Altniederländische Malerei. Von Rogier van der Weyden bis Gerard David 3791313894, 9783791313894

Mit keinem anderen Thema der Kunstgeschichte hat sich Otto Pächt sein ganzes Leben hindurch so kontinuierlich und gründl

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Altniederländische Malerei. Von Rogier van der Weyden bis Gerard David
 3791313894, 9783791313894

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OTTO PACHT

Altniederlandische Malerei Von Rogier van der Weyden bis Gerard David

Herausgegeben von Monika Rosenauer

Pr es tel

U mschlag9ild: Hugo van der Goes Der Sündenfall (Detail). Wien, Kunsthistorisches Museum Frontispiz: Rogier van der Weyden, Columba-Altar. Linker Flügel (Detail) . München, Bayerische Staatsgemäldesammlungen

Die Deutsche Bibliothek - C IP-Einh ei tsa ufilahme Pächt, Otto: Altn.iederländische Malerei: Von Rogier van der Weyden bis Gerard David / Otto Pächt. Hrsg. von Monika R osenauer. - München: Prestel, 1994 ISBN

3-7913-1389-4

NE: Weyden, Rogier van der [Ill .J

Konzept und Produktion Michael Pächt

© Michael Pächt, Mün chen 1994 Reproduktionen: Schwitter AG, Basel (Farbe) Karl Dörfel Reproduktionsgesellschaft mbH, München (Schwarz-Weiss) Satz: Offizin Chr. Scheufele, Stuttgart Druck und Bindung: Passavia Druckerei GmbH, Passau Printed in Germany



Inhalt

Vorwort

7

Vorbemerkung

9

Rogier van der Weyden

II

Farbtafeln 1-8

Seite 57-64

Petrus Christus

77

Aelbert van Ouwater

91

Dieric Bouts

99

Justus van Gent

145

Hugo van der Goes

155

Farbtafeln 9-24

Seite 177-192

Geertgen tot Sint Jans

21!

Hans Memling

227

Farbtafeln 25-32

Seite 223-240

Gerard David

Ausfalttafel

245 nach Seite 252

Editorische Notiz - Dank

254

Anmerkungen

255

Bibliographie Otto Pächt

258

Verzeichnis der angeführten Werke

259

Register

262

Photonachweis

264

Vorwort

Mit keinem anderen Thema der Kunstgeschichte hat sich Otto Pächt sein ganzes Leben hindurch so kontinuierlich und gründlich auseinandergesetzt wie mit der altnicderländischen Malerei. Schon 1934 konnte der damals Zweiunddreißigjährige an seinen amerikanischen Kollegen Meyer Schapiro schreiben: » Ich beschäftige mich seit etwa vierzehn Jahren intensivst mit der altniederländischen Malerei ... , habe die Entwicklung aller bedeutenderen Künstlerpersönlichkeiten genau studiert und zu diesem Zweck unzählige Einzelana lysen und zwar Strukturanalysen gemacht und es ist nur traurig, daß dieses intensive Studium - eine Arbeit, die besonders um das Reifen des Sehens bemüht war aus meinem spät genug publizierten Aufsatz nirgends ersichtlich sein soll. « Mit dem Aufsatz wa ren die 1932 veröffentlichten >Gestaltungsprinzipien der westlichen Malerei < gemeint, der erste Teil von Pächts Heidelberger H abilitationsschrift , wo er es unternimmt, an H and von exempl arischen Analysen ausgewä hlter Kunstwerke charak teristische Züge, eben die Gestaltungsprinzipien, der flämischen und holländischen (übrigens auch der französischen) Malerei des 15.Jahrhunderts nachzuweisen. Von seinem achtzehnten Lebensjahr bis zu seinem Lebensende haben die Niederländer Pächt nicht mehr losgelassen. Sein erster Aufsatz war einem Ouwaterproblcm gewidmet, diesem folgte ein w ichtiger Beitrag zur Chronologie des Petrus Christus und eine kühne Kritik an Friedländers drittem, Dieric Bouts gewidmeten Band seiner altniederländischen Malerei. Einen der ko nzentriertesten und anspruchsvoll sten Beiträge bilden die schon erwähnten >Ges taltungsprinzipien Early Netherlandish P ainting< sind wä hrend der Emigration in E ngland ents tanden. Aus der Wiener Zeit stammt ein Aufsatz, der eine neue Chrono logie für Hugo van der Goes vorschlä gt. Die letzten eineinhalb J ahrzehnte seines Lebens hat Pächt der Katalogisierungjenes großartigen Schatzes an niederländischen Handschriften des 15.Jahrhundcrts gewidmet, den die Wiener Nationalbibliothek beh erbergt. Was b is her - wenigstens in gcd ruckcr Form fehlte, war eine zusa mmenfassende Darstellung des gesamten Gebietes. Diese hat Pächt seinen Studenten in zwei Vorlesungszyklen des Studienjahres 1965 / 66 an der Universität Wien vermittelt. Die erste der b eiden Vorlesungen über die Brüder van Eyck und den Meister von Fl ema lle wurde 1989 veröffentlicht ; nun liegt auch die zweite in Buchform vor. Angefangen von Rogier van der Weyden, über Petrus Christus und O uwater hin zu Dieric Bouts, über Justus van Gent zu Hugo van der Gocs und schließlich über Geertgen tot SintJans zu Memling und David wird der Leser mit den Protagonisten der altniederländischen Malerei - oder richtiger: mit ihrer Kunst vertraut gemacht. Der langjähri ge Umgang mit der Materie äußert sich insofern im Text, als bestim111te Formulieruhgen und Wortprägungen an die Diktion der dreißiger Jahre erinnern - etwa im Kapitel über Rogier die eindrucksvollen Wort-Ketten, die übrigens dem Phänomen der Rogierschen Kunst ganz besonders gerecht werden. Im Kapitel über Petrus Christus weist er eigens daraufhin, daß er Passagen aus seinem Aufsatz von 1926 übernimmt. So nützlich der Hinweis auf die zeitli che> Vielschichtigkeit kollagiertzweite Generation< zu sein. Eine immense Denkmälerkenntnis und - trotz der gelegentlich deklarierten Skepsis gegenüber der Ikonologie - auch ein großes ikonographisches Wissen tragen zu neuen, oft überraschenden Einsichten bei. Es beeindruckt zu beobachten, wie er es versteht, für einzelne Werke Beziehungsfelder über weite Zeiträume hinweg sichtbar werden zu lassen. Etwa, wenn er im Zusammenhang mit dem Johannes des Geertgen die Erinnerung an die Anima aus dem karolingischen Stuttgarter Psalter, an Dürers >Melancholie< und an meditierende Heilige oder Propheten im Schaffen Rembrandts evoziert. Ohne Zweifel wird die Forschung über die altniederländische Kunst weitergehen. Auch wenn damit zu rechnen ist, daß einzelne Ergebnisse in Zukunft modifiziert werden, so w ird dieser Text zusammen mit dem .E yck-Band für den mit sensiblen Augen begabten Leser sicher noch lange die beste Einführung in die faszinierende und reiche Welt der altniederländischen Malerei bleiben. Artur Rosenauer

Vorbemerkung

Der Stoff dieser Vorlesung ist die Periode der altniederländischen Malerei, die nach der Gründerzeit folgt, und ihre Entwicklung bis zum Ende des r 5. Jahrhunderts. Wir beginnen mit M alern, die zweite Generation sind. Zur >zweiten Generation zweite Generation< sein, was bedeu tet es in unserem besonderen. Fall ? Je nach dem Grad der Abhängigkeit von den Pionieren und Schöpfern der neuen niederländischen Malerei kann es N achahmung oder Fortsetzung bedeuten, Fortsetzung im Süme einer Weiter- und sogar H öherentwicklung eines Wachstums, das berei ts eine erste Blüte getrieben hat. Für beides gibt es eklatante Beispiele in der Geschichte der altniederl ändischen Mal erei. Die sogenannte Exeter-Madonna des Petrus Christus ist bekannt als Paraphrase der Kartäuser-Madonna des Jan van Eyck. Es ist zwar keine Sacra Conversazione w ie bei Eyck, auch keine Z entralkomposition, sondern eine, Anbetung der Mado1ma durch einen von einer Schutzheiligen empfohlenen Stifter, kein Trio, sondern ein Duo, eine Konfrontation . Aber beinahe alle M o tive, die in dieser etwas anderen Situation verwendet werden, sind fast wörtlich aus Jans Bildwelt entnommen, man könnte sagen, nicht viel mehr als eine Umstellung derselben Bausteü1e. N atürlich hat die Entwicklung nicht ganz stillgehalten, ja das Bild des jüngeren M alers ist, wenn man will , fortschrittlicher als sein Vorbild . Die Figuren stehen in einer luftigeren Halle, das Verhältnis von Figur und Umwelt ist plausibler, die Perspektive ist richtiger als bei Jan van Eyck. Und doch ist nicht ein Mehr, sondern ein Weniger das Resultat, eine Simplifizierung, eine Verarmung: Eine gerin gere Intensität der Naturerfassung, kein frisches Vis-a-vis der Natur gegenüber - das ließe sich besonders beim Porträt des Stifters, der ja derselbe Kartäuserprior Dom Vos ist, leicht im einzelnen erweisen, ja in manchem ein Rückschritt zu mittelalterlicher Formelhaftigkeit. Der Turm der hl. B arbara ist nicht ein Gebä ude, das m an w ie zufällig im Fensterausblick hinter ihr sieht, sondern wieder ein Attribut, das wie ein Architekturmodell hinter der H eiligen aufgepflanzt ist und sogar von ihr geha lten wird. Die Darstellungsweise des Petrus Christus hat nicht die unerbittliche Konsequ enz der Eyckischen Schau, er ist bereit, einen Kompromiß mit der ikonographischen Konvention zu schließen. Das Gegenbeispiel ist das Verhältnis der Frühwerke Rogier van der Weydens zu ihren Vorbildern oder Vorstufen im CEuvre des M eisters von Flem alle. Für j ede Einzelheit im Bildgut und der Motivik der großen Kreuzabnahme Rogiers w ird man aus der Flemalleschen Behandlung des gleichen Themas deutliche Ansätze, Vorahnungen, Vor-Bildungen nennnen können.' Aber trotz dieser m assiven Entlehnungen und obwohl auch der Gesamtentwurf der Komposition des Flemallers tief verpfli chtet ist, ist die Ausprägung der Bildgedanken, die sich Rogier angeeignet hatte, von einer so hohen Originalität, daß seine und nicht seines Vorgängers Ges taltung des Themas sofort von den Zeitgenossen



