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German Pages [418] Year 2023
Nadja Bennewitz / Gesa Büchert / Mona Kilau (Hg.)
Positionen, Projekte, Perspektiven Zwischen Geschichtsdidaktik und fränkischer Kulturgeschichte
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Nadja Bennewitz / Gesa Büchert / Mona Kilau (Hg.)
Positionen, Projekte, Perspektiven Zwischen Geschichtsdidaktik und fränkischer Kulturgeschichte
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Gedruckt mit Unterstützung der Philosophischen Fakultät und des Fachbereichs Theologie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2023 Vandenhoeck & Ruprecht, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: © Stadtarchiv Nürnberg Umschlaggestaltung: SchwabScantechnik, Göttingen Satz: le-tex publishing services, Leipzig
Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-30227-5
Inhaltsverzeichnis
Nadja Bennewitz, Gesa Büchert, Mona Kilau Geschichte gelebt, gedeutet und gelehrt. Biographie von Charlotte Bühl-Gramer .......................................................................... 11 Schriftenverzeichnis von Charlotte Bühl-Gramer ....................................... 15 Nadja Bennewitz, Gesa Büchert, Mona Kilau Positionen, Projekte, Perspektiven. Festschrift für Charlotte Bühl-Gramer .... 25 Tabula gratulatoria ................................................................................. 31 Abkürzungen ........................................................................................ 35
Geschichtskultur Susanne Popp „Alles, was du wissen musst“. Erklärvideos als Repräsentanten einer „Geschichtskultur2go“ ............................................................................ 39 Simone Derix Ein Lied von Migration und Mauer. Das Spiel mit der Geschichte in „Game of Thrones“ ............................................................................. 51 Jutta Schumann Die Varusschlacht und die Germanicusfeldzüge in aktuellen Geschichtsmagazinen ............................................................................. 61 Alfons Kenkmann War Opa revolutionär? Der Arbeiterveteran der Novemberrevolution in der DDR ............................................................. 73 Andreas Michler Das Lanna-Denkmal in Budweis – ein deutsch-tschechischer Erinnerungsort? .................................................................................... 85
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Inhaltsverzeichnis
Elisabeth Erdmann Der Offenburger „Kartoffelmann“. Von der Aufstellung bis zur Zerstörung eines Denkmals .................................................................... 99 Uwe Danker damnatio memoriae oder historischer Abenteuerspielplatz? Ein pragmatischer Hinweis zum Umgang mit problematischen Straßennamen ....................................................................................... 113 Gesa Büchert Nürnbergs langer Weg zum Stadtmuseum ................................................ 125 Julia Lehner Die Kongresshalle am ehemaligen Reichsparteitagsgelände in Nürnberg. Erhalt eines Baudenkmals von nationaler Relevanz und Realisierung eines Zukunftsprojektes für Kunst und Kultur ........................................... 139 Leonard Stöcklein Petrifizierte Bewahrung der Vergangenheit? Die Stadt Hersbruck und ihr nationalsozialistisches Erbe ......................................................... 153
Geschichtsvermittlung Anke John Die Weimarer Republik im Geschichtsunterricht ....................................... 169 Mona Kilau Urteilsbildung im Lehrplan – Synergieeffekte nutzen.................................. 181 Nadja Bennewitz Frauen sind der Rede wert. Plädoyer für eine genderkritische Perspektive auf Reden im Geschichtsunterricht ......................................... 193 Stefan Benz Karikaturen und das Problem der Teleologie im Geschichtsunterricht .......... 205 Astrid Schwabe (Digital) Public History und schulisches historisches Lernen. Über den langen Weg zu mehr Autonomie................................................ 217
Inhaltsverzeichnis
Hannes Burkhardt Geschichte auf TikTok als Chance für historisches Lernen im Geschichtsunterricht .............................................................................. 229 Christian Kuchler Personalisierung oder Personifizierung. Erwartungen von Lernenden im digitalen Zeitalter.............................................................. 241 Johannes M. Knoblach Geschichtsbewusstsein und museale Narrativierung in einer heterogenen Schülerschaft ...................................................................... 251 Martina Switalski Zwischen Genisa und Genozid. Geschichtsdidaktisches Potential landjüdischer Spuren in Franken ............................................................. 265 Mathias Rösch Umgang mit der NS-Vergangenheit. Das Beispiel eines partizipativen Ausstellungsprojektes......................................................... 277 Jessica Mack-Andrick Brücken in die Gegenwart. Nachhaltigkeit als Thema in kulturhistorischen Museen ..................................................................... 289 Magdalena Michalak Mehrsprachige Zugänge zum historischen Lernen ..................................... 301 Arnold Otto Die Uni ins Archiv und das Archiv in die Uni bringen. Archive als Chance für die Vermittlung Historischer Hilfswissenschaften in akademischer Lehre und Forschung ......................................................... 315
Geschichtsforschung zu Franken Walter Bauernfeind Conrad von Neuenfels – ein Adeliger als Bordellbetreiber in der Reichsstadt Nürnberg ............................................................................. 331 Michael Diefenbacher Johannes Müllner und seine „Annalen“ .................................................... 341
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Inhaltsverzeichnis
Georg Seiderer „Norisches Wesen“ in der „Barbaria“. Georg Wilhelm Friedrich Hegel und sein Nürnberg-Bild.......................................................................... 351 Clemens Wachter „[…] weil jeder Nürnberger Bürger so gut wie der Erlanger Bürger weiß und wissen muß, was er aus der Contactirung mit Studenten gesetzlich zu erwarten hat.“ Der Erlanger Studentenauszug nach Altdorf 1822 und die Zensur ................................................................... 365 Günter Dippold Theodor Rimberger – ein vergessener 48er in Oberfranken ......................... 379 Daniela F. Eisenstein Masl im Kuhstall. Der Jochsberger Chuppastein ........................................ 391 Martina Bauernfeind Stadträumliche Mitgestaltung durch Nürnbergs jüdische Unternehmerelite am Beispiel kultureller Infrastruktur um 1900.................. 403 Autor:innenverzeichnis .......................................................................... 415
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Geschichte gelebt, gedeutet und gelehrt Biographie von Charlotte Bühl-Gramer Charlotte Bühl-Gramer, 1963 in Nürnberg geboren, blieb ihrer Heimatstadt und der Region Franken ihr gesamtes Berufsleben besonders verbunden. Nach dem Abitur am Nürnberger Maria-Ward-Gymnasium studierte sie an der Friedrich-AlexanderUniversität Erlangen-Nürnberg sowie an der Julius-Maximilian-Universität Würzburg die Fächer Deutsch, Geschichte und Italienisch für Lehramt an Gymnasien und legte 1989 das erste Staatsexamen ab. Besonderes Interesse zeigte sie an der Fränkischen und Bayerischen Landesgeschichte, die sie bei Prof. Dr. Rudolf Endres studierte. Auch ihre Zulassungsarbeit verfasste sie zu einem landesgeschichtlichen Thema mit dem Titel „Die Pestepidemien des ausgehenden Mittelalters und der Frühen Neuzeit in Nürnberg (1483/84 bis 1533/34)“. Die Studienarbeit wurde 1990 in einem Sammelband der Erlanger Forschungen zu „Nürnberg und Bern. Zwei Reichstädte und ihre Landgebiete“ veröffentlicht. Direkt im Anschluss an ihr Studium begann Charlotte Bühl ihr Referendariat, das sie 1991 mit dem zweiten Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien abschloss. Im gleichen Jahr legte sie auch das Staatsexamen im Zusatzfach Italienisch ab und war damit eine der wenigen Lehrkräfte in Bayern, die in dieser Sprache am Gymnasium Unterricht erteilte. Bereits als junge Studienrätin am Hanns-SeidelGymnasium im unterfränkischen Hösbach bei Aschaffenburg, wo sie von 1991 bis 1995 unterrichtete, entwarf sie Abituraufgaben für das Fach Italienisch. In dieser Zeit blieb sie in Kontakt mit ihrem Mentor Prof. Dr. Endres, der ab 1988 den Lehrstuhl für Bayerische und Fränkische Landesgeschichte und Didaktik an der Universität Bayreuth innehatte und mit seinen Promovend:innen und ehemaligen Studierenden in Kolloquien regelmäßig neue Forschungen zur Fränkischen Landesgeschichte diskutierte. 1995 übernahm Charlotte Bühl die Stelle als wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl von Prof. Dr. Endres. Hier verantwortete sie unter anderem die Lehrerbildung und damit die Konzeption und Durchführung der Lehrveranstaltungen zur Didaktik der Geschichte. Zudem wurde sie von Seiten des Lehrstuhls als Redakteurin in das Redaktionsteam des Stadtlexikons Nürnberg delegiert, das im Herbst 1999 erschien. Neben ihrer Redaktionstätigkeit verfasste sie selbst einen Essay sowie rund 200 Lexikonartikel für das umfangreiche Grundlagenwerk zur Nürnberger Stadtgeschichte. In dieser Zeit vertiefte sich die Zusammenarbeit mit dem Stadtarchiv Nürnberg, das auch zum wichtigsten Anlaufpunkt für ihre detail-
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lierte Forschungsarbeit im Rahmen ihrer Promotion wurde. Ihre umfangreiche Dissertation zu „Nürnberg 1859 bis 1892. Stadtentwicklung, Kommunalpolitik und Stadtverwaltung im Zeichen von Industrialisierung und Urbanisierung“ schloss sie 2002 ab und veröffentlichte sie als Band 62 der Nürnberger Werkstücke zur Stadt- und Landesgeschichte, die vom Stadtarchiv Nürnberg herausgegeben wird. Im gleichen Jahr heiratete sie den Maler und Graphiker Markus Gramer, mit dem sie eine heute erwachsene Tochter hat. Im Anschluss an ihre Assistenzzeit in Bayreuth wechselte sie 2001 als akademische Rätin an den Lehrstuhl für Didaktik der Geschichte an der FriedrichAlexander-Universität Erlangen-Nürnberg, der von Prof. Dr. Elisabeth Erdmann geleitet wurde. Hier legte sie zunächst einen Schwerpunkt auf die geschichtsdidaktische Schulbuchforschung, insbesondere die diachrone Untersuchung von deutschen und italienischen Schulbüchern. Nach der Emeritierung der Lehrstuhlinhaberin im Jahr 2007 übernahm sie die Lehrstuhlvertretung. 2009 erhielt sie einen Ruf auf den Lehrstuhl für Didaktik der Geschichte an der Universität DuisburgEssen, den sie ablehnte. Angenommen hat sie jedoch 2010 in Nachfolge von Prof. Dr. Elisabeth Erdmann den Ruf auf den Lehrstuhl für Didaktik der Geschichte an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Ein wichtiger Schwerpunkt ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit liegt hier bis heute auf geschichtskulturellen Untersuchungen. Besonders setzt sie sich mit der Analyse von Geschichte in Bildern und visuellen Medien auseinander und reflektiert deren Einsatz in der Lehre und im Unterricht. In ihren geschichtsdidaktischen Forschungen, die eine große Bandbreite umfassen, wendet sie sich auch ungewöhnlicheren Themen wie beispielsweise der Darstellung von Geschichte im Brettspiel zu. Viele Jahre wirkte sie als Autorin an dem Open Peer Review Journal von Public History Weekly mit. Ein weiterer Schwerpunkt ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit liegt auf der Erforschung von erinnerungskulturellen Fragestellungen. Besonders widmet sie sich dabei dem Umgang mit dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände, ein Thema von bundesweitem Interesse mit internationaler Ausstrahlungskraft. 2016 führte sie im Auftrag des Kulturreferats der Stadt Nürnberg eine umfangreiche Studie zum Besuchsverhalten auf dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände durch, deren Ergebnisse 2019 unter dem Titel „Perspektivenwechsel“ veröffentlicht wurden und eine der Grundlagen für die Entwicklung eines zeitgemäßen Vermittlungskonzepts zur didaktischen Erschließung des ehemaligen Reichsparteitagsgeländes bilden. Darüber hinaus wurde Charlotte Bühl-Gramer in den Wissenschaftlichen Beirat „Historischer Ort ehemaliges Reichsparteitagsgelände“ durch die Stadt Nürnberg berufen und zu dessen Vorsitzender gewählt. Sie ist eine gefragte Referentin, Diskutantin und Podiumsteilnehmerin bei erinnerungskulturellen Debatten. So wurde sie zum Beispiel auf Bundesebene als Sachverständige zur Stellungnahme bei der
Geschichte gelebt, gedeutet und gelehrt
öffentlichen Anhörung zum Thema „Orte der Demokratiegeschichte“ in den Ausschuss für Kultur und Medien im Deutschen Bundestag eingeladen. Vor dem Hintergrund ihres frühen Interesses an der fränkischen Landesgeschichte beschäftigt sie sich bis heute intensiv mit lokaler Geschichtskultur. In ihrer Publikationsliste finden sich zahlreiche Beiträge zu geschichtskulturellen Themen der Stadt- und Regionalgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. An der FriedrichAlexander-Universität ist sie deshalb neben ihrer Mitgliedschaft im Department Fachdidaktiken auch Zweitmitglied im Department Geschichte und Mitglied in der Sektion Franken des Zentralinstituts für Regionenforschung. Auf Grund ihrer Forschungen zur Geschichts- und Erinnerungskultur wurde Charlotte Bühl-Gramer 2019 vom Präsidenten der Friedrich-Alexander-Universität in die fakultätsübergreifende Arbeitsgruppe Erinnerungskultur berufen. Diese Arbeitsgruppe berät die Hochschulleitung bei Fragestellungen zur historischen Verantwortung der Universität für ihr Handeln in Forschung, Lehre und Verwaltung in der Vergangenheit. Von Anfang an war es ihr ein großes Anliegen, sich aktiv in den geschichtsdidaktischen Fachdiskurs einzubringen. Sie übernahm von 2011 bis 2017 den stellvertretenden Vorsitz der Konferenz für Geschichtsdidaktik, des Verbands der Geschichtsdidaktikerinnen und Geschichtsdidaktiker Deutschlands e.V. In diesem Zusammenhang war sie von 2012 bis 2018 Mitherausgeberin der „Zeitschrift für Geschichtsdidaktik“ sowie der „Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik“. Seit 2018 ist sie für diese wichtigste deutschsprachige, geschichtsdidaktische Fachzeitschrift als Peer-Reviewerin tätig. Bereits seit 2014 fungiert sie als Mitherausgeberin der „Geschichtsdidaktischen Studien“, einer Reihe, die vor allem Nachwuchswissenschaftler:innen die Publikation von Qualifikationsschriften und wissenschaftlichen Beiträgen ermöglichen will. In beträchtlichem Umfang nimmt sie Mitgliedschaften in Berufungskommissionen wahr und wirkt bei der Besetzung von Geschichtsdidaktik-Lehrstühlen in ganz Deutschland mit. Als ehemals aktive Gymnasiallehrerin liegt ihr die Entwicklung des Geschichtsunterrichts besonders am Herzen. So verantwortete sie z. B. 2017 die Tagung zum „Geschichtsunterricht im 21. Jahrhundert“ mit und nahm in diesem Zusammenhang auch eine grundlegende Standortbestimmung zum Geschichtsunterricht vor. Sehr wichtig ist ihr der direkte Kontakt mit den Lehrkräften und den Schulen, für die ihr Lehrstuhl jährlich mit der Ideenbörse Geschichte eine gut besuchte Fortbildungsveranstaltung für den Großraum Nürnberg und darüber hinaus veranstaltet. Hier werden Ergebnisse der geschichtsdidaktischen Forschung vorgestellt, aktuelle Fragen des Geschichtsunterrichts diskutiert und Best-Practice-Beispiele präsentiert, so dass sich universitäre Lehre ertragreich mit der schulischen Praxis vernetzt. Charlotte Bühl-Gramer ist selbst eine begeisterte „Lehrerin“ im besten Sinne, die sich als Prodekanin für Lehrkräftebildung besonders für die Hochschullehre
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und die Belange der Studierenden einsetzt. Die Bedeutung, die sie der universitären Lehre beimisst, manifestiert sich regelmäßig in der sorgsamen Besprechung geplanter Lehrveranstaltungen im gesamten Lehrstuhlteam zur Gewährleistung einer ausgewogenen und fundierten Ausbildung der angehenden Geschichtslehrkräfte aller Schularten. Ihr Einsatz für studentische Belange in Form intensiver Studienberatung und die Betreuung in schwierigen Situationen zeichnen sie als engagierte und emphatische Professorin aus. Charlotte Bühl-Gramer ist zur Freude ihrer Mitarbeitenden ein Teamplayer und eine Vertreterin flacher Hierarchien. Zur Förderung und kritischen Begleitung des akademischen Nachwuchses veranstaltet sie in Kooperation mit befreundeten Lehrstuhlinhaber:innen in Bayern regelmäßige Doktorandenkolloquien. Ihr ist es darüber hinaus ein wichtiges Anliegen, das Interesse von Kindern und Jugendlichen für die eigene Geschichte zu fördern. Dafür engagiert sie sich seit 2011 als Koordinatorin der Landesjury Bayern Nord für den Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten sowie im Netzwerk Geschichtsdidaktik der Körber-Stiftung. 2015 wirkte sie an der Einrichtung eines lokalen Förderpreises zur Nürnberger Geschichte mit, der nun jährlich vom Verein für Geschichte der Stadt Nürnberg verliehen wird. Mit diesem Preis werden Qualifikationsarbeiten von Schüler:innen sowie Bachelor-, Master- und Zulassungsarbeiten zur Nürnberger Geschichte ausgezeichnet. Nachdem sie im Geschichtsverein 14 Jahre Mitglied des erweiterten Vorstands war, leitet sie ihn seit 2021 als Vorsitzende. Der besondere Anspruch des Vereins ist es, den Bürger:innen wissenschaftliche Forschungsergebnisse zur Nürnberger Stadtgeschichte mit Publikationen, Vorträgen, Führungen und bei Symposien näher zu bringen. Aber auch in weiteren Einrichtungen der regionalen Geschichtskultur, wie dem Fachbeirat des Kunst- und Kulturpädagogischen Zentrums der Museen in Nürnberg, den sie seit 2005 leitet, oder im wissenschaftlichen Beirat des Jüdischen Museums Franken wird ihre Expertise hochgeschätzt. Die Erforschung von Landesgeschichte und den unterschiedlichen Erscheinungsformen von Geschichte, die Beschäftigung mit theoretischen Fragen des historischen Lernens und der ganz praktischen Geschichtsvermittlung sind für die begeisterte Hochschullehrerin Charlotte Bühl-Gramer seit vielen Jahrzehnten Beruf und Berufung. Geschichte wird von ihr gedeutet, gelehrt und mit Freude gelebt.
Schriftenverzeichnis von Charlotte Bühl-Gramer
Monographien Perspektivenwechsel. Das ehemalige Reichsparteitagsgelände aus der Sicht von Besucherinnen und Besuchern (Schriften des Kulturreferats 4), hg. v. Lehner, Julia, Nürnberg 2019. Nürnberg 1850 bis 1892. Stadtentwicklung, Kommunalpolitik und Stadtverwaltung im Zeichen von Industrialisierung und Urbanisierung (Nürnberger Werkstücke zur Stadtund Landesgeschichte 62), Nürnberg 2003.
Herausgeberschaften Geschichtsdidaktische Studien (Mitherausgeberin seit 2014). Zeitschrift für Geschichtsdidaktik (Mitherausgeberin 2012–2018). Beihefte der Zeitschrift für Geschichtsdidaktik (Mitherausgeberin 2012–2018). Geschichtsunterricht im 21. Jahrhundert. Eine geschichtsdidaktische Standortbestimmung (Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 17), Göttingen 2018 (mit Sandkühler, Thomas/John, Anke/Schwabe, Astrid/Bernhardt, Markus). Geschichte im interdisziplinären Diskurs. Grenzziehungen – Grenzüberschreitungen – Grenzverschiebungen (Beihefte zur Geschichtsdidaktik 12), Göttingen 2016 (mit Sauer, Michael/John, Anke/Schwabe, Astrid/Kenkmann, Alfons/Kuchler, Christian). Geschichtslernen in biographischer Perspektive. Nachhaltigkeit – Entwicklung – Generationendifferenz (Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 9), Göttingen 2014 (mit Sauer, Michael/John, Anke/Demantowsky, Marko/Kenkmann, Alfons). Antike – Bilder – Welt. Forschungserträge internationaler Vernetzung. Elisabeth Erdmann zum 70. Geburtstag, Schwalbach/Ts. 2013 (mit Hasberg, Wolfgang/Popp, Susanne). Festschrift für Rudolf Endres (Jahrbuch für fränkische Landesforschung 60), Neustadt/Aisch 2000 (mit Fleischmann, Peter).
Beiträge in Sammelbänden, Handbüchern, Lexika „Heimatsehnen“ – vier Tage in Schney. Georg Gärtners Besuch im Jahr 1918, in: Christoph, Barbara u. a. (Hg.): „Und in Deutschlands Mitte Franken“. Günter Dippold zum 60. Geburtstag, Bayreuth 2021, S. 307–328.
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Visuelle Zeugnisse – Historizität des Visuellen – Bildermacht: Bilder in Geschichtsdidaktik und Geschichtsunterricht, in: Kirschenmann, Johannes/Schulz, Frank (Hg.): Begegnungen. Kunstpädagogische Perspektiven auf Kunst- und Bildgeschichte, München 2021, S. 688–708. Schule in der Stadt – Ort für Innovationen und Arena politischer Konflikte. Die Nürnberger Schullandschaft in der Weimarer Republik, in: Fischer-Pache, Wiltrud u. a. (Hg.): Weimarer Republik Nürnberg. 1918 1933 (Ausstellungskatalog des Stadtarchivs Nürnberg 28), Neustadt/Aisch 2021, S. 608–677. Geschichte im Brettspiel. Theoretische Anmerkungen zu einem Phänomen populärer Geschichtskultur, in: Kühberger, Christoph (Hg.): Mit Geschichte spielen. Zur materiellen Kultur von Spielzeug und Spielen als Darstellung der Vergangenheit, Bielefeld 2021, S. 359–386. Podiumsdiskussion: „1914/19 – 2014/19: Erkenntnisse aus fünf Jahren Gedenken an den Ersten Weltkrieg“, Eichstätt, 16. Mai 2019, Transkript, in: Kießling, Friedrich/Rothauge, Caroline (Hg.): Außenbeziehungen und Erinnerung. Funktionen, Dynamiken, Reflexionen, München 2021, S. 231–251. Nürnberg als Erinnerungsort. Eine ‚romantische‘ Stadt, in: Kerschbaumer, Sandra/Mettele, Gisela (Hg.): Romantische Urbanität. Transdisziplinäre Perspektiven vom 19. bis ins 21. Jahrhundert, Wien/Köln/Weimar 2020, S. 33–54. Nürnberg als „Stadt des Friedens und der Menschenrechte“ – Transformationen von Stadtimage und lokaler Geschichtskultur, in: Kenkmann, Alfons/Spinnen, Bernadette (Hg.): Stadtgeschichte, Stadtmarke, Stadtentwicklung. Zur Adaption von Geschichte im Stadtmarketing, Wiesbaden 2019, S. 99–115. Geschichtsunterricht im 21. Jahrhundert – eine Standortbestimmung, in: Sandkühler, Thomas/Bühl-Gramer, Charlotte/John, Anke/Schwabe, Astrid/Bernhardt, Markus (Hg.): Geschichtsunterricht im 21. Jahrhundert. Eine geschichtsdidaktische Standortbestimmung, Göttingen 2018, S. 31–42. Wer? Die Akteure. Einführung in die Sektion, in: Sandkühler, Thomas/Bühl-Gramer, Charlotte/John, Anke/Schwabe, Astrid/Bernhardt, Markus (Hg.): Geschichtsunterricht im 21. Jahrhundert. Eine geschichtsdidaktische Standortbestimmung, Göttingen 2018, S. 355–366. Frühe Bildung in Kindertageseinrichtungen. Erste Begegnungen mit Geschichte? in: Fenn, Monika (Hg.): Frühes historisches Lernen. Projekte und Perspektiven empirischer Forschung, Frankfurt a. M. 2018, S. 270–295. The Future of Public History – What Shall We Teach Perspectively?, in: Demantowsky, Marko (Hg.): Public History and School – International Perspectives, Berlin/Boston 2018, S. 202–206. Das Kaiserreich im Bild, in: Bernhardt, Markus (Hg.): Das Deutsche Kaiserreich. Geschichte – Erinnerung – Unterricht, Schwalbach/Ts. 2017, S. 129–161. Historische Dimensionen in den Didaktiken kulturwissenschaftlicher Fächer. Einführung, in: Sauer, Michael/Bühl-Gramer, Charlotte/John, Anke/ Schwabe, Astrid/Kenkmann, Alfons/
Schriftenverzeichnis von Charlotte Bühl-Gramer
Kuchler, Christian (Hg.): Geschichte im interdisziplinären Diskurs. Grenzziehungen – Grenzüberschreitungen – Grenzverschiebungen (Beihefte zur Geschichtsdidaktik 12), Göttingen 2016, S. 45–51. Geschichte im interdisziplinären Diskurs. Grenzziehungen – Grenzüberschreitungen – Grenzverschiebungen. Einführung in das Tagungsthema, in: Sauer, Michael/Bühl-Gramer, Charlotte/John, Anke/ Schwabe, Astrid/Kenkmann, Alfons/Kuchler, Christian (Hg.): Geschichte im interdisziplinären Diskurs. Grenzziehungen – Grenzüberschreitungen – Grenzverschiebungen (Beihefte zur Geschichtsdidaktik 12), Göttingen 2016, S. 27–41. Mobilität und Migration in der Hochindustrialisierung in Mittelfranken (1875–1910), in: Kluxen, Andrea M./Krieger, Julia/May, Andrea (Hg.): Fremde in Franken, Würzburg 2016, S. 291–307. Geschichtslernen in biografischer Perspektive – Nachhaltigkeit – Entwicklung – Generationendifferenz. Einführung in das Tagungsthema, in: Sauer, Michael/Bühl-Gramer, Charlotte/John, Anke/Demantowsky, Marko/Kenkmann, Alfons (Hg.): Geschichtslernen in biographischer Perspektive. Nachhaltigkeit – Entwicklung – Generationendifferenz, Göttingen 2014, S. 23–35. Geschichte – Biografie – Identität. Einführung, in: Sauer, Michael/Bühl-Gramer, Charlotte/ John, Anke/Demantowsky, Marko/Kenkmann, Alfons (Hg.): Geschichtslernen in biographischer Perspektive. Nachhaltigkeit – Entwicklung – Generationendifferenz, Göttingen 2014, S. 49–55. Bildungslandschaft und Schulbau im ausgehenden 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in: Bauernfeind, Martina/Metzger, Hans-Dieter (Hg.): Rechte für Menschen – Menschenrechte. Ein Nürnberg-Lesebuch, Nürnberg 2014, S. 116–123. Die Region im Kaiserreich 1890 bis 1914, in: Zahlaus, Steven M./Swoboda, Ulrike/ Diefenbacher, Michael (Hg.): Der Sprung ins Dunkle. Die Region Nürnberg und der Erste Weltkrieg 1914–1918, Nürnberg 2014, S. 95–125. Konjunkturen der Erinnerung an den Ersten Weltkrieg in der Region, in: Zahlaus, Steven M./ Swoboda, Ulrike/Diefenbacher, Michael (Hg.): Der Sprung ins Dunkle. Die Region Nürnberg und der Erste Weltkrieg 1914–1918, Nürnberg 2014, S. 1011–1033. Fragen – Forschen – Darstellen: Historische Projektarbeit, in: Stadt Nürnberg (Hg.): Anders sein. Außenseiter in der Geschichte. Arbeitshilfe zum Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten für den Freistaat Bayern, Nürnberg 2014, S. 26–35. Anton von Werner: Kaiserproklamierung, in: Wobring, Michael/Popp, Susanne (Hg.): Der europäische Bildersaal. Europa und seine Bilder, Schwalbach/Ts. 2013, S. 86–97. Pablo Picasso: Guernica, in: Wobring, Michael/Popp, Susanne (Hg.): Der europäische Bildersaal. Europa und seine Bilder, Schwalbach/Ts. 2013, S. 136–147. Medienbildung in geschichtsdidaktischer Perspektive, in: Pirner, Manfred/Pfeiffer, Wolfgang/ Uphues, Rainer (Hg.): Medienbildung in schulischen Kontexten. Erziehungswissenschaftliche und fachdidaktische Perspektiven, München 2013, S.197–214. Mehr als eine Kunstdebatte – „Die berühmten drei grauen Flächen“ im Plenarsaal des Berliner Reichstags, in: Bühl-Gramer, Charlotte/Hasberg, Wolfgang/Popp, Susanne (Hg.): Antike
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– Bilder – Welt. Forschungserträge internationaler Vernetzung. Elisabeth Erdmann zum 70. Geburtstag, Schwalbach/Ts. 2013, S. 107–122. Eine Revolution in den Amtsstuben! Bewältigungsstrategien und Kommunikationsformen der Stadtverwaltung beim Auf- und Ausbau städtischer Infrastrukturen am Beispiel Nürnberg, in: Wüst, Wolfgang/Riedl, Tobias/Prechsl, Magdalena (Hg.): Industrielle Revolution. Regionen im Umbruch: Franken, Schwaben, Bayern (Referate der Tagung vom 12. bis 14. März 2012 im Bildungszentrum Kloster Banz), Erlangen 2013, S. 81–94. Mickey, Donald und Hansi – Propaganda im Zeichentrickfilm während des Zweiten Weltkriegs, in: Wobring, Michael/Popp, Susanne/Probst, Daniel/Springkart, Claudius (Hg.): Flugblätter – Plakate – Propaganda. Die Arbeit mit appellativen Bild-Text-Dokumenten im Geschichtsunterricht, St. Ingbert 2013, S. 35–43. Ein kurzer Blick … in die Geschichte vor der Vorgeschichte, S. 29–31. … in das Eröffnungsjahr der Volkshochschule, S. 40–41. … auf das erste Lehrjahr, S. 53–54. … auf die Dozenten des Bildungszentrums, S. 55–57. … auf die ersten fünf Leiter der Volkshochschule, S. 70–71. … auf die Direktorate und Verwaltungssitze des Bildungszentrums, S. 83–84. … auf die Logos des Bildungszentrums, S. 85–87. … auf die Teilnehmer (früher: „Hörer“) des Bildungszentrums, S. 88–90. in: Eckart, Wolfgang (Hg.): Lebensnah lernen. 90 Jahre kommunale Weiterbildung in Nürnberg, Nürnberg 2012. Differenzierung im Geschichtsunterricht, in: Eisenmann, Maria/Grimm, Thomas (Hg.): Heterogene Klassen – Differenzierung in Schule und Unterricht, Baltmannsweiler 2011, S. 192–201. Bedeutungswandel und semantische Kompromisse – Anmerkungen zum sprachlichen Umgang mit Migration, in: Diefenbacher, Michael/Zahlaus, Steven (Hg.): Dageblieben! Zuwanderung nach Nürnberg gestern und heute (Ausstellungskatalog des Stadtarchivs Nürnberg), Nürnberg 2011, S. 281–294. Wem gehören die Staufer? Ein Blick in deutsche und italienische Schulgeschichtsbücher, in: Herzner, Volker/Leistikow, Dankwart (Hg.): Mythos Staufer: in memoriam Dankwart Leistikow; Akten der 5. Landauer Staufertagung (Veröffentlichungen der Pfälzischen Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften in Speyer 105), Speyer 2010, S. 53–65. Die Staufer im Bild – Befunde einer diachronen Untersuchung deutscher und italienischer Schulgeschichtsbücher (1860/71–2005), in: Heinze, Carsten/Matthes, Eva (Hg.): Das Bild im Schulbuch, Bad Heilbrunn 2010, S. 109–124. Felix Messerschmid – Politische und historische Bildung: Neuanfang durch Kooperation?, in: Hasberg, Wolfgang/Seidenfuß, Manfred (Hg.): Modernisierung im Umbruch. Geschichtsdidaktik und Geschichtsunterricht nach 1945 (Geschichtsdidaktik in Vergangenheit und Gegenwart 6), Münster 2008, S. 245–259.
Schriftenverzeichnis von Charlotte Bühl-Gramer
„… und muss ich sagen, hängt man an einer so schönen Stadt“. Ein Kurzporträt der jüdischen Familie Astruck in Nürnberg, in: Hübner, Christoph/Metzger, Pascal/Ramorobi, Irene/Wachter, Clemens (Hg.): Festschrift Werner K. Blessing (Jahrbuch für fränkische Landesforschung 66), Erlangen/Nürnberg 2006, S. 593–601. Rahmenbedingungen der Schulbuchproduktion in Italien, in: Handro, Saskia/Schönemann, Bernd (Hg.): Geschichtsdidaktische Schulbuchforschung. Theorie und Empirie (Zeitgeschichte – Zeitverständnis 16) Münster 2006, S. 283–295. Historische Tableaux des „Deutschen Seelentums“ – Deutschkundliche Geschichtsdidaktik, in: Hasberg, Wolfgang/Seidenfuß, Manfred (Hg.): Geschichtsdidaktik(er) im Griff des Nationalsozialismus? (Geschichtsdidaktik in Vergangenheit und Gegenwart 2), Münster 2005, S. 71–83. Zwischen sozialer Abgrenzung und Emanzipation. Mädchenbildung im 19. und 20. Jahrhundert in Nürnberg, in: Festschrift der Maria-Ward-Schule Nürnberg 1854–2004, Nürnberg 2004, S. 74–87. Der Weg der Frauen in die Kommunalpolitik – Die ersten Stadtratswahlen in Mittelfranken, in: Bennewitz, Nadja/Franger, Gaby (Hg.): Geschichte der Frauen in Mittelfranken. Alltag, Personen und Orte, Cadolzburg 2003, S. 289–295. Nürnberg – Ein Zentrum der Revolution in Franken, in: Haus der Bayerischen Geschichte (Hg.): Die Einheits- und Freiheitsbewegung und die Revolution 1848/49 in Franken, Kolloquiumsbericht, Augsburg 1999, S. 43–57. „Kurze Gedanken, aber tiefe Empfindungen.“ Mädchenbildung im 19. Jahrhundert in Nürnberg, in: Bennewitz, Nadja/Franger, Gaby (Hg.): Am Anfang war Sigena. Ein Nürnberger Frauengeschichtsbuch, Cadolzburg 1999, S. 138–152. Theaterwesen (Essay), in: Diefenbacher, Michael/Endres, Rudolf (Hg.): Stadtlexikon Nürnberg, Nürnberg 1999, S. 1074–1075. Ca. 200 Lexikon-Artikel, in: Diefenbacher, Michael/Endres, Rudolf (Hg.): Stadtlexikon Nürnberg, Nürnberg 1999. Schlussbericht, in: Endres, Rudolf (Hg.): Bayerns vierter Stamm. Die Integration der Flüchtlinge und Heimatvertriebenen nach 1945 (Bayreuther historische Kolloquien 12), Köln u. a. 1998, S. 263–264. Die Pestepidemien des ausgehenden Mittelalters und der Frühen Neuzeit in Nürnberg (1483/84 bis 1533/34), in: Endres, Rudolf (Hg.): Nürnberg und Bern. Zwei Reichsstädte und ihre Landgebiete (Erlanger Forschungen Reihe A 46), Erlangen 1990, S. 121–168.
Beiträge in Fachzeitschriften Das Brettspiel „Ab ins Bundeshaus!“ zum 50. Jubiläum des Frauenstimmrechts in der Schweiz – ein geschichtsdidaktischer Kommentar, in: Didactica historica 8 (2022), S. 143–149. Rudolf Endres (1936–2016), in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 153 (2017), S. 469–476.
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Wissenschaft, Weltmarkt und nationales Prestige. Die Herstellung synthetischer Farbstoffe in der Hochindustrialisierung, in: Praxis der Naturwissenschaften. Chemie in der Schule 65 (2016), S. 15–19. Die romantische „Erfindung“ des mittelalterlichen Nürnberg im 19. Jahrhundert, in: Informationen zur modernen Stadtgeschichte 2 (2016), S. 66–78. Nürnberg als „Stadt des Friedens und der Menschenrechte“ – Aspekte einer geschichtskulturellen Analyse, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 11(2012), S. 98–115. Vom Ascheimer zum gelben Sack. Hausmüllentsorgung und gesellschaftlicher Wandel, in: Praxis Geschichte 6 (2012), S. 38–42. Politik als Produkt. Die „Bonner Republik“ im Spiegel von Wahlplakaten, in: Praxis Geschichte 4 (2010), S. 33–41. Attentate in der Geschichte und ihr didaktisches Potenzial. Didaktische Überlegungen, in: Praxis Geschichte 2 (2010), S. 10–11 (mit Brieske, Rainer). Signal der Selbstbehauptung. Das Attentat auf Reinhard Heydrich in Prag, in: Praxis Geschichte 2 (2010), S. 34–38. Lehrerkompetenzen für den Geschichtsunterricht – das Beispiel „oral history“, in: Norica. Berichte und Themen aus dem Stadtarchiv Nürnberg, hg. Stadt Nürnberg, Stadtarchiv, Nürnberg 2008, S. 105–108. Sonne, Mond und Sterne. Der König und das Barock, in: Praxis Geschichte 4 (2007), S. 48–52. Kriegserfahrungen und Friedensvisionen. Illustrierte Flugblätter zum Westfälischen Frieden als Quelle, in: Praxis Geschichte 3 (2007), S. 25–28. Vom Dokumentarfoto zur Fotoikone – wenn Bilder zum Begriff werden, in: Praxis Geschichte 1 (2006), S. 14–18. Wenn Politiker baden gehen … Zwei Fotografien als Medienskandale, in: Praxis Geschichte 1 (2006), S. 52–53. Der Übergang Frankens an Bayern – Jubiläumsfeierlichkeiten und Erinnerungspolitik im 19. und 20. Jahrhundert, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 93 (2006), S. 71–106. Ein seltsames Hochzeitspaar, Rotkäppchen und gierige Schlangen. Der Hitler-Stalin-Pakt als Motiv für Karikaturisten, in: Praxis Geschichte 1 (2004), S. 28–31. Gottlieb von Merkel – Wegbereiter des modernen Gesundheitswesens in Nürnberg, in: Bühl, Charlotte/Fleischmann, Peter (Hg.) Festschrift für Rudolf Endres (Jahrbuch für fränkische Landesforschung 60), Neustadt/Aisch 2000, S. 527–554. Revolution, Demokratie, Reichsbewußtsein – Nürnberg 1848/49, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 85 (1998), S. 185–277.
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Internet–Publikationen History Marketing online – DAX meets history / History Marketing online – DAX trifft Geschichte, in: Public History Weekly 6, Nr. 13 (2018), DOI: dx.doi.org/10.1515/phw2018-11508. Can Architecture Embody Good and Evil? / Gute Bauten – Böse Bauten?, in: Public History Weekly 5, Nr. 36 (2017), DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2017-10283. Fake History and the Outlet Village / Fake History im Outlet Village, in: Public History Weekly 5, Nr. 14 (2017), DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2017-9012. Popular History Magazins for Kids / Populäre Geschichtsmagazine für Kinder, in: Public History Weekly 4, Nr. 36 (2016), DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2016-7630. Antiques Shows on TV – History as a Commodity / Trödelshows im Fernsehen – Geschichte als Ware, in: Public History Weekly 4, Nr. 24 (2016), DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-20166424. History Teaching in the Cinema and Holocaust Education / Geschichtsunterricht im Kinofilm und Holocaust Education, in: Public History Weekly 4, Nr. 2 (2016), DOI: dx.doi.org/ 10.1515/phw-2016-5283. Back to the Cold War. Museumised Bunker Installations / Zeitreise in den Kalten Krieg. Musealisierte Bunkeranlagen, in: Public History Weekly 3, Nr. 22 (2015), DOI: dx.doi.org/ 10.1515/phw-2015-4248. “Tis the Season?” Staging Christmas markets / „Es weihnachtet sehr?“ Inszenierte Weihnachtsmärkte, in: Public History Weekly 3, Nr. 1 (2015), DOI: dx.doi.org/10.1515/phw2015-3228. Olympia-Eröffnungen. Ein historisches Wunderland?, in: Public History Weekly 2, Nr. 10 (2014), DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2014-1517. “Per Brettspiel in die Vergangenheit”. Historische Realität in Spielwelten, in: Public History Weekly 2, Nr. 25 (2014), DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2014-2253. Twitter – Medium der Geschichtskultur, z. B. @9Nov38 (Außenperspektive), in: Public History Weekly 1, Nr. 13 (2013), DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2013-798. Der Rundumblick auf die Geschichte, in: Public History Weekly 1, Nr. 1 (2013), DOI: dx.doi.org/10.1515/phw-2013-135.
Rezensionen Münch, Daniel: Geschichtskultur als Unterrichtsgegenstand. Wie stehen die Lehrer*innen dazu? Frankfurt a.M.: Wochenschau-Verlag 2021, in: sehepunkte 22, Nr. 5 (2022) [15.05.2022], URL: http://www.sehepunkte.de/2022/05/35903.html. Kuchler, Christian/Sommer, Andreas (Hg.): Wirksamer Geschichtsunterricht, Baltmannsweiler 2018, in: sehepunkte 20, Nr. 7/8 (2020) [15.07.2020], URL: http://www.sehepunkte.de/ 2020/07/34655.html.
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John, Anke: Lokal- und Regionalgeschichte. Frankfurt a.M. 2018, in: H-Soz-Kult, 25.10.2018, http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-26993. Petzold, Dominik: Der Kaiser und das Kino. Herrschaftsinszenierung, Populärkultur und Filmpropaganda im Wilhelminischen Zeitalter, Paderborn 2012, in: Archiv für Kulturgeschichte 98, H.1 (2016), S. 236–238. Merkel, Kerstin/Dittrich, Constance (Hg.): Spiel mit dem Reich. Nationalsozialistische Ideologie in Spielzeug und Kinderbüchern, Wiesbaden 2011, in: Archiv für Kulturgeschichte 97, H.1 (2015), S. 249–251. Paul, Gerhard: BilderMACHT. Studien zur Visual History des 20. und 21. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 12 (2013), S. 237–238. Fenn, Monika: Zwischen Gesinnungs- und Sachbildung – Die Relevanz der Kategorie Heimat in Volksschulunterricht und Lehrerbildung in Bayern seit 1945, Idstein 2008, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 2010, S. 239–241. Pandel, Hans-Jürgen: Bildinterpretation. Die Bildquelle im Geschichtsunterricht, Wochenschau Verlag, Schwalbach/Ts. 2008, in: sehepunkte 9, Nr. 4 (2009) [15.04.2009], URL: http://www.sehepunkte.de/2009/04/12684.html. Martin, Judith/Hamann, Christoph (Hg.): Geschichte Friedensgeschichte Lebensgeschichte, Herbolzheim 2007, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 2008, S. 242–244. Frank, Susanne/Matthew Gandy (Hg.): Hydropolis. Wasser und die Stadt der Moderne, Frankfurt a.M. 2006, in: sehepunkte 8, Nr. 4 (2008) [15.04.2008], URL: http://www. sehepunkte.de/2008/04/12578.html. Erdmann, Elisabeth/Maier, Robert/Popp, Susanne (Hg.): Geschichtsunterricht international. Bestandsaufnahme und Visionen. Worldwide Teaching History. Present and Future. L’enseignement de l’histoire dans le monde. Bilan et visions (Studien zur internationalen Schulbuchforschung 117), Hannover 2006, in: Zeitschrift für internationale Bildungsforschung und Entwicklungspädagogik 30, H. 1 (2007), S. 35 f. Mohajeri, Shahrooz: 100 Jahre Berliner Wasserversorgung und Abwasserentsorgung 1840–1940, Stuttgart 2005, in: sehepunkte 6, Nr. 5 (2006) [15.05.2006]. http://www.sehepunkte.de/2006/05/9565.html. Müller, Anett: Modernisierung in der Stadtverwaltung. Das Beispiel Leipzig im späten 19. Jahrhundert, Köln u.a. 2005 (Geschichte und Politik in Sachsen 24), in: sehepunkte 6, Nr. 12 (2006) [15.12.2006], URL: http://www.sehepunkte.de/2006/12/10065.html. Roeck, Bernd: Das historische Auge. Kunstwerke als Zeugen ihrer Zeit. Von der Renaissance zur Revolution, Göttingen, 2004, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 2005, S. 314–319. Saldern, Adelheid von: Inszenierte Einigkeit. Herrschaft und Repräsentation in DDR-Städten, Stuttgart 2003, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 2004, S. 282–286. Burkhardt, Irene: Das Verhältnis von Wirtschaft und Verwaltung in Bayern während der Anfänge der Industrialisierung (1834–1868) (Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 64), Berlin 2001, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 91 (2004), S. 385–386.
Schriftenverzeichnis von Charlotte Bühl-Gramer
Habermas, Rebekka: Frauen und Männer des Bürgertums. Eine Familiengeschichte (1750–1850) (Beiträge zur europäischen Gesellschaftsgeschichte 14), Göttingen 2000, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 91 (2004), S. 409–411. Wischermann, Ulla: Frauenbewegungen und Öffentlichkeiten um 1900, Königstein/Ts. 2003, in: Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte 67 (2004), S. 869–871. Wolff, Kerstin: „Stadtmütter“. Bürgerliche Frauen und ihr Einfluss auf die Kommunalpolitik im 19. Jahrhundert (1860–1900), Königstein/Ts. 2003, in: Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte 67 (2004), S. 871–873. Blumenthal, Margot: Die Dürer-Feiern 1828. Kunst und Gesellschaft im Vormärz, Egelsbach, Frankfurt a. M./München/New York 2001, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 90 (2003), S. 233–235. Freyer, Michael: Das Schulhaus – Entwicklungsetappen im Rahmen der Geschichte des Bauern- und Bürgerhauses sowie der Schulhygiene, hg. von Keil, Gundolf/Nerdinger, Winfried, Passau 1998, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 90 (2003), S. 255–256. Handro, Saskia/Schönemann, Bernd (Hg.): Methoden geschichtsdidaktischer Forschung, Münster 2002, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 2003, S. 289–292. Wilhelm Raabe und die deutsche Einheit. Die Tagebuchdokumente der Jahre 1860–1863, München 1998, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 90 (2003), S. 235–236. Porzelt, Carolin: Die Pest in Nürnberg. Leben und Herrschen in Pestzeiten (1562–1713), St. Ottilien 2000, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 89 (2002), S. 233 f. Dippold, Günter/Wirz, Ulrich (Hg.): Die Revolution von 1848/49 in Franken, Bayreuth 1998, in: Würzburger Diözesangeschichtsblätter 61 (1999), S. 409–411. Mertens, Rainer: Johannes Scharrer. Profil eines Reformers in Nürnberg zwischen Aufklärung und Romantik (Nürnberger Werkstücke zur Stadt- und Landesgeschichte 57) Nürnberg 1996, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 84 (1997), S. 274–276. Endres, Rudolf (Hg.): Bayreuth. Aus seiner 800jährigen Geschichte (Bayreuther historische Kolloquien 9), Köln u. a. 1995, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 83 (1996), S. 398–399.
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Nadja Bennewitz, Gesa Büchert, Mona Kilau
Positionen, Projekte, Perspektiven Festschrift für Charlotte Bühl-Gramer „Rundumblick auf die Geschichte“ – so betitelte Charlotte Bühl-Gramer im Jahr 2013 einen Beitrag zu Panoramabildern, die als History-Surround-Systeme seit einigen Jahren eine bemerkenswerte Renaissance erleben. Ein treffender Titel, der metaphorisch auch für das umfangreiche Werk und Wirken der vielseitigen Professorin für Geschichtsdidaktik und Historikerin für Landesgeschichte stehen könnte. Mit dieser Festschrift möchten Kolleg:innen, Freund:innen, Wegbegleitende, Mitarbeitende, ehemalige Studierende und Promovenden sie anlässlich ihres 60jährigen Geburtstags würdigen. Zugleich werden damit Perspektiven für zukünftige Forschungsvorhaben aufgezeigt, durchaus auch konträre Positionen bezogen sowie abgeschlossene und laufende Projekte vorgestellt. Einen wichtigen Forschungsbereich von Charlotte Bühl-Gramer bildet die Beschäftigung mit Geschichtskultur, die kritische Analyse gegenwärtiger Erscheinungsformen von Geschichte sowie ihrer Rezeption. Dabei geht es ihr auch um die Veränderung von geschichtskulturellen Deutungsmustern. Neben diesen geschichtskulturell ausgerichteten Untersuchungen bleiben und sind die universitäre Lehre und der Geschichtsunterricht, die Perspektive von Schülerinnen und Schülern sowie die Lehrer:innenbildung für Charlotte Bühl-Gramer elementare Handlungs- und Forschungsfelder. Ihre erfolgreiche Tätigkeit als Lehrerin am Gymnasium sowie auch ihre akademischen Interessen wurden von Beginn an von Fragestellungen zur Geschichtsvermittlung geprägt. Die reflektierte Standortbestimmung zum Geschichtsunterricht im 21. Jahrhundert, die sie 2018 vorlegte, sowie ihre Publikationsliste spiegeln dieses Interesse hinreichend wider. Museen und vor allem Archive sind Dreh- und Angelpunkte eines weiteren Arbeitsfeldes von Charlotte Bühl-Gramer. Sie bilden für sie eine Basis für die Beschäftigung mit lokaler Geschichtskultur und für vertiefte Fragestellungen zur Stadtkultur, nach der Herkunft und prospektiven Weiterentwicklung erinnerungskultureller Orte und historischer Stätten. Seit ihrem Studium beschäftigt sie sich intensiv mit der Fränkischen Landesgeschichte und widmet sich der Erforschung der Kulturgeschichte sowie der Wirtschafts- und Sozialgeschichte Frankens im 19. und 20. Jahrhundert. Sie arbeitet in wichtigen Gremien der fränkischen Landesforschung mit und pflegt gute Kontakte mit den Forschungs- und Bildungseinrichtungen in der Region.
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Nadja Bennewitz, Gesa Büchert, Mona Kilau
Die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes spiegeln die vielfältigen Forschungsschwerpunkte und Handlungsfelder der Professorin und Landeshistorikerin wider. Sie bekunden die möglichen Facetten eines analytischen Blicks aus Praxis und Forschung.
Geschichtskultur Susanne Popp beginnt den Reigen der Gratulant:innen und nimmt in ihrem Beitrag die geschichtsdidaktische Analyse eines jungen, populären Mediums, der Erklärvideos „MrWissen2go Geschichte“ auf YouTube vor. Sie verortet den medial inszenierten Frontalunterricht im Videoformat in einer „Konsumgeschichte des historischen Wissens“ und fordert eine sorgfältige Reflexion der Konsequenzen dieser Form der deklarativen Wissensvermittlung. Simone Derix wirft bei ihrer Beschäftigung mit der US-amerikanischen Fantasy-Serie „Game of Thrones“ die Frage auf, welche Zeitschichten der Vergangenheit in der Präsentation ineinandergreifen, welche Bedeutung Geschichte und Geschichtskultur in der dargestellten Welt zugesprochen wird und entwickelt Perspektiven für die Analyse populärer Geschichtsbilder in diesem Medium. Um mediale Geschichtsbilder geht es auch in dem Beitrag von Jutta Schumann, hier in Printmedien. Sie zeichnet am Beispiel der Varusschlacht und der Germanicusfeldzüge nach, wie in populären Geschichtsmagazinen vergangenes Geschehen dargestellt wird und fragt nach den Unterschieden in Bezug auf Wissenschaftsorientierung und Erzählweisen. Wie sich die Verarbeitung von Vergangenheit im individuellen Gedächtnis manifestiert, nimmt Alfons Kenkmann in den Blick, der Aussagen einer bisher von der geschichtsdidaktischen Forschung kaum beachteten Gruppe von Zeitzeug:innen untersucht. Er wertet einige der in den 1950er Jahren von SED-Funktionären durchgeführten Befragungen von Arbeiterveteranen zur Novemberrevolution 1918/19 aus und erkennt dabei sowohl den Eigensinn der Befragten als auch Spannungen zwischen der erzählten Zeit und der Erzählzeit, was zu Deutungskonflikten führt. Die Veränderung eines geschichtskulturellen Deutungsangebotes fächert Andreas Michler am Beispiel des Denkmals für den deutschen Großunternehmer Adalbert Lanna in der südböhmischen Stadt Budweis auf. Dabei geht er der Frage nach, inwiefern dieses Monument als ein deutsch-tschechischer Erinnerungsort und als ein Ort der Völkerverständigung verstanden werden kann. Ebenso beschäftigt sich Elisabeth Erdmann mit einem Denkmal, dem Offenburger „Kartoffelmann“ zu Ehren von Francis Drake, und skizziert den geschichtspolitischen Umgang mit diesem Monument. Denkzeichen anderer Art behandelt Uwe Danker, der in seiner Untersuchung am Beispiel der Industriestadt Neumünster in Schleswig-Holstein eine bedenkenswerte Möglichkeit des Umgangs mit Straßennamen vorstellt, die heute problematische Vergangenheitsbezüge aufweisen. Um lokale Geschichtskultur, hier
Positionen, Projekte, Perspektiven
bezogen auf Nürnberg, geht es auch in dem Beitrag von Gesa Büchert. Sie umreißt den steinigen Weg bis zur Eröffnung des Nürnberger Stadtmuseums im Jahr 1953, die im Vergleich zu anderen Städten sehr spät erfolgte. Dabei zeigt sie auch auf, wie die museale Präsentation des neugegründeten städtischen Museums geschichtspolitisch ausgerichtet wurde. Aus der Perspektive der Kulturbürgermeisterin der Stadt Nürnberg zeichnet Julia Lehner die Geschichte der Kongresshalle auf dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände nach und entwirft ein Zukunftsprojekt zum Umgang mit dem Baudenkmal, das neben der erinnerungskulturellen Bildungsund Vermittlungsarbeit auch für zeitgenössische Kunst und Kultur genutzt werden soll. Den konfliktreichen erinnerungskulturellen Umgang mit einem historisch ebenfalls belasteten Ort behandelt Leo Stöcklein. Er nimmt die vergangene und zukünftige Gestaltung des Areals des einstigen KZ-Außenlagers in Hersbruck anhand der Positionen unterschiedlicher Akteur:innen und verschiedener Kontroversen in den Fokus.
Geschichtsvermittlung Das facettenreiche Universum geschichtlicher Vermittlung eröffnet Anke John mit einem Beitrag zum vielfach von Gegenwartsbezügen begleiteten geschichtsunterrichtlichen Umgang mit der Weimarer Republik. Sie beschreibt diesen Zugriff in seiner historischen Genese und fordert ein differenziertes Verständnis von der Vielgestaltigkeit der Epoche, um monokausalen Erklärungsmustern und Urteilen entgegenzuwirken. Dass Multiperspektivität und Multikausalität Grundlage eines differenzierten historischen Urteils sind, weist Mona Kilau mit ihrem Blick auf die Komplexität von Urteilskompetenz im Lehrplan für den Geschichtsunterricht nach. Sie mahnt angesichts einer aktuell zu beobachtenden Auflösung der Grenzen zwischen bloßer Meinungsäußerung und reflektiertem Urteilen eine gemeinsame Anstrengung von schulischer Praxis und universitärer Lehre an, um historische Urteilsbildung zu befördern. Die Quellenanalyse als Basis für jedes Sachurteil wird gelenkt durch die Auswahl der Materialien, die auch durch die Berücksichtigung des Geschlechts der historischen Akteur:innen geleitet sein sollte, so das Plädoyer von Nadja Bennewitz. Sie zeigt auf, wie einer Marginalisierung frauen- und geschlechtergeschichtlich relevanter Entwicklungen durch eine Integration historischer Reden von weiblichen Persönlichkeiten im Geschichtsunterricht entgegengewirkt werden kann und regt an, die klassische Rhetoriklehre um gendersensible Fragestellungen bei der Analyse von Reden und Redeauftritten zu erweitern. Verstärkt in den Fokus für die Quellenanalyse im Geschichtsunterricht sind in den letzten Jahrzehnten bildliche Darstellungen gerückt. Stefan Benz setzt sich mit dem komplexen Einsatz von Karikaturen im Geschichtsunterricht auseinander und fragt danach, ob diese Bildquelle angemessen als gezeichneter Kommentar zum Zeitgeschehen oder viel-
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Nadja Bennewitz, Gesa Büchert, Mona Kilau
mehr als Trägerin einer einseitigen aufklärerischen Intention behandelt wird. Neue Quellen und Formen der Geschichtsvermittlung schafft die digitale Transformation der Gesellschaft, die durch die sozialen Medien für Schüler:innen allgegenwärtig ist. Um insbesondere im Bereich der digitalen Public History Perspektiven für die Ausbildung von Lehramtsstudierenden aufzuzeigen, beleuchtet Astrid Schwabe den von ihr konstatierten Widerspruch zwischen der unterrichtlichen Nutzung geschichtskultureller Angebote zur Vermittlung von Sachinformationen und der geschichtsdidaktischen Forderung nach einer kritischen, kriteriengeleiteten Analyse im Unterricht. Wie eine solche geschichtskulturelle Untersuchung digitaler Angebote aussehen kann, beleuchtet Hannes Burkhardt. Er zeigt die Chancen historischen Lernens mit der digitalen Plattform TikTok auf und umreißt anhand des Auftritts von Geschichtsinfluencer:innen, einer KZ-Gedenkstätte und von historischen Erzählungen im Rahmen der sogenannten Holocaust-Challenge drei mögliche Zugriffe für den Geschichtsunterricht. Dass der Einfluss digitaler Medien in der Geschichtsvermittlung präsent ist, lässt sich vor allem an Schüleräußerungen und ihrer Perspektive auf die Geschichte ablesen. So macht Christian Kuchler auf Basis einer Befragung junger Menschen deutlich, dass die Aufmerksamkeit noch immer auf der Geschichte „großer“ Personen liegt, die zwar nicht mehr unbedingt männlich sein müssen, deren Auswahl sich aber größtenteils an außerschulischen geschichtskulturellen Angeboten orientiert. Schüleräußerungen begleiten auch die Forschungsperspektive von Johannes M. Knoblach. Er beobachtet, wie Schüler:innen mit und ohne Migrationserfahrungen durch Narrativieren einen Zusammenhang zwischen sich und einem Museumsbereich herstellen und verortet die Sinnbildungsstrukturen im Spannungsfeld zwischen traditionaler und kritischer Sinnbildung. Das Thema Museum und historische Ausstellungen aufgreifend, gibt Mathias Rösch Einblick in das vom Schul- und Bildungsmuseum entwickelte partizipative Ausstellungsprojekt mit Schüler:innen zum Umgang mit der NS-Vergangenheit in Ost- und Westdeutschland. Er zeigt auf, wie mithilfe von Entwicklungsworkshops die Erkenntnisinteressen, Bedürfnisse und Wünsche von jungen Menschen ermittelt und in eine historische Ausstellung integriert werden. Auch Jessica Mack-Andrick beschäftigt sich mit der Geschichtsvermittlung im Museum. Sie entwickelt instruktive Möglichkeiten, um mithilfe von dialogischen und partizipativen Methoden bei der Betrachtung von kulturhistorischen Objekten im Germanischen Nationalmuseum aktuelle Bezüge zu den von den Vereinten Nationen verfassten Nachhaltigkeitszielen herzustellen. Anhand der Geschichtsvermittlung in einer Abteilung des Germanischen Nationalmuseums macht Magdalena Michalak deutlich, wie Denkhandlungen im Fach Geschichte von Sprache abhängig sind. Aus der Perspektive des Deutschen als Fremdsprache zeigt sie auf, wie das mehrsprachige Potential von Lernenden ertragreich in den historischen Fachunterricht zur Erkenntnisgewinnung integriert werden kann. Geschichtsvermittlung jenseits des Klassenzimmers und im lokalen Nahraum wählt Martina Switalski,
Positionen, Projekte, Perspektiven
um Beispiele für die Beschäftigung mit jüdischer Lokalgeschichte anzuführen, die zur Ausbildung eines lokalgeschichtlich differenzierten Sachurteils und zu Abwehr antisemitischer Ressentiments fruchtbar gemacht werden können. Als ein weiterer Lernort hat sich seit vielen Jahren das Archiv etabliert. Arnold Otto gibt einen Einblick in den Aufbau einer universitären Seminarreihe über mehrere Semester zur Vermittlung historischer Hilfswissenschaften, die in enger Kooperation zwischen Archiv und Universität den Zugang zu mehreren Teildisziplinen eröffnet.
Geschichtsforschung zu Franken Die geschichtlichen Beiträge chronologisch anordnend, steht der Aufsatz von Walter Bauernfeind über spätmittelalterliche Frauenhäuser zu Beginn der hier präsentierten historischen Forschungsbeiträge zu Franken. Er widerspricht der Forschungsmeinung von einer generell niederen gesellschaftlichen Stellung von Frauenhauswirten und weist am Beispiel des Nürnberger Frauenhauswirts Conrad von Neuenfels dessen adlige Herkunft und Wohlhabenheit nach. Michael Diefenbacher beschäftigt sich mit der Biographie des Nürnberger Ratsschreibers Johannes Müllner und dessen Hauptwerk, den „Annalen“ der Reichsstadt Nürnberg, in denen sich die politischen, religiösen und gesellschaftlichen Verhältnisse der Noris widerspiegeln. Georg Seiderer reflektiert das Nürnberg-Bild des Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der hier acht Jahre am Egidien-Gymnasium als Rektor tätig war, und beleuchtet dabei auch dessen Einstellung zum bayerischen Staat. Clemens Wachter gibt anhand der vielzitierten Lithographie von Johann Adam Klein und Conrad Wießner, die mit dem Studentenauszug nach Altdorf 1822 eine prominente Episode der Erlanger Universitätsgeschichte dokumentiert, einen Einblick in den Handlungsradius widerstreitender Akteure rund um ein mögliches Verbreitungsverbot des Bildes. Die Lebensgeschichte eines weitgehend vergessenen Akteurs der 1848er Revolution, des Arztes Dr. Theodor Rimberger aus Cronach, verfolgt Günter Dippold. Rimberger hatte sich für Demokratie und die Republik eingesetzt und entzog sich einer Strafverfolgung durch Flucht ins Ausland. Die jüdische Kulturtradition wird von Daniela F. Eisenstein veranschaulicht, die anhand des Chuppasteins aus Jochsberg aus dem Landkreis Ansbach die Hintergründe historischer Hochzeitszeremonien in jüdischen Landgemeinden aufzeigt. Martina Bauernfeind beschließt die Reihe historischer Forschungsarbeiten mit einem Beitrag über die Entstehung des Nürnberger Künstlerhauses unter Oberbürgermeister Georg Ritter von Schuh mithilfe von Stiftungen jüdischer Unternehmer zu Beginn des 20. Jahrhunderts und fächert den Umgang mit dem jüdischen Erbe nach 1945 auf.
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Nadja Bennewitz, Gesa Büchert, Mona Kilau
Die Autor:innen dieser Festschrift sind in unterschiedlichen wissenschaftlichen Traditionen verwurzelt. Um dem gerecht zu werden, wurde es den Einzelnen überlassen, in ihren jeweiligen Beiträgen eine geschlechtersensible Sprache oder aber das generische Maskulinum zu verwenden. Alle hier aufgeführten Beiträge wurden in wissenschaftlicher und persönlicher Verbundenheit mit der Jubilarin geschrieben. Hört man auf ihre Kolleginnen und Kollegen, so werden das Wesen und die Arbeit von Charlotte Bühl-Gramer als inspirierend, instruktiv und bemerkenswert, als geistreich und auch als erfrischend unkonventionell geschildert. Charlotte Bühl-Gramer war und ist uns eine geachtete und geschätzte Vorgesetzte, eine gefragte und stimulierende Gesprächspartnerin und mehr als eine kollegiale Freundin. In diesem Sinne gratulieren wir ihr im Namen aller Autorinnen und Autoren sehr herzlich zu ihrem 60. Geburtstag. Wir freuen uns auf die weitere anregende und kreative Zusammenarbeit mit ihr! Nadja Bennewitz, Gesa Büchert, Mona Kilau Im Herbst 2023
Tabula gratulatoria
Walter Bauernfeind, Nürnberg Martina Bauernfeind, Nürnberg Franka Behrens, Fürth Nadja Bennewitz, Nürnberg Stefan Benz, Bayreuth Philipp Bernhard, Augsburg Patrick Blos, Nürnberg Gesa Büchert, Nürnberg Susanne Bühl, Würzburg Enno Bünz, Leipzig Hannes Burkhardt, Flensburg Uwe Danker, Flensburg Simone Derix, Erlangen Michael Diefenbacher, Nürnberg Günter Dippold, Bamberg Sandra Engelhardt, Nürnberg Daniela F. Eisenstein, Fürth Elisabeth Erdmann, Merzhausen Thomas Eser, Nürnberg Monika Fenn, Potsdam Andreas Fischer, Erlangen Wiltrud Fischer-Pache, Nürnberg Bert Freyberger, Bamberg Gunther Friedrich, Nürnberg Michael Frieser, Nürnberg Uli Glaser, Nürnberg Axel Gotthard, Erlangen Christine Grieb, Regensburg Siegfried Grillmeyer, Nürnberg Christoph Gunkel, Erlangen Heike Hessenauer, Nürnberg Claudia Huber, Eckental Julia Jacumet, Nürnberg Anke John, Jena Eva Kaindl, Herzogenaurach Alfons Kenkmann, Leipzig
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Tabula gratulatoria
Mona Kilau, Fürth Kathrin Klausmeier, Leipzig Johannes Knoblach, Herzogenaurach Marlene Krause, Cadolzburg Christian Kuchler, Aachen Julia Lehner, Nürnberg Walter Leitmeier, Nürnberg Claudia Leitzmann-Glaser, Nürnberg Peter Löw, Nürnberg Jessica Mack-Andrick, Nürnberg Elke Mahler, Nürnberg Herbert May, Bad Windsheim Josef Memminger, Frankfurt/Main Rainer Mertens, Nürnberg Magdalena Michalak, Nürnberg Andreas Michler, Passau Johannes Möhler, Nürnberg Gabriele Moritz, Nürnberg Martin Neupert, Nürnberg Arnold Otto, Nürnberg Sven Pflefka, Bamberg Christine Pflüger, Kassel Susanne Popp, Augsburg Barbara Raub, Hersbruck Richard Rongstock, Nürnberg Mathias Rösch, Nürnberg Christine Sauer, Nürnberg Michael Sauer, Göttingen Susanne Schiller, Nürnberg Alexander Schmidt, Nürnberg Martin Schramm, Fürth Christine Schubert, Aurach Jan-Christoph Schubert, Nürnberg Jutta Schumann, Augsburg Astrid Schwabe, Flensburg Georg Seiderer, Erlangen Robert Simon, Fürth Leonard Stöcklein, Nürnberg Matthias Stubenvoll, Nürnberg Martina Switalski, Eckental Alexander Tittmann, Würzburg
Tabula gratulatoria
Christof Trepesch, Augsburg Christoph Uebelein, Nürnberg Sabine Ullmann, Eichstätt Johan van Soeren, Nürnberg Thomas Viewegh, Nürnberg Clemens Wachter, Erlangen Hans-Joachim Wagner, Nürnberg Helen Wagner, Erlangen Karin Weinzierl, Nürnberg Claudia Wiegleb, Nürnberg Heike Wolter, Regensburg Katja Zapf, Erlangen Gabriel Zeilinger, Erlangen Siegfried Zelnhefer, Nürnberg Benedikt Ziegler, Fürth
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Abkürzungen
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Archiv des Erzbistums Bamberg Aus Politik und Zeitgeschichte Bayerisches Hauptstaatsarchiv Bildung für nachhaltige Entwicklung Bibliothèque nationale et universitaire, Straßburg Euro Erlanger Nachrichten Einheitliche Prüfungsanforderungen in der Abiturprüfung Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Gulden Rheinische Gulden Fränkische Tagespost Germanisches Nationalmuseum Geschichte in Wissenschaft und Unterricht Geschichte Lernen Hersbrucker Zeitung Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung München Jahrgang Jahrgangsstufe Jahrhundert Konferenz für Geschichtsdidaktik Kultusministerkonferenz Kunst- und Kulturpädagogisches Zentrum der Museen in Nürnberg Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Ludwig-Maximilians-Universität München Millionen Monumenta Germaniae Historica Mittelbayerische Zeitung Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg Nürnberger Nachrichten Nürnberger Zeitung ohne Jahr Österreichisches Biographisches Lexikon Sustainable Development Goals Staatsarchiv Bamberg Stadtarchiv Erlangen
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Abkürzungen
StadtAN StadtAOff StadtMus StAL StAN SZ taz UAE u. ä. u. ö. VHD VVN ZfGD
Stadtarchiv Nürnberg Stadtarchiv Offenburg Museen der Stadt Nürnberg Staatsarchiv Leipzig Staatsarchiv Nürnberg Süddeutsche Zeitung die tageszeitung Universitätsarchiv Erlangen und ähnliches und öfter Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes Zeitschrift für Geschichtsdidaktik
Geschichtskultur
Susanne Popp
„Alles, was du wissen musst“ Erklärvideos als Repräsentanten einer „Geschichtskultur2go“ Gut erklären zu können, diese Fähigkeit zählt zu den wichtigsten professionellen Kompetenzen von Lehrer:innen,1 und auch Schüler:innen sehen darin ein essenzielles Merkmal einer guten Lehrerin bzw. eines guten Lehrers – zumindest nach Maßgabe der Kommentare von User:innen geschichtsbezogener Erklärvideos in YouTube.2 Nimmt man an, dass diese Kommentare nicht sämtlich fingiert sind, dann werden seit einigen Jahren die besten Noten für gutes Erklären geschichtlicher Sachverhalte an den Presenter Mirko Drotschmann (*1983) vergeben, der im Kanal „MrWissen2go Geschichte“3 durchschnittlich ein neues Video pro Woche einstellt. Nicht selten verbinden die Kommentator:innen ihr Lob für die als herausragend empfundene „Erklärqualität“ der Geschichtsvideos dieses Kanals mit abwertenden Bemerkungen über den erlebten schulischen Geschichtsunterricht. Dabei gilt die Begeisterung der Schüler:innen einem Instruktionsformat, das strukturell dem in Fachdidaktik und Lehrer:innenausbildung weitgehend verpönten „Frontalunterricht“4 entspricht: wie dieser stützen sich die Erklärvideos zentral auf einen monologischen Lehrvortrag.
1 Die COACTIV-Studie (2011), die zwar auf Mathematik-Lehrkräfte Bezug nahm, deren Ergebnisse aber auf den Schulunterricht im Allgemeinen verweisen, konnte aufzeigen, dass die Fähigkeit, das Fachwissen den Schüler:innen gut zugänglich zu machen, die für die kognitive Aktivierung der Lernenden wichtigste professionelle Teilkompetenz von Lehrkräften darstellt. Vgl. Kunter, Mareike et al. (Hg.): Professionelle Kompetenz von Lehrkräften. Ergebnisse des Forschungsprogramms COACTIV, Münster 2011. 2 Der Forschungsliteratur zum „guten Geschichtsunterricht“ sind keine expliziten Befunde zur Bedeutung zu entnehmen, die Schüler:innen speziell der Fähigkeit einer Geschichtslehrkraft zuschreiben, gut erklären zu können. Vgl. zur Thematik des „guten Geschichtsunterrichts“ aus Schülersicht die neue empirische Studie Nientied, Isabelle: Guter Geschichtsunterricht aus Schülersicht. Eine empirische Studie zu subjektiven Qualitätskonzepten von historischem Lehren und Lernen in der Schule, Berlin 2021. 3 Der Kanal „MrWissen2go Geschichte“ ist der erfolgreichste Geschichtskanal unter den deutschsprachigen Anbietern und hatte Ende 2022 rund 1,2 Millionen Abonnent:innen sowie etwa 300 Videos im Angebot. Vgl. https://www.YouTube.com/c/MrWissen2goGeschichte/about (12.01.2023). 4 Vgl. aber Gudjons, Herbert: Frontalunterricht – neu entdeckt. Integration in offene Unterrichtsformen, Bad Heilbrunn 2021, besonders das 3. Kapitel: „Vorteile und didaktische Funktionen – oder: ‚Warum ist Frontalunterricht so schön?‘“, S. 39–146.
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Susanne Popp
Die geschichtsbezogenen „MrWissen2go“-Erklärvideos5 wenden sich offiziell an Jugendliche und junge Erwachsene und insbesondere Schüler:innen,6 adressieren aber ein weitaus breiteres (Laien-)Publikum. Denn die erklärte Zielsetzung, Erklärhilfen für Schüler:innen anzubieten, signalisiert einen niedrigschwelligen Zugang, der für viele geschichtsinteressierte Laien-User:innen jenseits des Schulalters attraktiv sein kann. Dabei stellt jedoch der schulische Geschichtsunterricht die entscheidende Bezugsgröße und Ressource für die mediale Popularität dieses und ähnlicher Kanäle dar. Denn sowohl die Auswahl der Geschichtsthemen als auch das die Glaubwürdigkeit begründende Postulat, inhaltlich relevantes sowie sachlich-fachlich fundiertes und korrektes Wissen zu vermitteln, berufen sich implizit auf die Autorität des Geschichtsunterrichts als gesellschaftlich anerkannter Institution für die Vermittlung validen und bedeutsamen Geschichtswissens. Dass Schüler:innen auf Nachhilfeunterricht oder auf spezielle Literatur zur Prüfungsvorbereitung, z. B. Abitur, zurückgreifen, um ihre Schulleistungen zu verbessern, ist nichts Neues. Das Phänomen der Erklärvideos unterscheidet sich davon erheblich sowohl durch die Online-Präsenz, d. h. die permanente und oft kostenfreie Verfügbarkeit, als auch die hohe Zahl an Aufrufen. Die Schüler:innen bilden dabei nicht nur die größte Gruppe der User:innen, sondern sie nutzen das Angebot auch sehr häufig mit der konkreten Zielsetzung, sich die dargebotenen Informationen für die Verwendung im Geschichtsunterricht anzueignen.7 Sehr deutlich zeigt sich die Relevanz dieses Online-Formats in der JIM-Studie von 2019. Die Befragung von Schüler:innen ergab, dass diese bei Informationsrecherchen am häufigsten auf Suchmaschinen (Google) (87 %) und bereits am zweithäufigsten auf YouTube-Videoclips (54 %) zurückgreifen. Online-Enzyklopädien (z. B. Wikipedia) (ca. 30 %) stehen nur an 3. Stelle.8
5 Der Kanal „MrWissen2go Geschichte“ ist Teil des Kanalverbunds „MrWissen2go“, der von „funk“, einem Online-Content-Netzwerk der ARD und des ZDF, für die Zielgruppe der „14- bis 29-Jährigen“ betrieben wird. Vgl. https://www.funk.net/funk (12.01.2023). Ab Beginn des Jahres 2023 wird dieser Wissenskanal allerdings von ZDF/Terra X angeboten. Vgl. https://www.YouTube.com/@MrWissen2goGeschichte/about (12.01.2023). 6 Vgl. z.B. die Playlist von „MrWissen2go Geschichte: „Schule – alles für die 1+ in Geschichte“: https:// www.YouTube.com/playlist?list=PLAo_j4319gfybq_ZtuEHG4ovJJUQsVGv3 (12.01.2023). 7 Vgl. Rat für Kulturelle Bildung e.V. (Hg.): Jugend/YouTube/Kulturelle Bildung. Horizont 2019, Essen 2019. Online: https://www.rat-kulturelle-bildung.de/fileadmin/user_upload/pdf/Studie_YouTube_ Webversion_final_2.pdf (12.12.2022). – Dieser Studie zufolge, die nicht nach Schulfächern differenziert, erklärt nahezu die Hälfte (47 %) der befragten 12- bis 19-jährigen Schüler:innen, die YouTube nutzen, die Videos dieser Plattform seien „wichtig“ oder „sehr wichtig“ für Schulbelange (vgl. Ders.: Jugend, S. 8, 28). 8 mpfs – Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (Hg.): JIM-Studie 2019. Jugend, Information, Medien. Basisuntersuchung zum Medienumgang 12- bis 19-Jähriger, Stuttgart 2020, S. 41. Vgl. auch die aktuelle JIM-Studie von 2022, die jedoch auf die hier angesprochene Frage nicht eingeht:
„Alles, was du wissen musst“
Angesichts dieser Trends stellen Online-Tutorials zu geschichtlichen Themen – anders als etwa Printmedien zum „Abiturwissen“9 – keinesfalls eine auf einen Nischenmarkt für „Schul- und Prüfungswissen“ beschränkte Randerscheinung der wissensvermittelnden Sparte der Geschichtskultur dar. Vielmehr müssen sie aufgrund ihrer Popularität (z. B. Abonnementzahlen) als integrale Bestandteile sowohl der populären Geschichtskultur10 (abhängig von der Definition: auch der Public History11 ) als auch des Geschichtsunterrichts betrachtet werden. In der Schule hat der Distanzunterricht während der COVID-19- Pandemie den Trend zu Erklärvideos zusätzlich verstärkt und die Forcierung digitalen Lernens im Unterricht wird ihn weiter vorantreiben. Vor diesem Hintergrund setzt sich der folgende Beitrag aus geschichtsdidaktischer Perspektive mit geschichtsbezogenen Erklärvideos als Teil der Geschichtskultur und des Geschichtsunterrichts auseinander. Auf eine begriffliche Abgrenzung folgt die systematische Einordnung der Online-Erklärvideos in die sozialkonstruktivistische Matrix der Geschichtskultur.12 Daran schließen sich Erläuterungen zu den „Drotschmann-Videos“ an, die wegen ihrer Popularität besondere Aufmerksamkeit verdienen, sowie eine Auseinandersetzung mit dem Konzept des Erklärens in geschichtsbezogenen Erklärvideos. Den Abschluss bildet ein Ausblick, der vorschlägt, die Erklärvideos von „Mr Wissen 2go“ in einen medial bedingten geschichtskulturellen Wandel in Richtung einer Kultur des „Wissenskonsums2go“ einzuordnen.
1.
Erklärvideos geschichtskulturell betrachtet
Unter „Erklär-“ oder „Lernvideos“13 (englisch oft: „online tutorials“) versteht man ein Format der massenmedialen Wissens- oder Wissenschaftskommunikation, das
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Ders.: JIM-Studie 2022: https://www.mpfs.de/fileadmin/files/Studien/JIM/2022/JIM_2022_Web_ final.pdf (23.01.2023). Vgl. als beliebiges Beispiel: Ehm, Matthias et al.: STARK Prüfungswissen Geschichte, München 2022. Vgl. Popp, Susanne/Schumann, Jutta (Hg.): Geschichtsmagazine und Wissensvermittlung – eine geschichtsdidaktische Perspektive, in: Popp, Susanne et al. (Hg.): Populäre Geschichtsmagazine in internationaler Perspektive. Interdisziplinäre Zugriffe und ausgewählte Fallbeispiele, Frankfurt a. M. 2016, S. 27–52. Vgl. Bunnenberg, Christian/Steffen, Nils (Hg.): Geschichte auf YouTube. Neue Herausforderungen für Geschichtsvermittlung und historische Bildung, Berlin/Boston 2019. Vgl. Schönemann, Bernd: Geschichtsdidaktik und Geschichtskultur, in: Ders./Mütter, Bernd/ Uffelmann, Uwe (Hg.): Geschichtskultur. Theorie – Empirie – Pragmatik. Weingarten 2000, S. 26–58. Die beiden Begriffe werden oft synonym verwendet, wobei der Begriff „Erklärvideo“ inzwischen häufiger gebraucht wird.
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auf Videoplattformen14 bzw. in Videokanälen als informelles digitales Bildungsangebot präsentiert und kostenpflichtig oder kostenlos zur Verfügung gestellt wird. Es handelt sich um Kurzvorträge, bei denen Online-Presenter:innen sich entweder im Bild zeigen oder aus dem Off sprechen und in wenigen Minuten eine Sachdarstellung geben, die in unterschiedlichen Graden, Formen und Funktionen multimodal von Text-, Ton- und Bild-Elementen unterstützt wird, darunter auch gezeichnete Inhalte, Real-Bilder oder Videosequenzen sowie auch 3D-Elemente. Zumeist ist – in markantem Unterschied zum Printwesen – nicht erkennbar, wer die Autorschaft an den vorgetragenen Texten hat. Die User:innen gehen in der Regel davon aus,15 dass die Person, die präsentiert, auch die Urheberschaft am dargebotenen Text habe, was in der Regel nicht zutreffen dürfte. Innerhalb der Gattung der Kurzvorträge steht das Erklärvideo dem schulischen Lehrvortrag aufgrund seiner didaktischen Intention nahe, dem Publikum durch gezielte Vermittlungsanstrengungen zu einem besseren Verstehen historischer Sachverhalte (z. B. Begriffe, Konzepte, temporale und kausale Zusammenhänge) zu verhelfen. Dabei ist jedoch der Kommunikationsfluss einseitiger als in der Unterrichtssituation, da der oder die Vortragende nicht ad hoc auf beobachtbare Reaktionen des Publikums eingehen kann und die Rezipienten im Anschluss daran keine direkten Fragen stellen können. Die Online-Kanäle bieten nur die bekannten sekundären Partizipationsmöglichkeiten: die User*innen ohne YouTube-Konto können einen Beitrag liken, mit Konto (und Preisgabe ihrer Daten) können sie die einzelnen Videos kommentieren und Fragen stellen, wobei letzteres – vermutlich wegen der Verzögerung der Antwort – zumindest in den Kommentaren zu den Drotschmann-Videos höchst selten geschieht. Ergänzt werden die einzelnen Videos durch informierende Kurztexte („Teaser“) sowie durch die Bereitstellung von Abonnement- und Aufrufzahlen sowie von publizierten Kommentaren. Diese Informationen werden von den User*innen oftmals unkritisch als Hinweise auf die Qualität eines Beitrags interpretiert und als Orientierungshilfe bei der Auswahl der Videos herangezogen. Darüber hinaus besteht immer häufiger die – für die innere Differenzierung im Geschichtsunterricht interessante – Möglichkeit, deutsche und bisweilen auch fremdsprachliche Untertitel einzublenden oder auch das Transkript des gesprochenen Textes anzusehen und auszudrucken. Die Verfügbarkeit von – teilweise auch deutschen16 – Untertiteln
14 YouTube ist nicht die einzige Plattform für Videoclips, für diesen Zusammenhang jedoch mit Abstand die wichtigste. 15 Dies bestätigten die Studierenden mehrerer geschichtsdidaktischer Seminare, die die Verf.in zum Thema „Erklärvideo“ abgehalten hat. 16 Vgl. z.B. CrashCourse: The Industrial Revolution. Crash Course European History #24, 2019: https:// www.YouTube.com/watch?v=zjK7PWmRRyg (12.12.2022). Hier können automatisch übersetzte Untertitel in rund 30 Sprachen angewählt werden.
„Alles, was du wissen musst“
bei fremdsprachlichen Videos erleichtert zudem die unterrichtliche Einbeziehung von Geschichtsvideos aus anderen Ländern. Nicht die Regel hingegen – und bei Drotschmann immer noch eine höchst seltene Ausnahme – sind Nachweise der im Video verwendeten historischen Quellen und Darstellungen, Angaben zur genutzten Fachliteratur sowie zu weiterführender Lektüre. Diese Leerstelle ist ein typisches Merkmal für weite Bereiche der populären Geschichtskultur, die das Laienpublikum so niedrigschwellig wie möglich ansprechen will und daher auf Fußnoten und bibliographische Angaben verzichtet, weil diese Merkmale als Ausdruck eines wissenschaftlichen Habitus gelten und abschreckend auf das Zielpublikum wirken könnten. Mit dieser Strategie bewahrt die populäre Geschichtskultur ihren Rezipient:innen die alltagsweltlich-laienhafte und meist auch willkommene Illusion, die dargebotenen Geschichten stellten Vergangenes so dar, „wie es eigentlich gewesen“17 sei. Bezieht man das Phänomen geschichtsbezogener Erklärvideos auf die vier sozialkonstruktivistischen Dimensionen – institutionell, professionell, medial, adressatenbezogen – der bereits erwähnten Matrix der Geschichtskultur,18 dann kann man spezifische Merkmale dieses Online-Formats deutlicher fassen, vor allem im Hinblick auf die institutionelle und die professionelle Dimension. Bekanntlich folgen Videoplattformen im Sinne des Web 2.0 dem Ideal der uneingeschränkten Partizipation: User:innen produzieren für User:innen, vernetzen sich und lassen eine nahezu unbegrenzte Bandbreite an Themen und Darstellungsformen entstehen, die von wie immer auch qualifizierten und positionierten Autor:innen eingestellt werden können. Damit geht oft ein salopp-informeller Kommunikationsstil einher. Im Hinblick auf die von Schönemann angesprochene institutionelle und professionelle Dimension der Geschichtskultur zeigt sich, dass die prinzipiell unbegrenzte Freiheit für jede und jeden, eigene historische Darstellungen als Videobeiträge auf Plattformen einzustellen, jene traditionellen Kontrollfunktionen außer Kraft setzt, die mit der institutionellen und professionellen Rahmung geschichtskultureller Produktionen und Präsentationen verbunden sind. Insbesondere betrifft dies die Kontrollfunktion der traditionellen Gatekeeper der öffentlichen Kommunikation (z. B. Verlags-, Presse-, Rundfunk-Redaktionen) über die zu distribuierenden historischen und geschichtskulturellen Diskurse. Dies erschien in der anfänglichen Euphorie über die erweiterten Chancen, die „user generated contents“ für die demokratische Partizipation an der öffentlichen Kommunikation eröffneten, keineswegs als Problem – ganz im Gegenteil. Mittlerweile
17 Ranke, Leopold von: Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1514. Vorrede, in: Ders.: Sämtliche Werke, Bd. 33/34: Geschichten der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1514, Leipzig 1874 [1824], S. V–VIII, hier S. VI. Online: https://archive.org/ details/geschichtenderro00rank/page/n9/mode/2up (12.12.2022). 18 Vgl. Schönemann: Geschichtsdidaktik, S. 44–47.
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wird die Aussetzung der traditionellen Gatekeeping-Funktionen – hier verstanden nicht im Sinne von Zensur, sondern im Interesse von Wissenschaftsorientierung, Transparenz und Faktentreue – in den Social Media im Allgemeinen und besonders im Hinblick auf historische Diskurse allgemein mit Sorge betrachtet.19 Das politisch-ideologische Potenzial des „Missbrauchs von Geschichte“ im Internet für manipulative Zwecke, vor allem oft auch personalisiert distribuierte Desinformation, ist längst als ernstzunehmende Herausforderung für demokratisch-partizipative Gesellschaften erkannt worden.20 Hinzu kam die programmatisch forcierte Propagierung des Rechts auf „postfaktische Wahrheiten“21 in Teilbereichen der sozialen Medien. In so genannten Filterblasen und Echokammern finden sich Communities zu einem Austausch zusammen, der ausschließlich der wechselseitigen Bestätigung vorgefasster Meinungen als „Wahrheit“ und der Immunisierung der gemeinsamen Auffassungen gegen kritische Prüfung und Einwände dient, oft verbunden mit hemmungsloser Diffamierung von Vertreter:innen der bekämpften Positionen. Insgesamt wurde deutlich, dass die weitgehende Schwächung traditioneller Kontrollmechanismen in der medialen Geschichtskultur nicht hinreichend durch neue Regulative aufgefangen werden kann. Vielmehr steigen die Anforderungen an die allgemeine und geschichtsbezogene Medienkompetenz im digitalen Bereich signifikant.22 Einerseits lösten sich im System der „user generated contents“ traditionelle Bindungen an bestimmte Institutionen und Professionen der Geschichtskultur auf, andererseits bildeten sich auch neue Strukturen heraus. Im Zuge der globalen Erfolgsgeschichte von Videoplattformen entstanden „professionally generated“ Kanäle, die in ihrer weit überwiegenden Zahl kommerzielle Interessen verfolgen, indem sie sich den Bedingungen des Online-Werbemarktes unterwerfen (z. B. Markenbindung).23 Des Weiteren betreiben viele traditionelle geschichtskulturelle
19 Vgl. z. B. zum Einfluss des Digitalen auf den historischen Diskurs: Steinhauer, Jason: History, disrupted. How social media and the world wide web have changed the past, Cham (CH) 2022. 20 Die Verantwortung der Social Media-Betreiber in Bezug auf die kommunizierten Inhalte wird entsprechend breit diskutiert. Vgl. dazu z. B. Spiecker Döhmann, Indra et al. (Hg.): Demokratie und Öffentlichkeit im 21. Jahrhundert. Zur Macht des Digitalen, Baden-Baden 2022. – YouTube wird hier zu den Social Media gerechnet, weil es zwar nicht ausschließlich, aber doch auch wesentlich um den Aufbau von Communities geht. 21 Vgl. hierzu z. B. McIntyre, Lee: Post-Truth, Cambridge, London 2018. Hier wird auch der Zusammenhang von „Fake News“ und WWW bzw. Social Media erörtert. 22 Vgl. z. B. Bernsen, Daniel/Kerber, Ulf: Praxishandbuch historisches Lernen und Medienbildung im digitalen Zeitalter, Bonn 2017 (Lizenzausgabe der Bundeszentrale für politische Bildung). 23 Bereits 2007 führte YouTube ein besonderes Programm ein, welches Betreibern von Videokanälen die Möglichkeit bietet, mit hochgeladenen Videos Geld zu verdienen. Vgl. https://support.google. com/YouTube/answer/72857?hl=de (12.01.2023).
