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German Pages 178 [184] Year 1998
Wemer Troßbach I Clemens Zimmennann Agrargeschichte
Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte Herausgegeben von Peter Blickle und David Sabean Band 44
Agrargeschichte Positionen und Perspektiven
Herausgegeben von Wemer Troßbach und Clemens Zimmermann mit Beiträgen von Peter Blickle, Ulrike Gleixner, Barbara Krug-Richter, Wemer Rösener, Andreas Suter, Wemer Troßbach, Clemens Zimmermann
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~ Lucius & Lucius Stuttgart
Adressen der Autoren: PD Dr. Wemer Troßbach Fachbereich Landwirtschaft GHKassel Steinstraße 19 D-37213 Witzenhausen
Prof. Dr. Clemens Zimmermann Historisches Seminar der Universität Grabengasse 3-5 D-69117 Heidelberg
Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme Agrargeschichte : Positionen und Perspektiven I hrsg. von Wemer Trosbach und Clemens Zimmermann. Mit Beitr. von Peter Blickle ... - Stuttgart : Lucius und Lucius, 1998 (Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte; Bd. 44) ISBN 3-8282-0081-8
© Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft mbH · 1998 Gerokstraße 51· D-70184 Stuttgart Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Satz: Sibylle Egger, Stuttgart Druck und Bindung: Franz Spiegel Buch GmbH, Ulm
Vorbemerkung
Dieser Band geht auf eine Sektion des 41. Historikertages zurück, der vom 17.-20. September 1996 in München stattfand. Dessen Leitmotiv, "Geschichte als Argument", liegt auch den Beiträgen von Peter Blickle, Ulrike Gleixner und Barbara Krug-Richter zugrunde, die sich zusätzlich beteiligten. Die Herausgeber danken insbesondere Peter Blickle für seine zahlreichen kritischen Hinweise, die unser Vorhaben, die Positionen und Perspektiven der heutigen Agrargeschichte zu bilanzieren, wesentlich förderten. Ebenso sei der Landwirtschaftlichen Rentenbank in Frankfurt am Main gedankt. Vertreten durch Uwe Zimpelmann, ermöglichte sie das Erscheinen durch einen namhaften Druckkostenzuschuß. Hervorzuheben sind auch die vielfältigen technischen Hilfen, die Carola Peschke (Witzenhausen) und Christian Haller (Heidelberg) leisteten. Witzenhausen/Heidelberg
Werner Troßbach, Clemens Zimmermann
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Inhalt Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V Einleitung ................................................... . Werner Troßbach, Clemens Zimmermann Deutsche Agrargeschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts . . . . Peter Blickle
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Agrargeschichte der frühen Neuzeit in geschlechtergeschichtlicher Perspektive. Anmerkungen zu einem Forschungsdesiderat . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Barbara Krug-Richter Rechtsfindung zwischen Machtbeziehungen, Konfliktregelung und Friedenssicherung. Historische Kriminalitätsforschung und Agrargeschichte in der frühen Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Ulrike Gleixner Neue Forschungen und Perspektiven zur Geschichte der ländlichen Gesellschaft in der Schweiz (1500-1800) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Andreas Suter Problem der Erforschung der ländlichen Gesellschaft des Mittelalters . . . 93 Werner Rösener Beharrung und Wandel "als Argument". Bauern in der Agrargesellschaft des 18. Jahrhunderts ................................ I 07 Werner Troßbach Ländliche Gesellschaft und Agrarwirtschaft im 19. und 20. Jahrhundert. Transformationsprozesse als Thema der Agrargeschichte ................. 137 Clemens Zimmermann Abstracts
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Sachregister .................................................... 169
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Einleitung Vor mehr als zehn Jahren ging Ian Farr 1 mit der deutschen Agrargeschichte ins Gericht. Sie verbreite Klischees wie das einer stets fortschrittsfeindlichen Bauernschaft; durch ihre Theoriefeindlichkeit werde der Begriff der Modemisierung undifferenziert verwendet, die Geschichte der Landwirtschaft im Industrialisierungszeitalter ignoriert. Isoliert in der allgemeinen Geschichtswissenschaft und ohne Bezug zur Agrarsoziologie, sei die Agrargeschichte in jeder Beziehung marginal. Fast gleichzeitig mit Farr vertrat Christof Dipper die Meinung, daß sich die Agrargeschichte zwischen den Polen ideologiebelasteter Traditionen einerseits ("Hotbauemtum") und dürrer, wirtschaftswissenschaftlich geprägter Modelle andererseits selbst ins Abseits gestellt habe. 2 Selbst wenn man diesen Einschätzungen nicht in jeder Hinsicht folgen möchte, Symptome eines Niederganges waren gerade zu Beginn der achtziger Jahre unverkennbar, wenngleich ihre Ursachen länger zurückreichen. Ob die institutionelle Marginalisierung als Ursache oder als Folge zu begreifen ist, soll dahingestellt bleiben. Die Auswirkungen sind jedenfalls bis in die Gegenwart spürbar, z. T. sind die Probleme die gleichen geblieben. Auch heute kann sich Agrargeschichte weder durch ihren volkswirtschaftlichen Nutzen legitimieren noch auf politische Unterstützung hoffen. Noch immer mangelt es mehr als anderswo in der Wissenschaftslandschaft an Koordinierung, an integrativen Entwürfen, an Dialog und Kooperation. Andererseits sind den deprimierenden Bestandsaufnahmen auch positive Entwicklungen an die Seite zu stellen. Allgemein sollte stärker berücksichtigt werden, daß Agrargeschichte auch dort stattfand (und vermehrt stattfindet), wo sie nicht explizit firmiert, d. h. da, wo über Probleme geforscht und nicht über einen kanonisierten Objektsektor gehandelt wird. In dieser Hinsicht ist besonders die Landesgeschichte zu erwähnen, die den ländlichen Raum - auch in der akademischen Lehre - nie aus den Augen verloren und in den letzten zehn Jahren ihre Bemühungen verstärkt hat. Auf die Epochen bezogen, ist besonders die Frühneuzeitforschung hervorzuheben. Sie thematisiert verstärkt ländliche Gesellschaften, vor allem in kulturgeschichtlicher Ausrichtung. Auch die moderne Gesellschaftsgeschichte beginnt ihre Beiträge zu leisten. Selbst Stadt- und Urbanisierungshistoriker werden auf ländliche Gesellschaften aufmerksam, wenigstens als Kontrastfolie. Legt man eine thematisch orientierte Auflistung derjenigen Anstrengungen zugrunde, die dem "Fach" wieder zu größerer Geltung verholfen haben, dann wäre zunächst der Bereich "Protest und Widerstand" zu nennen, der in gewisser Weise noch zum traditionellen Fragenkatalog gehörte, durch seine Ausrichtung an angel-
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Vgl. Ian Farr, "Tradition" and the Peasantry: On the Modem Historiography of Rural Germany 1781-1914, in: Richard J. Evans/W. R. Lee (Hg.), The German Peasantry: Conflict and Community in Rural History from the 18th to the 20th Centuries, London 1986, 1-36. Vgl. Christof Dipper, Bauern als Gegenstand der Agrargeschichte, in: Wolfgang SchiederNolker Seil in (Hg.), Sozialgeschichte in Deutschland, Bd. 4, Göttingen 1987, 9-33.
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sächsischen Vorbildern jedoch Impulse aus der Protestforschung einbrachte. Mit älteren Fragestellungen nur noch locker verbunden sind die Arbeiten zum Komplex "Protoindustrialisierung", von denen ein Teil seinerseits in den letzten beiden Jahrzehnten einer charakteristischen Evolution ausgesetzt war. Während sie anfänglich verstärkt quantifizierende Methoden einführten und Aussagen "mittlerer Reichweite" anstrebten, sind sie schließlich in voluminöse Lokalstudien gemündet. Sie trafen sich in den letzten beiden Jahrzehnten dort mit Arbeiten, die nicht mehr primär wirtschafts- oder strukturgeschichtlich inspiriert waren, sondern mit einem weitgespannten Kulturbegriff an die Analyse ländlicher Einheiten herangingen. Dieser Dimension hatte sich die traditionell wirtschafts- oder verfassungsgeschichtlich ausgerichtete deutsche Agrargeschichte nach 1945 ganz verschlossen. Die neuen Ansätze zur Familien-, Haushalts-, Kriminalitäts- und nicht zuletzt Geschlechtergeschichte3 förderten eine Vielfalt sozialer Realitäten zu Tage, die hinter den "dürren Modellen" nicht einmal zu erahnen war. Mit dieser hier nur flüchtig skizzierten thematischen Erweiterung ging vielfach eine methodische Vertiefung einher, sei es durch Kontextualisierung im Zuge der Mikrogeschichte, sei es durch vergleichend angelegte Regionalstudien. Doch auch die auf dem Primat wirtschaftsgeschichtlicher Fragestellungen beharrende Agrargeschichte - man könnte sie zusammen mit der Agrarverfassungsgeschichte die "innere" nennen- gewann in den beiden letzten Jahrzehnten an Komplexität. Von Anfang an stärker auf die Erklärung gesamtgesellschaftlicher Wandlungsprozesse ausgerichtet war die Agrargeschichte in der DDR. Anfangs durch die Lenin 'sehe Formulierung vom "Preußischen Weg" primär auf die Erforschung einer dogmatisch bestimmten Variante des "Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus" festgelegt, gelang es einzelnen Vertretern, das Feld auf eine Systemanalyse der Gutsherrschaft hin zu erweitern. Wenn dies auch weiterhin unter dem Primat wirtschaftsgeschichtlicher Fragestellungen und geschichtlicher Formationsanalysen stand, so verhinderte die gesamtgesellschaftliche Orientierung doch eine Marginalisierung der Fragestellungen, wie sie zeitgleich der westdeutschen Agrargeschichte geschah. Schließlich konnte das erprobte Forschungsinstrumentarium in einem mutigen Schritt zur Relativierung der Lenin'schen Festlegung eingesetzt werden. 4 Auch in der BRD wurde die "innere" Agrargeschichte dann rezipiert, wenn sie sich zu gesamtgesellschaftlichen Fragestellungen, z. B. der Bauembefreiung, äußerte. Andere Neuorientierungen blieben eher unbemerkt. So sind die agrarwissenschaftlieh fundierten Arbeiten von Walter Achilles gleichfalls in Mikrostrukturen vorgedrungen, z. B. in der "dichten Beschreibung" von Kartoffel- und Flachsanbau, und haben sich damit gesellschaftsgeschichtlich relevanten Fragestellungen angenähert,
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Vgl. Werner Troßbach, Historische Anthropologie und frühneuzeitliche Agrargeschichte deutscher Territorien. Anmerkungen zu Gegenständen und Methoden, in: Historische Anthropologie 5, 1997, 187-211. Hier ist zu Recht verwiesen worden auf: Hartmut Harnisch, Kapitalistische Agrarreform und industrielle Revolution, Weimar 1984. Weniger rezipiert, aber gleichfalls hervorzuheben sind die Arbeiten von Rudolf Berthold, insbesondere: Die Veränderungen im Bodeneigentum und in der Zahl der Bauernstellen, der Kleinstellen und der Rittergüter in den preußischen Provinzen Sachsen, Brandenburg und Pommern während der Durchführung der Agrarreformen des 19. Jahrhunderts, in: Studien zu den Agrarreformen des 19. Jahrhunderts in Preußen und Rußland (Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, Sonderband), Berlin 1978, 8 - 116.
Einleitung
ohne freilich in einen expliziten Dialog mit anderen Ansätzen, etwa den Autoren der Protoindustrialisierungsdebatte und der Diskussion um die Sozialgeschichte der landwirtschaftlichen Transformation zu treten. Diesen ermutigenden Ergebnissen aus der "inneren" wie aus der "äußeren" Agrargeschichte stehen jedoch noch immer eine Reihe von Problemen gegenüber. So ist weder die Vermittlung von Mikro- mit Makroprozessen als theoretisches Hauptproblem gelöst noch die Gefahr behoben, daß die Agrargeschichte (durch die zunehmende Spezialisierung von Forschenden und die Konzentration auf Lokalgesellschaften) als Zweig der Sozialgeschichte ebenso marginal bleibt, wie das mittlerweile für die Wirtschafts- und Sozialgeschichte insgesamt zutrifft. Aus all dem läßt sich ein hoher Reflexionsbedarf ableiten. Als Perspektive zeichnet sich vor allem eine Verbindung der Dimensionen "innerer" und "äußerer" Agrargeschichte ab: So, wie die "innere" Agrargeschichte im Idealfall zur Erklärung gesamtgesellschaftlichen Wandels beitragen kann, sollte sie sich nicht länger gegen methodische und thematische Auffrischungen von "außen" sperren. Andererseits sollten auch primär kulturgeschichtlich ausgerichtete Arbeiten verstärkt die erprobten Modelle wirtschaftsgeschichtlicher Fundierung berücksichtigen, wie dies bereits in einigen Mikrostudien gelungen ist,5 die auch die traditionellen Epochengrenzen übersprungen haben. Als Nachteil steht dem freilich die Vernachlässigung der politischen Dimension gegenüber. Ob neben der im Gange befindlichen Neustrukturierung von Gegenständen und Methoden auch eine Redefinition des agrarischen Terrains gelingen wird, bleibt abzuwarten. Unter wirtschaftsgeschichtlichen Prämissen war das kein Problem, da einfach der moderne Sektor "Agrarproduktion" in die Vergangenheit extrapoliert wurde. Eine erneuerte Agrargeschichte kann dagegen nicht mehr spontan topographisch vorgehen, sondern sollte zunächst thematisch argumentieren. Mit der Ablösung des Hofbauern als Leitbild treten eher die mobilen und flexiblen Kräfte der Agrargesellschaft hervor. Inwieweit dann noch Platz bleibt für die Hervorhebung nachhaltiger Lebensund Produktionsformen in Absetzung zu "urbanisierten" und "industrialisierten" Lebensweisen, muß weiterer Forschung anheimgestellt werden. Bäuerliche Stämmigkeit ist jedenfalls nicht mehr das strukturierende Prinzip. Statt dessen tritt der Eigensinn verschiedener ländlicher Sozialverbände oder auch Individuen hervor und als Spezifikum ihre widersprüchlichen Beziehungen zu den jeweiligen hegemonialen Kräften und gesamtgesellschaftlichen Prozessen. An die Stelle "bäuerlicher" Kontinuität und Linearität rückt eine Vielfalt von Sinnentwürfen, die aber auf gesellschaftlich vorgegebene Chancen und Entwicklungen zu beziehen sind. Die vorliegende Zusammenstellung spiegelt diesen Übergangscharakter momentaner agrarhistorischer Orientierungen, zugleich aber auch das Bedürfnis nach Integration wider. Die Beiträge von Ulrike Gleixner und Barbara Krug-Richter verdeutlichen hier das Potential, das aus den "äußeren" Ansätzen für eine Erneuerung der Agrargeschichte abzuleiten ist. Andreas Suter und Werner Troßbach überprüfen gleichsam das Pendant, die "innere" Agrargeschichte, im Hinblick auf gesellschafts5
David W. Sabean, Property, Production, and Family in Neckarhausen, 1700- 1870, Cambridge 1990; Albert Schnyder-Burghartz, Alltag und Lebensformen auf der Basler Landschaft um 1700. Vorindustrielle, ländliche Kultur und Gesellschaft aus mikrohistorischer Perspektive - Bretzwil und das obere Waidenburger Land von 1690 bis 1750, Liestal 1992.
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geschichtlich relevante Ergebnisse und Perspektiven. Peter Blickte, Werner Rösener und Clemens Zimmermann bieten erste integrative Entwürfe an. Die gesamtgesellschaftliche Perspektive war (und ist) in den agrargeschichtlichen Arbeiten von Peter Blickte von Anfang an präsent. Im vorliegenden Aufsatz fragt er nach dem Beitrag agrarhistorischer Forschung für die Veränderung des Geschichtsbildes insgesamt und zieht eine an den Kategorien Agrarverfassung, Wirtschaft, Gesellschaft und Staat orientierte Bilanz. Das wichtigste Ergebnis: Herrschaft und Staat sind nicht mehr die ausschließlichen Bezugspunkte. Die bisherige Vorstellung einer bipolaren Struktur von Grundherrschaft und Gutsherrschaft ist ins Wanken geraten, "moderne", dynamische, anpassungsfähige Züge der Feudalverfassung werden in der heutigen Forschung hervorgehoben. Mit der Betonung der Kategorien von Bauer, Dorf, Gemeinde und Widerstand haben sich partizipatorische Züge in der deutschen Geschichte herauskristallisiert. Der Beitrag mikrohistorischer Studien zu dieser Demokratisierung des Geschichtsbildes wird herausgestellt. In diesem Zusammenhang weitet sich der Blick auf die institutionellen und politischen Hintergründe des Forschungsprozesses. Aus dem Kontext der neuen sozialhistorischen Teildisziplin der Kriminalitätsforschung stellt Ulrike Gleixner die vielfältigen Untersuchungen vor, die zu einer Revision des bisherigen Bildes der Agrargesellschaft beitragen. Das Spannungsverhältnis von Herrschaft und Unterordnung wird in diesem Feld stark betont, ebenso Phänomene alltäglicher Widerständigkeit, die unter starker Akzentsetzung auf "Gender"- Kategorien differenziert untersucht werden. Auch hier erweisen sich die "Untertanen" (selbst unter gutsherrschaftliehen Bedingungen) als historische Subjekte, wenn sie vor Gericht auftraten und dabei durchaus in der Lage waren, kommunikativ strategisch vorzugehen. Sie organisierten sich auf kommunaler Ebene und wiesen gutsherrliche Ansprüche durch gemeindliche Institutionen zurück. Zugleich ergibt sich ein feines Geflecht von Abhängigkeits- und Unterordnungsbeziehungen innerhalb der Dorfgesellschaften. Wahrnehmungsmuster sowie mikrosoziale Zusammenhänge werden sichtbar, die in traditionellen rechtshistorischen Studien verborgen bleiben. Kriminalität und Gerichtsbarkeit werden auch im Beitrag von Barbara Krug-Richter thematisiert. Dieser Komplex ist einer von dreien, anhand derer die Autorin geschlechtergeschichtliche Zugangsweisen für die Agrargeschichte konzeptualisiert. Prinzipiell geht sie davon aus, daß das Geschlechterverhältnis in der ländlichen Gesellschaft der frühen Neuzeit weniger in Öffentlichkeiten, Räumen und Funktionen als in Relationen faßbar sei. Dabei trat die Kategorie "Geschlecht" selten isoliert, sondern nur in Verbindung mit anderen Faktoren in Erscheinung. So war es z. B. für die Verhältnisse im "Haus" von Belang, ob eine Frau bzw. ein Mann Hoferbe war oder eingeheiratet hatte. Für die gesellschaftliche Stellung einer Person waren in dieser Sicht die Möglichkeiten von Kommunikation und Identitätsbildung entscheidend, die unter anderem an Formen von Arbeitsteilung und Geselligkeit gebunden sind. Vor Gericht schließlich sind gesamtgesellschaftlich-hegemoniale und "interne" "ländliche" Zuschreibungen in Einklang zu bringen. Demzufolge äußert die Autorio Skepsis gegenüber ersten Versuchen, Handlungsformen von Frauen und Männern gerade anhand von Gerichtsakten zu typisieren und zu kategorisieren. In der agrarischen Mittelalterforschung bestimmen - so Werner Rösener im ersten von vier epochenspezifischen Darstellungen- die "großen" Kontroversen, vor allem 4
Einleitung
die um die Einschätzung der spätmittalterlichen Agrarkrise, nach wie vor das Forschungsfeld. Rösener plädiert dafür, stärker die Resultate der Nachbarwissenschaften Archäologie, historische Geographie und Volkskunde in die Diskussion einzubeziehen und damit einen neuen Zugang zu den traditionellen Themen zu gewinnen. Mikrohistorische und anthropologische Zugänge sind - anders als in der Frühneuzeitforschung - in der Mediävistik dagegen erst schwach ausgeprägt. Für das Frühund Hochmittelalter dominiert zur Zeit - quellenbedingt - die Untersuchung von größeren Grundherrschaften. Auch damit werden die Fundamente für die Neubewertung der genannten Kontroversen neu gelegt. Bei Andreas Suter, der die Schweizer Agrarforschung zur Frühen Neuzeit vorstellt, werden wie in den Beiträgen von Ulrike Gleixner und Werner Troßbach die dynamischen Züge schon der "alten" Agrargesellschaft und "traditionellen" Landwirtschaft sichtbar. Die von einer die Zusammenhänge verkürzende Mentalitätsgeschichte postulierte Kategorie unwandelbarer "Traditionalität" ersetzt Suter (für die betrachteten wirtschaftlichen Zusammenhänge) durch ein Konzept begrenzter Rationalität, deren Potentiale weiter auszuloten seien. Beharren, kontextabhängig gesehen, hatte seinen eigenen sozialen Sinn, abgesehen davon, daß Elemente einer so bestimmten Rationalität auch im Verhalten anderer gesellschaftlicher Gruppen gesehen werden können. Hier öffnet sich "innere Agrargeschichte" zur Gesellschaftsgeschichte hin, auch insofern, als ländliche Steuerleistungen, bäuerlicher Widerstand und Revolten (ähnlich wie bei Blickle) als essentielle historische Kräfte bei der Genese moderner liberaler und demokratischer Verfassungen betrachtet werden. Werner Troßbach zentriert für das 18. Jahrhundert zunächst die Revisionen der Forschungstradition vom "Bauerntum" und vom "Ganzen Haus". An die Stelle monolithischer und linearer Auffassungen ist heute die Betonung innerer sozialer Differenzierung der ländlichen Sozialgebilde getreten. Dies hat auch für die wirtschaftsgeschichtliche Sichtweise Konsequenzen. Ähnlich wie die schweizerische hebt die deutsche Forschung mittlerweile hervor, daß die "alte" Agrarwirtschaft - kontextabhängig-zu bedeutenden Produktionsausweitungen, zu Elastizität und z.T. auch zur Produktivierung fähig war. Das heißt, daß vielerorts schon vor den liberalen Agrarreformen langfristige Modernisierungsprozesse in Gang kamen (wenn man auch nicht von einer "Agrarrevolution" sprechen sollte). Zugleich ist gerade für das spätere 18. Jahrhundert eine erhebliche Dynamisierung ("Protoindustrie", Migration, Erosion der Gutsherrschaft) des gesellschaftlichen Gefüges festzustellen. "Innere" Agrargeschichte wandelt sich zur "äußeren" insoweit, als Interdependenzen mit anderen gesellschaftlichen Teilsystemen in den Blick geraten. Schließlich arbeitet Clemens Zimmermann den fundamentalen Wandel heraus, dem die Grundkategorien auch auf dem Gebiet der Agrargeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts in den letzten beiden Jahrzehnten unterlagen. Dies ist zum Teil einem wachsenden Theorie- und Methodenbewußtsein zu verdanken. Das Bild einer einheitlichen Bauerngesellschaft ist z. B. völlig revidiert worden, ebenso werden die ökonomischen Auswirkungen von Agrarreformen zunehmend zurückhaltend beurteilt. Wie für die Frühe Neuzeit wird für das 19. Jahrhundert die Rolle von Bauern und Unterschichten beim Prozeß wachsender Intensivierung und Marktorientierung gegenüber den Faktoren Staat und Adel betont. Die Agrargeschichte des 20. Jahrhunderts dagegen muß den exogenen Faktoren des Wandels wachsendes Gewicht zumessen, da anders die Marginalisierung der Landwirtschaft kaum zu erklären ist. 5
Werner Troßbach I Clemens Zimmermann
Die Hauptfrage bleibt, in welcher Weise die Agrargesellschaft dennoch signifikant eigenständige Züge bewahren bzw. ausbilden konnte. Hier sind wieder Mikrostudien gefordert, zugleich erweisen sich erneut die engen Wechselbezüge von "innerer" und "äußerer" Agrargeschichte.
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Peter Blickle
Deutsche Agrargeschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts* Eine Bilanz der deutschen agrargeschichtlichen Forschung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde mit der "Deutschen Agrargeschichte" vorgelegt, die Günther Franz als Herausgeber in den fünfziger Jahren konzipiert hatte und deren fünf Bände in rascher Folge in den 1960er Jahren erschienen. 1 Namentlich die Bände von Wilhelm Abel, 2 Friedrich Lütge3 und Günther Franz4 selbst gelten als repräsentative Bilanz und bis heute unentbehrliche Referenzwerke für grundlegende agrargeschichtliche Probleme. 5 Alle drei Autoren haben in ihnen ihre eigenen Forschungen handbuchartig zusammengefaßt, was die systematische Anlage des Unternehmens erklärt. Landwirtschaft, Agrarverfassung und Bauernstand wurden monographisch getrennt für den allen Bänden gleichen Zeitraum, das Mittelalter und die Frühe Neuzeit, abgehandelt. Wilhelm Abel hat seinen theoretischen Ansatz, die Wirtschaft in ihren Krisen und Konjunkturen unter der leitenden Fragestellung von Angebot und Nachfrage zu interpretieren, strikt auf die Landwirtschaft angewandt und dazu nach betriebswirtschaftlichen Methoden den Bauernhof (Viehbesatz, Kalorienbedarf der Familie, Marktquote) als Typus geschaffen. Das ermöglichte es ihm, eine originelle Periodisierung vorzunehmen, die nicht den herkömmlichen politischen Grenzziehungen folgte, auch wenn er sich noch der Bezeichnungen Spätmittelalter oder Frühneuzeit bediente. Die nachhaltigste Interpretation, die man ihm verdankt, ist zweifellos die sogenannte spätmittelalterliche Agrardepression. 6 Sie definiert sich durch den Rückgang der Preise für landwirtschaftliche Erzeugnisse, vorwiegend Getreide, begleitet von einem umfassenden Wüstungsvorgang, zwei Ereignisse, die ihrerseits
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Das Manuskript wurde im September 1997 abgeschlossen. Günther Franz (Hg.), Deutsche Agrargeschichte, 5 Bde., Stuttgart 1962- 1969. Ein 6. Band, betitelt .,Geschichte des Gartenbaues in Deutschland" und als solcher von Günther Franz selbst herausgegeben, erschien 1984, steht allerdings in keinem engen Zusammenhang mit dem Gesamtuntemehmen. [Darin allerdings teilweise vorzügliche Beiträge, wie der von Karl Kroeschell über Garten.] Wilhelm Abel, Geschichte der deutschen Landwirtschaft vom frühen Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert, Stuttgart 1962. Friedrich Lütge, Geschichte der deutschen Agrarverfassung vom frühen Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert, Stuttgart 1963. Günther Franz, Geschichte des deutschen Bauernstandes vom frühen Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert, Stuttgart 1970. Wenig diskutiert wurden die Bände von Herbert Jankuhn, Vor- und Frühgeschichte vom Neolithikum bis zur Völkerwanderungszeit, Stuttgart 1969, und Heinz Haushofer, Die deutsche Landwirtschaft im technischen Zeitalter, Stuttgart 1963. - Der Haushofersehe Band erhielt im akademischen Unterricht bald eine Konkurrenz durch Ernst Klein, Geschichte der deutschen Landwirtschaft im lndustriezeitalter, Wiesbaden 1973, und Friedrich-Wilhelm Henning, Landwirtschaft und ländliche Gesellschaft in Deutschland, 2. Bd. 1750 bis 1976, Paderbom 1978. Die leitenden Thesen hatte Abel schon in einer früheren Monographie entwickelt. Wilhelm Abel, Agrarkrisen und Agrarkonjunktur. Eine Geschichte der Land- und Ernährungswirtschaft Mitteleuropas seit dem hohen Mittelalter [1933], 3. Aufl., Hamburg/Berlin 1978.
