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German Pages 548 [549] Year 1974
Allgemeine Sprachwissenschaft I
Allgemeine Sprachwissenschaft Band I Existenzformen,
Funktionen
und Geschichte
der
Sprache
Von einem Autorenkollektiv unter der Leitung von
B. A. Serebrennikow Ins Deutsche übertragen und herausgegeben von
Hans Zikmund und Günter Feudel 2., berichtigte
Auflage
A K A D E M I E - V E R L A G
1975
•
B E R L I N
Titel der Originalausgabe: Ofiinee HDLiK'oanaHHe. OopMH rymecTBOBaHHH, (¡>ymtunw, HCTOpHH H:!I.Il;a. OTBeTCTBeHHbifl pt'AaiiTop: MJieH-hopp. AH CCCP B. A. CepeßpeHHiiKOB M3j\aTfMi,cTBo »Hayna« MocKBa 1970
Erschienen im Akademie-Verlag, 108 Berlin, Leipziger Str. 3 — 4 © 1973 by Akademie-Verlag Berlin Lizenz-Nr. 202 • 100/246/75 Schutzumschlag und Einband: Helga Klein Gesamtherstellung: V E B Druckerei „Thomas MBntzer", 582 Bad Langensalza/DDR Bestellnummer: 7521073 (5959/1) • LSV 0805 Printed in GDR EVP 3 8 , -
Vorbemerkungen zur deutschen Ausgabe
Mit der deutschen Ausgabe dieses auf drei Bände geplanten Werkes sowjetischer Sprachwissenschaftler verfolgen die Übersetzer das Ziel, breitere Kreise von Fachleuten und Interessenten mit neuesten Erkenntnissen der sowjetischen Sprachwissenschaft bekannt zu machen. Vor allem aber soll die deutsche Fassung dazu dienen, diese Einsichten stärker als bisher für die linguistische Forschung und Lehre in der DDR nutzbar zu machen. Nach unserer Auffassung bietet das vorliegende Werk mehr als einen Einblick in das „komplizierte und vielseitige Phänomen Sprache", es geht von der Weltanschauung des Marxismus-Leninismus aus, legt gesichertes Wissen dar und zeigt, in welcher Richtung die Forschung weitergeführt wer TpecT ('eine Brigade leiten, einem Kombinat vorstehen') einerseits und pyKOBOßHTb ßpHra^oft, ynpaBJiHTt TpecTOM ('eine Brigade leiten, ein Kombinat verwalten') andererseits reflektiert nicht einen Unterschied ihrer Bedeutungsstruktur. Eine ähnliche Beispielreihe läßt sich aus dem Englischen anführen. Der phonematische Unterschied zwischen [f] und [v] entfällt in den Morphemen half und halv-es. Der morphematische Unterschied in good und bett-er, boy-s und ox-en ist für ein Verstehen dieser Formen belanglos. Der Unterschied in der Wortstruktur can und to be able kann vernachlässigt werden, wenn to be able in der Futurform steht, die auch für can die gleiche ist 34 . Steigt man also von der Ausdrucksebene zur Inhaltsebene, von der Phonemebene zur Sememebene auf, so ergeben sich verschiedene Stufen, die durch einen Wandel des Identitätskriteriums gekennzeichnet sind: Was auf einer niedrigeren Stufe verschieden ist, kann auf einer höheren Stufe funktional gleich sein. Viele distinktive Merkmale werden allmählich eingeebnet, „spielen nicht mehr mit", erfüllen in den Einheiten der nächsthöheren Stufe keine bedeutungsdifferenzierende Rolle mehr. Die Identität des Bezeichneten eines Morphems erfordert nicht unbedingt eine völlige Identität des Phonembestandes des Bezeichnenden. Die Identität der Bedeutung von Wörtern erfordert nicht unbedingt eine Identität der sie ausmachenden Morpheme (sofern man die Suppletivelemente als verscjiiedene Morpheme ansieht). Die Identität der Sinn34
Dieses Beispiel stammt von Lamb [728, 59], der die Theorie der sogenannten „vertikalen" Sprachebenen im Rahmen seines Stratifikationsmodells entwickelte [19].
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struktur mancher Wortverbindungen und Sätze läßt sich ohne Identifizierung ihrer syntaktischen Struktur feststellen. Verwendet man auf den verschiedenen Stufen ungleiche Identifizierungskriterien, so kann man in der Sprache Einheitenpaare feststellen, die einem Textsegment entsprechen, so das P h o n e m und das M o r p h o n e m , das Morphem und das S e m (oder das Morph und das M o r p h e m ) , das W o r t und das L e x e m , die W o r t v e r b i n d u n g oder W o r t g r u p p e und das S y n t a x e m (oder die W o r t v e r b i n d u n g und die K o n f i g u r a t i o n ) . Diese Einheiten, die auf der einen Stufe miteinander identisch und auf der anderen es nicht sind, decken die Asymmetrie in der Struktur der Sprachebenen ab, so daß bei der Beschreibung der Sprachen die Funktionslosigkeit mancher Formdivergenzen gezeigt werden kann. Sämtliche bedeutungstragenden Einheiten einer Sprache müssen deshalb aufgespalten werden, weil die asymmetrische Struktur der Sp,rachebenen, die an Hand der minimalen bedeütungstragenden Einheiten erläutert wurde (vgl. S. 153—157), nicht nur für das einfache Zeichen, sondern auch für alle weiteren, komplizierteren Gebilde Geltung hat. Die Divergenz von Form und Funktion durchzieht die gesamte Struktur der Sprache, alle ihre Schichten und Zeichengebilde. Die bedeutungslosen (und in diesem Sinne redundanten, „leeren") Formdivergenzen lassen sich deshalb beseitigen, weil die formal verschiedenen Einheiten in der Regel in einander ausschließenden Positionen vorkommen, zueinander in einem Verhältnis komplementärer Distribution stehen. Die Vielzahl von Varianten in der Sprache wird also durch die Position nivelliert, an die jede Variante gebunden ist. Die Begriffe Variation und Position hängen miteinander eng zusammen. Die Tendenz von Zeichengruppen zur Idiomatisierung. Die Mehrgleisigkeit der Bezeichneten Die besonders deutlich innerhalb eines Wortes zutage tretenden Verschiebungen zwischen Inhalts- und Ausdruckseinheiten werden bei Heterophonie dadurch ausgeglichen, daß alle Varianten nur einer ganz bestimmten Reihe von Positionen zugeordnet sind. Bei Homophonie gleicht ein zusätzlicher Differenzierungsapparat die Verschiebungen im Aufbau der Sprachebenen aus. Eine erhebliche Rolle bei der Präzisierung der Zeichensignalisierung der Sprache spielt die gewöhnlich als Idiomatizität bezeichnete Eigenschaft des Wortes (und größerer Einheiten), worunter man die Beliebigkeit des Zusammenhangs zwischen dem Bezeichneten und dem Bezeichnenden, die konventionelle Zuordnung einer bestimmten Bedeutung zu einer bestimmten Form versteht. Eine absolute idiomatische (unmotivierte) Spracheinheit kann nur das einfache Zeichen sein. Diese Eigenschaft haben, obwohl unterschiedlich intensiv, auch die zusammengesetzten Einheiten - das Wort, die Wortverbindung, der Satz. Das Streben nach einer einheitlichen Zeichenfunktion kennzeichnet in erster Linie das Wort als freie Einheit der Sprache; bei seiner semantischen Evolution werden die einzelnen Bedeutungen seiner Morpheme nivelliert. 161
Bemühen wir noch einmal ein bereits angeführtes Beispiel. Das spanische Suffix -ón hat meistens eine augmentative Bedeutung (vgl. hombrón 'großer Mann', cucharón 'großer Löffel'). Deshalb könnte man meinen, daß auch pelón (vom Substantiv pelo 'Haare') 'langes oder dichtes Haar, Tolle' bedeutet. Indessen kommt es keinem Spanischsprecher jemals in den Sinn, diese Bedeutung mit dem Wort pelón zu verbinden. Tritt nämlich das Suffix -ón an eine Körperteilbezeichnung, so wird die augmentative Bedeutung gewöhnlich von der Zugehörigkeitsbedeutung überlagert, weist das Suffix -ón nicht auf den Gegenstand selbst hin, sondern auf seinen Besitzer; vgl. barrigón 'dickbäuchig', cabezón 'großköpfig'. Nach diesem Wortbildungsmodell müßte das Wort pelón die Bedeutung 'beharrt, zottig, langhaarig' haben. Aber auch damit sind wir auf dem Holzweg. Pelón weist nicht auf ein Merkmal hin, sondern im Gegenteil gerade auf sein Fehlen, es bedeutet nämlich 'kahlköpfig, glatzköpfig'. Will man also die Bedeutung einer entsprechenden Mitteilung verstehen, ohne vom Sinn der zeichenhaften Signale abzuweichen, so wird man schwer getäuscht. Indessen täuschen die Spanischsprechenden einander beim Gebrauch des Wortes pelón nicht, denn sie w i s s e n , daß seine Bedeutung so wie diejenige vieler anderer Wörter und Wortverbindungen idiomatisch ist, bis zu einem gewissen Grade nicht von der Bedeutung seiner Teile abhängt. Die Entstehung (oder besser gesagt das Reifen) eines neuen Zeichens in der Sprache vollzieht sich durch eine allmähliche Verringerung der Motiviertheit der Beziehungen zwischen dem Bezeichneten und dem Bezeichnenden, so daß zwischen ihnen ein direkter Zusammenhang entsteht. Die neuen Zeichen in einer Sprache entstehen bekanntlich nicht künstlich durch willkürliche Phonemkombination, unter Ausnutzung noch unverbrauchter Phonemverbindungen, sondern aus bereits vorhandenen Zeichen, indem sie sich allmählich abschleifen, die ursprünglichen Bedeutungen unterdrückt werden und sich zwischen dem neuen Bezeichneten und dem alten Bezeichnenden ein direkter semiotischer Zusammenhang herausbildet. So denken die Russischsprecher beim heutigen Gebrauch des Wortes c00TBeTCTB0BaTb 'entsprechen' nicht mehr an COBMBCTHHÜ OTBCT 'gemeinsame Antwort', meinen sie beim Aussprechen des Wortes öoiaroAapn 'dank' nicht 6jiar0AapH0CTb 'Dankbarkeit, Dank', das sie wiederum nicht mehr mit «apernie ß j i a r a 'Gutes schenken' assoziieren. Das Verb cepAMTBCH 'sich ärgern' ruft nicht mehr die Vorstellung von cepflije 'Herz' und dieses nicht mehr die Vorstellung von cepeflHHa 'Mitte' hervor. Die Bedeutungen der das jeweilige Wort ausmachenden Ausdruckseinheiten „spielen nicht mit", denn das Wort (oder genauer sein Stamm) wird zu einem einheitlichen, semantisch ungegliederten Zeichen. Die Abschleifungsprozesse verlaufen recht langsam. Jeder Sprachzustand hat viele Zwischeneinheiten, deren Bezeichnende den Zusammenhang mit den früheren Bedeutungen noch nicht ganz verloren haben. Viele sprachliche Zeichen haben daher ein zweigleisiges Bezeichnetes, das außer der direkten Bedeutung etwas mit enthält, was man gewöhnlich die „innere Form" der betreffenden Einheit nennt. Eine analoge Eigenschaft, die den künstlichen Systemen der Informationswiedergabe im allgemeinen fremd ist, haben diejenigen Kodes, denen das abbildhafte oder piktographische Prinzip zugrunde 162
liegt. So bedeutet zum Beispiel die Darstellung eines an der Hand geführten Kindes auf einem Verkehrsschild 'Achtung! Schule'. Die Mehrgleisigkeit des Bezeichneten, dessen innere Form manchmal mehrere Stufen der semantischen Entwicklung abbildet, was eine unabdingbare Eigenschaft aller natürlichen Sprachen ist, zeigt sich deutlich in der belletristischen Literatur, wo sie eine in den künstlichen, stabilen Signalisierungssvstemen nicht vorhandene ästhetische Funktion hat. Ein Hauptprinzip bei der Gestaltung eines künstlerischen Bildes besteht gerade im Gebrauch eines bedeutungsverschobenen Wortes, wodurch dieses gleichzeitig zwei (oder noch mehr) semantische Schichten enthält. Vgl. den folgenden Vierzeiler in Jessenins Gedicht „C aoöpHM yTpoM!" 'GutenMorgen!': y j i H Ö H y j i n c b coHHbie 6epe3KH,
' E s lächeln die t r u n k e n e n Birken,
PacrpenaJiH mejiKOBtie KOCH.
Sie schütteln ihr seidiges H a a r .
IIIenecTHT aejienwe cepewKH
E s rauschen die gelbgrünen K ä t z c h e n ,
H ropHT cepeöpjjHbie p o c t i .
E s f u n k e l t der T a u silberklar.'
Zwei Drittel der Wörter haben hier eine indirekte Bedeutung, sind semantisch zweigleisig. Ein solcher Gebrauch von Wortzeichen, die künstliche Aufspaltung ihrer Bezeichneten, erzeugt einen bestimmten künstlerischen Effekt: hinter der Gestalt einer jungen Birke verbirgt sich die Gestalt eines jungen Mädchens. So wird indirekt ein Vergleich erzielt. Ein spezifisches Merkmal des natürlichen Zeichensystems Sprache ist also die Tendenz ihrer Einheiten zur Idiomatisierung, zu allmählicher Abschleifung, wodurch es zu einer semantischen Mehrgleisigkeit des Zeichens kommt. Die Asymmetrie des Zeichens, die Verschiebungen in den Beziehungen zwischen Form und Funktion, die manchmal die Verständigung behindern, haben eine direkte Beziehung zur Gestaltung der ästhetischen Funktion der Sprache. Die Unexaktheit der Signalisierung, die Fähigkeit eines Zeichens, sich auf verschiedene Denotate zu beziehen, wird ausgiebig bei der Schaffung künstlerischer Bilder ausgenutzt.
Fassen wir zusammen : Die Fähigkeit der Sprache, sich spontan zu entwickeln, der Charakter dieser Entwicklung, ihre Gesetzmäßigkeiten (Allmählichkeit der sprachlichen Evolution, gewisse Autonomie und unterschiedliches Entwicklungstempo der Sprachebenen, Tendenz zur Abschleifung, Idiomatisierung der Zeichenbestandteile oder -gruppen, Inkongruenz zwischen den „Einheiten der Entwicklung" und den „Einheiten des Funktionierens" u. a.) gestalten manche Eigenschaften des Zeichenssystems Sprache, die bei den natürlichen Sprachen unvermeidlich, aber nicht notwendig in ihrer semiotischen Natur angelegt sind. Diese Eigenschaften sowie die besonderen semiotischen Aufgaben und Bedingungen der Funktionsweise der Sprache in der menschlichen Gesellschaft heben die natürlichen Sprachen in einmaliger Weise von allen übrigen semiotischen Systemen ab. Diese Merkmale der Sprache sind vor allem : 1. das Vorhandensein von Übergangs- und Zwischengebilden, 2. die nichtobligatorische Entsprechung zwischen formaler und funktionaler Struktur einer 163
Spracheinheit, 3. die fehlende eindeutige Korrelation zwischen der Art des Bezeichnenden und der Art des Bezeichneten, 4. die Ungleichartigkeit des Ausdrucks gleicher Systemfunktionen in der Sprache, 5. die Inkongruenz in der hierarchischen Anordnung der Einheiten der Ausdrucksebene und der Einheiten der Inhaltsebene, 6. die Asymmetrie in der Struktur der Sprachebenen, wodurch es zu redundanter und zu unzulänglicher sprachlicher Signalisierung kommt, 7. die Inkongruenz zwischen dem Begriff des linguistischen Zeichens und der Funktionaleinheit des Sprachsystems, 8. das Vorhandensein von den Zusammenhang zwischen den Sprachebenen vermittelnden Zwischenstufen, 9. die Existenz außer eines beständigen auch eines wechselnden Differenzierungsmechanismus, der durch den Sinn-und den Situationskontext geschaffen wird, 10. die teilweise Motiviertheit vieler Sprachzeichen, die die Mehrgleisigkeit des Bezeichneten, seine „innere Form" bedingt. Einige der genannten Merkmale gibt es sporadisch auch in den künstlichen Signalisierungssystemen, wodurch ihre Anwendung und ihr Verstehen unbequem werden. So bedeutet zum Beispiel ein isolierter Uhrenschlag gewöhnlich die erste Hälfte jeder Stunde, aber auch 1 bzw. 13 Uhr. Folglich gibt die Uhr zweimal innerhalb von 24 Stunden drei Einzelschläge hintereinander von sich. Um jedem dieser Einzelschläge das richtige Bezeichnete zuzuordnen, muß man ihre „Distribution", die Umgebung oder die Situation außerhalb des Zeichensystems kennen. Homonymie gibt es also auch in anderen Zeichensystemen. Während jedoch die genannten Erscheinungen in den künstlichen Kodes sporadisch und selten sind, kommen sie in den natürlichen Sprachen ständig und unausbleiblich vor. Weil die Sprache Merkmale aufweist, die nicht durch ihre semiotische Funktion bedingt sind, benötigt man bei der linguistischen Analyse besondere Methoden, die man beim Studium und bei der Beschreibung künstlicher Signalisierungssysteme entbehren kann. Diese Methoden hat die Linguistik mit der Theorie der übrigen Zeichensysteme nicht gemeinsam, sie sind aber trotzdem struktureller Natur, beruhen auf einer funktionalen (eigentlich semiotischen, zeichenhaften) Auffassung der Sprache.
KAPITEL 3
Die Sprache als eine historisch sich entwickelnde Erscheinung Das Problem des Sprachwandels in der neueren Linguistik
Die linguistische Fachliteratur verweist mit Recht darauf, daß „die Frage der sprachlichen Wandelbarkeit als einer ständigen Eigenschaft der Sprache eine Frage nach dem Wesen der Sprache ist" [190,131]. Die Erforschung des historisch sich entwickelnden Objekts Sprache und der grundlegenden Besonderheiten sprachlicher Veränderungen bildet daher einen wichtigen Bestandteil der Forschungen über die Existenzformen der Sprache und gehört unmittelbar zur Beschreibung ihrer Wesensmerkmale. Man kann die Natur der Sprache nicht wirklich erfassen, wenn man nicht die in ihr zu beobachtenden verschiedenartigen Bewegungsarten erforscht. Obwohl sich der Begriff der kinematischen Prozesse in der Sprache letztlich nicht auf den Begriff des Sprachwandels reduzieren läßt, offenbart sich die Sprachdynamik am anschaulichsten, wenn man die Sprache in der zeitlichen, in der historischen Perspektive betrachtet. Vergleicht man zwei beliebige aufeinanderfolgende Entwicklungsstadien einer Sprache, so stellt man zwischen diesen unweigerlich gewisse Divergenzen fest. Die Wandelbarkeit der Sprache ist immer ihre unbestreitbare und recht augenfällige Eigenschaft. Demgegenüber ist ihre Natur bei weitem nicht so evident. Viele Forscher vermerkten mit de Saussure, daß sich der Sprachwandel nicht aus der Beschaffenheit der Sprache, sondern aus ihrer Bestimmung erklärt [669, 204]. In der Tat müssen sich die Sprachen vor allem deshalb verändern, weil den Kommunikationsvorgängen, deren praktisches Realisierungsmittel eben die Sprache ist, die Widerspiegelung der Wirklichkeit durch den Menschen zugrunde liegt und die Wirklichkeit selbst in ständiger Bewegung und Entwicklung begriffen ist. Die Impulse für Veränderungen gehen aber nicht nur von dem historisch sich verändernden Milieu aus, in dem eine Sprache funktioniert. Der Prozeß der Herausbildung und Weiterentwicklung einer lebenden Sprache hört im Grunde erst dann auf, wenn die Sprache selbst nicht mehr existiert. Der Prozeß der Gestaltung einer Sprache erschöpft sich aber nicht durch ihre Veränderung entsprechend dem materiellen und technischen Fortschritt der Gesellschaft, sondern setzt auch die Notwendigkeit eiüer Weiterentwicklung der sprachlichen Technik voraus und umfaßt die Beseitigung von Widersprüchen oder gar Defekten im Sprachsystem. Deshalb tragen zumindest einige Veränderungen therapeutischen Charakter [895,21—23], denn sie ergeben sich aus der inneren Notwendigkeit einer Umstellung des Sprachmechanismus. Ein Spezialfall solcher Umstellung ist der Wandel, den eine Unvollkommenheit des be165
treffenden linguistischen Systems oder einzelner seiner Glieder ausgelöst hat. Schließlich erklären sich verschiedene Veränderungen unmittelbar durch die Einwirkung der einen Sprache auf die andere. I m allgemeinen kann man also feststellen, daß sich eine Sprache untei dem Einfluß zweier verschiedener Triebkräfte verändert, von denen die eine mit der Bestimmung der Sprache und der Befriedigung der Kommunikationsbedürfnisse der Gesellschaft und die andere mit der Beschaffenheit der Sprache, ihrer Verkörperung in einer bestimmten Substanz und mit ihrer Existenz in Gestalt eines besonderen Zeichensystems zusammenhängt. Die Sprache ist daher in ihrer Entwicklung in d o p p e l t e r Weise abhängig — einmal von dem Milieu, in dem sie existiert, und dann von ihrem inneren Mechanismus, von ihrem Beschaffensein. Mit der Anerkennung dieses Umstandes hängt auch die Klassifizierung zusammen, die wir für die Hauptursachen der Veränderungen vorschlagen werden. I n der Entwicklung jeder Sprache sind die genannten Faktoren eng miteinander verflochten und beeinflussen sich wechselseitig. Daher ist die Erforschung der Ursachen, der Bewegungsrichtung und der Formen des Sprachwandels ein recht kompliziertes Problem. Parallel zu den durch den Einfluß des äußeren Milieus bedingten sprachlichen Veränderungen stellen sich Veränderungen heraus, die nicht durch äußere Ursachen bedingt sind, weswegen man von einer relativ selbständigen Entwicklung des Sprachsystems sprechen kann; andererseits verläuft auch die Entwicklung des Sprachsystems bis zu einem gewissen Grade unabhängig und isoliert von einigen speziellen Veränderungen. [291; 418] Ungeachtet der Mannigfaltigkeit der den sprachlichen Veränderungen zugrunde liegenden Ursachen ist ihnen allen eine bemerkenswerte Besonderheit gemeinsam. Außer der Tendenz zum Sprachwandel und zur Weiterentwicklung des Sprachsystems beobachtet man ständig eine stark ausgeprägte Tendenz zur Erhaltung der Sprache in einem Zustand kommunikativer Tauglichkeit, eine Tendenz, die sich oft darin äußert, daß einsetzende Veränderungen auf Widerstand stoßen. Sämtlichen Sprachwandlungsprozessen wirken gewöhnlich besondere Hemmungsprozesse entgegen, die eine Fixierung und Konservierung der vorhandenen sprachlichen Mittel zum Ziel haben und abrupte Änderungen verhindern. Daher haben die verschiedenen Strukturbereiche — Phonetik, Wortschatz, Grammatik usw. — ein unterschiedliches Entwicklungstempo, sind sie gegen Veränderungen mehr oder weniger stark anfällig (vgl. die besonders starke Variabilität des phonetischen Baus, weswegen seine revolutionierende Rolle bei einem Gesamtwandel der betreffenden Sprache häufig hervorgehoben wurde), können sich die verschiedenen Seiten des sprachlichen Zeichens voneinander unabhängig entwickeln. Daher rührt schließlich der spezifische Charakter der dynamischen Stabilität der Sprache, auf Grund deren das System trotz erheblicher Veränderungen einzelner seiner Teile über eine längere Zeit hinweg im wesentlichen sich selbst identisch bleiben kann. Bereits Wilhelm von Humboldt betonte, daß man die Sprache erst dann richtig erfaßt, wenn man in ihr nicht eine Sache (egyov), sondern eine schöpferische Tätigkeit (evegyeia) sieht. Die Sprache ist aber in jedem Augenblick ihrer Existenz sowohl eine Tätigkeit als auch ein historisches Produkt dieser Tätigkeit. In Objekten wie der Sprache muß man zwei verschiedene kinema166
tische Prozesse berücksichtigen — den Prozeß der G e n e s i s und den Prozeß des F u n k t i o n i e r e n s [511,6-7]. Man begreift die historische Entwicklung einer Sprache nur unvollständig, wenn man nicht die Gesetzmäßigkeiten beider Prozesse nachgestaltet, denn jegliche Veränderung beginnt; in der Redetätigkeit. Die Wandelbarkeit der Sprache ist sowohl Voraussetzung als auch Ergebnis der Redetätigkeit, sowohl die Bedingung als auch die Folge normalen Funktionierens der Sprache. Ähnlich wie manch andere komplizierte Erscheinungen der Wirklichkeit ist auch die Sprache eine dialektische Einheit von Widersprüchen. Die Elementarteilchen sind Quanten und Wellen zugleich. Die Sprache ist eine Ganzheit von Stabilem und sich Veränderndem, von Statik und Dynamik. Dieser Dualismus der Sprache wurzelt vor allem in Ursachen funktionaler Art: er hängt eng mit ihrer Rolle und Stellung in der menschlichen Gesellschaft zusammen. Um den in der menschlichen Gesellschaft mit dem allgemeinen Fortschreiten von Wissenschaft, Kultur und Technik anwachsenden Anforderungen gerecht zu werden, muß sich die Sprache nicht nur reproduzieren, sondern durch Anpassung an die neuen Erfordernisse auch verändern. Keine einzige Seite der Sprache bleibt letztlich ohne Erneuerung und Weiterentwicklung. Andererseits müssen alle solche Veränderungen nicht nur sozial motiviert und approbiert, sondern auch sozial b e g r e n z t sein. Die Gesellschaft ist daran interessiert, daß Veränderungen in der Sprache die Möglichkeiten der Verständigung zwischen ihren Mitgliedern, die verschiedenen Generationen bzw. sozialen Gruppen angehören, nicht stören. Die Kontinuität der Generationen (und in einem nicht geringeren Maße offenbar auch der Faktor der sozialen Beziehungen) verhindert daher irgendwelche großen Sprünge und plötzlichen grundlegenden Wandlungen. Sprachliche Veränderungen vollziehen sich im allgemeinen mehr oder weniger allmählich. Ihre Ausdehnung ist an bestimmte zeitliche Grenzen gebunden (vgl. die mit dieser objektiven Eigenschaft sprachlicher Wandelbarkeit zusammenhängende Methode der Glottochronologie oder die lexikalisch-statistische Methode zur Datierung vorgeschichtlicher Divergenzen innerhalb ursprachlicher Einheiten [153; 185; 225]). Poliwanow schrieb: „In jeder Einzeletappe des sprachlichen Kontinuums vollziehen sich nur partielle, relativ geringe Veränderungen", die prinzipiellen Veränderungen dagegen sind nur als Summe vieler kleinerer Veränderungen denkbar, die sich in mehreren Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden angesammelt haben, in deren Verlauf jede Einzeletappe oder jeder Einzelfall kontinuierlicher Weitergabe der Sprache (von Generation zu Generation) das Sprachsystem nur unmerklich oder nur wenig spürbar veränderte" [365, 79]. Die sich ändernden Bedürfnisse der Gesellschaft verlangen jedoch ständig nach neuen Mitteln, um die neuen Begriffe und Ideen ausdrücken, effektiv austauschen, den anschwellenden Informationsstrom übermitteln und speichern Zu können [203]. Die Sprache entwickelt sich daher zwischen zwei widerstreitenden Tendenzen — einerseits der Erhaltung und Stabilisierung des vorhandenen Sprachsystems und -andererseits seiner Anpassung, Veränderung, Weiterentwicklung. Die objektive Existenz dieser verschieden ausgerichteten Tendenzen zeigt sich deutlich in einer Erscheinung wie der noch zu erörternden V a r i a t i o n . 167
Die spezifische Verknüpfung und Verflechtung beider Tendenzen und die realen Formen, in die ihre Wechselwirkung in der jeweiligen Sprache und konkreten historischen Situation einmündet, bedingen nicht nur die Grenzen der möglichen Veränderungen und ihr Tempo, sondern auch den Charakter des Verlaufs der Veränderungen. Martinet schreibt: „Die Sprache ändert sich unter dem Druck der sich ändernden Erfordernisse der Kommunikation in ständigem Konflikt mit sparsamstem Aufwand einerseits und der Tradition andererseits." [757, 522] Die Wandelbarkeit der Sprache erklärt sich also dadurch, daß sie ein z i e l g e r i c h t e t e s f u n k t i o n i e r e n d e s S y s t e m ist und sich als solches auch entwickelt. Die Sprache ändert sich, wie Coseriu betont, „um als solche weiterzufunktionieren" [591,17]. Die Veränderungen sind also eine direkte Folge der Hauptfunktion der Sprache, nämlich ein Kommunikationsmittel zu sein. Da aber die Sprache auch noch andere Aufgaben zu erfüllen hat (Näheres siehe in Kapitel 1 „Zum Problem des Wesens der Sprache"), erklären sich manche Veränderungen durch die Notwendigkeit, auch den anderen Funktionen gerecht zu werden. So wandeln sich manche sprachlichen Mittel aus rein ästhetischen oder emotionalen Gründen, wenn sie nämlich nicht ausdrucksstark oder expressiv genug sind. Außerdem darf man den Satz, daß sich die Sprache ständig ändert und verändert, nur so verstehen, daß sie die Möglichkeit hat, sich unbegrenzt weiterzuentwickeln, und nicht so, daß sie immer wieder umgeformt werde. Deshalb sollte man die Umschichtungsfaktoren im Leben einer Sprache nicht überbewerten; die Gesamtschau einer Sprache muß jedes der genannten Merkmale — Statik und Dynamik, Starrheit und Beweglichkeit, Wandelbarkeit und Stabilität - adäquat widerspiegeln. Die relative Stabilität des Sprachsystems ist gerade die Gewähr für die Herausbildung jeglicher sprachlichen, speziell der schriftsprachlichen Normen (vgl. Kapital 9 „Die sprachliche.Norm"), die Grundlage für die Kodifizierbarkeit der sprachlichen Erscheinungen, für die Erhaltung und Wahrung von Traditionen, für eine ungehinderte Weitergabe der Sprache von Generation zu Generation. Umgekehrt kann die Sprache auf Grund ihrer Beweglichkeit und Wandlungsfähigkeit den immer komplizierter und mannigfaltiger werdenden Funktionen gerecht werden, die immer komplizierter werdenden Erscheinungen der Realität immer besser widerspiegeln und sich zusammen mit einer Umgestaltüng ihres Trägers, der Gesellschaft, allmählich verändern. Welche direkten und vermittelten Korrelationen dabei entstehen, veranschaulichen zum Beispiel mehrere Veröffentlichungen über die Entwicklung der russischen Sprache in der Sowjetgesellschaft [405; 4Q6]. Da beide gegensätzlichen Eigenschaften der Sprache objektiver Natur sind, müssen sie in gleicher Weise Gegenstand linguistischer Untersuchungen sein, ist die Bevorzugung lediglich einer von ihnen nur durch ganz bestimmte Aufgaben und Zielsetzungen gerechtfertigt. Das trifft in vollem Umfang auch auf die historische Linguistik zu. In der Fachliteratur zeichnet sich jetzt ganz deutlich die Tendenz ab, die sprachlichen Veränderungen zum Gegenstand einer selbständigen Disziplin zu machen [672]. Ohne im Grunde gegen eine selbständige Erforschung dieses Problemkomplexes polemisieren zu wollen, können wir einer Begrenzung der ganzen diachronischen oder historischen Linguistik auf diesen Forschungsbereich nicht zustimmen. Die Sprachgeschichte besteht nicht nur 168
aus Veränderungen, und man darf die Sprachentwicklung nicht einseitig auf ständige Umgestaltungen reduzieren. Ebensowenig darf sich die diachronische Linguistik auf eine Analyse der sprachlichen Veränderungen beschränken. Man kann nämlich mit gutem Grund diejenigen sprachlichen Erscheinungen, die sich lange behaupten und jeglichen Einwirkungen gegenüber widerstandsfähig bleiben, als die fundamentalsten und für die Struktur der betreffenden Sprache charakteristischsten ansehen [594,115; 612]. Untersuchen wir also eine Sprache historisch, so müssen wir die Frage beantworten, welche ihrer einzelnen Strukturmerkmale (und warum gerade sie) besonders stabil sind. Die Konstanz sprachlicher Erscheinungen und die Ursachen dafür hängen offenbar auch mit dem Problem linguistischer Universalien zusammen. Daß sich die Sprachgeschichte nicht in ständigen Veränderungen erschöpft, bezeugen mittelbar auch die Aussagender Sprachträger: wie Martinet schreibt, haben die Sprecher niemals das Gefühl, daß die Sprache, die sie gebrauchen und die man um sie herum gebraucht, sich nicht mehr gleichbleibe [754, 161]. Dieses intuitive Gefühl wurzelt zweifellos in der objektiven Realität, und vermutlich ist das Maß dieser Stabilität den Grenzen eines möglichen Sprachwandels direkt proportional. Mehr noch. Sprachliche Stabilität und sprachliche Wandelbarkeit sind k o r r e l a t i v e E i g e n s c h a f t e n der S p r a c h e : die eine wird auf dem Hintergrund der anderen deutlich. Es gibt wohl kaum einen anderen Problemkomplex mit einer ebenso umfangreichen, fragmentarischen und widersprüchlichen Literatur wie derjenigen zur Entwicklung der Sprachen und zu den sprachlichen Veränderungen. Man denke nur an die Publikationen über den Lautwandel und die Lautgesetze [252, 587—592] oder über die Ursachen sprachlicher Veränderungen [69; 291; 418; 444 ; 673; 803]. Die genannten Probleme waren beliebte Forschungsthemen im 19. Jahrhundert und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Allmählich jedoch wurden in der Linguistik wie auch in anderen Wissensgebieten die genetischen und historischen Probleme durch Fragen nach der Organisation des Objekts zurückgedrängt. Die Analyse des historisch sich entwickelnden Objekts Sprache trat in den Hintergrund, und die Überzeugung, daß die Sprachwissenschaft unbedingt historisch sein müsse, wie sie von fast allen großen Sprachwissenschaftlern der Vergangenheit geteilt wurde [57; 185; 705; 774; 803], wich einer neueren Auffassung des Gegenstandes und der Aufgaben der Sprachwissenschaft. Zum Hauptzweck der Linguistik wurde die Erforschung des Sprachsystems erklärt. Dabei berücksichtigte man aber bei weitem nicht genügend (jedenfalls in der praktischen Forschung), daß die Sprache ihrer Natur nach ein dynamisches System ist und in jeder „Chronie" ein System und eine Struktur bleibt [394, 38]. Gegenwärtig beobachtet man in der sowohl innerhalb .als auch außerhalb der Sowjetunion betriebenen Sprachwissenschaft ein lebhafter werdendes Interesse für die historische Thematik, und es ist zu hoffen, daß in Veröffentlichungen nicht nur die Ursachen der Formen und Arten linguistischer Veränderungen beschrieben [418; 577; 669; 672; 753] und die Aufgaben der diachronischen Linguistik präzisiert werden [294; 591; 731; 856; 874], sondern auch zusammenfassende Arbeiten über Sprachdynamik und Sprachevolution erscheinen werden. Die Dringlichkeit solcher Untersuchungen 169
ist sehr groß, und man kann Hamp nur beipflichten, wenn er meint, daß die linguistischen Veränderungen, die nicht mehr das einzige wichtige Forschungsthema in unserer Wissenschaft sind, nach wie vor zu den aktuellsten und interessantesten Problemen der modernen Sprachwissenschaft zählen [648]. Ohne speziell auf die Geschichte der Erforschung der hier erörterten Probleme einzugehen (diesem Thema haben sich bereits Budagow, Abajew, Beresina, de Groot und besonders Sweginzew [183; 185; 186; 190] zugewandt), kann man feststellen, daß oft entweder die Beweglichkeit oder die Stabilität der Sprache auf Kosten ihres Gegenteils hypostasiert wurde, was letztlich dazu führte, daß die Natur der Sprache verkannt und entstellt wurde. Sah man in der Sprache lediglich eine fließende, veränderliche Erscheinung, betrachtete man sie nur in ihrer Geschichte und Genesis, so war man außerstande, manche ihrer fundamentalen Merkmale zu erkennen. Die Junggrammatiker untersuchten nur isolierte Fakten und sahen nicht ihren organischen Zusammenhang [170,43], sie verfolgten die gegenseitige Beeinflussung der einzelnen Einheiten nur insofern, als diese von sich aus ganz natürlich kleine Reihen bilden wie zum Beispiel die Verb- oder Nomenparadigmata. Die atomistischen Anschauungen der Junggrammatiker behinderten erheblich ein Erfassen der „Wichtigkeit des Sprachsystems" [766, 20]. Wie Brondal schrieb, wurde die Bedeutung der Geschichte im Leben der Sprache eindeutig überhöht, was „große und sogar unüberwindliche Schwierigkeiten theoretischer Natur" auftürmte [569, 3]. Aber auch die Suche nach dem „Permanenten, Konstanten, Identischen", die von den frühen Strukturalisten verkündet wurde [569, 3] und in der Praxis zur Erforschung synchroner Sprachzustände führte, meisterte die genannten Schwierigkeiten nur teilweise, denn Synchronie wurde häufig mit Statik verwechselt, was Gefahren anderer Art in sich barg. Die Strukturalisten leisteten zwar recht viel zur Entdeckung und Beschreibung von Systemzusammenhängen, untersuchten aber nicht die Ursache-WirkungBeziehungen. Wie Jakobson schrieb, verharrten de Saussure und seine Schule hinsichtlich der Sprachgeschichte auf den Positionen der Junggrammatiker: mit der Hervorhebung der Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze unterschätzten sie die Bedeutung der Sprachgemeinschaft und die aktive Rolle, die sie bei der Ausbreitung lautlicher Veränderungen und Neuerungen spielt [693, 2]; vgl. auch Martinet [756]. Die Veränderungen in der Diachronie gelten als individuell und zufällig und bilden nach de Saussure unter sich nicht ein System [835, 110-113]. Analoge Konzeptionen vertrat auch die Bloomfield-Schule: die Vorstellung, daß die Sprache eine stabile Struktur lexikalischer und grammatischer Fertigkeiten darstelle, sei eine Illusion, da die Sprache in beständiger Bewegung begriffen ist, außerdem seien uns die Ursachen solcher Bewegung verborgen. Bloomfield schrieb: „Es ist noch keinem einzigen Forscher gelungen, den Zusammenhang zwischen einer Lautveränderung und einer ihr vorangegangenen Erscheinung festzustellen: die Ursachen der Lautveränderung sind unbekannt." [563, 385; 252, 590f.] Mit einer derart nihilistischen Einstellung zum Problem der Kausalität läßt sich das Problem des Sprachwandels nicht lösen. 170
Andererseits führte die übermäßige Begeisterung für die Statik bei der Beschreibung der synchronen Systeme zu einer Starrheit, Rigorosität der Analyse, wurde die Beschreibung oft statisch. Die Stratifizierung der koexistierenden Erscheinungen ohne gebührende Berücksichtigung der „schwachen" und „starken" Positionen im System, ohne gegenseitige Abgrenzung der profilbestimmenden und der marginalen Modelle, ohne Unterscheidung zwischen Archaismen und Neologismen, ohne Beachtung der Produktivität und Nichtproduktivität der Formen, also ohne Feststellung all dessen, was die Sprachentwicklung ausmacht, verhinderte auch eine riohtige Beurteilung der Entwicklungsmöglichkeiten der Sprache. Nach diesen Ausführungen sollten wir zweckmäßigerweise noch einmal die Merkmale der Statik und Dynamik in der Sprachentwicklung erörtern und speziell die Korrelation Ton Statik und Synchronie einerseits und Diachronie und Dynamik andererseits untersuchen [226], um vor allem die notwendigen Schlußfolgerungen aus der Tatsache zu ziehen, daß die D i a c h r o n i e n i c h t nur d y n a m i s c h , s o n d e r n a u c h s t a t i s c h und die S y n c h r o n i e n i c h t nur s t a t i s c h , s o n d e r n auch d y n a m i s c h ist [253, 119]. Ein unabdingbares Problem der diachronischen Linguistik, die die Sprache als eine historisch sich entwickelnde Erscheinung untersucht, sind daher vor allem die Stabilität der Sprache in der Zeit [696, 25] und ihre Ursachen. Insofern ist die Erforschung der sprachlichen Veränderungen akzeptabel, aber nur als ein, wenn auch recht wesentliches Gebiet der historischen Linguistik. Man kann andererseits mit Makajew sagen, daß die neue Auffassung der Aufgaben der diachronischen Linguistik bedeutet, „die wechselseitige Abhängigkeit und Korrelation aller Elemente des Sprachsystems auf jeder Etappe der Sprachentwicklung einschließlich des ursprachlichen Zustandes zu entdecken und darzustellen" [294, 145]. Eine wesentliche Hilfe kann dabei der historischen Linguistik die synchronische Analyse bieten. So ist diese zum Beispiel unentbehrlich, wenn man Schlußfolgerungen diachronischer Art ziehen muß, ohne andere Texte heranziehen und auf die „areale Linguistik", die linguistische Geographie oder die Glottochronologie zurückgreifen zu können [726, 9]. Die synchronische Analyse in der Diachronie hilft also diachronische Aufgaben wie die Rekonstruktion, speziell die innere Rekonstruktion, auf neue Art zu stellen und zu lösen. Die Anwendung von Prinzipien der synchronischen Analyse in der Diachronie wirft auch neues Licht auf die Frage der sprachlichen Veränderungen. Das betrifft vor allem die Auffassung des Platzes der Veränderungen in einem sich entwickelnden, einem dynamischen System [siehe S. 177-182], die Frage, ob das Sprachsystem eine Triebkraft der Sprachentwicklung sein kann [siehe S. 208-211] und schließlich die Richtung der sprachlichen Veränderungen und deren Charakter. Martinet schreibt: „Sprachliche Veränderungen als Prozeß erschließen sich vollständig nur bei synchronischer Betrachtung der Sprachdynamik." [757, 522] Letzteres erfordert es, die Wi.chtigkeit und Aktualität des Problems der S p r a c h d y n a m i k und der Besonderheiten ihres Zutagetretens in einer solchen Eigenschaft des Sprachsystems wie der Verschiedenartigkeit seiner Einheiten zu sehen. 171
Jegliche Veränderung gehört nach Ansicht verschiedener Wissenschaftler zunächst zur Sprachsynchronie [563,312; 696,23; 679]. Das heißt, daß vor dem Einsetzen bzw. dem Abschluß einer Veränderung mehrere Formvarianten in der gleichen Kommunikationsgemeinschaft eine gewisse Zeitlang koexistieren. Jakobson spricht von der Koexistenz einer alten und einer neuen Variante, Bloomfield von Formen mit unterschiedlicher Frequenz und sozialer Konnotation, Vertreter des Prager Lingurstenkreises verweisen auf Kern- oder zentrale und periphere Elemente in jedem System und auf die Möglichkeit, daß sie aufeinander einwirken und einander ersetzen. Veränderungen können daher auf verschiedene einander kreuzende Einflüsse der verschiedenen Subkodes zurückgehen, die sich organisch zu einem beweglichen elastischen Ganzen zusammenfügen. Das Ausgangsmoment der Sprachentwicklung ist folglich die Tatsache, daß die Sprache in funktionaler (stilistischer), sozialer und geographischer Hinsicht h e t e r o g e n ist. Wie bereits gesagt, wurde die Frage der sprachlichen Veränderungen in der Geschichte der Sprachwissenschaft unter ganz verschiedenen Gesichtspunkten erörtert. Zweckmäßigerweise sollte man aber aus dem ganzen Problemkomplex die Kernfragen herausschälen, die in erster Linie und gesondert im Rahmen der allgemeinen Sprachwissenschaft behandelt werden müssen. Eine solche Differenzierung des Problems wurde speziell von Coseriu vorgeschlagen; beim Untersuchen sprachlicher Veränderungen müsse man folgende drei Probleme unterscheiden, die häufig miteinander verwechselt werden: ,,a) das rationale Problem der Veränderung (warum verändern sich die Sprachen, warum sind sie nicht unveränderlich?); b) das allgemeine Problem der Veränderung, das . . . nicht ein 'kausales', sondern ein 'konditionales' Problem ist (unter welchen Umständen vollziehen sich in einer Sprache gewöhnlich Veränderungen?) und c) das historische Problem bestimmter Veränderungen" [591,37]. In diesem Katalog fehlt unseres Erachtens die Frage der Ursachen der sprachlichen Veränderungen, die, wie bereits Poliwanow hervorhob, „eine geschlossene selbständige Sphäre oder Disziplin innerhalb der Wissenschaft von der Sprache oder der allgemeinen Sprachwissenschaft" darstellt [365, 75]. Gesondert könnte man auch nach den Formen und Typen der sprachlichen Veränderungen und ihrer Klassifizierung fragen (vgl. Paul, Steblin-Kamenski und Hoenigswald [361; 444; 672]). Im vorliegenden Kapitel berücksichtigen wir bereits diese Ergänzungen. Da wir in dieser Einführung schon versucht haben, die erste Frage von Coseriu zu beantworten, wollen wir nun die in der Sprachentwicklung zu beobachtenden Bewegungsformen kennzeichnen, um den Begriff der sprachlichen Wandelbarkeit zu präzisieren. Nach einer kurzen Beschreibung des Mechanismus der sprachlichen Veränderungen analysieren wir deren konkrete Ursachen und verfolgen ihre typischsten Arten. Abschließend wenden wir uns der Frage nach der allgemeinen Evolutionsrichtung der Sprachen und dem Tempo der Veränderungen linguistischer Systeme zu.