„Alles, was du wissen musst“
Institutionen, wie z. B. Universitäten, Museen, Archive oder politische Körperschaften, inzwischen eigene Kanäle, um bestimmte Publika anzusprechen. Je nach dem kulturellen und wissenschaftlichen Anspruch der Einrichtung kontrollieren diese dann die inhaltliche Qualität ihres Online-Angebots und verfolgen in der Regel auch keine kommerziellen Interessen (z. B. Werbeinnahmen, Adress- bzw. Datenhandel). Zu dieser Gruppe gehört auch der werbefreie YouTube-Kanal „MrWissen2go Geschichte“, der dem von den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten ARD und ZDF betriebenen deutschen Online-Content-Netzwerks „funk“ angehört.24 Im Hinblick auf die mediale und adressatenbezogene Dimension der Geschichtskultur-Matrix sind die Vermittlungsformen der geschichtsbezogenen Erklärvideos durch die Strukturen des Online-Medienangebots bestimmt. Es dominiert der Typus der monologischen, multimedial unterstützten informativen Rede. Für viele Erklärvideos, besonders auch die „Drotschmann-Videos“, ist das Bemühen um „Kommunikation auf Augenhöhe“ charakteristisch. Der Eindruck einer „Belehrung von oben“ wird strikt vermieden, vielmehr unterstreicht man performativ, dass das Wissensgefälle keine Status- oder Rollendifferenz impliziere. So betont Drotschmanns Selbstinszenierung die sozialen Beziehungsaspekte der Anteilnahme und Empathie (Verständnis für die Nöte der Schüler:innen, kameradschaftliche Unterstützung bei der Bewältigung schulischer Anforderungen) und achtet sehr darauf, eine positive Grundstimmung (Ermunterung, Zuversicht, lockerer Stil) zu vermitteln. Dass gerade diese Videos so viel Anklang bei einem jungen Publikum finden, liegt, so der Eindruck, den die Kommentare hinterlassen, wesentlich auch an der sozialen Nähe, die daraus entsteht, dass der Presenter permanent sichtbar ist und insgesamt als jugendlich und lässig-„cool“ wahrgenommen wird.
2.
Was „erklären“ die Videos von „MrWissen2go Geschichte“?
Die Abonnentenzahlen des Kanals „MrWissen2go Geschichte“ lassen keinen Zweifel an der Attraktivität dieses Angebots der massenmedialen Wissensvermittlung zu historischen Themen und Inhalten für Schüler:innen und teilweise auch Student:innen25 . Dieser Befund konvergiert mit der bereits erwähnten Feststellung der JIM-Studie, dass die Videoplattform YouTube am zweithäufigsten genutzt wird,
24 Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Funk_(Medienangebot) (12.12.2022). 25 In einer Interview-Studie mit Studierenden für das Lehramt Geschichte gaben diese mehrheitlich an, sich im Studium fallweise auch mit Hilfe von Erklärvideos über historische Inhalte zu informieren. Vgl. Popp, Susanne: Geschichtsbezogene Erklärvideos. Überlegungen und Beobachtungen aus geschichtsdidaktischer Perspektive, in: Matthes, Eva/Siegel, Stefan T./Heiland, Thomas (Hg.):
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wenn Jugendliche Informationen zu historischen Themen suchen. Die Kommentare zu den Videos wiederum belegen, dass es – neben den Sympathiewerten des Presenters – tatsächlich die „Erklärqualität“ ist, die sehr gut bewertet und als wesentlicher Grund für die Nutzung dieses Online-Formats eingestuft wird. Daher lohnt es sich, zu fragen, was „Erklären“ in Bezug auf diese geschichtsbezogenen Videos bedeutet. Wählt man als beliebiges Beispiel das Video „Renaissance und Humanismus“26 , stellt man rasch fest, dass dieser achteinhalbminütige Vortrag, der rund 1700 Wörter27 umfasst, sich im Wesentlichen auf eine – nicht weiter begründete – Auswahl von Informationen beschränkt, die in jedem einbändigen Konversationslexikon zum Lemma „Renaissance“28 zu finden sind. Das bedeutet, dass vor allem deklaratives Wissen auf der Ebene der Fragen nach „Was?“ und „Wer?“ geboten wird. Historische Warum-Fragen, die auf die Erklärung chronologisch-kausaler Zusammenhänge zielen, sind – wie auch in knappen Lexikon-Beiträgen – zwar nicht ausgeklammert, treten aber auch nicht sehr häufig auf. Formuliert man diesen Befund in geschichtsdidaktischer Perspektive, so räumen diese Videos – das gewählte Beispiel ist diesbezüglich ebenso repräsentativ wie typisch – weder den fachspezifischen Konzepten des historischen Wandels, wie z. B. dem Beschreiben und Erklären von historischen Ursachen und Folgen sowie von Kontinuität und Wandel, und erst recht nicht dem als genuin fachspezifisch geltenden Konzept des Erklärens, dem „narrativen Erklären“29 , einen geschichtsdidaktisch adäquaten Stellenwert ein. Das ist insofern bemerkenswert, als die Kommentator:innen niemals den Vorwurf äußern, der oft von geschichtsdidaktischer Seite gegenüber der Vermittlung deklarativen Wissens geltend gemacht wird, es gehe hierbei nur um Namen, Daten und Fakten. Vielmehr erklären sie, dass
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Lehrvideos – das Bildungsmedium der Zukunft? Erziehungswissenschaftliche und fachdidaktische Perspektiven, Bad Heilbrunn 2021, S. 168–180. Vgl. Funk: Renaissance und Humanismus, in: musstewissen Geschichte, 25.05.2017: https://www. YouTube.com/watch?v=3OnTUTuqC_4 (12.12.2022). – Der Kanal „musstewissen“, in dem Drotschmann dieses Video präsentierte, ist inzwischen in „MrWissen2go Geschichte/Terra X“ integriert worden. Vgl. das Transkript in Ders.: Renaissance. – Zum Vergleich: Die Texte der deutschen WikipediaEinträge zu den Lemmata „Renaissance“ und „Humanismus“ umfassen zusammen rund 20.000 Wörter. Das im Video-Titel angekündigte Thema „Humanismus“ wird in weniger als einer Minute abgehandelt. Vgl. Ders.: Renaissance, 8. Minute. Vor allem Jörn Rüsen erklärte, mit Referenz auf Arthur C. Danto, das „narrative Erklären“ zur genuin fachspezifischen Form des historischen Erklärens: „Das Erzählen der Geschichte ist selber ein Vorgang des Erklärens. Spezifisch historische ‚Erklärungen‘ sind narrative Erklärungen.“ (Rüsen, Jörn: Grundzüge einer Historik. Bd. 2: Rekonstruktion der Vergangenheit. Die Prinzipien der historischen Forschung, Göttingen 1986, S. 35).
„Alles, was du wissen musst“
sie das Thema nun endlich „verstehen“ und in unterrichtlichen Leistungssituationen (z. B. Prüfungen, Referate) auch erfolgreich anwenden könnten. Der Erklärbegriff der Geschichtsvideos von Drotschmann und anderen Kanälen ist kein spezifisch geschichtsdidaktischer, sondern ein alltagsweltlicher, dessen Bedeutungsvielfalt bereits daraus ersichtlich wird, dass der Duden insgesamt 95 Synonyme aufführt.30 Die Erklärhandlungen der Geschichtsvideos verfolgen insgesamt das Ziel, den Adressat:innen, die unzureichendes, unscharfes oder unsicheres Wissen über den Gegenstand der Erklärung haben bzw. zu haben meinen, (mehr) „Klarheit“ zu verschaffen. Dazu erläutern die Videos in der Regel die zentralen Merkmale eines Begriffs oder Konzepts und jene Zusammenhänge, die für das Explanandum konstitutiv sind.31 Nun kann man spekulieren, ob der hohe Zuspruch zu den „DrotschmannVideos“ und zu YouTube-Geschichtsvideos im Allgemeinen möglicherweise auf Defizite des Geschichtsunterrichts hindeutet. Könnte es sein, dass gerade das grundlegende deklarative Wissen über einen historischen Gegenstand, das als Ausgangspunkt für anspruchsvollere Aufgabenstellungen dienen muss, nicht hinreichend deutlich umrissen und nachhaltig genug vermittelt wird? Oder liegt es an den Schüler:innen, die sich im Unterricht nicht richtig konzentrieren und daher Lücken im Sachverständnis erst bemerken, wenn sie sich auf Prüfungen oder Präsentationen vorbereiten? Diesen Fragen sollte empirisch nachgegangen werden, doch im Vordergrund steht zunächst ein anderer – gewissermaßen geschichtskultureller – Aspekt. Drotschmann beginnt das Video „Renaissance und Humanismus“ mit folgender Ankündigung: „In diesem Video erkläre ich euch die fünf wichtigsten Fakten über die Zeit der Renaissance. Wir klären zum Beispiel, was sich im Vergleich zum Mittelalter ändert, welches neue Bild sich Künstler von Menschen machen und was es mit dem Humanismus auf sich hat. Eben alles, was du wissen musst.“ (Min. 0.00–0.13)32 . Diese Eröffnung ist typisch für alle Videos dieses Presenters. Mit der Konkretisierung der „fünf wichtigsten Fakten“ verspricht Drotschmann seinem Publikum einen strukturierten, übersichtlichen und bündigen Vortrag, der sich strikt auf die zentralen Aspekte des Themas beschränkt, so dass die Zuhörerschaft sich nicht der Aufgabe unterziehen muss, selbst zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem zu unterscheiden. Die Rhetorik der „fünf Fakten“ vermittelt den User:innen die ermutigende und motivierende Botschaft, dass sie zuversichtlich
30 Vgl. Duden: https://www.duden.de/suchen/synonyme/erk l%C3%A4ren (12.01.2023). 31 Vgl. hierzu die beiden instruktiven Aufsätze in Vogt, Rüdiger (Hg.): Erklären. Gesprächsanalytische und fachdidaktische Perspektiven, Tübingen 2 2016: Klein, Josef: ERKLÄREN-WAS, ERKLÄRENWIE, ERKLÄREN-WARUM. Typologie und Komplexität zentraler Akte der Welterschließung, S. 25–36 und Wenzel, Birgit: Geschichte erklären, S. 169–188. 32 Vgl. das Transkript von Funk: Renaissance.
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sein dürfen, mit diesem Video ihre „Verstehenslücken“ in kürzester Zeit erfolgreich zu schließen. Der Begriff der „Fakten“ hingegen zielt darauf, den Adressat:innen die benötigte Sicherheit in Bezug auf die Validität, Objektivität und Korrektheit der dargebotenen Inhalte zu bieten. Beide Aspekte unterstreichen gemeinsam den Eindruck einer über alle Zweifel erhabenen professionellen Expertise des Presenters, der seine Glaubwürdigkeit noch dadurch verstärkt, dass er stets durchgängig in Frontalansicht zu sehen ist, was die Assoziation einer Lehrkraft im Klassenzimmer aufruft. Das Versprechen, den User:innen die „fünf wichtigsten Fakten“ des Themas zu präsentieren, eröffnet noch einen weiteren, wichtigen semantischen Inhalt des Begriffs „erklären“. Denn Drotschmann befasst sich nicht nur mit dem historischen Thema selbst, sondern erläutert, auf einer Metaebene, auch, „was man [darüber] wissen muss“ – um in schulischen Kontexten zu reüssieren. Diese Richtung des Erklärens, die im früheren Kanal-Titel „musstewissen Geschichte“ direkt angesprochen wurde, steht auf der Ebene eines strategischen Wissens in Bezug auf die Erwartungen der Schule, die der Presenter genau zu kennen vorgibt – und die den Schüler:innen oft unklar sind. Diesen werden nicht nur die (angeblich) „fünf wichtigsten Fakten“ zu Renaissance und Humanismus erläutert, sondern sie werden auch darüber informiert, welches Wissen in der Schule „zählt“. Sie erhalten gleichsam „Experten-Tipps“, mit welchen Wissensmengen sie in der Schule am besten bestehen oder auch „durchkommen“ können. Das historische Lernen um der Sache und um der historischen Bildung willen liegt in dieser pragmatisch-utilitaristischen Perspektive weit außerhalb des Blickfelds. Der Modus des „Erklärens“ als Nennen von erfolgsversprechenden Strategien („erklären, gewusst wie“) ist einerseits nichts Neues. Andererseits reflektiert die massenhafte mediale Präsenz von Ratgeberliteratur in Form von „Besten-“ bzw. Rankinglisten für viele Bereiche von Konsum, Kultur und Lebensführung die enorm gestiegenen Herausforderungen, die mit dem Überfluss an Informationen im Internet verbunden sind. Dies gilt auch für historische Themen. Haben die nichtprofessionellen User:innen weder die Zeit noch den Überblick, die Fülle der unterschiedlichen, oft auch divergierenden Informationen kompetent zu vergleichen und richtig einzuschätzen, dann entsteht Überforderung sowohl auf der sachlich-inhaltlichen Ebene als auch im Verhältnis von Zeit, Aufwand und Ergebnis. Hier ordnen sich die populären „Ranking-Listen“ (z. B. „die fünf Sehenswürdigkeiten, die man in XY besucht haben muss“), aber auch Drotschmanns „fünf wichtigste Fakten“ funktional ein, für die er übrigens ebenso wenig Auswahlkriterien nennt, wie dies für viele andere „Ranking-Listen“ im Internet gilt. Die Videos von „MrWissen2go Geschichte“ vermitteln den User:innen die doppelte Sicherheit, mit ihrem Anliegen bei der „richtigen Stelle“ im Sinne der fachlichen Expertise angekommen zu sein und dort eine sehr zeitökonomische „Lösung“ zu erhalten, die eine
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aufwändige inhaltliche Auseinandersetzung erspart. „Hol dir das Beste aus über 5.500 Sachbüchern in 15 Minuten pro Titel. Für alle, die die Welt verstehen, mehr wissen und mehr können wollen – in weniger Zeit“33 , so wirbt der Referatedienst Blinklist, der zwar Sachbücher auf die wichtigsten Kernaussagen zusammenfasst, aber doch auch in die Richtung einer „historischen Wissenskultur2go“ deutet.
Ausblick Der Begriff des „Wissenskonsums“ ist bisher weder im Duden noch in der geschichtsdidaktischen Reflexion aktueller geschichtskultureller Entwicklungen angekommen. Über das Internet hat jedoch der Trend, fragmentarisches historisches Wissen ad hoc für bestimmte Zwecke „zeitökonomisch“ und „simplifying“ (Komplexitätsreduktion) zu „konsumieren“, auch – wie das Beispiel der geschichtsbezogenen Erklärvideos zeigt – die Geschichtskultur und den Geschichtsunterricht erreicht. Natürlich ist das „Lernen für Noten“ so alt wie die Schule selbst, aber die Ubiquität der Internet-Angebote legt es nahe, die geschichtsbezogenen Erklärvideos – zusammen mit zahlreichen anderen Phänomenen des „simplify-“ und „to go“-Stils – im Konzept einer medialen „Konsumgeschichte des historischen Wissens“ zu verorten und die daraus resultierenden spezifischen Perspektiven für Geschichtsunterricht und Geschichtskultur sorgfältig zu reflektieren.
33 Blinklist: https://www.blinkist.com/de?utm_source=microsoft_ads&utm_medium=paid&utm_ campaign=518082020&utm_content=1323813572762586&utm_term=blinkist_e__c_kwd82739198591954:loc-72_&msclkid=1a6805ea85f51a09b46461ef05ef4420 (12.01.2023.)
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Ein Lied von Migration und Mauer Das Spiel mit der Geschichte in „Game of Thrones“1 Im Sommer 2013 fasste Nadja Schlüter die US-amerikanische Fantasy-Serie „Game of Thrones“ nach Erscheinen der dritten von insgesamt acht Staffeln allein aufgrund von Informationen aus dem Internet so zusammen: Soweit ich weiß[,] geht es um mehrere verfeindete Adelsgeschlechter mit komplizierten Namen und schönen Wappen, die sich Facebook-Nutzer gerne auf T-Shirts drucken wollen. Es gibt eine Menge Konflikte und raue Sitten. Insgesamt ist alles ziemlich zerrüttet und düster und sieht aus wie auf einem Wave-Gothik-Treffen (lange Gewänder, Kutten und Haare, Männer mit viel Bart, Frauen mit Mieder), außerdem trinken alle aus Hörnern und essen mit den Händen. Die Serie ist sehr brutal, viele sagen: ‚archaisch‘.
Im Einklang mit vielen Fans und Wissenschaftler:innen rubriziert Schlüter die Serie als „Mischung aus Fantasy- und Mittelalter-Epos.2 Diese Kategorisierung trägt, gleichwohl ist die Beziehung der Serie zur Geschichte sehr viel komplexer, wie ich in zwei Schritten zeigen werde. So nutzt „Game of Thrones“ nicht nur das Mittelalter als Material, sondern blendet ganz unterschiedliche Zeitschichten der Vergangenheit ineinander, wie ich in einem ersten Schritt kurz resümieren werde. Zudem werden, wie dann zu zeigen sein wird, Geschichte und Geschichtskultur in der dargestellten Welt der Serie große Bedeutung beigemessen. Entsprechend erweist sich „Game of Thrones“ als produktiver Reflexionspunkt für zentrale Fragen der Geschichtswissenschaft: Welche Handlungen und Ereignisse konstituieren Geschichte? Wer sind die Akteur:innen der Geschichte? Inwiefern bestimmen Geschichtsschreibung und -kultur mit darüber, wer als Akteur:in sichtbar wird und welchen Stimmen der Vergangenheit Gehör geschenkt wird?
1 Der Aufsatz ist die gekürzte Fassung der Karl-Hegel-Gedächtnisvorlesung, die ich im November 2018 an der FAU Erlangen-Nürnberg gehalten habe. Der Text hat einen essayistischen Charakter und kann die zahlreiche Literatur, die seither zur Serie erschienen ist – der zugrundeliegende Romanzyklus muss hier ohnehin unbeachtet bleiben –, nur exemplarisch einbeziehen. 2 Nadja Schlüter erzählt „Game of Thrones“, in: jetzt magazin, 14.06.2013.
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1.
Geschichte als Material
Die Serie spielt in einer fiktiven Welt, die sich über zwei Kontinente, Westeros und Essos, erstreckt. Zu Beginn der Serie steht Westeros im Zentrum, wo unterschiedliche Adelshäuser um die Herrschaft ringen. Die Serie beginnt in einer Zeit des umkämpften Wechsels der Herrschaft vom House Baratheon auf das House Lannister. Die darin zum Ausdruck kommenden Konzepte von Macht, Herrschaft und Führung sind vielfach Gegenstand wissenschaftlicher Forschung geworden.3 Zudem ist die Serie wiederholt als Produkt des Mediävalismus identifiziert worden.4 Wenngleich dies impliziert, die klar als Fantasy-Serie markierte Serie als Fiktion zu verstehen, die Geschichte als Material nutzt, besteht ein besonderes Interesse daran, die Bezüge zur realen Geschichte zu prüfen. Ohne Zweifel weckt das materielle Gesamtensemble der Serie – Männer in Rüstungen aus Leder und Metall, Frauen in langen Gewändern, Pferde, Schwerter, Wappen und Standarten – Assoziationen zum Mittelalter, ohne dass die Kostüme und Requisiten tatsächlich auf historischen Vorbildern beruhen müssten. Auch die dargestellten Praktiken bedienen gängige Mittelalterklischees: Gezeigt werden große Feste und Festmähler, Schwertkämpfe, blutige Schlachten und Turniere als spielerische Inszenierung von Gewaltpraktiken. In dieses Bild scheint sich auch die dargestellte gesellschaftliche Ordnung einzufügen, wenn dynastische Clans monarchische Herrschaft stützen und familiale Beziehungen maßgeblich über den Platz des Einzelnen in der Gesellschaft entscheiden. Im Zusammenspiel suggerieren diese Details Realitätsbezüge, ohne sie in jedem Fall konkretisieren zu können. Den Eindruck, dass die dargestellte Welt dem europäischen Mittelalter nachempfunden ist, verstärken die ausgewählten Drehorte, die zugleich auch dazu dienen, die Serienwelt klimatisch zu differenzieren. Szenen im kalten und rauen Norden von Westeros wurden in Island und Irland gedreht, der warme und sonnige Süden dagegen in Spanien und Kroatien inszeniert. Als Kulisse für Winterfell, den Stammsitz der im Norden dominanten Stark-Familie, wurde das nordirische Castle Ward gewählt. Viele Szenen in King’s Landing, der weiter im Süden gelegenen Hauptstadt von Westeros, wie auch Szenen in der Stadt Qarth wurden dagegen in Dubrovnik gedreht. Allen Drehorten gemeinsam ist, dass die gezeigten Kulissen vom Publikum als mittelalterlich gelesen werden, obwohl etwa die ältesten Teile von Castle
3 Vgl. etwa Biehl, Brigitte: Leadership in Game of Thrones, Wiesbaden 2020; Larrington, Carolyne: All Men Must Die. Power and Passion in Game of Thrones, London 2021; Rohr, Zita Eva/ Benz, Lisa (Hg.): Queenship and the Women of Westeros. Female Agency and Advice in Game of Thrones and A Song of Ice and Fire, Cham 2020. 4 Vgl. zum „Medievalism“ der Serie Carroll, Shiloh: Medievalism in „A Song of Ice and Fire“ and „Game of Thrones“, Cambridge 2018; Fitzpatrick, KellyAnn: Neomedievalism, Popular Culture, and the Academy. From Tolkien to Game of Thrones, Cambridge 2019.
Ein Lied von Migration und Mauer
Ward aus dem späten 16. Jahrhundert stammen und Dubrovnik architektonische Spuren aus allen historischen Epochen vereint, was auch in der Serie sichtbar ist. Zusammengenommen erscheint der Bezug zum Mittelalter präsent, aber vage. Auf den ersten Blick scheinen die dargestellten Ereignisse und Figuren sehr viel eindeutiger auf konkrete Vorbilder zu verweisen. Als ein zentrales historisches Vorbild von „Game of Thrones“ gelten die Rosenkriege, ein in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts angesiedelter Konflikt zwischen den englischen Adelshäusern Lancaster und York, als deren Echo die rivalisierenden Adelshäuser Lannister und Stark der Serie gelesen werden. Doch auch die Referenz auf vergangene Figuren und Ereignisse verliert bei näherem Hinsehen ihre Eindeutigkeit. Entsprechend gelten verschiedene Königinnen des Mittelalters als mögliche Vorbilder für die Figur der Cersei, eine der zentralen Frauenfiguren der Serie – von Margarete von Anjou über Eleonore von Aquitanien bis hin zur Merowingerkönigin Brunichild. Bei näherem Hinsehen präsentiert die Serie auch bei den Figuren und den Bezügen zu historischen Gesellschaften und Ethnien eine bunte und transtemporale Bricolage aus Verweisen auf die Kelten, Angelsachsen und Wikinger über die Mongolen bis hin zu den Native Americans, die zum fiktiven Volk der Dothraki amalgamiert werden.5 Dieser Rekurs auf Geschichte als Fundus macht nicht an der Schwelle zur Moderne halt. Der Humanitarismus einer edlen jungen Frau, die in der zweiten Staffel auf dem Schlachtfeld Verwundete versorgt, gemahnt eher an die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts mit der Entstehung der Rotkreuz-Bewegung und des humanitären Völkerrechts als an die Vormoderne. Auch die exponierte Rolle von Freaks6 und Außenseitern, z. B. des kleinwüchsigen Tyrion Lannister oder einer androgynen Frau wie Brienne of Tarth, mutet modern an. Einige der Fantasy-Elemente lassen sich bei näherem Hinsehen ebenfalls als zeithistorische Bezüge deuten, darunter die drei Drachen, mit denen Daenerys Targaryen zur Rückeroberung der Herrschaft über Westeros für ihre Familie ansetzt. Sie lassen sich überzeugend als funktionale Äquivalente zu den Nuklearwaffen des Kalten Krieges deuten. Auch darüber hinaus erscheinen die Problemlagen in „Game of Thrones“ rezent: Das Problem sich erschöpfender Ressourcen, die zentrale Rolle von Banken für die Geschicke aller Gebiete der dargestellten Welt und der Zusammenhang zwischen lokaler Gesetzgebung und Weltordnung wecken zeitgeschichtliche Assoziationen.
5 Vgl. auch für den folgenden Abschnitt Larrington, Carolyne: Winter is coming. Die mittelalterliche Welt von Game of Thrones, Darmstadt 2016, S. 14–19. 6 Die Serie lässt sich als spätes Echo der Freak Shows des 19. und frühen 20. Jahrhunderts lesen, allerdings mit einer Inversion der darin zum Ausdruck gebrachten Haltung. Während Freak Shows Menschen mit körperlichen Besonderheiten als Sensation exponierten und tendenziell bloßstellten, ist „Game of Thrones“ in dieser Hinsicht dezidiert inklusiv ausgerichtet.
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Besonders augenfällig ist dies für die sogenannte Mauer im Norden von Westeros, die in der Serie eine zentrale Rolle spielt. Es handelt sich um eine über 480 Kilometer lange, mehrere Meter dicke und über 210 Meter hohe Mauer aus Schnee und Eis, die ein früherer Herrscher zum Schutz des ansonsten von Küstenlinien begrenzten Westeros hat errichten lassen. Ein solcher materieller Ausbau von Territorialgrenzen entspricht nicht der mittelalterlichen bzw. vormodernen Praxis.7 Auch in der Serie stammt die Mauer nicht aus der Gegenwart, sondern ist ein weiterhin genutztes Artefakt aus der mehrere Jahrtausende zurückliegenden Frühgeschichte des Kontinents. George R. R. Martin, der Autor der Romanvorlage von „Game of Thrones“, hat passend dazu den von den Römern errichteten Hadrianswall als Vorbild für die Mauer benannt.8 Aber die Autorität des Autors sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch dieser vermeintliche Realitätsbezug der fiktiven Mauer nicht überzeugen kann. Denn auch in der Antike waren ausgebaute Grenzen wie die Chinesische Mauer und der Limes Ausnahmen. Durchgängige Grenzbefestigungen sind dagegen typisch für das Zeitalter des Nationalstaats. Entsprechend prägten fortifizierte Grenzen die Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, so etwa die Mauer zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR, Israel und Palästina, Indien und Pakistan oder den USA und Mexiko.9 Die fiktionale Mauer steht diesen realen Anlagen in der Komplexität ihres Aufbaus und der Grenzpraktiken in nichts nach: Es gibt Grenzposten, Grenzpatrouillen mit eigenen Regeln und Rhythmen und einen in verschiedene Zonen unterteilten Grenzstreifen. Die Grenze erscheint so nicht nur als Bauwerk, sondern zugleich als Produkt täglicher Arbeit, das in seiner Monstrosität den Vergleich mit seinen realen Pendants nicht scheuen muss.
2.
Geschichte als umkämpftes Narrativ und Privileg
Die Mauer kann auch als erste Sonde in das Geschichtsverständnis der dargestellten Welt dienen. Denn dass die Mauer im Norden aus der Vorzeit stammt, ist in Westeros allgemein bekannt, aber ihre Entstehungsgeschichte ist in Vergessenheit geraten. Das Verständnis der Mauer bestimmt sich in der Serie allein durch die Gegenwart. Sie gilt als generelle Sperre gegen unerwünschte Zuwanderung. Wer jenseits der Mauer lebt, ist in Westeros grundsätzlich nicht willkommen. Dabei
7 Vgl. zur Praxis der Grenzziehung in der Vormoderne Rutz, Andreas: Die Beschreibung des Raums. Territoriale Grenzziehungen im Heiligen Römischen Reich, Köln u. a. 2018. 8 Vgl. Martins Blogbeitrag „Watchers on Hadrian’s Wall“ vom 30. März 2019: https://georgerrmartin. com/notablog/2019/03/30/watchers-on-hadrians-wall/ (18.02.2023). 9 Vgl. Brown, Wendy: Mauern. Die neue Abschottung und der Niedergang der Souveränität, Berlin 2018.
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wird nicht weiter differenziert, um wen es sich handelt – eine Distinktion, die beim Bau der Mauer sehr wohl gemacht wurde, da sie zur Abwehr der sogenannten White Walkers errichtet wurde, einer Art Zombies. Als Nebeneffekt wurde durch den Mauerbau auch das sogenannte Freie Volk, ein nach basisdemokratischen Prinzipien lebendes Nomadenvolk, aus Westeros ausgeschlossen. Dieser unbeabsichtigte Nebeneffekt wurde im Laufe der Jahrhunderte rückwirkend legitimiert, so dass in der fiktionalen Gegenwart der Serie auch das Freie Volk als negativ konnotiertes Anderes der Bevölkerung von Westeros erscheint. Diese Thematisierung der Geschichte der Mauer ist insofern aufschlussreich, als sie die Effekte von Geschichtsvergessenheit reflektiert und zugleich Geschichte als kontextgebundenes, anpassungsfähiges und umkämpftes Narrativ ausweist, das stets Gefahr läuft, sich nach den Befindlichkeiten der Gegenwart zu richten. Auch darüber hinaus ist die Welt von „Game of Thrones“ mit geschichtskulturellen Praktiken und Referenzen gespickt: Zahlreiche Feiern und Denkmäler propagieren Geschichtsbilder. Eine große Bibliothek, die einer Universität ähnelnde Zitadelle, konzentriert das gesammelte Wissen der dargestellten Welt. Dort werden sogenannte Maester ausgebildet, um später wiederum das politische Personal schulen zu können. Die Bibliothek erscheint so als Medium der Tradition. Zugleich birgt sie die Möglichkeit der Abkehr von dieser Tradition in sich, wenn die Bibliothek vergessene und verborgene Schriften archiviert, die dominante Geschichtsdeutungen aus den Angeln zu heben und ganze Dynastien zu zerstören vermögen, die sich nicht zuletzt über historische Narrative legitimieren. Das Vetorecht der Quellen wird in „Game of Thrones“ so sehr gefürchtet, dass unliebsame Dokumente wie auch ihre Kenner:innen bei Bedarf aus dem Weg geräumt werden. Geschichtskultur erscheint so selbst als Feld der konflikthaften Auseinandersetzung rund um die Frage, was erinnert werden darf und kann, welche Vergangenheiten verschwiegen bzw. erst wieder geborgen werden müssen. „Game of Thrones“ reflektiert historische Tradierung und kollektive Erinnerung so als kontextgebunden und interessengeleitet. Wissen, auch historisches Wissen, ist in „Game of Thrones“ ein zentraler Faktor für Macht und Herrschaft und entsprechend markiert „Game of Thrones“ den Zugang zu Wissen als Privileg, das von entscheidender Bedeutung für die Handlungsmöglichkeiten der Figuren ist. Die Serie thematisiert Geschichte noch in einer weiteren Hinsicht als Privileg, wenn sie es als Vorzug begreift, dem Kreis von Figuren anzugehören, die als Akteur:innen von Geschichte gelten können. Dass nicht alle Figuren an Geschichte teilhaben, manifestiert sich nicht zuletzt an der Mauer, die als Scheidegrenze zwischen den Stimmen dient, deren Geschichten gehört werden bzw. ungehört bleiben. Diese Scheidegrenze wird im Laufe der Serie immer durchlässiger. Immer mehr Stimmen überwinden die Grenze der Mauer, wie die Figuren Goldy und Ygritte demonstrieren, denen es gelingt, über den Kontakt zu Bewohner:innen von Westeros Perspektiven von jenseits der Mauer in die Narration von „Game of
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Thrones“ einzuspeisen. So vermag Ygritte, den Blick auf die vergessenen Seiten und blinden Flecken einer in hohem Maße gewalttätigen Geschichte zu lenken, wenn sie konstatiert, die Mauer sei aus Blut gemacht.10 Zugleich reklamiert Ygritte das Recht des Freien Volks, das bis dato als geschichtslos galt, auf Historizität. Nicht nur die Macht über die Geschichte wird so als Privileg reflektiert, sondern auch das Anrecht auf die Berücksichtigung in der Geschichtsschreibung. Zugleich lassen sich Ygrittes Interventionen als Reflexion auf die Standortgebundenheit von Perspektiven lesen und damit als Ausweis der Multiperspektivität der Serie. Gerade die späte Einbeziehung der Perspektive des Freien Volks macht die Asymmetrien sichtbar. Sie verdeutlicht, dass die Perspektiven diesseits und jenseits der Mauer variieren und nicht gleichberechtigt nebeneinander stehen. Über das Geschichtsverständnis der Menschen jenseits der Mauer erfährt das Publikum lange vergleichsweise wenig. Auch innerhalb von Westeros bestehen große Unterschiede in Wissen und Wahrnehmung. So nimmt das Wissen über die Mauer unabhängig von der sozialen Zugehörigkeit ab, je weiter man nach Süden gelangt. Generell stellt die Serie Wissen in Beziehung zu Räumlichkeit. Je nachdem, wo sich die Figuren befinden, verändern sich auch ihre Wissensbestände. Es verwundert daher nicht, dass die Erweiterung der Perspektiven, die in die Serie einbezogen werden, auch maßgeblich damit korreliert, an welchen Orten sich die Protagonist:innen aufhalten. Die Multiperspektivität ist daher nicht nur der Tatsache geschuldet, dass sich die Zahl der Figuren und damit der Stimmen, aus deren Perspektive erzählt wird, von Staffel zu Staffel erweitert. Vielmehr ist die räumliche Mobilität zentraler Figuren der Serie ein wesentlicher Motor, durch den immer mehr Regionen der dargestellten Welt in die Erzählungen einbezogen werden und sich so das Spektrum der Perspektiven erweitert. Mobilität erscheint dabei zu Beginn der Serie als Privileg gesellschaftlicher Eliten. Es sind die Mitglieder der Adelshäuser, die das Publikum auf ihren Wanderungen von einem Ort zum nächsten begleitet. Von Beginn an verfügt die Serie über eine vertikale und eine horizontale Mobilitätsachse. Auf dem Kontinent Westeros bewegen sich vor allem Angehörige der beiden Adelshäuser Stark und Lannister auf einer Nord-Süd-Achse. Zudem existiert eine transkontinentale Achse vom östlichen Kontinent Essos zum westlichen Kontinent Westeros, auf der sich mit einigen Umwegen Daenerys Targaryen von Osten her dem Eisernen Thron nähert, den sie zu erobern gedenkt.11 Komplexere Mobilitätsmuster entstehen vor allem dann,
10 Vgl. Larrington: Winter, S. 100. 11 Die starke Exotisierung des Ostens in der Serie würde einen eigenen Aufsatz lohnen. Hier kann ich nur darauf hinweisen, dass die Darstellung des Ostens in „Game of Thrones“ in eine lange Tradition der Denkfigur des unergründlichen Ostens eingeordnet werden kann, die sich seit den Eroberungen Alexanders des Großen beobachten lässt.
Ein Lied von Migration und Mauer
wenn Figuren sich auf der Flucht oder im Exil befinden wie Daenerys Targaryen oder Arya Stark, die das Publikum in die entlegensten und unwirtlichsten Ecken von Westeros und Essos führen und so zugleich die Vielfalt von Lebensformen und Gesellschaftskonzepten eröffnen. Die Elitenmobilität wird durch ein zweites großes Mobilitätsmuster flankiert: die Massenmigration der Bevölkerung jenseits der Mauer in Richtung Süden. Dieses Mobilitätsmuster gewinnt von Staffel zu Staffel an Gewicht und verschiebt so schleichend den thematischen Schwerpunkt der Serie. Denn diese Migrationsbewegung lässt sich nicht über Konflikte und Kriege um Macht und Herrschaft erklären, sondern steht im Kontext langfristiger klimatischer Zyklen, in denen sich zwei Jahreszeiten, Sommer und Winter, in unregelmäßigen Abständen abwechseln.12 Die Serie setzt während eines seit so langer Zeit währenden Sommers ein, dass der vorausgegangene lange Winter schon nicht mehr erinnert wird. Zugleich wird der Einbruch eines neuen Winters erwartet: „Winter is coming.“ Der erwartete Winter wird als unermessliche, wenngleich in den Details kaum bekannte Bedrohung konzipiert, eine erwartete Katastrophe, von der man weiß, dass sie eintreten wird, nicht aber wann. Diese Katastrophe hängt dräuend über den Kämpfen um Macht und Herrschaft – hier lässt sich eine „zeitgenössische Stimmungs-Parallele“13 erahnen – und lässt deren Bedeutung zunehmend in den Hintergrund treten. Der bevorstehende Klimawandel kommt von Norden und provoziert eine große Migrationsbewegung vom Norden in den Süden. Entsprechend rückt das Geschehen im Norden von Westeros immer stärker in den Vordergrund der Serienhandlung. Die Serie, die als Drama um Herrschaftswechsel startete, wandelt sich Folge für Folge immer mehr zum Endzeitepos. Die allmähliche Verschiebung und Erweiterung des Erzählrahmens stellt ein Spezifikum der Serie dar, die so sowohl die Regeln von Dramen wie auch des Fantasy-Genres überschreitet. Denn in Dramen nimmt das Unglück seinen Lauf in einem eingangs abgesteckten Rahmen, und in Fantasy-Erzählungen kann tugendhaftes und/oder mutiges Handeln das Blatt in der Regel wenden.14 „Game of Thrones“ steigert von Staffel zu Staffel die Komplexität und Kontingenz des Geschehens. Die Bedrohungswahrnehmung variiert dabei jeweils nach räumlicher Position. Es ist kein Zufall, dass sich gerade das House Stark „Winter is coming“ auf die Fahnen geschrieben hat. Denn die Starks leben im Norden und verfügen, entsprechend der für „Game of Thrones“ typischen Ortsgebundenheit von Wissen, über einen 12 Vgl. dazu etwa DiPaolo, Marc: Fire and Snow. Climate Fiction from the Inklings to Game of Thrones, Albany 2018. 13 Söffner, Jan: Nachdenken über „Game of Thrones“. George R. R. Martins „A Song of Ice and Fire“, Paderborn 2017, S. 46. 14 Vgl. zu den Gattungsmerkmalen die Kapitel „Wendungen“ und „Fantasy“ in: Söffner: Nachdenken.
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Standortvorteil. Früher als die Bevölkerung des Südens verstehen die Bewohner:innen des Nordens den herannahenden Winter, also eine klimatische Bedrohung, als zentrale Herausforderung der Bevölkerung von Westeros. Früh konstatieren sie, dass die Grenze im Norden gefährdet sei, während die Bevölkerung des Südens die Mauer als belastbare Absperrung betrachtet, die eine durch den herannahenden Winter provozierte Migration beherrschbar erscheinen lässt. Trotz dieser Unterschiede in der Geschwindigkeit der Wahrnehmung und Problematisierung kennen alle Bewohner:innen von Westeros nur Abwehr als Handlungsregister, um der Migration immer größeren Ausmaßes zu begegnen. Diese Haltung kann in der Narration aber nur so lange beibehalten werden, wie die Menschen jenseits der Mauer als indistinkte Gruppe wahrgenommen werden. In dem Maße, in dem einzelne Charaktere wie Ygritte als Individuen aufscheinen bzw. diesen Status explizit für sich reklamieren, stößt diese Haltung an ihre Grenzen. Entsprechend werden die Angehörigen des Freien Volks von einer Bedrohung zu potenziellen Verbündeten und – im Einzelfall – zu Hilfsbedürftigen umgedeutet. Sie werden so zu historischen Akteur:innen, zum Teil der Geschichte.
3.
Ein Lied von Migration und Mauer und die Macht der Geschichte
Es gehört zu den Aufgaben von Geschichtswissenschaft, neben der Vergangenheit selbst auch die Repräsentation der Vergangenheit in der Gegenwart zu beforschen. Dazu zählen Geschichtsbilder, wie sie Serien wie „Game of Thrones“ entwickeln, die oftmals größeren Einfluss auf die populären Vorstellungen von Geschichte haben als wissenschaftliche Geschichtsschreibung. Vor diesem Hintergrund möchte ich drei Potenziale resümieren, die „Game of Thrones“ für die Geschichtswissenschaft eröffnen kann. Erstens arbeitet die Serie mit Bezügen zur realen Vergangenheit, die sie zugleich konterkariert, indem sie diese über Länder- und Epochengrenzen hinweg munter kombiniert und ineinander blendet – vom Mittelalter bis zur jüngsten Zeitgeschichte. Geschichte dient als Fundus für die Konstruktion fiktiver vergangener Welten. Nicht nur die transtemporale Bezugnahme auf unterschiedliche Zeiten ist hier aufschlussreich, sondern welche Zeiten wie zueinander in Beziehung gesetzt werden. Zweitens reflektiert die Serie darauf, was Geschichte ist. Sie bedient zu Beginn ein reduziertes Bild von Geschichte, von dem sich die Geschichtswissenschaft in dieser Einseitigkeit längst verabschiedet hat: die Geschichte großer Taten und Ereignisse, die sich über Kabinettsprotokolle, Schlachtpläne, zwischenstaatliche Verträge und die Selbstzeugnisse großer Staatsmänner erschließen lässt. Man kann der Serie eine nostalgische Sicht auf diese Art der Geschichtskonzeption attestieren, die sie mit vielen anderen populären Geschichtsdarstellungen teilt. Zugleich dekonstruiert
Ein Lied von Migration und Mauer
sie dieses Geschichtsverständnis, indem sie sukzessive den Handlungsrahmen verschiebt, immer mehr Perspektiven und Stimmen einbezieht und sehr viel schwerer zu fassenden Basisprozessen, wie klimatischen Veränderungen im Zusammenspiel mit Migrationsprozessen, immer größere Bedeutung beimisst. Die vermeintlich großen Taten und Ereignisse rücken so in den Hintergrund. Allerdings verlieren sie gleichwohl nie völlig an Bedeutung. Drittens kann „Game of Thrones“ für Geschichte als Privileg sensibilisieren – und zwar in doppelter Hinsicht: Zum einen thematisiert die Serie das Privileg, Zugang zu historischen Informationen sowie zu Methoden der Recherche und Analyse zu haben und so darüber mitzuentscheiden, welche Geschichte erzählt wird. Zum anderen reflektiert „Game of Thrones“ das Privileg von Menschen und Gesellschaften, überhaupt als Teil der Geschichte behandelt zu werden. Geschichtsschreibung erscheint so als potenzieller Produzent von Ungleichheit. In der Serie wird diese Macht der Geschichte über die Mauer manifest: Sie zieht nicht nur die Grenze zu einem unerwünschten Norden, sondern verwandelt diesen auch in einen unbekannten Norden. Sie raubt den dortigen Menschen die Möglichkeit, ihre Perspektiven in die Geschichte einbringen zu können. Dass diese spezifische Form von Ungleichheit in der Serie selbst überhaupt zum Thema wird, verdankt sich grenzüberschreitender Mobilität und Migration. Erst durch den Kontakt zwischen den Bewohner:innen von Westeros und Angehörigen des Freien Volks wird die Unterschiedlichkeit historischer Narrative und Perspektiven offenbar. Zugleich scheinen hier die Grenzen der Multiperspektivität auf. Die Vielstimmigkeit findet ihr größtes Hindernis in der Mauer gen Norden. „Game of Thrones“ veranschaulicht so die Macht der Geschichte auch dahingehend, dass sie sich selbst vollkommen verändern kann, wenn sie neue und andere Stimmen einbezieht.
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Die Varusschlacht und die Germanicusfeldzüge in aktuellen Geschichtsmagazinen
Die Varusschlacht im Jahr 9 n. Chr. gehört zu den Themen aus dem Bereich der Antike, die auch außerhalb fachwissenschaftlicher Publikationen Berücksichtigung in der Medienwelt erfahren und damit für die uns umgebende Geschichtskultur eine gewisse Relevanz erlangt hat. Ein Höhepunkt in der Berichterstattung der letzten zwei Jahrzehnte kann sicher für das Jahr 2009 festgestellt werden, als umfangreich an das 2000-jährige Jubiläum der Schlacht erinnert wurde.1 Doch auch nach diesem markanten Erinnerungsanlass geriet das Ereignis keineswegs in Vergessenheit. In dem nachfolgenden Beitrag soll dies beispielhaft anhand des Mediums „Geschichtsmagazine“ aufgezeigt werden. In engem Zusammenhang damit stellt sich die Frage, mit welchen Zuschreibungen und Techniken die Produzent:innen2 von Geschichtsmagazinen bei den Leser:innen das Gefühl erzeugen, dass die Ereignisse von vor 2000 Jahren auch heute noch von Interesse sind. Geschichtsmagazine zählen zu einer Produktgruppe, für die von den Produzent:innen postuliert wird, dass darin in einer unterhaltenden Weise – orientiert an der Wissenschaft – über vergangenes Geschehen berichtet wird. Das Ziel der Publikationen ist das Erreichen einer möglichst breiten Leser:innenschicht, denn diese garantiert den kommerziellen Erfolg des Produktes. Die Inhalte der Geschichtsmagazine orientieren sich dementsprechend stark am Publikumsgeschmack; die Strategien zur Vermittlung historischer Wissensbestände folgen dabei sowohl medienwissenschaftlichen und journalistischen Grundsätzen als auch fachwissenschaftlichen und vermittlungsmethodischen Überlegungen. An dieser Stelle kann die sich seit rund zehn Jahren verstärkt entwickelnde Forschung zum Medium „Geschichtsmagazin“ nicht nachgezeichnet werden,3 doch sollen zwei für die Zielsetzungen dieses Aufsatzes relevante Aspekte kurz festgehalten werden: 1 Vgl. dazu die zusammenfassende Bewertung zahlreicher Jubiläumspublikationen: Roth, Jonathan: 2000 Jahre Varusschlacht: Jubiläum eines Mythos? Eine kulturanthropologische Fallstudie zur Erinnerungskultur, (Mainzer Beiträge zur Kulturanthropologie/Volkskunde 5), Münster u. a. 2012. 2 Mit Produzent:innen sind alle am Produktionsprozess von Geschichtsmagazinen beteiligten Berufsgruppen gemeint. 3 Vgl. zum Forschungsstand u. a. Popp, Susanne u. a. (Hg.): Populäre Geschichtsmagazine in internationaler Perspektive. Interdisziplinäre Zugriffe und ausgewählte Fallbeispiele, Frankfurt a. M. 2016; Bergmann, Stefan/Köster, Manuel: Geschichtsmagazine, in: Hinz, Felix/Körber Andreas (Hg.): Geschichtskultur – Public History – Angewandte Geschichte. Geschichte in der Gesellschaft: Medien,
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1. Auch wenn die populär(wissenschaftlich) ausgerichteten, regelmäßig erscheinenden Publikationen zu historischen Inhalten alle unter dem Oberbegriff „Geschichtsmagazin“ firmieren, so unterscheiden sich die ca. 15 bis 20 Geschichtsmagazine, die auf dem deutschen Markt im Schnitt jeweils vorhanden sind,4 vor allem im Grad der Wissenschaftsorientierung, die je nach gewählter Vermittlungsstrategie dominiert oder mehr oder weniger stark anderen Faktoren untergeordnet wird. Zu diesen Faktoren können z. B. die Ästhetisierung des Produktes durch üppige Bilderwelten und ein ausgefeiltes Design gehören oder auch die Konzentration auf eine spannende Erzählung, die fiktionale Elemente und nicht belegte Aussagen zulässt. Ebenso kann die ideologische Ausrichtung eines Magazins dazu führen, dass die Wissenschaftsorientierung nur schwach ausgeprägt ist, so dass spezifische, der eigenen politischen Richtung entsprechende Deutungen vergangenen Geschehens im Vordergrund stehen.5 2. Der zweite relevante Aspekt betrifft die Tatsache, dass Geschichtsmagazine aus vielen Einzelartikeln und Beiträgen bestehen, selbst wenn es sich um ein Schwerpunktthema oder sogar um ein ganzes Heft zu einem spezifischen Oberthema handelt. Diese einzelnen Beiträge können mit unterschiedlichem Material bebildert werden und unterschiedliche Formen des Erzählens nutzen. Inhalte werden dementsprechend z. B. über Experteninterviews, Bildstrecken, Zeitleisten, analytische Sachtexte oder Geschichtsreportagen vermittelt. Die Darstellung eines Themas erfolgt also mithilfe vieler einzelner Narrationen, die keine geschlossene Gesamtaussage vermitteln und somit auch einen unterschiedlichen Grad an Wissenschaftsnähe aufweisen. Die beiden genannten Aspekte verweisen darauf, dass pauschale Aussagen im Hinblick auf die analysierten Geschichtsmagazine kaum möglich sind und deswegen jeweils qualitative Inhaltsanalysen der unterschiedlichen Einzelartikel im Rahmen dieses Aufsatzes im Vordergrund standen. Um bezogen auf die Varusschlacht und die daran anschließenden Germanicusfeldzüge verlässliche Ergebnisse zu erzielen, wurden für diesen Beitrag sechs Geschichtsmagazine ausgewählt, die führend auf dem deutschen Zeitschriften-
Praxen, Funktionen, Göttingen 2020, S. 57–74. Zur geschichtsjournalistischen Perspektive grundlegend Arnold, Klaus/Hömberg, Walter/Kinnebrock, Susanne (Hg.): Geschichtsjournalismus. Zwischen Information und Inszenierung, Berlin u. a. 2010 sowie Kinnebrock, Susanne: Warum Napoleon immer wieder spannend ist: Medienlogiken und Geschichte, in: Popp u. a.: Geschichtsmagazine, S. 169–185. 4 Vgl. dazu Springkart, Claudius: Populäre Geschichtsmagazine in Deutschland. Marktüberblick und Themenschwerpunkte, in: Popp u. a.: Geschichtsmagazine, S. 237–275; Bergmann/Köster: Geschichtsmagazine, S. 59. 5 Vgl. zur Wissenschaftsorientierung auch Popp, Susanne/Schumann, Jutta: Geschichtsmagazine und Wissensvermittlung – eine geschichtsdidaktische Perspektive, in: Popp u. a.: Geschichtsmagazine, S. 27–52.
Die Varusschlacht und die Germanicusfeldzüge in aktuellen Geschichtsmagazinen
markt sind und bereits seit mehr als 10 Jahren existieren.6 Dabei handelt es sich um Geo Epoche, P.M. History, Spiegel Geschichte, ZEIT Geschichte, G-Geschichte und Damals, die jeweils ab dem Jahr 2010 bis zum Ende des Jahres 2022 gesichtet wurden. Die Analyse bezog dabei die Frage mit ein, in welchem Maße überhaupt Themen aus dem Altertum und der Frühgeschichte als Schwerpunktthema in den Geschichtsmagazinen vertreten waren. Für die untersuchten insgesamt 694 Hefte lässt sich im Ergebnis festhalten, dass das Altertum und die Frühgeschichte unterschiedlich stark von den verschiedenen Magazintypen berücksichtigt werden. Am geringsten ist der Anteil bei ZEIT Geschichte (4,7 %), bei den anderen Magazinen liegen die Anteile der Frühgeschichte und des Altertums zwischen 14 % (Geo Epoche) bzw. 15,3 % (Spiegel Geschichte) bis 26 % (P.M. History) bezogen auf alle Hefttitel der letzten dreizehn Jahre. Die monothematischen Magazine Spiegel Geschichte, Geo Epoche und ZEIT Geschichte haben jeweils ein Heft in diesem Zeitraum den „Germanen“ gewidmet und dabei auch die Varusschlacht und die Germanicusfeldzüge thematisiert. Schaut man sich die multithematischen Magazine an, die ohnehin die Frühgeschichte und das Altertum stark berücksichtigen, so sind P.M. History mit vier Schwerpunktheften und G-Geschichte mit drei Schwerpunktheften zu den „Germanen“ nach 2009 als auffällig für das Varusthema zu nennen.7 Hervorgehoben werden muss, dass die Behandlung der Schlacht und der Germanicusfeldzüge oft unter den übergeordneten Themen „Die Germanen“8 oder „Rom und die Germanen“9 erfolgt, bei denen nicht nur die Schlacht und die nachfolgenden Ereignisse bis 16 n. Chr. behandelt werden.10 Allerdings gibt es unter den Hefttiteln der letzten 13 Jahre auch ganz konkrete Bezüge zur Varusschlacht und den anschließenden Ereignissen. Dabei werden die Auseinandersetzungen in den Titelschlagzeilen als „Triumph über Rom“11 bewertet oder auf Germanicus als einen der Hauptprotagonisten zugespitzt.12 Als wichtigstes Bildelement, das unterschwellig eine Verbindung zur Varusschlacht schafft, dient auf den Titelblättern die in
6 Nicht berücksichtigt wurden very-special interest Magazine, die sich nur auf eine spezifische Epoche oder bestimmte Zugänge zur Geschichte konzentrieren, sowie Magazine, die ideologisch eine rechte Ausrichtung haben wie z. B. das Magazin Deutsche Geschichte, Europa und die Welt, das von der Verlagsgesellschaft Berg bis 2020 herausgegeben wurde. 7 Nicht berücksichtigt wurden bei der Auswertung Längsschnittthemen, die über mehrere Epochen reichen. 8 Z. B. Spiegel Geschichte 2 (2013) oder Geo Epoche 34 (2008); G-Geschichte 9 (2012) titelt „Die Germanen. Sturm aus dem Norden“. 9 Z. B. Geo Epoche 107 (2021); G-Geschichte titelt in 11 (2021) „Germanen gegen Rom“. 10 Im Mittelpunkt steht bei der Berichterstattung hier oft auch die Alltagsgeschichte. 11 P.M. History 8 (2015). 12 Damals 6 (2015).
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Kalkriese gefundene Maske eines römischen Soldaten, die nicht nur als Objekt abgebildet wird, sondern auch als getragene Reproduktion in Szene gesetzt wird.13 Die Auswertung der Zahlen zeigt damit, dass Altertum und Frühgeschichte in einem teilweise überraschend hohen Maß Berücksichtigung in den Geschichtsmagazinen finden. Will man den Stellenwert, den das Varusthema dabei einnimmt, klassifizieren, so könnte man die Thematik auch nach 2009 als einen „Klassiker“ bezeichnen. Hierbei mag das Jubiläum der Germanicusfeldzüge bei einzelnen Publikationen eine verstärkende Rolle für die Berücksichtigung gespielt haben, doch insgesamt ist nach wie vor davon auszugehen, dass die Produzent:innen der Geschichtsmagazine dem Thema eine gewisse Zugkraft zubilligen. Für Wissensmagazine liegt die Vermutung nahe, dass sich die Popularität des Themas aus neu gewonnenen wissenschaftlichen Erkenntnissen generiert, die im Sinne der Nachrichtenwerttheorie durch ihre Aktualität Interesse auslösen. Bezogen auf den Forschungsstand zu den Ereignissen von 9 bis 16 n. Chr. ist es kaum möglich, in diesem kurzen Beitrag einen Überblick zu den zahlreichen wissenschaftlichen Publikationen zu geben, die vor, während und auch nach dem Jubiläumsdatum 2009 erschienen sind. Grundlegend lässt sich festhalten, dass das Thema auf zwei verschiedenen Ebenen Berücksichtigung erfährt. Einerseits geht es in der Forschung darum, die Ereignisse um die Varusschlacht und die Germanicusfeldzüge bis zum Jahr 16 n. Chr. in ihrem Ablauf zu rekonstruieren und in ihrer Bedeutung einzuschätzen. Andererseits steht die Frage im Fokus, wie Arminius zum Nationalhelden des 19. Jahrhunderts werden konnte und wie heute mit dem Germanenmythos umgegangen wird. Neue Forschungsergebnisse können insbesondere für die Rekonstruktion der Ereignisse im Jahr 9 n. Chr. konstatiert werden, wobei es vor allem um den Streit geht, wo die Varusschlacht stattgefunden hat. Diese Auseinandersetzung hat vor allem regionalgeschichtliche Bedeutung, da mehrere Regionen und Orte erinnerungskulturell ihre Geschichte mit der Varusschlacht verbunden sehen. Debatten um den Schlachtort wurden vor allem in den letzten Jahren durch archäologische Funde aufgeworfen. Zuletzt konnte mit chemischen Analysen des in Kalkriese gefundenen Metalls die Anwesenheit der 19. Legion nachgewiesen werden, so dass sich die These verdichtet, dass dort zumindest ein Teil der sich über mehrere Tage hinziehenden Auseinandersetzungen im Jahr 9 n. Chr. stattfand.14 Abgesehen von diesen zentralen Fragen zur Rekonstruktion der Ereignisse liefern die gemachten Funde der letzten Jahre jedoch keine neuen Erkenntnisse dazu, ob der vor allem bei den antiken Autoren Velleius Paterculus, Cassius Dio und Tacitus
13 Spiegel Geschichte 1 (2009); G-Geschichte 10 (2014); Damals 5 (2009). 14 Vgl. dazu u.a. die Pressemitteilungen des Museums Kalkriese: https://www.kalkriese-varusschlacht.de/presse/pressemappe-metallurgischer-fingerabdruck.html (13.02.2023).
Die Varusschlacht und die Germanicusfeldzüge in aktuellen Geschichtsmagazinen
geschilderte Ablauf des Geschehens und die dort gelieferten Informationen zu den politischen Akteuren zutreffend sind. Damit bleibt es dabei, dass die wenigen überlieferten schriftlichen Quellen nur ein äußerst lückenhaftes Bild zeichnen, das jeweils quellenkritisch zu bewerten ist und kaum belastbar scheint.15 Vor diesem Hintergrund ist auch eine Bewertung der Bedeutung der Schlacht nach wie vor schwierig. Wenn Tacitus Arminius als „Befreier Germaniens“ bezeichnet,16 so ist dies eine Zuschreibung, die einerseits eine entscheidende Wende im Konflikt zwischen Rom und den „Germanen“ für die Phase von 9 bis 16 n. Chr. postuliert und andererseits monokausal Arminius für diese Entwicklung verantwortlich macht. Genau diese Zuschreibungen werden von der Forschung inzwischen jedoch differenziert und relativierend eingeordnet: Z.B. herrscht Unklarheit darüber, inwieweit das rechtsrheinische Germanien durch die Schlacht 9 n. Chr. tatsächlich „verloren“ ging, d. h. inwieweit Rom bereits eine gesicherte Machtposition dort innehatte, die durch die Varusschlacht entscheidend unterminiert wurde. Ebenso sind die Ziele der römischen Politik im rechtsrheinischen Germanien umstritten. 17 Wenn es z. B. nur um eine vorgeschobene Grenzsicherung für die römisch kontrollierten Gebiete links des Rheins ging, dann sind die historischen Auswirkungen der Ereignisse der Jahre 9 bis 16 n. Chr. keine so einschneidende Zäsur für das rechtsrheinische Germanien wie häufig behauptet. Schließlich ist auch die Abberufung des Germanicus 16 n. Chr. sicher nicht monokausal den Erfolgen des Arminius zuzuweisen, sondern beruhte auch auf anderen Überlegungen von Kaiser Tiberius, der andere Schwerpunktsetzungen bei der Verteidigung des Römischen Imperiums vornahm. Bezogen auf die Erhebung des Arminius zur nationalen Heldengestalt, die seit dem 16. Jahrhundert mit dem Druck und der Wiederentdeckung der taciteischen Quellen einsetzte und ihren Höhepunkt im 19. Jahrhundert erreichte, ist in der Forschung bereits vor 2009 die Aufarbeitung der nationalen Mythenbildung umfangreich angegangen worden. Neben der Infragestellung der Aussagen des Tacitus zu den Ereignissen bis 16 n. Chr. wurde herausgearbeitet, dass die „Germanen“ weder das eindeutig zu identifizierende Ursprungsvolk sind, auf das sich das heutige Deutschland berufen könnte, noch kann von einem einheitlichen Volk der „Germa-
15 Zuletzt dazu Kehne, Peter: Tacitus’ rhetorisch-dramatische Darstellungsabsicht als Hauptursache für die Unmöglichkeit einer Rekonstruktion der Germanicusfeldzüge und des historischen Germanicus, in: Ruffing, Kai (Hg.): Germanicus. Rom, Germanien und die Chatten, Stuttgart 2021, S. 191–291. 16 Tacitus: Annales 2,88. 17 Vgl. u. a. Reinhard, Patrick: … in formam paene stipendiariae redigeret provinciae. Rom und Germanien unter Caesar, Augustus und Tiberius, in: Ruffing: Germanicus, S. 39–123, hier insbesondere S. 83–113; Hamacher, Kristina: Germania capta. Germanien als Faktor der Repräsentations- und Legitimationsstrategie der Flavier, Stuttgart 2021, hier S. 89–104.
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nen“ gesprochen werden.18 Trotz dieser klaren Aussagen der Forschung verweist Roth in seiner Analyse der geschichtskulturellen Publikationen zum Jubiläum 2009 darauf, dass Teile des früheren Nationalmythos oft verdeckt in Aussagen zum vergangenen Geschehen zu den Jahren 9 bis 16 n. Chr. weiterleben.19 So transportiert z. B. die Überlegung, dass sich in Folge der Varusschlacht praktisch ein zivilisiertes römisches Germanien und ein unzivilisiertes, mit einer vollkommen anderen Kultur lebendes Germanien entwickelte, unterschwellig das Bild eines einheitlichen Germaniens, das eine eigene, besondere, aber auch rückständige, barbarische Kultur bewahrte und sich erfolgreich gegen eine „fremde“ Macht behauptet hat. Insbesondere der Mangel an Quellen aus der Zeit des historischen Geschehens führt zudem laut Roth dazu, dass – trotz aller kritischer Hinterfragung der Forschung – Deutungen und Darstellungen aus der Zeit der nationalen Mythenbildung (16–19. Jahrhundert) in geschichtskulturellen Manifestationen genutzt wurden, um das Geschehen der Jahre 9 bis 16 n. Chr. zu bebildern und zu veranschaulichen. Dies führte jedoch wiederum in Teilen zur ungewollten Perpetuierung einiger Elemente des Mythos.20 Wie arbeiten nun Geschichtsmagazine mit dem eben skizzierten Forschungsstand zum Thema? Gemäß medientheoretischer Überlegungen ist die Hervorhebung der Aktualität der vermittelten Inhalte ebenso wie auch die Herstellung eines Bezuges zur Lebenswelt der Leser:innen sinnvoll. Nachrichtenfaktoren und das Framing des Themas gelten als leitende Ansätze, um beurteilen zu können, ob die Berichterstattung zu einem Thema für die Leser:innen attraktiv sein könnte oder nicht.21 In der Geschichtsdidaktik ist ebenfalls unumstritten, dass vergangenes Geschehen jeweils aus einem heutigen Blick heraus beurteilt wird und dementsprechende Sinnzuschreibungen erfährt. Die dabei entwickelten Perspektivierungen sollen die Relevanz eines Themas verdeutlichen, wobei klar ist, dass es sich bei den vorgenommenen Zuschreibungen um auf die jeweilige Gegenwart bezogene Konstrukte handelt. Im dritten Teil dieses Aufsatzes soll vor diesem Hintergrund gefragt werden, wie Produzent:innen von Geschichtsmagazinen mit dem Thema der Varusschlacht umgehen, obwohl die Dekonstruktion des nationalen Masternarrativs des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts die Bedeutung des Themas abgeschwächt hat.
18 Vgl. dazu Steinacher, Roland: Die Germanen? Zwischen Konstruktion und Realität, in: Ruffing: Germanicus, S. 15–37. 19 Roth: Varusschlacht, S. 74 f. 20 Ebd., S. 75. 21 Kinnebrock: Napoleon, S. 171–178, S. 183–184.
Die Varusschlacht und die Germanicusfeldzüge in aktuellen Geschichtsmagazinen
1.
Relevanzzuschreibung durch neue Forschungsergebnisse
Es liegt nahe, dass das Thema der Varusschlacht und der Germanicusfeldzüge vor allem aufgrund neuer Erkenntnisse der Forschung weiterhin von den Produzent:innen der Geschichtsmagazine bei der Themenwahl berücksichtigt wird. Tatsächlich greifen die im Rahmen dieser Analyse gesichteten Geschichtsmagazine die neuen archäologischen Funde und die damit einhergehenden Interpretationen bei ihrer Berichterstattung auf. Diese werden auch in den Editorials teilweise als Grund für die Berücksichtigung des Themas genannt. Schaut man sich jedoch die Geschichtsmagazine genauer an, die im Rahmen ihrer Schwerpunkthefte dazu publizieren, so nehmen die neuen Funde und die damit verbundenen Neuinterpretationen häufig nur einen kleinen Teil der Berichterstattung ein, was auch verständlich erscheint, da sie nur Einzelaspekte des Themas beleuchten wie den Ort der Schlacht oder die möglichen Bewegungen römischer Truppen auf rechtsrheinischem Gebiet. Sie dienen jedoch als Aufhänger, um über die Varusschlacht zu berichten und dem Thema eine neue Aktualität zuzuweisen.22
2.
Relevanzzuschreibung durch die Hervorhebung einer herausragenden Bedeutung des Ereignisses für den weiteren Geschichtsverlauf
Auch wenn die Forschung keine gesicherten Deutungen vornehmen kann, wenn es um die Frage geht, ob tatsächlich die Varusschlacht und die Germanicusfeldzüge monokausal als Grund dafür angesehen werden können, dass der größte Teil des heutigen Deutschlands dauerhaft nicht von den Römern erobert wurde, so finden sich genau diese Einschätzungen in einzelnen Beiträgen der Geschichtsmagazine. Dabei muss jedoch zwischen Expert:inneninterviews und im Stile von Ereignisberichten und Geschichtsreportagen abgefassten Beiträgen unterschieden werden. Während in den Interviews durchaus differenzierte Einschätzungen der Bedeutung der Schlacht zu finden sind,23 werden vor allem in Ereignisberichten, aber auch in Bildunterschriften oder Schlagzeilen oft übertriebene Bedeutungszuschreibungen vorgenommen. Bei Geo Epoche heißt es z. B. „Manchmal entscheidet sich, fast wie in einem melodramatischen Roman, die Zukunft ganzer Völker im Duell zweier Meschen.“24 Hier geht es also bei der Konfrontation zwischen Arminius und
22 G-Geschichte 11 (2021) liefert z. B. dazu 6 Seiten von insgesamt 50; ZEIT Geschichte 1 (2021) weist im Editorial auf neue Funde hin und widmet diesen zwei Beiträge. 23 Wissenschaftler:inneninterviews führten z. B. Spiegel Geschichte 2 (2013) mit Mischa Meier, GGeschichte 11 (2021) mit Salvatore Ortisi oder P.M. History 8 (2015) mit Ernst Künzl. 24 Geo Epoche 107 (2021), S. 40.
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Germanicus um nichts weniger als um die Zukunft der Römer und „Germanen“.25 In Schlagzeilen werden diese Aussagen sogar verdichtet, wenn z. B. G-Geschichte einen Beitrag mit „Arminius – Der Befreier“ betitelt.26 Die Anleihen bei Tacitus sind dabei vielfach deutlich sichtbar und dienen dazu, die Bedeutung der Schlacht und der Germanicusfeldzüge zu überhöhen.27
3.
Relevanzzuschreibung bezogen auf die Hinterfragung der Mythisierung der „Germanen“ und des Arminius als Nationalheld
Im größten Teil der Geschichtsmagazine endet die Berichterstattung nicht mit den Ereignissen der Jahre 9 bis 16 n. Chr., sondern nimmt auch die seit dem 16. Jahrhundert damit einhergehende nationale Mythenbildung – abgesetzt von Ereignisberichten – in den Blick. Die Fragwürdigkeit des Begriffes „Germanen“ und die kritische Sicht auf behauptete Kontinuitätslinien zwischen den heutigen Deutschen und den damaligen „Germanen“ werden dabei ebenso thematisiert wie das Feiern der Heldengestalt „Arminius“ im 19. Jahrhundert sowie die Nutzung des Germanenbildes des Tacitus für die Rassenideologie der Nationalsozialisten. Hier beteiligen sich die Produzent:innen der Geschichtsmagazine an der Dekonstruktion der nationalen Mythenbildung. Die Entmystifizierung des Arminius und die Hinterfragung der „Germanen“ als Vorfahren der Deutschen ist jedoch meist kein Thema der Titelblätter. Nur P.M. History verwendet einmal die Schlagzeile: „Auf den Spuren der Germanen. Mythos und Wahrheit: Die faszinierende Welt von Hermann dem Cherusker.“28 Ähnliches ist teilweise für die Bebilderung der Artikel in den Magazinen zu konstatieren. Nicht näher erläutertes Bildmaterial, das aus der Zeit der nationalen Mythisierung des Geschehens rund um Arminius und den Kampf der „Germanen“ gegen die Römer stammt, taucht vor allem in den Geschichtsreportagen und Ereignisberichten quasi unkommentiert durch die Hintertür wieder auf.29 Vor allem gilt dies aber für die oben bereits angesprochene unreflektierte Nutzung der Tacitus-Quelle. Will man die gemachten Beobachtungen bezogen auf die Fragestellung dieses Beitrages auswerten, so scheinen die Produzent:innen der Geschichtsmagazine die
25 Ähnlich P.M. History 10 (2013), S. 36. 26 G-Geschichte 9 (2012), S. 26. 27 Z. B. schreibt Susanne Frömel in P.M. History 10 (2013), S. 43 an Stelle eines Fazits: „Schon Tacitus schrieb: Er war unbestritten der Befreier Germaniens“. S. 43. Ähnlich G-Geschichte 10 (2014), S. 21; G-Geschichte 11 (2021), S. 40–42 und Geo Epoche 34, S. 42. 28 P.M. History 6 (2011). 29 Vgl. dazu z. B. den Ereignisbericht in P.M. History 10 (2013), S. 36–38, S. 40 und S. 43; Spiegel Geschichte 2 (2013), Titelblatt sowie S. 22 f., S. 36 f., S. 83 f.
Die Varusschlacht und die Germanicusfeldzüge in aktuellen Geschichtsmagazinen
Auseinandersetzung mit dem Mythos Arminius durchaus als wichtig zu erachten, wobei die Relevanz durch die Abkehr von einem über Jahrhunderte gepflegten Geschichtsbild erzeugt wird. Dies führt aber paradoxerweise dazu, dass das Thema in der Konsequenz für heutige Leser:innen an Attraktivität verliert, wenn die „Germanen“ nichts mehr mit dem heutigen Deutschland zu tun haben und Arminius als triumphal siegender Urahn der Deutschen in Frage gestellt wird. Ob dies der Grund dafür ist, dass die Produzent:innen der Geschichtsmagazine – vielleicht durchaus unbewusst – dann doch wieder auf ältere, national geprägte Versatzstücke des Themas zurückgreifen, um Aufmerksamkeit zu generieren, muss offen bleiben.
4.
Relevanzzuschreibung durch die Herstellung von Gegenwartsbezügen
Trotz des eben geschilderten Bedeutungsverlusts des Arminiusthemas stellen viele Produzent:innen der Geschichtsmagazine Gegenwartsbezüge her.30 Dies kann über einfache Konstruktionen von Sinnzusammenhängen geschehen, wenn z. B. die militärisch und technisch weiter entwickelten Römer mit den USA gleichgesetzt werden. Die Römer treffen auf die als rückständig klassifizierten „Germanen“ und verlieren, genauso wie dies die USA im unterentwickelten Afghanistan erleben mussten. So argumentiert z. B. Christian Pantle im Editorial von G-Geschichte und konstatiert damit scheinbare Parallelen zu einem Konflikt der Gegenwart, den die Leser:innenschaft kennt.31 Dahinter steckt das gängige „David-gegen-Goliath“ Erzählmuster, bei dem ein hoffnungslos unterlegener Gegner die Sensation schafft, den scheinbar übermächtigen, zivilisatorisch und technisch auf einer höheren Stufe stehenden Feind zu schlagen. Vernachlässigt wird dabei, dass Arminius und die mit ihm kämpfenden Truppen Kriegserfahrung im römischen Heer gesammelt hatten und teilweise durchaus auf demselben Niveau vom militärischen Wissensstand her waren. Die propagierte scharfe Trennlinie zwischen den rückständigen „Germanen“ und den hochzivilisierten Römern folgt auch hier eher veralteten Elementen des Arminiusmythos, dessen Sieg im 19. Jahrhundert als umso großartiger dargestellt werden konnte, wenn er aufgrund einer technisch-militärischen Rückständigkeit kaum möglich erschien. Abgesehen von konstruierten Gegenwartsbezügen als Sinnzusammenhang kann auch gefragt werden, ob die Geschehnisse direkte Auswirkungen auf unser heutiges Leben hatten und damit gemäß der fachdidaktischen Diktion ein Gegenwartsbezug
30 Pöttker, Horst: Gegenwartsbezüge. Über die Qualität von Geschichtsjournalismus, in: Arnold: Geschichtsjournalismus, S. 31–44. 31 Pantle, Christian: Editorial, in: G-Geschichte 11 (2021), S. 3.
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als Ursachenzusammenhang konstruiert werden kann. In vielen Geschichtsmagazinen ist davon die Rede, dass die Geschehnisse bis 16 n. Chr. eine dramatische Weichenstellung bedeuteten, die – versinnbildlicht durch die spätere Grenzziehung des Limes – eine langfristig relevante Zweiteilung in ein zivilisiertes römisches Gebiet und ein unzivilisiertes, rückständiges Germanien auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands zur Folge hatte. Im Gegensatz dazu verweist ZEIT Geschichte – auch in Anlehnung an die Forschung – eher darauf, dass es durchaus weitreichende Kontakte zwischen Rom und den Bewohnern des damaligen Germaniens gab, die auch durch Handel und kulturellen Austausch geprägt waren. Im Editorial von ZEIT Geschichte wird der Gegenwartsbezug des Themas dementsprechend anders gesehen als in einigen anderen Magazinen, die noch der Taciteischen Mythenbildung folgen: „Nicht im Schwertkampf des ‚Hermann‘, sondern im friedlichen Austausch und in der Anpassung an die römische Lebensweise liegt die Wiege unserer Kultur“.32 Damit zeigt sich bei ZEIT Geschichte der Bedeutungsverlust der Varusschlacht und der Germanicusfeldzüge im Sinne einer nationalen Heldengeschichte. Gleichzeitig wird ein neues Narrativ gebildet, das Kulturkontakte in den Vordergrund stellt und explizit – trotz der angeblich „Germanen“ und Römer trennenden Varusschlacht – das römische Erbe als einen Grundpfeiler der Kultur und Lebensweise des heutigen Deutschlands feiert.
5.
Relevanzzuschreibung unter Nutzung der Präsenz des Themas in anderen Medien
Für kommerzielle Produkte wie Geschichtsmagazine kann es gewinnbringend sein, Synergieeffekte zu nutzen und die momentane Popularität eines historischen Themas in anderen geschichtskulturellen Manifestationen zu nutzen. Die Leser:innen erhalten damit Informationen zu Inhalten, die sie bereits in anderen Medien wahrgenommen haben. Dies erhöht das Gefühl, dass es sich um ein wichtiges, in der Gegenwart präsentes Thema handelt, über das man informiert sein sollte, um am Diskurs teilnehmen zu können. Bezogen auf die Varusschlacht gab es einige crossmediale Anknüpfungspunkte, auf die auch in den Editorials und Beiträgen der Geschichtsmagazine hingewiesen wird. Zu beachten sind hier vor allem historische Ausstellungen, wie die im Museum von Kalkriese stattfindende Jubiläumsausstellung zu Germanicus 2015 oder die Ausstellung „Ein Traum von Rom“, auf die G-Geschichte im Editorial direkt verweist.33 Daneben kann als markanter crossmedialer Bezugspunkt die Netflix-Serie „Die Barbaren“ genannt werden, die
32 ZEIT Geschichte 1 (2021), Editorial, S. 4. 33 G-Geschichte 10 (2014).
Die Varusschlacht und die Germanicusfeldzüge in aktuellen Geschichtsmagazinen
2020 mit der ersten Staffel und 2022 mit der zweiten Staffel die Ereignisse um die Varusschlacht thematisiert.34 Die vorliegende Untersuchung hat deutlich gemacht, dass Arminius und die Germanicusfeldzüge auch nach dem Jubiläum 2009 in Geschichtsmagazinen berücksichtigt werden, obwohl die Thematik nicht mehr als Teil eines großen nationalen Masternarrativs abgehandelt werden kann. Attraktiv bleibt der Themenkomplex aus verschiedenen Gründen und Anlässen: Neben crossmedialen Faktoren lässt sich das Thema unter dem nach wie vor wohl zugkräftigen Schlagwort „Germanen“ vermarkten, auch wenn innerhalb einzelner Beiträge dann der Germanenbegriff hinterfragt wird. Arminius gilt dabei als einer der wenigen namentlich bekannten und durch Quellen fassbaren „Germanen“, aus dessen Erfolgs- und Familiengeschichte sich eine Story machen lässt, die eine Personalisierung des Stoffes ermöglicht, so dass die Leser:innen auch auf einer emotionalen Ebene angesprochen werden können.35 Die Tatsache, dass in den letzten Jahren eine Reihe von archäologischen Funden zumindest die Frage nach dem Ort der Varusschlacht immer wieder in die Debatte brachten, ist schließlich ebenfalls als ein wichtiger Faktor zu nennen, warum das Thema von den Produzent:innen der Geschichtsmagazine als nach wie vor attraktiv empfunden wird. Demgegenüber stehen eine Reihe von Faktoren, warum Arminius und die Ereignisse bis 16 n. Chr. eigentlich ein schwieriges Thema für Geschichtsmagazine sein müssten: Arminius ist längst kein Teil mehr des nationalen Masternarrativs, über die Bestimmung des Schlachtortes hinaus gibt es kaum Bewegung in der Forschung und auch im Hinblick auf verfügbares, belastbares Bild- und Quellenmaterial muss ein Mangel konstatiert werden. Der Beitrag hat dementsprechend auch Strategien gezeigt, wie Geschichtsmagazine arbeiten, um das Thema für die heutigen Leser:innen interessanter zu machen und ihm Relevanz zuzuschreiben. Dazu werden von den Produzent:innen der Geschichtsmagazine die verschiedensten Möglichkeiten genutzt wie das Setzen von Gegenwartsbezügen, die Überbetonung der Bedeutung der Schlacht für den weiteren Geschichtsverlauf, die Personalisierung des Stoffes oder eben die Nutzung von Bildmaterial, das jedoch unterschwellig die Bilder der nationalen Mythenbildung vorheriger Jahrhunderte mittransportiert. Schließlich werden die wenigen Textquellen, die es zu den Geschehnissen gibt, gerade in einigen Ereignisberichten und Geschichtsreportagen nicht kritisch eingeordnet, sondern eher als Garanten für den Wahrheitsgehalt der Aussagen präsentiert, was allerdings an einzelnen Stellen Elemente des überwunden geglaubten nationalen Mythos zum Vorschein bringt.
34 Direkte Referenzen darauf bei Heft 11 (2021) von G-Geschichte. 35 Vgl. zur Personalisierung sowie weiteren Vermittlungsstrategien Popp/Schumann: Geschichtsmagazine und Wissensvermittlung, S. 27–52.
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Alfons Kenkmann
War Opa revolutionär? Der Arbeiterveteran der Novemberrevolution in der DDR
Der Frage „War Opa revolutionär?“ wird auf der Folie des hundertsten Jubiläums der Novemberrevolution 1918 und der anschließenden revolutionären Ereignisse bis ca. 1921 nachgegangen. Durch die gewählte inhaltliche Konzentration treten nicht die Fragen um den juristischen, den medikalisierten und medialen Zeitzeugen des Zivilisationsbruchs des 20. Jahrhunderts in den Fokus. Vielmehr soll die Ausflaggung des Zeitzeugen zum Dritten Reich und zum Holocaust um eine zur Frühphase der Weimarer Republik in Ostdeutschland ergänzt werden. Die Spurensuche zum Zeitzeugen des revolutionären Geschehens in den frühen Jahren der ersten Demokratie auf deutschem Boden führt zurück in die Jahre der frühen DDR.1
Traditionsarbeit und der Arbeiterveteran in der frühen DDR In der DDR waren es Ende der 1950er Jahre Funktionäre der SED gewesen, die nach Zeitzeugen der Novemberrevolution suchten, zählten diese doch neben dem kommunistischen Widerstand, dem Spanischen Bürgerkrieg 1936 bis 1939 und dem großen Vaterländischen Krieg zur großen „antifaschistischen Geschichtserzählung […] eine[r] weitgehend in sich geschlossene[n] […] DDRErinnerungskultur“2 . Darauf machte DER SPIEGEL in seiner Ausgabe vom 28. August 1957 aufmerksam: Unter der Überschrift „Die falschen Kämpfer.
1 In dem Beitrag werden Gedanken weiterentwickelt, die bei Vorträgen unter den Titeln „Mitteldeutschland 1919/1949: Von der Revolte zur Erfindung des Parteiveteranen“ (gemeinsam mit Patrick Wagner) bzw. „War Opa revolutionär? Veteranen und Zeitzeugen in Wissenschaft und Unterricht“ und „War Opa revolutionär? Wie kamen Veteranen und ZeitzeugInnen in Wissenschaft und Unterricht“ auf der Tagung „Aufbruch im Zusammenbruch? Die Jahre 1918/19 in mitteldeutscher Perspektive“ der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig am 22.11.2018 sowie auf dem Zeitgeschichtlichen Kolloquium an der Universität Jena am 27.01.2021 und auf dem Jour Fixe Kulturwissenschaften der Österreichischen Akademie der Wissenschaften Wien am 16.03.2023 vorgetragen wurden. 2 Leo, Annette: Die DDR-Erinnerungskultur und die Frage, was von ihr nach 1989/90 geblieben ist, in: Faulenbach, Bernd/Jelich, Franz-Josef (Hg.): „Transformationen“ der Erinnerungskulturen in Europa nach 1989, Essen 2006, S. 399–409, hier S. 400.
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Alfons Kenkmann
Partei-Veteranen“ griff der Verfasser süffisant und mit Häme die Tücken der von der SED betriebenen historischen Spurensuche auf: Die Altersheimer erzählten nämlich […] nicht nur vom KPD-Boß Ernst Thälmann, sondern auch […] von Männern, die allesamt einst leuchtende Vorbilder gewesen waren bis sie unversehens eine Kurve der Parteilinie verpaßten, weswegen ihre Namen seitdem parteiamtlich geächtet sind.3
Das printmediale Vergangenheitspartikel führt zwangsläufig zu Fragen: Wie und weshalb wurden die Veteranen im gewählten Zugriffskontext zur gesuchten und geschätzten Quelle? Blitzten Momente des Eigensinns in den Erinnerungen der Veteranen und Zeitzeugen auf? Gibt es eine Spannung zwischen erzählter Zeit (1918 bis 1921) und Erzählzeit (1950er Jahre)? Beginnen wir mit dem Zeitzeugen in der DDR. Für die nachträgliche Darlegung und auch ‚Anfettung‘ der Leistungen der sozialistischen Parteien hatte die Indienstnahme des Veteranen – Arbeiterveteranen – Parteiveteranen – die Bezeichnungen sind fluide – eine nicht zu unterschätzende Bedeutung. Wir haben es in den unruhigen Jahren 1918 bis 1921 mit sozialen Bewegungen und Akteuren zu tun, die neben und jenseits der Parteien agierten: Von der Front zurückgekehrte antimilitaristische Soldaten standen Berufsoffizieren, -unteroffizieren und dem Zivilleben entfremdeten „Kriegern“ gegenüber. Eine proletarische Bewegung für Sozialisierung und Demokratisierung der Betriebe und Industrie traf auf eine bürgerliche Bewegung für Ruhe, Ordnung und Statuserhalt.4 Diese Polarisierung und die Konfrontationen spiegeln sich jedoch in den vor allem in den 1950er und 1960er Jahren erhobenen Erinnerungsberichten wenig wider, da die überlieferten Berichte sich im Gros auf die Kampfhandlungen beziehen, die Strategien der KPD und die Gewalt der Gegnerseite in den Fokus nehmen. Wenn wir etwas erfahren, dann über den heroischen Kampf des Spartakus während der letzten Monate 1918, über die Februarereignisse 1919, die Abwehr der Kapp-Einheiten 1920 durch die KPD als auch die „Märzkämpfe“ in Mitteldeutschland 1921. Da es aber noch keine ausgereifte kommunistische Parteistrategie gab und auch die Zahl der Aktivisten auf kommunistischer Seite im Vergleich zu den sozialen Protestakteuren eher gering ausfiel, war die Zahl der potenziell mit Erinnerung ausgestatteten KPD-Veteranen von vornherein begrenzt. Die quantitative Überschaubarkeit spiegelt die gelebte Distanz der Akteure der „massiven Protestbewe3 Der SPIEGEL, 11. Jg., Nr. 35, 28.08.1957, S. 22. 4 Wagner, Patrick: „Es ist alles ruhig. Auf dem Rathause eine rote Flagge“. Die Revolution von 1918/19 in Halle an der Saale, in: Ders./Hettling, Manfred (Hg.): Revolutionäre Zeiten zwischen Saale und Elbe. Das heutige Sachsen-Anhalt in den Anfangsjahren der Weimarer Republik, Halle 2019, S. 14–46, hier S. 31 f.
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gung im Lager der Arbeiterschaft“5 zu den sozialistischen Parteien wider. Keine der rivalisierenden Parteien der sozialistischen Linken vermochte mit Wolfgang Mommsen „den Charakter dieser sozialen Protestbewegungen richtig einzuschätzen“6 . Dennoch bzw. gerade deshalb waren 40 Jahre später Erinnerungsberichte im parteistrategischen Sinne erwünscht und nicht Erfahrungsberichte, die den vitalen Eigensinn der damaligen Akteure widerspiegelten.
Arbeit der Kommissionen zur „Erforschung der Arbeiterbewegung“ vor Ort An der Traditionserzählung des Arbeiter- und Bauernstaates in der Ära des Kalten Krieges arbeiteten in der frühen DDR unterschiedliche Akteure und Institutionen: Die SED-Führung, das Zentrale Parteiarchiv und die Institutionen der marxistischleninistischen Geschichtswissenschaft, die Geschichtskommissionen auf Bezirksund Kreisebene, die „Veteranenkommissionen“ und die Veteranen selbst. Alle genannten Akteure konstruierten eine kollektive Erzählung, die die DDR aus den historischen Kämpfen, Erhebungen und Revolutionen des frühen 20. Jahrhunderts ableitete. Neben der geschichtspolitischen Fanfare des ‚Schwurs von Buchenwald‘ war die Besinnung auf den politischen Kampf der revolutionären Arbeiterbewegung 1918 bis 1921 für die Traditionsbildung von oben seitens der SED unerlässlich. Bei diesem Tradierungsprozess kam dem Veteranen eine große Bedeutung zu. Auch deshalb, da die Arbeit der zentralen Forschungsinstitute und der dort entstandenen Publikationen eher theoretisch und unter Fokussierung überregionaler Themen und der Konzentration auf Berlin daher kam. Von daher fiel den auf SED-Bezirks- und Kreisebenen eingesetzten Geschichtskommissionen die Funktion zu, die gewünschte geschichtspolitische Narration der Arbeitergeschichte am Beispiel örtlicher Ereignisse nachzuweisen und zusätzliche Quellen – zu denen auch die mündlichen Überlieferungen der Veteranen zählten – bereit zu stellen. Es handelte sich um den Versuch einer niedrigschwelligen Traditionsarbeit, wie durch die gewählte Bezeichnung „Kommission zur Erforschung und Popularisierung der örtlichen Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung“ deutlich unterstrichen wurde.7
5 Mommsen, Wolfgang T.: Die deutsche Revolution 1918–1920. Politische Revolution und soziale Protestbewegung, in: Geschichte und Gesellschaft 4 (1978), S. 362–391, hier S. 390. 6 Ebd. 7 SED Bezirksleitung Leipzig, Abteilung Propaganda/Agitation an die Kreisleitungen der SED, Kommission zur Erforschung und Popularisierung der örtlichen Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung v. 6. Mai 1957, in: StAL Bestand 21123, Nr. IV/2/09/04/544, Bl. 15–16.