IO

Vorbe,nerkung

und weit bis ins r6. Jahrhundert hinein als die klassische Lösung empfunden und unzählige Male kopiert und nachgeahmt wurde. Vielleicht darf und soll man dazu auch sagen: Es ist nicht zufallig, daß Jan van Eyck zwar den einen oder anderen Nachahmer, aber keinen Fortsetzer gefunden hat. Seine Kunst war viel zu esoterisch und zu weit seiner Zeit voraus, als daß man von ihr eine Brücke zu den von der spätmittclalterlichen Gesellschaft des Nordens noch immer als legitim angesehenen künstlerischen Anliegen hätte schlagen können. Wir haben keinen Grund anzunehmen, daß Jan nicht ganz auf dem Boden der zeitgenössischen Religiosität und Pietät gestanden hat. Aber die in seiner Kunst sich dokumentierende Weltanschauung ist von der offiziellen Glaubenshaltung himmelweit entfernt. Ist doch seine Malerei mit ihrer stummen Gegenstandswelt durch die vollkommene Neutralisierung des religiösen Ausdrucks oder Sentiments gekennzeichnet. Selbst diejenigen Forscher, die, wie ich glaube zu Unrecht, in Jans Malerei einen religiösen Symbolismus verborgen sehen, religiöse Ideen als Genremotive verkleidet, sprechen von einer pantheistischen Bejahung des Universums in allen seinen Erscheinungen, gleichgültig ob Mensch, Tier oder tote Materie. 2 Jedenfalls enthält selbst die These des verkleideten maskierten Symbolismus implizite das Eingeständnis, daß in der äußeren Erscheinungsform religiöse Gedanken säkularisiert wurden. Dies gilt für den Meister von Flcmalle ebenso wie für Jan van Eyck. Bei Jan bedeutet der Stillebencharakter des Bildes noch das Stumm werden des Beseelten und das Sprechendwerden des Unbeseelten, also eine wahre Umkehrung der im christlichen Weltbild des Mittelalters herrschenden oder gewohnten Sinngebung und Akzentverteilung. Die schwerste Gefährdung der Existenz der religiösen Kunst aber lag in einem anderen Aspekt des Eyckischen Schaffens. Die radikale Reduktion der Gegenstände der Malerei auf das rein Schau bare und die damit Hand in Hand gehende Eliminierung alles Erzählerischen drohte mit einem Schlag die Altarmalerei eines Großteils ihres Repertoires zu berauben. Man bedenke nur: Im gesicherten CEuvre Jan van Eycks kommt außer der Sacra Conversazione und der Verkündigung kein einziges der obligaten Themen vor. Hatte ein Altarmaler irgendein Thema aus der Heilsgeschichte oder den Heiligenlegenden zu gestalten, konnte er sich bei Jan keinen Rat holen. Mehr noch als das: In Jans Bildsprache ließ sich für die meisten dieser Themen kein adäquater Ausdruck finden. Selbst ein Meister wie Petrus Christus, der in Brügge ansässig war, also in der Stadt, in der Jan im letzten Jahrzehnt seines Lebens gewirkt hatte, und der im weiteren Sinn als sein Schüler gilt, nahm andere Vorbilder, wenn er größere Altaraufträge auszuführen hatte. Für den einen von zwei Altarflügeln wählte er den Meister von Flemalle zum Vorbild, für den anderen einen älteren Eyckischen Stil, den des Meisters des Turiner Stundenbuchs. Modeme Formulierungen dieser Themen in der Eyckschule gab es offenbar nicht. Unser Beispiel ist nur eines von vielen Symptomen einer Krise, in die der unumschränkte Einbruch der phänomenalen Welt in die bildkünstlerische Gestaltung, der grundsätzliche Empirismus der neuen Malerei die religiöse Kunst gestürzt hatte. Daß die Gefahr eine reale war und nicht nur von uns in die historischen Fakten hineingesehen wird, lehrt ein Blick auf die Entwicklung der zeitgenössischen englischen Kunst, {n der es nach vielen Jahrhunderten produktiver und schöpferischer Tätigkeit gerade auf dem Gebiet der narrativen Kunst - hundert Jahre vor der Reformation - zu einem völligen Versiegen der einheimischen Produktion gekommen ist, so daß in steigendem Maß Ausländer berufen werden mußten, um den noch existierenden Bedarf an religiöser Kunst zu befriedigen. Den Niederlanden aber erstand noch ein Künstler, der der religiösen Malerei neuen Lebensatem einblies, indem er den radikalen Impetus seiner großen Vorgänger in konservativere Bahnen zu lenken verstand. Sein Name war Rogier van der Weyden oder, wie er in seiner französisch sprechenden Heimatstadt genannt wurde, Rogelet.

Rogier van der Weyden

Farbtafel

1

J

Aus den Urkunden läßt sich der Lebenslauf Rogiers in großen Zügen rekonstruieren, wobei einige Nachrichten, die die Frühzeit betreffen, chronologisch nicht leicht zu reimen sind und noch nicht ganz befriedigend interpretiert werden konnten. 3 Um 1400 in Tournai geboren, scheint er 1427 daselbst in die Werkstatt des Robert Campin als Geselle eingetreten zu sein und sie 1432, im·Jahr der Vollendung des Genter Altars, als Maistre verlassen zu haben. Im Mai 1436 war er bereits Stadtmaler von Brüssel und offenbar schon hochgeehrt. Wir wissen ferner, daß er für das Rathaus der Stadt Gerechtigkeitsbilder zu malen hatte, von denen zwei schon 1439 vollendet waren. Im Jubiläumsjahr 1450 pilgerte er, wie so viele, nach Rom. Mit dem Hof der Este in Ferrara war er anscheinend schon vorher in Verbindung. Zu der Zeit war der Ruf der Kunst des >Rogerus Gallicus< in Italien bereits weit verbreitet, für die italienischen Humanisten kam er im Rang gleich nach Jan van Eyck, zu dessen Schüler sie ihn fälschlicherweise machten. r 464 ist er als international berühmter Künstler in Brüssel gestorben. Die Stilgeschichte sagt uns, daß der M eister von Flemalle Rogiers wahrer Lehrer gewesen sein muß, aus den Urkunden geht hervor, daß Rogier bei einem Robert Campin in die Lehre gegangen ist. War der Werkstattinhaber auch zugleich die künstlerisch führende Persönlichkeit, was im mittelalterlichen Atelierbetrieb keineswegs ausnahmslos der Fall war, dann ist es gestattet, ja zwingend, den Meister von Flemalle mit Robert Campin zu identifizieren. Aus Gründen aber, die ich an anderer Stelle bereits dargelegt habe, bleiben wir bei dem Notnamen Meister von Flemalle. 4 Es ist so offensichtlich, daß die stilistische Verwandtschaft zwischen einigen Werken des Meisters von Flemalle und einigen frühen Bildern Rogiers eine derart enge ist, daß man es wagen konnte, dem noch immer unkritischen Forum der kunsthistorischen Zunft die These vorzusetzen, es handle sich um ein und dieselbe Person d. h. man behauptete, das von der Stilkritik mühsam zusammengebrachte CEuvre des Meisters von Flemalle repräsentiere eine noch frühere Phase des bekannten und von jeher berühmten Rogier van der Weyden. Heute braucht diese These - der immerhin einer der größten Kenner der Materie, Max Friedländer beizupflichten neigte5 - nicht mehr im einzelnen und expressis verbis widerlegt zu werden; hier möge es genügen, nur auf einen Umstand hinzuweisen, der für die Genesis der Kunst Rogiers von großer Wichtigkeit ist und die verschiedene zeitliche Ausgangssituation der beiden Maler deutlich erkennen läßt. Die allerfrühestcn Werke, die wir mit Rogicr in Verbindung bringen können, setzen nämlich nicht nur den Meister von Flemalle voraus, sondern auch Jan van Eyck. Es gibt Anzeichen dafür, daß auch der Meister von Flemalle in einem seiner Spätwerke, dem Werl-Altar von 1438, Eindrücke]anscher Kunst empfangen hat; aber es handelt sich um die Entlehnung einzelner gefälliger, man möchte fast sagen sensationell er Motive wie den Konvexspiegel des Arnolfini-lnterieurs, die innere Bildstruktur des Flemallers bleibt unberührt. Anders bei Rogier van der Weyden. Hier ist Eyckischer Einfluß ein konstituierendes Element des Bildaufbaus. In Rogiers früher Verkündigung erinnert nicht nur die rote Bettstatt und der Hängeleuchter an das Brautgemach der Arnolfini, die Änderungcn, die Rogier an dem Flemalleschen Vcrkündigungsszenarium, von dem er ausgeht, vornimmt, sind durch die Lehren bedingt, die er aus dem Eyckischen Interieur in

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Rogier van der Weydcn

voll em Verständnis fü r seine neuen Ideen zieht . Die Ofenbank und der Kamin sind hinter den Engel auf die M ari a gegenüberliegende Seite des Raumes verlegt, um einem Fenster Platz zu m achen und j enen seitlichen Lichteinfall zu ermöglichen , der für ] ansehe Interieurstimmungen charakteristisch ist, und der dazu dient, die Beleucl~tungssituation zu individualisieren . Freili ch verzichtet R ogier auch ni cht auf den Fensterausblick ins Freie, wie er im Josephsflü gel des M erodealtars oder im Barbaraflügel des Werl-Altars vorko mmt, so daß das Interieur der Pariser Verkündigung beides, Gegen- und Seitenlicht, letzteres mit unsichtbarer Lichtquelle, aufweist. Auch im Fig ürlichen liegt eher eine Eyck-Flem alle-Synthese vor als eine eindeutige Flem alle-S chülerschaft. In M ariens Gesichtstypus, in der M assigkeit und der einseitigen Ausbreitung des Gewand es ist die H erkunft von der Verkündigungsmaria des M erodealtars unverkennbar, das M otiv des Betschemels hingegen ist uns nur aus der Washingtoner Verkündig ung Jans bekannt, und von Jan muß auch die Idee übernommen worden sein, den Engel wie einen Geistlichen mit einem prunkvollen Brokatmantel zu kleiden. Andererseits stimmt der Rogiersche Engel wieder mit dem Flem alleschen darin überein, daß er kein Szepter und keinen Lilienstab trägt, sondern mit preziös gestikulierenden Händen die Botschaft ausrichtet. Von beiden Vorbildern aber weicht Rogier darin ab, daß er die N eutralisierung des Ausdru cks, durch die beide B ahnbrecher der neuen Malerei, sowohl Jan w ie der M eister von Fl cm all e, gegen eine j ahrhundertalte ikonographische Tradition verstoßen hatten , seinerseits zurückweist und wiederum, w enn auch in neuer Form, die Reaktion Marias auf die Anrede Gabriels schildert . Im M erodealtar haben wir den Eindru ck , M aria hätte die Ankunft des Engels überhaupt nicht bem erkt so versunken ist sie in ihre Lektüre. Rogiers Madonna ist durch des Engels Besuch j äh im Lesen unterbro chen worden - der B etschemel zeigt, daß es eine fromme Lektüre war und antwortet mit einer halb Erschrecken, halb Abwehr ausdrü ckenden Geste ihrer H and. Vom Z ustai1ds.bild kehrt Rogier zum religiösen D rama zurück. Es ist die Einleitung einer Gegenreform ation in der Bildkunst.

r

Rogier va n der Weyden, Triptychon, Verkün digung . Paris, Louvre; Stifter un d H eim suchung . Turin, Ga ll eria Sa baud a 2

J an va n Eyck, Verk ündi gun g (Detail ). Was hin gton, N ati onal Ga llery of Art

Roizier van da Weyden

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3, 4 Me ister von Flcm alle, ,\1 crodea ltar, Mitteltafel und rechter Seitenflü gel. . ·ew Yo rk, M etropolitan • luseum of Art, C loisters

Im Einkl ang damit steht, daß M ari a wied er das traditionelle Blau, die Symbolfarbe der D emut, trä gt. Auch die Blau-Ro t-Spannung weiß der M aler w ieder herzustell en , ohne sie aber, w ie es vorher übli ch wa r, auf den Gegensa tz Mari a-Ga bri el zu verteilen. Das Rot der Eyckischcn B ettstatt w ird zur Kontrastfolie Marias. D er w ichtigste Faktor im neuen E reigni sbild j edoch ist die D ynamisierung der m ens chli chen Figur, die im wesentlichen auf der E rfindung eines neuen Bewegungsstils der Gewandbchandlung beruht. Die Aufgabe, die sich R ogier stellte, wa r keine leichte. Seine Gestalten sollten die neue E rdensch we re beibehalten und sich so bewegen , w ie es die Um ständ e des äuß eren Vorgangs verlangten, zugleich aber sollten ihre B ewegungen den spiritu ellen Gehalt der Szene offenbaren. Rogicrs Bildphantasie setzt do rt an, wo schon im Themati schen ein Bewegungsmom ent enthalten ist, so z.B. im Ko mmen Ga briels, in der H erabkunft des Himmelsboten. D aß dies du rchaus nicht etwas Selbstverständli ches ist, lehrt ein Blick auf die Verkündigung des Fl cm allers: D ort ist der E ngel ni edergekniet, w ie lang er in diesem Zustand verharrt, läßt sich nicht sager,i, noch w ie er ins Zimmer gekomm en ist. Bei Rogiers Gab riel läß t sich nicht prä zisieren, ob er steht, kniet oder sich der M adonna nähert, am ehesten könnte m an von einem Vo rwä rtsschwcben sprechen . Di e Lage der Knie und der Füße ist nur ungefähr zu erraten . Di e Kurve des Gewandes scheint die Knie abgeschliffen zu haben und die Faltenrücken verschleifen die Figur auch gegen den Boden zu . Die Begegnung der biegsam en Gewandmasse mit dem harten B oden verursacht nicht wie beim Flem aller und bei Jan brü chi ge Fo rm, Diskontinuität; in einer durch Stauungen m ehrmals stockenden Kurve vermittelt das Gewand zwischen Vertikale und H orizontale, ni cht unähnli ch der Art, w ie der Weiche Stil der Internationalen Gotik Faltenlinien o hne Brechungen in sanften Sch w üngen ausklingen ließ . Bezeichnend ist aber erst, daß auch die ka uernde M ari a, die von Rechts wegen stati onär sein sollte, in Sch w ingung gera ten ist. Von Rogier ließe sich sagen, daß auch seine stationären Figuren bewegt sind , beim Fl em aller umgekehrt, daß auch die in Bewegung zu D enkenden sich ni cht rühren.