Die Formen der Bewegung in der Sprache und der Begriff der sprachlichen Veränderungen Daß die Sprache ihrer Natur nach nicht statisch ist, erkennt man nicht nur, wenn man sie unter ausgesprochen historischem Gesichtswinkel betrachtet, sondern auch dann, wenn man die Prozesse untersucht, die die Redetätigkeit kennzeichnen. Im Gegensatz zu den künstlichen Zeichensystemen, die sich beim Funktionieren nicht ändern, nicht ändern dürfen (vgl. das System der Straßenverkehrsordnung, das Morsealphabet, das Flaggenalphabet usw.), entwickeln und verändern sich die natürlichen Sprachen gerade bei ihrer Verwendung, bei ihrer Benutzung in den Kommunikationsakten. Schon lange weiß man, daß der Kommunikationsakt nicht nur ein Prozeß der Auswahl, des Erkennens und der Anordnung bestimmter fertiger Modelle ist, sondern auch etwas Schöpferisches enthält. Die Reproduktion des in der Sprache Vorhandenen ist im Grunde nur zum Teil ein Kopieren fertiger Muster. Sie ist kein mechanisches Doublieren, und linguistische Divergenzen (Abweichungen von den als Muster geltenden Einheiten) gibt es sogar in der Rede ein und derselben Person. [568; 757; 767; 845] Daher muß man der Ansicht beipflichten, daß jegliche Veränderung in der Rede beginnt und zunächst diejenige unmittelbare Gegebenheit erfaßt, mit der jeder Sprecher zu tun hat, das synchronische Sprachsystem. Andrejew schreibt: „Nicht jede Veränderung im System der Rede bewirkt Verschiebungen in der Sprachstruktur, wohl aber geht jeder Verschiebung in der Sprachstruktur unbedingt eine Veränderung im System der Rede voraus." [14, 24] Daß sich die sprachlichen Einheiten in der Rede verschieden realisieren und eine unterschiedliche Produktivität und Distribution aufweisen, heißt aber nicht, daß sich die Veränderungen innerhalb des synchronischen Systems der Sprache vollziehen. Ordnet man die Tatsachen einer Sprache so an, wie sie für den betreffenden Sprachträger existieren, das heißt auf einer Ebene, svnchronisch, so stellt man eine Veränderung an sich nicht fest. Aus dieser Tatsache zogen manche Sprachforscher unter dem unmittelbaren Einfluß von de Saussure den falschen Schluß, daß das synchronische System statisch sei und sich als solches nicht entwickele. Sie setzten damit den Mangel an Veränderungen dem Mangel einer Entwicklung gleich. 1928 noch hielt Louis Hjelmslev die Begriffe Sprachentwicklung und Sprachsystem für miteinander unvereinbar [664, 54], Diese Vorstellung von der Sprache widersprach jedoch den tatsächlichen Beobachtungen einerseits und den besten Traditionen der Sprachbeschreibung andererseits, denn diese betrachteten die Gegenwart mit Rücksicht auf die Relikte der Vergangenheit und mit dem Blick für die Keime der Zukunft. Aus diesem Grunde gelangten zwei miteinander eng verbundene linguistische Schulen zu einer grundsätzlich anderen Auffassung von der Sprachentwicklung und der Rolle ihrer einzelnen Stadien. Die Linie, die mit Baudouin de Courtenay begann und von Schtscherba, Winokur, Poliwanow und anderen weitergeführt wurde, fand eine Parallelentwicklung und Widerspiegelung im Prager Linguistenkreis. Das Verdienst, die spezifische „Beweglichkeit" der Synchronie erkannt und sprachliche Dynamik in jedem Sprachzustand anerkannt zu haben, 173
gebührt vor allem diesen beiden Schulen. Die Auffassung, daß die Sprache ein dynamisches System ist, wurde auch von den ersten Phonologen einschließlich Martinets stark gefördert. Die genannten Wissenschaftler und speziell Trubetzkoy und Jakobson wiesen in ihren Arbeiten überzeugend nach, daß die Sprache niemals undynamisch wird und man deshalb auch nicht sagen kann, daß sich die Begriffe Statik und Synchronie decken (Näheres bei Bulygina [72, 50-52] und Kubrjakowa [253,119-120]). Dieser Standpunkt bedeutete die Anerkennung von Merkmalen der Dynamik in jeglichem Sprachzustand und hatte eine stärkere Beachtung der Entwicklungstendenzen auch innerhalb der einzelnen synchronischen Querschnitte zur Folge [vgl. 69; 135; 170; 309; 528]; er wird heutzutage wohl allgemein geteilt. Die Bedeutung der Tatsache, daß die Synchronie „beweglich" ist, wurde allerdings noch nicht in gebührender Weise in dem Sinne gewürdigt, daß die verschiedenen Formen der Bewegung in der Sprache, die verschiedenen Formen der sprachlichen Dynamik, schon differenziert beschrieben worden wären. (V. Gutu-Romalo sprach zwar auf dem X . Internationalen Linguistenkongreß von der Mannigfaltigkeit der Formen der Sprachdynamik in der Synchronie, grenzte sie aber noch ungenügend voneinander ab [641]). Wie Schaumjan richtig bemerkte, wird neuerdings häufig die Meinung vertreten, daß die Erforschung der sich in der Sprache vollziehenden P r o z e s s e ausschließlich in den Bereich der Geschichte gehöre; Prozesse kennzeichnen indessen jeglichen Sprachzustand, die Synchronie wie die Diachronie [493,15].' Daher sollte man die Versuche begrüßen, Sprachmodelle zu schaffen, die eine Synthese der Sprachelemente im Redeprozeß, also dynamische Modelle reproduzieren, die als spezifischer Erzeugungsmechanismus analog zu einer lebenden Sprache gedacht werden. Vermutlich eröffnen sich in der Linguistik jetzt auch neue Möglichkeiten, die Entwicklung der Sprachen gründlicher zu analysieren, indem man mit gleichartigen Untersuchungsmethoden sowohl die Genesis der sprachlichen Erscheinungen als auch die Prozesse der Erzeugung der sprachlichen Einheiten erforscht. [176; 311] So ist zum Beispiel zu erwarten, daß es mit Hilfe der Wahrscheinlichkeits- und der Transformationsmethode gelingen wird, das Wesen der Übergänge von dem einen Sprachzustand zum anderen aufzuhellen und sogar zu berechnen [463; 464, 78]. Führte man Schaumjans Gedankengang logisch weiter, so müßte man allerdings zunächst fragen, welche Prozesse im einzelnen die Sprachentwicklung kennzeichnen und ob die Formen der Bewegung in den verschiedenen Sprachzuständen gleich sind, müßte man die Frage nach dem Wesen der in der Sprachentwicklung zu beobachtenden Prozesse folgendermaßen formulieren: Sind die für das synchronische Funktionieren einer Sprache charakteristischen Bewegungsformen mit denjenigen identisch, die für die diachronische Evolution der Sprache charakteristisch sind? Das muß man aller Wahrscheinlichkeit nach verneinen. In allgemeinster Form kann man hier auf zwei unterschiedliche kinematische Prozesse verweisen. Der eine, der sich auf das Funktionieren der Sprache bezieht, erfaßt sämtliche Bewegungen, die die Ausgangsstruktur, das Schema der Beziehungen zwischen den Systemelementen, unverändert lassen. Der andere Prozeß hingegen umfaßt diejenigen Bewegungen, die die Struktur einer neuen Gestalt zuführen. Dieser 174
Bewegungstyp ist für die Evolution der Sprache und die Genesis ihrer einzelnen Formen kennzeichnend [511]. Bewegungen der ersten Art können als „Variationen", Bewegungen oder Prozesse der zweiten Art dagegen als „Veränderungen" bezeichnet werden. Die auf allen Sprachebenen zu beobachtende Variation der Elemente ermöglicht die kontinuierliche und allmähliche Evolution der Sprachen unter Wahrung ihrer allgemeinen Geschlossenheit und Einheit (vgl. Sassorina [178]), während die Veränderung den Abschluß dieses Prozesses in dem betreffenden Sprachstrukturabschnitt bedeutet. Der Begriff der Sprachdynamik umfaßt daher zwei S e i t e n von P r o z e s s e n , weshalb man Sprachdynamik und Sprachwandel nicht gleichsetzen sollte. Unter einer s p r a c h l i c h e n V e r ä n d e r u n g sollte man die Störung der Identität einer Einheit mit sich selbst und das Ergebnis dieser Störung verstehen. Die sprachliche Veränderung ist ein diachronischer Begriff, denn zu ihrer Entdeckung und Feststellung muß man zwei zeitlich verschiedene Querschnitte miteinander vergleichen. Die Formel der Veränderung „A -» B " bedeutet zugleich die Anerkennung zweier verschiedener Zustände, von denen der eine vor dem anderen liegt. Der sowjetische Philosoph Gruschin meint: „Die Kategorie .Veränderung' ist offenbar eine ganz abstrakte, ganz allgemeine Kategorie, die Entwicklungsprozesse der objektiven Welt widerspiegelt . . . Sie hebt nur das hervor, was ganz allgemein, offensichtlich ist, am ehesten in die Augen springt, in jedem Entwicklungsprozeß enthalten ist: Unterschiede in ein und demselben Systemelement (oder System), das zu zwei verschiedenen Zeitpunkten betrachtet worden ist." [128,104] Dieser Hinweis ist besonders wichtig, denn sprachliche Divergenzen beobachtet man nicht nur bei einem Vergleich von Texten, die aus verschiedenen Zeiten stammen, sondern im Grunde auch in geographischer oder sozialer Hinsicht, so daß man Modiiikationen in der Zeit und Modifikationen zwischen den verschiedenen Teilen einer Kommunikationsgemeinschaft unterscheiden kann, wenn man die territoriale, funktionale oder soziale Sprachschichtung meint. [757,521—522] Trotzdem können nicht alle genannten Typen von Modifikationen als Veränderungen im eigentlichen Sinne gelten. Wir bezeichnen als Veränderungen nur die Divergenzen in der Z e i t , meinen also, daß sie Divergenzen zwischen Erscheinungen bezeichnen, die von der zeitlichen Abfolge abhängen und mit Beziehungen der K o n t i n u i t ä t und der S u b s t i t u t i o n zusammenhängen. Alle anderen Modifikationen gleicher Einheiten bezeichnen wir eben als „Variationen". Bei einer solchen Auffassung der „Veränderung" muß man diese von den I n n o v a t i o n e n oder Neubildungen unterscheiden, deren Hauptinhalt das Moment des Aufkommens einer neuen Einheit, eines neuen" Elements und nicht das Moment der V e r w a n d l u n g der einen Erscheinung in eine andere ist. Veränderungsprozesse sind also Prozesse der Substitution im weiten Sinne [672], von der Verdrängung der einen Einheit durch eine andere bis zur allmählichen Umgestaltung der substantiellen, funktionalen oder semantischen Identität der Einheit. Variationsprozesse hingegen sind die „Prozesse der Koexistenz und Konkurrenz verschieden alter oder heterogener Gebilde, die auf Grund eines gleichen Merkmals, meistens der Ähnlichkeit der denotativen Bedeutung der betrachteten Einheiten, zusammengehören [414]. Als Varianten können 175
auch Gebilde gelten, die in der Sprache die gleiche Funktion haben, im sozialen oder geographischen Raum der betreffenden Sprache aber verschieden verteilt sind oder eine ungleiche Frequenz und Produktivität aufweisen. Als besondere Variante der Veränderung muß man auch die N e u i n t e g r a t i o n untersuchen, die, allgemein gesagt, auch zu einer besonderen Klasse der Modifikationen einer Form werden kann; bei der Neuintegration werden die einen Assoziationsbeziehungen gestört und andere ausgelöst, ohne daß sich die substantielle Identität der Einheit insgesamt ändert, ihre Bestandteile werden lediglich umverteilt (vgl. die Prozesse der morphologischen Neugliederung einer Form). Variation, Neuintegration und Neubildung bereiten eine Veränderung vor, ersetzen aber zum Unterschied von der Veränderung, für die die Beziehungen der Substitution charakteristisch sind, nichts. Bei der Veränderung schließt die eine Einheit die gleichzeitige Existenz einer anderen aus; die Formel „A —• B" bedeutet, daß A n i c h t m e h r existiert und an seine Stelle B getreten ist. Bei der Neuintegration und Variation entstehen grundsätzlich andere Beziehungen: A und B k o e x i s t i e r e n . Der Mechanismus der sprachlichen Veränderung hängt eng mit den Variationsprozessen zusammen. So ist der Lautwandel nach Bloomfield vom historischen Standpunkt „eine allmähliche Bevorzugung der einen nichtdistinktiven Varianten auf Kosten der anderen" [563, 365]. Mit anderen Worten, aber weitgehend analog beschrieb auch Baudouin de Courtenay den Verlauf einer Veränderung. Die historische Entwicklung der polnischen Deklination zum Beispiel ist für ihn ein langsamer Prozeß, in dessen Verlauf die Formen so lange schwanken, bis die einen Formen allmählich das Übergewicht über die anderen gewinnen [156, 23]. Sprachliche Veränderungen waren schon immer Gegenstand von Spezialuntersuchungen, während die Variationsprozesse erst seit kurzem zur linguistischen Problematik zählen (eine interessante Zusammenfassung der Meinungen sowie eine Bibliographie zum Thema bietet Semenjuk [414]; vgl. auch Martinet [757] und Hockett [669]). Zweifellos verdient aber auch diese Erscheinungsform sprachlicher Dynamik, die vielfach die konkreten Wege sprachlicher Entwicklung bestimmt, die gebührende Berücksichtigung. Wie bereits erwähnt, hängt das in erster Linie gerade damit zusammen, daß der Schlüssel zur Erforschung der Natur der sprachlichen Veränderung in der Synchronie liegt: „Sowohl der Anfang als auch das Ende einer Veränderung existieren für eine bestimmte Zeit nebeneinander" [699,46]. Den Gedanken der Vielfalt und Mannigfaltigkeit der Aufgaben der neueren Wissenschaft beim Erkennen des dynamischen Objekts Sprache, das Merkmale dynamischer Stabilität zeigt, formulierte am treffendsten H y m e s : Heutzutage ist es gleichermaßen wichtig, sowohl die Dynamik einer Erscheinung und die Variation als Quelle der Veränderungen synchronisch zu analysieren als auch die „Statik" dessen, was historisch 'stabil ist, diachronisch zu analysieren, parallel zur Untersuchung des synchronisch Invarianten und diachronisch Varianten [680, 451]. Die Sprache ist also eine historisch sich entwickelnde Erscheinung, ein Objekt, die bzw. das niemals absolut stabil ist und es auch nicht sein kann, ein dyna176
misches System, das in jedem Augenblick seiner Existenz im Zustand eines relativen Gleichgewichts begriffen ist. Viele allgemeine Gesetzmäßigkeiten des Funktionieren und der Entwicklung der Sprache erklären sich daher durch die bloße Tatsache, daß sie ein kompliziertdynamisches System ist.
Einige Entwicklungsbesonderheiten des kompliziertdynamischen Systems
Sprache
Ein neuer Typ wissenschaftlicher Untersuchungsobjekte, die gerade die moderne Wissenschaft kennzeichnen, sind die Systeme komplizierter Dynamik [334, 99]. Ihre Besonderheiten werden bisher nur in wenigen Arbeiten beschrieben, offenbar weil die allgemeinen Grundsätze für systematisches Vorgehen noch nicht ausgearbeitet sind und es noch schwierig ist, den Systembegrifif auf sich entwickelnde (nicht nur statische) Objekte anzuwenden. So kann man durchaus sagen, daß solche Forschungen verläufig noch in den Kinderschuhen stecken. Trotzdem dürfte es von Nutzen sein, schon jetzt auf manche Gesetzmäßigkeiten der Sprachentwicklung hinzuweisen, die sich dadurch erklären lassen, daß die Sprache zu den kompliziertdynamischen Systemen gehört und eng mit den allgemeinen Eigenschaften solcher Objekte zusammenhängt. Freilich hat das dynamische System Sprache auch Entwicklungsbesonderheiten, die sich aus seinen eigentlich linguistischen Eigenschaften, aus den ganz spezifischen Prinzipien dieses Systems ergeben und sich von denjenigen der anderen dynamischen Systeme unterscheiden, nämlich die sogenannten S p r a c h a n t i n o m i e n , deren Lösung die Selbstentwicklung der Sprache bewirkt. Wie Panow und andere aus dieser Schule richtig schreiben, sollte man zweckmäßigerweise „diese Widersprüche von den anderen dialektischen Widersprüchen abheben" [406, 24]. Solche Antinomien sind diejenigen von Sprecher und Hörer, Kode und Text, Sprachgebrauch und Möglichkeiten des Sprachsystems, die Antinomie auf Grund der Asymmetrie des sprachlichen Zeichens und schließlich ditf Antinomie der beiden Funktionen der Sprache, der rein informatorischen und der expressiven. Der Charakter dieser Antinomien ist in der Fachliteratur bereits eingehend und im vorliegenden Werk teilweise erörtert worden. Deshalb soll auf diese Widersprüche und die Arten ihrer Überwindung hier nicht näher eingegangen werden, vielmehr wollen wir uns der Frage zuwenden, wie sich die allgemeinen Eigenschaften der kompliziertdynamischen Systeme in der Sprachentwicklung widerspiegeln und brechen. Ein dynamisches System ist, wie Ashby schreibt, „etwas, was sich mit der Zeit verändern kann" [539,13]. Außer dieser Haupteigenschaft haben solche Systeme auch noch die Eigenschaft, kompliziert zu sein. Diese Eigenschaft äußert sich sowohl in der Zusammengesetztheit des Systems aus sehr vielen verschiedenartigen Elementen und in einer stufenartigen, hierarchischen Korrelation zwischen ihnen als auch in der allgemeinen Geschlossenheit des Systems, die vorhanden ist, obwohl es aus beweglichen und sich ändernden Elementen 177
besteht, und Eigenschaften hervortreten läßt, die seine einzelnen Elemente nicht aufweisen. Systeme kompliziert er Dynamik sind vor allem Objekte, die, durch innere und äußere Beziehungen gesättigt sind, wie Ashby schreibt. Die Begriffe Kompliziertheit und Dynamik bilden in solchen Systemen eine organische Einheit, so daß sich jedes kompliziertdynamische Objekt letztlich beschreiben läßt als „hypotaktischer komplizierter Zusammenhang von Teilen, der in seinen widersprüchlichen Tendenzen, in seiner kontinuierlichen Bewegung eine höhere E i n h e i t , eine sich e n t w i c k e l n d e O r g a n i s a t i o n ergibt" [507,9—10] (von uns hervorgehoben). Diese Attribute zeigen sich darin, nach welchen Grundsätzen die kompliziertdynamischen Systeme aufgebaut und konkret organisiert sind: zwischen den Systemelementen entstehen Beziehungen, die der Fähigkeit der Systeme zu Stabilität, aktiver Anpassung, gewisser Selbstregulierung, zur Abstimmung der Funktionen und der Struktur des betreffenden Systems mit derjenigen Substanz, in der es sich realisiert, entsprechen (Näheres in den Arbeiten von Nowik, Ashby und Wiener [84; 334; 539]). Von all diesen in der Sprache spezifisch widergespiegelten Eigenschaften sind für ein Begreifen der Sprachentwicklung offensichtlich die folgenden ausschlaggebend : 1. Der besondere Charakter der Wechselwirkung mit der Umwelt. 2. Der besondere Charakter der Wechselwirkung zwischen den Systemkomponenten. 3. Die relative Autonomie der einzelnen Glieder des Systems im Prozeß seiner allgemeinen Umgestaltung. 4. Die Existenz nicht direkt beobachtbarer „verdeckter Parameter". 5. Die relative Unabhängigkeit der inneren Struktur des Systems von seinem stofflichen Substrat. Versuchen wir, diese Eigenschaften wenigstens kurz zu charakterisieren und zu zeigen, in welchen konkreten linguistischen Erscheinungen sie ihren Ausdruck finden. Die erste B e s o n d e r h e i t der Sprachentwicklung betrifft also den Charakter der Wechselwirkung der Sprache mit ihrer Umwelt. Wie jedes andere kompliziertdynamische System läßt sich auch die Sprache nicht einfach von ihrer Umwelt gestalten, sondern tritt zu ihr in vielseitige und verschiedenartige Beziehungen. Die Sprache widerspiegelt nicht passiv alle Einwirkungen der Umwelt, sondern verhält sich zu ihnen selektiv. Das stimmt mit dem Umstand überein, daß die Sprache, ohne ihre qualitative Spezifik zu verlieren, auch gar nicht in der Lage ist, unmittelbar auf sämtliche Veränderungen in dem Umweltausschnitt, in dem sie existiert, zu reagieren. Sonst würden manche äußeren Einwirkungen das System nicht entwickeln, sondern zerstören (so nimmt die Sprache zum Beispiel bei weitem nicht sämtliche Neuerungen auf). Sie reagiert nicht unmittelbar auf eine ganze Reihe von Veränderungen der ökonomischen, sozialen und politischen Struktur der Gesellschaft, der sie dient. Bereits Friedrich Engels schrieb (in einem Brief an Joseph Bloch), daß es schwerlich gelingen würde, den Ursprung der hochdeutschen Lautverschiebung ökonomisch zu erklären, ohne sich lächerlich zu machen [604, 464]. Andererseits schlagen sich eine Änderung der Zahl der Sprachträger, die Aufnahme und Pflege von Kon178
takten zu anderen Völkern, die Verbreitung der Bildung und viele andere Faktoren der gesellschaftlichen Entwicklung gewöhnlich in der Sprachgeschichte nieder, sind sie die konkreten Ursachen f ü r die in der betreffenden Sprache festgestellten Veränderungen. Der materielle und kulturelle Fortschritt der Gesellschaft zeigt sich am unmittelbarsten in der Ausdehnung der Benennungsmittel. Die verschiedenen Umweltsituationen werden also von der Sprache verschieden reflektiert. Von einer Verflechtung der Merkmale Variabilität und Stabilität in jedem Sprachzustand war bereits die Rede. Hier sei nur betont, daß sich die Stabilität der Sprache in ihren Wechselbeziehungen zur Umwelt weitgehend über die W a n d e l b a r k e i t i h r e s s t o f f l i c h e n S u b s t r a t s realisiert, weil die Sprache zu Variation und Redundanz fähig ist. Durch solche Korrelationen zwischen Sprache und Umwelt ergibt sich aber gerade die d y n a m i s c h e S t a b i l i t ä t des Systems. Deswegen überträgt die Sprache zum Beispiel die Wahrnehmung bestimmter Funktionell des einen Teilsystems einem anderen, wenn das ursprüngliche Teilsystem durch irgendwelche Veränderungen umgestaltet worden ist. Die Sprachen können neue Begriffe durch eine Weiterverwendung bzw. Umgruppierung alter Mittel ausdrücken oder das Verschwinden der einen Einheit durch das Hervorbringen einer anderen ausgleichen usw. Kompliziertdynamische Systeme haben auch die Eigenschaft, immer ein relatives Gleichgewicht anzustreben. Sie zeigen dadurch eine gewisse Aktivität, allerdings eine adaptive, wodurch Veränderungen in vertretbaren Grenzen gehalten werden und das System an die Umwelt angepaßt, eine Zerstörung des Systems aber verhindert werden soll. Daraus erklärt sich, daß sich das System gewissermaßen selbst reguliert. Mit dieser Besonderheit hängt auch die z w e i t e B e s o n d e r h e i t der Sprachentwicklung eng zusammen. Man könnte sie als dynamische Wechselwirkung der einzelnen Komponenten des Systems kennzeichnen. I h r Wesen besteht darin, daß eine Sprache immer aus ganz bestimmten obligatorischen Komponenten — Phonetik, Wortschatz, Grammatik usw. — besteht, aber die konkrete Korrelation dieser Komponenten und der Charakter der Abhängigkeit zwischen ihnen im Laufe der Sprachgeschichte nicht unverändert bleiben. Funktionsweise und Entwicklung der Sprache beruhen stets auf einer k o o r d i n i e r t e n W e c h s e l w i r k u n g zwischen den einzelnen Teilen des Systems — den Ebenen oder Teilsystemen—und den sprachlichenEinheiten sowie auf einer Verteilung der Funktionen zwischen ihnen [310, 99]. Auch der Charakter solcher Koordinierung ändert sich. Unter Verwendung des Ausdrucks innere Solidarität, den Vertreter des Prager Linguistenkreises [72, 87] prägten und der später von anderen, speziell von Coseriu [591, 76], verwendet wurde, könnte man sagen, daß die Sprachentwicklung in erster Linie die Entwicklung des Netzes von Beziehungen zwischen den ein einheitliches „solidarisches" oder „ensembleartiges" Ganzes bildenden Komponenten bedeutet. Die Fachliteratur beschreibt bereits viele Beispiele von Korrelationen, die sich in der Sprachgeschichte zwischen den Veränderungen im phonetischen, grammatischen und lexikalischen Teilsystem beobachten lassen und die zum 179
Ausdruck bringen, daß die Änderung der feinen Ebene von Verschiebungen der anderen abhängt; daher dürfte es unbestritten sein, daß zwischen den Sprachebenen diachronische Beziehungen herrschen (vgl. [135; 291; 393; 470; 528; 694; 893]). Trotzdem wird der Charakter solcher Korrelationen verschieden gewertet [69; 186; 187; 418]. Obwohl in diesen Problemen noch viel ungeklärt und umstritten ist, dürfte sich gegen eine von Toporow formulierte These im Prinzip kaum etwas einwenden lassen, gegen die These nämlich, daß das Sprachsystem eine „Gesamtheit von Elementen" ist, die „so organisiert sind, daß sich die Änderung, der Ausschluß oder die Neueinführung eines Elements gesetzmäßig auf die übrigen Elemente auswirkt" [461, 9—10]. Diese These läßt sich aber nur dann richtig deuten, wenn man die E l e m e n t e d e s S y s t e m s (die Konstrukte) und die realen Systemteile, nämlich die u n m i t t e l b a r e n G e g e b e n h e i t e n der Sprache in Gestalt der verschiedenen Laute, Lautfolgen, Einzelwörter usw., einander nicht gleichsetzt. Mit einer Erfassung dieses Umstandes hängt auch die Erfassung der d r i t t e n Entwicklungsbes o n d e r h e i t der Sprachen als kompliziertdynamischer Systeme eng zusammen, daß nämlich eine allgemeine Änderung der Sprache in gewisser Weise von den Teilverschiebungen abhängt, die sich gerade mit den bereits erwähnten realen Gegebenheiten vollziehen. Die Veränderung einer S p r a c h e i n h e i t , die ein bestimmtes Systemelement (oder -glied) darstellt und häufig nicht mit einer aktuellen Einheit des Redestroms (bzw. der in einem realen schriftlichen Text festgestellten substantiellen Folge) übereinstimmt, muß sich auf die Struktur der Sprache oder ihrer einzelnen Glieder auswirken. Das Gegenteil zu behaupten, hieße die These leugnen, daß die Sprache ein in bestimmter Weise organisiertes System ist, worin alles mit allem zusammenhängt [901, 34]. Die Veränderung eines Systemgliedes in einem beliebigen Sprachbereich wirkt sich auf das ganze System aus [591, 76; 694]. Veränderungen dagegen, die sprachliche Gegebenheiten erfassen und einen speziellen Charakter haben, also, streng genommen, nicht Systemelemente betreffen, führen gewöhnlich n u r zu einer Umverteilung dieser Gegebenheiten innerhalb eines begrenzten Bereichs von Erscheinungen, erfassen nicht das System als solches. Die Sprache kann also auf die verschiedenen Arten von Veränderungen und auf eine Umstellung innerhalb verschiedener Bereiche ihrer Struktur auf verschiedene Weise reagieren. „In einem System komplizierter Dynamik", schreibt Nowik, „erschlafft die Veränderung mancher Elemente . . . durch komplizierte Transfprmation allmählich, ohne die qualitative Spezifik des gesamten Systems gestört zu haben." [334,106] Auf Grund dieser Eigenschaft können scheinbar gleichartige Prozesse in verschiedenen konkreten Sprachen unterschiedliche Folgen haben. Ein Beispiel mag die unterschiedliche Rolle veranschaulichen, die Entlehnungen vom Standpunkt ihres späteren Einflusses auf das phonologische Teilsystem einer Sprache spielen. Das Phonem /£/ gelangte über Entlehnungen aus dem Griechischen in das Russische, gliederte sich aber ganz natürlich in das hier entstehende System der Stimmbeteiligungskorrelation ein und wurde zu einem obligatorischen Glied dieses Systems; in der Sprache der Navaho veränderte die Entlehnung weniger englischer Wörter erheblich die Phonemfolge im Anlaut 180
[673]; das Phonem ¡5/ in der deutschen Gegenwartssprache hängt mit Einzelentlehnungen aus dem Französischen zusammen, gehört aber nicht zum System der deutschen Grundphoneme; weitgehend analog ist auch die Stellung des Phonems /n/ in der englischen Gegenwartssprache, denn es erscheint nur in Wörtern französischer Herkunft und als Bandphonem; andererseits ist bekannt, daß der Zustrom französischer Wörter eine radikale Umstellung des englischen Betonungssystems begünstigte. In der selektiven Behandlung verschiedener Veränderungen zeigt die Sprache auch die folgende wichtige Abhängigkeit: hängt die Systemstabilität von vielen Elementen ab, so stößt die Veränderung eines Einzelelements auf einen recht großen Widerstand des ganzen Systems [334,106]. Mit Hilfe dieser Gesetzmäßigkeit kompliziertdynamischer Systeme kann maü erklären, weshalb zum Beispiel der Wandel einer einzigen Opposition in der Phonologie viel ernstere Folgen für die ganze Sprache hat als etwa Dutzende ständig sich vollziehende semantische Verschiebungen: ein phonologisches System beruht auf einer relativ kleinen Zahl von Beziehungen und Einheiten, ein semantisches System dagegen basiert auf sehr vielen Einheiten und ist durch eine Vielzahl verschiedenartiger Beziehungen gekennzeichnet. Im Hinblick auf die beschriebenen Eigenschaften der Sprache verweisen manche Forscher mit Recht darauf, daß das allgemeine Systemprinzip der Sprachbeschaffenheit eine gewisse Unabhängigkeit des Gesamtsystems von einem Wandel innerhalb seiner einzelnen Teilsysteme und eine ganz bestimmte Autonomie dieser Teilsysteme nicht ausschließt [291; 292; 418]. Das bedeutet, daß sich auch die Teilsysteme nach eigenen inneren Gesetzen, mehr oder weniger isoliert entwickeln können [694; 893]. Der Sprachhistoriker muß natürlich bestrebt sein, auch die kleinste und unbedeutendste Veränderung unter dem Gesichtspunkt des Systems, als Widerspiegelung von etwas Allgemeinerem und Ganzheitlicherem zu sehen [864, 7]. Wie jedoch an Hand von Belegen Hamm demonstriert, dürfen solche Verallgemeinerungen nicht allzu voreilig vorgenommen werden, schon weil sie im Prinzip nicht immer möglich bzw. obligatorisch sind [480, 22 f.]. Es war bereits davon die Rede, daß die gleichen Wandlungsprozesse in verschiedenen Sprachen verschiedene Folgen haben (vgl. zum Beispiel die Geschichte des Umlauts in den germanischen Sprachen). Das kommt daher, daß sich eine Veränderung unter Bedingungen vollzieht, deren Besonderheiten oft nicht rekonstruierbar sind. Diese Tatsache hängt eng mit der v i e r t e n B e s o n d e r h e i t , mit den verdeckten und noch nicht entdeckten Ursachen sprachlicher • Veränderungen, zusammen. Allein die sogenannten spontanen oder sporadischen Veränderungen, die die traditionelle Sprachwissenschaft mit Recht den bedingten Veränderungen und Verschiebungen gegenüberstellte, legen die Vermutung nahe, daß es in der Sprachentwicklung gewisse verdeckte Parameter gibt, die nicht nur bestimmte Veränderungen auslösen, sondern auch Verlauf und Richtung einsetzender Veränderungen bestimmen. Im allgemeinen kann man feststellen, daß der Grad der Stabilität bzw. Wandelbarkeit der Sprachen durch die Zahl der Klassen von Umwelteinwirkungen, die das betreffende System aufnehmen bzw. abweisen kann, sowie 181
durch die Zahl der Klassen derjenigen inneren Faktoren bestimmt wird, die die Triebkräfte der Veränderungen sein können. Über eine konsequente oder gar erschöpfende Aufzählung dieser Klassen verfügt die Sprachwissenschaft noch nicht. Hier sollen nur die wesentlichsten dieser Ursachen behandelt und klassifiziert werden. Ein besonderes Problem für eine Aufhellung der verdeckten Parameter ist unseres Erachtens die Frage nach dem gleichzeitigen Z u s a m m e n w i r k e n v e r s c h i e d e n e r F a k t o r e n und dem Charakter ihrer Verflechtung, worauf wir hier noch eingehen wollen. Die f ü n f t e wichtige B e s o n d e r h e i t der Sprachentwicklung als eines Abbilds des Herausbildungsprozesses eines kompliziertdynamischen Systems ist eine gewisse Unabhängigkeit der Sprachstruktur von dem stofflichen Substrat, in das sie gehüllt ist. Diese Eigenschaft des Sprachsystems erklärt sich durch den Umstand, daß sich die gleiche (oder weitgehend analoge) Struktur durch mehrere verschiedene stoffliche Substrate realisieren läßt, daß sie gegenüber denjenigen Elementen invariant bleiben kann, von denen sie ausgedrückt wird und die sich dabei recht erheblich verändern können. Wird die Entwicklung eines sprachlichen Zeichens beschrieben, so heißt es gewöhnlich, daß diese Entwicklung in einer Änderung der Beziehungen zwischen dem Bezeichneten und dem Bezeichnenden besteht (Näheres in Kapitel 2 „Die Zeichennatur der Sprache", im Abschnitt „Das Besondere des sprachlichen Zeichens"). Ein Sprachsystem besteht aber nicht nur aus Zeichen, sondern auch aus F i g u r e n , die im Laufe der Sprachgeschichte ebenfalls nicht unverändert bleiben. Es ändert sich die Zahl der Figuren und ebenso ihr Äußeres. Es ändert sich schließlich auch ihr Systemwert. Solche Erscheinungen untersucht die diachronische Phonologie, deren Ergebnisse es erlauben, die hier beschriebenen Fakten zu einer besonderen Regel zu verallgemeinern. Diese könnte lauten: Die direkten K o r r e l a t i o n e n z w i s c h e n einer Änderung der S u b s t a n z einer k o n k r e t e n E i n h e i t und einer Ä n d e r u n g der S t e l l u n g dieser E i n h e i t i m S y s t e m der S p r a c h e s i n d f a k u l t a t i v , oder: zwischen Änderungen der Substanz und Änderungen des Systems (der Struktur) bestehen in der Sprache nur fakultative Beziehungen. So bewirkten zum Beispiel die Lautverschiebungen in den germanischen Sprachen, die den germanischen Konsonantismus gegenüber dem indoeuropäischen erheblich veränderten, keine Veränderungen in der strukturellen Konfiguration der Konsonanten, denn das Prinzip der Distanz zwischen den drei Konsonantenreihen wurde nicht gestört. Analoge Erscheinungen wurden auch von den Phonologen der Prager Schule beschrieben [72, 85]. Es ist daher kein Zufall, daß mit der neuen Interpretation der sprachlichen Veränderungen eher deren Systemstatus geklärt als die Umgestaltung des Äußeren der Einheiten, deren Untersuchung für die Junggrammatiker so typisch war, erforscht wird. Wir haben hier einige Entwicklungsbesonderheiten der Sprache gekennzeichnet, die auf ihrer Zugehörigkeit zur Klasse kompliziertdynamischer Systeme beruhen. Die Eigenschaften der Sprache, die mit ihrem Systemcharakter nicht in der Diachronie, sondern in der Synchronie zusammenhängen, müssen gesondert betrachtet werden (vgl. Kapitel 1 des auf S. VI erwähnten zweiten Bandes des vorliegenden Werkes). 182