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PeterBlickte durch den dramatischen Bevölkerungsrückgang aufgrund der Pest bedingt waren oder zumindest erheblich verschärft wurden. Der Impuls, der von dieser These ausging, war stark, wie der summarische Verweis auf die Krise des Spätmittelalters belegen mag. Sie hätte sich als allgemeine charakterisierende Epochenbezeichnung ohne die Arbeiten Abels schwerlich etablieren lassen. Friedrich Lütge, als Wirtschaftshistoriker in erstaunlichem Maße an Fragen der Verfassung interessiert, ist die Klassifizierung der deutschen Landschaften nach Grundherrschaftstypen zu verdanken. Basierend auf seinen monographischen Untersuchungen über Mitteldeutschland7 und Bayern 8 hat er mit der mitteldeutschen, der nordwestdeutschen, der westdeutschen, der südwestdeutschen und der südostdeutschen Grundherrschaft fünf Formen unterschieden, die vornehmlich aufgrund der Art der Leihe und der Rechtsform der Liegenschaftsnutzung konzipiert wurden. Deren relative Stabilität gestattete es ihm, die Agrarverfassung des Mittelalters als Vorgeschichte und die Bauernbefreiung als Auflösung der Grundherrschaft zu beschreiben. Lütge hat wiederholt und mit Nachdruck die "herrschaftliche Grundstruktur" der Agrarverfassung betont9 und damit die Agrargeschichte in ein Konzept eingebettet, das in hohem Maße von Herrschaft geprägt war. Günther Franz' Darstellung des Bauernstandes kommt dem Handbuchcharakter insofern am nächsten, als er im Unterschied zu Abel und Lütge auf eine konsistente Gesamtinterpretation verzichtet, vielmehr, Chronologie und systematische Aspekte kombinierend, einen zuverlässigen Überblick über die seinerzeit traditionellen (Ostsiedlung, Wehrhaftigkeit) und aktuellen Forschungsfelder (Doif, soziale Schichtung) bot. Seine eigenen Forschungen, die sich monographisch in zwei Darstellungen über den Bauernkrieg 10 und den Dreißigjährigen Krieg 11 niedergeschlagen hatten, wurden für den Band nicht interpretationsleitend, obschon die Kapitel über den deutschen Bauernkrieg von 1525 und die Bauernkriege im 17. und 18. Jahrhundert Höhepunkte in seinem historiographischen Werk darstellen. "Der Bauer steht am Anfang unserer Geschichte, aber er hat nur selten handelnd in ihren Ablauf eingegriffen", steht im Vorwort. "Trotzdem", so fährt Franz in expliziter Wendung gegen Oswald Spengler fort, "hat er ihn entscheidend bestimmt". 12 Wie, bleibt dem Urteil des Lesers überlassen. Würdigung und Kritik haben dem Umstand Rechnung zu tragen, daß die Agrargeschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Forschungsfeld Weniger war, was angesichts der Dominanz des Historismus und seiner theoretischen Vorlieben auch nicht verwundert. Zumindest als synthetische Leistung war die Deutsche Agrargeschichte ein respektables Unternehmen, das seinerzeit in Europa seinesglei-
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Priedrich Lütge, Die Mitteldeutsche Grundherrschaft und ihre Auflösung [1934], 2. Aufl., Stuttgart 1957; Ders., Die Agrarverfassung des frühen Mittelalters im mitteldeutschen Raum vornehmlich der Karolingerzeit [ 1937], 2. Aufl., Stuttgart 1966. Priedrich Lütge, Die Bayerische Grundherrschaft. Untersuchungen über die Agrarverfassung Altbayerns im 16. - 18. Jahrhundert, Stuttgart 1949. Lütge, Agrarverfassung, 182 ff. [zitiert nach der 2. Auflage von 1967]. Günther Franz, Der deutsche Bauernkrieg [1933], 12. Aufl., Darmstadt 1984. Günther Pranz, Der Dreißigjährige Krieg und das Deutsche Volk. Untersuchungen zur Bevölkerungs- und Agrargeschichte [ 1940], 4. Aufl. , Stuttgart/New York 1979. Pranz, Bauernstand, 14.
Deutsche Agrargeschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts chen suchte. 13 Die von den Annales so eifrig betriebene agrargeschichtliche Forschung hat erst in den siebziger Jahren eine handbuchartige Gesamtdarstellung erfahren .14 Die Stärke der Deutschen Agrargeschichte war gleichzeitig auch ihre Schwäche, denn wie agrarische Verfassung, agrarische Wirtschaft und agrarische Gesellschaft aufeinander bezogen waren, kam dabei nicht zum Vorschein. 15 Die drei Bände von Abel, Lütge und Pranz waren abschließende Summen ihrer agrargeschichtlichen Forschungen. Schulen haben die drei Autoren nur bedingt gebildet. Zweifellos wurde der Ansatz Wilhelm Abels, dessen Oeuvre auch international die stärkste Ausstrahlung hatte, durch Friedrich-Wilhelm Henning 16 und Walter Achilles 17 fortgeführt, wie in einer von beiden geschriebenen Deutschen Agrargeschichte zum Ausdruck kommt, 18 die sich als Modernisierung ihres Vorgängers versteht. Günther Pranz hat angesichts seiner vergleichsweise kurzen Lehrtätigkeit von rund zehn Jahren an der Universität Hohenheim (Landwirtschaftliche Hochschule) seit 1958 nur im kleinsten Kreis Seminare für historisch interessierte Studierende der Landwirtschaft gehalten. 19 Friedrich Lütges Interessen gingen weit über die Agrargeschichte hinaus und seine Schüler haben ihre Forschungsschwerpunkte meist außerhalb der Agrargeschichte gefunden. 20 In gewissem Sinn markiert die Deutsche Agrargeschichte aus den sechziger Jahren einen Abschluß, der keine Fortsetzung fand. Eine begrifflich klare Definition hatte die Teildisziplin Agrargeschichte nicht gefunden, was deswegen kaum überraschend ist, weil auch in benachbarten Gebieten wie der Wirtschafts- und Sozialgeschichte theoretisch-methodologische Debatten kaum 13 14
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Das unterstreichen auch die mehrfachen Auflagen. Der Band von Abel, Landwirtschaft hat drei Auflagen erlebt, die Bände von Lütge, Agrarverfassung und Franz, Bauernstand je zwei Auflagen. Georges Duby/Armand Walion (Hg.), Histoire de Ia France rurale, 4 Bde., Paris 1975- 1976. Jeder Band ist von mehreren Autoren geschrieben. Vgl. die scharfe Besprechung von Hans Rosenberg, Deutsche Agrargeschichte in alter und neuer Sicht, in: Ders., Probleme der deutschen Sozialgeschichte, Frankfurt a. M. 1969, 81-147. Nicht mehr verarbeitet in der Deutschen Agrargeschichte ist Friedrich-Wilhelm Henning, Dienste und Abgaben der Bauern im 18. Jahrhundert, Stuttgart 1969; Ders., Bauernwirtschaft und Bauemeinkommen im Fürstentum Paderbom im 18. Jahrhundert, Berlin 1970 [genaue Berechnung der Einkommen nach betriebswirtschaftliehen Methoden]. Walter Achilles, Die steuerliche Belastung der braunschweigischen Landwirtschaft und ihr Beitrag zu den Staatseinnahmen im 17. und 18. Jahrhundert, Hildesheim 1972; Ders., Die Lage der hannoverschen Landbevölkerung im späten 18. Jahrhundert, Hildesheim 1982. Vgl. Friedrich-Wilhelm Henning, Deutsche Agrargeschichte des Mittelalters, 9. - 15. Jahrhundert, Stuttgart 1994. Walter Achilles, Deutsche Agrargeschichte im Zeitalter der Reformen und der Industrialisierung, Stuttgart 1993. Die beiden Bände erscheinen als "Deutsche Agrargeschichte, begründet von Günther Franz, herausgegeben von Friedrich-Wilhelm Henning" [ohne Bandzählung]. Eine starke Konkurrenz haben sie in der von Wemer Rösener geschriebenen, von einem starken Verlag unterstützten Zusammenfassung des Forschungsstandes (trotz des Titels über das Mittelalter hinausgehend): Wemer Rösener, Bauern im Mittelalter, München 1985 [4 Auflagen, übersetzt in mehrere Sprachen]. Unter den Hohenheimer Dissertationen hat die von Peter Steinle, Die Vermögensverhältnisse der Landbevölkerung in Hohenlohe im 17. und 18. Jahrhundert, Schwäbisch Hall1971, Aufmerksamkeit gefunden. Das gilt für Eckart Schremmer, der seine Dissertation noch im Bereich der Agrargeschichte geschrieben hat (vgl. Eckart Schremmer, Die Bauernbefreiung in Hohenlohe, Stuttgart 1963), sich mit seiner Habilitationsschrift dann der allgemeinen Wirtschaftsgeschichte zuwandte (vgl. Ders., Die Wirtschaft Bayerns vom hohen Mittelalter bis zum Beginn der Industrialisierung, München 1969).
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PeterBlickte geführt wurden. Vielmehr war eher pragmatisch bestimmt worden, was Agrargeschichte sei. Sucht man nach einer latenten Definition in den behandelten Themen der Deutschen Agrargeschichte oder in den führenden Publikationsorganen der Disziplin, der Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie21 oder der Reihe Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte,22 so war Agrargeschichte die Geschichte der landwirtschaftlichen Produktion im Rahmen einer herrschaftlich geprägten Rechtsform der Liegenschaftsnutzung durch den Stand der Bauern. Daraus läßt sich leicht erkennen, daß Agrargeschichte eine Teildisziplin darstellte, die stark mit dem Mittelalter und der Frühneuzeit verknüpft war. Für das 19. und 20. Jahrhundert wird es zunehmend schwieriger, eine Teildisziplin Agrargeschichte theoretisch zu begründen,23 weil sich die Landwirtschaft der Volks- und Weltwirtschaft integriert,24 die Agrarverfassung als solche mit der Ausbildung des modernen Eigentums sich auflöst 25 und der Bauer als Stand mit der Ausbildung der staatsbürgerlichen Gleichheit seine bisher typischen Merkmale verliert. 26 Hinzu kommt der stark fallende Anteil der Landwirtschaft am Inlandsprodukt und der zahlenmäßige Rückgang der Bauern (richtiger wäre es zu sagen der Landwirte) gemessen an der Gesamtbevölkerung. 27 Über Kontinuitäten und Diskontinuitäten läßt sich bekanntlich trefflich streiten, doch spricht viel dafür, der Agrargeschichte der letzten drei Jahrzehnte das Attribut neu zuzuschreiben. Ihre Themen waren und sind nur zum geringsten Teil organische Fortentwicklungen älterer Schwerpunkte, sondern wurden neu konstituiert in Auseinandersetzung mit den geschichtstheoretischen Debatten. Sie kamen der Agrargeschichte insofern in hohem Maße zugute, als nahezu alleneueren Schwerpunktsetzungen der Disziplin, von der Sozialgeschichte der sechziger Jahre bis zur Mikrohistorie der Gegenwart, an der ländlichen Gesellschaft nicht vorbeikamen, wollten sie ihre Methoden nicht nur in der Neuesten Geschichte erproben. Überblicke ich die Schwerpunkte der Neuen Agrargeschichte richtig, so liegen sie im Bereich von Dorf und Gemeinde (1), Bauernkrieg und bäuerlichem Widerstand (II), Proloindustrialisierung und Modernisierung in der Landwirtschaft (III) und Grundherrschaft und Gutsherrschaft (IV). In diese Ausmarchung mag die unvermeidliche Subjektivität, die jeden Text prägt, eingegangen sein, dennoch dürften da21 22
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Die Zeitschrift wurde 1953 von Günther Franz begründet und von ihm 25 Jahre redigiert. Begründet von Günther Franz und Friedrich Lütge 1943, nach dem Krieg fortgeführt unter der Mitherausgeberschaft von Wilhelm Abel. Bis 1980 erschienen in der Reihe 32 Bände. Vgl. dazu den Beitrag von Clemens Zimmennann in diesem Band. Die Übergangsphase in das 19. Jahrhundert beschreibt aus einem interessanten Blickwinkel Herben Pruns, Staat und Agrarwirtschaft 1800- 1865. Subjekte und Mittel der Agrarverfassung und Agrarverwaltung im Frühindustrialismus, 2 Bde., Hamburg/Berlin 1979. Mittlerweile gibt es mehrere beispielhafte Untersuchungen für diesen vielschichtigen und hochkomplexen Transfonnationsprozeß. Eine der ersten Pionierarbeiten lieferte Josef Mooser, Ländliche Klassengesellschaft 1770 - 1848. Bauern und Unterschichten, Landwirtschaft und Gewerbe im östlichen Westfalen, Göttingen 1984. Dagegen kann man von einem volkskundlichen Standpunkt aus berechtigte und begründete Einwände erheben. Beispielhaft lngeborg Weber-Kellennann, Landleben im 19. Jahrhundert, München 1987. Umfängliches Zahlenmaterial bei Hans-Jürgen Puhle, Politische Agrarbewegungen in kapitalistischen lndustriegesellschaften. Deutschland, USA und Frankreich im 20. Jahrhundert, Göttingen 1975.
Deutsche Agrargeschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mitjene Bereiche benannt sein, in denen besonders intensiv und mit besonders weitreichenden Wirkungen, weit über die Agrargeschichte im engeren Sinn hinaus, geforscht wurde. Mit Bedacht wird Agargeschichte hier relativ eng und restriktiv definiert,28 täte man das nicht, ließe sich angesichts der empirischen Verankerung der heutigen Forschung im Alltag kaum mehr eine Trennschärfe zur allgemeinen Geschichte gewinnen. Dieser rigiden Einschränkung sind auch zwei prominente Forschungsbereiche zum Opfer gefallen, das Haus 29 und die Hexen. 30 Im Gegensatz zu den oben genannten Zentralbereichen der Agrargeschichte handelt es sich nicht allein um Erscheinungen der ländlichen Welt.
1. Dorf und Gemeinde Das monumentale Werk von Karl Siegfried Bader über das Dorf, das in den sechziger Jahren noch nicht abgeschlossen, aber doch zu größeren Teilen erschienen war, 31 ist in der Deutschen Agrargeschichte zwar berücksichtigt,3 2 seine grundlegende Bedeutung allerdings erst im Laufe der siebzigerund achtziger Jahre wirklich erkannt worden. Bader hat in den drei Bänden, die im Laufe von 15 Jahren erschienen, das Dorf unter drei Perspektiven monographisch behandelt, nämlich erstens wie aus Nachbarschaften Gemeinden wurden, unter besonderer Heraushebung des Dorfes als Friedensbereich, zweitens wie die Organisation des Dorfes beschaffen war, mit einer beeindruckend breiten und detaillierten Darstellung der im Dorf vertretenen Ämter und ihrer Funktionen, und drittens wie die zu einem Dorf gehörende Kulturfläche genutzt wurde, nämlich individuell die Hofstatt im engeren Sinn mit den Gärten, individuell-kollektiv die in Gewanne und Streifen parzellierte Ackerflur und kollektiv die Allmende und der Wald. Bader ist von Herkunft Jurist, hat sich
Weitausholende problemorientierte Forschungsüberblicke [mit ausgezeichneten Bibliographien] bieten die einschlägigen Bände in der Enzyklopädie deutscher Geschichte: Waller Achilles, Landwirtschaft in der frühen Neuzeit, München 1991; Andre Holenstein, Bauern zwischen Bauernkrieg und Dreißigjährigem Krieg, München 1996; Werner Rösener, Agrarwirtschaft, Agrarverfassung und ländliche Gesellschaft im Mittelalter, München 1992; Werner Troßbach, Bauern 1648 - 1806, München 1993. Ergänzend sind zu nennen: Wolfgang von Hippel, Armut, Unterschichten, Randgruppen in der frühen Neuzeit, München 1995, und Christian Pfister, Bevölkerungsgeschichte und historische Demographie 1500- 1800, München 1994. Eineneueste Auswahlbibliographie bei Werner Rösener, Einführung in die Agrargeschichte, Darmstadt 1997. Die genannten Arbeiten erschließen auch die Aufsatzliteratur, auf die ich hier aus Raumgründen bis auf wenige Ausnahmen ganz verzichte. 29 Werner Troßbach, Das "ganze Haus" - Basiskategorie für das Verständnis der ländlichen Gesellschaft deutscher Territorien in der Frühen Neuzeit?, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 129, 1993,277-314. 30 Zahlreiche Forschungsberichte. Etwa Wolfgang Behringer, Erträge und Perspektiven der Hexenforschung, in: Historische Zeitschrift 249, 1989, 619-640. Konzentriert auf die ländliche Welt Holenstein, Bauern, 120 ff. und Troßbach, Bauern, 107 ff. 31 Karl Siegfried Bader, Das mittelalterliche Dorf als Friedens- und Rechtsbereich, Weimar 1957; Ders., Dorfgenossenschaft und Dorfgemeinde, Köln/Graz 1962; Ders., Rechtsformen und Schichten der Liegenschaftsnutzung im mittelalterlichen Dorf, Wien/Köln/Graz 1973. 32 Franz, Bauernstand, 49-57. 28
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Peter Blickle aber durch intensive Archivstudien in Südwestdeutschland den Methoden der seinerzeit angesehenen Landesgeschichte genähert. Bedingt durch seinen schließliehen beruflichen Standort an der Universität Zürich ergab sich eine räumliche Erweiterung seiner ursprünglich auf Südwestdeutschland konzentrierten Interessen, so daß die Dorf-Trilogie regional stark auf den Südwesten des Reiches, 33 wie Bader gerne sagte, abgestützt ist, was Ausblicke nach Franken, Bayern, Thüringen und Österreich nicht ausschloß.34 Der Umstand, daß der Rezeptionsprozeß eher schleppend erfolgte, erklärt sich zum Teil 35 daraus, daß Bader keine theoriefreudige, zum Modell oder Idealtypus hinaufgetriebene Darstellung des Dorfes geliefert hat, vielmehr dem Leser die Zumutung einer tausendseiligen Lektüre nicht erspart. 36 Die bis heute geringe internationale Resonanz liegt mutmaßlich auch an der regionalen Begrenzung des empirischen Materials, mit dessen Hilfe ein politisch besonders kräftiges Dorf konstituiert wurde, das offenbar an die dörflichen Verhältnisse Frankreichs37 und Englands 38 nicht ohne weiteres anschlußfähig war. Baders Arbeiten haben eher zufällig durch komplementäre Studien über die Entstehung der Dorfgemeinde detaillierte Ergänzungen in Form regionaler Fallstudien für das gesamte deutsche Siedlungsgebiet erfahren, 39 unter denen die von Roger Sahionier herausgehoben zu werden verdient, der den Prozeß der Verdorfung, Verzelgung und Vergetreidung, wie die Wortungetüme seinerzeit hießen, mit äußerst kompaktem ostschweizerischem Material beschrieben und zeitlich präzisiert hat. 40 Die Vgl. Karl Siegfried Bader, Der deutsche Südwesten in seiner territorialstaatlichen Entwicklung [ 1950], 2. Autl. , Sigmaringen 1978. [Die Schweiz ist in diesem Buch in den Begriff integriert.] 34 Das Rheinland und Westdeutschland dienten Bader kaum als Referenzlandschaften, offenbar weil er die dortigen Gemeinden und ihre Interpretation durch Franz Steinbach als Ausbrüche aus der Gerichtsorganisation, angereichert mit Gemeindebesitz und Freiheitsprivilegien, seinem Material schwer integrieren konnte. Vgl. Franz Steinbach, Ursprung und Wesen der Landgemeinde nach rheinischen Quellen, in: Die AnHinge der Landgemeinde und ihr Wesen I, Sigmaringen 1964, 244288 [zurückgehend auf Arbeiten aus den 1930er Jahren] . 35 Zürich und die Schweiz waren für die Rezeption der Badersehen Thesen kein günstiger Boden, weil sich die Schweizer Historiographie in den sechziger und siebziger Jahren von ihren eigenen genossenschaftlichen Traditionen stark distanzierte. Vgl. dazu Peter Blickle, Otto Gierke als Referenz? Rechtswissenschaft und Geschichtswissenschaft auf der Suche nach dem Alten Europa, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 17, 1995, 245-263, hier 257 f. 36 In Vorbereitung ist eine synthetisierende knappere Darstellung, die von Gerhard Dilcher herausgebracht werden wird. 37 Vgl. zusammenfassend etwa Roland Mousnier, Les institutions de Ia France sous Ia monarchie absolue 1598- 1789,2 Bde. , Paris 1974- 1980, besonders Bd. 2, 428-440. 38 Die Diskussion über die Vergleichbarkeit des englischen Dorfes mit dem deutschen hält noch an. Vgl. Rodney Hilton, Les communautes villageoises en Angleterre au Moyen Age, in: Les communautes villageoises en Europe occidentale du Moyen Age aux Temps modernes (Flaran 4), Auch 1984, 117-128, und zuletzt Beat Kümin, The English parishin an European perspective, in: Kathenne L. French/Gary G. Gibbs/Beat A. Kümin (Hg.), The Parishin English Life, 1400- 1600, Manchester/New York 1997, 15-32. 39 Die Anfange der Landgemeinde und ihr Wesen, 2 Bde., Sigmaringen 1964. 40 Die Arbeit ist im Zusammenhang der Tagungen des Konstanzer Arbeitskreises (wie Anm. 39) entstanden, aber erst vergleichsweise spät publiziert worden. Roger Sablonier, Das Dorf im Übergang vom Hoch- zum Spätmittelalter. Untersuchungen zum Wandelländlicher Gemeinschaftsformen im ostschweizerischen Raum, in: Lutz Fenske/Wemer Rösener/Thomas Zotz (Hg.), Institutionen, Kultur und Gesellschaft im Mittelalter. Festschrift für Josef Fleckenstein, Sigmaringen 1984, 120134.
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langfristig anregende Wirkung des Badersehen Werkes hat sich in zahlreichen Regionalstudien niedergeschlagen, 41 und noch heute dient es juristischen Habilitationsschriften als Paradigma. 42 Eine Zwischenbilanz dieser breiten, oft in regionalen Zeitschriften versteckten Forschung hat Heide Wunder geliefert und ihre Einsichten bei der Rekonstruktion der regional sehr unterschiedlichen Erscheinungen und Entwicklungen in die These gebracht, in Deutschland ließe sich das Mittelalter beschreiben als eine Zeit der "Herrschaft mit Bauern", die Frühneuzeit als eine solche der "Herrschaft über Bauern". 4 3 Zwei stark abweichende Formen vom Badersehen Typus Dorf haben sich im Gebiet der ostdeutschen Gutsherrschaft und der schweizerischen Eidgenossenschaft ausgebildet, die eine knappe Würdigung verlangen, weil sie in aller Deutlichkeit klar machen, daß sich das Dorf gegen eine Subsumierung unter nationale Parameter sperrt. In einer verbissenen Debatte zwischen Hartmut Harnisch 44 und Lieselott Enders 45 ist klargeworden, daß die Schulzenverfassung der ostelbischen brandenburgischen Dörfer nicht eine mindere Form sonstiger deutscher Dorfverfassungen darstellt, sondern etwas qualitativ anderes. Es fehlt den Dörfern der genossenschaftliche Charakter, soweit er sich in Satzungen ausdrückt, es fehlt den Ämtern der repräsentative Charakter, weil der Schulze das Amt vererbt, soweit er nicht überhaupt von der Herrschaft eingesetzt wird, und es gehen ihnen auch alle gerichtlichen Kompetenzen verloren. Das brandenburgische Dorf steht typologisch viel eher bei der hochmittelalterlichen Villikation. Unter der Leitung des Schulzen, der mit einem bevorrechtigten Hof ausgestattet ist, sorgt die Gemeinde gesamthaft dafür, daß Rechtsund Besitztitel der Herrschaft gewahrt und realisiert werden. Genau dieses Interesse verfolgte noch das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 in seinen Paragraphen über die Landgemeinde. Hingegen konnten die Landgemeinden in der Schweiz (allerdings handelt es sich nicht um Dörfer, sondern um Talschaften), wie Peter Bierbrauer, angeregt durch deutsche Forschungen, gezeigt hat, sukzessive Freiheiten erkaufen, die bis zur Allo41
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Michael Mitterauer, Pfarre und ländliche Gemeinde in den Österreichischen Ländern. Historische Grundlagen eines aktuellen Raumordnungsproblems, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 109, 1973, 1-30; Hermann Grees, Ländliche Unterschichten und ländliche Siedlung in Ostschwaben, Tübingen 1975 [Im 16. Jahrhundert sind drei Viertel der Bevölkerung der Dörfer Unterschichten]; Herbert Reyer, Die Dorfgemeinde im nördlichen Hessen. Untersuchungen zur hessischen Dorfverfassung im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit, Marburg 1983; Ulrich Lange (Hg.), Landgemeinde und frühmoderner Staat. Beiträge zum Problem der gemeindlichen Selbstverwaltung in Dänemark, Schleswig-Holstein und Niedersachsen in der frühen Neuzeit, Sigmaringen 1988. Bemd Schildt, Bauer - Gemeinde - Nachbarschaft. Verfassung und Recht der Landgemeinde Thüringens in der frühen Neuzeit, Weimar 1996. Heide Wunder, Die bäuerliche Gemeinde in Deutschland, Göttingen 1986. Hartmut Harnisch, Die Landgemeinde im ostelbischen Gebiet (mit Schwerpunkt Brandenburg), in: Peter Blickle (Hg.), Landgemeinde und Stadtgemeinde. Ein struktureller Vergleich, München 1991, 309-332 [der Beitrag verarbeitet die zahlreichen älteren Arbeiten des Autors]. Lieselott Enders, Die Landgemeinde in Brandenburg. Grundzüge ihrer Funktion und Wirkungsweise vom 13. bis zum 18. Jahrhundert, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 129, 1993, 195256.
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difizierung der Güter und zur Aufhebung der Eigenschaft führen konnten, so daß auf diese Weise den Gemeinden große politische Gestaltungsräume offenstanden. 46 Nicht scharf von der Dorfforschung zu trennen ist die Weistumsforschung, obschon sie nicht Dorfverbände, sondern Hofverbände zum Ausgangspunkt hat. Eine alte, steckengebliebene Debatte wurde in der Mitte der siebziger Jahre wieder aufgenommen,47 die Impulse einerseits einem Schülerkreis von Kar] Siegfried Bader verdankte,48 andererseits neuen Arbeiten im Saar-Mosel-Raum,49 wo die Weistumsforschung schon wegen der dort reichlich überlieferten Formweistümer kontinuierlich gepflegt wurde. Zu Tage kam durch diese Arbeiten eine gewissermaßen horizontale Gewaltenteilung zwischen Gemeinde und Herrschaft: die alltäglichen Geschäfte von der freiwilligen Gerichtsbarkeit bis zur Aburteilung geringer strafrechtlicher Delikte bleiben im Dorf beziehungsweise im Hofverband, der Rest geht an die Herrschaft. Vergleichsweise spektakuläre Ergebnisse, die allerdings nicht in der zu erwartenden Weise rezipiert wurden, erbrachte eine Untersuchung über das Trierer Kloster St. Matthias, in dessen Grundherrschaft bis in Napoleonische Zeit nicht nur gewiesen, sondern auch gerügt wurde, was für die Vitalität des Weistumsrechts sprach. 5° Wieweit und in welchem Umfang der ländliche Raum mittelalterliches Recht bewahrt, wurde damit zu einer bis heute noch nicht umfassend beantworteten Frage. Wie dieses Recht zu bewerten sei, hat die magistraleHabilitationsschriftvon Jürgen Weitzel gezeigt, der zwar nicht primär mit Weistümern arbeitet, aber mit Quellen, die Dinggenossenschaften erschließen. 51 Danach wäre das Recht in der Verfügung der im Ding versammelten Genossenschaft und deren Rechtsfeststellung unterworfen, der herrschaftliche Anteil an der Rechtspflege beschränkte sich auf den Schutz des Gerichts. Folglich läge die Interpretationshoheit über das Recht bei den Rechtsgenossen, und sei somit, wie Weitzel in pointierender Absicht sagt, "demokratisch". 52 Der Herrscherbefehl entwickelt sich erst in der Neuzeit mit der Verdrängung der Oralität des gewiesenen Rechts durch das geschriebene Gesetz. Diese Beobachtungen hat 46 47
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Peter Bierbrauer, Freiheit und Gemeinde im Berner Oberland 1300- 1700, Bern 1991 . Dieter Werkmüller, Über Aufkommen und Verbreitung der Weistümer. Nach der Sammlung von Jacob Grimm, Berlin 1972; Ekkehard Seeber, Die Oldenburger Bauerbriefe. Untersuchungen zur bäuerlichen Selbstverwaltung in der Grafschaft Oldenburg von 1580 bis 1810, Oldenburg 1975. Die Forschung summierend und neue Problemfelder definierend: Peter Blickle (Hg.), Deutsche Ländliche Rechtsquellen. Probleme und Wege der Weistumsforschung, Stuttgart 1977; s. auch Gadi Algazi, Herrengewalt und Gewalt der Herren im Mittelalter. Herrschaft, Gegenseitigkeit und Sprachgebrauch, Frankfurt am Main/New York 1996. [Prüft Weistümer auf ihre Leistungsfahigkeit zur Kritik der herrschenden Verfassungsvorstellungen (Otto Brunner). Eine größere Arbeit des Autors über Weistümer ist in Vorbereitung.] Walter Müller, Die Offnungen der Fürstabtei St. Gallen. Ein Beitrag zur Weistumsforschung, St. Gallen 1964; Karl Heinz Burmeister, Die Vorarlberger Landsbräuche und ihr Standort in der Weistumsforschung, Zürich 1970. Marlene Nikolay-Panter, Entstehung und Entwicklung der Landgemeinden im Trierer Raum, Bonn 1976; lrmtraud Eder, Die saarländischen Weistümer - Dokumente der Territorialpolitik, Saarbrücken 1978; Sigrid Schmitt, Territorialstaat und Gemeinde im kurpfälzischen Oberamt Alzey, Stuttgart 1992. Rudolf Hinsberger, Die Weistümer des Klosters St. Mattbias in Trier. Studien zur Entwicklung des ländlichen Rechts im frühmodernen Territorialstaat, Stuttgart/New York 1989. Jürgen Weitzel, Dinggenossenschaft und Recht. Untersuchungen zum Rechtsverständnis im fränkisch-deutschen Mittelalter, 2 Teilbde., Köln/Wien 1985. Weitzel, Dinggenossenschaft, 143ff.