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Die Bezirkskommission Leipzig zählte es z. B. zu ihren „wichtigen Aufgaben […] die wertvollen Erfahrungen der Veteranen voll auszuwerten“ und „die Lehren der Kämpfe der Arbeiterklasse in lebendiger Weise“ an die „[Angehörigen] der jüngeren Generation“8 zu transferieren. Mitunter gingen die Mitglieder der Kreiskommissionen wie Ethnologen ins Feld, um an die Veteranen und ihre Erzählungen zu gelangen. Ein Mitglied der Leisniger Kreiskommission im Jahre 1957: Dann wendete ich folgende Methode an: alle 8 Tage in einem alten Gasthof dauernd mit einfachen Leuten zusammenzukommen. Man hört sich an, was sie sprechen und ganz unauffällig schreibe ich mir die Unterhaltungen auf. Das wurde bemerkt. Jetzt kommen schon welche mit der Absicht, etwas zu erzählen. Auf diese Weise kommt man also zu Aussagen, die plötzlich auftauchen und nicht vorgefasst und gefälscht sind.9
Dem hochmotivierten sozialistischen Graswurzler und Spurensucher vor Ort geriet völlig aus dem Blick, dass es der parteilichen Traditionsbildung eben nicht um die unverfälschte Überlieferung ging, sondern um eine passgenaue Erinnerung im Sinne des gewünschten Traditionsnarrativs der SED. Die Arbeit mit den Veteranen war eine aufwändige. So fanden sich 1958 die mit der Geschichtskommission in Berlin-Brandenburg Befassten auf 52 „Aussprache“Terminen mit 320 Veteranen zusammen.10 Der Veteran als Objekt der Parteibegierde! Bei den Bezirksleitungen verlief die Arbeit der Geschichtskommissionen nicht ohne Probleme. Mal wurde mangelndes Interesse bei den Parteiverbänden und auch der FDJ registriert. Mal schlug sich an anderer Stelle „ein [zur Begleitung der Geschichtsarbeit] abgeordneter Student der Karl-Marx-Universität nach der Vorstellung des Arbeitsprogramms in die Büsche“.11 Auf der zentralen Konferenz der Bezirksleitungskommissionen der SED zur Erforschung der örtlichen Arbeiterbewegung in Berlin am 10. und 11. April 1958 wurde festgestellt, dass immerhin 18 „Sammelbroschüren“ zu historischen Ankerereignissen der sozialistischen Arbeiterbewegung im Rahmen der angeordneten
8 Ebd. 9 Bericht über den Erfahrungsaustausch am 02.01.1958 der Kommissionen für die örtliche Geschichte der Arbeiter-Bewegung Bezirk Leipzig, in: StAL 21123, Nr. IV/2/09/04/546, Bl. 85–93, hier Bl. 90. 10 Vgl. SED-Bezirksleitung Leipzig. Kommission zur Erforschung der Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung: Bericht vom Erfahrungsaustausch der Kommission der BL mit allen Kreiskommissionen des Bezirks Leipzig v. Freitag, dem 25.04.1958, in: StAL, 21123, Nr. IV/2/09/04/546, Bl. 148–163 [7]. 11 Vgl. SED-Bezirksleitung Leipzig. Kommission zur Erforschung der Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung: Bericht über die Erfahrungen der Bezirkskommission Leipzig bei der Erforschung und Darstellung der Entwicklung der Arbeiter- und Bauernmacht im Bezirk v. 31.10.1960, in: StAL 21123, Nr. IV/2/09/04/546, Bl. 315–323, 318.
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Geschichtsaufarbeitung an der Basis erschienen seien, diese Arbeiten aber auch „Schwächen“ aufwiesen. „Nicht immer“ seien „richtige politische Einschätzungen“ und die „geschichtliche Wahrheit“12 niedergeschrieben worden. Bei einem weiteren „Erfahrungsaustausch“ kam zur Sprache, dass Veteranen „über die Entwicklung der USPD“ in den Jahren 1917/18 berichteten, „allerdings nicht unter dem Gesichtspunkte der heutigen marxistisch-leninistischen Einschätzung der Geschichte.“13 In Leipzig fand man zum resümierenden Befund, „dass auch alte erfahrene Genossen, die von Anfang an den sozialistischen Aufbau miterlebten, Unsicherheiten in grundlegenden Fragen zeigten“.14 Allen inhaltlichen Auslegungsproblemen zum Trotz kam man aber nicht umhin festzustellen, dass in Bezug auf die revolutionäre Situation vor Ort, „manches Aktenstück erst durch die Erlebnisberichte der Veteranen und Teilnehmer verständlich wurde.“15
Sozialisation Welche Einblicke in die Lebenswelten und politischen Denkfiguren gestatten uns die Erinnerungsberichte? Die Veteranen waren dem Arbeitermilieu verhaftet – oftmals zählten schon die Eltern zum entsprechenden sozialmoralischen Milieu. So stellte der Veteran F.H. sich der bewaffneten Arbeiterschaft zur Verfügung, um zum Siege gegen die Konzernherrn zu helfen, da meine Erziehung durch meine Eltern zum Sozialismus erfolgt war und sie mir als Vorbild den Weg zeigten.16
Der Staffelstab wurde innerfamilial und im Generationenschritt weitergegeben. Durch Sozialisation, durch gewonnene Erfahrungsräume zum Revolutionär! Bis auf wenige Ausnahmen war den Veteranen gemeinsam ihre Aversionen gegenüber der SPD – hier aber insbesondere gegenüber der Parteiaristokratie. Im Gros der Berichte schlägt sich ein SPD-Bashing nieder: „Die SPD-Führer gingen […] nicht bis zur endgültigen Zerschlagung der Reaktion, sondern gegen die
12 StAL 21123, Nr. IV/2/09/04/546, Bl. 138–147 [5]. 13 Bericht über den Erfahrungsaustausch am 02.01.1958 der Kommissionen für die örtliche Geschichte der Arbeiter-Bewegung Bezirk Leipzig, in: StAL 21123, Nr. IV/2/09/04/546, Bl. 85–93, hier Bl. 92. 14 Vgl. StAL 21123, Nr. IV/2/09/04/546, Bl. 315–329, hier Bl. 319. 15 StAL 21123, Nr. IV/2/09/04/546, Bl. 138–147 [8]. 16 F.H.: Meine Erlebnisse bei den Kämpfen im März 1921, in: LHASA, Abteilung Merseburg (MER), Bestand I 525, Nr. A 1318, Bl. 3.
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revolutionäre Arbeitschaft [vor]“, und SPD-Oberpräsident Hörsing tat „alles […], die Revolution nicht zum endgültigen Sturz der Reaktion zu führen“17 .
Verschmelzung von Vergangenheit und Gegenwart in den Erinnerungsberichten Der Veteran hatte mit dem Habitus der „kollektive[n] historische[n] Repräsentanz“ aufzutreten. Indem er zum „einzige[n] legitimen Wahrer des historischen Erbes einer kämpferischen und organisierten Arbeiterbewegung“18 erhöht wurde, waren an die Rolle des Veteranen bestimmte Verhaltensmerkmale verknüpft. In seiner Erinnerungsarbeit sollte der Veteran mit Fritz Kittel, dem stellvertretenden Direktor des Instituts für Marxismus und Leninismus im Februar 1960, „nicht eine ixbeliebige Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung schreiben“19 , sondern von der Prämisse ausgehen, dass die SED der „parteiliche Ausdruck der Arbeiterbewegung“20 ist. Durch den Veteranen sollten vergangene Kämpfe geschmeidig in das Kollektivnarrativ integriert und die DDR als Verwirklichung der Forderungen der frühen Kämpen inszeniert werden. Unter diesen Prämissen waren individuelle Deutungsangebote zur damaligen Strategie der jungen KPD nicht geboten. Von daher kamen in dieser SEDErinnerungsarbeit vor allem die Veteranen zum Zuge, die auf Linie und es wohl auch gewohnt waren, ihre Lebensläufe entsprechend den jeweiligen parteistrategischen Richtlinien anzupassen. Ihre Erinnerungsberichte flossen z. B. ein in die Jubiläumsveröffentlichungen zu den „Märzkämpfen“ im sachsen-anhaltinischen Industriegebiet - wie „Kämpfendes Leuna“21 . Die Erinnerungsberichte sollten die longue durée des kommunistischen Kampfes vor Ort untermalen, der in die Gegenwart und glorreiche Zukunft des Arbeiter-
17 Ebd., Bl. 1 f. 18 Kondatowitz, Hans-Joachim von: Zumindest organisatorisch erfaßt … Die Älteren in der DDR zwischen Veteranenpathos und Geborgenheitsbeschwörung, in: Glaeßner, Gert-Joachim (Hg.): Die DDR in der Ära Honecker. Politik, Kultur, Gesellschaft, Opladen 1988, S. 514–528, hier S. 516 f. 19 So der stellvertretende Direktor des Instituts für Marxismus-Leninismus (IML), Fritz Knittel, in einem Vortrag vor den Mitarbeitern der örtlichen Geschichtskommissionen über die Bedeutung der Traditionen der örtlichen Arbeiterbewegung für die Erforschung und Darstellung der Geschichte der Partei und der deutschen Arbeiterbewegung vom 20. Februar 1960, in: StAL 21123, Nr. IV/2/ 09/04/545, Bl. 34. 20 Zit. Graf, Joscha/Sparrer, Jonathan: „Der rote Großvater erzählt“. Mitteldeutsche Arbeiterveteranen in der DDR. Unveröffentlichte Staatsexamensarbeit, Leipzig 2018, S. 64. 21 Kreisleitung der SED VEB Leuna Werke (Hg.): Kämpfendes Leuna (Bd. I: 1916–1933). Die Geschichte des Kampfes der Leuna-Arbeiter, Berlin 1961.
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und Bauernstaates führte: Der Veteran O. aus der Stahlwerkstatt der Leuna-Werke ‚Walter Ulbricht‘ im Februar 1954: Damals haben junge Arbeiter gekämpft und ihr Leben gelassen für die Sache der Arbeiterklasse und des gesamten werktätigen Volkes für Freiheit, Demokratie und Sozialismus. Heute baut die Jugend der DDR mit an den Grundlagen des Sozialismus.22
Selbst der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 wird eingewoben und voller subjektiver Wertung auf der Folie von 1921 diffamiert: Solche Banditen, wie sie uns damals [in Leuna] mißhandelten und als kapitalistische Henkersknechte auftraten, solche Banditen und faschistischen Elemente traten auch am 17.6.53 auf, kröhlten das ‚Deutschlandlied‘ und wollten solche Zustände wie damals 1921 wieder herstellen. […] Vor solchen Elementen müssen wir die größte Wachsamkeit üben.23
In einem weiteren Erinnerungsbericht heißt es über eine 1954 hergerichtete Gedenk-Komposition in/auf Leuna: Sie bleibt immer mahnende Wallfahrtsstätte, sie vereinigte in den März-Tagen die Kampfgruppen unserer jungen aufstrebenden Republik. Darunter sind viele Söhne alter Leunakämpfer. Wir alle sind mit heißen Herzen und Begeisterung bereit, unsere Errungenschaften […] zu schützen und zu verteidigen.24
Innerfamilialer Schulterschluss auf der Gedenkwalhalla! Die zitierten Veteranen sahen ihre Erfahrungen als Handlungsanweisung zur Gestaltung der DDR. Sie hatten verinnerlicht, dass eine Erzählung, die im strengen Reglement einer marxistisch-leninistischen Geschichtsdoktrin Bestand haben wollte, „sich ständig an den formulierten Bedürfnissen der SED-Führung zu orientieren hatte“.25 Ihre Erinnerungsberichte erfüllten mit Martin Sabrow das Format „einer [für] alle Beteiligten überzeugenden Beglaubigungserzählung“.26
22 O.: Die Märzaktion 1921, in: LHASA Abteilung Merseburg (MER), Bestand „Erlebnisberichte der Leuna-Arbeiter. ‚In Leuna sind viele gefallen‘“ (I 525), Nr. A 1319, Bl. 6. 23 Ebd., Bl. 13. 24 Erinnerungsbericht F.B., in: LHASA Abteilung Merseburg (MER), Bestand „Erlebnisberichte der Leuna-Arbeiter. ‚In Leuna sind viele gefallen‘“ (I 525), Nr. A 1318, Bl. 8. 25 Sabrow, Martin: Memoiren der Macht. Gedachte Geschichte in der Autobiographik kommunistischer Parteifunktionäre, in: Wildt, Michael (Hg.): Geschichte denken. Perspektiven auf die Geschichtsschreibung heute, Göttingen 2014, S. 186–207, hier S. 188. 26 Ebd., S. 195.
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Arbeiterveteranen zwischen Geschmeidigkeit und Eigensinn Dennoch schlich sich individueller Eigensinn in manches Veteranengedächtnis ein. Bei dem Leipziger Veteranen Walter L. kam überraschend bei einer Aussprache am 31. Mai 1960 mit Mitgliedern der SED-Bezirksleitung zu Tage, dass er 1907 der SPD angehört hatte und „1923 unter Protest aus der KPD“27 ausgetreten war und – wie kritisch bemerkt wurde, erst 1946 der SED beigetreten sei. Ein Veteran – Franz C. – hatte unter dem Kommando von Max Hoelz, einem Anarcho-Syndikalisten, gekämpft, dessen Mut und Entschlossenheit bewundert28 , während die Partei ein Bild von dem Aktivisten Max Hoelz entwarf, der „gegen jegliche Unterordnung unter eine politische Führung“29 gearbeitet hätte. Konkret warf C. seinen Genossen vor, zu zögerlich agiert und die Chance zur Revolution nicht ergriffen zu haben. Denn im Gegensatz zur Reaktion, der bewusst gewesen wäre, dass „1921 […] der letzte Zeitpunkt [war], das Geschichtsblatt zu wenden“30 , sei man dazu auf kommunistischer Seite noch nicht bereit gewesen. Dass Max Hoelz in der Erinnerung linker Aktivisten auch außerhalb der traditionellen kommunistischen Überlieferung überlebte, ist unschwer einem videografierten lebensgeschichtlichen Interview aus dem Ruhrgebiet aus dem Jahre 1978 zu entnehmen, das mit viel Aufwand vor drei Jahren vom westfälischen Landesmedienzentrum restauriert wurde. Interessant ist hier die nicht haltbare Analogiesetzung zur ersten RAF-Generation, lag Hoelz’ Strategie doch nicht auf der Durchführung politischer Attentate, sondern in dem ‚Kalkül der Drohung und Einschüchterung‘ und gleichzeitiger Durchführung von Demonstrationen und Streiks, bei denen durchaus Gewalt gegen Sachen ausgeübt wurde.31
27 Bericht und Schlußfolgerung über eine im Hause der SED-Bezirksleitung Leipzig stattgehabte Aussprache mit dem Gen. Walter L. am 23. Mai 1960, in: StAL Bestand SED Sammlung Erinnerungen (21692), Nr. V/5/179, Bl. 6–20, Bl. 8. 28 Vgl. Erinnerungsbericht Franz C., in: LHASA, Abteilung Merseburg (MER), Bestand „Erlebnisberichte der Leuna-Arbeiter. ‚In Leuna sind viele gefallen‘“ (I 525), Nr. A 1318, Bl. 26; zur aktionsintensiven Rolle von Max Hoelz siehe Schmeitzner, Mike: Weltkrieg – Weltrevolution – Diktatur: Gewalt von links und ihre Rechtfertigung 1918 bis 1923/34, in: Braune, Andreas/Dreyer, Michael/Elsbach, Sebastian (Hg.): Vom drohenden Bürgerkrieg zum demokratischen Gewaltmonopol (1918–1924), Stuttgart 2021, S. 29–49. 29 Knittel, Fritz: Die Märzkämpfe in Mitteldeutschland im Jahre 1921. Ihre Bedeutung und ihre Lehren, in: Marx-Engels-Lenin-Stalin-Institut beim ZK der SED (Hg.): Die Märzkämpfe 1921, Berlin 1956, S. 5–48, hier S. 35. 30 Vgl. Erinnerungsbericht Franz C., in: LHASA Abteilung Merseburg (MER), Bestand „Erlebnisberichte der Leuna-Arbeiter. ‚In Leuna sind viele gefallen‘“ (I 525), Nr. A 1318, Bl. 11. 31 Vgl. Stiller, Alphons/Voss, Gabriele/Hübner, Christoph: Lebens-Geschichte des Bergarbeiters Alphons S. Ein Bio-Interview in 8 Teilen, zusammen 4 Stunden, 16 Minuten, sw (1978), hg. LWLMedienzentrum Westfalen, Münster 2018.
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Doch zurück zu den sachsen-anhaltinischen, sächsischen und thüringischen Arbeiterveteranen und ihren Erinnerungen: Veteran Paul T., ehemaliges KAPDMitglied, beharrte darauf, dass „das Meiste“, was über die Märzkämpfe geschrieben wurde, „von Nichtbeteiligten [stammte], die natürlicherweise aus irgendwelchen Quellen geschöpft haben und sich also auf die Richtigkeit der Angaben verlassen mußten“32 . Dies beträfe vor allem Arbeiten der marxistischen Geschichtswissenschaft, welche seiner Auffassung nach wenig oder kaum auf der Grundlage des Erlebten der Beteiligten fußten. Der geschichtspolitische Nachhilfeunterricht der SED-Funktionäre stieß bei dem alten Leunakämpfer auf Unverständnis. Paul T. ist damit Beispiel für eine ganze Reihe von Parteiveteranen, die daran scheiterten, den an sie gestellten Anspruch, „ihre oft konträren Erfahrungen als kohärente Erzählung in aller Öffentlichkeit [zusammenzufügen] und [zu] beglaubigen“.33 Erkennbar an den Beispielen ist das mit Martin Sabrow unaufhebbare strukturelle Dilemma zwischen erzählter Zeit und Erzählzeit, das sich in der geschlossenen Sinnwelt der kommunistischen Politikkultur nicht lösen ließ, nämlich dem Gegensatz zwischen einer auf zeitlicher Gewordenheit beruhenden Lebenserzählung und der auf zeitlose Richtigkeit ausgerichteten Selbstinszenierung der kommunistischen Partei.34
Dazu noch ein Beispiel: Im Herbst 1956 baute die Kreisleitung der SED im thüringischen Sömmerda eine Ausstellung zur Geschichte der lokalen Arbeiterbewegung auf. Die Bezirksleitung ließ sie umgehend wieder abbauen. Vorausgegangen waren Debatten unter Parteiveteranen der SED darüber, wie die Geschichte zu deuten sei; „ehemalige Anarchisten“, so hieß es in einem Bericht des Bezirkes, hätten mit früheren KPD-Mitgliedern gestritten. Schließlich habe die SED-Kreisleitung salomonisch entschieden, Alt-Anarchisten (darunter ehemalige Mitkämpfer vom bereits genannten Max Hoelz) und Alt-Kommunisten sollten jeweils einen Teil der Ausstellung gestalten. So geschah es – „Jeder kann sich denken, was dabei herauskam“ 35 , kommentierte die zuständige Kommission der Bezirksleitung – und ließ die gerade aufgebaute Ausstellung wieder abbauen. Es ging der SED, das zeigt auch dieses Beispiel, nicht um Aufdeckung der Unterschiede, Fremdheiten und Andersartigkeiten in den Erinnerungsberichten – wie
32 Erinnerungsbericht Paul T., in: LHASA Abteilung Merseburg (MER), Bestand „Erlebnisberichte der Leuna-Arbeiter. ‚In Leuna sind viele gefallen‘“ (I 525), Nr. A 1372, Bl. 581 f. 33 Satjukow, Silke: „Zeitzeugen der ersten Stunde“. Erinnerung an den Nationalsozialismus in der DDR, in: Sabrow, Martin/Frei, Norbert (Hg.): Die Geburt des Zeitzeugen nach 1945, Göttingen 2012, S. 201–223, hier S. 204. 34 Sabrow: Memoiren der Macht, S. 192. 35 Lokatis, Siegfried: Der rote Faden. Kommunistische Parteigeschichte und Zensur unter Walter Ulbricht, Köln 2003 (Zeithistorische Studien 25), S. 90 f.
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es bei Lutz Niethammer in den späteren erfahrungsgeschichtlichen Interviews in der ersten Hälfte der 1980er Jahre und im Rahmen des „Volkseigene Erfahrung“Projekts gegen Ende der DDR der Fall war.36
Veteran in der Schule In der Bildungsinstitution Schule hatte der auserkorene Arbeiter- oder Parteiveteran bereits seit Beginn der 1950er Jahre seinen festen Platz, wobei sich in diesem Kontext insbesondere die FDJ einbrachte. Sie war es, die ebenfalls „Aufgaben zur historisch-politischen Bildung und Erziehung der Schüler“ übernahm. „Lerne mit deiner Gruppe einen Arbeiterveteranen kennen. Erzähle, was er dir vom Kampf der Arbeiter berichtet hat“37 – so die Aufforderung für die 4. Klassen in den Schulen Sachsen-Anhalts Ende der 1950er Jahre. Der Arbeiter- bzw. der Parteiveteran war als Mediator historisch-politischer Bildung und Erziehung etabliert. Er führte durch die nationale Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald, trat als Schulfestredner auf, war Gesprächspartner bei Pioniernachmittagen, auf Pionierlagern und Jugendstunden.38 Damit war die Hoffnung verbunden, vier Jahre nach dem Volksaufstand, den vernichtenden Befund, „daß die [Leipziger] Jugend in der FDJ […] als auch in den Betrieben […] für [die] parteigeschichtliche Arbeit bisher wenig interessiert wurde“39 , für die Zukunft abzumildern. Über den Veteranen sollte sich für die Heranwachsenden ein Verweissystem zwischen Erinnerung, Mahnung und Auftrag für die Zukunft entfalten. Jedoch begrenzten die Befragungen oder auch die Erzählungen von Parteiveteranen den intergenerationellen Erfahrungstransfer an den Schulen auf legitimatorisch und identifikatorisch wünschenswerte Bereiche der Erinnerung. Auch die organisierte Lehrerschaft zog mit: So heißt es in einem Aufruf der Redaktion Deutsche Lehrerzeitung 1958:
36 Niethammer, Lutz: Die volkseigene Erfahrung. Eine Archäologie des Lebens in der Industrieprovinz in der DDR, Berlin 1991. 37 Das Stufenprogramm der Pionierorganisation „Ernst-Thälmann“. Vom 6. September 1958, zit. nach Handro, Saskia: Geschichtsunterricht und historisch-politische Sozialisation in der SBZ und DDR (1945–1961). Eine Studie zur Region Sachsen-Anhalt, Weinheim/Basel 2002, S. 304. 38 SED Bezirksleitung Leipzig, Abteilung Propaganda/Agitation an die Kreisleitungen der SED, Kommission zur Erforschung und Popularisierung der örtlichen Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung v. 6.05.1957, in: StAL 21123, Nr. IV/2/09/04/544, Bl. 15–16, Bl. 16. 39 Ebd., Bl. 15.
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Wäre es nicht [ein] fruchtbarer Gedanke, wenn die Schulen im Umkreis des Leunawerks […] sich mit der Geschichte […] unserer Industrie […] befassen würden? […] Die erzieherische Kraft der Arbeiterklasse kann hier unmittelbar einbezogen werden: Arbeiterveteranen können über die Kämpfe der Leuna-Arbeiter berichten.
Darüber hinaus böte das Vorhaben viele Möglichkeiten der selbständigen Arbeit für Lehrer und Schüler, Material zu sammeln, es für Mappen, Ausstellungen usw. auszunutzen, Lehrmittel herzustellen, das Laienspiel heranzuziehen usw.40
Sehr interessant ist das gewählte methodische Ensemble: Alle Register wurden gezogen, die Formen geistiger Vergegenwärtigung angesprochen: der symbolische Zugriff über Schrift („Material sammeln“), der ikonische Zugriff über das Bild („Bildmappen herstellen“) und das enaktive Moment über das vorgeschlagene Laienspiel zu den Leunaer Kämpfen. Damit waren methodisch zentrale Formate historischen Lernens abgedeckt und gleichzeitig auch der lokal- und regionalgeschichtliche Unterricht gestärkt Auch in den späteren Dekaden sollte die Traditionsbildung über die frühen lokalen Parteirevolutionäre unumstrittener Teil geschichtspolitischer Aktivitäten bleiben, die zwar den starren zentralistischen Blick nach Berlin ein wenig aufweichten. Doch je weiter zeitlich entfernt, desto starrer und eindimensionaler fiel die politische Traditionsbildung aus.
Ausblick Zu Beginn des Jahres 1976 fiel auf einer gemeinsamen Konferenz von Lehrern, Schülern, Eltern und weiteren Erziehungsträgern der Oberschule Keyna in SachsenAnhalt die Entscheidung, bis zum 16. April 1976 „ein Kampfprogramm zur Verleihung des Ehrennamens Ernst Thälmann-Oberschule Keyna“41 zu erarbeiten. Den Schülerinnen und Schülern wurde von den Thälmannpionieren und FDJAngehörigen im Rahmen der „außerunterrichtlichen Tätigkeit“ auf den Weg gegeben, zu den Gruppennachmittagen sogenannte Parteiveteranen einzuladen, die
40 Grosche, Otto: Bei Leuna floß Arbeiterblut. Die Kämpfe der Arbeiterbewegung im früher größten Betrieb des IG-Farben-Konzerns, in: Deutsche Lehrerzeitung 17, H. 5 (1958), S. 3. 41 Oehler, Katharina: Zwischen Ehrenhain und Traditionskabinett. Institutionalisierter Antifaschismus in den Schulen der DDR, Unveröffentlichte Staatsexamensarbeit, Leipzig 2017, S. 36.
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über den „Kampf gegen die faschistische Gewaltherrschaft und aus ihrem [früheren] Leben berichten.“42 Für die Klasse 9 hieß es zudem lapidar: „Erforscht die Geschichte der Arbeiterbewegung! Sprecht mit Arbeiterveteranen!“43 Wir haben es also mit einer longue durée der Traditionsarbeit mit Zeitzeugen und Zeitzeuginnen an den Schulen der DDR zu tun, bei der sie für die jeweilige Gegenwart vereinnahmt wurden. Dies passierte vor allem im Rahmen einer spezifischen, historischen Herleitung, mit der die SED ihren Führungsanspruch aus den Kämpfen der frühen 1920er Jahren erhob. Im Unterschied zum Zeitzeugen im Westen vermochte sich aber der Veteran im Osten von der ihm zugedachten Rolle nicht zu emanzipieren.
42 Scharf, Heinar: Chronik Keyna, [Keyna] 1976, S. 6. 43 Ebd., S. 17.
Andreas Michler
Das Lanna-Denkmal in Budweis – ein deutsch-tschechischer Erinnerungsort?1
1.
Einleitung
Seit der Öffnung des Eisernen Vorhangs und der gemeinsamen Mitgliedschaft der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechischen Republik in der Europäischen Union gibt es viele Bemühungen, die Beziehungen dieser beiden Nachbarländer in der Mitte Europas auf vielfältige Weise zu verbessern. Dass dazu auch die zunehmende Bereitschaft gehört, die vergangenen vielschichtigen, aber auch spannungsreichen deutsch-tschechischen Beziehungen aufzuarbeiten, spiegelt sich in der gegenwärtigen Erinnerungs- bzw. Geschichtskultur2 der beiden Nachbarstaaten wider. Als augenfällige Belege dieser Bemühungen lassen sich die Eröffnung des Sudetendeutschen Museums in München 2020 sowie in seiner „Partnerinstitution“3 dem Stadtmuseum in Ústi nad Labem (Aussig), die neue Dauerausstellung „Unsere Deutschen“ , die 2021 ihre Pforten öffnete, nennen. Im Gegensatz zu diesen auch medial wahrnehmbaren Beispielen scheinen Denkmäler als Felder deutsch-tschechischer Erinnerungskultur eher einen „Dornröschenschlaf “ zu führen. Zwar finden sich in der deutsch-tschechischen Grenzregion einige Denkmäler, die an die Öffnung des Eisernen Vorhangs im
1 Für die Unterstützung bei den Archivrecherchen in Budweis und für die Übersetzungsarbeit bedanke ich mich bei Frau Judith M. Rösch, M.A. und Herrn Mgr. Miloslav Man. 2 Zur Diskussion über die Abgrenzung bzw. Gleichsetzung der beiden Konzepte vgl. etwa Demantowsky, Marko: Geschichtskultur und Erinnerungskultur – zwei Konzeptionen des einen Gegenstandes. Historischer Hintergrund und exemplarischer Vergleich, in: Geschichte, Politik und ihre Didaktik 33 (2005), H. 1/2; Gautschi, Peter/Sommer Häller, Barbara (Hg.): Der Beitrag von Schulen und Hochschulen zu Erinnerungskulturen, Schwalbach/Ts. 2014; Hasberg, Wolfgang: Erinnerungs- oder Geschichtskultur? Überlegungen zu zwei (un-)vereinbaren Konzeptionen zum Umgang mit Gedächtnis und Geschichte, in: Hartung, Olaf (Hg.): Museum und Geschichtskultur. Ästhetik – Politik – Wissenschaft, Bielefeld 2006, S. 32–59; Schönemann, Bernd: Erinnerungskultur oder Geschichtskultur?, in: Kotte, Eugen (Hg.): Kulturwissenschaften und Geschichtsdidaktik, München 2011, S. 53–72. Eine zusammenfassend bewertende Darstellung der unterschiedlichen Ansätze findet sich in Dräger, Marco: Deserteur-Denkmäler in der Geschichtskultur der Bundesrepublik Deutschland (Geschichtsdidaktik Diskursiv – Public History und Historisches Denken, Bd. 4), Frankfurt a. M. 2017, S. 96–107. 3 Botschaft der tschechischen Republik in Berlin, https://www.mzv.cz/berlin/de/pressemitteilungen_ reden_texte/ausstellung_unsere_deutschen_in_usti_nad.html (05.02.2023).
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Jahre 1989/904 erinnern und damit auch eine in die Zukunft gerichtete neue Phase deutsch-tschechischer Beziehungen propagieren, in ihrer öffentlichen Wahrnehmung kommt einem jedoch das viel zitierte Diktum von Robert Musil in den Sinn, dass „es […] nichts auf der Welt [gibt], was so unsichtbar wäre wie Denkmäler“5 . Interpretiert man Denkmalsetzungen als einen Akt des Geschichtsbewusstseins, mit dem immer „Gegenwartsorientierung, Vergangenheitsdeutung und Zukunftsperspektive“ 6 verknüpft sind, dann geben Denkmäler als Manifestationen eben dieses Geschichtsbewusstseins und damit als Quellen der Geschichtskultur zweifellos Zeugnis davon, wie eine Gesellschaft in Vergangenheit und Gegenwart etwa die Geschichte der deutsch-tschechischen Beziehungen erinnert.7 Dass die kollektiven Erinnerungsangebote eines Denkmals sich wandeln können, soll anhand des Denkmals für Adalbert Lanna (1805–1866) aus der südböhmischen Stadt Budweis aufgezeigt werden. Mit der Rekonstruktion seiner Erinnerungsangebote soll der Frage nachgegangen werden, inwiefern das Lanna-Denkmal als ein deutschtschechischer Erinnerungsort8 und damit auch als ein Ort der Völkerverständigung interpretiert werden kann. Mit der Wahl dieses lokalgeschichtlichen Beispiels wird zunächst deutlich, dass hier ein Denkmal als „ein bewusst gesetztes Monument, das an ein Phänomen der Vergangenheit (Ereignis, Person) erinnern soll und nur aus diesem Grund, errichtet wurde“9 , verstanden wird. Es handelt sich also um eine engere Auslegung des durchaus mehrdeutig zu verstehenden Begriffs. Ziel dieser Studie ist es nicht, die nunmehr fast 144 Jahre dauernde Geschichte des Denkmals in einer bloßen ereignisgeschichtlichen Beschreibung detailliert 4 Im Rahmen des gemeinsamen EU-INTERREG-Projektes „denk.mal digital. Medial gestützte historisch-politische Bildung in der bayerisch-böhmischen Grenzregion“ der Universität Passau, der Westböhmischen Universität in Pilsen und des Koordinierungszentrums deutsch-tschechischer Jugendaustausch Tandem entstand eine Denkmalkarte, auf der neun Denkmäler vorgestellt werden, die an die Grenzöffnung nach Beseitigung des Eisernen Vorhangs erinnern, vgl. dazu Universität Passau https://www.uni-passau.de/denkmaldigital/karte-der-denkmaeler, (06.02.2023). 5 Musil, Robert: Denkmale, in: Ders.: Nachlass zu Lebzeiten, Reinbeck b. Hamburg 1962, S. 61 f. 6 Jeismann, Karl-Ernst: Geschichtsbewußtsein – Theorie, in: Bergmann, Klaus u. a.(Hg.): Handbuch der Geschichtsdidaktik, Seelze-Velber 5 1997, S. 42–44, hier S. 42. 7 Vgl. dazu Rüsen, Jörn: Was ist Geschichtskultur? Überlegungen zu einer neuen Art über Geschichte nachzudenken, in: Füßmann, Klaus/Grütter, Heinrich Theodor/Rüsen, Jörn (Hg.): Historische Faszination heute, Köln 1994, S. 3–26; vgl. dazu auch Schmid, Hans-Dieter: Denkmäler als Zeugnisse der Geschichtskultur, in: Horn, Sabine/Sauer, Michael (Hg.): Geschichte und Öffentlichkeit. Orte – Medien - Institutionen, Göttingen 2009, S. 7–36. 8 Zum Konzept der Erinnerungsorte vgl. zusammenfassend: François, Etienne/Schulze, Hagen: Einleitung, in: Dies. (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 1, München 2002, S. 9–24. 9 Weigand, Katharina: Denkmal, I. Historisch, Version 08.06.2022, 09:10 Uhr, in: Staatslexikon8 : https:// www.staatslexikon-online.de/Lexikon/Denkmal, (02.02.2023).
Das Lanna-Denkmal in Budweis – ein deutsch-tschechischer Erinnerungsort?
nachzuzeichnen,10 vielmehr sollen die unterschiedlichen Identifikationsangebote dieses Denkmals bei seiner Errichtung, seinem Sturz und seiner Wiedererrichtung kontextualisiert und ausgelotet werden.
2.
Die Errichtung des Denkmals 1879
Bereits sechs Tage nach dem Tod des Großunternehmers Adalbert Lanna am 15. Januar 1866 bildete sich auf Initiative des damaligen Budweiser Bürgermeisters Eduard Claudi ein Komitee mit dem Ziel, diesem hoch angesehenen Bürger der Stadt ein Denkmal zu errichten. Damit wollte man einerseits Lannas erfolgreiches unternehmerisches Wirken etwa bei der Schiffbarmachung der Moldau, dem Ausbau des Eisenbahnnetzes oder der Entwicklung der böhmischen Industrie, andererseits sein großes gesellschaftliches Engagement in seiner Heimatstadt Budweis, etwa als Förderer der schulischen und musikalischen Bildung oder als Gründer der städtischen Sparkasse, würdigen.11 Die Entstehungsgeschichte dieses Denkmals steht geradezu prototypisch für bürgerliche Denkmalinitiativen des 19. Jahrhunderts als Ausdruck und Vergewisserung eines zunehmenden bürgerlichen Selbstbewusstseins12 . Ein Indiz dafür ist die Wahl des zu Ehrenden: Auch wenn es von der ersten Denkmalidee unmittelbar nach dem Tod Lannas über 13 Jahre bis zur endgültigen Enthüllung am 24. Mai 1879 dauerte13 , so ehrte die Stadt Budweis nicht eine Persönlichkeit aus der Vergangenheit, sondern einen Zeitgenossen. Das Bürgertum setzte also jemanden auf den „Denkmalssockel“, der „seiner Gegenwart entstamm[te]14 “, was den Vergangenheitsbezug, den jedes Denkmal per definitionem innehat, in der
10 Vgl. dazu vor allem Kovář, Daniel: Vltavskému Admirálovi. Pomník Vojtěcha Lannyn. in: Ders.: Příběhy budějovických pomníků, České Budějovice 2000, S. 29–67. 11 Zur Biographie Lannas vgl. Kropf, Rudolf: „Lanna, Adalbert“, in: Neue Deutsche Biographie 13 (1982), S. 618–619: https://www.deutsche-biographie.de/pnd119433680.html#ndbcontent (06.02.2023); Lanna, Adalbert Frh. von (1805–1866), Großunternehmer, in: ÖBL 1815–1950, Bd. 5, S. 15: http://www.biographien.ac.at/oebl/oebl_L/Lanna_Adalbert_1805_1866.xml, (06.02.2023); Jakubec, Ivan: Der landespatriotisch orientierte Unternehmer Adalbert Lanna sr. (1805–1866), in: Prager wirtschafts- und sozialhistorische Mitteilungen 11/2010, S. 74–85; Kovář: Vltavskému Admirálovi. 12 Vgl. dazu Brückner, Wolfgang: Zugänge zum Denkmalwesen des 19. Jahrhunderts. Kollektive Trägerschaften und populäre Formen des Gedenkens, in: Mai, Ekkehard/Schmirber, Gisela (Hg.): Denkmal – Zeichen – Monument. Skulptur im öffentlichen Raum heute, München 1989, S. 13–18. 13 Zur langen Entstehungsgeschichte des Denkmals vgl. Kovář: Vltavskému Admirálovi. 14 Boockmann, Hartmut: Denkmäler und ihre Bedeutung für das Geschichtsbewusstsein, in: Hauser, Oswald (Hg.): Geschichte und Geschichtsbewusstsein, Göttingen, Zürich 1981, S. 231–245, hier S. 241.
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Entstehungszeit in den Hintergrund treten ließ. Dezidiert offenbarte sich in dem Lanna-Denkmal „der aktuelle Zustand der Gesellschaft und der Wunsch nach Dauerhaftigkeit und Konstanz bis in die Zukunft hinein“15 . Als beispielhaft für die „schrittweise Demokratisierung“16 der Denkmalsetzungen des 19. Jahrhunderts kann die Finanzierungsstrategie für das geplante Monument gelten. Nachdem das Komitee sowohl in Wien als auch Prag die offizielle Erlaubnis zum Ausgeben einer Subskriptionsliste für die Errichtung des Denkmals eingeholt hatte, erschien bereits Anfang Februar 1866 ein Spendenaufruf, dem viele Bürger, Unternehmen, aber auch Adelige wie etwa Fürst Jan Adolf von Schwarzenberg folgten.17 Die Finanzierung wurde also hauptsächlich durch bürgerliches Engagement und nicht aus den Privatschatullen einer adeligen Oberschicht geschultert. Auch die personelle Zusammensetzung des „Comités für das A. Lanna Denkmahl“18 liest sich wie das Who’s who der bürgerlichen Elite der Stadt Budweis des Jahres 1866. Allerdings handelte es sich hier fast ausschließlich um Mitglieder der deutschen Oberschicht, lediglich zwei Vertreter der tschechischen Bevölkerungsgruppe wurden zur Mitarbeit in dem Komitee eingeladen.19 Fragt man nach dem deutsch-tschechischen Verhältnis zu dieser Zeit, so waren zwar Deutsche und Tschechen zahlenmäßig etwa gleich stark in der Stadtgemeinde vertreten.20 Allerdings gibt die Zusammensetzung des Komitees, von dem die Denkmalidee ausging, einen Hinweis auf die politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Machtverhältnisse in der Stadt, die zu dieser Zeit von einer eindeutig deutschen Dominanz geprägt waren.21 Auch wenn der Aufruf, für die Errichtung des Denkmals einen finanziellen Beitrag zu leisten, sowohl in deutschen als auch tschechischen Zeitungen abgedruckt worden war, ist davon auszugehen, dass den Großteil des Spendenaufkommens Vertreter der deutschen Volksgruppe stemmten. In der Gründungsphase des Denkmals lässt sich das Zusammenleben der beiden Bevölkerungsgruppen eher durch ein friedvolles Nebeneinander als durch ein Miteinander charakterisieren. Von der Gründungsidee über die Finanzierung bis hin zum beauftragten Künstler (Franz Xaver Pönninger, Bildhauer und Architekt aus Wien) für die Bronzestatue und die
15 Greßhake, Florian: Damnatio memoriae. Ein Theorieentwurf zum Denkmalsturz, München 2010, S. 110 f. 16 Hardtwig, Wolfgang: Politische Kultur der Moderne. Ausgewählte Aufsätze, Göttingen 2011, S. 18. 17 Vgl. dazu Kovář: Vltavskému Admirálovi, S. 32 f. 18 Ebd., S. 30. 19 Vgl. ebd., S. 30 f. Es handelte sich um die beiden politischen Führer der Budweiser Tschechen Vendelin Grünwald und Hynek Zátka. 20 Vgl. dazu https://encyklopedie.c-budejovice.cz/clanek/cesi-a-nemci (11.02.2023). 21 Vgl. ebd.; zur Bedeutung des Denkmals als Indikator für die Machtverteilung vgl. auch Hardtwig: Politische Kultur, S. 24.
Das Lanna-Denkmal in Budweis – ein deutsch-tschechischer Erinnerungsort?
Reliefs sowie dem Handwerksbetrieb (Erhard Ackermann; Steinmetz aus Weißenstadt/Bayern), der den Sockel ausführte, kann das Lanna-Denkmal somit nicht nur als Ehrenmal für einen verdienten Bürger, sondern auch als eine Repräsentation und Manifestation kultureller Identität und wirtschaftlicher Macht der Deutschen in Budweis interpretiert werden. Zur feierlichen Denkmalsenthüllung am 24. Mai 1879 waren durchaus auch Vertreter der tschechischen Volksgruppe eingeladen, wie etwa Bischof Jan Valerian Jirsík, der den Gottesdienst anlässlich der Einweihung zelebrierte, oder auch Abordnungen aus tschechischen Schulen und Vereinen sowie Arbeiter aus den Lanna-Werften. Dennoch zeigt auch die geradezu pompöse Einweihungszeremonie, dass das Denkmal für Adalbert Lanna zweifellos als ein Medium des kulturellen Gedächtnisses der deutschsprachigen städtischen bürgerlichen Gesellschaft gelten kann.22 Aufgestellt wurde das neue Denkmal am Eingang des Stadtparks Na Sadech in unmittelbarer Nähe der Lannastraße, die vom Bahnhof in die Innenstadt führt. Zusammen mit dem roten Granitsockel und der überlebensgroßen Bronzestatue von Adalbert Lanna (2,69 m) hat das Denkmal eine Gesamthöhe von 6,64 Metern. Auf dem kreisförmigen Bronzesockel befinden sich auf dem unteren Sims vier deutsche, durch Voluten getrennte Inschriften: Auf der südlichen Frontseite steht der Name „Adalbert Lanna“, auf der nördlichen Rückseite „Gewidmet von der Stadt Budweis 1879“, die Inschrift auf der östlichen Seite des Sockels thematisiert seine wirtschaftlichen Verdienste: „Freudig und rastlos schaffend entrang Er dem Boden die Schätze. Ebnet den Fluthen die Bahn sie zu tragen ans Meer“ und der gegenüberliegende Text würdigt sein gesellschaftliches Engagement als Mäzen: „Warmherzig gab Er der Heimath Rath, Hilfe und Beispiel, ihrer Jugend das Beste: eine Stätte der Bildung.“ Auf dem aufwendig gestalteten Relief des oberen Bronzesockels wird Lannas Leben und Wirken in Form von Symbolen und Allegorien dargestellt.23 Trotz seiner auffallend repräsentativen Form und üppigen künstlerischen Ausgestaltung schien der Weg des Lanna-Denkmals in die Unsichtbarkeit – nach seiner öffentlichen Wahrnehmung in der langen Entstehungszeit und publikumswirksamen Einweihungszeremonie – vorgezeichnet. Größere Aktivitäten, bei denen das Denkmal in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückte, sind jedenfalls für die kommenden 66 Jahre nicht überliefert. Vielleicht ist das mit ein Grund, dass, trotz einer deutlich wahrnehmbaren Verschlechterung des deutsch-tschechischen
22 Über die Funktion von Denkmälern als Quellen kultureller Identität und Medien des kulturellen Gedächtnisses, vgl. auch Dräger: Deserteur-Denkmäler, S. 76–79. 23 Eine detaillierte Beschreibung des Denkmals findet sich in Kovář, Vltavskému Admirálovi, S. 63–67.
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Gesamtansicht des Lanna-Denkmals 2022. Foto: Andreas Michler.
Das Lanna-Denkmal in Budweis – ein deutsch-tschechischer Erinnerungsort?
Verhältnisses in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts hin zu einer „Konfliktgemeinschaft“24 , das Denkmal bis 1945 von Beschädigungen und Angriffen jeglicher Art verschont blieb.
3.
Der Denkmalsturz 1945
Das Lanna-Denkmal rückte dann im Mai 1943, also zur Zeit der nationalsozialistischen Okkupation und des Zweiten Weltkriegs, ins Visier der damaligen deutschen Machthaber. Die Gefahr, die dem Monument jetzt drohte, war jedoch weder ideologisch noch politisch motiviert, sondern muss der dritten Phase der nationalsozialistischen Denkmalstürze25 zugerechnet werden, in der vor allem pragmatische Gründe zu Denkmalzerstörungen führten. So stand auch die Bronzestatue des Lanna-Denkmals auf der Liste der Metallobjekte, die als kriegswichtiges Material eingeschmolzen werden sollten. Dem damaligen Regierungskommissar und gleichzeitigen Oberbürgermeister von Budweis, Friedrich David26 , gelang es jedoch, die Bronzestatue durch Verhandlungen mit dem Denkmalamt in Prag, in die sogar das Büro des Reichsprotektors eingeschaltet war, vor dem Einschmelzen zu bewahren.27 Sicherlich ist die Vermutung des Budweiser Stadtarchivars Daniel Kovář nicht von der Hand zu weisen, dass diese erfolgreiche Rettungsaktion auch „einer besonderen Zuneigung des Regierungskommissars David zur Persönlichkeit Adalbert Lannas“28 zu verdanken war. Neben diesem doch sehr persönlichen Motiv spielte zweifelsohne aber auch die Tatsache, dass es sich um ein künstlerisch bedeutsames Denkmal für einen Bürger der Stadt Budweis handelte, eine nicht zu vernachlässigende Rolle, da „Werke, deren künstlerischer, politischer und historischer Wert unbestritten war, vor dem Einschmelzen bewahrt werden [sollten und konnten]“29 . Und natürlich kann auch davon ausgegangen werden, dass die Zerstörung deshalb von dem nationalsozialistischen Regierungskommissar verhindert wurde, weil es
24 So der Titel des viel beachteten Buches von Křen, Jan: Die Konfliktgemeinschaft. Tschechen und Deutsche 1780–1918. Aus dem Tschechischen von Peter Heumos (Veröff. des Collegium Carolinum, 71), München ²2000. 25 Zu den drei Phasen nationalsozialistischer Denkmalstürze vgl. insbes. Thamer, Hans-Ulrich: Von der Monumentalisierung zur Verdrängung der Geschichte. Nationalsozialistische Denkmalpolitik und die Entnazifizierung von Denkmälern 1945, in: Speitkamp, Winfried (Hg.): Denkmalsturz. Zur Konfliktgeschichte einer politischen Symbolik, Göttingen 1997, S. 109–136, hier S. 113 f. und S. 121. 26 Zur Person Friedrich David vgl. https://encyklopedie.c-budejovice.cz/clanek/david-friedrich (15.02.2023). 27 Zur Darstellung dieser Rettungsaktion vgl. Kovář: Vltavskému Admirálovi, S. 55 f. 28 Ebd., S. 56. 29 Thamer: Monumentalisierung, S. 121.
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um ein Denkmal für einen Vertreter der deutschen Volksgruppe ging. Die Zuneigung, die Kunstsinnigkeit und dieses Engagement zeigte David jedenfalls bei den Denkmälern, die an tschechische Bürger erinnerten, nicht. So verantwortete er unter anderem die Zerstörung der Denkmäler für Bischof J. V. Jirsík und für den Politiker August Zátka sowie zahlreiche Straßenumbenennungen, die auch als ein Akt der damnatio memoriae gesehen werden müssen. Insbesondere der Sturz des von dem tschechischen Bildhauer Josef Václav Myslbek stammenden Jirsík-Denkmals im Jahre 1939, das erst im September 1926 am Fuß des Schwarzen Turms vor der St. Nikolaus-Kathedrale aufgestellt worden war, hatte, wie noch zu zeigen sein wird, Auswirkungen auf die spätere städtische Denkmalpolitik. Zum tatsächlichen Sturz des Lanna-Denkmals kam es dann unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs in der Nacht vom 24. auf den 25. Mai 1945. Wohl mit tatkräftiger Unterstützung von Soldaten der Sowjetarmee riss eine aufgebrachte Menschenmenge die Bronzestatue von ihrem Sockel und skandierte dabei antideutsche Parolen.30 Es gibt keinen Hinweis darauf, dass diesem Denkmalsturz eine offizielle Direktive zugrunde lag, vielmehr handelte es sich offensichtlich um einen affektiven Akt, mit dem symbolisch die Selbstbefreiung von einer fremden Gewaltherrschaft vollzogen werden sollte. Zu Recht weist Florian Greßhake darauf hin, dass „Zerstörung und Sturz“ von Denkmälern „auf eine Unvereinbarkeit von vergangenem und zukünftig Gewolltem [verweisen]“.31 An dem Budweiser Beispiel wird deutlich, dass die Stellvertreterfunktion, die einem Denkmal immer zugeschrieben werden kann, sich je nach Auge des Betrachters ändert. Für die tschechischen Denkmalstürmer stand das Lanna-Denkmal nicht mehr stellvertretend für die Identität der deutschen Ethnie in Budweis, mit der sie eine Geschichte gemeinsamen Zusammenlebens verband, sondern wurde als Zeichen für die verhassten deutschen Besatzer interpretiert, die durch die Zerstörung des Monuments „symbolisch aus dem öffentlichen Raum vertrieben werden“32 sollten. Interessant ist, wie unterschiedlich noch im Jahr 1993 in der Kulturbeilage einer Budweiser Zeitung die Zerstörung der beiden Denkmäler beschrieben wurde. In einem Beitrag für die Feierlichkeiten anlässlich der Wiedererrichtung des Jirsíkund des Lanna-Denkmals hielt der Autor des Artikels fest, dass das Jirsík-Denkmal „von den hasserfüllten, fanatischen Budweiser Deutschen während der Besatzung entfernt und zerstört“33 wurde, während er etwas euphemistisch feststellte, dass
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Vgl. Kovář: Vltavskému Admirálovi, S. 56. Greßhake: Damnatio, S. 75. Ebd., S. 86. „Pomník Jirsíkův od Mistra Myslbeka byl nenávistnými, zfanatizovanými českobudějovickými Němci za okupace odstraněn a zničen;[…].“, in: SOkA České Budějovice: Českobudějovické noviny 3/10 (1993), Kultura – příloha [Budweiser Zeitung, Kulturbeilage].
Das Lanna-Denkmal in Budweis – ein deutsch-tschechischer Erinnerungsort?
Gestürztes Lanna-Denkmal 1945. Staatliches Bezirksarchiv České Budějovice, Foto- und Postkartensammlung von Jiří Dvořák, Kasten F5, Inv.-Nr. 5465.
das Lanna-Denkmal „aus Unkenntnis und deshalb, weil auf ihm feierliche Texte auf Deutsch waren, in den Maitagen 1945 von tschechischen Leuten entfernt und vorübergehend eingelagert“34 wurde. Zweifelsohne leisteten die deutschen Denkmalstürmer 1939 ganze Arbeit, indem sie in einer geplanten und organisierten Aktion durch Einschmelzen die Bronzestatue des Bischofs vollständig zerstörten. Im Unterschied dazu handelte es sich bei der Zerstörung des Lanna-Denkmals wohl um einen eruptiv-emotionalen Akt, der sicher auch durch die deutschen Inschriften geschürt wurde. Die Beschreibungen dieses Denkmalsturzes durch Augenzeugen35 deuten jedoch wenig darauf hin, dass dieses Monument lediglich „entfernt“ wurde (siehe auch Abb. 2). Tatsächlich blieb die Bronzestatue, wenn auch mit deutlichen Schäden, die im Laufe der folgenden Jahrzehnte der Einlagerung noch zunahmen, erhalten. Doch mit der Formulierung „vorübergehend eingelagert“ insinuiert der Verfasser des Artikels, dass die damaligen Akteure geplant und vorausschauend handelten, was dem Wesen eines affektiven Zerstörungsaktes
34 Ebd.: „[…] Lannův pomník byl z nevědomosti a proto, že na něm byly oslavné texty v němčině, v květnových dnech roku 1945 povalen českými lidmi odstraněn a prozatímně uložen.“ 35 Vgl. dazu Kovář: Vltavskému Admirálovi, S. 56.
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widerspricht. Unerwähnt darf nicht bleiben, dass es sich bei dem Autor des Artikels um Karel Kakuška handelte, der als Vorsitzender des Klubs der Freunde von Budweis (Klub přátel Českých Budějovic) maßgeblich die Wiedererrichtung der beiden Denkmäler initiierte. Beide Denkmalstürze hatten das gleiche Ziel, nämlich durch eine „damnatio memoriae der direkt vorhergehenden Geschichtsepoche“ den Weg „für die Bildung einer neuen Gesellschaftsordnung“36 zu bereiten.
4.
Die Wiedererrichtung 1993
Folgt man der These, dass mit dem Denkmalsturz immer die Phase eines Neubeginns eingeläutet wird, die mit der Neuerrichtung von Denkmälern „neue identitätsstiftende Zeichen“37 setzt, dann stellt sich natürlich die Frage, wie die Restitution des Lanna-Denkmals im Jahre 1993 zu interpretieren ist. Auf jeden Fall zeigt sich hier erneut, dass Denkmalerrichtungen wie Denkmalstürze vor allem während Umbruchszeiten, wie es die Zeit nach der „Samtenen Revolution“ im Herbst 1989 ohne Frage darstellt, Konjunktur haben. Eine erste Initiative für die Erneuerung des Denkmals ging jedoch bereits in den 1960er Jahren von der kommunistischen Kunst- und Denkmalkommission der Stadt aus. Motiviert war diese Absicht offensichtlich durch das Bewusstsein der Kommissionsmitglieder über den hohen künstlerischen Wert der beschädigten Bronzestatue, die nach dem Sturz geradezu in einer Odyssee immer wieder umgelagert und weiter beschädigt wurde. Die Wiedererrichtung des ältesten Budweiser Denkmals38 sollte zum einen zur Verschönerung der Stadt beitragen, zum anderen wohl auch einen der vormals angesehensten Bürger der Stadt rehabilitieren.39 Dieses Vorhaben wurde jedoch ab dem Jahre 1968 aufgrund der politischen Entwicklungen, die mit dem gewaltsamen Ende der Reformbemühungen des „Prager Frühlings“ zusammenhingen, zunächst nicht weiterverfolgt. Dass die Budweiser Denkmalbehörde diesen Plan dennoch nicht aufgab und rund zwölf Jahre später wieder aktiv wurde, bestätigt Vladimír Musil, der von 1981 bis 1991 als Denkmalpfleger der Stadt Budweis tätig war und Kakuška als Vorsitzender des „Klubs der Freunde von Budweis“ nachfolgte. Nach seinen Angaben wurden Ende der 1980er Jahre „Konsultationstage“ im Rathaus eingeführt, „um die Pläne für die Instandsetzung von Denkmälern innerhalb und außerhalb des Schutzgebiets [der Budweiser Denkmalbehörde, AM] unter Beteili-
36 37 38 39
Greßhake: Damnatio, S. 86. Ebd., S. 115. Vgl. http://encyklopedie.c-budejovice.cz/clanek/pomniky (04.02.2023). Vgl. dazu Kovář: Vltavskému Admirálovi, S. 58.
Das Lanna-Denkmal in Budweis – ein deutsch-tschechischer Erinnerungsort?
gung von Sachverständigen und Vertretern der örtlichen Bürger zu bewerten.“40 Der endgültige Anstoß für die Umsetzung der Restitutionspläne und zwar nicht nur für das Lanna-, sondern auch für das Jirsík-Denkmal, kam mit dem Umbruch im Zuge der „Samtenen Revolution“ 1989. Eine entscheidende Rolle spielte dabei der wiedergegründete „Klub der Freunde von Budweis“ mit den Vorsitzenden Karel Kakuška und Alena Trägr. Ihnen gelang es mithilfe der großzügigen Spende eines Mäzens, der nicht genannt werden wollte41 , die künstlerische Wiederherstellung der beiden Denkmäler zügig in die Wege zu leiten. Die Statue des Bischofs J. V. Jirsík wurde von der Prager Metallgießerei Dvořák in Zusammenarbeit mit dem Bildhauer J. Kačer nach einem erhaltenen Gipsmodell in Bronze nachgegossen. Die Reparatur der stark beschädigten Lanna-Statue lag in der Verantwortung des Bildhauers und Restaurators Ivan Tlášek, der als Präsident der Samson-Stiftung auch mit der Gesamtorganisation der künstlerischen Wiederherstellung der Denkmäler betraut wurde.42 Die Enthüllung der beiden Denkmäler fand am selben Tag, dem 2. Oktober 1993 statt. Rekonstruiert man den Ablauf der Feierlichkeiten, so stellt man anhand der Ehrengäste, der Aktivitäten und Reden fest, dass diese Restitution von einer breiten Basis der Zustimmung und Unterstützung vor allem auch von Seiten der Kirche und der Stadt getragen wurde. Verfolgt man die Aussagen der damaligen Initiatoren und Entscheidungsträger über die Motivation für die Wiedererrichtung der beiden Denkmäler, dann findet man zum einen ästhetisch-künstlerische Begründungen: Budweis sollte wieder seine bedeutsamen Artefakte zurückbekommen. Zum anderen war damit auch der Wunsch verbunden, „zwei bedeutenden Persönlichkeiten Respekt [zu zollen]“43 , also die von ihren Sockeln Gestoßenen zu rehabilitieren. Zugleich wurde die erneute Enthüllung beider Denkmäler als „Symbol des bürgerlichen und kulturellen Bewusstseins der Budweiser“44 interpretiert. Offensichtlich erhoffte man sich, an die Zeiten der Denkmalsetzungen 1879 und 1926 anknüpfen zu können und man fragt sich, welche Identitäten gestiftet, welche Werte, Traditionen und „Vergangenheitskonstruktionen“45 damit symbolisiert werden sollten. Fest steht, dass mit der Wiedererrichtung des Lanna-Denkmals der vorausgegangene Denkmalsturz und damit die ihm folgende neue Gesellschaftsordnung wieder rückgängig gemacht werden sollten. Sie kann somit vielleicht nicht als ein neuer Akt der damnatio
40 Laut schriftlicher Auskunft von V. Musíl am 03.10.2022. 41 Ebd. Laut Auskunft von V. Musíl handelte es sich bei dem Mäzen um Jan Mikes aus Kanada, der dem Klub der Freunde von Budweis rund 3 Millionen CZK spendete. 42 Vgl. dazu SOkA České Budějovice: Českobudějovické Listy, Nr. 223, Jahrgang II, 25.09.1993, S. 10: „S úctou k dvěma velikánům [Zu Ehren zweier Größen]“. 43 Vgl. etwa ebd. 44 SOkA České Budějovice: Českobudějovické noviny. 45 Greßhake: Damnatio, S. 115.
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memoriae46 aber zumindest als eine Distanzierung von der kommunistischen Ära interpretiert werden. Die Entscheidung der Stadt Budweis, am 2. Oktober 1993 sowohl das Denkmal für den Tschechen J. V. Jirsík als auch das Denkmal für den Deutschen Adalbert Lanna an ihren ursprünglichen Standorten wiederaufzurichten, kann natürlich auch als ein Zeichen der Annäherung und Versöhnung von Deutschen und Tschechen gesehen werden. So antwortete der Prager Erzbischof Miloslav Vlk in einem Interview anlässlich seiner Teilnahme bei der Enthüllung der beiden Denkmäler auf die Feststellung der Journalistin, dass diese auf „eine andere, auf den ersten Blick offensichtlichere Dimension – die deutsch-tschechischen Beziehungen“ verweist, etwas zurückhaltend: „Dies ist die zweite bedeutende Botschaft dieser Feier. […] Es ist gut, dass ihre Denkmäler zur gleichen Zeit enthüllt wurden – wenn es nur ein Zeichen für ihre Bereitschaft wäre, miteinander zusammen zu arbeiten zum Wohl der Region.“47 Noch verklausulierter klang diese „Botschaft“ bei Karel Kakuška, dem Vorsitzenden des „Klubs der Freunde von Budweis“, der als die treibende Kraft der Restitution angesehen werden muss. Er artikulierte auf einer Pressekonferenz im Vorfeld der Enthüllungsfeierlichkeiten die Hoffnung, dass „dieses Unterfangen […] auch zum Ausdruck eines neuen, kultivierteren Denkens werden“ sollte.48 Indizien dieser Umcodierung lassen sich bei den Feierlichkeiten für das LannaDenkmal schon an der Auswahl der Festredner erkennen. Neben dem Oberbürgermeister der Stadt, Ing. Jaromir Talíř sowie Karel Kakuška, sprachen auch ein Vertreter des Heimatkreises Budweis „für die heimatvertriebenen und heimatverbliebenen deutschen Bürger der Stadt Budweis“, der aus München angereist war, und abschließend der Vorsitzende der Paneuropa-Union Südböhmen, Ing. Karl Groulik.49 Laut einem Bericht der „Sudetenpost“ über die Einweihungsfeierlichkeiten gab der Oberbürgermeister in seiner Rede der Hoffnung Ausdruck, „daß mit der neuen Zeit, die die Wiederaufstellung der Denkmäler ermöglichte, auch der Geist der Versöhnung Einzug gehalten habe“50 . Und auch der Vorsitzende der Paneuropa-Union bekräftigte „den Wunsch von uns allen, durch die Wiederenthüllung der Statuen beider Persönlichkeiten – des Tschechen Bischof Jirisik, [sic!] sowie des deutschen Unternehmers und Gönners Adalbert Lanna – ein Zeichen
46 Die Umbruchszeit 1989 mit der Öffnung des Eisernen Vorhangs evozierte in der Tat eine Reihe von Stürzen sozialistischer Denkmäler in den ehemaligen Staaten des Warschauer Paktes. 47 SOkA České Budějovice: Českobudějovické listy, Nr. 230, Jahrgang II, 04.10.1993, S. 3: „Symbol, znamení a výzva [Symbol, Zeichen und Herausforderung]“. 48 SOkA České Budějovice: Českobudějovické listy. 49 Vgl. dazu SOkA České Budějovice: Kronika Českých Budĕjovic 1992–1993, S. 174; Sudetenpost, Nr. 23 vom 02.12.1993, S. 6: „Wiedererrichtung des Lanna-Denkmals in Budweis“: http://www. sudetenpost.eu/Archiv/1993/23.pdf (14.02.2023.). 50 Sudetenpost, ebd.
Das Lanna-Denkmal in Budweis – ein deutsch-tschechischer Erinnerungsort?
der tschechisch-deutschen Annäherung zu geben“.51 Bemerkenswert in diesem Artikel aus der Sudetenpost, die ja von der Sudetendeutschen Landsmannschaft in Österreich herausgegeben wird, ist der mehrfache Hinweis auf die besondere Rolle der Paneuropa-Union Südböhmen und vor allem ihres Vorsitzenden Groulik bei der Rettung und Wiederherstellung des Lanna-Denkmals.52 Diese besondere Rolle lässt sich in den eingesehenen tschechischen Quellen jedoch nicht erkennen.
5.
Fazit und Ausblick
Anders als bei den in der Einleitung aufgeführten Denkmälern, die an die Öffnung des Eisernen Vorhangs erinnern wollen, zielt die intendierte Sinnstiftung im Budweiser Beispiel nicht auf das Zusammenleben von Deutschen und Tschechen. Im Gegenteil, dieses Denkmal betont in seiner ursprünglichen Entstehungsintention eher das Trennende als das Gemeinsame der beiden Volksgruppen. Mit dem Denkmalsturz im Jahre 1945 wird sogar eine damnatio memoriae der deutschtschechischen Beziehungen vollzogen. Die Erkenntnis, dass „Denkmäler […] viel mehr […] über die Zeit ihrer Errichtung [aussagen] als über jene, auf die sie sich beziehen“53 , belegt die Wiedererrichtung des Lanna-Denkmals und mit ihm zusammen des Jirsík-Denkmals im Jahre 1993. Sie werden wieder aufgerichtet in einer Zeit des Umbruchs, mit der sich die Hoffnung auf ein friedfertiges Zusammenleben der beiden Nachbarvölker verbindet. Der Plan der Wiederrichtung des Lanna-Denkmals stieß offensichtlich sowohl bei politischen Entscheidungsträgern als auch in der Budweiser Bevölkerung auf keinen nennenswerten Widerstand. Auch wenn bei den „Denkmalsetzern“ eine Umdeutung des Denkmals als Symbol einer deutsch-tschechischen Versöhnung sicher nicht erste Priorität besaß, so kann die Restitution des „deutschen“ Lanna-Denkmals mit seinen deutschen Inschriften an seinem originalen Platz in Budweis zumindest als starkes Zeichen der Stadt gesehen werden, die Erinnerung an das frühere deutsch-tschechische Zusammenleben auch als Auftrag für eine deutsch-tschechische Völkerverständigung in Gegenwart und Zukunft zu begreifen. Diese Rezeption des Lanna-Denkmals als deutsch-tschechischer Erinnerungsort hängt natürlich stark von der Perspektive des Betrachters ab. Dass dieses Denkmal nicht nur der Verschönerung des Budweiser Stadtbildes dient, sondern im Bewusstsein seiner Bürgerinnen und Bürger auch als 51 Ebd. 52 Ebd. 53 Menkovic, Biljana: Politische Gedenkkultur: Denkmäler – die Visualisierung politischer Macht im öffentlichen Raum (Vergleichende Gesellschaftsgeschichte und politische Ideengeschichte der Neuzeit; 12), Wien 1999, S. 3.
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Erinnerung an die deutsch-tschechischen Beziehungen wahrgenommen wird, eben als ein deutsch-tschechischer Erinnerungsort, und so einen Beitrag zur deutsch-tschechischen Völkerverständigung leisten kann, wäre eine vornehme Aufgabe der Stadtverwaltung. Vielleicht würde hier schon ein Hinweis im Umfeld des Denkmals in tschechischer Sprache bei den Passanten höhere Aufmerksamkeit für dieses Budweiser Monument generieren. Um dem Weg des Denkmals in die scheinbar unvermeidliche Unsichtbarkeit entgegensteuern zu können, wäre es sicherlich hilfreich, in einer empirischen Untersuchung, etwa durch die Befragung von Passanten, herauszufinden, wie dieses Denkmal heute in der Öffentlichkeit überhaupt wahrgenommen und rezipiert wird. Abschließend ist festzustellen, dass Adalbert Lanna im heutigen Budweis durchaus geschichtskulturell präsent ist.54 Diese Felder der geschichtskulturellen Präsenz zu untersuchen, muss jedoch einer weiteren geschichtsdidaktischen Studie vorbehalten bleiben.
54 Neben der bereits erwähnten Lannastraße können noch beispielhaft das „Koncept-Lanna“ (www.koncept-lanna.cz), aber auch museale Ausstellungen und wissenschaftliche Tagungen zu Lanna genannt werden.
Elisabeth Erdmann
Der Offenburger „Kartoffelmann“ Von der Aufstellung bis zur Zerstörung eines Denkmals Im Ritterhausmuseum in Offenburg sind zwei aus Sandstein behauene Hände ausgestellt, die von der Francis-Drake-Statue stammen. Diese war ein Geschenk des Bildhauers André Friedrich, der aus Ribeauvillé stammte und lange Zeit in Straßburg lebte. Die Statue war 1853 auf dem Platz vor dem Offenburger Rathaus in Anwesenheit des Bildhauers und des Adjunkten des Bürgermeisters von Straßburg in einem Festakt enthüllt worden. 1939 wurde sie von Nationalsozialisten zerstört. Dem Sonnenwirt gelang es, die Hände und wenige Bruchstücke zu retten; seine Tochter schenkte sie später dem Museum. Die Fragmente und die knappe Beschriftung werfen bei den Besuchern und Besucherinnen des Museums Fragen auf, die dieser Beitrag beantworten soll.1
Der Bildhauer André Friedrich (Friederich) André Friedrich (Friederich) (1798–1877) wurde in Ribeauvillé als Sohn eines Holzbildhauers geboren, der auch sein erster Lehrmeister war. Da er Talent zeigte, verließ er bereits mit 14 Jahren sein Elternhaus, um bei dem Bildhauer Landolin Ohmacht in Straßburg zu lernen. Friedrich reiste von dort in die Schweiz, über Deutschland nach Wien, um bei dem Bildhauer Johann Martin Fischer künstlerische Anatomie zu studieren. Nach einer Station in Dresden ging er 1819 nach Berlin zu Johann Gottfried Schadow, der ihn für Restaurationsaufträge am Arsenal empfahl. Dort wurde er auch mit der Ausführung der Victoria-Gruppe beauftragt. Daneben besuchte er die Kurse der Akademie. Schließlich reiste er nach Paris, wo er an der École des Beaux Arts seine Studien bei Giuseppe-Francesco Bosio fortsetzte. Zuletzt gelangte er zu Berthel Thorvaldsen in Rom, mit dem er sich befreundete. Dort schuf er unter Thorvaldsens Leitung die Figur der Nymphe Alsa, die er der Stadt Straßburg schenkte. Sie wurde im deutsch-französischen Krieg 1870 1 Mein Dank gilt dem Stadtarchiv Offenburg für die großzügige Unterstützung mit Scans der Archivalien und für Auskünfte während meines Besuchs dort. Weiter habe ich für schriftliche Auskünfte sowie für Gespräche und Betreuung während meines Besuches an der Bibliothèque nationale et universitaire (BNU) in Straßburg Herrn Conservateur Daniel Bornemann zu danken. Mmes Chantal Hombourger, Féderation des sociétés d’histoire, und Caroline Wahl, Les archives de Strasbourg, danke ich für schriftliche Auskünfte, ebenso Dr. Martin Ruch, Willstätt.
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zusammen mit dem Museum zerstört. Von den genannten Orten aus, unternahm er immer wieder kürzere Reisen. 1826 entschied er, sich endgültig in Straßburg niederzulassen, wo er beinahe ununterbrochen bis zu seinem Tode wohnte. Er war Bildhauer, Zeichner und Lithograph. Im Elsass wie in Baden hat er viele Werke, vor allem Statuen, hinterlassen. Doch er gab auch das Tafelwerk „Album de la Cathédrale de Strasbourg“ heraus, von dem allerdings nur der erste Band 1839 erschien. Außerdem verdankt man ihm die Skizze eines Projekts zur Restaurierung des Chors des Straßburger Münsters. Heute wird Friedrich als Repräsentant des romantischen Historismus angesehen.2 Zu seiner Zeit wurde er sehr bewundert. Er hat im Übrigen auch zweimal im Salon, der jährlichen Kunstausstellung in Paris, ausgestellt (1835 und 1842). Außerdem haben ihm die Schriftsteller Emile Erckmann und Jean-Alexandre Chatrian 1850 ihre Novelle „Science et génie“ gewidmet.3 Das 19. Jahrhundert wird zurecht als das Jahrhundert der Statuen oder Denkmäler bezeichnet. So hat sich Baudelaire anlässlich der Eröffnung des Salons 1859 fasziniert von den Statuen und ihrer Aussagekraft in den Städten gezeigt. Der Geist aus Stein ergreife für ein paar Minuten Besitz von jedem und befehle jedem im Namen der Vergangenheit, an Dinge zu denken, die nicht von dieser Erde sind. Das sei die göttliche Rolle der Skulptur.4 Bald nach seiner Niederlassung in Strasburg wurde Friedrich von der französischen Regierung mit der Herstellung des Sockels und dem ca. acht Meter hohen Obelisken aus Granit für das Turenne Denkmal in Sasbach betraut. Das überlebensgroße Porträtmedaillon auf dem Sockel stammte von Edme-Etienne-François Gois.5 Zu dieser Zeit wohnte Friedrich in der Nähe auf einem Bauernhof. Dort lernte er auch Marie Anna Weber, die Tochter des Hofbesitzers kennen, die er heiratete. Später erbte das Paar das Hofgut, verpachtete es und hatte damit ein festes Einkommen. Das ermöglichte dem Künstler auch einige Skulpturen ohne
2 Mühl, Gustav: Der elsässische Bildhauer Andreas Friedrich. Eine biographische Skizze, Straßburg 1876; Dick, Oscar: André Friedrich, in: Revue Alsacienne illustrée XXXI (1913), Strasbourg, S. 73–88; Heitz, Robert: La Sculpture en Alsace des origines à nos jours. Colmar/Strasbourg/Paris 1949, S. 101; Lami, Stanislas: Dictionnaire des Sculpteurs de l’École Française au Dix-Neuvième Siècle, Tome Deuxième, Paris 1916. Reprogr. Nachdr. Nendeln/Lichtenstein 1970, S. 422–424; Goeltzer, Wolf: Art. Friedrich, in: Saur, Klaus Gerhard: Allgemeines Künstlerlexikon. Die Bildenden Künstler aller Zeiten und Völker, Bd. 45, München/Leipzig 2005, S. 143–144; Fuchs, François-Joseph: Friedrich (Friederich) André, in: Fédération des Sociétés d’Histoire & d’Archéologie d’Alsace: https://www. alsace-histoire.org/netdba/friedrich-friederich-andre/ (18.01.2023). 3 Goeltzer: Friedrich, S. 143 f. 4 Baudelaire: Oeuvres complètes: (Pléiade), T. II, Paris 1976, S. 670. 5 Feucht, Stefan: „Dies Denkmal schreit um Rache!“ Die deutsch-französische Geschichte des Sasbacher Turenne-Monuments, in: Beiträge zur Landeskunde von Baden-Württemberg 3 (2000), 1–9, hier S. 5.
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Auftrag auszuführen und zu verschenken.6 Gustav Mühl aus Straßburg, der seinem Freund Friedrich noch zu dessen Lebzeiten 1876 eine kleine biographische Skizze widmete, schreibt darin, der Künstler habe im reiferen Alter noch eine Reihe von Skulpturen geschaffen, die er – sofern sie nicht bestellt waren – abwechselnd für die Nachbarstädte in Baden und im Elsass bestimmte.7 Von Friedrich stammen nicht nur viele Statuen, sondern auch eine Reihe von Grabmälern und Brunnen, die nicht nur im Elsass und in Baden zu finden sind, sondern z. B. auch im Dom zu Poznán. Friedrichs Privatleben war von Todesfällen überschattet. Seine Frau gebar ihm fünf Töchter, von denen vier bereits im frühen Alter starben. Seine Frau starb bereits 1855. Er heiratete nochmals, musste jedoch noch den Tod seiner ältesten Tochter aus erster Ehe erleben.8
Die Francis-Drake-Statue in Offenburg André Friedrich schrieb am 21. November 1852 an den Bürgermeister und die Räte der Stadt Offenburg folgenden Brief: Ich arbeite an einer Statue von 9 Badische Fuß hoch in Sandstein, den Einführer und Verbreiter der Kartoffelen in Europa. Ich stelle ihn, nehmlich den großen See-Man vor, wie [er] sich an ein Schiff lehnt in der rechte Hand hält er Land- oder Seekarten die auf ein Glob[us] fallen die linken ruht auf einem Anker und zeigt einen Büschel Kartoffelen durch welche Frucht er Millionen Menschen vom Hungerstode gerettet hat. Und dieser große Man hat noch kein Monument, die Statue ist nun soweit voran daß Sie in etwa 4–8 Monate fertig sein wird. Ich habe S. K. H. dem Prinzregenten angezeigt daß ich die Statue einem Orte oder Stadt Badens Schenken will; er liß mir melten daß es ihm sehr viel Freide machen wird. Ich bin nun so frei diese Statue der Stadt Offenburg zu Schenken, wenn Sie Hochlöblicher Herr Bürgermeister und der Hochlöbliche Rath der Stadt Offenburg dieselbe und das Fußgestell und die Aufrichtung auf Kosten der Stadt besorgen wollen und wie natürlich ein Platz dazu geben wird. Sollten Sie mein Anerbieten annehmen so bitte ich Sie mir einen Tag zu bestimmen wo ich nach Offenburg kommen kann um den Platz ein zu sehen wegen dem Fußgestell.
6 Beck, Eugen: Der elsässische Bildhauer André Friedrich (1798–1877) und seine Beziehungen zu Mittelbaden, in: Die Ortenau 37 (1957), S. 61–68, hier S. 63; Goeltzer: Friedrich, S. 143. 7 Mühl: Friedrich, S. 12. 8 Ebd., S. 10 f. und 17 f.
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Ich glaube es wäre auch gut daß bei der Enthüllung dieses Monument’s die Ackerbaugesellschaft einen Universal Congreß wegen der Krankheit der Kartoffele aufrufen würde, der zum Beispiel 1853 in Offenburg und 1854 oder 1855 in England und in 6–7 Jahr wieder in Offenburg statt fände so daß das Monument dessen der die Kartoffelen nach Europa brachte ein Anlaß würde der Krankheit derselben soviel wie möglich zu steuern. Auf jeden Fall bitte ich um gütigste Antwort Habe die Ehre zu sein Hochachtungsvoll Ihr Diener André Friedrich Statuaire quai St. Jean Nr. 81 Strasbourg den 21. November 1852.9
Nachdem der Bürgermeister mit dem Gemeinderat und der Bürgerausschuss rasch der Annahme des Geschenkes zugestimmt hatten und eine Delegation am 24. November bei Friedrich in Straßburg war, um über die noch offenen Fragen zu sprechen, verlangte das Ministerium des Innern, dass der Gemeinderat sowie der große und kleine Bürgerausschuss über die Kosten, die durch das Denkmal entstehen (Platz vor dem Rathaus, Sockel, Transport und Aufstellung der Statue), abstimmten; außerdem sollte der Anlass für das Geschenk des Künstlers benannt werden. In dem Protokollauszug der Sitzung vom 10. Januar 1853 wird wegen des Anlasses auf den Brief des Künstlers verwiesen. Andere Motive, abgesehen von einer eventuellen Vorliebe für die Stadt und den Standort, seien nicht bekannt. In der Versammlung wurden alle Anwesenden einzeln befragt, es gab keine Gegenstimme.10 Die Anregung des Bildhauers, in bestimmten Zeitabständen einen internationalen Kongress zur Bekämpfung der Kartoffelkrankheit (Kraut- und Knollenfäule) abzuhalten, wurde nicht aufgegriffen, obwohl vor allem in nassen Jahren der Befall bis heute großen Schaden verursacht. Am 17. Juli 1853 fand in Offenburg die Enthüllung des Drake-Denkmals statt. Zur Erinnerung daran wurde eine kleine Broschüre mit dem Programm und den Reden gedruckt: André Friedrich übergab das Denkmal nach der Begrüßung der Anwesenden mit folgenden Worten:
9 Das handschriftliche Original: StadtAOff 5/5239 (1852–1940) unter dem Datum 21.11.1852. Es wurde in „D’r alt Offeburger“ Nr. 638 vom 06.08.1911 genau transkribiert. 10 StadtAOff 5/5239, 24.11.1852; 10.01.1853; vgl. auch die Transkription in: Beilage zu Nr. 639 des Alten Offeburger [sic!] vom 13.08.1911.
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In allen civilisierten Ländern Europa’s war man bemüht und ist es noch heute Feldherren, Gelehrten und Künstlern Monumente zu errichten, aber nirgends wurde bis jetzt ein Ehrendenkmal für einen der größten Wohlthäter der Menschheit für den Einführer der Kartoffeln in Europa, für Franz Drake errichtet. Millionen Zungen nannten und nennen ihn ihren Erretter, und da faßte ich in freudiger Anerkennung der großen Verdienste dieses Mannes die Idee, ihm ein Denkmal zu errichten. Ich übergebe es Ihnen hiermit, dankbar für die gütige Aufnahme, womit Sie mir entgegen kamen, mit dem herzlichen Wunsch: es möge Ihren Beifall finden, und in der frohen Hoffnung, daß die spätesten Geschlechter, es Ihnen und mir Dank wissen werden, das schwache Werk ausgeführt zu haben!11
Beim Festmahl nach der feierlichen Enthüllung zitierte Friedrich in seinem Trinkspruch noch folgenden Vers: Europa sollte diesem Mann Auf allen seinen Auen, Wo die Kartoffel blüht, Ein golden Denkmal bauen!12
Dieser Vers, in dem ein Denkmal für Francis Drake gefordert wird, stammt mit geringen Abweichungen aus dem bekannten Kartoffellied eines badischen Dorfschulmeisters.
Das Kartoffellied von Samuel Friedrich Sauter Bis heute ist umstritten, wer die Kartoffel nach Europa brachte und seit wann sie in den verschiedenen Ländern angebaut wurde. Heute steht fest, dass es nicht Francis Drake war – man kann die Einführung der Kartoffel nicht an einem Namen festmachen. Es gibt eine Reihe von Kartoffelliedern, auch Matthias Claudius (1740–1815) hat eines gedichtet, in dem allerdings der Name Drake nicht vorkommt. Dagegen wird in dem Kartoffellied von Samuel Friedrich Sauter (1766–1846) in der ersten Fassung von 1811 Francis Drake in acht von 20 Strophen erwähnt.13 11 StadtAOff 5/5239, Zur Erinnerung an die den 17. Juli 1853 zu Offenburg stattgehabte feierliche Schlußsteinlegung und Enthüllung des Drake-Denkmals von E. Barth, Offenburg 1853, S. 14. 12 Ebd., S. 29. 13 Volkslieder und andere Reime (1811): https://archive.org/details/bub_gb_6yFSAAAAcAAJ (18.01.2023): Europa sollte diesem Mann – Auf allen seinen Auen, – Wo die Kartoffelernte blüht, – Ein goldnes Denkmal bauen.
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Samuel Friedrich Sauter stammte aus Flehingen (Baden) und war von 1786 bis 1816 dort Dorfschulmeister. Dann nahm er eine vergleichbare Stelle, die besser besoldet war, in Zaisenhausen (Baden) an und bekleidete sie von 1816 bis 1841. Nach seiner Pensionierung mit 75 Jahren zog er nach Flehingen zurück, wo er 1846 verstarb, nachdem er im Jahr zuvor noch eine erweiterte Fassung seiner „Sämtlichen Gedichte“ veröffentlicht hatte. Auch in dieser Fassung ist das Kartoffellied vertreten, das – wie des Öfteren bei Sauter – gegenüber der ersten Fassung im Wortlaut leicht abweicht; zudem sind noch neun weitere Strophen dazugekommen.14 Mit 14 Jahren, nach der Konfirmation, wurde Sauter, wie damals üblich, aus der Schule entlassen. Nach seinen Jahren als Praktikant und als Unterlehrer an verschiedenen Orten trat er mit 20 Jahren die Lehrerstelle in Flehingen an. Dort gründete er mit befreundeten Kollegen aus anderen Orten der Umgebung eine pädagogische Lesegesellschaft, die von 1800 bis 1816 existierte. Erhalten hat sich eine Autorenliste dieser Gesellschaft. Darin finden sich einige Werke, in denen Drake als derjenige genannt wird, der die Kartoffel von Amerika nach Europa gebracht hätte. Ebenso wird Drake in den weit verbreiteten „Reisen der Zöglinge zu Schnepfenthal“ von Christian Gotthilf Salzmann, dem Gründer des Philanthropinum in Schnepfenthal genannt. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass Drake in Sauters Kartoffellied eine so prominente Rolle spielt. Der Biograph von Sauter urteilt, vor allem die Fassung von 1811 sei hervorragend geeignet, im Unterricht lehrreich und unterhaltend zugleich, einige wichtige Details rund um die Kartoffel zu vermitteln. Sauter hat dies, so wie bei vielen anderen Gedichten auch, mit Sicherheit bereits beim Verfassen seiner Reime im Blickfeld gehabt.15 Im Übrigen hat sich das Kartoffellied lange im Unterricht der Volksschule gehalten. Im 19. Jahrhundert wurde es in der Schule nicht nur mehr gesungen, sondern auch auswendig gelernt. Dass der Bildhauer Friedrich den Vers in seinem Trinkspruch zitierte, zeigt deutlich, wie gut er das Lied kannte.
Das Denkmal regt zu Fragen an Viele Anfragen bezüglich des Drake-Denkmals erreichten Offenburg in den folgenden Jahren, nicht nur aus den verschiedenen Teilen Deutschlands, sondern auch aus Europa und aus den USA. Diese Anfragen wurden im Sinne des Tourismus und der Werbung für Offenburg beantwortet, häufig wurden Zeitungsausschnitte und Postkarten des Denkmals versandt. 1871 hieß es in Meyers Konversationslexikon über 14 Sämtliche Gedichte (1845): https://archive.org/details/diesmmtlichenge00sautgoog (18.01.2023): Die abweichende Zeile: „Wo es nur je Kartoffel pflanzt“. 15 Lingenfelser, Peter: Samuel Friedrich Sauter: Mäßigung – Zufriedenheit – Gottvertrauen: Schulmeister und Poet: 1766–1846, Eppingen 2016, S. 176 ff., Zitat 180.
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Drake: „Er brachte die Kartoffeln zuerst nach Europa, weshalb ihm zu Offenburg in Baden ein Denkmal gesetzt worden ist.16 In der 5. überarbeiteten Auflage von 1894 des Lexikons heißt es dann: „Drake soll die Kartoffeln zuerst nach Europa gebracht haben, weshalb ihm 1853 zu Offenburg in Baden ein Denkmal gesetzt worden ist.“ Im Anschluss wird darauf verwiesen und auch die entsprechende Literatur aufgeführt, dass bereits Humboldt 1814 und später noch andere nachgewiesen haben, dass Drake höchstens der Ruhm gebühre, die Kartoffel bekannter gemacht zu haben.17 Geht man von der großen Bedeutung aus, die Meyers Konversationslexikon bei der Verbreitung des Wissens in der damaligen Zeit spielte, so ist nicht verwunderlich, dass Drake in der Zeit der Denkmalserrichtung diese wichtige Rolle zugeschrieben wurde. Auf der Vorderseite des Denkmalsockels war folgende Inschrift zu lesen: „Sir Francis Drake, Verbreiter der Kartoffel in Europa. Im Jahre des Herrn 1586.“ Auf der Rückseite: „Dem Schöpfer und Stifter dieses Standbilds, Andreas Friederich aus Straßburg, der Dank der Stadt Offenburg, 1853.“ Auf den Seiten: „Den bittern Mangel steuert die köstliche Gabe Gottes als der Armen Hilfe gegen die Noth.“ Auf der anderen Seite: „Der Segen von Millionen Menschen, die den Erdball bebauen, Dein unvergänglichster Nachruhm!“18 Das Denkmal erfreute sich in Offenburg größter Beliebtheit: Es gab wohl kaum ein Kind in der Offenburger Innenstadt, das während der folgenden achtzig Jahren nicht auch einmal auf den eisernen Ketten geschaukelt hätte, die man als Absperrung um den Sockel herum angebracht hatte.19
Die Stadtverwaltung sah das allerdings nicht gerne, und der Stadtrat wandte sich deswegen an das Volksschulrektorat.20
Nationalsozialistische Stellungnahmen zum Denkmal Die Zeitung „Führer“ war von 1927 bis 1945 Teil der NS-Presse der NSDAP im Gau Baden. Am 16. Januar 1935 erschien unter der Überschrift „Denkmäler sagen nicht immer die Wahrheit“ ein Artikel, in dem es u. a. heißt, das Offenburger Denkmal 16 Art. Drake, Francis, in: Meyer‘s neues Konversationslexikon, Bd. 5, Hildburghausen 2 1871, S. 888 f., Zitat 889. 17 Art. Drake, in: Meyers Konversations-Lexikon, Bd. 5, Leipzig-Wien, 5 1894, S. 161. 18 StadtAOff 5/5239, Zur Erinnerung, S. 10 f. 19 Ruch, Martin: Stadtrundgang in Offenburg. Zwischen Rhein und Reben, Offenburg 2001, S. 58. 20 StadtAOff 5/5239, Schreiben an das Volksschulrektorat am 07.11.1923.
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ehre Drake, da er die Kartoffel nach Europa gebracht und hier heimisch gemacht habe. Obwohl das in den meisten Schulbüchern noch so zu lesen sei, stimme es nicht. In der Monatsschrift des Schwarzwaldvereins „Der Schwarzwald“ Nr. 12 vom Dezember 1937 ist zu lesen, der Bildhauer und Stifter des Denkmals habe es seiner Heimatstadt Straßburg zugedacht; als diese ablehnte, das Denkmal aufzustellen, habe es der Elsässer der Stadt Offenburg angeboten, die es an bevorzugter Stelle aufstellte. Abgesehen von diesen erwähnten Artikeln gingen die Anfragen aus dem In- und Ausland weiter. Nachdem die Zeitung „Führer“ wiederholt um „geeigneten kommunalpolitischen Stoff zur Behandlung in ‚Führer‘“ nachgesucht hatte, verwies der Offenburger Oberbürgermeister Dr. Wolfram Rombach, der ein Nationalsozialist war, am 9. November 1938 auf die vielen Rückfragen durchreisender Ausländer, wobei er sich vor allem auf eine Ansichtskarte des Drake-Denkmals in Plymouth bezog, die ihm als Dank für seine Antwort zugesandt worden war.21 Eine Reaktion der Zeitungsredaktion oder ein entsprechender Artikel im „Führer“ ist nicht überliefert.22 Einige Monate später, am 26. März 1939, erschien ein Artikel zu Drake und dem Offenburger Denkmal im „Völkischen Beobachter“, dem publizistischen Parteiorgan der NSDAP, das sich selbst als „Kampfblatt“ bezeichnete. Unter der Überschrift „Der Seeräuber der Königin. Herr Francis Drake“ wurde darauf verwiesen, dass Drake nicht der erste gewesen sei, der die Kartoffel nach Europa gebracht habe. Weiter wurde berichtet, das Denkmal habe lange im Atelier des Künstlers auf Abruf gewartet. Weil niemand interessiert gewesen sei, das Denkmal zu erwerben, sollte es versteigert werden. Da habe sich Offenburg gemeldet. Die Stadt habe seit längerem beklagt, dass sie keinen Prominenten vorweisen könne, der ein Denkmal verdiene. Der Rest des Artikels drehte sich um die Taten des „Seeräubers“ Drake und endete mit der damaligen Tagespolitik bei Alfred Duff Cooper (der im Herbst 1938 aus Protest gegen das Münchner Abkommen das Kabinett verlassen hatte).23
Bleibt das Denkmal oder wird es zerstört? Der Artikel war Anlass für den Offenburger Kreisleiter Karl Rombach in einer Besprechung mit dem Oberbürgermeister zu fordern, aus politischen Gründen müsse
21 StadtAOff 5/5239, jeweils unter dem angegebenen Datum. 22 StadtAOff Film Nr. 32, „Führer“. 23 StadtAOff 5/5239, 26.03.1939.