Die inneren und die äußeren und ihre Klassifizierung
Sprachentwicklungsfaktoren
Viele Arbeiten zur historischen Linguistik, schreibt Togeby, kranken daran, daß sie die Evolution einer Sprache als Wirkungsergebnis irgendeines Einzelfaktors zu erklären suchen [877, 277]. Gegen das Bestreben, unterschiedliche Veränderungen unbedingt durch eine einzige universelle Ursache zu erklären, wandten sich auch Coseriu [591,104] und Steblin-Kamenski [444, 75]. Diesen Standpunkt teilen aber nicht alle Linguisten. Sieht man von denjenigen ab, die da meinen, das Kausalitätsproblem brauche in der Sprachwissenschaft überhaupt nicht erörtert zu werden, „die Frage nach den Ursachen sprachlicher Veränderungen ist für die Wissenschaft von der Sprache belanglos" [494, 29], so gibt es zu dieser Frage drei verschiedene Standpunkte. Der erste hält sämtliche Veränderungen in der Sprache für extralinguistisch bedingt [30, 106], in erster Linie durch die Existenzbedingungen der die betreffende Sprache sprechenden Gesellschaft [774,96; 856,17]. Sommerfeit kritisierte die Junggrammatiker, weil sie die Ursachen der Veränderungen individualpsychologisch zu ermitteln suchten, und meinte ausdrücklich, daß die Faktoren der Veränderungen letztlich sozialen Charakter haben [856, 41]. Die Anhänger dieser einseitigen Konzeption geben zwar manchmal zu, daß sich verschiedene innere Ursachen der Evolution entdecken lassen, meinen aber im übrigen, daß auch hinter diesen inneren Ursachen extralinguistische Faktoren stehen. Für Entstehung und Verbreitung sprachlicher Veränderungen werden oft auch die Bedürfnisse kommunikativen Charakters oder ähnliche Faktoren verantwortlich gemacht. [69, 36] Der zweite extreme Standpunkt besagt, daß sämtliche Sprachveränderungen ausschließlich durch innere Faktoren ausgelöst werden [548,18]. Eine Spielart dieser Konzeption sind auch die Theorien, wonach alle extralinguistischen Impulse, selbst wenn es sie geben sollte, nicht innerhalb der Linguistik zu betrachten seien. So schreibt zum Beispiel Kurylowiez: „Sobald wir die Sprache sensu stricto verlassen und uns außersprachlichen Faktoren zuwenden, ist die klare Abgrenzung des Feldes linguistischer Forschung verloren." [726, 11] Einen ähnlichen Gedanken äußert auch Martinet, wenn er schreibt: „Nur die innere Verursachung geht den Sprachwissenschaftler an." [856,163] Unseres Erachtens treffen beide Standpunkte kaum den Kern der Sache. Wir gehen davon aus, daß die Sprachentwicklung sowohl von äußeren als auch von inneren Faktoren abhängt, meinen aber, daß es heutzutage nicht darauf ankommt, die einen Ursachen auf Kosten der anderen zu untersuchen, sondern darauf, objektiv zu zeigen, wie die einen und die anderen Faktoren wirken können und miteinander konkret verflochten sind. Obwohl in der sowjetischen Sprachwissenschaft auch die Meinung geäußert wurde, daß die These vom „Pluralismus der Ursachen" ihrem Wesen nach eklektizistisch sei [69, 36], wird wohl doch gerade sie am ehesten dem wahren Sachverhalt und den Ergebnissen zahlreicher konkreter Untersuchungen gereicht (vgl. zum Beispiel Hockett [669], Malkiel [747], Pauliny [804], Serebrennikow [418] und Sommerfeit [856]). 183
Aus der Definition, daß die Sprache ein dynamisches System ist, folgt logisch, daß manche ihrer inneren „Mängel" unter Systemdruck beseitigt werden, indem die Elemente besser geordnet, mehr Einheiten durch ein einheitliches Regulierungsprinzip erfaßt werden, zwischen den Gliedern der Oppositionen die gleiche Distanz erhalten bleibt usw. Definiert man aber die Sprache als ein offenes, mit der Umwelt in Wechselwirkung stehendes System, so folgt daraus, daß ihre Beschreibung auch gar nicht vollständig sein kann ohne Berücksichtigung der konkreten Formen dieser Wechselwirkung [628, 75—76]. Meillet betonte die multilaterale Abhängigkeit der Sprache von einem ganzen Komplex von Ursachen und schrieb, daß sprachliche Veränderungen zumindest durch drei Gruppen von Ursachen oder Faktoren vorherbestimmt werden: 1. durch die Struktur der betreffenden Sprache, also durch ihre Beschaffenheit, 2. durch psychologische, physische, territoriale, soziale und andere Existenzbedingungen und 3. durch die speziellen Einflüsse, denen die untersuchte Sprache von Seiten anderer Sprachen zu dem betreffenden Zeitpunkt und an dem jeweiligen Ort ausgesetzt ist [774, 4]. Allerdings ist auch die im zweiten Punkt genannte Gruppe von Ursachen bei weitem nicht homogen, bedarf sie einer Detaillierung und Präzisierung. Im allgemeinen sind aber die Faktoren der ersten Gruppe innere, innerlinguistische Faktoren, wird ihre Spezifik gleichermaßen durch die Lautsubstanz der betreffenden Sprache, durch das Netz der Beziehungen, das zwischen ihren Elementen besteht, (die Sprachstruktur) und schließlich durch die Zusammenfassung der Elemente und Beziehungen zu einer besonderen ganzheitlichen Einheit (zu einem System) bestimmt. Daher meinen wir, wenn wir von systembedingten Veränderungen sprechen, natürlicherweise nur einen Teil der inneren Umgestaltung in der Sprache. Die von Meillet im zweiten Klassifizierungspunkt genannten Faktoren zählen gewöhnlich zu den extralinguistischen. Schließlich sind die von ihm zur dritten Gruppe zusammengefaßten Ursachen spezifische halblinguistische Ursachen: die Tatsache, welche Sprache die untersuchte Sprache beeinflußt und welche soziale Stellung beide Sprachen zueinander einnehmen, ist ein extralinguistischer, sozialökonomischer oder gar politischer Faktor, während die Formen der Sprachkontakte unmittelbar von den einander berührenden Sprachen abhängt, und in diesem Sinne ist die Einwirkung des einen linguistischen Systems auf das andere ein innerlinguistischer Prozeß. Diese Faktoren spielen jedenfalls unter allen Ursachen der Veränderungen eine besondere Rolle (Näheres siehe S. 208—211). Einige Worte auch zur Abgrenzung der oft verwechselten Ausdrücke U r s a c h e n sprachlicher Veränderungen und C h a r a k t e r , 'Funktionalstatus sprachlicher Veränderungen. So hat die Tatsache, daß eine sprachliche Veränderung in das betreffende Sprachsystem Eingang findet oder eine starke Verbreitung erfährt, unabhängig davon, wodurch sie unmittelbar ausgelöst wurde, sozialen Charakter. Nur unter diesem Gesichtswinkel stimmt es, daß „auch die inneren Entwicklungsgesetzmäßigkeiten einer Sprache letztlich sozialer Natur sind" [405,35; vgl. 680,450-451]. Daraus folgt jedoch nicht, daß sämtliche Veränderungen soziale Ursachen haben. Ähnliches gilt auch in bezug auf den nicht eindeutigen Terminus „Systemveränderung". Diese Bezeichnung kann einmal bedeuten, daß die Ursache einer Veränderung das 184
System der betreffenden Sprache selbst war, dann aber auch, daß diese Veränderung ihrem Charakter nach zu einer Reihe gleichartiger, serienmäßiger, regelmäßiger Veränderungen gehört, so daß sämtliche Veränderungen eine gewisse in sich geregelte Einheit bilden. Man tut gut daran, diese Definitionen möglichst auseinanderzuhalten. Systemveränderungen im ersten Sinne sind für uns nur ein Teil der inneren, durch das innere, immanente Wesen der Sprache bedingten Veränderungen. Demnach lassen sich sämtliche sprachlichen Veränderungen, vielmehr ihre Ursachen, in zwei Grundkategorien einteilen — in äußere und innere [428, 40]. Praktisch ist es nicht immer einfach, eine bestimmte Ursache einer von beiden Kategorien zuzuordnen, denn eine sorgfältigere Untersuchung kann ergeben, daß die Ursache der betreffenden sprachlichen Veränderung eine ganze Kette aufeinanderfolgender gleichartiger Ursachen oder aber eine komplizierte Verflechtung vieler verschiedenartiger Ursachen ist. In den meisten Fällen zeichnet sich die unmittelbare Hauptursache mehr oder weniger deutlich ab. Sie löst die betreffende sprachliche Veränderung aus. Liegt die Ursache nicht im Sprachmechanismus selbst, sondern außerhalb seiner, so kann sie als äußere Ursache gelten. Im Finnischen zum Beispiel begann man zu einem bestimmten Zeitpunkt, die Adjektive den Substantiven nach Genus und Numerus anzugleichen. Die Ursache dafür war aller Wahrscheinlichkeit nach der Einfluß der benachbarten indoeuropäischen Sprachen, in denen diese Erscheinung deutlich ausgeprägt ist. Umgekehrt ist die Veränderung der Konsonantengruppe xr in x T i m Neugriechischen durch eine innere Ursache ausgelöst, nämlich durch die weniger bequeme Aussprechbarkeit von xz. Zu den äußeren Ursachen rechnen wir sämtliche ungewöhnlich verschiedenartigen Impulse, die von der die Sprache umgebenden Umwelt ausgehen und vor allem mit den Besonderheiten der historischen Entwicklung der Gesellschaft zusammenhängen, mit Umsiedlungen und Migrationen, der Zusammenführung und der Spaltung von Sprachgemeinschaften, einer Änderung der Kommunikationsformen, fortschreitender Kultur und Technik usw. Zu den inneren Ursachen zählen die verschiedenen Impulse im Zusammenhang mit einer zielgerichteten Tendenz zur Weiterentwicklung des vorhandenen Sprachsystems (vgl. zum Beispiel die Tendenz zur Schaffung eines symmetrischen Phonemsystems, von der noch speziell die Rede sein soll), die verschiedenartigen Tendenzen zur Anpassung des Sprachmechanismus an die physiologischen Besonderheiten des menschlichen Organismus, die Notwendigkeit zur Verbesserung des Sprachmechanismus selbst, die Notwendigkeit, die Sprache in einem Zustand kommunikativer Tauglichkeit zu erhalten, usw. Wie diese Tendenzen wirken, sollen die folgenden Abschnitte an Hand von Beispielen erläutern.
Die äußeren Ursachen sprachlicher
Veränderungen
Da jede Sprache Teil eines komplizierteren Systems ist, entwickelt sie sich nicht wie unter einer Glasglocke. Die äußere Umwelt wirkt ständig auf sie ein und hinterläßt in ihren unterschiedlichsten Bereichen recht deutliche Spuren. 185
Bekanntlich kann eine Sprache bei Kontakten mit einer anderen manche artikulatorische Besonderheiten von ihr übernehmen. Ein typisches Beispiel ist die Entstehung der Zerebrale in den indischen Sprachen. Da sich diese in den heutigen drawidischen Sprachen verbreiteten Konsonanten nicht aus der historischen Entwicklung der entsprechenden nichtzerebralen Konsonanten der indoiranischen bzw. indoeuropäischen Ursprache erklären lassen, nimmt man an, daß sie unter dem Einfluß der drawidischen Substratsprachen entstanden sind. In den aserbaidshanischen Norddialekten sind die pharyngalisierten Vokale a i , oi>, y i , HI. und die Abruptivlaute KB, ul, HI, KT>, TI, nl unter dem Einfluß der kaukasischen Sprachen entstanden. Abruptivlaute wurden auch in den östlichen anatolischen Mundarten des Türkischen festgestellt. Die sogenannten usbekischen iraniäierten Mundarten gaben unter dem Einfluß iranischer Sprachen die für die Turksprachen typische Vokalharmonie auf. Ein Substrateinfluß erfaßt manchmal weite Gebiete mit mehreren Sprachen. So ist zum Beispiel für das phonetische System des Bulgarischen, Rumänischen und Albanischen ein reduzierter Vokal typisch, der im Bulgarischen durch T>, im Rumänischen durch ä und im Albanischen durch e bezeichnet wird. Interessanterweise kann man die Tendenz zur Verwandlung von a in o in der ersten Silbe gleichzeitig im Tatarischen, Tschuwaschischen und Marijischen verfolgen. Im Marijischen verwandelte sich das a der ersten Silbe in o, in verschiedenen tschuwaschischen Dialekten in o bzw. u und im Tatarischen in labialisiertes a. Die Aussprache der sogenannten finnischen Schweden gleicht viel eher der Aussprache der Finnen als derjenigen der in Schweden lebenden Schweden. Nicht minder beträchtlich sind die Unterschiede zwischen der Aussprache der in Finnland lebenden Finnen und derjenigen der im Gebiet Leningrad und teilweise in der Karelischen ASSR lebenden Ingermanländer, deren Aussprache eher der russischen gleicht, denn langes Zusammenleben mit Russen färbte auf ihre Aussprache ab. Vergleicht man die Aussprache der Komi-Syrjänen im WytschegdaBecken mit derjenigen der Komi-Permjaken, so stellt man fest, daß die Aussprache der Komi-Permjaken fast keinen spezifischen Akzent hat und eher der russischen Aussprache gleicht. Gonzales Moreno stellte in der Aussprache der mexikanischen Variante des Spanischen eine singende Satzintonation (especie de canto) fest: „Hört man einen Maja-Indianer seine Muttersprache und einen Yucat&ner spanisch sprechen, so staunt man über die ähnliche «Satzintonation." [631, 181] Anderssprachlicher Einfluß kann auch den Charakter der Betonung betreffen. Der Wechsel der Betonung im Lettischen, die einst beweglich war, dann aber auf die erste Silbe verlegt wurde, geht offensichtlich auf den Einfluß der Sprache des finnisch-ugrischen Volkes der Liven zurück, die einst einen großen Teil des heutigen Lettlands bewohnten. Wie mehrere Dialektologen vermerken, verlagert sich in den russischen Mundarten des sogenannten Trans-Onega-Gebietes die bewegliche Betonung auf die erste Silbe. Will man diese Erscheinung erklären, so muß man berücksichtigen, daß die Sprecher dieser Mundarten ihrer Herkunft nach russifizierte Karelen sind. 186
Durch Umwelteinfluß kann es auch zu erheblichen Veränderungen in der Grammatik der Sprachen kommen, so in der Zahl der Kasus, ihrer Zusammensetzung, in den Besonderheiten der Kasusbedeutungen, den Modellen ihres Aufbaus, den Besonderheiten ihrer historischen Entwicklung usw. Das Jakutische unterscheidet sich von den anderen Turksprachen der Gegenwart durch eine Vielzahl von Kasus. Während die allermeisten Turksprachen heute gewöhnlich sechs Kasus haben (Nominativ, Genitiv, Dativ, Akkusativ, Lokativ und Ablativ), gibt es im Jakutischen neun Kasus (Nominativ, Akkusativ, Dativ-Lokativ, Partitiv, Ablativ, Komitativ, Adverbial, Komparativ und Instrumental). Man könnte das jakutische Kasussystem aus inneren Entwicklungsgesetzen erklären, hätte man keine anderen Beweise für äußere Ursachen, auf Grund deren das jakutische Kasussystem eine vom gesamtturksprachliehen T y p erheblich abweichende Gestalt angenommen hat. Manche Besonderheiten des jakutischen Kasussystems findet man nämlich im Kasussystem des zur tungusisch-mandschurischen Sprachgruppe gehörenden Ewenkischen und Ewenischen wieder. Das Jakutische hat keine besondere Genitivform; sie fehlt auch in dem das Jakutische umgebenden Ewenkischen und Ewenischen. Vermutlich konnte sich der Genitiv im Jakutischen nicht ausbilden, denn in den Turksprachen gab es ihn ursprünglich nicht. Dabei übten die tungusisch-mandschurischen Sprachen offenbar einen hemmenden Einfluß aus. Der Dativ hat im Jakutischen zugleich die Bedeutung des Lokativs. Das gleiche beobachtet man im Ewenkischen und Ewenischen. Der Partitiv hat im Jakutischen das Suffix -ta15. Was konnte aber das Jakutische gerade diese Entwicklung einschlagen lassen? Wohl wiederum der Einfluß tungusischer Sprachen. I m Ewenkischen gibt es den sogenannten unbestimmten Akkusativ, der nicht nur eine Artikelfunktion hat, sondern sich auch in partitivischer Bedeutung verwenden läßt, vgl. zum Beispiel Mye yHrKyp3H 'sie hat etwas Wasser eingegossen'; Eyitaji ojuioe 'gib vom Fisch' [239, 52]. Möglicherweise hat sich der altturksprachliche Ablativ unter dem Einfluß der tungusisch-mandschurischen Sprachen in den Partitiv verwandelt. [239, 52] Der Instrumental auf -nan konnte sich offenbar ebenfalls unter tungusischmandschurischem Einfluß erhalten, denn er ist im Ewenkischen und Ewenischen vorhanden. Das gleiche gilt für den jakutischen Komitativ und Komparativ. Der Ablativ im Ewenkischen und Ewenischen mit dem Suffix -«yK läßt sich so wie der jakutische Komparativ verwenden, vgl. ewenkisches E H M P K H F L Y K I I C carflHTMap 6HCHM 'ich bin älter als dein Kamerad' [239, 61]. Unter dem Einfluß fremder Sprachen kann sich auch die Semantik der Kasus ändern. Interessante Belege hierzu bieten manche russische Dialekte am Unterlauf der Wytschegda. Der Genitivus partitivus kommt in ihnen viel seltener vor 35 Wie manche Forscher meinen, bewahrt das Jakutische hier den früheren Zustand, da das Lokativsuffix -da, -de der heutigen Turksprachen noch die Bedeutung des Ablativs hatte, auf dessen Grundlage sich der jakutische Partitiv entwickelte. Vgl. Ramstedt
[381, 42].
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als in der russischen Schriftsprache, so heißt,es dort: B Jiecy HHKaKHe rpiiSti HeT (statt: . . . HHKaKHX rpnßoB HeT) 'im Walde sind keine Pilze'; vgl. gleichbedeutendes komi-syrjänisches BöptiH HenyriiiÖM TiiiaK a6y. I n geographisch benachbarten Sprachen ändern sich Kasusformen manchmal in gleicher Richtung. So konnte zum Beispiel schon im Altbulgarischen die Zugehörigkeit sowohl durch den Genitiv als auch durch den Dativ ausgedrückt werden. Dann wurde der Dativ, vor allem bei einem Verb, immer häufiger durch die analytische Konstruktion mit der Präposition Ha ausgedrückt. Da der Dativ schlechthin den Genitiv ersetzen konnte, verdrängte die Konstruktion mit der Präposition Ha später den Genitiv völlig, vgl. heutiges bulgarisches iieJiH saflaiH Ha ncTopniecKaTa rpaMaTHKa 'Ziel und Aufgaben der historischen Grammatik*. Auch im heutigen Rumänischen decken sich die Dativ- und Genitivformen, vgl. domn 'Herr', domn 'des Herrn' oder 'dem Herrn', casa 'Haus', case 'des Hauses', oder 'dem Haus'. Historisch geht die Form domn auf die lateinische Dativform domino und die Form case auf die lateinische Dativform casae zurück. Ein Zusammenfallen der Genitiv- und Dativformen beobachtet man auch im Albanischen, zum Beispiel mali 'des Berges' und 'dem Berg', shoku 'des Genossen' und 'dem Genossen'. (Wie Bariö [544, 26] nachweist, geht die GenitivDativ-Form im heutigen Albanischen historisch ebenfalls auf einen Dativ zurück.) Unter dem Einfluß der komi-syrjänischen synthetischen Lokativform entstanden in einigen russischen Dialekten am Unterlauf der Wytschegda in der Nähe der ASSR der Komi interessante Konstruktionen ohne Präposition wie VxTe JKHBÖT 'er wohnt in Uchta'. Der Einfluß anderer Sprachen kann offenbar den Zerfall eines Kasussystems hemmen oder aufhalten. Viele heutige indoeuropäische Sprachen haben nicht mehr das alte System der synthetischen Kasus. Die Beziehungen zwischen den Wörtern wurden allmählich analytisch mit Hilfe von Präpositionen ausgedrückt. Das von der indoeuropäischen Ursprache ererbte alte Kasussystem wurde auch im Armenischen zerstört, allerdings nicht so, daß dieses zu einer analytischen Sprache geworden wäre. Eine analoge Erscheinung beobachtet man in der Geschichte des Ossetischen und einiger Sprachen Indiens, in denen sich trotz Zerstörung der alten Kasusendungen ein neues System synthetischer Kasus herausbildete. Offenbar wurde eine völlige Zerstörung des alten Kasussystems im Armenischen und Ossetischen durch die sie umgebenden Kaukasussprachen mit ihren recht stark entwickelten Kasussystemen verhindert. Gegenüber manchen arischen Sprachen Indiens, konnten die drawidischen v Sprachen wirksam werden, deren Kasussystem nicht zerfiel. Unter dem Einfluß fremder Sprachen kann auch der bestimmte Artikel in manchen Sprachen entstanden sein. So hat zum Beispiel das tschuwaschische Possessivsuffix der 3. Person des Singulars -S manchmal die Bedeutung des unbestimmten Artikels; vgl. tschuwasch. KHMO'ein Boot', aberKHMMH'das Boot'. Die anderen Turksprachen kennen diese Erscheinung nicht. Hier liegt offenbar ein Einfluß des Marijischen vor, wo das Possessivsuffix der 3. Person des Sin188
gulars ebenfalls die Funktion des bestimmten Artikels haben kann, vgl. zum Beispiel jer 'ein See', aber jer-ie 'der See'. Gegenüber dem Einfluß anderer Sprachen ist das System der Pronomina am stabilsten. Allerdings kann sich das System der sogenannten Possessivsuffixe, die funktional den Possessivpronomina entsprechen, unter dem Einfluß anderer Sprachen ändern. So gab zum Beispiel das Estnische unter dem Einfluß indoeuropäischer Sprachen das System der Possessivsuffixe auf, das sich wiederum im Pontischen, einem neugriechischen Dialekt, unter dem Einfluß des Türkischen herausbildete. In sämtlichen Turksprachen stehen die Possessivsuffixe n a c h dem Pluralsuffix, vgl. tatar. Hfleji Hp-Jiap-H 'die Ufer der Wolga', türk. Türkiye §eher-ler-i 'die Städte der Türkei'. Im Tschuwaschischen dagegen stehen die Possessivsuffixe v o r dem Pluralsuffix, zum Beispiel KanHTaji gepmuB-e-ceH-ie 'in den Ländern des Kapitals'. Das beruht auf einem Einfluß des Marijischen mit eben dieser Suffixanordnung, zum Beispiel PecnyßjiHKHH OHHHJI e H m e - M A M H I 'die fortschrittlichen Menschen der Republik'. Bekanntlich entlehnen manche Sprachen adjektivische Wortbildungssuffixe. Die Fachliteratur verzeichnet Fälle der Suffixentlehnung. So entlehnte zum Beispiel das Marijischu aus dem Tschuwaschischen das Komparativsuffix -pan (tschuwasch. -pax), vgl. mar. caft 'gut', cafipaK 'besser', Hejie 'schwer', HejiupaK 'schwerer', tschuwasch. äiiiä 'warm', ämäpax 'wärmer', tatar. MaTyp 'schön', MaTyppaK 'schöner' [110, 95].
Eine Entlehnung des usbekischen Komparativsuffixes -roq beobachtet man in den tadshikischen Norddialekten. Wie aber Bastorgujewa feststellte, wird dieses usbekische Suffix vorwiegend in Verbindung mit dem tadshikischen Komparativsuffix -tar verwendet, vgl. teztarroq oder tezroqtar 'schneller' [384,130]. Auch das System der Zahlwörter unterliegt in den verschiedenen Sprachen dem Einfluß anderer Sprachen, obwohl die Numeralia gewöhnlich zu den stabilsten Wortschatzelementen gerechnet werden. Bekanntlich sind zum Beispiel die Zahlwörter für 7, 100 und 1000 in den finnisch-ugrischen Sprachen aus indoeuropäischen entlehnt. Das nenzische Wort für 100 iop' stammt offenbar aus einer alten Turksprache, vgl. tschuwasch. ägr 'hundert'. Das rumänische Zahlwort sutä 'hundert' ist aus dem Slawischen entlehnt. Die serbokroatische und bulgarische Bezeichnung für 1000 (serbokroat. hiljada, bulg. xHjiH^a) stammt aus dem Griechischen. Die Zahlwörter für 80 und 90 lauteten im Lateinischen octoginta und nonaginta (wörtlich 'acht Zehner' und 'neun Zehner'). Im Französischen werden sie ganz anders gebildet. Das Zahlwort für80 ist nach dem Schema 4 X 20, nämlich: quatre vingt, und für 90 nach dem Schema (4 X 20) -f- 10, quatre vingt dix gebildet. Wahrscheinlich gehen diese Modelle auf keltischen Einfluß zurück, vgl. heutiges irisches ceithre fichid '80' (wörtlich 'vier Zwanziger'), deich is ceithre fichid '90' (wörtlich 'zehn und vier Zwanziger'), bretonisches pevar ugent '80' (wörtlich 'vier Zwanziger'), dek ha pevar ugent '90' (wörtlich 'zehn und vier Zwanziger'). Die rumänischen Zahlwörter von 11 bis 19 enthalten das Element spre 'auf', das auf latein.super 'über' zurückgeht, zum Beispiel unsprezece '11', 189
doisprezece '12', treisprezece '13', patrusprezece '14' usw. Diese Formen sind nach slawischem Muster gebildet, vgl. russ. oflHHHajmaTb '11' aus oahh Ha necHTb 'eins auf zehn' usw. I m heutigen Komi-Syrjänischen und besonders Komi-Permjakischen wird das alte System der Numeralia abgebaut, werden immer häufiger die aus dem Russischen entlehnten Numeralia verwendet. Auch das Verbsystem einer Sprache unterliegt verschiedenen Einflüssen anderer Sprachen. So kann zum Beispiel das System der Personalendungen umgestaltet werden. Die Sprache der in China lebenden turkotatarischen Salaren kennt heute keine Konjugation nach Person und Numerus mehr; daran ist zweifellos das Chinesische schuld, dessen Verben diese Kennzeichen ebenfalls nicht besitzen. I n der Folklore sind Reste der mit Affixen gebildeten Personalund Numerusformen noch erhalten [454, 29]. Einen ähnlichen Einfluß übte das Chinesische auf das Mandschurische aus, das eine Konjugation nach Person und Numerus ebenfalls nicht kennt. Da die anderen tungusisch-mandschurischen Sprachen solche Formen besitzen, muß diese Erscheinung im Mandschurischen sekundär, unter dem Einfluß des Chinesischen entstanden sein. Auch die Bildung des Tempussystems kann weitgehend von äußeren Einflüssen abhängen. So gleicht das System der Verbkategorien des modernen Englischen eher dem inselkeltischen als dem deutschen [903, 109]. Durch Wechselwirkung zwischen dem Marijischen und den permischen Sprachen bildete sich im Marijischen ein System von Präteritaltempora heraus, das typologisch mit dem Tempussystem in den permischen Sprachen identisch ist und folgende Besonderheiten aufweist: 1. es umfaßt vier Präteritaltempora: das erste Präteritum, das zweite Präteritum oder das Perfekt, das Plusquamperfekt und das durative Präteritum, 2. das Perfekt h a t nicht das Hilfsverb für „sein" und kann außer der rein perfektivischen Bedeutung die modale Bedeutung der Nichtevidenz haben, 3. im durativen Präteritum ist das Hilfsverb faktisch nur noch eine Partikel, die auf eine verallgemeinerte Form der 3. Person des Singulars des eisten Präteritums vom Hilfsverb für „sein" zurückgeht; vgl. k o m i - s y r . ßocbTa BÖJii ' i c h n a h m ' , ßocbTaH BÖJii ' d u n a h m s t ' , SocbTÖ BÖJii ' e r
nahm" usw., marij. HanaM HJie 'ich nahm", HajiaT tnie 'du nahmst', Hajiern bme 'er nahm'. Die Formen des bestimmten Präsens und des bestimmten Präteritums I des Indikativs mit dem Hilfsverb xoraftan 'liegen, schlafen' in verschiedenen tadshikischen Dialekten des äußersten Nordens sind Lehnübersetzungen der entsprechenden usbekischen Formen mit dem Verb CTMOK 'liegen'; vgl. tschust. nafista-xotas < navista xorafta ast 'er schreibt gerade'; usbek. yitnö eTiiß-MaH 'ich lese gerade'. Die Formen des bestimmten Präsens I und des bestimmten Präteritums I des Indikativs mit dem Hilfsverb istodan, die am häufigsten in den Mundarten der tadshikischsprachigen Siedlungen Usbekistans u n d der nördlichen Rayons der Tadshikischen SSR gebraucht werden, sind überraschenderweise genauso konstruiert wie die entsprechenden usbekischen Formen mit dem Hilfsverb TypMOK 'stehen' [383, 232]. Die französischen Konstruktionen von der Art il me l'a dit 'er hat es mir gesagt', wo die Pronominalwörter des direkten und indirekten Objekts, die 190
zwischen das Personalpronomen (Präfix) il und das Verb gleichsam infigiert sind, erinnern sehr an die altirischen Konstruktionen der Art ro-m-gab 'er nahm mich' [903,153-154]. Die zwei Konjugationsarten im ossetischen Präteritalsystem (je nach der Transitivität bzw. Instransitivität des Verbs) entstanden unter kaukasischem Substrateinfluß, denn auch die adygeischen Sprachen haben zwei Konjugationen — eine für transitive und eine für intransitive Verben [32, 76]. Der Einfluß einer anderen Sprache kann sich auch auf die B e d e u t u n g e n der Tempora auswirken. So bedeutet zum Beispiel das zweite Präteritum im Tschuwaschischen nicht nur das Perfekt und das nichtevidente Präteritum, sondern auch das durative Präteritum, zum Beispiel: IIoe3fl ^aß-ijaBax Majiajijia liiyHä, BaroH BeceMcöp (jHJiJieHHÖ, KäMäJi naTpaHHä 'Der Zug eilte (wörtlich: kroch) unaufhaltsam vorwärts, die Wagen schaukelten hin und her, es wurde einem schlecht'. In den anderen Turksprachen hat das zweite Präteritum diese Eigenschaften nicht. Der Ursprung dieser Bedeutung ist im Marijischen zu suchen, denn dort kann das zweite Präteritum außer dem Perfekt und dem nichtevidenten Präteritum auch noch eine durative Handlung bezeichnen, zum Beispiel: K O K HÜ Hape XÜHHH NIYHKO BUHeMHiirre, 3HHFLAHHMTE HJieHaM, eHr Hejie naiiiaM HiirreHaM 'Etwa zwei Jahre lang hauste ich beim Chan in einem schrecklichen Loch, einem Gefängnis, verrichtete schwerste Arbeiten'. Interessante Folgen des Einflusses anderer Sprachen zeigen auch die Kategorien des Aspekts und des Modus. Unter russischem Einfluß zeigt das heutige Udmurtische deutliche Tendenzen zur Bildung von Aspektpaaren. Zur Bildung imperfektiver Verben dient das Suffix -a (historisch das Iterativsuffix -al). I m Bulgarischen entstand unter dem Einfluß des Türkischen der Wiedergabemodus. Das bulgarische Perfekt, das früher einmal das Ergebnis einer in der Vergangenheit abgeschlossenen Handlung bezeichnete, konnte nach dem Einfall der Türken in Bulgarien bei aufkommender Zweisprachigkeit eine Handlung bezeichnen, die der Sprecher faktisch nicht bezeugen kann, die er also auf Grund von Aussagen anderer wiedergibt. [321, 209] Anderssprachlicher Einfluß kann sogar Auswirkungen auf die Bedeutungen von Verbsuffixen haben. So ist zum Beispiel im Komi-Syrjänischen das Verbsuffix -uniT, das die geringe oder unzureichende Intensität einer Handlung ausdrückt, ziemlich stark verbreitet, vgl. Jln^a jianTHiimc aaHaßecKacö 'Lida lüftete etwas den Vorhang'; ciöö BeniTHiUTic yjiöccö 'er verrückte den Tisch etwas'. Als Katalysator bei der Verbreitung des Suffixes -HIHT im Komi-Syrjänischen wirkten die im Russischen verbreiteten Verben geringerer Intensität mit dem Präfix no-, zum Beispiel noryjiHTb 'einen kleinen Spaziergang machen', noecTb 'einen Happen zu sich nehmen', nomynaTt 'ein bißchen befühlen'. Im Udmurtischen, wo der Einfluß des Russischen weniger intensiv war, hat sich das Suffix -UIIIT nicht besonders stark entwickelt. In den finnisch-ugrischen Sprachen der ältesten Zeit hatten die Verben keinerlei Präverbien. Diese entstanden in manchen finnisch-ugrischen Sprachen unter dem Umgebungseinfluß indoeuropäischer Sprachen, vgl. ungar. artani 'schaden', aber megartani 'Schaden zufügen', irni 'schreiben', aber beirni 'herausschreiben'. 191