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Rogier van der Weyden

Wieder ist wie beim Engel auch bei Maria ein thematisch motiviertes Moment, nämlich das leicht abwehrende Sich-Umwenden, der äußere Anlaß der Dynamisierung der Figur. Im Grunde ist aber die kontrapostische Wendung eben nur ein Anlaß, besser ein Vorwand für eine zügige Faltenlagerung, die die Figur einem Gesamtduktus unterwirft und ihr eine ganz bestimmte Ausdrucksnote verleiht. Mit diesem Duktus wird sogar der Brokatüberwurf des Gebetschemels gleichgeschaltet, die Faltenläufe der herabhängenden Partie münden wie ein Nebenfluß in den Hauptstrom der Draperiekurve ein. Wie Gabriel so ist auch Maria im Sinne dieses die ganze Figur durchziehenden Bewegungsduktus vereinheitlicht. Wohlgemerkt, es ist nicht die Einheit organischer Bewegung wie in der klassischen oder der italienischen Renaissancekunst, sondern eine das Zweckhafte der äußeren Motorik transzendierende innere oder spirituelle Bewegtheit, mit einem Wort, ein Wiederaufleben jener gotischen Bewegungslinien, die der nordischen Kunst des 14. Jahrhunderts ihr Gepräge gegeben haben. Bei der Kunst Jans oder des Flemallers hat man Schwierigkeiten, sie unter der Etikette einer der großen Stilperioden einzuordnen. Rogiers Malerei kann man ohne Zögern als Regotisierung, als den Beginn der Spätgotik ansprechen.

s Rogier van der Wcydcn (Kopie?), Lukas-Madonna. Boston, Museum ofFinc Arts.

Rogier van der Weyden

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6 Colin de Coter, Lukas m alt die M ado nna. Vieure, Kirche

5

Mit Rogiers D ynami sierung der Gewandfigur eröffnen sich aber gan z neue M ögli chkeiten szenischer Komposition . Was die Figuren miteinander verbindet, ist nicht allein ihr räu m liches Verhältnis im Szenarium und der gegenständliche Kontakt in einer bestimmten H andlungssituation, sondern eine Korrespondenz ih rer B ewegungskurven , die über die räumliche Distanz hinweg w ie ein An- oder Gleichklang in einem Reim w irkt. So hebt sich das Figürliche durch diese in der Rea lität gar ni cht vo rhandene Verbindung aus der Umwelt, der unbeleb ten M aterie hera us, auch dies im Grunde eine Rückkehr zu der m ittelalterlichen Ran gordnung oder, anders gesehen, eine höhere geisti ge Ordnung, scheinbar zwanglos aus der irdis ch-materiell en Kausalität entw ickelt. Diese neue Illusionsform ermögl icht die Glaubhafti gkeit der reformierten religiösen Kunst. D enn der Wahrheitsanspruch war ein höherer geworden, Wunder und Realität oder Kausalität mußten sich als künstl erische Fiktion versöhnen lassen, die Geschichte ließ sich nicht einfac h auf den vo r-eyckischen Stand der Dinge zurückschrauben. D ie Synthese Flem alle-Eyck, die w ir in der Louvre-Verk ündigung beobachten.konnten , tritt uns noch in einem anderen Werk Rogiers entgegen , in der berühmten LukasM adonna, die w ohl ni cht im Original erhalten ist und von der uns das Bostoner Exemplar die beste Vorstellung geben dürfte. Und w ieder ist es das Erstaunliche und nahezu Unfaß bare, daß ein Künstler m it fre mdem , in vielen Ein zelheiten wö rtlich entl ehntem Fo rmmaterial ein Neues und Eigenes von höchstem Wert und g roß er geschi chtli cher Wirkung zu schaffen verstand . Ein Vergleich der Lukas-Madonna, die w ohl als Bild für eine K apelle der B rüsseler M alergilde geschaffen worden sein d ürfte, mit Jans R olinM adonna könnte einen leicht auf den Gedanken bringen, Rogier hätte das Szenarium der Rolin-Madonna überno mmen und die Figuren mit ad ho c erfundenen , zum T hem a seines Auftrags - Lukas als M adonnenmaler - passenden Gestalten ausgewechselt. Aber so einfach ist die Sachl age nicht. Auch für den speziellen Vo rw urf der Lukas-M adonna hatte

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Rogier van der Weyden

er einen Vorgänger: Niemand anderen als den M eister von Flemalle, der das erste realistische Lukasbild geschaffen haben dürfte. Wiederum hat sich das Original nicht erhalten, aber eine Reihe von Kopien und Nachschöpfungen gestatten, sich eine gute Vorstellung der Grundzüge seiner Komposition zu ma chen. Di e bildliche D arstellung des Evangelisten als Madonnenmaler ist erst vom 14. Jahrhundert an faßbar, obwohl die literarische Fassung der Legende viel weiter zurückgeht. 6 Die Schöpfung des Flemallers muß wohl einer der ersten Versu che gewesen sein, den Vorwurf in der Monumentalmal erei zu verwenden. Seine geistesgeschichtliche B edeutung liegt darin, daß sich in ihm das neue Selbstbewußtsein der Malerei als Profession bekundet. D as Flem allesche Bild wa r eine Darstellung des Schutzpatrons der Maler in seiner B eschäftigung und damit eine Art Selbstbildnis des Künstlers sub specie des christlichen Protopictors. Wie beim Gelehrtenstudio dürfte das italienische Trecento auch bei der Prä gung des Atelierbildes vorangegangen sein7, nichtsdestoweniger hat dann der Norden diesen Bildgegenstand zu seiner eigensten Domäne gemacht, und darin eröffnet der M eister von Flemall e wohl die Linie, die bis zu Vermeers berühmtem Atelierbild führt. Es ist unrichtig, wenn m anchmal behauptet wird, der Flemall er hätte in seiner Version die Madonna in das Atelier des Malerheiligen zu B es uch kommen lassen . Wenn man Colin de Coters Kopie trauen darf, dann wa r im Ausblick in einen Hof]oseph als Zirn mermatm zu sehen, also war der Schauplatz eher als eine Szene in Josephs Haus geda cht , in dem Lukas zu Bes uch war. Nichtsdesto weniger verwandeln die Staffelei und andere Malcrutensilien das Interieur in ein Atelier, und das Wesentliche ist eben , daß Lukas keine Vision malt, sondern sein Modell leibhaftig vor sich sieht, gan z na ch der Art w ie der Flemaller auch sonst die heili gen Begebenheiten in die eigene Erfahrungswelt projiziert. Dementsprechend war es ein bürgerliches Interieur, in dem die Gottesmutter dem M alerheili gen M odell saß, eine Abwandlung der Wohnstube der M erode-Verkündigung mit seitlichem Kamin und Ofenbank und vielleicht auch einem Ausbli ck ins Freie an der Rückwand, wie wir sie in authentischen Flemallebild ern von der Londoner M adonna mit dem Ofens chirm und demJosephsflügel des Merodealtars sowie dem B arbara flü gel des Werl-Altars kenn en. D er Hauptunterschied wäre - wenn Colin de Co ter sein Vorbild wirklich getreu w iedergib t - daß es sich bei der Lukas-Madonna des Flemall ers ni cht um einen Fenstera usbli ck handelt, sondern um eine offene Tür ins Freie - also um etwas, was in der Rolin-Madonna aus einem N eben-in ein H auptmotiv verwandelt erscheint. D enn dort sind die beiden Figuren im Innenra um an die Seite gedräng t um im Zentrum der Komposition den Weg für den Blick freizulegen und eine einzige Blickbahn zu schaffen, entlang der unser Au ge vom Vordergrund im geschlossenen Innern in die Freilandschaft bis in die fernste Tiefe am Horizont dringen kann. Rogier kannte offenbar beide Interieurs und hatte es sich in den Kopf gesetzt, » the best ofboth worlds « zu geben. Er behielt Jans breite Loggia-Aussicht bei, die die Szene in ein palastartiges Gebäud e mit Dachgarten und Söller verlegt, läß t uns aber durch eine Türspalte ganz rechts auch ein en Einblick in ein bürgerliches In teri eur tun, das anscheinend dem Ochsen, dem Symboltier des Evangelisten, als Wohnstätte zugewiesen ist. Die Madonna ist keine thronende Himmel skönigin w ie die Maria, vor der der Kanzler Rolin seine Anda cht verrichtet, es ist eine Madotma humilitati s, die auf einer Stufe nah am Boden sitzt und ihr Kind stillt - erdennah im Typus w ie in der Haltung, so prosaisch w ie der Meister von Fl emalle die Mütterlichkeit M arias zu veranscha ulichen liebte. Aber dann ist doch hinter und über ihr ein Thronbaldachin gespannt, ein M o ti v, das wieder nur im Eyckischen Repertoire vorkommt. Beinahe ist man versucht, sich die Entstehung der im Bilde dargestellten Situation so vorzustellen, als hätte der hl. Lukas die irdische Frau, die er sich zum Modell nahm, vor einer Thronkulisse Platz nehmen lassen, um ihr durch diese Folie da s nötige Madonnen-Deko rum zu geben.

6

Rasier van der Weyden

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7

Rogier van der Weyden (Kopie?), Lukas-Madonna (D etail ). Boston, Museum of Fine A rts

7

Lukas malt nicht die Madonna, er zeichnet sie mit dem Silberstift ab, macht also nur die Vorstudie zum Gemälde. Rogier muß erkannt haben, daß die Staffelei zwischen Maler und Modell eine ungünstige Bildwirkung verursachte. Zumindest in der holprigen Nacherzählung der Flemalleschen Lukas-Madonna von Colin de Coters Hand hat es den Anschein, daß di e Staffelei dem Maler die Sicht auf die Madonna verstellt. So räumt Rogier die Staffelei weg, wodurch die Bahn frei wird sowohl für das auf die Madonna gerichtete Auge des Malers wie für unseren, den des Malers kreuzenden Blick, der senkrecht zwischen die Säulenöffnung in die fernste Tiefe dringt. Obwohl Coters Lukas sitzt, verwendet er einen von der Linken gehaltenen Stab, um die malende Rechte zu stützen. Rogiers Lukas muß eine sehr sichere Hand gehabt haben, um in der knienden Haltung, die er einzunehmen hat, den Silberstift führen zu körmen. Rogiers Lukas har zu mal en und zugleich seine Reverenz zu bezeugen. D as ergibt eine sehr labil e Haltung eher zw ischen Stehen, Knien und Schweben, nicht wesentlich von der des Verkündigungsengels verschieden. Und ähnlich wie bei der Louvre-Verkündigung sind auch in dem Lukas bild beide Gestalten von Bewegungskurven durchpulst. Wenn Jan das bewegte Geschehen der Verkündigung als ruhiges und stummes Gegenüber schildert, so ist füi; Rogier selbst der Akt des Porträtierens nicht eine unbewegte Konfrontation von Maler und Modell , sondern eine spirituelle Kommunikation, die in der Assonanz der Bewegungskurven der beiden Fi guren sich offenbart. Ja, diese Assonan z ist es, die die Personen der Szene wirklich verbindet, denn sehen wir näher zu, dann bemerken wir, daß der Maler sein Modell gar nicht richtig visiert, sondern objcktlos sinnend vor sich hin schaut. Er porträtiert die Madonna mit seinem inneren Auge. Trotz aller wörtlichen übernahmen von seinen Vorgängern hat es Rogier auch bei diesem Thema verstanden, etwas ganz N eues zu schaffen, und olme ins Visionäre zu verfallen, die Szene aus dem Alltag des Atelierbildes auf die Ebene des religiös Wunderbaren zu erheben.

I .

