulrike, der Lebenden, wünscht, ihr möge »der Himmel einen Tod schenken, nur halb an Freude und unaussprechlicher Heiterkeit, dem meinigen gleich«.3 Nietzsches Notiz zu diesen beiden brieflichen Zeugnissen der Verzweiflung mag befremdlich erscheinen. Zumindest ist erklärungs­ bedürftig, was die ›faunischen Züge‹, die Verzweiflung annehmen könne, besagen sollen. Ein Unterfangen, das hinsichtlich des Les­ sing'schen Briefes leichter gelingt: Mit dem Faunischen oder Satyr­ haften ist eine boshaft-spielerische und leichtfertige Haltung ver­ bunden, die sich in Kommunikationsformen des Spottens und des Verlachens äußert. Diese können zwar die Regeln oder die Mächti­ gen oder das Schicksal der Lächerlichkeit preisgeben, ihnen jedoch 2 Dazu ausführlich Ivan Risafi de Pontes: Satyrs Spiel und Silens Weisheit bei Nietz­ sche. Eine ästhetische und philosophische Untersuchung, Würzburg 2014, insbes. S. 229–267. Der Autor unterstreicht das störrische Schweigen des Silen, auf das ein gellendes Lachen folgt, bevor er seine Weisheit preisgibt (ebd. S. 231). 3 Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke. Brandenburger Ausgabe, hrsg. v. Roland Reuß u. Peter Staengle, Bd. IV/3, Briefe 3, September 1807-November 1811, Basel/ Frankfurt a. M. 2010, S. 732.

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letztlich nicht gefährlich werden. In unserem Kontext wäre Lessings Brief als eine Art verzweifelter Triumph zu deuten, im Angesicht des Todes diesem noch Erklärungen und mindestens eine Rechtfertigung abzuringen. Lessing erfindet mit seiner Erzählung den Sinn, den der Tod entbehrt. Auf diese Weise vermag er es, dem Tod für einen Moment gleichsam ›eine Nase zu drehen‹ und seiner Gleichgültigkeit zu spotten. Zwar beansprucht der Begriff einer existenziellen Verzweiflung in Nietzsches Texten keinen großen Raum: Weder mit der Absicht theoretischer oder phänomenologischer oder auch nur psychologi­ scher Aufarbeitung hat sich Nietzsche der Verzweiflung gewidmet. Auf Begriffsdefinitionen verzichtete er bekanntlich aus philosophi­ schen Gründen.4 Und doch setzte sich Nietzsche intensiv und wie­ derholt mit bestimmten Ideen bzw. Phänomenen der Verzweiflung auseinander. In seinen Texten tritt Verzweiflung als Gefühl, als über­ steigerter Affekt in Erscheinung, der zwar benannt und umschrieben, aber nicht allein rational begründet werden kann. Eng verbunden mit Verlust- und Todesängsten, geht Verzweiflung mit existenziellen Erschütterungen einher, die die Bedeutung und Integrität des eigenen Selbst radikal infrage stellen. Zwei Phänomene scheinen Nietzsche besonders interessiert zu haben: die Verzweiflung an der Wahrheit und die Verzweiflung an der Ziellosigkeit des Lebens. In der hier vor­ gestellten Zusammenschau von Abschnitten aus Nietzsches Schriften der frühen 1870er Jahre sowie aus Menschliches, Allzumenschliches und der Morgenröthe treten Aspekte existenzieller Irritationen in einen Dialog. Dabei sind sie nicht als stringent von Nietzsche entwi­ ckelter Gedankengang zu verstehen – das würde den verschieden gearteten Texten nicht gerecht – vielmehr als eine Konstellation, durch die Nietzsches Beschäftigung mit dem Problemhorizont der Verzweiflung dargestellt werden kann. Außerdem soll gezeigt wer­ den, dass seine Auseinandersetzung verbunden ist mit einem an Spott, am Verlachen und Lächerlichmachen orientierten Schreibstil. Die transformierende Wirkung des Spottens erprobt Nietzsche auf vielfältige Weise und eröffnet damit Formen des Umgangs und der Distanzierung, in denen die Phänomene der Verzweiflung sowohl in ihrer Eigenheit ausdifferenziert werden als auch relational erscheinen. 4 Vgl. zum Begriff des flüssigen Sinns Werner Stegmaier: Nietzsches »Genealogie der Moral«, Darmstadt 1994, S. 70–83 und zu Nietzsches »Unbegrifflichkeit« Enrico Müller: Nietzsche-Lexikon, Paderborn 2020, S. 99 f.

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I. An der Wahrheit verzweifeln? Bereits in der Basler Zeit tritt uns Nietzsche als dystopischer Autor entgegen, der in einer kurzen Fabel den unendlichen Makrokosmos des Universums aufruft, gemessen an dem die Menschen verschwin­ dend klein erscheinen. Auch ihre geistigen Fähigkeiten samt der damit verbundenen Hybris sind dem Untergang geweiht. So beginnt der unpublizierte Text Ueber Wahrheit und Lüge im aussermorali­ schen Sinne: In irgend einem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Thiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmüthigste und verlogenste Minute der »Weltgeschichte«: aber doch nur eine Minute. (WL 1, KSA 1, S. 875)5

Denn der Planet erstarrt nach »wenigen Athemzügen der Natur«, die Gattung Mensch stirbt aus, womit auch das Ende des Geistes und der Erkenntnis besiegelt wäre. Nietzsches lakonisches Fazit lautet kurz darauf: »es gab Ewigkeiten, in denen [der menschliche Intellekt] nicht war; wenn es wieder mit ihm vorbei ist, wird sich nichts begeben haben. Denn es giebt für jenen Intellekt keine weitere Mission, die über das Menschenleben hinausführte« (WL 1, KSA 1, S. 875). Sind es zunächst die immensen Dimensionen des Universums in Zeit und Raum, vor deren Hintergrund den Menschen ihre Bedeu­ tungslosigkeit bedrohlich aufscheint, wird das wahre Drama erst durch die endgültige Vernichtung ihrer Lebensgrundlage fassbar. Die Natur hatte einige Milliarden Jahre lang Zeit, das Leben auf der Erde und nach weiteren Millionen Jahren den Menschen hervorzubringen. Sie wird als Universum auch fortexistieren, wenn die Sonne längst angefangen haben wird, aufzuquellen und sich auszudehnen. In etwa vier Milliarden Jahren wird die Erde durch die sich immer mehr erhöhende Strahlung desselben Gestirns versengt sein, dem sie ihre unzähligen Lebensformen verdankt. Solch ein Blick in die ferne Zukunft mag den meisten Menschen nur ein Achselzucken entlocken. Unmittelbar betroffen von dem, was in einigen Milliarden Jahren geschehen wird, sind sie nicht. Ist aber auch für die Geschichte des Geistes, an der jeder Denker und jede Vgl. zu möglichen Einflüssen von Schopenhauer, Pascal und Leopardi auf die Gestaltung der Fabel Sarah Scheibenberger: Kommentar zu Nietzsches »Ueber Wahr­ heit und Lüge im aussermoralischen Sinne«, Berlin/Boston 2016, S. 28 f.

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Philosophin mitzuschreiben sich anschickt, die Einsicht in dessen unabwendbare Finalität irrelevant? Nietzsche gibt dem Gedanken an eine zukünftig ausgelöschte Gattung Mensch hier einerseits Raum und nutzt ihn andererseits als Korrektiv für den menschlichen Stolz, der gerade die geistigen Fähigkeiten am höchsten bewertet: Die Fabel führt darauf hin, den Intellekt nicht etwa als Auszeichnung zu cha­ rakterisieren, sondern als »Hülfsmittel«, um die Menschen »eine Minute im Dasein festzuhalten; aus dem sie sonst, ohne jede Beigabe, so schnell wie Lessings Sohn zu flüchten allen Grund hätten« (WL 1, KSA 1, S. 876). War es in dem Brief Lessings noch der Verstand, der zur Weltentsagung führte, nimmt Nietzsche hier eine Umwertung der intellektuellen Fähigkeiten vor, indem er ihre Stärke gerade darin begründet, dass sie die Menschen durch Illusionen und andere Ver­ stellungskünste am Leben erhalten. Mit diesen Suggestionen verlässt der Text Ueber Wahrheit und Lüge das existenzielle Dilemma und thematisiert in seinem weiteren Verlauf bekanntlich die Neigung des Intellekts zu Lüge und Verstellung, die Unzuverlässigkeit der Sprache als Mittel der Welterkenntnis sowie ihre grundlegend metaphorische Verfasstheit. Mehr über die anklingende Verzweiflung erfahren wir in der ers­ ten der Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern. Unter dem Titel »Ueber das Pathos der Wahrheit« präludiert in diesem zeitlich ein paar Monate vor der Ausarbeitung von Ueber Wahrheit und Lüge verfassten Text die Erzählung vom Untergang der Welt und der menschlichen Erkenntnisformen zunächst wortgleich. Bemerkens­ wert ist jedoch die der Fabel nun gegebene überraschende Wendung. Denn die Menschen sterben und fluchen im Sterben der Wahrheit – ein Ausdruck ihrer Hilflosigkeit angesichts der Unmöglichkeit, Wahr­ heit im absoluten Sinne zu erreichen: »Dies würde das Loos des Men­ schen sein, wenn er eben nur ein erkennendes Thier wäre; die Wahr­ heit würde ihn zur Verzweiflung und zur Vernichtung treiben, die Wahrheit, ewig zur Unwahrheit verdammt zu sein.« (PW, KSA 1, S. 760) Doch der Mensch, so legt es Nietzsche nahe, ist eben auch ein ästhetisches Tier, das sich unbewusst mit Illusionen, Fälschungen, Träumen und allerlei Kunstgriffen umgibt, wodurch er der Verzweif­ lung an der Wahrheit entgeht. Philosophie als Wahrheitssuche will in Nietzsches Deutung diesen Zustand jedoch aufheben. In beiden Konstellationen dient die Fabel über den Untergang der Welt und des Menschen dazu, einerseits den Stolz auf die Erkenntnis, andererseits das ehrgeizige Streben nach Ruhm in der Nachwelt zu

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verspotten. Solch ein Spott und Verlachen nimmt dem Gegenstand zumindest für einen Moment seine Unbedingtheit. Verzweiflung erscheint bei Nietzsche also überwiegend durch ein Prisma des Spotts gebrochen: Mal neigt dieser sich mehr dem Humor zu, mal überwiegt das Lächerlichmachen. Immer aber geht es darum, wie wir noch sehen werden, durch die transformative und komplementäre Wirkung des Spotts ein Gegengewicht zu schaffen. In »Ueber das Pathos der Wahrheit« äußert sich der Spott darin, dass die Möglichkeit erwogen wird, der zur Wahrheit strebende Mensch sei fortwährend ein Getäuschter, sein Leib und Unbewusstes hielten ihm wichtige Informationen vor, zuletzt falle auch der Philo­ soph in seinem Engagement, die Menschen zur Wahrheit zu führen, in einen »magischen Schlummer« (PW, KSA 1, S. 760). Zieht man in Betracht, zu welchem Anlass und für wen die Schrift bestimmt war, ist es kaum verwunderlich, dass Nietzsche diesen Text mit einem Lob auf die Kunst enden lässt: Im Dezember 1872 hatte er die Fünf Vorre­ den Cosima Wagner als Weihnachtsgabe überreicht. Der pointierte Schlusssatz lautet entsprechend: »Die Kunst ist mächtiger als die Erkenntniß, denn sie will das Leben, und jene erreicht als letztes Ziel nur – die Vernichtung.« (PW, KSA 1, S. 760) Inwiefern aber kann Wahrheit vernichten? Wenn Nietzsche hier als letztes Ziel der Erkenntnis und damit als höchste Wahrheit die notwendige Einsicht in die Unerreichbarkeit aller Wahrheit setzt, wäre dies schon Grund zu Verzweiflung und Selbstaufgabe? Die Ant­ wort finden wir in der tragischen Gestalt des Dichters Heinrich von Kleist. Dieser hatte sich mit der Kantischen Erkenntnistheorie aus­ einandergesetzt, wobei bis heute unklar ist, ob er Kants Werke selbst gelesen oder sie vielmehr indirekt rezipiert hat.6 Kleist soll, nach gän­ giger Lesart nicht nur des 19. Jahrhunderts, daraufhin in eine Krise geraten sein.7 Nietzsche nimmt dieses Thema in der Arthur Schopen­ Vgl. die instruktive Studie von Kristina Fink: Die sogenannte ›Kantkrise‹ Heinrich von Kleists. Ein altes Problem aus neuer Sicht, Würzburg 2012, die einen detaillierten Überblick über die sehr verschiedenen Deutungsansätze gibt (insbesondere S. 40– 92). Nicht weniger umstritten ist auch die Frage, ob Kleist die Theorien Kants tat­ sächlich verstanden hat. 7 Kristina Fink diskutiert in ihrer Studie nicht nur die unterschiedlichen Positionen der Rezeptionsgeschichte, sondern rekonstruiert Kleists ›Kantkrise‹ auch unter kul­ turgeschichtlichen Gesichtspunkten als gesellschaftliche Krise der Epochenschwelle um 1800 (vgl. ebd. S. 329–339). Weniger überzeugend ist demgegenüber die Ansicht von Hillebrand: »Kleist nahm sich das Leben, weil er den Relativismus nicht ertragen 6

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hauer gewidmeten Dritten Unzeitgemässen Betrachtung auf und skiz­ ziert drei Gefahren, denen der Philosoph ausgesetzt gewesen sei: Ver­ einsamung, Verzweiflung und Verhärtung. Aus dem besonderen Zuschnitt, den die zweite Gefahr erhält, lässt sich der Einfluss von Kleists Aporie ablesen: Gerade die Beschäftigung mit der Kantischen Philosophie könne in ihrer breiteren Wirkung einen »zernagenden und zerbröckelnden Skepticismus und Relativismus« hervorrufen, bei sensibleren Geistern sogar zur »Erschütterung und Verzweiflung an aller Wahrheit« führen (SE 3, KSA 1, S. 355). In dieser Form äußere sich die unerträgliche Einsicht, kein letztgültiges Wahrheitskriterium zu besitzen. Nietzsche zitiert an dieser Stelle eines der bekanntesten Zeugnisse der ›Krise‹ Heinrich von Kleists, einen Brief an dessen damalige Verlobte Wilhelmine von Zenge: »Wir können nicht ent­ scheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint.« (SE 3, KSA 1, S. 355 f.)8 Im Falle eines Irrtums, so fährt Kleist fort, wäre die Gültigkeit einer solchen bloß scheinbaren Wahrheit nach dem Tod des Erkennenden nichtig. Von dieser Einsicht zeigt sich Kleist »in seinem heiligsten Innern […] ver­ wundet« und bekennt: »Mein einziges, mein höchstes Ziel ist gesun­ ken und ich habe keines mehr.« (SE 3, KSA 1, S. 356) Obwohl Nietz­ sche einem solchen idiosynkratischen Nachvollzug des Kantischen Denkens durchaus Achtung entgegenbringt, weil darin eine Sensibi­ lität aufscheint, die sich durch philosophische Texte tiefgreifend irri­ tieren lässt, hat er Kleists Position offenbar für einseitig befunden.9 Der ›Verzweiflung an der Wahrheit‹ zu verfallen, ist für ihn keine konnte.« (Bruno Hillebrand: »Literarische Aspekte des Nihilismus«. In: NietzscheStudien 13, 2010, S. 93). 8 Es ist der Brief vom 22. März 1801. Nietzsche lag vermutlich eine nicht korrekte Briefabschrift vor; indes sind die Unterschiede zum Original inhaltlich unwesentlich. Von den zitierten Stellen weicht die folgende vom eigentlichen Brief leicht ab, in dem es heißt: »Mein einziges, mein höchstes Ziel ist gesunken, und ich habe nun keines mehr.« (Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke. Brandenburger Ausgabe, hrsg. v. Roland Reuß u. Peter Staengle, Bd. IV/1, Briefe 1, März 1793-April 1801, Basel/ Frankfurt a. M. 2010, S. 506). 9 Barbara Neymeyr verweist zurecht auf Nietzsches »Darstellungsstrategie«, die »[ü]ber die erkenntnistheoretischen Implikationen der Kant-Rezeption« bei Kleist hinausweise und »eine existenzielle Bedeutung der Philosophie« betone (Barbara Neymeyr: Kommentar zu Nietzsches »Unzeitgemässen Betrachtungen«: III. Schopen­ hauer als Erzieher. IV. Richard Wagner in Bayreuth, Berlin/Boston 2020, S. 109). Allerdings scheint die Verzweiflung an der Wahrheit gerade nicht das nachahmens­ werte Ideal zu sein, sondern sie gilt als Gefahr, der etwa mit Schopenhauers holisti­ scher Sichtweise begegnet werden könne.