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das Drake-Denkmal umgehend entfernt werden, was er am Tag darauf schriftlich bestätigte. Ein ehemaliger Seeräuber dürfe nicht durch ein Denkmal verherrlicht werden.24 Der Oberbürgermeister und der Kreisleiter hatten den gleichen Familiennamen, waren nicht verwandt, aber beide Nationalsozialisten. In Bezug auf das Denkmal hatten sie sehr unterschiedliche Ansichten. Der Oberbürgermeister nutzte einen Aufenthalt am 3./4. April 1939 in Berlin, um über einen Beigeordneten des Deutschen Gemeindetages Kontakt mit zwei Mitarbeitern vom Außenpolitischen Amt der NSDAP, dem damals Alfred Rosenberg vorstand, aufzunehmen und mit ihnen die außenpolitische Zweckmäßigkeit einer Entfernung des Drake-Denkmals zu erörtern. Alle drei Herren vertraten die Meinung, eine solche Entfernung sei zum gegenwärtigen Zeitpunkt außenpolitisch unerwünscht, wenn dabei das Deutsche Reich durch Hinweis auf engstirnige Bilderstürmereien in der ganzen Welt lächerlich gemacht würde. Auf keinen Fall dürfe ohne nachdrückliche Genehmigung des Auswärtigen Amtes das Drake-Denkmal entfernt werden.
Der Chefredakteur des „Völkischen Beobachters“ solle über die Motive der Stadt Offenburg verständigt werden, um eine Wiederholung der Angriffe zu vermeiden.25 Die entsprechende Aktennotiz des Oberbürgermeisters stammt vom 11. April 1939. Am gleichen Tag wurde der Kreisleiter darüber unterrichtet, dass zumindest zum gegenwärtigen Zeitpunkt die Entfernung des Drake-Denkmals unerwünscht sei. Außerdem solle man mit dem „Völkischen Beobachter“ in Verbindung treten, um weitere Artikel im Stil desjenigen vom 26. März 1939 zu verhindern. Der Oberbürgermeister erkundigte sich auch bei seinen Amtsgenossen in Braunschweig und Hannover, ob es dort Denkmäler ausländischer, vor allem englischer Könige oder führender Persönlichkeiten gebe. Ferner sprach er mit einem Ratsherrn, der die Meinung vertrat, man müsse „schon mit Rücksicht auf die Mentalität der Offenburger Bevölkerung sich die Entfernung des Drake-Denkmals reiflich überlegen.“26 Darauf schrieb der Oberbürgermeister am 25. Mai 1939 an den Hauptschriftleiter des „Völkischen Beobachters“ einen langen Brief, in dem er richtigstellte, dass das Drake-Denkmal nach seiner Fertigstellung nicht versteigert werden sollte. Außerdem verwies er darauf, dass zu keiner Zeit weder das Drake-Denkmal in Offenburg, das Turenne-Denkmal in Achern, das Moreau-Denkmal in Räcknitz/ Dresden noch die diversen Seefahrerdenkmäler in Hamburg Anlass geboten hätten, die politische Haltung einer Stadtverwaltung in der Öffentlichkeit zu beanstanden,
24 StadtAOff 5/5239, 29.03.1930 und 30.03.1939. 25 StadtAOff 5/5239, 11.04.1939. 26 StadtAOff 5/5239, 29.04.1939.
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wie das in dem Artikel des „Völkischen Beobachters“ geschehen war. In diesem Zusammenhang gab der Oberbürgermeister seine Parteimitglieds-Nummer und seine Funktion als Kreisleiter zwischen 1930 und 1936 an. Ferner verwies er auf eine Reichstagsrede Hitlers vom 28. April 1939, in der dieser ausführte, dass alle Reiche durch Gewalt entstanden seien. Diese Rede war im „Völkischen Beobachter“ zumindest auszugsweise dokumentiert. Ausdrücklich bat er nicht um eine Berichtigung, sondern teilte auf Wunsch des Außenpolitischen Amtes dem verantwortlichen Schriftleiter die Gesichtspunkte mit, „aufgrund deren bis auf weiteres von einer Entfernung des Drake-Denkmals Abstand genommen werden muss“.27 Der Kreisleiter Rombach erhielt eine Abschrift des Briefes mit der Bitte, zu erwägen, ob er nicht in Erfahrung bringen könne, von wem der gehässige Artikel im „Völkischen Beobachter“ lanciert wurde. Der Oberbürgermeister vermutete dahinter Offenburger „Quertreiber“. Dokumentiert sind seit Ende November 1938 wenige schriftliche Äußerungen in einigen Briefen oder Postkarten von verschiedenen Personen aus Offenburg und Mainfranken, die sich gegen das Drake-Denkmal aussprachen. Die Ablehnung erfolgte auch vor dem Hintergrund, dass ein anderes Denkmal für Lorenz Oken 1938 dem Parkplatzbedarf in Offenburg hatte weichen müssen. Lorenz Oken (1779–1862, ursprünglicher Familienname Ockenfuß) wurde in Bohlsbach geboren.28 Trotz widriger Umstände (bäuerliche Herkunft, früh verwaist) wurde er zuletzt 1833 als Professor der Zoologie und als Rektor nach Zürich berufen, wo er 1862 starb. 1883 wurde zu seinen Ehren ein Denkmal in Offenburg enthüllt. 1938 wurden Parkplätze geschaffen, das Denkmal wurde abgebaut und im Bauhof aufbewahrt.29 Am 30. Mai 1939 erschien im „Führer“ unter der Überschrift „Der eine ging – der andere blieb. Eine Betrachtung über zwei ‚Offenburger Sehenswürdigkeiten‘“ ein Artikel, der den Abbau des Oken-Denkmals beklagte und dem Wunsche Ausdruck gab, das Denkmal für Drake möge verschwinden. Am folgenden Tag erschien die Stellungnahme des Oberbürgermeisters zu diesem Artikel unter der Überschrift: „Noch einmal: Oken – Francis Drake.“ In der folgenden Ratssitzung wurde von der Pressenotiz Kenntnis gegeben. Die Auffassungen differierten, es wurden aber keine Anträge gestellt.30
27 StadtAOff 25.05.1939. Feucht: „Dies Denkmal schreit um Rache!“ in: Beiträge zur Landeskunde von Baden-Württemberg 3 (2000), S. 6: Das Turenne-Denkmal wurde am 26./27.09.1940 auf Wunsch Hitlers zerstört. 28 Seit 1975 nach Offenburg eingemeindet. 29 Seit September 1949 steht die Büste Okens (ohne den Brunnen) im Straßenkreuz Oken/Straßburger Straße: https://de.wikipedia.org/wiki/Lorenz_Oken (18.01.2023). 30 StadtAOff 5/5239, 30.05.1939; 31.05.1939; 02.06.1939 (Ratssitzung).
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Am 24. Juli 1939 erschienen im „8 Uhr-Blatt Nürnberg“ und am 25. Juli 1939 im „Stuttgarter NS-Kurier“ ein, abgesehen von den Überschriften, gleichlautender Artikel. Da die Offenburger sich nicht einigen konnten, habe man eine amtliche Berliner Stelle angeschrieben, um den Streit zu schlichten. Die Antwort lautete, man solle den „Kartoffelmann“ auf seinem Sockel belassen. „Also bleibt der Welt eines der absonderlichsten Denkmäler, die je errichtet worden sind, erhalten.“31 Bemerkenswert ist, dass in diesem Artikel von einem Aprilscherz in Offenburg berichtet wird, wonach zwölf „Maurersleute“ auf dem Marktplatz erschienen und behaupteten, sie hätten den Auftrag, das Denkmal abzureißen. Dieser Aprilscherz wird nur hier erwähnt, von daher ist unklar, ob die Schilderung auf einer wahren Begebenheit beruht. Nach Kriegsbeginn nahm Oberbürgermeister Dr. Rombach als Führer einer Kompagnie am Frankreichfeldzug teil und kehrte als Oberleutnant im September 1940 nach Offenburg zurück. In seiner Abwesenheit wurde er von dem Ersten Beigeordneten, Bürgermeister Robert Fellhauer, vertreten. Am Ende seines langen Schreibens vom 31. Oktober 1939 heißt es: „Der Platz der SA und die Adolf Hitler-Straße [sic!] müssen frei sein von einem englischen Seeräuber. Die Selbstachtung des Volkes verlangt Handlung.“ Darunter steht nicht nur der Hitlergruß, sondern auch „Gott strafe England“.32 Am 2. November 1939 schrieb Fellhauer an den Oberbürgermeister, das DrakeDenkmal spiele wieder eine Rolle. Seine Beseitigung sei nach der heutigen Lage unumgänglich. Wie stark die Stimmung gegen das Denkmal aufgeheizt war, zeigen kurze Artikel im Offenburger Tagblatt und ein Schreiben des Kreisleiters Rombach an den Oberbürgermeister. Bürgermeister Fellhauer telefonierte mit einem Oberregierungsrat im Ministerium des Innern und mit dem Badischen Minister des Kultus und Unterrichts Dr. Wacker, beide gebürtige Offenburger. Der Oberregierungsrat sprach sich für eine Entfernung des Denkmals „auf regelrechtem Wege“, aber nicht verbunden mit einer Versammlung oder Feier aus, während Wacker eine Entfernung in aller Öffentlichkeit, evtl. mit Ansprache des Kreisleiters oder des Bürgermeisters vorschlug.33 In der Nacht vom 8./9. November 1939, als das Attentat von Georg Elser auf Hitler im Bürgerbräukeller erfolgte, wurde das Denkmal, offiziell „von unbekannter Hand“, zerstört, wobei auch der Sockel in Mitleidenschaft gezogen wurde.34 Bei
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StadtAOff 5/5239, 24./25.07.1939. StadtAOff 5/5239, 31.10.1939. StadtAOff 5/5239, 3.11.1939: Aktennotiz über die Telefongespräche. StadtAOff 5/5239, Aktennotiz des Bürgermeisters vom 08.11.1939. Dieses Datum und das in der Museumsbeschriftung angegebene Datum „in der Nacht des 7. Novembers 1939“ ist falsch. Aus dem Brief an Dr. Rombach und aus dem Auszug der Niederschrift über die Ratsherrensitzung vom
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den Tätern handelte es sich um eine Gruppe, die Bürgermeister Fellhauer „nicht genau bekannt“ war.35 Er unterrichtete den Oberbürgermeister am 13. November 1939 über die Zerstörung des Denkmals und seine Bemühungen, auf möglichst kostengünstige Weise das Denkmal völlig abtragen zu lassen, indem er mit dem Reichsarbeitsdienst Verbindung aufnahm. Er erreichte, dass die Entfernung der Steine kostenlos erfolgte; die Stadt bezahlte der Arbeitsdienstgruppe lediglich dreimal ein Vesper. Die Steine wurden für den Straßenbau verwendet und ein Teil dem Rebgut des Spitalfonds überlassen. Die Ratsherren stimmten den Maßnahmen des Bürgermeisters am 13. November 1939 zu. Mit dem Schreiben des Bürgermeisters überschnitten sich zwei Briefe des Oberbürgermeisters Rombach mit Datum vom 9. und 10. November 1939. Nach dem Attentat in München „wird die baldige Entfernung nun notwendig u. auch außenpolitisch zu rechtfertigen sein“. Außerdem sollen die Ratsherren zuerst die Möglichkeit erhalten, sich zu äußern, die eventuelle Abtragung solle sorgfältig erfolgen. Ergänzend schrieb er einen Tag später, es genüge, wenn die Figur vom Denkmal abgenommen und die Inschrift beseitigt werde. Die Entfernung des Fundaments käme sicher teuer, als Zwischenlösung käme anstelle der Figur möglicherweise eine Opferschale in Frage. In seinem Schreiben vom 27. November 1939 an Bürgermeister Fellhauer schrieb der Oberbürgermeister, er stimme dem Unterrichtsminister Wacker zu, die Entfernung des Denkmals hätte offiziell geschehen sollen. Jetzt sei der Anschein entstanden, als habe die Stadtverwaltung „unter dem Druck der Straße und der Biertischkritikaster gehandelt“. Weiter verwies er auch auf Zuschriften, die ihn aus der Bevölkerung erreicht hatten. Am Ende zeigte er sich verbittert darüber, dass junge kräftige Männer, statt am Krieg teilzunehmen, sich mit Bilderstürmerei und Hurrapatriotismus wichtigmachten.
Was ist heute noch vorhanden? Wie eingangs geschildert, finden sich im Offenburger Ritterhausmuseum die Hände der Drake-Statue. Trotz aller Nachforschungen, auch in den Ratsprotokollen in Straßburg, lässt sich nicht nachweisen, dass André Friedrich die Statue der Stadt Straßburg angeboten und diese die Statue abgelehnt hatte. Es scheint eher so zu sein, dass er sie ohne Bestellung verfertigte und wie bereits andere Statuen an eine Gemeinde verschenken wollte.
13.11.1939 geht eindeutig hervor, dass das Datum der Zerstörung der 8./9.11.1939 war, denn es wird in beiden Schreiben Bezug auf das Attentat im Münchner Bürgerbräukeller genommen. 35 StadtAOff 5/5239, 29.11.1939.
Der Offenburger „Kartoffelmann“
Pokal aus Feinsilber, Foto: Elisabeth Erdmann. BNU Strasbourg, Inventaire: 2014.1.292.
Gipsmodell der Drake-Statue von André Friedrich, Foto: Elisabeth Erdmann. BNU Strasbourg, Inventaire: 2014.1.394.
Die biographische Skizze von Friedrich, aus der auszugsweise in einem Aufsatz von 1913 zitiert wird, ist in Straßburg nicht mehr vorhanden.36 Im Depot der Straßburger Bibliothèque nationale et universitaire (BNU) wird aber das Ehrenbürgerrecht der Stadt Offenburg für Friedrich verwahrt, ausgefertigt auf Pergament und auf Seide. Ferner hat sich unter anderem der Pokal aus Feinsilber erhalten mit der Inschrift „Herrn Andreas Friedrich Stadt Offenburg 1853“, dessen Kelch innen vergoldet ist. Auf dem Deckel des Pokals steht eine kleine Nachbildung der Drake-Statue, wie sie in der Festschrift zur Denkmalsenthüllung beschrieben ist.37 Außerdem hat sich ein Gipsmodell der Statue erhalten, das etwas bestoßen ist.38 Weil André Friedrich bereits 1876 Dr. Barack, dem Oberbibliothekar der Universitäts- und Landesbibliothek, heute BNU, seine Ehrengaben, Diplome und einige Gipsmodelle zum immerwährenden Besitz übergeben hat, sind diese Gegenstände erhalten geblieben. Einige Zeit später sah der Künstler, als er
36 Dick, Revue Alsacienne illustré XXXI (1913), S. 73 ff. 37 BNU Inventaire, 2014.1.292. 38 BNU Inventaire: 2014.1.394.
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Dr. Barack besuchte, dass seine Ehrengaben und Modelle in einem Saal schön aufgestellt waren.39 Es wäre eine Bereicherung, wenn im Museum im Ritterhaus Fotografien des Pokals und des Gipsmodells der Statue zu sehen wären, deren Existenz erst durch diese Recherchen auf der anderen Rheinseite bekannt wurden.
39 Mühl: Friedrich, S. 18 f.
Uwe Danker
damnatio memoriae oder historischer Abenteuerspielplatz? Ein pragmatischer Hinweis zum Umgang mit problematischen Straßennamen
0. Nationalsozialistische Ehrungen und realsozialistische Memoriale, auch antidemokratische Traditionsbildungen der wilhelminischen Monarchie, insbesondere die koloniale Vergangenheit, haben in der jüngeren Geschichte – beider deutscher Staaten – hinreichend Anlass gegeben, immer mal wieder Denkmäler zu stürzen, Straßen und Plätze umzubenennen. Dass 1945 eine Adolf-Hitler-Straße und 1961 eine Stalinallee untragbar waren, ist einleuchtend, unstrittig und erzeugt keinen Erläuterungsbedarf. Insbesondere bei Herrschaftswechseln 1918, 1933, 1945 und 1989 stellten sich die Fragen nach Korrekturen des Straßenbilds. Massive Eingriffe fanden 1933 und 1945 statt, weniger rigoros handelte man 1989 und kaum im Jahr 1918. Im Rahmen der in den letzten Jahrzehnten drastisch zunehmenden Sensibilitäten auf den Feldern Kommunikation, Sprache und Erinnerung haben Debatten eine derartige Dynamik entfaltet, dass mitunter förmliche Tugendwächter in ungebremster Konsequenz und Radikalität die meist kommunalpolitische Bühne und das Feuilleton majorisieren. Bereits in der Antike gehörte die Sicherstellung ehrender Erinnerungen an große Taten zur kulturellen Praxis, die sich beispielsweise in Triumphbögen ausdrückte. Aber man praktizierte auch bereits das absolute Gegenteil, die abolitio nominis respektive damnatio memoriae, das ausdrückliche und herrschaftlich verordnete Löschen der Erinnerung an in Ungnade gefallene Akteure.1 Indes wurde – anders als bei kunstfertigen fotografischen Retuschen des 20. Jahrhunderts – aus der Entfernung kein Hehl gemacht, eher im Gegenteil: die Leerstellen blieben erkennbar, die Verdammten bekannt. Und in der Tat stellt sich auch in unserer Gegenwart die triviale Frage, ob denn die vollständige Beseitigung aller Relikte, die unserer gegenwärtigen Moralität nicht entsprechen, ja die Säuberung der (geschichtskulturellen) Umwelt wirklich
1 Vgl. Gizewski, Christian/Mlasowsky, Alexander: damnatio memoriae, in: Ziegler, Konrad/Sontheimer, Walther (Hg.): Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike, Bd. 1, Stuttgart 1964, Sp. 1374. Vgl. ebd., die weiteren 17 Treffer, die von der damnatio memoriae Betroffene benennen.
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den einzig denkbaren Umgang mit problematischen Vergangenheitszeichen wie Denkmälern oder Straßennamen darstellt? Da kommunale Konflikte um Straßen(um)benennungen meist prozeduralen Reaktionsmustern folgen, zu denen oft die gutachterliche Einbeziehung von Historiker:innen(kommissionen) gehört,2 hat das Themenfeld längst auch die Fachdebatte erreicht und einschlägige Publikationen ausgelöst. 2012 gab Matthias Frese einen Band zu „Straßennamen als Instrument von Geschichtspolitik und Erinnerungskultur“ heraus,3 der eine Reihe instruktiver Beiträge versammelt, unter anderen die Einführung des Herausgebers4 sowie Aufsätze von Rainer Pöppinghege5 und Hans-Ulrich Thamer6 . Wieder Frese verantwortet 2018 zusammen mit Marcus Weidner den inhaltlich erweiterten Sammelband zum „Umgang mit Ehrungen, Denkmälern und Gedenkorten nach 1945“,7 der einen Abschnitt zur „Revision von Straßennamen“ enthält, in dem Dietmar von Reeken „Oldenburger Konflikte um Straßennamen“ schildert,8 Alfons Kenkmann vom „Widmungsgetümmel in Münster“ berichtet,9 Florian Wenninger „kommunalpolitische Handlungsspielräume“ in Österreich analysiert10 und Saskia Handro einige Hinweise zur „Straßennamenforschung“ liefert und darauf verweist, dass die Debatte bereits seit den 1980er Jahren virulent ist.11 Auch die Auseinandersetzungen in Hamburg,12 Hannover13 2 Vgl. Wenninger, Florian: Widmung und Umwidmung öffentlicher Räume. Eine Analyse des Spektrums der Debatten in österreichischen Gemeinden, in: zeitgeschichte 46, H. 1 (2019) 1, S. 123–138. 3 Vgl. Frese, Matthias (Hg.): Fragwürdige Ehrungen? Straßennamen als Instrumente von Geschichtspolitik und Erinnerungskultur, Münster 2012. 4 Vgl. Frese, Matthias: Straßennamen als Instrument der Geschichtskultur und Erinnerungskultur. Fragestellungen und Diskussionspunkte, in: Ebd., S. 9–19. 5 Vgl. Pöppinghege, Rainer: Geschichtspolitik per Stadtplan. Kontroversen zu historisch-politischen Straßennamen, in: Ebd., S. 21–40. 6 Vgl. Thamer, Hans-Ulrich: Straßennamen in der öffentlichen Diskussion: Der Fall Hindenburg, in: Ebd., S. 251–264. 7 Vgl. Frese, Matthias/Weidner, Marcus (Hg.): Verhandelte Erinnerungen. Der Umgang mit Ehrungen, Denkmälern und Gedenkorten nach 1945 (Forschungen zur Regionalgeschichte 82), Paderborn 2018. 8 Vgl. von Reeken, Dietmar: Heyl, Hindenburg, Hinrichs. Oldenburger Konflikte um Straßennamen zwischen Vergangenheitsdeutung, Wissenschaft und Politik, in: Ebd., S. 291–319. 9 Vgl. Kenkmann, Alfons: „Anstößige Krieger“ unter dem „Diktat des Zeitgeistes“? Widmungsgetümmel in Münster, in: Ebd., S. 279–291. 10 Vgl. Wenninger, Florian: Kommunalpolitische Handlungsspielräume im Umgang mit belasteten Straßennamen. Das Beispiel Österreich, in: Ebd., S. 319–361. 11 Vgl. Handro, Saskia: Historische Orientierung gesucht! Straßennamendebatten als Forschungsgegenstand und geschichtskulturelle Praxis, in: Ebd., S. 253–278 hier S. 267. 12 Vgl. Templin, David: Wissenschaftliche Untersuchung zur NS-Belastung von Straßennamen. Abschlussbericht, Hamburg 2017. 13 Vgl. Donat, Helmut: Wider den fragwürdigen Umgang mit der Vergangenheit. Theodor Lessing und die Umbenennung der Hindenburgstraße in Hannover, Bremen 2022.
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und weiteren Städten sind dokumentiert, zu kolonialen Straßennamen liegt eine linguistische Dissertation vor,14 ebenso existieren erste Schlaglichter auf europäische Nachbarländer wie Spanien, Niederlande, Ungarn und Österreich.15 Selbst der – für Zurückhaltung plädierende – Deutsche Städtetag hat 2021 Empfehlungen einer Fachkommission zum rechtlichen und geschichtspolitischen Umgang mit Debatten um Straßennamen publiziert, in die auch 23 eingegangene kommunale Erfahrungsberichte und einige juristische Auseinandersetzungen Eingang fanden.16 In ihrem Sammelband skizzieren Dietmar von Reeken und Malte Thießen17 in der Einleitung über Ehrungen, die kollektive Norm- und Setzungen formulierten, ein Forschungskonzept.18 Insbesondere der bilanzierende Beitrag von Winfried Speitkamp über „Verlorene Ehre“ liefert neben einer Historie der Ehrungen bedeutsame Einsichten, unter anderem den Hinweis darauf, dass das Wechselspiel von „Ehrung und Entehrung“ als per se vereinfachende „Symbolpolitik“ kaum in eine plurale demokratische Kultur, die Multiperspektivität und Multikulturalität verlange, passe.19 Derart breit ist dieser Beitrag nicht angelegt, wird aber den letzten Gedanken aufgreifen: Ich will der kreativen und hin und wieder so angenehm unkonventionellen, sehr geschätzten fränkischen Kollegin Charlotte Bühl-Gramer einen Praxisbericht aus dem hohen – angeblich „echten Norden“ liefern, der auf gutachterlicher Beteiligung an der lokalen Debatte um Straßenumbenennungen in der schleswig-holsteinischen Stadt Neumünster basiert – und zu einem erstaunlichen kommunalen geschichtspolitischen Ergebnis respektive Experiment führte. Stilistisch bleibt in Teilen der Charakter der geschichtskulturellen Intervention belassen.
14 Vgl. Ebert, Verena: Koloniale Straßennamen. Benennungspraktiken im Kontext kolonialer Raumaneignung in der deutschen Metropole von 1884–1945 (Koloniale und postkoloniale Linguistik 16), Berlin/Boston 2021. 15 Vgl. Nemec, Birgit/Wenninger, Florian (Hg.): Geschichtspolitik im öffentlichen Raum. Zur Benennung und Umbenennung von Straßen im internationalen Vergleich: zeitgeschichte 46 H. 1 (2019). 16 Vgl. Deutscher Städtetag (Hg.): Straßennamen im Fokus einer veränderten Wertediskussion. Handreichung des Deutschen Städtetages zur Aufstellung eines Kriterienkataloges zur Straßenbenennung, Berlin/Köln 2021, Rückmeldungen, S. 23; Rechtsgrundlagen und Urteile S. 8 f., S. 27–47. 17 Von Reeken, Dietmar/Thießen, Malte (Hg.): Ehrregime. Akteure, Praktiken und Medien lokaler Ehrungen in der Moderne (Formen der Erinnerung 63), Göttingen 2016. 18 Dies.: Ehrregime. Perspektiven, Potenziale und Befunde eines Forschungskonzepts, in: Dies.: Ehrregime, S. 11–29. 19 Vgl. Speitkamp, Winfried: Verlorene Ehre. Ehrungen im politischen Streit um Vergangenheit und Gegenwart, in: Ebd., S. 311–343, hier insbesondere (auch Zitate) Fazit, S. 340 f.
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1. Straßennamen sind eigentümliche Objekte: Ihre Hauptfunktion ist geografische Orientierung respektive eindeutige Adressierung. Deshalb gibt es auch hin und wieder Modelle wie Straßenordnungen nach Zahlen oder dergleichen. Meist aber überwiegt die Buntheit: Straßen werden beispielsweise nach Orten, Regionen, Vögeln, örtlichen Besonderheiten benannt; solche Namen wird man in der Regel als neutral werten. Aber das gilt nicht immer: Adressen wie „Am Galgenberg“, „Dänische Straße“ oder auch (in den 1950er Jahren boomende) Namen wie „Schlesische Straße“ oder „Pommernring“ führen unmittelbar in die Vergangenheit sowie in die – auch strittige – „Geschichtskultur“, den öffentlichen Umgang mit modellierter Vergangenheit. In besonderer Weise gilt das für Straßen, die nach Personen benannt wurden und werden: Sie sollen Erinnerung sichern, eine Ehrung darstellen für Verdienste, die sich aus einem Lebenswerk, aus nachhaltigem Einsatz für die Allgemeinheit oder auch aus einer einzelnen Großtat speisen können. Abgesehen davon, dass das dahinter liegende Konzept für per se problematische Personalisierungen im historischen Denken steht, unterliegen Bewertungen von Heldentaten, Gemeinschaftsleistungen und „vorbildlichen Biografien“ dem massiven historischen Wandel. Tatsächlich ist der Befund in einer Stadt meist sehr heterogen: Wir finden vieles nebeneinander und es wurzelt in unterschiedlichen Zeiten. Auch wenn – gerade im ländlichen Bereich – Namen aus alltäglicher Traditionsbildung resultieren: Zur formalen – ja formaljuristisch korrekten – Benennung einer Straße bedarf es der notwendigen Autorität, also der Macht. Denn Straßenbenennungen sind folglich immer herrschaftliche Äußerungen, die auf zukünftige Dauer angelegt werden. Schleswig-Holsteins Industriestädte wie Neumünster sind seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts drastisch gewachsen und ausgebaut worden. Die meisten nicht einfach tradierten Namen wie „Großflecken“, sondern bewusst durchgeführte und prinzipiell freie Benennungen, stammen folglich überwiegend aus vier unterschiedlichen Herrschaftsformen: der preußisch-deutschen Monarchie, der Weimarer Republik, der NS-Herrschaft oder der (bald) bundesrepublikanischen Zeit nach 1945. Jedenfalls auf der kommunalen Ebene war die Monarchie bis 1918 keineswegs demokratisch, sondern autoritär verfasst, die Weimarer Republik bildete bezogen auf ihren Umgang mit Geschichte ein eher kompliziertes Zwitterwesen zwischen undifferenzierter (nationaler und überkommener) Traditionsbildung und radikaldemokratischem Aufbruch. In der NS-Zeit wurden demokratische und emanzipatorische Straßennamen getilgt, der neue antidemokratische Staat bei Benennungen überbordend fleißig bedacht, insbesondere durch Adolf-Hitler-Plätze, (neue) Hindenburgstraßen und ausgesuchte „Märtyrer der Bewegung“. Nach 1945 tilgte man allzu offensichtlich problematische Namensgebungen der NS-Diktatur und verfolg-
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te bei Um- und Neubenennungen sehr unterschiedliche symbolische Absichten: Häufig wählte man völlig „unverdächtige“ Namen aus Tierwelt und Geografie, allerorten aber auch erinnerungspolitische – und gewiss oft auch revanchistische – Ausrufe wie Benennungen nach „verlorenen Ostgebieten“ und je nach Konjunktur oder geschichtskultureller Entwicklung auch nach großen Europäern und auch lokalen Persönlichkeiten sowie hin und wieder – und seit den 1980ern zunehmend – nach NS-Verfolgten, Widerstandskämpfer:innen oder verdienten Demokrat:innen. Der demokratischen Herrschaftsform folgend handelt es sich dabei um die Ergebnisse von Aushandlungsprozessen in kommunalen Parlamenten oder deren Ausschüssen, entsprechend breit und konjunkturell bestimmt ist die inhaltliche Palette, die Vielfalt der Namen – auch in einer Kommune wie Neumünster.
2. Kurzum: Straßennamen sind jeweils Kinder ihrer Zeit. Straßennamen führen uns in die örtliche und in die „große“ Geschichte, sie sind Spiegel anderer Zeiten, Kulturen, Mentalitäten, Ansichten und Herrschaftsformen. – Auch wenn wir in aller Regel diese Neben-Funktion der Straßennamen kaum wahrnehmen. All das kann für Historiker:innen und Geschichtsdidaktiker:innen, für Geschichtslehrkräfte sowie ihre Schüler:innen aller Schularten und für alle Geschichtsinteressierten ein weites Feld bilden für spannende Recherchen und Erfahrungen: Geschichte lässt sich quer durch die Begriffe, Räume und Zeiten begehen. – Stadtpläne wollen wir also verstehen als große historische Abenteuerspielplätze! Aber: Möchte man in einer „Bismarckstraße“, an einem „Hindenburgufer“, im „Kaiser-Wilhelm-Koog“ wohnen? Fühlt man sich als Individuum seiner Adresse mental verbunden, wird man von Dritten mit ihr verknüpft, oder eher nicht? Und wieweit sollte demokratische Toleranz von Kommunen gehen, wo sind Grenzen zu ziehen und/oder zu verändern? Wieweit reicht, wo also endet die Achtung vor ehemaligen ehrenden Würdigungen? Wer ist (noch) der Ehre würdig, wo lassen wir die Spur der Geschichte bewusst sichtbar, wo sehen wir uns zur Korrektur, zur Umbenennung aufgefordert? Wo endet unsere ethische Toleranz, unsere Bereitschaft, in einer Tradition zu stehen, wann kommt der Punkt, an dem eine demokratisch ausgehandelte, unsere aktuellen Wertvorstellungen spiegelnde Neubenennung notwendig erscheint? Und zuletzt: Gibt es gegebenenfalls Alternativen zu diesem Vorgehen?
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3. Das alles sind komplexe Fragen, die nicht eindeutig und absolut beantwortet werden können. Auch der Fachdiskurs verläuft durchaus kontrovers. Beispielsweise gibt es auf die relevante Frage, ob eine Mitläuferrolle während der NS-Zeit eine Biografie unabhängig von sonstigen Lebensleistungen so sehr beschädige, dass eine ehrende Straßenbenennung ausgeschlossen sei, in der Literatur sehr unterschiedliche Antworten: Die Differenzierung in Mitläufer:innen oder Aktivist:innen trage nicht, denn beide hätten die allgemein gültigen Werte gebrochen, so Rainer Pöppinghege;20 unabhängig von dieser Differenzierung möge man bei der Bewertung vor allem darauf achten, ob und wie Menschen nach 1945 Selbstreflexion gezeigt hätten, so Hans-Ulrich Thamer,21 um nur zwei Beispiele zu erwähnen. Bezogen auf die ostpreußische Autorin Agnes Miegel scheint die Antwort der Geschichtswissenschaft recht klar: Miegel war nicht nur Mitläuferin, sondern überzeugte und agierende Nationalsozialistin, die nach 1945 keinerlei Reflexion, Einsicht oder Läuterung zeigte. Deshalb plädieren Steffen Stadthaus22 und Thorsten Harbeke23 ausdrücklich für Namenskorrekturen. Betrachten wir das etwas komplexere Beispiel Paul von Hindenburg (1847–1934): Spätestens seit der wichtigen Biografie von Wolfram Pyta ist zwar unstrittig, dass Hindenburg in den 1930ern aktiv und strategisch das Ende der Weimarer Demokratie, deren höchster Repräsentant er zugleich war, betrieb.24 Sein Schulterschluss mit Hitler, das demonstrative Zusammengehen des alten und des neuen Deutschlands, offenbarte seine Rolle als „Totengräber“ der Weimarer Republik.25 Und selbst seine Rolle bei der unnützen und so viele Todesopfer fordernden Verlängerung des Ersten Weltkriegs darf man heute sehr, sehr kritisch sehen. – Das historische Urteil über Hindenburg ist inzwischen recht einhellig und ziemlich negativ. Aber ob das hinreicht, um Straßen und Plätze umzubenennen, wird von Kommune zu Kommune durchaus unterschiedlich bewertet. So kann man sich mit guter Berechtigung die Frage stellen, ob möglicherweise der historische Zeitpunkt der ursprünglichen Benennung Relevanz besitzt, denn gewiss macht es einen Unterschied, 20 Vgl. Pöppinghege: Geschichtspolitik, hier S. 37. 21 Vgl. Thamer: Straßennamen, hier S. 256. 22 Vgl. Stadthaus, Steffen: Agnes Miegel – fragwürdige Ehrung einer nationalsozialistischen Dichterin. Eine Rekonstruktion ihres Wirkens im Dritten Reich und in der Nachkriegszeit, in: Frese: Ehrungen, S. 151–178. 23 Vgl. Harbeke, Thorsten: Agnes Miegel, Gustav Frenssen und Ina Seidel. NamensgeberInnen für Straßen in Heiligenhafen vor dem Hintergrund der erinnerungskulturellen Debatte um Straßenumbenennungen, in: Demokratische Geschichte 27 (2017), S. 247–280. 24 Vgl. Pyta, Wolfram: Hindenburg. Herrschaft zwischen Hohenzollern und Hitler, Berlin 2007; vgl. Thamer Straßennamen, S. 257 f. 25 Pyta: Hindenburg, S. 267.
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ob die Benennung 1927 oder 1928 – wie beim Hindenburgdamm26 – während der demokratieverträglichen Amtsphase des Reichspräsidenten, also höchsten Repräsentanten der Weimarer Republik, oder erst 1933/1934 während seiner Rolle im jungen NS-Staat erfolgte. Gelassene Historiker:innen halten sich eher zurück, plädieren für Aufklärung und Auseinandersetzung.27 Und dann das Exempel Nolde: Niemand, wirklich niemand kam bis 2019 auf die Idee, ihn ehrende Benennungen zu widerrufen. Dabei war jenen, die es wissen wollten, seit Längerem hinreichend bekannt, dass „Nazi-Emil“, wie ihn sein Kunstmalerkollege Karl Hofer titulierte, tatsächlich ein überzeugter Nationalsozialist gewesen war, der 1933/34 beinah sogar als einer der beiden Hauptrepräsentanten einer „neuen nordischen deutschen Kunst“ reüssiert hätte, wie es nationalsozialistische Studierende und nicht zuletzt auch Joseph Goebbels intendiert hatten, allerdings am Spießergeschmack Hitlers gescheitert war und darauf umso eifriger verfemt wurde.28 Noch 1944 fühlte sich Nolde lediglich von der NS-Spitze verkannt und bemühte sich um Rehabilitation. Zugleich aber wurde er als „Entarteter Künstler“ geächtet. Er war ein NS-Opfer wider Willen. Nach 1945 akzentuierte Nolde seine Opferrolle und stilisierte gar immer wieder sein angeblich abweichendes Verhalten; aber das von ihm selbst propagierte und ausdrücklich gelebte NS-ideologische Denken reflektierte er niemals. Selbstkritik blieb ihm fern. Sein „Glück“ allein war, dass die Nationalsozialisten seine Kunst verachtet hatten. Das vom Autor 2001 noch ohne den freien Zugang zum Nachlass des Künstlers durchgeführte „Nachdenken über Emil Nolde in der NS-Zeit“ präsentierte Nolde bereits zugleich als „Vorkämpfer des Deutschtums“ und als „entarteten Künstler“. Nicht mehr haltbar scheint im Licht der aktuellen Forschung aber die – Walter Jens folgende – Aufspaltung in den konsequenten Künstler und den nationalsozialistischen Menschen; das Finale des Aufsatzes würde man heute so nicht mehr schreiben können.29 Denn die 2019 erschienene Studie von Bernhard Fulda und Aya Soika weist auf neuer und breiter Quellenlage – insbesondere dem geöffneten Nachlass – schlüssig nach, dass verinnerlichte NS-Ideologeme und der tiefe Antisemitismus bis ins Werk und die eigene Ausstellungspraxis in Seebüll strahlten,30 26 Vgl. Preker, Alexander: Hindernis Hindenburg, in: Der Spiegel, 08.02.2019: https://www.spiegel.de/ panorama/gesellschaft/hindenburgdamm-nach-sylt-muss-ein-neuer-name-her-a-1252017.html (04.02.2023). 27 Vgl. Thamer: Straßennamen, S. 254 und S. 263 f. 28 Vgl. Danker, Uwe: „Vorkämpfer des Deutschtums“ oder „entarteter Künstler“? Nachdenken über Emil Nolde in der NS-Zeit, in: Demokratische Geschichte 14 (2001), S. 149–188. 29 Vgl. ebd., S. 183–188. 30 Vgl. Fulda, Bernhard: Emil Nolde. Eine deutsche Legende. Der Künstler im Nationalsozialismus, Essay- und Bildband, München 2019; vgl. Soika, Aya/Fulda, Bernhard: Emil Nolde. Eine deutsche Legende. Der Künstler im Nationalsozialismus, Chronik und Dokumente, München 2019; vgl. Ring, Christian (Hg.): Emil Nolde in seiner Zeit im Nationalsozialismus (Tagungsband), München 2019.
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„dass Wort und Bild, Werk und Biographie nur schwerlich voneinander getrennt werden können“.31 – Aber was bedeutet das für eine „Noldestraße“ in Neumünster?
4. Historiker:innen können und sollten nicht entscheiden, ob Straßen und Plätze umzubenennen sind oder nicht. Das liegt allein in der Verantwortung der kommunalen und demokratischen Politik, die sich auf Kriterien und Bandbreiten verständigen sollte. Geschichtswissenschaft kann aber auf zwei Feldern helfen: Sie kann und sollte im ganz konkreten Fall das aktuelle Wissen, die Interpretations- und Beurteilungsangebote der in Rede stehenden Biografie bereitstellen und so das politische Urteil möglich machen. Sie kann zudem für den allgemeinen Fall Angebote von Kriterien formulieren und zusammenstellen. Dabei wäre meines Erachtens indes zu unterscheiden zwischen Umbenennung und Neubenennung.
Aber: Auch bezogen auf wissenschaftliche Dienstleistungen für konkrete Einzelfälle sollten Wissenschaftler:innen ihre Maßstäbe und Bewertungskriterien offenlegen, damit die adressierte Kommunalpolitik in einem klaren und transparenten Rahmen handelt – und gegebenenfalls die Argumentation oder Meinungsäußerung aus der Wissenschaft kritisieren und verneinen kann. Beispiel: Im Fall von Agnes Miegel wird deren mangelnde Selbstreflexion vor dem faktischen Hintergrund ernsthafter Verstrickung in den Nationalsozialismus in den Fokus der Bewertungen gerückt. Zu dieser Argumentation kann man sich verhalten und politisch entscheiden. Die Ratsversammlung der Stadt Neumünster ernannte zur Jahreswende 2018/ 2019 eine „Kommission Straßenbenennung“, der Vertreter:innen der Fraktionen SPD, CDU, FDP, Bündnis 90/Die Grünen, Die Linke und zeitweise auch des „Bündnisses für Bürger“ und der NPD angehörten sowie ein Stadtrat, eine leitende Beamtin und als Fachgutachter der Autor dieses Beitrags. Die Kommission vereinbarte, vor der konkreten Befassung mit schließlich fünf als problematisch angesehenen Straßennamen allgemeingültige Kriterien für Umbenennungen sowie für (Neu-)Benennungen zu entwickeln. Der Historiker wurde um einen Vorschlag gebeten, der die Grundlage der Erörterungen bilden würde.
31 Fulda, Bernhard: Nolde in seiner Zeit. Der ›historische Nolde‹ und der ›Künstler Nolde‹, in: Ring: Nolde, S. 184–205, hier S. 201.
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Dieser lautete: Bei Debatten um potenzielle Umbenennungen wäre zu fragen: Hat die Person • • • • • • •
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überzeitliche und transkulturelle Menschenrechte abgelehnt und gebrochen, hat sie aktiv teilgenommen an nationalistischen, rassistischen, völkischen oder antisemitischen Aktivitäten oder diese befördert, liegen von ihr retrospektive (Selbst-)Reflexionen vor, und wie steht es mit ihrer (späteren) Demokratieverträglichkeit?32 […] Bei Neubenennungen wäre – ergänzend zur Bewertung der zu würdigenden Lebensleistung etc. – zu beachten, ob die Person unserem gegenwärtigen Normensystem genügt, also über zeitlose Werte hinaus beispielsweise weder nationalistisch, rassistisch, völkisch, kolonialistisch, antisemitisch noch antidemokratisch agierte respektive derartiges Gedankengut propagierte und aktiv für das Wertesystem, Völkerfreundschaft und Demokratie eintrat. Eine Neubenennung sollte meines Erachtens als gegenwärtige erinnerungspolitische Intention also mehr und schärfere Kriterien erfüllen als eine Umbenennung, in die – eingeschränkt – der Respekt vor vergangenen Normensystemen und Weltdeutungen eingehen sollte, sofern überzeitliche und transkulturelle Werte nicht relativiert werden. Die paradox klingende Folge lautet: Die Hürde zur Umbenennung ist höher.33
Leicht modifiziert fanden diese Formulierungen im Februar 2019 Eingang in einen Beschluss der Ratsversammlung.34 Aus der Perspektive der Geschichtsdidaktik sei zudem im konkreten Einzelfall zu bewerten, ob die Umbenennung alternativlos anmute, oder ob historisch einordnende Hinweise auf Hinweistafeln mit Vertiefungslinks als der geeignetere Weg erscheinen könnten. Allerdings müsse beachtet werden, dass ergänzende Hinweise weder ein Adresszusatz sind, noch im Navigationssystem oder auf dem kommerziellen Stadtplan auftauchen, lediglich am Ort selbst oder auf einem öffentlich-rechtlich entstandenen Stadtplan. Zumindest sei unter dem Fokus historischen Denkens zu empfehlen, in einem demokratischen Gemeinwesen unterhalb der benannten, recht scharfen Normierung
32 Die in der Tat unglückliche Formulierung „Demokratieverträglichkeit“ lautet im Ratsbeschluss in verbesserter Version: „Stand die Person zuletzt zu Freiheit, Rechts- und Verfassungsstaat, Demokratie und Pluralismus?“ 33 Danker, Uwe: Vorlage für die Sitzung der Kommission zur Straßenumbenennung der Stadt Neumünster am 17.01.2019, S. 5 f. 34 Vgl. Drucksache Nr.: 0296/2018/DS vom 20. Februar 2019 mit Anlage DS „Formulierungsvorschlaege fuer Kriterien“ (Beschlussfassung: 02.04.2019).
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Die „Agnes-Miegel-Straße“ in Neumünster mit dem beigefügten Kurztext, Foto: Stadt Neumünster, 2022.
ein Höchstmaß an Pluralität zuzulassen, was die Kraft und Integrationsstärke der demokratischen Herrschaftsform nur unterstreiche. Schließlich seien Debatten um Straßennamen an sich wertvoll und produzierten historisches Lernen, wenn sie öffentlich und transparent ausgetragen werden. Denn: Was (und wen) man aus der Erinnerung lösche, könne nicht mehr reflektiert und in seinem historischen Kontext kritisch erörtert werden. – Deshalb neige der Gutachter dazu, im Zweifelsfall auch problematische Straßennamen zu erhalten und mit Informations- und Bewertungsangeboten zu versehen, um mündigen Bürger:innen die kritische Auseinandersetzung zu ermöglichen.
5. Das war der Beginn einer anregenden Auseinandersetzung im Gremium. Der Historiker stellte auftragsgemäß Dossiers zu fünf Biografien zusammen und bot Wertungen an: In Anwendung der von der Ratsversammlung beschlossenen Kriterien sei die Umbenennung vorzunehmen bei jenen vier Straßen, die nach Agnes Miegel, Emil Nolde, Karl Keding und Julius Brecht benannt sind. In Berücksichtigung der Gesamtbiografie und Abwägung aller Aspekte sei im Fall von Carl Bosch eine erklärende Ergänzung zu erörtern.35 35 Alle Dossiers mit ergänzenden Unterlagen und den Erwägungen: Stadt Neumünster: https://www. neumuenster.de/kultur-freizeit/stadtgeschichte/problematische-strassennamen (04.02.2023).
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Er wolle aber noch einmal unterstreichen: Unter dem Aspekt des historischen Lernens seien eigentlich gebotene Umbenennungen nicht zwingend, sondern, wie in der Kommission mehrfach erörtert, möglicherweise gar schädlich. Denn auf gewisse Weise zählten die Personen auch zur Geschichtskultur Neumünsters und könne man auch einwenden: •
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Emil Nolde wird seiner endgültigen Entzauberung zum Trotz als Künstler fortexistieren; auf seine Legendenbildung fiel auch Neumünster herein – wie (fast) die ganze Welt. Julius Brecht und Karl Keding wurden für außergewöhnliches gemeinnütziges Engagement nach 1945 gewürdigt, ohne dass man in Neumünster nach ihrer biografischen Vergangenheit gefragt hätte – wie so oft in der bundesrepublikanischen Nachkriegszeit. Agnes Miegel wurde als „Heimatdichterin“ vertriebener Ostpreußen als Teil ihrer Identität begriffen – ohne dass nach ihrer Biografie – und der Vorgeschichte der eigenen Vertreibung – gefragt wurde. Carl Bosch war Nobelpreisträger und ein Zahnrad im NS-Getriebe – was wiegt mehr?
Der Gutachter wisse darum, „dass derartige Überlegungen derzeit als politisch unkorrekt gelten. Aber als Geschichtsdidaktiker will ich wenigstens diese in allen fünf Fällen vorhandene Option benannt haben.“36 Die Abschlussdiskussion der Kommission brachte eine überraschende Wende: Einstimmig beschloss das Gremium, statt der nach den geltenden Kriterien eigentlich vorzunehmenden Umbenennungen, auf diese – vorerst – zu verzichten und stattdessen mit erklärenden Straßenschildern und via QR-Code unmittelbar verknüpften ergänzenden Materialien kritische historische Auseinandersetzungen anzuregen. Schließlich beschloss auch die Ratsversammlung im Juni 2021 diesen Weg,37 der allerdings von einzelnen Ratsmitgliedern, die nicht der Kommission angehört hatten, hinterfragt wurde. Alle fünf Straßenschilder sind ausgetauscht, tragen kurze biografische Texte und den Link auf umfängliche Unterlagen, die uniform strukturiert sind: belegte Texte, ausgewählte Quellen und Standardfragen, die zum historischen Nachdenken animieren und auch Widerspruch auslösen sollen. Vorgeführt sei das an einem Beispiel. Das Straßenschild der „Noldestraße“ trägt heute folgenden Kurztext:
36 Danker, Uwe: Vorlage für die Sitzung der Kommission zur Umbenennung von Straßen der Stadt Neumünster am 12.11.2019, S. 3. 37 Vgl. Drucksache Nr.: 0831/2018/DS vom 30.04.2021 (Beschlussfassung der Ratsversammlung: 08.06.2021), Stadt Neumünster: https://www.neumuenster.de/kultur-freizeit/stadtgeschichte/ problematische-strassennamen (04.02.2023).
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Uwe Danker
Der schleswig-holsteinische Kunstmaler Emil Nolde (1867–1956) schuf ein expressionistisches Werk von Weltrang. Er begriff sich als ‚nordischer Künstler‘, war Antisemit und Nationalsozialist. Dennoch galt seine Kunst in der NS-Zeit als ‚entartet‘. Nolde sah sich irrtümlich verfemt und kämpfte um die Korrektur. Nach 1945 stilisierte er sich erfolgreich als reines NS-Opfer.
Die Verantwortlichen haben als Schlusssatz ergänzt: „Heute würde eine Straße so nicht mehr benannt werden.“ Wer mit seinem Smartphone den integrierten QRCode nutzt, wird zu einem fünfseitigen Text geleitet mit Daten zu Noldes Lebenslauf und einer transparenten sowie kontrovers angelegten Darstellung, die ebenfalls unmittelbar zu Quellen und Beiträgen verlinkt und kontroverse Bewertungsangebote enthält. Der Text endet mit dem Rekurs auf den Ratsversammlungsbeschluss und mit der in allen fünf Fällen stereotyp formulierten Frage nach Handlungsoptionen: Heute würde die Ratsversammlung von Neumünster keine Straße mehr nach Emil Nolde benennen. Denn er hat mit seinem gelebten Antisemitismus ‚überzeitliche und transkulturelle Menschenrechte abgelehnt und gebrochen‘ und nach 1945 die Chance, ‚retrospektive (Selbst-)Reflexionen‘ vorzulegen zugunsten der bequemen Legendenbildung verstreichen lassen.38
Was ist zu tun? Umbenennung der Straße und Tilgung der Erinnerung an die ehemals geehrte Person? Oder kritische Auseinandersetzung mit ihrer Biografie und der zurückliegenden, heute kaum nachvollziehbaren Ehrung? Lauten die Alternativen ‚Geschichte löschen‘ oder ‚Geschichte lernen‘? Oder geht es einfach um unsere (heutigen) Werte und Ansprüche an angemessene Erinnerung? Auf diese Fragen gibt es keine allgemeingültigen Antworten.39
6. Das geschichtskulturelle Experiment soll nach fünf Jahren evaluiert und die Debatte um Umbenennungen neu aufgerufen werden. Man darf gespannt sein.
38 Im Text zitiert aus Beschluss der Ratsversammlung, Anlage 02.04.2019. 39 Noldestraße, Stadt Neumünster: https://www.neumuenster.de/kultur-freizeit/stadtgeschichte/ problematische-strassennamen (04.02.2023).
Gesa Büchert
Nürnbergs langer Weg zum Stadtmuseum
Am 8. März 1953 – und damit vor 70 Jahren – eröffnete im Fembohaus,1 einem ehemaligen Kaufmanns- und Patrizierhaus aus dem 16. Jahrhundert, erstmals in Nürnberg ein städtisches Heimatmuseum, das „Altstadtmuseum“. Das Jubiläum des Museums, das heute als „Stadtmuseum im Fembo-Haus“2 firmiert, bietet Anlass, dessen Gründung und den langen Weg dorthin genauer zu beleuchten.3 Auf den ersten Blick erstaunt, dass die Großstadt Nürnberg erst in der Nachkriegszeit ein eigenes Stadtmuseum errichtete, während im Kaiserreich, insbesondere nach der Jahrhundertwende, überall in Deutschland, vor allem aber in Bayern, städtische Heimatmuseen „wie Pilze aus dem Boden“ schossen – wie Georg Hager, der Leiter des Generalkonservatoriums der Kunstdenkmäler und Altertümer in Bayern im Jahr 1913 treffend schrieb.4
Die städtischen Kunstsammlungen Die wichtigste Grundvoraussetzung für die Gründung eines städtischen Heimatmuseums, der Besitz einer eigenen kunst- und kulturhistorischen Sammlung, wäre in der ehemaligen Reichsstadt Nürnberg eigentlich im 19. Jahrhundert durchaus gegeben gewesen.
1 Der Name leitet sich ab von dem ehemaligen Hauseigentümer Christoph Franz Fembo, der das Haus und den hier ansässigen Landkartenverlag 1804/13 erwarb und zusammen mit seinem Sohn aufwändig restaurierte. 2 Zum besseren Verständnis wird der Hausname, der Bestandteil des Museumsnamens ist, seit einigen Jahren mit Bindestrich geschrieben: Fembo-Haus. 3 Mit diesem Beitrag möchte die Autorin auch ihre Verbundenheit mit der Jubilarin Charlotte BühlGramer zum Ausdruck bringen, an deren Lehrstuhl sie 13 Jahre als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig war und zahlreiche Seminare zur geschichtskulturellen Analyse von musealen Präsentationen sowie zum historischen Lernen im Museum veranstaltet hat. 4 Hager, Georg: Die Museen und der Mensch. Separatdruck aus: Mitteilungen des Rheinischen Vereins für Denkmalpflege und Heimatschutz 7 (1913), S. 3. Vgl. dazu: Bendl, Eva: Inszenierte Geschichtsbilder. Museale Sinnbildung in Bayerisch-Schwaben vom 19. Jahrhundert bis in die Nachkriegszeit (Bayerische Studien zur Museumsgeschichte 2), München/Berlin 2016; Büchert, Gesa: Schauräume der Stadtgeschichte. Städtische Heimatmuseen in Franken von ihren Anfängen bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs (Bayerische Studien zur Museumsgeschichte 1), München/Berlin 2011.
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Bereits ab den 1520er Jahren hatte sich im Nürnberger Rathaus ausgehend von einigen Dürer-Werken eine umfangreiche Gemäldegalerie entwickelt, deren Grundlage Probe- und Meisterstücke von ortsansässigen und auswärtigen Künstlern bildeten.5 Daneben entstanden in reichsstädtischer Zeit große Sammlungen von Graphiken, Holzstöcken und Gussmodellen aus den Werkstätten der Nürnberger Erzgießer. Die Stadt besaß zudem eine Sammlung von historischen astronomischen und wissenschaftlichen Instrumenten, zahlreiche Kuriositäten und eine größere Anzahl von Holzmodellen von städtischen, kirchlichen und privaten Gebäuden sowie von Brunnen, Brücken und Maschinen, die als Vorlagen für Neu- oder Umbauten geschaffen worden waren.6 Die städtischen Sammlungen wurden bereits ab 1622 in den Repräsentationsräumen im zweiten Stockwerk des Nürnberger Rathauses sowie in einer Galerie auf der Nürnberger Kaiserburg präsentiert.7 Nach dem Übergang Nürnbergs an das Königreich Bayern im Jahr 1806 musste im Rahmen der Umstrukturierung der Verwaltung das zweite Obergeschoss des Nürnberger Rathauses geräumt werden. Die Gemälde, deren Eigentum nun zunächst an den bayerischen Staat überging, wurden zusammen mit Werken aus den königlichen Sammlungen und den Nürnberger Kirchen in der Nürnberger Kaiserburg sowie in der Moritzkapelle an der Sebalduskirche und in einem Neubau im Landauerschen Zwölfbruderhaus ausgestellt.8 Am 18. Juni 1863 wurde entschieden, die städtischen Sammlungen wieder in einer städtischen Galerie im zweiten Obergeschoss des Nürnberger Rathauses zusammenzuführen. Der Maler Heinrich Ludwig Petersen erhielt das Amt des städtischen Konservators und übernahm damit die Verantwortung für die Betreuung der städtischen Sammlungen. Damit war eigentlich bereits 1863 die Grundlage für ein Stadtmuseum in Nürnberg gelegt.9 Tatsächlich eröffnete die neue städtische Galerie gut vier Jahre später im zweiten Stock des Nürnberger Rathauses. Aus Platzgründen konnte hier allerdings nur ein Teil der städtischen Bestände gezeigt werden. Zahlreiche Objekte mussten auf dem Dachboden des Rathauses magaziniert werden. Nachdem sich die Nürnberger Handwerksvereinigungen nach Einführung der Gewerbefreiheit 1868/69 auflösten und ihre Handwerksinsignien und Zunftaltertümer ebenfalls den städtischen Sammlungen übergaben, reichte der Raum im Rathaus bei weitem nicht mehr aus. 1872 stimmten der Stadtmagistrat und
5 Schwemmer, Wilhelm: Aus der Geschichte der Kunstsammlungen der Stadt Nürnberg, in: MVGN 40 (1949), S. 97–206, hier S. 97–108. 6 Ebd., S. 109–115. 7 Ebd., S. 103–108. 8 Ebd., S. 137–147. 9 Ebd., S. 151.
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das Gemeindekollegium deshalb einer Neuaufstellung der deutlich vergrößerten Sammlung im ehemaligen Dominikanerkloster in der Burgstraße zu. Während der Planungsphase stellte August von Essenwein, der damalige Direktor des Germanischen Nationalmuseums, das damals noch unter dem Namen „Germanisches Museum“ firmierte, im Jahr 1874 den Antrag, mit den städtischen Sammlungen innerhalb des Museums eine städtische Galerie zu gründen. Das Germanische Nationalmuseum besaß zu dieser Zeit nur eine kleine Gemäldeabteilung, die als „unbedeutendste Abtheilung der Anstalt“ galt.10 Essenwein erhoffte mit den städtischen Gemäldesammlungen, die bestehenden Lücken in den musealen Beständen schließen zu können. Nachdem kurz darauf der städtische Konservator verstarb, legten die städtischen Kollegien im Mai 1875 vertraglich fest, dass ein Teil der städtischen Sammlungen ins Germanische Nationalmuseum überführt werden sollte. Die Stadt mietete dafür hier, im Erdgeschoss des sogenannten Augustinerbaus, Räume an. In weiteren Verträgen im Jahr 1876 und 1877 wurde die Verlegung des städtischen Kupferstichkabinetts, der Handwerks- und Zunftsammlungen und der städtischen Gemäldesammlung festgelegt, die in weiteren von der Stadt angemieteten Räumen im Germanischen Nationalmuseum untergebracht wurden. Bis 1882 errichtete das Germanische Nationalmuseum einen neuen Galeriebau, in dem die städtische Gemäldesammlung mit der Sammlung des Museums sowie mit den staatlichen, kirchlichen und privaten Nürnberger Beständen zu einer der bedeutendsten Sammlungen von deutschen Gemälden des Mittelalters und der Renaissance vereint wurde.11
Bestrebungen zur Museumsgründung Nur ein kleiner Teil der Gemälde blieb im Besitz der Stadt Nürnberg. Ab 1890 wurden diese Bilder, zusammen mit einigen zeitgenössischen Werken, die das Germanische Nationalmuseum als Leihgaben zur Verfügung stellte, in einem Erweiterungsbau des Nürnberger Rathauses in der Theresienstraße präsentiert. Durch Schenkungen, gezielte Ankäufe und Aufträge an Nürnberger Künstler konnte diese Sammlung bis 1905 von 42 auf 85 Werke vergrößert werden.12
10 Katalog der im germanischen Museum befindlichen Gemälde, Nürnberg 1882. 11 Strieder, Peter: Die Gemäldesammlung, in: Deneke, Bernward/Kahsnitz, Rainer (Hg.): Das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg 1852–1977. Beiträge zu seiner Geschichte, Nürnberg 1978, S. 585–606, hier S. 594–597. 12 Schwemmer: Kunstsammlungen, S. 177–179; Kett, Siegfried: Das Nürnberger Künstlerhaus. Eine Stadtgeschichte von 1867–1992, Nürnberg 1992, S. 32–34.
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1910 erfolgte die feierliche Einweihung des Nürnberg Künstlerhauses am Königstor, das nach Plänen des Architekten Konradin Walther errichtet worden war. Bereits eineinhalb Jahre zuvor war das Ausstellungsgebäude des Künstlerhauses eröffnet worden, in dem nun die verbliebene Städtische Kunstsammlung präsentiert wurde.13 Dabei sollten nicht nur Malerei und Bildhauerei aus verschiedenen Epochen präsentiert, sondern auch stadtgeschichtliche Inhalte thematisiert werden. So schreibt Prof. Dr. Fritz Traugott Schulz, der als Hauptkonservator am Germanischen Nationalmuseum tätig war und die städtische Kunstsammlung seit 1910 ehrenamtlich leitete: Übrigens ist nicht aus dem Auge zu verlieren, dass die städtische Kunstsammlung im Ausstellungsgebäude am Königstor nicht nur die Kunst als solche pflegen will, sondern sie zugleich auch einen örtlichen Charakter trägt. Die vielen Darstellungen historischen Inhalts, die bis in unsere Tage hinaufreichen, die zahlreichen Bildnisse bekannter Persönlichkeiten, sie sollen die Erinnerung wach erhalten an die denkwürdigen Geschehnisse im Leben der Stadt, sie sollen dem Ansehen dienen an die Männer, die ihre Geschicke geleitet haben und in der Öffentlichkeit hervorgetreten sind.14
Schulz brachte damit eigentlich den Grundgedanken eines städtischen Heimatmuseums zum Ausdruck. Allgemein scheint in Nürnberg zu dieser Zeit der Wunsch, ein Stadtmuseum zu errichten, weit verbreitet gewesen zu sein. Vor diesem Hintergrund vermachte der jüdische Kunsthändler Max Pickert 1912 der Stadt insgesamt 323 kulturgeschichtlich bedeutsame Objekte sowie sein großes Anwesen am Albrecht-Dürer-Platz 10/Untere Krämersgasse 9, um hier ein städtisches Museum zu errichten, in dem auch die städtische Kunstsammlung aufgestellt werden sollte.15 Zu ernsthaften Planungen eines städtischen Museums kam es allerdings erst 1928, nachdem das 400. Todesjahr von Albrecht Dürer in Nürnberg international viel beachtet mit großem Aufwand gefeiert worden war. Der nebenamtliche Leiter der Städtischen Galerie, Fritz Traugott Schulz, wurde nun zum neuen hauptamtlichen Direktor der Städtischen Kunstsammlungen ernannt.16 Auf seine Anregung fasste der Nürnberger Stadtrat 1928 den Beschluss, in den Räumen der Nürnberger
13 Bauernfeind, Martina: Bürgermeister Georg Ritter von Schuh (Schriftenreihe des Stadtarchivs Nürnberg 60), Nürnberg 2000, S. 347; Kett: Künstlerhaus, S. 31 f. Siehe dazu auch den Beitrag von Martina Bauernfeind in diesem Band. 14 Schulz, Fritz Traugott: Beschreibung der städtischen Kunstsammlung im Ausstellungs-Gebäude am Königstor in Nürnberg, Nürnberg 1909, S. 31. 15 StadtAN C7/VIII Nr. 3697, Abschrift des Nachtrags von Max Pickert zum Testament, 28.03.1912; Schwemmer: Kunstsammlungen, S. 179. 16 Verwaltungsbericht der Stadt Nürnberg 1928/29, S. 413.
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Kaiserburg ein städtisches Heimatmuseum einzurichten, das einen Überblick über die geschichtliche und kulturelle Entwicklung Nürnbergs geben sollte.17 Schulz beschäftigte sich intensiv mit dem Aufbau einer Sammlung und der Erarbeitung eines Museumskonzepts, konnte aber seine Pläne nicht umsetzen, da er nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 vom Dienst suspendiert und ein Disziplinarverfahren wegen angeblicher Veruntreuung gegen ihn eingeleitet wurde. Auf Grundlage von § 4 des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“, das von den Nationalsozialisten zur Umsetzung der Gleichschaltung im öffentlichen Dienst und der Entfernung von Gegnern des NS-Regimes verfasst worden war, wurde er im Februar 1934 aus dem städtischen Dienst entlassen.18 Statt des geplanten Burgmuseums wurde in der NS-Zeit die Errichtung eines „Geschlechtermuseums“ im Pellerhaus am Egidienberg geplant, in dem vor allem die Geschichte des Nürnberger Patriziats während der reichsstädtischen Zeit präsentiert werden sollte. Da im Pellerhaus, das als bestes und prachtvollstes Bürgerhaus der deutschen Renaissance galt, ab 1932 das Stadtarchiv untergebracht war, wurde während des Zweiten Weltkriegs auch an die Einrichtung eines Stadtmuseums im ehemaligen Katharinenkloster gedacht. Hier war 1925 das Deutsche Sängermuseum eröffnet worden; in der zum ehemaligen Kloster gehörigen Katharinenkirche wurden ab 1938 die nach dem Anschluss Österreichs nach Nürnberg gebrachten Reichskleinodien ausgestellt. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde das Museum im Katharinenkloster geschlossen und die Bestände in Sicherheit gebracht. Die Kirche und die Klostergebäude wurden 1945 bei Luftangriffen sowie beim sogenannten Endkampf erheblich beschädigt, so dass eine Nutzung des Gebäudes als Museum nicht mehr infrage kam.19
Die Gründung des Altstadtmuseums Am 15. August 1945 wurde der Kunsthistoriker Dr. Ernst Günter Troche zum neuen Direktor des Germanischen Nationalmuseums ernannt und gleichzeitig auch
17 Ebd., S. 416 f. und Verwaltungsbericht Nürnberg 1929/30, S. 324. Luppe, Hermann: Mein Leben (Quellen zur Geschichte und Kultur der Stadt Nürnberg 10), Nürnberg 1977, S. 211; Schwemmer: Kunstsammlungen, S. 179 f. 18 Ein umfangreicher Schriftwechsel zur Entlassung von Schulz befindet sich in: StadtAN C 18 II Nr. 6481. 19 Schwemmer, Wilhelm: Das ehemalige Katharinenkloster zu Nürnberg im 19. und 20. Jahrhundert, in: MVGN 70 (1983), S. 285–303, hier S. 297–300.
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mit der Leitung der Städtischen Kunstsammlungen betraut.20 Er war auch Mitglied des „Komitees zur Erhaltung der Nürnberger Kunstdenkmäler, Kunstwerke, Bibliotheken und Archive“, das die von der Militärregierung angeordneten Maßnahmen durchführte und diese fachlich beriet.21 In seiner Funktion als Leiter der Städtischen Kunstsammlungen besichtigte Troche historische Gebäude und gab Empfehlungen für deren Herstellung bzw. Erhalt, sicherte und inventarisierte Nürnberger Kunstschätze, die in verschiedenen Kunstdepots sowie Burgen und Schlössern im Umkreis ausgelagert waren, und versuchte diese so schnell wie möglich nach Nürnberg zurückzubringen.22 Bei der Besichtigung der Herrensitze in Lichtenhof und Schwarzenbruck, die mit Militär und Flüchtlingen belegt waren, fiel ihm auf, dass die dort untergebrachten Kunstwerke von Nürnberger Patrizierfamilien aufgrund der beengten räumlichen Verhältnisse nur sehr unzureichend gesichert waren. Da anderen Ortes ähnliche Bedingungen bestanden, beschloss das Komitee zum Erhalt der Nürnberger Denkmäler, Kunstwerke, Bibliotheken und Archive für die gefährdeten Nürnberger Kunstwerke eine zentrale Sammelstelle einzurichten, die später zu einem stadtgeschichtlichen Museum ausgebaut werden sollte. Als weitere Begründung für die Errichtung eines städtischen Museums führte Troche an, dass das Germanische Nationalmuseum auf Grund der großen Kriegszerstörungen der Gebäude „auf lange Zeit den Raum entbehren [wird], um die Kunst und Kultur Nürnbergs würdig darzustellen […].“23 Als Ort für die Unterbringung dieser Sammlung schlug das Komitee das dreigeschossige Fembohaus in der Nürnberger Burgstraße vor,24 das die Stadt Nürnberg bereits 1928 angekauft hatte. Das Anwesen war zwar beim Luftangriff auf die Nürnberger Altstadt am 2. Januar 1945 beschädigt worden, war aber soweit erhalten geblieben, dass nach einer Sanierung eine Nutzung als Museumsgebäude möglich schien.25 Der Ältestenausschuss und der Nürnberger Stadtrat unterstützten den Vorschlag, hier das Stadtmuseum einzurichten. Auch über die inhaltliche Ausrichtung des Museums, das Kunstwerke und Objekte von „lokalem Interesse“ zeigen sollte, bestand Einigkeit.26 Zu heftigen Spannungen führte allerdings die Frage, wie dieses Museum geführt werden sollte. Während Troche das stadtgeschichtliche Museum
20 Wachter, Clemens: Kultur in Nürnberg 1945–1950. Kulturpolitik, kulturelles Leben und Bild der Stadt zwischen dem Ende der NS-Diktatur und der Prosperität der fünfziger Jahre (Schriftenreihe des Stadtarchivs Nürnberg 59), Nürnberg 1999, S. 175. 21 Ebd., S. 38. 22 Ebd., S. 176. 23 StadtAN C 34 KuM Nr. 49, Troche an Wießner, 10.05.1946. 24 StadtAN C 34 KuM Nr. 49, Bericht über die 17. Sitzung des Komitees, 08.05.1946. 25 Schwemmer, Wilhelm: Das Fembohaus zu Nürnberg. Altstadtmuseum, Nürnberg 1960, S. 24 und S. 32. 26 StadtAN C 34 KuM Nr. 49, Troche an Wießner, 10.05.1946.
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dem Germanischen Nationalmuseum als eine von der Stadt finanzierte Abteilung angliedern wollte, planten der ehemalige Leiter der städtischen Kunstsammlungen Fritz Traugott Schulz und Oberbürgermeister Dr. Otto Ziebill ein unabhängiges Heimatmuseum. Dort wollten sie alle Exponate ausstellen, die Nürnberg betrafen, d. h. auch diejenigen, die dem Germanischen Nationalmuseum gehörten. Dieses Vorhaben stieß auf massiven Widerstand durch Troche, der den Bestand des Germanischen Nationalmuseums zusammenhalten wollte.27 Um die verfahrene Situation zu entschärfen, beschloss der Ältestenrat Troche zum 1. Mai 1948 von der Leitung der Städtischen Kunstsammlungen zu entbinden und deren ehemaligen Direktor Fritz Traugott Schulz die ehrenamtliche Leitung zu übertragen.28 Schulz wurde auch mit den Planungen für die Errichtung des stadtgeschichtlichen Museums im Fembohaus beauftragt. Er legte sogleich ein umfassendes Konzept vor, in dem er das Ziel des Museums wie folgt definierte: Das Stadtgeschichtliche Museum soll die Erinnerung an die große Vergangenheit der Stadt Nürnberg, ihre Geschichte und kulturelle Entwicklung, zur Darstellung bringen und dauerhaft wacherhalten. […] Besonderer Wert ist auf die entwicklungsmässige Darstellung des Altstadtbildes, der Strassen und Plätze, der Kirchen, der öffentlichen Gebäude und der Bürgerhäuser zu legen.29
Daneben sollten hier die Geschichte und Kultur Nürnbergs, die kunsthandwerklichen Fachsammlungen, die der Stadt gehörten, die Originalbildwerke von zerstörten Nürnberger Gebäuden, Beispiele aus einer Sammlung von Gipsabdrücken zerstörter Hauszeichen und die Nürnberger Wohnkultur gezeigt werden.30 Schulz, der durch seine außerordentlich konservative Kunstpolitik auffiel und heftig gegen Troche und das Germanische Nationalmuseum agierte, war nicht unumstritten. So wurde in einem Protokoll des Kunstausschusses festgehalten, dass „darüber zu wachen [ist], daß Herr Dr. Schulz, der Leiter der Städtischen Kunstsammlungen, nicht über seine Grenzen hinausschießt.“31 Um dies zu gewährleisten und sicherzustellen, dass das Heimatmuseum „mit und nicht gegen
27 StadtAN C 7/IX Nr. 1229, Niederschrift über die Sitzung des Kunstausschusses, 18.11.1948. 28 StadtAN C 7/IX Nr. 1253, Protokoll der Sitzung des Ältestenausschusses, 02.04.1948; Verwaltungsbericht Nürnberg 1945–49, S. 96. 29 StadtAN C 34 KuM Nr. 47, Schulz an Ziebill, 02.11.1948. Zu den unterschiedlichen Positionen und Kontroversen: Wachter: Kultur, S. 178–184. 30 Ebd. 31 StadtAN C7/IX Nr. 1229, Niederschrift über die Sitzung des Kunstausschusses, 18.11.1948 und C 34 Nr. 47, Gutachten des Kunstausschusses, 18.11.1948.
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das Germanische Nationalmuseum“ verwirklicht wird, beschloss der Kunstausschuss einen eigenen Ausschuss zu gründen, der das Vorhaben „ein Museum mit Kunstgegenständen“ aus Nürnbergs Vergangenheit zu gründen, „weiter prüfen und bearbeiten“ sollte.32 Die Realisierung des Museums konnte vor allem aus finanziellen Gründen nur schrittweise erfolgen.33 So ließ sich die geplante Teileröffnung zur 900-Jahrfeier der Stadt Nürnberg im Jahr 1950 nicht umsetzen. Zum 1. Oktober 1950 wurde Schulz, dessen konservative Kunstpolitik auf immer stärkere Kritik stieß, wieder in den Ruhestand versetzt. Die Leitung der Städtischen Kunstsammlungen übernahm nun der Kunsthistoriker Dr. Wilhelm Schwemmer, der hier bereits als Konservator tätig war.34 Schwemmer modifizierte das Ausstellungskonzept mit der Begründung, dass das geplante Museum „im günstigsten Fall nur im kleinen und unzulänglich wiederholen könnte, was das Germanische Museum im Rahmen seiner Kunst- und Kulturhistorischen Sammlungen zu zeigen vermag.“ 35 Stattdessen plante er im Fembohaus den Schwerpunkt der Präsentation auf die Entwicklung Nürnbergs zu legen und das Altstadtbild, die Straßen und Plätze, die Kirchen, öffentlichen Gebäude sowie die Bürgerhäuser zu zeigen.36 Schwemmers Konzept fand die einstimmige Unterstützung des Kulturausschusses des Stadtrats,37 aber auch des Bayerischen Landesamts für Denkmalpflege, das in einem Gutachten unterstrich, dass hier das Denkmalpflegerische und das Museale ausgewogen und gleichberechtigt nebeneinanderstünden.38 Sicherlich trifft Schwemmers Urteil zu, dass mit dieser Neuausrichtung und der Konzentration auf ein Spezialthema, das für das Germanische Nationalmuseum nicht relevant war, die Errichtung des städtischen Museums erst realisiert werden konnte.39 Allerdings spielte hierbei auch eine wichtige Rolle, dass sich, wie Troche geplant hatte, einige Nachfahren von Nürnberger Patrizierfamilien bereit erklärten, ihre Kunstwerke dem neuen stadtgeschichtlichen Museum zu überlassen.40
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Ebd. StadtAN C 34 Nr. 47, Vermerk von Schulz, 07.02.1950. Verwaltungsbericht Nürnberg 1950, S. 131; Wachter: Kultur, S. 186 f. Verwaltungsbericht Nürnberg 1951, S. 133; StadtMus Fembohaus 1951–1971, Einrichtung des Fembo-Hauses als Museum, um 1950. Ebd. StadtAN C 34 Nr. 48, Beschluss des Schul- und Kulturausschusses, 26.09.1952. Schwemmer: Fembohaus, S. 47. Ebd. S. 46. So z. B. die Harsdorfsche Familienstiftung, die Schlüsselfeldersche Familienstiftung, die Familie Löffelholz sowie der Freiherr v. Tucher: StadtAN C 34 Nr. 47, Schreiben, 09.02.1949, 25.02.1949, 14.10.1949 und 27.10.1949.
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1952 konnte das Vorderhaus des Fembohauses fertiggestellt werden. Obwohl die rückwärtigen Gebäude, die allerdings vollständig abgetrennt waren, noch saniert wurden, eröffnete das Altstadtmuseum am 8. März 1953, zunächst mit 14 Ausstellungsräumen.41 Der Termin war bewusst gewählt, weil man sich erhoffte, dass „die deutsche Spielwarenfachmesse, die erste diesjährige Großveranstaltung, schon für die ersten Wochen des Museumsbetriebs eine beachtenswerte Zahl von Besuchern bringen könnte.“42 Bis Juli 1958 folgte in mehreren Teilabschnitten die Fertigstellung des gesamten Museums, das schließlich insgesamt 36 Räume umfasste.
Das Nürnberger Altstadtmuseum als politisches Instrument Das Hauptthema der musealen Präsentation bildete, wie geplant, die Entwicklung des Altstadtbilds ab dem 15. Jahrhundert. Dazu wurden gleich zu Beginn der Dauerausstellung im Erdgeschoss zahlreiche Gesamtansichten der Stadt gezeigt, die, wie in den Museen der Nachkriegszeit üblich, puristisch in einfachem Rahmen ausgestellt waren. Es ging darum, die „reine Anschauung des Objekts in das Zentrum des Besuchererlebnisses“43 zu rücken. Dabei reichte die museale Präsentation bis in die unmittelbare Gegenwart hinein: So waren im Erdgeschoss neben Gemälden und Graphiken, die vor allem aus dem 16. bis 19. Jahrhundert stammten, in einem Seitenflügel drei Modelle der Altstadt ausgestellt, die den Zustand Nürnbergs in den Jahren 1625, 1939 und 1958 zeigten.44 (Abb. 1) Damit dokumentierten die Modelle das Stadtbild Nürnbergs im Dreißigjährigen Krieg, kurz vor den Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg und den damals aktuellen Stand des Wiederaufbaus der zerstörten Altstadt. Im ersten und zweiten Obergeschoss wurde die Entwicklung bedeutender historischer Bauten, wie der Nürnberger Kaiserburg und der Stadtmauer, sowie wichtiger Plätze, wie die des Haupt- und des Obstmarkts, gezeigt. In einem im Juli 1956 eröffneten Museumsabschnitt erfolgte sogar ein Blick in die Zukunft, indem neben einem Modell des historischen Egidienplatzes auch eines des neuen Stadtviertels gezeigt wurde, das hier zu dieser Zeit im Entstehen war. In ihrer Bildunterschrift griffen die Nürnberger Nachrichten die ungewöhnliche Präsentation
41 StadtAN C 34 KuM Nr. 48, Einladungskarte des Stadtrats; Verwaltungsbericht Nürnberg 1952/53, S. 154; NN, 03.03.1953. 42 StadtAN C 34 KuM Nr. 48, Schreiben, 16.02.1953. 43 Klein, Alexander: Museum des Museums. Geschichte der deutschen Museen in ihrer Welt, Dresden 2018, S. 379. 44 Schwemmer: Fembohaus, S. 53.
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Ausstellungsraum mit Stadtmodellen im Erdgeschoss des Altstadtmuseums, Juli 1958. StadtAN M 8/III.
auf und kommentierten: „Noch nicht fertig – und schon im Museum: das Modell der Neubebauung am Egidienberg“.45 Im vierten Stockwerk wurde schließlich thematisiert, wie sich Nürnberg von einem kleinen Ort zu einer Reichsstadt mit einem großen Landgebiet entwickelt hatte. Dabei wurde auch gezeigt, wie die Stadt in bayerischer Zeit auf das Gebiet des „Burgfriedens“ verkleinert und ab 1865 durch zahlreiche Eingemeindungen wieder größer wurde. Der letzte Raum führte wiederum in die Gegenwart und zeigte die massiven Kriegszerstörungen und den Wiederaufbau.46 Hier waren neben einem Schadensplan, der die Zerstörung der Bausubstanz der Nürnberger Altstadt genau dokumentierte, modellhafte Darstellungen der durch die Kriegszerstörung angefallenen Schuttmassen im Vergleich mit der Nürnberger Lorenzkirche und der Cheopspyramide ausgestellt. Ergänzt wurde die Präsentation durch Modelle, die den Bebauungszustand der Altstadt in den Jahren 1949 und
45 NN, 07.07.1956. 46 Verwaltungsbericht Nürnberg 1956, S. 12; NN und NZ, 07.07.1956. Schwemmer: Fembohaus, S. 58 f.
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1959 zeigten, sowie durch Großfotos, Aquarelle und Zeichnungen bedeutender historischer Gebäude im zerstörten und wiederaufgebauten Zustand.47 Mit dieser Präsentation dürfte der Kunsthistoriker Wilhelm Schwemmer den allgemeinen Zeitgeist getroffen haben. Die Menschen lebten in der kriegszerstörten Stadt zwischen Trümmerfeldern in Ruinen oder notdürftig wiederhergerichteten Gebäuden. Mit einem Museum, in dem Ansichten und Bilder von alten Straßenzügen und Plätzen mit prächtigen Bürgerhäusern, reichlich verzierten Chörlein und reizvollen Hinterhöfen der Altstadt gezeigt wurden, wollte man an die Tradition des einstigen „Schatzkästlein des Reiches“ erinnern.48 Wie zu dieser Zeit üblich, wurden die NS-Diktatur mit ihren unvorstellbaren Verbrechen und damit die Ursachen für die Luftangriffe und die Zerstörung der Altstadt nicht angesprochen. Die Museen sollten „einen Gegenpol zur moralischen Krise nach der NS-Zeit und den Niederungen eines besiegten Landes“ bilden.49 Die Menschen der Nachkriegszeit, die nach Sicherheit und Beständigkeit strebten und kulturelle Orientierungspunkte außerhalb der Zeit des Nationalsozialismus suchten, sollten an das Vertraute der „guten alten Zeit“ anknüpfen.50 Dabei sollten, wie es Julius Baum, der Direktor des Württembergischen Landesmuseums in Stuttgart 1950 formulierte, die Museen „zum Mittelpunkt geistigen Lebens“ werden,51 dem Gemeinwohl dienen und die Gesellschaft moralisch und ethisch stärken. Dr. Walter Keim, der für Museen zuständige Referatsleiter im bayerischen Kultusministerium, wies den Museen sogar die politische Aufgabe zu, „eine gemeinsame Grundlage des Zusammenwirkens in der politischen Gemeinschaft zu schaffen.“52 Das Altstadtmuseum erfüllte mit seiner Schwerpunktsetzung eine wichtige stadtpolitische Funktion, in dem es die Wiederaufbaupolitik der Stadt Nürnberg dokumentierte und inszenierte, die 1950 in dem mehrfach weiterentwickelten „Grundplan für den Wiederaufbau der Altstadt“ festgeschrieben worden war. Hier war festgelegt worden, dass wichtige, historische Baudenkmäler wiederhergestellt und der historische Stadtgrundriss sowie das charakteristische Bild der Altstadt mit der
47 Schwemmer: Fembohaus, S. 59. 48 Ebd., S. 46. 49 Sonntag, Dina: Einführung. Ein unantastbarer Hort des Musischen. Südwestdeutsche Museen in der Nachkriegszeit, in: Landesstelle für Museumsbetreuung Baden-Württemberg (Hg.): Neuordnungen. Südwestdeutsche Museen in der Nachkriegszeit, Stuttgart 2002, S. 11–41, hier S. 39. 50 Reh, Heinz u. a.: Schwierigkeiten mit Tradition. Zur kulturellen Praxis städtischer Heimatmuseen, in: Korff, Gottfried/Martin Roth (Hg.): Das historische Museum. Labor, Schaubühne, Identitätsfabrik, Frankfurt a. M./New York/Paris 1990, S. 231–247, hier S. 237. 51 Sonntag: Einführung, S. 36. 52 Zit. nach: Michler, Andreas: Museumspolitik in Bayern 1945 bis 1955. Zwischen amerikanischer Innovation und bayerischer Tradition (Bayerische Studien zur Geschichtsdidaktik 6), Neuried 2004, S. 320.
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Kaiserburg, den großen Kirchen, dem Rathaus und der Stadtmauer weitgehend beibehalten, gleichzeitig aber innerhalb der geschichtlich gewachsenen Stadtstruktur Modernisierungen erfolgen sollten.53 Bei der Einrichtung des Altstadtmuseums ging Schwemmer, wie er selbst schrieb, „mit äußerstem Takt“ vor, um die historischen Räume „nicht um ihre bedeutende künstlerische Selbstwirkung zu bringen.“54 Dabei legte er einen weiteren Schwerpunkt der musealen Präsentation auf die Darstellung der historischen Räume sowie der Geschichte des Gebäudes, das als das einzige erhaltene Patrizierhaus in Nürnberg gilt.55 Im Erdgeschoss wurden dazu Kupferstiche der ehemaligen Besitzer des Fembohauses, ein Hausinventar von 1537 sowie Landkarten und Pläne aus der im Haus ansässigen Homännischen Landkartenoffizin präsentiert. Neben den Vertäfelungen und Stuckarbeiten, die ursprünglich für das Haus geschaffen worden waren, wurde die Gelegenheit genutzt, in den historischen Räumen die ausgelagerten Wandvertäfelungen und Decken aus Nürnberger Patrizier- und Bürgerhäusern einzubauen, die im Zweiten Weltkrieg zerstört worden waren. So wurden die prächtige Renaissance-Holzvertäfelung und das Deckengemälde des berühmten Hirsvogelsaals aus einem Gartensaalbau an der Hirschelgasse im Rückgebäude des Erdgeschosses untergebracht.56 Im Seitenflügel im ersten Stock wurden z. B. der Kamin sowie eine kunstvolle Stuckdecke aus dem 18. Jahrhundert aus einem Zimmer des zerstörten Gartenanwesens Johannisstraße 15 (Abb. 2) und im zweiten Stockwerk das so genannte „Schöne Zimmer“ aus dem Pellerhaus am Egidienplatz eingebaut. Historische Möbel und Einrichtungselemente, wie im dritten Obergeschoss zur Wohnkultur der Biedermeierzeit, ergänzten die Präsentation.57 Die Schwerpunktsetzung auf die Darstellung der Geschichte und Bedeutung des Gebäudes und die Präsentation der Nürnberger Wohnkultur kann durchaus auch als politisch motiviert gedeutet werden. Wie Schwemmer in seinem Museumsführer schreibt, wurde im Vorfeld intensiv diskutiert, ob es vor dem Hintergrund, dass rund 90 % der Wohnräume in Nürnberg beschädigt oder zerstört waren, vertretbar wäre, ein großes, weitgehend erhaltenes Gebäude unbewohnt zu lassen, um hier
53 Rosner, Maximilian: Der Grundplan für den Wiederaufbau der Altstadt Nürnberg, in: Diefenbacher, Michael/Henkel, Matthias (Hg.): Wiederaufbau in Nürnberg (Ausstellungskatalog des Stadtarchivs und der Museen der Stadt Nürnberg), Nürnberg 2009, S. 129–133. 54 StadtMus Fembohaus 1951–1971, Die Einrichtung des Fembohauses als Museum. 55 Homepage des Stadtmuseums im Fembo-Haus: https://www.nuernberg.de/internet/stadtportal/ fembohaus.html (05.01.2023). 56 Die Innenausstattung des Hirsvogelsaals wurde im Jahr 2000 in den rekonstruierten Saalbau im Garten des Tucherschlosses eingebaut. 57 Schwemmer: Fembohaus, S. 50 f.
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Zimmer aus dem Anwesen Johannisstraße 15 im ersten Stock des Altstadtmuseums. StadtAN N 129 IX.
ein Museum einzurichten. Entkräftet wurden solche Argumente durch den Hinweis auf die vielen historischen Räume im Fembohaus, die unter Denkmalschutz standen und nicht bewohnt werden durften.58 Vor diesem Hintergrund schien es naheliegend, in dem neugegründeten Museum die Hausgeschichte und den Aspekt des Denkmalschutzes der historischen Räume zu betonen, um die Argumente für die museale Nutzung zu untermauern und die Museumsgründung zu legitimieren.
Fazit Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich die Gründung eines städtischen Museums in Nürnberg sehr lange hinauszögerte, weil in den Jahren 1875 bis 1877 ein großer Teil der städtischen Sammlungen an das Germanische Nationalmuseum, das größte Museum deutscher Kunst und Kultur, übergeben wurde. Erst eine deutliche Abgrenzung vom Sammlungs- und Ausstellungskonzept des Germanischen Nationalmuseums, die Notwendigkeit kunst- und kulturgeschichtlich bedeutende
58 Ebd., S. 45 f.
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Objekte und Einrichtungselemente nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs zu sichern und die Konzentration der musealen Präsentation auf ein stadtpolitisch relevantes Thema machten die Gründung des Stadtmuseums in Nürnberg möglich. Mit seiner Schwerpunktsetzung und Präsentation entsprach das neu gegründete Museum dem damaligen Zeitgeist. Es schlug einen Bogen in die Gegenwart und stellte Bezüge zur Lebenswelt der Besucherinnen und Besucher her. Damit leistete es einen Beitrag zur kulturellen Stabilisierung der Stadtgesellschaft und zur Unterstützung zentraler Ziele der Nürnberger Stadtpolitik. Hier wirkt das Nürnberger Stadtmuseum der 1950er Jahre sehr modern, wird doch von den Stadtmuseen auch heute wieder nachdrücklich gefordert, gesellschaftspolitische Verantwortung zu übernehmen und sich mit den aktuellen Herausforderungen für die Stadtgesellschaft und relevanten stadtpolitischen Fragestellungen auseinanderzusetzen.59
59 So z. B. Fischer, Sonia: Stadtmuseen als Spiegel der Stadtgemeinschaft. Praxisbeispiel Landsberg am Lech, in: Sievers, Norbert u. a.: Jahrbuch für Kulturpolitik 2019/20, Bielefeld 2020, S. 245–250, hier S. 246 f.; Pellengahr, Astrid: Einführung. Stadtmuseen: Spiegel der Stadtkultur, in: Pellengahr, Astrid (Hg.): Der Spiegel der Stadtkultur. Stadtmuseen vor neuen Herausforderungen, München 2016, S. 10–17; die unterschiedlichen Beiträge, in: Gemmeke, Claudia/Nentwig, Franziska (Hg.): Die Stadt und ihr Gedächtnis. Zur Zukunft des Stadtmuseums, Bielefeld 2011.