Rogier Pa11 der Weyden

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Rogicr van der Weydcn, Sitzende Madonna. Madrid, Fundaci6n Colccci6n Thyssen-Bornemisza

Rogiers Lukas-Madonna bedeutet einen Durchbruch zu einer Monumentalität, die seine früheren Werke weder besaßen noch intendierten. Das erhaltene Matei;:ial erlaubt uns, eine Phase Rogiers .zu erfassen, die noch vor der Entstehungszeit der Louvre-Verkündigung gelegen haben muß und die sich durch eine Tendenz zum Zierlich-Diminutiven auszeichnet. Ihre charakteristischsten Vertreter sind zwei Madonnentäfelchen, ein Bildchen der stehenden Madonna in Wien und eines der sitzenden in Madrid, die als Bildgattung zur selben Kategorie von Feinmalerei wie Jan van Eycks Springbrunnenmadonna gehören. In der Intensität ihrer transluziden Farbigkeit und der Freude an subtilen Licht- und Schatteneffekten erinnern diese Bilder stärker an Eyckische Malerei als an Flemallesche, obwohl die Figurentypen die des Flemallers sind. Dem Eyckischen Motivrepertoire sind auch Einzelheiten wie die Krone der Madonna oder das brokatene Ehrentuch hinter der Maria der Wiener Tafel entnommen; der Flemaller verwendet in seiner Frankfurter .Madonna einen gemusterten Seidenstoff, der nicht dieselben Glanzeffekte produziert. Die stehende Madonna lactans ist Flemallisch, das unbekleidete Kind E yckisch, und so könnte man in langer Aufzählung von Einzelheiten die doppelte Wurzel Rogierscher Kunst ad infinitum illustrieren. Es ist aber gar nicht sicher, daß Rogier nur der Nehmende war in seiner Beziehung zu den beiden Großen der Gründergeneration. Jans Springbrunnenmadonna ist 1439 datiert

8, 9; Farbtafel 4

Rogier van der Weyden

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und au ch sonst zeigen sich erst in den spä ten Dreißigerjahren in Jans Stil Symptome einer Regotisierung und Entmaterialisierung im Gegensatz zur Blockfigurigkeit der Center Deesis und der 1434 begonnenen Paele-Madonna. Das gleiche gilt von den Spätwerken des Meisters von Flemalle vom Werl-Altar von 1438 an. Die relative Chronologie von Rogiers Frühwerken, verbunden mit den biographischen Fakten, zwingt aber zur Annahme, daß die kleinen Madonnentafeln und die ihnen verwandten Werke schon in den frühen dreißiger Jahren entstanden sind, also mit ihrer Verzierlichung und dynamischen Linearisierung die Priorität vor den älteren Meistern beanspruchen dürfen. Es ist mehr als wahrscheinlich, daß der jüngere Meister, dessen ganzes Leben~werk die Rehabilitierung der sakralen Kunst sein sollte, die neue retrospektive Mode inauguriert hat . Wir haben noch eine wichtige Eigentümlichkeit der beiden Rogierschen Marientafeln nicht erwä hnt, die sie schon auf den ersten Blick von den nächstverwandten Eyckischen oder Flemalleschen Werken absondert und ein Novum darstellt. Die Madonna sitzt oder steht in einer von einer portalartigen Umrahmung gebildeten seichten Nische, das farbige Zentrum einer steinfarbenen, die ganze Bildfläche überziehenden Wand. Rogier greift auf den uralten und in der Gotik besonders stark ausgeprägten Brauch der inneren Rahmung zurück, die keineswegs als Lokalangabe gemeint ist und in unserem Fall die Wirklichkeitsillusion nur soweit bemüht, daß die der Sakralarchitektur entlehnten Vokabeln den religiösen Charakter der Darstellung unmiß verständlich sinnfä llig machen. In seiner Weise verkörpert das Rogiersche Marienbild gleich Jans Kirchenmadonna die Idee Maria-Ecclesia. Aber eben unter Ausschluß des Tiefenraums. Das Erfordernis eines sakralen Dekorums liefert Rogier den Anlaß, den Vorwand, eine Wa11d vor den Tiefenraum zu bauen. In gewisser Hinsicht ist es ein naturalistischer Ersatz für den Gold grund. Es ist der früheste von mehreren Versuchen Rogiers, der zur Statuierung einer neuen Frontalität unternommen wurde.

_ - ,·a n der Weyden , ruia mit Kind. Kun sthistorisches Museum ro

Ro gier van der Weyden, Hl. Katharina. Kuns thistorisches Museum

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Rogier van der Weyden

Die architektonische innere Rahmung verstellt nicht nur den Raum, sie reduziert auch die gegebene Bildfläche auf die Breite der Figur und dient so der Vertikalisierung - ohne daß noch der massige Figurenkanon selbst eine Änderung erfahrt. Man kann dies leicht in der Gegenüberstellung der beiden zusammengehörigen Wiener Täfelchen studieren, in denen Maria im Nischen-, Katharina im Freiraum steht. Die Katharina wirkt breiter und behäbiger, weil sie nicht von der Nische eingeengt wird, sondern luftumfl osscn dasteht und auf beiden Seiten zwischen ihr und dem Rahmen Ausblicke in den Freiraum dahinter möglich sind. Diese lockere und gelöste Haltung weicht bald einer strengeren und strafferen, auch bei Themen mit landschaftlichem Szenarium. Wohin die Entwicklung zielt , zeigt ein Vergleich zweier Heimsuchenden, von denen die spätere den rechten Flügel der uns schon bekannten Louvre-Verkündigung bildet. Schon das Format ist ein anderes in dem Turin er FI ügel: Bei gleichbleibender Breite ist die Tafel fast um die Hälfte in die Höhe gewachsen. Die Fig_u ren werden nun knapper vom Rahmen eingefaßt und wir können nicht mehr kontinuierlich die Wegkurve verfolgen, die in dem Leipziger Täfelchen in die Raun1tiefe und Bildhöhe zieht, sie wird vom Rahmen überschnitten. Statt dessen ist die Vorwärtsbeugung der Elisabeth viel akzentuierter geworden, was zur Folge hat, daß mit Hilfe zügigerer Faltenläufe diese Figur eine geschwungene Kurve beschreibt, die eindeutig in die Höhe weist. Selbst das Kopftuch nimmt an der neuen vertikalen Ausgerichtetheit teil und bildet ein spitzes Dreieck nach oben, statt rühig horizontal über der Augenlinie hinzustreichcn. Analog hat sich im Kopftypus der Maria ein Wandel vollzogen: das Haar ist nicht mehr hinter die Ohren zurückgelegt, um von da erst vertika l hinabzufallen, es fallt ohne Brechung herab, wodurch das Gesicht ein Längsoval wird. Im ganzen wird der Gegensatz zwischen der ruhig aufrechten Gestalt Maricns und der in Diagonalen vor- und rückwärtsbuchtenden auf Maria zueilenden Eli sabeth stark herausgearbeitet und die Szene so dramatisiert. Die Landschaft ist ganz Hintergrundku lisse geworden, alles konzentriert sich auf die Figurenhandlung. In der ersten Phase, den beiden Marientäfelchen, war eine solche Konzentration auf das Figürliche nur mit Hilfe der inneren Rahmung möglich gewesen, jetzt erfüllt die Figurenaktion aus eigenem die Breite der Bildflä che. Die Tendenz zur Frontalität mit völli gem Verzicht auf das Tiefenräumliche ist dann bei Rogier in einem Werk zum Durchbruch gekommen, das einen ganz großen Wurf darstellt und für das 15.Jahrhundert die klassische Prägung des Andachtsbildes gebracht hat. Es ist das monumentale Bild einer Kreuzabnahme, das Rogit:r für die Schützengilde von Löwen vor 1443 - aus diesem Jahr stammt die erste Kopie - gema lt hat und das dann unzählige Male kopiert und paraphrasiert wurde, bis es nach der Mitte des 16. Jahrhunderts an Philipp II. nach Spanien verkauft wurde. 8 Aus dem Escorial ist es schließ li ch in das Pradomuseum transferiert worden, wo man bis dahin nur eine Kopie sehen konnte. Rogiers Kreuzabnahme muß im bewußten Wettstreit mit dem großen Altarbild desselben Themas entstanden sein, das in einer Brügger Kirche stand und eine Schöpfung des Meisters von Flemalle, seines Lehrers, gewesen ist, von der sich aber nur ein Fragment? und einige Kopien erhalten haben. Zahlreiche Einzelzüge sind von dem älteren Werk entlehnt, ja, es läßt sich kaum ein einziges Bildmotiv nennen, das man als eine von Grund aufRogierschc Erfindung bezeichnen könnte. Und doch ist die Rogicrschc Fassung von einer solchen Originalität, daß in der Folge kein Künstler mehr auf die Flcmallesche Version zurückgriff. Dem Meister von Flcmallc war daran gelegen, den Mechanismus der schwierigen Operation der Abnahme vom Kreuz in allen Einzelheiten bloßzulegen und die Spannung zwischen denen, die den Leichnam behutsam herablassen und denen, die il:n empfangen sollen, zu vermitteln. Getrennt von dieser physischen Aktion bekommen wir die psychische Reaktion der Leidtragenden zu sehen. Diesen Dualismus hat Rogier aufgehoben.

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Farbtafel 4

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14; Farbtafel 2

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Rogier van der Weyden

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Rogier va n der Weyden , Heims uchun g . Turin , Galleria Sabauda t:!

Rogier va n der Weyden, Heims uchung. Leipzig, Museum der bildenden Kün ste

Zunächst transponiert er die Szene aus einem in der Rea lität mögli chen Freiraum in den Existenzraum eines Kultbildes, läßt sie auf einer Art Schreinbühne vor sich gehen. Er schließ t eine seichte Raumschicht durch die Rü ckwand des Schreins, den er vortäuscht, hart ab und versagt sich jede Möglichkeit einer tiefenräumlichen Entfaltung des Vorgangs . Auf gegenstän dliche Charakterisierung des Schauplatzes im Sinne einer naturalistischen Situationsschilderung wird verzichtet, die Um welt w ird ni cht mitgesta ltet, der Blick ist w ieder w ie in der goldgrundigen Mal erei der früheren Jahrhunderte auf das fi gurale Geschehen eingeengt. Der Raum ist nichts weiter als Fassungsraum einer reinen Figuren weit, ähnlich dem des Kastengehäuses eines Schreins, in dem plastische Figuren aufgestellt werden. Wo die vorangehende Generation Wirklichkeit still ebenhaft im Bilde festzuhalten versucht, ist Rogier bemüht, der Statuarik eines Anda chtsbildes den Schein des Lebens zu verleihen. Sucht m an die für den Bildaufbau en ts cheidenden Faktoren zu charakterisieren, so steht an erster Stelle das neue Bekenntnis zur Fl äche als der ästhetischen Dimension. In der >A rs nova < des Flemallers und der van Eyck war di e Bildebene zur Projektionsfläche einer dreidimensionalen Gegenstandswelt geworden . Damit ist aber der Maler vor ein Problem gestellt, mit dem die Künstler der vorangegangenen Epoche nicht zu rechnen hatten: Fig uren und Gegenstände, die in ganz verschiedenen Raumzonen liegen mö gen, werden als Projektionen zu Nachbarn in der Bildebene. In der optischen Ebene ergeben sich so Zusammenhänge, oder Verbindungen, die als dinglich-reale oft gar nicht existieren. Beim

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Rogia van der Weyden

13 Meister von Flemalle (Kopie), Kreuzabnahme, Mitteltafel eines Triptychons. Liverpool, National Museums and Gallcries on Merseyside

Flemaller ist z.B. die Bildebene mit Projektionsformen angefüllt, die sich aus Objekten sehr verschiedener Tiefen werte rekrutieren. Es hat den Anschein, als berührten sich einzelne Figuren und Gegenstände, oft als drohten sie aneinanderzustoßen, obwohl in Wahrheit viel Raum dazwischen liegt. Der erste Eindruck ist der eines Horror vacui und einer engen Verwobenheit aller Einzeldinge untereinander; prüft man die Sachlage näher, dann entdeckt man plötzlich, daß dieser Eindruck nur auf der Struktur der optischen Ebene beruht, in der die Projektionen dinglicher und figuraler Einheiten nach Art eines Füllmusters eng und absatzlos zusammengepaßt sind. Die Dingkonturen greifen ineinander, so daß der Blick über dieses Flächenmuster wandert, ohne sich im einzelnen über den jeweiligen Raumlagewert des Projizierten Rechenschaft zu geben. Das dünne Gewebe des optischen Scheins wirkt wie unzerreißbar und läßt uns so die zahlreichen Undichten im Gefüge der Seinsordnung nicht recht zu Bewußtsein kommen. Rogiers Dynamik überwindet das stückhafte Nebeneinander der Projektionen. Er führt die optische Ebene, diese aus Projektionsformen sich ergebende Scheinwand, als gegenständliche Wand auf, errichtet sie als körperliche, als Figuren wand. Die Wand farbiger Schatten erscheint zu einer körperlichen Reliefschicht verfestigt, die eo ipso den Einblick in den Tiefenraum verstellt. Dazu gewinnt er dann die inhaltliche Motivierung aus der Vorstellung eines Schreinbildwerkes, in dem der Raum auch faktisch hinter der vorderen Reliefzone zu Ende geht. Die abschließende Schreinrückwand wird Reliefgrund. In dieser neuen Ebene, die nicht primär Fläche ist, sondern verdinglichte Projektionsfläche, entwickeln sich nun ganz neue Beziehungen zwischen den benachbarten Formen. Nachbarschaft im Bilde ist jetzt auch tatsächliche räumliche Nachbarschaft. Dies ermög}jchte eine weit aktivere, aber doch keineswegs bloß äußerlich zweckhafte Verbindung der Personen des Dramas. Sammelte früher der Blick punktuell, mosaikartik die Einzelheiten zusammen, so werden ihm jetzt Führungsbahnen vorgeschrieben, auf denen er in