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Option. Jedenfalls weist Nietzsche wiederholt darauf hin, dass das Ganze des Lebens aus dem Blick geraten könne, wenn einzelne Wis­ senschaften dominant werden. War es in »Ueber das Pathos der Wahrheit« die Aufgabe der Kunst, einer solchen Tendenz entgegen­ zuwirken, so ist es hier Schopenhauer, der »dem Bilde des Lebens als einem Ganzen sich gegenüberstellte, um es als Ganzes zu deuten« und der ein »regulatives Gesammtbild« schafft (SE 3, KSA 1, S. 356). Auf diese Weise, so scheint es Nietzsche nahezulegen, entging Scho­ penhauer auch der Gefahr, am Wahrheitsproblem zu verzweifeln. Hinsichtlich der Bedeutung der Gattung Mensch gelangt Nietz­ sche jedoch zu einem gegenteiligen Schluss. 1875 hatte er umfang­ reiche Notizen über Eugen Dührings Buch Der Werth des Lebens angefertigt und in einer Schlussbetrachtung eigene Gedanken notiert (vgl. NL 1875, 9[1]).10 Diese fließen drei Jahre später vor allem in den Abschnitt 33 von Menschliches, Allzumenschliches I ein.11 Dort wird konstatiert, dass der Glaube an einen allgemeingültigen Wert des Lebens »auf unreinem Denken« beruhe (MA I, 33, KSA 2, S. 52), weil nie das Ganze des Lebens in den Blick genommen werde: Entweder liegt der Fokus auf Ausnahmefiguren und ausgewählten (positiven) Eigenschaften der Menschen oder das Mitgefühl für das Leiden Ande­ rer wird aufgrund von Selbstbezogenheit schlicht verweigert. Nietz­ sche stellt daraufhin dem Urteil Dührings die wenig ermutigende Einsicht in die Bedeutungslosigkeit und Ziellosigkeit alles menschli­ chen Strebens entgegen: 10 Zu Nietzsches Dühring-Rezeption, auch in Hinsicht auf MA I 32–34 vgl. Aldo Venturelli: »Asketismus und Wille zur Macht. Nietzsches Auseinandersetzung mit Eugen Dühring«. In: Nietzsche-Studien 15, 1986, S. 107–139, insbes. S. 113–122; sowie Robin Small: »Nietzsche, Dühring and time«. In: Journal of the history of phi­ losophy 28/2, 1990, S. 229–250. 11 Eine ausführliche Studie zum ersten Buch von Menschliches, Allzumenschliches I hat Peter Heller: »Von den ersten und letzten Dingen«. Studien und Kommentar zu einer Aphorismenreihe von Friedrich Nietzsche, Berlin 1972 vorgelegt. Die bestehenden argu­ mentativen Inkonsistenzen der Aphorismen 31–34 arbeitet Andreas Urs Sommer: Kommentar zu Nietzsches »Menschliches Allzumenschliches I«, Berlin/Boston 2023 heraus. Ich danke Andreas Urs Sommer für einen Vorabblick in das Manuskript. Viva­ relli arbeitet die Bezüge der Aphorismen MA I 32–34 zu Schopenhauer, Vico und Montaigne heraus, allerdings ohne Hinweis auf den Einfluss Dührings. Sie deutet die Passagen als Weg des freiwerdenden Geistes, der auch Irrtum und Unwahrheit als notwendig anerkennt (Vgl. Vivetta Vivarelli: »Die historische Philosophie und das Abenteuer des versuchenden Denkens«. In: Eike Brock und Jutta Georg (Hrsg.): Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches. Klassiker auslegen, Bd. 72, Ber­ lin/Boston 2020, S. 27–43).

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[G]elänge es [jemandem], das Gesammtbewusstsein der Menschheit in sich zu fassen und zu empfinden, er würde mit einem Fluche gegen das Dasein zusammenbrechen, – denn die Menschheit hat im Ganzen keine Ziele, folglich kann der Mensch, in Betrachtung des ganzen Ver­ laufes, nicht darin seinen Trost und Halt finden, sondern seine Ver­ zweifelung. Sieht er bei Allem, was er thut, auf die letzte Ziellosigkeit der Menschen, so bekommt sein eigenes Wirken in seinen Augen den Charakter der Vergeudung. Sich aber als Menschheit (und nicht nur als Individuum) ebenso vergeudet zu fühlen, wie wir die einzelne Blüthe von der Natur vergeudet sehen, ist ein Gefühl über alle Gefühle. – Wer ist aber desselben fähig? Gewiss nur ein Dichter: und Dichter wissen sich immer zu trösten. (MA I, 33, KSA 2, S. 53)

Diesmal ohne Bezug zur oben angeführten Fabel, wird das uns bereits bekannte Thema einer aus dem Verlust letzter Ziele resultierenden Verzweiflung aufgerufen. Hätte die Menschheit als Gattung ein Ziel, könnten beispielsweise Leiden und schweres Schicksal dadurch gerechtfertigt werden. So aber bleiben sie grundlos, sinnlos und ver­ weisen nur auf sich selbst. Aus einer solchen nur hypothetisch ein­ nehmbaren Metaposition, die Nietzsche deutlich als ›Gefühl‹ aus­ weist, kann weder Trost noch Halt entspringen. Mehr noch, sie führt direkt in eine krisenhafte Handlungsunfähigkeit, weil die Ambition, etwas über sich hinaus zu schaffen, von dieser Einsicht gelähmt wird: Ist schon der einzelne Mensch mit seiner kurzen Lebensspanne in den Dimensionen der Natur gleichsam ›vergeudet‹, so sieht sich auch die Gattung, die Menschheit, verschwendet ohne Sinn, Zweck und Ziel. Das Ende von Aphorismus 33 lässt wiederum das bewährte Korrektiv aufblitzen: Jenes bis aufs Äußerste bedrückende »Gefühl über alle Gefühle« gilt hier als das Produkt der lebhaftesten Phantasie, die vor allem Dichtern eigne – diese aber »wissen sich immer zu trösten« und damit vor der letzten Konsequenz zu bewahren (MA I, 33, KSA 2, S. 53).12 Daraufhin nimmt der folgende Abschnitt noch einmal das Drama Kleists auf, freilich ohne den Namen zu nennen, und formu­ liert die Frage: »[O]b man bewusst in der Unwahrheit bleiben könne? 12 Heller zufolge ist von den Dichtern dennoch keine »Lösung des verzweifelten Dilemmas« zu erwarten: Ihre Trostmittel und Illusionen »lindern das Leiden nur einen Augenblick lang« (Peter Heller: »Von den ersten und letzten Dingen«. Studien und Kommentar zu einer Aphorismenreihe von Friedrich Nietzsche, Berlin 1972, S. 431). Gerade in solchen ›Augenblicken‹ jedoch könnte der eigentliche Effekt künstlerischen Trostes, entlastenden Lachens und nicht zuletzt die korrigierende Wirkung des Spottes liegen.

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oder, wenn man diess müsse, ob da nicht der Tod vorzuziehen sei?« (MA I, 34, KSA 2, S. 53 f.) An dieser Stelle wendet Nietzsche das Problem noch einmal um und deutet es psychologisch. Es wird nun zu einer Charakterfrage, wen die Ungewissheit aller Wahrheit bzw. die Gewissheit der Unwahrheit trifft, verunsichert, irritiert und ins Wanken bringt: Die »Entscheidung über die Nachwirkung der Erkenntniss« sei wesentlich »durch das Temperament eines Men­ schen« bestimmt (MA I, 34, KSA 2, S. 54). Mithin, so führt Nietzsche aus, sei eine Haltung gegenüber dem Zweifel an aller Wahrheit denk­ bar, die deshalb nicht zur Verzweiflung führt, weil sie, orientiert etwa an den Stoikern, sich von heftigen Affekten und Reaktionen befreit hat. Selbst die »Anstachelung des Gedankens, dass man nicht nur Natur oder mehr als Natur sei« (ebd.), würde in dieser Darstellung gemütsberuhigter Gelassenheit nicht als Kränkung oder Bedrohung empfunden, wie noch kurz zuvor angesichts der »letzte[n] Ziellosig­ keit des Menschen« (MA I, 33, KSA 2, S. 53). Auf diese Weise sind in Menschliches, Allzumenschliches I 33 und 34 sowohl das Problem des Bedeutungs- als auch des Wahrheitsverlusts verschränkt und aufein­ ander bezogen. Aus den bisherigen Ausführungen sollte deutlich geworden sein, dass es nicht Nietzsches Ansinnen gewesen ist, sich systematisch mit der Verzweiflung, ihrer Wirkung oder möglichen Einstellungen zu ihr auseinanderzusetzen. Dennoch ist eine – weniger explizit aus­ formulierte als vielmehr performativ in die Texte eingeschriebene – Haltung bemerkbar, die darin besteht, die sich auftuenden Abgründe zu verspotten. Im Gegensatz zum stoischen Impulsverzicht würde mit dem Spotten und Verlachen der Versuch unternommen, Affekte ostentativ auszukosten, sie in Relationen zu setzen und produktiv zu transformieren.13

II. Verzweifeln und verspotten Ich habe bereits erwähnt, dass sich Nietzsche in seinen Texten auf eine bestimmte Weise zur Verzweiflung zu positionieren sucht. Mit ein­ 13 Zum Spott als Kommunikationsform, die einen Zwischenraum der Distanznahme durch Lachen eröffnet und mit Zugängen zur Wahrheit spielt vgl. Corinna Schubert: »Von der Weisheit der Narren – Annäherung an das Gedicht Narr in Verzweiflung«. In: Christian Benne und Claus Zittel (Hrsg.): Nietzsche und die Lyrik. Ein Kompen­ dium, Stuttgart 2017, S. 223–233.

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dringlichen Worten thematisiert er immer wieder aufs Neue die hier diskutierten Modi der Verzweiflung: die Sinn- und Ziellosigkeit der Menschheit, die Belanglosigkeit ihres zukünftigen Verschwindens, die auf den Menschen limitierten geistigen Fähigkeiten und das Lei­ den am Wahrheitsdilemma, wie es Kleist repräsentierte. Gleichzeitig werden diese Themen in ein Verhältnis zur stilistischen Ebene gesetzt, die charakterisiert ist durch spöttische Einschübe und einen unerns­ ten, übermütigen Ton. Auch spezifische thematische Konstellierun­ gen spielen dabei eine Rolle, wenn beispielsweise der Untergang der Menschheit mit ihrem Streben nach Ruhm verbunden wird. Aus diesen Techniken resultiert ein Distanzgewinn, der die Verzweiflung nie als solche stehen lässt (der sie vielleicht nicht einmal entstehen lässt), sondern bereits einen Umgang mit ihr kommuniziert: Wenn es in einer radikal säkularisierten Welt Aufgabe des Menschen ist, sich mit dem kränkenden Verlust seiner metaphysischen Bedeutung zu arrangieren, die ihm der Gottesglaube einst vorgaukelte, dann wäre auch der Schock existenzieller Verzweiflung – als Abgrund der Sinn­ losigkeit des Daseins und Abwesenheit einer Wahrheit verbürgenden Instanz – eine Form der Ablösung des Menschen von Gott und damit Teil seiner Emanzipierung. Indem Nietzsche Darstellungsformen wählt, die den Gegen­ stand der Auseinandersetzung ins Lächerliche ziehen und verspotten, wird ein kritischer Abstand zur Schwere der Themen geschaffen.14 Das Lachen über die Verzweiflung ist ein Verlachen mit katharti­ schem Impuls. Dabei korreliert der maßlos bedeutsame Ernst der Themen (Ver­ lust von Sinn und Wahrheit) mit der Fallhöhe des Lachens. Anders 14 Die Literatur über die Bedeutung des Lachens in Nietzsches Philosophie ist zahl­ reich. Es folgt eine Auswahl zur Rigorosität und zum Risiko des Lachens bei Nietzsche. Als Wahrlachen bei Jason M. Wirth: »Nietzsches Fröhlichkeit. Gibt es etwas, über das absolut nicht mehr gelacht werden darf?«. In: Nietzscheforschung 11, 2004, S. 143– 151; von den unterschiedlichen Formen des Lachens nach dem ›Tod Gotte‹ vgl. Ulrich Klingmann: »Ein Dämon, welcher lacht. Lachen und Legitimation im Werk Nietz­ sches«. In: Acta Germanica 25, 1997, S. 35–54; vom Lachen als Mittel der kritischen Erkenntnis vgl. Christiaan L. Hart-Nibbrig: »Nietzsches Lachen«. In: Merkur 37/1, 1983, S. 82–89; zum Lachen als exzessive Form des Wissens vgl. Adrian Switzer: »Signifying Laughter: The Comic Style of Nietzsche's ›Die fröhliche Wissenschaft‹“. In: David Gallagher (Hrsg.): Comedy in Comparative Literature. Lewiston/NY 2010, S. 57–87; zum abgründigen Lachen bei Baudelaire, Heine und Nietzsche vgl. Ivan Risafi de Pontes: Satyrs Spiel und Silens Weisheit bei Nietzsche. Eine ästhetische und philosophische Untersuchung, Würzburg 2014.

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ausgedrückt: je tiefer der Schmerz, je existenzieller und abgründiger die Frage, je größer ihre Ehrwürdigkeit, Dignität und Autorität (der Tod ist gleichsam die letzte Autorität), desto kränkender wird auch der Spott darüber empfunden. Aus diesem Grund bringe ich Nietzsches stilistische Formen hier nicht auf den Begriff des Ironischen oder verbinde sie mit einer Philosophie des Lachens, sondern betone die Modi des Auslachens, Verlachens und Spottens als radikalere Lachformen, die der Radikalität ihrer Themen entsprechen.15 In diesem Sinne benennt Morgenröthe 49 das »neue Grundgefühl: unsere endgültige Vergänglichkeit« und reflektiert das menschliche Geltungsbedürfnis, das sich als Ziel göttlicher Schöpfung entwarf. Dadurch vermochte der Mensch zwar nicht eigentlich dem Tod zu entrinnen, aber er fühlte sich in einem Jenseitsversprechen aufgeho­ ben, das über die Ewigkeit der Seele hinaus die Gattung selbst adelte. Doch weder die Abkunft des Menschen noch seine Zukunft verbürgen jetzt noch die Zugehörigkeit zu jener höchsten Ordnung. Erstere wegen der evolutionären Abstammungsgeschichte, letztere aufgrund der Tatsache, dass nicht nur der einzelne Mensch, sondern die Menschheit insgesamt als endlich gedacht werden kann. Beide Optio­ nen, die hier versperrten Wegrichtungen gleichen, sind mit Sprach­ witz gestaltet: Auf der einen Seite »steht der Affe, nebst anderem greulichen Gethier, und fletscht verständnissvoll die Zähne«, auf der anderen Seite »steht die Graburne des letzten Menschen« als Sinnbild der endgültigen Vergänglichkeit (M 49, KSA 3, S. 54).16 Wenn dann mit boshaften Diminutiven argumentiert wird, es sei unlogisch, dass 15 Für Silvia Stoller besteht das ›radikale Lachen‹ bei Nietzsche darin, dass es als ›über sich selbst-Lachen‹ die Infragestellung der eigenen Ansichten bedeutet sowie auch eine »Anwendung auf die Philosophie selbst«, als »Mittel der Kritik« zulässt (Silvia Stoller: »Nietzsches radikales Lachen. Spuren einer Philosophiekritik der ungewohn­ ten Art«. In: Helmut Heit und Sigridur Thorgeirsdottir (Hrsg.): Nietzsche als Kritiker und Denker der Transformation, Berlin/Boston 2016, S. 288). 16 In seinem Kommentar zur Morgenröthe deutet Jochen Schmidt den ›letzten Men­ schen‹ in M 49 als Niedergangsfigur analog zu den ›letzten Menschen‹ des Zarathustra (Vgl. Jochen Schmidt und Sebastian Kaufmann: Kommentar zu Nietzsches »Morgen­ röthe«, »Idyllen aus Messina«, Berlin/München/Boston 2015, S. 142). Dass diese Schlussfolgerung nicht zwingend ist, lässt sich mit einem Blick auf den Aphorismen­ titel belegen. Wenn, wie es dort heißt, »[d]as neue Grundgefühl: unsere endgültige Ver­ gänglichkeit« ist (M 49, KSA 3, S. 53), dann wäre M 49 vor dem Hintergrund des faktischen Endes der Menschheit zu lesen. Die Menschen werden weder in ein Jenseits eingehen, noch vermöge eines teleologischen Geschichtsverlaufs (man denke etwa an Kant und Hegel) Anteil am Göttlichen haben. In diesem Sinne benennt der Abschnitt den ›letzten Menschen‹ als Letzten seiner Gattung in ferner Zukunft.