Ähnliche Präverbien hat auch das Estnische. Im Marijischen stehen den Präverbien manche Hilfsverben funktional nahe, vgl. zum Beispiel Hejiara 'schlucken', aber HejiHH KOJiTam 'verschlucken' (wörtlich: 'schluckend loslassen'), K o i K a r n 'essen', aber K O H K H H niiTapam 'aufessen' (wörtlich: 'essend Schluß machen'). Fast sämtliche Modelle der zusammengesetzten Verben im Marijischen stammen aus dem Tschuwaschischen, wo sie genaue typologische Entsprechungen haben. Zusammengesetzte Verben hat auch das moderne Bengalische, zum Beispiel khäiyä pheliläm 'ich habe aufgegessen', paksi ur-iyä gela 'der Vogel ist weggeflogen'. Auffällig ist die Ähnlichkeit zwischen den Modellen der zusammengesetzten Verben im Bengalischen und in den drawidischen Sprachen. So hat das Tamilische dieselben Verbmodifikatoren mit der gleichen Funktion [584, 1050]. Entlehnt werden sogar Partikel. I n manchen russischen Dialekten am Unterlauf der Wytschegda entspricht der Partikel -TO wie in KTO-TO 'jemand', HTO-TO 'etwas', KAK-TO '(irgend)wie' die Partikel -KO, zum Beispiel KTO-KO 'jemand', HeB0-K0 'etwas', KaK-KO '(irgend)wie'. Diese ungewöhnliche Partikel geht auf komi-syrjänisches Jcö zurück, das analog gebraucht wird, vgl. kod-kö 'jemand', myj-lcö 'etwas', Ky$-kö 'irgendwie'. Dieselben Dialekte kennen die Partikel -HO, die etwa der russischen Partikel me entspricht, zum Beispiel ni0Ü-H0 'was denn', K T O Ü - H O 'wer denn'. Auch diese Partikel stammt aus dem Komi-Syrjänischen, vgl. komi-syr. myj-nö 'was denn", a ky$-nö 'na klar'. Erheblichen äußeren Einflüssen ist die Syntax ausgesetzt. Die alten finnischugrischen Sprachen glichen syntaktisch stark den Turksprachen. Sie befolgten streng die für die agglutinierenden Sprachen typische Wortstellung bei der Attribuierung, setzten das Verb gewöhnlich an das Satzende, hatten nur schwach entwickelte Nebensätze, dafür aber Partizipkonstruktionen und absolute Wendungen mit Adverbialpartizipien; schwach entwickelt waren auch die hypotaktischen Konjunktionen usw. Das bestätigen einige Relikterscheinungen im Finnischen, Komi-Syrjänischen, Udmurtischen, Mordwinischen und Marijischen. Eine turksprachliche Syntax haben diejenigen finnisch-ugrischen Sprachen, die nicht so sehr dem Einfluß indoeuropäischer Sprachen ausgesetzt waren, so zum Beispiel die obugrischen. Demgegenüber nahm die Syntax des Ungarischen, Finnischen, Estnischen, Lappischen, Mordwinischen und KomiSyrjänischen unter dem Einfluß verschiedener indoeuropäischer Sprachen typische Merkmale indoeuropäischer Syntax an: freie Wortfolge, durch Konjunktionen und Relativpronomina eingeleitete Nebensätze. Die Syntax des Marathi hat einen gegenüber den anderen indoarischen Sprachen (gemeint sind die großen Schriftsprachen, denn nur ihre Syntax ist einigermaßen erforscht) viel schwächer ausgeprägten indoeuropäischen Charakter. So verwendet das Marathi relativ selten die klassischen indoeuropäischen Satzgefüge mit Relativwörtern: es überwiegen Sätze mit konjunktioneller Anknüpfung und besondere Wendungen mit unpersönlichen Verbformen an Stelle der abhängigen Sätze (die Verwendung von Partizipien zur 192
Verbindung von Sätzen, von denen der eine als nominales Glied des anderengebildet wird, ist speziell für die drawidischen Sprachen typisch) [220, 8]. In den kaukasischen Sprachen ist die ergativische Satzkonstruktion verbreitet. Sie dürfte kaum in allen Sprachen, in denen sie vorkommt, völlig selbständig entstanden sein. Offenbar stammt sie teilweise aus Substratsprachen. Die linguistische Fachliteratur nennt Fälle, daß Satzanknüpfungsmittel, parataktische und hypotaktische Konjunktionen, entlehnt wurden. So verwenden zum Beispiel die mordwinischen Sprachen zahlreiche aus dem Bussischen entlehnte Konjunktionen. Die iranischen, Türk- und indischen Sprachen haben Konjunktionen aus dem Arabischen entlehnt. Für jegliche Art anderssprachlichen Einflusses ist der Wortschatz am empfänglichsten. Wortentlehnungen stellt man in den verschiedensten Sprachen fest. Der Wortschatz jeder Sprache reagiert auf alle Veränderunger im Leben des betreffenden Volkes, auf alle Besonderheiten seines Alltags, seiner Wirtschaft, seiner Geschichte, seiner sozialen Schichtung usw. Der Wortschatz einer Sprache bietet reichliches Material Historikern und Ethnographen. So helfen zum Beispiel Benennungen von Pflanzen, Fischen oder anderen Tieren mit einem bestimmten Verbreitungsgebiet zu bestimmen, wo das betreffende Volk ursprünglich gesiedelt hatte. Die Tatsache, daß kein einziger tatarischer Dialekt eine eigene Pilzbezeichnung hat, deutet auf die südliche Herkunft der Kasantataren. Die litauischen Wörter in den mordwinischen Sprachen besagen, daß die Siedlungsgrenze der Litauer früher einmal weiter östlich verlief. Der Mangel eigener Rentierbezeichnungen in der Sprache der Komi bestätigt die Annahme, daß die Komi die Rentierhaltung von den Nenzen übernommen haben. Fremde Wörter werden aber nicht nur unmittelbar entlehnt. Anderssprachlicher Einfluß kann auch dazu beitragen, daß sich die Bedeutungsskala ursprünglicher Wörter erweitert. So nahm das Karelische durch langwährenden Sprachkontakt verschiedene Besonderheiten an, die die anderen nahverwandten Sprachen nicht haben. Zum Beispiel hat das karelische Verb astua, das dem finnischen astua 'gehen' entspricht, einen weiteren Bedeutungsumfang. In seinem Gebrauch widerspiegelt sich unmittelbar die Vieldeutigkeit des russischen Verbs HHTH 'gehen', zum Beispiel maniilcka maijon keaStuw — a e M J i H H i i Ka c MOJIOKOM HFLET 'die Walderdbeere zieht Saft', Sluakotti astuw — MOKpiift C H e r HÄÖT 'es schneit nasse Schneeflocken' [196,190]. Das finnische Wort selvä mit der wörtlichen Bedeutung 'klar' hat die Nebenbedeutung 'fertig', die eindeutig auf skandinavischen Einfluß zurückgeht, denn auch im Schwedischen und Norwegischen hat das Wort klar die Nebenbedeutung 'fertig'. Ein Fremdwort kann die Semantik eines einheimischen synonymen Wortes erheblich beeinflussen. So änderte sich zum Beispiel nach der Entlehnung des russischen Wortes rpnß als griba 'Pilz, Pilze' in der Sprache der Karelen im Gebiet Kalinin nicht nur die Semantik dieses Wortes, sondern auch von ursprünglichem sieni. Dieses bedeutete im Karelischen einst 'Pilze überhaupt', vgl. finn. sienia 'Pilze'; so begann griba den 'Pilz zum Trocknen für den Winter' und sieni den 'Pilz zum Einsalzen' zu bezeichnen [297, 67]. 193
Bestehen zwischen Sprachen bestimmte Kontakte, so kommt es vor, daß idiomatische Wendungen nach den gleichen Modellen und Formen gebildet werden. Im Persischen, Türkischen, Armenischen und Georgischen antwortet man zum Beispiel in gleicher Weise auf die Frage, wie es einem geht, nämlich, wenn es einem tatsächlich gut geht, mit 'ich bin gut'; vgl. pers. xub-äm. arm. lav em, türk. eyi-im, georg. k'argad var. In einigen Ländern Mitteleuropas dankt man entsprechend der deutschen Formel Danke schön; vgl. ungar. köszönöm szepen, tschech. dekuji pekne, serbokroat. hvala lijepo usw. Nirgends ist der Wortgebrauch so deutlich durch äußere Faktoren bedingt wie in den verschiedenen Sprachstilen. Die Stilistik muß die feinsten semantischen Unterschiede zwischen den verschiedenen Genres und gesellschaftlich bedingten Arten der gesprochenen und geschriebenen Rede erfassen. Die Entwicklung der Stile hängt aufs engste mit dem Wechsel der Verkehrsformen, mit der Gesellschaftsgeschichte zusammen. Jeder Stil kennzeichnet ein bestimmtes soziales Milieu, widerspiegelt die darin gültige Norm und Ästhetik der Rede, dient in den literarischen Werken der sozialen Kennzeichnung der Gestalten. Die Geschichte der Stile der schöngeistigen Literatur hängt sehr eng mit der Geschichte der entsprechenden Schriftsprache und mit ihren verschiedenartigen, historisch sich ändernden Stilvariationen zusammen. Ein Gebiet der Sprachwissenschaft wie die Untersuchung der Geschichte der Literatursprachen (vgl. Kapitel 8 „Die Literatursprache") darf nicht vom kulturgeschichtlichen Kontext abstrahieren. Nur wenn man die Tatsachen der Geschichte berücksichtigt, ist man in der Lage zu begreifen, zu welchem Zeitpunkt und warum die betreffende Literatursprache entstanden ist, welche sozialen Kräfte, gesellschaftlichen Ansichten, Schulen und Richtungen ihre Entwicklung förderten bzw. hemmten, welche Schriftsteller auf sie Einfluß nahmen. Wie eine Sprache ihre gesellschaftlichen Funktionen erweitert und wie rasch sie sich entwickelt, hängt immer nur von verschiedenen äußeren Ursachen ab. Verschiedenen außersprachlichen Einflüssen unterliegen besonders die auf Nachbarterritorien lokalisierten Dialekte. A n den Grenzen zwischen Dialektzonen entstehen Mischdialekte. So erstreckt sich zum Beispiel zwischen dem Nordgroßrussischen und dem Südgroßrussischen das Gebiet der mittelgroßrussischen Mundarten mit Besonderheiten, die sie bald mit den nördlichen, bald mit den südlichen Dialekten teilen. Eine ähnliche Übergangszone gibt es zwischen den beiden Hauptdialekten des Tschuwaschischen. Solche Erscheinungen gibt es eigentlich in jeder Sprache. Die Ausbildung von Dialekten in einer Sprache hängt weitgehend von äußeren Ursachen ab — davon, ob Bevölkerungsteile wandern, einzelne Bevölkerungsgruppen isoliert werden, der Staat gespalten oder vergrößert, die betreffende Sprache von einer anderssprachigen Bevölkerung angenommen wird. Die heutigen Mundarten sagen dem Historiker oft, welche Bevölkerungsgruppen es in der Vergangenheit gegeben hat, wo sie siedelten, wie die Kolonisierungsbewegungen waren, welche Beziehungen die verschiedenen Teile des Volkes zueinander und zu Nachbarvölkern in verschiedenen historischen 194
Epochen unterhielten. Die territoriale Verteilung der Dialektunterschiede ist gleichsam die Spur des vom Volke zurückgelegten historischen Weges. Man kann die heutige dialektale Mannigfaltigkeit einer Sprache, die territoriale Verteilung der Dialektunterschiede nicht ohne Berücksichtigung der historischen Tatsachen erfassen. Deshalb müssen historische Dialektologie und Sprachgeschichte ausgiebig diachronische Daten verarbeiten. Die Besonderheiten der verschiedenen Sprachen und Dialekte lassen sich oft nur an Hand historischer Daten erklären. So weist zum Beispiel die krimtatarische Literatursprache eine interessante Besonderheit auf: ihre grammatische Struktur enthält deutliche Züge des sogenannten Kyptschaktyps, während der Wortschatz viel mit dem Wortschatz der Turksprachen des südlichen oder oghusischen Typs, mit dem Aserbaidshanischen, Gagausischen und AnatolischTürkischen, gemein hat. Diese Besonderheiten widerspiegeln zweifellos die komplizierte Geschichte der Besiedlung der Krim durch verschiedene Turkstämme. Nach dem 10. Jahrhundert wurde sie fast ganz von Kyptschakstämmen besiedelt, wovon alte Ortsnamen zeugen; der Küstenstreifen dagegen hatte eine gemischte Bevölkerung (Byzantiner, Genuesen, Armenier u. a.), wovon ebenfalls Ortsnamen zeugen, alte turksprachliche Ortsnamen dagegen fehlen unter ihnen. Im 15. und 16. Jahrhundert kamen Siedler aus der Türkei — vornehmlich aus Anatolien. Noch später zogen in die Steppengebiete der Krim die Nogaier. Diese ethnisch-linguistischen Faktoren bestimmten die Struktur der Dialektkarte der Krim und weitgehend die spätere Gestaltung der krimtatarischen Literatursprache. [411, 257] Die karelischen Dialekte des Gebiets Kalinin zeigen große Ähnlichkeit mit denjenigen im Norden der Karelischen AS SR, obwohl die Träger beider Dialekte gegenwärtig voneinander beträchtlich entfernt sind. Das erklärt sich dadurch, daß nach dem russisch-schwedischen Krieg mit dem Friedensschluß von Stolbowo (1617) der eine Teil des karelischen Volkes vom Gebiet um den Ladogasee und die karelische Landenge in die heutigen Gebiete Nowgorod und Kalinin (teilweise auch Jaroslawl und Tambow) übersiedelte und der andere Teil nach Norden und Nordosten — in die mittleren und nördlichen Rayons der Karelischen ASSR - zog. [297, 3] Völlig falsch wäre jedoch die Schlußfolgerung, daß sich eine Sprache in erster Linie dadurch wandelt, daß sie dem Einfluß anderer Sprachen, Migrationen, Umsiedlungen, Besonderheiten des historischen Lebens des betreffenden Volkes usw. ausgesetzt ist. Der stärkste äußere Faktor, der sprachliche Veränderungen auslöst, ist vielmehr der Fortschritt der menschlichen Gesellschaft. Dieser äußert sich in der Entfaltung ihrer geistigen und materiellen Kultur, in der Entwicklung der Produktivkräfte, der Wissenschaft, der Technik, was zur Folge hat, daß die Formen des menschlichen Lebens und damit auch der Sprache komplizierter werden.
Die inneren Ursachen sprachlicher
Veränderungen
Sprachliche Veränderungen können auch auf sogenannten inneren Faktoren beruhen. Damit die Sprache ihre kommunikative Funktion ausüben kann, muß ein ständig wirkender Mechanismus vorhanden sein — die Wörter und die Mittel ihrer Verknüpfung zur Bildung sinnvoller Äußerungen, ohne die keinerlei Kommunikation möglich ist. Viele Linguisten, die sich Soziologen und Marxisten nannten, wollten aus irgendeinem Grunde nicht anerkennen, daß allein schon das Funktionieren des Sprachmechanismus sprachliche Veränderungen auslösen kann, ohne daß die Impulse dazu von der Geschichte des Volkes abhängig wären. Der Hauptunterschied zwischen den inneren und den äußeren Ursachen sprachlicher Veränderungen besteht darin, daß die inneren Ursachen keinerlei zeitliche Begrenzung haben, während jeder äußere Impuls, vielmehr seine Wirkung, durch eine bestimmte historische Epoche begrenzt ist. Die inneren Ursachen sind also wahrlich panchronisch, sie haben in sämtlichen bisherigen, auch in den heute bereits verschwundenen Sprachen gewirkt, wirken in den Sprachen der Gegenwart und werden in den Sprachen der Zukunft wirken. Der Charakter der inneren Ursachen sprachlicher Veränderungen gibt das Thema für eine Spezialmonographie ab; im vorliegenden Abschnitt lassen sich nur die wichtigsten Typen kennzeichnen. Die Anpassung des Sprachmechanismus a n die physiologischen Besonderheiten des menschlichen Organismus Wie die Biologie festgestellt hat, sind den rein biologischen Möglichkeiten des menschlichen Organismus bestimmte physiologische Grenzen gesetzt. Werden sie überschritten, so ist die Lebenstätigkeit des menschlichen Organismus gestört. Bekanntlich läßt sich das menschliche Gedächtnis nicht unbegrenzt belasten, kann der menschliche Organismus nicht ununterbrochen arbeiten. Überbelastungen führen unweigerlich dazu, daß die Spuren gewonnener Eindrücke verschwinden, die Vergeßlichkeit zunimmt, Ermüdungserscheinungen auftreten, die die weitere Arbeit des Organismus erschweren. Der menschliche Organismus ist gegenüber der Struktur des Sprachmechanismus keineswegs indifferent. E r möchte auf sämtliche im Sprachmechanismus entstehenden Erscheinungen, die bestimmten physiologischen Besonderheiten des Organismus nicht genügen, in bestimmter Weise reagieren. So wirkt ständig eine Tendenz zur Angleichung des Sprachmechanismus an die Besonderheiten des menschlichen Organismus; diese äußert sich praktisch in Tendenzen spezielleren Charakters. 1. Die Tendenz zur Erleichterung der Ausspräche Daß in den Sprachen eine Tendenz besteht, die Aussprache zu erleichtern, wurde mehrfach festgestellt. Manche Skeptiker jedoch messen ihr keine besondere Bedeutung bei und motivieren ihre Skepsis damit, daß die eigentlichen 196
Kriterien leichterer bzw. schwierigerer Aussprache allzu subjektiv seien, da sie gewöhnlich durch das Prisma einer bestimmten Sprache gesehen werden. Was auf Grund des „phonologischen Siebes" für den einen Sprachträger schwer aussprechbar ist, braucht dem Träger einer anderen Sprache keinerlei Schwierigkeiten zu bereiten. Viel hängt von den Aussprachegewohnheiten der betreffenden Sprachträger, von ihrer Artikulationsbasis, den Besonderheiten und Typen der Phoneme und der Silbenstruktur, den für die betreffende Sprache typischen Lautverbindungen, dem Charakter der Betonung, der Satzmelodie und anderen Faktoren ab. So bereitet zum Beispiel die Aussprache des russischen Wortes cTpoft einem Finnen oder gar einem Chinesen erhebliche Schwierigkeiten. Ein Chinese möchte russisches r zum Beispiel in rntpa als l aussprechen. Das für einen Finnen normale Wort hyödyttömyys 'Nutzlosigkeit' ist für einen Russen wegen der unrussischen Verbindung von Vokalen der vorderen Reihe in einem Wort, der besonderen Vokale ö, ü und des Diphthongs üö schwierig. Nicht minder schwierig ist es für einen Russen, das georgische Verb q'iq'ini 'quaken' auszusprechen — wegen der kontrastreichen Verknüpfung des postpartalen epiglottalen q' mit einem i, und das gleich zweimal hintereinander. Die Zahl solcher Beispiele ist groß. Alle diese Argumente sind natürlich zu berücksichtigen, beweisen aber keineswegs, daß es in den verschiedenen Sprachen der Welt nicht eine Tendenz zur Erleichterung der Aussprache gibt. Wie auch die Geschichte der Lautstruktur verschiedener Sprachen überzeugend genug beweist, gibt es in sämtlichen Sprachen relativ schwierig aussprechbare Laute und Lautverbindungen, die jede Sprache möglichst loswerden oder in leichter aussprechbare Laute und Lautverbindungen verwandeln möchte. So wurde zum Beispiel mit hinreichender Wahrscheinlichkeit festgestellt, daß es in der indoeuropäischen Ursprache die Reihe der sogenannten labiovelaren Konsonanten qw, qwh, gw, gwh mit einer offenbar recht schwierigen Artikulation gab. Interessanterweise hat sich kein einziger von ihnen bis in die modernen indoeuropäischen Sprachen erhalten. (In den sogenannten DardenSprachen sind sie sekundärer Natur.) Sie wurden entweder zu den normalen nichtlabialisierten k und g oder zu den labialen Verschlußlauten. Vermutlich war die komplizierte Artikulation dieser Laute ein negativer Faktor, suchten die verschiedenen indoeuropäischen Sprachen im Laufe der Geschichte diese Artikulation auf verschiedene Weise zu überwinden. Auch die sogenannten silbischen Nasale und Liquiden r, rp,, .„«, die es in der indoeuropäischen Ursprache gab, waren recht labil. Vor bzw. nach ihnen verstärkten sich verschiedentlich die sogenannten Gleitlaute, so daß Verbindungen aus Vokal und Sonor entstanden, vgl. zum Beispiel die Reflexe des indoeuropäischen *w\qos 'Wolf' in den alten und den modernen indoeuropäischen Sprachen: got. wulfs, latein. (aus osk.-umbr.) lupus, griech. Xvxog, russ. BOJIK USW. Verbindungen eines nasalen und eines einfachen Vokals wie ä -f- o, e usw. lassen sich nur schwer aussprechen, weswegen sie in keiner einzigen Sprache anzutreffen sind, in denen es Nasalvokale gibt. Im Indoeuropäischen gab es für die Ziffer 8 das Wort *oktö(u). Die Konsonantengruppe kt kann kaum als leicht artikulierbar gelten, denn die Verbindung von zwei stimmlosen Verschlußlauten erzeugt eine übermäßige 197
Spannung (excessive tension). Die indoeuropäischen Sprachen suchten die Ausprache dieser Gruppe in dem W o r t f ü r 8 auf verschiedene Weise zu erleichtern; im Umbrischen wurde k zur Spirans h, ygl. umbr. uht, im Deutschen ebenfalls zu einer Spirans, aber von anderer Qualität, zu x, vgl. d t . acht; dieselbe Erscheinung finden wir in der neugriechischen Demotike, vgl. griech. o%ro; im Spanischen wurde sie zur Affrikaten ö (orthographisch ch), vgl. span. ocho; im Italienischen und Schwedischen wurde das k an das t assimiliert, vgl. ital. otto und schwed. Atta. Betonung und Länge hängen miteinander zusammen. J e d e r betonte Vokal ist etwas länger als ein unbetonter. Die starke exspiratorische Betonung eines langen Vokals erschwert etwas die Aussprache, denn sie erfordert eine stärkere artikulatorische Anstrengung. Verschiedene Sprachen diphthongierten deshalb die langen Vokale. Die Betonung wird auf eine Komponente des Diphthongs verlagert, der dadurch seine Länge verliert. So geschah es zum Beispiel in der Geschichte des Finnischen. Die langen Vokale 5, ö, und e wurden zu Diphthongen, Sömi 'Finnland' zum Beispiel ergab Suomi, jön 'ich trinke' — juon, 5 ' N a c h t ' — yd, son 'ich esse' — syön, mes 'Mann' — mies. I m Vulgärlateinischen wurden E n d e des 5. J a h r h u n d e r t s die betonten Vokale in offener Silbe unabhängig von ihrer Qualität gelängt, zum Beispiel fede 'Glaube' zu fede; pede ' F u ß ' zu pede. Später verwandelten sich diese betonten langen Vokale in Diphthonge, so zum Beispiel pede in pied, fede in fied usw. Ähnlich wurden auch die langen Vokale im Englischen zwischen dem 14. und 16. J a h r h u n d e r t diphthongiert. So wurde zum Beispiel time 'Zeit' über (¿im, teim zu taim und hüs ' H a u s ' über hous zu haus. Die stimmlosen Verschlußlaute in intervokalischer Stellung (in Verbindungen wie aka, ata, apa usw.) lassen sich schwerer aussprechen als ihre stimmhaften Entsprechungen in der gleichen Stellung. Daher findet man in der Geschichte der verschiedensten Sprachen die Tendenz, die stimmlosen Verschlußlaute in intervokalischer Stellung durch die entsprechenden s t i m m h a f t e n Verschlußlaute oder Spiranten zu ersetzen. Man k a n n von vornherein sagen, d a ß der sogenannte H i a t u s die Aussprache der betreffenden Wörter erschwert, was von den Trägern der verschiedensten Sprachen gleichermaßen empfunden wird. E s ist daher nicht verwunderlich, daß Sprachen mit ganz verschiedenem phonetischem Bau den H i a t u s zu beseitigen suchen. Die Behauptung, daß sämtliche Sprachen der Welt die Tendenz haben, die Aussprache zu erleichtern, ist also ihrem Wesen nach keineswegs subjektiv. Außer den Versuchen, die Aussprache den Besonderheiten des Lautsystems der jeweiligen Sprache anzupassen, gibt es zweifellos das Bestreben, Stellungen zu beseitigen, die den Trägern der verschiedensten Sprachen artikulatorische Schwierigkeiten bereiten. Somit besteht das Hauptziel der Tendenz zur E r leichterung der Aussprache in dem Bestreben, den Artikulationsaufwand möglichst gering zu halten. Die Tendenz zur Verringerung des Artikulationsa u f w a n d s ist ein Bestandteil der umfassenderen Tendenz zur Sparsamkeit, von deren Wesen noch die Rede sein soll. Konkrete Erscheinungsformen dieser Tendenz sind die A s s i m i l a t i o n , zum Beispiel latein. summus 'höchster' a u s 198
supmos, itsA.fatto 'gemacht' aus factum, finn. maassa 'auf der Seite' aus maasna, der ä u ß e r e und der i n n e r e S a n d h i , zum Beispiel altind. putra$-ba 'und der Sohn' aus putras 6a, marij. jolgorno 'Pfad' aus jolkorno, der U m l a u t bzw. die B r e c h u n g , vgl. dt. Kräfte aus krafti, die V o k a l h a r m o n i e , vgl. tatar. urmanlarda 'in den Wäldern', aber küllärdä 'in den Seen'. Von gleicher Art wie die Assimilation sind überhaupt sämtliche Veränderungen von Konsonanten und Vokalen unter dem Einfluß benachbarter Konsonanten und Vokale oder Konsonantengruppen, so zum Beispiel die in verschiedenen Sprachen verbreitete Palatalisierung von Konsonanten vor Vokalen der vorderen Reihe, die Veränderung ihrer Qualität in diesen Stellungen, zum Beispiel von k und g vor c und i; vgl. lit. keturi 'vier', aber russ. leTupe, altind. iatvarah, arm. iors, griech. rerrageg, latein. caelum 'Himmel' [kelum], span. cielo [0-ielo], ital. cielo [cielo], rum. cer [cer], türk. iki 'zwei', aserbaidsh. dial. iti 'zwei'. Alle Assimilationsfälle sind konkrete Erscheinungsformen artikulatorischer Attraktion. Das Bestreben nach Einsparung von Artikulationsaufwand führt zu zwei homogenen Bildungen in Nachbarpositionen. Außer den beschriebenen Erscheinungen gibt es phonetische Veränderungen, die an sich nicht das Ergebnis einer artikulatorischen Attraktion sind, aber ebenfalls der Tendenz zur Verringerung von Artikulationsaufwand unterliegen, denn sie sollen Aussprachebarrieren überwinden. Hierzu gehören verschiedene Arten der E p e n t h e s e oder des Vokal- bzw. Konsonanteneinschubs (vgl. latein. poculum 'Becher' aus poclom; serbokroat. fakat bei russischem $aKT 'Tatsache'; russ. ocTpoB bei lit. srove 'Strom', 'Strömung'; franz. humble 'demütig, bescheiden' bei latein. humilis) und der V e r e i n f a c h u n g von K o n s o n a n t e n g r u p p e n (zum Beispiel dt. Nest bei russ. m e s ^ O 'Nest', russ. MHJIO 'Seife', aber poln. mydlo 'Seife', latein. luna aus älterem louksna usw.). Eine interessante Art der Verringerung von Ausspracheaufwand ist die Beseitigung einer Konzentration von Artikulationsanstrengungen, so zum Beispiel beim Zusammentreffen zweier langer Vokale (vgl. griech. ßaadeatv 'der Kaiser' [Gen. des Plurals] aus basileön), eines langen Vokals und zweier Konsonanten (vgl. latein. ventus 'Wind' aus ventos), eines langen und eines kurzen Vokals (vgl. finn. soiden 'Sumpf' aus söiden). Eine Ballung von Artikulationsanstrengungen entsteht, wenn ein langer Vokal exspiratorisch betont werden soll. Wie eine Überlänge beseitigt wird, zeigt zum Beispiel die Diphthongierung betonter langer Vokale in der Geschichte des Finnischen, vgl. finn. suo 'Sumpf' (aus sö, vgl. heutiges estn. soo), finn. työ 'Arbeit' (aus töö, vgl. heutiges estn. iöö). Eine analoge Erscheinung gab es in der Geschichte der französischen Sprache, vgl. Vulgärlatein, fede 'Glaube' mit altfranz./ied! usw. Durch das Streben nach möglichst geringem Artikulationsaufwand erklärt sich auch die in verschiedenen Sprachen stark verbreitete Reduktion unbetonter Vokale, vgl. russ. BOJiHa [vAlnä] 'Welle', ßeper [b6rak] 'Ufer', norweg. like [li:ka] 'lieben', synge [süija] 'singen', dt. singen [siqan], ich habe [¡9 haba] usw. Ein reduzierter Vokal in unbetonter Silbe kann völlig schwinden. Dadurch erklärt sich zum Beispiel der Schwund der alten Endvokale in mehreren finnisch199
ugrischen Sprachen, vgl. komi-syr. sön 'Ader', ersja-mordw. san, marij. myH, fiijn. suoni, komi-syr. lym 'Schnee', marij. lum, finn. lumi usw.; vgl. auch die griechischen Formen des Genitivs des Singulars wie nargög, /irjTQÖg, &vyaTQÖg, ävÖQÖg von n 'wollen, wünchen' zurückgeht. All diese uiid ihnen ähnliche Erscheinungen haben zwei Ursachen: 1. die Einbußeeiner ursprünglichen Wortbedeutung und 2. das allgemeine Streben verschiedener Sprachen nach möglichst kurzen Suffixformen. Ganz offensichtlich hängt dieses Streben aufs engste mit der Tendenz zurVerkürzung derWortlängenzusammen. B ü ß t eine Wortgruppe ihre ursprüngliche Bedeutung ein, so k o m m t es ebenfalls vor, daß sie verkürzt wird. So ergab zum Beispiel lateinisches quo modo 'auf welche Weise' im Rumänischen cum, im Französischen comme, im Provenzalischen com, im Spanischen und Portugiesischen corno mit der Bedeutung 'wie'. [674, 82] Der deutsche Ausdruck in Kraft wurde zu kraft, an Statt zu statt verkürzt. Vulgärlateinisches in caza 'in das Haus' ergab im Französischenchez 'nach'. [674, 96] Die semantische Schwächung des Wortes aecHTb in den russischen Zahlwörtern von o^HHaflijaTb '11' bis «eBHTHafli;aTL '19' verkürzte jjecHTi. 'nach'. jmaTb, zum Beispiel oflHH-Ha-flaaTb, HBe-Ha-OTaTb usw. D a s Lautbild häufig gebrauchter Wörter ändert sich, wenn sich deren ursprüngliche Bedeutung ändert. Ein deutliches Beispiel d a f ü r ist der nicht lautgesetzliche Abfall des auslautenden r in dem russischen W o r t cnacHÖo 'danke', das auf die Wortverbindung cnacn 6or 'behüte (dich) Gott' zurückgeht. Der häufige Gebrauch dieses Wortes und der damit verbundene Bedeut ungswandel f ü h r t e n 207
zur Zerstörung des ursprünglichen Lautbild,es. Aus dem gleichen Grunde wurde der spanische Ausdruck Vuestra merced 'Ihro Gnaden' zu Uated 'Sie' verkürzt. 8. Die Tendenz zur Vereinfachung der morphologischen Struktur der Sprachen Die Sprachen zeigen ein gewisses Streben nach möglichst einfacher Art der Morphemverbindung. Interessanterweise überwiegen unter den Sprachen der Welt diejenigen agglutinierenden Typs, sind Sprachen mit innerer Flexion relativ selten. Diese Tatsache hat bestimmte Ursachen. In den agglutinierenden Sprachen sind die Morpheme in der Regel markiert, ihre Grenzen im Wort bestimmt. Deshalb entsteht innerhalb des Wortes ein präziser Kontext, bleiben die Morpheme auch in ganz langen Wörtern einwandfrei identifiziert [326, 24]. Auf diesen Vorteil agglutinierender Sprachen verwies seinerzeit Baudouin de Courtenay: „Diejenigen Sprachen, in denen die ganze Aufmerksamkeit hinsichtlich der morphologischen Exponenten auf die nach dem Hauptmorphem (der Wurzel) stehenden Affixe konzentriert wird (die uralisch-altaischen, die finnisch-ugrischen usw.), sind nüchterner und erfordern viel weniger psychischer Energie als diejenigen Sprachen, in denen die morphologischen Exponenten Zusätze am Wortanfang und am Wortende sowie psychophonetische Alternationen innerhalb des Wortes sind." [54,185]
Die Notwendigkeit zur Verbesserung des Sprachmechanismus Der vorstehende Abschnitt behandelte die Tendenzen zur Anpassung des Sprachmechanismus an die physiologischen Besonderheiten des menschlichen Organismus. Zu den inneren Faktoren sprachlicher Veränderungen zählen aber auch bestimmte Tendenzen zur Verbesserung des Systems der mechanischen Mittel einer Sprache, zu seiner Entlastung, zu stärkerer Expressivität der sprachlichen Mittel usw. 1. Die Tendenz zur Aufgabe der Übercharakterisierung In verschiedenen Sprachen werden manche grammatische Bedeutungen oft übercharakterisiert. So ist zum Beispiel in der russischen Form a nnm-y 'ich schreibe* die Beziehung der Handlung zu der die Handlung ausführenden Person faktisch doppelt ausgedrückt — durch das Personalpronomen und die besondere Endung für die erste Person des Singulars. Bekanntlich kommen viele Sprachen ohne Personalendungen aus (so das Japanische, Chinesische, Mongolische, Mandschurische, Awarische, Lesgische, Birmanische, Indonesische u. a.). Manche Sprachen besaßen sie einst, gaben sie aber später auf, so zum Beispiel das Norwegische und das Afrikaans. .• Das Altenglische hatte keine Kategorie des Zeitbezugs (kein Perfekt) und damit auch keine besonderen Perfektformen. Diese hatte es nicht nötig, weil es ein System von Aspekten (des imperfektiven und des perfektiven) besaß. Die Formen perfektiven Aspekts wurden durch Anfügung verschiedener Präfixe an 208
die Formen des imperfektiven Aspekts gebildet. Das verbreitetste Präfix war 7fi- [15, 239]. Da das Perfekt eine abgeschlossene, vollendete Handlung bezeichnete, konnten mit diesem Präfix Perfektformen gebildet werden. Anfangs waren Formen wie ic habbe ¡ewriten von writan 'schreiben' möglich. Die Funktion des Präfixes je- war dabei völlig überflüssig, denn schon das Perfekt allein bezeichnete ja eine vollendete Handlung. Deswegen wurde es im Laufe der Zeit aufgegeben, kennt die englische Gegenwartssprache das Präfix je- in den Perfektformen nicht mehr. Eine Besonderheit der kabardinisch-tscherkessischen und der adygeischen Sprache sind die vielen Präfixe zur Bezeichnung verschiedener Nuancen von Lokalbeziehungen. Das hängt damit zusammen, daß diese Sprachen fast keine Lokative haben und deren Bedeutungen sich durch Präfixe ausdrücken lassen, vgl. zum Beispiel kabard. Ap K i a j i a M K t a i d y a m 'Er k a m in die Stadt gefahren'; O&THM&T H H C T H T y T H M H e - K l y a m 'Fatiinat fuhr ins I n s t i t u t ' ; T X H J I I H P CTIOJIMM Te-Jii>m 'Das Buch liegt auf dem Tisch'. Die Ergativformen K i a j i B M ' S t a d t ' HHCTHTYTHM 'Institut' und CTIOJIHM 'Tisch' enthalten keinerlei Lokativsuffixe. Die Turksprachen verwenden die Substantive nach Zahlwörtern im Singular, zum Beispiel.tatar. 6HUI ar 'fünf Pferde', bezeichnet doch das Zahlwort an sich schon eine Mehrzahl. I n manchen finnisch-ugrischen Sprachen negiert man eine Verbhandlung durch die Verknüpfung der Formen eines besonderen Negationsverbs mit der Wurzel des Hauptverbs, vgl. marij. OM JIYJ? 'ich lese nicht', OT JIYFL 'du liest nicht', OK JIVJI 'er liest nicht'. Der Stamm des Hauptverbs ändert sich dabei nicht, denn die Beziehung der negierten Handlung zu ihrem Subjekt ist bereits hinreichend durch die Formen des Negationsverbs ausgedrückt. 2. Die Tendenz zum Gebrauch expressiverer Formen Tatsachen aus der Geschichte verschiedener Sprachen besagen recht anschaulich, daß von mehreren Formen mit parallelen oder ähnlichen Bedeutungen die expressivsten bevorzugt werden. Das Altenglische hatte mehrere Suffixe für den Plural der Substantive: -as, -u, -a und -an. Durchsetzen konnte sich das -as-Suffix, denn es war präziser und phonetisch stabiler als die anderen Endungen. [15,151] Die gleichen Ursachen führten zur Verbreitung des Pluralsuffixes -er im Deutschen. Den Plural auf-er bildeten im Althochdeutschen nur wenige Stämme, heute dagegen die meisten Neutra, zum Beispiel Buch — Bücher, Dach — Dächer. Das geschah deshalb, weil die Formen des Nominativs und Akkusativs des Singulars der Neutra völlig mit den entsprechenden Pluralformen zusammengefallen waren, während die Neutra, die im Plural das (aus -ir entstandene) -erSuffix hatten, zum Beispiel lamb — lember 'Lamm — Lämmer', den Plural recht deutlich ausdrückten. Die Endung des Genitivs des Plurals auf -OB im Altrussischen zu Beginn seiner historischen Entwicklung hatten nur die recht wenigen M-Stämme, vgl. zum Beispiel CHHOBC 'die Söhne', C H H O B I 'der Söhne'. Diese Endung wurde immer produktiver und verdrängte vielfach die ursprüngliche Genitiv-Plural-Endung der anderen Stämme. Sie wurde allmählich auch an Wörter angefügt, die 209
sie früher nicht hatten, zum Beispiel
BOJIK
'Wolf' — BOJIKOB,
CTOJI
'Tisch —
CTOJIOB.