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Andre Holenstein durch seine Untersuchung für die Dinge im ländlichen Raum bestätigen können, und zwar für das Spätmittelalter, ja gelegentlich sogar für die Frühneuzeit, und sie um die Einsicht erweitert, in den Hofverbänden seien Huldigungseide geschworen worden, eine der Weistumsforschung erstaunlicherweise entgangene Erkenntnis. 53 Holenstein hat die Huldigung überzeugend als "Verfassung in actu" 54 auf den Begriff gebracht und damit nicht nur die Elastizität des Verhältnisses Herren - Bauern beschrieben, sondern auch dessen ModeHierfähigkeit durch die Untertanen. Damit erhalten die stark auf Herrschaft und Staat fixierten Interpretationen der deutschen Geschichte eine ernstzunehmende Konkurrenz. Die Bauern in ihrem organisatorischen Gehäuse von Dorf und Gemeinde gewinnen in diesen jüngsten Arbeiten eine Bedeutung für Recht und Verfassung, die in der Deutschen Agrargeschichte nicht einmal zu erahnen war. Dörfer und Gemeinden beschränken ihre Aktivitäten nicht auf den Raum ihrer Siedlung, sondern greifen über ihn hinaus, beispielsweise durch ihre Repräsentation in Landtagen, wo sie wie in Tirol, Salzburg oder den vorderösterreichen Landen neben den Städten Sitz und Stimme haben. Von daher stellt sich die Frage nach der Parallelisierbarkeit von ländlicher und städtischer Gemeinde. Schon Karl Siegfried Bader hat gelegentlich auf Ähnlichkeiten aufmerksam gemacht, systematischere komparatistische Untersuchungen stehen allerdings noch aus. 55 Die Konzeptualisierung dieser Fragestellung unter dem Begriff Kommunalismus in den frühen achtziger Jahren 56 hat in der außerdeutschen Historiographie ein nachhaltigeres, vor allem positiveres Echo gefunden57 als in Deutschland selbst. Mit der Agrargeschichte steht es insofern in Verbindung, als das Dorf mit seinen Institutionen (Gemeindeversammlung, Rat in Form der Vierer, Gericht und Ammann) und Normen (Auskömmlichkeit, Gemeinnutz, Friede) der Ausgangspunkt war und von dorther nach den Parallelen zur Stadt gefragt wurde.
2. Bauernkrieg und Widerstand Die allerorten bemerkbaren tastenden Versuche der in den sechziger Jahren heranwachsenden Historikergeneration, dem Historismus der unversitären Praxis zu entkommen und die eher unbewußt als bewußt wahrgenommene neue politische Kultur Andre Holenstein, Die Huldigung der Untertanen. Rechtskultur und Herrschaftsordnung (800 1800), Stuttgart/New York 1991, 147ff. 54 Holenstein. Huldigung, 505ff., bes. 509. 55 Vgl. zur ersten Orientierung Peter Blickle (Hg.), Landgemeinde und Stadtgemeinde. Ein struktureller Vergleich, München 1991 [besonders die Beiträge von Karlheinz Blaschke, Rudolf Endres und Sergij Vilfan]. 56 Peter Blickle, Deutsche Untertanen. Ein Widerspruch, München 1981, 23-60. Stärker auf den Begriff hin argumentierend: Ders., Der Kommunalismus als Gestaltungsprinzip zwischen Mittelalter und Modeme, in: Nicolai Bemard/Quirinus Reichen (Hg.), Gesellschaft und Gesellschaften. Festschrift Ulrich Im Hof, Bem 1982, 95-113. 57 Zuerst aufgenommen von Thomas A. Brady, Jr., Tuming Swiss. Cities and Empire, 1450- 1550, Cambridge/London/New York 1985 [vgl. Indexbelege communalism]. Für Skandinavien Steinar Imsen, Norsk bondekommunalisme, 2 Teile, Trondheim 1990 - 1994. Dazu zuletzt Bob Scribner, 53
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der Bundesrepublik heuristisch zu nutzen, hat schließlich ein Forschungsfeld geschaffen, das, retrospektiv betrachtet, die vielleicht entscheidendsten Korrekturen im Bild der frühneuzeitlichen Geschichte Deutschlands erbracht hat. Zu einem der prominentesten Gegenstände der deutschen Geschichte wurde in der Mitte der siebziger Jahre der Bauernkrieg von 1525. Die Historiographie und die geschichtstheoretische Einordnung dieses Phänomens steht noch aus. Nachdem Günther Pranz in den frühen dreißiger Jahren die für Jahrzehnte verbindliche Interpretation dieses hochkomplexen Ereignisses geliefert hatte58 - zweifellos eines der großen Werke der deutschen Historiographie, methodisch durch die ausschließliche Abstützung auf die bäuerlichen Beschwerden und darstellerisch durch die gelungene Verknüpfung narrativer und reflexiver Teile -, eröffneten nicht zufällig zwei Arbeiten die Diskussion neu, die von gänzlich anderen Ansätzen ausgingen. Horst Buszello hatte, ob bewußt oderunbewußt läßt seine Darstellung offen, eine an Fragen des modernen Parlamentarismus orientierte Interpretation des Bauernkriegs mit der These vorgelegt, in vielen Aufstandsgebieten hätten die Ziele der Bauern darin bestanden, in die territorialen Ständeversammlungen mit Repräsentanten einzuziehen. 59 Die Arbeit ist erschienen, als in Deutschland die ständegeschichtliche Forschung einen Höhepunkt erreicht hatte, die so in keinem anderen europäischen Land, Österreich ausgenommen, zu verzeichnen ist.60 David W. Sabean hat die Ursachen an einer oberschwäbischen Klosterherrschaft (Weingarten) eingehend untersucht und aus seinen Ergebnissen geschlossen, der Bauernkrieg sei ein nach außen gestülpter, nicht zuletzt demographisch bedingter ökonomischer Verteilungskampf innerhalb des Dorfes (entwickelt wird ein DreiKlassen-Schema) gewesen. 61 Heute erkennt man leicht den materialistisch-malthusianischen Ansatz dieser Arbeit, okuliert mit dem Abelschen Agrarkrisenparadigma. Beides konnte naheliegenderweise die politischen Forderungen nicht erklären, die sich bei Sabean auf Abgrenzungsstrategien der Gemeinden gegen herrschaftliche Eingriffe in deren Ressourcen beschränken. Auf diese Beobachtung hat Sabean später seine breit rezipierte These vom gemeindebasierten bäuerlichen Widerstand in Europa gegründet. 62 Ein zweiter ökonomischer Interpretationsansatz, den Bauern-
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Communalism, in: The Oxford Encyclopedia of the Reformation, I. Bd., New York/Oxford 1996, 388f. sowie Ders., Communities and the Nature of Power, in: Ders. (Hg.), Germany. A New Social and Economic History, I. Bd., London/New York/Sydney 1996, 291-325. Franz, Bauernkrieg. Mit relativ kleinen Auflagen [Auskunft Günther Franz] hat der Verlag das Buch nach dem Krieg auf stattliche 12 Auflagen hinaufgetrieben. Horst Buszello, Der deutsche Bauernkrieg von 1525 als politische Bewegung. Mit besonderer Berücksichtigung der anonymen Flugschrift An die Versamlung gemayner Pawerschaft, Berlin 1969, 133-143. Für territorial zersplitterte Gebiete nimmt Buszello als Programm eine Art bündisches (eidgenössisches) Modell in Anspruch. P. Blickte, Gierke. David W. Sabean, Landbesitz und Gesellschaft am Vorabend des Bauernkriegs. Eine Studie zu den sozialen Verhältnissen im südlichen Oberschwaben in den Jahren vor 1525, Stuttgart 1972. Kompetent setzt sich damit auseinander Burkhard Asmuss, Das Einkommen der Bauern in der Herrschaft Kronburg im frühen 16. Jahrhundert. Probleme der Berechnung landwirtschaftlicher Erträge, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 43, 1980, 45-91. David W. Sabean, The communal basis of pre-1800 peasant uprisings in Western Europe, in: Comparative Politics 1976, 355-364; Deutsche Übersetzung in: Winfried Schulze (Hg.), Europäische Bauernrevolten der frühen Neuzeit, Frankfurt am Main 1982, 191-205.
Deutsche Agrargeschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts krieg aus der zunehmenden Spezialisierung und damit Krisenanfälligkeit der Landwirtschaft zu erklären (als auffällig wurde die weitgehende Übereinstimmung von Weinbauregionen und Aufstandsregionen bezeichnet) hat die verdiente Resonanz verfehlt. 63 Territorial weiter ausgreifende Untersuchungen, die sich aus neueren Forschungen hinsichtlich der spätmittelalterlichen Politisierung von Bauern ergeben hatten und methodisch der Landesgeschichte geschuldet waren,64 führten schließlich dazu, den Bauernkrieg in eine Revolution des gemeinen Mannes umzuinterpretieren. 65 Mit dem zeitgenössischen Begriff Gemeiner Mann wurde die nachweisbare Beteiligung und Involvierung von Bürgern der Landstädte und Reichsstädte, sowie von Bergknappen abgebildet, mit Revolution die den bäuerlichen Zusammenschlüssen (Christliche Vereinigungen) und Programmen inhärente politische Theorie einer gemeindlichen Repräsentation in republikanisch oder ständisch konzipierten politischen Verbänden. 66 Eine Hayden White akklamierende Historikergeneration sollte sich daran machen, dieses Drama zu dekonstruieren und als Komödie neu aufzuführen, um dem Gegenstand das anhaltende Publikumsinteresse, das er verdient, zu sichern. Die Agrargeschichte im engeren Sinn hat von der Bauernkriegsforschung vor allem dadurch profitiert, daß der Leibeigenenstatus, der durch die Freiheitsforderung generell in Frage gestellte feudale Rechtstitel, 67 und die Belastung der Landwirtschaft durch die neu aufkommenden territorialen Steuern genauer untersucht wurden. 68 Von weiterreichender Bedeutung war freilich, daß deutsche Bauern jetzt einen politischen Status gewannen, eine Interpretation, die rasch international aufgenommen wurde. Das wiederum lag freilich nicht in prinzipiell neuen Studien mit Archivalien begründet, sondern ist dem Umstand zu verdanken, daß der Bauernkrieg mit der Reformation von der marxistischen Geschichtswissenschaft in der Deutschen Demokratischen Republik zum Konzept der Frühbürgerlichen Revolution ausgebaut wurde. 69 Mit dem Anspruch, der Frühbürgerlichen Revolution legitimatorische Funktion für den sozialistischen Staat in Deutschland zuzuschreiben (nicht anders wie der Hussitischen Revolution in der Tschechoslowakei), wurde der Problemkomplex Bauernkrieg in die ideologische Grundsatzdebatte zwischen West und Ost in63
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Franz Irsigler, Zu den wirtschaftlichen Ursachen des Bauernkriegs, in: Kurt Löscher (Hg.), Martin Luther und die Reformation in Deutschland. Vorträge zur Ausstellung im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg 1983, Schweinfurt o.J., 95-120. Peter Blickle, Landschaften im Alten Reich. Die staatliche Funktion des gemeinen Mannes, München 1973. Peter Blickle, Die Revolution von 1525 [1975], 3. Aufl., München 1993. Die Interpretation wird in Grundzügen auch übernommen in den systematischen Kapiteln in: Horst Buszello/Peter Blickle/Rudolf Endres (Hg.), Der deutsche Bauernkrieg [1984], 3. Aufl., Paderborn 1995. Claudia Ulbrich, Leibherrschaft am Oberrhein im Spätmittelalter, Göttingen 1977; vorgängig Peter Blickle, Agrarkrise und Leibeigenschaft im spätmittelalterlichen deutschen Südwesten [ 1975], in: Ders., Studien zur geschichtlichen Bedeutung des deutschen Bauernstandes, Stuttgart/New York 1989, 19-35. Rudolf Endres, Der Bauernkieg in Franken, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 109, 1973, 31-68. Der theoretisch führende Kopf bei der Herstellung dieses Modells war m. E. Günter Vogler. Dazu Günter Vogler, Marx, Engels und die Konzeption einer frühbürgerlichen Revolution in Deutschland, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 17, 1969, 704-717.
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Peter Blickle volviert. Neben dem Nationalsozialismus hatte die deutsche Geschichte plötzlich einen zweiten Gegenstand von internationalem Interesse vorzuweisen. Nicht zuletzt ihm verdankt sie ihre Rückkehr in die internationalen Diskussionszirkel der Geschichtswissenschaft. Für die Geschichte des Bauern zeitigte die Beschäftigung mit dem Bauernkrieg allerdings noch einen Nebeneffekt Zum politischen Bauern trat der religiöse. Die katalytische Funktion der Reformation für die Radikalität des Bauernkriegs war nie bestritten worden. Herkömmlicherweise wird der Anteil Religion im Bauernkrieg auf einen mißverstandenen Luther reduziert. Dagegen hatte auch das Modell der Volksreformation von Mosej Mendeljewitsch Smirin, das die Theologie Thomas Müntzers als theoretische Verarbeitung der bäuerlichen und plebejischen Forderungen und Hoffnungen interpretierte,7° keine Chance. Sobald man jedoch die politischen Forderungen der Bauern ernst nahm, mußte man auch ihre religiösen ernst nehmen. Pfarrerwahl durch die Gemeinde gehörte zu den prominentesten und verbreitetsten, und ihr nachgehend 71 erschloß sich ein unbekannter Reichtum an Niederpfründstiftungen durch bäuerliche Nachbarschaften und politische Gemeinden, 72 so daß zu Beginn der Reformation neben der kirchenrechtlich geschützten Pfarreiorganisation ein üppiges und kompliziertes System von Kapellen und Pfründen bestand. Es folgte der gänzlich anderen Logik des Stiftungsrechts, was den Gläubigen erlaubte, eine Kirche nach ihren Interessen und Bedürfnissen aufzubauen. 73 Die Pfarrerwahlforderung in den 1520er Jahren erwies sich damit als Generalisierung und Radikalisierung einer bereits eingeleiteten Praxis. In der zeitlichen Abfolge reiht sich hinter der Bauernkriegsforschung die Widerstandsforschung ein. 74 Allerdings gab es für sie in Buropa ein günstiges Klima, seitdem zur Interpretation der Französischen Revolution auch bäuerliche Aufstände erklärend herangezogen wurden. Schließlich wirkte stimulierend die zunehmende Auseinandersetzung mit der marxistischen Geschichtstheorie, für die Klassenkampf jeder Art, auch in den sogenannten niederen Formen, einen prominenten Forschungsgegenstand darstellte.7 5 Forschungspraktisch gesehen lagen die Dinge we70 71
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Moisej Mendeljewitsch Smirin, Die Volksreformation des Thomas Münzer (sie!) und der große Bauemkrieg, 2. Aufl., Berlin 1956. Franziska Conrad, Reformation in der bäuerlichen Gesellschaft. Zur Rezeption reformatorischer Theologie im Elsaß, Stuttgart 1984; Peter Blickte, Gemeindereformation. Die Menschen des 16. Jahrhunderts auf dem Weg zum Heil, München 1985; Ders. (Hg.), Zugänge zur bäuerlichen Reformation, Zürich 1987 [dort besonders die Beiträge von Peter Bierbrauer, Hans von Rütte und Rudolf Endres] . In chronologischer Reihung: Hans von Rütte (Redaktion), Bäuerliche Frömmigkeit und kommunale Reformation, Bem 1988 [dort besonders die Beiträge von Peter Bierbrauer und Hans von Rütte]; Rosi Fuhrmann, Dorfgemeinde und Pfründstiftung vor der Reformation. Kommunale Selbstbestimmungschancen zwischen Religion und Recht, in: Peter Blickle/Johannes Kunisch (Hg.), Kommunalisierung und Christianisierung. Voraussetzungen und Folgen der Reformation 1400- 1600, Berlin 1989, 29-55; Peter Bierbrauer, Die unterdrückte Reformation. Der Kampf der Tiroler um eine neue Kirche (1521- 1527), Zürich 1993; Immacolata Saulle Hippenmeyer, Nachbarschaft, Pfarrei und Gemeinde in Graubünden, 2 Bde., Chur 1997. Hinsichtlich der analytischen Durchdringung der Probleme ist hervorzuheben Rosi Fuhrmann, Kirche und Dorf. Religiöse Bedürfnisse und kirchliche Stiftung auf dem Lande vor der Reformation, Stuttgart/Jena/New York 1995. Eine bemerkenswerte Zahl von Arbeiten erschien um 1980. Vgl. besonders Helga Schultz, Bäuerliche Klassenkämpfe zwischen frühbürgerlicher Revolution und dreißigjährigem Krieg, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 20, 1972, 156-173; Dies.,
Deutsche Agrargeschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts niger kompliziert, die Historischen Institute der Universitäten Bochum und Saarbrücken verbanden sich zu einer temporären Zusammenarbeit. Das Ergebnis waren grundlegend neue Erkenntnisse aufgrund archivischer Arbeiten. Überraschend war zunächst das Ausmaß von Unruhen, Erhebungen, Revolten in der Zeit zwischen Bauernkrieg und Bauernbefreiung, vor allem in solchen Regionen, von denen man im buchstäblichen Sinn nichts wußte. Hessen, 76 Bayern 77 und der Niederrhein78 gehörten zu diesen Landschaften. Die Auseinandersetzungen zwischen den Bauern und ihren Herren wurden unter dem heute merkwürdig klingenden Begriff Widerstand rubriziert, ein Wort, das weder in der französischen noch der englischen Forschung heimisch war, und vermutlich von der zeitgenössischen politischen Rhetorik in der Bundesrepublik geborgt war. Dahinter freilich verbarg sich mehr, die Einschätzung nämlich, Bauern reagierten auf Anforderungen von oben, auf solche feudaler Herrschaft, um die zeitgenössische korrelative Wendung zu Widerstand zu gebrauchen. Bereits die frühen Untersuchungen haben mit diesem Vorurteil aufgeräumt, 79 und zumindest im Bereich des personalen Statusrechts ist es gelungen zu zeigen, daß die allmähliche Verdrängung der Leibeigenschaft dem Umstand zu danken ist, daß die Bauern sie zielstrebig bekämpften.S0 Dieses Einzelbeispiel läßt sich bis jetzt lediglich regional in dem Sinne generalisieren, daß die Arbeiten von Renate Blickle auf mehreren Ebenen die Prägekraft bäuerlichen Widerstandes für das Herzogtum Bayern aufgezeigt haben: die Hausnotdurft als Norm des Landrechts, der Summarische Prozeß als extrajudiziales Verfahren und der Hofrat als oberste Behörde sind in Wechselwirkung mit den politischen Aktionen der Bauern entwickelt worden. 81 Eine überregional kon-
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Bäuerliche Klassenkämpfe und "Zweite Leibeigenschaft", in: Der Bauer im Klassenkampf, Berlin 1975, 391-404; Günter Vogler, Probleme des bäuerlichen Klassenkampfes in der Mark Brandenburg im Spätfeudalismus, in: Acta Universitatis Carolinae. Studia historica 11, 1974, 75-94. Wemer Troßbach, Soziale Bewegung und politische Erfahrung. Bäuerlicher Protest in hessischen Territorien, Weingarten 1987; Ders., Bauernbewegungen im Wetterau-Vogelsberg-Gebiet 16481806. Fallstudien zum bäuerlichen Widerstand im Alten Reich, Darmstadt/Marburg 1985. Renale Blickte, "Spenn und Irrung" im "Eigen" Rottenbuch. Die Auseinandersetzungen zwischen Bauemsehaft und Herrschaft des Augustiner-Chorherrenstifts, in: PeterBlickte (Hg.), Aufruhr und Empörung? Studien zum bäuerlichen Widerstand im Alten Reich, München 1980, 69-145; Dies., Die HaagerBauernversammlung des Jahres 1596. Bäuerliches Protesthandeln in Bayern, in: Peter Blickte (Hg.), Bauer, Reich und Reformation. Festschrift für Günther Franz zum 80. Geburtstag, Stuttgart 1982, 43-73. Helmut Gabel, Widerstand und Kooperation. Studien zur politischen Kultur rheinländischer und maasländischer Kleinterritorien (1648-1794), Tübingen 1995. Winfried Schulze, Bäuerlicher Widerstand und feudale Herrschaft in der frühen Neuzeit, Stuttgart 1980 und sein Sammelband, Aufstände, Revolten, Prozesse. Beiträge zu bäuerlichen Widerstandsbewegungen im frühneuzeitlichen Europa, Stuttgart 1983, sowie Claudia Ulbrich, Bäuerlicher Widerstand in Triberg, in: P. Blickte, Aufruhr, 146-214. Zuerst Ulbrich, Leibherrschaft, zuletzt Renate Blickte, Appetitus Libertatis. A Social Historical Approach to the Development of the Earliest Human Rights: The Example of Bavaria, in: Wolfgang Schmale (Hg.), Human Rights and Cultural Diversity, Goldbach 1993, 143-162; Dies., Leibeigenschaft. Versuch über Zeitgenossenschaft in Wissenschaft und Wirklichkeit, durchgeführt am Beispiel Altbayems, in: Jan Peters (Hg.), Gutsherrschaft als soziales Modell, München 1995, 53-79. Renate Blickle, Hausnotdurft Ein Fundamentalrecht in der altständischen Ordnung Bayerns, in: Günter Birtsch (Hg.), Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft, Göttingen 1987, 42-64; Dies., Laufen gen Hof. Die Beschwerden der Untertanen und die Entstehung des Hofrats in Bayern, in: PeterBlickte (Hg.), Gemeinde und Staat im Alten Europa, München 1997, 241-266.
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sensfähige Verständigung dartiber, was Unruhen auslöst, ist bis heute nicht erzielt und dementsprechend eine plausible Typologie auch kaum entwickelt worden. Das freilich gilt nicht minder auch für die anderen europäischen Länder. Eindeutiger sind hingegen die Urteile auf der Handlungsebene. Winfried Schulze hat schon 1975 die These von der "Verrechtlichung sozialer Konflikte" formuliert 82 und sich mit ihr namentlich in Deutschland, aber auch darüber hinaus glänzend durchgesetzt. Sie besagt, der Bauernkrieg von 1525 habe die Obrigkeiten veranlaßt, die rechtlichen Möglichkeiten der Interessenvertretung durch Bauern sowohl an den Reichsgerichten als auch an den territorialen Gerichten zu verbessern. Empirische Belegstücke für diese These sind als Bochumer Dissertationen gefertigt worden. Sie haben, einsetzend mit der Pionierarbeit von Werner Troßbach, vornehmlich am Reichshofrat und Reichskammergericht83 zahllose Prozesse nachgewiesen, die von Untertanenschaften, Gemeinden und bäuerlichen Syndikaten eingebracht wurden. Konkurrierende Interpretationen, die eine hohe Kontinuität sowohl der Konfliktformen, als auch der Konfliktlösungen vom ausgehenden Hochmittelalter bis zum Ende des Alten Reiches vertraten, 84 blieben bislang deutlich im Schatten der Verrechtlichungsthese. Teils im Sog dieser Forschung, 85 teils unabhängig von ihr, 86 sind vor allem in der Schweiz, wo eine ungebrochene Kontinuität der Volkskunde die Erforschung bäuerlichen Handeins erleichterte, viele Arbeiten geschrieben worden,87 die zuletzt auf die These zugespitzt wurden, die Bauern hätten durch häufiges Protestieren und schließlich Krieg (1653) eine Verfassung in den schweizerischen Stadtstaaten (Bern, Luzern) durchgesetzt, die man paternalistisch nennen müsse. 88 Für Deutschland wurde am Beispiel hessischer Dörfer die Auffassung vertreten, der Widerstand habe eine Solidarität zwischen Bauern und Landarmen gestiftet, die als Gemeindeprotest 82
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Vgl. Winfried Schulze, Die veränderte Bedeutung sozialer Konflikte im 16. und 17. Jahrhundert, in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Der Deutsche Bauernkrieg 1524- 1526, Göttingen 1975, 277-302. Troßbach, Soziale Bewegung; Gabel, Widerstand. In den weiteren Zusammenhang dieser Forschungen gehört auch Wolfgang Schmale, Bäuerlicher Widerstand, Gerichte und Rechtsentwicklung in Frankreich. Untersuchungen zu Prozessen zwischen Bauern und Seigneurs vor dem Parlament von Paris (16.- 18. Jahrhundert), Frankfurt am Main 1986. Peter Blickte, Unruhen in der ständischen Gesellschaft 1300- 1800, München 1988. Hartmut Zücken, Die sozialen Grundlagen der Barockkultur in Süddeutschland, Stuttgart/New York 1988; Werner Troßbach, Der Schatten der Aufklärung. Bauern, Bürger und Illuminaten in der Grafschaft Wied-Neuwied, Fulda 1991. Georg Grüll, Bauer, Herr und Landesfürst Sozialrevolutionäre Bestrebungen der Oberösterreichischen Bauern von 1650 bis 1848, Graz/Köln 1963 [unberechtigterweise wenig beachtet]; Hermann Rebe!, Peasant Classes. The Bureaucratization of Property and Family Relations under Early Habsburg Absolutism 1511 - 1636, Princeton/New Jersey 1983; Edwin Ernst Weber, Städtische Herrschaft und bäuerliche Untertanen im Alltag und Konflikt: Die Reichsstadt Rottweil und ihre Landschaft vom 30jährigen Krieg bis zur Mediatisierung, 2 Teile, Rottweil 1992; David Martin Luebke, His Majesty's Rebels. Communities, Factions, and Rural Revolt in the Black Forest, 1725 - 1745, Ithaca/London 1997. Andreas Suter, "Troublen" im Fürstbistum Basel (1716- 1740). Eine Fallstudie zum bäuerlichen Widerstand im 18. Jahrhundert, Göttingen 1985; Martin Merki-Vollenweyder, Unruhige Untertanen. Die Rebellion der Luzerner Bauern im Zweiten Villmergerkrieg (1712), Luzern/Stuttgart 1995; Niklaus Landolt, Untertanenrevolten und Widerstand auf der Basler Landschaft im 16. und 17. Jahrhundert, Liestal 1996. Andreas Suter, Der Schweizerische Bauernkrieg von 1653. Politische Sozialgeschichte- Sozialgeschichte eines politischen Ereignisses, Tübingen 1997.