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»Faunische Züge der Verzweiflung« – Nietzsches stilistische Transformationen

es im Kosmos »für irgend ein Sternchen« oder auch nur »für ein Gat­ tungchen« ausnahmsweise möglich sein sollte, »zur Gottverwandt­ schaft und Ewigkeit« zu gelangen (ebd.), wurde sichtbar die Wirkung des Spottes zugunsten einer sachlichen Darstellung gewählt. Der letzte Satz lautet unmissverständlich und verhältnismäßig grob: »Fort mit solchen Sentimentalitäten!« (Ebd.). Man könnte meinen, Nietzsche habe ein besonderes Vergnügen daran, den Stolz des Menschen zu kränken und ihm auf diese Weise seine Hybris endgültig verächtlich zu machen. Deutlich wird das etwa an den Vergleichen, die herangezogen werden, um zu illustrieren, wie sehr der Mensch in seiner Selbsteinschätzung fehlgreift: An einer Stelle hält sich die Mücke (WL 1), an einer anderen die Ameise (MA II, WS 14) für das Zentrum der Welt. Im eben besprochenen Abschnitt aus der Morgenröthe sind es Ameise und Ohrwurm, die genau so wenig wie der Mensch in eine höhere Ordnung aufzusteigen vermögen (M 49). Gerade dadurch, dass der Mensch mit diesen winzigen Insekten verglichen wird, soll das Lächerliche an seiner Situation hervorgehoben und sein Glaube an seine herausgehobene Stellung in der Natur verlacht werden. In einem Aphorismus aus Der Wanderer und sein Schatten wird der Mensch gar dem »Spottgelächter aller übrigen Geschöpfe« aus­ gesetzt (MA II, WS 14, KSA 2, S. 548). Die seit der Antike einfluss­ reiche Vorstellung, die im Barock den Namen theatrum mundi erhält, worin Gott sich am Schauspiel des menschlichen Lebens und Leidens ergötzt, gilt hier als misslungener Versuch der Menschen, sich »ein­ mal freiwillig [zu] demüthigen« (MA II, WS 14, KSA 2, S. 549). Die Demütigung besteht darin, dass Gott die Menschen allein deshalb leiden lässt, weil solch ein interessantes Schauspiel die den Unsterb­ lichen bisweilen überkommende Langeweile vertreibt. So erfindet sich der Mensch eine ultimativ grundlose und abgründige Rechtfer­ tigung seiner vielzähligen Leiden: Sie sind nicht etwa Strafe sondern lediglich Belustigung. Doch diese Selbstdemütigung wird in Nietz­ sches ironischer Darstellung von der Eitelkeit durchkreuzt, weil auch auf dem Theater Gottes der Mensch schlechterdings nichts Geringeres sein will als einzigartig und »etwas ganz Unvergleichliches« (MA II, WS 14, KSA 2, S. 549). Das Resümee: »Unsere Einzigkeit in der Welt! ach, es ist eine gar zu unwahrscheinliche Sache!« (ebd.) wird von Nietzsche nun in kurzen Skizzen mit Thesen aus der Astronomie belegt. Gegenüber der unbelebten Materie im Kosmos sei das Leben­ dige nur ein unbedeutendes Epiphänomen. Gleichwohl gebe es die

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Bedingungen für unzählige erdähnliche Systeme, wobei das Leben immer nur einen kurzen Augenblick in der Existenz der ansonsten unbelebten Gestirne repräsentiere. Deshalb könne auch die mensch­ liche Lebensform »keineswegs das Ziel und die letzte Absicht« der Welt sein (MA II, WS 14, KSA 2, S. 549). Der Aspekt der relativen Zeitdimension des Lebens ist uns schon von der zweifachen Ausfüh­ rung der Fabel in WL 1 und PW bekannt. Hier aber tritt die geballte wissenschaftliche Argumentation direkt in Konkurrenz zur schon grotesk modifizierten Erzählung von der Bedeutung des Menschen für Gott als dessen liebstem Schauspieler. Reichlich scharfzüngig hatte Nietzsche den Aphorismus eröffnet und spöttisch ein Motiv für die Erfindung der Götter angeboten: »Es müsste geistigere Geschöpfe geben, als die Menschen sind, blos um den Humor ganz auszukosten, der darin liegt, dass der Mensch sich für den Zweck des ganzen Welt­ endaseins ansieht« (MA II, WS 14, KSA 2, S. 548). Obwohl alle bekannten Themen anklingen – die Hybris und Eitelkeit des Menschen, die kosmische Relativierung, selbst der Weltuntergang – erhält der Schmerz über den metaphysischen Bedeutungsverlust des Menschen diesmal keinen Raum. Der Spott überwiegt und veranschaulicht damit den Aphorismentitel, in dessen Sinne »[d]er Mensch, der Komödiant der Welt« ist. In Nietzsches Texten sind solche Invektiven nur verstreut zwi­ schen philosophischen Erörterungen, aphoristischen Betrachtungen, zwischen psychologischen, erkenntniskritischen und ästhetischen Überlegungen aufzufinden. So eruptiv wie das Lachen, kann der Spott als eine momenthaft aufflackernde Geste verstanden werden, die für kurze oder längere Zeit Entlastung von allem Ernst bringt, den sie relativiert. Dadurch ergibt sich ein abwechselndes Nacheinander von sinnstiftenden Erhaltungs- und sinnzerstörenden Entlastungsstrate­ gien. Auf diese Weise wirkt Spott komplementär als »corrigirende[s] Lachen« (FW 1, KSA 3, S. 372).17 Und er wirkt der Unerbittlichkeit, 17 Der Abschnitt thematisiert die »Ebbe und Fluth« (FW 1, KSA 3, S. 372), also das rhythmische Wiederkehren einander widerstreitender Ansichten, die den Lebenssinn und -zweck verschieden deuten: in feierlichem Ernst bejahend oder in unbekümmer­ tem Leichtsinn verlachend. Letzterer äußert sich auch in der bei Nietzsche häufig vor­ kommenden Form des sich-selbst-Auslachens: »Aber du wirst nie den finden, der dich, den Einzelnen, auch in deinem Besten ganz zu verspotten verstünde, der deine gren­ zenlose Fliegen- und Frosch-Armseligkeit dir so genügend, wie es sich mit der Wahr­ heit vertrüge, zu Gemüthe führen könnte! Ueber sich selber lachen, wie man lachen müsste, um aus der ganzen Wahrheit heraus zu lachen, – dazu hatten bisher die Besten

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»Faunische Züge der Verzweiflung« – Nietzsches stilistische Transformationen

Einseitigkeit und Unbedingtheit aller aussichtslosen Verzweiflung und aller schwermütigen Wahrheit entgegen. Zusammenfassend ließe sich sagen, dass die beiden von Nietz­ sche dargestellten Phänomene der Verzweiflung in einer tiefen Erschütterung des menschlichen Selbstbildes und Selbstverständnis­ ses gründen. Hatte sich der Mensch einst in enger Verbindung mit dem Göttlichen gewähnt, das seiner Anwesenheit in der Welt Recht­ fertigung, Richtung, Zweck und Ziel gab, so wiegt der Verlust eines vermeintlich immer schon vorhandenen Lebenssinns genauso schwer wie die Einsicht in die endgültige Vergänglichkeit sowohl des einzel­ nen Menschen als auch der Menschheit. Unwiderruflich sterblich, ohne den vormaligen Glauben an die Ewigkeit der Seele und in die Abgründigkeit eines Lebens geworfen, das einer höheren Bedeutung und Wahrheit entbehrt, scheint Verzweiflung die Rebellion gegen eben dieses Unvermeidliche zu sein. Verzweiflung wächst in diesem Sinne aus dem Widerstand gegen die letzten Konsequenzen des ›Todes Gottes‹. Demgegenüber begreift Nietzsche den Verlust meta­ physischer Sicherheiten einerseits als neue Freiheit des Denkens und der Lebensgestaltung. Andererseits kultiviert er, wie gezeigt wurde, einen spöttischen Umgang mit diesem einschneidenden Bruch. »Den höchsten Begriff vom Lyriker hat mir Heinrich Heine gegeben«, so resümiert Nietzsche in Ecce homo: »Er besass jene göttliche Bosheit, ohne die ich mir das Vollkommne nicht zu denken vermag« (EH klug 4, KSA 6, S. 286). Von Heines bissigem, satirischem Stil angezogen, hat sich auch Nietzsche einer Sprachkunst bedient, die im boshaften Verlachen gerade der existenziellen Ängste ein Korrektiv zu etablieren sucht.

nicht genug Wahrheitssinn und die Begabtesten viel zu wenig Genie!« (FW 1, KSA 3, S. 370).

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Verwendete Siglen EH

Ecce homo

GG

Die Geburt des tragischen Gedankens

GT

Die Geburt der Tragödie

M

Morgenröthe

MA I

Menschliches, Allzumenschliches (Erstes Buch)

MA II, WS

Menschliches, Allzumenschliches (Zweites Buch: Der Wanderer und sein Schatten)

NL

Nachlass

PW

Ueber das Pathos der Wahrheit (Erste der Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern)

SE

Schopenhauer als Erzieher

WL

Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne

Literatur Fink, Kristina: Die sogenannte ›Kantkrise‹ Heinrich von Kleists. Ein altes Problem aus neuer Sicht, Würzburg 2012. Hart-Nibbrig, Christiaan L.: »Nietzsches Lachen«. In: Merkur 37/1, 1983, S. 82– 89. Heller, Peter: »Von den ersten und letzten Dingen«. Studien und Kommentar zu einer Aphorismenreihe von Friedrich Nietzsche, Berlin 1972. Hillebrand, Bruno: »Literarische Aspekte des Nihilismus«. In: Nietzsche-Stu­ dien 13, 2010, S. 80–100. Kleist, Heinrich von: Sämtliche Werke. Brandenburger Ausgabe, hrsg. v. Roland Reuß u. Peter Staengle, Bd. IV/1, Briefe 1, März 1793-April 1801, Basel/ Frankfurt a. M. 2010. Kleist, Heinrich von: Sämtliche Werke. Brandenburger Ausgabe, hrsg. v. Roland Reuß u. Peter Staengle, Bd. IV/3, Briefe 3, September 1807-November 1811, Basel/Frankfurt a. M. 2010. Klingmann, Ulrich: »Ein Dämon, welcher lacht. Lachen und Legitimation im Werk Nietzsches«. In: Acta Germanica 25, 1997, S. 35–54 Lessing, Gotthold Ephraim: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hrsg. v. Wilfried Barner, Bd. 12: Briefe von und an Lessing 1776–1781, Frankfurt a. M. 1994. Müller, Enrico: Nietzsche-Lexikon, Paderborn 2020.

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»Faunische Züge der Verzweiflung« – Nietzsches stilistische Transformationen

Neymeyr, Barbara: Kommentar zu Nietzsches »Unzeitgemässen Betrachtun­ gen«: III. Schopenhauer als Erzieher. IV. Richard Wagner in Bayreuth, Ber­ lin/Boston 2020. Risafi de Pontes, Ivan: Satyrs Spiel und Silens Weisheit bei Nietzsche. Eine ästhetische und philosophische Untersuchung, Würzburg 2014. Scheibenberger, Sarah: Kommentar zu Nietzsches »Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne«, Berlin/Boston 2016. Schmidt, Jochen und Kaufmann, Sebastian: Kommentar zu Nietzsches »Morgen­ röthe«, »Idyllen aus Messina«, Berlin/München/Boston 2015. Schubert, Corinna: »Von der Weisheit der Narren – Annäherung an das Gedicht Narr in Verzweiflung«. In: Benne, Christian und Zittel, Claus (Hrsg.): Nietz­ sche und die Lyrik. Ein Kompendium, Stuttgart 2017, S. 223–233. Small, Robin: »Nietzsche, Dühring and time«. In: Journal of the history of phi­ losophy 28/2, 1990, S. 229–250. Sommer, Andreas Urs: Kommentar zu Nietzsches »Menschliches Allzumensch­ liches I«, Berlin/Boston 2023. Stegmaier, Werner: Nietzsches »Genealogie der Moral«, Darmstadt 1994. Stoller, Silvia: »Nietzsches radikales Lachen. Spuren einer Philosophiekritik der ungewohnten Art«. In: Heit, Helmut und Thorgeirsdottir, Sigridur (Hrsg.): Nietzsche als Kritiker und Denker der Transformation, Berlin/Boston 2016, S. 275–296. Switzer, Adrian: »Signifying Laughter: The Comic Style of Nietzsche's ›Die fröhliche Wissenschaft‹“. In: David Gallagher (Hrsg.): Comedy in Comparative Literature. Essays on Dante, Hoffmann, Nietzsche, Wharton, and Cabrera Infante, Lewiston/NY 2010, S. 57–87 Venturelli, Aldo: »Asketismus und Wille zur Macht. Nietzsches Auseinander­ setzung mit Eugen Dühring«. In: Nietzsche-Studien 15, 1986, S. 107–139. Vivarelli, Vivetta: »Die historische Philosophie und das Abenteuer des versu­ chenden Denkens«. In: Brock, Eike und Georg, Jutta (Hrsg.): Friedrich Nietz­ sche: Menschliches, Allzumenschliches. Klassiker auslegen, Bd. 72, Berlin/ Boston 2020, S. 27–43. Wirth, Jason M.: »Nietzsches Fröhlichkeit. Gibt es etwas, über das absolut nicht mehr gelacht werden darf?«. In: Nietzscheforschung 11, 2004, S. 143–151.

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Kurt Röttgers

Verzweiflung und Melancholie in speziellem Hinblick auf Nietzsche

Abgesehen von einem möglichen und teilweise realisierten metaphy­ sischen oder existentiellen Hintergrund, z.B. bei Kierkegaard1, wird man wohl allgemein sagen können, dass der Begriff der Verzweiflung ein Begriff für eine subjektive Befindlichkeit2 ist. Ein solcher anthro­ pozentrischer Begriff gerät jedoch alsbald in Konflikt mit Nietzsches Fundamentalkritik des Subjekts und der Subjektivität. Daher soll im folgenden diese Kritik dargestellt und als Leitlinie für die anschließenden Überlegungen übernommen werden (1). Das führt im weiteren zu dem Vorschlag, den Begriff der Verzweiflung durch denjenigen, tragfähigeren Begriff der Melancholie zu ersetzen (2). Dazu wird auf die Entwicklung dieses Begriffs seit der Antike einzugehen sein (3). Schließlich soll dieser Begriff auf Nietzsches Denken bezogen werden (4). Dabei wird sich zeigen, dass der Begriff der Melancholie geeignet ist, die Anthropozentrik einer subjektiven Befindlichkeit zu verlassen und im Sinne einer Medialitätszentrie­ rung den melancholischen Text als eine Ausgestaltung des kommuni­ kativen Textes3 zu begreifen, der sich als Zwischen von möglichen Subjektpositionen entfaltet. 1 S. Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode u.a., hrsg. v H. Diem u. W. Rest. 2. Aufl. München 1976, insbes. 1. Tl.: »Die Krankheit zum Tode ist Verzweiflung«. 2 So einhellig die Thematisierung bei Bollnow (Wesen der Stimmungen), Jaspers (Allgemeine Psychopathologie), s. die Umfassende Darstellung bei Ulrich Walter Diehl: Verzweiflung. https://www.ulrich-walter-diehl.de/psychologisches/verzwei flung/, deren Grundtenor ist: Verzweiflung ist eine seelische oder psychische Befind­ lichkeit. 3 Der Begriff des kommunikativen Textes ist ein Grundbegriff einer Sozialphilosao­ phie, die das Soziale nicht länger als durch Individuen, Subjekte, Personen oder gar »Menschen« konstituiert sieht, sondern das Soziale als dasjenige Zwischen mit den Funktionspositionen von Selbst, Anderem und Drittem begreift, das erst so etwas wie Subjekte als Besetzungen dieser Positionen verstehen lässt. Der Name des kommnika­