Die umfangreiche Gruppe der -o- bzw. -/o-Stämme hatte im Altrussischen auf Grund von Auslautgesetzen die Nullendung, so daß die Formen des Genitivs des Plurals mit den Formen des Nominativs und des Akkusativs des Singulars zusammenfielen, zum Beispiel BT.JIKI 'der Wolf', 'den W o l f ' und 'der Wölfe', was die Kommunikation beeinträchtigte. Deswegen wohl kam es dazu, daß sich in den Formen des Genitivs des Plurals die Flexionsendung der alten u- und ¿-Stämme durchsetzte, nämlich -OBT> bzw. bei weichem Stamm -eBt bzw. -eil (letztere Endung teilweise auch in ihrer schreibsprachlichen, altslawischen Variante auf expressiveres -HH [437, 118]). Die Tendenz zu stärkerer Expressivität zeigt sich am deutlichsten im Wortschatz. Sie äußert sich in dem Bestreben zur Verwendung der oft aus den verschiedenen Berufsjargons, sozial gefärbten Redestilen entlehnten anschaulichsten Wörter, der verschiedenartigen bildhaften Ausdrücke, Redewendungen, Hyperbeln usw. Die Geschichte des Wortschatzes verschiedener Sprachen bestätigt diese Tendenz. I n der heute gesprochenen russischen Sprache ist das noch zu Beginn der 20er Jahre verwendete Wort aBTOMOÖHJib durch das Wort M a n i H H a fast völlig verdrängt. Die zwecks stärkerer Expressivität vorgenommene Erhebung des Speziellen zum Allgemeinen setzte sich in der Kommunikation durch. Das alte Wort aBTOMOÖHJib wird heute nur noch in der Sprache der Technik oder des offiziellen geschäftlichen Verkehrs gebraucht. I m Vulgärlateinischen gab es viele expressive Bildungen mit Deminutivsuffixen, was auch noch im Wortschatz der romanischen Gegenwartssprachen zu erkennen ist, vgl. zum Beispiel vulgärlat. soliculum 'Sönnchen' mit franz. soleil 'Sonne', vulgärlat. taurellus 'Stierchen' mit franz. taureau 'Stier', vulgärlat. apicula 'Bienchen' mit franz. abeille 'Biene', vulgärlat. avicellus 'Vöglein' mit ital. uccello 'Vogel' und franz. oiseau 'Vogel', vulgärlat. auricula 'öhrchen' mit span. oreja, portug. orelha, provenz. aurelha und franz. oreille 'Ohr'. In den heutigen romanischen Sprachen sind diese Wörter keine Deminutiva mehr. 3. Die Tendenz zur Aufgabe der Formen, die ihre ursprüngliche Funktion eingebüßt haben Diese Tendenz veranschaulichen zum Beispiel diejenigen Fälle, in denen die Endungen des maskulinen, femininen und neutralen Genus in manchen modernen indoeuropäischen Sprachen aufgegeben worden sind. I m Iranischen, Armenischen und Englischen haben die Substantive kein Genus mehr. Die alten Genusmerkmale wurden aufgegeben, weil sie keine Funktion mehr hatten. Die uralischen Sprachen hatten das spezielle Formans -K, das vermutlich das Futurum anzeigte. Eine Kontamination der Präsens- und der Futurformen führte dazu, daß in das neue Paradigma offenbar nur einige Formen mit -K eindrangen, so daß das -K nicht mehr intakt war. Außerdem hatte die Tatsache, daß die neuen Tempusformen zwei Bedeutungen hatten, die Entsemantisierung des Formans -K ZU Folge. Als Futurmerkmal war es überhaupt überflüssig geworden. All das führte letztlich zu seiner fast völligen Aufgabe. 210
Das Altrussische hatte vier Präteritaltempora — den Aorist, das Imperfekt, das Perfekt und das Plusquamperfekt. Die beiden letzten Tempora wurden durch Verknüpfung der entsprechenden Form des sogenannten Z-Partizips mit den Präsens- bzw. Futurformen des Hilfsverbs f ü r „sein" gebildet. Später übernahm das Perfekt die Bedeutung des völlig überflüssig gewordenen Aorists und des Imperfekts. Das Perfekt war aber dadurch mehrdeutig geworden und veränderte deshalb seine Struktur. Die Formen des Hilfsverbs für „sein", die in Verbindung mit dem i-Partizip ein besonderes Merkmal des Perfekts waren, verloren jeglichen Sinn und wurden ebenfalls aufgegeben. Das in Verbindung mit der Kopula verwendete Z-Partizip wurde zur eigentlichen Verbalform des Präteritums, behielt die Genvisunterschiede bei, ohne aber Personalindizes zu erhalten. Die sogenannte vierte und fünfte Deklination im Lateinischen war bereits in der klassischen Periode eine Art Ballast. Die vierte Deklination f ü r die -uStämme ließ sich nicht immer von der zweiten trennen, während die fünfte eng mit der ersten zusammenhing. Sie wurden später aufgegeben. 4. Die Tendenz zur Aufgabe semantisch nur schwach ausgelasteter Sprachelemente Funktional nur schwach ausgelastete Elemente schwinden im Laufe der Zeit aus dem Sprachsystem. Seltene Phoneme verschmelzen im Laufe der Sprachentwicklung leicht mit den ihnen nahestehenden Phonemen [684, 193]. In den finnisch-ugrischen Sprachen waren die langen Vokale i und u selten. Deshalb fielen sie oft mit den entsprechenden kurzen bzw. weiteren Vokalen zusammen. Ein ebenso seltenes Konsonantenphonem war in den uralischen Sprachen interdentales d, das in fast allen uralischen Gegenwartssprachen fehlt. Die geringe funktionale Auslastung des y-Phonems in den slawischen Sprachen war offenbar der Hauptgrund für seine Aufgabe in 3en südslawischen Sprachen und im Tschechischen. Der Velarnasal ist in den Turksprachen phonematisch nur schwach ausgelastet und im Tschuwaschischen und Türkischen völlig verschwunden. Das sogenannte durative Präteritum der mordwinischen Sprachen wie ersjamordwin. MOJIHJIHHI. 'ich ging' oder ersjamordwin. und mokschamordwin. coKaJiHHb 'ich pflügte' wird nur selten gebraucht. I m heutigen Mokschamordwinischen kommt es fast überhaupt nicht mehr vor.
Die N o t w e n d i g k e i t , die S p r a c h e in k o m m u n i k a t i v e r Tauglichkeit zu e r h a l t e n Die Notwendigkeit, die Sprache in kommunikativer Tauglichkeit zu erhalten, hat zwei Seiten: einerseits Widerstand gegen jegliche sprachliche Veränderung und andererseits Kompensierung der aufgegebenen sprachlichen Mittel. Letztere kann als besonderer Typ historischer Veränderungen gelten. In der linguistischen Fachliteratur findet man die Sprache recht häufig als eine historisch sich verändernde Erscheinung definiert. Manche Linguisten 211
halten es sogar für methodologisch nicht akzeptabel, die Sprache rein synchronisch zu untersuchen, da sie in ununterbrochener Veränderung begriffen sei und die Ergebnisse dieser Veränderung nicht unberücksichtigt bleiben dürften. In Wirklichkeit ist es nicht nur so, daß sich die Sprache historisch verändert; sie widersetzt sich zugleich jeglicher Veränderung, strebt danach, den jeweiligen Zustand zu erhalten. Diese Tendenz ist nichts Sonderbares und Ungewöhnliches, sondern durch die Kommunikationsfunktion bedingt. W e r sich einer bestimmten Sprache bedient, möchte von seiner Umgebung verstanden werden. Jegliche plötzliche Veränderungen einer Sprache beeinträchtigt ihre kommunikative Bequemlichkeit und Tauglichkeit. Daher hat jede Sprache die Tendenz, den jeweils herrschenden Zustand so lange zu erhalten, bis irgendeine K r a f t diesen natürlichen Widerstand bricht. Widerstand leistet jedes W o r t , jede Form. Verschiedene Sprachen enthalten mancherlei „Unbequemlichkeiten" und geben diese trotzdem nicht auf. I m Prozeß des historischen Wandels einer Sprache können einzelne ihrer einen früheren Zustand charakterisierenden Elemente verloren gehen. Manche Elemente werden überhaupt nicht wieder oder erst nach recht langer Zeit erneuert. So wurden zum Beispiel die alten Formen des slawischen Duals im Russischen zu den Formen des Genitivs des Singulars (rnara 'des Schrittes', öpaTa 'des Bruders') in attributiven Verbindungen umgedeutet. Die im K o n jugationssystem mehrerer uralischer Sprachen aufgegebenen Dualformen wurden nicht wiederhergestellt, ebensowenig die in manchen indoeuropäischen Sprachen aufgegebene grammatische Kategorie des Genus. Die finnisch-ugrischen Gegenwartssprachen haben viel weniger Iterativsuffixe als ihre Ursprache. Eine Wiederherstellung der aufgegebenen Suffixe ist nicht zu beobachten. Diese Tatsachen besagen offensichtlich, daß die aufgegebenen sprachlichen Elemente für die Kommunikation nicht sonderlich notwendig waren. Demgegenüber werden andere aufgegebene sprachliche Elemente stets durch neue kompensiert. In der Geschichte verschiedener Sprachen wurden manche Lokativformen aufgegeben. A n ihre Stelle traten post- oder präpositionale Konstruktionen oder neue Kasus. Als zum Beispiel im Marijischen der einstige A b l a t i v auf -6 aufgegeben wurde, begann man die Bedeutung der Entfernung von einem Gegenstand weg durch die Konstruktion mit der Postposition gai auszudrücken, zum Beispiel ola gdi 'aus der Stadt'. Ähnlich geschah es im Lateinischen, wo der alte A b l a t i v ebenfalls verschwand und seine Funktionen an die präpositionalen Konstruktionen mit der Präposition de abtrat, zum Beispiel altlatein. populöd 'vom Volke' gegenüber späterem de populö. Die alten Turksprachen hatten den Instruktiv mit der Bedeutung des Instrumentals und des K o m i t a t i v s . N a c h seiner A u f g a b e wurden diese Bedeutungen von Spezialkonstruktionen übernommen. Das Neugriechische hat im Unterschied zum Altgriechischen keinen D a t i v mehr. Seine Funktion übernahm eine Präpositionalkonstruktion mit s (aus älterem eis), vgl. altgriech. TÖ> av&Qoma> 'dem Menschen' mit neugriech. OTOV av&Qamo. Die Turksprachen hatten einst einen besonderen Instrumental auf -yn. A n seine Stelle traten analytische Präpositionalkonstruktionen. D e n alten Genitiv 212
in mehreren indoeuropäischen Sprachen ersetzen heute andere sprachliche Mittel. Die Tatsache der Kompensierung besagt, daß die aufgegebenen Elemente für die Kommunikation notwendig waren.
Veränderungen im Sprachinnern und nicht mit dem Wirken bestimmter Tendenzen zusammenhängende Prozesse Im Sprachinnern wirken nicht nur zielgerichtete Tendenzen mit ihren verschiedenen Erscheinungsformen, sondern vollziehen sich auch Prozesse und Veränderungen ohne bestimmte Zielrichtung. Dazu gehören u. a. der Einfluß einer Wortform auf eine andere, die Kontamination von Formen und Wörtern, die Wort- und Formenumdeutung, die Verwandlung autosemantischer Wörter in Affixe, der spontane Lautwandel, die Entstehung neuer Ausdrucksarten. Solche Prozesse vollziehen sich in den Sprachen ständig, können aber kaum als Erscheinungsformen einer bestimmten zielgerichteten Tendenz gelten, denn man kann nicht sagen, daß die Sprachen ständig die Tendenz haben, autosemantische Wörter in Suffixe zu verwandeln, kontaminierte Formen oder neue Ausdrucksarten zu bilden. Diese Prozesse vollziehen sich zufällig. Auch sind sie recht zahlreich. Hier seien nur die häufigsten gekennzeichnet. 1. Der Einfluß der einen Wortform auf eine andere Wie man in verschiedenen Sprachen beobachten kann, beeinflußt die Form eines Wortes die Form eines anderen. Dem tschuwaschischen Wort pürne 'Finger' zum Beispiel entspricht in den anderen Turksprachen das Wort barmaq mit derselben Bedeutung, vgl; tatar. und baschkir. barmaq, türk. parmak 'Finger'. Tschuwaschisches pürne geht aber nicht auf ¿NM-mag zurück, denn ursprüngliches barmaq hätte im Tschuwaschischen purma ergeben müssen. Daraus folgt, daß das heutige tschuwaschische pürne unter dem Einfluß eines anderen Wortes entstanden sein muß, vielleicht eines Wortes, das einen Teil oder ein Zubehör des Fingers bezeichnet. In der Tat erinnert die tschuwaschische Bezeichnung für Fingernagel forne, der in verschiedenen Turksprachen tyrnaq entspricht, der Form nach weitgehend an-tschuwaschisches pürne. Es ist durchaus wahrscheinlich, daß die Form des Wortes ¿drne 'Fingernagel' Einfluß stuf das einst im Tschuwaschischen vorhandene Wort purma 'Finger' hatte, das zu pürna wurde. Kann doch auch das Wort cdrne nicht aus ursprünglichem tyrnaq 'Fingernagel' hergeleitet werden, das im Tschuwaschischen nur tSrna hätte ergeben können. Daher muß ein anderes Wort die Verwandlung des im Tschuwaschischen einst vorhandenen Wortes tSrna in bdrne bewirkt haben. Dieses andere Wort war das tschuwaschische Verb 6ar- 'abreißen, krallen', das mit Hilfe des besonderen Suffix -ne das Wort 6drne 'Fingernagel' ergab. Dieses beeinflußte denn auch die Bildung des Wortes pürne 'Finger' an Stelle des zu erwartenden purma. Solchen Einflüssen sind vor allem Wörter ausgesetzt, die oft in ein und demselben Kontext vorkommen, wie zum Beispiel die Numeralia. So stammt das anlautende d in russischem neBHTb 'neun' nicht aus historischem n (vgl. altind. 213
navam, heutiges pers. nav, latein. novem, got. niun 'neun'), sondern aus dem unmittelbar nachfolgenden flecHTt 'zehn' (vgl. auch dt. zwei neben zwo bei nachfolgendem drei). Der Einfluß des vorhergehenden Zahlwortes liegt dagegen vor in tschanischem Ixovro 'neun' « Ixoro bei ovro 'acht') und sommontl 'acht' im Tigrinja « sammante bei sobe'atte 'sieben'). [524] 2.
Kontamination Unter dem Einfluß zweier Wörter kann eine Form mit Merkmalen beider Wörter entstehen, vgl. zum Beispiel das in der russischen niederen Umgangssprache gebräuchliche Verb aanmaTb = aariißaTt, das den Einfluß der Formen THyTb 'biegen' und aarnöaTi. 'umbiegen' zeigt, oder dt. dial. Erdtoffel aus Kartoffel und Erdapfel, dt. Gemäldnis aus Gemälde und Bildnis [803, 161]. Auch grammatische Formen können Kontaminationen sein. So geht in den neugriechischen passivischen Aoristformen, zum Beispiel M&rjxa 'ich wurde befreit', Xv&rjxeg 'du wurdest befreit, M&rjxe 'er wurde befreit', der Bestandteil &rj auf die entsprechenden altgriechischen Aoristformen, vgl. E-naidev-fhq-v 'ich wurde erzogen', und das Element xa/xe auf die altgriechischen Perfektformen zurück, vgl. ne-naiöev-xa 'ich habe erzogen', jrenaidev-xaq 'du hast erzogen' usw. 3. Zusammenfassung von Formen verschiedener Herkunft, aber mit gleicher Bedeutung Verschiedene Sprachen fassen oft in einem Paradigma Formen von verschiedener Herkunft, aber mit gleicher Bedeutung zusammen. Dabei wird entweder von ihrer Lautgestalt abstrahiert oder jedes Element in eine selbständige Wortform verwandelt. Die beiden typischsten Fälle sind, daß die gemeinsame Bedeutung Stämme bzw. Formantien verschiedener Herkunft erhalten. Ein gutes Beispiel für den ersten Fall sind die Präsens- und Imperfektparadigmata des deutschen Verbs sein. Die mit b anlautenden Formen (bin, bist} gehen auf die indoeuropäische Wurzel *bhü zurück, vgl. russ. 6HTB, lit. btti 'sein', latein. fu-i 'ich bin gewesen', griech. im Auslaut und vor den stimmlosen Konsonanten, vgl. BO3 [vos]. Im heutigen Finnischen ist h ein Phonem, vgl. halpa 'billig' mit salpa 'Riegel'. In der uralischen Ursprache fehlte das Phonem h. Im Finnischen entstand es aus I, ,6, k (in der Verbindung kt). 216
7. Formenumdeutung Die Mittel zum Ausdruck verschiedener grammatischer Kategorien sind relativ begrenzt. Deswegen werden für neue grammatische Bedeutungen oft bereits vorhandene Formen verwendet, die umgedeutet werden. So wurde der Konjunktiv in der Geschichte des Lateinischen verschiedentlich zum Futurum umgedeutet, übernahmen die Partizipien in einer ganzen Reihe von Türk- und mongolischen Sprachen allmählich die Bedeutung von Tempora. Der finnische Partitiv ist aus einem alten Depositiv hervorgegangen. In den mordwinischen Sprachen existiert dieser Kasus auch heute noch, vgl. ersjamordwin. kudo-do 'vom Hause', vele-de 'vom Dorf'. Die Bedeutung des Suffixes dieses Kasus 'Bewegung von etwas weg' wurde zu 'Teil von etwas' umgedeutet, zum Beispiel tuota vettä 'bring etwas Wasser'. Manchmal werden Wortbildungssuffixe durch Umdeutung zu Kasussuffixen, so dient zum Beispiel im Marathi das Wortbildungssuffix -ia (aus -tya) zur Bildung des Genitivsuffixes, vgl. zum Beispiel gharä-tä 'des Hauses' (engl, of the house) und ghar-6ä 'häuslich' [562, 207]. Das Translativsuffix -KC in den mordwinischen Sprachen entstand aus dem Wortbildungssuffix -KC, das 'etwas für etwas' bezeichnete, zum Beispiel cyp-KC 'Fingerring', 'etwas für den Finger', K e f l h - K C 'Armband' 'etwas für den Arm' [67, 206]. 8. Verwandlung autosemantischer Wörter in Suffixe Die Verwandlung autosemantischer Wörter in Suffixe beobachtet man in der Geschichte der verschiedensten Sprachen. So geht zum Beispiel das Suffix der Abstrakta mit -hin im heutigen Komi-Syrjänischen in Wörtern wie pemyd-lun 'Dunkelheit', ozyr-lun 'Reichtum' usw. auf das selbständige Wort lun 'Tag' zurück. Eine Wortverbindung wie pemyd lun 'dunkler Tag' wurde zunächst zu 'etwas Dunkles, Dunkelheit' umgedeutet und dann das Suffix mechanisch auf die anderen Substantive übertragen. Bei Benennungen von Personen und Lebewesen schlechthin kann im Hindhi und Urdu das Suffix loh verwendet werden, das auf das altindische Wort loka 'Welt, Menschen' zurückgeht. Das englische Adjektivsuffix -ly, zum Beispiel in nightly 'nächtlich', entwickelte sich aus dem einst selbständigen Wort lic 'Körper, Form, Bild'. Das Komitativsuffix des Plurals -guim im Norwegisch-Lappischen, zum Beispiel oabbai-guim 'mit den Schwestern' von oabba 'Schwester', geht auf das selbständige Wort kuieme guoibme 'Kollege' zurück. Die inneren Widersprüche und ihr Charakter Würden sämtliche Tendenzen zur Verbesserung der Sprachtechnik und zur Erhaltung der Sprache im Zustand kommunikativer Tauglichkeit konsequent und regelmäßig realisiert, so hätten die verschiedenen Sprachsysteme schon längst einen Idealzustand erreicht. In Wirklichkeit setzen sich bei weitem nicht alle Tendenzen immer durch. Am sonderbarsten ist jedoch, daß die eine Tendenz die andere aufheben kann. Manche Tendenzen liegen miteinander im Widerstreit. So widerstreben zum Beispiel die verschiedenen Veränderungen spon217
tanen und kombinatorischen Charakters oft der Tendenz, gleiche Bedeutungen durch gleiche Mittel auszudrücken. Die Tendenz zur Überwindung des Hiatus kann scharfe Morphemgrenzen verwischei., vgl. griech. av&gamog 'Mensch' mit dem Genitiv äv&gcoTcov aus anthröposo: nach dem Schwund des intervokalischen -s- verschmolzen beide Vokale, so daß keine Stammgrenze mehr zu erkennen ist. Durch Wortzusammensetzung können schwer aussprechbare Lautverbindungen entstehen, vgl. finn. päämäära 'Ziel', das aus päd ' K o p f ' und määra 'Ziel' (eigentlich: 'Maß') besteht und in zwei aneinander grenzenden Silben lange Vokale enthält. Ein Formenausgleich auf Grund von Analogie, der die Bezeichnung von Formen mit gleicher Bedeutung durch gleiche Mittel begünstigt, kann zu einer Homonymie dieser Formen führen. Strukturbesonderheiten einer Sprache können das Verschwinden absterbender grammatischer Kategorien verhindern. Ein anschauliches Beispiel dafür ist die Erhaltung der Genuskategorie im Russischen. Das Genus verschiedener unbeseelter Substantive widerspiegelt längst keinen realen Inhalt mehr, aber das bestehende verzweigte System grammatischer Kongruenz nach dem Genus erschwert erheblich die völlige Aufgabe einer faktisch verschwundenen Kategorie. Da jede Tendenz ständig wirkt, bedeutet die Beseitigung der Wirkungsergebnisse der einen Tendenz durch eine andere nicht, daß sich die Lage nicht später einmal ändern könnte. So kamen zum Beispiel die Konsonanten k, g und ch in den slawischen Sprachen einst in sämtlichen Stellungen vor. Später wurden sie vor e (aus oi) zu c', z', s'. I m Altrussischen gab es neben den Nominativformen pyKa,flopora, KOHtyx Formen wie B p y i ^ , Ha Ropost, B KOJKycfc. Das Streben nach leichterer Aussprache in Gestalt des kombinatorischen Konsonantenwechsels widersprach dem Streben nach Erhaltung lautlicher Gleichförmigkeit. So wurden die Stammauslautkonsonanten durch Analogiewirkung vereinheitlicht, entstanden die heutigen Formen Ha pyite, Ha Ropore, B KOHtyxe usw.
Wechselseitige U n t e r s t ü t z u n g v o n Prozessen I n den historischen Entwicklungsprozessen einer Sprache gibt es aber nicht nur Widersprüche, sondern auch Fälle, in denen ein Prozeß einen anderen realisieren hilft. So hatte zum Beispiel im 7. Jahrhundert das Vulgärlateinische im N o minativ des Plurals der 1. Deklination neben der Form auf -ae analog zur Akkusativform die Form auf -as: Singular
Nominativ terra ->• terra Akkusativ terram —» terra Plural Nominativ terrae —» terras Akkusativ terras -* terrae [12,43] Der Analogieausgleich war hier dadurch erleichtert, daß die Akkusativform des Plurals gegenüber der Nominativform des Plurals eine markantere morphologische Struktur hatte. Fördernd wirkte wohl auch eine mögliche Umstrukturierung der Stämme. 218
Den Schwund des Dativs in der Geschichte der griechischen Sprache begünstigte nicht unerheblich die Aufhebung des Unterschieds zwischen den langen und den kurzen Vokalen und der Wegfall des auslautenden n, wodurch in beiden Kasus gleichlautende Formen entstanden.
Mögliche Veränderungen durch das Zusammenwirken äußerer und innerer
Faktoren
In der Geschichte verschiedener Sprachen kommt es häufig dadurch zu verschiedenen Veränderungen, daß äußere und innere Faktoren zusammenwirken. So ging zum Beispiel im Neugriechischen der Infinitiv verloren, den es im Altgriechischen noch gegeben hatte. Was einst mit dem Infinitiv ausgedrückt wurde, wird nun umschreibend mit Hilfe der Konjunktion va (aus altgriech. Iva 'um zu') in Verbindung mit Konjunktivformen ausgedrückt, die sich faktisch mit den normalen Präsensformen des Indikativs decken, vgl. griech. ¿&e?.co yodrpeiv 'ich will schreiben', neugriech. &e?M vd ygdKOJI 'der Weg', HKaK, das in der kasachischen Literatursprache fehlt, zum Beispiel: MeH epTere HoKHCKa öapaHsaitnHH 'Ich werde morgen nach Nukus fahren' [144, 9/10]. Eine Vergangenheit auf -awaK weist auch die diesen Dialekt umgebende karakalpakische Sprache auf. Der Subdialekt des Dorfes Sludka gehört zu dem im Letka-Lusa-Becken gesprochenen Dialekt der komi-syrjänischen Sprache. I m System der Nominalflexion gibt es mit Ausnahme des Dativsuffixes auf -JIÖ keine komi-permjakischen Züge [160, 82]. Die Pluralendungen des Verbs fallen jedoch der Form nach mit den entsprechenden Personalendungen der komi-permjakischen Dialekte zusammen [160, 84], Die Beobachtungen der Dialektologen gestatten es, ein typologisches Schema für Sprachlandschaften mit Zonen von Übergangsdialekten aufzustellen. Es zeigt sich nämlich, daß die spezifischen Dialektzüge im mittleren Teil einer Übergangszone am stärksten aufgelockert sind. Je mehr man sich dem eigentlichen Dialektmassiv nähert, um so größer wird die Zahl der Wesensmerkmale, die auf die Nähe eines bestimmten Dialekts hinweisen. So ist zum Beispiel für den tschuwaschischen Zentraldialekt am Ziwil sowohl das Okanje als auch das Ukanje typisch. Ein starkes Okanje ist in den Gegenden zu verzeichnen, die an die Gebiete der Obertschuwaschen grenzen; zur Grenze der Untertschuwaschen hin nimmt das Okanje ab, geht es in Jokanje und schließlich in U k a n j e über [217, 110]. W i e der bekannte Erforscher der Dialekte der baschkirischen Sprache Baischew feststellte, nähern sich die Laute in dem Maße, wie sie sich v o n den scheinbaren Grenzen bzw. von den Gegenden des Zusammenstoßens unterschiedlicher phonetischer Besonderheiten entfernen, allmählich einer genaueren Aussprache ihres Dialekts. Das gilt auch für die A f f i x e [29, 27]. Der albanische Dialekt von Sulove wird zu den toskischen Dialekten ge382
rechnet. Infolge der langjährigen und ständigen Kontakte dieses Gebiets mit Elbasan sind jedoch verschiedene Erscheinungen aus dem gegischen Dialekt eingedrungen; dabei sind diese Erscheinungen im Nordteil des Dialektgebiets am deutlichsten ausgeprägt und nehmen allmählich von Norden nach Süden ab, das heißt in Richtung auf das toskische Dialektgebiet [144, 226]. Im Westen und besonders im Nordwesten Baschkiriens gibt es eine bestimmte Gruppe von Dialekten, die einen gemischten Charakter, einen Übergangscharakter haben, die also einzelne Züge sowohl der baschkirischen als auch der tatarischen Sprache enthalten; dabei ist eine bestimmte Gesetzmäßigkeit in der territorialen Verbreitung dieser Züge zu beobachten: J e weiter nach Osten, um so stärker sind die Spuren des baschkirischen Einflusses, und umgekehrt, je weiter nach Westen, um so fühlbarer ist die Einwirkung der tatarischen Sprache [115, 48].
Schema einer Sprachlandschaft mit Übergangsdialekten
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in einer Zone
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Man darf jedoch nicht annehmen, daß das angeführte Schema universell ist. Es kann für diejenigen konkreten Fälle mehr oder weniger typisch sein, wo in der Zone der Übergangsdialekte keine besonderen Hindernisse bestehen, die den K o n t a k t der Dialekte erschweren. I n anderen Fällen kann das Bild ein anderes sein. Die Zone der Übergangsdialekte muß nicht unbedingt eine gleichmäßige Mischung verschiedener Dialektzüge darstellen, sondern die Züge eines der miteinander in Kontakt stehenden Dialekte können überwiegen. So gibt es in der Zone der mittelgroßrussischen Dialekte zum Beispiel nur eine geringe Zahl von Dialektzügen, die den mittelgroßrussischen Dialekten insgesamt eigen sind, wobei diese Züge im wesentlichen mit dem Sprachkomplex des nördlichen Dialekts verknüpft sind. Es ist auch nicht gelungen, lexikalische Erscheinungen festzustellen, die den Subdialekten des südlichen Di&lekts eigen sind und sich über die ganze Zone der mittelgroßrussischen Dialekte erstrecken [7, 241/2]. Die Prozesse der Dialektmischung können ferner nur erforscht werden, wenn man zugleich verschiedene Begleitumstände wie das allgemeine Ansehen der 383
Dialektsprecher, die Art ihrer Beschäftigung, die Dauer ihres Zusammenwohnens, den Grad der sprachlichen Nahe usw. entsprechend berücksichtigt. Die spezifischen Prozesse der Dialektmischung sind ipi allgemeinen nur wenig erforscht, doch sind einige Schlußfolgerungen für eine allgemeine Theorie der Herkunft der Dialekte von Interesse. In Weiterführung bestimmter Auffassungen deutscher Dialektologen (K. Haag, F. Wrede, A. Bach) hat V. M. Schirmunski die Kategorien der primären und der sekundären Dialektnierkmale aufgestellt. Zu den primären Merkmalen rechnet er die auffälligsten Abweichungen der betreffenden Mundart von der literatursprachlichen Norm bzw. der Norm des Dialekts, zu den sekundären - weniger auffällige Abweichungen. Beim Zusammentreffen der von Schirmunski untersuchten schwäbischen Mundarten mit der Norm der deutschen Literatursprache fallen alle wesentlichen Abweichungen des Dialekts von der literatursprachlichen Norm weg, während die weniger bedeutenden Abweichungen unverändert erhalten bleiben. Dasselbe ist bei der Mischung der schwäbischen Mundarten mit den fränkischen Dialekten, die auf der gemeinfränkischen Dialekt-Koine und der literatursprachlichen Norm beruhen, der Fall [172, 97/8]. Das Vokalsystem des Turk-Dialekts des Dorfes Euschta ist dort stärkeren Veränderungen ausgesetzt, wo der Unterschied im Gebrauch der Vokale zwischen den einheimischen Turk-Dialekten und der tatarischen Sprache semantische Folgen hat, das heißt, wo dieser Unterschied die Verständigung stört oder den phonetischen Zusammenfall semantisch nicht zusammenhängender Wörter im einheimischen Dialekt und in der tatarischen Sprache zur Folge hat; so bedeutet zum Beispiel euschtisch Kyji 'Hand', tatarisch Kyji dagegen 'Sklave', euschtisch Tyc 'Salz', tatarisch Tyc 'Birkenrinde', euschtisch HT 'Hund', tatarisch HT 'Fleisch' usw. [1, 5]. Merkmale hingegen, deren Zusammenfall keine semantischen Folgen hat, halten sich gewöhnlich länger. Wesentliche Bedeutung für das Schicksal sprachlicher Formen hat auch der Faktor, inwieweit sich die Sprecher selbst der Unterschiede paralleler Formen bewußt bzw. nicht bewußt sind. Wenn die Unterschiede den Sprechern nicht auffallen, können sie sich lange halten [1, 7]. Die Schlußfolgerungen von M. A. Abdrachmanow stimmen in dieser Hinsicht mit den Schlußfolgerungen V. M. Schirmunskis überein. Einige Wortarten (zum Beispiel das Pronomen) sind stabiler als andere; für die Bewahrung grammatischer Merkmale hat ihr Systemcharakter Bedeutung (die Kasusformen einer Wurzel bleiben besser erhalten als die Formen eines von verschiedenen Wurzeln gebildeten Wortes, die Laute halten sich am besten in Diphthongen und in festen Wortfügungen, für das Schicksal einer Reihe von Wörtern sind ihre innere Form und die Wortbildungseigenschaften von Bedeutung, Wörter, die in passivem Gebrauch sind, bleiben besser erhalten usw. [1, 14]). Eine stark wirkende Tendenz in einem der sich vermischenden Dialekte kann einem äußeren Einfluß erheblichen Widerstand entgegensetzen. Unter den vielen Dialekten des Wolgagebiets, die vom Ukrainischen stark beeinflußt werden, gibt es nicht einen einzigen, der die typisch ukrainische Unterscheidung der Vokale nicht oberer Zungenlage in unbetonter Stellung übernommen hätte, das heißt, 384
d e r d i e A u s s p r a c h e v o m T y p «aMoft, nanuiH, KapoBa, apaBa g e g e n die Aus-
sprache vom Typ AOMOÄ, nouiJiH, KopoBa, «poBa usw. ersetzt hätte [36, 29]. Das bedeutet, daß das Akanje in den russischen Dialekten ein stabiles Merkmal ihres phonologischen Systems bildet. Beachtung verdient auch A. P. Dulsons These von den zwei aufeinander folgenden Phasen der Dialektmischung. Das erste Stadium ist dadurch gekennzeichnet, daß in der Rede eines Individuums besondere situativ bedingte, von seinem einheimischen Dialekt abweichende phonetische, morphologische und lexikalische Varianten sowie Satzmodelle auftreten, die nur in einer bestimmten Situation gebraucht werden. Die situativ bedingten Varianten stellen formal eine Verbindung von Elementen des einheimischen Dialekts mit Elementen eines fremden Dialekts (oder der Literatursprache) dar. Vor allem werden die Besonderheiten beseitigt, die die Verständigung hemmen, das heißt die auffälligsten bzw. die sogenannten primären Merkmale. Das zweite Stadium dea Prozesses der Dialekt- bzw. Sprachmischung beginnt dann, wenn die sekundären Merkmale der Sprachsysteme für alle Teile des gemischten Kollektivs bemerkbar werden und wenn die Sprecher des zurückgehenden Dialekts es lernen, die sekundären, das heißt die weniger auffälligen Merkmale des führenden Dialekts zu reproduzieren. Zuerst werden diese Merkmale als situativ bedingte Varianten gebraucht, dann werden sie fakultativ. Bei Beseitigung der Parität der fakultativen Varianten kommt es zur Ablösung der Sprache [157,15-22]. Es gibt Fälle, die davon zeugen, daß sich lautliche Veränderungen bei der Mischung von Dialekten allmählich vollziehen und Wort für Wort erfassen. In einigen Dialekten bleiben Relikte erhalten, die nicht von der Lautveränderung betroffen werden. Im mittelfränkischen Dialekt des Deutschen, der einstmals zum Niederdeutschen gehörte, wurden die Pronomen dat 'das' und wat 'was', et 'es' und allet 'alles' nicht von der hochdeutschen Lautverschiebung erfaßt [167,156]. Der deutsche Dialektforscher Th. Frings hat daraus sogar die Schlußfolgerung gezogen, man sollte nicht von Lautverschiebung sprechen, sondern von lautverschobenen Wörtern [933, 3]. Die Ursachen für die Durchlässigkeit der Dialektsysteme Das besondere Verhalten der Dialektsysteme bei Prozessen sprachlicher Wechselwirkung hat viele Linguisten interessiert. So sieht zum Beispiel L. I. Barannikowa die eigentliche Ursache für die Durchlässigkeit der Dialektsysteme darin, daß das Dialektsystem nicht eigenständig sei. Nach ihrer Auffassung stellt das Dialektsystem eine spezielle Realisierung des allgemeinen Sprachsystems dar, wodurch sein abhängiger Charakter bedingt ist. Wenn sie von der Eigenständigkeit des Sprachsystems und der Abhängigkeit des Dialektsystems spricht, so meint sie damit nicht genetische Beziehungen, sondern die allgemeinen Entwicklungstendenzen des Systems. Als zweites charakteristisches Merkmal des Dialektsyatems im Vergleich zum allgemeinen Sprachsystem gilt seine Offenheit, das heißt das Vorhandensein gemeinsamer Glieder bei einer ganzen Reihe von Dialektsystemen. Der offene Charakter des Dialektsystems 385
zieht die dritte Besonderheit nach sich, die große Durchlässigkeit gegenüber dem Sprachsystem, die auf allen Ebenen des Dialektsystems, besonders aber im Wortschatz, zu verzeichnen ist. Die Durchlässigkeit ermöglicht es, daß in ein System Elemente eines anderen Systems eindringen, offenbar infolge der weitgehenden Gemeinsamkeit der Grammatik aller Dialekte einer Sprache [37, 175-178], Die These von der starken Abhängigkeit des Dialektsystems vom allgemeinen Sprachsystem mag anfechtbar sein, die Hauptursache für die besondere Durchlässigkeit der Dialektsysteme, nämlich ihre Nähe, ist jedoch richtig definiert. Die Nähe der Sprachsysteme der Dialekte ruft einen bestimmten psychologischen Effekt hervor. Da das Dialektsystem häufig variabler ist als das System der Literatursprache, wird jedes eindringende Element aus einem anderen Dialektsystem als phonetische bzw. grammatische Variante des eigenen Systems aufgefaßt. Die Sprecher nahe verwandter Dialekte eignen sich offensichtlich im sprachlichen Verkehr sehr leicht ähnliche sprachliche Elemente an, was letzten Endes zur Dialektmischung führt.