Deutsche Agrargeschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit vorwiegend antietatistischer Stoßrichtung weit ins 19. Jahrhundert hinein politisch wirksam gewesen sei. 89 Die Widerstandsforschung hat darunter gelitten, zumindest solange Geschichte unter modernisierungstheoretischen Parametern interpretiert werden sollte, daß ihre Ergebnisse90 nicht an die Entwicklung des 19. Jahrhunderts angeschlossen werden konnten. Zwar verdankt man Schulze die Hypothese, die Entstehung der Menschenrechte wurzele auch im bäuerlichen Widerstand, 91 doch erst die in das 19. Jahrhundert hinausgebaute Arbeit von Andreas Würgler stellt einen ersten wirklichen Schlußstein zwischen den konstitutionellen Staaten des Vormärz und der ihr eigenen Öffentlichkeit und den bäuerlich-bürgerlichen Revoltenforderungen des 18. Jahrhunderts her, die nicht nur die Respektierung alter, oft ins Spätmittelalter zurückreichender Stadt- und Landrechte als verfassungsgemäß verlangten, sondern auch das Publikum über Flugschriften und Presse gezielt über ihre Absichten informierten. 92 Die Widerstandsforschung verdankt ihre Ergebnisse in höherem Maße der Archivarbeit als die Dorf- und Gemeindeforschung. Übertroffen durch eine theoretische Durchdringung ihrer Stoffe wird sie allerdings von den Forschungsdebatten, die zunächst unter dem Kürzel Protoindustrialisierung geführt wurden.
3. Proloindustrialisierung und Modernisierung der Landwirtschaft Der Prozeß der Entkolonialisierung, verbunden mit den Bemühungen, die Länder der Dritten Welt, wie man noch in den siebziger Jahren sagen konnte, durch eine rasche Industrialisierung westlichen Standards anzunähern, haben der Geschichte der Industrialisierung in der Forschung der Nachkriegszeit einen prominenten Platz gesichert. Die praktischen Erfahrungen der Entwicklungshilfe, daß eine Industrialisierung ex nihilo auch zu nichts führe, sind der europäischen Agrargeschichte insofern zugute gekommen, als jetzt die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Industrielle Revolution in einer vorgeschalteten Agrarischen Revolution gesucht und gefunden wurden. In Deutschland kreuzte sich diese Forschungsrichtung, die wegen des erforderlichen Sachverstandes zunächst im Umfeld wirtschaftsgeschichtlicher Lehrstühle betrieben wurde, mit dem Interesse an den grundsätzlichen Wandlungen auch im gesellschaftlichen und normativen Bereich (Stichwort Satte/zeit) und vermeintlichen Abweichungen der deutschen Geschichte von der westeuropäischen (Markenzeichen Sonderweg). In solchen Zusammenhängen sind zunächst Arbeiten entstanden, die der Bauernbefreiung galten. Die Frage, wohin die enormen Ablösungssummen gingen, die den 89
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Robert von Friedeburg, Ländliche Gesellschaft und Obrigkeit. Gemeindeprotest und politische Mobilisierung im 18. und 19. Jahrhundert, Göttingen 1997. Vgl. P. B1ickle, Unruhen [dort auch eine ausführliche Bibliographie bis 1988]. Die zeitlich später liegende Forschung verzeichnet Holenstein, Bauern, 103-112. Winfried Schulze, Der bäuerliche Widerstand und die "Rechte der Menschheit", in: Birtsch, Grund- und Freiheitsrechte, 41-56. Andreas Würgler, Unruhen und Öffentlichkeit. Städtische und ländliche Protestbewegungen im 18. Jahrhundert, Tübingen 1995.
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Standesherren zuflossen, ließ sich dahingehend beantworten, daß sie für die Industrialisierung nichts bedeuteten. 93 Auf der anderen Seite änderte sich auch die Lage der Bauern offenbar wenig. 94 Aus einem systematischer konzipierten Vorhaben, entwickelt in Werner Conzes Arbeitskreis für moderne Sozialgeschichte, die Bauernbefreiung für alle Staaten des Deutschen Bundes darstellen zu lassen, ist insofern wenig geworden, als allein das Königreich Württemberg seinen Bearbeiter in Wolfgang von Hippel gefunden hat. 95 Auch er befragt die Bauernbefreiung auf ihre Bedeutung für die Industrialisierung und kommt zu der Erkenntnis, daß sie gering war. 96 Der bleibende Wert der Arbeit liegt indessen in der minutiösen Darstellung des politischen und administrativen Prozesses der Bauernbefreiung selbst und der breiten, ins 16. Jahrhundert zurückreichenden Darstellung der agrarischen Ordnung, soweit sie durch die Reformen geändert werden sollte. Folglich stehen Grundherrschaft (Eigentum) und Leibherrschaft (Freiheit) im Vordergrund. Für keine zweite Region der Grundherrschaft gibt es eine vergleichbar gelehrsame und empirisch reiche Untersuchung. Seitdem verbietet es sich, die Bauernbefreiung in Deutschland allein über Georg Friedrich Knapp97 wahrzunehmen und die preußische Lösung zum deutschen Paradigma zu machen. Der Differenzierung dienlich waren auch Arbeiten, die unterschiedlichen Formen der Modernisierung der Landwirtschaft im 18. Jahrhundert nachspürten.98 Dem Stichwortgeber Industrialisierung verdankt man einen zweiten agrargeschichtlich relevanten Forschungsbereich, die Ende der siebziger Jahre lebhaft diskutierte Protoindustrialisierung. Ihr hatten sich, jüngere Anregungen aus Belgien99 und ältere Forschungen aus der Schweiz aufnehmend, 100 Mitarbeiter des Max-Planck-Instituts für Geschichte in Göttingen angenommen und den ländlichen Raum punktuell unter dem Gesichtspunkt der nicht-landwirtschaftlichen Produktion unter93 94 95 96
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Harald Winkel, Die Ablösungskapitalien aus der Bauernbefreiung in West- und Süddeutschland. Höhe und Verwendung bei Standes- und Grundherren, Stuttgart 1968. Schremmer, Bauernbefreiung. Wolfgang von Hippel, Die Bauernbefreiung im Königreich Württemberg, 2 Bde. , Boppard am Rhein 1977. Heute eine verbreitete Überzeugung in der Forschung. Vgl. etwa Toni Pierenkernper (Hg.), Landwirtschaft und industrielle Entwicklung. Zur ökonomischen Bedeutung von Bauernbefreiung, Agrarreform und Agrarrevolution, Stuttgart 1989. Georg Friedrich Knapp, Die Bauernbefreiung und der Ursprung der Landarbeiter in den älteren Teilen Preußens, 2 Bde., Leipzig 1887. Wolfgang Prange, Die Anfänge der großen Agrarreformen in Schleswig-Holstein bis 1771, Neumünster 1971; Stefan Brakensiek, Agrarreform und ländliche Gesellschaft. Die Privatisierung der Marken in Nordwestdeutschland 1750 - 1850, Paderborn 1991. Wie landwirtschaftliche Kenntnisse vermittelt und umgesetzt wurden, untersucht Otto Ulbricht, Englische Landwirtschaft in Kurhannover in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Berlin 1980 [die Bedeutung Albrecht Daniel Thaers heraushebend) ; Reiner Prass, Reformprogramm und bäuerliche Interessen. Die Auflösung der traditionellen Gemeindeökonomie im südlichen Niedersachsen, 1750- 1883, Göttingen 1997. Franktin F. Mendels, Industrialization and population pressure in eighteenth-century Flanders [Phil. Diss. Wisconsin 1969], New York 1981 [von dort der Begriff Proto-lndustrialisierung übernommen]. Rudolf Braun, Industrialisierung und Volksleben. Die Veränderung der Lebensformen in einem ländlichen Industriegebiet vor 1800, Zürich/Stuttgart 1960; Ders., Sozialer und kultureller Wandel in ~inem ländlichen Industriegebiet im 19. und 20. Jahrhundert, Zürich/Stuttgart 1965.
Deutsche Agrargeschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sucht, 101 sachlich Agrargeschichte und Gewerbegeschichte, Demographie, Haushalts- und Familienforschung zusammenführend. 102 Die mit dem Begriff unterstellte Kontinuität von der Proto-Industrialisierung zur Industrialisierung hat sich nicht bestätigt. Ein generalisierbarer Verlaufstypus für den Übergang proto-industrieller Regionen in die Modeme ließ sich nicht entwickeln. Nach einer knapp zwanzigjährigen Inkubationszeit sind daraus schließlich gewaltige, auf einen Ort bezogene Monographien entstanden, die heute in Deutschland zu den wesentlichen empirischen Stützen für die geschichtstheoretischen Debatten über Historische Anthropologie und Mikrohistorie gehören. Unter beispiellos günstigen Bedingungen, die keine Universität in Deutschland bieten kann, durften hier Arbeiten reifen, die in allen ihren Entwicklungsstadien dank der Ressourcen des Göttinger Hauses mit internationaler Besetzung diskutiert und unter einem geschickten wissenschaftsstrategischen Design als methodologische Prototypen auf den Markt gebracht wurden. Förderlich für die Agargeschichte war die immer besonders enge, semi-institutionelle Kooperation von Hans Medick mit David W. Sabean. Sabean hatte eine andere wissenschaftliche Sozialisation erfahren, er war stark von der amerikanischen Ethnologie und Anthropologie, auch von der Annales-Schule geprägt. Er verstand (und versteht) etwas von Bauern und Landwirtschaft, 103 Medick etwas von Theorien. 104 Lange galt Neckarhausen als das deutsche Montaillou, 105 allerdings saß das Publikum mehr als ein Jahrzehnt vor verschlossenem Vorhang, bis er endlich 1990 hochgezogen wurde, 106 freilich nur um den ersten Akt des Stückes aufzuführen, für den zweiten und den dritten werden die Kulissen noch zurechtgerückt. Sabean rekonstruiert ein kompliziertes Netzwerk von verwandtschaftlichen Beziehungen, die durch Besitzübertragung und Erbschaften vermittelt, gestärkt oder geschwächt werden. Ehen müssen soziale und ökonomische Beziehungen stiften, die es erlauben, ein Leben zu überdauern. Mittels der Verfügung über Boden sichern sich Eltern, Onkel und Tanten die Loyalität ihrer Kinder, Neffen und Nichten, die sich in Arbeiten, Dienstleistungen, Freundlichkeiten ausdrücken müssen und erziehen sie so zu einem von der dörflichen Gesellschaft akzeptierten Verhalten. Die geschichtstheoretischen Debatten der letzten zwei Jahrzehnte und ihre methodischen Implikationen haben in diesem Werk tiefe Spuren hinterlassen, etwa die konfessionsähnliche Peter Kriedte/Hans Medick/Jürgen Schlumbohm, Industrialisierung vor der Industrialisierung. Gewerbliche Warenproduktion in der Formationsperiode des Kapitalismus, Göttingen 1977. 102 Vgl. zur Historiographie des Konzepts zuletzt Jürgen Schlumbohm, "Proto"-Industrialisierung als forschungsstrategisches Konzept und als Epochenbegriff- eine Zwischenbilanz, in: Markus Cerman/Sheilagh C. Ogilvie (Hg.), Proto-lndustrialisierung in Europa, Wien 1994, 23-33 . - Für einen kritischeren Umgang und eine Relativierung der Autointerpretationen vgl. Wolfgang Mager, Protoindustrialisierung und Protoindustrie. Vom Nutzen und Nachteilzweier Konzepte, in: Geschichte und Gesellschaft 14, 1988, 275-303, und die rhetorisch aufwendige Replik von Peter Kriedte/Hans Medick/Jürgen Schlumbohm, Sozialgeschichte in der Erweiterung - Proto-lndustrialisierung in der Verengung?, in: Geschichte und Gesellschaft 18, 1992, 70-87, 231-255. 103 Sabean, Landbesitz. 104 Hans Medick, Naturzustand und Naturgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft. Die Ursprünge der bürgerlichen Sozialtheorie als Geschichtsphilosophie und Sozialwissenschaft bei Samuel Pufendorf, John Locke und Adam Smith, 2. Aufl., Göttingen 1981 . 105 David W. Sabean, Power in the Blood. Popular Culture and Viilage Discourse in Early Modem Gerrnany, Cambridge 1984 [lndexbelege Neckarhausen]. 106 David W. Sabean, Property, Production, and Family in Neckarhausen, 1700- 1870, Cambridge 1990. 101
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Überzeugung, den historischen Prozeß diktierten Ökonomie und Demographie, was entsprechend zeitlich aufwendige Familienrekonstitutionen, einschließlich der Zuordnung des Besitzes zu Personen in Form aggregierter Daten 107 erforderte. Sabean gehört zu den Pionieren unter den Quantifizierern in der Geschichtswissenschaft, die ihm nachrückende Generation hat es dank besserer Programme und eingeschliffener Routine erheblich leichter. lOS Neckarhausen ist längst kein Solitär mehr. In rascher Folge sind ähnlich angelegte Arbeiten erschienen, über Unterfinning, 109 Belm 110 und Laichingen. 111 Gemeinsam ist ihnen die Öffnung des Blicks auf das alltägliche Leben, die Reindividualisierung von Möglichkeiten und Grenzen einer Generation im Rahmen der vorgegebenen Wirtschafts- und Herrschaftsverhältnisse, bezogen auf die, wie man mangels eines besseren Begriffs unter Historischen Anthropologinnen und Historischen Anthropologen gerne sagt, einfachen Leute. 112 Der historische Prozeß soll von den Individuen in ihren gesellschaftlichen Netzwerken her verständlich gemacht werden. Sie werden lokal abgegrenzt, auf das Dorf, und so gewinnt die Mikrohistorie ihren Bezugsrahmen. "The local is interesting precisely because it offers a locus for observing relations." 113 Das ist eine Radikalisierung der älteren Landesgeschichte, für die der kleine Raum das Arbeitsfeld war. 114 Das Credo der Mikrohistorie, man untersuche nicht Dörfer, sondern in Döifern, war auch das der Landesgeschichte, selbstredend untersuchte sie nicht nur Länder, sondern auch in Ländern. Die Ergebnisse der mikrohistorischen Analyse sind widerständisch gegenüber den Interpretationen der Makrohistorie, aber auf Geschichte als gestaltetes Kontinuum will auch sie hinaus; was früheren Generationen die großen Persönlichkeiten und sittlichen Mächte waren, sind ihr die kleinen Leute und deren soziale Logik des Handelns. Darin drückt sich eine hohe Achtung vor dem Menschen aus und eine neue Art von Humanität. Wenn man von Architekten in Berlin verlangt, demokratisch zu bauen, so haben die Historiker in Göttingen und Los Angeles eine solche 107
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Das Problem, sie mit den herkömmlichen Mitteln (Archiv) nicht mehr überprüfen zu können, stellt sich mit einiger Dringlichkeit. Denkbar wäre als Lösung, die Rohdaten auf Disketten den Arbeiten beizugeben. Ansonsten ist wissenschaftlicher Vandalismus wohl kaum zu verhindern. Vgl. Andreas Maisch, Notdürftiger Unterhalt und gehörige Schranken. Lebensbedingungen und Lebensstile in württembergischen Dörfern der frühen Neuzeit, Stuttgart/Jena/New York 1992 [bearbeitet drei Dörfer). Rainer Beck, Unterfinning. Ländliche Welt vor Anbruch der Moderne, München 1993. Jürgen Schlumbohm, Lebensläufe, Familien, Höfe. Die Bauern und Heuerleute des Osnabrückischen Kirchspiels Beim in prolo-industrieller Zeit, 1650 - 1860, Göttingen 1994. Hans Medick, Weben und Überleben in Laiehingen 1650- 1900. Lokalgeschichte als Allgemeine Geschichte, Göttingen 1996. So vor allem das Vokabular von Richard van Dülmen und seiner Schule. V gl. Richard van Dülmen (Hg.), Kultur der einfachen Leute. Bayerisches Volksleben vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, München 1983. Zu Beck, Sabean und Schlumbohm: Werner Troßbach, Historische Anthropologie und frühneuzeitliche Agrargeschichte deutscher Territorien. Anmerkungen zu Gegenständen und Methoden, in: Historische Anthropologie 5, 1997, 187-211. Sabean, Neckarhausen, 10. In ähnlicher Absicht [doch mit bescheidenerem Anspruch] vorgängig schon die Studien über Kiebingen von Utz Jeggle, Kiebingen - eine Heimatgeschichte. Zum Prozeß der Zivilisation in einem schwäbischen Dorf, Tübingen 1977 und Wolfgang Kaschuba/Carola Lipp, Dörfliches Überleben. Zur Geschichte materieller und sozialer Reproduktion ländlicher Gesellschaft im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Tübingen 1982. Landesgeschichte der Allgemeinen Geschichte zuzuschlagen, wie Medick dies tut, ist nur erklärlich aus der Absicht, dem eigenen Ansatz größere Originalität zu sichern; vgl. Medick, Laichingen, 11.
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Forderung für ihr Metier schon längst erfüllt. Den Weg zu diesem Ziel haben Historikerinnen und Historiker weit über Deutschland hinaus immer interessiert und kommentierend begleitet. 115
4. Grundherrschaft und Gutsherrschaft Grundherrschaft und Gutsherrschaft sind nicht zuletzt polemische Kampfbegriffe aus dem rhetorischen Arsenal des liberalen Bürgertums und richten sich beide in pejorativer Absicht gegen die alteuropäische Adelsherrschaft. Nicht zuletzt aus der anhaltenden politischen Spannung zwischen Bürgertum und Adel in Deutschland während des 19. Jahrhunderts (die gegenwärtig nochmals ein leicht verfremdetes da capo in den neuen Bundesländern erfährt, etwa in dem bürgerlichen Urteil gegenüber den Restitutionsansprüchen des fürstlichen Hauses Putbus auf Rügen) läßt sich erklären, daß wenige Bereiche der Agrargeschichte so gut erforscht sind, und dies seit langem, wie die unter dem antagonistischen Begriffspaar Grundherrschaft - Gutsherrschaft sich verbergenden Sachverhalte. 116 Komplikationen brachte die Transformation in wissenschaftliche Ordnungsbegriffe mit sich, wie immer, wenn solche nicht unmittelbar aus der Sprache der Quellen elaboriert werden können, was wissenschaftliche Erkenntnis nicht nur erleichtert, sondern auch erschwert. Seit beide Begriffe in Klaus Schreiner 117 und Heinrich Kaak 118 ihre Biographen gefunden haben, liegen diese Probleme blank am Tage. Klaus Schreiner beharrt darauf, der Begriff Grundherrschaft tauge als entschärfte Variante für Feudalismus ebensowenig wie für bloße Pacht- und Rentenformen, vielmehr müsse er, soll er idealtypisch einsetzbar sein, ein Sozialsystem abbilden, das Boden und Herrschaft integral verklammert. 119 Unbeschwert von solchen Sorgen ist die Grundherrschaft, teilweise gepaart mit der Weistumsforschung, 120 kontinuierlich gepflegt worden, 121 zumalessich um ein traditionsreiches Forschungsfeld der deutschen Landesgeschichte handelt. Größere 115
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V gl. etwa schon Guy Bois, Marxisme et histoire nouvelle, in: Jacques Le Goff/Roger Chartier/Jacques Revel (Hg.), La Nouvelle Histoire, Paris 1978, 375-393 [mit Würdigung von Medick]. Vgl. schon die breite Darstellung bei Abel, Landwirtschaft [lndexeinträge Gutswirtschaft) und Lütge, Agrarverfassung, 111-158,222-237. Klaus Schreiner, .,Grundherrschaft". Entstehung und Bedeutungswandel eines geschichtswissenschaftliehen Ordnungs- und Erklärungsbegriffs, in: Hans Patze (Hg.), Die Grundherrschaft im späten Mittelalter I, Sigmaringen 1983, 11-74. Heinrich Kaak, Die Gutsherrschaft. Theoriegeschichtliche Untersuchungen zum Agrarwesen im ostelbischen Raum, Berlin/New York 1991. Schreiner, Grundherrschaft, 74. Vgl. oben Anm. 47-50. Horst-Detlef Illemann, Bäuerliche Besitzrechte im Bistum Hildesheim. Eine Quellenstudie unter besonderer Berücksichtigung der Grundherrschaft des ehemaligen Klosters St. Michaels in Hildesheim, Stuttgart 1969 [Transformation von Villikationen]; Hugo Ott, Studien zur spätmittelalterlichen Agrarverfassung im Oberrheingebiet, Stuttgart 1970; Ludolf Kuchenbuch, Bäuerliche Gesellschaft und Klosterherrschaft im 9. Jahrhundert. Studien zur Sozialstruktur der Familia der Abtei Prüm, Wiesbaden 1978; Philippe Dollinger, Derbayerische Bauernstand vom 9. bis 13. Jahrhundert [französisch 1949). München 1982.
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Aufmerksamkeit hat sich der Gegenstand durch die Arbeiten von Werner Rösener 122 selbst und durch die von ihm organisierten Tagungen 123 gesichert. Auch hier wirkte sich fördernd, ähnlich wie im Bereich der Proto-Industrialisierung, die ideelle und materielle Unterstützung des Max-Planck-Instituts für Geschichte in Göttingen aus. Rösener hat geistliche Grundherrschaften des deutschen Südwestens für das Hochund Spätmittelalter untersucht mit dem Ergebnis, daß zwischen dem 12. und 14. Jahrhundert ein Transformationsprozeß der älteren "Betriebsgrundherrschaft" zugunsten der Bauern (im Zeichen des von ihm so genannten hochmittelalterlichen "Aufbruchs") stattgefunden habe, der in seiner Bedeutung mit der spätmittelalterlichen Agrardepression und den Agrarreformen der Bauernbefreiung parallelisiert werden müsse. Eine Stärke der Arbeit liegt in den detaillierten empirischen Daten (Betriebsgrößen, Abgaben). In welcher Form daraus die internationale Forschung neue Fragen für das Mittelalter entwickeln kann, ist erst jüngst diskutiert worden. 124 Die Grundherrschaften der frühen Neuzeit faszinierten die Forschung sehr viel weniger als jene des Mittelalters. Das scheint unberechtigt angesichts des Ertrags, das dieses Thema offensichtlich abwerfen kann. Die Integration der Landwirtschaft in überregionale Märkte und ihre Rückwirkungen auf den einzelnen Hof sowie die dadurch entstehenden politisch relevanten Interessenkonstellationen waren von weitreichenden Folgen, wie beeindruckende regionale Fallstudien zeigen konnten. 125 In Regionen hoher Verstädterung haben die Grundherrschaften durch ihre ökonomische Bindung an die Stadt und ihre herrschaftliche an Spital und Bürger starke Transformationen erfahren, 126 die im Extremfall bis zur völligen Auflösung gehen konnten wie im Appenzell, das sich aus der Herrschaft des Reichsklosters St. Gallen löste und in einem beispiellosen Prozeß industrialisiert wurde. 127 Für die kritische Phase nach dem Dreißigjährigen Krieg ist für Bayern gezeigt worden, mit welcher Vitalität die Bauern das Land aus dem wirtschaftlichen Elend herausführten, gleichzeitig aber die "Rentenoffensive" der Grundherren abwehrten, mit der weitreichenden sozialen Folge der Abdrängung des Adels in den Hofdienst und einer Stärkung des Landesfürsten bzw. des Territorialstaats. 128 Nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die Verfassung der Grundherrschaft in Bayern, selbst in den Hofmarken, wurde 122
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Herauszuheben ist seine Habilitationsschrift: Wemer Rösener, Grundherrschaft im Wandel. Untersuchungen zur Entwicklung geistlicher Grundherrschaften im südwestdeutschen Raum vom 9. bis 14. Jahrhundert, Göttingen 1991. Wemer Rösener (Hg.), Strukturen der Grundherrschaft im frühen Mittelalter, Göttingen 1989; Ders. (Hg.), Grundherrschaft und bäuerliche Gesellschaft im Hochmittelalter, Göttingen 1995. Vgl. Ludolf Kuchenbuch, Potestas und Utilitas. Ein Versuch über Stand und Perspektiven der Forschung zur Grundherrschaft im 9.- 13. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 265, 1997, 117146, hier I29ff. Thomas Robisheaux, Rural Society and the Search for Order in Early Modem Germany, Cambridge/New York/New Rochelle 1989. Maßstäblich Rolf Kießling, Die Stadt und ihr Land. Umlandpolitik, Bürgerbesitz und Wirtschaftsgefüge in Ostschwaben vom 14. bis ins 16. Jahrhundert, Köln/Graz 1989. Albert Tanner, Spulen - Weben - Sticken. Die Industrialisierung in Appenzell Ausserrhoden, Zürich 1982. Rudolf Schlögl, Bauern, Krieg und Staat. Oberbayerische Bauernwirtschaft und frühmoderner Staat im 17. Jahrhundert, Göttingen 1988. Diesen Zusammenhang sucht am Beispiel der Frömmigkeit zu belegen: Hermann Hörger, Kirche, Dorfreligion und bäuerliche Gesellschaft, 2 Teile, München 1978/1983, besonders I. Teil, 185ff.