Julia Lehner
Die Kongresshalle am ehemaligen Reichsparteitagsgelände in Nürnberg Erhalt eines Baudenkmals von nationaler Relevanz und Realisierung eines Zukunftsprojektes für Kunst und Kultur Die Zeit des Nationalsozialismus ist das bedrückendste Kapitel deutscher Geschichte und für die Stadt Nürnberg zugleich im Stadtraum markant verankert. Die baulichen Hinterlassenschaften auf dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände – insbesondere Zeppelintribüne, Zeppelinfeld, Große Straße sowie Kongresshalle – erinnern bis heute daran. Sie sind keine Profanbauten, sondern waren Projektionsfläche einer politischen Aussage. Nürnberg war als „Stadt der Reichsparteitage“ eine der „Hauptstädte“ des „Dritten Reiches“. Hier fanden erstmals 1927 und 1929 sowie 1933 bis 1938 die sogenannten Reichsparteitage statt – eine mit den Mitteln von Architektur und Massenaufmärschen gestaltete Inszenierung der Kerninhalte der NS-Ideologie wie Führerprinzip, Volkstumsgedanke und Rassenlehre.1 Infolgedessen bedeutet die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus auch immer eine Auseinandersetzung mit dem baulichen Erbe dieser Zeit auf dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände. Nicht nur Interessierte aus aller Welt suchen diesen historischen Ort auf. Auch für Einheimische ist die Erinnerung an die NS-Vergangenheit längst ein wichtiger Bestandteil des (erinnerungs-)kulturellen Lebens in Nürnberg. Dies war nicht immer so. Den Umgang mit der NS-Vergangenheit kennzeichnete in den unmittelbaren Nachkriegsjahren allgemeines Schweigen. Er markierte in den nun bald 80 Jahren seit Kriegsende verschiedene Phasen der Auseinandersetzung mit der Ereignisgeschichte und deren Deutung, aber auch mit den Hinterlassenschaften dieses Geschehens und der damit einhergehenden Kulturbrüche, allem voran durch den Holocaust und die geopolitischen Verwerfungen im Zuge des Zweiten Weltkriegs. Gewissermaßen steht die Geschichte des Umgangs mit dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände seit 1945 paradigmatisch für den Haltungswandel – national wie international – in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und
1 Grundlegend Zelnhefer, Siegfried: Die Reichsparteitage der NSDAP. Geschichte, Struktur und Bedeutung der größten Propagandafeste im nationalsozialistischen Feierjahr (Nürnberger Werkstücke zur Stadt- und Landesgeschichte 46), Nürnberg 1991; überarbeitet und ergänzt: Ders.: Die Reichparteitage der NSDAP in Nürnberg, Nürnberg 2002.
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dessen materiellem Erbe. Zugleich korrespondieren Umgang und Debatte über das Gelände mit den Ansprüchen der Öffentlichkeit an jenes.2
Diverse Nutzungen Nach Kriegsende nutzte zunächst die US-Armee bis 1948 die Kongresshalle als Lebensmitteldepot, bevor diese an die Stadt zurückgegeben wurde. Hier fanden 1949 die international viel beachtete Deutsche Bauausstellung ebenso wie 1950 die Schau zum 900. Stadtjubiläum sowie 1951 eine Gaststättenausstellung statt – allerdings namentlich nicht in der „Kongresshalle“ der NSDAP, sondern im nun als „Ausstellungsrundbau“ bezeichneten Gebäude.3 Zeitgleich wurde die „Steintribüne“ als Kulisse für den Rundkurs von Motorrad- und Autorennen etabliert und das Zeppelinfeld firmierte im Eigentum der US-Armee als „soldiers‘ field“. Noch in den 1960er Jahren galten die Relikte der NS-Zeit als nicht erhaltenswert. Begründet mit dem Platzbedarf für den entstehenden Stadtteil Langwasser beseitigte die Stadt Nürnberg die Türme des nicht fertiggestellten Märzfeldes. Zu den Nutzungsvorschlägen zählte etwa ab Mitte der 1950er Jahre die Überlegung, in die Kongresshalle ein Fußballstadion zu integrieren. Das Projekt scheiterte in erster Linie an der Höhe der geschätzten Kosten. Im Jahr 1967 wurde die Pfeilergalerie der Zeppelintribüne gesprengt, die beiden Endpylonen wurden wenige Jahre später abgetragen.4 Erst 1973 wurden die Bauten auf dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände unter Denkmalschutz gestellt. Für die mittlerweile etablierten pragmatischen Nutzungen als Abstell- und Lagerflächen oder für Freizeit, Erholung und Sport stellte dies keinen Widerspruch dar. Diese Mischnutzung des ehemals waldreichen Areals, das schon vor der Instrumentalisierung für die Reichsparteitage als Volkspark Dutzendteich ein beliebtes Ausflugsgebiet war, ist etabliert und zieht viele Menschen an. Hierher kommen neben geschichtsaffinen Menschen auch solche ohne historischpolitisch motivierte Besichtigungsabsicht wie Spaziergänger, Sporttreibende oder Musikfans. Aufgrund dieses doppelten Nutzungscharakters kann für das Gelände
2 Zur Geländegeschichte nach 1945: Schmidt, Alexander: Das Gelände. Dokumentation. Perspektiven. Diskussion. 1945–2015 (Schriftenreihe der Museen der Stadt Nürnberg 11), Nürnberg 2015. 3 Vgl. Wachter, Clemens: Kultur in Nürnberg 1945–1950. Kulturpolitik, kulturelles Leben und Bild der Stadt zwischen dem Ende der NS-Diktatur und der Prosperität der fünfziger Jahre (Nürnberger Werkstücke zur Stadt- und Landesgeschichte 59), Nürnberg 1999, S. 349 f. 4 Vgl. Schmidt: Gelände.
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eine ausschließliche Sinnzuweisung als Erinnerungsort nicht erfolgen.5 Ganz im Gegenteil hatte sich seit Ende der 1960er Jahre die Ansicht des damaligen Nürnberger Schul- und Kulturreferenten, Hermann Glaser, durchgesetzt, das ehemalige Reichsparteitagsgelände – ursprünglich von den Nationalsozialisten als „Tempelstadt der Bewegung“ pseudoreligiös aufgeladen – durch einen alltäglichen Umgang zu profanieren. Anknüpfend an die Nutzung vor 1933 sollte der Freizeitcharakter wieder deutlich gemacht werden. Informationen über die Geschichte des Ortes und die Entstehungszusammenhänge der Bauten waren damit nicht verbunden. In der Rückschau bewertete Glaser diese Herangehensweise durchaus kritisch. Man dachte, so Glaser 1984, das Gelände „solle von selbst zerfallen, denn was für tausend Jahre gebaut war, war so schlecht gebaut, dass bereits die Witterungseinflüsse dafür sorgten, dass viele Teile einfach verrotteten. Wir haben gedacht, man lasse es als Mausoleum überstehen.“6 Der erwünschten und erklärten Preisgabe des Geländes und seiner Bauten stand jedoch das durchaus vorhandene Interesse einer internationalen Besucherschaft gegenüber. Die vielfach reproduzierten Bilder hielten und halten die Erinnerung an die Reichsparteitage und deren Veranstaltungsort ebenso wach wie die symbolstarke Sequenz der Sprengung des Hakenkreuzes auf der Zeppelintribüne durch die US-Armee am 22. April 1945.
Meilensteine der Erinnerungskultur Eine aktiv geführte Auseinandersetzung mit diesem Ort, der NS-Zeit und der der Stadt zugewiesenen und von dieser übernommenen Rolle setzte in Nürnberg mit Beginn der 1980er Jahre ein. Noch 1984 – fast 40 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs – beschrieb Thomas Wunder als einer der ersten, der sich mit der Nutzungs- und Wirkungsgeschichte des Geländes befasste, dieses Desiderat: „Eine Veröffentlichung, die sich gezielt mit dem Zusammenhang Reichsparteitage/ Reichsparteitagsarchitektur beschäftigen würde, liegt bisher nicht vor.“7 Im gleichen Jahr entstand eine erste städtisch kuratierte Ausstellung in der Zeppelintribüne, die in den folgenden Jahren mit dem Titel „Faszination und Gewalt – Nürnberg und
5 Bühl-Gramer, Charlotte: Perspektivenwechsel. Das ehemalige Reichsparteitagsgelände aus der Sicht von Besucherinnen und Besuchern (Schriften des Kulturreferats der Stadt Nürnberg 4), hg. Lehner, Julia, Nürnberg 2019, S. 111. 6 Zitiert nach Schmidt: Gelände., S. 129. 7 Wunder, Thomas: Das Reichsparteitagsgelände in Nürnberg. Entstehung. Kennzeichnung. Wirkung, Nürnberg 1984, S. 93.
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der Nationalsozialismus“ verstetigt wurde, aufgrund der Raumverhältnisse aber nicht ganzjährig geöffnet war.8 Diese erste offizielle Nutzung eines Teils des ehemaligen Reichsparteitagsgeländes für historische Bildungsarbeit verhinderte nicht, dass für die Kongresshalle bis in die 1990er Jahre hinein diverse, auch kommerzielle Nutzungen diskutiert wurden. 1987 wollte eine Investorengruppe den NS-Bau zu einem Freizeit- und Shoppingcenter umbauen, was an den Kosten, aber auch an der seitens der interessierten Öffentlichkeit artikulierten Kritik scheiterte.9 Nicht nur das Projekt wurde abgewendet, sondern es gewann auch die Debatte um den angemessenen Umgang mit den baulichen Relikten an Dynamik. 2001 fand die Auslobung eines von der Stadt durchgeführten „Städtebauliche[n] Ideenwettbewerb[s] für das ehemalige Reichsparteitagsgelände“10 statt. Aufgabe für die 82 teilnehmenden Büros war die „Entwicklung eines Gesamtkonzeptes […], das dem Anspruch an einen derartigen Ort des Erinnerns sowie gleichzeitig den Anforderungen der Nutzungen für Messe, Sport, Erholung und Freizeit […] gerecht wird“11 . Letztendlich erbrachte das Verfahren einerseits „eine Vielzahl von sehr verschiedenen Lösungsansätzen“12 , so das Preisgericht, was andererseits aber auch hieß, dass man an der Aufgabenstellung einer befriedigenden Gesamtkonzeption gescheitert war. Im weiteren Diskurs setzte man nun verstärkt auf räumliche Teil- bzw. temporäre Lösungen. Die Stadt Nürnberg konkretisierte ihre Haltung hinsichtlich der historisch-politischen Bildungsarbeit und brachte mit Hilfe von Bund und Land 2001 das heute international bekannte Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände mit der baulichen Intervention des Grazer Architekten Günther Domenig im nördlichen Kopfbau der Kongresshalle auf den Weg. Damit wurde ein Ort der Erinnerungskultur geschaffen, der jährlich zuletzt über 300.000 Besucherinnen und Besucher aus der ganzen Welt verzeichnete. Die instruktive Erschließung des Geländes wurde 2006 anlässlich der Fußball-Weltmeisterschaft mit einem auf knappen Texten und Bildern basierenden Geländeinformationssystem fortgesetzt.13
8 Vgl. Ogan, Bernd/Weiß, Wolfgang W. (Hg.): Faszination und Gewalt. Nürnberg und der Nationalsozialismus. Eine Ausstellung, Nürnberg 1990, S. 7. 9 Vgl. Weiß, Wolfgang W.: „Ruinen-Werte“. Das Nürnberger Reichsparteitagsgelände nach 1945, in: Ogan, Bernd/Weiß, Wolfgang W. (Hg.): Faszination und Gewalt. Zur politischen Ästhetik des Nationalsozialismus, Nürnberg 1992, S. 225–240, S. 229. 10 Stadt Nürnberg Stadtplanungsamt (Hg.): Städtebaulicher Ideenwettbewerb für das ehemalige Reichsparteitagsgelände. Dokumentation, Nürnberg 2001. 11 Ebd., S. 5. 12 Ebd., S. 3, ein erster Preis wurde nicht vergeben. 13 Vgl. Christmeier, Martina: Besucher am authentischen Ort. Eine empirische Studie im Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände (Schriften zur Geschichtsdidaktik 24), Idstein 2009, S. 66. Das Geländeinformationssystem ersetzte die vier Informationstürme, die 1989 an wichtigen Orten auf dem Reichsparteitagsgelände aufgestellt worden waren.
Die Kongresshalle am ehemaligen Reichsparteitagsgelände in Nürnberg
Schon 2004 beschloss der Stadtrat Nürnberg „Leitlinien/Leitgedanken zum künftigen Umgang der Stadt Nürnberg mit dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände“, gemäß derer alle Bauten auf dem Gelände in ihrer heutigen Gestalt erhalten werden sollen, um auch künftigen Generationen zu ermöglichen, eigene Zugänge und Umgangsformen mit der NS-Vergangenheit zu finden. Ausdrücklich adressiert dieses Postulat auch die Potentiale von Kunst als Form der erinnerungskulturellen Auseinandersetzung. Ebenso explizit benennen die Leitlinien die Nutzungsmöglichkeit zur Sport- und Freizeitgestaltung und tragen so der wichtigen Funktion des Geländes als Naherholungsgebiet Rechnung. Dieser wegweisende Beschluss gilt bis heute. Das Spektrum all dieser Maßnahmen macht deutlich: Die Aufklärung über das ehemalige Reichsparteitagsgelände wird heute als erinnerungskulturelle und kulturpolitische Daueraufgabe verstanden und wahrgenommen.
Herausforderungen: Substanzerhalt – Vermittlung – Rezeption Voraussetzung hierfür ist der Erhalt der denkmalgeschützten Architekturen, der die Stadt Nürnberg als Eigentümerin gleichzeitig vor große finanzielle und inhaltliche Herausforderungen stellt. „Erhalten! Wozu?“ titelte 2015 eine internationale und interdisziplinäre Fachtagung, die sich mit Perspektiven für das ehemalige Reichsparteitagsgelände intensiv und kontrovers befasste.14 Die Tagung gab darüber hinaus wichtige Orientierung für die Entwicklung von Zeppelintribüne und Zeppelinfeld zum Lern- und Begegnungsort und damit einhergehender demokratischer Sinnstiftung. Im Umgang mit den NS-Bauten auf dem Gelände legte die Stadt Nürnberg in den letzten Jahrzehnten einen langen Weg zurück, dessen Zielsetzung offengehalten wird. Denn jede Generation hat ihre eigene Perzeption und Fragen an die Geschichte. Hieraus ergeben sich vollkommen neue Herausforderungen für die Bildungsarbeit. Der demographische Wandel bedingt einerseits, dass Jüngere weder in der Familie noch im Bekanntenkreis mit direkten Erzählungen über die NS-Zeit in Berührung kommen. Andererseits gibt es eine zunehmende Zahl an Besucherinnen und Besuchern – seien es Gäste aus dem Ausland oder Einheimische mit Zuwanderungsgeschichte – mit politisch-kulturellen Anknüpfungspunkten zu den Themen Gewalt und Diktatur jenseits der NS-Geschichte. Ein rezeptionsrelevanter Faktor ist zudem die Digitalisierung, die zwar eine Flut von Informationen bietet, deren Möglichkeiten die Eindrücke am realen Ort aber nicht ersetzen können.
14 Hierzu Lehner, Julia (Hg.): Erhalten! Wozu? Perspektiven für Zeppelintribüne, Zeppelinfeld und das ehemalige Reichsparteitagsgelände (Schriften des Kulturreferats der Stadt Nürnberg 2), Nürnberg 2017.
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Zur Frage des angemessenen Umgangs mit dem Gelände kommen also die Fragen nach der spezifischen Wirkung des Areals und seiner antikisierten Gebäude auf die Besucherschaft der Gegenwart, nach dem vorhandenen Wissen sowie nach der Reichweite der bestehenden Angebote der Erinnerungskultur. Welche kulturellen Zugangsvoraussetzungen bringen Besucherinnen und Besucher eigentlich heute mit? Was brauchen sie, um informiert zu sein und um sich orientieren zu können? Welche Mittel und Wege sind heute und zukünftig notwendig, um Interessierte zur Teilhabe zu befähigen und Passanten und Passantinnen ohne geschichtliches Interesse dennoch mit den historischen Hintergründen zu konfrontieren? Es bedarf also neben Erkenntnissen zur Rezeptionsgeschichte vor allem der Gegenwartsbefragung. Eine deshalb vom Kulturreferat Nürnberg 2018 in Auftrag gegebene Studie15 zu Besuchsverhalten und kulturellen Praktiken auf dem Gelände brachte insbesondere mit Blick auf die Kongresshalle richtungsweisende Befunde: Als einer der drei meistbesuchten Orte wurde die Kongresshalle16 genannt. Bei der Besucherschaft aus dem Ausland führte die Kongresshalle mit „weitem Abstand“ sogar die Liste der besuchten Orte an. Daraus kann abgeleitet werden, dass internationale Publika „als erstes die Kongresshalle möglicherweise als Informationspunkt ansteuern, bevor sie gegebenenfalls das Dokumentationszentrum […] und/oder weitere Orte auf dem Gelände begehen.“17 Auch bei den innerhalb der Studie befragten Gästen aus Deutschland rangierte die Kongresshalle auf dem ersten Platz. Messungen an den Infostelen des Geländeinformationssystems registrierten zudem im „Innenhof “ der Kongresshalle sehr hohe Nutzerquoten – ein Indiz für das große Interesse an diesem Ort.18 Insbesondere ältere Befragte zeigten sich mit dem bestehenden Informationsangebot zufrieden.19 Aber welche Formate und Ansprachen brauchen wir, um auch in Zukunft vor dem Hintergrund demographischen und soziologischen Wandels die Menschen für Erinnerungskultur zu interessieren und dem Interesse der für das Thema Aufgeschlossenen gerecht zu werden? Im Zentrum der Antworten auf diese Fragstellung stehen die Bauten selbst, die als Solitäre ohne maßstäbliche Konkurrenz mit ihrer antikisierten Erscheinung einerseits Aufmerksamkeit erregen und Fragen hervorrufen. Andererseits sind sie als bauliche Zeugnisse sinnlich erfahrbare materielle Koordinaten, die auf einen Zeitpunkt, eine Praxis sowie ein Ereignis in der Vergangenheit hinweisen.20 Dies ist auch insofern bedeutsam, als dass historische Vorstellung nicht ausschließlich im didaktischen, musealen Raum
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Bühl-Gramer: Perspektivenwechsel. Ebd., S. 86. Ebd., S. 87. Ebd., S. 146. Ebd., S. 153. Ebd., S. 163.
Die Kongresshalle am ehemaligen Reichsparteitagsgelände in Nürnberg
Kongresshalle 2020, Foto: Nürnberg Luftbild/Hajo Dietz. Stadt Nürnberg.
stattfinden kann, sondern Materialität benötigt. Deutlich artikuliert wurden deshalb der Wunsch nach Erhalt der baulichen Substanz sowie einer verbesserten Zugänglichkeit vorhandener Gebäude. Für die Besucherschaft war die Existenz der materiellen Zeugnisse also von erheblicher Relevanz. Ihnen wurde eine hohe Authentizität zugeschrieben, die aufmerksam mache und Interesse hervorrufe.21 Trotz seiner hohen erinnerungskulturellen Bedeutung und historischen Singularität ist das Gelände aufgrund der Mischnutzung nicht ausschließlich intentionalisierter oder institutionalisierter Lernort. Nicht nur Aspekte der NS-Geschichte, sondern auch Zeitschichten und Phasen des Umgangs mit dieser sind daran ablesbar und aussagestarke Reflexionsfläche für Bildungs- und Vermittlungsarbeit. Zudem kann die Auseinandersetzung mit „gegenwartsrelevanten Kontexten ‚den‘ historischen Ort [heute und zukünftig] in einen diskursiven Geschichtsort überführen.“ 22
21 Ebd. 22 Ebd., S. 165.
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Kongresshalle – Eckdaten und historische Einordnung Wie das Gelände, so ragt auch der Torso der Kongresshalle unmittelbar in die Gegenwart hinein und fungiert mit einer vielschichtigen Hausgeschichte als Kontaktzone zwischen Vergangenheit und Gegenwart.23 Das Gebäude zählt zu den größten erhaltenen Einzelbauwerken der NS-Zeit und befindet sich in kommunalem Eigentum. Es steht seit 1973 unter Denkmalschutz. Der in Anlehnung an das römische Kolosseum konzipierte Bau ist als Monumentalbau Ausdruck des nationalsozialistischen Herrschaftsanspruchs. Hier hätte während der Reichsparteitage der „Parteikongress“ mit programmatischen Reden Hitlers vor Mitgliedern der NSDAP abgehalten werden sollen. Den ersten Entwurf legte der Nürnberger Architekt Ludwig Ruff vor. Nach seinem Tod übernahm dessen Sohn Franz, ebenfalls Architekt, den Auftrag. 1935 erfolgte die Grundsteinlegung. Mit Kriegsbeginn kamen die Bauarbeiten jedoch zum Erliegen, so dass die Kongresshalle nie fertiggestellt bzw. nie von den Nationalsozialisten im Sinne ihrer Bestimmung verwendet wurde. Sie besteht aus dem sogenannten Rundbau mit 16 annähernd baugleichen Sektoren sowie zwei Kopfbauten. Die ab 1939 fast gänzlich eingestellten Bauarbeiten beschränkten sich nur noch auf Sicherungsarbeiten wie etwa Zumauerungen. Unvollendet blieben der eigentliche Veranstaltungsraum mit einem geplanten Fassungsvermögen von 50.000 Personen und verglaster Dachkonstruktion, der heute den unter freiem Himmel liegenden „Innenhof “ bildet, die oberen Stockwerke des Rundbaus, der hauptsächlich als Treppenhaus, Technik- und Erschließungsstruktur vorgesehen war, sowie grundsätzlich dessen Innenausstattung. Bis heute ist der „Innenhof “ im Unterschied zur Außenfassade aus Granit ein Rohbau aus Ziegeln und Beton. Aus diesem Grund ist er wie das Dach seit Jahrzehnten Witterungseinflüssen ausgesetzt. Die historische Substanz ist infolgedessen angegriffen und erfordert dringliche Maßnahmen zum Erhalt, zu dem die Denkmalpflege die Stadt Nürnberg verpflichtet. Investitionen in den Substanzerhalt der Kongresshalle fanden über viele Jahrzehnte hinweg nur unter Maßgabe der Vermietbarkeit statt. Geld für „Nürnbergs teuerstes Erbstück“24 , wie die Nürnberger Nachrichten 1969 formulierten, wurde etwa aufgrund drohender Einnahmenverluste u. a. wegen des Eindringens großer Regenmengen für die Dachsanierung in die Hand genommen. Lager-, Depotoder Werkstattflächen befanden sich im Erd- und Sockelgeschoss des Rundbaus und waren bis Jahresmitte 2022 an Mieter vergeben. Dazu zählten das Technische
23 Ebd., S. 164; zur Gebäudegeschichte: Täubrich, Hans-Christian (Hg.): Die Kongresshalle Nürnberg. Architektur und Geschichte, Nürnberg 2014. 24 NN, 17.05.1969, zit. nach Weiß: „Ruinen-Werte“, S. 229.
Die Kongresshalle am ehemaligen Reichsparteitagsgelände in Nürnberg
Hilfswerk, städtische Ämter, Privatleute, Polizei- und Feuerwehr oder der Schaustellerverband. Entsprechend der pragmatischen Nutzung konnte 1970 als einer der Hauptmieter auch das Versandhaus Quelle Lagerräume in den obersten drei Stockwerken bis 2006 in großem Stil anmieten. Die Verstrickung des Unternehmensgründers in das Arisierungsgeschehen während der NS-Zeit blieb damals unreflektiert.25 Der den Kriegszerstörungen in Nürnberg geschuldeten Raumnot entsprach zunächst die Verwendung der Kongresshalle als Ausstellungsort. Tatsächlich konnte sich als dauerhafte kulturelle Nutzung ab 1962 die Belegung des südlichen Kopfbaus durch das Fränkische Landesorchester, dem Vorläufer der Nürnberger Symphoniker, etablieren. Neben einem Konzertsaal und einem Aufnahmestudio entstand ab 1986 mit dem „Serenadenhof “ zudem eine Open-Air-Spielstätte. Der nördliche Kopfbau wurde wie beschrieben 2001 für das Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände erschlossen.
Nutzungsperspektiven für die Kongresshalle – ein Vorhaben von nationaler Relevanz Diesen Belegungen stehen riesige Raumvolumina innerhalb des nicht über den Rohbauzustand hinausgekommenen Rundbaus gegenüber.26 Die in weiten Teilen leerstehende Kongresshalle soll nun mit neuen Nutzungen für Kunst und Kultur buchstäblich aufgeschlossen werden. Geplant sind drei zentrale Maßnahmen, wobei die erinnerungskulturelle Dimension aufgrund der historisch zugedachten Rolle des Gebäudes essentiell bleibt und bei allen Vorhaben mitgedacht werden muss. Bereits im Zuge der Bewerbung um den Titel Kulturhauptstadt Europas 2025 entstand die Idee, vier der insgesamt 16 Sektoren des Rundbaus als Ermöglichungsräume für Kulturschaffende zu ertüchtigen. Gleichzeitig soll dadurch dem Mangel an Arbeitsräumlichkeiten für Künstlerinnen und Künstler wirksam begegnet werden.27 2021 hat der Kulturausschuss des Nürnberger Stadtrats die Verwaltung beauftragt, im Rahmen eines partizipativen Prozesses die bisherigen Überlegungen zu präzisieren.28 Mit Räumen für Produktion und Präsentation aller künstlerischen Sparten
25 Ausführlich Schöllgen, Gregor: Gustav Schickedanz. Biographie eines Revolutionärs, Berlin 2010, S. 86–101, S. 109–119, S. 125–141, S. 152–155, S. 165 f. 26 Die Bruttogrundfläche des gesamten Gebäudes beträgt 118.300 qm, vgl. Fleischmann, Claus: Multifunktionaler Monolith. Heutige Nutzungen der Kongresshalle, in: Täubrich: Kongresshalle, S. 165–175, hier S. 165. 27 Vgl. Stadt Nürnberg (Hg.): Bid Book II, Nürnberg 2020, S. 22 f. 28 Beschlussvorlage Nutzung eines Rundbausegments der Kongresshalle als Ort für Kunst und Kultur: SessionNet | Sitzung des Kulturausschusses - 08.10.2021 - 09:02 Uhr: https://online-service2. nuernberg.de/buergerinfo/si0056.asp?__ksinr=15321 (13.01.2023).
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sollen einerseits der Bedarf an Ateliers, Werkstätten, Schau- und Proberäumen bedient, andererseits aber vor allem neue erinnerungskulturelle Herangehensweisen mit den Mitteln von Kunst und Kultur implementiert werden. Grundlage hierfür ist die Öffnung der bisher für die Allgemeinheit verschlossenen Bereiche des Rundbaus.29 Die Zugänglichkeit des Gebäudes, die sich als Wunsch auch im Meinungsbild der 2018 unternommenen Besucherbefragung30 abbildet, und seine unmittelbare Wahrnehmbarkeit gilt es, konzeptionell in zukünftige pädagogische Vermittlungsansätze zu integrieren. Im Umkehrschluss können mit der erweiterten künstlerisch-kulturellen Nutzung dem totalitären Anspruch der einstigen Bauherren und ihrer Architektur das demokratisch-pluralistische Denken der Gegenwart entgegengesetzt und vor dem Hintergrund zunehmend diverser Lebenswelten innovative Ansätze des gesellschaftlichen Diskurses ermöglicht werden. Zudem sollen aufgrund der anstehenden Generalsanierung des 1905 errichteten Nürnberger Opernhauses Teile der Kongresshalle als Ausweichspielstätte für die Sparten Musiktheater und Tanz des Staatstheaters Nürnberg genutzt werden. In sechs der insgesamt 16 Sektoren des Rundbaus sind Funktionsräume für knapp 1.000 Beschäftigte des Staatstheaters wie Garderoben, Werkstätten, Proberäume, Fundus, Archive und Foyerflächen im Rundbau geplant, während der eigentliche Aufführungsraum mit Bühne, Orchestergraben und Zuschauerbereich als Ergänzungsbau an der nordwestlichen Innenseite des Kongresshallen-Torsos umgesetzt werden soll. Der Standort bietet die Gewähr, sowohl die Vermittlungsarbeit im „Innenhof “ der Kongresshalle so wenig wie möglich zu tangieren als auch das künftige Opernpublikum durch den Zugang über den Rundbau mit dem Ort und seiner Geschichte zu konfrontieren.31 Dieser Standortentscheidung lag die Empfehlung eines hochkarätigen interdisziplinär besetzten Gutachtergremiums zugrunde. Mit seinen Beschlüssen32 hat der Nürnberger Stadtrat 2021/22 die Weichen für die
29 Vgl. Lehner, Julia: Kulturentwicklungsplanungen. Die Verantwortung der Kommunen für eine Vielgestaltigkeit der kulturellen Landschaft am Beispiel der Stadt Nürnberg, in: Fonds Darstellende Künste e.V. (Hg.): Transformationen. Positionen zur Veränderung der Kunst- und Kulturlandschaft aus Kunst, Politik und Journalismus, Berlin 2021, S. 74–78, hier S. 78. 30 Bühl-Gramer: Perspektivenwechsel, S. 157 f. 31 Vgl. Ausweichspielstätte für die Musik- und Tanztheatersparten des Staatstheaters Nürnberg. Parallele Mehrfachbeauftragung für ein städtebauliches Gutachten zur Verortung eines Ergänzungsbaus in bzw. an der Kongresshalle auf dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände in Nürnberg, Nürnberg 2022. 32 Beschlussvorlagen des Nürnberger Stadtrats: Standort einer Ausweichspielstätte für die Musik-, Tanztheatersparten des Staatstheaters Nürnberg während der Durchführung des Bauvorhabens Opernhaus, (2_BM_040_2021_Sitzungsvorlage (7)) und Standortentscheidung für ein Operninterim (2_BM_043_2021_02_Sachverhalt (4)): https://online-service2.nuernberg.de/buergerinfo/ si0050.asp?smcred=20&__ksinr=15285 (20.03.2023) sowie Ergebnisse und Empfehlung des städtebaulichen Gutachterverfahrens zur Verortung des Operninterims in und an der Kongresshalle,
Die Kongresshalle am ehemaligen Reichsparteitagsgelände in Nürnberg
Platzierung der Ausweichspielstätte gestellt. Ausschlaggebend hierfür waren zum einen die vorhandenen Raumreserven. Zum anderen begründeten Aspekte der Nachhaltigkeit das Votum, da eine zusätzliche Versiegelung wertvoller Flächen im Stadtraum umgangen werden kann. Eine weitere Komponente der erweiterten kulturellen Nutzung markiert die Idee der Agilen Depots. Sechs Sektoren im südlichen Teil des Rundbaus sollen in diesem Rahmen für die Sicherung von kunst- und kulturhistorischen Sammlungsund Archivbeständen mit späterer Perspektive interdisziplinärer Forschungs- und Begegnungsmöglichkeiten ertüchtigt werden. Insbesondere Quellen des 20. Jahrhunderts, speziell der NS-Geschichte und der Totalitarismusforschung, könnten hier in den Sammlungsfocus gestellt werden. Inhaltlich ineinandergreifend eröffnet ein Quellentableau aus baulicher Hinterlassenschaft, Archivalien und Objekten multiperspektivische, intellektuelle wie praxisorientierte Zugänge zu abstrakten Fragestellungen. Zudem machen aktuelle Bedrohungsszenarien für Europa und darüber hinaus wiederkehrende faschistoide und rassistische, antidemokratische und totalitäre Tendenzen neue Ansätze der historisch-politischen Bildung dringend notwendig. Neben Angeboten für wissenschaftlich Interessierte kann forschendes Lernen am historischen, nicht museal überformten Ort vor allem für Jugendliche und junge Erwachsene neue Zugänge zu Demokratiebildung, Geschichte und erinnerungskulturellen Debatten schaffen. Dieser Denkansatz grundiert auch die Sicherung der vorhandenen Zeitschichten, denn die Kongresshalle ist ein Palimpsest, deren unmittelbare (Nach-)Nutzungsgeschichte zahlreiche Spuren an Wänden, Böden und in Form von Einbauten hinterlassen hat. All diese Überreste sind Teil der erinnerungskulturellen Dimension, den es zu sichern und konzeptionell zu berücksichtigen gilt. Ein kleinerer Teil der Kongresshalle wird wie bisher für Nutzungen zur Verfügung stehen, die mit der Durchführung von Veranstaltungen auf dem nahegelegenen Volksfestplatz verbunden sind. Die etablierten Nutzungen der Nürnberger Symphoniker und des Dokumentationszentrums in den Kopfbauten bleiben unangetastet.
Im Dialog mit der Öffentlichkeit Die Überlegungen einer erweiterten kulturellen Nutzung der Kongresshalle wurden von einem intensiven Bürgerdialog mit allgemein zugänglichen und kostenlosen Veranstaltungen begleitet. Wesentliche Aspekte dabei umfassten die Themen Kunst
20.07.2022, (2_BM_022_2022_01_Zusammenfassung_Ergebnis_Gutachterverfahren_zur_Standortbestimmung_TISCHVORLA_1 (1).pdf): https://online-service2.nuernberg.de/buergerinfo/si0056. asp?__ksinr=15443 (20.03.2023).
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und Kultur, Erinnerungskultur, Stadtentwicklung sowie Architektur. Führungen durch das bislang der Öffentlichkeit verschlossene Gebäude, Fachtagungen, Workshops, Podiumsdiskussionen und Ausstellungen dokumentierten die Bandbreite des Dialogs, der nicht zuletzt aufgrund des großen Bürgerinteresses, aber auch auf Wunsch der Kulturschaffenden mit weiteren Informationsangeboten fortgesetzt wird. Neben grundsätzlichem Interesse ist breite Zustimmung für das Kulturentwicklungsvorhaben spür- und nachvollziehbar.33
Hohes Innovationspotential Ermöglichungsräume für Kunst und Kultur, Ausweichspielstätte für Musik- und Tanztheater sowie Agile Depots können in der Kongresshalle einen zeitgeschichtlichen Kristallisationskern schaffen und den erinnerungskulturellen Umbrüchen durch die Entstehung eines neuen Diskursraums gerecht werden. Im Sinne einer permanenten Konferenz können auch zukünftige Generationen in ihm neue Wege des Umgangs und der Auseinandersetzung mit dem Gebäude und seiner Geschichte beschreiten. Dieses einzigartige Innovationspotenzial macht die Kongresshalle als eines der größten Baurelikte der NS-Diktatur zu einem Spiegel erinnerungskultureller Debatten von nationaler wie internationaler Strahlkraft. Die neuen Nutzungsperspektiven werden zudem einen wesentlichen Beitrag zur stadträumlichen Entwicklung leisten können, in der die Kongresshalle als Scharnierstelle fungiert. Einerseits entsteht im Osten des ehemaligen Reichsparteitagsgeländes mit der Entwicklung des „Lern- und Begegnungsorts Zeppelinfeld und Zeppelintribüne“ ein neuer Ort für Bildung und Vermittlung, der mit der Kongresshalle und ihren inhaltlichen Angeboten korrespondieren wird. Andererseits werden die neue Technische Universität Nürnberg und der neue Stadtteil Lichtenreuth im Süden des Geländes eine neue Dynamik in Gang setzen, in der die Kongresshalle als Zeitgeschichts-, Wissens- und Kulturort eine zentrale Koordinate markiert. Auch der temporäre Umzug des Staatstheaters in und an die Kongresshalle wird mit neuen Impulsen einhergehen. Neben Pflege und Fortschreibung des klassischen Werk-Kanons wird die Auseinandersetzung mit dem historischen Kontext des Ortes gesellschaftspolitisch relevante Diskurse anstoßen und zum Katalysator eines strukturellen Wandels werden, der das Staatstheater zur diversen (Stadt-)Gesellschaft öffnet und neue Publika anspricht. Die direkte Nähe zu den Ermöglichungs-
33 Vgl. Besucherrückmeldungen zur möglichen zukünftigen Nutzung der Kongresshalle: Veranstaltungsreihe Kongresshalle 2021–2022: https://www.nuernberg.de/internet/nuernbergkultur/veranstaltungsreihe_kongresshalle_2021_2022.html (09.02.2023).
Die Kongresshalle am ehemaligen Reichsparteitagsgelände in Nürnberg
räumen für zeitgenössische Künste und Kulturen, zum Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände und zu den Nürnberger Symphonikern schafft dabei die grundlegenden Voraussetzungen für Synergien und Vernetzung des Staatstheaters mit anderen Kulturschaffenden.
Umsetzung Bei der Umsetzung bedarf es deshalb weitreichender Interaktionsmöglichkeiten zwischen allen Institutionen vor Ort und den Kulturschaffenden sowie einer engen konzeptionellen und inhaltlichen Zusammenarbeit der einzelnen Akteure. Konsens besteht in Hinblick auf ein behutsames Vorgehen bei der Projektierung, nicht zuletzt aufgrund des historischen Kontextes im Sinne der Erinnerungskultur. Die Planungen für sämtliche neue Nutzungen im Rundbau orientieren sich eng am baulichen Bestand und dessen räumlichen Voraussetzungen und werden unter seriellen Gesichtspunkten für die 16 annähernd baugleichen Sektoren angegangen. Ziele sind im Besonderen die Sicherung und Instandsetzung der baulichen Substanz und die Beibehaltung des Rohbaucharakters des Gebäudes. Jenseits künftiger Nutzungen machen der schlechte Zustand der Fassade im „Innenhof “ und der Außenfassade, der Fenster und das schadhafte und undichte Dach Investitionen zum dauerhaften Erhalt des Baudenkmals dringend notwendig. Dabei ist die Kongresshalle keine Bauruine, sondern technisch gesehen ein solider Rohbau und als solcher ablesbar zu erhalten. Erhalt und weitere Nutzbarmachung der zweitgrößten baulichen Hinterlassenschaft des Nationalsozialismus in kommunalem Eigentum können angesichts der Dimension der Kongresshalle als historisches Dokument nationalen Ranges nur als gemeinsame Aufgabe aller föderalen Ebenen begriffen werden und im engen Schulterschluss erfolgen.
Ausblick Fast 40 Jahre hat es gedauert, bis eine erste Ausstellung der Stadt Nürnberg in der Zeppelintribüne über Geschichte, Bauten und Geschehen am ehemaligen Reichsparteitagsgelände aufklärte. 17 Jahre später eröffnete das Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände und setzte damit national und international Maßstäbe für Erinnerungskultur. Unbestritten ist seither die übernommene Verpflichtung zur Aufklärung über die NS-Zeit an diesem weltweit bekannten Orten der deutschen und internationalen Zeitgeschichte. Irreversibel verändert haben sich indessen die Rahmenbedingungen hierfür. Eine zunehmende gesellschaftliche Diversität und das Schwinden der Zeitzeugenschaft sind nur zwei Faktoren, die einen rasanten Wandel im Rezeptionsverhalten bewirken. Mit der Erweiterung und Neukonzeption der
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Dauerausstellung des Dokumentationszentrums, der Entwicklung von Zeppelintribüne und Zeppelinfeld zum Lern- und Begegnungsort, aber auch umfangreichen Maßnahmen am Memorium Nürnberger Prozesse wird dieser Entwicklung Rechnung getragen.34 Rund 20 Jahre nach der Eröffnung des Dokumentationszentrums soll nun auch der aktuell weitgehend leerstehende Rohbau der Kongresshalle mit den Mitteln von Kunst und Kultur für den gesellschaftlichen Diskurs geöffnet werden. Zugänglichkeit und unmittelbare Erlebbarkeit des monumentalen Gebäudes sind dafür essentielle Voraussetzungen. Dieses kennzeichnet auf dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände und zu den daran angrenzenden Stadtquartieren nicht nur räumlich eine Schnittstelle. Vielmehr fungiert es als Membrane zwischen Gegenwart und Vergangenheit sowie deren einzelnen Zeitschichten, die es sicht- und nachvollziehbar deutlich zu machen gilt. Diese stehen paradigmatisch für die Geschichte des Umgangs mit der NS-Vergangenheit der letzten fast 80 Jahre. Die gezielte Auseinandersetzung mit diesen Zeitschichten und deren erinnerungskulturelle Einordnung wird eine neue Dimension der historischen Bildungs- und Vermittlungsarbeit erschließen, die in dieser Anschaulichkeit und Aussagekraft nur hier und an keinem anderen Ort möglich ist. Das Kulturentwicklungsvorhaben Kongresshalle trägt nicht nur den erinnerungskulturellen Umbrüchen richtungsweisend Rechnung, sondern hat auch einzigartiges Innovationspotential für die Künste und Kulturen der Gegenwart. Ihre im besten Sinne demokratische Sinnstiftung ist gleichzeitig ein starkes gesellschaftspolitisches Signal.
34 Zu den Ertüchtigungen im Memorium Nürnberger Prozesse vgl. Pressemitteilungen | Memorium Nürnberger Prozesse: https://www.nuernberg.de/internet/kommunikation_stadtmarketing/ pressemitteilungen.html (10.02.2023).
Leonard Stöcklein
Petrifizierte Bewahrung der Vergangenheit? Die Stadt Hersbruck und ihr nationalsozialistisches Erbe
Wider das nationale Narrativ? Sämtliche Versuche, Geschichte periodisch einzuteilen, sind vor der Feststellung Jörn Rüsens, „dass Phasen idealtypische Konstruktionen sind, die sich keineswegs strikt nacheinander ablösen und in ihrer Existenz gegenseitig ausschließen, sondern vielmehr überlappen und mischen“ 1 , zu betrachten. Diese allgemeine Prämisse gilt auch für den wissenschaftlichen Diskurs über den Umgang mit dem Nationalsozialismus, für welchen verschiedene Phasenmodelle entwickelt wurden.2 Ungeachtet teilweise kontroverser Diskussionen hat sich neben anderen auch die folgende Einteilung etabliert:3 Unter der alliierten Besatzung habe es ein staatlich verordnetes Gedenken gegeben, ehemalige Häftlinge hätten spontan kleine Gedenkzeichen errichtet. Nach einer Phase der kollektiven Selbstentlastung der deutschen Bevölkerung4 ab den 1950er Jahren, die in einer Zerstörung baulicher Überreste der ehemaligen Konzentrationslager ihren Ausdruck fand, seien durch den generationellen Umbruch der „68er“5 die 1970er Jahre eine „Inkubationszeit“6 für die 1980er Jahre gewesen, in denen sich die bis dahin schambehaftete Kultur der Bundesrepublik zu einer Schuldkultur gewandelt habe.7 Seit 1979 habe die
1 Rüsen, Jörn: Zerbrechende Zeit. Über den Sinn der Geschichte, Köln 2001, S. 285 f. 2 Vgl. Brechtken, Magnus: „Vergangenheitsaufarbeitung“, in: Praxis Geschichte 36 (2022), S. 4–9, hier S. 4. 3 Vgl. Knoch, Habbo: Spurensuche. NS-Gedenkstätten als Orte der Zeitgeschichte, in: Bösch, Frank/ Goschler, Constantin (Hg.): Public History. Öffentliche Darstellungen des Nationalsozialismus jenseits der Geschichtswissenschaft, Frankfurt a. M. 2009, S. 191–218. 4 Vgl. Frei, Norbert: Deutsche Lernprozesse. NS-Vergangenheit und Generationenfolge seit 1945, in: Olmos, Ignacio/Keilholz-Rühle, Nikky (Hg.): Kultur des Erinnerns. Vergangenheitsbewältigung in Spanien und Deutschland, Frankfurt a. M. 2009, S. 94 f. 5 Vgl. Wolfrum, Edgar: Die beiden Deutschland, in: Knigge, Volkhard/Frei, Norbert (Hg.): Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord, München 2002, S. 133–149, hier S. 139. 6 Jessen, Ralph: Die siebziger Jahre als geschichtspolitische Inkubationszeit, in: Klein, Anne (Hg.): Der Lischka Prozess. Eine jüdisch-französisch-deutsche Erinnerungsgeschichte, Berlin 2013, S. 29–33. 7 Vgl. Assmann, Aleida: Erinnerung als Erregung. Wendepunkte der deutschen Erinnerungsgeschichte, in: Lepenies, Wolf (Hg.): Jahrbuch des Wissenschaftskollegs zu Berlin 1998/99, Berlin 2000, S. 200–220, S. 210 f.
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bundesrepublikanische Gesellschaft die überbauten und verwandelten Stätten der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik wortwörtlich ausgegraben und gesellschaftsfähig gemacht; diese zunächst subversive Erinnerungskultur habe seit Mitte der 1980er Jahre zu einer bis heute anhaltenden Phase der Bewahrung8 der Vergangenheit geführt, die unter anderem im Ausbau ehemaliger Konzentrationslager zu staatlich finanzierten Gedenkstätten sichtbar wurde.9 Derartige Periodisierungen erwecken den Eindruck einer progressiven Erfolgsgeschichte Deutschlands als „Weltmeister“ einer heute abgeschlossenen Aufarbeitung. In diesem Beitrag soll an Hersbruck als einem regionalen Praxisfeld der Geschichtskultur einerseits die definitorische Unzulänglichkeit der Vokabel der Vergangenheitsbewahrung zur Beschreibung der nationalen Erinnerungskultur für periphere Orte gezeigt werden, andererseits der anhaltenden Kritik an der Erinnerungskultur, die sich überbordend auf die Opfer zentriere10 , petrifizierte Rituale pflege und seit den Nullerjahren staatlich institutionalisiert und verordnet sei,11 entgegengewirkt werden. Hersbruck steht hierbei exemplarisch für eine partizipative und kontrovers diskutierte Vergegenwärtigung des Nationalsozialismus im lokalen Raum. Über die jeweiligen Phasen hinweg war und ist in Hersbruck ein Klima der Verdrängung und Ablehnung auszumachen, dem zivilgesellschaftliche Interessensgruppen bis heute entgegenwirken. Nach einer Vorstellung der nationalsozialistischen Verbrechensgeschichte in Hersbruck gilt es anhand der Forschungsliteratur12 und eigener Quellenrecherche den Umgang mit dieser Vergangenheit von 1970 bis 2000 zu skizzieren und Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu dem vorgestellten Phasenmodell herauszuarbeiten.
8 Vgl. Assmann, Aleida: Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention, München 2020, S. 57. Auch Dietzfelbinger nimmt in seiner Analyse der Erinnerungskultur Hersbrucks für die Zeit von 1990 bis 2000 diese Zuschreibung vor. Dietzfelbinger, Eckart: Vom Umgang mit der KZ-Vergangenheit – eine Skizze, in: Faul, Gerhard (Hg.): Sklavenarbeiter für den Endsieg. KZ Hersbruck und das Rüstungsprojekt Dogger, Hersbruck 2003, S. 165–174, hier S. 170 ff. 9 Vgl. Knigge, Volkhard: Gedenkorte mit doppelter Vergangenheit, in: Sabrow, Martin (Hg.): Der Streit um die Erinnerung, Helmstedter Kolloquien 10, Leipzig 2008, S. 59–76, hier S. 65 f. 10 Vgl. Jureit, Ulrike: Olympioniken der Betroffenheit. Normierungstendenzen einer opferidentifizierten Erinnerungskultur, in: Hammerstein, Katrin/Mählert, Ulrich u. a. (Hg.): Aufarbeitung der Diktatur – Diktat der Aufarbeitung?, Göttingen 2009, S. 108–122. 11 Vgl. Welzer, Harald: Für eine Modernisierung der Erinnerungs- und Gedenkkultur, in: GedenkstättenRundbrief 8 (2011), Nr. 162, S. 3. 12 Die justizielle und geschichtskulturelle Aufarbeitung bis 1950 ist bereits analysiert worden. Schmidt, Alexander: Das KZ-Außenlager Hersbruck und seine Wahrnehmung in der Region Nürnberg nach 1945, in: Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit (Hg.): Spuren des Nationalsozialismus. Gedenkstättenarbeit in Bayern, München 2000, S.150–162.
Petrifizierte Bewahrung der Vergangenheit?
Darauf aufbauend sollen die Kontroversen für die Zeit der „Bewahrung“ ab 2000 freigelegt werden, welche zeigen, wie wenig konsensual die erinnerungskulturelle Tektonik Hersbrucks in den letzten zwanzig Jahren gewesen ist.13 Das Quellenkorpus der vorliegenden Mikrostudie nimmt insbesondere das Beziehungsgefüge sowie Netzwerkstrukturen und -dynamiken der geschichtskulturellen Akteur:innen in den Blick.
Geschichte der NS-Verbrechen in Hersbruck Das Außenlager Hersbruck des KZ Flossenbürg bestand von August 1944 bis April 1945. Es fasste zeitweise bis zu 6.000 Häftlinge 21 unterschiedlicher Nationen, darunter viele ungarische Juden, politische Gegner, Widerstandskämpfer, Zwangsarbeiter und Strafgefangene der SS und Polizei.14 Nahezu jeder zweite Häftling überlebte das Lager und die Schwerstarbeit in den Stollen oberhalb der Ortschaft Happurg.15 Es war nach Flossenbürg und Dachau das drittgrößte Konzentrationslager im süddeutschen Raum.16 Berichte von Augenzeug:innen belegen, dass das Grauen des Lagers zum Alltag der Bevölkerung gehörte.17 Auch die Verfolgungsgeschichte der Hersbrucker Sinti ist Teil der Geschichte der Stadt im Nationalsozialismus: Neun der 17 Angehörigen der Familien Höllenreiner, Lehmann, Strauß und Schmitt, die am 8. März 1943 in Folge des „AuschwitzErlasses“ von Heinrich Himmler nach Auschwitz deportiert worden waren, wurden dort und in Sachsenhausen ermordet.18
13 Eine wissenschaftliche Untersuchung für die letzten gut 25 Jahre fehlte bislang. Ich danke Nadja Bennewitz für wertvolle Hinweise. 14 Jüdinnen wurden direkt nach der Ankunft in Hersbruck von der SS erschossen. Vgl. Schmidt, Alexander: Happurg und Hersbruck, in: Benz, Wolfgang/Distel, Barbara (Hg.): Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Bd.4, München 2006, S. 136–140, hier S. 137 f. 15 Vgl. Schmidt: Außenlager, S. 151 ff. 16 Vgl. Schmidt, Alexander: Eine unauffällige Geschichte. KZ-Außenlager in der Region Nürnberg, in: Dachauer Hefte 15 (1999), S. 153–173, hier S. 159 f., 163 f. 17 Vgl. Pitsch, Andrea: Eine Zeitzeugin erzählt: Äpfel für KZ-Häftlinge, in: NN, 17.05.2022; Luchterhand, Elmer: Das KZ in der Kleinstadt. Erinnerungen einer Gemeinde an den unsystematischen Völkermord, in: Peukert, Detlev/Reulecke, Jürgen (Hg.): Die Reihen fast geschlossen. Beiträge zur Geschichte des Alltags unter dem Nationalsozialismus, Wuppertal 1981, S. 435–454. 18 Vgl. Kornmayer, Paul: Verfolgt, deportiert, ermordet. Die Geschichte der Sinti in Hersbruck 1939–1945, Hersbruck 2018.
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Skizzierung des Umgangs von 1970 bis 2000 Auch für Hersbruck lassen sich die 1970er Jahre als „Inkubationszeit“19 betiteln. Seit diesem Zeitpunkt und bis in die 1980er Jahre waren es die überlebenden Häftlinge selbst, die, gemeinsam mit einzelnen engagierten Jugendlichen aus der Zivilgesellschaft und Wissenschaftler:innen, die neue Wege auf dem Feld der Alltagsgeschichte des Nationalsozialismus einschlugen, die Geschichte des Lagers erforschten, dokumentierten und in das öffentliche Bewusstsein rückten.20 Das früheste Zeugnis eines ehemaligen Lagerinsassen legte der polnische Häftling Janusz Krasinski unter dem Titel „Der Karren“ 1970 vor.21 Die junge Generation des DGB organisierte in den 1970er Jahren jährlich am 9. November Treffen zum Gedenken an die Reichspogromnacht22 und grenzte sich damit auch bewusst vom Gedenken an die gefallenen Soldaten des Zweiten Weltkriegs am Volkstrauertag ab, welches sich bis in die 1980er Jahre hoher Popularität in der Bevölkerung erfreute.23 Von 1980 bis 1984 erschienen weitere Publikationen ehemaliger Häftlinge und ihrer Verbündeten.24 Von herausragender Bedeutung war die Facharbeit des Gymnasiasten Gerd Vanselow25 , die - mit einem Buch, vor dessen Erscheinen Vanselow von Bürgermeister Endres (CSU) persönlich mit rechtlichen Schritten gedroht worden war –26 als erste gründliche Forschungsarbeit einen wichtigen Impuls für einen Wandel im Umgang mit dem Außenlager gab.27 Dieser Wandel fand seine Manifestation nach einigen Umwegen in einem Gedenkstein, der neben der ehemaligen SS-Kaserne aufgestellt werden sollte: Einen ersten Antrag der DGB-Jugend lehnte der Stadtrat zunächst
19 Jessen: Inkubationszeit, S. 29–33. 20 Vgl. Brenner, Hans: Der „Arbeitseinsatz“ der KZ-Häftlinge in den Außenlagern des Konzentrationslagers Flossenbürg – ein Überblick, in: Herbert, Ulrich /Orth, Karin /Dieckmann, Christoph (Hg): Die nationalsozialistischen Konzentrationslager – Entwicklung und Struktur, Wallstein 1998, S. 682–706, hier S. 682. 21 Krasinski, Janusz: Der Karren, Frankfurt a. M. 1970. 22 Vgl. Schmidt: Außenlager, S. 161. 23 Vgl. HZ, 17.11.1981. 24 Luchterhand: Das KZ, S. 435–454; Lenz, Hans-Friedrich: „Sagen Sie, Herr Pfarrer, wie kommen Sie zur SS?“, Gießen u. a. 1982; Berichte ehemaliger Häftlinge sind hier festgehalten: Blanz, Fritz/ Vanselow, Gerd/Graßl, Johannes: KZ Hersbruck. Überlebende berichten, Hersbruck 1983; Siegert, Toni: 30000 Tote mahnen! Die Geschichte des Konzentrationslagers Flossenbürg und seiner 100 Außenlager von 1938 bis 1945, Weiden 1984. 25 Vanselow, Gerd: KZ Hersbruck: größtes Außenlager von Flossenbürg, Hersbruck 1983. 26 Vgl. Interview von Schüler:innen der Lehrerin Barbara Raub mit Gerd Vanselow im Paul-PfinzingGymnasium, 09.06.2011; vgl. Blanz: Überlebende, S. 1. 27 Vgl. Schmidt: Außenlager, S. 162.
Petrifizierte Bewahrung der Vergangenheit?
einstimmig ab, da „klarzustellen [sei], dass in Hersbruck nie eine SS-Kaserne gestanden ha[be]“28 . Und auch nachdem einem zweiten Antrag der SPD-Fraktion mit knapper Mehrheit (11:9 Stimmen) zugestimmt worden war,29 lehnte die Stadt eine Beteiligung an der Finanzierung des kleinen, abseitig gelegenen Gedenksteins ab,30 an dessen Enthüllung nur eine geringe Anzahl interessierter Personen aus der Bevölkerung teilnahm.31 Auch nach dem Übergang des Bürgermeisteramtes 1986 an Wolfgang Plattmeier (SPD) brachten Nachkommen der in Auschwitz ermordeten Sinti Maria, Adolf und Erich Strauß Ende der 1980er Jahre, zunächst aus Angst vor einer zu großen Öffentlichkeit nur in privater Initiative, eine Gedenktafel am ehemaligen Wohnhaus der Familie in Hersbruck an.32 Auch in den 1990er Jahren initiierten vorrangig ehemalige Häftlinge und zivilgesellschaftliche Akteur:innen erinnerungskulturelle Medien wie dezentrale Gedenkorte und einen Film.33 Diese wurden zwar weiterhin kontrovers diskutiert, jedoch von Seiten politischer Vertreter:innen der Stadt Hersbruck, allen voran Bürgermeister Plattmeier, nicht mehr grundsätzlich abgelehnt.34
Hersbruck und die nationalsozialistische Vergangenheit seit der Jahrtausendwende Um die Jahrtausendwende gab es zwar vereinzelt kleine, periphere Gedenkzeichen, ein Dokumentations- und Informationsort, der den historischen Dimensionen des Lagers gerecht geworden wäre, fehlte jedoch ebenso wie ein aktives Bekenntnis der Stadt zu ihrer Geschichte. Bereits nach dem Abzug der amerikanischen Truppen 1951 waren die Baracken, Wachtürme und Zäune des Lagers zügig abgerissen worden.35 Ein 1954 auf dem Gelände errichtetes Holzkreuz zum Gedenken an die Opfer war kurze Zeit später beseitigt und bereits zwischen 1952 und 1954 eine Tennisanlage von 1600 m² „nach einer Beschlagnahmung der SS wieder hergerichtet worden“36 . In den folgenden zwei Jahrzehnten waren großflächig Parkplätze 28 29 30 31 32 33 34 35 36
Niederschrift Nr. 2/1983 Ausschuss für Öffentlichkeitsarbeit, 31.05.1983. Vgl. Schmidt: Außenlager, S. 161.; vgl. Dietzfelbinger: Umgang, S. 168 ff. Vgl. Niederschrift Nr. 2/1983 Ausschuss für Öffentlichkeitsarbeit, 31.05.1983. Vgl. Der Geschichte nicht entfliehen, in: HZ, 06.11.1983. Schriftliche Auskunft einer Angehörigen der Familie Höllenreiner an den Autor, 09.11.2022; vgl. Sinti-Gedenkskulptur findet wenig Anklang, in: HZ, 23.11.2017. Vgl. Dietzfelbinger: Umgang, S. 170 f. Über ein halbes Jahr hielten kontroverse Diskussionen im Happurger Gemeinderat über die Gedenktafel der VVN an. Vgl. Mahnmal eingeweiht, in: HZ, 23.07.1998. Vgl. Puvogel, Ulrike/Stankowski, Martin (Hg.): Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus. Eine Dokumentation, Bd.1, Berlin 1995, S. 146 f. Geng, Albert: Hersbruck. 1000 Begriffe von Aschbe bis Zolltafel, Hersbruck 2011, S. 407.
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gebaut worden; die ehemalige SS-Kaserne diente bis 1972 zunächst als Hauptschule, später als Finanzamt. Diese Umformungen sind für jene Zeit bezeichnend, doch noch im Jahr 2001 billigte der Stadtrat, ohne Maßnahmen zum Erhalt der wenigen baulichen Relikte des Lagers zu diskutieren, einstimmig den Bau eines Thermalbades auf dem Gelände, dessen Baukosten von 20,5 Millionen die Stadt als Eigentümerin trug.37 Diese unter staatlicher Obhut am 16. April 2005 durch Innenminister Günther Beckstein (CSU) eingeweihte Therme wird seitdem in Hersbruck als Aushängeschild für die „Outdoor- und Genussregion Nürnberger Land“ beworben, um möglichst viele Menschen anzulocken.38 Forderungen nach großflächigen Markierungen der ehemaligen Lagerstrukturen, die der 1999 gegründete Verein Dokumentationsstätte KZ Hersbruck e.V. („Doku-Verein“)39 im Zuge der weiteren Überbauung durch die Therme erhob, wurde im Sinne des Vereins bis heute nicht umgesetzt.40 Im selben Zeitraum stellte das Amt für Jugendarbeit der evangelischen Landeskirche einen Antrag auf Denkmalschutz für die ehemalige SS-Kaserne, die zu diesem Zeitpunkt als Finanzamt genutzt wurde.41 Dieser Antrag, von dem sich auch der Doku-Verein eine Nutzung des Gebäudes als zentralen Lernund Gedenkort erhoffte, wurde letztlich abgelehnt und die ehemalige Kaserne zwei Jahre nach der Einweihung der Therme abgerissen. Die Stadt erachtete den Neubau des Finanzamtes für den Erhalt der Arbeitsplätze als unausweichlich; Anliegen hinsichtlich einer Integration der Lagergeschichte in den neuen Komplex wurden nicht berücksichtigt.42 Im offiziellen Internetauftritt des Finanzamtes zur eigenen Geschichte während des Zweiten Weltkriegs heißt es: „Am Ende des zweiten Weltkriegs hatte das Städtchen bange Tage zu überstehen, kam aber mit verhältnismäßig geringen Verlusten an Menschenleben und Gebäuden davon.“43 Parallel zu diesen Entwicklungen versuchte der Verein gemeinsam mit Überlebenden und deren Angehörigen der zweiten Generation, Wege der Aufarbeitung
37 Vgl. Interview des Studenten Duncan Vogtmann mit Thomas Wrensch, Vorsitzender des Vereins Dokumentationsstätte KZ Hersbruck e.V., 22.09.2022. 38 Vgl. MbayZ, 06.02.2008; an der Autobahn wird mit einem großen Schild die Region in dieser Hinsicht beworben. Auch die Stadt Hersbruck tut dies auf ihrer offiziellen Homepage: https:// hersbruck.de (17.01.2023). 39 Der Verein ist seit 1999 die wichtigste pressure group für die Aufarbeitung des Nationalsozialismus in Hersbruck. 40 Vgl. Interview Wrensch, 22.09.2022. Nach langen Diskussionen stimmte der Kulturausschuss mit einer knappen Mehrheit (4:3 Stimmen) einer marginalen Markierung der ehemaligen Wachtürme durch vier Granitpflaster von 15x19cm zu. Vgl. Niederschrift Nr.11/2002-2008 Kulturausschuss, 27.09.2005. 41 Vgl. Niederschrift Nr. 24/2002-2008 Bauausschuss, 14.12.2004. 42 Vgl. HZ, 15.11.2007; Interview Wrensch, 22.09.2022. 43 Vgl. www.finanzamt.bayern.de/hersbruck/ueber_uns/Geschichte (17.01.2023).
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zu gehen, die nach langen und harten Auseinandersetzungen schlussendlich auch Erfolge zeitigten.
„Ohne Namen“ Vittore Bocchetta, als italienischer Widerstandskämpfer in Hersbruck inhaftiert, veröffentlichte 2003 seine Memoiren44 und bot der Stadt wenig später gemeinsam mit dem Doku-Verein die Zusammenarbeit bei der Errichtung eines Monuments zum Gedenken an die Opfer des Lagers auf dem ehemaligen Gelände an. Als der Kulturausschuss der Stadt Hersbruck entgegen dem Wunsch einer Lokalisierung am historischen Ort einen Standort in der Grünanlage zur Turngasse vorschlug, zog Bocchetta sein Angebot zunächst schriftlich zurück45 , da er nicht wollte, dass sein Kunstwerk „hinter einem Busch versteckt stehen solle.“46 Bürgermeister Plattmeier schrieb am 15. Februar 2006 einen Brief an Bocchetta, in dem er das Vorgehen der Stadt Hersbruck rechtfertigte. Bei der Sitzung des Kulturausschusses rückten die Räte von der Position hinsichtlich des Standortes nicht ab und waren sich einig: „Falls Bocchetta nicht mehr zur Verfügung steht, suchen wir eben einen anderen Künstler.“47 Auch nachdem Bocchetta schließlich auf die verantwortlichen Entscheidungsträger:innen zugegangen war und sich mit dem Standort einverstanden erklärt hatte, fanden die Diskussionen kein Ende, sondern befassten sich nun mit der vorgeschlagenen Höhe von 5,50 m. Vertreter der CSU-Fraktion lehnten diese Höhe ab und erachteten lediglich eine Höhe von maximal 3,50 m als akzeptabel.48 Am 7. März 2006 schließlich beschloss der Kulturausschuss abermals sehr knapp (5:4 Stimmen) die Errichtung der Skulptur, für die 5.000 € aus Haushaltsmitteln zur Verfügung gestellt werden sollten. Trotz dieser Zustimmung stellten acht Mitglieder des Stadtrates (CSU und Freier Rathausblock) einen Antrag auf Nachprüfung des Beschlusses zur Errichtung der Skulptur, da der Beschluss des Kulturausschusses überstürzt gewesen sei. Robert Ilg (Freier Rathausblock) betonte, man habe nichts gegen das Erinnern an das KZ, jedoch müsse die Höhe der Skulptur auf 3,50 m reduziert werden. Am 25. April 2006 wurde Bocchettas Kunstwerk vom Stadtrat mit 13 zu 10 Stimmen abgelehnt.49
44 Vgl. Bocchetta, Vittore: Jene fünf verdammten Jahre. Aus Verona in die Konzentrationslager Flossenbürg und Hersbruck, Lage 2003. 45 Vgl. Niederschrift Nr.11/2002-2008 Kulturausschuss, 27.09.2005. 46 Niederschrift Nr.12/2002-2008 Kulturausschuss, 16.02.2006. 47 Ebd. 48 Vgl. Niederschrift Nr.13/2002-2008 Kulturausschuss, 07.03.2006. 49 Vgl. Niederschrift Nr.33/2002-2008 Kulturausschuss, 25.04.2006.
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Noch bevor es zu einer Lösung kam, zeigte die Stadt Hersbruck, dass ihr andere Entscheidungen bezüglich der Geschichte des Zweiten Weltkriegs wesentlich leichter fielen, als im Mai desselben Jahres die Setzung eines Gedenksteins für sudetendeutsche Heimatvertriebene aus Chotěšov einstimmig im Kulturausschuss beschlossen wurde und im September 2006 enthüllt wurde.50 Nach zahlreichen Leserbriefen in der Hersbrucker Zeitung und auf Bitte des Stadtrats Dünkel (CSU), der den Schaden betonte, den das Image der Stadt Hersbruck durch die Ablehnung der Skulptur in der Öffentlichkeit genommen habe,51 nahm Bürgermeister Plattmeier (SPD) nochmals Kontakt mit Bocchetta auf. Schlussendlich wurde die Skulptur nach einem zweiten Angebot Bocchettas, dass das Kunstwerk nun insgesamt eine Höhe von 3,25 m haben sollte, angenommen.52 Nach dieser Diskussion wurde die Skulptur „Ohne Namen“, die vor allem durch Spenden von Kulturstiftungen und Privatpersonen ermöglicht worden war, im Mai 2007 feierlich enthüllt.53 Die damalige Stadträtin Irmingard Philipow schreibt in ihrer Autobiographie, dass die Fragen nach Standort und Höhe von mancher Seite bewusst aus der Angst heraus aufgeworfen wurden, dass die Skulptur allzu stark auf die Geschichte des Außenlagers hinweisen und dem aufkommenden Tourismus in Hersbruck im Weg stehen könne.54 Die Durchsetzung der Skulptur brachte mutatis mutandis Ruhe in den Ort. Dies ermöglichte zivilgesellschaftlichen Akteur:innen eine Erweiterung der lokalen Erinnerungskultur bis 2017 ohne größere Zusammenstöße. Der Doku-Verein unterstützte Angehörige ehemaliger Häftlinge, die Hersbruck auf der Suche nach Spuren ihrer Vorfahren aufgesucht hatten, bei der Anbringung kleiner Gedenkzeichen am bereits vorhandenen DGB-Gedenkstein.55 Schüler:innen des örtlichen Paul-Pfinzing-Gymnasiums entwickelten mit Unterstützung ihrer Lehrerin Barbara Raub einen öffentlich verfügbaren Audiowalk über das ehemalige KZ.56 In dieser Phase betrat auch die Gedenkstätte Flossenbürg mit Unterstützung der Stiftung Bayerische Gedenkstätten als weiterer Akteur neben der Stadt und der Zivilgesellschaft die erinnerungskulturelle Arena und institutionalisierte diese durch die Schaffung von Informationsorten in Form von fünf Tafeln auf dem 50 Vgl. Niederschrift Nr.14/2002-2008 Kulturausschuss, 09.05.2006; Kirchsprengel Chotieschau: www.chotieschau.de/Gedenkstein.html (27.09.2022). 51 Vgl. Niederschrift Nr.14/2002-2008 Kulturausschuss, 09.05.2006. 52 Vgl. Niederschrift Nr.15/2002-2008 Kulturausschuss 11.07.2006, Nr.16/2002-2008, 10.10.2006. 53 Vgl. Verein Dokumentationsstätte KZ Hersbruck e.V.: https://kz-hersbruck-info.de/2007/05/08 (27.09.2022). 54 Vgl. Philipow, Irmingard: Erinnerungen an Vergangenes baut Brücken in eine friedvolle Zukunft, Hersbruck 2022, S. 55. 55 Vgl. https://www.kz-hersbruck-info.de/2020/10/31 (26.09.2022). 56 Vgl. Bayerischer Rundfunk: https://www.br.de/medienkompetenzprojekte/inhalt/jugendliche-undmedien/audioguide-kz-hersbruck102.html (24.09.2022).
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ehemaligen Gelände.57 Nachdem der Bund 2012 eine finanzielle Beteiligung wegen fehlender historischer Überreste abgelehnt hatte, ermöglichte das Land Bayern im Jahr 2016 die Errichtung eines zentralen Lernortes unter der Trägerschaft der Gedenkstätte Flossenbürg in Form eines schwarzen Kubus.58 Trotz dieses Institutionalisierungsschubs war die Aufarbeitung nicht abgeschlossen, sondern blieb brüchig und kontrovers, wie im Folgenden die Untersuchung der Entstehungsgeschichte des Mahnmals der Hersbrucker Sinti zeigen soll.59
Zum Gedenken an den Holocaust Den ersten Impuls für die Aufarbeitung des Schicksals der Sinti in Hersbruck gab eine Sintezza, die 2014 nach Gräbern ihrer Familienangehörigen in Hersbruck suchte. Der Doku-Verein nahm dies zum Anlass, um Kontakt zu Angehörigen und dem Landesverband Deutscher Sinti und Roma Bayern herzustellen und weitere Recherchen zur Geschichte der Sinti in Hersbruck während des Nationalsozialismus zu tätigen.60 Der Landesverband unterstützte in einer eigens vereinbarten Kooperation die Recherchen Paul Kornmayers mit Akten zur Verfolgungsgeschichte einzelner Sinti61 sowie das Vorhaben des Doku-Vereins zur Errichtung einer Gedenkstele, so dass sich eine Allianz zwischen Doku-Verein, Landesverband und Angehörigen der Familien bildete.62 Paul Kornmayer, dem Doku-Verein angehörig, veröffentlichte die Ergebnisse seiner Forschungen zu den Deportationen der Hersbrucker Sinti im März 2018.63 Dadurch war nun „offiziell“ belegt, was in den Familien bis dahin mündlich tradiert worden war: Sinti hatten auch in Hersbruck Opfer des Völkermords zu beklagen. Dies verlieh der Forderung nach einer Errichtung eines Gedenkzeichens Nachdruck. Der Doku-Verein knüpfte Kontakte zu Peter Lehmann, Sohn der Überlebenden Rosa Lehmann, und Rudi Höllenreiner, Angehöriger der Familie, welche in
57 Vgl. https://www.kz-hersbruck-info.de/2015/02/10 (26.09.2022). 58 Vgl. SZ, 24.01.2016. 59 Die Analyse ist darüber hinaus Teil der wissenschaftlichen Verbundenheit des Autors mit seiner Doktormutter Charlotte Bühl-Gramer, bei der dieser über Gedenkorte der Sinti und Roma promoviert. 60 Schriftliche Auskunft von Paul Kornmayer und Thomas Wrensch an den Autor, 18.03.2022. 61 Vgl. Sammlung Landesverband: Schreiben des Landesverbandes an Dokumentationsstätte Hersbruck, 18.05.2016 und 16.06.2016. 62 Auskunft Kornmayer, 18.03.2022. 63 Vgl. Kornmayer: Verfolgt.
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Auschwitz zahlreiche Opfer zu beklagen hatte, und band diese von Beginn an bei Fragen zur Gestaltung des Mahnmals ein.64 Die Angehörigen der zweiten Generation schlugen eine Gedenkstele vor, welche auf dem oberen Ende der senkrecht stehenden viereckigen Säule einen Viehwaggon in Miniaturform als Symbol für den Abtransport aus der Stadt tragen sollte.65 Ähnlich wie bei der Skulptur „Ohne Namen“ lehnte der Stadtrat abermals den Standort und die Materialität des Gedenkens ab und behinderte so über drei Jahre hinweg die Errichtung der Stele. Zunächst wurde die Frage nach der Materialität am 21. November 2017 Gegenstand der Debatte im Kulturausschuss, wo der Doku-Verein einen Antrag auf Errichtung in der Innenstadt stellte. Nach einem Vortrag zur Verfolgungsgeschichte der Hersbrucker Sinti während des Nationalsozialismus waren sich die Fraktionssprecher der CSU, SPD und des Freien Rathausblocks zwar darüber einig, dass der Schicksale der Sinti in Hersbruck gedacht werden müsse, lehnten jedoch ein Mahnmal ab und sprachen sich für Stolpersteine aus. An der Sitzung nahmen auch Angehörige der Opfer teil, die im Rahmen der Sitzungsdisziplin kein Rederecht besaßen. Im Nachgang der Sitzung äußerte eine anwesende Sintezza, was der Doku-Verein bereits in seinem Antrag ans Bürgermeisterbüro am 2. Mai 2017 festgehalten hatte und damit allgemein bekannt war:66 „Bei uns in der Gruppe der Sinti ist es verboten über Grabsteine zu springen oder zu steigen. Stolpersteine sind für uns Grabsteine. Deshalb können wir keine Stolpersteine akzeptieren.“67 Die Fraktionen der CSU, SPD und des Freien Rathausblocks lehnten den Antrag ohne Rücksicht auf die Perspektive der Angehörigen der Opfer schließlich ab, die Grünen unterstützen diesen.68 Nach Ansicht der Initiatoren gründete die Ablehnung der Fraktionen und des Bürgermeisters Robert Ilg auf einer latenten Angst, dass bei der Errichtung eines Mahnmals für die Sinti andere Opfergruppen des Nationalsozialismus in Zukunft ähnliche Ansprüche auf ein öffentliches Gedenken erheben könnten.69 Während die Initiatoren das Gedenken an die Minderheit als singulär und unvergleichbar mit anderen Verstößen gegen die Menschenrechte verstanden wissen wollten,70 forderten die Stadtratsfraktionen und Bürgermeister Ilg einen „Ort der Menschenrechte“ als abstrahierte Form des Gedenkens, der potenziell erweiterbar
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Vgl. Interview des Autors mit Erich Schneeberger, Vorsitzender des Landesverbands, 22.02.2022. Vgl. Auskunft Kornmayer, 18.03.2022. Vgl. HZ, 23.11.2017. Vgl. Sammlung Landesverband: Pressemitteilung Doku-Verein, 21.11.2017. Vgl. Ebd. Auskunft Kornmayer, 18.03.2022. Vgl. Sammlung Landesverband: Schreiben des Landesverbands an Doku-Verein, 01.02.2019; HZ, 09.03.2019.
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sei.71 Nach zähen Verhandlungen konnte das Mahnmal als Form der Erinnerung zwar durchgesetzt werden, in der Frage des Standortes jedoch behielt schlussendlich der Stadtrat die Hoheit. Der Doku-Verein, der Landesverband und die Angehörigen forderten für die Stele einen Platz im Altstadtkern Hersbrucks, da die Opfer „als Bürger der Stadt Hersbruck aus der Mitte der Gesellschaft gerissen wurden und nun wieder einen Platz in der Mitte der Gesellschaft finden sollten.“72 Erich Schneeberger, Vorsitzender des Landesverbands, verlieh bei eigens organisierten Gedenkveranstaltungen noch zwei weitere Male der Forderung eines zentralen Standorts Nachdruck.73 Schüler:innen des Paul-Pfinzing-Gymnasiums flankierten diese Veranstaltungen durch die Präsentation der Biographien der Familie Strauß vor dem ehemaligen Wohnhaus der Familie.74 Da die Errichtung des Mahnmals jedoch durch die Blockade des Stadtrates stagnierte, nahm der Landesverband auf Bitte der Angehörigen der Opfer von seiner Forderung Abstand, damit das Mahnmal endlich realisiert werden könne.75 Unter der Anwesenheit vieler Angehöriger der betroffenen Familien wurde das Mahnmal am 5. März 2020 mit der Inschrift „Zum Gedenken an den Holocaust und an die Deportation der Hersbrucker Sinti am 8. März 1943“ im Rosengarten enthüllt.
Fazit und Ausblick Die Vokabel der „Vergangenheitsbewahrung“ erscheint für die Analyse der Geschichtskultur und Geschichtspolitik in Hersbruck definitorisch unzureichend. Ein Kontinuum über alle Phasen hinweg waren Initiativen und Akteur:innen „von unten“, die die Aufarbeitung vorangetrieben und umgesetzt haben. Für die Stadt Hersbruck lässt sich festhalten, dass im Zweifelsfalle stadtplanerische, imagepflegende, touristenfreundliche und wirtschaftliche Überlegungen erinnerungskulturelle Formen der Aufarbeitung ausstachen. Trotz eines seit 1983 voranschreitenden gesellschaftlichen Wandels blieben Abwehrhaltungen gegen „das“ Gedenken bei politischen Entscheidungsträgern virulent. Da eine prinzipielle Ablehnung ab diesem Zeitpunkt politisch nicht mehr haltbar gewesen wäre, wurden nun argumentative Umwege eingeschlagen und Fragen der Ästhetik oder des Standortes
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Vgl. Interview Schneeberger, 22.02.2022; Auskunft Kornmayer, 18.03.2022. Interview Schneeberger, 22.02.2022. Vgl. Sammlung Landesverband: Redemanuskript Schneeberger, 08.03.2018; HZ, 09.03.2019. Vgl. Johannes-Scharrer-Realschule Hersbruck: https://jsr-hersbruck.de/stadt-ohne-sinti (26.09.2022). 75 Vgl. Interview Schneeberger, 22.02.2022.
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diskutiert, um sichtbares Gedenken auszubremsen. Paradoxerweise konnte die Angst vor einem Imageverlust gerade zu einer Umsetzung des Gedenkens führen. Die Vergegenwärtigung der nationalsozialistischen Verbrechen steht seit der Jahrtausendwende bis heute in einem Spannungsverhältnis zwischen städtischer Minimierung der historischen Orte und schubweisen zivilgesellschaftlichen Bemühungen, die Verbrechensgeschichte des Ortes sichtbar zu machen. Auch in jüngster Vergangenheit bleibt das Verhalten der Stadt Hersbruck mindestens ambivalent. Einerseits wurden Synergien zwischen Stadt, Land und Zivilgesellschaft im Rahmen des Projekts ErinnerungsRÄUME hergestellt,76 andererseits handelte der Stadtrat wie schon beim Bau der Therme und dem Abriss der ehemaligen SS-Kaserne bei einer weiteren Überbauung des ehemaligen Geländes durch den Pflegedienstleister Diakoneo intransparent. Nur über die Presse erfuhr der Doku-Verein vom Beschluss des Bauausschusses, den letzten unbebauten Fleck des ehemaligen Geländes überbauen zu wollen. Bürgermeister Ilg kommunizierte daraufhin, dass dieser Beschluss unumkehrbar sei.77 Diakoneo, Bürgermeister, die Stiftung Bayerische Gedenkstätten und die Gedenkstätte Flossenbürg vertreten die Position, dass die Pflege von Senior:innen die Geschichte dieses Ortes am besten brechen könne, die Freihaltung „heiliger Böden“ sei weder moralisch haltbar noch praktisch umsetzbar.78 Der Doku-Verein kritisierte die Pläne öffentlich als Aktion, die die Geschichte beiseite wische. Über die konkrete Implementierung erinnerungskultureller Medien wird weiterhin gestritten. Dabei sind nicht alle Bürger:innen aus Hersbruck und Umgebung mit den erinnerungskulturellen Errungenschaften einverstanden: Die mutwillige Zerstörung von acht Kunstwerken des Projekts ErinnerungsRÄUME und die zweimalige Beschädigung des Viehwaggons am Mahnmal der Sinti können nicht als Jugendstreiche abgetan werden.79 Ein Desiderat ist bis heute eine wissenschaftliche Gesamtdarstellung der Lagergeschichte. So steht beispielsweise eine Untersuchung der Rolle der 21 Privatfirmen wie BMW beim Bau der Stollen weiterhin aus. Erst am 17. Januar 2022 erhitzte abwehrendes Verhalten des Leiters der BMW-Group Archive bei einem Vortrag zur Rolle von BMW in Hersbruck die Gemüter im Publikum, als dieser sein Verständnis dafür äußerte, dass ältere Generationen sich ihrer Verantwortung aufgrund persönlicher Verstrickungen nicht stellen wollten, und behauptete, aufgrund mangelnder
76 Unter dem Beisein Angehöriger der zweiten und dritten Generation von Opfern des Außenlagers Hersbruck kürten am 23. Juli 2022 800 Hersbrucker Bürger:innen Einreichungen von 34 Künstler:innen und neun Schulen. Vgl. HZ, 25.07.2022. 77 Vgl. https://kz-hersbruck-info.de/2021/10/25 (26.09.2022). 78 Vgl. Stellungnahme Diakoneo: „Geplanter Neubau eines Seniorenzentrums in Hersbruck“, 13.09.2022; TAZ, 28.12.2021. 79 Vgl. Auskunft Kornmayer, 18.03.2022.
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Quellenlage nichts mehr über die Beteiligung der Konzernspitze sagen zu können.80 Wie eine „richtige“ Aufarbeitung der industriellen Profiteure in Hersbruck auch aussehen mag: Eine erinnerungskulturelle Vereinnahmung politischer Entscheidungsträger:innen würde zu einer Abschaffung der Erinnerungskultur eo ipso führen. Gerade durch die Debatten wirkt „die“ Erinnerungskultur in Hersbruck ihrer eigenen Petrifizierung entgegen.
80 Vgl. HZ, 17.01.2022.
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Geschichtsvermittlung
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Die Weimarer Republik im Geschichtsunterricht
Die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Weimarer Republik ist im Vergleich mit anderen Themen des Geschichtsunterrichts besonders stark von Gegenwartsbezügen und historischen Orientierungsbedürfnissen geleitet. Wie stabil die Demokratie hierzulande ist, wurde und wird historisch gerne mithilfe einer Anknüpfung oder Abgrenzung zu „Weimarer Verhältnissen“ verstanden.1 Aktuelle markante Beispiele einer geschichtspolitischen Neuaufladung Weimars „als paradigmatisches Lehrstück für Selbstaufgabe und Machtverlust der Demokratie“2 sind die Bezüge zum Erstarken rechtspopulistischer Bewegungen und der AfD, zu den schwierigen Regierungsbildungen der Bundestagswahl 2017 sowie der Thüringer Landtagswahl 2019 und zu radikalisierten Protesten der Covid19-Pandemiejahre. Ultimativ besorgt, hieß es bereits nach den rechten Ausschreitungen in Chemnitz 2018: „Bis 33 sind es keine 15 Weimarer Jahre mehr.“3 Unter dem Eindruck einer kriselnden Demokratie gewann so ein Geschichtsbild an Aktualität, nach dem die NS-Diktatur 1933 eine Art Prophezeiung gewesen sei, die der Republik schon in die Wiege gelegt gewesen sei. Geschichtskulturell wirksam und anschlussfähig zugleich ist der Geschichtsunterricht, der die Weimarer Republik standardgemäß von ihrem Ende her deutet, wie der Vorsitzende des Hessischen Geschichtslehrerverbandes Wolfgang Geiger konstatierte: „Nach Darlegung der Abiturientinnen und Abiturienten war die Weimarer Republik von Anfang an zum Scheitern verurteilt, weil es kein mehrheitlich demokratisches Bewusstsein in der Bevölkerung gab, und die ,Machtergreifung‘ Hitlers somit nur eine logische Konsequenz [war].“4 Die üblichen Erklärungen, die dafür ins Feld geführt werden, sind ein vermeintlich abrupter Übergang zur Demokratie, auf den die Bevölkerung nicht vorbereitet gewesen sei, die Mängel der Reichsverfassung sowie die Folgen des Versailler Vertrags.
1 Leonhard, Jörn: Prekäre Selbstversicherung. Die Weimarer Republik als Metapher und geschichtspolitisches Argument, in: APuZ 68 (2018), 18–20, S. 11–18. 2 Wirsching, Andreas: Appell an die Vernunft, in: Ders./Kohler, Berthold/Wilhelm, Ulrich (Hg.): Weimarer Verhältnisse? Historische Lektionen für unsere Demokratie?, Ditzingen 2018, S. 9–21, zit. S. 9. 3 Kritisch gegenüber solchen Analogiebildungen Erenz, Benedikt: Ach, Deutschland! Ach was. Zum 100. Gründungstag der Weimarer Republik am 9. November, in: Die Zeit, Nr. 46, 08.11.2018, S. 19. 4 Geiger, Wolfgang: Zum Scheitern verurteilt? Das Bild von der Weimarer Republik (nicht nur) in Schulbüchern und die Konsequenzen für den Geschichtsunterricht, in: GWU 70, H. 3/4 (2019), S. 117–177, zit. S. 165.
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Wirkmächtig ist eine Interpretation, die das Internetportal „Geschichte kompakt“ als Abiturwissen anbietet. Danach erscheint Weimar als „eine dauerhaft instabile Zeit“ der Wirtschaftskrisen, des politischen Terrors, der Bedrohung durch linksund rechtsextreme Putschversuche und der ständig wechselnden Regierungen.5 Dieses kanonisierte Krisen- und Verfallsnarrativ steht einem inzwischen vielschichtigen wissenschaftlichen Weimarverständnis entgegen, mit dem die Forschung Chancen und Probleme zwischen 1918 und 1933 abwägt. Auch die Stoßrichtung einer demokratischen Traditionsbildung geht mit der Nutzung Weimars als Negativfolie für die heutige Demokratie fehl. Eine historische Erfahrung Weimars ist auch, dass antidemokratische Argumente für die Demokratie letzten Endes den Antidemokraten, nicht der Demokratie dienen. Die wesentlichen Probleme der unterrichtlichen Themenentwicklung liegen darin begründet, dass sich beim Lerninhalt Weimarer Republik didaktischmethodische Herausforderungen zuspitzen, die im Geschichtsunterricht im Transfer geschichtswissenschaftlicher Forschung, in der Relevanzsetzung, im Umgang mit gesellschaftlichen Basisnarrativen und der Schulung reflexiven und reflektierten Geschichtsbewusstseins (historischen Kompetenzen)6 allgemein zu meistern sind. Sie werden im Folgenden anhand der Unterrichtskonzepte und Lernmaterialien diskutiert, die in den vergangenen 30 Jahren in den Zeitschriften Praxis Geschichte und Geschichte lernen publiziert wurden.7
Gegenwartsbezug und Curriculum Zeitgeschichtliche Themen, deren Deutung bei der Aufnahme in die Lehrpläne mehr von der Gegenwart als von einer andersartigen Vergangenheit geleitet war, scheinen im Geschichtsunterricht weniger fest verankert zu sein als bereits länger tradierte Inhalte. Dieser Eindruck ist etwa im Vergleich mit den Klassikern der Antike zu gewinnen. Nach 1989/90 schwand mit dem gesellschaftlichen auch das curriculare Interesse an einer Problemgeschichte der „Weimarer Verhältnisse“, den 5 Das Onlineportal Geschichte kompakt wird nicht nur als Vorbereitung auf die Abiturprüfung empfohlen, sondern auch für die Unterrichtsvorbereitung: https://www.geschichte-abitur.de/weimarerrepublik (01.03.2023). 6 Mayer, Ulrich/Gautschi, Peter/Bernhardt, Markus: Themenbestimmung im Geschichtsunterricht der Sekundarstufen, in: Barricelli, Michele/Lücke, Martin (Hg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts, Bd. 1, Schwalbach/Ts. 2012, S. 378–404. 7 Der Beitrag ist eine überarbeitete Schriftfassung eines am 14.06.2019 gehaltenen Vortrages auf der Chemnitzer Tagung „Weimar als Ort der Demokratiegeschichte“. Diesem ging ein inspirierendes Telefonat mit Charlotte Bühl-Gramer voraus. Als Podcast ist der Tagungsbeitrag von 2019 nachzuhören: https://www.radio-unicc.de/sendereihe/news/die-weimarer-republik-als-ort-derdemokratiegeschichte-teil1/ (01.03.2023).