Die mangelnde Schärfe der Dialektgrenzen. Der Begriff der Isoglosse. Die Überschneidung der Isoglossen Als in der Sprachwissenschaft der Begriff des Dialekts aufkam, wurde er als eine geographisch abgeschlossene Spracheinheit mit ziemlich fest umrissenen Grenzen aufgefaßt. In dem Maße, wie in der Dialektforschung neue Erkenntnisse gewonnen und die Dialekte eingehender und allseitiger untersucht wurden, zeigte sich, daß es zumeist sehr schwierig ist, festumrissene Dialektgrenzen festzustellen, ja daß einzelne spezifische Besonderheiten eines Dialekts auch in anderen Dialekten vorhanden sein können. J . Kalitsunakis, der die modernen neugriechischen Dialekte beschrieb, stellte fest, daß einzelne Spracherscheinungen Dialekte verbinden, die sich sonst sehr voneinander unterscheiden, wie zum Beispiel die Dialekte von" Kleinasien und Zypern oder Rhodos [713, 188]. T. G. Baischew gesteht, daß ihm die Beschreibung der phonetischen und morphologischen Besonderheiten der Dialekte Schwierigkeiten bereitete. Es zeigte sich, daß in der baschkirischen Sprache sieben phonetische und drei morphologische Merkmale wesentlich sind; dabei fallen die Grenzen ihrer territorialen Verbreitung keineswegs zusammen, sondern eine morphologische Eigentümlichkeit umfaßt mehrere phonetische Besonderheiten, deren Grenze wiederum in das Gebiet anderer morphologischer Besonderheiten hineinragt [29, 26]. Die mordwinischen Dialekte haben keine festumrissenen Grenzen. So sind zum Beispiel die äußersten westlichen mokschamordwinischen Dialekte morphologisch vom gleichen Typ wie die südwestlichen, im Hinblick auf ihren Phonembestand hingegen stimmen sie mit den nördlichen überein. Die südöstlichen Dialekte des Mokschamordwinischen haben mit den südwestlichen 386
phonetische Besonderheiten gemein, in der Morphologie hingegen kommen sie den nördlichen Dialekten sehr nahe [473, 74/5]. Die Überschneidung gleicher Erscheinungen in verschiedenen Dialekten und die Ungleichmäßigkeit der Veränderungen auf den verschiedenen Sprachebenen ruft bei der Klassifizierung der Dialekte bestimmte Schwierigkeiten hervor. „Der Versuch, die Dialekte auf Grund der Unterschiede der verschiedenen Ebenen zu klassifizieren", bemerkt Dewajew, „kann kein positives Ergebnis zeitigen, sondern führt zumeist nur zu der Schlußfolgerung, daß eine Sprache insgesamt territorial kontinuierlich und ungegliedert ist und daß ihre Struktur verschiedene Übergangserscheinungen aufweist. Faktisch kommen keine Dialekte vor, die sowohl in der Phonetik als auch in der Grammatik parallele Unterschiede aufweisen. Die grammatischen und die phonetischen Unterschiede lokaler Sprachsysteme überschneiden sich zumeist. Wenn man sich zum Beispiel vorstellt, daß eine bestimmte Sprache vier Dialekte a, b, c, d hat, so unterscheidet sich keineswegs der Dialekt a von jedem anderen Dialekt gleichermaßen sowohl auf der Ebene der Phonetik als auch auf der Ebene der Grammatik. Im Gegenteil, der Dialekt a kann gegenüber dem Dialekt b bzw. jedem anderen Dialekt phonetische Unterschiede aufweisen, grammatisch aber voll mit ihnen übereinstimmen. Ebenso ist auch ein grammatischer Unterschied nicht unbedingt von einem phonetischen Unterschied begleitet. Daher kann eine Klassifizierung nur dann mehr oder weniger befriedigend sein, wenn sie entweder auf phonetischen (phonologischen) oder auf grammatischen Kriterien beruht" [141, 4]. Gleichartige Spracherscheinungen in verschiedenen Dialekten werden in der modernen Dialektologie als I s o g l o s s e n bezeichnet. Die Überschneidung von Isoglossen verschiedener Sprachebenen läßt sich verhältnismäßig leicht erklären. Sie ergibt sich aus der Ungleichmäßigkeit der Veränderungen, die in der Sprache vor sich gehen. Eine phonetische Veränderung muß nicht von einer Veränderung des grammatischen Baus der Sprache begleitet sein, und umgekehrt. Ebenso können Veränderungen in der Syntax unabhängig davon eintreten, was auf anderen Ebenen der Sprache vor sich geht. Die Überschneidung der Isoglossen ist nicht selten weitgehend auf Verschiebungen der Bevölkerung zurückzuführen. Die Isoglossen können zum Beispiel Wanderzüge widerspiegeln. So hat Derjagin, der die Wortgeographie in den nordrussischen Dialekten erforschte, festgestellt, daß bestimmte lexikalische Isoglossen die Dialekte des Beckens der Nördlichen Dwina und der Waga mit den Dialekten am Oberlauf der Wolga und den nordöstlichen Dialekten vereinen [143, 8]; das zeugt davon, daß an Waga und Dwina Russen vom Oberlauf der Wolga zugezogen sind. Zugleich begegnen in den westlichen Gebieten verbreitete Wörter in der Regel in Dialekten der nordwestlichen Gebiete Rußlands und in den schriftlichen Denkmälern dieser Territorien [143, 6]. Nach der Feststellung Lytkins unterscheidet sich der Petschora-Dialekt der komi-syrjänischen Sprache, der von Umsiedlern von der Syssola gesprochen wird, kaum von dem am Mittellauf der Syssola gesprochenen Dialekt [288, 298]. Die sogenannten Tonschajewo-Mari bewohnen das Becken der Pyschma, eines rechten Nebenflusses der Wjatka. Eine Besonderheit dieser Bevölkerungs387
gruppe besteht darin, daß sie territorial von der Hauptmasse des Mari-Volkes völlig isoliert ist. Selbst von den nächsten Nachbarn, den Mari in der Gegend von Jaransk und Kiknur, trennt sie eine etwa 70-80 Kilometer breite Zone mit russischer Bevölkerung. Die Sprache der Mari von Tonschajewo unterscheidet sich fast überhaupt nicht vom Jaransk-Dialekt der Mari-Sprache [204, 251]. Daher liegt die Annahme nahe, daß die Tonschajewo-Mari ein abgespaltener Zweig der Sprachgemeinschaft sind, die jetzt den Jaransk-Dialekt spricht [204, 257]. Umsiedlung der Bevölkerung und Vermischung der Dialekte der Zugewanderten mit den Dialekten der Einheimischen können ebenfalls zur Überschneidung der Isoglossen beitragen. Die Materialien über den europäischen Teil des russischen Sprachatlasses lassen nur in den Zentralgebieten des europäischen Teils der UdSSR eine klare Abgrenzung der Areale und eine eindeutige Verteilung der Isoglossen erkennen; historisch gesehen, ist das das ursprüngliche Territorium, auf dem sich bis zum 15. Jahrhundert die russischen Dialekte herausbildeten und wo die modernen Dialekte am engsten mit Dialektgebilden der vorhergehenden Periode zusammenhängen [7, 229]. In östlicher und südlicher Richtung bietet die Verteilung der Zeichen auf den dialektgeographischen Karten statt dessen ein buntes Bild, was darauf schließen läßt, daß die Verbreitung der Dialekterscheinungen nicht klar abgegrenzt ist [7, 231]. Die UnSchärfe und Buntheit bei der Verteilung der Dialekterscheinungen erklärt sich daraus, daß diese Gebiete erst relativ spät kolonisiert wurden. Die Dialekte am Unterlauf der Nördlichen Dwina und im Küstengebiet sind durch die Mischung ihrer Herkunft nach verschiedener Dialekterscheinungen gekennzeichnet. Wichtige Gradmesser der Mischung sind die zahlreichen Fälle, wo sich die Isoglossen überlagern, die die Dialekte der Dwina und des Küstengebiets sowohl mit dem Nordwesten als auch mit dem Nordosten und dem Zentrum Rußlands verbinden [143, 9/10]. Es ist anzunehmen, daß Siedler aus verschiedenen Gegenden an den Unterlauf der nördlichen Dwina und an die Küste des Weißen Meers gekommen sind, die eine Mischung der Dialekte bewirkten. Zur Ausbreitung gleichartiger Isoglossen über einen ausgedehnten Raum können die Verkehrswege beitragen. Wie Derjagin festgestellt hat, fällt auf einem ausgedehnten Teil der modernen Karten eine Linie der Wortverbreitung auf: Onega — Jeliza — Dwina (von der Mündung der Jeliza bis zur Mündung der Pinega) — Pinega (das Areal der Wörter oropo^a, KOFLOJI, KOJIOJIHTB, majira u. a.). Das ist die Richtung der Fahrstraße Petersburg — Kargopol — Cholmogory — Archangelsk, die aller Wahrscheinlichkeit nach entlang des alten Wegs verlief, der die Dwina mit den nordwestlichen Gebieten, mit Nowgorod verband [143, 7], Gemeinsame durch eine Isoglosse verbundene Erscheinungen hängen nicht immer mit der genetischen Einheit des Systeme zusammen. Mitunter gibt es im System der Dialekte einzelne gleiche Glieder bei unterschiedlicher genetischer Herkunft dieser Glieder. Während für die Dialektsysteme im Gebiet von Wologda, Tichwin und am Ladogasee die Aussprache des c entsprechend dem alten •i (peita, Mexa, 6e«a), das heißt die Bewahrung des alten Unterschiedes
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zwischen e und •i charakteristisch ist, kann für die Dialekte im Gebiet Wladimir und an der mittleren Wolga diese Aussprache sowohl Bewahr ung des Alten als auch eine nach dem Verlust des Jokanje aufgekommene N euerung bedeuten [35, 10]. Bei historischem Herangehen an die Isoglossen kann sich erweisen, daß Isoglossen, die zwei voneinander entfernte Dialekte verbinden, die Bewahrung eines archaischen Zustande widerspiegeln. So endet zum Beispiel die dritte Person Plural Präsens in dem am Oberlauf der Syssola gesp rochenen Dialekt der komi-syrjänischen Sprache auf-HHC. Diesselbe Endung h a t auch der IshmaDialekt im Petschorabecken. Die südlichen und die westlichen Dialekte der kasachischen Sprache sind durch eine Iaoglosse verbunden, die die Entsprechung des Lautes m zum Laut c der kasachischen Literatursprache ausdrückt. Diese Isoglosse spiegelt ebenfalls einen älteren Zustand wider. Eine Isoglosse kann auch gleiche, unabhängig voneinander entstandene Dialekterscheinungen verbinden: Für die belorussisch-russischen Mischdialekte ist das sogenannte Dsekanje typisch, also flaeuH statt «eTH. Dasselbe Dsekanje ist in einigen kasanischen Dialekten belegt [254, 37], In den russischen Dialekten des Hohen Nordens sowie in den Dialekten der Gebiete Semljansk und Sadonsk wird s t a t t altem -fe geschlossenes e oder der Diphtong ue gesprochen, zum Beispiel jiec oder jirfec [254, 45]. Diese gleichgearteten Erscheinungen sind offenbar völlig unabhängig voneinander entstanden. «
Die Möglichkeit der Konsolidierung und der Isolierung von Dialektmerkmalen Die Durchlässigkeit der Dialektsysteme, die Möglichkeit ihrer Vermischung, das Fehlen fester Dialektgrenzen und die Überschneidung der Dialekterscheinungen besagt noch nicht, daß es überhaupt keine Dialekte gibt. Unter bestimmten Bedingungen können Dialektunterschiede klarer hervortreten und sogar mehr oder weniger feste territoriale Grenzen haben. An Hand des Schemas einer Sprachlandschaft in einer Zone mit Übergangsdialekten konnte schon festgestellt werden, daß die Mischung verschiedener Dialektmerkmale in Richtung auf das eigentliche Dialektareal abzunehmen beginnt und daß bestimmte Dialektzüge gewissermaßen stabiler werden. Nehmen wir jetzt an, wir haben einen von anderen Dialekten territorial isolierten Dialekt, der zu den anderen Dialekten entweder nur eine sehr lose oder überhaupt keine Verbindung hat. Die Zahl solcher Dialekte ist nicht gering. Als Beispiel können der bereits erwähnte komi-syrjänische Dialekt dienen, dessen Verbreitungsgebiet von allen Seiten von einem Territorium mit russischer Bevölkerung umgeben ist, sowie viele Dialekte von Umsiedlern in Sibirien, besonders die Dialekte der Tataren, Tschuwaschen, Mordwinen usw. Wenn die Verbindung zu den verwandten Dialekten nur schwach ist oder ganz fehlt, erwirbt ein Dialekt, in dem ständig Umbildungen entstehen, im Laufe der Zeit so viele neue Merkmale, daß er die Ähnlichkeit zu den anderen Dialekten einbüßt und sich allmählich in eine selbständige Sprache verwandelt. Wenn alle 389
charakteristischen Besonderheiten dieses Dialekts auf einer Karte eingetragen werden, so zeigt sich, daß sie gehäuft und konzentriert auftreten. Ferner haben nicht alle Dialekteigentümlichkeiten die gleichen Möglichkeiten der weiteren Verbreitung. Die Verbreitung bestimmter Dialektbesonderheiten kann durch die Besonderheiten dfis Sprachsystems anderer Dialekte, durch die Normen der Literatursprache, durch unterschiedliche Lebensweise, Naturbedingungen und eine ganze Reihe anderer Faktoren behindert werden. So gibt es in einigen nordrussischen Dialekten Wörter wie sapofl 'großer Heuschober', HaBOJiOK 'durch Überschwemmung bewässerte Uferwiese', yjiaH^aTb 'heulen', ynaKH 'Filzstiefel', Ba^tH 'See mit sumpfigen Ufern', cTOJKap 'dicke Stützstange im Heuschober', noBeTb 'hinterer Teil des Hauses, unter dem der Stall untergebracht ist', BaiKaH 'madiger Pilz', nepeMH 'Harsch' usw. Man kann mit voller Gewißheit sagen, daß sich diese lexikalischen Dialekteigentümlichkeiten niemals auf die russischen Dialekte des Moskauer Gebiets verbreiten würden. Da es dort nur wenig überschwemmte Wiesen gibt und infolgedessen nicht der Brauch besteht, eine größere Menge Heu auf den Wiesen zu lassen, liegt kein Bedarf für die Einführung von Wörtern wie 3apon, CTOtftap usw. vor. Der mangelnde Reichtum an Wäldern schließt die Möglichkeit aus, große Häuser mit noBeTb zu bauen, wie das im Norden üblich ist. Wörter wie yjiaH^aTb, BaflbH, BaiKaH, nepeMH und ynaKH sind Entlehnungen aus den finno-ugrischen Sprachen. Ihnen widersetzen sich andere Wörter der russischen Sprache, zumal sie etymologisch mit keinem russischen Wort zusammenhängen. Bestimmte syntaktische Eigentümlichkeiten einiger nordrussischer Dialekte wie zum Beispiel die Ersetzung des Genitivs durch den Nominativ B Jiecy HHKaKHe rpnßti HeT oder die Auslassung von Präpositionen wie in dem Satz Yxie JKHBCT könnten sich in den mittelrussischen Dialekten ebenfalls nicht ausbreiten. Diese Erscheinungen sind unter dem Einfluß des finno-ugrischen Sprachsubstrats entstanden. In den russischen Dialekten gibt es keine Tendenz, den Anwendungsbereich des Genitivs einzuschränken bzw. die Präpositionen auszulassen. Daher werden diese Konstruktionen nicht durch das Sprachsystem gestützt. Was nun ihre Herkunft betrifft, so wurden sie ursprünglich von Nichtrussen, die die russische Sprache schlecht beherrschten, gebraucht und breiteten sich dann mechanisch in bestimmten Gegenden aus. All diese Umstände führen dazu, daß einige Dialekterscheinungen territorial begrenzt sind und in bestimmten Gegenden Isoglossenbündel bilden. Das gibt den Dialektologen die Möglichkeit, nicht nur Areale der Dialektverbreitung, sondern auch sogenannte Dialektzonen und Dialektgruppen zu unterscheiden. In den Dialekten vollziehen sich also zwei Prozesse mit unterschiedlicher Richtung. Einerseits vermischen sich die Dialekte ständig, durchdringen sich ihre Systeme gegenseitig; andererseits wirken Faktoren, die zur Absonderung von Dialekterscheinungen führen, was gewöhnlich ebenfalls mit spezifischen ethnischen Besonderheiten verknüpft ist. Strukturelle Methoden werden in der Dialektologie bisher nicht genügend angewandt. Es ist anzunehmen, daß die Einführung struktureller Methoden in die Dialektforschung es ermöglichen wird, die Besonderheiten der einzelnen 390
Dialekte eindeutiger voneinander abzugrenzen. Wir können zum Beispiel Erscheinungen, die äußerlich völlig gleichartig sind, durch eine Isoglosse verbinden. Bei strukturellem Herangehen kann sich jedoch erweisen, daß diese Erscheinungen keineswegs gleichwertig sind [906]. Das Vorhandensein gemeinsamer Glieder in verschiedenen Dialektsystemen läßt auf einen Zusammenhang zwischen diesen Systemen schließen. Zugleich ist zu berücksichtigen, daß jedes Dialektsystem auch seine Eigenart besitzt; sie kommt besonders darin zum Ausdruck, daß die gemeinsamen Glieder in verschiedenen Dialektsystemen eine unterschiedliche Stellung einnehmen können. So bilden zum Beispiel die Formen MaTep«, MaTepio, MaTepnit usw. in einem Dialekt eine Ausnahme im Deklinationssystem der weiblichen Substantive mit dem Stamm auf palatalisierten Konsonanten (im Dialekt von Kursk), im anderen sind sie zusammen mit allen anderen Substantiven dieses Typs neu auf die Deklinationsklassen verteilt worden, das heißt, der ganze Typ mit dem Stamm auf palatalisierten Konsonanten ist in die Klasse der Substantive mit a- Stamm übergetreten (in der Gruppe am Oberlauf des Dnepr). Die Aussprache des i ohne Verschluß, das heißt als in (mannta, matt), ist in manchen Dialekten von einer Veränderung des i; in c begleitet, das heißt, im phonetischen System dieser Dialekte gibt es, oder richtiger, gab es überhaupt keine Affrikaten, in anderen Dialekten steht m neben q, das heißt, die dentale Affrikata ist erhalten geblieben, während die palatale verschwunden ist usw.
Allgemeine Prinzipien der Ausgliederung spezieller Dialektmerkmale Wie bereits erwähnt, galt der Dialekt ursprünglich als abgeschlossene Spracheinheit mit fest umrissenen Grenzen. Als sich dann die Forschungen verstärkten und vertieften, wurde diese These angezweifelt. Der Beginn dieser Skepsis datiert seit Johannes Schmidt, der 1872 in seiner Arbeit „Die Verwandtschaftsverhältnisse der indogermanischen Sprachen" seine bekannte Wellentheorie darlegte. J . Schmidt, der die Stammbaumtheorie A. Schleichers scharf kritisierte, suchte zu beweisen, daß es zwischen den einzelnen indoeuropäischen Sprachen keine scharfen Grenzen gibt, daß zwei aneinander grenzende Sprachen stets einige nur ihnen eigene Züge aufweisen [841,26]. Auch der bekannte Junggrammatiker Hermann Paul behauptete, daß die verschiedenen Dialekteigentümlichkeiten ein außerordentlich kompliziertes System sich vielfältig kreuzender Linien bilden und daß eine genaue Unterteilung der Dialekte in Gruppen und Untergruppen unmöglich sei [803]. Später stellten H. Schuchardt [844 ; 846] und G. Paris die Existenz von Dialekten überhaupt in Abrede. „In Wirklichkeit gibt es keine Dialekte", erklärte Gaston Paris, „die Volksmundarten gehen in unmerklichen Abstufungen ineinander über" [802, 434]. Diese Auffassung wurde durch die Veröffentlichung des „Französischen Sprachatlasses" von G. Gilli6ron und E. Edmond noch bekräftigt. Gilli6ron schlug vor, den Begriff Dialekt überhaupt fallen zu lassen und nicht Dialekte, sondern Wörter zu erforschen. „Nach der Ansicht von Gaston Paris und Paul Meyer sowie ihres Schülers Gillieron sind alle Dialektgrenzen gleichwertig und stellen ein Netz 391
chaotisch sich überschneidender Linien dar; diese grenzen einzelne lautliche und grammatische Erscheinungen — in verschiedenen Wörtern unterschiedlich vertreten — und ebenso buntscheckig in ihrer Verbreitung miteinander konkurrierende lexikalische Synonyma gegeneinander ab" [838, 132]. Schirmunski stellte fest: „Das in den modernen Sprachatlanten übliche richtige methodische Verfahren der Kartendarstellung verwandelte sich, besonders bei den Vertretern der französischen Sprachgeographie, in eine fehlerhafte wissenschaftliche Theorie, die zur Atomisierung der auf den Sprachkarten sich widerspiegelnden mundartlichen Erscheinungen, zur Auflösung der Einheit der Sprachlandschaft in ein Chaos sich kreuzender Grenzen einzelner Wörter führte" [838, 131]. Für die Überwindung diessr methodischen Fehler hatte die Entdeckung der sogenannten Isoglossenbündel besondere Bedeutung. Bereits H. Fischer, der Verfassereines kleinen Sprachatlasses der schwäbischen Mundarten, mußte trotz seiner im Grunde nihilistischen Einstellung in der Frage der Existenz von Mundarten feststellen, daß einige Linien auf eine bedeutende Strecke hin miteinander zusammenfallen oder sich in „Linienbündel" vereinigen [838, 87]. Weitere Forschungen einer Reihe deutscher und französischer Dialektologen haben gezeigt, daß die Grenze zwischen den Dialekten nicht in ihrem ganzen Verlauf durch ein Merkmal, sondern durch einen Komplex übereinstimmender Merkmale bestimmt wird. Dabei wurde festgestellt, daß lexikalische Isoglossen die losesten Bündel, phonetische hingegen die kompaktesten Bündel bilden. Die morphologischen Isoglossen bilden die Mitte zwischen ihnen und nähern sich den phonetischen. Bei den mehr oder weniger stabilen Elementen bildet die Gesamtheit dieser Bündel relativ übereinstimmende Bündel umfassenderen Charakters, die eben die Grenzen des Dialekts insgesamt bestimmen. Zwischen den eigentlichen Dialekten liegen Übergangsgebiete, in denen die Grenzen einer bestimmten Merkmalgruppe auseinanderlaufen 838, 88. In diesem Zusammenhang sind die Schlußfolgerungen des deutschen Dialektologen Karl Haag wichtig, der nachgewiesen hat, daß die chaotische Vielfalt isolierter Grenzen individueller Sprachfakten eine Illusion ist. In jeder Sprachlandschaft läßt sich ein Kerngebiet aussondern, das von einer Übergangszone — einem „Saumgebiet" oder einer „Vibrationszone" — umgeben ist. Die Diskussion über die Dialektgrenzen, an der sich J . Schmidt, H. Schuchardt, G. GilIi6ron, Gr. Ascoli, K. Haag und andere beteiligten, hat die ganze Naivität der Vorstellungen der Junggrammatiker von den Dialekten und ihren Grenzen gezeigt. Denn es wurde festgestellt, daß eine Dialektgrenze in der Regel keine scharfe Linie, sondern eine relativ enge „Zone von Linien" darstellt. Andererseits behalten auch einige Beobachtungen von G. Paris, G. Gillieron und ihren Anhängern in einer Reihe von Fällen ihren Wert: In nichtstabilisierten Arealen, in denen eine wesentliche Umgruppierung der Dialekte vonstatten geht, sind die entsprechenden Grenzen tatsächlich verschwommen (in diesen Fällen kann die ehemalige Kompaktheit der Grenzen des Dialekts zur Zeit seiner Stabilität nur rekonstruiert werden) [64; 332]. Zu diesen Arealen gehören zum Beispiel die Gebiete späterer Kolonisierung. Andererseits ist nicht zu leugnen, daß es Isoglossenbündel, zentrale Zonen, Vibrationszonen usw. gibt, da sich die Dialekteigentümlichkeiten unter bestimmten Bedingungen anhäufen, glätten und 392
schärfer differenzieren können. Wenn das Dialektsystem durchlässig ist, so ist es ganz natürlich, daß sich an der Grenze zweier Dialekte eine Übergangszone bildet. Für die moderne Dialektologie ist die Feststellung von gleichartigen Spracherscheinungen bzw. Isoglossen sehr wichtig. Der Faktor des Territoriums hat für die Gliederung der Dialekte grundlegende Bedeutung. Daher muß die jeweilige Dialekterscheinung auf das Territorium projiziert werden. Die Isoglosse stellt auf der geographischen Karte häufig eine Linie dar, die die äußersten Verbreitungspunkte einer einzelnen Spracherscheinung verbindet. Die entsprechenden Varianten der betreffenden Spracherscheinung haben jedoch oft keine durchgehenden Grenzen. Sie bilden Inseln außerhalb des Hauptterritoriums oder durchdringen sich gegenseitig, so daß in manchen Gebieten ein buntes Bild verschiedener Varianten auf einem Territorium entsteht. Die Isoglossen können mannigfaltige Konfigurationen bilden, die bei den Erscheinungen verschiedener Ebenen des Sprachsystems (Phonologie, Morphologie, Wortschatz) oft verschieden sind, unterschiedliche Entstehungszeiten widerspiegelil usw. Daher wird die Isoglosse auf der Karte praktisch nicht immer in Form einer oder mehrerer Linien dargestellt, sondern häufig als formales Zeichen mit verschiedener Farbe und Form. Die einzelnen Spracherscheinungen weisen nur selten die gleiche territoriale Verbreitung auf. Daher ist das kartographisch aufgenommene Territorium gewöhnlich von einer Vielzahl von Linien durchkreuzt, die in verschiedenen Richtungen* verlaufen, sich häufig überschneiden und damit verschiedene Territorien abteilen: bald zwei (oder mehrere) große Massive, bald im Gegenteil eine große Zahl zersplitterter Territorien. Einzelne Isoglossengruppen verlaufen gewöhnlich nahe nebeneinander und bilden Isoglossen,,bündel", ohne jedoch völlig zusammenzufallen. Die Dialekte einer Sprache werden auf Grund von Isoglossenbündeln gegliedert [7,15]. Zur praktischen Veranschaulichung dieser Prinzipien wollen wir auf die Dialektgliederung der russischen Sprache eingehen. Bei der Charakterisierung eines D i a l e k t s werden gewöhnlich die Isoglossen verschiedener Ebenen — phonetische, grammatische und lexikalische Erscheinungen — berücksichtigt. So wird zum Beispiel der nordgroßrussische Dialekt durch folgende Merkmale gekennzeichnet: in der Phonetik durch die Unterscheidung der unbetonten Vokale der nicht oberen Zungenlage (in der ersten vortonigen Silbe), Verschlußbildung des stimmhaften Velaren r usw.; in der Grammatik durch nichtpalatalisiertes T, soweit vorhanden, in der, Endung der dritten Person Singular und Plural der Verben: HOCHT, H O C ' Ü T USW., durch eine gemeinsame Form für den Dativ und Instrumental des Plurals der Substantive und Adjektive: c n y c T H M B'OFLPAM — K n y c T H M B'OFLPAM; im Wortschatz durch die Verbreitung der Wörter: CKOBOPOFLHHK 'Vorrichtung zum Herausnehmen der Pfanne aus dem Ofen', O S H M L 'Roggensaat' usw. Ähnlich wird unter Berücksichtigung von Erscheinungen verschiedener Ebenen auch der südgroßrussische Dialekt bestimmt. In der Phonetik werden hier die unbetonten Vokale der nicht oberen Zungenlage nicht unterschieden, das velare Phonem r wird frikativ ausgesprochen usw. In der Grammatik ist er 393
durch die Unterscheidung der Formen des Dativs und Instrumentals Plural gekennzeichnet, zum Beispiel c nycTHMH B ' O A P A M H — K nycTHM B ' O N P A M , durch die Verbreitung der endbetonten Formen des Nominativs des Plurals der Substantive BOJIK, Bop — BOJIKH, B o p u usw. Für den südliehen Dialekt sind einige spezifische Wörter kennzeichnend, zum Beispiel BÖJieHH, sejieiiä 'Roggensaat', 3HnyH 'Oberbekleidung des Mannes, Kaftan' usw. [7, 236—240]. Außer den Dialekten gibt es D i a l e k t z o n e n . Bestimmte spezifische Isoglossen können innerhalb des Dialekts einzelne Territorien abgrenzen. Häufig kreuzt das Territorium einer Dialektzone das Territorium verschiedener Dialekte. So gliedern die russischen Dialektologen eine westliche Dialektzone aus, die das Territorium des nördlichen Dialekts der mittelgroßrussischen Dialekte und des südlichen Dialekts kreuzt. Sie wird durch solche Isoglossen gekennzeichnet wie die ^-Formen des Demonstrativpronomens mit dem Stamm TO — Ta (Taiia, Tofie, TLifte), den Gebrauch des Adverbialpartizips als Prädikat: noea« ymoBiiiH usw. [7, 242 (Karte)]. Die nördliche Dialektzone nimmt fast das gesamte Territorium des nördlichen Dialekts mit Ausnahme seines südöstlichen Teils ein. Unter Berücksichtigung spezifischer Isoglossen können ferner innerhalb von Dialekten und Dialektzonen D i a l e k t g r u p p e n ausgegliedert werden. In den Systemen der Dialektgruppen stehen weiter verbreitete, den Dialekten und Dialektzonen eigene Erscheinungen neben örtlichen Erscheinungen, die nicht selten eine örtliche Modifizierung einer in dem Dialekt oder in der Dialektzone wohlbekannten Erscheinung sind [7, 263]. So enthält zum Beispiel die WologdaGruppe des nördlichen Dialekts Züge des nördlichen Dialekts, d«r nördlichen und der nordöstlichen Dialektzone und einen eben für diese Gruppe charakteristischen Kreis von Erscheinungen, die die grundlegende Charakteristik dieser Dialektgruppe abgeben [7, 265]. Die hier dargelegte Methodik gestattet es, die frühere Auffassung vom Dialekt als sprachlicher Einheit mit scharf umrissenen Grenzen zu überwinden, und ermöglicht es zugleich, die Atomisierung einzelner Dialekterscheinungen, die zur Leugnung des Begriffs Dialekt führt, zu vermeiden.
Die soziale Differenzierung
der Sprache
Jede Sprache weist nicht nur territoriale Unterschiede auf, sie ist auch in sozialer Hinsicht nicht homogen, sondern durch verschiedenartigste Varianten gekennzeichnet. So kann es zum Beispiel altersbedingte Besonderheiten der Sprache geben: Die Sprache eines Kindes wird sich stets von der Sprache eines Erwachsenen unterscheiden, die Sprache der älteren Generation unterscheidet sich nicht selten von der Sprache der jüngeren Generation, es gibt Sprachen, in denen sich die Frauen durch ihre Aussprache in gewissem Maße von der Sprache der Männer unterscheiden. Die Variationsmöglichkeit der Sprache kann von dem allgemeinen Bildungsstand abhängen. Ein gebildeter Mensch spricht anders als ein wenig gebildeter. Auch die Art der Beschäftigung, der Interessenkreis usw. können den Spracheigentümlichkeiten der Menschen ein gewisses Gepräge geben. 394
Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Klasse, die soziale Herkunft, das Milieu, in dem der Mensch ständig verkehrt, tragen ebenfalls dazu bei, daß bestimmte Besonderheiten in seiner Sprache auftreten. Innerhalb einer Sprache, stellte A. Meillet fest, die durch die Einheit der Aussprache und insbesondere durch die Einheit der grammatischen Formen gekennzeichnet ist, gibt es in Wirklichkeit soviel besondere Wortschätze, wie es innerhalb einer Gesellschaft, die diese Sprache spricht, autonome soziale Gruppen gibt [774, 251]. Die Faktoren, die zur Entstehung sozialer Varianten in der Sprache führen, sind so vielfältig, daß es unmöglich ist, sie im Rahmen dieses Kapitels vollständig und erschöpfend zu charakterisieren. Wir wollen jedoch auf die grundlegenden Typen sozialer Varianten der Sprache eingehen. Die Hauptschwierigkeit besteht darin, daß viele Forscher in dem Begriff der sogenannten sozialen Dialekte zwar äußerlich ähnliche, ihrer Natur nach aber völlig verschiedene Spracherscheinungen zusammenfassen. Es gibt nicht einmal eine einigermaßen feste Klassifizierung dieser Erscheinungen. Schon die Bezeichnungen für die sozialen Varianten der Sprache sind nicht klar umrissen. In der russischen linguistischen Literatur sind die Termini „Argot" und „Jargon" nicht eindeutig terminologisch festgelegt, sondern werden häufig als Synonyme gebraucht. Dem Terminus „Jargon" wird bisweilen eine stilistisch abwertende Bedeutung beigelegt, indem er auf ein geschlossenes System der Sprache einer antisozialen Gruppe bezogen wird, vgl. zum Beispiel den Ausdruck „Gaunerjargon". Zur Bezeichnung fachsprachlicher lexikalischer Systeme werden die Termini „Fachsprachen", „Fachmundarten" und sogar „Fachdialekte" gebraucht. Der in der westeuropäischen linguistischen Literatur verbreitete Terminus „Slang" zur Bezeichnung eines Jargons mit breiterer sozialer Basis hat in der sowjetischen Linguistik nicht Fuß gefaßt. Interesse verdient die in jüngster Zeit von Bondaletow vorgeschlagene Klassifizierung sozialer Sprachvarianten. Er unterscheidet je nach der Natur und Bestimmung der sprachlichen Merkmale sowie nach den Bedingungen ihrer Funktionsweise: 1. Eigentliche Fachsprachen" (genauer: fachsprachliche lexikalische Systeme), zum Beispiel die Fachsprache der Fischer, Jäger, Töpfer, Holzarbeiter, Wollschläger, Schuhmacher sowie von Vertretern anderer Gewerbe und Berufe; 2. Gruppen- bzw. Korporationsjargons, zum ¿Beispiel die Jargons der Schüler, Studenten, Sportler, Soldaten u. a., also hauptsächlich von Jugendkollektiven; geheime Fachsprachen (Argots) von umherziehenden Gewerbetreibenden, Händlern und ihnen nahe stehenden sozialen Gruppen; 3. Geheimsprachen (Argots, Jargons) von Deklassierten [59, 9/10]. In dieser Klassifizierung fehlt jedoch eine soziale Variante der Sprache, die manche Forscher als Klassendialekte bezeichnen. Das Problem der Existenz von sprachlichen Varianten, die mit der Klassenzugehörigkeit zusammenhängen, hat viele Vertreter der sowjetischen und nichtsowjetischen Soziolinguistik beschäftigt. Nicht selten wurde — insbesondere im Hinblick auf die moderne kapitalistische Gesellschaft — angenommen, daß der einheitlichen Sprache der herrschenden Klasse die territorial zersplitterten Dialekte der unterdrückten gesellschaftlichen Gruppen (zum Beispiel der Bauernschaft, des städtischen 395
Kleinbürgertums) gegenüberstehen. Die angeführten Belege zur Illustrierung dieser These sind jedoch anders zu interpretieren (so stellt das Zusammenfallen der territorialen und der klassenmäßigen Merkmale nur in einer bestimmten Epoche der historischen Entwicklung der Gesellschaft eine Besonderheit dar). Hiervon ausgehend, legen wir unseren weiteren Ausführungen folgende Klassifizierung zugrunde: 1. fachsprachliche lexikalische Systeme, 2. Gruppenoder Korporationsjargons, 3. Deklassierten]argons, 4. Geheimsprachen.
Fachsprachliche lexikalische Systeme V. M. Schirmunski hatte völlig recht, als er darauf hinwies, daß der in der Fachliteratur verbreitete Terminus „Fachdialekt" nicht stichhaltig ist. Seiner Meinung nach beruht der Terminus „Fachdialekt" und um so mehr „Fachsprache" auf einem falschen Wortgebrauch: In Untersuchungen zur Sprache des Zimmermanns, zur Seemannssprache usw. handelt es sich immer nur um einen bestimmten speziellen Bereich des fachsprachlichen Wortschatzes innerhalb eines Klassendialekts [168,105]. „Die fachliche Spezialisierung wirkt sich sprachlich nicht wie in den Klassendialekten in einer grammatischen Differenzierung aus, sondern in der Herausbildung eines speziellen Wortschatzes, der im wesentlichen nur den Vertretern des betreffenden Fachs verständlich ist" [168,105/6]. Die Besonderheit der fachsprachlichen Terminologie besteht darin, daß sie stets unter dem Zwang einer bestimmten praktischen Notwendigkeit entsteht. Bekanntlich wird das Kontinuum der Welt, das den Menschen umgibt, in den verschiedenen Sprachen verschieden gegliedert. Bei allen Unterschieden gibt es jedoch eine bestimmte Gesetzmäßigkeit: Die Intensität der Gliederung wird durch die Praxis bestimmt. Je mehr der Mensch mit einem bestimmten Abschnitt oder Bereich der Wirklichkeit zusammentrifft, um so intensiver wird dieser sprachlich gegliedert. Die Bewohner der Binnengebiete eines Landes, die in ihrem praktischen Leben nichts mit dem Meer zu tun haben, kommen im allgemeinen mit allgemeinen Begriffen wie Meer, Ufer, Untiefe, Wind, Sturm usw. aus. Mehr ist nicht vonnöten. Anders der Fischer, der im Meer sein Gewerbe treibt und dem es d&her nicht gleichgültig sein kann, ob er sich auf offener See oder in der Nähe der Küste befindet, ob der Wind von Süden oder von Norden weht, ob die Untiefe einen sandigen oder einen steinigen Grund hat. Das praktische Interesse verlangt nach einer entsprechenden Terminologie. So haben die russischen Küstenbewohner am Weißen Meer eine spezielle Terminologie für alles, was mit dem Fischfang und der Schiffahrt zusammenhängt. Wir wollen einige Beispiele dieser Terminologie anführen: 6aaap 'Ansammlung von Möwen und anderen Meeresvögeln auf Felsen an der Küste oder an Ufern', SaKJiiim 'kleine Insel mit steilen felsigen Ufern', 6epe?KHee 'näher zur Küste', SeTaTb 'gegen den Wind oder schräg zum Wind fahren', rojioMeHHO 'zu weit von der Küste', ropa 'Festland', TOJIOMH 'offenes Meer', ry6a 'Meerbusen', Aep 'guter Fischfang', Kopra 'Sandbank unter oder über dem Wasser', jieTHeä 'Südwind', JIOCO 'glatte, gleichmäßige Meeresoberfläche', npHrjiyß 'Tiefe im
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Meer bzw. im Fluß nahe der Küste', CTKHTb 'mit einem besonderen Instrument eine Rinne an einem Brett machen, damit das Wasser leichter vom Dache abfließen kann' usw. Jeder Beruf hat seinen speziellen Wortschatz. Zum fachsprachlichen Wortschatz gehört auch die künstlich geschaffene wissenschaftliche und technische Terminologie, die gewöhnlich in den Spezialwörterbüchern wissenschaftlicher bzw. technischer Termini verzeichnet ist. Zwischen dem auf natürlichem Wege entstandenen fachsprachlichen Wortschatz und der künstlich geschaffenen Terminologie gibt es Berührungspunkte. In der Praxis vermischen sich diese beiden lexikalischen Systeme nicht selten. Jedoch zeichnet sich die künstliche Terminologie dadurch aus, daß sie standardisiert und stabiler ist und keine territorialen Varianten aufweist. Der fachsprachliche Wortschatz wird gewöhnlich in den sachlichen Stilen verwendet, er zeichnet sich durch präzisere Bedeutungen aus und ist wenig expressiv. Zugleich kann die fachsprachliche Terminologie, insbesondere die natürlich gewachsene Terminologie, mitunter von recht bildhaften idiomatischen Ausdrücken begleitet sein, vgl. einige idiomatische Wendungen in der Sprache der Pomoren: H a ö i i p a T b rpe6em> 'steigen' (von der Welle), n o Ä T H B H t a p , zum Beispiel BOfla n o r n j i a B » a p 'das Wasser fließt schneller' (während der Flut bzw. Ebbe) usw.; einige spezielle Ausdrücke der Zimmerleute sind p y Ö H T b B J i a n y , p y Ö H T b B y c , THHVTb ö p o B K y ; der Wortschatz des Fuhrgewerbes enthält in den Dialekten des Gebietes Tomsk idiomatische Redewendungen wie XOFLHTB B HMmiiHy 'Waren transportieren', r o H H T b n o i T y 'Post zustellen', JKHTB C ß N I H K A 'den Lebensunterhalt im Fuhrwesen verdienen' usw. [51]. In der Fachsprache der Flieger sind Ausdrücke bekannt wie Jienb Ha Kype, nocaflHTB HA T P N T O I K H U S W . Diese idiomatischen Ausdrücke gehören jedoch eher zum Wortschatz von Fachjargons als zum fachsprachlichen Wortschatz im eigentlichen Sinne.