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fließendem Übergang von Form zu Form und Figur zu Figur fortschreiten soll. Der bisher latente Flächenzusammenhang, eine Kohärenz, die nur für den Blick besteht, wird als Bewegung in der Bildebene offen herausgezeichnet. Es ist eine Bewegung, der sich unser Auge nicht entziehen kann, die es nicht zuläßt, daß es an irgendeiner Stelle verweilt. Der Zwang rührt daher, daß die Dynamik sich aus den inneren Energien der dargestellten Personen zu entwickeln scheint. In Wirklichkeit ist es freilich eine nur entlang der Oberfläche hinwegführende Bewegung, die szenische Anlässe in freier Weise ausnützt, nicht eine aus der Anatomie des menschlichen Körpers organisch sich entfaltende Dynamik. Wie der Szene als ganzer wird auch der Einzelfigur eine Art Fassadenwir:küng abgewonnen und zwar so, daß die bildsamere und biegsamere Materie der Draperien die großen Kompositionslinien anklingen läßt und den Bewegungsduktus in flüssigen Kurven weiterleitet. In der einheitlichen Durchbewegung der Gestalten liegt eine gewisse Ähnlichkeit zu Bildungen des Weichen Stils der Internationalen Gotik. Die Affinität besteht darin, daß auch bei Rogier im bildschöpferischen Akt passives Schauen und aktives Formen vereint sind, ~ie es beim wandernden und mitformenden Blick der voreyckischen Zeit der Fall gewesen war. Auch bei ihm hält der Blick nicht gai12 still wie bei Jan van Eyck, all erdings kann er doch auch wieder nicht die Reali tät so selbstherrlich modellieren und vorformen wie früher, als die Formsubstanz selbst im Bewegungsfluß entstand und Widerstände der Materie nicht zu überwinden waren. Eine einfache Rückkehr zum Status ante gibt es in der Geschichte nicht. Rogiers Kunst besteht darin, bei voller Anerkennung der Gesetze der Materie eine Kontinuität des Linienflusses als das notwendige Ergebnis der gegenständli chen Aktion der Szene glaubhaft zu machen.

14 Rogier van der Weyden, Kreuzabnahme. Madrid, Prado

er

J

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\.-Station< der Passion. Genau in der Z entralachse, die gewöhnlich die Stelle größter Statik in einem Bilde ist, befindet sich die einzige Figur, die wirklich in einer ortsverändernden Bewegung begriffen ist, Nikodemus. Von allen Seiten in seinem Tun behindert,

19 Rogicr van der Wcyden, Grablegung. Florenz, Uffizicn

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Rog icr va n der Weyden, M edi ci- M adonna . Fra nkfurt. Städclsches K unstinstitut

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ist seine Lage ni cht eben beneidenswert. M an darf hier wohl von einem Regiefehler Rogiers sprechen , insoferne als einer N ebenfi g ur und zudem der an der Co mpassio am wenigsten Anteil nehmenden , der wichtigste Pl atz eingeräumt wi rd. All erdings versucht Rogier durch die Rück wendung des Kopfes von Nikodemus unseren Blick auf die stärkste Pathoss telle hinzulenken. D en entgegengesetzten Pol in der Ausbalancier_u ng von D ynamik und Frontalität, die Rogier zu seinem speziellen Pro blem gem acht hatte, bezeichnet die heute in den Uffizien befindli che und wohl auch in Italien gem alte Grablegung . Verschiedene D okumente lassen den Schluß zu, daß Rogier zum heiligen J ahr 1450 nach Italien gepilgert ist. No ch zu Lebzeiten Rogiers hat der italienische Humanist B artholomä us Facius ein Werk seiner H and am H of von Ferrara gesehen und beschrieben . '4 Die Z eugenschaft der schriftlichen Quell en w ird durch die Stilaussage zweier Bilder bestätigt, der sogenannten M edici-Madonna, die sich heute in Frankfu rt befindet , und der Florentiner Grablegung. B eide Werke setzen die Kenntnis italienischer Kompositionen und M otive vo raus, sind demnach interessant als Beispiele für Rogiers Reaktion auf die italienische Umwelt. Bei der Frankfurter M adonna brauchten w ir ga r ni cht das Florentiner Lilienwappen an der B rüstung und die beiden Lokalheiligen Cosm as und D amian zu sehen, um zu erkennen , daß hier ein Versuch Rogiers vo rliegt, nach italienischem Muster zu ko mponieren und eine Sacra Conversazione all 'italiana zu schaffen . Eine Z entralkomposition mit fünf pa~ rallelen Gestalten gibt es sonst in der gesa mten altniederländischen M alerei nicht.

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Für Rogiers Grablegung muß m an an ein Vorbild in der Art der Münchener Grablegung Fra Angelicos denken , wodurch auch über die Jahrhunderte hinweg die Beziehung zu der geistes- bzw. gefühlsverwandten italienischen Kreuzabnahmekomposition des r2 . und r 3. Jahrhund erts hergestellt wäre, j ener ersten Ostentatio des vom Kreuz abgenomm enen Leichnam s, über dessen H ände sich M aria und Johannes liebkosend beugen . Bei Fra Angelico ist die szenische Situation eine andere als bei Rogier. Gotgatha mit den leeren Kreuzen liegt fern am Horizont, die letzte Station der Passion ist erreicht, das geöffnete Felsengrab. Dieses bildet die Kulisse, vo r der ein letztes M al die >N o t Go ttes < zur Schau ges tellt wird. Richtig zur Schau ges tellt in unüberbietbarer Frontalität, in symm etris cher Postierung der Angehörigen und leicht asymmetrischer und labil er H altung der Zentralfig ur. Die starre Mitte der italienischen Frontalität mit ihrem Zusammenfa llen von Vertikalachse und H auptfigur widerstrebte Rogiers Stilgefühl , und hier setzte seine H auptko rrektur ein. Durch Schrägstellung des Körpers C hristi erzielt er eine D iagonale, die zugleich räumlichen Tiefen wert hat. Die Beine C hristi gleiten aus der bild parallelen Grabesfront nach vorne und berühren da eine andere Diagonale, in deren Richtung die G rabplatte gelagert ist. Letztere is t aber auch die B rücke zwischen Johannes, der von rechts her schräg abwä rts schreitet, und M aria M agdalena, die links kniet und schräg aufwä rtsblickt, m ehr gegen Johannes als gegen C hristu s gewendet. M aria M agdalena als kniende Rü ckenfigur, die Arme ausgebreitet in lauter Kl age mit aufgelöstem H aar und in verlorenem P rofil , ist ein e italienische Erfindung, und zwa r wa hrscheinli ch eine Schöpfung M asaccios, eine geniale Variante der M agdalena am Fuß des K reuzes, die, wie der hl. Franziskus, den K reuzess tamm umarmt. Auch M asaccios M aria M agdalena agiert noch in der Kreuzigungsszene, Rogier aber hat sie von dort in die G rablegung verpfl anzt und ihr eine neue Funkti on gegeben. In ihr ist der die Passion des H errn nacherl ebende Andächti ge ins Bild projiziert , das andächtige Mitlei den personifizierend . Von ihrem

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Fra A n gcli co, G rabl eg un g . Mün chen , Bayerische S taa tsgem äldcsa 111 1111 un gen

Ro,~ier van der Weyden

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Masaccio, Kreu zig ung. Neapel, Museo di Ca podimonte

Auge tropft di e berühmte Rogiersche Träne, die schon B. Facius aufgefall en ist, als er ein Rogiersches Triptychon am Hof von Ferrara beschrieb, das entweder mit der Tafel der Offizien identisch ist oder eine Variante ar: » In m edia tabula Christus e cruce demissus, Maria Mater, M aria M agdalena , losephus, ita expresso dolore ac lachrimis, ut a veris discrepare non existimes. « •s Tränen sind schon früher dargestellt worden, namentlich in den Imagines pietati s, den Vesperbildern des Weichen Stils, aber es blieb doch den altniederländischen Malern vo rbehalten, die Träne als optisches Phänomen, als lich tbrechenden Wassertropfen auf die Bildfläche zu bannen, und wieder ist es besonders symptomatis ch, daß es Rogiers Werk ist, in dem di e transparente Tränenperle zuerst vorkon;:mt, bei dem niederländischen Mal er, für den Sentiment und Rea lität unzertrennlich sind. Rogiers Stil war um 1450 v iel zu sehr ausgeprägt und autonom - er dürfte damals an die fünfzig Jahre alt gewesen sein - als daß die Berührung mit der italienischen Kunst zu einer substanziellen Erneuerung hätte führen können, etwa zu einer Verdrängung des nordischen Figurenkanons durch den antikisierend en itali enischen. Aber obwohl Rogier den Apparat seiner Bildsprache unter dem Eindruck Itali ens nur wenig modifizierte und seine harte, knorrige Art beibehielt, hat er sich doch mit italienischen Kompositionsideen gründlicher auseinandergesetzt als es äußerlich den Anschein hat. Daß er von der italienischen Einstellung zu zwei Problemen, die auch ihn brennend interessierten, Notiz nehmen w ürde, von ihrer Einstellung zum Problem der Frontalität im dreidimensionalen Bildraum und zur Pathosfigur, war zu erwa rten. Er probierte die fremden Konzepte praktisch aus, indem er in Bildern w ie der Florentiner Beweinung ode~ der M edi ciM adonna sein en Kommentar zu den italienisch en Lösungen gab. E r hat aber noch gan z andere Werte in der italienischen Kunst schätzen gelernt und aus ihnen eine sehr persönliche Nutzanwendung für di e eigene Bildwelt gezogen .

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Rogier van der Weyden

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Rogier van der Weyden, Kreuzigung. EI Escorial

24 Giovanni Bellini , Kreuzigung . Venedig, Museo Correr

Schon vor der Italienreise hatte Rogier sein Grundproblem, aus narrativen Darstellungen Andachtsbilder herauszudestillieren, nach den verschiedensten Richtungen hin verfolgt und dabei neue Möglichkeiten entdeckt, deren jede eine dauernde Bereicherung der Bildformen der religiösen Kunst des Spätmittelalters brachte. Es lag nahe für Rogier, die Schreinfiktion nicht nur bei der Kreuzabnahme, sondern auch beim zentralen Thema der christlichen Kunst zu verwenden, dessen Stelle die Kreuzabnahme nur zeitweise usurpiert hatte: bei der Kreuzigung. Im Escorial befindet sich seit Philipps II. Tagen eine riesige Kreuzigungstafel, 3,20 Meter hoch, die aus dem 1450 gegründeten Kartäuserkloster Scheut bei Brüssel gekommen sein soll und die äußerer Indizien wegen - vor allem aber zwecks Befriedigung des romantischen Bedürfnisses, Rogiers Entwicklung mit einer asketischen Note enden zu lassen - gewöhnlich ganz spät, kurz vor seinem Tod 1464 angesetzt wird. 16 Wer sich durch derlei unsachliche Momente nicht irre machen läßt und bei chronologischen Fragen einzig und allein nach stilkritischen Motiven urteilt, wird meines Erachtens nur zwei Möglichkeiten sehen, das exzeptionelle Werk in Rogiers Ent-:wicklung unterzubringen: Tendenzen zu monumentaler Form und dramatischer Plastizität manifestieren sich bei ihm nur in zwei Phasen, in der reiferen Frühzeit gegen 1440, als die große Kreuzabnahme entstand, und zur Zeit der Vollendung des Beatmer Altars des Jüngsten Gerichts, für die das Jahr 1452 einen Terminus ante quem darstellt. Sehen wir zu, für welche der beiden Eventualitäten wir uns entscheiden können.