Die Weimarer Republik im Geschichtsunterricht
damit einhergehenden politischen Warnungen und historischen Bestätigungen aktuellen Handelns. Angesichts des weltweit erwarteten Siegeszugs von Demokratie, Liberalismus und Marktwirtschaft mutete die historisch-pädagogische Funktion Weimars als überholt an. In der Unterrichtszeitschrift Geschichte lernen stellte Hans-Jürgen Pandel 1991 heraus, dass die Weimarer Republik, „ihre zeitorientierende Kraft für unsere geschichtliche Orientierung verliert“ und „sich die Frage nach einer erneuten Beschäftigung mit Weimar besonders scharf “ stellt.8 In den Nullerjahren war für die Weimarer Republik und die europäische Zwischenkriegszeit bereits keine ausführliche Behandlung in den nunmehr kompetenzorientierten Lehrplänen mehr vorgesehen. Abgesehen vom Bundesland Baden-Württemberg wurde sie als eigenständige Epoche nur noch an Gymnasien unterrichtet.9 Da jedoch für die Geschichte des Nationalsozialismus dessen unmittelbare Vorgeschichte weiter für unverzichtbar gehalten wurde, richtete sich die Thematisierung der Weimarer Republik unter der Fragestellung, wie 1933 hatte geschehen können, auf ihre Endphase aus. Über den Lehrplanaspekt des Aufstiegs des Nationalsozialismus indessen war eine differenzierte Bedeutung der 1920er Jahre schwer zu erklären und zu vermitteln.10 Dem Geschichtsunterricht, der so zeitlich vom Ersten Weltkrieg zur NS-Zeit sprang, entsprachen die Befunde der Sinus-Jugend-Studie, die 2016 das Geschichtsverständnis der 14- bis 17-Jährigen untersuchte. Jugendliche dieser Altersgruppe assoziierten Geschichte allgemein und das 20. Jahrhundert im Besonderen vor allem mit dem Nationalsozialismus, dem Ersten und Zweiten Weltkrieg und mit einigem Abstand auch mit der DDR-Geschichte und der Mauer, aber nicht mit der Weimarer Republik als einer eigenständigen historischen Epoche des 20. Jahrhunderts.11
8 Pandel, Hans-Jürgen: Weimarer Republik – neue Perspektiven, in: Geschichte lernen 19 (1991), S. 17–25, hier S. 19. 9 Bernhardt, Markus: Sühne politischer Morde von links und rechts. Über einen Topos in den Lehrplänen zur Weimarer Republik, in: Handro, Saskia/Schönemann, Bernd (Hg.): Geschichtsdidaktische Lehrplanforschung. Methoden, Analysen, Perspektiven, Münster 2004, S. 153–163, hier S. 155. Zur Marginalisierung des Themas im Geschichtsunterricht außerdem Große Höötmann, Christian: Krisenjahre der Moderne. Didaktisch-methodische Überlegungen, in: Praxis Geschichte 21, H. 6 (2008): Weimarer Republik – Krise der Moderne, S. 12. 10 Reeken, Dietmar von: Zerstörung oder Scheitern einer Demokratie? Die Endphase der Weimarer Republik, in: Geschichte lernen 127 (2009): Ende der Weimarer Republik, S. 2–11. 11 Calmbach, Marc u.a. (Hg.): Wie ticken Jugendliche 2016? Lebenswelten von Jugendlichen im Alter von 14 bis 17 Jahren in Deutschland, S. 379. Open Access: https://link.springer.com/book/10.1007/ 978-3-658-12533-2 (01.06.2019).
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Die Wiederentdeckung der Weimarer Republik als Lehrplanthema12 ist zum Teil dem Effekt historischer Jubiläen geschuldet. Die 100. Jahrestage der Revolution 2018 und der Reichsverfassung 2019 brachten die erwartete wissenschaftliche und geschichtskulturelle Aufmerksamkeit. Sie traf dabei auf ein zunehmendes Interesse an einer Demokratiegeschichte, die das historische Ringen um mehr Rechte und Freiheiten, Gleichheit und Partizipation vergegenwärtigt. Die Rückschläge und das Scheitern einschließend sollen so historische Erklärungen für die Genese der heutigen liberal-demokratischen Ordnung und der sozialen Demokratie gewonnen werden. Zahlreiche Forschungsaktivitäten und Vermittlungsprojekte zur Weimarer Republik werden daher von jüngeren Einrichtungen der historisch-politischen Bildung wie der neugegründeten Bundesstiftung „Orte der deutschen Demokratiegeschichte“, der „Forschungsstelle Weimarer Republik“ und dem Verein „Gegen Vergessen – für Demokratie“ initiiert und gefördert.13 Neue Erkenntnisse über die Vielschichtigkeit und Umstrittenheit dieser Epoche werden indessen vor allem anhand neuerer Forschungstheorien und Methoden der politischen Kulturgeschichte, Genderforschung, historischen Semantik und der transnationalen Raum- und Globalgeschichte generiert.14
Historische Kontextualisierung und Mehrdimensionalität Dabei bleibt ungewiss, wie und ob der neue Boom der Weimarforschung die im Unterricht verfestigte Versagens- und Verfallsgeschichte irritieren kann. Bereits im alternativen Deutungsrahmen Weimars als Experimentierfeld der Moderne haben zwar die kultur- und sozialgeschichtlichen Zusammenhänge der 1920er Jahre ihren Platz in aktuellen Geschichtslehrbüchern gefunden.15 Die Impulse, die von der Weimarer Republik für die heutige Lebenswelt ausgingen, sind für die Lernenden jedoch nicht ohne Weiteres nachvollziehbar. Sie haben sich im Geschichtsunterricht zuletzt mit der Kultur der Renaissance und des Barocks befasst, nicht aber mit der
12 Etwa in Nordrhein-Westfalen: Ministerium für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.): Kernlehrplan für die Sekundarstufe I. Gymnasium in Nordrhein-Westfalen. Geschichte (2019): Inhaltsfeld 7: Weimarer Republik, S. 18. 13 Mit dem Ziel der Etablierung eines Forschungsverbundes Deutsche Demokratiegeschichte im Februar 2023 die Tagung: Ansätze, Methoden und Forschungsfelder einer interdisziplinären Demokratiegeschichte, in: H-Soz-Kult, 16.01.2023, www.hsozkult.de/event/id/event-133052. 14 Komprimiert aufbereitet auf knapp tausend Seiten ist die neue Weimarforschung in Rossol, Nadine/ Ziemann, Benjamin (Hg.): Aufbruch und Abgründe. Das Handbuch der Weimarer Republik, Darmstadt 2021. 15 Kenkmann, Alfons: Die Weimarer Republik. „Hexenküche“ und Laboratorium der Moderne. Basisbeitrag, in: Praxis Geschichte 6 (2008), S. 4–9; Becker, Sabrina: Experiment Weimar. Eine Kulturgeschichte Deutschlands 1918–1933, Darmstadt 2018.
Die Weimarer Republik im Geschichtsunterricht
vorausgegangenen Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts. Das betrifft den Historismus, die völkische Heimatkunstbewegung oder den wilhelminischen Stil in der bildenden Kunst und Architektur des Kaiserreichs. Der kulturelle Wandel und das, was als Signatur der Moderne gilt, werden ohne diesen Vergleich nicht erkennbar. Darüber hinaus hängt die unterrichtliche Beschäftigung mit Kultur, Wissenschaft, Mentalitäten und gesellschaftlichem Zeitempfinden gedanklich in der Luft, weil die Weimarer Kultur vom Bauhaus bis zur UFA mit der politischen Entwicklung nicht verbunden wird. „Gab es die ‚Goldenen Zwanziger Jahre‘?“, lautet eine eher rhetorisch gestellte Leitfrage aus einem aktuellen Lehrbuch zur Weimarer Republik.16 Außer der kulturellen Moderne wird auch die Einführung des aktiven und passiven Frauenwahlrechts als Errungenschaft der Weimarer Republik thematisiert und den Schattenseiten Weimars als Lichtblick gegenübergestellt. Was der Gleichheitsgrundsatz für die politische Partizipation von Frauen, die Gleichberechtigung der Geschlechter und für neue Männer- und Frauenbilder bedeutete, wird indessen nicht weiter vertieft. Frauen werden nur noch abgebildet als androgyne Models oder beim sogenannten „Tanz auf dem Vulkan“, ein Bild, das eine karnevaleske Ekstase als Wesen der Kultur von Weimar suggeriert.17 So wird nicht thematisiert, dass die Weimarer Moderne die eingelebten Bindungen, ästhetischen Wahrnehmungen und alten Gewissheiten strapazierte und daher alles, was die Avantgarde, das Neue und Liberale verkörperte, zeitgenössisch umkämpft und umstritten war. Einer Kulturgeschichte ohne Kulturkampf fehlt die politische Dimension. In der klassischen Orientierung vieler Unterrichtstunden auf die Verfassung und das Parteiensystem geraten dagegen die Kultur und das Alltägliche aus dem Blick. Unsichtbar bleiben so auch die Verluste an wissenschaftlicher und kultureller Vielfalt, die durch die Vertreibungs- und Verfolgungspolitik und eine selektive Aneignung der Moderne in der NS-Zeit verursacht wurden.
Methodenlernen als Schwerpunktsetzung Als deutungswirksam kristallisieren sich die medial-methodischen Schwerpunktsetzungen heraus, die im Geschichtsunterricht unerlässlich sind, da nur schrittweise und exemplarisch das selbständige historische Arbeiten mit Quellen und Darstellungen erlernt und eingeübt werden kann. Methoden der Bildinterpretation werden vorzugsweise an Plakaten und Karikaturen vertieft und geübt. Die beiden Bildgattungen bestimmen wesentlich das visuelle Arsenal, mit dem die Weimarer Republik
16 Das waren Zeiten 3. Ausgabe Thüringen (2014), S. 56. 17 Rossol, Nadine/Ziemann, Benjamin: Einleitung, in: Diess.: Aufbruch und Abgründe, S. 9–37, S. 19 und zur Begriffsprägung, S. 34.
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in Geschichtslehrbüchern und didaktischen Handreichungen dargestellt wird. Karikaturen werden aufgegriffen, um zu zeigen, wie politische Konflikte angefacht und in die Gesellschaft vermittelt wurden.18 Wahlen werden im Spiegel der Wahlplakate behandelt und diese vornehmlich mit einer Fragmentierung des Weimarer Parteiensystems gleichgesetzt. Die gewaltsame Ikonographie verweist darauf, dass Gewalt und Krieg als Erfahrungen des Ersten Weltkriegs als Vorstellungen präsent und jederzeit abrufbar gewesen sind.19 Das konträre Erleben und der Wunsch nach Frieden bleiben demgegenüber unterbelichtet. Für den Pazifismus der Weimarer Republik fehlen in dem meisten Schulgeschichtsbüchern nicht nur die Quellen, sondern bereits einfache Hinweise darauf, dass es eine Friedensbewegung und mit Gustav Stresemann 1926 und Alfred Quidde 1927 zwei Friedensnobelpreisträger aus Deutschland gegeben hat.20 Um die Geschichte der Weimarer Republik in der Lebenswelt heutiger Schülerinnen und Schüler zu verankern, bedarf es eines inhaltlich breiteren, schülerorientierten Ansatzes.21 Dieser weist über die klassische politische Periodisierung mit omnipräsenten Plakaten und Karikaturen hinaus und stellt einen Bezug zu ähnlichen und andersartigen Erfahrungen heutiger Kinder und Jugendlicher her. Auf dem Bildungsportal „Das Tagebuch der Eva Schiffmann 1920–1930“22 etwa lässt sich anhand der privaten Aufzeichnungen einer deutsch-jüdischen Teenagerin aus Gotha begreifen, wie Gleichberechtigung, Schulreformen, neue Männerund Frauenbilder, Jüdischsein, Kino, Mode, Sport und Tanz ein anderes Selbstbild und jugendliche Zukunftsvorstellungen prägten. Mit der Weimarer Republik wurden die Möglichkeiten zu lernen, zu arbeiten, zu lieben, sich zu kleiden nicht nur in Berlin, sondern auch in einer deutschen Kleinstadt vielfältiger und freier. Trotz der oft prekären sozialen und wirtschaftlichen Umstände und der politischen wie alltäglichen Widerstände, die in Eva Schiffmanns Tagebuch nicht ausgespart blieben, wuchs damit zugleich der Entscheidungsdruck, der auf den Einzelnen
18 Siehe u. a. Büscher, Tanja: Die Ruhrbesetzung im Spiegel zeitgenössischer Karikaturen, in: Geschichte lernen 77 (2000), S. 53–57. 19 Paul, Gerhard: „Prolet-Arier“. „Mjölnir“, Body Politics und die Bilderwelt der „Generation der Unbedingten“, in: Ders.: BilderMacht. Studien zur Visual History des 20. und 21. Jahrhunderts, Göttingen 2013, S. 45–100. 20 Angekündigt als „eine echte Neuentdeckung“ wurde das Thema zuletzt didaktisch aufgearbeitet in der Unterrichtszeitschrift Praxis Geschichte 11, H. 3 (1997), zit. S. 7. 21 Den Kommentierungen des ersten Erklärvideos zur Weimarer Republik auf dem YouTube-Kanal Wissen2go zufolge richtete sich das Interesse jugendlicher User vor allem auf ein zu lernendes Schulthema, das als besonders schwierig galt, im Unterricht kaum zu verstehen war und nicht in der Lebenswelt verankert schien. Wissen2go: Die Weimarer Republik: https://www.youtube.com/ watch?v=7WXxDy31Ygk (01.06.2019). 22 Neun Jahrhunderte jüdisches Leben in Thüringen: https://www.juedisches-leben-thueringen.de/ projekte/das-tagebuch-der-eva-schiffmann/ (01.03.2023).
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lastet, sich für oder gegen etwas entscheiden zu müssen. Diesen Grundkonflikt eines modernen Lebens trug Eva Schiffmann in ihrem Tagebuch mit sich aus: Als Tochter einer kleinbürgerlichen Familie fühlte sie sich im thüringischen Gotha gut in ihr soziales Umfeld eingebettet, gleichwohl es auch in dieser Kleinstadt während der gesamten Weimarer Republik immer wieder antisemitische Angriffe – und öffentlich gemachte Ablehnung von Antisemitismus – gegeben hat. Im Gegensatz zum Topos der gescheiterten und ungeliebten Republik werden aus der zeitgenössischen Perspektive dieser jungen jüdischen Frau die Offenheit von Geschichte und die Risiken ungewisser gesellschaftlicher Zukunft begreifbar, wodurch auch ein diagnostisches Gespür für die Gegenwart zu gewinnen ist. Am 13. September 1929 notierte Eva Schiffmann in ihr Tagebuch: „Ich möchte auch das Gefühl nicht haben, daß mir irgendein Weg verschlossen ist; ich möchte die Möglichkeit zu allem.“23 Für ihre optimistische Erwartung an ein erfülltes Leben gab es Ende der 1920er Jahre noch viele gute Gründe. Die NS-Diktatur und der Holocaust waren noch nicht absehbar.
Historische Darstellungsverfahren und Fachbegriffe Mit Mentalitäts-, Alltags- und Sozialgeschichte kommen Perspektiven zum Zuge, die die chronologische und ereignisgeschichtliche Erzählung aufbrechen und die Weimarer Republik aus dem vorherrschenden engen Verweis auf den nachfolgenden NS-Staat holen.24 Ein Thema, das dafür besonders geeignet scheint, ist auch die überstandene Krise 1923, die in einem mehrdimensionalen und multiperspektivischen Querschnitt durch ein Jahr behandelt wird.25 Allerdings wird oft formelhaft nur von den Krisen der Weimarer Republik gesprochen. Die daraus resultierende Gleichsetzung der Krise am Anfang mit der Krise am Ende Weimars ist ein Grundproblem historischer Wahrnehmung, das sich erfahrungsgemäß bei Lernenden „zugespitzt wiederfindet, indem sie nicht selten zum Beispiel […] Inflation und Weltwirtschaftskrise verwechseln“26 . Der Begriff Krise wird als eine gegebene und fest definierte Referenzgröße gehandhabt, dessen zeitgenössische Deutungsangebote und Wirkungsabsichten nicht hinterfragt werden. Die Einsicht, dass Krisen verursacht, verkannt bzw. ignoriert und Krisengefühle auch herbeigeredet werden können, um Veränderungsdruck zu erzeugen, wird trotz der Sensibilisierung für die Bedeutung von Sprache für das
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Stadtarchiv Gotha 8.1.16/1 Tagebuch Eva Schiffmann (1925–1930). Mayer, Ulrich: 1923, in: Geschichte lernen 77 (2000), S. 12–17. Praxis Geschichte 5, H. 2 (1992) und Geschichte lernen 77 (2000). Geiger: Das Bild von der Weimarer Republik, zit. S. 169.
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Geschichtslernen in der geschichtsdidaktischen Forschung27 kaum angestoßen.28 Impulse für eine analytische Begriffsverwendung setzte dagegen die Ausschreibung des Geschichtswettbewerbs des Bundespräsidenten 2018/19 „So geht’s nicht weiter. Krise. Umbruch. Aufbruch“.29
Multiperspektivität und Kontroversität Der historische Determinismus einer Weimarer Verfalls- und Versagensgeschichte ist außerdem problematisiert worden, indem die Anfangs- und Endphasen der Weimarer Republik einem kontrafaktischen Geschichtsdenken unterzogen wurden.30 Das ambitionierte Unterfangen eines komplexen Deutungsrahmens verhindert jedoch der Überhang von Historikerurteilen, auf die Schulgeschichtsbücher rekurrieren, sobald die wirkliche oder nur scheinbare Offenheit historischer Entscheidungssituationen thematisiert wird. Wissenschaftliche Kontroversität wird dabei nicht mit der entsprechend multiperspektivischen Quellenauswahl verknüpft, die es Lernenden ermöglichen würde, die historischen Deutungen und Urteile ansatzweise zu verstehen und eigenständig zu beurteilen. Stattdessen folgt die Quellenauswahl einer „Chrono-Logik“, aus der sich eine vermeintlich zielgerichtete Entwicklung ergibt. Während für die ersten Jahre der Weimarer Republik die Positionen der linken und rechten Republikgegner ausführlich dokumentiert werden,31 sind es für das Ende Weimars die Quellen, die Strategien und Erfolge der Nationalsozialisten belegen.32 Insofern diese im Vergleich zur handlungsschwachen und
27 Zum Krisenjahr 1923 insbesondere in der Studie von Barricelli, Michele: Schüler erzählen Geschichte. Narrative Kompetenz im Geschichtsunterricht, Schwalbach/Ts. 2005, S. 245–254 und 368–383. 28 Exemplarisch dafür diese Relevanzsetzung in Geschichte lernen 2009: „Weltweite Finanzkrise, zusammenbrechende Banken, drohende wirtschaftliche Rezession – solche Meldungen bestimmen aktuell die Medien. Und sie haben gewisse Parallelen zum Jahr 1929, das als Anfang vom Ende der Weimarer Republik gilt. Doch müssen wir uns heute ernsthaft davor fürchten, dass die Krise auch das Staatswesen zerstören könnte?“, in: Wohne, Kerstin: Editorial, in: Geschichte lernen 127 (2009), S. 1. 29 Himmelrath, Armin: Vorsicht, Krisenprofiteure, in: Spurensuche. Magazin für historisch-politische Bildung 32 (2018), S. 20. 30 Sabrow, Martin: Hoffnungsloses Ende oder verpasster Anfang? Weimars Niedergang als didaktische Herausforderung. Basisbeitrag, in: Niedergang der Weimarer Republik. Praxis Geschichte 15, H. 6 (2002), S. 6–12, hier S. 7. 31 Ausgewogener in der multiperspektivischen Auswahl dagegen eine für den Unterricht aufbereitete Quellensammlung des Bundesarchivs von Zahnhausen, Vera/Woelk, Wolfgang/Müller, Gisela: Die Weimarer Republik. Revolution, parlamentarische Demokratie und erste Bewährungsproben. Deutsches Reich (1918–1920), Schwalbach/Ts. 2021. 32 Geiger: Das Bild von der Weimarer Republik, S. 175.
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fragmentierten Republik dadurch oft als moderner, einheitlicher und durchsetzungsfähiger erscheinen, werden unbewusst antidemokratische Ressentiments und neurechte Geschichtsklitterungen mitbedient.33 Vereinzelt wurden im neuen Lernfeld Geschichts- und Erinnerungskultur populäre Formen des Gedenkens am 9. November und die umstrittene Bestimmung eines Nationalfeiertags aufgegriffen,34 überwiegend gewichten Schulgeschichtsbücher jedoch die großen Auseinandersetzungen der Forschungsgeschichte, deren alte Fragen sie in neuem Gewand aufgreifen. Dazu zählen unterschiedliche Bewertungen des Versailler Vertrages,35 Meinungsdifferenzen über die politischen Handlungsspielräume in der Revolution, wie weit das Scheitern der Weimarer Republik 1918/19 bereits vorprogrammiert gewesen sei und ob heute noch Weimarer Verhältnisse zu befürchten sind.36 Abweichende Argumente und Urteilsbegründungen werden in der Regel nicht auf geschichtstheoretische Vorannahmen über Lehren aus der Geschichte, die Verschränkung von Geschichtspolitik und Geschichtsschreibung, über strukturgeschichtliche Bedingungen und individuelle Handlungsspielräume, Kausalität und Kontingenz zurückgeführt. Unbeachtet bleiben auch Revisionen historischer Erkenntnisse und Darstellungen aufgrund innovativer Untersuchungsmethoden. So hat etwa der neue Umgang mit historischen Fotos zu einer Neubewertung der Republikausrufung durch Philipp Scheidemann geführt. Im Anschluss an die 2018 entflammte Kontroverse über die Bestimmung des Faktischen und Symbolischen am historischen Bild, hat Christoph Hamann die wenig quellenkritische Distribution des Scheidemann-Fotos vom Balkon des Reichstages in Lehrbüchern aufgedeckt.37 Verlage tun sich hier oft schwer mit der Dynamik und Differenziertheit wissenschaftlicher Analysen und Debatten, die die Grenzen des Schulgeschichtsbuch als Medium tangieren. Nicht zuletzt leitet das verlegerische Alltagsgeschäft ein wirtschaftliches Kalkül,38 mit dem auf Wiedererkennungseffekte und eindeutige Positionierung gesetzt wird.
33 Ulrich, Sebastian: Stabilitätsanker und Hysterisierungsagentur. Der Weimar-Komplex in der Geschichte der Bundesrepublik, in: Hochmuth, Hanno/Sabrow, Martin/Siebeneichner, Tilmann (Hg.): Weimars Wirkung. Das Nachleben der ersten deutschen Republik, Göttingen 2020, S. 182–196, S. 196. 34 Welcher Nationalfeiertag?, in: Brückner, Dieter/Focke, Harald (Hg.): Das waren Zeiten 3, Ausgabe Thüringen (2014), S. 296. 35 Laschewski-Müller/Rauth, Robert (Hg.): Kursbuch Geschichte. Neue Ausgabe. Von der Antike bis zur Gegenwart, Berlin 2015, S. 348 f. 36 Baumgärtner, Ulrich u. a. (Hg.): Horizonte. Geschichte für Gymnasien in Hessen und im Saarland, Bd. 4, 2023, S. 68. 37 Hamann, Christoph: Die Ausrufung der Republik. Fakten, Fiktionen und Irritationen – Anmerkungen zu Philipp Scheidemanns Rede vom 9. November und deren Rezeption, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 17 (2018), S. 120–134. 38 Geiger: Das Bild von der Weimarer Republik, S. 129.
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Lokale, nationale, europäische und globale Perspektiven Schließlich kristallisieren sich die räumlichen Perspektiverweiterungen der Forschung39 heraus, die durch lokale und transnationale Rekonstruktionen eine Erweiterung und Relativierung der Sicht auf das Reich bieten. Anstatt Eigenlogiken und partikulare Traditionen erkennbar zu machen, setzen lokalgeschichtliche Zugänge im Geschichtsunterricht jedoch vornehmlich auf die Veranschaulichung und Konkretion einer maßstabsetzenden Krisengeschichte des Reiches.40 Unter dieser Prämisse werden lokale Ereignisse ausgewählt, die bereits zum Zeitpunkt des Geschehens eine nationale Bedeutung hatten, wie das Gedenken an Albert Schlageter oder der Hitler-Ludendorff-Putsch in München.41 Kaum in Anschlag gebracht werden enttopoisierende Fallanalysen, wie sie etwa aus den stabilen Regierungsverhältnissen vieler Länder und Kommunen zu gewinnen wären. Warum Regierungsbildung und Parlamentarismus im Vergleich zur Reichsebene mancherorts besser funktionierten und welche Faktoren die Demokratie attraktiv bzw. unattraktiv gemacht hätten, wird dementsprechend nicht gefragt. Auch ist über den europäischen Kontext eine Einordnung der nationalen Entwicklung in der Zwischenkriegszeit angestoßen worden. Demnach sind der Legitimitätsverfall des Liberalismus und rassistische Ideologien auch als gesamteuropäische Erscheinungen zu verstehen. Die Frage, warum andere Länder der Versuchung einer autoritären Politik widerstanden und Europa in zwei ungleiche Lager, in das der Verfassungsstaaten und in das der Diktaturen, zerfiel, wird jedoch bestenfalls von Schüler:innen der gymnasialen Oberstufe untersucht. In anderen Schulformen sind die Beurteilung der Singularität Weimars und Vergleiche zur Anfälligkeit europäischer Länder für das Experiment der Diktatur nicht vorgesehen.42 Für eine vertiefte Beschäftigung mit unterschiedlichen Diktaturkonzepten der Zwischenkriegszeit, zu denen die 1918 angestrebte Räterepublik als Auslegung einer Diktatur des Proletariats43 ebenso gehört wie die europäischen faschistischen Bewegungen,44 fehlen am Ende auch Unterrichtszeit und Lernmaterialien. Der 39 Globalität wird derzeit in der Forschung in dreierlei Hinsicht thematisiert: in Bezug auf den Kolonialismus, internationale Organisationen, die intellektuelle und ästhetische Aneignung von Welt. Cornelißen, Christoph/van Laak, Dirk (Hg.): Weimar und die Welt. Globale Verflechtungen der ersten deutschen Republik, Göttingen 2020. 40 John, Anke: Die Region – eine Maßstabsgröße historischen lernens?, in: Reitemeier, Arnd (Hg.): Landesgeschichte und public history, Ostfildern 2020, S. 59–74, hier S. 72 f. 41 Mayer: 1923, S. 12–17, hier S. 17. 42 Neuhaus, Friedemann: Die europäische Zwischenkriegszeit im Unterricht, in: Praxis Geschichte 16, H. 2 (2003), S. 4 f. 43 Geiss, Maximilian: Jawohl Diktatur!, in: Geschichte lernen 175 (2017), S. 38–42. 44 Mai, Gunther: Flucht in die Unfreiheit: Europa 1918–1939. Ein Kontinent zwischen Monarchie, Republik und Diktatur, in: Praxis Geschichte 16, H. 2 (2003), S. 6–11.
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Nationalsozialismus ist das in Unterricht und Geschichtskultur dominierende Beispiel für eine Diktatur, das mit den NS-Massenverbrechen und dem Führerkult zwei spezifische Begriffsmerkmale akzentuiert. Daraus folgen Schwierigkeiten nicht nur der Lernenden, das Gegenkonzept Demokratie von anderen autoritären und diktatorischen Ordnungen des 20. und 21. Jahrhunderts abzugrenzen.45
Lernen Um den Topos „Weimar“ im Resümee zu vermeiden, soll nicht auch noch vom geschichtsdidaktischen Scheitern die Rede sein. Die Weimarer Republik ist als Epoche in den Lehrplänen zurück. Damit hat auch ihre kanonische Deutung als Krisen- und Verfallsgeschichte eine Renaissance erfahren, obwohl seit dem Standardwerk von Detlev Peukert (1987)46 neue Forschungszugänge und historische Erkenntnisse ihren Weg in die Schulgeschichtsbücher gefunden haben. Um im Geschichtsunterricht ein differenziertes Weimarverständnis anzuregen, müssten die fachdidaktischen Transferbedingungen berücksichtigt werden, die sich aus der Vermittlungsgeschichte der zurückliegenden drei Jahrzehnte ergeben. Es gilt daran anschließend herauszufinden, wie die Vielgestaltigkeit und emanzipatorische Kraft der Weimarer Republik mit ihrer Ablehnung und Diffamierung zu kontextualisieren ist, wie exemplarisch vermittelt werden kann, dass Aufbruch und Abgründe, Neues und Konventionen, Liberalisierung und Repression nah beieinander lagen. Die Frage nach den Lehren und dem Signum der Epoche wird sich angesichts vielschichtiger Nuancierungen kaum einheitlich beantworten lassen. Das erfordert Anerkennung von Komplexität und Pluralität sowie eine historische Urteilsbildung47 , die in der Themenbestimmung mehr Multiperspektivität in der Quellenauswahl, mehrdimensionales Denken, Begriffsreflexion, Analogiebildung und Alteritätserfahrung beim Gegenwartsbezug historischen Lernens erfordert.
45 Vgl. die Studie von Klausmeier, Kathrin: So eine richtige Diktatur war das nicht … Vorstellungen Jugendlicher von der DDR. Geschichtspolitische Erwartungen und empirische Befunde, Göttingen 2020. 46 Peukert, Detlev J.K.: Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne, Frankfurt a. M. 1987. 47 Siehe dazu den Beitrag von Mona Kilau: „Urteilsbildung im Lehrplan – Synergieeffekte nutzen“ in diesem Band.
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„Werturteil“ als historische Unmöglichkeit? – Urteilskompetenz als Forderung an den Geschichtsunterricht Geschichtsrevisionismus, Geschichtsklitterung und die Verzerrung vor allem in Bezug auf die Beurteilung der NS-Vergangenheit wird im öffentlichen Diskurs beklagt und erneut in der letzten MEMO-Studie V vom Juli 2022 beobachtet.1 Die Studienauswertung zu der Aussage „Ich finde es berechtigt, wenn das Leiden der deutschen Bevölkerung während der Corona-Pandemie mit dem Leid der Menschen während der NS-Zeit verglichen wird“, zeigt, dass etwas mehr als jede:r zehnte Befragte (11,3 %) in der vorliegenden Studie Vergleiche zwischen dem Leid der Menschen in der NS-Zeit und dem Leiden der deutschen Bevölkerung während der Corona-Pandemie als legitim [empfindet] oder […] diese nicht ab[lehnt].2
Dies führt zu der provokanten Frage, ob die Urteilsbildung im Geschichtsunterricht bei diesem Zehntel der Befragten versagt hat. Nun ist die Aussage „Ich finde…“ wohl eher als Meinung einzuschätzen und hat daher nach Kant das Anrecht, als ein „sowohl subjektiv als objektiv unzureichendes Führwahrhalten“3 zu gelten, das keiner triftigen Begründung bedarf. Gleichzeitig evoziert das Verb „vergleichen“ und die Beifügung „berechtigt“, bezogen auf einen historischen Sachverhalt, dass es sich hier doch um ein Urteil handeln könnte. Die oben geäußerte provokante Frage soll jedoch deutlich machen, dass auf der Basis von Fakten zum Unrechtsregime unter den Nationalsozialisten in Deutschland von 1933 bis 1945 im Vergleich mit den Hygienemaßnahmen und Impfempfehlungen der Bundesregierung zu
1 Papendick, Michael/Rees, Jonas/Scholz Maren u.a.: MEMO V 2022, Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) Universität Bielefeld, 2022, v. a. S. 18 ff.: https://www.stiftungevz.de/assets/1_Was_wir_f%C3%B6rdern/Bilden/Bilden_fuer_lebendiges_Erinnern/MEMO_ Studie/MEMO_5_2022/evz_brosch_memo_2022_de_final.pdf (20.01.2023). 2 Zit. nach Papendick: MEMO, S. 32. 3 Zit. nach: Philosophisches Wörterbuch, hg. Schischkoff, Georgi, Stuttgart 1978, Stichwort: „Meinen“ S. 444.
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Zeiten der Corona-Pandemie im März 2020 bis April 20234 eine solche Äußerung weder wissenschaftlich haltbar noch belegbar und darauf fußend auch ethisch in ihrer historischen Dimension eben nicht „berechtigt“ ist. Damit besitzt die oben zur Auswahl stehende Stellungnahme im Sinne eines historischen Werturteils weder empirische noch normative Triftigkeit. Im öffentlichen Diskurs und in den schnelllebigen Äußerungen, die über die sozialen Netzwerke verbreitet werden, ist die Grenze von Meinen, Glauben und Urteilen jedoch fluide geworden. In Bezug auf historische Sachverhalte hat das Auswirkungen auf die politische Kultur und Mehrheitsbildung und kann, glaubt man Politologen und Soziologen – auch angesichts der oben genannten Studie – zu einer Gefährdung der Demokratie werden.5 Ein Werturteil, das auf gegenwärtigen Normen und subjektiv reflektierten Wertmaßstäben gründet, das eine subjektive, moralische, ästhetische oder gar politische Positionierung formuliert, wurde in der Geschichtswissenschaft lange als nicht wissenschaftlich, nicht objektiv angesehen. Der Didaktiker H.-J. Pandel verweist jedoch in diesem Zusammenhang auf die wissenschaftstheoretische Diskussion um das „praktische Werturteil“, das eine in die Zukunft gerichtete Handlungsempfehlung sei, das aus der Vergangenheit heraus in der Gegenwart für die Öffentlichkeit formuliert wird.6 2018 wurde auf dem Historikertag in Münster von der Historikerzunft die bis dahin postulierte Forderung nach „Werturteilsfreiheit“ nicht nur sehr kontrovers diskutiert, sondern angesichts des zu beobachtenden Rechtsrucks in Deutschland im Zusammenhang mit der Diskriminierung von Geflüchteten und der damit verbundenen Sorge um die bundesdeutsche Demokratie mit einer Resolution vom Historikerverband (VHD) aufgegeben. Als Begründung für diese Abkehr von der „Werturteilsfreiheit“, die verstärkt seit Max Weber immer wieder mit dem Hinweis auf die Unabhängigkeit der Wissenschaft/Forschung und auch auf die Vermeidung von Subjektivität in der Wissenschaft betont worden war, wurde die kritische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, die nicht werturteilsfrei verlaufen kann und die zur Stabilisierung der Demokratie nötig war und ist, benannt7 . Damit sollte kein Ausverkauf der Wissenschaftlichkeit einhergehen. So wird vom VHD am Ende der Resolution, konstatiert: 4 Die Bundesregierung. Infektionsschutzgesetz: https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/ coronavirus/corona-regeln-und-einschrankungen-1734724 (20.01.2023). 5 Vgl. Zustand der Demokratie. APuZ 71, H. 26–27 (2021), darin v. a. Ritzi, Claudia: Zum Zustand demokratischer Öffentlichkeit, S. 18–23. 6 Pandel, Hans-Jürgen: Geschichtstheorie. Eine Historik für Schülerinnen und Schüler – aber auch für ihre Lehrer, Schwalbach/Ts. 2017, S. 204 f. Dabei bezieht er sich auf Max Weber: Der Sinn der Wertfreiheit der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften [1917], in: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 5 1982, S. 451–502, hier S. 499. 7 Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD). Resolution des VHD zu gegenwärtigen Gefährdungen der Demokratie vom 05.10.2018: https://www.historikerverband.de/
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Ihre [gemeint ist die Geschichtswissenschaft] Erkenntnisse beruhen auf quellenbasierter Forschung und stellen sich der kritischen Diskussion. Nur so ist es möglich, die historischen Bedingungen unserer Demokratie auch zukünftig im Bewusstsein zu halten und gegen ‚alternative Fakten‘ zu verteidigen.8
Diese sich in Teilen der Zunft veränderte Haltung zum Werturteil führte zu einer Diskussion in der Fachwissenschaft, wie auch in der Öffentlichkeit.9 Im Bereich der Fachdidaktik stellte Holger Thünemann 2020 daraufhin die pointierte Frage „Und was bedeutet der Auszug aus der akademischen ‚Komfortzone‘ für die Norm der historischen Objektivität?“10 Und er formulierte für die Fachdidaktik der Geschichte die zentrale Frage, ob die Werturteilsbildung eine „Teiloperation des historischen Denkens, die für die Arbeit von Geschichtswissenschaftlern konstitutiv ist, oder eher […] eine fachfremde Denkleistung bzw. Sprachhandlung“ sei.11 Die wissenschaftstheoretische Diskussion um historische Denkoperationen und Sprachhandlungen in Bezug auf die Urteilsbildung allgemein spiegelt sich in einer Vielzahl von begrifflichen Kontroversen wider und nimmt inzwischen einen hier nicht abbildbaren, breiten Raum ein. Die Urteilsbildung selbst ist jedoch jenseits der Diskussion um das Werturteil in der Geschichtswissenschaft seit den 1970er Jahren fester Bestandteil historischen Lernens.12 Hinlänglich besteht Einigung darüber, dass nur auf einer multiperspektivisch angelegten Quellenanalyse, die einer historischen Fragestellung folgt, ein Sachurteil gebildet werden soll.13 Auf dieser Basis kann unter Berücksichtigung von zeitlichen Perspektiven und unter Offenlegung von Bewertungskategorien und Normen ein standortgebundenes reflektiertes und zugleich reflexives Werturteil gefällt werden.14 Reflektiert, da das
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mitteilungen/mitteilungs-details/article/resolution-des-vhd-zu-gegenwaertigen-gefaehrdungender-demokratie.html (22.01.2023). Ebd., S. 2. Eine Zusammenfassung dazu gibt Sandkühler, Thomas: Historiker*innen und Politik. Streit um eine aktuelle VHD-Resolution, in: Public History Weekly 6, 2018, 31, dx.doi.org/10.1515/phw-201812675 (22.01.2023). Thünemann, Holger: Historische Werturteile. Positionen, Befunde, Perspektiven, in: GWU 71, H. 1/2 (2020), S. 5–18, hier S. 5. Ebd., S. 6. Davon ausgehend wird eine begriffliche Präzisierung und eine Unterscheidung von Sachund Werturteil vorgenommen. Weymar, Ernst: Werturteile im Geschichtsunterricht, in: GWU 21 (1970), S. 198–215. Vgl. Conrad, Franziska: Perspektivübernahme, Sachurteil und Werturteil. Drei zentrale Kompetenzen im Umgang mit Geschichte, in: GL 139 (2011) Sammelband, S. 4–13. Einen Überblick über die Entwicklung der Diskussion zur Urteilsbildung bis 2010 gibt Anne Lützelberger in: Dies.: Urteilsbildungsmodelle für den Geschichts- und Politikunterricht – eine Dokumentation fachdidaktischer Diskussion, in: Dies./Mohr, Deborah (Hg.): Politisch-historische Urteilskompetenz in Theorie und Praxis. Beiträge zu einer aktuellen fachdidaktischen Diskussi-
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Urteilen Dekonstruktionsleistungen beinhaltet, und reflexiv, weil der Prozess der Urteilsbildung dem Modus der Abgeschlossenheit widerspricht. Anke John hat zudem dazu aufgerufen, auch die historischen Inhalte selbst in den Blick zunehmen, die von Kindern und Jugendlichen überhaupt argumentativ verarbeitet und somit „beurteilt“ werden können.15 In der Fachdidaktik existiert inzwischen eine sehr ausdifferenzierte Forschungsdiskussion, die auf der Theorieebene interessant und notwendig ist, aber nur einige wenige praktikable Handlungsschritte für die Ausbildung von Lehrkräften bereithält.16 Die Voraussetzungen und Gütekriterien für ein Sach- und Werturteil17 bzw. Referenzen für die historischen Denkhandlungen und ein kaum einlösbarer Objektivitätsanspruch nach wissenschaftlichen Standards18 sowie die Qualitätsforderungen an die sprachliche Argumentationsstrategien von Schülerinnen und Schüler sind zuweilen so komplex formuliert, dass bei den Lehrkräften oft eine Verunsicherung und Überforderung hinsichtlich der Operationalisierbarkeit der Urteilsbildung besteht. Die Konsequenz ist im schlechtesten Fall der Griff nach unwissenschaftlichen Präkonzepten, sodass die Schülerinnen und Schüler in der Vertiefungsphase der letzten fünf Minuten im Unterricht nur noch nach ihrer Meinung zu einem historischen Sachverhalt gefragt werden.19
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on, Hohengehren 2011, S. 34–67. Vgl. Neueres v. a. von Winklhöfer, Christian: Urteilsbildung im Geschichtsunterricht, Frankfurt a. M. 2020. John, Anke: Historische Urteilsbildung. Wertewandel und historische Darstellungsfragen, in: Dickel, Mirka/John, Anke/May, Michael u. a. (Hg.): Urteilspraxis und Wertmaßstäbe im Unterricht. Ethik, Englisch, Geographie, Geschichte, politische Bildung, Religion, Frankfurt a. M. 2020, 104–127, hier S. 101. Auch die zuletzt 2020 beschriebenen Unterrichtsbeispiele von Christian Winklhöfer, in: Ders.: Urteilsbildung, S. 46–75, sind sehr gut nachvollziehbar, weisen aber ein sehr komplexes Unterrichtssetting auf, das sich inhaltlich wie vom Zeitaufwand nur selten in den „normalen“ problemorientierten Phasen-Unterricht einfügen lässt, wenngleich der gedankliche Aufbau sehr hilfreich ist für die Modellierung von Unterricht. Eindrucksvoll ist die tabellarische Zusammenstellung aller Gütekriterien von Anne Lützelsberger, die sie nach Gosmann, Winfried: Überlegungen zum Problem der Urteilsbildung im Geschichtsunterricht, in: Bergmann, Klaus/Rüsen, Jörn (Hg.): Geschichtsdidaktik: Theorie für die Praxis. Düsseldorf 1978, S. 75 f. und 79 f. zusammengestellt hat. Allein bei der Werturteilsbildung werden fünf Arbeits- und Denkprozesse mit 20 weiter unterteilten Reflexionsschritten aufgegliedert. Vgl. Lützelberger: Urteilsbildungsmodelle, S. 37. Die „Abkehr von dem Konzept einer absoluten Objektivität“ und ihren Folgen fasst Axel Becker zusammen: Ders.: Historische Urteilsbildung, in: Barricelli, Michael/Lücke, Martin (Hg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts, Bd. 1, Schwalbach/Ts. 2017, S. 316–325, hier S. 322 f. Zuletzt hat vor allem Anke John die Defizite in der Unterrichtspraxis gut zusammengefasst: Dies.: Historische Urteilsbildung, S. 119 f.
Urteilsbildung im Lehrplan – Synergieeffekte nutzen
Aus dem bisher Gesagten wird einerseits der aktuelle, gesellschaftspolitische und andererseits der didaktische Anspruch nach Förderung der Urteilsbildung im Fach Geschichte deutlich. Im Folgenden soll die Urteilskompetenz, wie sie auf der normativen Ebene des Lehrplans in Bayern für das Gymnasium abgebildet wird, untersucht werden. Dabei soll das Potenzial für Synergieeffekte aufgezeigt werden, wie sie sich auf der einen Seite auf der Lehrplanebene zeigen, und andererseits, wie sie eine Rückkoppelung für die Fachdidaktik sein könnten.20 Lehrpläne werden als normative Ebene von der Bildungspolitik alle 10–15 Jahre überarbeitet und dabei werden neue gesellschaftliche, politische, wissenschaftliche und didaktische Aspekte und Anforderungen sowie die KMK-Bestimmungen21 implementiert. Sie sind somit ein äußerst kompromissreiches Konstrukt22 , was den Kritikern oft nicht bewusst ist. Lehrpläne bilden die Arbeitsgrundlage und den unterrichtlichen Referenzrahmen für Lehrkräfte. Sie sind Teil der offiziellen Bildungspolitik, die aber ihre tatsächliche Wirksamkeit erst im Klassenzimmer entfaltet. Werden prozessorientierte Kompetenzerwartungen wie die Urteilskompetenz nicht von Schülerinnen und Schülern durch angemessene Lernarrangements erworben und nicht von Lehrkräften initiiert und diagnostiziert, so läuft an dieser Stelle der Bildungsplan ins Leere und die Defizite werden mittels evidenzbasierter Studien von der Fachdidaktik festgestellt, beschrieben und beklagt. Da Einigkeit darüber besteht, dass die Urteilsbildung eine zentrale Aufgabe des Geschichtsunterrichts ist, wäre für die Ausbildung von Lehrkräften ein Blick in den Fachlehrplan als eine Art Rückkoppelung für die theoretische Weiterentwicklung und die benötigten Kompetenzen der Lehrkräfte und die Operationalisierung von fachspezifischen Denkhandlungen hilfreich. Das Spannungsverhältnis zwischen der fachdidaktischen Theorie und den Lehrplänen und letztlich der alltäglichen Unterrichtspraxis ist vielschichtig und manchmal von gegenseitigem Misstrauen und zum Teil sogar von gegenseitiger Abschätzigkeit geprägt, was wenig hilfreich ist. Dabei wären mögliche Synergieeffekte förderlich, wie sich am Beispiel der komplexen historischen Urteilsbildung zeigen lässt.
20 Dieser Ansatz wurde gewählt, da der Aufsatz Charlotte Bühl-Gramer gewidmet ist, die gleichermaßen in der Lehrplananalyse wie in der Fachdidaktik eine große Expertise vorweist und die Autorin in großer Dankbarkeit auf die vielen wertvollen Gespräche seit dem gemeinsamen Referendariat zurückblickt. 21 Dabei haben die Einheitlichen Prüfungsanforderungen in der Abiturprüfung (EPA) für das Fach Geschichte Auswirkung auf die Anforderungen und Struktur des Gesamtlehrplans des Gymnasiums. Vgl. KMK https://www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/1989/1989_12_01EPA-Geschichte.pdf (20.02.2023). 22 Brunner, Bernhard: Fachlichkeit und Kompetenz. Der LehrplanPLUS Geschichte für die Bayerischen Gymnasien, in: GWU 68 (2017), H. 9/10, S. 616–624, hier S. 624.
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Die Urteilsbildung im bayerischen LehrplanPLUS im Geschichtsunterricht am Gymnasium23 Wie ist derzeit die Urteilsbildung im Bildungsplan-Kontext verankert? Jenseits des Faches Geschichte gehört die Urteilsbildung und dezidiert das „Werturteil“ zum festen Bestand des allgemeinen Bildungs- und Erziehungsauftrags des Gymnasiums: Wer ein Gymnasium erfolgreich besucht, erwirbt eine fachspezifisch sowie fächerübergreifend vertiefte Allgemeinbildung, entwickelt ein differenziertes Bild von sich selbst und der eigenen Lebenswelt und ist zur Bildung begründeter Urteile sowie aufgrund einer reflektierten Werteorientierung zum Handeln in sozialer, ökologischer und ökonomischer Verantwortung fähig24 .
Kompetenzstrukturmodell im Fach Geschichte, Fachprofil, ISB.25
23 Die Ausführungen hier sind, wie oben erklärt, auf die Bezugnahme des bayerischen LehrplanPLUS am Gymnasium beschränkt, der seit dem Schuljahr 2017/2018 implementiert und schrittweise eingesetzt wurde. Diese Begrenzung wird aufgrund des regionalen Rahmens der Festschrift für zulässig empfunden. Vgl. Anm. 20. 24 ISB Bildungs- und Erziehungsauftrag des Gymnasiums. Profil und Anspruch gymnasialer Bildung im LehrplanPLUS: https://www.lehrplanplus.bayern.de/bildungs-und-erziehungsauftrag/gymnasium (02.01.2023).
Urteilsbildung im Lehrplan – Synergieeffekte nutzen
Im „Fachprofil“ für Geschichte weist das Kompetenzstrukturmodel des bayerischen LehrplanPLUS eine eigenständige Urteilskompetenz aus, die nicht wie bei anderen Kompetenzmodellen in der Orientierungskompetenz „untergeht.“26 Diese bildet den Referenzrahmen für die unterrichtende Lehrkraft und ist so formuliert, dass seine Umsetzbarkeit im Unterricht ermöglicht werden soll: Die Schülerinnen und Schüler entwickeln die Fähigkeit, zwischen Sach- und Werturteilen zu unterscheiden. Sie gelangen zu argumentativ gestützten Sachurteilen, indem sie beispielsweise zwischen Ursachen und Folgen differenzieren und historische Entwicklungen zunehmend multikausal beurteilen. An geeigneten Beispielen lernen Schülerinnen und Schüler, begründete Werturteile zu fällen. Sie beurteilen historische Sachverhalte auf der Basis zunehmend reflektierter Wertvorstellungen und erkennen dabei die Andersartigkeit von Wertmaßstäben, die aus früheren Epochen oder anderen kulturellen Kontexten stammen. Sie setzen sich kritisch mit bereits vorhandenen Urteilen in Quellen und Darstellungen auseinander und sind schließlich imstande, schlüssig entfaltete, differenzierte Argumentationen zu verfassen, in denen sie ihre Position vertreten, Argumente überzeugend gewichten und Gegenargumente berücksichtigen. Dabei beachten sie den Adressatenbezug und formulieren terminologisch angemessen.27
Die Definition der Urteilskompetenz im LehrplanPLUS zeigt, welche Bereiche der didaktischen Diskussion bereits auf der normativen Ebene Eingang gefunden haben. So wird der Gang vom fakten- und quellenbasierten Sach- zum Werturteil und die Multikausalität als domänenspezifische Grundlage für das Sachurteil beschrieben. Das Werturteil wird hier „auf der Basis zunehmend reflektierter Wertvorstellungen“ dargestellt. Damit wird die empirische und normative Triftigkeit eingefordert und zugleich auch darauf hingewiesen, dass die Urteilsbildung einer Progression unterliegt. Dass entwicklungsbedingte Komponenten die Urteilsbildung beeinflussen, wird jedoch nur im Ansatz durch den Hinweis auf eine Progression abgebildet. Hier wäre es an der Zeit, dass sich die bereits zahlreichen entwicklungspsychologischen
25 ISB Fachprofil Geschichte: https://www.lehrplanplus.bayern.de/fachprofil/gymnasium/geschichte (20.01.2023). 26 Vgl. z. B. die Kompetenzbereiche historischen Denkens nach Schreiber, Waltraud: Ein KompetenzStrukturmodell historischen Denkens, in: Zeitschrift für Pädagogik 54, H. 2 (2008), S. 198–212, hier S. 203. Zuletzt merkt Anke John diese Akzentverschiebung zur Orientierungskompetenz an. Dies.: Historische Urteilsbildung, S. 101. 27 ISB LehrplanPLUS, Selbstverständnis des Faches Geschichte und sein Beitrag zur Bildung: https:// www.lehrplanplus.bayern.de/fachprofil/gymnasium/geschichte (20.02.2023). Alle nicht näher gekennzeichneten Zitatausschnitte beziehen sich im Weiteren auf diesen Ausschnitt.
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Studien, wie sie Franziska Conrad schon 2011 im Zusammenhang mit der Kompetenzentwicklung zusammengefasst hat28 , auch in den Kompetenzerwartungen der Lehrpläne noch stärker widerspiegeln und in der Fachdidaktik in Bezug auf die Operationalisierung von Kompetenzerwartungen stärker Beachtung finden würde. Des Weiteren wird im LehrplanPLUS die narrative Triftigkeit eines Urteils über eine schlüssige und differenzierte Argumentation eingefordert. Wenn es heißt, dass die Schülerinnen und Schüler „schließlich imstande [sind], schlüssig entfaltete, differenzierte Argumentationen zu verfassen, in denen sie ihre Position vertreten, Argumente überzeugend gewichten und Gegenargumente berücksichtigen“, so wird die Nähe zum Fach Deutsch sichtbar. Dies wird bisher jedoch kaum in der Aufgabenkultur, den Aufgabenformaten der Schulbücher und in der didaktischen Diskussion aufgegriffen. Ulrich Baumgärtner verweist zuletzt 2023 zurecht darauf, dass die drei Grundformen des Schreibens: Erzählen, Informieren und Argumentieren „gute Ansatzpunkte für das historische Lernen wären“.29 Synergieeffekte würden sich einstellen, wenn die Progression des argumentativen Schreibens, so wie sie im LehrplanPLUS im Fach Deutsch abgebildet wird, sich stärker auf die Aufgabenstellung im Fach Geschichte auswirken würde. Wird in der 6. Jahrgangsstufe (Jgst.) im Fach Deutsch gefordert, das Schülerinnen und Schüler „ihre Meinung zu Themen und Sachverhalten ihres Erfahrungsbereichs einfach begründet“ darstellen30 , so wird dies in den Folgejahren weiterentwickelt. In der 9. Jgst. strukturieren Schülerinnen und Schüler „schlüssig ihre Texte linear, antithetisch oder nach Sachgebieten und verknüpfen ihre Argumente“,31 dabei soll die Argumentation bereits ab der 8. Jgst. immer materialgebunden oder textgebunden erfolgen. Die hier möglichen Synergieeffekte werden sich nicht auswirken, wenn sie fachdidaktisch und in der Aufgabenkultur nicht aufgegriffen werden. In seinem Aufsatz zur narrativen Schwerpunktsetzung: „Geschichte – ein Erzählfach?“ stellt Ulrich Baumgärtner daher zurecht die Frage: „Mithin wäre also zu überlegen, ob Geschichte nicht eher ein Urteils- bzw. Argumentationsfach sein sollte.“32 So wie das Argumentieren im Fach Deutsch über die Jahre hinweg altersgemäß angelegt ist, so wird auch die Urteilskompetenz im Fach Geschichte in einer Progression – wenngleich nur in Ansätzen – im LehrplanPLUS abgebildet. Das heißt,
28 Conrad: Perspektivübernahme, S. 5–7. 29 Auch wenn Ulrich Baumgärtner dies im Zusammenhang mit der narrativen Kompetenz einfordert, ist dieser Ansatz auch hier anzuwenden. Ders.: Geschichte – ein Erzählfach?, in: GWU 1/2 (2023), S. 5–20, hier S. 16. 30 ISB LehrplanPLUS Deutsch 6: https://www.lehrplanplus.bayern.de/fachlehrplan/gymnasium/6/ deutsch (20.02.2023). 31 ISB LehrplanPLUS Deutsch 9: https://www.lehrplanplus.bayern.de/fachlehrplan/gymnasium/9/ deutsch (20.02.2023). 32 Baumgärtner: Geschichte – ein Erzählfach?, S. 19.
Urteilsbildung im Lehrplan – Synergieeffekte nutzen
dass die Urteilskompetenz eine altersgemäße Stufung über die Jahre hinweg erfährt. In einer allgemeinen lernbereichsunabhängigen Zusammenschau sieht das wie folgt aus: Progressiver Kompetenzerwerb zur Urteilskompetenz im LehrplanPLUS Geschichte33 . 6. – 7. Jgst. Schülerinnen und Schüler …
8. – 10. Jgst. Schülerinnen und Schüler …
11., 12. und 13. Jgst. grundlegendes Anforderungsniveau, Leistungsfach: erhöhtes Anforderungsniveau Schülerinnen und Schüler … erklären erklären multikausal erörtern multikausal • stellen einen Zusammen- • berücksichtigen kurz- und • erkennen kurz- und hang zwischen Ursachen langfristige Ursachen und langfristige Ursachen und Folgen her Folgen und Folgen • bewerten einfach zu • bewerten begründet • bewerten und vergleichen erfassende historische historische Sachverhalte komplexe historische Sachverhalte • beachten andersartige Prozesse • beachten andersartige historische und gegenwär- • setzen sich mit historiWertmaßstäbe tige Wertmaßstäbe schen und gegenwärtigen Wertmaßstäben auseinander
Zwei Aspekte sollen dabei näher betrachtet werden. Zum Ersten gibt der LehrplanPLUS vor, die Argumentation von Anfang an nach historischen Kategorien „beispielsweise zwischen Ursachen und Folgen differenziert“ zu strukturieren. Hier stellt sich die Frage nach den Synergieeffekten mit dem Fach Politik und Gesellschaft, vormals Sozialkunde, in dem eine ausdifferenzierte kategoriale Urteilsbildung beschrieben wird. Im Bereich der Politikwissenschaft ist die Ausformulierung der kategorialen Urteilsbildung durch Peter Massing34 und seine Weiterentwicklung über Joachim Detjen35 sehr konkret in die normative Ebene des bayerischen LehrplanPLUS im Fach Politik und Gesellschaft eingegangen36 . Die gestufte Operationalisierbarkeit bietet über die kategorialen Fragestellungen eine gute Vermittelbarkeit in der Lehrerausbildung wie auch eine Anwendbarkeit in der Unterrichtspraxis.
33 Zusammengestellt aus dem LehrplanPLUS im Fach Geschichte für Gymnasium: https://www.lehrplanplus.bayern.de/fachprofil/gymnasium/geschichte (19.03.2023). 34 Massing, Peter: Die vier Dimensionen der Politikkompetenz, in: APuZ 46–47 (2012), S. 23–29 sowie Ders.: Kompetenzorientierung im Politikunterricht, in: Achour, Sabine u. a. (Hg.): Methodentraining für den Politikunterricht, Frankfurt a. M. 2020, S. 50–68. 35 Vgl. Detjen, Joachim/Massing, Peter/Richter, Dagmar u. a.: Politikkompetenz – ein Modell, Wiesbaden 2012, S. 35–65 sowie Detjen, Joachim: Politikkompetenz Urteilsfähigkeit, Schwalbach/Ts. 2013. 36 Vgl. das Kompetenzstrukturmodell des Faches Politik und Gesellschaft, hier v. a. die Beschreibung der Urteilskompetenz. ISB Fachprofil für Politik und Gesellschaft am Gymnasium: https://www. lehrplanplus.bayern.de/fachprofil/gymnasium/pug (20.02.2023).
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Der Wunsch nach einem integrativen Modell auf Basis eines Kompetenzmodells der Domäne „Geschichte-Politik“, das eine „Brückenfunktion“ in der Fachwissenschaft und den Fachdidaktiken darstellt, wurde von Jörg Kayser und Ulrich Hagemann mit einem Modell der historisch-politischen Urteilsbildung seit 2005 mehrfach eingefordert.37 Die 2020 erneut aufgestellte These von Ulrich Hagemann, dass „Urteilsbildung im historischen und politischen Lernen kongruent strukturiert“ sei und daher eine „fächerübergreifende Konzeption“ 38 den Vorrang habe, wurde jedoch in der Fachdidaktik nicht aufgenommen und auch im LehrplanPLUS nicht übernommen. Selbst wenn in der Praxis Geschichtslehrkräfte meist auch das Fach Politik und Gesellschaft unterrichten und diese die Denkstrukturen zuweilen übertragen, ist durch die zeitliche Dimension im Fach Geschichte die Übertragbarkeit nur bedingt möglich und, wie Anke John richtig diagnostiziert, ist die Integration von politischen Kategorien und die Anwendung der an „politischen Kontroversen ausgerichtete[n] Gegensatzpaare[n]“ im Fach Geschichte manchmal wenig zielführend.39 Trotz allem lohnt ein fächerübergreifender Blick auf die kategoriale Urteilsbildung im Politikunterricht, da sich für die Fragestellungen im Geschichtsunterricht Synergieeffekte ergeben können. Zum Zweiten gehört zur Progression der Urteilsbildung auch die Weiterentwicklung des Fremdverstehens bzw. dezidiert das Reflektieren von „andersartigen Wertmaßstäben“. Historische und gegenwärtige Wertmaßstäbe machen die Urteilsbildung äußerst komplex in der Aufgabenstellung wie im Unterrichtsgespräch. Die zeitliche Divergenz muss sich in der Aufgabenstellung wie in der Fragetechnik der Lehrkraft widerspiegeln. So wird zunehmend gefordert, die Wertmaßstäbe aus historischer, wie auch aus gegenwärtiger Sicht zu reflektieren, wenn ein Werturteil gebildet wird (s. Tabelle oben). Eine Aufgabenstellung wie: „Beurteile, ob die Grundherrschaft des Mittelalters gerecht ist“, verbietet sich damit. Zum einen muss die Fragestellung eine Zeitperspektive enthalten („Bewerte aus heutiger Sicht…“), zum anderen wird sichtbar, dass das Werturteil nicht auf die Verwendung gegenwärtiger Wertmaßstäbe zu begrenzen ist. Franziska Conrad hat dazu für die Umsetzung überzeugend die „Perspektivenübernahme“ beschrieben und auch graduiert, was den Lehrkräften Anhaltspunkte für die Diagnostik bietet40 . Die Problematik der Rollenübernahme ist dabei hinlänglich bekannt und muss selbstredend bei den verschiedenen Aufgabenformaten berücksichtigt werden.
37 Kayser, Jörg/Ulrich, Hagemann: Urteilsbildung im Geschichts- und Politikunterricht, Bonn 2005. 38 Hagemann, Ulrich: Das Modell historische-politischer Urteilsbildung – eine legitime Grenzüberschreitung?, in: GWU 1/2 (2020), S. 19–35, hier S. 34. 39 John: Historische Urteilsbildung, S. 101. 40 Conrad: Perspektivenübernahme. S. 7 f.
Urteilsbildung im Lehrplan – Synergieeffekte nutzen
Ein letzter Aspekt, der aus der Beschreibung der Urteilskompetenz im LehrplanPLUS hier in Hinblick auf Synergieeffekte betrachtet werden soll, ist die Analyse von bereits vorhandenen Urteilen. Das bedeutet, dass Sach- aber vor allem auch Werturteile in historischen Quellen und Darstellungstexten, wie zum Beispiel auch in Verfassertexten von Schulbüchern von Schülerinnen und Schüler erkannt und analysiert werden müssen. „Sie setzen sich kritisch mit bereits vorhandenen Urteilen in Quellen und Darstellungen auseinander.“ Übungen, die die Analyse der beiden Urteilsdimensionen wie auch der Argumentationsstrategien enthalten, sollten daher nicht nur im Bereich der Quellenanalyse oder domänenspezifischen Sprachbildung41 stattfinden, sondern auch in Hinblick auf die Argumentationsstrategien der Textanalyse und der eigenen Urteilsbildung berücksichtigt werden. Auch hier ist die Nähe zum Fach Deutsch augenfällig. Ab der 7. Jgst. prüfen Schülerinnen und Schüler „die Qualität von Informationen und Argumenten“.42 Argumentationsweisen und die argumentative Qualität von Texten bleiben von da an fester Bestandteil des Bereichs „Pragmatische Texte verstehen und nutzen“. Die Zielrichtung ist also vergleichbar der im Fach Geschichte. Würde das für Schülerinnen und Schüler transparenter gestaltet werden, wären Synergieeffekte zwischen dem Fach Geschichte und Deutsch möglich.
Fazit Die Komplexität der Urteilsbildung, die in der Fachdidaktik und anderen Disziplinen (Philosophie, Entwicklungspsychologie, etc.) verhandelt wird und die nachvollziehbare Klage über die vereinfachte, oft dichotome oder gar moralisierende Herangehensweise und all die verhinderten Denkoperationen43 im Geschichtsunterricht, verbessern derzeit konzeptionell noch nicht den dringenden Handlungsbedarf, Urteilsbildung bei Schülerinnen und Schülern zu fördern und für Lehrkräfte in der täglichen Unterrichtspraxis diagnostizierbar zu machen. Anwendbarkeit und Transparenz für die Diagnostik durch die Lehrkraft bestimmen jedoch den Erfolg und die Festigung einer Denkoperation, die die Selbstbestimmung und Orientierung von Schülerinnen und Schülern fördert. Wenn Synergieeffekte zwischen den Fächern genutzt werden, verkürzen sich Lehr- und Lernwege. Die Frage nach fachlicher Eigenständigkeit oder Fächerintegration stellte Charlotte Bühl-Gramer 2018
41 Vgl. Handro, Saskia: Sprachbildung im Geschichtsunterricht. Leerformel oder Lernchance?, in: Grannemann, Katharina et.al. (Hg.): Sprachbildung im Geschichtsunterricht, Münster 2018, S. 13–42. 42 ISB Fachlehrplan Deutsch 7. Jgst.: https://www.lehrplanplus.bayern.de/fachlehrplan/gymnasium/7/ deutsch (20.02.2023). 43 John: Historische Urteilsbildung, S. 119.
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bei der Standortbestimmung des Geschichtsunterrichts für das 21. Jahrhundert.44 Die Gefahren und auch Perspektiven sind in Zeiten des Lehrermangels bekannt. Ein Auflösen der fachlichen Eigenständigkeit ist mit Synergieeffekten jedoch hier nicht gemeint. Immer dann, wenn in der Fachdidaktik ein konstruktiver Blick in die Lehrpläne geworfen wird, können auch auf dieser Ebene Synergien für die Weiterentwicklung erfolgen, wie eine Art Rückkopplung von Fachdidaktik und normativer Ebene. Aber auch auf der Ebene der Lehrerausbildung kann dieser Blick fruchtbar gemacht werden. Ein reflektiertes und auch reflexives Werturteil steht, wie am Anfang gezeigt wurde, diametral zu einer schnellen Meinungsäußerung, die meist emotional und impulsiv abgegeben oder „geliked“ wird. Meinungen müssen nicht fundiert sein, ihre Reichweite ist in Zeiten der sozialen Medien groß und sie können eine politische Kultur ausbilden, historische Fakten willkürlich klittern und so zu einer unübersichtlichen und auch fragwürdigen, ja gefährlichen Beliebigkeit führen. Die Förderung der Urteilsbildung braucht daher die Synergien auf allen Ebenen und die Anstrengung von allen Beteiligten im Bildungsprozess.
44 Bühl-Gramer, Charlotte: Geschichtsunterricht im 21. Jahrhundert – eine Standortbestimmung, in: Sandkühler, Thomas/Bühl-Gramer, Charlotte u. a. (Hg.): Geschichtsunterricht im 21. Jahrhundert. Eine geschichtsdidaktische Standortbestimmung, Göttingen 2018, S. 31–40, hier S. 39.
Nadja Bennewitz
Frauen sind der Rede wert Plädoyer für eine genderkritische Perspektive auf Reden im Geschichtsunterricht
Die Frau hat das Recht, das Schafott zu besteigen; sie muss gleichermaßen das Recht haben, die Rednertribüne zu besteigen […].1
Dieser vielzitierte Artikel 10 aus der „Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin“ von Olympe de Gouges (1748–1793) im Zuge der Französischen Revolution steht symptomatisch für das Frauen auferlegte Verbot der öffentlichen Rede und damit der politischen Mitsprache in der Vergangenheit. Mit der Parallelisierung von Schafott und Rednertribüne machte de Gouges ihren Protest gegen diesen Ausschluss deutlich. Sie hatte ihre Schrift zwei Jahre nach der Proklamation der „Menschen- und Bürgerrechte“ verfasst und dieser in Analogie dazu in ihrer Erklärung 17 Artikel gegenübergestellt.2 Im Gegensatz zur vermeintlich allgemein gehaltenen Erklärung, die faktisch jedoch die Rechte des bürgerlichen Mannes darlegte und Frauen davon ausnahm, beanspruchte die Erklärung von de Gouges eine Allgemeingültigkeit, die beide Geschlechter einschloss.3 Dass Olympe de Gouges ihre in Druck gegangene Erklärung von einer Rednertribüne aus vorgetragen hätte, ist nicht überliefert. So weitsichtig heute ihre Ausführungen klingen mögen – sie gerieten in Vergessenheit, nachdem die Revolutionärin 1793 auf dem Schafott hingerichtet wurde. Im Deutschen Reich war es die Frauenrechtlerin Lily Braun (1865–1916), die wieder auf de Gouges zurückgriff. In einem öffentlichen Vortrag 1895 nahm sie Bezug auf das von de Gouges geforderte weibliche Anrecht auf die Rednertribüne
1 Die Rechte der Frau (aus dem Französischen von Gisela Bock). Veröffentlicht im Rahmen des Themenschwerpunkts „Europäische Geschichte – Geschlechtergeschichte“: https://www.europa. clio-online.de/quelle/id/q63-28390 (21.01.23). 2 Opitz, Claudia: „Die vergessenen Töchter der Revolution“ – Frauen und Frauenrechte im revolutionären Frankreich von 1789–1795, in: Grubitzsch, Helga/Cyrus, Helga/Haarbusch, Elke (Hg.): Grenzgängerinnen, Düsseldorf 1985, S. 287–312, hier S. 302. Siehe auch: Gerhard, Ute: Menschenrechte – Frauenrechte 1789, in: Schmidt-Linsenhoff, Viktoria (Hg.): Sklavin oder Bürgerin? Französische Revolution und Neue Weiblichkeit 1760–1830, Historisches Museum Frankfurt 1989, S. 55–72. 3 Bock, Gisela: Frauenrechte als Menschenrechte. Olympe de Gouges’ „Erklärung der Rechte der Frau und der Bürgerin“, www.europa.clio-online.de/essay/id/fdae-1505 (21.01.23).
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und konstruierte damit eine historische Traditionslinie, in die sie ihr eigenes Engagement für Frauenrechte stellte.4 In ihren Memoiren beschrieb die zu diesem Zeitpunkt bereits geübte Sprecherin ihre Vorgehensweise: Meinen neuen Vortrag schrieb ich wie im Fluge, kaum, daß die Feder den einstürmenden Gedanken zu folgen vermochte. Und die Stimme zitterte mir vor Erregung, als ich ihn das erste Mal vorlas. Meine gestrengen Zuhörerinnen aber blieben merkwürdig kühl.5
Diese „gestrengen Zuhörerinnen“ waren Vertreterinnen der Bürgerlichen Frauenbewegung, denen Ton und Inhalt von Brauns Rede zu kühn und zu radikal erschienen. In den nun folgenden, von Braun geschilderten Auseinandersetzungen lässt sich der Bruch zwischen den unterschiedlichen, von Frauen getragenen sozialen Bewegungen um 1900 anschaulich nachvollziehen. Ich betone dies, um Unterschiede zwischen Frauen deutlich zu machen: Das Geschlecht war zwar ein entscheidendes, aber eben keineswegs das einzige Differenzkriterium, das die Gesellschaft des Kaiserreichs auszeichnete. Geht es im Geschichtsunterricht um historische Reden, bleibt es bei dem Bedauern, es habe kaum historische Rednerinnen gegeben und politische Auftritte von Frauen seien selten gewesen.6 Aber waren Frauen mit ihren Reden in der Öffentlichkeit tatsächlich so rar, wie es der Blick in die Geschichtsschulbücher suggeriert? Mittlerweile gibt es – obwohl im Lehrplan nicht aufgeführt – in einigen bayerischen Schulgeschichtsbüchern ein Kapitel über „Frauen in der Französischen Revolution“, so in „Forum Geschichte“, doch ist es als ein nur fakultativ zu behandelndes Kapitel gekennzeichnet.7 Dabei eröffneten sich insbesondere bei revolutionären Ereignissen für Frauen bekanntlich neue, wenngleich meist nur vorübergehende Handlungsspielräume. Fassbar werden dabei ihre Motivationen, politische Veränderungen mitzugestalten, gerade auch durch ihre öffentliche Redetätigkeit. In ihren
4 Lily von Gizycki (Lily Braun) – Die Bürgerpflicht der Frau. Vortrag gehalten in Dresden, Breslau und Berlin, Berlin 1895: https://www.ngiyaw-ebooks.org/ngiyaw/braun_lily/buergerpflicht/buergerpflicht. htm (27.01.2023). Die Rede in Buchform ist von der Bayerischen Staatsbibliothek digitalisiert: https:// www.digitale-sammlungen.de/de/details/bsb11127179 (27.01.23), hier S. 6. 5 Zit. aus: Braun, Lily: Memoiren einer Sozialistin, hg. Fetscher, Elisabeth, München 1985, S. 189. 6 So Baumgärtner, Ulrich: „Es gilt das gesprochene Wort!“ Politische Reden und historisches Lernen, in: Praxis Geschichte 6 (2007), S. 4–9. 7 Forum Geschichte 8: Das lange 19. Jahrhundert, hg. Bäuml-Stodiek, Dagmar u. a., Berlin 2020, S. 3. Auch das Kapitel zur Weimarer Republik „Erforsche im Team: Mehr Rechte für Frauen?“ ist fakultativ: Forum Geschichte 9: Das kurze 20. Jahrhundert, Bayern, hg. Bäuml-Stodiek, Dagmar u. a., Berlin 2021, S. 3.
Frauen sind der Rede wert
Hinterlassenschaften reflektieren sie die Bedeutung ihrer öffentlichen Aussprache – für sich selbst als Rednerin, für die Zuhörerschaft und für die Außenwelt.8 Auch Christian Tischner, der sich am intensivsten mit historischen Reden im Geschichtsunterricht beschäftigt hat, moniert das Fehlen von vortragenden Frauen und arbeitet gegen diesen Mangel mit der Addition von „Frauenreden“9 . Er schlägt u. a. vor, unter dem Titel „Die Zeiten ändern sich – das Medium auch“, die Erklärung von de Gouges mit der Rundfunkansprache von Dr. Elisabeth Selbert (1896–1986) über die Gleichberechtigung der Frau zu vergleichen, die diese nach der Verabschiedung des Grundgesetzes 1949 hielt.10 So behandelt Tischner die Ereignisse in Frankreich und die Biografie der Revolutionärin, um dann überzuleiten mit dem Satz: „Elisabeth Selbert war 150 Jahre später erfolgreicher.“11 Mit dieser Äußerung bleiben allerdings alle historischen Entwicklungen und die jahrzehntelangen Kämpfe und Forderungen der Frauenbewegung – unermüdlich in öffentlichen Reden vorgebracht12 – unerwähnt. Für einen problemorientierten Geschichtsunterricht ist die Einbettung von Olympe de Gouges in den Verlauf der Französischen Revolution zielführender. Das Auftreten von Frauen muss historisch kontextualisiert und nicht der gesellschaftspolitischen Zusammenhänge entkleidet werden.
8 Vgl. Thuns, Anja: „Cläre, mach‘ du’s!“ Erinnerungen von Frauen an die Revolutionsereignisse, in: Hüttner, Bernd/Weipert, Axel (Hg.): Emanzipation und Enttäuschung. Perspektiven auf die Novemberrevolution 1918/19, S. 55–61, hier S. 55, abrufbar unter: https://www.rosalux.de/fileadmin/ rls_uploads/pdfs/Materialien/Materialien25_Emanzipation.pdf (16.12.2022). 9 Tischner, Christian K.: Historische Reden im Geschichtsunterricht, Schwalbach/Ts. 2008, S. 10. Der von mir verwendete Begriff „Frauenreden“ ist unglücklich, da es ein (männliches) Pendant dazu nicht gibt. 10 Die Rede im Originalton: Tischner, Christian K: Historische Reden im Geschichtsunterricht. Tondokumente, Filmdokumente, Bilddokumente, CD-ROM, Schwalbach/Ts. 2008; Deutsches Historisches Museum u. a. (Hg.): Stimmen des 20. Jahrhunderts: Frauenstimmen 1908–1997, CD, Berlin 1997. Bei Tischner und dem DHM sind jeweils andere Ausschnitte gewählt. 11 Tischner: Historische Reden, S. 116. 12 Um nur ein Beispiel herauszugreifen: „Frauen aller Kreise, Kopf- und Handarbeiterinnen, sollten zu Worte kommen […]. Da nicht für alle Berufe redegewandte Frauen zur Verfügung standen, verfaßte Anita Augspurg manche deren Lage charakterisierende Rede, die dann von Frauen vorgetragen wurden, welche genügend Energie hatten, öffentlich zu sprechen, oder denen es beigebracht wurde. Der Erfolg war glänzend, das kraftvolle und freimütige Auftreten aller Rednerinnen machte den denkbar besten Eindruck, löste großen Beifall aus.“, zit. nach: Heymann, Lida Gustava (in Zusammenarbeit mit Dr. jur. Anita Augspurg): Erlebtes, Erschautes. Deutsche Frauen kämpfen für Freiheit, Recht und Frieden 1850–1940, hg. Twellmann, Margit, Frankfurt a. M. 2 1992, S. 106. Siehe zu Nürnberg: Bennewitz, Nadja: „Wachrufen zum Kampf für ihre Schwestern gegen Ungerechtigkeiten“. Der lange Kampf der Frauen um Gleichberechtigung, in: Bauernfeind, Martina/Metzger, Hans-Dieter (Hg.): Rechte für Menschen – Menschenrechte. Ein Nürnberg-Lesebuch, Nürnberg 2014, S. 106–115.
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Auch im Lehrwerk „Das waren Zeiten“ gibt es einen Abschnitt über „Frauen in der 48er-Revolution“.13 Die dortige, leider beschnittene Lithografie nimmt Bezug auf die Gründungsversammlung des ersten Dienstmädchenvereins in Leipzig, bei der „ein rüstiges Dienstmädchen mit weißer Schürze die Rednertribüne bestieg“14 , so hieß es in der zeitgenössischen Presse. Als externe Zuhörer waren ausschließlich Männer zugelassen15 , die „mit Gekreisch und humoristischen Bemerkungen“ das Geschehen kommentierten. Dieser Hinweis auf die despektierliche Reaktion des männlichen Bürgertums auf die Inanspruchnahme der Versammlungs- und Redefreiheit durch Dienstbotinnen, d. h. Vertreterinnen des unteren Standes, wird im Aufgabenteil nicht aufgegriffen und als Lernchance nicht erkannt. Dabei ist im Geschichtsunterricht die Frage nach dem Status der an einer Rede Beteiligten unerlässlich: Welche Hierarchien ermöglichten oder verhinderten den Zugang zur öffentlichen Rede, wer hatte die Macht, zu kritisieren, lächerlich zu machen oder zu applaudieren? Durch die zusätzliche Berücksichtigung der Kategorie Geschlecht in die Analyse von Reden und Redeauftritten, von Einfluss und Folgen können nicht nur Geschlechterstereotype diskutiert, sondern auch die Verschränkung von Geschlecht und Standeszugehörigkeit erkannt werden.16 Denn Frauen der Arbeiterschicht wurden neben geschlechts- immer auch mit klassenspezifischen Grenzen konfrontiert. Adelheid Popp (1869–1939), Dienstmädchen, Arbeiterin und österreichische Politikerin, schrieb über ihren Besuch einer politischen Versammlung: „In mir drängte alles hinzurufen: ‚Das weiß ich auch, das kann ich auch erzählen!‘ Aber noch wagte ich kein Wort, ich hatte nicht einmal den Mut, Beifall zu spenden. Das hielt ich für unweiblich und nur ein Recht
13 Das waren Zeiten 3: Das lange 19. Jahrhundert, Bayern, hg. Brückner, Dieter/Koller, Josef, Bamberg 2020, S. 69. Das Kapitel ist auch hier als „nicht verbindlich“ bezeichnet, da das Thema im Lehrplan nicht aufgeführt ist. 14 Beilage zum Mannheimer Morgenblatt, Nr. 108, 27.04.1848, S. 588, zit. nach: Hummel-Haasis, Gerlinde (Hg.): Schwestern zerreißt eure Ketten. Zeugnisse zur Geschichte der Frauen in der Revolution von 1848/49, München 1982, S. 172 f. 15 Diese in der Literatur getilgte Information im Originalartikel ist abrufbar unter: Digitale Bibliothek, Heidelberger historische Bestände: https://doi.org/10.11588/diglit.30464#0596 (01.02.2023); Kollecker, Kerstin: „Manch ein Leipziger sah in uns ‚die Emanzipierten‘, die – o Schreck aller Schrecken – sogar Vorträge hielten.“ Zur Geschichte Leipziger Frauenvereine, in: LOUISEum 28: Politikverbot – Politikzugang – Politikverdruss? Frauen und Politik im 19. und 20. Jh., Leipzig 2009, S. 65–77, abrufbar unter: https://www.louiseottopeters-gesellschaft.de/fileadmin/Redaktion/Publikationen/ Digitalisate_LOUISEen/L28/LDJ3EK_B.PDF (16.12.2022); Klemm, Beate: Caroline Adler, Therese Humbold, Charlotte Schmidt und Auguste Schrödter. Der Leipziger Dienstmädchenverein im April des Jahres 1848, in: Leipziger Lerchen, hg. Louise-Otto-Peters-Gesellschaft e.V. 3 (2002), S. 20–26. 16 So die aufgeworfenen Fragestellungen in der Einleitung von Bischoff, Doerte/Wagner-Eglhaaf, Martina (Hg.): Mitsprache, Rederecht, Stimmgewalt: Genderkritische Perspektiven und Transformationen der Rhetorik, Heidelberg 2006, S. 9–32.
Frauen sind der Rede wert
„Bei einem kaum zu bewältigenden Andrang von Zuhörern mochten sich etwa vierzig bis sechzig […] weibliche Individuen eingefunden haben, von welchen ein rüstiges Dienstmädchen mit weißer Schürze die Rednertribüne bestieg und ungefähr zwölf Punkte ablas, unter welchen viele ihrer Mitschwestern bisher zu leiden gehabt hätten.“ (Beilage zum Mannheimer Morgenblatt, Nr. 108, 27.04.1848, S. 588) Die Rednerin, hier „Gustchen“, ist Louise Auguste Schrödter. Lithographie, C.W.B. Naumburg Verlag, Stadtgeschichtliches Museum Leipzig, Mü.XVIII/34.
der Männer.“17 Für Frauen galt das Applaudieren als unschickliche öffentliche Zurschaustellung. Dennoch wurde Adelheid Popp durch diese Versammlungsbesuche zu ihrer eigenen Redetätigkeit ermutigt. Anders als die aus dem Adel stammende Lily Braun, die sich in die Thematik der sozialen Lage erst einarbeiten musste, ihre Vorträge verschriftlichte und auswendig lernte,18 konnte Popp auf ihre eigene Betroffenheit bauen und hielt ihre erste Rede spontan und völlig frei:
17 Popp, Adelheid: Jugend einer Arbeiterin, Berlin/Bonn 1983, S. 80 (der Originaltext erschien 1915). 18 Braun: Memoiren, S. 185.
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Ich hob die Hand und bat um das Wort. […] Als ich die Stufen zum Rednerpult hinaufging, flimmerte es mir vor den Augen und ich spürte es würgend im Halse. Aber ich überwand diesen Zustand und hielt meine erste Rede.19
Erst im Nachgang verschriftlichte sie ihren Vortrag für ein Fachblatt, weil von anderen dazu gedrängt.20 Auch Christian Tischner behandelt diese Rede, doch wird sie durch die Aufgabenstellung in Form eines Lückentextes mit Wortspeicher21 enthistorisiert: Gerade die Tatsache, dass Popp ihre Rede zunächst nur mündlich vortrug und dann schilderte, wie sie große Schwierigkeiten bei der Verschriftlichung hatte, da sie in drei Schuljahren kaum Rechtschreibung und Grammatik gelernt hatte, bietet Potenzial zum Nachdenken über Motivation und Hintergründe für das Halten von Reden und über die Chancen ihrer Überlieferung. Ich plädiere dafür, das Augenmerk auf diejenigen Phasen zu richten, in denen Frauen für sich und ihre Anliegen in die Öffentlichkeit traten: Auf die Mitte des 19. Jahrhunderts, als sich nach 1848 die Frauenbewegungen formierten, und auf frauenpolitisch gewichtige Wendepunkte im Deutschen Reich, wie das Jahr 1908, als das repressive Vereinsgesetz in Preußen und in zahlreichen anderen Ländern fiel und dadurch Frauen Mitglieder von Parteien werden und Versammlungen politischen Inhalts beiwohnen konnten.22 Wie die Rechtshistorikerin Ute Gerhard deutlich gemacht hat, sind dies keine marginalen Themenbereiche: Die Repression gegenüber politisierten Frauen nach der gescheiterten Revolution fiel ungleich schärfer aus als die gegenüber anderen gesellschaftlichen Kräften. Dass Frauen durch eine geschlechtsspezifische Entwicklung des Vereinsrechts nach 1850 im Deutschen Reich von politischen Entwicklungen ausgeschlossen wurden, war verfassungsgeschichtlich einzigartig. In der Folge verschärften sich nicht nur die Klassengegensätze, sondern auch die Hierarchien zwischen dem weiblichen und männlichen Geschlecht.23 Wollten sich Frauen auf Versammlungen öffentlich äußern, waren sie darauf angewiesen, „daß vorurteilslose Männer sich bereit erklärten zu verlesen, ‚was Frauen, die im Segment sitzen mußten, zur Sache zu sagen hätten.‘“24
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Popp: Jugend, S. 85 f. Ebd., S. 86. Tischner: Historische Reden, S. 97 f. Das noch bis 1908 gültige Vereinsgesetz verbot Frauen jedwede politische Beteiligung, vgl. Gerhard, Ute: Unerhört. Die Geschichte der deutschen Frauenbewegung, Hamburg 1990, S. 73. 23 Vgl. Gerhard, Ute: Grenzziehung und Überschreitungen. Die Rechte der Frauen auf dem Weg in die politische Öffentlichkeit, in: Dies. (Hg.): Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, München 1997, S. 510–546. 24 Heymann: Erlebtes, S. 105.
Frauen sind der Rede wert
Würde diesen Entwicklungen und Ereignissen Relevanz zugesprochen, ließen sich anhand der öffentlichen „Frauenreden“ in der Kaiserzeit und der Republik wesentliche Entwicklungen aufzeigen. Dann könnte Schüler:innen deutlich werden, dass sie sich mit Menschen beschäftigen, die nicht nur aufgrund ihres weiblichen Geschlechts anderen Gesetzen und gesellschaftlichen Erwartungen unterworfen waren als Männer – eine Erkenntnis, die auf Dauer reichlich ernüchternd und langweilig werden kann –, sondern dass gerade dieser Ausschluss und das Beharren auf der Komplementarität von zwei Geschlechtern konstitutiv für das politische System war. Der Protest dagegen ist ebenso Teil der „allgemeinen“ Mentalitäts- und Rechtsgeschichte wie der politischen Geschichte. Wenn Christian Tischner das Fehlen von Reden weiblicher Persönlichkeiten auch damit begründet, dass die in Sammelbänden leicht verfügbaren Reden „sich in aller Regel mit politischen Themen [befassen] und […] fast ausschließlich von Männern vorgetragen“25 wurden, dann sollte grundlegend der Politikbegriff erweitert werden.26 Denn die hier vorgestellten Rednerinnen – und sie stellen nur einen kleinen Bruchteil dar – verstanden ihre Anliegen durchaus als politisch. Ebendeswegen wurden ihnen öffentliche Reden verboten.27 Unter den Bedingungen des restriktiven Vereinsgesetzes ist die Überlieferungsgeschichte von „Frauenreden“ im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert relevant: Die Vorträge der Frauenrechtlerinnen, sofern sie politische Themen behandelten, wurden i. d. R. von einem Polizeileutnant überwacht und mitgeschrieben. Lily Braun schrieb über ihren erwähnten Vortrag von 1895: „Ein Polizeileutnant saß an meiner […] Seite, ein weißes Papier breit vor sich auf dem Tisch, an dessen Kopf zunächst nichts weiter als mein Name stand.“ Der Polizist stenographierte mit und hätte jederzeit die Versammlung auflösen können. Beeindrucken ließ sich Lily Braun davon nicht: Und dann sprach ich, und wieder trug mich die Woge […]. Achtlos zerknitterte ich mein Manuskript zwischen den Händen. Ich bedurfte seiner nicht. Vor dem Rednerpult fielen mir kräftigere Worte und stärkere Beweisführungen ein als am Schreibtisch.28
25 Tischner: Historische Reden, S. 48. 26 Siehe hierzu: Hauch, Gabriella: „Für die Harmonie der Menschheit“ Zum Verhältnis von Revolution und Geschlecht im langen 19. Jahrhundert, in: APuZ 8 (2019), S. 32–38: https://www.bpb.de/shop/ zeitschriften/apuz/285866/frauen-und-buergerliche-frauenbewegung-nach-1848/ (28.01.2023). 27 Schraut, Sylvia: Frauen und bürgerliche Frauenbewegung nach 1848, in: APuZ 8 (2019), S. 25–31: https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/285866/frauen-und-buergerliche-frauenbewegungnach-1848/ (28.01.2023). 28 Zit. aus: Braun: Memoiren, S. 189–191.
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1902 kam die bedeutende Vertreterin der Proletarischen Frauenbewegung Luise Zietz (1865–1922) aus Hamburg nach Nürnberg, um über „Die politische Rechtlosigkeit der Frau“ zu sprechen. Dank der Aufzeichnungen des anwesenden „Polizeikommisärs“ erfahren wir von der Rede, dem erhobenen Protest gegen das „reaktionäre“ Vereinsrecht und dem großen Zuspruch der 160 anwesenden Personen.29 Dass die politischen Aktivitäten vor allem der proletarischen Frauenbewegung überwacht und unterbunden werden sollten,30 führte dazu, dass wir gut darüber unterrichtet sind und die Vorträge zwar in indirekter Rede, aber doch wortwörtlich vorliegen haben, geeignet dazu, in den Archiven gesucht, transkribiert und im Geschichtsunterricht analysiert zu werden. Weitere Marksteine, die in einem geschlechtersensiblen Geschichtsunterricht31 Berücksichtigung finden können, sind das Revolutionsjahr 1918 und die folgenden Wahljahre in der Weimarer Republik: Welche Politikerinnen traten hier wann, mit welcher Rede und Intention auf der Straße und im Parlament öffentlich in Erscheinung? Allein die Fotografien, die öffentlich sprechende Frauen zeigen, liegen in großer Anzahl vor. Hier wären die Körpersprache der Rednerin und die Reaktionen des Publikums herauszuarbeiten. Ob und wie veränderte sich die Kommunikation im Parlament durch weibliche Abgeordnete? Das Auftreten von Marie Juchacz, die nach der Einführung des Frauenwahlrechts als erste Frau in einem deutschen Parlament eine Rede hielt, ist hierfür geeignet: Sie spricht, nun nicht mehr überwacht von einem „Polizeikommissär“ oder auf der Straße, sondern offiziell „zum Wort gerufen“, so ein zeitgenössischer Zeitungsbericht.32 Dass ihre Anrede „Meine Herren und Damen!“33 zu Heiterkeit
29 StadtAN, C 7/ I GR, Nr.2923, Acten des Stadtmagistrats Nürnberg. Betreff: Sozialdemokratische Frauen – Agitation 1902–1918, Bericht über die öffentliche Versammlung im „Bürgersaal“, 30.09.1902. Über Zietz und die Beurteilung ihrer Redetätigkeit durch die Polizei siehe Weiland, Daniela: Geschichte der Frauenemanzipation in Deutschland und Österreich, Düsseldorf 1983, Art. „Luise Zietz“, S. 294–297. 30 Wie Bühl-Gramer aufzeigt, war das Vereinsgesetz in Bayern gelockert worden: Bühl-Gramer, Charlotte: Der Weg der Frauen in die Kommunalpolitik – Die ersten Stadtratswahlen in Mittelfranken, in: Bennewitz, Nadja/Franger, Gaby (Hg.): Geschichte der Frauen in Mittelfranken. Alltag, Personen, Orte, Cadolzburg 2003, S. 289–295, hier S. 291. 31 Siehe zum Stand eines geschlechtersensibel ausgerichteten Geschichtsunterrichts: Bennewitz, Nadja: Gender in Geschichtsdidaktik und Geschichtsunterricht – Einig in der Kontroverse? Einführung, in: Dies./Burkhardt, Hannes (Hg.): Gender in Geschichtsdidaktik und Geschichtsunterricht. Neue Beiträge zu Theorie und Praxis, Berlin 2016, S. 9–54. 32 Tonger-Erk, Lily/Wagner-Egelhaaf, Martina (Hg.): Einspruch! Reden von Frauen, Stuttgart 2011, S. 101–120. 33 Die erste Parlamentsrede einer Frau in Deutschland: Marie Juchacz, Weimarer Nationalversammlung, 19.02.1919, abrufbar unter: https://www.awo-le.de/awo/geschichte/marie_juchacz_rede.htm (18.02.2023).