Deutsche Agrargeschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stark von den Bauern geprägt. 129 Bayern ist ein besonders eindrückliches Beispiel für den Wandel in der Bewertung der Grundherrschaft seit Friedrich Lütge. Gutsherrschaft gehört zum Ensemble der historischen Erscheinungen, mit denen der Marxismus sein Konzept des Feudalismus konturierte. Insofern galt sie auch lange als Operationsfeld zur Analyse des Klassenkonflikts und der Klassenkämpfe zwischen Adel und Bauern. 130 Neben der Geschichte der Arbeiterbewegung und der Frühbürgerlichen Revolution war die Erforschung der Gutsherrschaft der dritte Schwerpunkt der marxistischen Forschung, domiziliert an der Universität Rostock und konzeptualisiert durch Gerhard Heitz. 131 Vieles ist, dank der notorischen Papierknappheit, ungedruckt geblieben, 132 dennoch muß die Forschung über Gutsherrschaft den Vergleich mit jener über Grundherrschaft keineswegs scheuen. 133 Zunächst standen zweifellos Grade der feudalen Ausbeutung der Bauern im Vordergrund, 134 überlagernd wurde die zweite Leibeigenschaft diskutiert und zwischen einer juristisch fixierten Leibeigenschaft (Mecklenburg, Pommern, Ostpreußen) und einer faktischen wegen fehlender oder untersagter Wegzugsmöglichkeiten (Kursachsen, Thüringen) unterschieden. 135 Am stärksten entfernte sich die ostdeutsche agrargeschichtliche Forschung von den herkömmlichen Vorstellungen von
Neben Schlögl vgl. auch Renate Blickle, Agrarische Konflikte und Eigentumsordnung in Altbayem. 1400- 1800, in: Schulze, Aufstände, Revolten, Prozesse, 166-187. 130 Vgl. oben Anm. 75. 131 Vgl. dessen (mit Hartmut Harnisch verfaßten) Rechenschaftsbericht kurz vor seiner Emeritierung. Hartmut Hamisch/Gerhard Heitz, Einleitung. Die Erforschung der Agrargeschichte der Epoche des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus, in: Dies. (Hgg.), Deutsche Agrargeschichte des Spätfeudalismus, Berlin 1986, 9-36. 132 Ein räsonierende Bibliographie mit den wichtigsten [auch ungedruckten] Dissertationen A und B verzeichnet bei Hamisch/Heitz, Einleitung. 133 Vieles ist in Aufsatzform niedergelegt in den 14 erschienenen Bänden des Jahrbuchs für Feudalismus [1977- 1990]. Wenig für das Mittelalter; vgl. Jan Brankack, Landbevölkerung der Lausitzen im Spätmittelalter. Hufenbauem, Besitzverhältnisse und Feudallasten in Dörfern großer Grundherrschaften von 1374 bis 1518, Bautzen 1990. Unter den Monographien für die Neuzeit ist von besonderem empirischem Reichtum Renale Schilling, Schwedisch-Pommern um 1700. Studien zur Agrarstruktur eines Territoriums extremer Gutsherrschaft, Weimar 1989, und die noch als Dissertation bei Gerhard Heitz in den späten 1980er Jahren gefertigte Arbeit von Thomas Rudert, Gutsherrschaft und Agrarstruktur. Der ländliche Bereich Mecklenburgs am Beginn des 18. Jahrhunderts, Frankfurt am Main/Berlin/Bem 1995 [Querschnitt für das Jahr 1703]. Unter dem Aspekt der Agrartechnik vgl. Ulrich Bentzien, Bauernarbeit im Feudalismus. Landwirtschaftliche Arbeitsgeräte und -verfahren in Deutschland von der Mitte des ersten Jahrtausends u.Z. bis um 1800, Berlin 1980. Unter dem Aspekt des außerlandwirtschaftlichen Erwerbs Helga Schultz, Landhandwerk im Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus. Vergleichender Überblick und Fallstudie Mecklenburg-Schwerin, Berlin 1984.- Bedingt durch den erschwerten Zugang zu den Archiven wurde von westlicher Seite nur wenig geforscht. Beispielhaft allerdings William W. Hagen, How Mighty the Junkers? Peasant Rents and Seigneurial Profits in Sixteenth-Century Brandenburg, in: Past & Present 108, 1985, 80-116; ergänzend Wemer Lippert, Geschichte der 100 Bauerndörfer in der nördlichen Uckennark. Ein Beitrag zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Mark Brandenburg, Köln/Wien 1968. 134 Vgl. Johannes Nichtweiß, Das Bauernlegen in Mecklenburg, Berlin 1954. Für die sich daran anschließende Debatte Gerhard Heitz, Zur Diskussion über Gutsherrschaft und Bauernlegen in Mecklenburg, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 5, 1957, 278-296. 135 Gerhard Heitz, Zum Charakter der "zweiten Leibeigenschaft", in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 20, 1972, 24-39. 129
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Peter Blickle
Gutsherrschaft mit dem Konzept des gutsherrliehen Teilbetriebs 136 und dessen genauerer Innenansicht aufgrund empirischer Forschungen. Der gutsherrliche Teilbetrieb setzt einerseits adelige Gutsbetriebe voraus, andererseits aber auch spannfähige Bauern mit entsprechend großen Höfen, deren Zahl man nicht durch Bauernlegen beliebig reduzieren kann, soll das System als Ganzes nicht kollabieren. Daraus folgt aber, daß auch der Bauer im Bereich der Gutsherrschaft als selbständiger Landwirt auf den Markt ausgerichtet ist. Andererseits ließ sich auch nachweisen, daß Rittergüter mit gutseigenem Vieh, Inventar und Lohnarbeitskräften bewirtschaftet wurden. Beide Beobachtungen machten die Gutsherrschaft zur Grundherrschaft hin offener, zumal in den achtziger Jahren in deutlichen, wenn auch nicht expliziten Anleihen bei der westlichen Forschung Verrechtlichung von Konflikten und Gemeinde als Organisationsform in Gutsherrschaften stärker betont wurden. Es gab in der Forschung der Deutschen Demokratischen Republik einen, von einem streng marxistischen Standpunkt aus gesehen subversiven Zug, die theoretischen Grundannahmen des Historischen Materialismus zu unterlaufen, erkennbar in den letzten zehn Jahren vor der Wende. 137 Wie bewußt dieser Prozeß war, muß historiographisch noch erschlossen werden, sollte sich in Deutschland ein Klima einstellen, das einen respektvollen Umgang mit jenen Kolleginnen und Kollegen erlaubt, die systembedingt und aufgrund ihrer wissenschaftlichen Sozialisation mit Theorien von Karl Marx statt mit solchen von Max Weber gearbeitet haben. Die Vergleiche zwischen ostelbischen und westelbischen Gebieten in der Deutschen Demokratischen Republik, die dank der beispielhaften Untersuchung von Hartmut Harnisch über die Magdeburger Börde (wo es Guts- und Grundherrschaften gab) energisch gefördert wurden, 138 haben die Mauer zwischen Gutsherrschaft und Grundherrschaft durchlässiger gemacht. Die heutige Gutsherrschaftsforschung, die ihre Kontinuität zur früheren über die Person von Jan Peters gesichert hat, kann auch als Fortführung und Radikalisierung dieses Ansatzes gelten. Der neue Ansatz drückt sich darin aus, daß jetzt nicht mehr von niederen Formen des Klassenkampfes die Rede ist, sondern von Widerständig keilen, Resistenzverhalten und Bauernlogiken, 139 nicht mehr Klassen mit dem quantifizierenden Verfahren der Auswertung von Steuerbüchern und anderen für Makrostrukturen relevanten Quellen rekonstruiert werden, sondern die Bedeutungen von Handlungen bäuerlicher Individuen. 140 Marxistische Gutsherrschaftsforschung war theorielastig, die neuen Forschungen, wiederum unter dem Patronat der Max-Planck-Gesellschaft (Arbeitsgruppe Guts136
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Als schon klassische Untersuchung Hartmut Harnisch, Die Herrschaft Boitzenburg, Weimar 1968; Aber auch Willi A. Boelcke, Bauer und Gutsherr in der Oberlausitz. Ein Beitrag zur Wirtschafts-, Sozial- und Rechtsgeschichte der ostelbischen Gutsherrschaft, Bautzen 1957. Das gilt vor allem im Bereich der Reformationsgeschichte. Exemplarisch ist die Konvergenz der Müntzer-Interpretationen. Hartmut Harnisch, Bauern- Feudaladel- Stadtbürgertum. Untersuchungen über die Zusammenhänge zwischen Feudalrente, bäuerlicher und gutsherrlicher Warenproduktion und den Ware-GeldBeziehungen in der Magdeburger Börde und dem nordöstlichen Harzvorland von der frühbürgerlichen Revolution bis zum Dreißigjährigen Krieg, Weimar 1980. Jan Peters (Hg.), Gutsherrschaft als soziales Modell. Vergleichende Betrachtungen zur Funktionsweise frühneuzeitlicher Agrargesellschaften, München 1995; Ders. (Hg.), Konflikt und Kontrolle in Gutsherrschaftsgesellschaften. Über Resistenz- und Herrschaftsverhalten in ländlichen Sozialgebilden der Frühen Neuzeit, Göttingen 1995. Vgl. dazu aufschlußreich Rudert, Gutsherrschaft, lff.
Deutsche Agrargeschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts herrschalt in Potsdam), verdanken ihre Durchsetzungsfahigkeit auch ihrer empirischen Unterkellerung im archivalischen Material. Theoriefreudig sind auch sie, orientiert an den Konzepten der Historischen Anthropologie, der Mikrohistorie und der Geschlechtergeschichte. 141 Größere Monographien stehen weitgehend noch aus, so daß die beabsichtigte Umwertung der Gutsherrschaft erst in Umrissen und punktuell zu erkennen ist, zumal das Projekt absichtlich viele Formen von Herrschaft in vielen Regionen erfassen will, was nebenbei auch den Brückenschlag zur Agrargeschichte Schleswig-Holsteins begünstigte. 142 Die Gutsherren, so kann eine vorläufige Bilanz lauten, hatten gelegentlich einen durchaus schweren Stand gegenüber ihren Landesherrn, wegen der Konspirationen ihrer Untertanen undangesichtsder Unwägbarkeilen der Getreidemärkte. Die Dörfer scheinen der Durchsetzung gutsherrlicher Interessen stärker widerstanden zu haben, als angenommen. 143 Zu weitgehende habituelle Distanzierung des Adels konnte die Gutswirtschaft wegen blockierter Ausgleichsmöglichkeiten in die Dysfunktionalität treiben. Diese Erfahrung nutzend, suchten Herren und Bauern den Konsens, der immer wieder neu gestiftet und den veränderten Verhältnissen angepaßt werden mußte. So entstanden auch ausgegrenzte, von den Herren respektierte Zonen. Dazu gehörte eine beschränkte Selbstregulierung von Konflikten im Dorf, 144 extrajudizial und unter Ausschluß des Patrimonialrichters. Das alte Thema Flucht aus dem Bereich der Gutsherrschaft läßt sich offenbar auch positiv lesen als Entwicklung neuer Lebensformen. 145 Der Prozeß der Westbindung der Gutsherrschaft ist mittlerweile schon so weit gediehen, daß die Bauernbefreiung als nur mehr theoretisch neu begründeter, legalistischer Nachvollzug bereits erreichter Bewußtseinszustände unter den Bauern interpretiert werden kann. 146 Eine Bilanz der deutschen agrargeschichtlichen Forschung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewinnt schärfere Konturen, profiliert man sie vor dem Hintergrund der Agrargeschichte anderer europäischer Länder. Zweifellos hat nirgendwo 141
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Vgl. die Beiträge in den beiden von Peters herausgegebenen Bänden und (explizit) auch das Vorwort von Jan Peters zu Ders., Gutsherrschaft, IX ff. Die Beiträge können im folgenden nur auswahlweise genannt werden, schon wegen der platzraubend umständlichen Titel. Silke Göttsch, "Alle für einen Mann". Leibeigene und Widerständigkeil in Schleswig-Holstein im 18. Jahrhundert, Neumünster 1991. Heinrich Kaak, Vermittelte, selbsttätige und matemale Herrschaft. Formen gutsherrlicher Durchsetzung, Behauptung und Gestaltung in Quilitz-Friedland (Lebus/Oberbamim) im 18. Jahrhundert, in: Peters, Konflikt, 54-117; Lieselott Enders, Die Uckermark. Geschichte einer kurmärkischen Landschaft vom 12. bis zum 18. Jahrhundert, Weimar 1992. - Freilich darf die institutionelle Schwäche des Dorfes nicht übersehen werden. Dazu der Beitrag von Susanne Rappe, "Wann er bey seinem SchultzenRechte nicht bleiben könte ... ". Ein Dorfschulze zwischen Gutsherrschaft, Gemeinde und Selbstbehauptung im Gericht Gartow (Eibe) um 1700, in: Peters, Konflikt, 287-314 [bestätigt m.E. glänzend, wenn auch unabsichtlich die Thesen von Harnisch, Landgemeinde]. Vgl. ähnliche Problemlagen bei Thomas Rudert, Gutsherrschaft und ländliche Gemeinde. Beobachtungen zum Zusammenhang von gemeindlicher Autonomie und Agrarverfassung in der Oberlausitz im 18. Jahrhundert, in: Peters, Gutsherrschaft, 197-218. Ulrike Gleixner, Die "Ordnung des Saufens" und "das Sündlich erkennen". Pflogst- und Hütebiere als gemeindliche Rechtskultur und Gegenstand pietistischer Mission (Altmark 17. und 18. Jahrhundert), in: Peters, Konflikt, 13-53. Jan Klußmann, "Wo sie frey sein, und einen besseren Dienst haben solte" . Flucht aus der Leibeigenschaft in Schleswig-Holstein in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Peters, Konflikt, 118-152. Lieselott Enders, Emanzipation der Agrargesellschaft im 18. Jahrhundert - Trends und Gegentrends in der Mark Brandenburg, in: Peters, Konflikt, 404-433.
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Peter Blickle
die ländliche Welt soviel Interesse auf sich gezogen wie in Frankreich. Die Schule der Annales war aufgrund eines ihrer wichtigsten geschichtstheoretischen Postulate, "les structures du quotidien" 147 zu erforschen und die dafür nötigen methodischen Verfahren zu entwickeln, auf das Land angewiesen. Den großen theses über den Mechanismus von landwirtschaftlicher Produktion und Bevölkerungsbewegung, wie sie Emmanuel Le Roy Ladurie, 148 Pierrede Saint Jacob 149 und viele andere als Beweisstücke für die longue duree von Strukturen vorgelegt haben, steht in Deutschland nichts auch nur annähernd Gleichartiges gegenüber. Das liegt naturgemäß an den gänzlich unterschiedlichen Selbstverständnissen der Fächer in beiden Ländern. Frankreichs führende, den Wissenschaftsdiskurs prägende Schule hatte sich spätestens um die Jahrhundertmitte forschungspraktisch daran gemacht, die theoretische Annahme von einer durch die Wirtschaft geprägten Gesellschaft (und einer von gesellschaftlichen Kräften bewegten Politik) einzulösen. Die deutsche Geschichtswissenschaft hat indessen bis in die l960er Jahre am Historismus festgehalten, dessen Hervorbringungen ihr lange internationalen Rang und Glanz gesichert hatten. Das hat dazu geführt, daß unter den vom Historismus so geschätzten sittlichen Mächten der Staat (und die ihn prägten) seine Vorrangstellung behielt. Die Sozialisierung der führenden Historiker der ersten Nachkriegsgeneration durch das Kaiserreich und deren persönliche Erfahrung, wie durchdringend politische Macht das alltägliche Leben in der Zeit des Nationalsozialismus beherrschte, hat die Fixierung auf den Staat und auf Herrschaft gefestigt, ja verstärkt. Staat und Herrschaft sind die nahezu konkurrenzlosen Gegenstände der deutschen Handbücher noch in den l960er Jahren. 150 Das erklärt, warum sich die Deutsche Agrargeschichte um 1960 in derselben etatistischen Ummantelung präsentierte. Die Neue Agrargeschichte hat mit dieser Vorstellung gründlich aufgeräumt. Von einer vornehmlich herrschaftlichen Prägung der Agrarverfassung ist heute ebenso wenig die Rede, wie von einem unpolitischen Bauern. Daß der Bauer in der ständischen Gesellschaft zu einem Subjekt geworden ist, ohne das geschichtliche Epochen und geschichtliche Prozesse nicht mehr beschrieben werden können, gehört zu den wichtigsten Erkenntnissen der hier beschriebenen Forschungsfelder der Agrargeschichte. 151 Daß davon Wirkungen auf die Bewertung der deutschen Geschichte ausgehen mußten, ist von aufmerksamen Verfassungshistorikern schon früh registriert worden, von aufgeschlossenen anerkennend, 152 von reaktionären abwehrend. 153 Aus der rückblickenden Perspektive 147 148 149 150
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Femand Braudel, Civilisation materielle, economie et capitalisme, XVe- XVIIIe siecle. Les structures du quotidien: Le possible et I'impossible, Paris 1979. Emmanuel Le Roy Ladurie, Les Paysans de Languedoc, 2 Bde. [ 1960], 2. Aufl., Paris 1966. Pierrede Saint Jacob, Les paysans de Ia Bourgogne du Nord au demier siecle de I' Ancien Regime, Dijon 1960 [Nachdruck 1995]. Herbert Grundmann (Hg.), Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. 1-3, 9. Aufl., Stuttgart 1970. Abgekoppelt und nicht integriert die Beiträge von Karl Bosl und Wilhelm Treue über Wirtschaft, Gesellschaft und Technik. Vgl. zur Forschungsgeschichte: Holenstein, Bauern, 101 f. und Troßbach, Bauern, 78 ff. Gerhard Oestreich, Zur Vorgeschichte des Parlamentarismus: Ständische Verfassung, Landständische Verfassung und Landschaftliche Verfassung, in: Ders., Strukturprobleme der frühen Neuzeit. Ausgewählte Aufsätze, Berlin 1980, 253-271. Eindrücklich die Diskussion in: Heinz Angermeier (Hg.), Säkulare Aspekte der Reformationszeit, München 1983, 131-152 [Diskussion zum Referat von Winfried Schulze].
Deutsche Agrargeschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und der damit gewonnenen Distanz läßt sich unschwer erkennen, daß die Arbeiten zu Dorfund Gemeinde, Bauernkrieg und bäuerlichem Widerstand, Protoindustrialisierung und Modernisierung der Landwirtschaft sowie Grundherrschaft und Gutsherrschaft alle auf eine gemeinsame Mitte zentriert werden können - den handelnden Bauern, der sich im Dorf seine Organisationsform zur Bewältigung alltäglicher Probleme in der Gemeinde schafft, der seine Wertvorstellungen als politische Forderungen gegenüber der Obrigkeit in Kriegen, Revolten und Prozessen zum Ausdruck bringt, der sich in handwerklicher und gewerblicher Tätigkeit, unbekümmert um die Agrarverfassung, sein Einkommen sichert und der wesentlich an der Umformung der Grundherrschaften und Gutsherrschaften beteiligt ist. Daß bäuerlicher Widerstand ohne Gemeinde sehr viel schwächer gewesen wäre und die Räume hoher Protoindustrialisierung mit solchen schwacher Grund- und Gutsherrschaften korrelieren, sind lediglich zwei weitere Argumente für die Plausibilität der generelleren Thesen der Neuen Agrargeschichte. Zweifellos hängt der Paradigmenwechsel von der Alten zur Neuen Agrargeschichte mit der voranschreitenden Demokratisierung Deutschlands zusammen. Das ist keine Ideologisierung der Geschichte, sondern eine andere Interpretation der immer gleichen Partitur der Quellen und als solche eine intellektuelle und emotionale Leistung. Da im Maßstab der europäischen Historiographie der Etatismus in Deutschland besonders stark ausgeprägt war, erklärt sich auch die scharfe Wendung, mit der er bekämpft wurde. Darin wurzelt das dichatomisierende Reden von einer Geschichte von unten und einer Geschichte von oben. Auf solche Entwicklungen hinzuweisen hilft, die Prominenz des Politischen in der deutschen Agrargeschichte zu erklären. Gegenüber der französischen erweist sich dies plötzlich als großer Vorteil. Das materialistisch-malthusianische Geschichtskonzept wirkt ergraut, wo die jüngere Geschichtstheorie das handelnde Individuum und die von ihm gemachte Geschichte neuerdings begrüßt. Die Prägungen durch die politische Kultur der Bundesrepublik kleben der Agrargeschichte nicht weniger an als jene durch die geschichtstheoretischen Debatten. An der Protoindustrialisierung haben sich der Historische Materialismus und die Anthropologie abgelagert, aber nicht minder auch an der Gutsherrschaft. Die Historisierung des Rechts prägt die rechtsgeschichtliche Forschung zum Dorf ebenso stark wie der Einfluß der Soziologie auf die Geschichte jene zum bäuerlichen Widerstand. Dennoch bleibt im Kern ein Paradigma für die Agrargeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts charakteristisch - die Bauern als gesellschaftliche Gruppe (als Klasse, um nochmals die Forschungsfelder Frühbürgerliche Revolution und Gutsherrschaft ins Spiel zu bringen) haben ihren gestaltenden Teil zur Wirtschaft, zur Politik und zur Kultur ihrer Zeit beigetragen und damit zur Geschichte. War die alte Agrargeschichte die Geschichte der landwirtschaftlichen Produktion im Rahmen einer herrschaftlich geprägten Rechtsform der Liegenschaftsnutzung durch den Stand der Bauern, 154 so ist die neue Agrargeschichte die Geschichte des Bauern als Stand und die durch ihn geprägten Formen der Wirtschaft (Auflösung der Vi/likation , Landhandwerk, Protoindustrialisierung) und der politischen Machtorganisation (Gemeinde als Institution, Schwächung der Grundherrschaft, Verbesserung der Statusrechte von Menschen). 154
Vgl. oben S. 10.
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PeterBlickte Paradigmen werden immer abgelöst, heutzutage rasch, und möglicherweise nicht einmal mehr ersetztangesichtsder Segmentierung der Gegenstände und der Pluralisierung der Methoden. Dazu gehört auch gender als analytische Kategorie zur Aufschließung der ländlichen Welt. (Ihr ist in diesem Band ein eigener Beitrag gewidmet.) Ob der Kategorie class hier ein gleichwertiger Konkurrent erwächst, wird sich zeigen, wenn mehr große Monographien vorliegen werden. 155 Bis jetzt geht es darum, Frauen in 156 den herkömmlichen Forschungsfeldern der Agrargeschichte aufzusuchen und zu würdigen- in der Agrarverfassung (Erbrecht), in den öffentlichen Ämtern, 15 7 im Dorf, 158 in der Gutsherrschaft, 159 im Widerstand. 160 Die Agrargeschichte zählte in den sechziger Jahren nicht zu den strahlenden Teildisziplinen der Geschiehtwissenschaft Ernsthaft wurde sie an keinem Historischen Institut in Deutschland betrieben; Abel, Franz und Lütge waren außerhalb der Philosophischen Fakultäten beheimatet. Heute gehört sie sehr viel selbstverständlicher zum nonnalen Lehr- und Forschungsbetrieb, wofür ihre prominente Vertretung mit sechs Bänden in der Enzyklopädie deutscher Geschichte 161 der beste Beweis ist. Als Agrargeschichte an sich wird sie sich behaupten, wenn es gelingt, den erreichten Stand weiter auszubauen und theoretisch zu begründen.
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Bis jetzt: Regina Schulte, Das Dorf im Verhör. Brandstifter, Kindsmörderinnen und Wilderer vor den Schranken des bürgerlichen Gerichts. Oberbayern 1848 - 1910, Reinbek bei Harnburg 1989; Eva Labouvie, Zauberei und Hexenwerk. Ländlicher Aberglaube in den Dorfgemeinden des Saarraumes (16. - 19. Jahrhundert), St. Ingbert 1992; Marion Kobelt-Groch, Aufsässige Töchter Gottes. Frauen im Bauernkrieg und in den Täuferbewegungen, Frankfurt am Main/New York 1993. - Nicht nur fokussiert auf das Land: Richard van Dülmen, Frauen vor Gericht. Kindsmord in der frühen Neuzeit, Frankfurt am Main 1991; Heide Wunder, "Er ist die Sonn', sie ist der Mond". Frauen in der Frühen Neuzeit, München 1992. Heide Wunder/Christina Vanja (Hg.), Weiber, Menscher, Frauenzimmer. Frauen in der ländlichen Gesellschaft 1500 - 1800, Göttingen 1996. Christina Vanja, Amtsfrauen in Hospitälern des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, in: Bea Lundt (Hg.), Vergessene Frauen an der Ruhr, Köln/Weimar/Wien 1992, 195-209. Ulrike Gleixner, "Das Mensch" und der "Kerl". Die Konstruktion von Geschlecht in Unzuchtsverfahren der Frühen Neuzeit (1700- 1760), Frankfurt am Main/New York 1994, besonders 176-210. Jan Peters, Frauen vor Gericht in einer märkischen Gutsherrschaft (2. Hälfte des 17. Jahrhunderts), in: Otto Ulbricht (Hg.), Von Huren und Rabenmüttern. Weibliche Kriminalität in der Frühen Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 1995, 231-258. Claudia Ulbrich, Frauen im Aufstand. Möglichkeiten und Grenzen ihrer Partizipation in frühneuzeitlichen Bauernbewegungen, in: Ursula Fuhrich-Grubert/Angelus H. Johansen (Hg.), Schlaglichter Preußen - Westeuropa. Festschrift für Ilja Mieck zum 65. Geburtstag, Berlin 1997, 335-348 [verarbeitet den bisherigen Forschungsstand]. Rösener, Agrarwirtschaft; Holenstein, Bauern; Troßbach, Bauern; Achilles, Landwirtschaft. Zwei Bände für das 19. und 20. Jahrhundert stehen noch aus.
Barbara Krug-Richter
Agrargeschichte der frühen Neuzeit in geschlechtergeschichtlicher Perspektive. Anmerkungen zu einem Forschungsdesiderat In den Jahren 1710 bis 1719 prozessierten die Bauern der Guts- und Gerichtsherrschaft Canstein, gelegen im Herzogtum Westfalen ca. 10 km südöstlich der kurkölnischen Stadt Marsberg nahe der Grenze zum Fürstentum Waldeck, vor Landdrost und Räten in Arnsberg sowie vor dem Bonner Hofrat gegen ihren Guts- und Gerichtsherm Carl Hildebrand von Canstein. 1 Weder der Streitgegenstand selbst - es handelte sich um Auseinandersetzungen um die Einführung neuer Dienste - noch die gewählten Formen des Konfliktaustrags, das Einschalten der landesherrlichen Gerichte und 1719 auch des Reichskammergerichtes, sind spektakulär, sondern in Form und Verlauf zahlreichen Konflikten zwischen Gutsherren und Untertanen vergleichbar.2 Auch die Region selbst, das kurkölnische Sauerland, läßt wenig Innovatives erwarten, gilt sie doch wie viele agrarisch orientierte Mittelgebirgsregionen kulturell als "Reliktgebiet", historisch gesehen als rückständig. In einer Hinsicht allerdings unterschied sich die oben genannte Auseinandersetzung von den zahlreichen agrarischen Konflikten des 17. und 18. Jahrhunderts: Anna Catharina Rohland, Ehefrau des Udorfer Vollspänners Dietrich Henrich Nückel, ca. 40 Jahre alt, vermutlich schriftkundig und aus der dörflichen Führungsschicht stammend, ist die bisher einzige in der deutschsprachigen Forschung bekannte Frau, die auch in der gerichtlichen Auseinandersetzung mit dem Gutsherrn eine zentrale Position einnahm. Sie begnügte sich nicht mit der klassischen "Weiberrolle", der Beleidigung von obrigkeitlichen Vertreternaufgrund ihrer minderen Rechtsstellung oder dem Zusammenrufen der Frauen zu den bekannten Pfandverweigerungen. Sie übernahm, dies ist an anderer Stelle bereits ausführlich dargelegt worden, daneben Aufgaben der gemeindlichen Vertreter: Sie sammelte Prozeßgelder ein, drohte den Prozeßunwilligen mit gemeindlichen Sanktionen, und zuletzt verbrachte sie trotz der Tatsache, daß sie noch minderjährige Kinder zu versorgen hatte, als offizielle Vertreterio der Gemeinden Monate in Köln und Bonn, um vor den landesherrlichen Instanzen zu sollizitieren.
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Eine Analyse dieser Auseinandersetzungen bei Barbara Krug-Richter, "Es gehet die bauren ahn und nicht die herren". Die Auseinandersetzungen um die Einführung neuer Dienste in der westHilischen Herrschaft Canstein 1710-1719, in: Jan Peters (Hg.), Konflikt und Kontrolle in Gutsherrschaftsgesellschaften. Über Resistenz- und Herrschaftsverhalten in ländlichen Sozialgebilden der Frühen Neuzeit, Göttingen 1995, 153-200. Die Zahl der Arbeiten zum bäuerlichen Widerstand ist inzwischen fast unüberschaubar. Generell verwiesen sei daher an dieser Stelle exemplarisch auf die Untersuchungen von Peter und Renate Blickle, Winfried Schulze, Claudia Ulbrich, Andreas Suter und Wemer Troßbach. Ein Überblick über die Forschungslage bei Peter Blickle, Unruhen in der ständischen Gesellschaft 1300-1800, München 1988; Ders., Bauernunruhen und Bürgerproteste in Mitteleuropa 1300-1800. Forschungsüberblick und Bibliographie, in: Blätter für Deutsche Landesgeschichte 126, 1990, 593-623.