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Kurt Röttgers

(1) Nietzsches Kritik am Begriff des Subjekts ist vielfältig, beginnend 1882 mit den Einwänden gegen die Subjekt/Objekt-Dichotomie, die er als ein Verfangensein in den »Schlingen der Grammatik (der Volks-Metaphysik)« bezeichnet (III, 593, cf. V, 73).4 Eine der Folgen dieser Durchstreichung des Subjekts, bzw. des kapitalen Ich ist dann der berühmte Aphorismus 17 des 1. Hauptstücks: »… eine kleine kurze Thatsache …, welche von diesen Abergläubischen ungern zugestanden wird, – nämlich, dass ein Gedanke kommt, wenn ›er‹ will, und nicht wenn ›ich‹ will; so dass es eine Fälschung des Thatbestandes ist, zu sagen: das Subjekt ›ich‹ ist die Bedingung des Prä­ dikats ›denke‹. Es denkt: aber dass dies ›es‹ gerade jenes alte berühmte ›Ich‹ sei, ist, milde geredet, nur eine Annahme, eine Behauptung, vor allem keine ›unmittelbare Gewissheit‹. Zuletzt ist schon mit diesem ›es denkt‹ zu viel gethan: schon dies ›es‹ enthält eine Auslegung des Vorgangs und gehört nicht zum Vorgang selbst.« (V, 30f.)5

Das »es« an der Stelle des Ich unterliegt noch der gleichen grammati­ schen Struktur der »Voksmetaphysik«, die an die Stelle des Prozesses oder des Ereignisses des Denkens ein Subjekt setzt, das dann etwas tut, nämlich denken. Auch die Einheit des Bewusstseins oder der Seele ist nicht als Voraussetzung zu unterstellen, sondern so wie die Einheit der Gesellschaft keine Vorgegebenheit ist oder kein als notwendig zu unterstellender Vorgriff ist, so ist auch die Einheit der Seele weder eine Vorgegebenheit noch eine durch pädagogische Iden­ titätspflege zu erreichende Einheit, sondern ein jeweils temporärer Effekt eines Willens zur Macht, eines Triebes in der Vielheit der Seelen-Triebe. Wenn Einheit auch nur eine Aufgabe ist, so besteht tiven Textes leitet sich daraus her, dass dieses Zwischen des Sozialen sich als Textualität in den Dimensionen von Zeit, Sozialität und Sinn darstellt, ausführlicher K. Röttgers: Das Soziale als kommunikativer Text. Eine postanthropologische Sozialphilosophie. Bielefeld 2012; und ferner grundlegend ders.: Das Soziale denken. Leitlinien einer Philosophie des kommunikativen Textes. Weilerswist 2021. 4 Nietzsches Werke werden im folgenden zit. nach der Kritischen Studienausg. hrsg. v. G. Colli u. M. Montinari. München, Berlin, New York 1980, Nachweise jeweils im Text. 5 Eine ausführliche Interpretation mit Heranziehung der einschlägigen Literatur bietet N. Loukidelis: »Es denkt«. Ein Kommentar zum Aphorismus 17 aus Jenseits von Gut und Böse. Würzburg 2013; s. auch W. Stegmaier: Nietzsches Befreiung der Philosophie. Berlin, Boston 2012.

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Verzweiflung und Melancholie in speziellem Hinblick auf Nietzsche

doch unzweifelhaft diese Aufgabe. Die Illusion ist eine notwendige Fiktion; denn die sogenannte Wahrheit z.B. über das Subjekt resultiert aus dem unvertilgbaren Willen, »Herr zu werden über das Vielerlei der Sensationen«. (XII, 382) Aber man muss sich über den fiktiven Charakter dieser Begriffe Klarheit verschaffen, um die logischen Folgen abschätzen und eingrenzen zu können. Wenn Nietzsche die Einheit des Subjekts nicht fraglos hinnimmt, so erscheint dann »das Individuum als Vielheit« (X, 324). Und schließlich faßt er zusammen: »Jetzt, ziemlich spät, sind wir reichlich davon überzeugt, daß unsere Conception des Ich-Begriffs nichts für eine reale Einheit verbürgt.« (XIII, 258f., 383, 250, 182) Befreit von der Vorstellung eines vorgän­ gigen und Absichten pflegenden und dann verwirklichenden Hand­ lungs-Subjekts tritt nun die Konzeption eines Willens-zur-Macht, der seine Realität im Prozess der Konfrontation von Kraftquanten hat, von denen eines momentan, aber nicht dauerhaft herrschend ist, sondern einem permanenten Wandel und einer Verschiebung der Gesamtkonstellation in Werdensprozess ausgesetzt ist.6 Mit dem Subjekt-Begriff wird auch der Begriff der Selbsterhaltung des Subjekts hinfällig. Schon 1885 hatte es deswegen geheißen, dass »nicht ein Wesen« sich selbst erhalten will, »sondern der Kampf selber erhalten will, wachsen will und sich bewußt sein will …. nicht ein Subjekt, sondern ein Kampf sich erhalten will.« (XII, 40) Zuzugestehen ist, dass diese Subjektkritik sich vor allem im mittleren und späteren Werk Nietzsches findet, in der frühen Phase begriff Nietzsche sich noch als Psychologe des Menschen. Ob ein gewisser Herr Friedrich Nietzsche melancholisch oder verzweifelt war, ist keine philosophische Frage, allenfalls eine bio­ graphischer oder eine psychiatrischer Erzählungen. Da aber Psychi­ atrie keine rein theoretische, sondern eine auf eine heilende Praxis gerichtete Theorie ist, wäre auch diese Perspektive eine müßige, weil der Patient vor geraumer Zeit verstorben ist. Und allgemeiner gesprochen, scheint es doch nun in der Postmoderne angemessener zu sein, sich von einer anthropozentrischen Sicht zu befreien und eine medialitätszentrierte Sicht zu favorisieren, d.h. die Frage zu stellen, was ein melancholischer Text ist und was er leistet. Auch Nietzsche Cf. auch vorbereitend K. Röttgers: Macht im Medium. Nietzsches Anregungen zu einer nicht-subjektzentrierten Konzeption von Macht.- In: Macht: Denken. Substan­ tialistische und relationistische Theorien – eine Kontroverse, hrsg. v. K. Felgenhauer u. F. Bornmüller. Bielefeld 2018, p. 61–74.

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selbst vertrat diese Sicht, wenn er von den Künstlern sagte, dass man sie nicht gleich ernst nehmen dürfe wie ihre Werke: »Er ist zuletzt nur die Vorausbedingung seines Werks, der Mutter­ schoos, der Boden, unter Umständen der Dünger und Mist, auf dem, aus dem es wächst… Etwas, das man vergessen muss, wenn man sich des Werks selbst erfreuen will. Die Einsicht in die Herkunft eines Werks geht die Physiologen und Vivisektoren des Geistes an…)« (V, 343)

Sollte das nicht auch für Nietzsche und sein Werk gelten? Nicht der »Mist« zählt, sondern das Werk. So soll hier zunächst in Abkehr vom einem Subjekt-Begriff und seiner subjektiven Befindlichkeit zwecks Präzisierung auf den Melancholie-Begriff bezug genommen werden und dieser dann erst in einen Vergleich mit dem Begriff der Verzweiflung, speziell bei Nietzsche eingebracht werden. Das soll enggeführt werden in die philosophische Frage, inwieweit der Text Nietzsches als ein in sich melancholischer Text gelten darf. Dazu wird dann zu klären sein, was ein in seinem Vollzug (nicht primär seiner Thematik) melancholischer Text ist. Speziell bei Nietzsche wird dann anschließend zu klären sein, auf welche Weise der Text Melancholie und Verzweiflung zum Thema macht, aber vor allem ob und in welchem Sinne der Textvollzug als ein melancholischer gekennzeichnet werden darf. Die Textzentrierung (statt Anthropozentrik) ist Medialitätszentrierung, d.h. die Zentrie­ rung auf eine Mitte zwischen den Textpositionen von Selbst und Anderem im kommunikativen Text. Wir werden also implizit zu fragen haben, ob die Positionen von Selbst und Anderem oder gar die Besetzung der Positionen durch bestimmte Subjekte von Melancholie betroffen seien, oder ob umgekehrt, die Mitte zwischen ihnen der Ort der Melancholie sei.

(2) Dabei ist der Begriff der Melancholie durchaus kein einfacher oder einsinniger Begriff. Denn wenn allgemein und immer wieder behaup­ tet wird, dass das Phänomen und die Geschichte des Phänomens der Melancholie bestens erforscht seien, bleibt doch bei Durchsicht der einschlägigen Literatur die irritierende Tatsache, dass die Perspek­ tiven auf das Phänomen unterschiedlicher nicht sein könnten, je nachdem ob ein Medizinhistoriker oder ein Kulturgeschichtler und

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Verzweiflung und Melancholie in speziellem Hinblick auf Nietzsche

schließlich ein Philosoph sich ihm zuwendet. Als zwei Extreme des 20. Jahrhunderts seien angeführt die Bücher von Michael SchmidtDegenhard einerseits und von Ulrich Horstmann andererseits.7 Diese Divergenz besteht jedoch nicht erst seit zwei Jahrhunderten, sondern datiert bereits seit der Antike. So stellt Schmidt-Degenhard fest, dass Melancholie nichts anderes sei als ein veralteter Name für das, was man heute als »endogene Depression« bezeichne.8 Aber auch wenn der Begriff dadurch zu einem rein pathographischen Begriff würde, ist doch kaum zu übersehen, dass endogene Depressionen – anders als reaktive oder physiologisch begründete Depressionen – dem Existential der Verzweiflung nahekommen und sich damit einer rein medizinischen Betrachtung entziehen.9 Es gehört zum Charakteristikum von Melancholie, spätestens seit Marsilio Ficino und dann vor allem Robert Burton, dass es für den melancholischen Text typisch ist, dass er mit Vorliebe Melancholie thematisiert, also den Selbstbezug kultiviert. Bei Marsilio Ficino10 und auch bei Petrarca ist dieser Selbstbezug charakteristisch für den seit der Renaissance gepflegten Kult des Individuums Das geht so weit, dass nun Melancholie zum Adelsprädikat der artistischen Menschen wird.11 Und bereits Petrarca hatte bekannt: »Und dazu 7 M. Schmidt-Degenhard: Melancholie und Depression. Stuttgart u.a 1983; U. Horst­ mann: Der lange Schatten der Melancholie. 2. Aufl. Hamburg 2015. 8 M. Schmid-Degenhard: Melancholie und Depression, p. 18; cf. auch ders.: Melan­ cholie als Krankheit.- In: Melancholie. Epochenstimmung – Krankheit – Lebenskunst, hrsg. v. R. Jehl u. W. E. J. Weber. Stuttgart, Berlin, Köln 2000, p. 117–133.; zur Kritik M.-Cl. Lambotte. Le discours mélancolique. Paris 1993, p. III : oft „ confusion … de la mélancolique avec la psychose maniaco-dépressive…« 9 S. auch J. Kristeva: Soleil noir. Dépression et mélancholie. Paris 1987, dies.: Die neuen Leiden der Seele. Hamburg 1994; M.-Cl. Lambotte: Le discours mélancolique. Paris 1993; und historisch orientiert J. A. Steiger: Melancholie, Diätetik und Trost. Heidelberg 1996; medizinisch-therapeutisch orientiert, doch mit erheblichem philo­ sophischem Hintergrund L. Binswanger: Melancholie und Manie. Pfullingen 1960; H. Tellenbach: Melancholie. 3. Aufl. Berlin, Heidelberg, New York 1976. 10 Marsilio Ficino: De vita libri tres. Hildesheim, New York 1978 (Nachdr. d. Ausg. Venedig 1548) These: Die Literaten leben ungesund, daher sind sie besonders anfällig für Melancholie. Aber Ficino berichtet nicht nur über Melancholie, sondern er zele­ briert sie auch, s. dazu M. Wagner-Egelhaaf: Die Melancholie der Literatur. Stuttgart, Weimar 1997, p. 20. 11 Der aufklärerische Philosophie-Historiker Brucker bezeichnete Ficino als einen krassen Melancholiker mit unklarem Stil, Leichtgläubigkeit und Aberglaube. Ludger Heidbrink schreibt dazu. »Die melancholie heroica Ficinos und Dürers benennt zum ersten Mal das melancholische Subjekt, den homo melancholicus…« Er spricht gera­

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kommt, daß ich eine falsche Süßigkeit verspüre in allem, worunter ich leide. … Und der Gipfel allen Jammers ist es, daß ich mit einer gewissen stillen Wollust mich an meinen Tränen und Schmerzen weide und nur ungern mich ihnen entreiße.«12 Im folgenden soll der umgekehrte Weg eingeschlagen werden: von der Thematisierung der Melancholie als Gegenstand und Thema des Textes (incl. der habituellen Verzweiflung) zur Frage, wie sich der Text selbst melan­ cholisch geriert. Also zunächst ein paar allgemeine Bemerkungen zum Verständnis von Melancholie.

(3) Nach der antiken Lehre der Humoralpathologie ist Melancholie,13 die mélaina col® oder melagcolίa, das Vorherrschen der schwarzen Galle und damit eine Störung des Gleichgewichts der Körpersäfte. Wegen des Befunds einer grundlosen Traurigkeit und Niedergeschla­ genheit benötigte man eine Verursachung und nahm also an, dass das Gleichgewicht der Körpersäfte gestört sei, und zwar durch das Vorherrschen eines eigenen Körpersafts namens schwarze Galle. Dass sich die Annahme der schwarzen Galle nicht einer medizini­ schen Empirie verdankt (denn was soll das sein?), sondern auf der pythagoräischen Kosmologie mit ihrer Bevorzugung der Vierzahl, so wie es vier Jahreszeiten, vier Lebensalter, vier Charaktertypen usw. gibt, ist bekannt. Also ist auch die »medizinische« Lehre von der Melancholie nichts anderes als Spekulation über den menschlichen Körper. Demgegenüber hatte der Pseudo-Aristoteles der »Problemata physica« Melancholie einem Persönlichkeitstyp zugeordnet, und zwar einem, der hervorragende Leistungen in Philosophie und Politik

dezu von einem Melancholie-Kult »… nicht mehr folgt aus dem Genie Melancholie, sondern ist Genie, wer sich melancholisch fühlt.« L. Heidbrink: Melancholie und Moderne. München 1994, p. 29f. 12 F. Petrarca: De secreto conflictu curarum mearum, hier zit. nach U. Horstmann: Der lange Schatten der Melancholie p. 33. 13 R. Klibansky, E. Panofsky, F. Saxl: Saturn und Melancholie. Frankfurt a. M. 1990; H. Flashar: Melancholie und Melancholiker in den medizinischen Theorien der Antike. Berlin 1966.