Frauen sind der Rede wert
im Parlament führte, macht deutlich, wie ungewohnt den Anwesenden die Präsenz von Volksvertreterinnen noch war. Eine Tonaufnahme dieser Rede von Juchacz gibt es nicht, erst ihr Wahlaufruf 1928 liegt als Tonaufnahme vor.34 Dabei war und ist die Stimme als Teil der nonverbalen rhetorischen Mittel geschlechtsspezifisch markiert, ein Phänomen, das historisiert werden sollte, da es sich bis in die Gegenwart nachzeichnen lässt.35 Bei Angela Merkel wurde positiv verbucht, dass sie als Frau „ihre Tonlage in einem angenehmen Frequenzbereich zu halten“ wusste36 , und Margareth Thatcher übte gezielt eine tiefere Stimme ein, um in der Öffentlichkeit mehr Respekt zu erfahren.37 Als 2012 eine Wachswalze mit der originalen Stimme Bismarcks aufgefunden wurde, hieß es im Feuilleton erleichtert, es sei Bismarcks „zwar durchaus helle, aber keineswegs schwache, gar weibische Stimme zu hören.“38 Die Möglichkeit zur tontechnischen Aufnahme als ein jüngeres Phänomen kann ebenfalls bei der Beschäftigung mit Reden in geschlechtergeschichtlicher Perspektive behandelt werden. Olympe des Gouges hatte in ihrer letzten Schrift, ihrem Brief an das Revolutionstribunal, das sie zum Tode verurteilte, geschrieben: „Meine Stimme wird sich noch aus des Grabes Tiefe Gehör zu verschaffen wissen.“39 Diese Botschaft könnte einen Konnex zur Frage bilden, welche und wessen Rede, wann oder warum erst später aufgenommen und für die Nachwelt gesichert wurde. Der fast 90-jährige Graf Helmuth von Moltke (1800–1891), Feldmarschall in den deutschen Einigungskriegen,
34 Vgl. Deutsches Historisches Museum: Stimmen des 20. Jahrhunderts, Nr. 2. 35 Vgl. bspw. Schmölders, Claudia: Frauen sprechen hören. Aufstieg einer Klanggestalt, in: Paul, Gerhard/Schock, Ralph (Hg.): Sound der Zeit. Geräusche, Töne, Stimmen, 1889 bis heute, Göttingen 2014, S. 134–139, abrufbar unter: https://www.bpb.de/themen/zeit-kulturgeschichte/sound-desjahrhunderts/210097/frauen-sprechen-hoeren/ (21.01.23). Zur Formung der männlichen Stimme vgl. Bösch, Judith: „universalmente ogni donna desidera esser omo“: Weiblichkeitskonstruktionen und Männlichkeitskrise in Castigliones Libro del Cortegiano, in: Engel, Gisela (Hg.): Geschlechterstreit am Beginn der europäischen Moderne. Die Querelle des Femmes, Königstein i. Ts. 2004, S. 136–151, hier S. 146. 36 Zit. nach: Streit, Wilhelm: Die Rhetorik von Bundeskanzler Gerhard Schröder und seiner Herausforderin Angela Merkel, Akademie für Management und Kommunikation: https://www. management-kommunikation.de/media/pdf/Rhetorik-Analyse-2005-07-01-Streit-Wilhelm-Rhe torikvergleich-Merkel-Schroeder.pdf (31.01.2023). 37 Beard, Mary: Frauen & Macht. Ein Manifest, Frankfurt a. M. 2018, S. 45. 38 Kellerhoff, S. Felix: Ein „Hauch der Geschichte“ aus dem Mund Bismarcks, in: Die Welt, 01.02.2012: https://www.welt.de/vermischtes/article13845978/Ein-Hauch-der-Geschichte-aus-demMund-Bismarcks.html (21.01.2023). 39 Zit. nach: Jung, Ruth: „Meine Stimme wird sich noch aus des Grabes Tiefe Gehör zu verschaffen wissen.“ Olympe de Gouges – Streiterin für Frauenrechte, in: Schmidt-Linsenhoff: Sklavin oder Bürgerin?, S. 73.
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konnte es sich nicht vorstellen, dass die Stimme einer verstorbenen Frau späterhin von Interesse sein könnte. Als der Tonaufnahmeexperte Theo Wangemann, Mitarbeiter von Thomas Alva Edison, 1889 in Deutschland namhafte Politiker und Unternehmer aufsuchte, um sie für die neue Erfindung des Phonographen zu gewinnen, ließ er auch ihn eine Walze besprechen. Von Moltke lobte die bahnbrechende Erfindung und machte deutlich, was er sich davon erhoffte: Der Phonograph ermöglicht, dass ein Mann, der schon lange im Grabe ruht, noch einmal seine Stimme erhebt und die Gegenwart begrüßt.40
Folglich sollte uns die fast apodiktische Behauptung von Hans-Jürgen Pandel, „Frauen haben zwar geredet, aber keine Reden gehalten“41 , zu der Frage verleiten: Wenn es so war, weshalb war es so? Der Grund für fehlende „Frauenreden“ lag nicht nur an dem verwehrten Zugang zur politischen Mitsprache, sondern auch an fehlender Ausbildung. Die Rhetorik blieb ein maßgeblicher Baustein im herrschenden Bildungskanon für Männer in politischer Verantwortlichkeit, um damit eine gehobene, zur Herrschaft befähigte männliche Elite auszubilden. Die Bildungsinhalte in den höheren Mädchenschulen des 19. Jahrhunderts verfolgten ganz andere Ausbildungsziele.42 Dies erschwerte es selbst Frauen der Führungsschicht, sich in die Öffentlichkeit zu wagen: Ihr Auftreten und ihre Rede wurden anderen Beurteilungskriterien unterzogen als die der Männer ihres Standes.43 Genderkritische Untersuchungen der Rhetorik empfehlen deshalb, nicht nur nach „Ausgrenzungsmechanismen und Rollenmustern“ zu fragen, sondern auch nach der Verbindung zwischen „wirkmächtiger Rhetorik und Männlichkeit“. Eine solche müsse auf ihre Unumstößlichkeit hin überprüft werden, darauf, wie diese zustande kam und wodurch sie wirkmächtig wurde.44 Die Herausgeberinnen des wegen der Fülle an zugänglich gemachten Reden und der Untersuchung rhetorischer Strategien empfehlenswerten Bandes „Einspruch! Reden von Frauen“ werfen Fragen nach den Ursachen für das ungleiche Verhältnis zwischen weiblichen und männlichen Redner:innen auf, die sich so
40 Puille, Stephan: Fürst Bismarck und Graf Moltke vor dem Aufnahmetrichter. Der EdisonPhonograph in Europa, 1889–1890. Aktualisierte Version vom 02. Juli 2016. Der O-Ton ist abrufbar: http://www.cylinder.de/deeplink_resource_bismarck.html (18.02.2023). 41 Pandel, Hans-Jürgen: Reden als Quellengattung, in: Geschichte lernen 85 (2002), S. 6–13, hier S. 10. 42 Siehe Bühl-Gramer, Charlotte: „Kurze Gedanken, aber tiefe Empfindungen“. Mädchenbildung im 19. Jahrhundert, in: Bennewitz, Nadja/Franger, Gaby (Hg.): Am Anfang war Sigena. Ein Nürnberger Frauengeschichtsbuch, Cadolzburg 1999, S. 138–152. 43 Tonger-Erk/Wagner-Egelhaaf: Einspruch, S. 16. 44 Zitate aus: Bischoff,/Wagner-Egelhaaf: Mitsprache, S. 17.
Frauen sind der Rede wert
auch im Unterricht behandeln lassen: „Warum kennen wir so wenige Rednerinnen? Was hielt Frauen von der öffentlichen Rede ab? Oder wurden sie einfach nicht wahrgenommen?“45 Die seit der Antike bestehende Prämisse von der Rhetorik als einer männlich geprägten Disziplin, getragen von als ausschließlich männlich gedachten Rednern sollte erkannt und hinterfragt werden.46 Denn wie gelang es unter diesen Voraussetzungen Frauen selbst in der Antike öffentliche Reden zu halten? Es war in einer politischen Krisensituation, als Hortensia (geb. um 90 v. Chr.) im Jahr 42 v. Chr. eine Rede auf dem Forum Romanum vor den Triumvirn hielt.47 Hortensia gilt als die erste Frau in der abendländischen Geschichte, die den Ausschluss von Frauen aus dem öffentlichen Leben anprangerte: […] warum sollten wir Steuern [zahlen], da wir nicht im Mitgenusse von obrigkeitlichen Ämtern und Ehrenstellen und Provinzen sind, überhaupt keinen Teil an der Staatsverwaltung haben […]?48
Die Umstände ihres öffentlichen Auftretens sind für das Verständnis der Ereignisse nach Caesars Ermordung einer zielführenden Analyse wert. Die Tatsache, dass Reden antiker Frauen nur indirekt überliefert vorliegen, wird als eine „kulturgeschichtliche Geringschätzung“49 interpretiert. Dies kann als Lernanlass genutzt werden, um die Sicht der zeitgenössischen Schriftsteller und späteren Geschichtsschreiber in Bezug auf öffentlich sprechende Frauen zu erarbeiten: Wie nahmen sie den Redeauftritt von Frauen wahr? Was hielten sie für angemessenes Sprechen? Die Analysekategorie Geschlecht, angewandt auf die Äußerungen dieser gesellschaftlichen Elite, wirft die Frage nach deren (männlichem) Selbstverständnis und die sich daraus ergebenden Folgen in Bezug auf das Geschlechterverhältnis auf. Da die Tradition der Redekunst die längste Zeit mit dem männlichen Subjekt verbunden war, muss die nur vermeintlich geschlechtsneutrale Charakteristik der Sprechkunst hinterfragt werden – auch im Geschichtsunterricht. Gleichzeitig muss
45 Tonger-Erk/Wagner-Egelhaaf: Einspruch, S. 14. 46 Diese weiterführende Fragestellung fehlt bei Tischner: Historische Reden, S. 12. 47 Dem Rhetoriklehrer Quintilianus (35–96 n. Chr.) lag die Rede im Original vor, sie ist in griechischer Sprache überliefert von dem Geschichtsschreibers Appian von Alexandria (95–165 n. Chr.). Dies bestätigt Valerius Maximus (1. Jh. n. Chr.), der sie als eine von drei Frauen aufzählt (neben Amesia und Afrania), die vor dem Magistrat geredet haben. Zudem erwähnt Cicero, dass Frauen Reden hielten. Zu Hortensia siehe: Dettenhofer, Maria: Frauen in politischen Krisen. Zwischen Republik und Prinzipat, in: Dies. (Hg.): Reine Männersache? Frauen in Männerdomänen der antiken Welt, München 1994, S. 133–157; Costantini, Dagmar: Die Frau in der Politik, Politik der Frau, in: Frauen in Augusta Raurica. Dem römischen Alltag auf der Spur, hg. Jenny, Mirjam T./Schaffner, Brigitte, Römerstadt Augusta Raurica 2001, S. 69–78. 48 Dettenhofer: Frauen in politischen Krisen, S. 140 f. 49 Tonger-Erk/Wagner-Egelhaaf: Einspruch, S. 20.
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die ebenso bestehende Tradition vom Schweigen der Frauen auf ihre Ursprünge zurückgeführt und die Frage aufgeworfen werden: Wer bestimmt(e), was wert ist, in die Geschichte einzugehen? Zu Beginn unserer Schriftlichkeit wird Penelope in Homers Epos über Odysseus durch ihren halbstarken Sohn Telemachos zum Schweigen gebracht, „die Rede ist Sache der Männer“, weist er seine Mutter zurecht. Die für ihre Streitbarkeit bekannte Althistorikerin Mary Beard interpretiert diesen Akt dahingehend, dass hier ein heranwachsender Mann bereits gelernt hatte, die Verfügungsgewalt über die Frauen des Hauses zu übernehmen und sie zum Schweigen zu bringen.50 Heutige Schüler:innen sollten diesen „klassischen homerischen Augenblick“51 , in dem einer Frau das Wort verboten wurde, als historisch fremd erfahren dürfen und historisch begründet darlegen können. Ein Curriculum, das Reden von Frauen aus unterschiedlichen Epochen miteinbezieht und die klassische Rhetoriklehre um gendersensible Fragestellungen erweitert, ist ein Desiderat.52 Dabei muss das Spektrum weit gespannt werden: Im Hochmittelalter beschäftigte sich Hildegard von Bingen auf ihren Predigtreisen mit kirchenpolitischen Fragen und setzte sich dabei über das biblische Diktum53 , wonach Frauen in den Gemeinden zu schweigen haben, hinweg; Bertha von Suttner und Rosa Luxemburg behandelten in ihren Reden die historischen wie gegenwärtigen Schlüsselprobleme Krieg und Frieden; Clara Zetkins Rede im Reichstag als Alterspräsidentin gegen die erstarkenden Nationalsozialisten ist gar im Originalton überliefert und der globalgeschichtliche Blick auf „Frauenreden“ jenseits europäischer Grenzen eröffnet weitere Horizonte: Lesen wir die Reden von Frauen! Hören wir ihnen zu! Vermeiden wir in unserem Geschichtsunterricht die Erfahrung der radikaldemokratischen Nürnbergerin Dr. Julie Meyer (1897–1970), die schrieb: „Es gibt nichts langweiligeres, als wenn in einer Versammlung drei Männer hintereinander reden.“54
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Beard: Frauen & Macht, S. 13 f. Dort auch das Zitat. Ebd., S. 14. Der Band von Tonger-Erk/Wagner-Egelhaaf: Einspruch, ist hierfür eine geeignete Ausgangslage. 1 Tim 2,11: „Einer Frau gestatte ich nicht, dass sie lehre […].“ In der Forschung ist es Konsens, dass die Pastoralbriefe nicht von Paulus stammen, sondern erst später entstanden, geschaffen, um als Paulusworte die entsprechende Autorität auszustrahlen, vgl. Gössmann, Elisabeth: Religiös-theologische Schriftstellerinnen, in: Geschichte der Frauen, Bd. 2: Mittelalter, hg. Klapisch-Zuber, Christiane, Frankfurt a. M./New York 1993, S. 495–510, hier S. 496. 1 Kor 14,34: „Frauen [sollen] in der Versammlung schweigen; es ist ihnen nicht gestattet zu reden“ ist nachträglich in einen ansonsten authentischen Paulusbrief eingefügt worden. Ich danke Prof. Dr. Sabine Bieberstein für ihre Hinweise, vgl. Bieberstein, Sabine/Kosch, Daniel: Paulus und die Anfänge der Kirche, Zürich 2 2014. 54 Meyer, Julie: Die gefährdete Frauenstellung in der Republik, in: Echo 1(1928), S. 2–4; Franger, Gaby: „Es leben die guten wie die schlechten Zeiten mit uns, und beide haben uns geformt.“ – Dr. Julie Meyer, in: Bennewitz/Franger: Geschichte der Frauen, S. 330–340.
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Karikaturen und das Problem der Teleologie im Geschichtsunterricht
Die Geschichtsdidaktik gehört zu den Disziplinen, die sich mit Karikaturen auseinandersetzen. Sie tut dies vornehmlich im Rahmen ihrer Arbeit mit Bildquellen, die für die praktischer Arbeit in Schulen und anderen Vermittlungskontexten wie Gedenkstätten und historischen Museen erschlossen werden.1 Als Teil dieses visuellen Mediums charakterisierte Hans-Jürgen Pandel Karikaturen einst als gezeichneten Leitartikel oder Kommentare knapp, aber sicher treffend, womit er sie einer politisch aktiven Kunst zuordnete.2 Die neueste, eher essayistische, aber historische Darstellung des Journalisten Andreas Platthaus, eines Kenners der Szene, betont dazu die Intention des Karikaturistischen: Aufklärung als Schlüsselbegriff zum Verständnis des Genres.3 Doch wird der Einsatz der Karikatur im Unterricht dieser Absicht gerecht? Karikaturen sind meinungsfreudig und können im Geschichtsunterricht doch nur in begrenzter Auswahl präsentiert werden. Besteht durch Karikaturen damit nicht die Gefahr einer forcierten Teleologisierung der historischen Narration, die durch zunehmende Verknappung, Pointierung und Verkürzung in der Darstellung bestimmter Epochen gerahmt wird? Dies förderte die narrative Geschlossenheit des Unterrichts, die Geschichte als Singular, um es mit Koselleck zu sagen, indem der in die Zukunft hinein stets offene Prozess der Geschichte auf ein bestimmtes Ziel hin verengt erzählt wird, ohne diese narrative Notwendigkeit, einen Endpunkt
1 Bühl-Gramer, Charlotte: Visuelle Zeugnisse – Historizität des Visuellen – Bildermacht: Bilder in Geschichtsdidaktik und Geschichtsunterricht, in: Kirschenmann, Johannes/Schulz, Frank (Hg.): Begegnungen. Kunstpädagogische Perspektiven auf Kunst- und Bildgeschichte (Kunst Geschichte Unterricht, Sonderreihe Bd. 2; KREAplus Bd. 20), München 2021, S. 688–708. 2 Pandel, Hans-Jürgen: Karikaturen. Gezeichnete Kommentare und visuelle Leitartikel, in: Pandel, Hans-Jürgen/Bergmann, Klaus (Hg.): Handbuch Medien im Geschichtsunterricht, Schwalbach/Ts. 2 2002, S. 255–276. Eine weitere Diskussion der Literaturlage und -geschichte muss hier unterbleiben, einige meines Erachtens besonders wichtige Arbeiten seien als Referenz genannt: Krammer, Reinhard: Die Verwendung der Karikatur im Geschichtsunterricht, in: Zeitgeschichte 20 (1993), S. 315–339; Schnakenberg, Ulrich: Die Karikatur im Geschichtsunterricht, Schwalbach/Ts. 2012 und zuletzt Pöllath, Moritz: Examenstrainer Geschichtsdidaktik, Paderborn 2022, S. 33–49. 3 Platthaus, Andreas: Das geht ins Auge. Geschichten der Karikatur (Die Andere Bibliothek 381), Berlin 2016, bes. S. 3; als konträre, marxistische Darstellung: Piltz, Georg: Geschichte der europäischen Karikatur, Ostberlin 1976.
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zu setzen, als solche offenzulegen. In Zeiten von Pluralität und kultureller Diversität müsste diese Engführung und Essentialisierung hinterfragt werden. Das Thema wird im Folgenden anhand von Karikaturen aus Schulbüchern behandelt. Ausgewertet wurden die aktuellen Gymnasialschulbücher4 vornehmlich der neunten Jahrgangsstufe des neuen LehrplanPLUS in Bayern, der für diese Jahrgangsstufe 2021/22 in Kraft trat. Zur Kontrolle wurden ein entsprechendes Realschulbuch sowie eine Reihe älterer Lehrwerke herangezogen. Bei der Untersuchung der Schulbücher (und Lehrerbände!) geht es nicht darum, Repräsentativität anzustreben oder Aussagen über Schulbücher im Allgemeinen zu treffen, sondern nur zu belegen, dass das Problem eines manipulativen Narrativs tatsächlich auftreten kann, wenn im Unterricht zu unbesorgt und unreflektiert gearbeitet wird. Dies gilt auch für die Berücksichtigung von Aufgabenstellungen: Wie wird mit den Problemen im Schulbuch umgegangen? Gibt es Aufgaben zur Reflexion des Unterrichts selbst? – wozu bekanntermaßen in den letzten Jahren eine umfangreiche fachdidaktische Literatur entstand, die aber eher formale Zielsetzungen verfolgt.5 Ausgangspunkt war eine Schüler:innenfrage: Wenn alle Welt wusste, dass Hitlers Machtübernahme Krieg bedeuten würde, warum hat man ihn dann gewähren lassen? Die Szene ist schon etwas her, sie könnte sich an der bekannten amerikanischen Karikatur entzündet haben, die Hitler vor Reihen Uniformierter zeigt, den Mund als Kanonenrohr geformt, dem eine Taube entfliegt.6 Diese Karikatur findet sich in drei der sechs herangezogenen Bücher und kann daher als „Dauerbrenner“ des Geschichtsunterrichts bezeichnet werden. Sofern die Unterrichtswerke einen Arbeitsauftrag zu dem Medium vorschlagen, müssen die Schüler:innen anhand der Karikatur die Doppelstrategie der Außenpolitik Hitlers erläutern. Dazu sollen sie in zwei Fällen explizit den – jeweils inhaltsleeren – Verfassertext heranziehen. In einem weiteren Schulbuch (Gymnasium Bayern Geschichte 9) empfehlen die Verfasser:innen, an der US-Karikatur die Hoffnungen und Befürchtungen des europäischen (!) Auslands zu erarbeiten – ein Versehen womöglich.7 Das Problem ist allerdings, dass die Karikatur im Mai erschien, die Verfassertexte zwar den Krieg als Ziel Hitlers hervorheben, davon aber im Frühjahr 1933 nichts zu sehen sein
4 Zugänglich über https://www.km.bayern.de/lehrer/unterricht-und-schulleben/lernmittel.html (10.01.2023). 5 Köster, Manuel: Aufgabenkultur im Geschichtsunterricht, Frankfurt a. M. 2021. 6 The Nation, New York, 17. Mai 1933 (nur das Tagesdatum wird in den Schulbüchern gelegentlich angegeben). 7 Bühler, Arnold/Fritsche, Christian/Hohmann, Franz (Hg.): Geschichte entdecken Bayern 4. Unterrichtswerk für Geschichte an Realschulen, Bamberg: CC Buchner 2021, S. 107; Baumgärtner, Ulrich/ Rogger, Herbert/Weigand, Wolf (Hg.): Horizonte Gymnasium 9. Jahrgangsstufe Bayern, Braunschweig: Westermann 2021, S. 89; Gawatz, Andreas/Gießinger, Andreas (Hg.): Gymnasium Bayern Geschichte 9, Braunschweig: Westermann 2022, S. 105.
Karikaturen und das Problem der Teleologie im Geschichtsunterricht
konnte. Bekanntlich wurde damals in Genf über allgemeine Abrüstung verhandelt und am 7. Juni 1933 der sogenannte Viererpakt zwischen Frankreich, Italien, Großbritannien und dem Deutschen Reich zur Lösung der allgemeinen Streitfragen paraphiert (der allerdings nie in Kraft trat). Als erstes brauchbares Faktum wird den Schüler:innen vielmehr der Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund serviert, manchmal sogar mit Datum – Oktober (!) 1933. Nun zeigt die amerikanische Karikatur auch keineswegs Soldaten, wie die Realschulautoren meinen, sondern SA-Leute, die bestenfalls leicht bewaffnet sind.8 Man mag mit solchen Manipulationen beziehungsweise hilfreichen Deutungsangeboten zwar der Außenpolitik Hitlers (sind solche Personalisierungen noch zulässig?) gerecht werden, nicht aber der Karikatur, die kompetenzorientiert erschlossen und nicht im Sinne eines vorbestimmten Narrativs im Unterricht interpretiert werden sollte. Immerhin darf festgestellt werden, dass zum Thema Machtübernahme 1933 die verhältnismäßig harmlose Karikatur mit Hindenburg als Zauberer und dem Reichskanzler Hitler als einem Kanzler unter vielen in der Ära der Präsidialkabinette in zwei Schulbüchern aufgenommen wurde.9 Ob sie im Sinne einer Dekonstruktion ihrer Narration im Unterricht kritisch erschlossen wird, muss offen bleiben. In zwei Schulbüchern wurde „The Temporary Triangle“ aus dem Punch10 (08.02.1933) veröffentlicht, die das Zweckbündnis von Papen, Hitler und Hindenburg zum Gegenstand hat.11 Noch weniger telelogisch zu missbrauchen, da sie die Debatte um Hitlers „Friedenspolitik“ und nicht diese selbst ironisiert, ist „Adolf in the looking-glass“ (12.05.1934),12 die der Klett-Verlag für sein Lehrwerk aufgegriffen hat, während das Horizonte-Buch (Westermann) trotz identischem Herausgeber diese Karikatur nur in einer alten Auflage zeigt – Angst vor der hier medienkritisch gewendeten Ambivalenz und Offenheit, durch die sich gerade viele britische Karikaturen auszuzeichnen scheinen? Obwohl Ulrich Baumgärtner betont hat, dass das Thema NS im Geschichtsunterricht eines wie jedes andere auch sei, ist es doch nicht selbstverständlich, Schüler:innen Standpunkte und Redeweisen aktiv gewinnen
8 Bühler: Geschichte entdecken Bayern 4, S. 112. 9 Zeichner Karl Arnold im Simplicissimus 12.02.1933. Sauer, Michael (Hg.): Geschichte und Geschehen 9, Stuttgart: Klett 2021, S. 40; Baumgärtner: Horizonte Gymnasium 9, S. 49. 10 London ab 1841. 11 Brückner, Dieter/Koller, Josef (Hg.): Das waren Zeiten 4. Unterrichtswerk für Geschichte an Gymnasien, Bamberg: CC Buchner 2021, S. 49; Bäuml-Stosiek, Dagmar/Cornelißen, Hans-Joachim/ Wimmer, Silvia: Forum Geschichte 9 Gymnasium Bayern, Berlin: Cornelsen 2021, S. 43. 12 Punch Magazine: https://magazine.punch.co.uk/image/I0000zf8heWR0dkY (10.01.2023); Sauer: Geschichte und Geschehen, S. 77; Baumgärtner, Ulrich/Weigand, Wolf (Hg.): Horizonte 9. Geschichte Gymnasium Bayern, Braunschweig: Westermann 2007, S. 76.
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zu lassen, anstatt sie einfach passiv zur Übernahme anzubieten.13 Aber dass die Verfasser:innen in der kurzen Zeit der Erarbeitung neuer Schulbücher nach der übereilten Umstellung des Lehrplans und dem Vernehmen nach heftiger Eingriffe im Rahmen des Schulbuchgenehmigungsverfahrens nichts (mehr) falsch machen wollten, ist nur zu verständlich. Ein weniger toxisches Thema stellt mittlerweile die sogenannte Kaiserzeit von 1871 bis 1918 dar, wie das weitgehend resonanzlose Gedenkjahr 1871/2021 zeigte. Dass es Qualitäten hat, die von Jörn Rüsen ausgerufene psychologische Dimension der Geschichtskultur mit Beispielen zu füllen,14 bewiesen die Debatten um die Historikerin Hedwig Richter.15 Weil die alltägliche lebendige Erfahrung des verblichenen Kaiserreichs vieler im Bildungsbereich Tätigen meist von seinen überkommenen und offenbar qualitativ wertvollen Bildungsbauten gekennzeichnet ist – in Bayreuth stammen drei von fünf großen Schulbauten der höheren Bildung überwiegend aus dieser Zeit, aber auch im Volksschulbereich sieht es ähnlich aus –, mag man eine déformation professionelle vermuten, die zu sehr auf die Errungenschaften von Schulreformen und Alphabetisierung fokussiert. Dagegen ist das Bildgedächtnis zur Kaiserzeit, zu dem die Jubilarin selbst einen bemerkenswerten Überblick verfasst hat,16 hinsichtlich des medialen Gegenstandes Karikaturen von ziemlicher Einseitigkeit bei der Behandlung dieser kurzen, aber doch fortwirkenden Epoche europäischer und deutscher Geschichte geprägt. Es gibt wohl kaum ein Geschichtsschulbuch, das nicht auf eine antimilitaristische Karikatur des Simplicissimus (München 1896) zurückgriffe, in der das wilhelminische Militär, dessen gesellschaftliche Dominanz oder die ihm entgegengebrachte fast sklavische Wertschätzung dem öffentlichen Spott preisgegeben wird. Eine Schüler:innenfrage dazu, nämlich nach dem Widerspruch zwischen vermeintlich sakrosankter gesellschaftlicher Stellung und der ungebremsten Spottlust, ist mir bislang nicht begegnet, stattdessen aber eine kleine Episode aus der spanischen Geschichte: „Der Katalinismus in Verbindung mit den korporativen Interessen der Militärs entwickelte sich 1905/06 zur Herausforderung für die Regierung. Eine armeekritische Karikatur in einem satirischen katalanischen Magazin (Cu-Cut) löste einen Entrüstungssturm mit gewalttätigen Aktionen unter den Streitkräften
13 Baumgärtner, Ulrich: Nationalsozialismus und Schule, in: Liebrandt, Hannes/Barricelli, Michele (Hg.): Aufarbeitung und Demokratie. Perspektiven und Felder der Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur in Deutschland, Frankfurt a. M. 2020, S. 139–149, Thesen 2, 4. 14 Rüsen, Jörn: Historische Sinnbildung. Grundlagen, Formen, Entwicklungen, Wiesbaden 2020, S. 46–49. 15 Vgl. die Artikel, die z. B. „google“ auswirft zu „Hedwig Richter Streit Kaiserreich Demokratie“. Ähnlich Hiery, Hermann: Deutschland als Kaiserreich. Der Staat Bismarcks, Wiesbaden 2021. 16 Bühl-Gramer, Charlotte: Das Kaiserreich im Bild, in: Bernhardt, Markus (Hg.): Das Deutsche Kaiserreich. Geschichte – Erinnerung – Unterricht, Schwalbach/Ts. 2017, S. 129–161.
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aus. Diese erzwangen schließlich ein Gesetz, das ‚Delikte gegen das Vaterland und die Armee‘ der Militärgerichtsbarkeit unterstellte (Ley de Jurisdicciones, 1906).“17 Diese unscharf, aber doch eindeutig geschilderte Episode der spanischen Geschichte, formuliert in der typischen Erklärsprache moderner deutscher Historiographie, weist vergleichend auf zwei grundlegende Aspekte. Offensichtlich ist in Spanien das Militär weitaus bestimmender gewesen als im Deutschen Reich, wo die Offizierskaste die Karikaturen, ohne ein juristisches Nachspiel zu suchen, über sich ergehen lassen musste, was einiges an Liberalität und Meinungsfreiheit voraussetzt. Interessant ist auch der Punkt, dass der innerspanische Konflikt direkt auf die Diversität der spanischen Nation, hier den klassischen Gegensatz zwischen den Katalanen und dem Rest verweist. Ließe sich das auf das Deutsche Reich übertragen? Der Simplicissimus in München nahm vielfach eine dezidiert bayerische Haltung ein, ohne sich eine katholisch-klerikale Sicht zu eigen zu machen. Der vermeintliche Militarismus zielte also auf die Norddeutschen, die Preußen. Es handelt sich um ein Abbild innerdeutscher Diversität, im 18. Jahrhundert in den deutschen Dualismus geronnen, was sich seit Jahrhunderten konstant, wenn auch in unterschiedlichen Ausprägungen beobachten lässt. Schon im Mittelalter gab es einen Nord-Süd-Gegensatz.18 Bis zum 16. Jahrhundert und darüber hinaus pflegten die Sachsen ihren Hass auf die sogenannten Schwaben,19 Vorgänger des heute gerne aufgerufenen Ost-West-Gegensatzes und genährt durch die Kriege um 1100 und 1300. Dieser Dualismus, so ist zu folgern, wählte sich die unterschiedliche Wertschätzung des Militärischen zum Symbol politischer Kontroverse und kultureller Abweichung, als die Konfession als leitendes Prinzip ihre Bedeutung, die sie noch im 18. Jahrhundert besaß, verloren hatte. Dies gilt es für den Simplicissimus (und auch andere Blätter aus dem süddeutschen Sprachraum) als zentralen Kontext zu beachten. Natürlich bietet sich im Unterricht die einfache Narration aus Militarismus und Erster Weltkrieg mit der Karikatur buchstäblich als Medium an, wobei die Kausalitäten ohnehin nicht sehr überzeugend wirken. Doch darf eine einzelne Karikatur nicht teleologisch als Beitrag zur Kriegsschulddebatte gelesen werden. Jedes Medium als Quelle ist zu kontextualisieren, um zu verhindern, dass die normative Triftigkeit der Unterrichtsnarration zu Lasten der empirischen Triftigkeit geht, die in ein verantwortliches Sachurteil hätte münden sollen. Denn dies wäre
17 Herold-Schmidt, Hedwig: Vom Ende der Ersten zum Scheitern der Zweiten Republik, in: Schmidt, Peer (Hg.): Kleine Geschichte Spaniens, Stuttgart 2002, S. 329–442, hier S. 379. 18 Seidlmayer, Michael: Deutscher Nord und Süd im Hochmittelalter, Bielefeld 1928. 19 Dingel, Irene/Wartenberg, Günther (Hg.): Kirche und Regionalbewusstsein in der Frühen Neuzeit (Leucorea-Studien zur Geschichte der Reformation und der Lutherischen Orthodoxie 10), Leipzig 2008.
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eine Überwältigung der Schülerschaft und jedem reflektierten Geschichtsunterricht entgegengerichtet. Wenigstens ein Beispiel der durchaus möglichen Ambivalenz zeigt die schon vielfach in fachlichem Kontext der Karikaturenforschung publizierte Grafik „Kaisermanöver“ von Olaf Gulbransson aus dem Simplicissimus,20 die den bayerischen Prinzen Ludwig (III.) dem Spott preisgab – die Münchner nannten ihn respektlos „Millibauer“ wegen seines Interesses für die Landwirtschaft. In die Geschichtsschulbücher ist die Karikatur nicht eingegangen, zu wenig bedient sie das telelogische Narrativ vom Militarismus. Dabei geht es ums Militärische, das durchaus ambivalent dargestellt wird, doch ist die Sympathie des Zeichners nicht eindeutig verteilt. Der Prinz wirkt schlampig, aber gemütlich, pazifistisch. Der Kaiser erscheint als Poser, stellt sich aber seiner Aufgabe gewissenhaft und informiert. Dabei war er in Wirklichkeit körperlich gehandicapt, was dazu führte, dass die auferlegten körperlichen Pflichten dieser Art rund um Manöver keineswegs ein Vergnügen waren. Ein bayerischer Oberstaatsanwalt soll seinen für den Simplicissimus zuständigen Kollegen in Stuttgart gebeten haben, ein Verfahren gegen den Zeichner wegen Beleidigung des Prinzen Ludwig einzuleiten, was jedoch unterblieb.21 In der Zeichnung stecken also zahlreiche Aspekte: Neben der Kritik am militärischen Gehabe auch die am Gegenteil, dann die jahrhundertealte binnendeutsche Diversität, ferner die Kritik am vor allem männlichen Körperkult, der durch Uniformkleidung wohl eher befeuert wurde als durch die verhüllende Frauenkleidung der Zeit, auch dies kein ganz seltenes Thema des Simplicissimus.22 Nur für eines eignet sich die Karikatur kaum: eine straffe teleologische Narration im Unterricht durchzuziehen. Zu ihrer Zeit provozierend, heute ambivalent wahrgenommen und vielfältige Fragen an die Vergangenheit beantwortend, scheint es sich um eine gute, aufklärende 20 Simplicissimus Jg. 14, Nr. 25 (1909), S. 424. Bewertungen und Abbildungen von Erichsen, Johannes/ Brockhoff, Evamaria: Bayern & Preußen (Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur Nr. 41/99), Augsburg 1999, S. 126, 473 (Katalogtext von Katharina Heinemann); Koschatzky, Walter (Hg.): Karikatur & Satire. Fünf Jahrhunderte Zeitkritik (Katalog zur Ausstellung in der Kunsthalle München), München 1992, S. 159 (Nr. 141): Kommentar von Carla Schulz-Hoffmann. Vgl. Simplicissimus. Eine satirische Zeitschrift, München 1896–1944. Haus der Kunst, München 19. November 1977–15. Januar 1978, München 1977, S. 151 Karikatur, S. 152 Text von Ders.; Koch, Ursula E./Behmer, Markus (Hg.): Grobe Wahrheiten – wahre Grobheiten, feine Striche – scharfe Stiche: Jugend, Simplicissimus und andere Karikaturen-Journale (Ausstellung), München 1996, S. 72. 21 Koch/Behmer: Grobe Wahrheiten, S. 72. 22 Die Hinweise verdanke ich cand. phil. Ralf Weißkopf: [Pictura: Szene in der Männerumkleide]: Inscriptio: Das weiß Gott! Subscriptio: „Man kann sagen, was man will, Herr Oberstudienrat, ein nackter Körper ist doch was scheußliches!“. Zeichnung von Bruno Paul Jg. 11 (1906); [Pictura: Zwei Herren unterhalten sich.] Inscriptio: Konversation. Subscriptio: „Verzeihen Sie, mein Herr, sind Sie katholisch?“ – „Nein, ich sehe bloß so aus.“ Zeichnung: Emil Preetorius, 1908, Simplicissimus 12/42 (1908), S. 690.
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Titel: Kaisermanöver. Subscriptio: „Seine Majestät erklären dem Prinzen Ludwig von Bayern die feindlichen Stellungen.“ Simplicissimus 1909 Jg. 14, Nr. 25, S. 424, Zeichner Olaf Gulbransson. Klassik Stiftung Weimar. © Olaf Gulbransson / VG Bild-Kunst, Bonn
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Karikatur zu handeln. Sie zeigt ansatzweise die Vielfalt der im Simplicissimus behandelten Themen,23 die im Schulunterricht nicht einfach auf den Dienst am Paradigma Militarismus reduziert werden dürfen. Geschichtsunterricht hat, wenn er seine bekannten Zielsetzungen ernst nimmt (und sei es nur die in aller Munde geführte Medienkritik), das Prinzip Selektivität, nach dem jede Zuwendung zur Vergangenheit erfolgt, wenigstens ansatzweise sichtbar zu machen.24 Eine ähnliche Verkürzung im Unterricht wie der ganze „Simpl“ erfährt oft die in der Tat klassische Karikatur „Dropping the pilot“,25 die jeder Schüler und jede Schülerin gesehen haben sollte, weil sie in so vielen Varianten das karikaturistische Bildgedächtnis prägte – interessanterweise ist sie eher selten in den Schulbüchern vertreten. Übersetzt wird dies mit „Der Lotse geht von Bord“.26 Ob das Schiff ein Kriegsschiff sein soll, das Bismarck, der entlassene Kanzler, verlässt, bleibe dahingestellt. Real bedeutet dies die Gefahr, gleich Flottenpolitik und Krieg zu sehen, was aber 1890 überhaupt kein Thema war. Interessant an der englischen Fassung ist ihre bislang nur unzureichend bedachte sprachliche Ambivalenz.27 Das Verb to drop kann in übertragener Bedeutung damals (!) sowohl fallen lassen wie auch fahren lassen bedeuten – die Initiative bleibt damit offen, zumal Bismarck den Konflikt mit dem jungen Kaiser zuvor nicht gescheut hatte. Einer Seefahrernation vertraut, ist ein „pilot“ im Englischen sowohl ein Steuermann wie ein Lotse. Verlässt dieser das Schiff, dann ist es von nun an in sicherem Fahrwasser, da es keinen Lotsen mehr benötigt, geht jener von Bord, ist das Schiff führerlos – gegensätzlicher könnte die Interpretation kaum sein, die im sachlichen Kontext der Schifffahrt klar ist, in der übertragenen Bedeutung der Karikatur jedoch nicht. Auch diesseits eines bilingualen Geschichtsunterrichts wird hier die Schwierigkeit von Übersetzungen deutlich, was eigentlich ein bedeutender Reflexionsanlass sein könnte. In der realen Unterrichtssituation ist davon vermutlich wenig zu bemerken; entsprechende Impulse werden nicht gegeben, der einmal mehr zu beobachtende Fokus auf Außenpolitik (die bei der Bismarck-Entlassung praktisch keine Rolle spielte) führt zu einer Verkürzung und damit einem Missbrauch der Karikatur für Zwecke des
23 Dazu vor allem der Katalog Simplicissimus. Eine satirische Zeitschrift. 24 Körber, Andreas/Schreiber, Waltraud/Schöner Alexander: Kompetenzen historischen Denkens (Kompetenzen. Grundlagen – Entwicklung – Förderung 2), Neuried 2007, S. 25. 25 Punch 29.3.1890, Zeichner John Tenniel. 26 Sauer, Michael: Geschichte unterrichten. Eine Einführung in die Didaktik und Methodik, SeelzeVelber 10 2012, S. 109; Arndt, Karl: „Dropping the Pilot“ oder „Der Lotse geht von Bord“, in: Guratzsch, Herwig (Hg.): Der Lotse geht von Bord. Zum 100. Geburtstag …, Hannover 1991, S. 10–45; Buntz, Herwig/Erdmann, Elisabeth: Fenster zur Vergangenheit. Bilder im Geschichtsunterricht, Bd. 2, Bamberg 2009, S. 99–102. 27 Köhler, Friedrich (Begr.)/Lambeck, Hermann (Bearb.): Handwörterbuch der englischen und deutschen Sprache Leipzig 31 1894, S. 150, 375.
Karikaturen und das Problem der Teleologie im Geschichtsunterricht
dem Militarismus und dem Untertanenstaat als übergreifender Erklärung hörigen teleologischen Narrativs.28 In Hinblick auf das unverstellte Original Tenniels zeigt sich wieder, wie schon oben bei „Adolf in the looking-glass“, dass eine gute Karikatur offenbar vor allem diejenige ist, die eine ambivalente und offene Deutung zulässt, die durch eine rationale Distanz des Zeichners zu seinem Gegenstand und Ironie überhaupt erst ermöglicht wird. Vielleicht tritt dieses Merkmal – wie schon oben vermutet – häufiger bei angelsächsischen Karikaturen auf. Hat man doch in Großbritannien in der Blütezeit der Karikatur sogar den Versuch unternommen, Geschichte zu karikieren – was allerdings zu Cartoons führte, aber offensichtlich dazu gedacht war, der Historiographie als gravitätischer Veranstaltung die ernste Spitze zu nehmen.29 Unterrichtlich gesehen öffnet die ambivalente Karikatur trotz ihrer Wertungsfreudigkeit das Narrativ für unterschiedliche Deutungsansätze eines kommentierten Geschehens bereits in der Zeit selbst und bricht damit den Unterricht auf. Auf der Skala des Karikaturistischen ist die ambivalente Karikatur damit das komplette Gegenteil vom Schand- bzw. Hetz- oder Schmähbild.30 Damit sind wir bei der Verantwortung der Lehrkraft, die zwischen den Extremen eines flüssigen Unterrichtsablaufs, einer klaren Narration und der Widerständigkeit der doppelt kritisch einzusetzenden Medien steht. Doppelt, weil sich die Analytik stets sowohl auf das Medium wie auf seinen Einsatz im Unterricht zu beziehen hat. Reinhard Krammer weist explizit auf das Problem der Auswahl einer Karikatur hin, die immer auch eine für Schülerinnen und Schüler zunächst unausgesprochene Relevanzentscheidung beinhaltet. Die Karikatur beansprucht im Unterricht uneingestanden Repräsentativität, die ihr jedoch als individuelle Meinungsäußerung nie zukommt. Sie ist für Kurzschlüsse und als grafisches Symbol für manipulative Vereinfachungen anfällig.31 Ihre affirmative Verwendung für den Lehrerstandpunkt lässt sich nur durchbrechen, wenn Reflexionsaufgaben, so sie denn überhaupt vorkommen, nicht ausschließlich zur immanenten Interpretation oder Narration gestellt werden. Nach Beobachtungen Näpels scheint dies jedoch nicht der Fall zu sein; und auch der Umgang mit den neuesten Lehrwerken gibt kaum Anlass zur Hoffnung, dass sich dies geändert hätte.32 Die Aufgabenstellung muss neben der Karikatur oder dem Gegenstand zum Beispiel „Außenpolitik“ auch die Position
28 Hier nach Bühler: Geschichte entdecken Bayern 4, S. 24 und Dies.: Lehrerband, 2021, S. 19. 29 Abbott à Beckett, Gilbert: The Comic History of Rome, from the Founding of the City to the End of the Commonwealth. Illustrated by John Leech, London o. J. 30 Vgl. Pandel: Karikaturen, S. 259. 31 Krammer: Verwendung der Karikatur, S. 321 f.; Näpel, Oliver: Politische Karikaturen im Unterricht, in: Eins. Entwicklungspolitik Information Nord-Süd 9 (2006), S. VIII–XV, hier S. IX. 32 Ebd., S. X.
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der Karikatur im Unterrichtsgeschehen im Blick haben und behandeln. Eine einzige Ausnahme ist mir bislang in einem deutschen Schulbuch begegnet: Das von Michael Sauer betreute Lehrwerk des Klettverlags fragt zu einem antisemitischen Schandbild des Nationalsozialismus (bezeichnet als Q1): „Manche sind der Meinung, Lernmaterialien wie Q1 sollte man in Schulbüchern gar nicht abdrucken, weil sich antisemitische Stereotype so verfestigen würden. Diskutiert, inwieweit ihr dieser Einschätzung zustimmt.“33 Um zu einem Fazit zu kommen: Das Lehrermonopol,34 jene Kombination aus fachlicher und didaktischer Expertise einerseits und der kommunikativen Asymmetrie des Bildungssystems andererseits, verlangt beim Einsatz von Karikaturen eine besondere Verantwortung. Die Gattung erfordert nach der Rekonstruktion der Wertung eine Dekonstruktion von deren Triftigkeit. Das ist unstrittig, denn die Karikatur steht als offene Quellengattung für Perspektivität und ein Bekenntnis zu einem historischen Werturteil, womit sie einen propädeutischen Charakter für den kritischen Geschichtsunterricht überhaupt hat. Aber zusätzlich muss in dem Zusammenhang beachtet werden, dass die mediale Interpretation vom Gesamtzusammenhang der Narration, man könnte es Diskurs nennen, dominiert wird: Es herrscht Teleologie. Konkret wird ein bestimmtes Stundennarrativ oder gar ein Epochennarrativ erzählt, das die Arbeit mit der Quelle dominiert, anstatt eine Balance aus gegenwärtigem Werturteil und Sachurteil über das historische Objekt zu erzeugen. Das Verhältnis artikuliert sich als übergeordnete, dominante Ebene, was den häufigen Fehlschluss befeuert, dass, sofern die Karikatur eben subjektiv sei, der (bestätigten) Narration Objektivität zukomme. Die Narration wird damit verbindlich anstatt zum Diskussionsgegenstand. Selbstreflexivität gilt eben nicht nur für das Geschichtsbewusstsein und gelegentlich für das Medium der Karikatur selbst, sondern ebenso für den Geschichtsunterricht. Schulbücher des Faches müssten dies verwirklichen. Dass dabei noch Luft nach oben ist, zeigen die Untersuchungen, aber auch Hoffnungszeichen. Insgesamt herrscht jedoch nach wie vor ein autoritär-positivistischer Gestus: Die Geschichte steht im Schulbuch.35 Didaktische Ideen zur Dekonstruktion sind allerdings vorhanden, wenn auch meist auf den Darstellungstext bezogen und weniger auf die
33 Sauer: Geschichte und Geschehen, S. 55, Aufgabe 3. 34 Begriff bei Gudjons, Herbert: Neue Unterrichtskultur – veränderte Lehrerolle, Bad Heilbrunn 2006, S. 19. 35 Eine Ausnahme mag das mittlerweile abgeschaltete mBook gewesen sein: https://www.cornelsen.de/ empfehlungen/mbook (10.01.2023); Institut für digitales Lernen: Das mBook NRW: Geschichte denken statt pauken mit einem digitalen Schulbuch, veröffentlicht 22.09.2014: https://www.youtube. com/watch?v=WCkb7M1oCrQ (15.01.2023).
Karikaturen und das Problem der Teleologie im Geschichtsunterricht
besonderen Herausforderungen einzelner Medienarten.36 Dabei könnte das Medium Karikatur als Katalysator wirken und aufklärerisch-emanzipierend funktionieren. Als erwünschter Beifang ermöglichen Karikaturen, gesehen als Kunstwerke, den Aufbau ästhetischer und kultureller Kompetenz im Geschichtsunterricht. Dies ist ein Mehrwert gegenüber der Fähigkeit, auf ein Medium als Quelle zu reagieren, zumal die Karikatur über den Geschichtsunterricht hinaus im Alltag politische und symbolische Bedeutung gewonnen hat – sie stehe für die Aufklärung.37 Dem sollte der Geschichtsunterricht gerecht werden.
36 Mebus, Sylvia: Wie „wahr“ ist Geschichte im Lehrbuch? Zur De-Konstruktion von Darstellungen in Geschichtslehrbüchern als Aufgabe des Geschichtsunterrichts, in: Schreiber, Waltraud/Mebus, Sylvia (Hg.): Durchblicken. Dekonstruktion von Schulbüchern, Neuried 2 2006, S. 36–103. 37 Siehe Einleitung.
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(Digital) Public History und schulisches historisches Lernen Über den langen Weg zu mehr Autonomie
1.
Einführung
Immer wieder begegnen wir an der Universität Lehramts-Studierenden im Fach Geschichte, die sich nach schulpraktischen Einheiten irritiert zeigen vom Widerspruch zwischen einem unterrichtlichen Einsatz nicht-wissenschaftlicher Repräsentationen von Geschichte, beispielsweise Dokumentationen oder Web-Angeboten, zur Vermittlung historischer Zusammenhänge und der geschichtsdidaktischen Forderung nach ihrer kritisch-reflektierten Analyse. Empirische Befunde bestätigen diese Alltagsbeobachtung: Public History dient im Unterricht primär der Vermittlung historischer Inhalte respektive der Wissensvermittlung.1 Medialen Geschichtsformaten wird oft ein motivierendes Potenzial zugeschrieben, sie fungieren als Anknüpfungspunkt zur Lebenswelt der Lernenden im Sinne der Medienund Methoden-Vielfalt. Daniel Münch zeigte in seiner Studie zur Haltung von Geschichtslehrkräften „über die Behandlung von Geschichtskultur“:2 Lehrkräfte nutzen Angebote wie Filme oder Museumsbesuche bevorzugt als Medien des historischen Lernens, wenn sie die Darstellung als angemessen historisch korrekt bewerten.3 Repräsentationen dienen der Re-Konstruktion, fungieren als alternative Darstellungen zur Erarbeitung historischer Themen respektive zur anschaulicheren Wissensvermittlung oder zur Vertiefung, selten als Analyseobjekt. Während historische Spielfilme durchaus als Quelle für ihre Entstehungszeit angesehen und im Unterricht interpretiert werden, behandelte keine der befragten Lehrpersonen eine historische Dokumentation mit kritisch-analytischem Blick, stets setzten sie diese zur Inhaltsvermittlung ein. Museen oder Ausstellungen wurden primär als außerschulische Lernorte angesehen, die historische Sachverhalte auf spezifische Weise vermitteln. Die Förderung der Basisoperation des De-Konstruierens von
1 Vgl. zum Forschungstand Münch, Daniel: Geschichtskultur als Unterrichtsgegenstand. Wie stehen die Lehrer*innen dazu?, Frankfurt a. M. 2021, S. 154–158. 2 Ebd., S. 13. 3 Vgl. ebd., S. 13 und im Folgenden, S. 326 f., S. 347–350, S. 354–358.
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Public History-Angeboten als „analytischem Akt“4 zur Auseinandersetzung mit ihren Konstruktions- und Deutungsmustern kommt in der Regel zu kurz. Wir müssen hinsichtlich des seit etwa 20 Jahren gesetzten geschichtsdidaktischen Paradigmas, Phänomene von Geschichte in der Öffentlichkeit seien im schulischen historischen Lernen auch und vor allem als kritisch zu hinterfragende Lerngegenstände zu berücksichtigen, gravierende Umsetzungsschwierigkeiten beim Transfer in die Praxis konstatieren. Dabei herrscht in unserer Disziplin bekanntermaßen Konsens über die Forderung, inklusives schulisches historisches Lernen solle alle Lernenden zu möglichst mündigen Konsument:innen historischer Repräsentationen verschiedenster Art ausbilden, um ihnen „Teilhabe an der gesellschaftlichen Auseinandersetzung“5 über Geschichte zu ermöglichen. Geschichtsunterricht möge historisch Lernenden ein Verständnis von Geschichte als Sinnkonstruktion vermitteln und weitreichende Autonomie sowie Orientierungshilfe für ein Leben ohne schulische Begleitung an die Hand geben.6 Dafür gelte es, immer wieder historische Repräsentationen ins Klassenzimmer zu holen und mit Schüler:innen spiralcurricular die kritische Auseinandersetzung einzuüben, oder anders ausgedrückt: schrittweise eine historische Medienkompetenz zu fördern.7 Nach Überlegungen von Klaus Bergmann,8 Waltraud Schreiber9 und Hans-Jürgen Pandel10 explizierte neben Letzterem vor allem Dietmar von Reeken 2004 die Aufgabe des Geschichtsunterrichts, Schüler:innen auf einen souveränen Umgang mit der sie umgebenden
4 Schreiber, Waltraud u. a.: Historisches Denken. Ein Kompetenz-Struktur-Modell, Neuried 2006, S. 24. 5 Körber, Andreas: Inklusive Geschichtskultur: Bestimmungsfaktoren und Ansprüche, in: Barsch, Sebastian u. a. (Hg.): Handbuch Diversität im Geschichtsunterricht: Inklusive Geschichtsdidaktik, Frankfurt a. M. 2020, S. 250–258, S. 256. 6 Vgl. Danker, Uwe: Ziele des Geschichtsunterrichts und die Bedeutung der Zeitgeschichte, in: Demokratische Geschichte 26 (2015), S. 301–309, S. 301 f. 7 Vgl. Danker, Uwe/Schwabe, Astrid: Geschichte im Internet, Stuttgart 2017, hier S. 40 ff. 8 U. a. Bergmann, Klaus: „Papa, erklär’ mir doch mal, wozu dient eigentlich die Geschichte?“ – Frühes Historisches Lernen in Grundschule und Sekundarstufe I, in: Ders./Rohrbach, Rita (Hg.): Kinder entdecken Geschichte. Theorie und Praxis historischen Lernens in der Grundschule und im frühen Geschichtsunterricht, Schwalbach/Ts. 2001, S. 8–31. 9 Schreiber, Waltraud: Geschichtskultur – eine Herausforderung für den Geschichtsunterricht?, in: Baumgärtner, Ulrich/Dies. (Hg.): Geschichts-Erzählung und Geschichts-Kultur. Zwei geschichtsdidaktische Leitbegriffe in der Diskussion, München 2001, S. 99–136. 10 U. a. Pandel, Hans-Jürgen: Postmoderne Beliebigkeit? Über den sorglosen Umgang mit Inhalten und Methoden, in: GWU 5/6 (1999), S. 282–291, S. 290.
(Digital) Public History und schulisches historisches Lernen
Geschichtskultur vorzubereiten,11 die als lebensweltliche Erfahrung maßgeblich das individuelle Geschichtsbewusstsein prägt.12 Dieses Ziel wurde in allen breiter rezipierten Kompetenzmodellen schulischen historischen Lernens zu operationalisieren versucht, über den Perspektivrahmen Sachunterricht auch für die Primarstufe.13 Einführungswerke greifen den Anspruch auf, Handbücher bieten Bestandsaufnahmen.14 Welche Gründe lassen sich für das Transferproblem identifizieren? Welche Herausforderungen leiten sich für die Disziplin daraus ab? Welche Rolle spielen hier Fragen der Digitalisierung? Im Folgenden will ich einige Antworten aus dem Forschungsstand zusammentragen, um programmatisch und pragmatisch in groben Linien Perspektiven für Forschung und Lehre zu skizzieren.
2.
(Digital) Public History
In unserer zunehmend digitalisierten Gesellschaft gewinnt die schritt- und stufenweise Ausbildung der angesprochenen historischen Medienkompetenz beständig an Bedeutung. Diverse digitale Repräsentationen von Geschichte buhlen um unsere Aufmerksamkeit und spezifische kindliche – Stichwort TikTok15 – oder jugendliche Zielgruppen. Beispielhaft sei hier auf das Instagramprojekt @ichbinsophiescholl von SWR und BR verwiesen, das vor allem Mädchen und junge Frauen ansprechen
11 Von Reeken, Dietmar: Geschichtskultur im Geschichtsunterricht. Begründungen und Perspektiven, in: GWU 4 (2004), S. 233–240, bes. S. 239 f. Zum Konzept der Geschichtskultur vgl. u. a. Rüsen, Jörn: Geschichtskultur, in: Bergmann, Klaus u. a. (Hg.): Handbuch der Geschichtsdidaktik, Seelze-Velber 5 1997, S. 38–41; Ders.: Historik. Theorie der Geschichtswissenschaft, Köln u. a. 2013, S. 234–246; Schönemann, Bernd: Geschichtsdidaktik und Geschichtskultur, in: Mütter, Bernd/Ders./Uffelmann, Uwe (Hg.): Geschichtskultur. Theorie – Empirie – Pragmatik, Weinheim 2000, S. 26–58. 12 Vgl. u. a. Pandel, Hans-Jürgen: Geschichtsbewusstsein, in: GWU 11 (1993), S. 725–729. 13 Schreiber: Historisches Denken; Sauer, Michael: Kompetenzen für den Geschichtsunterricht – ein pragmatisches Modell als Basis für die Bildungsstandards des Verbandes der Geschichtslehrer, in: Informationen für den Geschichts- und Gemeinschaftskundelehrer 74 (2006), S. 7–20; Pandel, Hans-Jürgen: Geschichtsunterricht nach Pisa. Kompetenzen, Bildungsstandards und Kerncurricula, Schwalbach/Ts. 2007, S. 24–52; Gautschi, Peter: Guter Geschichtsunterricht. Grundlagen, Erkenntnisse, Hinweise, Schwalbach/Ts. 2009, S. 48–53; Gesellschaft für Didaktik des Sachunterrichts: Perspektivrahmen Sachunterricht, Bad Heilbrunn 2013, S. 56–62. 14 Oswalt, Vadim/Pandel, Hans-Jürgen (Hg.): Handbuch Geschichtskultur im Unterricht, Frankfurt a. M. 2021; Hinz, Felix/Körber, Andreas (Hg.): Geschichtskultur – Public History – Angewandte Geschichte. Geschichte in der Gesellschaft: Medien, Praxen, Funktionen, Göttingen 2020. 15 Siehe dazu den Beitrag von Hannes Burkhardt: „Geschichte auf TikTok als Chance für historisches Lernen im Geschichtsunterricht“ in diesem Band.
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will.16 Redaktionsleiter Ulrich Hermann reagierte auf Hinweise auf eine problematische Fiktionalisierung und De-Kontextualisierung historischer Inhalte im Projekt: „Wir sind keine Historiker, die Geschichten deuten – wir erzählen sie“.17 Ein vielsagender Satz, der seinerseits zur Dekonstruktion auffordert … Gerade durch das Distance Learning während der Corona-Pandemie sprossen unzählige, vorgeblich zumindest auch der „Wissensvermittlung“ dienende digitale Geschichts-Angebote verschiedenster Anbieter hervor, gegenwärtig konkurrieren Produzenten für Apps und andere digitale Lernangebote auf dem Markt der „Laptop- oder Tablet-Klassen“. Bildungsimpetus mischt sich mit massiven wirtschaftlichen Interessen. Den Überblick über den Markt zu behalten, scheint unmöglich. Der forciert vorangetriebene Einbau digitaler Endgeräte und Apps in den schulischen Alltag verlief (bisher) weiterhin recht konzeptlos, konzentrierte sich auf die Lösung technischer und sozialer Herausforderungen; noch trägt das Fazit aus dem Sommer 2020,18 dass es im Bereich historisches Lernen an fachspezifischen Bewertungskriterien, geschichtsdidaktisch fundierten Konzepten und qualifizierten Lehr-Lern-Arrangements mangele. Allerdings investiert die Bildungsbürokratie an verschiedenen Stellen derzeit in Programme, um Abhilfe zu schaffen.19 Ich nutze bei den folgenden Reflexionen zum Verhältnis von öffentlicher Geschichte und schulischem historischen Lernen den Begriff der (Digital) Public History, um den Fokus stärker auf Präsentationen von Geschichte in der Öffentlichkeit beziehungsweise für eine breite Öffentlichkeit außerhalb von Wissenschaft und Schule zu richten. Dabei fasse ich Public History als „Formen von Geschichte im öffentlichen Raum“,20 ohne akademische Einflüsse vollständig auszuklammern. Hier ist kein Raum, um auf die existierenden theoretisch-konzeptionellen Diskussionen des Konzepts respektive des Bezugsystems und die oft mit Ressourcenfragen
16 https://www.instagram.com/ichbinsophiescholl/?hl=de (06.02.2023). Vgl. u.a. die Sektion „Digitale Geschichtskultur. Geschichte und Historisches Lernen auf und mit Instagram“ auf der KGDZweijahrestagung 2021, dokumentiert in: Barricelli, Michele/Yildirim, Lale (Hg.): Geschichtsbewusstsein, Geschichtskultur, Public History, Göttingen, im Erscheinen. 17 Zit. nach: Stauffacher, Reto: „Ich bin Sophie Scholl“: Geschichtsunterricht funktioniert auch auf Instagram, in: Neue Zürcher Zeitung, 24.05.2021. 18 Vgl. Danker, Uwe/Schwabe, Astrid: Potenziale des Faches Geschichte für Kompetenzerwerb in der digitalisierten Welt, in: GWU 7/8 (2020), S. 414–434, hier S. 418; auch Bernhardt, Markus/Neeb, Sven: Apps & Co – Grundlagen, Potenziale und Herausforderungen historischen Lernens in digitalen Lernumgebungen, in: Zeitschrift für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften 1 (2020), S. 65–82. 19 Siehe bspw. in Schleswig-Holstein das Landesprogramm „Zukunft Schule im digitalen Zeitalter“, Institut für Qualitätsentwicklung an Schulen Schleswig-Holstein: https://www.schleswigholstein.de/DE/landesregierung/ministerien-behoerden/IQSH/Arbeitsfelder/ZukunftSchule/ zukunftschule_node.html (06.02.2023). 20 Gundermann, Christine u. a.: Schlüsselbegriffe der Public History, Göttingen 2021, S. 9.
(Digital) Public History und schulisches historisches Lernen
zusammenhängenden Deutungskämpfe verschiedener Disziplinen einzugehen.21 Wichtig ist mir aber der Hinweis, dass und wie produktiv sich geschichtsdidaktische Geschichtskulturforschung und das Feld der Public History, „in dem es um die Wissenschaft von der Kommunikation von Geschichte geht“,22 befruchten können. Gerade in einer zunehmend digitalisierten Welt, die gravierende Veränderungen hinsichtlich des Verhältnisses von historischen Repräsentationen und ihrem „Publikum“ erlebt23 – Geschichtsdiskurse im Web 2.0 werden nur im geringen Maße von Institutionen getragen und User sind kein Publikum im klassischen Sinne –, bietet die Public History Hinweise für dringend erforderliche theoretische Erweiterungen zur Dimensionierung der Geschichtskultur und ihrer Kategorien. Besonders die Digital Public History betont „mutual interaction and co-dependency“,24 also das Wechselspiel zwischen Anbietern und Zielgruppen in digitalen Formaten.
3.
Transferprozess in Richtung Praxis
Blicken wir auf den Transferprozess: Die Bildungsbürokratie hat die Forderung nach der Befähigung der Schüler:innen zur reflektierten Auseinandersetzung mit Public History in zahlreiche normative Rahmen implementiert. Die Kultusministerkonferenz (KMK) fordert seit 2016 explizit kritisch-reflektierte und fachspezifischinhaltsorientierte Zugänge zum Auf- und Ausbau von „Kompetenzen in der digitalen Welt“.25 Ein „reflektierter Umgang“ mit – auch digitaler – Geschichtskultur als Studieninhalt und die Anbahnung einer kritischen Auseinandersetzung mit geschichtskulturellen Phänomenen als anzustrebende Kompetenz finden sich im Fachprofil Geschichte der „Ländergemeinsamen inhaltlichen Anforderungen“ für die Lehrerbildung der KMK.26 Auch in den meisten novellierten kompetenzorientierten Bildungsplänen der Bundesländer spiegelt sich unser Paradigma.27 Dies gilt
21 Vgl. u. a. ebd., S. 11–17; Dies./Hasberg, Wolfgang/Thünemann, Holger (Hg.): Geschichte in der Öffentlichkeit. Konzepte – Analysen – Dialoge, Berlin 2019; Demantowsky, Marco (Ed.): Public History and School, Berlin/Boston 2018; Lücke, Martin/Zündorf, Irmgard: Einführung in die Public History, Göttingen 2018. 22 Gundermann: Schlüsselbegriffe, S. 13. 23 Vgl. u. a. Noiret, Serge/Tebeau, Mark/Zaagsma, Gerben: Introduction, in: Same (Eds.): Handbook of Digital Public History, Berlin/Boston 2022, pp. 1–15, hier p. 12 f. 24 Ebd.: Handbook, p. 14. 25 Kultusministerkonferenz (KMK): Bildung in der digitalen Welt. Strategie der Kultusministerkonferenz (Beschluss der KMK vom 08.12.2016 i. d. F. vom 07.12.2017), Berlin 2017; vgl. hierzu u. a. Danker/Schwabe: Potenziale des Faches, S. 415 f. 26 KMK: Ländergemeinsame inhaltliche Anforderungen für die Fachwissenschaften und Fachdidaktiken in der Lehrerbildung (Beschluss der KMK vom 16.10.2008 i. d. F. vom 16.05.2019), S. 32 ff. 27 Vgl. dazu auch Münch: Geschichtskultur, S. 105–137.
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Astrid Schwabe
auch für die KMK-Forderungen zur „digitalen Bildung“, auch wenn diese oft noch recht „unkonkret“ umgesetzt werden.28 Werfen wir beispielhaft einen kurzen Blick in den neuen bayerischen LehrplanPLUS:29 Geschichtsunterricht will die Lernenden dazu befähigen, „am geschichtskulturellen Diskurs der Gegenwart teilzuhaben“, so das Kompetenzstrukturmodell für die Realschule.30 Das zugrundeliegende Kompetenzmodell schließt für Realschule und Gymnasium unter „Methodenkompetenz“ den „reflektierte[n] Umgang mit nichtwissenschaftlichen Ausformungen der Geschichtskultur (z. B. Spielfilme, Comics und digitale Medien)“ ein.31 In Mittel- und Grundschule finden wir ähnliche, wenn auch reduzierte Ansprüche, die der Reflexion weniger Raum einräumen. In Schleswig-Holstein schreiben die „Fachanforderungen“ für Sekundarstufe I und II geschichtskulturellen Angeboten eine Wirkung zu, die Einfluss auf die „Erwartungshaltung“32 der Lernenden habe. Autonome Orientierung in der Geschichtskultur ist Bildungsziel, Analysen von Public History-Angeboten sind immer wieder als „fachmethodische Schwerpunkte“ angeführt und in der Oberstufe soll das Halbjahresthema „Vergangenheit und Gegenwart – Lernen aus der Geschichte?“ auch historische Repräsentationen und die Rolle von Geschichte in Gesellschaft fokussieren. Vielen Lehrkräften – und diese planen ihren Unterricht trotz aller Vorgaben doch recht eigenverantwortlich –, fällt die Einbindung von Public History-Angeboten mit ihrem prioritären Bezug auf die Gegenwart33 als Lerngegenstände in die alltägliche unterrichtliche Praxis also schwer, obwohl der Anspruch, Schüler:innen zum kritischen Umgang mit Geschichte in der Öffentlichkeit zu befähigen, in den Rahmenvorgaben implementiert ist. Sie scheinen Geschichtsunterricht primär zu verstehen als eine Beschäftigung mit Inhalten, die sich auf die Vergangenheit beziehen.34 Als Argumente, die befragte Lehrkräfte am häufigsten gegen die Integration von Public History in ihren Unterricht anführten, referiert Münch, eine kritisch-analytische Auseinandersetzung mit diesen Phänomenen sei aufwändig und koste Zeit, die man dringlich für die relevantere Auseinandersetzung mit historischen Inhalten nutzen wolle bzw. müsse, für die Vermittlung deklarativen 28 29 30 31 32
Danker/Schwabe: Potenziale des Faches, S. 418. https://www.lehrplanplus.bayern.de/ (06.02.2023). https://www.lehrplanplus.bayern.de/fachprofil/textabsatz/60792 (06.02.2023). https://www.lehrplanplus.bayern.de/fachprofil/gymnasium/geschichte (06.02.2023). Ministerium für Schule und Berufsbildung des Landes Schleswig-Holstein: Fachanforderungen Geschichte. Allgemein bildende [sic!] Schulen. Sekundarstufe I. Sekundarstufe II, Kiel 2016, S. 12. Vgl. im Folgenden auch S. 20 f., S. 26, S. 28. 33 Vgl. Lücke, Martin: Geschichtskultur im Geschichtsunterricht, in: Fenn, Monika/Zülsdorf-Kersting, Maik (Hg.): Geschichtsdidaktik: Praxishandbuch für den Geschichtsunterricht, Berlin 2023, S. 250–266, S. 260. 34 Vgl. Münch: Geschichtskultur, S. 326.
(Digital) Public History und schulisches historisches Lernen
Wissens, von Fakten, Personen und Sachverhalten sowie ihren Zusammenhängen („wissen, dass …“) im Sinne einer grundlegenden Sachanalyse.35 Kritische Reflexionen mit dem Ziel der Urteilsbildung galten ihnen eher als übergeordnetes Ziel für ältere Schüler:innen, auch da sie dekonstruierende Analysen als anspruchsvoll, voraussetzungsreich und mit jüngeren und vor allem schwächeren Schüler:innen schwierig umzusetzen ansahen. Diese Befunde beziehen sich mit Film und Museum auf recht vertraute und bearbeitete Ausprägungen der Public History. Es ist zu vermuten, dass die Vorbehalte in Bezug auf Digital Public History noch weitaus stärker sind. Einerseits zeigt sie sich sehr heterogen, komplex und dynamisch, so dass man weder mit den Entwicklungen Schritt halten, noch allen oft so aufgeregten Debatten mit historischen Bezügen folgen kann. Andererseits wird hier in Bezug auf neuartige Formen digitaler Narrationen und User Generated Content das Argument einer „verlässlichen“ Inhaltsvermittlung seltener tragen. Zudem mögen (noch) mögliche technische Probleme bei der Nutzung, die geplante Unterrichtsabläufe stören könnten, gefürchtet werden.
4.
Perspektiven für die Geschichtsdidaktik in Forschung und Lehre
Im Bereich der empirischen Forschung benötigen wir im Anschluss an die existierenden Studien über Geschichtslehrer:innen mehr Erkenntnisse über die Haltungen und Überzeugungen von Lehrkräften hinsichtlich Medien des Geschichtsunterrichts, Public History, der Materialität historischer Quellen und Darstellungen und den Potenzialen und Gefahren, die sie analogen und digitalen historischen Angeboten zuschreiben. Dies schließt den spezifischen Fokus auf Lehramtsstudierende – die ersten Kohorten, die an den Universitäten fast vollständig mit digitalen Materialien arbeiten, sitzen in den Hörsälen – und auch die Wirksamkeit unserer Studienangebote ein.36 Verstärkt müssen wir auch Schüler:innen in den Blick nehmen: Welche Potenziale besitzen grundsätzlich digitale oder analoge Materialitäten, um historisches Denken zu lernen?37 Wo liegen die Gemeinsamkeiten und Unterschiede für den Erwerb und die Förderung historischer Kompetenzen? In welcher Beziehung stehen Aktivitäten im digitalen und im analogen Modus, mit selbstgesteuerten Anteilen und Reflexionen in der Lerngruppe? Wie konsumieren und verarbeiten junge 35 Vgl. hier und im Folgenden ebd., S. 354 ff. 36 Vgl. hierzu auch ebd., S. 361 ff. 37 Vgl. zum Forschungsstand Mierwald, Marcel: Digital oder doch lieber analog? Über die Lernwirksamkeit von Medien und das historische Lehren und Lernen im digitalen Wandel, in: Geschichte für heute 3 (2021), S. 21–40, S. 31–34.
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Astrid Schwabe
Lernende Geschichte in verschiedenen Angeboten der Public History? Wie unterscheidet sich die freizeitliche Rezeption von jener in der Schule? Welche Effekte hat der Einsatz kritisch-reflektierender Lehr-Lern-Arrangements, differenziert nach den Angebotsformen? Die Beschäftigung mit verschiedenen Ausformungen der Public History zwischen Social Media, Brettspielen oder historischen Orten, und ihre Rezeptionsforschung, wie sie auch die Jubilarin seit Jahren instruktiv vorlegt38 , bilden die Grundlagen: Wir benötigen ein tiefgreifendes Verständnis der verschiedenen Angebote. Ihre – zwangsläufig oft experimentelle – Analyse umfasst die Untersuchung der medialen Charakteristika, ihrer Produktionsumstände, der dahinterstehenden Akteur:innen, ihrer Konstruktionsmechanismen und Botschaften anhand spezifischer Kriterien. Diese kombinieren medien- und kulturwissenschaftliche Aspekte mit geschichtsdidaktischen Prinzipien und erlauben uns so, vertieft über Konstruktionsregeln und Deutungsmuster zu reflektieren. Während für einige Angebote, wie eben historische Spielfilme oder Museen, mittlerweile zahlreiche instruktive Studien existieren, sind andere noch weitgehend unerforscht. Die angesprochene Dynamik im digitalen Raum stellt aufwändige Forschungsprojekte dabei vor besondere Herausforderungen, was die Sicherung und Bewältigung immenser Datenmengen angeht und wenn bestimmte Tools womöglich nach verhältnismäßig kurzer Zeit von anderen Trends verdrängt werden. Im Bereich der Digital Public History kann es folglich nicht darum gehen, jedes, teilweise nur kurzlebige digitale Phänomen zu erfassen, sondern wir müssen uns auf die Suche nach übergeordneten Strukturmerkmalen verschiedener Medienanwendungen begeben: Wie fordern beispielsweise Aspekte wie Immersion, Emotionalisierung oder Anachronismen, wie beim angesprochenen Sophie-Scholl-Projekt,39 geschichtsdidaktische Prinzipien heraus? Was bedeutet das für historische Lernprozesse? Zum Bereich Forschung gehört auch die experimentelle Entwicklung und Realisation eigener Public History-Angebote, ob analoge oder digitale Stadtrundgänge, Ausstellungen oder digitale Spiele, auch und gerade in Kooperation mit außeruniversitären Einrichtungen und auf teilweise „fremden Feldern“. Theoriegeleitete fachdidaktische Entwicklungsforschung im Sinne des „Best Practice“ kann hier normative Ansprüche erarbeiten, die sie dann mit spezifischen Medienlogiken zu kombinieren sucht, wobei zwangsläufig schmerzhafte Kompromisse einzugehen
38 Vgl. bspw. Bühl-Gramer, Charlotte: Geschichte im Brettspiel. Theoretische Anmerkungen zu einem Phänomen populärer Geschichtskultur, in: Kühberger, Christoph (Hg.): Mit Geschichte spielen. Zur materiellen Kultur von Spielzeug und Spielen als Darstellung der Vergangenheit, Bielefeld 2021, S. 359–386. 39 Siehe Anm. 16.
(Digital) Public History und schulisches historisches Lernen
und Grenzen auszuloten sind.40 Dabei geht es um Brückenbau zwischen Fachdidaktik und Public History-Anbietern, darum, sich einzumischen statt die „Nase zu rümpfen“, theoriegeleitet, strukturiert zu experimentieren und zu reflektieren, was funktioniert und sich in der Nutzung als sinnvoll für historische Bildungsprozesse erweist. Denn nachgeschaltete Evaluation und Rezeptionsforschung gehören zur Anlage eines solchen Projekts dazu, weshalb dieser Praxistransfer wiederum die Beforschung der Public History weiterbringt und positive Einflüsse auf die Theoriebildung ausübt. Die dringlichste Aufgabe für die Geschichtsdidaktik zur Lösung des diagnostizierten Transferproblems sehe ich derzeit im Feld der Pragmatik. Dies gilt zum Ersten für die Lehre in der kompetenzorientierten Lehrkräftebildung. Die vorliegenden Befunde41 lassen den Schluss zu, dass die Behandlung der Konzepte der Geschichtskultur und der Public History im Studium zumindest punktuell Wirkung zeige und Lehrkräfte dazu animieren könne, Public History als Lerngegenstand in ihren Unterricht zu integrieren. Neben der Auseinandersetzung mit den theoretischen Grundlagen und kriteriengeleiteten Analysen ausgewählter Geschichtspräsentationen bieten die Konzeptionen entsprechender Lehr-Lern-Arrangements in handlungsorientierten Veranstaltungen, aber besonders die Entwicklung eigener Public History-Angebote im Rahmen von forschungsnahen Projektseminaren viel Potenzial:42 Um eine adäquate Narration zu präsentieren, müssen Studierende sich fachwissenschaftliche Inhalte erarbeiten, spezifische Medienlogiken beachten und geschichtsdidaktische Ansprüche in Hinblick auf die Schulung von historischen Kompetenzen und Medienkompetenzschulung in der digitalisierten Gesellschaft – und das Verhältnis zwischen diesen Zielen – reflektieren und vor allem operationalisieren. So erleben sie, wie die Verzahnung der vertieften Erarbeitung fachwissenschaftlicher Inhalte und der Analyse von Public History gelingen kann. Vor allem aber sind wir in enger Kooperation mit der empirischen LehrLernforschung aufgefordert, auf Basis aktueller empirischer Erkenntnisse
40 Vgl. Schwabe, Astrid: Historisches Lernen im World Wide Web. Suchen, flanieren oder forschen? Fachdidaktisch-mediale Konzeption, praktische Umsetzung und empirische Evaluation der regionalhistorischen Website Vimu.info, Göttingen 2012, S. 18 f.; auch Schillig, Anne/Dies.: Der Laborversuch „When We Disappear“. Über Serious Games und historische Bildung, in: Gundermann, Christine/Hanke, Barbara/Schlutow, Martin: Digitale Public History – digitales historisches Lernen, Frankfurt a. M. im Erscheinen; auch Bernhardt/Neeb: Apps & Co, S. 66 f. 41 Vgl. Münch: Geschichtskultur, S. 357, S. 360 f. 42 Vgl. Schwabe, Astrid: Reflexionen eines Projektseminars zur Konzeption digitaler Lernangebote, verfügbar unter https://kaleidoskop.hypotheses.org/2054 (06.02.2023), auch Bernhardt/Neeb: Apps & Co, S. 75 ff. Vgl. auch Danker, Uwe: Das Flensburger Modell des Lehramtsstudiums im Fach Geschichte: Schulischer Geschichtsunterricht als Sonderfall historischen Lernens?, in: Ders. (Hg.): Geschichtsunterricht – Geschichtsschulbücher – Geschichtskultur: aktuelle geschichtsdidaktische Forschungen des wissenschaftlichen Nachwuchses, Göttingen 2017, S. 15–28, S. 25 ff.
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Astrid Schwabe
tragfähige Konzepte für eine zielbewusste und systematische Integration von Public History-Angeboten als Lerngegenstände im Geschichtsunterricht zu entwickeln, zu erproben und zu evaluieren, die Modellcharakter haben. Für viele Felder der Public History – analog und digital – ist trotz engagierter Ansätze ein Desiderat zu kontestieren.43 Entsprechende praxisorientierte Konzeptionen und angemessen konkrete Unterrichtsideen gilt es natürlich in Form von Beiträgen in von Lehrkräften rezipierten Zeitschriften, Methodenbänden und Handreichungen zu publizieren;44 noch wichtiger scheint mir aber ihre Vorstellung und Erprobung über den Weg von Lehrkräfte-Fortbildungen, Schulentwicklungstagen und „Unterrichtsbesuchen“, um sie in gemeinsamer Reflexion mit Lehrkräften, die in unterschiedlichen Schulformen und organisatorischen Rahmenbedingungen jeden Tag vor Klassen stehen, zu reflektieren und weiterzuentwickeln. Besondere Bedarfe sehe ich an innovativen Lernsettings für jüngere Schüler:innen der Sekundarstufe I in nicht-gymnasialen Schulformen und in der Primarstufe. Hier liegen zugleich besondere Potenziale, reflektierte Auseinandersetzung und eigene Wertungen einzuüben. Diese Konzepte, die auf die Kompetenzförderung bei Lehrkräften und ihren Schüler:innen abzielen,45 erschließen diverse Public History-Angebote anhand ihrer jeweiligen Medienlogiken und Deutungsmuster. Sie zielen auf den Aufbau regelhaften Wissens über die Charakteristika bestimmter Medienanwendungen, ihre mögliche Rezeption sowie ihre historischen Erzählstrategien und bieten Handlungsorientierung. Sie vermitteln auf diese Weise theoriebasiert grundlegendes Verständnis und methodische Hinweise. Sie regen zur Selbstbeobachtung und Reflexion an. Sie sind angereichert mit konkreten, binnendifferenzierten Umsetzungsvorschlägen, die aber zwangsläufig und deutlich erkennbar exemplarische Funktion besitzen; zumal sie ohne Kenntnisse über die konkrete Lerngruppe und ihre Lernausgangslage erstellt werden. Die Konzepte nehmen eigenständige Deutungen und Wertungen, die Urteilsbildung46 , in den Blick, zielen auf einen autonomen Umgang mit (Digital) Public History und Teilhabe, und zwar für alle Altersstufen, in den verschiedenen Schulformen und auf allen Anforderungsebenen. Teilweise fokussieren sie prioritär methodische Fragen hinsichtlich des reflektierten Umgangs mit spezifischen Medienanwendungen und Phänomenen der Public History.47 Besonders
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Vgl. auch Oswalt/Pandel: Handbuch Geschichtskultur, S. 9. Vgl. auch Münch: Geschichtskultur, S. 359 f. Vgl. als entsprechenden Versuch Danker/Schwabe: Geschichte im Internet, hier S. 9. Vgl. John, Anke: Historische Urteilsbildung, in: Dickel, Mirka u. a. (Hg.): Urteilspraxis und Wertmaßstäbe im Unterricht. Ethik, Englisch, Geographie, Geschichte, politische Bildung, Religion, Frankfurt a. M. 2020, S. 100–125. 47 Vgl. z. B. zu digitalen Zeitzeugnissen University of Southern California, Shoah Foundation: https:// iwitness.usc.edu/activities/5071 (06.02.2023).
(Digital) Public History und schulisches historisches Lernen
relevant scheint mir aber die Ausarbeitung von Lehr-Lern-Arrangements zu sein, die die kritische Auseinandersetzung mit diesen Phänomenen und die unterrichtliche Erarbeitung spezifischer historischer Inhalte (Stichwort „Sachkompetenz“) konsequent zusammendenken, um die Argumente der Zeitnot auszuräumen. Hierbei ist es zentral, die analytischen Aspekte auf eine Art in den Mittelpunkt zu rücken, die verdeutlicht, dass auch die Dekonstruktion historischer Repräsentationen zwangsläufig zu einer tiefgreifenden Beschäftigung mit dem historischen Gegenstand führt, oder anders ausgedrückt: eine präzise „Sachanalyse“ erfordert.48 Es geht eben nicht um die additive Erarbeitung bestimmter Analysemethoden, wie es aktuelle Geschichtslehrwerke oft praktizieren, oder um einen nachgeordneten Einsatz der Anbahnung einer kritischen Auseinandersetzung mit Geschichte in der Öffentlichkeit im Anschluss an die inhaltliche Erarbeitung der Inhalte, die laut jeweiligen curricularen Vorgaben, mehr oder weniger präzise festgelegt, „dran“ sind. Es geht vielmehr um die Verzahnung von Rekonstruktion und Dekonstruktion; und auch darum, aktuelle und den gegenwärtigen gesellschaftlichen Diskurs prägende historische Repräsentationen als Aspekt für die berühmte Auswahlfrage, als Kriterium der Themenbestimmung heranzuziehen. Wenn Lernende in Hochschule und Schule Public History analysieren und auch selbst produzieren, setzen sie sich vertieft mit einem spezifischen historischen Inhalt auseinander, zudem lernen sie etwas über das Darstellungsmedium, und vor allem darüber, was Geschichte als Sinnbildungsprozess eigentlich ausmacht. So erfahren sie auch, dass jede historische Erzählung eine kritisch zu reflektierende Deutung ist, auch die auf Instagram. Das macht historisches Denken als Ziel schulischer Lehr-Lern-Prozesse aus.
48 Vgl. auch Danker/Schwabe: Potenzial des Faches, S. 421–434; als Beispiel zum digitalen Game siehe auch Pädagogische Hochschule Luzern, Schulerprobung: Ein Videogame für historische Bildung: https://www.whenwedisappear.com/de/edu/erprobung (06.02.2023). Vgl. beispielhaft für unterrichtspragmatische Zugänge: Geschichte lernen 194 (2020).
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Hannes Burkhardt
Geschichte auf TikTok als Chance für historisches Lernen im Geschichtsunterricht
1.
Einleitung
Soziale Netzwerke und speziell die Plattform TikTok haben in den letzten Jahren enorm an gesellschaftlicher Relevanz gewonnen.1 Eine deutschlandweite repräsentative Befragung aus dem Jahr 2021 (n=1007) von 12- bis 40-Jährigen zeigte, dass 91 % der Befragten Social Media generell nutzen, während 96 % TikTok kennen, bei den 12- bis 19-Jährigen – also der Zielgruppe für schulisches Geschichtslernen − besteht eine regelmäßige Nutzung (mindestens zweimal pro Woche) bei 51 %, wobei 43 % TikTok täglich und meist mehrmals am Tag nutzen.2 Erste Studien sprechen sich für den Einsatz von TikTok im Geschichtsunterricht aus, da positive motivationale Effekte zu erwarten sind,3 insbesondere aufgrund der kurzen Länge der Videoformate.4 Motivierende Effekte sind jedoch kaum ausreichend als Argument für die Nutzung. Dass TikTok neben dem Aufbau von Sachkompetenz auch in Bezug auf das Verständnis der Kontroversität von Geschichte einen Beitrag leisten kann, zeigen erste empirische Studien.5
1 Dieser Beitrag ist der Jubilarin Charlotte Bühl-Gramer gewidmet, die mich durch ihre Expertise und Leidenschaft für die Reflexion von Geschichtskultur und Prozessen des historischen Lernens für die geschichtsdidaktische Forschung gewann und die mich sehr früh in der wissenschaftlichen Analyse von Social Media unterstützte, als die gesellschaftliche Relevanz von sozialen Netzwerken nur Wenige erkannten. 2 Granow, Carolina/Scolari, Julia: TikTok – Nutzung und Potenziale der Kurzvideo-Plattform. Ergebnisse einer Mixed-Methods-Grundlagenstudie im Auftrag des SWR, in: Media Perspektiven 4 (2022), S. 166–176, hier S. 167. 3 Vgl. Tran, Quan Hoang Nguyen: A Pilot Study About Using Titkok, in Teaching History To Young Vietnamese People, in: Journal of Positive School Psychology 6 (2022), p. 1111–1116; Khan, Yuhana: TikTok as a Learning Tool for Archaeology, in: TikTok as a Learning Tool for Archaeology 4 (2022), p. 452–457. 4 Vgl. Khlaif, Zuheir N./Salha, Soheil: Using TikTok in Education: A Form of Micro-learning or Nano-learning? In: Interdisciplinary Journal of Virtual Learning in Medical Sciences 3 (2021), p. 213–218. 5 Vgl. Decenilla, Shelly April S./Apolinario, Rona C./Cuaton, Zaldy T./Clarido, Cathyleen: Improving Student Knowledge on Selected History Topics through Tiktok Platform as Digital Learning Tool, in: Journal of Digital Learning and Education 3 (2022), p. 134–149.