23; Farbtafel 5

Rogier van der Wey den

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25 Rogie r van d e r We y d en , K reu zig ung. Philadelp h ia , G .Jolm son Co ll ectio n

Di e ganz ungewöhnliche Farb wa hl - die Figuren sind in gra u-weiß modelliert - dürfte z. T. damit zusamm enhängen, daß das Altarblatt wa hrscheinlich für den K apitelsaal eines K artäuserklos ters bes timmt wa r, wo es mit dem weißen M ön chshabit gut harmonierte. An den Außenseiten von Altären hatte m an bereits in der vorangehend en M alergeneration Grisaillem alerei angewandt, gedacht als Skulpturenillusion. Au ch gab es kl eine Eyckische Diptychen, deren Innenseite ganz in Gri saille gem alt gewesen wa ren. Aber Rogier wa r wo hl der erste, der da s Spiel mit der Plastikillusion auf die H aupt- und Schauseite eines fü r den öffentlichen Kult bestimmten Altars verlegt hat, und sein Vorgehen hat auch keine N achfol ge ge fund en . Allerdings ist es keine reine Grisaill em alerei, das Inkarna t ist farbi g gehalten , ebenso der Rasenboden und vor allem ist die Kruzifixgruppe vo r einem karmin ro ten Tuch arrangiert, was natürlich dem Szenarium einen noch künstli cheren C harakter verleiht als ihn das Schreinkasten-Szenarium der M adrider Kreuzabnahme besitzt. Steinfa rben sind also eigentlich nur die Gewänder, infolgedessen ist die Tllusion , daß wir es mit Skulpturen zu tun haben, bei M aria und Johannes am suggesti vsten . Zudem w ird der C harakter des Statuarischen durch die Wa hl besonders großflä chiger, m onumentaler Draperiem o ti ve stark un terstrichen. M aria, deren Knie leicht wanken , trocknet ihre Tränen mit einem riesigen Gewandbausch , und ähnlich ist Johannes ganz m akroskopi sch gesehen : D ie Geste seiner zu C hristus erhobenen Hände ist gleichsa m die Entl ad ung der aufwärtsschießenden Faltenl äufe, die in einem Zug vom Bo den

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R ogier van der Weyden

bi s zur rechten Schulter reichen. Analogien können tatsächli ch in der Plas tik der SluterN achfol ge gefunden werden. In der gem alten Kreuzigung geben die monolithischen Fo rmbildungen einerseits, die du rch die harte Steinfa rbigkeit bewirkte Freiraumlosigkeit andererseits, dem Ganzen eine besondere expressive N o te tragischer Vereinsa mung, mit der verglichen das Pathos der frühen Kreuzabnahme laut und, fa st möchte m an sagen , äußerlich w irkt. Die D ynamik der Kreuza bnahm e ist weit flü ssiger, die Pl astizität ihrer Figuren zugleich weit kl einteiliger. Es kann nicht nur am Them a liegen , daß w ir bei diesem Bild den Eindru ck des M onolithischen nirgend s bekommen . Au ch g ibt es Rogiersche Kreuzig ungen , in denen die Idee der Co mpassio in kurvenreicher B ewegtheit der Fig uren ihren Au sdruck gefunden hat. Diese Kreuzigungen , eine von ilmen ist soga r auch in Grisaille gehalte:1, stammen aus den vierziger Jahren , knapp vor der italieni schen Reise. Nun w ird es wahrscheinlich schon aufgefall en sein, daß die in Itali en entstandene M edi ci-Madonna, anders als die Flo rentiner B eweinung, sich durch eine neue Statik und Geradlinigkeit der Fig uren und ihrer Draperien auszeichnet. Di e Vermutung liegt nahe, daß fü r di e steil e Größ e und elementare Disziplin der Ges talten der Esco rial-Kreuzig ung italienische Beispiele die Anregung geboten haben . Für die Gestalt des Johannes und den großen Wurf ihrer Draperie bietet sich etwa der Johannes einer frühen Giovanni B ellini-Kreuzig ung als Vergleichsstü ck an . ' 7 Bei beid en Johannes ist der M antel w ie ein Toga quer über den Kö rper um die eine Schulter geschw ungen . Dies erklärt, glaube ich, di e g roß züg ige Zusa mmen fass ung und innere M onumentalität der Rogierschen Fig ur besser als ein Hinweis auf burg undische M onumentalplastik . Di e aus den Gesichtskanten herausgeho lte perspektivische K onstrukti on des Johanneskopfes, der wie in Untersicht erscheint, und der m erk w ürdige Kontrapos t der Figur des Gekreuzigten, der organisch zwischen Jo hannes und Maria vermittelt, sind weitere Indizien italienischer B eeinflussung . Abschließend mö chte ich zu dieser Frage erst nach B esprechung des Bea uner Altarwerks, des K ronzeugen von Rogiers zweitem M onumentalstil , Stellung nehmen . Die zweite Grisaill e-Kreuzigung im CEuvre Rogiers, die Do ppeltafel im Museum von Phil adelphia, ist kein Au ßenseiter w ie die Esco rial-Kreuzigung . Sie schließ t m otivisch sowohl an die Kreuzabnahme w ie an das Wiener K re uzigungs triptychon an, steht aber mit der Verzierlichung der Fig uren letzterem näher als der m onumentalen Kreuzabnahme. Das Wort Grisaille darf bei dem Diptychon von Phil adelphia ·noch weniger streng genommen werden als bei der Tafel im Esco rial. In der D oppeltafel sind nämlich auch die Gewänder leicht fa rbig getönt, das der M aria leicht blau, das des J ohannes leicht rosarot. Passio und Compassio sind bildmäßig isoliert: auf dem rechten Flügel ist ein Kru zifix zu sehen , auf dem linken eine Mari a-Johannes-G ruppe als Variante der O hnmacht M ariens. Jedes der Figurenmo ti ve muß nun ein eigenes Ehrentuch als Folie haben - nicht unähnlich den fa rbigen Folien hinter E m ailfiguren des rom anischen Stils - und diese T ücher hängen von einer M auer herab, die sich durch beide Tafeln zieht und den Raum verstellt ; darüber wird Goldg rund sichtbar also eine abstra kte E bene über der rea len und sehr prosaischen Wa ndfl äche. Weit glü cklicher und geistvoll er wa r die Lösung des Frontalitätsprobl ems , die Rogier für die Behandlung von Szenenfol gen erfand. An statt eine Wand im Sch rein als Rü ckwa nd oder als M auer hinter den Figuren aufzuführen, verlegt er die Wand in die vo rd ere und einzige Fig urenebene, d . h . er täuscht eine Art Kirchen fassa de vo r, in deren Po rtalö ffnun gen sich die einzeln en Szenen abspielen . Vo n diesen m erkw ürdigen breitformatigen dreiszenigen Retabeln gibt es in Rogiers CEuv re zwei Beispiele, einen M arien- und einen Jo hannesaltar, und in j edem Fall zwei Exemplare, eines davon immer Werkstattwiederholung. D as fr ühere Retabel, ein M arienaltar' 8 , muß noch in das Ende der dreißiger Jahre datiert werden ; so erscheint in ihm zum Beispiel noch der frühe Madonn-

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Rogier van der Weyden

26 Rogicr van der Weyden, · rcuz igun gstript ychon. . chistorisches Museum

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entyp us einer blockartig am Boden kauernden, bei Rogier all erdings ni cht lesenden, sondern das Kind auf ihrem Schoß anbetenden Madonna mit hinter dem Ohr zurückgestrichenem H aar, das wir aus den frühen M arientäfelchen kennen. Schließlich ist auch die Idee der Portalfronten simulierenden Bilder der Idee der Portalnischen verwandt, die in den M ari entäfelchen auftritt. D er H auptunterschied ist, daß in den Retabeln die Portalrahmen Öffnungen in die Tiefe umschließen, gewöhnli ch zuerst in einen tonnengewölbten Nahraum , der sich seinerseits na ch rückwärts öffnet, ausgenommen in der Szene der Anbetung des Kindes, die hinten durch einen Brokatvorhang abgeschlossen w ird. In den and ere11 beiden Szenen w ird ein Ausblick ins Freie w ie in der Säulenloggia der RolinM adonna gegeben. Doch hat dieser Landschaftsprospekt nur den Wert eines Fensterausblicks, einer von den Portalrahmen w ie ein Bild gerahmten Rea lität, er ist nicht w ie bei Eyck die rückwärtige Fortsetzung einer am vorderen Bildrand beginnenden und den ganzen Bildraum durchscrn:eidenden Tiefenallee. Im Grunde spi elt bei Rogier die Anbetung des Kindes in einem architektonisch gera hmten Nischenraum, in den übrigen Szenen sind die Figuren Portalfüllung, agieren im Proszenium. Was w ir zu sehen bekommen, ist auch durchaus nicht eine Geschehensfolge in1 Sinne eines echten Ereignisbildes oder von Ausschnitten aus dem realen Leben. Das eigentlich N arrative ist auf die steinernen Archivoltengruppen abgeschoben . Die >lebendigen< Szenen aber sind außcrzeitliche Momente, Verbildlichungen von Symbolideen, die an bestimmte Situationen der H eilsgeschichte anknüpfen. So steht die erste Darstellung nur in loser Beziehung zum Thema der Geburt C hristi, die Gottesmutter betet den neugeborenen Erlöser an, der auf ihrem Schoß gebettet ist w ie später der Gekreuzigte in der Pieta.

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Rogier van der Weyden

Das zweite Bild ist nun wirklich eine Pieta, nicht bloß eine Szene der Beweinung. Johannes und Joseph von Arimathia sind nicht eigentlich Mitspieler, sondern bloß sekundäre Assistenzfiguren. Die Pieta selbst allerdings ist kein zuständliches Klagebild; der ungeschichtliche, aus Nach- und Mitempfinden ersonnene Vorgang ist bis ins letzte durchlebt, eine leidenschaftliche letzte Umarmung des toten Sohns, der leblos vom Schoß herabzugleiten droht. Das Spiel der das Sinken und haltlose Zu-Boden-Gleiten symbolisierenden Diagonalen wird im Kontrast zu den Geraden des darüber aufgepflanzten T-Kreuzes besonders wirksam. überraschend und nicht ganz im Einklang mit der Haltung der beiden ersten Szenen ist die Wahl des Vorwurfs für das letzte Drittel des Retabels, die ganz unkanonische und höchst seltene Szene, wie der Auferstandene seiner Mutter erscheint. Sie enthält ein starkes narratives Element - Maria, die gebetet und den toten Sohn herbeigesehnt hat, wendet sich jäh um, als sie vom Auferstandenen angesprochen wird. Der traditionelle Ausklang des Marienlebens ist ihre Himmelfahrt oder die Krönung. Offenbar wollte aber Rogier eine Reihe der Schmerzhaften Maria mit der Pieta als Zentrum und Höhepunkt, und so kam ihm der wunden weisende Auferstandene gelegen, den der mariologische Eifer des Spätmittelalters vor allen anderen der eigenen Mutter erscheinen ließ.