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Verzweiflung und Melancholie in speziellem Hinblick auf Nietzsche

hervorbringe.14 Der Blick der »Medizin« blieb durch die Jahrhunderte erhalten und erstreckte sich von der Humoralpathologie der Körper­ säfte und ihren Störungen15 über die Einführung einer spezifischen melancholia nervosa neben der humoralis bei Lorry16 bis hin zur Psychoanalyse und Psychiatrie17 und den verschiedensten Therapien dieser bemerkenswerten Krankheit. Durch die »Problemata« angestoßen, entfaltete sich daneben und parallel durch die Jahrhunderte laufend eine im weitesten Sinne moralische Sicht, von der Seelenruhe der Stoa18 über die anacho­ retische Schwermut der Mönche und der Sünde der acedia des Mittelalters19 und den verschiedensten theologischen Darstellungen des Melancholie-Teufels20 bei Luther, in der Orthodoxie und der pietistischen Theologie21 und zu wertneutralen Sichtweisen, diese Aristoteles: Problemata physica. Werke, hrsg. v. H. Flashar. Bd. XIX. Darmstadt 1975, bes. Buch XXX: »Warum erweisen sich alle außergewöhnlichen Männer in Philosophie oder Politik oder Dichtung oder den Künsten als Melancholiker?«. 15 Seit Harveys Entdeckung des Blutkreislaufs nahm die Überzeugungskraft seit dem 16. Jahrhundert allmählich ab. 16 A.-Ch. Lorry: De melancholia et morbis melancholicis. Paris 1765; die Einführung der melancholia nervosa nutzt die Erregungstheorie Albrecht von Hallers, um neben die klassische humoralpathologische Melancholie eine Krampf- und Nervenmelan­ cholie zu setzen. 17 S. Freud: Trauer und Melancholie.- In: ders.: Psychologie des Unbewußten. Frank­ furt a. M. 1982 (Studienausg. Bd. III), p. 193–212; L. Binswanger: Melancholie und Manie. Pfullingen 1960. 18 Im Gegensatz zum Corpus Hippocraticum, das Melancholie als Krankheit im Gleichgewicht der Körpersäfte deutete und den »Problemata physica«, die sie als Cha­ raktertyp ansah, lehnte die Stoa erstmals die Melancholie ab, weil sie der Seelenruhe eines zur Vernunft (dem Logos) bestimmten Wesens widerspricht. Erschien – in einer geläufigen Entgegensetzung – dem Heraklit alles menschliche Treiben als ein Bild des Jammers, mit dem man nur mitjammern könne, so sah Demokrit dieses Treiben als eine unendliche Posse, über die man nur lachen könne. Die stoische Lehre ist, eher Demokrit folgend, alles auf die leichte Schulter zu nehmen und so die Ruhe zu bewahren. 19 Acedia leitet sich her von griech. k²doV (Sorge) bzw. der Negation in ak²doV; die Befreiung von der Sorge ist zugleich der Verlust an der Freude über die göttliche Ord­ nung. 20 Dass mit der Melancholie der Teufel seine Hand im Spiel hat, ist eine seit der Antike herrschende Vorstellung, der Teufel ist seiner Natur nach ein Trauergeist, der mit seiner Traurigkeit die Menschen anstecken möchte: »Caput Melancholicum est Diaboli paratum balneum.« J. A. Steiger: Melancholie, Diätetik und Trost. Heidelberg 1996, p. 11 21 Der Pietismus erfand eine Pflicht zur »melancholischen« Frömmigkeit: Zerknir­ schung, Verzweiflung und Traurigkeit waren nun Voraussetzungen für die Buße und 14

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ausgehend von der göttlichen Begeisterung der Manie bei Platon und der Befürwortung emsiger Betätigung als Vermeidung eines melancholischen Müßiggangs. War ferner schon bei Petrarca von der abgründigen Grundlosigkeit der Melancholie die Rede gewesen, die sich in Selbstbeobachtung und schließlich Selbstgenuß des Leidens ergeht, so heißt es ferner bei ihm: »Und der Gipfel allen Jammers ist es, daß ich mit einer gewissen stillen Wollust mich an meinen Tränen und Schmerzen weide.«22 Schon im mittelalterlichen Begriff der acedia fungierte erstmals in der Geschichte ein Relationsbegriff zurἠ Charakterisierung der Melancholie, nämlich als gestörtes, d.h. sündhaftes Verhältnis der Lustlosigkeit zu Gott, als Manifestation einer Unzufriedenheit mit der Schöpfung. Melancholie ist nunmehr das Leiden der Gottes­ ferne.23 Dagegen hilft eben nicht eine Medizin der Wiederstellung des Gleichgewichts der Körpersäfte, sondern dagegen hilft die Bene­ dektinerregel: ora et labora: Denn Einsamkeit und Müßiggang als die Mönchskrankheiten zurückgezogenen Lebens sind die Quellen der Melancholie. Bei Marsilio Ficino, dem ersten modernen Melancholiker, gilt nun – in Wiederaufnahme des aristotelischen Topos eines Persönlich­ keitstypus – der einsame und in sein Studium versenkte Gelehrte als Hauptkandidat für Melancholie, vor allem einer wie Ficino selbst. Das Subjekt der beginnenden Neuzeit ist ein in seiner Selbstbespiegelung gespaltenes Subjekt, und es leidet darunter. Aber Ficino lernt es, sich in dieses melancholische Leiden zu verlieben. Die Gelehrteneinsam­ keit (ehemals die Mönchskrankheit eremitischen Daseins) wird nun zu einem Privileg erhöhter Sensibilität umstilisiert. In dieses Bild fließen sowohl die pseudoaristotelische Lehre des außerordentlichen Mensch als auch das platonische Merkmal der mania, des von den Göttern oder den Gestirnen Auserwählten, ein. Der melancholische Schmerz ist nun Merkmal des Besonderen. Philosophie beginnt nun die Lossagung von der Sündhaftigkeit des Daseins. Aber selbst nach Ableistung des Buß-Pensums durfte keine Freude aufkommen; denn diese wäre ein Genießen des Daseins und eine Verhaftung an diese Welt. Melancholie wird zur Lebenseinstellung des wahrhaft Frommen. 22 Zit. bei Horstmann p. 33; 23 Thomas von Aquin: De acedia (Summa theol. II/2, qu. 35). Abgeleitet von griech k²doV (Sorge) ist acedia die Sorglosigkeit, die als Beschwernis der Seele wiederkehrt. M. Theunissen: Vorentwürfe von Moderne. Melancholie und die Acedia des Mittelalters. Berlin, New York 1996, p. 30ff.

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mit dem Ausgeschlossensein aus der Glückseligkeit, ihr Weg ist der Weg der Abstraktion von der Körperlichkeit hin zum reinen Licht des Geistes. Aber diese via negationis schafft Traurigkeit, von der sich der Geist eigentlich lösen will, aber so erschafft er die Traurigkeit immer wieder in sich selbst. Selbstreproduktion der Melancholie ist das Kennzeichen der Melancholie in der Moderne. Die moderne Individualität schafft in ihrem Inneren immer neue Höhlen oder Krypten der Melancholie. Dieser Typ des Melancholikers verliert sich in sich selbst, und er verliert so den heilsamen Kontakt mit der Welt. Neben Marsilio Ficino verdient eine besondere Aufmerksamkeit die »Anatomy of Melancholy« eines gewissen Robert Burton.24 Neben die auch hier nur noch beiläufig zitierten Topoi der Humoralpatholo­ gie und moralischen Verurteilung und den Therapievorschlägen in beide Richtungen ereignet sich in diesem Text, was ich als Eingang der Melancholie in den Text bezeichnen möchte: der Text thematisiert nicht nur wie üblich die Melancholie, sondern er zelebriert sie. Der Text selbst ist ein melancholischer Text, er weiß es, leidet darunter und genießt dieses Leiden. Robert Burton schreibt seine »Anatomy of Melancholy« unter der Maske des Democritus Junior. Anders als die fälschlich so genannten »Masken« der Pandemie-Hysterie der Jahre 2020ff. sind Masken alles andere als sozial-destruktive Generalisie­ rungen des Verdacht eines Jeden gegen jeden anderen, sie sind in ihrer Pluralität sowohl im Theater als auch in karnevalesken Volksfesten und Ritualen gemeinschaftsstiftend, während ja die obrigkeitlich verordneten Vermummungen die Uniformierung auf genau zwei Typen gestattet. Genauso stiftet die Maske Democritus Junior eine Verbindung mit dem Demokrit der griechischen Antike. Aber es ist, wie bei Masken eigentlich immer, eine Oberflächenverbindung. Masken erschaffen eine Maskierungs-Verknüpfung von Maske zu Maske, nicht von Maskenträger zu Maskenträgerin. Es verbietet sich eine Suche nach dem Verborgenen hinter den Masken: »…trachte nicht nach dem, was verborgen ist. Gefällt Dir der Gegenstand und ist Dir nützlich, so magst Du den Mann im Mond oder wen immer Du willst, als Urheber ansehen: mir ist es zuwider, mich auszuweisen.«25 Die Maske selbst ist die Wahrheit der Maskierung, nicht aber die

R. Burton: Anatomy of Melancholy. Oxford 1651; dt. Ausg.: Die Anatomie der der Melancholie. 3. Aufl. Mainz 2014. 25 l. c., p. 9. 24

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Eigentlichkeit/Authentizität hinter dem Schleier.26 Ebenso ist aber auch die Suche nach und die Entlarvung von dem Urheber der »Ana­ tomy of Melancholy« absurd: »ich war es nicht, sondern Democritus dixit.«27 Demokrit: Melancholie ist in der Maske, nicht hinter ihr. M.a.W. der Text selbst ist der Ort der Melancholie, und der Text knüpft als textum die Verbindung von Demokrit und Democritus Junior. Mit der Funktionsbestimmung des Textes für den Leser als Gefallen oder Nutzen wird eine zweite Verknüpfungsdimension des Textes benannt, zum einbezogenen Leser. Aber wie jeder kommunikative Text die Ver­ bindung von Selbst, Anderem und Drittem ist, so bleibt das Textum kein Abstraktum: ausgehend von der Medialität des melancholischen Textes lässt sich gemäß der Figur der Subjektkonstitution durch den Text à la Judith Butler sehr wohl etwas über diese Subjektpositionen aussagen. Aber an dieser Stelle beginnt eine zweite Verrätselung; denn der antike Demokrit wird nun als Melancholiker bezeichnet. In der in der Zeit geläufigen Gegenüberstellung von Heraklit und Demokrit, wie sie etwa auch bei Michel de Montaigne begegnet,28 war Demokrit immer der lachende, Heraklit der Trauerklos. Heraklit nimmt das Leid der ganzen Welt auf seine Schultern und leidet und trauert dementsprechend mit der ganzen Welt. Demokrit aber lacht über die geschäftige, letztlich unsinnige Betriebsamkeit der Welt,29 ihre »Machenschaften«, wie Heidegger es genannt hätte. Hier aber in der »Anatomy of Melancholy« tritt Demokrit in der Maske des Melancholikers auf und schafft so eine Verbindung zu dem Melancho­ liker »Democritus Junior«. Doch diese Maske ist auf beiden Seiten der textuellen Verbindung, der Maskenverknüpfung, zweideutig. Der alte Demokrit wird hier geschildert als ungesellig, einsiedlerisch in seinem kleinen Garten lebend, dem wissenschaftlichen Studium und der Philosophie ergeben, zugleich aber lacht er über die Geschäftigkeit der vielen. Und auch für Democritus Junior gilt: er lebt einsiedlerisch, Cf. auch: K. Röttgers: Demaskierungen.- In: Masken, hrsg. v. K. Röttgers u. M. Schmitz-Emans. Essen 2009, p. 64–96. 27 R. Burton: Anatomy of Melancholy, p. 66. 28 M. de Montaigne: Essais, ed. M. Rat. Paris 1958, I, p. 334–337 (l. I, ch. 50), dt. Ausg. v. H. Stilett. Frankfurt a. M. 1998, p. 153–154: »Demokrit und Heraklit waren zwei Philosophen, von denen der erste, da er das Menschsein nichtswürdig und lächerlich fand, sich den Leuten dementsprechend nie anders als mit spöttisch lachendem Gesicht zeigte, während der andre wegen ebendieses Menschseins mit uns Mitleid und Erbarmen fühlte und daher stets ein trauriges Gesicht trug.« (p. 154) 29 R. Burton: Die Anatomie der Melancholie, p. 44f. 26

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unendlich sesshaft und nur der Suche nach Weisheit ergeben im Christchurch College in Oxford. In seiner Sesshaftigkeit jedoch prak­ tiziert er einen Nomadismus des Wissens, ist nirgendwo zu Hause, kein Experte für irgend etwas, durch nichts Bestimmtes in Fesseln geschlagen: überall und nirgendwo ist Democritus Junior. Seine Randonnée30, »Hang zur Landstreicherei«, ohne quasi cartesianische Methode ist eklektisch bis zum Exzess. Im Text der »Anatomy of Melancholy« erscheint das als ausschweifende Zitationen (»wie ein kreuz und quer jagender Wachtelhund«31) und damit in Vertextungen und Verknüpfungen mit diesem und jenem. In diesen textuellen Umtrieben, in diesen Wellen der Textualität erscheint die Doppeldeu­ tigkeit erneut. Der Text, bzw. das ihm zugrunde liegende Studium, dient der Selbstkurierung von Democritus Junior von der Melancholie und damit zur Freisetzung des echt demokritischen Lachens. Und ein solches findet sich dann allenthalben in diesem melancholischen Text. Es erfüllt das Desiderat eines Demokrit, der nicht nur mit Demokrit lacht, sondern in Reflexion einen Demokrit hervorruft, der einen Demokrit verlacht. »Nie gab es mehr Grund zum Lachen als jetzt … was wir heute brauchen, ist ein Demokrit, um Demokrit selbst zu verspotten…«32 Die Verflechtung in den Text kuriert schon allein deswegen, weil die Geschäftigkeit der textuellen Entfaltung den Müßiggang des Autors vermeidet. Sein Schreiben als Therapie der Melancholie produziert erst einmal das zu therapierende Objekt, den melancholischen Text, der sich reflexiv selbst zu kurieren vornimmt. Wie gesagt, verdankt die Melancholie ihren Namen der Zuschreibung an die schwarze Galle im Rahmen der Hippokratischen Humoralpathologie. Unser schelmischer Democritus Junior erzählt nun die Geschichte folgendermaßen: Hippokrates besuchte eines Tages den Demokrit und fand ihn versunken in ein selbstverfaßtes Buch über Melancholie und Wahnsinn. Dieses Buch aber sei verlo­ ren gegangen; daher muss der jetzige Text des neuen Demokrit es ersetzen. Der melancholische Text (über Melancholie) rückt an die Stelle des traurigerweise verlorenen Textes über Melancholie. Und so 30 R. Burton: Die Anatomie der Melancholie, p. 15; zur Randonnée als Textentfal­ tungsmodus im Gegensatz zur cartesianischen Methode gradlinigen Fortschreitens s. M. Serres: Hermes V: Die Nordwest-Passage. Berlin 1994. Der Text perkoliert in unendlichen Verzweigungen. 31 R. Burton: Anatomy of Melancholy, p. 15. 32 l. c., p. 45.

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verdankt der neu erstandene Text des neuen Demokrit seine Genese nicht oder nicht vorrangig, obwohl immer wieder auch, anderen Büchern über Melancholie, sondern seinem eigenen, gewissermaßen imitativen »Melancholisieren«33. Zugleich aber hat der melancholi­ sierende Text die Aufgabe, die Melancholie seines Autors, genauer des Autors-im-Text, jenes Democritus Junior, aufzulösen. Aber es bleibt fraglich, ob das gelingen kann, da der Melancholiker in seine Melancholie im Text zugleich so verliebt ist, dass der Text sich nicht über sich selbst erheben kann. Sein Lachen bleibt ihm im Texte stecken. So ist Democritus Junior nicht nur die Maske, die ein gewisser Robert Burton trägt, es ist die textuelle und in seinen vielfältigen Zitationen sich pluralisierende Selbsterzeugung der Maske im Text. Der melancholische Text ist die Autopoiesis der Melancholie.34 Als kommunikativer Text setzt er jedoch stets den Anderen eines Selbst im Text voraus, ständig adressiert er sich an den Leser, so wie der alte Demokrit in Hippocrates seinen Anderen gehabt haben mag, aber in Democritus Junior seinen genuinen Anderen gefunden hat. »Der performative Charakter des Textes konstruiert seinen Gegenstand im Prozeß seiner eigenen Entstehung immer anders und immer neu. Melancholie ist ein Dispositiv textueller Repräsentanz…«35 Die Opposition einer Innenansicht der Melancholie des genialen Individuums der Renaissance bei Ficino mit der fortbestehenden medizinischen Außenansicht wird im melancholischen Text bei Bur­ ton integriert zum Textmodell der Melancholie, das als ein Zwischen von Innen und Außen das Mediale ins Zentrum rückt, was dann allerdings in der Aufklärung wieder auseinandetritt als medizinische Kur einer Krankheit durch Vernunft und Verstand einerseits und Empfindsamkeit, Moralität und Einbildungskraft andererseits.36

l. c., p. 25. J. Starobinski: Le mélancolie de l‘anatomiste.- In : Tel Quel 10 (1962), p. 21–29; ders.: L’encre de la mélancolie. Paris 2012. 35 M. Wagner-Egelhaaf: Die Melancholie der Literatur. Stuttgart, Weimar 1997, p. 135. 36 H.-J. Schings: Melancholie und Aufklärung. Stuttgart 1977. 33