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Barbara Krug-Richter
Eine nach bisherigem Forschungsstand außergewöhnliche Position einer verheirateten Frau. 3 Die geringe Präsenz von Frauen in Bauernprozessen ist Spiegel ihrer verfassungsmäßigen Minderstellung, waren Frauen doch in der Regellediglich als Witwen, als temporäre Haushaltungsvorstände, zu den Gemeindeversammlungen zugelassen4 sowie von Ämtern ausgeschlossen. Schon aufgrund dieses Sachverhaltes ist es erstaunlich, daß dennoch offensichtlich niemand der Beteiligten, weder die Gutsherrschaft noch die Bauern noch die Vertreter der landesherrlichen Gerichte, Anstoß an den Aktivitäten der Anna Catharina Rohland nahm. Nicht ein Nebensatz in einem der dicht überlieferten Gerichtsprotokolle unterschiedlicher Instanzen weist darauf hin, daß sich hier eine Frau eine Position anmaßte, die man ihr nicht zugestand. Dieses Faktum zwingt zumindest zum Nachdenken über die eigentlich schon fast abgeschlossene Diskussion zu weiblichen Positionen im bäuerlichen Widerstand. Obwohl die Rolle von Frauen in Widerstand und Protest ein schon vor geraumer Zeit erkanntes Phänomen darstellt, ist über die Tätigkeit von Frauen in Bauernprozessen bisher wenig bekannt. Frauen im bäuerlichen Widerstand, Frauen und bäuerlicher Widerstand: Das Eingangsbeispiel verweist trotz seiner Außergewöhnlichkeit auf eines der gut bearbeiteten Themen in der insgesamt noch wenig von geschlechtergeschichtlichen Perspektiven berührten deutschsprachigen Agrargeschichte. "Die Kategorie Geschlecht ist für die Erforschung der ländlichen Gesellschaft bislang kaum genutzt worden . ... Umgekehrt wurde die Erforschung der ländlichen Gesellschaft bislang kaum genutzt, um Erkenntnisse über die Bedeutung der Kategorie Geschlecht und den Charakter der Geschlechterbeziehungen in der ständischen Gesellschaft zu gewinnen", bilanzierte Claudia Ulbrich noch 1995 die Forschungssituation. 5 Diese Einschätzung läßt sich für die frühe Neuzeit weiterhin aufrecht erhalten, auch wenn naturgemäß in den letzten Jahren weitere Publikationen vorgelegt wurden. 6 Der folgende Beitrag steht somit vor der schwierigen Aufgabe, einen äußerst heterogenen, insgesamt unzureichenden Forschungsstand zusammenzufassen.? Die Zahl der Untersu-
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Vgl. dazu zuletzt zusammenfassend: Wemer Troßbach, "Rebellische Weiber"? Frauen in bäuerlichen Protesten des 18. Jahrhunderts, in: Heide Wunder/Christina Vanja (Hg.), Weiber, Menscher, Frauenzimmer. Frauen in der ländlichen Gesellschaft 1500-1800, Göttingen 1996, 154-174. Dies sagt allerdings noch nichts über den informellen Einfluß, den Ehefrauen auf die Entscheidungen ihrer Männer ausüben konnten und wohl auch ausübten. Claudia Ulbrich, Überlegungen zur Erforschung von Geschlechterrollen in der ländlichen Gesellschaft, in: Jan Peters (Hg.), Gutsherrschaft als soziales Modell. Vergleichende Betrachtungen zur Funktionsweise frühneuzeitlicher Agrargesellschaften, München 1995, 359-364, hier 359. Dieses Bild spiegelt auch das Themenspektrum der Zeitschrift "L'Homme. Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft", die seit 1990 als spezifisches Publikationsorgan für Frauen- und Geschlechtergeschichte erscheint, sowohl im Aufsatz- wie im RezensionsteiL Vgl. auch das Register für die Jahrgänge 1990-1994 in: L ' Homme 6, 1995, 129-137. Für das späte 19. und das 20. Jahrhundert sieht die Forschungslage deutlich anders aus. Vgl. aus der Vielzahl der Publikationen der letzten Jahre allgemein die zahlreichen Arbeiten von Heide Inhetveen sowie exemplarisch: Johanna Werckmeister (Hg.), Land-Frauen-Alltag. Hundert Jahre Lebens- und Arbeitsbedingungen der Frauen im ländlichen Raum, Marburg 1989; Sabine Hebenstreit-Müller/lngrid Helbrecht-Jordan (Hg.), Frauenleben in ländlichen Regionen. Individuelle und strukturelle Wandlungsprozesse in der weiblichen Lebenswelt, Bielefeld 1990; Christina Schwarz, Die Landfrauenbewegung in Deutschland. Zur Geschichte einer Frauenorganisation unter besonderer Berücksichtigung der Jahre 1898 bis 1933, Mainz 1990; Helma Meier-Kaienburg, Frauenarbeit auf dem Land. Zur Situation abhängig beschäftigter Frauen im Raum Hannover 1919-1939, Bielefeld 1992, dort auch der Forschungsstand zur Frauenarbeit im ausgehenden 19. und 20. Jahr-
Agrargeschichte der frühen Neuzeit in geschlechtergeschichtlicher Perspektive chungen zur Frauen- und Geschlechtergeschichte insgesamt ist dagegen kaum noch überschaubar, umfaßt neben Einzelanalysen auch Bibliographien und mehrere neuere Forschungsberichte8 . Es kann an dieser Stelle nicht darum gehen, den Darstellungen zum Forschungsstand der Frauen- und Geschlechtergeschichte einen weiteren allgemeinen Überblick hinzuzufügen. Ich werde mich vielmehr aufgrund der unbefriedigenden Forschungslage darauf beschränken, zentrale Themenkomplexe und Ergebnisse agrarhistorischer Untersuchungen exemplarisch auf geschlechtergeschichtliche Aspekte hin zu befragen, daneben neuere Ansätze zur Erforschung der ländlichen Gesellschaft in Umrissen nachzuzeichnen. Vor allem die klassischen Forschungsfelder der Agrargeschichte erwiesen sich bisher - mit Ausnahme der bäuerlichen Arbeitsteilung - als offensichtlich sperrig für geschlechtergeschichtliche Zugänge. Spiegel dieses Forschungsstandes sind zum einen die Beiträge im zentralen Publikationsorgan der deutschen agrarhistorischen Forschung, der "Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie". Die Kategorie "Geschlecht" hielt in den letzten zehn Jahren zwar Einzug auch in diese vom Themenspektrum her eher traditionell ausgerichtete Zeitschrift, allerdings ausschließlich in ihrer Variante als Frauengeschichte mit insgesamt wenigen Beiträgen sowohl im Aufsatz- als auch im Besprechungsteil und einer eindeutigen Schwerpunktsetwog auf dem späten 19. und dem 20. Jahrhundert. Auch die neueren Überblicksdarstellungen zu und Einführungen in Themenfelder der Agrargeschichte spiegeln diesen Stand: Frauen- denn diese sind momentan allgemein noch überwiegender Gegenstand der deutschsprachigen Geschlechtergeschichte - erscheinen im Kontext agrargeschichtlicher und demographischer For-
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hunden 10-23; Beate Krieg, "Landfrau, so gehts leichter!" Modemisierung durch hauswinschaftliche Gemeinschaftsanlagen mit Elektrogroßgeräten im deutschen Südwesten von 1930 bis 1970, München 1996 mit einem umfangreichen Literaturverzeichnis auch zu den allgemeinen Lebensund Arbeitsbedingungen der Frauen im ländlichen Raum; Rut [sie] Majewski/Dorothea Walther, Landfrauenalltag in Schleswig-Holstein im 20. Jahrhunden, Neumünster 1996; Doris Tillmann, Der Landfrauenberuf Bäuerliche Arbeit, Bildungsstätten und Berufsorganisationen der Landfrauen in Schleswig-Holstein 1900-1933, Neumünster 1997. Claudia Ulbrich, Literaturbericht: Frauen- und Geschlechtergeschichte. Teil I: Renaissance, Humanismus und Reformation, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 45, I 994, 108-120; Dies., Aufbruch ins Ungewisse. Feministische Frühneuzeitforschung, in: Beate Fieseler/Birgit Schulze (Hg.), Frauengeschichte: Gesucht - gefunden? Auskünfte zum Stand der Historischen Frauenforschung, Köln/Weimar/Wien 1991, 4-21; Rebekka Habermas, Geschlechtergeschichte und "anthropology of gender". Geschichte einer Begegnung, in: Historische Anthropologie I, 1993, 485-509; Dies./Heide Wunder, Nachwon, in: Georges Duby/Michelle Perrot (Hg.), Geschichte der Frauen, Bd. 3: Frühe Neuzeit, hg. von Arlette Farge und Natalie Zernon Davies, Frankfun a. M./New York 1994, 539-550, 567-571. In den genannten Beiträgen finden sich auch die Literaturhinweise auf die grundlegenden theoretischen, methodologischen und programmatischen Debatten zur Frauen- und Geschlechtergeschichte aus den späten 1980er und frühen 1990er Jahren. Ergänzend zu den bekannten, immer wieder zitienen Abhandlungen von Karin Hausen, Gisela Bock, Heide Wunder, Hanna Schissler u.a. sei hier- da an nicht zentraler Stelle erschienen - genannt: Ute Freven, Entwicklungen, Sackgassen und Perspektiven historischer Frauenforschung, in: Susanne Jenisch (Hg.), Standpunkte. Ergebnisse und Perspektiven der Frauengeschichtsforschung in Baden-Würrtemberg, Tübingen/Stuttgan 1993, 13-24. Zur volkskundlichen Frauenforschung vgl. den Überblick bei Carola Lipp, Frauenforschung, in: Rolf-Wilhelm Brednich (Hg.)., Grundriß der Volkskunde. Einführung in die Forschungsfelder der Europäischen Ethnologie, 2. überarb. und erw. Aufl. Berlin 1994,311-333. Siehe auch die neue programmatische Auseinandersetzung mit der Geschlechtergeschichte bei Michaela Hohkamp, Macht, Herrschaft und Geschlecht. Ein Plädoyer zur Erforschung von Gewaltverhältnissen in der Frühen Neuzeit, in: L'Homme 7, 1996, 8-17.
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schungen immer noch primär in ihren generativen Funktionen, daneben als Arbeiterinnen in Haushalt und Landwirtschaft, als Bäuerinnen und Mägde, gelegentlich auch als Witwen mit gemeindlichen Rechten. 9 Das "Denken in Beziehungen", 10 das Gisela Bock als programmatische Voraussetzung für die analytische Verwendung der Kategorie "Geschlecht" in historischen Untersuchungen formulierte, Geschlechtergeschichte als "Geschichte sozialer Beziehungen", findet sich in agrarhistorischen Untersuchungen immer noch selten. Frauenforschung zur ländlichen Gesellschaft der Frühen Neuzeit verbindet sich vor allem mit den Arbeiten von Heide Wunder, Christina Vanja und Claudia Ulbrich. 11 Eine grundlegende, allerdings aufgrund der Betonung der "Gefährtenschaft" zwischen Mann und Frau nicht unumstrittene erste Zusammenschau weiblicher Lebens- und Erfahrungswelten in der frühen Neuzeit legte Heide Wunder vor. Dem hierarchisch definierten Geschlechterverhältnis setzt sie ihr komplementäres Konzept des Arbeitspaares entgegen, 12 in dem zwar die hausherrliche Gewalt des Mannes über die Frau nicht negiert wird, die Arbeiten von Mann und Frau zwar differierten, im Unterschied zur bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts aber als gleichwertig, als aufeinander bezogen gedacht werden. 13 Den Blick auf die bedeutende Position von "Frauen im Dorf' des späten Mittelalters im agrarhistorischen Kontext lenkt auch der breit rezipierte Beitrag von Christina Vanja. 14 Auch Vanja stellt den in der Forschung der frühen achtziger Jahre noch überwiegend durch eheherrliche Vonnundschaft, Züchtigungsrecht und politische Rechtlosigkeit geprägten negativen Bildern von der "ländlichen Frau" ein "eher partnerschaftliebes Verhältnis zwischen den Eheleuten" 15 sowie die Komplementarität weiblicher und männlicher Arbeitsbereiche gegenüber. 9
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Werner Troßbach, Bauern 1648-1806, München 1993. Andre Holenstein, Bauern zwischen Bauernkrieg und Dreissigjährigem Krieg, München 1996; Werner Rösener, Einführung in die Agrargeschichte, Darmstadt 1997. Gisela Bock, Geschichte, Frauengeschichte, Geschlechtergeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 14, 1988,364-391, hier 379. Zusätzlich zu den oben schon erwähnten Arbeiten vgl. Claudia Ulbrich, Zeuginnen und Bittstellerinnen. Überlegungen zur Bedeutung von Ego-Dokumenten für die Erforschung weiblicher Selbstwahrnehmung in der ländlichen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts, in: Winfried Schulze (Hg.), Ego-Dokumente. Annäherungen an den Menschen in der Geschichte, Berlin 1996, 207-226; Dies., Unartige Weiber. Präsenz und Renitenz von Frauen im frühneuzeitlichen Deutschland, in: Richard van Dülmen (Hg.), Arbeit, Frömmigkeit und Eigensinn, Frankfurt a. M. 1990, 13-42; Heide Wunder/Christina Vanja (Hg.), Weiber, Menscher, Frauenzimmer. Frauen in der ländlichen Gesellschaft 1500-1800, Göttingen 1996, darin auch die Neufassung eines breit rezipierten gleichnamigen Aufsatzes aus dem "Journal für Geschichte 5, 1986": Christina Vanja, Das "Weibergericht" zu Breitenbach. Verkehrte Welt in einem hessischen Dorf des 17. Jahrhunderts, 214-222. Zum Zeitpunkt des Manuskriptabschlusses leider noch nicht erschienen war Claudia Ulbrich, Sulamith und Margarete. Macht, Geschlecht und Religion in einer ländlichen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts, Köln/Wien/Weimar 1998 (Titel nach dem Verzeichnis lieferbarer Bücher). Heide Wunder, "Er ist die Sonn', sie ist der Mond". Frauen in der Frühen Neuzeit, München 1992. Ebd., 262ff., sowie dies., "Jede Arbeit ist ihres Lohnes wert". Zur geschlechtsspezifischen Teilung und Bewertung von Arbeit in der Frühen Neuzeit, in: Karin Hausen (Hg.), Geschlechterhierarchie und Arbeitsteilung. Zur Geschichte ungleicher Erwerbschancen von Männern und Frauen, Göttingen 1993, 19-39. Christina Vanja, Frauen im Dorf. Ihre Stellung unter besonderer Berücksichtigung landgräflichhessischer Quellen des späten Mittelalters, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 34, 1986, 147-159. Ebd., 155.
Agrargeschichte der frühen Neuzeit in geschlechtergeschichtlicher Perspektive
1. Die Kategorie "Geschlecht" im Ehe- und Erbrecht: Norm und Realität Mit der Stellung der Frau im Ehe- und Erbrecht greift Ruth-Elisabeth Mohnnano eine auch im agrarhistorischen Diskussionszusammenhang zentrale Frage des frühneuzeitlichen Geschlechterverhältnisses auf, 16 zu deren Bewertung inzwischen unterschiedliche Ergebnisse und Gewichtungen vorliegen. Mohrmann kam u.a. zu dem Ergebnis, daß die Stellung der Bauerntöchter in Gebieten mit Anerbenrecht "zweifellos eine bessere [war] als die ihrer nicht erbenden Brüder. Die nichterbende Bauerntochter sah ihre Zukunft in der bäuerlichen Welt, zwar nicht auf dem elterlichen Hof, doch in einer nur graduell vom Leben der Eltern entfernten Welt, - sofern, das war das Entscheidende, ihr die Einheirat dank guter Mitgift und ihrer Qualifikation in bäuerlicher Arbeit in einen sozial gleichgestellten Hof gelang" (254). Anders sah die Situation der nichterbenden Brüder aus, deren Möglichkeiten der Einheirat auf einen gleichgestellten Hof eher gering waren (255). Aus diesen im Ehe- und Erbrecht basierenden unterschiedlichen Zukunftsperspektiven weichender und bleibender Geschwister resultierten "relativ gering entwickelte verwandtschaftliche Bindungen unter den Geschwistern ob ihrer außerordentlich großen sozialen Distanz" in Gebieten mit Anerbenrecht (255). In Realteilungsgebieten dagegen waren die verwandtschaftlichen Bindungen "meist wesentlich intensiver entwickelt und führten zu vielseitigen Kontakten zwischen den Verwandtschaftsgruppen" (255). Neuere Studien zur konkreten Heiratspraxis verweisen auf differenziertere Heiratsmuster, kleinräumigere Unterschiede und komplexere Hintergründe selbst in Regionen mit Anerbenrecht: Nach den Untersuchungen Jürgen Schlumbohms heirateten im Osnabrücker Kirchspiel Beim immerhin 47% der Anerben von Kleinbauernstellen nichterbende Großbauerntöchter, insgesamt stiegen mehr Bauerntöchter als -söhne die soziale Leiter hinab. In Fällen einer weiblichen Hofübernahme, zwar nicht die Regel, aber doch immerhin ein Viertel des untersuchten Sampies trotz eindeutiger Bevorzugung der männlichen Erbfolge, heirateten die Anerbinnen in 86,7% der Fälle Söhne von Großbauern. Für diese Eheschließungen kamen ausschließlich vom Hof weichende Brüder in Frage, so daß sich zumindest für einen Teil der nichterbenden Söhne durchaus die Möglichkeit bot, in eine Vollbauernstelle einzuheiraten. 17 Josef Mooser 18 verweist für das Stift Queroheim im 18. Jahrhundert darauf, daß das Anerbenrecht insgesamt Männern wie Frauen nicht genügend Stellen bot, daß für die Mehrzahl der weichenden Geschwister beiderlei Geschlechts der gesellschaftliche Abstieg vorprogrammiert war, wobei den Frauen 16
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Ruth-Elisabeth Mohnnann, Die Stellung der Frau im bäuerlichen Ehe- und Erbrecht. Ein historisch-volkskundlicher Vergleich, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 40, 1992, 248-258. Die Zahlen bei Jürgen Schlumbohm, Lebensläufe, Familien, Höfe. Die Bauern und Heuerleute des Osnabrückischen Kirchspiels Beim in prolo-industrieller Zeit, 1650-1860, Göttingen 1994, 419ff., zusammenfassend 534. Vgl. auch die Ausführungen bei Michaela Hohkamp, Wer will erben? Überlegungen zur Erbpraxis in geschlechtsspezifischer Perspektive in der Herrschaft Triberg von 1654-1806, in: Peters, Gutsherrschaft, 327-341. Josef Mooser, Ländliche Klassengesellschaft 1770-1848. Bauern und Unterschichten, Landwirtschaft und Gewerbe im östlichen Westfalen, Göttingen 1984, 189ff.
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durch die Häufigkeit von Zweitehen leicht bessere Chancen testiert werden. Bauernsöhne dagegen hatten, darauf verweist Mooser sicher zu Recht, ihren Schwestern gegenüber die Möglichkeit zum Ergreifen anderer Berufe. 19 Darüber hinaus waren Bauerntöchter aufgrund ihrer höheren Mitgift auch für Kleinbauern als Ehepartnerinnen interessant und verdrängten so vor allem die Töchter von Kleinbauernstellen in stärkerem Maß in die landlosen Schichten. Hier überlagerten die schichtspezifischen Differenzen die Unterschiede zwischen den Geschlechtern. David Sabean weist für das württembergische Realteilungsdorf Neckarhausen eine sich wandelnde Vererbungspraxis und einen damit einhergehenden grundlegenden Wandel des Heiratsverhaltens im Verlauf des ausgehenden 18. und vor allem zu Beginn des 19. Jahrhunderts nach, der zu einer "Klassenbildung" innerhalb des Dorfes im 19. Jahrhundert führte.20 Das über Heiraten geknüpfte soziale Netz umfaßte im frühen 18. Jahrhundert in Neckarhausen noch alle sozialen Schichten; es war üblich, daß die Ehepartner ungleiche Vermögen mit in die Ehe brachten, Familienbande wurden auch vertikal geknüpft, ein Heiratsmuster, das die dörflichen Sozialstrukturen und das Geschlechterverhältnis entscheidend prägte. Die Partnerschaften waren geprägt durch ökonomische Ungleichheit, Familienverbände hierarchisch oder asymmetrisch angeordnet, Streitigkeiten zwischen Eheleuten drehten sich vielfach um familiäre Verbindungen. Das "Haus" erweist sich nicht als klar hierarchisch geordneter Zusammenhang, sondern als Gegenstand von Berechnungen und konstantem Aushandeln. Die innerhäusliche Asymmetrie, so lautet Sabeans Schlußfolgerung seines ersten Zeitschnitts bis 1759, basierte eher auf den Unterschieden der eingebrachten Vermögen als auf der Geschlechtszugehörigkeit (gender). 21 Die Auswirkungen der Heiratspraxis auf die dörfliche Sozialstruktur insgesamt waren jedoch eindeutig, auch wenn es Allianzen zwischen vermögenden Familien gab und die ganz Armen insgesamt geringere Chancen auf den gesellschaftlichen Aufstieg hatten: "Inequality" zwischen den Ehepartnern schuf letztlich - relative "equality" innerhalb des Dorfes, verhinderte die krassen sozialen Unterschiede, die den Gebieten mit Anerbenrecht im allgemeinen attestiert werden. 22 Vor dem Hintergrund steigender Bevölkerungszahlen und sich wandelnder Arbeitsbedingungen änderte sich dies im 19. Jahrhundert grundlegend: Endogame Heiraten vor allem der vermögenden und daraus resultierend auch der unvermögenden Schichten wurden die Norm. Man achtete zunehmend darauf, daß "gleich" zu "gleich" heiratete, die verwandtschaftlichen Netze, die aus dieser Heiratspraxis rel9 20
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Ebd., 194ff. David Warren Sabean, Propeny, Production and Family in Neckarhausen, 1700-1870, Cambridge 1990. Zum geschlechtergeschichtlichen Gehalt der Arbeit Sabeans vgl. auch die umfassende Besprechung von Thomas Sokoll, Familien hausen. Überlegungen zu David Sabeans Studie über Eigentum, Produktion und Familie in Neckarhausen 1700-1870, in: Historische Anthropologie 3, 1995, 335-348 sowie die Besprechung durch Claudia Ulbrich in: L'Homme 6, 1995, 105-110. Dörfliche "Kiassenbildung" durch Abschottung der Oberschichten über endogame Heiraten weisen auch andere Arbeiten nach: Exemplarisch für das schwäbische Kiebingen eine Untersuchung, die den Wandlungsprozeß zwar aufgrund eines späteren zeitlichen Ansatzes nicht thematisien, aber sehr vergleichbare Verhältnisse für das 19. Jahrhunden schilden: Wolfgang Kaschuba/Carola Lipp, Dörfliches Überleben. Zur Geschichte materieller Ressourcen und sozialer Reproduktion ländlicher Gesellschaft im 19. und frühen 20. Jahrhunden, Tübingen 1982, 449ff. Siehe auch Utz Jeggle, Kiebingen. Eine Heimatgeschichte, Tübingen 1978. Sabean, 238. Ebd., 237f.
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sultierten, wurden horizontal. Frauen erhielten nun in der Regel eine höhere Aussteuer als Männer und wurden damit in die Lage versetzt, über die Heirat einen sozialen Aufstieg zu erreichen, der jedoch im Unterschied zu den Verhältnissen des frühen 18. Jahrhunderts keine großen sozialen Grenzen mehr überwand. 23 In Neckarbausen bildeten sich im frühen 19. Jahrhundert Heiratsmuster und daraus resultierende dörfliche Klassenbildungen aus, die in der Forschung bisher eher Regionen mit Anerbenrecht zugeschrieben wurden. Zentral erscheinen in diesem Zusammenhang neben den Auswirkungen auf die dörfliche Sozialstruktur und die verwandtschaftlichen Netze die Konsequenzen für das Verhältnis der Geschlechter. Hier sieht Sabean eine relativ ausgewogenere Machtbalance, die sich auf ökonomischer Gleichheit in der Aussteuer und kooperierenden Arbeitszusammenhängen gründete. Diese führte jedoch nicht zu friedlicherem Zusammenleben von Mann und Frau, sondern zu Verschiebungen der Konfliktinhalte: "There was greater stress on equal contribution to hausehold production and more disputes over the deviding lines between gender spheres of authority".24 Diese Interpretation widerspricht dem gängigen Bild einer Verschlechterung der Position der Frau im 19. Jahrhundert und läßt sich sicherlich nicht ohne weiteres auf alle dörflichen sozialen Schichten übertragen. In Kirchentellinsfurt bei Tübingen schwächte die geänderte Heiratspraxis bzw. die damit einhergehende Pauperisierung von Teilen des Dorfes die Position von Frauen aus den unteren sozialen Schichten: Diese verzichteten aufgrund zunehmend enger werdender ökonomischer Spielräume immer mehr auf die Sicherheit, die ihnen ihr eigenes Erbteil bot, und stellten dies zur Disposition, um den Familienbesitz zu stärken. 25 Wie fruchtbar die Kombination unterschiedlicher Quellen und die Integration zahlreicher Beziehungsnetze in eine Analyse der Praxis des Ehe- und Erbrechts sein kann, wird in der Arbeit David Sabeans bespielhaft vorgeführt. Er weist überzeugend nach, daß eine geschlechtergeschichtliche Analyse des regional differierenden Erb- und Eherechts bei einer mechanistischen Aufrechnung männlicher und weiblicher Anteile und Chancen nicht stehen bleiben sollte. Zentral ist die Frage danach, ob und wie diese differierenden und variierenden Anteile das Verhältnis innerhalb der und zwischen den Geschlechtern prägten. Fragen im übrigen, die für Regionen mit Anerbenrecht noch einer vergleichbar detaillierten Erforschung anband der Praxis bedürfen. Gab es der Frau eine stärkere Stellung innerhalb der Ehe, wenn sie die Hoferbin war? Stärkte die stattliche Mitgift einer Großbauerntochter ihr Selbstbewußtsein dem Ehemann gegenüber, wenn sie diese in eine mittel- oder kleinbäuerliche Hofstelle einbrachte? Wie gingen die Ehemänner mit dieser partiellen Umkehrung der traditionellen Rollenverteilung um, wie paßte eine ökonomische Vormachtstellung der (Ehe-)Frau in die gesellschaftlich akzeptierte, auch rechtlich untermauerte Asymmetrie des Geschlechterverhältnisses? Die schon durch die wechselseitigen Abhängigkeiten zuweilen relativ ausgewogene 23
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Ebd., 241. Ebd., 246. Vgl. dazu Andrea Hauser, Dinge des Alltags. Studien zur historischen Sachkultur eines schwäbischen Dorfes, Tübingen 1994, 337. Trotz des thematischen Schwerpunktes auf der Sachkulturforschung geht diese mikrohistorisch angelegte volkskundliche Dissertation zahlreichen unmittelbar den Arbeiten Sabeans vergleichbaren Fragen nach und verfolgt daneben explizit geschlechtergeschichtliche Ansätze.
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Machtbalance zwischen den Geschlechtern in der ländlichen Gesellschaft der frühen Neuzeit führte, darauf hat Claudia Ulbrich verwiesen, zur Betonung der männlichen Dominanz durch Rituale. 26 Aus diesen Konstellationen erwuchsen zahlreiche Konflikte, die schon aus dem Grunde schwer einzuordnen sind, weil die "Konfliktlösungen selbst wieder in einen Machtkontext eingebunden waren, der nicht nur schicht-, sondern auch geschlechtsspezifische Differenzen zeigt". 27 Daß Männer sich auch mit Gewalt zur Wehr setzten, wenn Frauen im Rahmen ehelicher Auseinandersetzungen selbstbewußt auf ihre ökonomische Potenz abhoben, daß männliches Selbstbewußtsein in dieser Hinsicht durchaus labil sein konnte, belegt Carola Lipp für Kiebingen im 19. Jahrhundert. 28 Wesentlich ist darüber hinaus gerade an diesem Punkt die Erweiterung der Perspektive um andere Formen sozialer Beziehungen und Gesellungen: 29 Männer und Frauen agierten in der Regel auch in Ehekonflikten nicht allein, Rollenverteilungen in Ehe und Haushalt waren nicht Ergebnis des alleinigen Aushandeins zwischen den Ehepartnern. Mütter und Väter, Kinder und Stiefkinder, Schwägerinnen und Schwäger waren Teile eines komplexen verwandtschaftlichen Beziehungsgefüges, in dem Konflikte ausagiert und letztlich auch Geschlechterrollen definiert wurden. Frauen flüchteten mit oder ohne Kinder zu ihren Müttern und/oder Vätern, gegebenenfalls auch zu Geschwistern oder Nachbarn und gingen danach mit deren Unterstützung vor Gericht, wenn die gewaltsame Durchsetzung der hausherrliehen Gewalt des Ehemannes die gesellschaftlich oder auch subjektiv gesteckten Grenzen überschritt. Die Einbindung in verwandtschaftliche Beziehungsnetze "und die daraus resultierende Spannung zwischen Verwandtschaft und Familie" bildeten "einen wichtigen Rahmen für die Ausgestaltung der Geschlechterverhältnisse". 30 Ein allein auf die patriarchale Struktur des Haushaltes abhebendes Modell war bei aller erkennbaren Asymmetrie im Geschlechterverhältnis in der Realität schon aus diesen Grunde vielfach nicht durchsetzbar. 3I In diesem thematischen Kontext nur am Rande zu fragen ist nach dem Realitätsgehalt der Anerbenregionen zugewiesenen hohen Konfliktträchtigkeit zwischen erbenden und weichenden Geschwistern sowie der Wirkmächtigkeit der großen sozialen
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Ulbrich, Geschlechterrollen, 362, bezieht sich an dieser Stelle auf eine Untersuchung von Susan Carol Rogers, konkretisiert aber leider die männlichen Kompensationsrituale nicht. Ebd. Kaschuba/Lipp, Dörfliches Überleben, 461. Vgl. dazu auch Jan Peters, Geschlecht und Gemeinschaft. Männlich-weibliche Gesellungsformen in gutsherrschaftlich verfaßten ländlichen Gesellschaften des 17. Jahrhunderts, in: Rolf Wilhelm Brednich u.a. (Hg.), Männlich-weiblich. Die Bedeutung der Kategorie Geschlecht in der Kultur. 31 . Deutscher Volkskundekongreß in Marburg vom 22. bis 26. September 1997 (Druck in Vorbereitung). Ulbrich, Besprechung von Sabean, 107. So Sabean, Property, 171. Auch Schlumbohm, Höfe, verweist auf die hohe Bedeutung der Verwandtschaft bis in das 19. Jahrhundert hinein. Rainer Beck kam anhand der Untersuchung von Ehestreitigkeiten in der ländlichen Gesellschaft Bayerns für das 18. Jahrhundert zu dem Ergebnis, daß es vor allem Blutsverwandte waren, die sowohl in Konfliktkonstellationen zwischen Ehepartnern als auch in deren Lösungen eine zentrale Rolle spielten: Rainer Beck, Frauen in der Krise. Eheleben und Ehescheidung in der ländlichen Gesellschaft Bayerns während des Ancien regime, in: Richard van Dülmen (Hg.), Dynamik der Tradition, Frankfurt a. M. 1992, 137-212,288-300.