Gruppen- oder Korporationsjargons Gruppen- oder Korporationsjargons entstehen gewöhnlich in Gruppen von Menschen, die durch irgend etwas eng miteinander v e r b u n d e n sind. Die F o r m e n dieser Verbindung können ganz verschieden sein, wichtig ist, d a ß diese Verbindung die Menschen irgendwie zusammenschließt; das gilt zum Beispiel f ü r den Dienst in der Armee, die Ausbildung an einer Hochschule bzw. in der Schule, f ü r die Touristik, den Sport, das Briefmarkensammeln usw. Selbst wenn die Menschen zur Arbeit nach dem Hohen Norden fahren, entstehen besondere Jargonwörter, zum Beispiel MopsKOBHe oder KOMapHHHe zur Bezeichnung des Lohnzuschlags i m Hohen Norden [423, 322], Unter den Frontsoldaten kamen während des Vaterländischen Krieges spezifische Jargonwörter wie z u m Beispiel caßanTyft 'starker Artilleriebeschuß', paMa 'deutsches Aufklärungsflugzeug' usw. auf. Jargonausdrücke entstehen auch unter Leuten, die verschiedenen Lastern frönen wie zum Beispiel dem Kartenspiel, dem Trinken usw. I m Wortschatz der Gruppen- oder Korporationsjargons gibt es natürlich auch fachsprachliche Elemente, «vgl. Ausdrücke des Soldatenjargons wie CHfleTb Ha ryöe 'auf der Hauptwache sein', jiHMOHKa zur Bezeichnung einer besonderen H a n d g r a n a t e n a r t ; im Jargon der Untersuchungsrichter gibt es das Verb PACKOJIOTBCH, zum Beispiel : Iloflo>KFLEM, nona OH HE PACKOJIETCH [453, 53], das heißt 'bis er weich wird'; unter Aspiranten ist das Verb 0 C T e n e H H T i > C H 'promovieren' gebräuchlich, Mitgliedern wissenschaftlicher R ä t e ist der Ausdruck ßpocHTb lepHtift map 'dagegen stimmen' wohl bekannt, Schüler gebrauchen häufig den Ausdruek N O J I Y I H T B KOJI 'durchfallen' usw. Doch die eigentliche Besonderheit der Gruppen- oder Korporationsjargons besteht nicht hierin. Wie Straten zu Recht bemerkt hat, macht sich hier nicht so sehr ein sachliches Bedürfnis geltend als vielmehr das Streben nach E x pressivität und Wortspielen [453, 53]. „Ein spezifischer Unterschied des Argots gegenüber den anderen F o r m e n des Jargons", schrieb Schirmunski, „ist seine fachliche Funktion. W ä h r e n d die Korporationsjargons eine A r t gesellschaftliche Kurzweil, ein Sprachspiel sind, die auf den Prinzipien der emotionalen Expressivität beruhen, dient der Argot, den Hausierer, Diebe, umherziehende Händler u n d Gewerbetreibende benutzen, als Waffe ihrer beruflichen Tätigkeit, zum Selbstschutz und zum K a m p f gegen die übrige Gesellschaft" [168, 119]. E s gibt zahlreiche verschiedene Gruppenjargons, die wir nicht alle charakterisieren können. Als typischstes Beispiel wollen wir den Studentenjargon oder, wie er mitunter bezeichnet wird, den Studentenslang behandeln. Skworzow, der den Studentenslang an den sowjetischen Universitäten untersucht hat, unterscheidet zwei grundlegende Kategorien von W ö r t e r n — einen das Studium betreffenden K e r n und den Alltagswortschatz [424, 50]. Zur ersten Kategorie gehören Wörter u n d Ausdrücke wie $aK ' F a k u l t ä t ' , crena, CTenyxa, cTHnema 'Stipendium', H « T H Ha rnnopax 'nach Spickzetteln antworten', no AiiaROHAJIH oder HAHEKOEOK 'das Lehrmaterial diagonal lesen', KOJI 'schlechteste Zensur', HCTopniKa 'Lehrerin f ü r Geschichte', HeMKa 'Deutsch-Lehrerin', y^oHKa 'befriedigend', aaxoA 'Versuch, das E x a m e n zu machen", flOJißan 398
'Student, der büffelt', aHTHiKa 'antike Literatur', me N H T B pyöjiefi H aMÖa) usw. Jargonwörter, die in die niedere Umgangssprache eindringen, büßen häufig ihre ausgeprägte soziale Färbung und ihren Verschleierungscharakter ein, werden nicht selten umgedeutet und bilden einen sogenannten Interjargon bzw. eine Argot-Schicht oder einen vulgärsprachlichen Wortschatz; das führt zu einer gewissen Annäherung der verschiedenen sozialen Varianten der Sprache. Die Grenzen zwischen ihnen verschwimmen. Die Interjargons, die ihren Wortvorrat aus den verschiedensten Jargons schöpfen, greifen nicht selten auf den Wortschatz der sogenannten Fachsprachen zurück; so ist zum Beispiel mypoBaTb 'energisch arbeiten' dem Spezialwortschatz der Heizer entnommen, wo es 'Holz oder Kohle in die Feuerung werfen' bedeutet; M A C K H P O B A T B C A 'faulenzen' ist dem Armeejargon entlehnt usw. Die Grenzen zwischen den verschiedenen sozialen Varianten der Sprache lassen sich noch schwerer bestimmen, wenn man berücksichtigt, daß fast jeder 409
Mensch mehrere, verschiedenen sozialen Sprachvarianten angehörende lexikalische Systeme verwendet. Bezeichnend hierfür ist die Sprache der Seeleute und der Flieger. Ein ausgebildeter Seemann ist zweifellos mit dem Fachwortschatz seines Berufs vertraut. Er kennt die Bedeutung von Wörtern wie KHCXT, NIKAHEU, KHJI LBATEP, mnaHroyr, KJIROA usw., aber auch Wörter und Ausdrücke des Seemannsjargons wie NPMIIBAPTOBATBCH K FLEBYINKE 'sich an ein Mädchen heranmachen', ßpocHTb HKopb 'vor Anker gehen', 'heiraten' usw. Aus seiner Studentenzeit kennt er natürlich auch den Studentenslang und lexikalische Elemente anderer Jargons. In der Sprache der Flieger findet man sowohl spezielle Termini, die das Flugwesen betreffen wie niTypBaji, ajiepoHH, niaccn, cTapT als auch Ausdrücke wie 6a60B03 'Flieger einer Passagierlinie', amoTa 'Flugzeug vom Typ AN', ßapaxjiHTt 'tuckern' (vom Motor). Einige Wörter der Fliegersprache werden auch von Kraftfahrern benutzt, zum Beispiel ras 'Eintritt des Gemisches in die Zylinder des Motors', raaaHyTi. 'Gas geben' usw.
Über die stilistischen F u n k t i o n e n der sozialen Varianten der Sprache Die sozialen Varianten der Sprache sind, wie in den vorhergehenden Abschnitten gezeigt wurde, ihrer Natur nach keineswegs gleichartige Erscheinungen. So können zum Beispiel die Fachsprachen, wenn man von ihrer Argot-Färbung absieht, als spezialisierte lexikalische Systeme betrachtet werden. Die verschiedenen Jargons — die der Studenten, mancher Berufe, der Gauner usw. — bilden dagegen eher besondere Stile der niederen Umgangssprache. Für alle sozialen Varianten der Sprache ist unserer Auffassung nach der Begriff Dialekt völlig unangemessen, da sie kein besonderes phonetisches System und keine besondere grammatische Struktur haben, sondern auf der gewöhnlichen Sprache basieren. Ein weiteres charakteristisches Merkmal aller sozialen Varianten der Sprache besteht darin, daß sie alle stilistische Funktionen haben. Der Kriminelle, der sich in einem bestimmten Milieu des Gaunerjargons bedient, wird diesen kaum in der Unterhaltung mit seiner Frau und seinen Kindern verwenden. Man kann sich schwerlich einen Studenten vorstellen, der es wagt, im Staatsexamen den Studentenslang zu benutzen. Ein Ingenieur oder Wissenschaftler, der in seinen Arbeiten oder im Gespräch mit Berufskollegen eine bestimmte technische Terminologie verwendet, wird sich sonst der normalen Sprechweise bedienen. Selbst ein Bourgeois, von dem manche Soziologen behaupten, daß er sogar in der häuslichen Sphäre die Literatursprache verwendet, ist in Wirklichkeit nicht abgeneigt, im Kreise seiner Angehörigen eine mit Elementen der niederen Umgangssprache oder des Dialekts gefärbte Sprache zu verwenden. Daraus folgt, daß die sozialen Varianten der Sprache ähnlich wie die Stile vor allem unter bestimmten Bedingungen verwendet werden, nämlich dort, wo sich der betreffende Redestil als angebracht und zweckmäßig erweist. Der Gedanke, daß die sozialen Varianten den Stilen nahe stehen, wurde von verschiedenen Forschern wiederholt zum Ausdruck gebracht. Lichatschow
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stellte fest, daß ein Argotsprecher beliebig von der gewöhnlichen Sprache zum Argot und umgekehrt überwechseln kann, daß der Argot offenbar einer bestimmten sprachlichen Aufgabe untergeordnet ist, daß der Gebrauch von Argotwörtern als stilistische Organisation der Rede betrachtet werden kann [282]. Poliwanow neigte dazu, die verschiedenen Jargons, die sich der „ArgotMusik" nähern, einfach als Komplexe lexikalischer Besonderheiten zu betrachten [366, 167]. Nach Skworzow ist dem Jargon im alten Sinne (als abgeschlossenes Sprachsystem einer größtenteils sich gegen die Gesellschaft wendenden sozialen Gruppe) in der sowjetischen Gesellschaft jegliche soziale Grundlage entzogen. Jargon in unserem Sinne — das ist im Grunde ein „jargonmäßig gefärbter Wortschatz". Er entsteht und existiert in einer sozialen Gemeinschaft dieser oder jener Gruppe von Sprechern bei Einstellung auf einen intimen, salopp herabgestuften Stil [424, 48], Wir wollen hervorheben, daß die stilistische Funktion der sozialen Varianten der Sprache dann besonders deutlich zum Ausdruck kommt, wenn der Sprecher die l e x i k a l i s c h e n S y s t e m e v e r s c h i e d e n e r sozialer V a r i a n t e n beherrscht. Somit stehen die sozialen V a r i a n t e n der S p r a c h e den S t i l e n und nicht den Dialekten am nächsten, wie die Autoren von Spezialuntersuchungen bisweilen behaupten. , Zum Schluß sei darauf hingewiesen, daß die Probleme der sozialen Differenzierung der Sprache trotz des großen Interesses, das ihnen gegenwärtig in der Linguistik der ganzen Welt entgegengebracht wird, insgesamt keineswegs ausreichend erforscht sind. Im Mittelpunkt der soziolinguistischen Forschungen steht dip Frage nach dem Verhältnis zwischen den sozialen und den linguistischen Strukturen (in dieser Hinsicht scheint die Schlußfolgerung wesentlich zu sein, daß das Verhältnis zwischen der Struktur der Gesellschaft und der sozialen Differenzierung der Sprache beweglich ist). Ferner wird nach dem spezifischen Charakter der sozialen Differenzierung der Sprache und ihrem Verhältnis zu den anderen Typen sprachlicher Abgrenzungen (territoriale und funktionalstilistische) gefragt. Eine verallgemeinerte Vorstellung von dem Verhältnis zwischen sozialer und territorialer Differenzierung der Sprache sollen die Begriffe „vertikale" und „horizontale" Gliederung der Sprache ausdrücken, die deutsche und französische Wissenschaftler verwenden. Schließlich gibt es Versuche, die soziale Problematik in die historische Sprachbetrachtung zu übertragen.
KAPITEL 8
Die Literatursprache
Der Begriff
„Literatursprache"
Unter L i t e r a t u r s p r a c h e verstehen wir jede geformte Sprache, unabhängig davon, ob sie im mündlichen oder im schriftlichen Verkehr angewandt wird. Die „geformte Sprache" setzt voraus, daß aus dem Gesamtinventar sprachlicher Mittel auf Grund mehr oder weniger bewußt angelegter Kriterien eine bestimmte Auswahl getroffen und im Zusammenhang damit eine größere oder geringere Regelung vorgenommen wird. Die Literatursprache ist also eine der Existenzformen der Sprache neben den Territorialdialekten und verschiedenen Typen umgangssprachlicher Koines (Interdialekte) sowie der niederen Umgangssprache. Die charakteristischen Merkmale der Literatursprache werden daher vor allem durch die Stellung bestimmt, die sie im System der Existenzformen der Sprache einnimmt, und treten besonders bei der Gegenüberstellung mit diesen anderen Formen zutage. Das gilt nicht nur für die genannten Merkmale (geformte Sprache — nichtgeformte Sprache, vorhandene bzw. nicht vorhandene bewußte Auswahl), sondern auch für die Gesetzmäßigkeiten ihrer Funktionsweise, für die Unterschiede in den gesellschaftlichen Anwendungsbereichen jeder dieser Existenzformen der Sprache (staatliche Verwaltung und Geschäftsverkehr, Wissenschaft, Publizistik, Schule, Alltag, Kunst usw.). Bei der Bestimmung der Merkmale der Literatursprache ist zu beachten, daß die Literatursprache eine historische Kategorie ist: Grad der Formgebung sowie Strenge der Auswahl und Regelung können nicht nur in verschiedenen Literatursprachen, sondern auch in verschiedenen Perioden der Geschichte einer Sprache verschieden sein; in den verschiedenen Sprachen und in den verschiedenen Geschichtsperioden einer Sprache werden die verschiedenen Verkehrsbereiche nicht in gleicher Weise von den einzelnen Existenzformen der Sprache erfaßt; damit hängt wiederum der größere oder geringere Funktionsradius der Literatursprache zusammen. Dieser allgemeine Inhalt des Begriffs „Literatursprache" ist somit entsprechend den historischen Bedingungen der Herausbildung, der Entwicklung und der Funktionsweise der Literatursprache zu konkretisieren. Dabei lassen sich mehrere erheblich voneinander abweichende Typen von Literatursprachen unterscheiden (s. S. 452/3). Obgleich der Ausdruck „Literatursprache" zur Bezeichnung der geformten Sprache ziemlich verbreitet ist, besonders in der wissenschaftlichen Tradition der UdSSR, Frankreichs (langue litteraire) r Italiens (lingua litteraria) u. a., ist er keineswegs der einzige. In der englischen und amerikanischen Tradition ist, 412
besonders im Hinblick auf die modernen Literatursprachen, die Bezeichnung „Sprachstandard" oder „Standardsprache", zumeist bezogen auf die orthoepische Norm, üblich; in den letzten Jahren gewinnt diese Bezeichnung auch in der Slawistik an Boden [655]; in der deutschen Sprachwissenschaft werden „Schriftsprache", „Hochsprache" und in den letzten Jahren auch „Gemeinsprache", „Einheitssprache" in der gleichen Bedeutung gebraucht; in der CSSR ist, möglicherweise zum Teil unter dem Einfluß der deutschen Tradition, der Terminus „spisovny jazyk" (Schriftsprache), in Polen „j^zyk kulturalny" (Kultursprache) gebräuchlich [892]. Es gibt also nicht nur in den verschiedenen nationalen Wissenschaftstraditionen, sondern auch innerhalb der Sprachwissenschaft eines Landes keine einheitlich festgelegte Terminologie. Das erklärt sich zum Teil aus der Natur des Gegenstandes selbst, aus seiner Vielgestaltigkeit und historischen Veränderlichkeit. Die französische Bezeichnung „langue commune" (Gemeinsprache) sowie die deutschen Bezeichnungen „Einheitssprache", „Gemeinsprache" werden vorwiegend auf die Sprachverhältnisse einer ziemlich späten historischen Periode bezogen, auf die Periode der Herausbildung und Entwicklung der Nationen; in Rußland bildete sich die Einheitssprache, die Gemeinsprache erst im 18. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts heraus [98, 114]; in England und Frankreich, wo sich die nationale Einheit etwas früher entwickelte, wird diese Bezeichnung bereits seit dem 16. und 17. Jahrhundert verwendet; in Italien und Deutschland hingegen zog sich die Ausbildung einer einheitlichen nationalen Literatursprache bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hin, wobei die Allgemeingültigkeit dieses Standards lange Zeit begrenzt war (s. S. 415, 446). Für die früheren Perioden der Geschichte dieser Sprachen dürften diese Bezeichnungen also nicht angebracht sein. Die Bezeichnungen „Standardsprache", „Sprachstandard" wiederum setzen eine einheitliche Norm auf allen Ebenen des Sprachsystems voraus, sie treffen also nur auf einen bestimmten Typ der Literatursprachen zu. Brozovic bemerkt zu Recht, daß die Geschichte der Standardsprache dann einsetzt, wenn sie sich über das gesamte Territorium ausbreitet und wenn sich ihre Substanz und ihre Struktur stabilisieren [65, 23]. Die Bezeichnungen „Schriftsprache", „spisovny jazyk" schließlich werden, wie aus ihrer inneren Form hervorgeht, dem Wesen des Gegenstandes nur dort gerecht, wo die geformte Sprache allein im Schrifttum auftritt, das gilt zum Beispiel für die schriftliche singhalesische Literatursprache auf Ceylon [862]; doch ist diese Bezeichnung wohl kaum bei der mündlichen Realisierung der Literatursprache, das heißt vor allem in bezug auf die orthoepische Norm der Literatursprache, angebracht. Die Gebräuchlichkeit dieser Bezeichnungen in der tschechischen und in der deutschen Tradition ist zum Teil durch die Rolle bedingt, die die schriftliche Fixierung bei der Ausbildung der Norm dieser Literatursprachen gespielt hat. Ein Nachteil des Ausdrucks „Literatursprache" ist, daß er in zwei Bedeutungen gebraucht werden kann: zur Bezeichnung der Sprache der schöngeistigen Literatur und zur Bezeichnung der geformten Sprache. Indes fallen 413
beide Begriffe keineswegs zusammen. Einerseits ist die Literatursprache umfassender, als der Begriff „Sprache der schöngeistigen Literatur" besagt, weil Literatursprache nicht nur die Sprache der schöngeistigen Literatur einschließt, sondern auch die Sprache der Publizistik, der Wissenschaft, der staatlichen Verwaltung, die Geschäftssprache und die Sprache des mündlichen Vortrags, die gesprochene Sprache usw.; andererseits ist Sprache der schöngeistigen Literatur ein weiterer Begriff als Literatursprache, weil ein belletristisches Werk auch Elemente der Mundart, der städtischen Umgangssprachen, Jargonwörter enthalten kann. Trotz dieser Zweideutigkeit ist die Bezeichnung „Literatursprache" dennoch am neutralsten und passendsten, vorausgesetzt, daß sie von der Bezeichnung „Sprache der schöngeistigen Literatur" unterschieden wird. Gerade wegen ihrer Neutralität entspricht sie ganz dem invarianten Bestandteil des Begriffs „geformte Sprache", der als allgemeine typologische Charakteristik der Literatursprache dienen kann, sofern man von der durch die historischen und lokalen Verhältnisse bedingten Vielfalt der Varianten absieht. Aber auch die Sprachwissenschaftler, die die Bezeichnung „Literatursprache" gebrauchen, definieren ihren Inhalt nicht einheitlich. Zur Abgrenzung des Begriffs „Literatursprache" werden verschiedene Kriterien angewandt. So vertraten zum Beispiel Tomaschewski und Isaöenko die Auffassung, die Literatursprache im modernen Sinne bilde sich erst in der Epoche der entwickelten Nationen aus. Tomaschewski schrieb: „Die Literatursprache im modernen Sinne setzt die Nationalsprache voraus, das heißt, ihre historische Voraussetzung ist das Bestehen der Nation, auf jeden Fall hat diese Bezeichnung innerhalb der Nationalsprache ihren besonderen und wohldefinierten Sinn" [459, 177—179]. Ausführlicher wurde der gleiche Gedanke von Isaöenko entwickelt [211; 212]. Nach Isaöenko sind unabdingbare Merkmale jeder Literatursprache : 1. Multivalenz, das heißt Anwendung in allen Bereichen des nationalen Lebens; 2. Genormtheit; 3. Allgemeinverbindlichkeit für alle Mitglieder des Kollektivs und im Zusammenhang damit Unzulässigkeit mundartlicher Varianten; 4. stilistische Differenziertheit. Da diese Merkmale nur für Nationalsprachen gelten, kann es nach Isacenkos Meinung in der vornationalen Periode keine Literatursprache geben. Daher bezeichnet er alle „Typen graphisch fixierter Rede" der vornationalen Periode als Schriftsprachen. Unter diese Rubrik fällt faktisch die Sprache der großen Schriftsteller und Dichter der Renaissance in Italien (Dante, Petrarca, Bocaccio), der Reformation in Deutschland (Martin Luther, Thomas Murner, Ullrich von Hutten, Hans Sachs), die Sprache der klassischen Literatur in Rom und Griechenland, China und Japan, in Persien und in den arabischen Ländern. Dabei bleibt unklar, zu welcher Existenzform nach dieser Konzeption die Sprache der großartigen, mündlich überlieferten epischen Werke zu rechnen ist, also die Sprache Homers, der Edda, des Beowulf, des Rolandlieds, die Sprache der mittelasiatischen epischen Dichtung, der Swanenlieder usw. Die von Isaöenko aufgezählten Merkmale kommen zwar in den Literatursprachen der nationalen Periode am eindeutigsten zum Ausdruck, doch ist die Gesamtheit dieser Merkmale keineswegs in jeder nationalen Literatursprache 414
vertreten, weil sich die einzelnen Wesenszüge in der Geschichte der Sprachen erst allmählich und noch dazu nicht in den gleichen Zeitabschnitten herausbilden. Außerdem - und das ist für das Verständnis der Entwicklung der Literatursprachen besonders wesentlich — verläuft die Ausbildung ihrer einzelnen Merkmale ungleichmäßig. So wurde zum Beispiel die deutsche Sprache bereits Ende des 17., Anfang des 18. Jahrhunderts multivalent, während die territorialen Varianten bestehen blieben und es nach wie vor keine allgemeingültige Norm, besonders in der Aussprache gab; lokale Besonderheiten in der Aussprache spiegeln sich selbst in den Reimen von Goethe und Schiller wider, was von deren Zeitgenossen keineswegs als Verstoß gegen die Norm aufgefaßt wurde [639, 182]. Multivalenz und Allgemeinverbindlichkeit sind überdies auch nicht überall für die modernen Nationalsprachen charakteristisch: In den arabischen Ländern ist der Verwendungsbereich der Literatursprache, die das klassische Arabische in der modernen Entwicklungsetappe fortsetzt, dadurch eingeschränkt, daß im alltäglichen Verkehr nicht nur zu Hause, sondern auch auf der Arbeit in der Regel statt der Literatursprache die einheimischen umgangssprachlichen Koines gebraucht werden. Regionale Formen dringen darüber hinaus auch in die Verkehrsbereiche ein, die der Literatursprache vorbehalten sind: in Rundfunk, Fernsehen, Theater und Kino [41; 492]. In der CSSR wird im mündlichen Verkehr nicht nur im Alltagsleben, sondern auch in der gesellschaftlichen Praxis die sogenannte Umgangssprache weitgehend verwendet, obgleich die tschechische Literatursprache nicht nur in der schriftlichen, sondern auch in der mündlichen Form realisiert wird.88 Jn diesem Zusammenhang ist auch auf die Sprachsituation in Italien zu verweisen, wo ein sehr kompliziertes Verhältnis zwischen literatursprachlicher Norm und regionalen Varianten besteht: Im mündlichen Verkehr bewahrt die Literatursprache nach wie vor die Verbindung zu den lokalen Dialekten, während der schriftliche Standard nicht selten als etwas Künstliches empfunden wird [68, 80]. Noch Ende des 19. Jahrhunderts stellte Ascoli fest [538], daß die Italiener keine einheitliche literatursprachliche Norm haben. Bezeichnenderweise sind auch noch in den letzten Jahrzehnten regionale Formen in der schöngeistigen Literatur weit verbreitet, nicht nur als Mittel zur Charakterisierung der Rede der handelnden Personen (vgl. die Verwendung des neapolitanischen Dialekts in den Stücken des bekannten Dramatikers Eduardo di Filippo), sondern auch in der Sprache verschiedener poetischer Gattungen.89 Die Multivalenz der nationalen Literatursprache ist auch dann eingeschränkt, wenn sie aus solchen Verkehrsbereichen wie staatliche Verwaltung, Wissenschaft, Geschäftsverkehr ausgeschlossen ist, wie das mit der tschechischen 88
89
Vgl. die Beschreibung des gegenwärtigen Verhältnisses der tschechischen Literatursprache zur Umgangssprache [410; 504; 505]. Alissowa führt dafür sehr bezeichnende Fakten an: Eine 1952 für Schulzwecke herausgegebene Chrestomatie zur italienischen Literatur enthielt Werke von Dichtern vom Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts in mehr als 18 Dialekten [11, 203]. Im Hinblick auf die Sprache dieser Literatur ist jedoch offenbar weniger der Terminus Dialekt angebracht als vielmehr der Terminus italiano regionale, unter dem die regionalen Varianten der Literatursprache zu verstehen sind (vgl. hierzu [772 u. 776]).
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Literatursprache in Österreich-Ungarn odör der ukrainischen und georgischen Sprache im vorrevolutionären Rußland der Fall war. Somit sind die Merkmale der verschiedenen Literatursprachen selbst iü der Epoche der Nation nicht absolut gleichartig, geschweige denn stabil. Die Verschiedenartigkeit der Literatursprachen ist durch die historischen Verhältnisse bedingt, unter denen sich die Sprache entwickelte: durch das Tempo der Herausbildung der ökonomischen, politischen und kulturellen Einheit des Volkes und in Zusammenhang damit durch das Wechselverhältnis zwischen den verschiedenen Existenzformen der Sprache, durch die Art und Weise, wie sich diese Existenzformen auf die einzelnen Bereiche der menschlichen Tätigkeit erstrecken (s. S. 421-426). Unabdingbare und unveränderliche Eigenschaft der Literatursprache, die ihr spezifisches Wesen am vollkommensten ausdrückt und sie von den anderen Existenzformen der Sprache unterscheidet, ist die Geformtheit der Sprache und damit zusammenhängend die Auswahl und relative Regelung. Diese Merkmale treffen jedoch nicht nur auf die Literatursprache in der nationalen Periode ihres Daseins zu (s. S. 430ff.). Deshalb liegt keine Veranlassung vor, die verschiedenen Entwicklungsperioden der geformten Sprache einander so schroff gegenüberzustellen, wenngleich die Literatursprache im Verlauf ihrer Entwicklung zweifellos qualitative Veränderungen durchmacht, die vor allem durch die Erweiterung ihrer Funktionen und die Veränderung ihrer sozialen Basis bedingt sind (s. S. 439-443). Dem Standpunkt Tomaschewskis und Isaöenkos schließen sich bis zu einem gewissen Grade auch die Linguisten an, die Literatursprache und Sprachstandard miteinander identifizieren; damit wird jedoch die „Literatursprache" eingeengt und nur auf einen der verschiedenen historischen Typen der Literatursprache bezogen.90 Ferner gibt es Tendenzen, die Literatursprache mit der Schreibsprache zu identifizieren. So zählt zum Beispiel Jefimow in seinen Arbeiten zur Geschichte der russischen Literatursprache jede schriftliche Fixierung zur Literatursprache, auch Privatbriefe' des 12. Jahrhunderts, deren Sprache nicht geformt ist (s. die Kritik an diesem Standpunkt in [88]). Die „geformte Sprache" ist, wie bereits festgestellt, keineswegs identisch mit „Sprache der schöngeistigen Literatur". Das Merkmal „geformte Sprache" setzt eine bestimmte Auswahl und eine gewisse Regelung voraus, denen jedoch verschiedene Kriterien zugrunde gelegt werden: stilistische sozial bedingte Auswahl, stilistische gattungsbedingte Kriterien, Verzicht auf eng mundartliche Erscheinungen und die allgemeine Tendenz zu einem übermundartlichen Sprachtyp. Diese Charakteristik trifft für die Sprache der schöngeistigen Literatur (sowohl für die individuellen Schöpfungen der großen Meister des Wortes als auch für die antike epische Dichtung), für die Geschäftsprosa, die religiöse Prosa, die Publizistik, die Wissenschaftssprache sowie für mündliche Vorträge verschiedener Art zu. Man kann wohl kaum Winogradow zustimmen, 90
Vgl. [65], Auch Steblin-Kamenski identifiziert Literatursprache und Standard: „Ich bezeichne als Literatursprache die Sprache, die als Standard verwendet wird" [443, 47].
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der die Sprache der mündlich überlieferten Dichtung nicht als mündliche Variante der. Literatursprache gelten lassen will [88, 39]. Die in der antiken epischen Dichtung verschiedener Völker fixierte Sprache war mit ihrer strengen lexikalischen Auswahl und eigentümlichen Regelung ein großartiges Beispiel geformter Sprache [219, 39] (vgl. die Epen Homers, die Lieder der Edda, das mittelasiatische Epos usw.). Auch die mündlich vorgetragenen Dichtungen der Ministreis, der Minnesänger und die Spielmannslieder verkörperten die Literatursprache und übten einen wesentlichen Einfluß auf ihre Entwicklung aus. Die mündliche Realisierung der Literatursprachen kann zwei Formen aufweisen: mündlich überlieferte literarische Werke, besonders in der vornationalen Periode (das heißt epische Dichtung, Spielmannslieder usw.), und mündliche Vorträge verschiedenen Stils, von Mustern der Rhetorik über wissenschaftliche Vorträge bis zur Anwendung der Literatursprache im mündlichen Verkehr; dieser zweite Typ entfaltet sich besonders in der Periode der Entwicklung der Nationalsprachen. Den ersten Typ nennen wir „mündliche Variante der Literatursprache", den zweiten „mündliche Form der Literatursprache"; die mündliche Form der Literatursprache erscheint sowohl in den buchsprachlichen Stilen (wissenschaftliche, publizistische Vorträge usw.) als auch im gesprochenen literatursprachlichen Stil.
Die Literatursprache und die anderen Existenzformen der Sprache Literatursprache und Dialekt Das spezifische Wesen der Literatursprache zeigt sich am deutlichsten in der Gegenüberstellung zu den anderen Existenzformen der Sprache. Wenn man sich diese Formen als mehrgliedrige Reihe nebeneinander angeordneter Komponenten vorstellt, so nehmen die Literatursprache und der territoriale Dialekt ungeachtet der Mannigfaltigkeit der konkreten Verhältnisse die äußeren Positionen ein. Das ist durch das ganze System der Merkmale beider Formen bedingt. Manche dieser Merkmale sind ausschlaggebend und unabdingbar, während andere, wie noch gezeigt werden wird, unter bestimmten Bedingungen neutralisiert werden können. 1. Der Dialekt als territorial begrenzte, lokale Existenzform
der Sprache
Im entwickelten Feudalismus hängen die Dialektgrenzen oft mit den Grenzen der feudalen Territorien zusammen. Das war besonders in Deutschland im 12. und 13. Jahrhundert der Fall im Unterschied zu Rußland, wo diese Verhältnisse viel komplizierter waren. Aber auch unter anderen historischen Bedingungen bleibt der Dialekt territorial begrenzt und gebunden, was am deutlichsten in der Gegenüberstellung zur Literatursprache zum Ausdruck kommt. Dieses spezifische Wesen des Dialekts bleibt stets und ständig gewahrt, auch in der 417
Epoche der Herausbildung und Entwicklung der Nationalsprachen, wenngleich sich das System der Strukturmerkmale des Dialekts unter dem Einfluß der Literatursprache auflösen kann, besonders dann, wenn die Literatursprache hinreichend einheitlich und geregelt ist. Dabei ist zu berücksichtigen, daß die Bezeichnung „Dialekt" (Mundart) verschieden verwendet wird. Einerseits ist die Auffassung weit verbreitet, daß der Dialekt die gesprochene Kommunikationsform ist. 91 Andererseits werden mit „Dialekt" die regionalen Formen der Literatursprache, darunter auch die Sprache der schriftlich überlieferten Denkmäler, bezeichnet. 92 Der Dialekt ist zweifellos ebenso wie die Literatursprache eine historische Kategorie. Seine gesellschaftliche Stellung im System der Existenzformen der Sprache hängt von der sozialen Struktur der Gesellschaft ab, in der er verwendet wird. Im großen und ganzen lassen sich drei historische Dialekttypen unterscheiden: 1. der Dialekt in der Gentilgesellschaft (Stammesdialekt); 2. der Dialekt in der Sklavenhaltergesellschaft und im Feudalismus, wenn sich die Nationalitätssprachen herausbilden und entwickeln; 3. der sogenannte territoriale oder lokale Dialekt in der Periode der Entstehung und Entwicklung der Nationen. Jeder dieser Dialekttypen hat seine besonderen, vor allem durch seine gesellschaftlichen Funktionen bedingten Merkmale. F . Engels schrieb über die Gentilgesellschaft bei den amerikanischen Indianern, die auf der untersten Stufe der Barbarei standen, daß „Stamm und Dialekt der Sache nach zusammenfallen" 93 . Auf dieser Entwicklungsstufe der Gesellschaft war der Dialekt nicht nur die hauptsächliche, sondern auch die einzige Kommunikationsform des Stammes. Da es zu jener Zeit noch keine soziale Schichtung innerhalb des Stammes gab und die Kommunikationsbereiche nur wenig differenziert waren, konnten sich keine überdialektalen Formen herausbilden. Für diese frühe Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung war charakteristisch, daß der Dialekt nicht als lokal begrenztes und „untergeordnetes" Subsystem den anderen, allgemeineren Existenzformen der Sprache gegenüberstand, daß es also keine Gegenüberstellung Dialekt: Literatursprache gab. Das heißt aber nicht, daß der Stammesdialekt stets monofunktional blieb. Bereits vor dem Untergang der Gentilverfassung, in der Epoche, die F . Engels als die Oberstufe der Barbarei charakterisierte; entstanden Bedingungen, die die Entwicklung bestimmter Typen geformter Sprache begünstigten. Die zunehmende innere Schichtung der Stammesorganisation, die Entstehung von Gefolgschaften mit ihren Häuptlingen, die Herausbildung einer Priesterschicht förderten die Differenzierung der Kommunikationsbereiche und damit die Multifunktionalität und stilistische Differenzierung des Stammesdialektes. Die Bildung großer Stammesverbände an der Schwelle zur Klassengesellschaft
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„Mundart zudem ist Sprache ohne Schrift", schrieb Th. Frings [618, 7]; vgl. K . Bischoff: „Alle Mundart lebt im Gesprochenen, nicht im Geschriebenen" [560, 84]. Vgl. die deutsche Bezeichnung „Schriftdialekt", ferner die Charakteristik der Sprache der altrussischen Denkmäler in den Arbeiten Winokurs auf S. 434 der vorliegenden Arbeit. F. Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates; K . Marx, F. Engels, Werke, Bd. 21, S. 91.
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führte zur Entstehung überdialektaler Wortschatzschichten in den epischen Liedern, in der mündlich überlieferten Rechtssprache und im Kult. Diese Vorgänge spiegelten sich in der Sprache des griechischen Epos sowie der epischen Lieder und des Kults anderer Völker wider. 94 Allmählich bildete sich der Gegensatz nichtgeformte Sprache, „Dialekt", und geformte Sprache „Literatursprache", heraus. Dieser Vorgang wurde durch die Entstehung des Schrifttums weiter gefördert. Nicht nur die Sprache der altgriechischen, sondern auch die der kretisch-mykenischen Inschriften aus dem 2. Jahrtausend v. u. Z. weist Züge eines überdialektalen Sprachtyps auf. 95 Die sogenannten poetischen, offiziellen, geschäftssprachlichen mündlichen und schriftlichen Koines sind die ältesten Typen einer Literatursprache. Die Entstehung überdialektaler Formen führte auch zu einer allmählichen Änderung der gesellschaftlichen Stellung des Dialekts, zur Einschränkung seines Funktionsbereichs. Andererseits kam es zur Vereinigung und Vermischung von Stämmen, die auch die sprachlichen Prozesse beeinflußte. Damit beginnt die Herausbildung der Nationalität und die allmähliche Verwandlung des Dialekts in ein territoriales (lokales) Subsystem eines bestimmten sprachlichen Kontinuums, der Nationalitätssprache. Das ist eine neue Qualität. Der Dialekt bleibt jedoch nicht nur in der Periode der Nationalitäten, sondern auch in späteren Perioden der gesellschaftlichen Entwicklung funktional und lokal begrenzt und steht den anderen allgemeineren Existenzformen mit größerer sozialer Geltung gegenüber. Im Gegensatz zum Dialekt ist die Literatursprache nicht so territorial begrenzt und gebunden. Jede L i t e r a t u r s p r a c h e hat mehr oder weniger ü b e r m u n d a r t l i c h e n C h a r a k t e r . Das gilt selbst für den Feudalismus mit der ihm eigenen Zersplitterung. In Frankreich bildete sich zum Beispiel im 11. und 12. Jahrhundert in den westlichen Besitzungen des anglonormannischen Anjou eine schriftliche Literatursprache aus, in der so hervorragende literarische Werke wie das Rolandslied, die Pilgerfahrt Karls des Großen und die Laissen der Marie de France verfaßt wurden. Obwohl diese Denkmäler in phonetischer und morphologischer Hinsicht regional gefärbt sind, ist keines von ihnen einem bestimmten Einzeldialekt der westlichen Gruppe zuzuordnen, weder dem Normannischen, dem Franzischen, noch irgendeinem Dialekt der nordwestlichen oder südwestlichen Untergruppe [219, 39]. Daher lassen sich die lokalen Besonderheiten in der Sprache dieser Denkmäler nur in allgemeinster Form zu den verschiedenen Dialektgruppen jener Zeit in Beziehung setzen [219, 34], Ähnlich verhält es sich auch mit den anderen Literatursprachen der vornationalen Periode, genauer der Periode vor der Herausbildung einer einheitv
'•'• Auf die gleiche historische Periode beziehen sich auch die Ausführungen des Tacitus über die Lieder der alten Germanen und J o r d a n i s ' über die mündlich überlieferte Dichtung bei den Goten im 5. J a h r h u n d e r t . 0 5 Näheres s. A. W. Desnizkaja, Überdialektale Formen der -mündlichen Rede und ihre Rolle in der Sprachgeschichte, Leningrad 1970 [146]; M. M. Guchmann, Die Wechselwirkung der Dialektareale und die Entwicklung überdialektaler Formen in der vornationalen Periode, Sammelband „Engels und die Sprachwissenschaft", Moskau 1972 [130].