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(4) Diese Figur der Melancholie im Text, also des melancholischen Textes wollen wir nun im Textkorpus Nietzsche aufsuchen.37 Wenn Nietzsche in der »Genealogie der Moral« es für eine Verführung der Sprache hält, alles Wirken als verursacht durch ein Wirkendes, durch ein »Subjekt«, anzusehen, dann steht dahinter die Kritik an dem Glauben, einer sich äußernden Kraft stünde es frei, sich nicht als Kraft zu äußern, also als gäbe es ein Subjekt, ein Substrat hinter der Kraft: »es giebt kein ›Sein‹ hinter dem Thun, Wirken, Werden; ›der Thäter‹ ist zum Thun bloss hinzugedichtet, – das Thun ist alles.« (V, 279) Die Ohnmacht des Leidens ist nur die andere Seite der Kraftäußerung der Stärke. Leidende Subjekte sind das notwendige Pendant tätiger Subjekte, wenn man erst einmal die Subjekt-Zurech­ nung der Volksmetaphysik zulässt. Aber genau diese bestreitet ja Nietzsche. Es ist allein der Prozess des Spiels der Kräfte, der das Werden bestimmt. Thäter gibt es nur als Thäter-in-der-That, nicht vor oder außerhalb des Geschehens: »Der Glaube an den Thäter … wie als ob, wenn alles Thun vom ›Thäter‹ abgerechnet würde, er selbst noch übrig bliebe…« (XII, 250) Diese Perspektivenveränderung zur Idee eines medialen Feldes asymmetrischer Begegnung von Kraftquanten leitet an zu der Medialitätszentrierung, die auch die Sozialphilosophie des kommunikativen Textes bestimmt, die also nicht einen Autor des Textes vor und außerhalb des Textes unterstellt, sondern den Autor als eine Textfunktion darstellt, wie den Democritus Junior im melancholischen Text. Und so erscheint auch das Individuum als eine sich prozessual herstellende und darstellende Vielheit. (X, 324) Dabei Methodisch reiht sich die Akzentuierung auf den melancholischen Text denjenigen neueren Nietzsche-Interpretationen an, die das Performative der Nietzsche-Textua­ lität eigens hervorheben, ohne doch die Themen Nietzsches zu übergehen. Diese neueren Interpretationen stören sich nicht mehr wie frühere Interpretationen an den vermeintlichen »Widersprüchen« in den Texten Nietzsches, sondern nehmen sie als das, was Begriffe in Texten immer sind: Kontextualisierungen im Anschluss­ geschehen des Textes. Als Beispiele für diese Interpretationslinien seien genannt: W. Stegmaier: Nietzsches Befreiung der Philosophie. Berlin, Boston 2012, s. z. B.: » Nietzsche beweist in FW 343, … seine Erheiterung nicht, indem er über sie belehrt, sondern indem er sie zeigt.« (p. 118); und C. Schubert: Masken denken – in Masken denken. Bielefeld 2021; der Buchtitel allein schon belegt diese methodische Wende; die Doppelheit von Thematisierung und Vollzug wird dann besonders deutlich und überzeugend durchgeführt im Kap. 3: »Vom Zeigen des Zeigens – Die Maske als Denkfigur« (p. 183ff.). 37

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ist die Asymmetrie keine stabile Voraussetzung des medialen Feldes, sondern ist einem permanenten Wandel und einer Verschiebung der Gesamtkonstellation ausgesetzt, ebenso wie die Besetzung der Funktionspositionen im kommunikativen Text. Der Prozess bewegt sich in einem und als Möglichkeitsraum. Also gibt es eine Ermüdung im Anblick des ewigen Siegers, der seine Bauten, d.h. Werke, im Hinblick auf eine Ewigkeit am Ende des Werdens ausrichtet. »… alle Zukunft schien am Ende, alle Dinge wurden auf einen ewigen Zustand eingerichtet…« (III, 69) Das nannte wenig später Georg Simmel die »Tragödie der Kultur«, nämlich dass alles (prozessuale) Schaffen in der abgeschlossenen Statik eines Werks gerinnt.38 Im Römischen Reich aber führte nach Nietzsche die »Melancholie der ewigen Bauten« zu einer »an Verzweif­ lung gränzenden Müdigkeit«. Für die Melancholie der Römer hatte die Zukunftslosigkeit des abgeschlossenen Werks ihre Basis. Für diese Melancholie verwendet Nietzsche die Metapher der »grossen Spinne«, die »unerbittlich alles Blut trinken werde«. Heute, seit der Romantik, aber kennen wir nur die »Melancholie der Ruinen«. Es ist die »Melancholie alles Fertigen«, es ist »zu spät«, und man hätte es wissen können und müssen, bevor man anfing, heißt es in »Jenseits von Gut und Böse« (V, 228f.) Nietzsche fortführend, könnte man sagen, dass es sich um die Aporie von Babel handelt: die Melancholie des ewigen Baus wandelt sich in die Melancholie einer Ruine. In beiden Fällen aber entsteht die Melancholie aus der Stillstellung des Prozesses des Werdens. Kierkegaard hatte die Verzweiflung die Krankheit zum Tode genannt, eine Krankheit, die anders als andere Krankheiten mit dem Tode nicht endet, sondern unbeendbar erscheint, weil es für den Christen ein Nach-dem-Tode gibt.39 Nietzsche reproduziert die Verzweiflung als Krankheit zum Tode, indem der nächste Aphorismus der »Morgenröthe« lautet: »Das »Nach-dem-Tode« – in Anführungszeichen wohlgemerkt. Der Müdigkeit der Römer entgegengesetzt, führte das Christentum die Zukunft wieder ein, allerdings eine Zukunft nach dem Tode. Die Wissenschaft des 19. Jahrhunderts leitete jedoch den endgültigen Tod ein. Bezeichnend ist – und das führt uns auf die Melancholie im Text, also auf den melancholischen Text – Nietzsches Kommentar dazu: 38 G. Simmel: Der Begriff und die Tragödie der Kultur.- In: ders.: Philosophie der Kultur (GSG XIV), p. 385–416. 39 S. Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode und anderes, hrsg. v. H. Diem u. W. Rest. München 1976.

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»Wir sind um Ein Interesse ärmer geworden: das ›Nach-dem-Tode‹ geht uns Nichts mehr an! – eine unsägliche Wohlthat…« (III, 70/71) Nietzsche schreibt hier »Nichts« mit Majuskel. Sein darin triumphie­ render Gewährsmann ist Epikur, der den Römern in Gestalt seines Schülers Lukrez die Zukunft zurückgab – als Nichts. Der melancho­ lische Text schreibt nun nicht mehr am Ende der Zeit ewige Werke, noch die »Melancholie der Ruinen« – d.h. bloße Trauer über die verlorenen Werke als Signum romantischer Melancholie –, sondern der Text schreibt nun die Melancholie des Nichts, d.h. die Versenkung in einen Nihilismus jenseits von Tod und »Nach-dem-Tod«. Die Melancholie des Nichts, das sich im melancholischen Text schreibt, gibt die Prozessualität zurück; denn dieses Nichts ist kein nichtiges erstarrtes Etwas, sondern ein Werden zu Nichts. Die »Morgenröthe« kennt noch einen weiteren Rat bezüglich der Melancholie: »Was thun, um sich anzuregen, wenn man müde und seiner selbst satt ist? … Das Beste aber, mein lieber Melancholiker, ist und bleibt: viel schlafen, eigentlich und uneigentlich! So wird man auch seinen Morgen wieder haben! Das Kunststück der Lebensweis­ heit ist, den Schlaf jeder Art zur rechten Zeit einzuschieben wissen.« (III, 246) Ein Stück Morgenröthe in den melancholischen Text zu interpolieren. An anderen Stellen des Textes fungiert das befreiende Lachen auf diese Weise. Aber es gibt auch jene andere Abhilfe gegen­ über der »tiefen Depression, der bleiernen Ermüdung, der schwarzen Traurigkeit« (V, 377), einer »zur Epidemie gewordenen Müdigkeit und Schwere« (V, 378), und das sind die trügerischen Tröstungen durch die christliche Religion, die jedoch nur eine Zeitlang wirken können., weil sie nur Surrogat eines verlorenen Substantiellen sind. An anderer Stelle (Nr. 492 der »Morgenröthe«) beschreibt und schreibt Nietzsche die Melancholie in den Begriffe und den Textvoll­ zügen, die auch die Tradition seit Burton als Spezifikum der Melan­ cholie in ihrem Verhältnis zur Manie gedeutet hat: »Unter den Südwinden.– A: Ich verstehe mich nicht mehr! Gestern noch war es in mir so stürmisch und dabei so warm, so sonnig – und hell bis zum Äussersten. Und heute! Alles ist nun ruhig, weit, schwermüthig, dunkel, wie die Lagune von Venedig: – ich will Nichts und athme tief auf dabei und doch bin ich mir insgeheim unwillig über dieses Nichts-Wollen: so plätschern die Wellen hin und her, im See meiner Melancholie. – B: Du beschreibst da eine kleine angenehme Krankheit. Der nächste Nordostwind wird sie von dir nehmen! – A: Warum doch!« (III, 290)

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Das Charakteristische dieses melancholischen Textstücks ist das Dia­ logische, das sich bis in das Schwanken von A zwischen Tatendrang und Schwermut als eine Dialektik erstreckt. Auch hier findet sich die verräterische Schreibweise des Nichts als Inhalt eines Wollens. Aber dieses Nichts-Wollen ist nicht einsinnig; denn es ergibt sich ein Unwillen über das Nichts-Wollen. Es sind Wellen »im See meiner Melancholie«. Bemerkenswert ist als erstes bereits das Schwanken zwischen Wollen und Wellen. Dann vollzieht der Text eine typisch melancholische Wendung: Melancholie ist eine Krankheit – lehrt ja auch bereits der medizinische Teil der Tradition – zugleich eine »kleine angenehme« – die Verliebtheit der Melancholie, die Reflexion des melancholischen Textes in sich selbst, die sie oder auch ihn oft so unzugänglich macht. Aber für B gilt, dass diese angenehme Krankheit vorübergehe. Der Text zwischen A und B, in der Mitte zwischen ihnen, dieser melancholische Text, liefert sich seinem schwankenden Vollzug aus, er ist in seinem Wollen, in seinen Wellen sich nicht treu, sondern der Text setzt sich seinem schwankenden Vollzug aus. Emotional ist Melancholie auch Begleiterscheinung des Schönen, ja auch des Diabolischen, Starken und Salamandrischen, wie Byron. (XIII, 76). Es ist das Gefühl als das Verlangen, das aus dem Mangel, dem Schmerz und der Entbehrung entsteht. (I, 15) Das Leiden an der Welt verschafft jene Sehnsucht, die im Text als die Sehnsucht nach Schönheit, nicht als diese selbst erscheint. Eingelassen in den melancholischen Text ist jener Spalt, jene Falte, diese Entbehrung hat ihren Ursprung im Unzeitgemäßen und seiner erzwungenen Einsamkeit. (V, 141) Und das trifft vor allem auf Wagner zu: »Er hat die Melancholie des Unvermögens; er schafft nicht aus der Fülle, er durstet nach der Fülle, … sein Eigenstes die Sehnsucht…« (VI, 47) – Sehnsucht nach Können, nicht dieses selbst., d.h. ein leerer Verweis im Text auf ein Fehlendes. Wenn aber Nietzsche von der »grössten und unheimlichsten Erkrankung« spricht, nämlich »das Leiden des Menschen am Men­ schen, an sich«, dann ist nur z.T. die Melancholie gemeint, also was die Tradition immer als das Spezifikum der Melancholie angesehen hatte, sondern die Selbstverzehrung in der Form des »Heimwehs« nach der Wüste, d.h. für ihn ist diese Konstellation die Entstehungsbe­ dingung des »schlechten Gewissens«. (V, 323). Zugleich aber ist diese Entstehungsbedingung etwas, das sich im Zwischen (»der Mensch kein Ziel, sondern nur ein Weg, ein Zwischenfall, eine Brücke« V, 324) der Menschheit ereignet, eben keine individuelle Krankheit mehr.

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Verzweiflung und Melancholie in speziellem Hinblick auf Nietzsche

Diese Übergängigkeit im Zwischen, diese kollektive Erkrankung des Textes des Menschen, ist Melancholie, wenn man die Freudsche Unterscheidung von Trauer und Melancholie zugrunde legt: Trauer ist beendbar, Melancholie ist das Festhalten des Verlustes. Und der Verlust, auch darin besteht eine Konvergenz von Nietzsche und Freud, ist ein plötzlich eingetretener Verlust, kein allmählicher Übergang: »ein Bruch, ein Sprung, ein Zwang, ein unabweisbares Verhängniss« (V, 324) Nie ist hier von einer individuellen Erkrankung die Rede; immer geht es um die Krankheit des Menschen, der Menschheit also. Das schlechte Gewissen leitet zur Selbstzerfleischung anstelle einer Wendung nach außen. »Dies Alles ist interessant bis zum Übermaass, aber auch von einer schwarzen düsteren entnervenden Traurigkeit, dass man es sich gewaltsam verbieten muss, zu lange in diese Abgründe zu blicken. Hier ist Krankheit, es ist kein Zweifel, die furchtbarste Krankheit, die bis jetzt im Menschen gewüthet hat … Die Erde war zu lange schon ein Irrenhaus!...« (V, 333)

Hier haben wir sie beisammen, alle klassischen Merkmale der Melan­ cholie: die Schwarzgalligkeit, die Krankheit als soziale Erkrankung, die sich im Inneren abbildet und einfrisst, so dass es keinen Ausweg aus der Innerlichkeit mehr zu geben scheint. Die Erde als Irrenhaus, das ist der Inbegriff der melancholischen Textualität. Wenn Nietzsche im Aphorismus 98 des zweiten Buchs der »Fröhlichen Wissenschaft« »Zum Ruhme Shakespeare’s« die Melan­ cholie des Brutus mit derjenigen Hamlets vergleicht und die erste höher einschätzt, dann geht es ja auch hier nicht um an Melancholie erkrankte Menschen, sondern um Dramen-Figuren, d.h. um eine Melancholie des Textuellen. Die so angesprochene Melancholie ist ein Texteffekt, und zwar ein Texteffekt des »Unaussprechbaren« (III, 452) Von Nietzsche wird dieses Unaussprechbare nun allerdings mit der Frage verbunden, ob es sich bei dieser melancholischen Unaus­ sprechbarkeit auch um eine persönliche Erfahrung des Autors namens Shakespeare handele: um eine »finstere Stunde« und einen »bösen Engel«. Beide Epitheta gehören in der Tradition zu den Charakteristika der Melancholie: die schwarze Galle beschert finstere Stunden, und in der christlichen Auseinandersetzung mit Melancholie war diese immer verstanden worden als eine Mitgift des Teufels, also des (ein­ zigen) bösen Engels. Wegen der Unaussprechbarkeit der Melancholie erscheint die Finsternis des melancholischen Textes im Modus des

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»Vielleicht«. Zwar lässt sich über Melancholie nicht aussagekräftig sprechen, wohl aber kann sie performativ im Text auftauchen.40 Bei Shakespeare erscheint diese Textualität im Entzug des Vollzugs auf als Widerspruch des Autors des Textvollzugs zum Spott über den im Text thematisierten Poeten. Die Finsternis der melancholischen Unaus­ sprechbarkeit ergibt sich allein im Vollzug des Textes, sonst wäre sie ja auch gar keine Unaussprechbarkeit. Nietzsche jedoch weiß sich in diesem Aphorismus der »Fröhlichen Wissenschaft« nicht anders zu helfen, als Mutmaßungen über die Seele Shakespeares anzustellen, um der Befragung des Meta-Autors Nietzsche auszuweichen. Solches Ausweichen ist nichts anderes, als erneut die Unaussprechbarkeit der Melancholie vorzuführen, jetzt aber derjenigen Nietzsches. Nietzsche sieht seine Melancholie noch übertroffen, »schwär­ zer als die schwärzeste Melancholie« (VI, 209) von seiner »Men­ schen-Verachtung«, nicht jeglichen Menschentums und auch nicht der historisch gewesenen Menschen (der »Irrenhaus-Welt ganzer Jahrtausende« VI, 210); denn jene glaubten das, was sie sagten, auch wenn es die Unwahrheit war. Aber die Menschen seiner Zeit übertreffen seine schwärzeste Melancholie, ihr Text erregt den Ekel: »Unsere Zeit ist wissend … Was ehemals bloß krank war, heute wird es unanständig.« (VI, 210) Ist der Text, der das sagt, der »schwärzer ist als die schwärzeste Melancholie«, noch melancholisch oder schon metamelancholisch? Es ist tatsächlich eine Form einer Gestaltung einer Metamelancholie, wie ja auch der Nihilismus zugleich die Darstellung der nihilistischen Praxis seiner Zeit ist wie auch die dekonstruktive Entwertung und Umwertung seiner Werte, so ist auch diese Form des metamelancholischen Textes zugleich die Darstellung der überwundenen Melancholie wie auch deren Überwindung in der Praxis der Texte. Ein Vollzug der Metamelancholie ist das Lachen, auch das ein wichtiger Begriff und Vollzug in Nietzsches Textualität, auf das aber wegen seiner Komplexität hier nicht eingegangen wer­ den kann.41 Inhalt und Performanz treten im metamelancholischen Diese wichtige Unterscheidung, in der Nietzsche-Forschung oft unbeachtet, macht Corinna Schubert zur Grundlage ihrer Interpretationen des Maskenbegriffs und des Maskenvollzugs in Ihrem Buch: C. Schubert: Masken denken – in Masken denken. Bielefeld 2021. 41 Auf die Tradition eines metamelancholischen Lachens im melancholischen Text, s. die Bezüge bei Demokrit und Democritus Junior (alias Robert Burton), auch die kleine Textauswahl aus Nietzsche in: Luzifer lacht, hrsg. v. St. Dietzsch. Leipzig 1993; St. Dietzsch: Montaigne und Nietzsche – die Kunst des Lachens.-In: Nietzschefor­ 40