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Distanzen. 32 Josef Mooserbietet eine zwar nicht unumstrittene, 33 aber ebenso einleuchtende Interpretation an, die in eine andere Richtung deutet. Er weist darauf hin, daß durch die ausgeprägte soziale Mobilität im Bielefelder Umland, seinem Untersuchungsgebiet, das verwandtschaftliche Netz auch nach 1750 nahezu alle sozialen Schichten umspannte und damit der ökonomisch fundierten sozialen Ungleichheit einen Teil ihrer Schärfe nahm. Mooser sieht hier einen Grund für die "oft feststellbare Abwesenheit von offenen Konflikten zwischen den sozialen Klassen auf dem Lande". 34 Die verwandtschaftlichen Netze über die Hofgrößen hinaus dokumentierten sich in Patenschaften, in der Fürsorge für in Not geratene Geschwister, der Aufnahme verwaister Kinder durch bessergestellte Verwandte. 35 Die Untersuchungsergebnisse Jürgen Schlumbohms stützen tendenziell für das Osnabrücker Kirchspiel Beim diese These: Weichende Geschwister suchten zwar die räumliche Distanz zum Hoferben, indem sie sich auch als Heuerlinge auf familienfremden Höfen niederließen. Dies bedeutete jedoch keinesfalls einen Abbruch der sozialen Beziehungen, die nach wie vor u.a. durch Patenschaften geknüpft wurden. 36 Darüber hinaus ist kritisch anzumerken, daß die Qualität der Hofstelle, die vielen nach Sozialschichten differenzierenden Untersuchungen als alleinige Kategorie zugrunde liegt, nicht in jedem Fall die soziale Position innerhalb der dörflichen Hierarchie begründete. Schon im 18. Jahrhundert bildete die Bewirtschaftung des Hofes vor allem für die mittel- und kleinbäuerlichen Schichten oft nicht die einzige Basis der familiären Ökonomie, erwirtschafteten Mittel- und Kleinbauern durch die Kombination von Landwirtschaft und Gewerbe Einkünfte, die sich von denen größerer Vollerwerbshöfe nicht unterschieden. 37 Diese dürften den Kindern zumindest theoretisch auch bessere Chancen auf dem Heiratsmarkt verschafft haben. Insgesamt fehlt es trotz aller generell in der Literatur geäußerten Hinweise auf die Vielzahl an Konflikten in der ländlichen Gesellschaft der frühen Neuzeit immer noch an einer entsprechenden historischen Bearbeitung dieser Konflikte. 33 Vgl. die relativierende Einschätzung bei Walter Achilles, Landwirtschaft in der Frühen Neuzeit, München 1991, 119f. 34 Mooser, Klassengesellschaft, 197. 35 Das Überwiegen von Patenschaften außerhalb verwandtschaftlicher Netze über die klassischen Standesgrenzen hinaus belegt auch Susanne Rappe, Nach dem Krieg. Herrschaft und Ordnung im Dorf- Das Beispiel Hehlen/Weser 1650 bis 1700, Diss. Hannover 1997. 1ch danke Susanne Rappe für das Überlassen des im Druck befindlichen Manuskripts. 36 Schlumbohm, Höfe, 588. 37 In der westfälischen Herrschaft Canstein wurden 1717 bei der Erhebung einer landesherrlichen Schatzung immerhin drei der insgesamt 61 Kötterhaushalte in der Steuerklasse 1 veranschlagt, 24 in der Steuerklasse 2, 33 in der untersten Steuerklasse 3. Von den 24 Halbspännerhöfen fanden sich 14 in der Steuerklasse 1 und drei in der Steuerklasse 3, sechs der insgesamt 22 Vollspännerhaushalte in der Steuerklasse 2. Specificatio aller eingeseßenen der herrschafft Canstein de anno 1717, in: Archiv Frhr. von Elverfeldt, Bestand A: Canstein, Akten 2461. Der ehemalige Ölmüller des Dorfes Canstein Johann Friedrich Stuhldreyer konnte, um hier nur ein Beispiel zu nennen, nicht nur aufgrund der erfolgreichen Bewirtschaftung der Mühle, sondern auch wegen seiner geschickten Geldgeschäfte im Alter über ein Sparguthaben von immerhin 500 Reichstalern verfügen, ein Faktum, das ihn zumindest ökonomisch eindeutig als Mitglied der dörflichen Oberschicht ausweist. Auch sein Schwiegersohn Hartmann Heinemann, Kötter und Schuster in Canstein, findet sich aufgrund seines Fleißes und seines ökonomischen Geschicks im Schatzungsregister des Jahres 1717 in der Steuerklasse 1 neben den Vollspännerhöfen wieder und ist in den zwanziger Jahren des 18. Jahrhunderts sogar in der Lage, das größte Gut des Dorfes Leitmar, weit mehr als einen Voll-
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2. Männerarbeit- Frauenarbeit, Männerräume - Frauenräume? Zur Frage geschlechtsspezifischer Öffentlichkeiten Zu den klassischen Themen der agrargeschichtlichen Forschung, die neben dem Mann schon früh auch die Frau in den Blickpunkt rückten, auch wenn es sich nicht um geschlechtergeschichtliche Arbeiten im eigentlichen Sinne handelt, zählt die bäuerliche Arbeitsteilung. Die wachsende Zahl an Untersuchungen erschwert allerdings aufgrund der Vielfalt regional und sozial differierender Verhältnisse eine Synthese vor allem für die frühe Neuzeit. Unbestritten ist inzwischen in der Forschung die relevante Rolle, die der Frau in der bäuerlichen Wirtschaft zukam. Frauen waren vor allem für die Milch- und Viehwirtschaft zuständig, bewirtschafteten den Garten, beaufsichtigten die Mägde, gegebenenfalls auch die Knechte, versorgten Haushalt und Kinder, verarbeiteten das Flachs, spannen, nähten, strickten und stickten, um hier nur einiges zu nennen. Als generelle Tendenz läßt sich festhalten, daß auf großen Höfen die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern bis hinab in die Gesindeebene strenger durchgehalten wurde als in klein- und unterbäuerlichen Betrieben, in denen der Arbeitskräftemangel eine strikte Trennung der Arbeiten oftmals nicht zuließ. 38 Bekannt ist auch, daß die Professionalisierung bestimmter Arbeitsbereiche z.B. in der Milchwirtschaft oder der Textilverarbeitung oftmals zur Übernahme ehemals weiblicher Tätigkeiten durch Männer führte. Diese verlieh ihnen allerdings durch die Spezialisierung den Charakter qualifizierter Lohnarbeit, 39 ging somit mit einer gesellschaftlichen Aufwertung dieser Tätigkeitsbereiche einher. Kontrovers beurteilt werden dagegen die Auswirkungen der Arbeitsteilung auf das Verhältnis der Geschlechter: Während Christina Vanja darauf verweist, daß Frauen über den Verkauf der Produkte ihrer Arbeit die finanzielle Liquidität der Wirtschaft gewährleisteten,40 somit in der familiären Ökonomie eine bedeutende Stellung innehatten, Heide Wunder, wie oben vermerkt, auf die Komplementarität des Geschlechterverhältnisses vor allem in bezug auf den Arbeitsbereich verweist, heben andere Untersuchungen stärker auf die gesellschaftlich ungleiche Bewertung männlicher und weiblicher Tätigkeiten41 ab. Hiermit ist der zentrale Punkt für die Beurteilung des frühneuzeitlichen Geschlechterverhältnisses genannt: Die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung als solche sagt, selbst wenn die Bereiche strikt getrennt bleiben, allein nur wenig aus. Entscheidend scheint vielmehr die zeitgenössische Bewertung weiblicher und männlicher Arbeiten42 , und die unterlag offensichtlich einem histori-
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spännerhof, anzupachten (Archiv Frhr. von Elverfeldt, Bestand A: Canstein, Akten 1431, 2461 ). Zur Kombination von Landwirtschaft und Gewerbe vgl. exemplarisch auch die Ergebnisse bei Rainer Beck, Unterfinning. Ländliche Gesellschaft bei Anbruch der Modeme, München 1993. Auf die zahlreichen regional und sozial differierenden Varianten geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung kann und soll an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Verwiesen sei generell auch auf die Unterschiede zwischen Arbeiten auf dem eigenen Hof und bezahlter Lohnarbeit, bei der Frauen - auch hier gab es Ausnahmen - geringer entlohnt wurden. Wunder, "Jede Arbeit ist ihres Lohnes wert", hier 32. Vgl. dazu schon die grundlegenden Überlegungen bei Günter Wiegelmann, Zum Problem der bäuerlichen Arbeitsteilung in Mitteleuropa, in: Aus Geschichte und Landeskunde. FS Franz Steinbach zum 65 . Geburtstag, Bonn 1960,637-671. Vanja, Frauen, 159. Siehe die Zusammenfassung bei Troßbach, Bauern, 75f. Dieser Sachverhalt ist auch zentral in den Arbeiten Heide Wunders und Christina Vanjas.
Agrargeschichte der frühen Neuzeit in geschlechtergeschichtlicher Perspektive
sehen Wandel. Weitgehend einig ist man sich inzwischen bei aller regionalen und sozialen Differenzierung, daß die "Professionalisierung aller Arbeitsbereiche, die Formulierung von Qualitätsanforderungen und die Wertung und Hierarchisierung von Tätigkeiten" im Verlauf der frühen Neuzeit mit einer allgemeinen Abwertung von Frauenarbeit einherging. "Hausarbeit im engeren Sinne, das Gebären und Aufziehen der Kinder wurden zur bloß ' reproduktiven'Tätigkeit im 'Privaten"'.43 Ob, in welcher Form, für welche sozialen Schichten und mit welch eventuell zeitlicher Verzögerung diese vor allem in der bürgerlichen Gesellschaft nachweisbaren Tendenzen der "Marginalisierung" der Frau auch auf dem Lande griffen, ist für die frühe Neuzeit allerdings noch nicht hinreichend geklärt. Der Forschungsstand zur bäuerlichen Arbeitsteilung wurde unlängst für die ländliche Gesellschaft von Wemer Troßbach,44 allgemein von Christina Vanja45 zusammengefaßt, nahezu jeder Literaturbericht zur Frauen- und Geschlechtergeschichte und jeder Überblick über Themenfelder der agrargeschichtlichen Forschung enthält Abhandlungen über die bäuerliche Arbeitsteilung. Daher zielen die folgenden Ausführungen auf Aspekte, die bisher nicht im Mittelpunkt agrarhistorischer Untersuchungen standen, jedoch auf zentrale Elemente des ländlichen Lebenszusammenhangs verweisen, die auch für die Beziehungen zwischen den und innerhalb der Geschlechter von erheblicher Bedeutung waren. 46 Hier sind es wieder vor allem die Untersuchungsergebnisse und Interpretationen David Sabeans, die den Blick auf das sich wandelnde Verhältnis zwischen den Geschlechtem im Anschluß an die geänderten Arbeitsbedingungen im Verlauf der zweiten Hälfte des 18. und der ersten Dekaden des 19. Jahrhunderts lenken. Sabean verweist in diesem Kontext auf den zentralen Zusammenhang von Arbeitsteilung und Arbeitsrhythmus und deren Konsequenzen für geschlechtsspezifisch divergierende Kommunikationsstrukturen und geht damit schon in der Fragestellung auch qualitativ über die bisherigen Untersuchungen zur bäuerlichen Arbeitsteilung hinaus. Kommunikationssituationen zwischen und unter den Geschlechtern definierten sich in erheblichem Maß über Arbeitszusammenhänge. 47 In Neckarhausen gab es deutliche Unterschiede im Arbeitsrhythmus der Geschlechter vor allem in der Folge der agrarischen Umstrukturierung, der zunehmenden Integration neuer Hack- und Futterpflanzen im Zuge derBesömmerungder Brache, dem Übergang zur Stallfütterung im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert, der Flurbereinigung und dem daraus resultierenden "individualized management of the plots". 48 Die agrari43
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Christina Vanja, Zwischen Verdrängung und Expansion, Kontrolle und Befreiung - Frauenarbeit im 18. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 79, 1992, 457-482 mit einem detaillierten Überblick über die ältere und neuere deutschsprachige Literatur, hier 481; Wunder, ,,Jede Arbeit ist ihres Lohnes wert", 36f. Troßbach, Bauern, 71ff. Vanja, Verdrängung. Grundlegend zur bäuerlichen Arbeitsteilung immer noch: Wiegelmann, Arbeitsteilung; Heide Wunder, Zur Stellung der Frau im Arbeitsleben und in der Gesellschaft des 15.-18. Jahrhunderts. Eine Skizze, in: Geschichtsdidaktik 6, 1981, 239-251. Siehe auch den allgemeinen Überblick bei Karin Hausen (Hg.), Geschlechterhierarchie und Arbeitsteilung. Zur Geschichte ungleicher Erwerbschancen von Männern und Frauen, Göttingen 1993. Vgl. die Betonung der Kollektivität der weiblichen Arbeitsbereiche z.B . im Wald und die im Flurzwang verankerte männliche Kollektivität bei Troßbach, Bauern, 105. Sabean, Property, 152.
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sehen Innovationen erweiterten nicht nur das Spektrum weiblicher Arbeiten um die Betreuung der Futterpflanzen auf dem Feld, das Holen von Futter und die Fütterung des Viehs. Sie zeitigten mit dem erheblich gestiegenen Arbeitspensum für Frauen in Kombination mit sich ändernden männlichen Arbeitsbedingungen - u.a. einer zunehmenden Notwendigkeit, sich Arbeit außerhalb des Dorfes zu suchen - konkrete Auswirkungen auf die kommunikativen Zusammenhänge und Möglichkeiten von Männern und Frauen. Männliche und weibliche Arbeit unterschieden sich zumindest in der Landwirtschaft- und hier liegt der Schwerpunkt der Sabean'schen Analyse, denn auch das Gros der Handwerkerhaushalte verfügte über Boden - im Neckarhausen des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert in zwei Aspekten grundlegend: Männer arbeiteten überwiegend gemeinsam, Frauen zunehmend isolierter (153f.). Männer fuhren gemeinsam zur Mühle, pflügten gemeinsam (154), gruben gemeinsam die Gräben zur Entwässerung der Äcker, um hier nur Beispiele zu nennen. Frauen dagegen gingen - vielleicht- gemeinsam zu ihren Äckern, trennten sich jedoch an deren Rändern: Sie hackten allein, sie holten das Futter allein, sie versorgten letztlich auch Haushalt und Kinder allein. "Although there must have been companionable moments in the village" - bilanziert Sabean - "around the pump, on the path of the fields, or in the road to the market, each [woman] was carrying out her own task and did the job alone. Housework and stall work were other individualizing tasks." 49 Auch strukturelle Unterschiede weiblicher und männlicher Arbeit zeitigten Auswirkungen auf die konkreten Möglichkeiten der Kommunikation. Nach Sabeans Ergebnissen war die Arbeit der Männer zwar körperlich schwer, aber stärker durch den Wechsel von Arbeit und Pausen gekennzeichnet: Die Feldarbeit wurde unterbrochen, wenn das Pferd eine Pause benötigte. Der Gang zur Mühle bot die Möglichkeit kommunikativen Austausches, warteten doch immer mehrere Männer auf das Ausmahlen ihres Getreides. Das Beschlagen von Pferdehufen bot ebenfalls die Möglichkeit zur Rast, denn der Schmied benötigte Zeit, um sein Werk zu vollbringen. Einen zentralen Kommunikationsort für Männer bildete darüber hinaus das Wirtshaus. Hier traf Mann sich - wenngleich vielleicht nicht jeden Tag - nicht nur am Feierabend zu einem den Tag abschließenden gemeinsamen Wein (in anderen Regionen Bier oder Branntwein). Auch Geschäftsverträge wurden im Wirtshaus abgeschlossen, Netzwerke ausgebildet, Arbeitskräfte vermittelt, Verkäufe ausgehandelt und vieles mehr (155). Weibliche Arbeit dagegen gestaltete sich, wie oben erwähnt, zunehmend isolierter. Darüber hinaus war der weibliche Arbeitsrhythmus im Unterschied zum männlichen Tagesablauf geprägt durch Hast, durch das Eilen von einer Aufgabe zur nächsten, was schon zeitgenössischen Beobachtern ins Auge fiel. 5° "Women who rose early, jumped into the stall, fetched green fodder, tended the children, prepared the meal, ran to the field to hoe, dropped the hoe to prepare the next meal ... ". 51 Während sich die Männer im Wirtshaus trafen, bereiteten ihre Frauen das Abendessen; sie hatten wenig Zeit für gesellige Zusammenkünfte mit anderen Frauen, und wenn, dann waren diese oft in Arbeitszusammenhänge integriert: "a rest on the 49
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Sabean, Property, 154. Vgl. die Beispiele bei Hauser, Dinge des Alltags, 310. Sabean, Property, 178.
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bench (enough place for three or four women at most) before descending into the village, a pause to gossip at the pump while fetehing water, leaning over the pitchfork in front of the barn to exchange words with the neighbor across the way, herself just finishing cleaning the stall". 52 Selbst die bekannten Treffen in den Spinnstuben dienten - hier fehlen zwar für Neckarhausen entsprechende Hinweise, dies ist jedoch aus anderen Untersuchungen bekannt - in erster Linie der Erledigung gemeinsamer Arbeiten. Die Steigerung des weiblichen Arbeitspensums durch die Integration zahlreicher Hackfrüchte und Futterpflanzen in die Fruchtfolge auf den Feldern ist der Forschung schon länger bekannt. 53 Es ist jedoch Sabeans besonderes Verdienst, daß er an dieser Stelle nicht stehen bleibt, sondern nach den Konsequenzen für die Beziehungen zwischen Mann und Frau fragt. Höhere Scheidungsraten, zunehmende Ehestreitigkeiten und vor allem deren inhaltliche Verschiebungen belegen die Auswirkungen der "agrarischen Revolution" auf das Verhältnis der Geschlechter: So dominierten im 18. Jahrhundert in Neckarhausen in ehelichen Auseinandersetzungen Rangeleien um die Herrschaft über den Geldbeutel, gekleidet in den Topos von der hausherrliehen "Meisterschaft", der sich Frauen auch zu dieser Zeit nicht in jedem Fall widerspruchslos unterwarfen. Die Ehestreitigkeiten des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts dagegen spiegeln zunehmend die veränderten Arbeitsbedingungen und vor allem deren Konsequenzen wider. Frauen, nun Produzentinnen eines wesentlichen Teils der Grundlagen der familiären Ökonomie, mischten sich in die männlichen Geschäfte ein, verlangten Rechenschaft für Geschäftsabschlüsse, Viehverkäufe oder ausgehandelte Preise. 54 Sie zeigten sich zunehmend intolerant gegenüber dem Wirtshausbesuch und fanden Unterstützung vor Gericht. Ein seit langem zentrales Element männlicher Kultur und Geselligkeit wurde nun als Vergeudung gemeinsam erwirtschafteter Mittel in Kombination mit Zeitverschwendung angesehen. Der im Wirtshaus nach dem Arbeitstag den Feierabend und die Männergeselligkeit suchende Mann fand sich zumindest in weiblicher Perspektive in der Rolle des verschwenderischen Müßiggängers wieder. 55 Männer dagegen klagten vermehrt über schlechtes oder lieblos zubereitetes Essen oder mangelnde Ordnung und Sauberkeit im Haus und reagierten zunehmend gewalttätiger in ehelichen Auseinandersetzungen. Hier kollidierten zwei Entwicklungen, die für das Geschlechterverhältnis offensichtliche Belastungen mit sich brachten: Zum einen das immens gestiegene Arbeitspensum für Frauen, denn keine der vorher weiblichen Arbeiten verlagerte sich im Zuge der Umstrukturierung auf den Mann. 56 Zum zweiten die Integration bürgerlicher Tugenden von Ordnung, Fleiß und Sauberkeit in die Haushalte der ländlichen Gesellschaft, deren Führung nun 52 53
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Ebd., 156. Vgl. den Überblick bei Vanja, Verdrängung. Die Ergebnisse Sabeans relativieren im übrigen die Allgemeingültigkeit der These vom Rückzug der Frauen aus der Produktivität, der zunehmenden Privatisierung weiblicher Arbeit im 19. Jahrhundert auch auf dem Land. Vgl. dazu auch schon die kritischen Anmerkungen bei Vanja, Verdrängung, hier 46lf. Eine vergleichbar kritische Haltung der Frauen gegenüber dem männlichen Wirtshausbesuch weist Lyndal Roper (Das fromme Haus. Frauen und Moral in der Reformation, Frankfurt a. M./New York 1995, 147ff.) in Augsburg schon für das 16. Jahrhundert nach. Sabean, Property, 110, 179ff.
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ausschließlich den Frauen zugeschrieben wurde. 57 An die Stelle der vorher männlich definierten "Haushaltung" im Sinne einer Familienökonomie 58 trat die weibliche Haushaltung in ihrer Gestalt als "Häuslichkeit"; Haushaltsführung und Häuslichkeit definierten sich nun über "typisch weibliche" Tätigkeiten innerhalb des Hauses sowie über eine neue Ideologie der Ordnung, neue Standards für die Sauberkeit des Hauses, der Kleidung und der Kinder. 59 Die Konsequenzen dieser Entwicklung werden in der Forschung unterschiedlich bewertet: Während David Sabean für Neckarhausen auf die Möglichkeiten differierender und variierender Reproduktionsstrategien abhebt, sieht Andrea Hauser für das regional vergleichbare schwäbische Realteilungsdorf Kirchentellinsfurt in diesem dort ebenfalls nachweisbaren Prozeß "die Verlustgeschichte für Frauen in der bürgerlichen Gesellschaft", die "innere Kolonisierung" der Frau "und eine gesellschaftliche Unsichtbarmachung von Frauenarbeit, speziell von Hausarbeit" dokumentiert. 60 Dieser Einschätzung widerspricht allerdings die Zweigleisigkeil des Prozesses: Die steigende weibliche Arbeitsbelastung in der Landwirtschaft hatte neben den sich ändernden Anforderungen innerhalb des Hauses ihren Ursprung in agrarischen Innovationen, die kulturell als weiblich definierte Arbeiten vom Garten auf das Feld, somit ins "Außen" verlagerten. Darüber hinaus wandelte sich auch der "Arbeitsmarkt" für Männer, den diese nun vermehrt außerhalb des Dorfes fanden. Folge dieser Entwicklungen war eine partielle "Feminisierung" des Dorfes,61 und diese zeigte sich nicht nur im "Innen", sondern daneben entscheidend auch im "Außen". Von einem- erzwungenen - Rückzug der Frauen in eine bürgerlichen Verhältnissen vergleichbare "Privatsphäre Haus" zu Beginn des 19. Jahrhunderts kann zumindest für diese ländliche Gesellschaft somit keine Rede sein. Die oben skizzierten Veränderungen ließen sich auch als Beginn einer weiblichen Doppelbelastung interpretieren, die neben der Bewältigung der Anforderungen im Inneren des Hauses in zunehmendem Maß auch die des "Außen" einschloß (und die partiell bis heute anhält). 62 Eine Interpretation als Verlustgeschichte für Frauen liegt vor allem in Anbetracht der Auswirkungen weibliche Arbeitstage ohne Pausen, höhere Kindersterblichkeit, niedrigere weibliche Lebenserwartung - nahe.63 Gerade die Beispiele, die Sabean nennt, belegen neben 57 58
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Hauser, Dinge des Alltags, 324ff. "In any event, a Haushalter was someone who had an Oeconomie, an area of competence over house, family, and farm, as a whole he managed"; Sabean, Property, 110f. Ebd., 110 sowie 179ff. Hauser, Dinge des Alltags, 326f. mit Anm. 641. Ulbrich, Besprechung von Sabean, 108. Vgl. die Ausführungen zur weiblichen Doppelbelastung um 1900 bei Karin Hausen: "Als es immer absurder wurde, weiterhin die Erwerbsarbeit von Arbeiterinnen und Mittelstandsfrauen abschaffen zu wollen, richtete sich das öffentliche Interesse verstärkt auf deren sozialverträgliche Ausgestaltung. Das flankierende Programm der Erziehung der Frauen zum Doppelberuf bzw. zur Doppelbelastung begann seinen auch heute noch wirksamen Siegeslauf'; Karin Hausen, Wirtschaftsgeschichte als Geschlechtergeschichte, in: Franziska Jenny/Gudrun Piller/Barbara Rettenmund (Hg.), Orte der Geschlechtergeschichte. Beiträge zur 7. Schweizerischen Historikerinnentagung, Zürich 1994, 271-288, hier 276. Hans Medick, Weben und Überleben in Laiehingen 1650-1900. Lokalgeschichte als Allgemeine Geschichte, Göttingen 1996, 295ff., verweist auf den Zusammenhang zwischen der hohen Arbeitsbelastung der Frauen und die hohe Säuglings- und Kindersterblichkeit in Laichingen. Zum gesch1echtergeschichtlichen Gehalt der Arbeit Medicks vgl. auch: Im Gespräch. Edith Saurer und Hans Medick, in: L'Homme 7, 1996, 70-86, hier 80ff. Auf die niedrige Lebenserwartung von
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dem sprichwörtlichen, durch die geänderten Verhältnisse auch erzwungenen Fleiß64 der Neckarhauser Frauen allerdings auch deren selbstbewußte Verwendung ihrer erweiterten Kompetenzen im "Geschlechterkampf'. Eine unmittelbar dem methodischen Ansatz, den Fragestellungen und vor allem der Tiefe der Analyse Sabeans vergleichbare Untersuchung für ein Anerbengebiet fehlt bisher, auch wenn die Arbeit Jürgen Schlumbohms in vielen Punkten Vergleichsmöglichkeiten bietet. Zu bedenken ist allerdings Claudia Ulbrichs Hinweis, daß es nicht ausreiche, allein nach Realteilungs- und Anerbengebieten zu differenzieren, zumal ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Arbeitsteilung, Besitz, Verwandtschaftsdefinitionen und Geschlechterkonzeptionen nicht bestanden habe. 65 Vielleicht kann die Hofgröße an Unterscheidungskriterium weiterhelfen. Größere Höfe, die in Regionen mit Anerbenrecht häufiger vertreten waren als in Realteilungsgebieten, zeitigten besondere Erfordernisse hinsichtlich ihrer Bewirtschaftung, die eine vergleichende Betrachtung nahelegen. Auch wenn die drei Generationen umfassende Großfamilie auch hier nicht das dominante Modell darstellte - die Familienstrukturen variierten im Lebenszyklus wie innerhalb der dörflichen Sozialschichten -, 66 war zumindest in den groß- und mittelbäuerlichen Betrieben die Mitarbeit von Kindern, Gesinde oder aber auch Tagelöhnern erforderlich 67 und geläufig. Als konkrete Konsequenz dieser Hofstrukturen gestaltete sich vermutlich auch der weibliche Arbeitsalltag hier weniger isoliert als auf den Kleinparzellen der Realteilungsregionen. Die Praxis, wie sie sich vor allem in Gerichtsprotokollen spiegelt, zeugt von einer Fülle kollektiver weiblicher Arbeitszusammenhänge: Auf den Äckern und in der Flachsverarbeitung taten sich Frauen zusammen, 68 in bäuerlichen Haushalten waren die schon sprichwörtliche, da konfliktträchtige Anwesenheit von Mutter oder Schwiegermutter und die daraus resultierenden Kompetenzstreitigkeiten um die Haushaltsführung ebenfalls nicht selten. 69 Selbst das viel gerügte "KrauFrauen u.a. auch durch die hohe Arbeitsbelastung verweist Diedrich Saalfeld, Die Rolle der Frau in der nordwestdeutschen Landwirtschaft vom Beginn der Neuzeit bis zu den Agrarreformen des 19. Jahrhunderts, in: Braunschweigisches Jahrbuch 70, 1989, 115-137. 64 Zum "Fleiß" als spezifisch weiblicher Tugend siehe die Überlegungen von Claudia Ulbrich, Weibliche Delinquenz im 18. Jahrhundert. Eine dörfliche Fallstudie, in: Otto Ulbricht (Hg.), Von Huren und Rabenmüttern. Weibliche Kriminaltät in der Frühen Neuzeit, Köln/Wien/Weimar 1995, 2813il,hier300mitAnm.ll3. 65 Ulbrich, Geschlechterrollen, 362. 66 Dies hat Schlumbohm, Höfe beispielhaft für ein Anerbengebiet nachgewiesen. 67 An dieser Stelle sei allgemein verwiesen auf die zahlreichen Untersuchungen zur Familienforschung sowie zur historischen Demographie. V gl. auch den Überblick bei Saalfeld, Die Rolle der Frau. Schlumbohm, Höfe, 263f. mit Anm. 102 weist für das Osnabrücker Kirchspiel Beim nach, daß 1772 in einem erheblichen Teil der bäuerlichen Haushalte neben der Hausfrau auch deren Mutter oder Schwiegermutter, daneben auch noch andere Frauen/Mädchen über 14 Jahren lebten. 68 Auf die Erledigung von Fronarbeiten auch durch Frauen oder das Arbeitspaar verweist Lieseion Enders, Bürde und Würde. Sozialstatus und Selbstverständnis frühneuzeitlicher Frauen in der Mark Brandenburg, in: WunderNanja, Weiber, 123-153. Siehe dazu auch Wunder, Sonn', 248. Vgl. zur weiblichen Kollektivität der Arbeitszusammenhänge auch die Zusammenfassung bei Troßbach, Bauern, 105. Hinweise auf kollektive weibliche Arbeitszusammenhänge, z.B. in der Sammelwirtschaft, fehlen leider bei Sabean ebenso wie Hinweise auf das gemeinsame Spinnen der Frauen. Letzteres mag jedoch auch aus der Tatsache resultieren, daß das Weben erst im Verlauf des 18. Jahrhunderts in Neckarhausen an Bedeutung gewann und daß ein wesentlicher Teil der dörflichen Ökonomie auf dem Verhandeln von Flachs und Hanf basierte. 69 Schlumbohm, Höfe; für Niedersachsen Saalfeld, Die Rolle der Frau.