Rogier va n der Weyden

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27 Rogier va n der Weyden , Mi ra fl o res-A lta r. Berlin , Staatli che Museen Preußischer Kulturbesi tz

Noch einmal ist Rogier zu der Fo rm der dreitorigen Altartafel zurückgekehrt in einem Altar zu Ehren Johannes des Täufers, der schon nach der Jahrhundertmitte entstanden sein muß. Wieder läßt er alle H andlung im Proszenium spielen, so daß m an fa st von einem farbi gen Figurenfries sprechen könnte, der sich vor einem reich geschmückten Statuenpo rtal entrollt. Ein neues Stil gefühl beherrscht Figuren wie Bildarchitektur. J etzt sind die runden, pseudo romanischen B ogen durch gotische Spitzbogen ersetzt ; die Fig uren aber stell en eine zierli che Bewegli chkeit zur Schau, die die m onumentalere und robustere D ynamik der Frühzeit abgelöst hat und mit ihrer preziösen Überfeinerung wegweisend fü r die eigentliche Spätgotik werden sollte. Einer der entscheidensten Unterschiede gegenüber dem früheren M arienaltar liegt in der optischen Vereinheitlichung der Trilogie. Im Marienaltar werden die drei Szenen von drei getrennten Standpunkten aus gesehen . Im Johannesaltar konvergieren die Flu chtlinien der Seitenszenen gegen die Z entralachse des ga nzen Altars, ein einziger Blickpunkt gegenüber dieser Achse muß angenomm en werd en . Dies hätte wenig ko mpositionelle B edeutung, hätte die Bildtiefe noch denselben neutralen Foliencharakter w ie im M arienaltar. Sie ist aber inzwischen zum Mitspieler im o ptisch erl ebbaren Drama gewo rden. In den beiden Seitenszenen sind die Akteure an der B ühnenrampe j eweil s an das Portalgewände gerü ckt und lassen so dazwi-

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28 Rogicr va n der Wcyden, J ohann es-A ltar. Berli n, Staatli che Museen Preußi scher Kulturbesitz

sehen einen Spalt frei, durch den das Au ge von der Tiefe angesogen w ird . Und was sich dort zuträgt oder sichtbar w ird , ist Voraussetzung zum Verstän dni s der Handlung im Vordergrund . Das Spiel an der Bühnenrampe braucht gewissermaßen die Hintergrundshandlung als Perspektive, in der es erst seinen vollen Sinn beko mmt. Das Gastmahl des H erodes erklärt die Enthauptung des Johannes, die Wochenstube läß t uns in dem Gegenüber eines schreibenden alten M ann es und der jungen Frau, die ein N eugeborenes auf den Armen trägt, den Akt der N am ensgebung erkennen . In beid en Fällen ist das für die Szene charakteristis che Milieu , das norm alerweise den m eisten Platz im Bilde beansprucht, zum Annex einer Episode gemacht worden, die man bisher in ein em N ebenraum spickn li eß. Rogicr unterscheid et scharf zwischen Milieuschild erun g und geistiger Bedeutung des Vorfalls und erhebt , indem er die alte Rangordnung ins Gegenteil verkehrt, in unbeirrbarer Logik die geistig all ein relevante Episode zum H auptmoment der D ars tellun g . In der zentralen Szene der Taufe liegt die Sache etwas anders. Für dieses Them a legte die traditionelle ikonographische Formel eine plastisch erfüllte Mitte in der Gestalt des von Johann es getauften Heilands nahe, und damit war der Fo rderung nach kräftiger Betonung der Mitte der ganzen drcitorigen Komposition am natürlichsten gedient .

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Doch auch hier spielt der Ticfenraum in der Proszeniumsaktion aktiv mit, ist mit ihr organisch verwachsen. Rogicr scheut sich nicht, dcnjordanfluß aus dem Hintergrund in der Orthogonale gerade zu der Portalöffnung hin fließen zu lassen. Auf die Bildebene projiziert, wird der aus der Feme in die vorderste Bildzone mündende Jordan so zur Flächenfolie des aufrecht im Wasser stehenden Täuflings. Der Doppelbedeutung der projektiven Form, die in den statischen Strukturen Flemallescher Bilder eine so große Rolle gespielt hatte, sind in der dynamischen Struktur einer Rogicrschcn Komposition ganz neue Effekte abgewonnen worden: Der Fluß mäandert aus der Ferne in die nächste Nähe wie sich gleichzeitig die von Konturen, Gesten, Arm- und Beinstellungen und sogar vom Inschriftband suggerierten Bewegungslinien vom niedersten zum höchsten Punkt des Bildes emporwinden. Eine Lockerung der den Ticfenraum versperrenden Figurenwand war in der Entwicklung des Rogicrschcn Schaffens schon zu einem viel früheren Zeitpunkt notwendig gc-worden. Es war m1ausblciblich, daß Dynamik und Horror vacui miteinander in Konflikt gerieten, sobald es darum ging, den Bewegungsenergien Spielraum für ihre Entfaltung zu schaffen. Wie schon so oft im Mittelalter wurde das Gewand noch einmal zum Träger expressiver Bewegtheit. Seit den Tagen des Utrechtpsaltcrs hat es des öfteren Stile gcge-

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Rogier van der Weyden

ben, in denen die Figurengewandung in heftiger Bewegung erscheint, ohne daß eine rationale oder gegenständlich bedingte Ursache für den Bewegungsaufruhr an der Peripherie der Figuren zu entdecken wäre. So muß das Flattern und Rauschen der Gewänder als äußere Entladung innerer Energien, als Ausdruck der inneren Erregtheit der Figuren verstanden werden. Vor all em sind die Gewänder Sprachorgane des religiösen Pathos, in dem eine Epoche oder ein künstlerisches Individuum die heilsgeschichtlichen Themen v~orgetragen sehen möchte. Das Werk, in dem die neue Phase Rogierscher Dynamik am besten studiert werden kann, ist das Wiener Kreuzigungstriptychon. Es versteht sich von selbst, daß in einer Kunst wie der Rogiers, die auf den empirischen Grundlagen der Malerei des Meisters von Flemaile und der van Eyck erwachsen war, auch irrationale Bewegtheit naturalistisch motoviert werden mußte. Rogier nimmt zu einer Fiktion Zuflucht, die wir schon aus der antiken Kunst kennen. Wenn Johannes herbeieilt, um Maria zu stützen, schwingt sein Mantel nach rückwärts aus, als hätte ein heftiger Windstoß ihn erfaßt. Dieselbe Brise hat aber auch das Lendentuch Christi, der am Kreuz angenagelt ist und sich nicht bewegen kann, ho chgepeitscht. Das Echo dieser Bewegtheit ist noch in den Gewändern der fliegenden Engel zu spüren, deren Klagegesten über den expressiven Sinn der Dynamik keinen Zweifel lassen. Zur neuen Bildstimmung paßte der ruhig gestreckte Typus des Gekreuzigten, den Eyck und der Flemaller bevorzugt hatten, nicht mehr. Rogier ersetzt ihn durch einen anderen, dessen unruhige Zickzackführung des Christuskörpers schon einmal dem Sentiment des Mitleidens am besten entsprochen hatte und seit Duccio in der Trecentomalerei die Norm geworden war. Übrigens ist auch die Gestalt der das Kreuz umarmenden Maria ein Wiederaufleben einer Trecentoidee. Es ist das sogenannte Motiv der >DevotiFiguren wand um Wittingauer Altar Nacht< reicht es nicht an letztere heran, aber als Schilderung des religiösen Dramas, bei der die individuelle Beleuchtungssituation als StimmLmgsfaktor eine bedeutende Rolle spielt, ist es weit artikulierter und vom menschlichen Standpunkt her ergreifender. Die stärkere dramatische Spannung der beiden Münchner Tafeln gegenüber dem Erasmus-Altar, dessen Thema von sich aus durchaus nicht zu phlegmatischer Beschaulichkeit einlud , hat ein neues künstlerisches Erlebnis Bouts' zur Voraussetzung, das der Dynamik Rogier van der Weydens. Vereinzelte Id een und Motive hat er von Rogier schon in der

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Phase des Marienlebens des Prado übernommen, aber zu einer Auseinandersetzung mit Rogier, dem Dramatiker, ist es erst in den fünfziger Jahren gekommen. Erinnern wir uns doch nur, daß Bouts spätestens 1457 in der Stadt seßhaft wurde, die die Kreuzabnahme, die dramatischeste aller Schöpfungen Rogiers, ihr eigen nannte, nämlich in Löwen, und daß er sicher schon vorher persönliche Beziehungen zu dieser Stadt hatte . Das Werk, in dem diese Auseinandersetzung des Holländers mit dem Brüsseler Stadtmaler am besten studiert werden kann, ist das Triptychon der Kreuzabnahme der Capilla Real in Granada, dessen rechter Flügel die Auferstehungskomposition der Münchner Tafel variiert. In diesem Altar tritt Bouts in offenen Wettbewerb mit Rogiers frühem Meisterwerk. Der heutige Aufbewahrungsort des Triptychons der Kreuzabnahme, die Capilla Real, war 1504 von Isabella der Katholischen gestiftet worden, und es steht fest, daß der Bouts-Altar von ihr aus ihrer reichen Sammlung flämischer Bilder der Kapelle, die ihr Mausoleum werden sollte, gesdrenkt worden ist. 1523 wurde ein riesiges vielteiliges Retabel in Auftrag gegeben, das unter anderem auch das Werk von Bouts beherbergen sollte. 1881 wurde es von CarlJusti im Innern eines riesigen Reliquienschreins, an dessen Türen befestigt, mit zahlreichen anderen niederländischen Primitiven wiederentdeckt, aber erst 1945 aus diesem Reliquienschrein, wo es· schwer zu sehen war, herausgenommen tmd in einen eigenen dreiteiligen Renaissancerahmen gesteckt, der leider noch immer Teile der Boutsischcn Malfläche verdeckt. Eine Werkstattkopie des Granada-Altars befindet sich in Valencia, was wohl darauf schließen läßt, daß beide Altäre auf spanische Bestellung in den Niederlanden hergestellt worden sind.

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Dicric Bouts, Triptychon . Granada , Capill a Real

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Wieder, wie im Madrider Marienleben, bedient sich Bouts der Rogierschen Illusionsform einer dreitorigen Portalrahmung. Diese Szenen spielen aber nicht, wie bei Rogier, im Proszenium, in der Ebene der Portal wand, sondern dahinter; im ursprünglichen Zustand muß das Ganze den Eindruck eines Triumphbogens gemacht haben, durch dessen Öffnungen hindurch der Blick auf die drei Ereignisse fallt. Im Mittelbild ist durch die Überschneidung des Kreuzesbalkens durch den Archivoltenbogen über das räumliche Verhältnis von Figurenebene und Portalfassade vollkommene Klarheit geschaffen. Im rechten Seitenflügel hat der Blick einigen Weg bildeinwärts zurückzulegen, bis er auf die Hauptfigur stößt. Die Portalöffnungen sind nicht vergittert wie bei Rogier. Vergleicht man Rogiers Kreuzabnahme mit der von Bouts, so ermißt man erst die Anomalie in Rogiers Leistung, einem Thema, das für ein Hochformat prädestiniert war, die Form eines Breitfrieses zu geben. Ein Künstler, der wie Bouts zu Vertikalgliederungen neigte, mußte trotz Rogiers so eindrucksvollem Vorbild und durch dieses hindurch die dem Thema kongeniale Hochform wieder entdecken. Das Abnehmen des Corpus vom Kreuz wird in die von der steilgestellten Leiter vorgeschriebene Bahn zurückverlegt und damit die Analogiebildung der Haltung Christi und Mariens unmöglich gemacht.

96 Dicri c Bouts, Triptychon, Mitteltafel (Detail) . Granada, Capilla Real

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Anstelle der frontalen Ohnmachtsgruppe setzt Bouts die seitlich gewendete, die er einer Rogierschen Kreuzigungskomposition entnimmt, sie dahin variierend, daß Maria im Zusammensinken die Arme dem toten Sohn entgegenstreckt und seine kraftlos herabhängende Hand liebkost. Im Grunde kehrt Bouts zu dem Trecentotypus der Kreuzabnahme zurück, dem Simone Martini die klassische Prägung gegeben hatte und die auch für den Norden verpflichtend geworden war. Wobei freilich die Phrasierung im einzelnen in der Sprache der von Rogier erfundenen Pathosformeln geschieht. Rein gegenständlich ist die Verbindung Maria-Christus enger als in der Rogierschen Kreuzabnahme. Maria berührt ja tatsächlich Christus, bildet nicht nur das Echo seiner Kruzifixhaltung. Blickt man aber auf die Szene als ganze, so merkt man, daß an dieser Stelle die formale Struktur eher gelockert ist, daß hier eine von zwei Zäsuren liegt, die die zentrale Gruppe von den Mitleidenden rechts und links trennt. Auch rechts ist ein gegenständlicher Kontakt durch eine der drei Marien hergestellt, die sich vorbeugt, um aktiv am