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Verzweiflung und Melancholie in speziellem Hinblick auf Nietzsche

Text auseinander. In »Ecce homo«, einem der philosophischsten und entgegen dem Anschein entschieden antibiographischen Text, ist die Rede davon, dass Melancholie und Deutschen-Verachtung wie eine Krankheit den Text infiziert haben »… und schrieb von Zeit zu Zeit…«, und so entstand als melancholischer Text »Menschli­ ches, Allzumenschliches«.42

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Kurt Röttgers

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Verzweiflung und Melancholie in speziellem Hinblick auf Nietzsche

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III. Ausblick

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Christina Kast

Kultur und Verzweiflung – Gedanken zur Lebbarkeit und Unlebbarkeit des Lebens

»Schöpfertum ist nur eine zeitweilige Rettung aus den Klauen des Todes.« (E.M. Cioran, Auf den Gipfeln der Verzweiflung) »Auf den eigenen Trümmern haben wir erfahren, wer wir sind.« (E.M. Cioran, Das Buch der Täuschungen)

»Es gibt Erfahrungen, die man nicht überleben kann.«1 Die Frage des Überlebens stellt sich dem Menschen gemeinhin in Hinblick auf seinen physischen Erhalt. In seinem Erstlingswerk Auf den Gipfeln der Verzweiflung nimmt Emile Cioran jedoch eine Form der Lebens­ gefahr jenseits der reinen Physis in den Blick. Er spricht von einer grundlegend anderen Tödlichkeit für den Menschen; davon, dass er in einem meta-physischen Sinne tödlich verwundet werden kann, ja, dass es Widerfahrnisse des Lebens gibt, die es ihm verunmöglichen, weiterzuleben – die ihm das Leben unlebbar machen. Was aber bedeutet Unlebbarkeit des Lebens für den Menschen? Der Beitrag versucht, folgende Antwort auszuführen: Anders als die tierische Lebensform muss sich der Mensch sein Leben lebbar machen. Er ist kulturelles Wesen aus Notwendigkeit, nicht aus Wahl, und muss sich und seiner Welt Form geben – in sein Dasein Bedeu­ tung und Ausrichtung legen. Ist die Lebbarkeit des Lebens nichts Gegebenes, sondern vom Menschen selbst herzustellen, so ist auch ihr Gegensatz, die Unlebbarkeit des Lebens, eine für ihn stete Möglich­ keit. Die Unlebbarkeit entsteht da, wo die hervorgebrachten Formen unwiderruflich zerfallen, so dass nur das Nichts bleibt.

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Cioran 2019, S. 13.

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Aus der Evidenz der Unlebbarkeit des Lebens geht existentielle Verzweiflung2 hervor. Sie ist die Kehrseite der schöpferischen Poten­ zen, die sich im Kulturwesen Mensch zeigen. Als radikalster Ausdruck der Nihilierung der hergestellten Lebbarkeit steht die Verzweiflung dem menschlichen Vermögen, sich Form zu geben und als weltoffenes Wesen sein Leben zu gestalten, entgegen. Wer verzweifelt, erfährt die Auflösung dessen, was ihn leben ließ und ohne das er nicht mehr leben kann. Dies macht die Erfahrung der Verzweiflung zur Todeserfahrung im Leben. In diesem Sinne ist das Phänomen der Verzweiflung keine Emotion und kein Affekt unter anderen, sondern eine genuine Mög­ lichkeit des Menschen, die untrennbar verbunden ist mit dem ihm wesentlichen schöpferischen Wesen und der darin angelegten Offen­ heit seiner Existenz, die sich ihm aufschließen und ebenso verschlie­ ßen kann. Der skizzierte Gedanke wird in den nachfolgenden vier Schritten entfaltet: Ausgehend von der philosophischen Anthropologie Hel­ muth Plessners, die den Menschen als exzentrische Lebensform vor­ stellt (1), soll nachvollziehbar werden, inwiefern der Mensch als das Lebewesen charakterisiert werden kann, welches sich das Leben erst lebbar machen muss und dem das Leben in einem meta-physischen Sinne unlebbar werden kann (2). In der Folge wird der Zusammen­ hang zwischen der Unlebbarkeit des Lebens und der existentiellen Verzweiflung beleuchtet (3), um in grundsätzliche Überlegungen zu Bedeutung und Wert des Phänomens der Verzweiflung zu mün­ den (4).

(1) Das mit sich entzweite Lebewesen Helmuth Plessner spricht vom Menschen als einer Lebensform, die durch ihre »exzentrische Positionalität« gekennzeichnet ist. Als Teil des organischen Lebens steht der Mensch zwar in Kontinuität mit der Natur, ist jedoch qua seiner Exzentrizität eine in sich gebrochene Lebensform – gebrochen, da der Mensch im Gegensatz zum Tier um sich selbst weiß und darin nicht aus seiner Mitte heraus leben kann. Das zentrisch positionierte Tier ist eins mit seinem Leib und geht im Im Folgenden sei die Rede von grundlegender Verzweiflung am Dasein, nicht im Sinne eines Alltagsgebrauchs des Begriffs »verzweifelt« und »Verzweiflung«, wie z.B. »verzweifelt« seinen Schlüssel suchen.

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Kultur und Verzweiflung

»Hier-Jetzt«3 seiner Gestelltheit in der Welt auf. Während das Tier erlebt, doch nichts von seinem Erleben weiß,4 ist sich der Mensch dementgegen seiner selbst bewusst. »Er lebt und erlebt nicht nur, son­ dern er erlebt sein Erleben«.5 Die Selbstvergessenheit des Tieres ist dem Menschen verwehrt. Zwar ist er als Lebewesen seine Mitte, steht jedoch durch sein Selbstbewusstsein auch außerhalb seiner selbst und wird sich seiner selbst ansichtig. Die Exzentrizität verunmöglicht dem Menschen den natürlichen Lebensfluss des Tieres. Er kann nicht einfach leben, ihm ist es durch seinen »Existenztyp aufgezwungen, das Leben zu führen, welches er lebt, d.h. zu machen, was er ist – eben weil er nur ist, wenn er vollzieht.«6 Der Mensch muss sich sein Wie und Wozu des Lebens selbst geben, er ist, mit Plessners Worten, »ortlos, zeitlos im Nichts stehend, konstitutiv heimatlos«7. Seine natürlich instabile Lage verlangt von ihm, seine »auf Nichts gestellt[e]«8 Exis­ tenz zu Etwas umzuschaffen und sich selbst aus seiner ursprünglichen Gleichgewichtslosigkeit ins Gleichgewicht zu bringen. Vor die Aufgabe gestellt, sich selbst sowie die eigene Welt hervorzubringen, ist das Dasein des Menschen von einer anhaltenden existentiellen Unruhe durchzogen. Der Motor seiner schöpferischen Kräfte ist die schmerzhafte, nach Plessner für den Menschen schier unerträgliche Faktizität seiner exzentrischen Stellung in der Welt, die unauflöslich mit der Erfahrung des Nichts verknüpft ist. Der Mensch muss sich selbst stets aufs Neue schaffen, aus Notwendigkeit und nicht aus Wahl – er ist, so Plessner, von Natur aus Kulturwesen.9 In den Kulturerzeugnissen ist eine Fortbewegung von der Ungewissheit, von der Fragwürdigkeit menschlichen Daseins, intendiert. Die Kultur muss antworten und in der Festigkeit ihrer Antwort ein Eigengewicht entwickeln, das einen schützenden und stützenden Rahmen für den Menschen herstellt. Ein solches Eigengewicht verlangt indes nach der Kraft des Vergessens: Der Mensch muss vergessen können, dass er am Ursprung seiner Welt steht und dass der Boden, der ihn trägt, aus seinen Händen hervorgegangen ist. Anders ausgedrückt: Er bedarf des Glaubens, dass er getragen wird; dass das, was ihn trägt, 3 4 5 6 7 8 9

Plessner 2016, S. 305. Plessner 2016, S. 360. Plessner 2016, S. 364. Plessner 2016, S. 384f. Plessner 2016, S. 385. Plessner 2016, S. 365. Vgl. Plessner 2016, S. 385.

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ihm vorausgeht und nicht von ihm abhängt. Erst wenn die Dinge die Illusion des Eigengewichts erhalten, können sie für die Schwere des menschlichen Daseins Gegengewicht sein und ihn aus seiner natürlichen Gleichgewichtslosigkeit holen. Der Mensch braucht die Gegen-Schwere, um die Exzentrizität seines Wesens zu ertragen.10 Auch wenn die Exzentrizität seines Wesens Quelle immerwäh­ render Lebensnot ist, sieht Plessner in ihr die Möglichkeitsbedin­ gung der Weltoffenheit des Menschen. Welt und Selbst sind ihm ein zu Gestaltendes, ein nicht Festgestelltes – im Gegensatz zum naturgemäß festgelegten Tier. Das heißt: Lebensnot und Freiheit sind untrennbar verbunden für den Menschen; das eine ist nicht ohne das andere zu haben. Freiheit verlangt nach der Gebrochenheit und »Hälftenhaftigkeit«11 menschlicher Exzentrizität; die Offenheit der Existenz hat eine grundlegende Unwägbarkeit und Unbeherrschbar­ keit der Zukunft zur Folge. Aus dieser Grundkonstellation emergiert ein fundamentales Paradox menschlicher Existenz, das sie in einer eigentümlichen Spannung hält: Seine Weltoffenheit gründet in der exzentrischen Gestelltheit und damit im Faktum des existentiellen Nichts, welches seinem Dasein unauflösbar zugrunde liegt und ihn stets von Neuem über sich hinaustreibt. In der Transzendierung des Nichts, der Nicht-Festgestelltheit, aber strebt die Exzentrizität von sich weg nach ihrer eigenen Aufhebung, d.h. der Mensch sucht nach Aufhebung dessen, was sein Mensch-Sein im Wesentlichen ausmacht – er will die Bürde der radikalen Weltoffenheit in der Kultur ablegen dürfen, den Bruch in seiner Natur zumindest vorübergehend heilen.12 Denn: In der Weltoffenheit ist das bezeichnet, was das Anstrengendste ist, nämlich die Aufgabe das Grundlegendste – den Boden, auf dem man steht – aus sich selbst hervorzubringen.

(2) Von der Lebbarkeit und Unlebbarkeit des Lebens Plessners Ausführungen zur Stellung des Menschen in der Welt erlauben die Schlussfolgerung, dass es für den Menschen als exzen­ trisch positioniertes Lebewesen ein Problem des Lebens gibt, welches Vgl. Plessner 2016, S. 385. Plessner 2016, S. 385. 12 Plessner sieht vor allem in jedem religiösen Streben den Versuch, die aus der Exzentrizität emergierende Weltoffenheit aufzuheben. Vgl. Plessner 2016, S. 390. 10

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den rein physischen Erhalt übersteigt. Um zu leben, muss der Mensch sein Leben lebbar machen, d.h. die Bedingung der Möglichkeit zu leben qua seiner schöpferischen Kräfte aus sich selbst hervorbringen. Lebbar ist ihm das Leben allein jenseits des mit seiner Lebensform verwobenen Nichts, das zu transzendieren für ihn die grundlegendste Lebensnot darstellt. In der Erzeugung seiner Welt soll demgemäß die Unlebbarkeit des Lebens angesichts der eigentlichen Abgründigkeit und Grundlosigkeit seines Daseins überwunden werden, doch: Die Lebbarkeit kann kein abschließend herzustellender Zustand sein; sie ist nicht final fixierbar, insofern das Erfordernis der ursprünglichen Erzeugung von Welt in der exzentrischen Natur des Menschen grün­ det. Anders gewendet bedeutet dies, dass das Nichts ebenso wie die darin gründende Unlebbarkeit, mögen sie auch in der Kultur transzendiert werden, in ihrer Abwesenheit doch stets gegenwärtig sind, als eine stete Möglichkeit des Mensch-Seins qua seiner exzentri­ schen Gestelltheit. In der Unlebbarkeit sieht sich der Mensch mit der Frage von Leben und Tod konfrontiert. Die ihn haltenden und bergenden Erzeugnisse der Kultur, seine Lebensselbstverständlichkeiten, sind ihm überlebensnotwendig. Auf dem Spiel für ihn steht das LebenKönnen, die Lebensmöglichkeit selbst. Für den Menschen gibt es einen Kampf um das Dasein, welchen das Tier nicht kennt und der maßgeblich in ihm selbst ausgetragen wird. In ihm hebt sich die Frage von Sein und Nicht-Sein, von Lebbarkeit und Unlebbarkeit von der physischen auf eine meta-physische Ebene. Der Mensch braucht mehr als das Tier, um leben zu können. Die Destabilisierung der erlangten Festigkeit muss für die exzen­ trische Lebensform demnach eine Beunruhigung bedeuten, die je nach Ausprägung und Schärfe lebensbedrohliche Züge annehmen kann. Die Beunruhigung nimmt da ihren Ausgang, wo die lebensnotwen­ digen Erzeugnisse in der Kultur brüchig werden und findet ihren Höhepunkt in deren Zerfall: Werden die Antworten auf die Fragwür­ digkeit menschlicher Existenz selbst fragwürdig, beginnen sie, ihre Bindungskraft zu verlieren und dem Menschen die Einbettung in Welt und Leben zu entziehen. In der Nihilierung des Gegebenen auf sich selbst zurückfallend, stürzt der Mensch in seine genuine Gleichgewichtslosigkeit. Wo im Sinne Plessners Etwas war, bleibt nur noch das Nichts – tabula rasa. Im Nichts ist das Sein verunmöglicht, der Mensch sieht sich mit dem eigenen Nicht-Sein konfrontiert; das Leben wird ihm unlebbar. Der Weg in die Unlebbarkeit ist durchwirkt

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von Angst, genauer Todesangst, wird man gewahr, dass hier der Kern dessen, was uns konstituiert, auf dem Spiel steht. In der Unlebbarkeit zeichnet sich das Ende dessen, was wir sind, ab. Da, wo die uns Form gebenden kulturellen Erzeugnisse sich lichten und den Blick auf den Abgrund freigeben, erfahren wir das Nichts, welches sich in der Nihilierung dessen, was wir sind, einstellt. Der Alp der Unlebbarkeit ist Widerfahrnis des Einzelnen: Die Einbettung in das kulturell Gegebene kann das Faktum, dass es ihm qua seines Mensch-Seins aufgegeben ist, sich über sein Leben zu verständigen und eben dieses zu führen, nur bedingt verdecken. Sören Kierkegaard hat diese Aufgabe des Menschen als grundlegendstes und unhintergehbares Postulat der Existenz herausgestellt – unabhängig davon, ob der Einzelne diesem nachkommt oder nicht.13 Als geistiges Wesen hat der Mensch sich zu verhalten, zu sich und zur Welt, und ist darin der Notwendigkeit der immerwährenden creatio des eigenen Lebens – des Selbst – unterworfen. Die Aufgabe, sich selbst hervor­ zubringen, ist kein intellektuelles Postulat, keine willkürlich an den Menschen herangetragene Forderung, sondern ein Erfordernis, das aus dem Leben – aus der menschlichen Lebensform selbst – erwächst. Sich dieser Aufgabe zu stellen, bedeutet, sich der größtmöglichen Unwägbarkeit auszusetzen: Jede vorgegebene und feste Lebensdeu­ tung abzutun und das zu entdecken, was diese verdeckt – den weiten und abgründigen Möglichkeitsraum des eigenen Selbst. Kierkegaard nennt die Angst, welche den Menschen bei dieser Erfahrung erfasst, als »Schwindel der Freiheit«: Die Angst entsteht beim Blick in den Abgrund; sie ist Todesangst und Lebensangst gleichermaßen, die nur im Griff nach dem sicher Gegebenem – in der Zurückdrängung des Nichts – zu bewältigen ist. Einen solchen Lebenskampf finden wir auch in den platonischen Dialogen.14 Sokrates führt die Dialogpartner an den Abgrund, er sucht den Nullpunkt – den Ort, an dem das Nichts zu vernehmen ist. Die sokratische Widerlegung ist mehr als eine rein formale, sie zielt auf den Menschen im Kern seiner selbst; sie intendiert Erschütterung des Fundamentes, auf dem das Gegenüber steht. Die sokratische Frage setzt an der Wurzel des Selbstverständnisses des Einzelnen an. Sie will tödlich verwunden, um etwas grundlegend anderes als Selbsterhaltung zu initiieren, nämlich Selbstveränderung. 13 14

Vgl. Kierkegaard 1997, S. 13ff. Vgl. dazu Hoerlin/Kast 2021, S. 253–263.