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ten" auf Nachbars Feldern oder das Sammeln von Nüssen im Herbst fanden oft in Gruppen statt.7° Deutlich wird die Kollektivität weiblicher Arbeitszusammenhänge auch in zahlreichen Widerstandsaktionen, in denen Frauen sich zusammentaten, um z.B. Pfändungen zu verhindern.?' Auch die Enge räumlicher Verhältnisse, das Zusammenwohnen mehrerer nicht zwingend verwandter Familien in einem Haus, das auch in Regionen mit Anerbenrecht durchaus üblich war, bot einerseits Anlaß für Konflikte und verhinderte andererseits die Ausprägung einer Privatsphäre im heutigen Sinne. Daneben boten sich allerdings auch und gerade für Frauen zahlreiche kommunikative Möglichkeiten. Reine "Frauen- oder Männerräume" allerdings prägten sich unter derartigen Konstellationen wohl eher selten aus, im Gegenteil: Der spinnenden Hausmutter oder Tochter leisteten gegebenenfalls nicht nur die Schwiegermutter, sondern auch Schwager oder Bruder Gesellschaft, die in der Stube parallel ihr Handwerk ausübten.72 Auch die oben schon erwähnten Arbeitspausen der Männer führten diese nicht immer nur ins Wirtshaus, sondern gelegentlich auch nach Hause. Männerräume - Frauenräume: Die Scheidung in geschlechtsspezifisch besetzte Kommunikations"räume" verweist auf eine in der Forschung seit geraumer Zeit diskutierte Unterteilung der frühneuzeitlichen Lebenswelten in verschiedene Öffentlichkeilen oder RäumeJ 3 Dem männlichen Kommunikationszentrum "Wirtshaus" werden spezifisch weibliche Öffentlichkeilen wie die Spinnstube, der Dorfbrunnen oder die Flachsdarre entgegengesetzt.74 Umstritten ist nach wie vor auch für die frühneuzeitliche ländliche Gesellschaft die Dichotomie von "privat" und "öffentlich" vor allem in ihren geschlechtsspezifischen KonnotationenJ 5 Die seit dem 18. Jahrhundert auf der Diskursebene greifbare Zuweisung von Frauen zum Privaten, dem Haus, und Männern zum Öffentlichen erwies sich - dies ist eines der zentralen 70 71
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Exemplarisch: Archiv Frhr. von Elverfeldt, Bestand A: Canstein, Akten 1425, 1443-1445 (Rügegerichtsprotokolle der Dörfer Canstein, Heddinghausen, Leitmar, Udorf und Borntosten 1718/1719). Troßbach, Rebellische Weiber, 165. Exemplarisch sei hier der Fall der Witwe des Halbspänners Philip Rehling aus dem westfälischen Canstein in den Jahren 1713/14 genannt, die ihren Haushalt nach dem Tod ihres Mannes mit zwei ihrer Töchter und deren Ehemännern teilte. Diese Konstellation war nicht nur wegen der räumlichen Enge, sondern auch aufgrund differierender Ansprüche auf die Nutzung der wenigen Räume äußerst konfliktträchtig. Die drei Familien teilten nicht nur die gemeinsame Stube in nach Familien unterschiedene Bereiche auf. Ferdinand Wiechert, einer der beiden im Haus lebenden Schwiegersöhne, übte dort auch sein Schneiderhandwerk aus. Eine weitere Stube des Hauses diente dem zweiten Schwiegersohn Thiel Hoppe als Schreinerwerkstatt und wurde gleichzeitig von Ferdinand Wiechert als Schulstube genutzt, denn dieser war zu dieser Zeit gleichzeitig der Lehrer des Dorfes. Eine derartige Situation bot nachweisbar wenig Raum für den Rückzug in weibliche oder männliche Domänen, daneben war das Haus durch die Anwesenheit von Kunden der beiden Schwiegersöhne ständig voll (Archiv Frhr. von Elverfeldt, Bestand A: Canstein, Akten 1426). Exemplarisch: Karin Hausen, Frauenräume, in: Dies./Heide Wunder (Hg.), Frauengeschichte Geschlechtergeschichte, Frankfurt a. M./New York 1992, 21-24; Dies., Öffentlichkeit und Privatheil. Gesellschaftspolitische Konstruktionen und die Geschichte der Geschlechterbeziehungen, in: Ebd., 81-88. Für die ländliche Gesellschaft insbes. Regina Schulte, Bevor das Gerede zum Tratsch wird, in: Ebd., 67-73. Vgl. den Überblick über die Forschungslage bei Troßbach, Bauern, 106. In der neueren Frauenforschung wird der Wert dieses Begriffspaares zur Erklärung der "Ausgestaltung der Geschlechterverhältnisse" z.T. generell in Frage gestellt. Siehe Hausen, Öffentlichkeit, 87; Haberrnas, Geschlechtergeschichte, mit einem Überblick über die unterschiedlichen Standpunkte.
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Ergebnisse geschlechtergeschichtlicher Arbeiten - als gesellschaftliches Konstrukt, "das die historische Realität des Geschlechterverhältnisses nicht widerspiegelt". 76 Insgesamt kannte die ländliche Gesellschaft bis weit in das 19. Jahrhundert zwar verschiedene Öffentlichkeiten; eine "Privatsphäre" dagegen ist schon quellenmäßig weit schwerer greifbar, inhaltlich anders zu definieren und darüber hinaus begrifflich schwer zu fassen, da dem gängigen Begriffspaar "privat-öffentlich" der Nachteil anhaftet, daß ein dem heutigen Sinn vergleichbarer Begriff des "Privaten" erst für das 19. Jahrhundert belegt ist. 77 Die Existenz weiblicher und männlicher Öffentlichkeiten, einer schon in der Arbeitsteilung basierenden Trennung der Geschlechter in bestimmten Bereichen sowie geschlechtsspezifisch besetzter Kommunikationskontexte ist unbestritten. Nach wie vor unklar scheint jedoch die Schärfe der Grenzen sowie die Relevanz männlicher und weiblicher Kollektivität für die Ausprägung geschlechtsspezifischer, vor allem weiblicher Identitäten: 78 Bekanntermaßen war die Spinnstube ein Ort, an dem sich des öfteren auch Männer einfanden, der Dorfbrunnen ein beiden Geschlechtern zugänglicher öffentlicher Platz, 79 und selbst im Wirtshaus waren, wenngleich seltener, Frauen vertreten. 80 Auch die Mühle war, anders als in Neckarhausen, nicht zwingend ein Kommunikationsort überwiegend für Männer.S 1 Zu fragen ist auch nach der überregionalen Gültigkeit derartiger Konzepte: Für Regionen mit Reihebraurecht z.B., das die bäuerlichen Haushalte in regelmäßigen Abständen zum öffentlichen Wirtshaus machte, war die Anwesenheit von Frauen in den temporären Trinkstuben durchaus geläufig. Das Bier wurde in der Regel in der Stube des Hauses ausgeschenkt, in der Frauen neben der Ausschanktätigkeit weiterhin ihren anderen Arbeiten nachgingen. Die Anwesenheit von Frauen auch im männlichen Kommunikationsraum "Kneipe" wird schon an der Häufigkeit deutlich, mit der diese als Zeuginnen vor Gericht über männliche Raufhändel befragt wurden, sowie an der Geläufigkeit, mit der sie sich in derartigen Streitereien als Schlichterinnen betätigten. 82 Auch die schon zeitgenössisch stereotyp den Frauen zugewiesene 76
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Michaela Hohkamp, Frauen vor Gericht, in: Mireille Othenin-Girard/Anna Gossenreiter/Sabine Trautweiler (Hg.), Frauen und Öffentlichkeit. Beiträge der 6. Schweizerischen Historikerinnentagung, Zürich 1991, 115-124, hier 115. Siehe auch die übrigen Beiträge dieses Bandes, die für durchaus unterschiedliche Verwendungen der Begrifflichkeilen eintreten. Hausen, Öffentlichkeit und Privatheit. Gerade über weibliche Gruppenkulturen ist bisher wenig bekannt. Siehe Heide Wunder/Christine Vanja, Einleitung, in: Dies., Weiber, 7-25, hier II. Auf die begrenzte Aussagefähigkeit von Konzepten, die die Trennung männlicher und weiblicher Sphären betonen, für eine Geschlechtergeschichte der frühneuzeitlichen Gesellschaft verweist Lyndal Roper, Gendered Exchanges: Women and Communication in Sixteenth-Century-Gerrnany, in: Kommunikation und Alltag in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Internationaler Kongreß Krems an der Donau 9.-12. Oktober 1990, Wien 1992, 199-217. Ulbrich, Unartige Weiber, 25. Dies galt im übrigen auch für die Stadt. Vgl. exemplarisch zuletzt für Paris im 18. Jahrhundert Arlette Farge, Frauen in der Stadt- Paris im 18. Jahrhundert. Beziehungen zwischen der männlichen und der weiblichen Welt, in: L'Homme 7, 1996, 18-27. Martin Dinges, Der Maurermeister und der Finanzrichter. Ehre, Geld und soziale Kontrolle im Paris des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1994. In Hehlen trugen beide Geschlechter das Getreide zur Mühle; Rappe, Nach dem Krieg. Auch in der westfälischen Guts- und Gerichtsherrschaft Canstein gingen im ausgehenden 17. und frühen 18. Jahrhundert Männer wie Frauen zur Mühle, die in Abwesenheit des Mannes auch die Müllerin bediente. Barbara Krug-Richter, Schlagende Männer, keifende Weiber? Geschlechtsspezifische Aspekte von Konflikt und Kommunikation in der ländlichen Gesellschaft der frühen Neuzeit, in: Brednich u.a.,
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Kommunikation über Gerücht und Gerede erweist sich bei genauerem Hinsehen als weniger geschlechtsspezifisch besetzt als gemeinhin angenommen. In die dörflichen Informationskanäle speisten nicht nur beide Geschlechter, sondern auch alle Generationen einschließlich der Kinder ihre Informationen ein. 83 Bedenkenswert scheint mir hier der Hinweis Claudia Ulbrichs, daß die Trennlinie zwischen den Geschlechtern in der ländlichen Gesellschaft weniger entlang von Räumen als vielmehr über Funktionen verlief.8 4
3. Konflikthafte Beziehungen: Männer und Frauen vor Gericht Zu den Schwerpunktthemen der neueren Sozialgeschichte der ländlichen Gesellschaft mit einer starken geschlechtergeschichtlichen Ausrichtung zählt die Untersuchung von innerdörflichen Konflikten und deren Regulierungen. Weibliche Betriebsamkeit und männliche Freizeit, die divergierenden kommunikativen Kontexte der Geschlechter spiegeln sich auch in den innerdörflichen Konflikten. Während das Gros männlicher Händel im Zusammenhang mit Wirtshausbesuchen, Alkoholkonsum oder Kartenspielen entstand, kreiste die Mehrzahl weiblicher Konflikte um den weiblichen Verantwortungs- und Arbeitsbereich innerhalb und außerhalb des Hauses: Um Übergriffe auf die Kinder, das Vieh, die Erträge der eigenen Arbeit in Garten, Haushaltung und Viehwirtschaft, um Brau- und Schankrechte, um die weiblichen Kompetenzen in der Haushaltsführung. 85 Obgleich für den ländlichen Bereich der frühen Neuzeit insgesamt erst wenige "konfliktorientierte" Studien vorliegen 86 - die inzwischen boomende historische Kriminalitätsforschung legte Ergebnisse bisher überwiegend zu städtischen Gesell-
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Männlich-weiblich (im Druck); Dies., Konfliktregulierung zwischen dörflicher Sozialkontrolle und patrimonialer Gerichtsbarkeit. Das Rügegericht in der westfälischen Gerichtsherrschaft Canstein 1718/19, in: Historische Anthropologie 5, 1997, 212-228, hier 227. In dieser Hinsicht widersprechen die Verhältnisse in einer nordwestdeutschen den Ergebnissen von Claudia Ulbrich (Weibliche Delinquenz, 298) für eine süddeutsche Gerichtsherrschaft, in der Frauen sich nur selten in Raufereien einmischten, vor allem, um ihre Kinder zu verteidigen. Pia Holenstein, Norbert Schindler, Geschwätzgeschichte(n). Ein kulturhistorisches Plädoyer für die Rehabilitierung der unkontrollierten Rede, in: Richard van Dülmen (Hg.), Dynamik der Tradition, Frankfurt a. M. 1992,41-108, 271-281; Schulte, Gerede. Die Kanäle, in denen das dörfliche Gerede verlief, sind in der Herrschaft Canstein besonders gut nachvollziehbar im Ermittlungsverfahren gegen Jakob Rehling wegen Diebstahls in den Jahren 1715-16, in: Archiv Frhr. von Elverfeldt, Bestand A: Canstein, Akten 1431, 1391, 1392, 1394. Hier partizipierten nicht nur beide Geschlechter, sondern selbst Kinder am dörflichen Informationsaustausch. Allgemein dazu auch die Ergebnisse der neueren Hexenforschung, exemplarisch Rainer Walz, Hexenglaube und magische Kommunikation im Dorf der Frühen Neuzeit. Die Verfolgungen in der Grafschaft Lippe, Paderbom 1993. Ulbrich, Weibliche Delinquenz, 284. Ebd.; demnächst auch Krug-Richter, Schlagende Männer. Jan Peters, Frauen vor Gericht in einer märkischen Gutsherrschaft (2. Hälfte des 17. Jahrhunderts), in: Ulbricht, Huren, 231-258. Vgl. auch die Einschätzung von Ulbrich, Geschlechterrollen, hier 360 mit Anm. 3. Bei Manuskriptabschluß noch nicht erschienen war: Monika Mommertz, Handeln, bedeuten, Geschlecht. Konfliktaustragungspraktiken in der ländlichen Gesellschaft der Mark Brandenburg (2. Hälfte des 16. Jahrhunderts bis zum 30jährigen Krieg), phil. Diss. Florenz 1997.
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schaften vor -, 87 verweisen erste Untersuchungen daneben auf grundlegende Unterschiede im Konflikt- und Deliktverhalten zwischen den Geschlechtern. Die geringere Gewaltbereitschaft von Frauen in Stadt und Land ist inzwischen sowohl für historische Zeiten als auch für die Gegenwart hinlänglich belegt.S 8 Auch die Formen des Konfliktaustrages variierten: Obschon sich in den Quellen genügend Beispiele für körperliche Auseinandersetzungen zwischen Männem und Frauen sowie zwischen Frauen finden lassen, bleibt doch unübersehbar, daß Frauen sehr viel seltener rauften als Männer. Darüber hinaus wählten sie erheblich seltener als Männer die Konfliktlösung über das Gericht. 89 Selbst die stereotyp dem weiblichen Geschlecht zugeschriebene Waffe des Wortes setzten rein quantitativ Männer weit häufiger in Auseinandersetzungen ein. Den virtuoseren Umgang von Frauen mit Sprache belegt allerdings das breitere Spektrum an Beschimpfungen, das die weiblichen Schimpfkanonadentrotzder geringeren Zahl an Ehrenhändeln aufwiesen. 90 Darüber hinaus verfügten Frauen mit dem Einsatz "magischer" Worte über Mittel der Auseinandersetzung, die als der männlichen Gewalt durchaus ebenbürtig empfunden werden konnten. 91 Über die Gründe der quantitativen Unterschiede im weiblichen und männlichen Konflikt- und vor allem Deliktverhalten ist viel geschrieben und diskutiert worden: Die Erklärungsansätze reichen von rein biologistischen bis zu rein soziokulturellen 87
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Anstelle zahlreicher Einzeltitel sei hier verwiesen auf den aktuellen Überblick bei Joachim Eibach, Kriminalitätsgeschichte zwischen Sozialgeschichte und Historischer Kulturforschung, in: Historische Zeitschrift 263 (1996), 681-715. Rainer Walz, Schimpfende Weiber. Frauen in lippischen Beleidigungsprozessen des 17. Jahrhunderts, in: Wunder/Vanja, Weiber, 175-198. Ulbrich, Weibliche Delinquenz. Heide Wunder, "Weibliche Kriminalität" in der Frühen Neuzeit. Überlegungen aus der Sicht der Geschlechtergeschichte, in: Ulbricht, Huren, 39-62; Otto Ulbricht, Einleitung: Für eine Geschichte der weiblichen Kriminalität in der Frühen Neuzeit oder: Geschlechtergeschichte, historische Kriminalitätsforschung und weibliche Kriminalität, in: Ebd., l-38 sowie die übrigen Beiträge dieses Bandes. Dort auch die neuere weiterführende Literatur. Eine erste Monographie zur ländlichen Delinquenz, die auch geschlechtsspezifische Unterschiede berücksichtigt, allerdings nicht geschlechtergeschichtlich im eigentlichen Sinne angelegt ist, bietet auf der Basis von Gogerichtsakten Michael Frank, Dörfliche Gesellschaft und Kriminalität. Das Fallbeispiel Lippe 1650-1800, Paderborn 1995. Ulrike Gleixner, Das Gesamtgericht der Herrschaft Schulenburg im 18. Jahrhundert. Funktionsweise und Zugang von Frauen und Männem, in: Peters, Gutsherrschaft, 301-326; Hohkamp, Frauen vor Gericht; Dies., Herrschaft auf dem Lande. Untertäniges und obrigkeitliches Re(a)gieren, Verwaltungsalltag und Gerichtspraxis in der vorderösterreichischen Obervogtei und Karneralherrschaft Triberg von 1737-1780, phil. Diss. Göttingen 1994 (Masch.schr.); Bemhard MüllerWirthmann, Raufhändel. Gewalt und Ehre im Dorf, in: Richard van Dülmen (Hg.), Kultur der einfachen Leute. Bayerisches Volksleben vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, München 1983, 79-lll, 225-232; Albert Schnyder-Burghartz, Alltag und Lebensformen auf der Basler Landschaft um 1700. Vorindustrielle, ländliche Kultur und Gesellschaft aus mikrohistorischer Perspektive - Bretzwil und das obere Waidenburger Amt von 1690 bis 1750, Liestal 1993; Rainer Walz, Agonale Kommunikation im Dorf der Frühen Neuzeit, in: Westfälische Forschungen 14, 1992, 215-251; Ders., Schimpfende Weiber. Frank, Dörfliche Gesellschaft und Kriminalität; Rappe, Nach dem Krieg; Gerd Schwerhoff, Geschlechtsspezifische Kriminalität im frühneuzeitlichen Köln. Fakten und Fiktionen, in: Ulbricht, Huren, 83-115. Krug-Richter, Schlagende Männer; Sabean, Property. Monika Mommertz, "Hat errneldetes Weib mich angefallen" - Gerichtsherrschaft und dörfliche Sozialkontrolle in Rechtshilfeanfragen an den Brandenburger Schöppenstuhl um 1600. Ein Werkstattbericht, in: Peters, Gutsherrschaft, 343-358. Zur Macht des Wortes auch Sabean, Property, 137.
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Barbara Krug-Richter
Erklärungsansätzen. 92 Auch die Interpretation, daß Frauen über weniger Ehre verfügten als Männer und deshalb seltener wegen Ehrverletzungen vor Gericht auftraten, steht in diesem Diskussionskontext. 93 Ob Ehre sich allerdings in einem quasi additiven oder subtraktiven Konzept anhand der Ehrklagen vor Gericht schlichtweg auszählen läßt -je mehr Ehrklagen, desto mehr, je weniger, desto weniger Ehre -, erscheint zumindest fraglich. Zu bedenken in der Bewertung des weiblichen Klageverhaltens vor Gericht sind darüber hinaus der Einfluß der Geschlechtsvormundschaft94 in Zivilangelegenheiten, daneben die Rückwirkung gesellschaftlicher Rollenbilder nicht nur auf die Konfliktpotentiale, sondern auch auf die Sanktionierung weiblicher Delikte, die gesellschaftliche wie rechtliche Konstruktion einer Geschlechtsspezifik des Normverstoßes.95 Das Thema insgesamt kann in diesem Zusammenhang nicht ansatzweise erschöpfend erörtert werden. Zu verweisen ist zum einen darauf, daß ein Teil der Konflikte gar nicht bis vor die Gerichte gelangte, die überlieferten Formen des Konfliktverhaltens somit nur einen kleinen Ausschnitt fassen. Die vorindustrielle ländliche Gesellschaft verfügte über ein breites Repertoire an vor- und außergerichtlichen Möglichkeiten der Konfliktregulierung, von denen Männer wie Frauen Gebrauch machten. 96 Die Rolle, die Frauen auch für die Schlichtung von Konflikten zwischen Männem zukam, verweist weniger auf den friedliebenderen Charakter des weiblichen Geschlechtes als vielmehr auf die spezifische Konzeption männlicher Ehre: Während der Schlichtungsversuch durch einen Mann schnell als Angriff oder unberechtigte parteiische Einmischung interpretiert wurde, die männliche Ehre erforderte vor allem in Raufereien, "seinen Mann" zu stehen,97 und zwar allein, bestand diese Gefahr bei weiblicher Intervention nicht. Unerforscht sind bisher die eventuell geschlechtsspezifisch unterschiedliche Akzeptanz der gemeindlichen Funktionsträger als Schlichtungsinstanz, der Einfluß der ehe- oder auch hausherrliehen Autorität auf Die umfangreichsten Erklärungsansätze finden sich in den Diskussionen um das variierende delinquente Verhalten der Geschlechter; vgl. den fundierten, aktuellen Überblick über die unterschiedlichen Erklärungsansätze bei Ulbricht, Einleitung, in: Ders., Huren, 1-37, sowie die Beiträge von Claudia Ulbrich und Heide Wunder; ebd. 93 Exemplarisch: Ruth-Elisabeth Mohrrnann, Volksleben in Wilster im 16. und 17. Jahrhundert, Neumünster 1977. Karl-Sigismund Kramer, Hohnsprake, Wrakeworte, Nachschnack und Ungebühr. Ehrenhändel in holsteinischen Quellen, in: Kieler Blätter für Volkskunde 16, 1984, 49-85. Neuerdings noch Walz, Schimpfende Weiber. 94 Die Geschlechtsvormundschaft, wenngleich regional unterschiedlich gehandhabt und verankert, schrieb Frauen zumindest in zivilen Rechtssachen einen männlichen Beistand vor, der ihre Interessen vor Gericht vertrat. In Kriminalsachen allerdings waren Frauen generell rechtsfähig und somit auch ohne männlichen Beistand zur Verantwortung zu ziehen. Daß die Geschlechtsvormundschaft in Zivilangelegenheiten in Regionen, in denen sie nicht nur formal, sondern auch real griff, Einfluß auf das Klageverhalten von Frauen nahm, erscheint folgerichtig; vgl. Hohkamp, Herrschaft auf dem Lande. In der Rechtspraxis allerdings finden sich ungeachtet dessen auch in Zivilsachen Frauen durchaus ohne männlichen Beistand vor Gericht. Zur Geschlechtsvormundschaft vgl. neuerdings auch die Beiträge in: Ute Gerhard (Hg.), Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, München 1997, 390-506. 95 Auf diesen Sachverhalt verweist pointiert und berechtigt Wunder, "Weibliche Kriminalität". . 96 Vgl. Krug-Richter, Konfliktregulierung; Wunder, "Weibliche Kriminalität", 50ff.; Walz, Magische Kommunikation. 97 Für die städtische Gesellschaft des 16. und 17. Jahrhunderts vgl. dazu Lyndal Roper, Männlichkeit und männliche Ehre, in: Karin Hausen/Heide Wunder (Hg.), Frauengeschichte - Geschlechtergeschichte, Frankfurt a. M./New York 1992, 154-172, sowie dies., Das fromme Haus. 92
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Agrargeschichte der frühen Neuzeit in geschlechtergeschichtlicher Perspektive
die vorgerichtliche Eindämmung weiblicher und innerlamiliärer Konflikte oder Streitigkeiten innerhalb des Gesindes.98 Neben wenigen allgemein auf die Konflikthaftigkeit der frühneuzeitlichen ländlichen Gesellschaft ausgerichteten Studien liegen vor allem auf frauenspezifische Fragestellungen orientierte Untersuchungen vor. Deren Ergebnisse verweisen allerdings auf die Möglichkeiten, die jenseits quantitativer Auszählungen geschlechtsspezifischen Deliktverhaltens in einem konfliktorientierten Zugriff liegen. Geschlecht als soziale und kulturelle Kategorie eröffnet hier die Perspektive auf die historische Wandelbarkeit der Geschlechterentwürle ebenso wie auf die kulturelle Vielf