97 Dieric Bouts, Grablegung. London , National Gallcry

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H erabholen des Leichnams vom Kreuz teilzunehmen. Es ist eine Schrä gbew egung als Abspaltung von einem kerzengerade in die Höhe führenden Aufbau, dessen Vertikale durch eine Figur unterhalb und eine darüber festgelegt ist. Wir haben also einen in drei senkrechte Abschnitte gegliederten Aufbau vor uns, zwischen denen Bewegungsmotive vermitteln. Und in dieser Vermittlung ist ein so weitgehendes Eingehen aufRogiersche Kompositionsideen festzustell en, w ie sonst nirgends im gan zen Bouts-CEuvre. Es ist das einzige Mal, daß m an ein Abgehen von der Geradlinigkeit der Falten züge und Konturen beobachten kann: Etwa in der Kurve des nach rück wärts fl atternden Mantels der Johannesfigur und vo r allem in der langen ondulierenden Schleife, die mit dem absinkenden Haupt Christi beginnt und schräg abw ärts bis zu den am Boden auslaufenden Falten der knienden und die H ände rin genden M agdal ena führt .• Rogierisch ist auch das im Winde flatternde obere E nde des Leichentuchs Christi, die Idee des em oti onell en Gewandes; all erdings kommt sein Pathos nur zur Geltung, weil genug Freiraum, genug Luft für seine Entfaltun g vorhanden ist. Oben w ie unten ist die Figurenszene durch Freiraum gerahmt , und di ese Einbeziehung landschaftli cher Weite ist unzweifelhaft der Boutsische B eitrag zu der D arstellung des religiösen Dramas. Wir sind weit von der Rogierschcn Fig urenwand entfernt. Di e Au seinandersetzung mit Rogier w ird für Bo uts bald zur Auseinandersetzung mit dem Typus des Andachtsbi ldes. Zwei Bilder haben sich erhalten, die Bouts ' Beschäftigung mit diesem Genre religiöser Kunst dokumentieren: Eine Grabl egun g in der N ational Gallery, London und eine Bew einung C hristi im Lo uvre. Die Grabl egun g ist eine technische Seltenheit, weni gs tens in unserem heuti gen D enkm älerbestand. Sie ist ein Lein wandbild, keine Tafelmal erei, das, was man in D eutschland in der Dürerzeit ein >Tü chlein Pe rl e Perle von Brabant Perle von Brabant Perle von Brabant bürgerlichere Not Gottes a ustere< am einfac hsten zu b ezeichnen wä re. Nun ist es zug leich für all e Fo rscher ein Axiom , daß Goes' Kunst mit Werken w ie dem M ari cnto d geendet h ätte, daß also der herb-ask etische Stil mit dem n euen Figurenkano n nur sein vo rletzter gewesen sei. Niem and sch eint sich ernstli ch di e Frage vorgelegt zu haben, was dies eigentlich impliziert . Offenbar heißt das, daß Goes in den letzten drei bis fünf Jahren seines Lebens - denn m ehr wa ren es nicht - von dem eso terischen, selbst erfund enen Fig urenkan on zu der traditionellen T ypenw elt der Niederländer zurü ckge-

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kehrt sei, daß er etw a nach den unen gelhaft kantigen und knochigen Flügelwesen der Geburt C hristi des P o rtinari-Altars auf den >dolce stile antico < der E ngel der Berliner Geburt und der Brügger E ngelsglo riole zurückgegriffen habe, der sich bis Rogier und darüber hinaus zurü ckverfo lgen läß t. Es w ürde bedeuten , daß er sich von der Vo rliebe für schleppenbildende Wucherungen der Gewänd er w ieder befreit und ein realitätsnäheres Verhältnis von K örper und Gewandhüll e w ieder herges tellt habe. Al so in dem Sektor, auf den w ir uns j etzt konzentriert haben, eine deutli che N o rmalisierung am Lebensende. Sehr, sehr m erk w ürdi g . Gesetzt nun, w ir ben ehmen uns einmal ganz ketzerisch und wagen es, die attraktive Vors tellung, vo m B rügger M ariento d als einem Selbstbekenntnis einer ges tö rten Gemüts- und Geistesverfass ung au fs E is zu legen und an zunehmen , di e Berliner Geburt C hri sti und der Brügger M arientod , die Werke de r sogenannten Ultima m aniera seien nicht Goes' letztes Wo rt gewesen , seien ni cht nach, sondern 11or dem P ortinari-Altar entstand en, an welcher Stelle der E ntw icklung wären sie dann denkbar ? Gew01men wä re zunächst, daß anstelle der sch w ieri gen Vorstellung einer Rü ckkehr von einer un konventionell en zu einer konvention ellen Form en welt un d einem n orm alen Fi guren for m at w ir eine K ontinuität einer Typen entw icklung erhalten w ü rden, die an Eyck, Rogier un d Ju stus va n Gent anknüpft und in einer hochgradigen Beseel un g w ie Vitalisierung der Figuren gipfel t. D och melden sich gleich and ere Problem e, die nicht m inder ko mpliziert sind und ihrer Lö sung h arren . An sich erschiene es nicht unmöglich, in einem Abl auf von dem Wiener Diptychon über die Ultim a m aniera zum P ortinari-Altar E ntw ick lungslogik zu sehen; die wa hre Scl;wierigkeit liegt darin, fü r beides, die U ltima mani era und den M on for te-A ltar einen Pl atz vor dem Portinari-Altar zu find en . Der M on fo rte-Altar imponi ert durch die Ko nsequenz, mit der Figuren und Szena riu m als einheitliche, h om ogene B ildwelt pers pektivisch durcho rganisiert sind , durch die fas t italieni sch e Ausgewogenheit, mit der Freira um w ie Körperrau m zur Geltun g ko mm en, und di e Gem essenheit der H altungen , durch die die Ankunft der Kö nige zur ruhigen Schaustellung einer grandiosen Huldig ungsze rem onie w ird . M an kann sich den ruhig in mächtigem K reis umstellten Freiraum der Geburt des Portinari-Altars als Folge solch perspektivischer Pl anung und lockerer Akti onsregie denken und m öchte dann instin ktiv den H orror vacui und die szenische Rastl osigkeit der Berliner Anbetung des Kindes und des M ari ento des näh er zu der Beweinung des Wiener D iptychons und somit vor den M on fo rte-Altar, vo r die Interventi on der italienischen Rauml ogik rü cken. Dagegen lassen sich aber gewichtige E inwände erheben . E rstens, in beiden Werken de r sogenann ten Ultim a ma niera des Goes ist gerade das Zentru m der Ko mposition - und all erdings beina he di eses allein - in fo rcierter Linea rperspektive gegeben, setzt also die Kenntnis der neuen Raumop tik voraus. Zweitens unterscheidet sich di e in den beiden B ildern auftretend e Dyna mi k von der der Wiener Beweinung eben durch eine Verrä umli chung der Fi gurenbewegung, die einen Spi elraum zur E ntfa ltung nötig hat und nicht, w ie diese, in einer schräggestellten Figuren wa nd ab läu ft. De r ti ef sich bückende Hirte mit der vor die B rust gehobenen Linken der Berliner Anbetung wiederho lt die H altung des Köni gs vom M onforte-Altar, aber mit stark gesteigertem Bewegungsim puls. Viele H ändebildungen des M arientodes setzen die kühn verkü rzten H ände des M on fo rte-Altars vo raus. Wir kä m en so dazu, eine E ntw icklung m it einer Zäsur im M onforte-Altar zu supponieren , der eine Sonderstellung insofern einnimmt, als es die eine P hase ist, in der va n der Goes einen Seins- und keinen Werdensstil zeigte. Vo rher läge die flä chenhaft ausgebreitete Dyna mik der Wiener Beweinung, nachher die dreidimension al ausstra hlend e un d von kö rperlichen K rä ften get ragene der Berliner Geburt C hristi und des M arientodes . E ine in K opien erhaltene Goessche Komposition kann als P robe aufs Exempel an geführt werden . Es ist w ie der M on for te-Altar eine Darstel lung der Epiphanie, die m an im

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Gerard David , Anbetung der Könige München, Bayerische Staatsgemäldesammlungen

Hinblick auf die ·eigentümliche Bildung des Schauplatzes die Anbetung der Könige vor dem Stall im Hügel nennt. Der Stall ist in einer Palastruine eingenistet, über der sich mit der Zeit ein rasen- und baumbewachsener Hügel gebild et hat, so daß Maria vor dem doppcltorigen Eingang einer Stallhöhle thront. Diese Bildschöpfung, von der u. a. Gerard David eine ziemlich getreue Kopie gemacht hat, steht noch in vielem dem Monforte-Altar ganz nahe, z.B. in der rapiden Tiefenflucht der Ruine, in dem stillen Gegenüber von Maria und ältestem König, dem Motiv des knienden Pagen, der das Geschenk seinem Herrn zur Überreichung gibt, und der bärtigen Gestalt am linken Bildrand, die im Grunde eine Variante des zweiten Königs des Monforte-Altars ist. Der Zug der Könige aber ist als eine Kette von Bewegungsfiguren gegeben, die anscheinend aus einem Stadttor im Hintergrund auf den P latz vor dem Ruinenhügcl strömen. Die drei Könige sind weder unter sich isoliert, noch von dem Troß getrennt, und noch der vorderste kniende ist nicht wie der des Monforte-Altars wie ein Block in die Erde gerammt, sein Mantel verschleift die Senkrechten und Horizontalen der Gestalt zu einer schwingenden Kurve, die wie der Bug eines in den Hafen einlaufenden Schiffs zur Madonna vorwärts weist. In dieser Komposition liegt demnach der erste Ansatz zu einem zweiten dynamischen Stil vor. Ein Stil, der in dem Gedränge und den Bewegungsexzessen der Werke der sogenannten Ultima maniera seinen Höhepunkt erreicht. Besteht der hier skizzierte Entwicklungsablauf zu Recht, dann hieße das, daß wir nach den schottischen Tafeln keine weitere Entwicklungsphase m ehr kennen, in ihnen das letzte Wort in Goes' künstlerischem Schaffen zu erblicken hätten. Auch die Entwicklungslinie meines ketzerischen Alternativvorschlags ist keine geradlinige. Daß die herkömmliche nicht geradlinig verlaufen würde, hat schon vor langer Zeit Friedländer offen zugegeben. Er meinte, bei einem so ungewöhnlichen Genie wie Goes dürfe man es auch nicht anders erwarten. Und gibt uns zu bedenken, daß die Wahrheit komplizierter sei als der Jrrtum. 7 2 Die Bedingung, kompliziert zu sein, erfüllt auch die von mir angedeutete Interpretation der Fakten. In letzter Instanz kommt es, denke ich, darauf an, welches Entwicklungsbild widerspruchloser und sinnvoller ist. Vi elleicht ist es das Beste, ich

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Hu go va n der Gocs, Mo ndsichclm ado nn a. Pavia, Musei C ivici, Castcll o Visconteo

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überl asse es dem Leser selbst, sich für die ro mantische herkömmliche oder die ketzerische Alternative zu entsch eiden. Au ch eine weit genauere Analyse der im Original erhaltenen H auptwerk e, als wir sie versucht haben, w ürde der G röße seiner Kunst ni cht gerecht werden können und noch w eniger ihrer entwicklungsgeschi chtlichen B edeutung . Schon die Z eitgen ossen haben erkannt, daß Goes ein g roß er E rfinder wa r und haben in o ft sehr verändertem Stil seine >inven zioneTü chl ein < gem alt. D aß dem M elan cho liker die ernste, m atte, leuchtl ose Farbigk eit der Leinwandmalereien liegen w ürde, kann uns nicht überraschen . Tm Ori ginal h at sich von Goes ein M adonnenbild und ein Bew einungs-Diptychon auf Lein wa nd erhalten . Dieses, ein spezifisches, m an köm1te sagen >offen es< Andachtsbil d, stellt ikonographisch und als Bildform eine absolute N euheit dar. Auf der linken Dipt ychonhälfte ist der Leichnam Chri sti in einer Stati on der Kreuzabnahme zu sehen , von drei M ännern gehalten, auf der rechten die Kl agegruppe, gebildet von Johannes und vier Frauen , beide Teile in H albfi guren . M an h at es die >Kl eine Kreuzabnahme< genatrnt, in Wa hrheit ist es eine aussclmitthafte Kreuzabnahme, ein Stück Leiter ist all es, wa s w ir vo m Szen arium zu sehen beko mmen . Noch einmal ist es zu einer K reuzung von Imago Pietatis und hi sto rischer Kreuzabn ahm e gekommen . Die drei M änner halten den vom Kreuze Gelös ten, an dem m an n och im Spalt der Lider die brechenden Augen sehen kann, dem Andächtigen entgegen w ie einst in der Kunst von r 400 der G roß en gel den Schmerzensm ann präsentierte. Wie bei Rogier ist di e Leidensgestalt im Fluß der Handlung erfaßt und zur Compassio dargeboten, aber in viel g rößerer Konzentration auf das Aller wesentlichste. Von den Assistenzfi g uren werd en nur die

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Hugo van der Goes, ,Kl eine Kreu zabna hmekleinen Kreuzabnahme Kleinen Kreuzabnahme Großen Kreuzabnahme< überschneidet der untere Bildrand den rechten Arm Christi und macht auch die Büste des Nikodemus unvollständig. Es ist ein viel stärker momenthafter Ausschnitt, ein Umstand, der bewirkt, daß der Betrachter sich dem tragischen Anblick nicht entziehen kann, daß die Not Gottes sein subjektives Erlebnis wird. In der >Kleinen Kreuzabnahme