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Kultur und Verzweiflung

Die Aporie, die Widerlegung der Grundlage der eigenen Lebbarkeit des Lebens, ist der Durchgangspunkt für die metanoia hin zum phi­ losophischen Leben. Die Todesangst steht am Anfang der Philosophie – in diesem Sinne stellt Sokrates im Phaidon sein Philosophieren unter den Satz »Philosophieren heißt sterben lernen.«15 Sterben ler­ nen statt Überleben wollen – das heißt für Platon, über das grundle­ gend Menschliche hinausgehen und sich wahrhaft transzendieren auf das Gute hin, durch die Todesangst hindurch und über sie hinaus. Das gute Leben liegt jenseits der bloßen Lebbarkeit.

(3) Existentielle Verzweiflung und Unlebbarkeit des Lebens Unlebbarkeit des Lebens und existentielle Verzweiflung gehören zusammen – Verzweiflung stellt sich da ein, wo das Leben unlebbar wird: im Moment der Nihilierung dessen, was das eigene Selbst konstituiert. In der Verzweiflung drückt sich die Erosion jeder Form durch den Verlust des Grundes der Form aus. Sie bricht hervor, wenn die Wurzel – radix – des eigenen Daseins selbst versehrt wird. In die­ sem Sinne kann sie als radikalste Ausprägung menschlichen Leidens bezeichnet werden, als ein Leiden am Ganzen bzw. am Verlust des Ganzen. Der Verzweifelnde berührt die ihm äußerste Leidensgrenze, im Verlust dessen, was ihn leben lässt und an das Leben bindet. In der Verzweiflung werden der erlittene Verlust sowie die daraus folgende Unlebbarkeit des eigenen Lebens – das Nicht-Mehr-LebenKönnen – zur Evidenz: zur unweigerlichen und unabweislichen Gewissheit, die als allumfassende und vollends ergreifende Einsicht in die Auflösung von allem zu begreifen ist. Verzweiflung tritt da ein, wo jeder Zweifel endet.16 »Im Zweifel verzweifelt niemand,«17 insofern dieser Ungewissheiten und Ungereimtheiten erlaubt, im Rahmen derer Spielräume der Lebbarkeit – das Prinzip der Hoffnung18 – Platon, Phaidon, 61d. Erich Bloch bezeichnet die Verzweiflung als »Erwartung eines Negativen, an dem keinerlei Zweifel mehr statthat«. Bloch 1959, 125f.; vgl. dazu auch Decher 2002, S. 52ff. 17 Decher 2002, S. 59. 18 Für Bloch markiert die Verzweiflung das Ende der Hoffnung; sie ist vollkommene Hoffnungslosigkeit: »Und sie [die Verzweiflung] erst, nicht die Angst, ist wirklich bezogen auf das Nichts; die Angst ist noch fragend-schwebend, noch von Stimmung und vom Unbestimmten, auch Unausgemachten ihres Gegenstands bestimmt, woge­ 15

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erhalten bleiben. Anders in der Verzweiflung: Alle Wege sind hier endgültig verschlossen; der Lebensprozess erstarrt. Augenscheinlich kann die Verzweiflung vor diesem Hintergrund als eine Form des Todes im Leben bezeichnet werden: Sie markiert ein Lebensende, wenn auch in einer eigentümlich paradoxen Form, denn aus dem Nicht-Mehr-Leben-Können im meta-physischen Sinne folgt nicht automatisch ein Sterben-Können im physischen Sinne. Im Lebensstillstand des Verzweifelten bleibt das physische Sein unan­ getastet, während er sich in einem Zustand des Dazwischen einge­ schlossen findet, in dem die zermürbende Gleichzeitigkeit von absolut Gegensätzlichem herrscht: Man kann nicht mehr leben, jedoch auch nicht sterben. Diese absolute Spannung, in die der Verzweifelte gestellt ist, kann sich auflösen, wenn die Evidenz des Nicht-MehrLeben-Könnens in ein Nicht-Mehr-Leben-Wollen19 umschlägt und den Ausgang des Freitods aus einem nicht mehr lebbaren Leben eröffnet.20 Die immerwährende Möglichkeit des Selbstmords vermag es, dem am Dasein Verzweifelnden eine finale Bewegungsfreiheit in der erstarrten Existenz zu schenken, ob nun im konkreten Akt des Selbstmords oder als Gedankenspiel, wie wir es in Emile Ciorans Überlegungen zur lebenserhaltenden Kraft des suizidalen Gedankens in exemplarischer Weise vorfinden: »Es tut wohl zu denken, daß man sich töten wird. Kein Thema ist beruhigender: sobald man sich ihm nähert, atmet man auf. Darüber zu meditieren, macht beinahe so frei wie die Tat selber.«21

gen eben Verzweiflung in ihrem Gemütszustand ein Definitives, in ihrem Gegenstand, außer dem Definitiven, ein schlechthin Definiertes an sich hat.« Vgl. Bloch 1959, S. 125f. 19 Hier ist der Zusammenhang zwischen Verzweiflung und Depression als Verlust des Wollen-Könnens berührt. Darauf verweist u.a. Alice Holzhey-Kunz: »Wenn wir das Verzweifelt-Sein mit dem emotionalen Zustand des depressiven Menschen gleich­ setzen, dann können wir jetzt auch folgern, dass hinter allen agierenden Formen des seelischen Leidens (…) die Depression lauert. Die Depression als die Stimmung eines umfassenden Verzweifelt-Seins nimmt folglich unter allen Formen seelischen Leidens einen Sonderstatus ein. In ihr kommt alles Wollen zum Erliegen.« Vgl. Holzhey-Kunz 2020, S. 120. 20 Vgl. dazu u.a. Decher 2002, S. 97ff. 21 Cioran 1979, S. 57. Cioran stellt überdies eine Verbindung von Verzweiflung und Heldentum her: »Ich bin immer überzeugter davon, daß Heldentum in Verzweiflung wurzelt. Wir verpfuschen unser Leben in der Verzweiflung, doch durch sie verfehlen wir nicht auch den Tod.« Vgl. Cioran 2019, S. 58.

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Kultur und Verzweiflung

Die Todeserfahrung in der Verzweiflung wird in besonderem Maße in der veränderten Erfahrung der Zeitlichkeit greifbar. Wie für den Sterbenden kommt für den Verzweifelten die Zeit zum Still­ stand; sie versiegt in ihm wie in einem Toten: Von der Endgültigkeit der Nihilierung des eigenen Lebenskerns erfasst, verliert er seine Möglichkeit auf Zukunft, insofern für ihn – den Sterbenden – alles unaufhebbar festgestellt ist. Für ihn gibt es kein Werden mehr, in das er denkend und handelnd eingreifen könnte. Sein Leben steht ihm unverrückbar geschrieben, so wie seine Zukunft nicht mehr ihm gehört. Den Verzweifelten umfängt das »unentrinnbare Jetzt von Schmerz und Qual«22, die Gegenwart – das, was ist – wird zum Absolutum. Alles fließt weiter, während der Verzweifelte erstarrt. Die Zeit als Möglichkeitsraum des Werdens wird ihm so zum radikal Anderen, Fremden und nicht mehr Verfügbaren. In der Abtrennung von der Zeit äußert sich gleichermaßen der Verlust jeder Gestaltungskraft und Verfügungsgewalt über das eigene Leben, das nicht mehr das eigene zu sein scheint. In der Verzweiflung gehört unser Leben nicht mehr uns, es wird zu einem Gegenüber, das uns die radikalste Form der Ohnmacht erleiden lässt – ein Leiden an der Endgültigkeit des »Nie-Mehr«23 und des »FürImmer«. Der Bruch zwischen dem Menschen und seiner Zeitlichkeit ist darin zugleich ein Bruch mit dem eigenen Leben, das nunmehr selbst wie ein unverrückbar totes Ding vor dem Verzweifelten liegt. Diese maximale »Desintegration aus dem Leben«24 bedeutet die extremste Form der Selbstentfremdung,25 in der einerseits der Suizid als endgültig physische Vernichtung seiner selbst möglich wird und in der sich, dem vorausgehend, die vollständige Abtrennung von der Mitwelt und allen intersubjektiven Bezügen vollzieht: Die tödliche Verwundung im Lebenskern vereinzelt den Menschen absolut und wirft ihn vollends auf sich zurück. Die Anderen, die Lebenden, welche im Gegensatz zum verzweifelten Dasein in der Zeit und im Leben stehen, sind für ihn nicht mehr erreichbar.

Fuchs 2002, S. 51. Fuchs 2002, S. 51. 24 Cioran 2019, S. 64. 25 Fuchs weist ebenfalls darauf hin, dass Verzweiflung und der sie zu Ende führende Suizid die äußerste Verdinglichung und Entfremdung seiner Selbst bedeuten, Vgl. Fuchs 2002, S. 51. 22

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(4) Jenseits der Verzweiflung In der Verzweiflung scheint dem Menschen das genommen, was ihn in seinem Mensch-Sein auszeichnet: Er, das nicht festgestellte Tier, erfährt sich als unwiderruflich festgesetzt im Nichts, seiner Weltoffenheit beraubt und in seinem Lebenselement tödlich verwun­ det. Mag die Verzweiflung darin auch als Entgleisung der Natur, als etwas dem menschlichen Dasein Unzugehöriges, das besser nicht sein sollte, anmuten: Sie bleibt darin eine grundlegende Möglichkeit des Menschen und nur des Menschen, welcher qua seiner exzentrischen Stellung in der Welt sein Leben zu führen hat – und eben diese schwerste aller Aufgaben verfehlen kann. Diese »existentielle Gefähr­ dung«26 kann der Mensch nicht von sich abtun: Er hat mit ihr zu leben. Sie gehört zu ihm und hört erst da auf, wo die Weltoffenheit sich schließt und der Geist endet. Die Verzweiflung ist so gesehen ein Schlüsselphänomen, von dem aus man der Grenzen des menschlichen Geistes sowie der Verwobenheit von Existenz und Geist ansichtig werden kann: Es ist die exzentrische Lebensform in ihrer Gebrochenheit, aus der die Möglichkeit des Seins und des Nichts emergiert. Weltoffenheit und Weltverlust, Schöpfung und Zerstörung, Hoffnung und Verzweif­ lung: Sie sind verbunden im Menschen, entspringen dieser einen Wurzel. Aus der existentiellen Notwendigkeit, sich zu Selbst und Welt zu verhalten, tritt der Mensch fragend an seine Welt heran und verleiht ihr antwortend Form.27 Seine formgebende Natur, seine natürliche Bestimmung zur Kultur in Plessners Sinne, macht die Erfahrung von Verzweiflung zu etwas ihm Ureigenen, insofern ihm – dem Form-Schaffenden – auch alle Form sowie der Grund aller Form ersterben kann. Für den Einzelnen heißt dies aber auch: Wer die Offenheit der eigenen Existenz leben will, ist der Verzweiflung immer nahe – niemals vor ihr gefeit, sich ihr mutwillig aussetzend. Doch auch denjenigen, der die eigene Aufgabe am Selbst in bestehenden Sicherheiten und Selbstverständlichkeiten flieht, kann die Evidenz der Unlebbarkeit erfassen, mit einer Vehemenz, die in ihrer Plötzlichkeit Vgl. Fuchs 2020, S. 305. Plessner weist seinerseits darauf hin, dass die philosophische Frage nach dem guten und richtigen Leben aus der exzentrischen Lebensform selbst hervorgeht. Diese Frage sei nicht »als eine willkürliche Problemstellung aufzufassen, mit der der Philosoph an den Menschen herantritt«; er hat mit ihr »wesensnotwendig zu ringen«, »wenn er leben will«. (Plessner 2016, S. 383). 26 27

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das ganze Lebensgebäude zusammenbrechen lässt. Gerade hier, in der nie dagewesenen und plötzlich aufbrechenden Verzweiflung, sieht Cioran die größte Wahrscheinlichkeit der Selbsttötung: »Wer nie gedacht hat, sich zu töten, wird sich eher dazu entschließen, als wer nicht aufhört, daran zu denken. Jede entscheidende Tat ist leichter durch Nichtreflexion auszuführen als durch Überprüfung. Fühlt einer sich hinsichtlich des Selbstmordes in jungfräulichem Geist dahingedrängt, so hat er keine Verteidigung gegen diesen plötzlichen Impuls; er ist von der Vision eines endgültigen Auswegs geblendet und erschüttert, den er vorher nicht bedacht hatte; während der andere immer jene Geste hinauszögern kann, die er unendlich oft erwogen und abermals erwogen hat, die er von Grund auf kennt und zu der er sich, wenn überhaupt, ohne Leidenschaft entschließen wird.«28

Und doch: In der Nihilierung des Ganzen kann die Verzweiflung auch über sich hinaus verweisen. Ihr Wert liegt für denjenigen offen, der es vermag, die dialektische Wende vom Nichts ins Schöpferische zu vollziehen und einen neuen Anfang zu machen. Die Verzweiflung kann so eine purgatorische Station der Selbstüberschreitung und Selbstveränderung sein, insofern Selbstveränderung notwendig das Flüssig- und Brüchigwerden der eigenen Lebensmitte voraussetzt und darin eine Erfahrung der Nihilierung des Ureigensten, d.h. den Verlust dessen, was das eigene Selbst konstituiert, impliziert – sie ist Annäherung an das Nichts. Darin folgt die Selbstveränderung der grundlegenden Dialektik, die ihr innewohnt: Neues wird, indem Altes vergeht. Auf den Tod kann das Leben folgen, denn: »Nur wo es Gräber sind, gibt es Auferstehungen.«29

Literaturverzeichnis Bloch, Erich: Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt/M. 1959. Cioran, E.M.: Die verfehlte Schöpfung, Frankfurt/M. 1979. Cioran, E.M.: Auf den Gipfeln der Verzweiflung, Berlin 2019. Cioran, E.M.: Das Buch der Täuschungen, Berlin 2019. Decher, Friedhelm: Verzweiflung. Anatomie eines Affekts, Lüneburg 2002. Fuchs, Thomas: Die Zeitlichkeit des Leidens, in: Fuchs, Thomas: Zeitdiagnosen. Philosophisch-psychiatrische Essays, Baden-Baden 2002, S. 35–60.

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Cioran 1979, S. 58f. Nietzsche, KSA 4, S. 43.

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Fuchs, Thomas: Warum gibt es psychische Krankheit? Anthropologische und existentielle Vulnerabilität, in: Fuchs, Thomas: Randzonen der Erfahrung. Bei­ träge zur phänomenologischen Psychopathologie, Freiburg/München 2020, S. 299–319. Hoerlin, Johannes/ Kast, Christina: Von der Unruhe des philosophischen Lebens. Reflexionen zur sokratischen Frage, in: Fröhlich, Bettina/Hansen, Hendrik/Heimann, Raul (Hg.): Platonisches Denken heute. Festschrift für Bar­ bara Zehnpfennig. Baden-Baden 2021, S. 253–263. Holzhey-Kunz, Alice: Emotionale Wahrheit. Der philosophische Gehalt emotiona­ ler Erfahrung, Basel 2020. Kierkegaard, Sören: Die Krankheit zum Tode. Eine christlich-psychologische Dar­ legung zur Erbauung und Erweckung, Stuttgart 1997. Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra (Za). In: Giorgio Colli/Mazzino Montinari (Hg.): Nietzsche, Friedrich: Kritische Studienausgabe (KSA) in 15 Bänden, Bd. 4, München 1999. Platon: Phaidon, in: Platon: Werke in acht Bänden. Darmstadt 2005. Plessner, Helmuth: Die Stufen des Organischen und der Mensch, Berlin 2016.

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