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liehen literatursprachlichen Norm bzw. eines national verbindlichen Sprachstandards. So wies in Deutschland, wo die feudale Zersplitterung besonders stark und langwierig war, auch die Literatursprache mehrere regionale Varianten auf, die sich nicht nur im phonetisch-graphischen System, sondern auch im Wortschatz und zum Teil auch in der Morphologie unterschieden; bereits die Denkmäler der Literatursprache des 12. und 13. Jahrhunderts, sowohl die Dichtungen als auch die Prosa, spiegeln nicht unmittelbar das Dialektsystem des Gebietes wider, dem das Denkmal angehörte, sondern es erfolgte eine bewußte Auswahl und Ausscheidung eng mundartlicher Besonderheiten. Da sich zwischen den einzelnen Territorien in Deutschland, wenn auch in begrenztem Maße, kulturelle Beziehungen, Handelsverbindungen und im Zusammenhang damit ein Schriftverkehr entwickelte, fand vom 13. und 14. Jahrhundert an eine intensive Wechselwirkung zwischen den verschiedenen regionalen Varianten der Literatursprache statt. Selbst Norddeutschland, das sprachlich am stärksten abgesondert war, blieb nicht isoliert. Südliche Formen drangen nicht nur in die Sprache der mitteldeutschen Kanzleien, sondern auch in die Denkmäler der religiösen und schöngeistigen Literatur ein. Noch bezeichnender ist, daß die südlichen Formen und südliches Wortgut die einheimischen Formen nicht selten aus der Literatursprache Mitteldeutschlands verdrängten. Das gilt sowohl für den Westen, zum Beispiel für das Gebiet um Köln (vgl. die Verdrängung des einheimischen -ng- unter dem Einfluß des allgemeingültigeren -nd- in Wörtern wie fingen — finden), für Mainz und Frankfurt am Main (vgl. die Verdrängung der mitteldeutschen Pronominalformen her, öm 4urch südliches er, im) als auch für den Osten, Thüringen und Sachsen (vgl. ebenfalls das Pronominalsystem). Eine bezeichnende Folge dieser Vorgänge waren die zahlreichen regionalen Dubletten in der Sprache ein und desselben Denkmals, zum Beispiel in mitteldeutschen Denkmälern des 14. Jahrhunderts einheimisches biben, erdbibunge, otmotigkeit, burnen, heubt neben südlicherem pidmen, ertpidmen, demuotikeit, brennen. In der Eneit Heinrichs von Veldeke, dessen Muttersprache der Limburger Dialekt war, begegnen Formen, die vom Einfluß anderer Dialekte zeugen, vgl. sprach : sach, zage : verzagen. Da sich die höfische Kultur zuerst im Nordwesten entwickelte und die Eneit der erste höfische Roman war, verwendeten andererseits Dichter aus anderen Dialektgebieten niederfränkische Formen wie ors, blide, wapen, die Suffixe -ken, -se/sche usf. Bereits im 13. Jahrhundert läßt sich aber nachweisen, daß eine bestimmte Variante der Literatursprache nachgeahmt wurde: Die meisten Autoren waren bemüht, eine Sprache zu schreiben, die der südwestlichen Variante nahe stand, denn der Südwesten war damals Mittelpunkt des politischen und kulturellen Lebens in Deutschland [136, 255-259]. Der übermundartliche Charakter der Literatursprache zur Zeit des Feudalismus hängt auch mit den Besonderheiten des Stilsystems der Literatursprache zusammen, das sich damals bereits allmählich herausbildete. Die Entwicklung der einzelnen Stile der philosophisch-religiösen, der wissenschaftlichen und der publizistischen Literatur förderte die Ausbildung von Wortschatzschichten, die in den Dialekten nicht existierten und die vorwiegend übermundartlichen Charakter aufwiesen. In einer Reihe von Ländern (in den 420
Ländern Westeuropas, in den slawischen Ländern, in vielen Ländern des Orients) bildeten sich diese für die Literatursprache spezifischen Stile unter dem Einfluß einer fremden Literatursprache heraus: in den slawischen Ländern unter dem Einfluß der altslawischen Literatursprache, in Westeuropa unter dem Einfluß des Lateinischen, im Nahen Osten unter dem Einfluß des Arabischen, in Japan unter dem Einfluß des Chinesischen usw. Dieser fremdsprachliche Einfluß förderte die Lösung der Literatursprachen aus ihrer territorialen Gebundenheit und führte zur Herausbildung übermundartlicher Züge in ihrem System. Daher war für die Sprache der alt russischen Denkmäler, obgleich sie bestimmte Besonderheiten der Dialektgebiete widerspiegelte, eine vielfältige Mischung russischer und altslawischer Elemente charakteristisch, so daß sie nicht die territoriale Begrenztheit aufwies, die für den Dialekt typisch ist. Dieser Wesenszug der Literatursprache findet in der Epoche der nationalen Einheit, in der sich ein einheitlicher allgemeingültiger Standard herausbildet, seine volle Ausprägung; hier zeigt sich am deutlichsten, daß sie dem Dialekt entgegengesetzt ist. Es gibt aber auch eine andere Möglichkeit, wenn sich nämlich die alte schriftlich überlieferte Literatursprache bereits in der vornationalen Epoche so weit vom Entwicklungsprozeß der lebendigen Dialekte entfernt, daß es zu ihrer Isolierung von der territorialen Vielfalt der Dialekte kommt, wie das in den arabischen Ländern, in China und in Japan der Fall war [237]; dabei kann die Bewahrung der archaischen Tradition in der Geschichte der einzelnen Literatursprachen unter verschiedenen historischen Bedingungen und zu verschiedenen Perioden erfolgen. So basierte die mittelalterliche chinesische Literatursprache Vom 8. bis zum 12. Jahrhundert weitgehend auf Buchquellen aus dem 7. bis 2. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung, was ihre Absonderung vom gesprochenen Sprachstil förderte [237, 43/4]; unter ganz anderen Bedingungen verliefen analoge Prozesse in der Entwicklung der tschechischen Sprache des 18. Jahrhunderts (vgl. S. 428). 2. Die Literatursprache unterscheidet sich vom Dialekt auch in bezug auf die gesellschaftlichen Funktionen, die sie ausübt, und damit auch in bezug auf ihre stilistischen Möglichkeiten. Sobald, sich bei einem Volk eine Literatursprache herausbildet, bleibt der Dialekt gewöhnlich auf den Bereich des Alltagsverkehrs beschränkt. Die Literatursprache hingegen kann potentiell in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens verwendet werden: in der schöngeistigen Literatur, in der staatlichen Verwaltung, in Schule und Wissenschaft, in der Produktion und im Alltag; in einer bestimmten Entwicklungsetappe der Gesellschaft wird sie dann zum allgemeinverbindlichen Kommunikationsmittel. Dieser Prozeß ist kompliziert und vielschichtig, weil daran neben der Literatursprache und den Dialekten auch die Zwischenformen der Umgangssprache beteiligt sind (vgl. S. 435-438). Bei der Behandlung der Merkmale der Literatursprache ist hervorzuheben, daß die Literatursprache zum Unterschied vom Dialekt multifunktional ist 421
und somit über vielfältige stilistische Mittel verfügt. Zwar erwirbt die Literatursprache diese Eigenschaften gewöhnlich erst im Verlauf ihrer Entwicklung, doch wesentlich ist die Tendenz zur Multifunktionalität, mehr noch, die Literatursprache bildet sich mit der Ausprägung ihrer funktional-stilistischen Vielfalt aus. Die Multifunktionalität der Literatursprachen ist unter den verschiedenen historischen Bedingungen nicht in gleicher Weise entfaltet, sondern der Entwicklungsstand der Gesellschaft und der allgemeinen Kultur des Volkes spielt hier eine entscheidende Rolle. Die altarabische Literatursprache bildete sich im 7. und 8. Jahrhundert auf Grund des hohen Entwicklungsstandes, den die arabische Kultur damals erreicht hatte, als Sprache der Dichtung, der mohammedanischen Religion, der Wissenschaft und der Bildung heraus. Die stilistische Vielfalt der altgriechischen Literatursprache hängt untrennbar mit bestimmten literarischen Gattungen (Epos, lyrische Dichtung, Theater), mit dem Aufblühen von Wissenschaft und Philosophie und mit der Entwicklung der Rhetorik zusammen. Ein anderes Bild bietet Westeuropa. Die Quellen der Literatursprachen Westeuropas waren Dichtungen und Prosa werke der schöngeistigen Literatur und das Volksepos; in Skandinavien und in Irland entwickelte sich neben dem Stil der epischen Dichtung der Prosastil der alten Sagas. Einem übermundartlichen Sprachtyp kam auch die Sprache der alten Runeninschriften vom 5. bis 8. Jahrhundert, die sogenannte Runen-Koine, nahe [295,19—53]. Im 12. und 13. Jahrhundert, der Blütezeit der höfischen Lyrik und des höfischen Romans, entstanden hervorragende Werke in der provenzalischen, französischen, deutschen und spanischen Literatursprache. Doch fanden diese Literatursprachen erst verhältnismäßig spät in der Wissenschaft und Bildung Eingang, zum Teil infolge der langsamen Entwicklung der Wissenschaft, hauptsächlich aber, weil in den westeuropäischen Ländern die Ausbreitung der Literatursprachen auf die anderen Verkehrsbereiche durch die lange Herrschaft des Lateinischen im Rechtswesen, in der Religion, in der staatlichen Verwaltung und im Bildungswesen gehemmt wurde und im Alltag der Dialekt verbreitet war. Die Verdrängung des Lateinischen durch die Literatursprache eines Volkes verlief in den verschiedenen europäischen Ländern unterschiedlich. In Deutschland fand die deutsche Sprache vom 13. Jahrhundert an nicht nur im diplomatischen Schriftverkehr, in privatrechtlichen und staatlichen. Urkunden, sondern auch in der Jurisprudenz Eingang. Bedeutende Rechtsdenkmälar wie der Sachsenspiegel und der Schwabenspiegel erfreuten sich großer Beliebtheit, davon zeugen die zahlreichen handschriftlichen Varianten aus den verschiedenen Gebieten Deutschlands. Fast zur gleichen Zeit begann sich die deutsche Sprache auch des Bereichs der staatlichen Verwaltung zu bemächtigen.96 In der kaiserlichen Kanzlei Karls IV. herrschte sie vor. Doch blieb das Lateinische faktisch bis Ende des 17. Jahrhunderts die Sprache der Wissenschaft und behauptete sich noch lange an der Universität; selbst im 96
Unter Rudolf von Habsburg wurden alle Urkunden des kaiserlichen Gerichtshofes in deutscher Sprache veröffentlicht. In Chroniken wird erwähnt, der gleiche Kaiser habe veranlaßt, Edikte und Privilegien in deutscher Sprache abzufassen.
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17. Jahrhundert stießen Vorlesungen in deutscher Sprache noch auf erbitterten Widerstand. Zu einer gewissen Festigung der Stellung des Lateinischen selbst in einigen literarischen Gattungen (im Drama) trug in Deutschland auch das Zeitalter der Renaissance bei. In Italien wurde das Lateinische im Rechtswesen, in der Wissenschaft und in der Diplomatie bis zum 16. Jahrhundert, in Kirchenkreisen noch im 20. Jahrhundert verwendet. Daneben gebrauchten die gebildeten Bevölkerungsschichten aber bereits seit dem 16. Jahrhundert in Dokumenten und im privaten Schriftverkehr weitgehend die italienische Schriftsprache in ihrer regionalen Florentiner Variante [772]. In Frankreich wurde Latein noch im 16. Jahrhundert nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch im Rechtswesen und in der Diplomatie angewandt [68, 355], obwohl bereits Franz I. die französische Sprache in die kaiserliche Kanzlei eingeführt hatte. Auch die Literatursprachen der alten Rus, Bulgariens und Serbiens wiesen in ihrer Funktionsweise typologisch ähnliche Züge auf. So entwickelte sich zum Beispiel die altrussische Literatursprache ebenfalls unter einer eigentümlichen Zweisprachigkeit: Im Kult, in der Wissenschaft und in einigen literarischen Gattungen wurde die altslawische Sprache verwendet [88]. Bis zum Ende des 17. Jahrhunderts unterschied sich diese fremde, wenn auch nahverwandte Sprache, von der auf der Volkssprache basierenden Literatursprache, das heißt von der russischen Literatursprache im eigentlichen Sinn dieses Wortes; infolgedessen waren die Verwendung der russischen Literatursprache und ihre stilistische Vielfalt eingeschränkt: Sie fand nur im Rechtsschrifttum, in Denkmälern wie der „Russkaja Prawda" und in einigen Literaturgattungen (Heiligenleben, Annalen und einigen anderen Denkmälern) Verwendung. Erst zu Beginn des 18. Jahrhunderts kam es zur Beseitigung dieser Zweisprachigkeit und — als Folge davon — zur allmählichen funktional-stilistischen Bereicherung der Literatursprache. In den meisten Literatursprachen der UdSSR bildete sich das Merkmal, allgemeinverbindliches Kommunikationsmittel zu sein, erst nach der Oktoberrevolution heraus, als die Literatursprache in die staatliche Verwaltung, Wissenschaft und höhere Bildung eindrang. Damit hängen auch die Veränderungen im System der Funktionalstile dieser Sprachen, in ihrem Wortschatz (vgl. die Ausbildung einer gesellschaftlichen, politischen und wissenschaftlichen Terminologie) und in den syntaktischen Gesetzmäßigkeiten zusammen [147]. Das trifft auch für Sprachen mit langer, schriftlich überlieferter literarischer Tradition zu wie zum Beispiel die georgische, ukrainische, armenische und aserbaidshanische Literatursprache. Folglich sind solche Kennzeichen der Literatursprache wie ihre Multifunktionalität und ihre stilistische Vielfalt nichts Absolutes oder Stabiles. Die Multifunktionalität und das Tempo, in dem die Literatursprache die Merkmale erwirbt, die sie zum allgemeinverbindlichen Kommunikationsmittel machen, hängen von den historischen Bedingungen, unter denen sich die Literatursprache herausbildet und weiterentwickelt, ab. Meist erfaßt die Literatursprache am spätesten den Bereich des Alltags, sofern sie im Verlauf ihrer Entwicklung überhaupt den Rang einer allgemein423
verbindliche/i Sprache erreicht. Selbst in Frankreich, wo sich die Einheit der Literatursprache früh herausbildete, blieben im mündlichen Verkehr bis ins 18. Jahrhundert hinein bedeutende lokale Besonderheiten erhalten.97 Zum Unterschied von der Literatursprache ist dem territorialen Dialekt typologisch keine Multifunktionalität und stilistische Vielfalt zu eigen, denn nach der Herausbildung der Literatursprache besteht die Hauptfunktion des Dialekts darin, im tagtäglichen Leben als Kommunikationsmittel zu dienen, das heißt, sein „Funktionalstil" ist die Alltagssprache. Die sogenannte Mundartliteratur beruht meist auf den regionalen Varianten der Literatursprache. Umstritten ist die Frage, wie die Stellung dieser Literatur in Italien zu bestimmen ist. Dort blühte und gedieh infolge der späten nationalen Einigung (1861) lange Zeit neben der allgemeinitalienischen Literatursprache in jeder Provinz ein besonderer Dialekt, offenbar nicht nur in der Funktion eines umgangssprachlichen Kommunikationsmittels der verschiedenen Bevölkerungsschichten [506, 73]. Gewöhnlich wird behauptet, daß es vom 15. und 16. Jahrhundert an eine regionale schöngeistige Literatur gegeben habe, und noch Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts sei in Genua eine Arbeiterzeitung im einheimischen Dialekt herausgegeben worden [218, 133]. Es handelt sich dabei aber nicht um Mundartliteratur in der eigentlichen Bedeutung dieses Wortes, sondern um regionale, mit der städtischen Koine zusammenhängende Varianten der Literatursprache. Einer der bedeutendsten Kenner dieses Problems, B . Migliorini, setzt die Sprache dieser Literatur nicht mit dem Dialekt im eigentlichen Sinne gleich: Er nennt sie italiano regionale und den Dialekt dialetto locale, während er die allgemeine italienische Literatursprache einfach als italiano bezeichnet [776, 81-83]. Noch komplizierter ist die Frage der arabischen Dialekte, die in den verschiedenen arabischen Ländern als Kommunikationsmittel dienen. Jedenfalls ist ihr Status ein anderer als der Status der Dialekte im engeren Sinne. 3. Die Art der Verwendung der Literatursprache und des Dialekts nach den Kommunikationsbereichen hängt in gewissem Orade mit dem Verhältnis von schriftlicher und mündlicher Sprachform zusammen. Nicht selten wird behauptet, daß die Literatursprache vorwiegend an das Schrifttum gebunden sei und daß der buchsprachliche Stil bei der Entwicklung der Literatursprache eine besondere Rolle gespielt habe. 98 Bis zu einem gewissen 97
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Noch Mitte des 17. Jahrhunderts (1661) schrieb Racine an Lafontaine aus Nîmes (einer Stadt in Südostfrankreich), daß er schon in Lyon die einheimische Mundart nicht mehr verstehe und daß er in Nimes ebenso dringend einen Dolmetscher benötige wie ein Moskauer, der nach Paris kommt. Bekannt sind auch spätere Fakten: Zu Beginn des 18. Jahrhunderts besuchte Ludwig XIV, ein picardisches Dorf, wo er in der Mundart begrüßt wurde, den Wortlaut der Begrüßung jedoch nicht verstand [632], Obwohl die Gegenüberstellung schriftlich : mündlich nicht identisch ist mit der Gegenüberstellung Buchstil : gesprochene Sprache, da der Buchstil auch in den mündlichen Verkehr eindringen kann, bilden sich gerade im Schrifttum die Varianten des Buchstils heraus und ist der Buchstil vorwiegend mit den schriftlichen Gattungen verbunden.
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Grade trifft das zu. Die Ausformung der meisten modernen Sprachen erfolgte in den Varianten der buchsprachlichen Stile und in der schöngeistigen Literatur; die Einheit und Allgemeingiiltigkeit, das heißt die Ausbildung des sprachlichen Standards, wurde oft am frühesten in der schriftlichen Sprachform erreicht, die stabiler ist als die mündliche Form. Nicht nur in Deutschland oder Italien, wo die Ausbildung der einheitlichen Literatursprache lange Zeit vorwiegend im Schrifttum erfolgte, sondern auch in anderen Ländern hängt die Normierung, das heißt die Kodifizierung bewußt fixierter Normen, in den ersten Stadien vorwiegend mit der Schreibsprache zusammen. Neben der schöngeistigen Literatur spielte in einer Reihe von Ländern (Rußland, Frankreich, Deutschland) dabei die schriftliche Geschäftssprache eine entscheidende Rolle. Zudem gibt es in einigen Ländern Literatursprachen, die sich von der gesprochenen Sprache scharf abheben, da sie einen älteren Sprachtyp verkörpern als die gesprochene Sprache, das heißt, die faktisch nur in schriftlicher Form existieren; die singhalesische Literatursprache auf Ceylon, die ihre archaische flektierende grammatische Struktur bewahrt und sich von der analytischen Sprache des mündlichen Verkehrs auffallig unterscheidet, existiert nur in schriftlicher Form. In China geht die schriftliche Literatursprache, das Wenyan, auf das historische Modell der mittelalterlichen chinesischen Literatursprache des 8. bis 12. Jahrhunderts zurück; in Japan basiert die schriftliche Literatursprache, das Bungo, auf dem historischen Modell der japanischen Literatursprache des 13. und 14. Jahrhunderts [237]; in Indien existiert die schriftliche Literatursprache, das Sanskrit, neben den lebenden Literatursprachen. Die hier behandelten Beziehungen zwischen Literatursprache und schreibsprachlicher Form sind jedoch nicht universell und können nicht in die allgemeine typologische Charakteristik der Literatursprache einbezogen werden. Wie bereits festgestellt, ist die Existenz einer mündlichen Variante der Literatursprache genauso ein „Normalfall" wie die Existenz schriftlicher Literatursprachen. Ja, man kann sogar behaupten, daß in bestimmten Epochen der Kulturgeschichte die geformte Sprache, im Gegensatz zur gesprochenen Alltagssprache, vorwiegend in der mündlichen Überlieferung existierte (zum Beispiel die griechische Literatursprache der Epoche Homers). So paradox das auch klingen mag, bei vielen Völkern ist die Literatursprache faktisch älter als das Schrifttum, und was in der mündlichen Variante der Literatursprache geschaffen wurde, ist erst später schriftlich fixiert worden. Das trifft auf die Sprache der epischen Werke verschiedener Völker Asiens, Afrikas, Amerikas und Europas, auf die Sprache des mündlich überlieferten Rechts und des religiösen Kults zu. Aber auch in späterer Zeit, als es bereits ein Schrifttum gab und sich die schriftliehen Stile der Literatursprache entwickelten, wurde die Literatursprache nicht selten mündlich vorgetragen, so zum Beispiel die Sprache der provenzalischen Troubadours im 12. Jahrhundert, der deutschen Minnesänger und der Spielmannslieder im 12. und 13. Jahrhundert. Andererseits umfaßt das Stilsystem der modernen Literatursprache nicht nur die schriftlichen Stile, sondern auch den gesprochenen Stil, finden die modernen Literatursprachen auch im mündlichen Verkehr Verwendung. Der Status der gesprochenen literatursprachlichen Stile ist in den verschiedenen Ländern unterschiedlich. Mit ihnen können nicht nur 425
die territorialen Dialekte konkurrieren, sondern auch die verschiedenen Zwischenformen der Existenzweise der Sprache wie die Umgangssprache in der ÖSSR und in Deutschland oder der sogenannte italienisierte Jargon in Italien." Darüber hinaus werden auch die buchsprachlichen Stile in mündlicher Form realisiert (vgl. zum Beispiel die Sprache offizieller Vorträge, politischer, wissenschaftlicher Referate usw.). Daher drückt sich das Verhältnis zwischen schriftlicher und mündlicher Form im Hinblick auf die Literatursprache und den Dialekt nicht darin aus, daß etwa der Literatursprache bzw. dem Dialekt nur die schriftliche bzw. nur die mündliche Form vorbehalten wäre, sondern darin, daß die Entwicklung der buchsprachlichen Stile, ihre Vielfalt nur für die Literatursprache charakteristisch ist, unabhängig davon, ob die Literatursprache einheitlich ist oder ob sie in mehreren Varianten realisiert wird. 4. Die soziale Basis der Literatursprache ist eine historisch veränderliche Größe ebenso wie die des territorialen Dialektes Die entscheidende Rolle spielt hierbei vor allem die Gesellschaftsformation, in der sich die betreffende Literatursprache entwickelte und in der sie verwendet wird. Unter sozialer Basis wird hier einerseits der soziale Anwendungsbereich der Literatursprache bzw. anderer Existenzformen der Sprache verstanden, das heißt, welche gesellschaftliche Gruppe bzw. gesellschaftlichen Gruppen Träger der betreffenden Existenzform der Sprache sind, andererseits aber, welche gesellschaftlichen Schichten an dem schöpferischen Prozeß der Ausbildung dieser Form teilnehmen. Die soziale Basis der Literatursprachen wird vor allem dadurch bestimmt, auf welche Sprachpraxis sich die Literatursprache bei ihrer Herausbildung und Entwicklung stützt und welchen Vorbildern sie folgt. In. der Blütezeit des Feudalismus hingen Entwicklung und Funktionsweise der Literatursprache in Europa hauptsächlich mit der höfischen und der klerikalen Kultur zusammen. Daraus ergab sich eine Begrenztheit der sozialen Basis der Literatursprache und eine gewisse Absonderung von der gesprochenen Sprache der Bevölkerung nicht nur auf dem Lande, sondern auch in der Stadt. Die mündliche Variante der Literatursprache war durch die höfische Dichtung mit der ihr eigenen strengen Auswahl, der ständisch begrenzten Thematik, den traditionellen Sujets und den dadurch bedingten sprachlichen Schablonen vertreten. In Deutschland, wo sich die höfische Kultur später als in anderen europäischen Ländern entwickelte und die höfische Dichtung unter starkem Einfluß französischer Vorbilder stand, war die Sprache dieser Dichtung mit Entlehnungen aus dem Französischen buchstäblich überschwemmt; das betraf nicht nur einzelne Wörter, die später mit dem Verfall der höfischen Kultur aus der Sprache wieder verschwanden (vgl. chanyun 'Lied', garqun 'Junge', 'Page', 99
Kassatkin definiert ihn als eine mittlere Form zwischen Dialekt und Literatursprache und hebt hervor, daß der „italienisierte Jargon" regionale Besonderheiten bewahrt [218, 130]. Migliorini definiert ihn als dialetto regionale [776],
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schou 'Freude', amie 'Geliebte', rivier 'Bach' usf.), sondern auch ganze Wendungen. Diesem Stil der deutschen Literatursprache standen zwei andere Funktionalstile gegenüber, die mit der buchsprachlichen Variante der deutschen Literatursprache des 13. und 14. Jahrhunderts zusammenhingen: der Stil der geistlichen Literatur und der Stil der Rechtsliteratur. Der erste wies erhebliche Einflüsse des Lateinischen im Wortschatz und besonders in der Syntax auf (Partizipialkonstruktionen, a.-c.-i.-Konstruktionen), der zweite stand der gesprochenen Sprache am nächsten. In der durch die Predigt vertretenen mündlichen Form der Literatursprache, zum Beispiel in den Predigten Bertholds von Regensburg im 13. Jahrhundert oder Geilers von Kaisersberg im 15. Jahrhundert ist eine Annäherung des geistlichen buchsprachlichen Stils an den Stil der vom Volk gesprochenen Sprache sowohl in den Wortschatzschichten als auch in der Syntax zu erkennen. Somit läßt sich nicht nur die soziale Basis der deutschen Literatursprache vom 12. bis zum 14. Jahrhundert mit ihren verschiedenen, der Umgangssprache und den zahlreichen territorialen Dialekten gegenüberstehenden Stilen bestimmen, sondern auch die soziale Bedingtheit der stilistischen Differenzierung innerhalb der Literatursprache selbst. Über den Entwicklungsprozeß der Literatursprachen in China und Japan schrieb Konrad, daß die gesellschaftliche Geltung der mittelalterlichen Literatursprache in diesen Ländern „auf bestimmte, verhältnismäßig enge Gesellschaftsschichten, vor allem auf die herrschende Klasse beschränkt war" [237, 48]. Daraus erklärt sich auch die große Kluft, die zwischen der schriftlichen Literatursprache und der gesprochenen Sprache bestand. In Frankreich bildete sich bereits im 13. Jahrhundert eine relativ einheitliche schriftliche Literatursprache heraus, die die anderen schriftlichen literatursprachlichen Varianten verdrängte. Der Erlaß Franz I. (1539) über die Einführung der französischen Sprache an Stelle des Lateinischen war zugleich gegen die Verwendung der Dialekte im Kanzleibetrieb gerichtet. Die französischen Sprachnormer des 16. und 17. Jahrhunderts orientierten sich auf die Sprache des Hofes (vgl. die Tätigkeit von Vaugelas in Frankreich). Während für die mittelalterlichen Literatursprachen eine mehr oder weniger enge soziale Basis typisch war, da Träger dieser Sprachen die herrschenden Klassen der Feudalgesellschaft waren und die Literatursprachen der Kultur dieser gesellschaftlichen Gruppierungen dienten, was sich natürlich vor allem auf den Charakter der literatursprachlichen Stile auswirkte, ist für den Prozeß der Herausbildung und Entwicklung der nationalen Literatursprachen eine wachsende Tendenz zur Demokratisierung, zur Ausweitung ihrer sozialen Basis und zur Annäherung der buchsprachlichen Stile an die vom Volk gesprochenen Stile charakteristisch. Es muß jedoch der Vorbehalt gemacht werden, daß dieser Prozeß ziemlich kompliziert ist und keineswegs geradlinig verläuft. Die puristischen Bewegungen, die für die Epoche der Herausbildung der Nationalsprachen charakteristisch sind, stützen sich zumeist auf die Sprachpraxis begrenzter sozialer Gruppen. Außerdem wird diese Tendenz zur Demokratisierung in der Klassengesellschaft nie voll wirksam werden. In den Ländern, in denen die schriftlich überlieferten mittelalterlichen Literatlirsprachen lange Zeit dominierten, hing die Bewegung gegen sie mit der 427
Entwicklung der neuen herrschenden Klasse, der Bourgeoisie, zusammen. Die Herausbildung der sogenannten „Gemeinsprache" in China und in Japan, die sich im weiteren Verlauf zur nationalen Literatursprache entwickelte, war mit der Entstehung kapitalistischer Verhältnisse und der Entwicklung der Bourgeoisie verbunden [237]. Analoge soziale Faktoren waren in den westeuropäischen Ländern wirksam, wo sich die Nationen unter den Verhältnissen des entstehenden Kapitalismus herausbildeten. Die Geschichte der Literatursprachen, die Ablösung der verschiedenen Typen der Literatursprache hängt mit den Veränderungen der sozialen Basis der Literatursprache und über dieses Vermittlungsglied mit den Entwicklungsprozessen der Gesellschaftsformation zusammen. Aber nicht immer war der fortschreitende Gang der Geschichte unbedingt mit einer Erweiterung der sozialen Basis der Literatursprache, mit ihrer Demokratisierung verbunden. In diesem Prozeß hängt viel von den historischen Bedingungen ab. Interessant sind in diesem Zusammenhang die Veränderungen, die in der Geschichte der tschechischen Literatursprache vor sich gingen. Das 16. Jahrhundert ist das goldene Zeitalter der tschechischen Literatur und der tschechischen Literatursprache, die zu jener Zeit eine gewisse Einheit erreichte. Während der Hussitenkriege kam es zu einer bestimmten Demokratisierung der Literatursprache im Gegensatz zu dem ständisch begrenzten Charakter, den sie im 14. und 15. Jahrhundert besessen hatte [504,38]. Nach der Niederwerfung des tschechischen Aufstandes im Jahre 1620 wurde die tschechische Sprache auf Grund der nationalistischen Politik der Habsburger faktisch in den wichtigsten gesellschaftlichen Bereichen durch das Lateinische oder das Deutsche verdrängt. 1781 wurde das Deutsche Staatssprache. Die nationale Unterdrückung führte zur Vernachlässigung der Pflege der tschechischen Literatursprache, da das Tschechische vorwiegend auf die Landbevölkerung beschränkt blieb, die nicht die Literatursprache sprach [410,15]. Zu einer Erneuerung der tschechischen Literatursprache kam es Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts im Zusammenhang mit dem Anwachsen der nationalen Befreiungsbewegung, doch die Literaturschaffenden und die Wissenschaftler stützten sich dabei nicht auf die lebende gesprochene Sprache, sondern griffen auf die Literatursprache des 16. Jahrhunderts zurück, die der gesprochenen Sprache der verschiedenen Schichten des tschechischen1 Volks ferne stand. „Die neue tschechische Literatursprache", schrieb Mathesius, „wurde somit zum archaischsten Glied der geehrten slawischen Sprachfamilie und entfernte sich tragischerweise von der gesprochenen tschechischen Sprache" [771, 442]. So kam es, daß die tschechische Literatursprache im 19. Jahrhundert eine viel engere soziale Basis hatte als zur Zeit der Hussitenkriege. Die Breite der sozialen Basis des territorialen Dialekts steht im umgekehrten Verhältnis zur Breite der sozialen Basis der Literatursprache: J e enger die soziale Basis der Literatursprache ist, je m£hr die Sprachpraxis, die sie verkörpert, ständisch eingeschränkt ist, um so breiter ist die soziale Basis der nichtliteratursprachlichen Existenzformen der Sprache, darunter auch des territorialen Dialekts. Die weite Verbreitung der Dialekte in Italien im 19. und 20. Jahrhundert steht der Begrenztheit der sozialen Basis der Literatursprache gegen428
über; in den arabischen Ländern förderte die begrenzte soziale Basis der Literatursprache bereits im 10. Jahrhundert die breite Entfaltung der Dialekte [41,164]; in Deutschland bedingte im 14. und 15. Jahrhundert die starke Bindung der deutschen Literatursprache an die buchsprachlichen Stile, daß sie nur von den gesellschaftlichen Gruppen verwendet wurde, die lesen und schreiben konnten. Da Schreiben und Lesen damals aber ein Privilegium der Geistlichkeit, der städtischen Intelligenz, einschließlich der Angestellten der kaiserlichen, fürstlichen und städtischen Kanzleien, und zum Teil des Adels war, dessen Vertreter nicht selten wenig gebildet waren, sprach die Hauptmasse der Stadt- und Landbevölkerung territoriale Dialekte. In den folgenden Jahrhunderten änderte sich dieses Verhältnis. Auf Grund des Vordringens der Literatursprache und verschiedenartiger regionaler Koines bzw. Umgangssprachen wurden die Dialekte verdrängt, wobei sie sich auf dem Lande, insbesondere in den von den größeren Städten entfernteren Gegenden, am längsten hielten. Die Dialekte behaupten sich auch unter den verschiedenen Altersgruppen der Bevölkerung verschieden. Die ältere Generation bleibt dem territorialen Dialekt gewöhnlich treu, während die jüngere Generation heutzutage vorwiegend schon eine regionale Koine spricht. Sofern es standardisierte Literatursprachen gibt, bietet das Verhältnis zwischen der sozialen Basis der Literatursprache und der des Dialekts ein sehr kompliziertes Bild, da nicht nur die Differenzierung zwischen der Stadt- und Landbevölkerung, sondern auch das Alter und das Bildungsniveau die soziale Basis bestimmen. Zahlreiche Arbeiten der letzten Jahrzehnte über verschiedene Sprachen zeigen, daß in den Ländern, wo die territorialen Dialekte bedeutende Strukturunterschiede von der Literatursprache bewahrt haben und der sprachliche Standard eine verhältnismäßig begrenzte Rolle spielt, die soziale Schichtung der literatursprachlichen und der nichtliteratursprachlichen Formen annähernd vom gleichen Typ ist. 100 Sehr wesentlich ist auch, daß selbst heute noch in verschiedenen Ländern eine eigentümliche Zweisprachigkeit besteht, wenn nämlich Menschen, die die Literatursprache beherrschen und sie in den offiziellen Verkehrsbereichen anwenden, im Alltag Dialekt sprechen, wie das in Italien, in Deutschland und in den arabischen Ländern zu beobachten ist. Hier überschneidet sich die soziale Schichtung mit der Schichtung nach Kommunikationsbereichen. Die Verwendung der Literatursprache im Alltag gilt in einigen Gegenden Norwegens als affektiert. Diese Erscheinung ist nicht nur für die modernen Sprachverhältnisse charakteristisch: Überall, wo das funktionale System der Literatursprache auf die buchsprachlichen Stile beschränkt' war, erwies sich der Dialekt als das verbreitetste Mittel des mündlichen Verkehrs; dabei konkurrierte er ursprünglich nicht mit den gesprochenen Stilen der Literatursprache, die es damals noch nicht gab, sondern mit den umgangssprachlichen Koines, die sich in einer bestimmten Entwicklungsetappe der Gesellschaft herausbildeten und vorwiegend mit der 100 Die Analyse der gegenwärtigen Situation im Meißener Mundartgebiet von R. Große [637] hat eine sprachliche Schichtung ergeben, die den Sprachverhältnissen einer der kleinen Siedlungen in Nordnorwegen analog ist [640].
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Entfaltung der städtischen Kultur zusammenhingen. Offenbar entwickeln sich die gesprochenen Stile der Literatursprache typologisch in einer späteren historischen Etappe als die umgangssprachlichen Koines; die sozialen Schichten, die in der staatlichen Verwaltung, der Religion, der schöngeistigen Literatur die Literatursprache anwandten, sprachen im Alltagsleben früher entweder Dialekt, der unter jenen Bedingungen die Stellung eines regional begrenzten, aber sozial vom ganzen Volk verwendeten Kommunikationsmittels einnahm, oder regionale Koines. 5. Da die Literatursprache, in welchen historischen Varianten sie auch immer in Erscheinung tritt, stets den einzigen geformten Sprachtyp verkörpert, der dem nichtgeformten gegenübersteht, hängt das spezifische Wesen der Literatursprache, wie bereits festgestellt, mit einer bestimmten Auswähl und relativen Regelung zusammen. Auswahl und Regelung sind weder für den territorialen Dialekt noch für die Zwischenformen zwischen territorialem Dialekt und Literatursprache charakteristisch. Auswahl und relative Regelung bedeuten aber noch nicht Standardisierung und Kodilizierung strenger Normen. Deshalb kann man der Behauptung Isaöenkos (s. S. 414) nicht vorbehaltlos zustimmen, daß die Literatursprache den anderen Existenzformen der Sprache wie der normierte Sprachtyp dem nichtnormierten gegenüberstehe. Sowohl Form als auch Inhalt dieser Behauptung rufen Widerspruch hervor. Auch der Dialekt besitzt eine Norm, die den ungehinderten Verkehr ermöglicht, selbst wenn sie nicht bewußt erkannt und kodifiziert wird; deshalb kann man wohl kaum einer Gegenüberstellung von normiertem und nichtnormiertem Sprachtyp beipflichten. Eher trifft für die verschiedenen Umgangssprachen zu, daß sie nicht normiert, daß ihre Grenzen fließend sind. Wenn man andererseits unter normiertem Typ die konsequente Kodifizierung bewußt erkannter Normen, das heißt Normierungsprozesse, versteht, so vollziehen sich diese Prozesse nur unter bestimmten historischen Bedingungen, meistens in der Epoche der Nation, wenngleich auch Ausnahmen möglich sind (zum Beispiel das System von Normativen in der Grammatik von Panini), und charakterisieren nur eine bestimmte Variante der Literatursprache. Die Auswahl und die daHbix CTHJieti coBpeMeHHoro pyccKoro H3biKa. MocKBa 1968, CTp. 3—11. — CTHJiHcraqecKoe pa3BHTne coBpeMeHHOft pyccKott paaroBopHoit penn. — PaaBHTiie (fiyHKHHOiiajibHbix craneô coBpeMeHHoro pyccKoro H3bina. MocKBa 1968, CTp. 12—100. E . K. BoftlUBHililO. Ü0HHTH6. MocKBa 1967. A . T . Bojikob. fl3biK h p e i b Kan o S i e r a u jniHrBHCTHKH. — Teancbi ME»By30BCK0ö KOHijiepeHiiHH Ha Teiay ,,H3biK h peqb". MocKBa 1 9 6 2 , crp;22—24. B . H . Bojiouihhob. MapKCH3M h KCKHft jihhrBHCTHHeCKHÖ KpjTKOK. MoCKBa 1967, CTp.,338—377. [ 1 0 7 ] B . T . 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499
[ 1 3 1 ] —, K B o n p o c y o paaBHTnii a H a n n 3 a B iiH«oeBponeftCKHX n a u K a x . — y n ë H t i e aanHCKii I M r n H H f l . TOM 2 . B o n p o c u RPAMMATHKH. M o c K B a 1 9 4 0 , cTp. 15—30. [ 1 3 2 ] — JlHHrBHCTirtecKaH
TeopHH J I . B e f t c r e p C e p a . — B o n p o c u TeopHH s a u n a B COB-
peMeHHoft a a p y ô e w H o i t jiHHrBHCTHKe. M o c K B a 1 9 6 1 , CTp. 1 2 3 — 1 6 2 . [ 1 3 3 ] — HeKOTopwe o 6 m « e aaKOHOMepnttCTH $opMnpoBaHHfl H paaBHTHH H a n H O H a n t m j x H3bIK0B. — B o n p o c t i OpMHpOBaHHH H paaBHTHH HB^HOHajIbHUX HBbIKOB. MoCKBa 1 9 6 0 , CTp. 2 9 5 - 3 0 7 . [ 1 3 4 ] — O ejiHHimax conocTaBHTeJibHo-TiinoJiorHHecKoro a H a j i n a a r p a M M a r a i e c K n x CHCTEM poHCTBeHHux H3HK0B. — GrpyKTypHO-THnojiorHiecKoe o n u c a m i e c o B p e M e m m x r e p MaHCKHX H3UK0B. M o c K B a 1 9 6 6 , CTp. 2 2 — 3 3 . [ 1 3 5 ] — noHHTIie CHCTGMH B CHHXpOHHH H AHaXpOHHH. „ B o n p o c u H3bIK03HäHHH", 1 9 6 2 , JV? 4 „ CTp. 2 5 - 3 5 . [ 1 3 6 ] — CTaHOBneHHe JiiiTepaTypHoft HopMU He¡nei;Koro H a n n o n a j i b H o r o nabiKa. — B o n p o c b i $OpMHpOBaHHH H pa3BHTHH HaiJHOHaJIbHblX H3UK0B. M o c K B a 1 9 6 0 , CTp. 2 5 2 — 2 7 3 . [ 1 3 7 ] — 9 . C a i m p H „BTHORPAIJHMECKAH JIHHRBHCTHKA". „ B o n p o c b i H3biK03HaHHH", 1 9 5 4 , JV" I , CTp. 1 1 0 - 1 2 7 . [ 1 3 8 ] M . M . TyxMaH, H . H . C6M6HIOK. O comionoriiqecKOM acneKTe JiHTepaTypHoro nabiKa. — H o p M a h couHajibHaH flH(j)$epeHi;nanHH « a u n a . M o c K B a 1 9 6 9 , C T p . 5 — 2 5 . [ 1 3 9 ] B . FLANB. TOJIKOBUK CJIOBAPB JKHBOFO BeJiHKopyccKoro a a u K a . TOM 1 . M o c K B a 1 9 5 5 . [ 1 4 0 ] B . n . flaHHJieHKO. HMeHa cymecTBHTejibHbie (HapHijaTeJibHbie) KaK npoH3Bo«HmHe OCHOBBI coBpeMeHHoro cJioBooôpaaoBaHHH. — PasBHTHe rpaMMaTHKH h jieKCHKH COBpeMeHHoro p y c c K o r o « a u n a . M o c r a a 1 9 6 4 , CTp. 63—76. [ 1 4 1 ] C . 3 . ,H;«BaeB. ^ H a n e K T U MOKina-MopnoBCKoro H3biKa B $oHOJiorHI;HH. —
M a T e p n a j m B c e c o i o s H o t t KOH$epeHijHH n o oßmeMy H3biK08HaHni0 „OcHOBHbie n p o 6jieMH aBOJnoQHH H3biKa." H a c n , 1. C a M a p n a H « 1 9 6 6 , c r p . 5 5 — 5 9 .
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fliiauieKTHoe
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