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Hannes Burkhardt
Dieser Beitrag entwirft aus der Perspektive der geschichtsdidaktischen Pragmatik unterrichtliche Zugriffe auf TikTok zur Förderung von Kompetenzen des historischen Lernens. Potenziale ergeben sich aus den gegenwarts- und lebensweltnah in den Social Media präsentierten (kontroversen) Geschichtsdeutungen. Chancen für die Einsicht in die Kontroversität von Geschichte und die Förderung einer historischen Urteilsfähigkeit sind dabei für historisches Lernen nutzbar zu machen.6 Konkret stellt dieser Beitrag drei inhaltliche Zugriffe auf TikTok im Geschichtsunterricht vor: 1. Geschichtsinfluencer:innen am Beispiel von Melanie Schöler, 2. Gedenkstätten und Museen am Beispiel der KZ-Gedenkstätte Neuengamme sowie 3. kontroverse Geschichtserzählungen am Beispiel der sogenannten HolocaustChallenge.
2.
Geschichte auf TikTok
TikTok wurde ursprünglich 2014 in Shanghai unter dem Namen Musical.ly von Luyu Yang und Alex Zhu entwickelt, 2017 an ByteDance verkauft, sodass Musical.ly mit der hauseigenen App Douyin verschmolz und im selben Jahr als TikTok gelauncht wurde.7 Grundsätzlich handelt es sich um ein soziales Netzwerk ähnlich wie Facebook oder Instagram. TikTok ist allerdings stark auf kurze Videoclips ausgerichtet, die Nutzer:innen aufnehmen, bearbeiten und auf dem eigenen Profil hochladen können. Zudem kann man auch live mit anderen Nutzer:innen Videochats durchführen. Kern von TikTok ist die „For You Page“ (FYP), die Nutzer:innen algorithmisch und auf dem individuellen Verhalten auf der Plattform basierend abgestimmte Beiträge von anderen Kanälen anzeigt. Algorithmen sind als Entscheidungsinstanz in den Social Media allgegenwärtig.8 Über den TikTok-Algorithmus ist wenig bekannt. Laut eines im Dezember 2021 an die New York Times geleakten internen Dokuments von TikTok namens „TikTok Algo 101“ sind „retention” (Rückkehr der Nutzer:innen) und „time spent” (Verweildauer) entscheidende Kennzahlen
6 Vgl. u. a. Burkhardt, Hannes: Social Media im Geschichtsunterricht. Gegenwarts- und lebensweltnahe kontroverse Geschichtsdeutungen auf Twitter, Instagram und Facebook, in: Barsch, Sebastian/Lutter, Andreas/Meyer-Heidemann, Christian (Hg.): Fake und Filter. Historisches und politisches Lernen in Zeiten der Digitalität, Frankfurt a. M. 2019, S. 191–217. 7 Vgl. TikTok: Eine Erfolgsgeschichte (2022), in: tiga media, 2022: https://www.tigamedia.de/tiktokserfolgsgeschichte.html (27.12.2022). 8 Vgl. Weißhaupt, Julia: Algorithmen als Entscheidungsinstanz in Sozialen Medien (Christoph Drösser), in: Stumpp, Stefan/Michelis, Daniel/Schildhauer, Thomas (Hg.): Social Media Handbuch. Theorien, Methoden, Modelle und Praxis, Baden-Baden 4 2021, S. 317–336.
Geschichte auf TikTok als Chance für historisches Lernen im Geschichtsunterricht
für den Algorithmus.9 Analysen zeigen, dass der Erfolg (Anzahl der Ausspielungen an Nutzer:innen) neben dem Video-Engagement durch Kommentare, Likes und Shares auch vom Zeitpunkt der Veröffentlichung abhängt.10 Der Algorithmus macht TikTok insoweit einzigartig, dass Nutzer:innen nicht zu allererst Inhalte von Personen oder Accounts sehen, denen sie folgen, sondern sie sehen einen „algorithmisch kuratierten Stream von Videos, der sich an ihren eigenen Vorlieben orientiert.“11 Recherchen von Forbes haben jüngst ergeben, dass TikTok auch Videos aktiv auswählt, um ihre Verbreitung zu beschleunigen.12 Bezogen auf Geschichtserzählungen auf TikTok hat Robbert-Jan Adriaansen in einer Studie 2022 auf der Basis von 5100 Geschichts-TikToks mit den Hashtags #historytiktok, #historylesson und #historymeme nachweisen können, dass die Themen breit über die historischen Epochen gestreut sind.13 Adriaansen kommt zu dem Schluss, dass die meisten Geschichts-TikToks sehr gegenwartsbezogen sind, „to enhance an understanding of unfamiliar aspects of the past through analogy with familiar scenes drawn from contemporary popular and internet culture.“14 Die sehr dichten Geschichtserzählungen auf TikTok bieten für Adriaansen Chancen für historisches Lernen, wenn Schüler:innen mittels TikTok lernen, „to reduce complex issues to straightforward analogies“.15 Zentraler als die von Adriaansen gewünschten Effekte, die man dem Kompetenzbereich der narrativen Kompetenz zuordnen könnte, erscheint mir jedoch im Hinblick auf historisches Lernen die Förderung der Fähigkeit der De-Konstruktion16 der vermittelten historischen Narrationen in Geschichts-TikToks als komplexe
9 Vgl. Smith, Ben: How TikTok Reads Your Mind, in: New York Times, 05.12.2021: https://www. nytimes.com/2021/12/05/business/media/tiktok-algorithm.html (27.12.2022). 10 Vgl. Klug, Daniel/Qin, Yiluo/Evans, Morgan/Kaufman, Geoff: Trick and Please. A Mixed-Method Study On User Assumptions About the TikTok Algorithm, in: 13th ACM Web Science Conference 2021, New York 2021, p. 84–92. 11 Vgl. Bösch, Markus/Köver, Chris: Schluss mit lustig – TikTok als Plattform für politische Kommunikation, Berlin 2021, S. 10−11. 12 Vgl.: Baker-White, Emily: TikTok’s Secret ‘Heating’ Button Can Make Anyone Go Viral, in: Forbes, 20.01.2013: https://www.forbes.com/sites/emilybaker-white/2023/01/20/tiktoks-secretheating-button-can-make-anyone-go-viral (06.02.2023). 13 Vgl. Adriaansen, Robbert-Jan: Historical Analogies and Historical Consciousness: User-Generated History Lessons on TikTok, in: Carretero, Mario/Cantabrana, María/Parellada, Cristian (Hg.): History Education in the Digital Age, Cham 2022, p. 43–62, hier p. 53. 14 Ebd., p. 59. 15 Ebd. 16 De- und Re-Konstruktion verstanden als Operationen des historischen Denkens. Vgl. Schreiber, Waltraud u. a.: Historisches Denken. Ein Kompetenz-Strukturmodell, in: Körber, Andreas/Schreiber, Waltraud/Schöner, Alexander (Hg.): Kompetenzen historischen Denkens. Ein Strukturmodell als Beitrag zur Kompetenzorientierung in der Geschichtsdidaktik, Neuried 2007, S. 17–53.
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Hannes Burkhardt
Medienanalyse17 mit Schüler:innen statt einer medienspezifischen Reproduktion im Klassenzimmer.
3.
TikTok im Geschichtsunterricht
Potenziale für historisches Lernen von Social Media allgemein ergeben sich, indem Geschichtsdarstellungen in den Social Media als geschichtskulturelle Produkte im Unterricht im Sinne einer De-Konstruktion analysiert werden.18 Insbesondere Lebens- und Gegenwartsbezüge lassen sich inhaltlich im Unterricht gut herstellen, da historische Kontexte innerhalb der Social Media vielfach und in unterschiedlichster Form Teil von aktuellen Erinnerungspraktiken sind, die von etablierten Institutionen19 sowie von Privatpersonen20 mit sehr unterschiedlichen politischen und ideologischen Ausrichtungen vollzogen werden. Auch die Kontroversität von Geschichte können Social Media im Geschichtsunterricht abbilden, da hier eine Vielzahl konkurrierender Geschichtsdeutungen in einer Breite und Konzentration auftreten wie in kaum einem anderen Medium. Das didaktische Potenzial von Social Media besteht darin, dass die dort gegenwarts- und lebensweltnah präsentierten kontroversen Geschichtsdeutungen den Schüler:innen die Einsicht in die Kontroversität von Geschichte im engeren21 geschichtsdidaktischen Sinne ermöglichen können, wenn die Deutungen auf geschichtswissenschaftlichen Positionen fußen. Kontroverse Perspektiven auf
17 Vgl. Buchsteiner, Martin/Lorenz, Tobias/Scheller, Jan: Medien analysieren im Geschichtsunterricht. Kompetenzorientierte und binnendifferenzierte Aufgaben für Karten, Bilder, Plakate, Karikaturen, Schemata, gegenständliche Quellen, Statistiken, Texte und Lieder, Frankfurt a. M. 2018. 18 Meyer-Hamme und Krebs unterscheiden grundsätzlich folgende Schwerpunktsetzungen historischen Lernens digital: Einführung in (geschichtskulturelles) Wissen; Analyse und Beurteilung fremder Darstellungen und Deutungen (De-Konstruktion); Erstellung eigener Narrationen – Digital Storystelling (Re-Konstruktion); allgemeine und fachspezifische Medienkompetenzen. MeyerHamme, Johannes/Krebs, Alexandra: Historisches Lernen digital. Die neue Version der App in die Geschichte, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 20 (2021), S. 180–196, hier S. 188. 19 Vgl. u. a. Burkhardt, Hannes: Geschichte in den Social Media. Nationalsozialismus und Holocaust in Erinnerungskulturen auf Facebook, Twitter, Pinterest und Instagram, Göttingen 2021, S. 113−289. 20 Vgl. u. a. Burkhardt, Hannes: Mythosmaschine Twitter? Fakten und Fiktionen im Social Web zu Rudolf Heß und der Bombardierung Dresdens 1945, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 17 (2018), S. 42–56; Burkhardt: Geschichte in den Social Media, S. 291–486. 21 Klaus Bergmann hatte mit dem Begriff der Kontroversität als geschichtsdidaktisches Unterrichtsprinzip allerdings v. a. Debatten und Kontroversen im Bereich der Geschichtswissenschaft im Blick, auch wenn dieser Teil der außerwissenschaftlichen Geschichtskultur sind, während er nichtwissenschaftliche kontroverse Geschichtsdeutungen der Geschichtskultur als „unterschiedliche Perspektiven auf die erkennbare Vergangenheit“ bezeichnet. Vgl. Bergmann, Klaus: Multiperspektivität. Geschichte selber denken. Schwalbach/Ts. 3 2016, S. 40−47.
Geschichte auf TikTok als Chance für historisches Lernen im Geschichtsunterricht
die Vergangenheit außerhalb wissenschaftlicher Diskurse bieten Potenziale, dass Schüler:innen ihre historische Urteilsfähigkeit schulen. Möglich sind grundsätzlich bei allen folgenden Impulsen für Arbeitsaufträ22 ge vier Varianten:23 In der Auseinandersetzung mit TikTok im Sinne einer DeKonstruktion und Beurteilung der Geschichtsdarstellungen kann Lernenden (1) der Auftrag erteilt werden, eigenständig auf TikTok zu recherchieren. Unterrichtspraktische (z. B. Endgeräte), pädagogische (z. B. Überforderung aufgrund der Anzahl der Social-Media-Beiträge) und rechtliche (z. B. Mindestalter und Zustimmung der Erziehungsberechtigten) Hürden müssen allerdings beachtet werden. Mit weniger Hürden verbunden ist, wenn (2) die Lernenden eine von der Lehrperson erstellte Auswahl an Beiträgen (digital oder analog) als Material zur Verfügung haben. Der Arbeitsauftrag, selbst Social-Media-Beiträge zu verfassen, kann zudem erteilt werden. Dies kann (3) als Antwort auf einen Beitrag erfolgen, um Urteile medienspezifisch zu formulieren. Im Sinne einer Re-Konstruktion von Geschichte können (4) auch eigene triftige Geschichtsnarrationen auf Quellenbasis erstellt werden, die an geschichtswissenschaftlichen und -didaktischen Standards ausgerichtet sind. Aufgrund der oben genannten unterrichtspraktischen, rechtlichen und pädagogischen Hürden ist allgemein von einer Umsetzung direkt in der Plattform TikTok abzuraten. Stattdessen kann dies − auch in kooperativen Arbeitsformen − (offline und analog) im Hefter, (offline und digital) auf einem Endgerät oder (online und digital) in einer anderen Webumgebung, wie z. B. Etherpad oder Zeoob vollzogen werden. Letztgenanntes simuliert und generiert Social-Media-Beiträge von TikTok und anderen Plattformen, ohne dass diese tatsächlich auf der Plattform veröffentlich werden. 3.1
Geschichtsinfluencer:innen am Beispiel von Leonie Schöler
Zu den bekanntesten deutschen Geschichtsinfluencer:innen auf TikTok gehört die Journalistin und Historikerin Leonie Schöler.24 Thematisch sind ihre Beiträge breit über alle Epochen gestreut, auch wenn ein Schwerpunkt bei Themen der Neuesten
22 Die verwendeten Operatoren beziehen sich in ihren Anforderungen auf: Buchsteiner, Martin u. a.: Operatoren im Fach Geschichte, Norderstedt 2018. 23 Ähnliche Zusammenstellung von Varianten für mögliche Arbeitsaufträge auch bei Burkhardt, Hannes: Social Media und Public History. Digitales historisches Lernen mit Twitter, Instagram und TikTok, in: Gundermann, Christine/Schlutow, Martin (Hg.): Digitale Public History – digitales historisches Lernen. Lausanne 2023 (in der Drucklegung) und in Ders.: Instagram im Geschichtsunterricht, in: Barricelli, Michele u. a. (Hg.): Geschichtsbewusstsein, Geschichtskultur, Public History − ein spannendes Verhältnis. Göttingen 2023 (in der Drucklegung). 24 TikTok-Kanal @heeyleonie von Leonie Schöler: https://www.tiktok.com/@heeyleonie (27.12.2022).
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Hannes Burkhardt
Geschichte (19./20. Jh.) erkennbar ist. Häufig nimmt Schöler auch Bezug zu aktuellen Kontexten, wie in ihren Beiträgen „Die Hyperinflation von 1923“25 , „Was bringt ein WM-Boykott?“26 oder „Proteste im Iran“27 . Ein wichtiges Alleinstellungmerkmal des TikTok-Kanals von Leonie Schöler ist eine inhaltliche Schwerpunksetzung auf Themen der Gender- oder Queer-History. Ihre Beiträge zeichnen sich insgesamt durch historisch-fachliche Qualität aus, sodass die Förderung von Sachkompetenz neben anderen Kompetenzbereichen grundsätzlich erreicht werden kann. In ihrem TikTok-Beitrag „Jägerinnen und Sammler“ dekonstruiert Schöler den Mythos einer geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung des jagenden Mannes und der sammelnden Frau in der Ur- und Frühgeschichte, der bei Schüler:innen immer noch vorhanden ist.28 Die von Schöler hier sehr dicht vorgetragenen Argumente können mit Schüler:innen weiter recherchiert werden, falls bei der Lerngruppe Interesse für die Thematik geweckt werden kann. Eine darauffolgende De-Konstruktion von Rekonstruktionszeichnungen, die diesen Mythos reproduzieren, wäre ein weiterführender methodischer Ansatz. Die TikTok-Beiträge von Schöler sind insgesamt sehr medienspezifisch konstruiert und vermitteln daher TikTok-typisch sehr viele Eindrücke und Informationen in kurzer Zeit. Die Beiträge haben eine Länge von ca. einer Minute. Die Contentcreatorin steht vor einem schnell wechselnden Hintergrund. Neben dem gesprochenen Text werden weitere Textbausteine oder andere visuelle Elemente eingeblendet. Zudem sind Informationen zu Hashtags, Challenges oder Stitches sichtbar. Es läuft häufig Musik und den Nutzer:innen werden die für Social Media typischen Möglichkeiten der Interaktion (liken, kommentieren, teilen) angeboten. Didaktische Chancen ergeben sich hier in der De-Konstruktion der medienspezifischen Geschichtserzählung als geschichtskulturelles Produkt, sowohl in medialer als auch in inhaltlicher Perspektive. Im Titel angelehnt an das populäre Werk „Imagined communities“29 von Benedict Andersons aus dem Jahr 1983 versucht Schöler in ihrem Beitrag „Erfindung
25 TikTok-Beitrag „Die Hyperinflation von 1923“ von Leonie Schöler: https://www.tiktok.com/@heeyleonie/video/7184438731078667525 (27.12.2022). 26 TikTok-Beitrag „Was bringt ein WM-Boykott“ von Leonie Schöler: https://www.tiktok.com/@heeyleonie/video/7166239923652152582 (27.12.2022). 27 TikTok-Beitrag „Proteste im Iran“ von Leonie Schöler: https://www.tiktok.com/@heeyleonie/video/ 7149948258176175365 (27.12.2022). 28 Vgl. Micheler, Stefan: „Jäger und Sammlerinnen“ in der Steinzeit? Dekonstruktion moderner Mythen im Geschichtsunterricht des 6. und 12. Jahrgangs, in: Bennewitz, Nadja/Burkhardt, Hannes (Hg.): Gender in Geschichtsdidaktik und Geschichtsunterricht. Neue Beiträge zu Theorie und Praxis, Berlin/Münster 2016, S. 201–234. 29 Anderson, Benedict: Imagined communities. Reflections on the origin and spread of nationalism. London 2006.
Geschichte auf TikTok als Chance für historisches Lernen im Geschichtsunterricht
der Nation“30 in einer Minute den historischen Prozess der Nationalstaatbildung zu erläutern. Möglich wäre hier eine Medienanalyse31 und anschließende Beurteilung dieses Versuchs mit Schüler:innen, z. B. zum Abschluss einer Sequenz. Die Schüler:innen können am konkreten Beispiel die enthaltenen Kernaussagen zum historischen Sachverhalt (Genese der Idee eines Nationalstaates) ermitteln, die Auswahl und Verwendung der medienspezifischen Gestaltungsmittel auf TikTok begründen, Hypothesen zum Adressatenkreis von Leonie Schöler erschließen, die konkrete mediale Gestaltung des TikToks erklären sowie daraus Hypothesen zur Deutung der Autorin ableiten oder Auslassungen der Narration begründen. Einsichten in den Konstruktcharakter und die Narrativität von Geschichte sind mögliche Ziele. Im Hinblick auf die Urteilsbildung kann auch thematisiert werden, welche historischen Kontexte und Fragestellungen geeignet sind für eine Geschichtsvermittlung auf TikTok und welche nicht. 3.2
Gedenkstätten und Museen am Beispiel der KZ-Gedenkstätte Neuengamme
KZ-Gedenkstätten setzen seit Jahren Social Media ein.32 Im Januar 2022 präsentierte das American Jewish Committee in Berlin gemeinsam mit dem Zentralrat der Juden, der Hebrew University of Jerusalem, dem Plattformbetreiber TikTok und Vertreter:innen der KZ-Gedenkstätten Neuengamme, Bergen-Belsen, Ravensbrück, Sachsenhausen, Dachau, Flossenbürg und Mauthausen ein Projekt, das mittels TikTok vor allem junge Leute erreichen soll.33 Die KZ-Gedenkstätte Neuengamme hat auf ihrem TikTok-Kanal34 bis heute 167 Videos (Stand 31.01.2023) veröffentlicht, in denen u. a. die Geschichte des Konzentrationslagers quellennah erzählt wird. Das erfolgreichste eigene Video35 wurde über 2,7 Mio. Mal angesehen. Die TikToks der Gedenkstätte haben überwiegend einen direkten Bezug zur Geschichte des ehemaligen Konzentrationslagers und orientieren sich am
30 TikTok-Beitrag „Erfindung der Nation“ von Leonie Schöler: https://www.tiktok.com/@heeyleonie/ video/6962931807192911110 (27.12.2022). 31 Vgl. Buchsteiner u. a.: Medien, S. 28−35. 32 Vgl. Burkhardt: Geschichte in den Social Media, S. 113−289. 33 Vgl. dpa: Aufklärung über die Shoa auf Tiktok: KZ Neuengamme dabei, in: ZEIT-Online, 26.01.2022: https://www.zeit.de/news/2022-01/26/aufklaerung-ueber-die-shoa-auf-tiktok-kz-ne uengamme-dabei (27.12.2022). 34 TikTok-Kanal @neuengamme.memorial der KZ-Gedenkstätte Neuengamme: https://www.tiktok. com/@neuengamme.memorial (27.12.2022). 35 TikTok-Video „Looking Closely“ der KZ-Gedenkstätte Neuengamme: https://www.tiktok.com/ @neuengamme.memorial/video/7117300652346313989 (27.12.2022).
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Fragehorizont von Jugendlichen, wenn der Lageralltag erklärt36 oder die Frage zu beantworten versucht wird, was die Anlieger des Lagers von den dort begangenen Verbrechen gewusst haben.37 Aufgrund der fachlichen Kompetenz der KZ-Gedenkstätte Neuengamme als Seitenurheberin ist auch hier eine solide Grundlage zur Förderung von Sachkompetenz neben anderen Kompetenzbereichen vorhanden. Jedoch sollten auch hier die Beiträge als geschichtskulturelles Produkt mit Schüler*innen analysiert und reflektiert werden. In einer solchen Medienanalyse38 könnten die Schüler:innen die Stimmung/Wirkung in Bezug auf die für TikTok medienspezifische Gestaltungsmittel beschreiben und dann erklären, wie die (z. B. musikalische) Gestaltung genutzt wird, um historische Sachverhalte und Akteur:innen zu charakterisieren. Im Zentrum könnte insgesamt die Beurteilung der Vermittlung von historischen Kontexten mit Bezug zum Holocaust im Medium TikTok stehen. Im Rahmen der Urteilsfindung können auch TikToks von Holocaust-Überlebenden, wie z. B. von der 1923 geborenen Lily Ebert,39 die ihren TikTok-Account gemeinsam mit ihrem Ur-Enkel betreibt, oder TikToks der Holocaust-Challenge (siehe nächstes Kapitel) analysiert und reflektiert werden. 3.3
Kontroverse Geschichtserzählungen am Beispiel der Holocaust-Challenge40
Die Geschichte des Holocaust wird auf TikTok vielfach thematisiert. Die sogenannte Holocaust-Challenge löste im August 2020 eine kontroverse Debatte aus. Bei Challenges dient ein bestimmter Hashtag dazu, an Wettbewerben auf TikTok teilzunehmen. Im Zuge der Holocaust-Challenge inszenierten sich Nutzer:innen auf TikTok in kurzen Filmen als fiktive jüdische Holocaustopfer: Sie schminkten sich und berichteten der Rolle entsprechend post mortem bei emotionaler Popmusik über ihren Tod in Konzentrations- und Vernichtungslagern.41 Die Twitternutzerin
36 TikTok-Video „Washrooms“ der KZ-Gedenkstätte Neuengamme: https://www.tiktok.com/@neuengamme.memorial/video/7088362862086851846 (27.12.2022). 37 TikTok-Video „Waht did neighbours know“ der KZ-Gedenkstätte Neuengamme: https://www.tiktok. com/@neuengamme.memorial/video/7074583572090326277 (27.12.2022). 38 Vgl. Buchsteiner u. a.: Medien, S. 28−35. 39 TikTok-Account von @lilyebert: https://www.tiktok.com/@lilyebert (27.12.2022). 40 Leicht gekürztes Kapitel aus Burkhardt: Social Media und Public History (erscheint 2023). 41 Vgl. Ebbrecht-Hartmann, Tobias/Divon, Tom: Let TikTok Creators Pretend to Be Victims of the Nazis. It Strengthens Holocaust Memory, in: Haaretz-Online, 10.09.2020: https://www.haaretz. com/us-news/2020-09-10/ty-article-opinion/.premium/let-tiktok-users-pretend-to-be-victims-ofthe-nazis-it-strengthens-holocaust-memory/0000017f-e9ae-df5f-a17f-fbfe01820000 (27.12.2022); Kremp, Matthias: Ärger um angebliche Holocaust-Challenge auf TikTok, in: Spiegel-Online, 25.08.2020: https://www.spiegel.de/netzwelt/web/tiktok-aerger-um-angebliche-holocaust-challenge-
Geschichte auf TikTok als Chance für historisches Lernen im Geschichtsunterricht
@Mowgli_Lincoln veröffentlichte am 18. August 2020 eine Vielzahl dieser TikToks auf Twitter42 und löste die Debatte damit aus.43 Das Magazin für junge jüdische Frauen heyalma zeigte Verständnis für junge jüdische TikToker:innen, sich auf diese Weise ihrer (Familien-)Geschichte anzunähern, forderte Nicht-jüdische TikToker:innen jedoch auf, die entsprechenden TikToks wegen der kulturellen Aneignung zu entfernen.44 Die Direktorin des United States Holocaust Memorial Museum, Diane Saltzman, kritisierte die HolocaustChallenge.45 Einige TikToker:innen machten Aussagen zur Motivation, Clips im Rahmen der Holocaust-Challenge zu produzieren: Die fünfzehnjährige McKayla aus Florida, die selbst Holocaustüberlebende in ihrer Familien hat, wollte das Bewusstsein für den Holocaust schärfen;46 die TikTokerin @thatsnadia, die ihr Video nach massiver Kritik gelöscht und sich entschuldigt hatte, wollte auf den Holocaust und seine Geschichte aufmerksam machen.47 Lernchancen für historisches Lernen ergeben sich durch die Analyse und Beurteilung der medienspezifischen Geschichtserzählungen, indem die Lernenden die Gestaltungsmittel (Text der TikToker:innen, Text in Form von Stickers, Gifs, Hashtags; Musik; kurze Dauer; Hintergrund) benennen, die entsprechenden Teile als kulturell oder historisch konnotiert erklären und die Auswahl begründen.48 Für die Beurteilung der Art der Darstellung sollten die oben genannten Intentionen der Urheber:innen berücksichtigt werden. Angemessenheit sowie Aspekte der kulturellen Aneignung können Referenzrahmen für die Beurteilung sein. Die Debatte um die Holocaust-Challenge sollte im Unterricht ebenfalls thematisiert werden, da diese ein passendes Beispiel ist, wie neue medialen Formen der Erinnerung an den Holocaust Befremden trotz redlicher Absichten auslösen können, obwohl die einzelnen Inszenierungselemente − wie das Schminken und die
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a-bba8e88a-6da5-4c2b-aa00-f012c9bd6ee3 (27.12.2022); Müller, Kai: Inszenierung auf Tiktok: Gedenkstätte kritisiert Darstellungen von Holocaust-Opfern, in: Stern-Online, 28.08.2020: https:// www.stern.de/digital/online/holocaust-verharmlosung–gedenkstaette-kritisiert-tiktok-challenge9394456.html (27.12.2022). Tweet von @Mowgli_Lincoln, 18.08.2020: https://twitter.com/Mowgli_Lincoln/status/12957831956 82562049 (27.12.2022). Vgl. Froio, Nicole: We asked TikTokers why they’re pretending to be Holocaust victims, in: Wired, 21. August 2020: https://www.wired.co.uk/article/tiktok-holocaust-pov (27.12.2022). Ebd. Ankel, Sophia: TikTok creators are pretending to be Holocaust victims in heaven in a new trend dubbed ’trauma porn’, in: Insider, 23.08.2020: https://www.insider.com/tiktok-trend-shows-peoplepretending-to-be-holocaust-victims-heaven-2020-8 (27.12.2022). Froio: Holocaust Victims. Vgl. Kremp: Holocaust Challenge. Vgl. Buchsteiner u. a.: Medien, S. 28−35.
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emotionale musikalische Unterlegung − in etablierten Medien der Holocausterinnerung − wie preisgekrönten Spielfilmen − durchaus üblich sind. Auch historische Debatten49 um (in ihrer Zeit) neue mediale Verarbeitungsformen des Holocaust können im Rahmen einer Vertiefung thematisiert werden, wie z. B. um die USamerikanische TV-Serie „Holocaust“ (Erstausstrahlung in Deutschland 1979).50 Im Rahmen der Urteilsfindung sollten auch TikToks von Holocaust-Überlebenden oder von etablierten Holocaust-Gedenkinstitutionen (siehe oben) gezeigt, analysiert und reflektiert werden.
4.
Fazit: Social Media und TikTok als Chance für historisches Lernen
Ausgangspunkt für den Einsatz von TikTok in Prozessen des historischen Lernens sollte ausdrücklich nicht eine Anpassung an die medialen Konsumgewohnheiten von Schüler:innen sein, indem Lerneinheiten im Sinne eines falsch verstandenen „micro-learnings“51 auf die Länge einminütiger TikToks zusammenschrumpfen. Aspekte wie eventuell zu erwartende Effekte auf die Motivation der Lernenden zeigen in der unterrichtlichen Praxis – wenn überhaupt – wenig Wirkung und nutzen sich schnell ab. Vielmehr sollten daher die Schüler:innen durch den Einsatz von TikTok im Geschichtsunterricht in die Lage versetzt werden, sich mit medial vermittelten Geschichtsdarstellungen der Geschichtskultur kritisch auseinanderzusetzen,52 indem mittels Social Media gegenwarts- und lebensweltnahe (kontroverse) Geschichtsnarrationen- und -deutungen analysiert und reflektiert werden, um Medien-/Methodenkompetenz und historische Urteilsfähigkeit zu fördern. Neben der De-Konstruktion und Beurteilung von Geschichtsdarstellungen der digitalen und analogen Geschichtskultur muss die Re-Konstruktion von Geschichte auf Basis historischer Quellen auch weiterhin ein Schwerpunkt historischen Lernens im Geschichtsunterricht sein. Wer jedoch im Rahmen einer Medienanalyse53
49 Beispielsweise hatte der Spiegel die „geschichtlichen Ungenauigkeiten und vielen Plattitüden amerikanischer Serienproduktionen“ kritisiert: „Holocaust“: Die Vergangenheit kommt zurück (Spiegel-Titelgeschichte), in: Der Spiegel, 28.01.1979: https://www.spiegel.de/politik/holocaust-dievergangenheit-kommt-zurueck-a-3609aeed-0002-0001-0000-000040350860 (27.12.2022). 50 Vgl. Bösch, Frank: Film, NS-Vergangenheit und Geschichtswissenschaft. Von „Holocaust“ zu „Der Untergang“, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 55, H. 1 (2007), S. 1–32; Schmid, Harald: Die „Stunde der Wahrheit“ und ihre Voraussetzungen. Zum geschichtskulturellen Wirkungskontext von „Holocaust“, in: Historical Social Research 30, H. 4 (2005), S. 18–28; Wilke, Jürgen: Die Fernsehserie „Holocaust“ als Medienereignis, in: Historical Social Research 30, H. 4 (2005), S. 9–17. 51 Khlaif/Salha: TikTok. 52 Danker, Uwe/Schwabe, Astrid: Geschichte im Internet, Stuttgart 2017, S. 38. 53 Vgl. Buchsteiner u. a.: Medien, S. 28−35.
Geschichte auf TikTok als Chance für historisches Lernen im Geschichtsunterricht
geschichtskultureller Darstellungen (wie auf Social Media) Merkmale wie z. B. inhaltliche Kernaussagen, Adressat:innenkreis, Funktion, Perspektive, Intentionen, Gestaltung oder Deutung fachgerecht erschließen kann, wird diese auch im Rahmen der Bearbeitung von historischen Quellen fachgerecht einsetzen können.54 Ein in diesem Verständnis praktizierter Geschichtsunterricht kann TikTok mit guten geschichtsdidaktischen Argumenten in Prozesse des kompetenzorientierten historischen Lernens integrieren.
54 Vgl. Danker, Uwe/Schwabe, Astrid: Potenziale des Faches Geschichte für Kompetenzerwerb in der digitalisierten Welt. Ein pragmatischer und fachbezogener Zugang, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 71, H. 7/8 (2020), S 414–434, hier S. 426.
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Personalisierung oder Personifizierung Erwartungen von Lernenden im digitalen Zeitalter „Männer machen Geschichte“, dessen war sich Heinrich von Treitschke, einer der Gründungsväter der deutschen Geschichtsschreibung, sicher. Im 21. Jahrhundert scheint seine Position völlig aus der Zeit gefallen zu sein, Geschichte ist kein Gegenstand einzelner, gar nur männlicher Individuen mehr, sondern muss die Vielfalt der Gesellschaft widerspiegeln – so ließe sich vermuten. Der vorliegende Beitrag will hinterfragen, ob diese Annahme sich tatsächlich mit Vorstellungen und Erwartungen von Kindern und Jugendlichen deckt, wenn man sie nach ihren Präferenzen befragt, was sie über wen in der Geschichte vergangener Zeiten noch genauer wissen möchten.
1.
Krise der Geschichtswissenschaft und des Geschichtsunterrichts in den 1970er Jahren: Personifizierung als Ausweg?
Blickt man zunächst auf die deutsche Historiografie, so wird schnell deutlich, wie lang sich die Überzeugung Treitschkes halten konnte. Bis in die 1970er Jahre hinein galt die wissenschaftliche Biografie meist männlicher Protagonisten als eines der wichtigsten Genres der historischen Forschung. Wer etwas über die Geschichte der Antike oder des Mittelalters wissen wollte, griff zu den biografischen Abhandlungen zu den jeweiligen Herrschern der Zeit. Erst mit dem Aufstieg der Sozialgeschichtsschreibung, der mit Namen wie Hans-Ulrich Wehler oder Jürgen Kocka verknüpft ist, änderte sich der Blickwinkel. Genuin biografische Zugriffe auf Geschichte verloren an Bedeutung. Etwa parallel zu dieser grundsätzlichen Entwicklung in der Geschichtswissenschaft stieß innerhalb der Subdisziplin der Didaktik der Geschichte vor allem Klaus Bergmann eine Debatte an, inwieweit der zeitgenössisch noch immer sehr stark auf die Beschäftigung mit Herrschern, Königen und Politikern ausgerichtete schulische Unterricht noch zeitgemäß sein könne. Vor dem Hintergrund der Ende der 1950er Jahre immer deutlicher wahrgenommenen Geschichtsmüdigkeit1 und des diagnostizierten, generellen „Verlust[es] der Geschichte“2 konnte auch das
1 Stellvertretend: Wittram, Ernst: Anspruch und Fragwürdigkeit der Geschichte, Göttingen 1969. 2 Heuß, Alfred: Verlust der Geschichte, Göttingen 1959, S. 44 ff.
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historische Lernen im schulischen Kontext nicht mehr in seinen bisherigen Bahnen ablaufen,3 zumal sich auch unter den Lernenden und in der Gesellschaft insgesamt ein deutlicher Zustimmungsverlust für das Fach Geschichte abzeichnete.4 Bergmann nahm dies in seine geschichtsdidaktischen Überlegungen auf, er schloss sich aber nicht den Forderungen an, das eigenständige Fach in seinem Bestand aufzugeben und in kombinierte Sammelfächer zu überführen. Vielmehr schlug er eine völlige Neuausrichtung vor, die sich konsequent an demokratischen Prinzipien orientieren sollte. Primäre Aufgabe solle es sein, Schüler unterschiedlichster Herkunft, intellektueller Präformation und Wertorientierung zu befähigen, ihre jeweilige Gegenwart unter kritischer Reflexion sekundärer, an Geschichte gewonnener Erfahrungen und unter Anwendung von Kategorien historisch-politischen Denkens entsprechend ihren objektiven Bedürfnissen und Interessen zu verändern und auszugestalten.5
Geschichte sollte mithin vor allem dem Ziel der demokratischen Emanzipation von Kindern und Jugendlichen dienen, so die Intention Bergmanns. Zentrales Mittel, um das erstrebte demokratisierende Potenzial des historischen Lernens sicherzustellen, war für ihn die Abkehr von den personalisierenden Inhalten der Curricula.6 Als wesentlichen Teil der zunehmenden Multiperspektivität im Geschichtsunterricht sah er die Einbindung von bislang kaum wahrgenommenen Personengruppen.7 Seine Thesen waren offenbar in der Zeit unmittelbar anschlussfähig.8 Hans-Dieter Schmid etwa griff den Vorschlag auf und erweiterte mit Blick auf die Unterrichtspragmatik die fachspezifischen Unterrichtsverfahren dezidiert um einen sozialbiografischen Zugriff, bei dem die sozialen Hintergründe und Bedingtheiten von Individuen und Gruppen vertieft analysiert werden sollten.9 In der Folge sahen sich Vertreter des rein biografischen Zugriffs unter
3 Zur längerfristigen Entwicklung des Schulfaches Geschichte noch immer grundlegend: Baumgärtner, Ulrich: Transformationen des Unterrichtsfaches Geschichte. Staatliche Geschichtspolitik und Geschichtsunterricht in Bayern im 20. Jahrhundert, Idstein 2007. 4 Marienfeld, Wolfgang/Osterwald, Winfried: Die Geschichte im Unterricht. Grundlegung und Methode, Düsseldorf 1966, S. 9 ff. 5 Bergmann, Klaus: Personalisierung im Geschichtsunterricht – Erziehung zur Demokratie?, Stuttgart 1972, S. 10 f. 6 Gestützt ist die Forderung beispielsweise auf: Friedeburg, Ludwig von/Hübner, Peter: Das Geschichtsbild der Jugend, München 1964. 7 Bergmann, Personalisierung, S. 82 ff. 8 So weist bspw. einen eigenen Eintrag für Personalisierung/Personifizierung bereits aus: Niemetz, Gerold (Hg.): Lexikon für den Geschichtsunterricht. Definitionen, Fakten, Tendenzen, Stellenwert, Unterrichtspraxis mit Beiträgen zum Politikunterricht, Freiburg 1984, S. 135–137. 9 Schmid, Hans Dieter: Unterrichtsverfahren, in: Niemetz: Lexikon, S. 205–208, hier S. 207.
Personalisierung oder Personifizierung
Rechtfertigungszwang. So empfand sich Joachim Rohlfes bei der Abfassung seiner Überblicksdarstellung gezwungen, die Vorzüge des klassischen biografischen Unterrichtsverfahrens zumindest grundsätzlich nochmals herauszustellen.10 Bergmanns Klage, in den geschichtsdidaktischen Grundlagenwerken seiner Zeit sei auf die Kritik am personalisierten Unterricht nicht eingegangen worden,11 war für den Zeitraum bis zu den 1970er Jahren sicher zutreffend, ist inzwischen aber überholt. Spätestens seit Michael Sauer in seinem viel gelesenen Einführungswerk „Geschichte unterrichten“ die Differenzierung zwischen Personalisierung und Personifizierung zu den grundlegenden Unterrichtsprinzipien des schulischen Faches Geschichte zählte, dürfte den meisten Lehramtsstudierenden und damit den späteren Geschichtslehrkräften der Name Klaus Bergmann als Impulsgeber für die Abkehr vom rein politisch-biografischen Lernen zumindest einmal zu Ohren gekommen sein.12 Neben Sauers zusammenfassender Beschreibung liegen inzwischen jedoch sogar weitere Ausschärfungen des Konzepts vor. Vor allem Bergmanns Impuls, „stummen Gruppen“ in der Geschichte durch Nacherzählungen doch eine Stimme zu geben, wird skeptisch gesehen. Martin Lücke etwa schlägt vor, jene historisch stummen Gruppen sollten bei der Bearbeitung im Unterricht weiterhin sprachlos bleiben, wobei entscheidend sei, dass auf diese weiterhin bestehende Sprach- und Machtlosigkeit hingewiesen werde.13
2.
Neues Interesse am Biografischen
Blickt man jedoch auf die Entwicklung in der primären Bezugsdisziplin der Geschichtsdidaktik, auf die Geschichtswissenschaften, so lässt sich dort eine grundsätzliche Rückkehr zum Biografischen nicht übersehen. Schon seit Lothar Galls höchst erfolgreicher Lebensbeschreibung zu Otto von Bismarck14 hat das Genre neue Kraft gefunden und ist inzwischen wieder in Mode.15 Im stationären Buchhandel beispielsweise nimmt die Rubrik der Biografien nicht selten mehr als die Hälfte des vorhandenen Angebots an historischen Titeln ein. In anderen Feldern der
10 Rohlfes, Joachim: Geschichte und ihre Didaktik, Göttingen 2 1997, S. 243 f.; ähnlich: Ders.: Ein Herz für die Personengeschichte? Strukturen und Persönlichkeiten in Wissenschaft und Unterricht, in: GWU 50 (1999), S. 305–320. 11 Bergmann: Personalisierung, S. 62. 12 Sauer, Michael: Geschichte unterrichten. Eine Einführung in die Didaktik und Methodik, Seelze 5 2006, S. 85 ff. 13 Lücke, Martin: Multiperspektivität, Kontroversität, Pluralität, in: Barricelli, Michele/Lücke, Martin (Hg.): Handbuch Praxis Geschichtsunterricht, Schwalbach/Ts. 2012, S. 281–288, hier S. 288. 14 Gall, Lothar: Bismarck: Der weiße Revolutionär, Frankfurt a. M. 1980. 15 Lässig, Simone: Die historische Biographie auf neuen Wegen?, in: GWU 60 (2009), S. 540–553.
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öffentlichen Geschichtskultur werden ebenfalls einzelne, zumeist männliche Protagonisten exponiert herausgehoben. So nutzt das Stadtmarketing für Magdeburg besonders die Figur Ottos des Großen, während Aachen sich öffentlichkeitswirksam gern in seiner Rolle als der „Kaiserstadt“ Karls des Großen labt. Auf der Leinwand sind immer wieder Biopics zu sehen, die vor allem eine Person in den Mittelpunkt rücken, zu denken wäre beispielsweise an die US-Produktion „Darkest Hour“ aus dem Jahr 2017, die dem britischen Kriegspremier Winston Churchill ein filmisches Denkmal setzte, oder an das vielfach ausgezeichnete Widerstandsdrama „Sophie Scholl – Die letzten Tage“ (Deutschland 2005). Im Streamingbereich ragt sicher „The Crown“ als fiktiv-zeitgeschichtliche Darstellung des britischen Königshauses heraus, mit der Netflix seit 2016 ein breites Publikum erreicht. Bezeichnenderweise stemmt sich auch der Geschichtsunterricht nicht gegen den Trend. Die Personalisierung von Figuren wie Caesar oder Napoleon spielt doch noch immer eine exponierte Rolle, wenngleich gerade seit der Jahrtausendwende zunehmend auch Frauen und Personen mit weniger exponierter Herkunft ein breiterer Raum, beispielsweise in Lehrwerken des Faches Geschichte, eingeräumt wird. Besonders prägnant zeigte sich dieses weiterhin bestehende gesellschaftliche Interesse in den Jahren 2021 und 2022 an der Figur Sophie Scholls. Die im Alter von nur 21 Jahren ermordete Widerstandskämpferin zählt gerade nicht zu jenen arrivierten Staatslenkern und Wirtschaftseliten, die Bergmann vor allem als Personalisierungen im Geschichtsunterricht im Blick hatte. Doch zählt auch Sophie Scholl schon lange zu den bekanntesten historischen Figuren in Deutschland, wie beispielsweise eine Umfrage der Frauenzeitschrift „Brigitte“ aus dem Januar 2000 belegt, in der die in München ermordete Studentin zur „Frau des 20. Jahrhunderts“ gekürt worden war.16 An diese öffentliche Popularität und die von Bergmann eigentlich abgelehnte Personalisierung von Geschichte knüpfte nun allerdings ein Projekt an, das gemeinsam von Südwestrundfunk und Bayerischem Rundfunk verantwortet wurde: Der Instagram-Kanal „@ichbinsophiescholl“.17 Das Projekt, das die letzten zehn Lebensmonate der wohl prominentesten Widerstandskämpferin ins Virtuelle tragen sollte, entwickelte sich kommerziell höchst erfolgreich. Mehrere hunderttausend Follower interessierten sich für die Bilder, Hashtags sowie Reels, in welchen die Schauspielerin Luna Wedler die historische Figur (der Sophie Scholl) im Stile einer aktuellen Influencerin darstellte. Wie hätte es ausgesehen,
16 Sophie Scholl lag mit großem Abstand vor den weiteren Genannten, wie etwa Rosa Luxemburg, Marie Curie oder Marion Gräfin Dönhoff. Siehe: Brigitte 2 (2000), S. 3. 17 Instagram: https://www.instagram.com/ichbinsophiescholl/ (10.02.2023) sowie auf swr Instagram-Projekt: https://www.swr.de/unternehmen/ich-bin-sophie-scholl-instagram-serie-102.html (10.02.2023).
Personalisierung oder Personifizierung
wenn Sophie Scholl einen Instagram-Account gehabt hätte, so lautete die programmatische, zugleich aber auch werbewirksam gestellte Frage. Dementsprechend konnten Follower der fiktiven Sophie Scholl bei ihrem Umzug von Ulm nach München folgen, sie bei ihrem Studium und in ihrem Privatleben begleiten und ihr zunehmendes Engagement gegen die politische Situation verfolgen. Ein Angebot, das offenbar die gesellschaftlichen Erwartungen erfüllte und augenscheinlich auf ein großes Publikum stieß.18 Im Durchschnitt 827.000 Follower (in der Spitze sogar 930.000) folgten „@ichbinsophiescholl“. Laut Bayerischem Rundfunk regte jeder neue Post regelmäßig über 30.000 Interaktionen von Nutzerinnen und Nutzern an und monatlich erfolgten etwa 1,2 Mio. Interaktionen rund um das Projekt.19 Offenbar gelten die Mechanismen der personalisierten Geschichtsdarstellung noch immer. Vielleicht wirken sie sogar in den Sozialen Medien noch eindringlicher, wenngleich erste Untersuchungen darstellen, wie wenig aktiv gerade Kinder und Jugendliche im schulpflichtigen Alter sich von der „Instagram-Sophie“ inspirieren ließen.20 Interessant in diesem Zusammenhang ist aber, dass sie zwar am konkreten Fall kaum Interesse zeigten, dennoch aber auf die Frage, welchen anderen Figuren sie auf Social Media folgen würden und über wen sie auf diesem digitalen Weg mehr erfahren wollen, durchaus Angaben machten. In der schriftlichen Fragebogenerhebung, an der sich zwischen März und Mai 2022 insgesamt 1150 Lernende aus zwölf Real- und Gesamtschulen sowie Gymnasien in den Bundesländern Bayern, Nordrhein-Westfalen und dem Saarland21 beteiligten, wurden insgesamt 45 Namen genannt. Allerdings erreichte sogar die am häufigsten aufgezählte Person, nämlich Anne Frank, mit 125 Nennungen nur knapp mehr als 10 % aller Stimmen.
3.
Digital Natives und ihre biografischen Interessen
Zu bedenken ist also der geringe absolute Wert, den alle Angaben bezogen auf die Gesamtstimmenzahl erreichen konnten. Dennoch soll nachfolgend der Versuch unternommen werden, die erhobenen Daten auszuwerten und in einen größeren Zusammenhang zu stellen.
18 Neue Zürcher Zeitung, 24.05.2021: https://www.nzz.ch/feuilleton/ich-bin-sophie-scholldurchbruch-eines-neuen-instagram-formats-ld.1626045 (10.02.2023). 19 Information per Mail von Lydia Leipert, beim Bayerischen Rundfunk für Film digital zuständig, vom 05.04.2022. 20 Kuchler, Christian: @ichbinsophiescholl: Soziale Medien als Chance für den Geschichtsunterricht?, in: Geschichte für heute 16 (2023), S. 53–65. 21 Der Autor will die Gelegenheit nutzen und den Kolleginnen und Kollegen danken, die in ihrem Geschichtsunterricht die Fragebögen bearbeiten ließen.
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Ins Auge fallen – und dies wurde in der Presseberichterstattung über die hier zugrundeliegende Erhebung ebenfalls besonders herausgehoben22 – die Positionierungen auf den ersten Rängen. Mit Anne Frank rangiert auf Platz eins eine historische Person, die den Lernenden im schulischen Kontext schon begegnet sein dürfte, zu kanonisch ist deren Tagebuch nach wie vor als Klassenlektüre.23 Wenngleich schon in den Debatten um @ichbinsophiescholl davor gewarnt worden war, aus der Münchner Studentin solle eine „deutsche Anne Frank“ gemacht werden,24 ist ihre Nennung in diesem Zusammenhang kaum überraschend. Schließlich gehören Anne Frank ebenso wie Sophie Scholl zu den wenigen weiblichen Figuren, die im Geschichtsunterricht zur NS-Zeit tatsächlich behandelt werden. Vielmehr belegt dieser Teil der Umfrage, wie sehr sich die befragten Kinder und Jugendlichen an Vertrautem orientierten, als sie über potenzielle Nachfolgeprojekte zu @ichbinsophiescholl nachdenken sollten. „Vertraut“ ist den jungen Menschen sicher auch der zweitplatzierte Mensch auf der Liste: Adolf Hitler. Seine häufige Nennung ist insofern bedenkenswert, weil die Vorstellung eines Instagram-Kanals zum Leben des Diktators zwangsläufig eine private Darstellung ermöglichen würde, was definitiv die Gefahr einer zu großen Attraktivität seiner Person für die Rezipienten aufwerfen würde. Dennoch entspricht seine häufige Nennung wohl dem Empfinden deutscher Schulklassen, wonach besonders der Diktator des NS-Regimes zu den zentralen Figuren der deutschen Geschichte gehört. Das Interesse an seiner Person ist mithin Spiegelbild der schulischen wie außerschulischen Geschichtskultur, in welcher die Person Hitlers ebenfalls sehr exponiert thematisiert wird. Aus welchen Motiven heraus die Überlegungen stammen, über das Leben Hitlers einen eigenen Social MediaKanals einzurichten und über seine Person mehr zu erfahren, bleiben aber diffus. Nicht auszuschließen ist aber, dass unter den Personen, die sich in diese Richtung äußerten, sich Jugendliche mit latent oder offen rechtsextremen Neigungen finden. Eine offene Auseinandersetzung mit diesen Positionen ist im Unterricht unumgänglich, eine – gar, vergleichbar zu Sophie Scholl, öffentlich-rechtlich finanzierte – Darstellung seines Lebens ist hingegen strikt abzulehnen. Dem Diktator muss in der historisch-politischen Bildung wesentlicher Raum zugebilligt werden, zugleich aber gilt es, die klassische Schuldabwehr, wonach nur Hitler für alle Verbrechen
22 Der Spiegel, 29.06.2022: https://www.spiegel.de/geschichte/ichbinsophiescholl-auf-instagramjugendliche-koennen-echte-und-digitale-sophie-scholl-kaum-unterscheiden-a-03995dd7-cd0946ff-bf05-b4596d96d219 (10.02.2023). 23 Exemplarisch für die zahlreichen unterrichtspraktischen Handreichungen zum Tagebuch: Kammler, Clemens/Bogdal, Klaus-Michael/Siebert, Tilmann (Hg.): Klasse! Lektüre – Modelle für den Literaturunterricht: Das Tagebuch der Anne Frank, München 2001. 24 Ruhr Nachrichten, 23.02.2022: https://www.ruhrnachrichten.de/ueberregionales/ich-bin-sophiescholl-ein-umstrittenes-instagram-projekt-endet-w1727259-2000456683/ (01.10.2022).
Personalisierung oder Personifizierung
des NS-Staates verantwortlich sei, entgegenzuwirken und gerade in seinem Fall eine unpassende Personalisierung von Geschichte zu vermeiden. Dass just eine solche aber von fast zehn Prozent der Befragten als erwünscht angegeben wird, muss deshalb nachdrücklich beunruhigen. Historische Figur Anne Frank Adolf Hitler Julius Caesar Napoleon Bonaparte Martin Luther King Kleopatra Albert Einstein Marie Curie Josef Stalin Jesus Otto von Bismarck Kaiserin Sissi Alexander der Große Claus Schenk Graf von Stauffenberg Pablo Escobar Christoph Kolumbus Karl der Große Martin Luther Karl Marx Rosa Parks Marie Antoinette Jeanne d‘Arc
Anzahl 125 99 48 29 25 19 19 19 15 14 11 9 8 8 7 7 7 6 6 6 6 5
Die weiteren Spitzenplätze, so scheint es, belegen erwartbare historische Figuren. Gaius Julius Caesar prägt den Geschichts- und Lateinunterricht in einem solchen Maß, dass es seiner exponierten Stellung in der Geschichtskultur – Stichwort Asterix – wohl nicht einmal mehr bräuchte, um ihn auf den dritten Platz der Umfrage kommen zu lassen. Vergleichbares lässt sich sicher für Napoleon Bonaparte sagen, aber auch Alexander der Große, Karl der Große (hier macht sich vielleicht auch die überproportionale Beteiligung von Schulklassen aus Aachen bemerkbar), Martin Luther King oder Karl Marx können auf ihre exponierte Stellung in den Curricula des Schulunterrichts zurückgeführt werden. Dies allein erklärt aber die Zusammensetzung der Liste nicht. Schließlich erreicht der Reformator Martin Luther, obwohl er nicht nur im historischen Lernen, sondern ebenso in den konfessionellen Unterrichtsfächern sehr häufig thematisiert wird, nur weniger als ein Viertel der Stimmen, die der amerikanische Bürgerrechtler Martin Luther King auf sich vereinigen kann.
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Bereits diese inneren Widersprüche sind es, die bei der Interpretation der Daten eine ausschließliche Orientierung an schulischen Inhalten verbieten. Neben den Curricula im Fach Geschichte gibt es zahlreiche andere Bereiche der öffentlichen Kommunikation über Geschichte, die ganz offenkundig die historischen Interessen junger Menschen beeinflussen. Beredtes Beispiel hierfür ist gerade jene häufige Nennung Martin Luther Kings. Die intensiven Debatten um die Black Lives MatterBewegung, die kurz vor dem Erhebungszeitraum aufgekommen und keineswegs bereits abgeebbt waren, trugen sicherlich zu dessen häufigen Nennungen bei. Damit spiegelt sich in den Namensnennungen die Bedeutung von gesellschaftlichen Debatten für das Interesse an spezifischen Figuren, wie nicht zuletzt die Platzierung von Rosa Parks bestätigt. Im engeren Sinn der Public History geschuldet, ist die Platzierung der altägyptischen Herrscherin Kleopatra auf Platz sechs. Im engeren deutschsprachigen Kontext zu sehen ist hingegen Platz sieben, den Elisabeth von Österreich einnimmt. Obwohl sie einer breiten Bevölkerung wohl vor allem aus den Verfilmungen mit Romy Schneider aus den 1950er Jahre bekannt ist, dürften für heutige Jugendliche diese Produktionen eher unbekannt oder abschreckend sein. Für sie wurde die Figur bedeutsam, weil in etwa zeitgleich zur Fragebogenerhebung der Fernsehsender RTL und Netflix neue Inszenierungen der Biografie der bayerisch-österreichischen Adligen ausstrahlten. Vor allem aber ist Pablo Escobars Anwesenheit in der Vorschlagsliste nur zu verstehen, wenn man den Blick über die Schulgrenzen hinaus richtet und mediale Inszenierungen einbezieht. Der kolumbianische Drogendealer stieg nach seinem Tod zunehmend zur Figur der modernen Populärkultur auf und gilt inzwischen als Prototyp des skrupellosen südamerikanischen Drogenbarons, als welcher er in verschiedenen Medienformaten dargestellt wird. Im schulischen Unterricht hingegen dürfte er keine Rolle einnehmen. Pädagogisch stellt sich natürlich gerade bei Escobar die Frage, ob ein Schwerverbrecher wie er tatsächlich im Mittelpunkt einer digitalen Inszenierung stehen muss, wenn es dieser um die Vermittlung historischer Inhalte geht. Zugleich aber weist seine Nennung auf eine enorme Lücke im Interesse der Befragten hin: Er ist die einzige Person, die ihren Lebensmittelpunkt nicht in Europa oder den USA hatte. Der noch immer eurozentrische Blick des deutschen Geschichtsunterrichts und die US-Fixierung des internationalen Medienmarktes spiegelt sich mithin in den hier ausgewerteten Angaben wider. Offenbar beschränkt sich die Welt jenseits der typischen Grenzen auf das, was wohl am besten mit dem Terminus „Schwerverbrecher“ zu beschreiben wäre. Wie sehr ein Aufbrechen der historischen Wahrnehmung und ein Ausbrechen aus den weithin nationalen und
Personalisierung oder Personifizierung
bestenfalls europäischen Inhalten des Geschichtsunterrichts nötig ist,25 bestätigen die Lernenden mit ihren Angaben selbst.
4.
Bewertung
Betrachtet man also die Nennungen, so zeigt sich tatsächlich eine gewisse Stabilität im Interesse an „großen“ Menschen. Allerdings konzentriert sich dies nicht mehr nur auf männliche Inhaber staatlicher Macht. Die klassischen Figuren aus früheren Geschichtsdarstellungen, zu denken wäre etwa an mittelalterliche Kaiser oder preußische Herrscher, sind fast vollständig verschwunden. An ihre Stelle treten verstärkt Frauen, die vor wenigen Jahren noch nicht auf einer solchen Liste zu erwarten gewesen wären. Das gilt besonders für Rosa Parks, aber auch Marie Curie wäre wohl weniger prominent platziert gewesen, während mit dem Naturwissenschaftler Albert Einstein in Deutschland durchaus gerechnet hätte werden können. Vor allem aber belegt die Zusammenstellung die enorme Bedeutung der Geschichtskultur für das individuelle Geschichtsbewusstsein von Kindern und Jugendlichen. Populärkulturell verhandelte Figuren, zu denken ist an Caesar und Kleopatra für die Antike oder „Sissi“ und Stauffenberg im Bereich der Neuzeit, sind prägende Instanzen für die jungen Menschen. Selbst, wenn viele Lehrkräfte der Einbeziehung der Public History in ihren Unterricht nach wie vor sehr skeptisch gegenüberstehen,26 lässt sich deren Relevanz für die Vorstellungen und Präkonzepte von Geschichte nicht leugnen. Dies, so scheint mir, ist die neue Herausforderung für die Geschichtsdidaktik. Es ist weniger das Brechen der Vorstellung von „großen Männern“, die Geschichte machen, die sich noch als Herausforderung stellt. Vielmehr ist es die Frage der Nutzung von Geschichte für kommerzielle oder politische Zwecke, auf die Kinder und Jugendliche vorbereitet werden müssen, um sich in einer pluralen und demokratischen Gesellschaft emanzipiert einbringen zu können. Wie schnell sich aber beide Problemfelder wieder verbinden können und in aktuellen politischen Debatten „große Männer“ wieder für machtpolitische Zwecke missbraucht werden, belegt die Geschichtspolitik Wladimir Putins. Junge Menschen gegenüber einer solchen manipulativen Nutzung von Geschichte zu bewahren, kann nur gelingen, wenn neben die klassische Ereignisgeschichte eine umfassende Vorbereitung auf die Auseinandersetzung mit der öffentlichen Geschichtskultur bzw. dem, was inzwischen vor allem als Public History bezeichnet wird, tritt.
25 Bernhard, Philipp/Popp, Susanne/Schumann, Jutta: Ein geschichtsdidaktisches Plädoyer für die obligatorische Verankerung globalgeschichtlicher Perspektiven in den Geschichtscurricula, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 20 (2021), S. 18–32. 26 Münch, Daniel: Geschichtskultur als Unterrichtsgegenstand. Wie stehen die Lehrer*innen dazu?, Frankfurt a. M. 2021, S. 354.
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Geschichtsbewusstsein und museale Narrativierung in einer heterogenen Schülerschaft
1.
Einführung
Museen sind ein „Ort und Hort der Dinge.“1 Sie bergen originale Objekte „von herausragender Qualität und höchster sinnlicher Präsenz.“2 Sie ermöglichen Schülern3 ein multisensorisches Erleben von Geschichte. Museale Objekte sprechen nicht aus sich heraus; sie müssen durch Narrationen und Fragestellungen erst zum Sprechen gebracht werden. Das bloße Nachvollziehen der durch ein Museum vorgegeben Narrationen schöpft jedoch keineswegs das volle Potential für die historische Sinnbildung und Förderung des Geschichtsbewusstseins aus. Besonders gewinnbringend ist die Auseinandersetzung, wenn es den Schülern4 gelingt, durch eigene Narrationen einen Zusammenhang zwischen sich selbst und dem musealen Objekt herzustellen.5 Dieser Beitrag reflektiert den Prozess des Musealisierens selbst als Gegenstand des Geschichtsunterrichts. Am Beispiel des konfessionellen Zeitalters in einem glokalgeschichtlichen Zugriff wird versucht, eine Momentaufnahme im Prozess der Bildung von Geschichtsbewusstsein zu dokumentieren und zu ermitteln, welche Prozesse historischer Sinnbildung sich dabei vollziehen. Besonderes Augenmerk
1 Korff, Gottfried: Vom Verlangen, Bedeutung zu sehen, in: Borsdorf, Ulrich/Grütter, Heinrich Theodor/ Rüsen, Jörn (Hg.): Die Aneignung der Vergangenheit. Musealisierung und Geschichte, Bielefeld 2004, S. 81–104, hier S. 81. 2 Wagner, Ernst: Potenziale: Museen und Schulen. Warum sie füreinander interessant sind, in: Wagner, Ernst/Dreykorn, Monika (Hg.): Museum – Schule – Bildung. Aktuelle Diskurse – innovative Modelle – erprobte Methoden, München 2007, S. 13–15, hier S. 13. 3 Es wird im Weiteren stets das generische Maskulin verwendet, wobei Personen jedweden Geschlechts einbezogen sind. 4 Das gilt besonders für jene mit eigener Migrationserfahrung. 5 Vgl. Knoblach, Johannes M.: Museum und Migrationserfahrungen. Empirische Erkundungen zu den Interessen Jugendlicher im Freilandmuseum (Beihefte zur ZfGD, Bd. 22), Göttingen 2020, S. 200 f., S. 227; Rüsen, Jörn: Historisches Erzählen, in: Bergmann, Klaus (Hg.): Handbuch der Geschichtsdidaktik, Düsseldorf 3 1985, S. 44–50, hier S. 45–47; Rüsen, Jörn: Geschichtstheoretische Konsequenzen aus einer erzähltheoretischen Historik, in: Quandt, Siegfried/Süssmuth, Hans (Hg.): Historisches Erzählen. Formen und Funktionen, Göttingen 1982, S. 129–170, hier S. 141–145.
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liegt dabei auf der historischen Identität.6 Die zentrale Frage lautet: Welche Muster und Strukturen des Fremdverstehens7 sind zu erkennen, wenn Schüler das durch eigenständige museale Narrativierung erzeugte Identitätsangebot in die Konstruktion von Wir- und Ihr-Gruppen, den Prozess der Individualisierung8 und die Ausbildung der eigenen historischen Identität integrieren? Gleichwohl ist darauf hinzuweisen, dass ein singuläres Projekt nicht hinreichend Daten bieten kann, um verlässlich aufzuzeigen, wie ein Vermittlungsansatz das Geschichtsbewusstsein fördert. Vielmehr will es einen kleinen Beitrag dazu leisten, das für den Geschichtsunterricht lohnende Handlungsfeld des Musealisierens in einem qualitativ-rekonstruktiven Ansatz empirisch zu erschließen.
2.
Museale Narrativierung im Geschichtsunterricht
2.1
Projektskizze
Durchgeführt wurde das Projekt in einer siebten Jahrgangsstufe an einem bayerischen Gymnasium9 im Kontext der Unterrichtssequenz „das konfessionelle Zeitalter“.10 Die Lerngruppe bzw. Stichprobe bestand aus 17 Schülern,11 von denen über 90 % über einen Migrationshintergrund und in einem Fall über eigene Migrationserfahrung verfügen. Die neuere Forschung bezeichnet mit dem Begriff konfessionelles Zeitalter die „nachreformatorische Epoche in der Geschichte Europas in der Frühen Neuzeit“.12 Als Eckdaten gelten der Augsburger Religionsfrieden 1555 und das Ende des Drei-
6 Vgl. Pandel, Hans-Jürgen: Dimensionen des Geschichtsbewusstseins. Ein Versuch, seine Struktur für Empirie und Pragmatik diskutierbar zu machen, In: Geschichtsdidaktik 12 (1987), S. 130–142. 7 Vgl. Körber, Andreas: Interkulturelles Lernen im Geschichtsunterricht – eine Einleitung, in: Ders. (Hg.): Interkulturelles Geschichtslernen. Geschichtsunterricht unter den Bedingungen von Einwanderung und Globalisierung. Konzeptionelle Überlegungen und praktische Ansätze, Münster 2001, S. 5–25. 8 Meyer-Hamme, Johannes: Historische Identitäten in einer kulturell heterogenen Gesellschaft, in: Barricelli, Michele/Lücke, Martin (Hg.): Handbuch Praxis des Geschichtsunterrichts, Bd. 1, Schwalbach/Ts. 2012, S. 89–97, hier S. 89. 9 Konkret in Nürnberg. 10 Fachlehrplan „LehrplanPLUS Geschichte 7“ am Gymnasium in Bayern: https://www.lehrplanplus. bayern.de/fachlehrplan/gymnasium/7/geschichte (01.02.2023). 11 Davon fünf männlich und zwölf weiblich. 12 Kirn, Hans-Martin: Geschichte des Christentums IV, 1. Konfessionelles Zeitalter, Stuttgart 2018, S. 10; vgl. zudem Lanzinner, Maximilian/Schormann, Gerhard: Gebhardt Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. 10, Stuttgart 10 2004.
Geschichtsbewusstsein und museale Narrativierung in einer heterogenen Schülerschaft
ßigjährigen Krieges 1648.13 Dass hier jedoch der Beginn des konfessionellen Zeitalters früher, im beginnenden 16. Jahrhundert anzusetzen ist und die Reformation explizit einschließt, ist eine Vorgabe des schulischen Lehrplans.14 Gewählt wurde ein glokalgeschichtlicher15 Zugang, der die Interdependenzen zwischen dem Lokalen und dem „Globalen“, zwischen dem Partikularen und dem Universellen aufzeigt. Regionale/lokale Entwicklungen und Charakteristika wirken in die sie überwölbenden Strukturen16 und Raum-Dimensionen ein und werden von diesen als beeinflusst betrachtet.17 Aufgrund der Heterogenität der territorialen Landschaft des Alten Reichs wäre es unpräzise, das konfessionelle Zeitalter als z. B. eine nationale Geschichte zu erzählen. Das Alte Reich kann nur als Konstrukt verstanden werden, das durch die Territorien und deren Wechselwirkungen Gestalt findet. Beim Blick in die Territorien können, wie unter einem Brennglas, die Geschichte des konfessionellen Zeitalters im Kleinen seziert und analysiert sowie Rahmenbedingungen, Ursachen, Ereignisse und Folgen nachvollzogen werden. Ziel war es, dass sich die Schüler hinsichtlich der Zusammenhänge zwischen regionalen Phänomenen und Entwicklungen im Großen orientieren können: Zu nennen sind beispielsweise auf gesellschaftlicher Ebene die Entwicklung des Gedankens (religiöser) Toleranz einerseits sowie trennender Strukturen andererseits, die die Gesellschaft bis heute prägen, die Herausbildung eines neuen Bildungsideals im Zusammenhang mit medialen Innovationen oder auf politischer Ebene die Entwicklungen, aus denen letztlich besonders Frankreich in seinem Streben nach einer europäischen Hegemonie gestärkt hervorging. Das Musealisieren selbst bildete den Kern des Projekts. Die Schüler haben, in angemessener didaktischer Reduktion, wesentliche Schritte des Kuratierens auf den Ebenen Konzeption/Organisation und Realisierung nachvollzogen. Als Thema wurde das konfessionelle Zeitalter im glokalgeschichtlichen Zugriff vorgegeben.18 Zunächst galt es, die Ressourcen zu bündeln, die für das Projekt verfügbar sind. Unter dem Eindruck der Corona-Pandemie und damit einhergehenden Phasen des Distanz- und Wechselunterrichts entschieden sich die Schüler, eine virtuelle Ausstellung mit Hilfe der Online-Gestaltungs-Tools Canva19 und Bookcreator20 zu gestalten.
13 14 15 16 17 18 19 20
Kirn: Geschichte, S. 10; Lanzinner/Schormann: Gebhardt. Fachlehrplan „LehrplanPLUS Geschichte 7“. Vgl. John, Anke: Lokal- und Regionalgeschichte, Frankfurt a. M. 2018. Z. B. solche herrschaftlicher, gesellschaftlicher etc. Natur. Vgl. John: Lokal- und Regionalgeschichte. Inklusive entsprechender thematischer Einführung und fachlicher Betreuung. https://www.canva.com (27.03.2023). https://bookcreator.com (27.03.2023).
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Im Weiteren entwarfen die Schüler ein inhaltliches Grobkonzept (Themen, Ursachen, Motive, Entwicklungen, Folgen).21 Die davon ausgehende Wahl der Objekte umfasste u. a. Abbildungen historischer Portraits entscheidender Protagonisten (z. B. Georg Burkhardt Spalatin), historische Zeichnungen und Kupferstiche oder moderne Rekonstruktionen relevanter Orte und Ereignisse (z. B. Wallensteins Lager bei Zirndorf). Davon ausgehend konzipierten die Schüler als Feinkonzept ein „Ausstellungsdrehbuch“, das die Objekte stimmig in den thematischen Zuschnitt integriert und einen roten Faden über die Einzelthemen hinweg erkennen lässt. Für die Einzelthemen wurde hierbei ein dreigliedriger Aufbau des jeweiligen „Ausstellungsbereichs“ vorgegeben: 1. Im ersten Schritt war die regionalgeschichtliche Perspektive darzustellen. 2. Im Weiteren wurden grenzüberschreitende Verbindungen zwischen diesen Phänomenen im Kleinen und überregionalen Entwicklungen im Großen (z. B. die Entwicklung der Idee religiöser Toleranz) herausgearbeitet und aufgezeigt, wie wiederum die regionale Geschichte von diesen beeinflusst wird. 3. Schließlich haben die Schüler die daraus gewonnenen Erkenntnisse genutzt, um einen Vergleich mit Ereignissen und Herausforderungen der Gegenwart durchzuführen und zu untersuchen, inwiefern Erklärungsmuster aus und über die Vergangenheit für heutige Fragen anschlussfähig sind.22 Die Phase der Realisierung konzentrierte sich einerseits auf eine visuell ansprechende Gestaltung mit Hilfe der genannten Online-Tools und andererseits mit besonderem Gewicht auf den Entwurf aussagekräftiger Museumstexte, welche die Hierarchieebenen Bereichstext, Objektgruppentext sowie Objekttext abbilden. Vorteile von Museumstexten als Schülerprodukte sind unter anderem, dass diese im Gegensatz zu oralen Narrationen nicht flüchtig sind, einer Adressatengruppe zugänglich gemacht werden können und durch öffentliche Anerkennung einen Mehrwert erhalten können. Außerdem ermöglicht der Museumstext eine Binnendifferenzierung innerhalb der Lerngruppe: Kreative Schüler können ihr Potential voll ausschöpfen. Andererseits lässt sich ein solider Museumstext auch bei einem
21 Als erster Zugriff wurden die in Bayern zugelassenen Unterrichtslehrwerke von Westermann (Horizonte 7) sowie Klett (Geschichte und Geschehen 7) genutzt. Darüber hinaus entstanden im Zuge des „Luther-Jahres“ 2017 eine Vielzahl an Online-Angeboten, die hier nicht gänzlich wiedergegeben werden können; vgl. bspw. https://www.franken-luther.de/ (derzeit offline) bzw. https://www.frankentourismus.de/catalogs/tvf_blaetterkatalog_luther-reformation_2016/index.html#page_1 (27.03.2023). Die Themen, jeweils mit fränkischem Ausgangspunkt, umfassten Ereignisgeschichte wie die Reformation in den Bistümern, beim Adel und in den Reichsstädten, der Bauernkrieg, die Gegenreformation, den Dreißigjährigen Krieg sowie gesondert entscheidende Protagonisten. 22 Hinsichtlich der Ermittlung konkreter gegenwärtiger Beispiele wurden die Schüler angeleitet, sich von der konkreten Inhaltsebene zu lösen und Strukturen und Muster im Abstrakten auszumachen, die einen Vergleich ermöglichen.
Geschichtsbewusstsein und museale Narrativierung in einer heterogenen Schülerschaft
Mangel an Kreativität anhand formaler wie sprachlicher Kriterien zielführend gestalten, was dieses Ausdrucksmedium wiederum für Deutsch-L2-Lerner als Experimentierfeld des eigenen Sprachlernens attraktiv macht. Der geschichtsdidaktische Mehrwert, auch hinsichtlich eines interessen- und bedürfnisorientierten Lernens, liegt auf der Hand.23 Wesentliche formale Merkmale eines aussagekräftigen Textes finden sich bei Schneider.24 Der weiteren Analyse zugeführt wurden die Bereichs- sowie die Objektgruppentexte.25 Gewählt wurde ein qualitativ-rekonstruktiver Ansatz. Ein solcher nähert sich einer Frage nicht auf Basis eines bestehenden Hypothesengerüsts, sondern ergründet diese ohne Vorannahmen, um so unbekannte Muster und Strukturen ermitteln zu können. Erkenntnisse beruhen nicht auf der Messung von Häufigkeitsverteilungen, sondern auf der Herausarbeitung fallspezifischer und fallübergreifender Strukturen.26 Da die narrativen Produkte der Schüler bereits verschriftlicht vorlagen, erfolgte keine weitere Transkription. Der Auswertung lag die dokumentarische Methode zugrunde.27 Im Zusammenhang mit der heterogenen Stichprobe (Schüler mit und ohne Migrationshintergrund/-erfahrung) wurde jedoch auf die Ermittlung eines konjunktiven Erfahrungsraums28 verzichtet und die Ebene der Einzelfallspezifik stärker gewichtet. Ergänzt wurden die Befunde im Sinne einer systematischen Perspektiventriangulation29 durch eine teilnehmende Beobachtung30
23 Pandel: Dimensionen, S. 131; Rüsen: Lebendige Geschichte, S. 39–56; Knoblach: Museum, S. 200 f. 24 Schneider, Wolf: Deutsch! Das Handbuch für attraktive Texte, Hamburg 5 2013; Ders.: Deutsch für Profis. Wege zu gutem Stil, München 27 2001. 25 Die Objekttexte erläutern das einzelne Objekt (z. B. Portrait, Kupferstich etc.) eher formalisiert (Art, Entstehungsjahr, Urheber, Nennung des Dargestellten) und bilden daher weniger ein narratives Produkt im Verständnis dieser Untersuchung. 26 Vgl. Bohnsack, Ralf: Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in qualitative Methoden, Opladen/ Toronto 9 2014. 27 Bohnsack, Ralf: Dokumentarische Methode, in: Hitzler, Roland/Honer, Anne (Hg.): Sozialwissenschaftliche Hermeneutik. Eine Einführung, Wiesbaden 1997, S. 191–212. 28 Ein Tertium Comparationis, das als allen Orientierungsmustern gemeinsam festgestellt werden kann. 29 Denzin, Norman K.: The research act. A theoretical introduction to sociological methods, New York u. a. 2 1978, p. 291; Flick, Uwe: Triangulation, in: Flick, Uwe u. a. (Hg.): Handbuch qualitative Sozialforschung. Grundlagen, Konzepte, Methoden und Anwendungen, Weinheim 3 1995, S. 432–434. 30 Vgl. Kluckhohn, Florence: Die Methode der teilnehmenden Beobachtung, in: König, René (Hg.): Beobachtung und Experiment in der Sozialforschung, Köln/Berlin 5 1967, S. 97–114; Lueger, Manfred: Grundlagen qualitativer Feldforschung, Wien 2000; Lamnek, Siegfried: Qualitative Sozialforschung, Weinheim/Basel 5 2010.
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der Arbeit der Schülergruppen an ihren Einzelthemen.31 Eine kommunikative Validierung32 war nicht erforderlich. 2.2
Ergebnisse
2.2.1 Heterogene Lerngruppe – heterogene Befunde?
Der Besprechung der Ergebnisse liegen repräsentativ ausgewählte narrative Produkte33 zu den Themen „Dreißigjähriger Krieg in Franken“ und „Gesichter der Reformation“ zugrunde. Bearbeitet wurden die Themen von einer Zweiergruppe (Schüler J und M): „Der Dreißigjährige Krieg in Franken – allgemein“ und das „Beispiel Rothenburg“ und deren Bedeutung für den Gesamtkriegsverlauf sowie von einer Dreiergruppe (Schüler I, A und Y): „Andreas Osiander“, „Hans Sachs“ und „Georg Burkhardt (Spalatin)“ und deren Beitrag für die Reformation. Merkmale der Heterogenität in der vorliegenden Lerngruppe sind Migrationshintergrund (Schüler M, I und Y) und eigene Migrationserfahrung (Schüler A). An dieser Stelle expliziert werden die Erkenntnisse zur Untersuchung der Aspekte Alteritätserfahrung, inhaltliche Durchdringung und Darstellungsvermögen. 1. Alteritätserfahrung: Gemeint ist hier vorwiegend die Frage danach, wie Schüler die Erfahrung des Fremden verarbeiten und welche Muster und Strukturen des Fremdverstehens hierbei zutage treten.34 Es ist, wie sich zeigt, ein Trugschluss, anzunehmen, dass autochthone Schüler selbstverständlicher einen Zugang zu historischen Themen finden; erst recht, wenn es sich um einen regionalgeschichtlichen Zugang handelt. Selbst für jene Schüler stellt die Beschäftigung mit der eigenen regionalen Kulturgeschichte eine Form der Alteritätserfahrung dar, da es sich eben nicht um die gegenwärtige Kultur der Alltagswirklichkeit der Schüler, sondern um eine vergangene Kultur handelt. Auch der Zugang zur Regionalgeschichte kann nach John35 bei autochthonen Schülern nicht als selbstverständlich angenommen werden. Selbst wenn die Spuren des konfessionellen Zeitalters in einer Stadt gegenwärtig sind, so bedeutet dies nicht, dass autochthone Schüler diese automatisch und vor allem bewusst in ihre Identitätskonstruktion einbeziehen würden. Bei J handelt es sich zudem um einen leistungsstarken Schüler, der vielfältig interessiert
31 Dokumentiert durch Beobachtungsprotokolle während der zugrundeliegenden Unterrichtssequenz (ca. sechs Unterrichtswochen). 32 Vgl. Mayring, Philipp: Einführung in die qualitative Sozialforschung. Eine Anleitung zu qualitativem Denken, Weinheim 6 2016, S. 144–148. 33 Bereichs- und Objektgruppentexte. 34 Die Überwindung von Alteritätserfahrung ist besonders hinsichtlich eines bedürfnis- und interessenorientierten Geschichtsunterrichts von Bedeutung. Vgl. Knoblach: Museum, S. 200 f. 35 John: Lokal- und Regionalgeschichte.
Geschichtsbewusstsein und museale Narrativierung in einer heterogenen Schülerschaft
und aufgeschlossen ist. Aber dennoch ist zu erkennen, dass die Beschäftigung mit dem Dreißigjährigen Krieg in Franken auch für ihn eine Hürde darstellte und er Franken im Zuge dieser Sinnbildung neu kennenlernte. Zwischen M, I, Y und A sind keine erkennbaren Unterschiede im Umgang mit der Alteritätserfahrung festzustellen. Deren Auseinandersetzung war von einer gewissen Professionalität und Routine im Umgang mit dem kulturell Fremden geprägt. Selbst für M, I und Y, die maßgeblich in der deutschen Zielkultur sozialisiert sind, stellt die alltägliche Lebensbewältigung in vielen Phasen vor die Herausforderung einer Alteritätserfahrung, da jene durch das Elternhaus, Familie und Freunde selbstredend auch durch die Herkunftskultur geprägt sind. Gleiches gilt in besonderem Maße für A. Dadurch, dass die Alteritätserfahrung ein alltäglicher Begleiter ist, ist zu erkennen, dass die Schüler die Auseinandersetzung damit teilweise operationalisiert und Strategien für den Umgang entwickelt haben. Eine dieser deutlich erkennbaren Strategien ist Aufgeschlossenheit. Gemeint ist hiermit vor allem die Bereitschaft, Alteritätserfahrung zuzulassen. Obwohl die Mehrheit der hier behandelten Schüler muslimischen Glaubens ist, gab keiner zu erkennen, dass er Vorbehalte gegenüber der Auseinandersetzung mit christlicher Religionsgeschichte hätte. In den narrativen Schülerprodukten dokumentiert sich dieses Orientierungsmuster beispielsweise in Gestalt der häufigen Verwendung von Pronomina wie „wir“ oder „uns“, wenn der Zusammenhang zwischen Ereignissen in der Vergangenheit und heutigen (gesellschaftlichen) Verhältnissen36 im Rahmen der historischen Sinnbildung offensichtlich in die eigene Identitätskonstruktion einbezogen wurde. Besonders für muslimische Schüler bedeutete dies einen Perspektivwechsel, gegenwärtige gesellschaftliche Überzeugungen und Werte mit einem christlichen und damit kulturell fremden Narrativ zu erklären und sich zu eigenen zu machen.37 Eng mit Aufgeschlossenheit hängt die Strategie Neugier zusammen, die Auseinandersetzung mit dem – in der Mehrheit der Fälle – in zweifacher Hinsicht (kulturell) Fremden38 als Aufgabe anzunehmen. Die Schüler zeigten sich neugierig, ihren Wohnort, Nürnberg und die Region Franken auf diese Weise neu kennenlernen zu können. Besonders die Raumdimension Franken ist dabei von Interesse, da in der Alltagswirklichkeit andere Dimensionen (der Wohnort, das Land) vorherrschend sind. Dieser Befund dokumentiert
36 Beispielsweise hinsichtlich der Entwicklung der Idee (religiöser) Toleranz oder des durch die Reformation beförderten neuen Bildungsideals. 37 Anzumerken ist allerdings, dass die im Unterricht vorangegangene Sequenz „neue räumliche und geistige Horizonte“ auch den christlich-muslimischen Kulturkontakt im Spätmittelalter und daraus resultierende Errungenschaften kultureller Verständigung und Toleranz thematisiert, sodass auch der muslimische Anteil an dieser Entwicklung als Vorwissen vorhanden ist. 38 Eine doppelte Alteritätserfahrung liegt hinsichtlich der Schüler mit Migrationshintergrund/eigener Migrationserfahrung vor, da es sich um eine a) vergangene und b) aus muslimischer Perspektive fremde vergangene Kultur handelt. Vgl. Knoblach: Museum, S. 77.
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sich zunächst auf der Ebene der teilnehmenden Beobachtung, die zeigte, dass die Schüler erkannten, dass einzelne Materialien39 nicht alle Fragen im Rahmen der inhaltlichen Realisierung der Ausstellung beantworten konnten und die Schüler motivierte, Leerstellen in der Recherche eigenständig zu vertiefen und zu klären. In den der Analyse zugrundeliegenden Museumstexten spiegelte sich diese Erkenntnis darin wider, dass die Texte nachweislich nicht nur aus einer, sondern mehreren Quellen/Darstellungen erarbeitet wurden. Die Aufgeschlossenheit und Neugier der Schüler M, I, Y und A gegenüber ihren Themen kann jedoch nicht ohne Weiteres verallgemeinert werden, da dafür die hier gezogene Stichprobe deutlich zu gering ist, um diese Erkenntnis auf die Grundgesamtheit zu übertragen. 2. Inhaltliche Durchdringung: Eng mit der Frage nach der Alteritätserfahrung hängt die nach der inhaltlichen Durchdringung zusammen. Dieser zweite Aspekt adressiert besonders die im Kompetenzstrukturmodell des Fachprofils Geschichte beschriebene Sachkompetenz, mithilfe derer es Schülern gelingen soll, „zeittypische wie langfristige Strukturen zu verstehen“40 und sowohl komplexe historische als auch aktuelle Zusammenhänge zu untersuchen und zu reflektieren.41 Für den Entwurf stimmiger historischer Narrationen, die im Zentrum dieses Projekts stehen, ist diese Kompetenz unerlässlich. Maßgeblich für diesen Untersuchungsaspekt ist, ob die Schüler die geforderten Kompetenzerwartungen erfüllen.42 Sowohl die teilnehmende Beobachtung, die den Prozess der inhaltlichen Erarbeitung dokumentiert, als auch die narrativen Produkte als dessen Resultat geben Aufschluss hierüber. Es ist festzustellen, dass sich M, I, Y und A bei der inhaltlichen Durchdringung ihrer Themen schwerer taten als J. Einzuwenden ist, dass J besonders leistungsstark ist und fremde und neue Themen prinzipiell schneller erfasst. Das beobachtete Phänomen kann aber nicht nur auf den generellen Leistungsunterschied zurückgeführt werden. Auch für J bedeutete die Auseinandersetzung mit dem Thema eine Alteritätserfahrung. Schwierigkeiten bereitete ihm beispielsweise das Verständnis, dass Franken zwar durch den Dreißigjährigen Krieg stark in Mitleidenschaft gezogen wurde, dies aber weniger auf hier stattfindende Schlachten, denn auf Truppendurchzüge und -einquartierungen zurückzuführen war. Positiv auf die inhaltliche Durchdringung wirkte sich die Kooperationen zwischen J
39 Quellen (edierte Quellen, wie sie bspw. in den Lehrwerken und anderen für den Unterricht aufbereiteten Materialien vorliegen) oder Darstellungen. 40 Fachprofil Geschichte am Gymnasium in Bayern: https://www.lehrplanplus.bayern.de/fachprofil/ gymnasium/geschichte/7 (24.03.2023). 41 Ebd. 42 Einzelheiten zu den Kompetenzerwartungen, bspw. die Anwendung grundlegender Daten und Begriffe etc., definiert der Fachlehrplan Geschichte 7. Der Analyse der Schülerprodukte wurde zudem ein Erwartungshorizont angelegt, der mit jenem bei einem schriftlichen Leistungsnachweis vergleichbar ist.
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und M, I, Y, A aus. Hieran zeigte sich die Korrelation zwischen der Befriedigung psychologischer Grundbedürfnisse43 einhergehend mit der Ausbildung von Motivation und Interesse44 und daraus resultierenden fachlichen Leistungen bzw. der Erfüllung von Kompetenzerwartungen. Ein weiterer Grund, weshalb nicht nur ein genereller Leistungsunterschied zwischen den Schülern zu einer schlechteren inhaltlichen Durchdringung führte, war, dass das Thema von I, Y und A auch objektiv betrachtet das komplexere war. Der Dreißigjährige Krieg ist allgemein gut erforscht; die Schüler konnten vorhandene Narrationen nachvollziehen und in eigenen Worten darstellen. Bei den Gesichtern der Reformation bestand jedoch die besondere Herausforderung darin, die Leistung und das Wirken der jeweiligen Person herauszuarbeiten und dann auf die Reformation zu beziehen. Die Analyse der narrativen Produkte offenbarte zudem, dass ein Weniger an inhaltlicher Durchdringung oftmals mit der vermehrten Verwendung fachsprachlicher Begriffe zu kaschieren versucht wurde, während ein Schüler, der die inhaltlichen Zusammenhänge erfasste und die Kompetenzerwartungen erfüllte, den Sachverhalt in eigenen Worten angemessen verbalisieren konnte und Fachtermini weniger als Feigenblatt einsetzte, sondern kontextualisierte und erklärte. Wenngleich Erkenntnisse aus dieser kleinen Stichprobe nicht verallgemeinert werden können, kann dennoch für den Rahmen dieser Untersuchung festgehalten werden, dass ein Mehr an Alteritätserfahrung nicht zwangsläufig zu einem Weniger an inhaltlicher Durchdringung führt. 3. Darstellungsvermögen: Die Frage nach dem Darstellungsvermögen adressiert die Frage, inwiefern die Fähigkeit, Erkenntnisse in eigenen Worten zu verbalisieren, mit dem Leistungsstand in einer Sprache zusammenhängt. Vorstellbar wäre, dass Deutsch-L2-Lerner tendenziell vorgegebene Narrationen auch im Wortlaut übernehmen, um Fehler durch das eigene Sprachvermögen zu vermeiden. Zu beobachten ist jedoch teilweise das umgekehrte Phänomen: Tendenziell hielt sich der L1-Lerner J stärker an vorhandene Narrationen, während M, I, Y und A öfter versuchten, Narrationen in eigenen Worten zu entwerfen.45 Zwar bedienten sie sich auch gewisser Begriffe oder Phrasen aus dem zugrundeliegenden Material, dennoch orientierte sich J stärker an der vorhandenen Textbauweise und den Satzkonstruktionen. Eine Hypothese wäre, dass die kulturelle und vor allem auch sprachliche
43 Hier soziale Eingebundenheit in Verbindung mit Kompetenz. Vgl. Deci, Edward L./Ryan, Richard M.: Die Selbstbestimmungstheorie der Motivation und ihre Bedeutung für die Pädagogik, in: Zeitschrift für Pädagogik 39, H. 2 (1993), S. 223–238. 44 Vgl. Krapp, Andreas: Intrinsische Lernmotivation und Interesse. Forschungsansätze und konzeptionelle Überlegungen, in: Zeitschrift für Pädagogik 45, H. 3 (1999), S. 387–406; Knoblach: Museum, S. 214. 45 Ausgenommen ist hiervon, wie zuvor dargelegt, die Verwendung fachsprachlicher Begriffe, um ein Defizit an inhaltlicher Durchdringung zu kompensieren.
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Barriere, ein Thema inhaltlich zu durchdringen, dazu führt, dass, stärker als bei L1-Lernern, vorhandene Narrationen analysiert, seziert, de- und rekonstruiert und in eine neue Narration überführt werden müssen,46 um eine inhaltliche Kohärenz herstellen und das Thema gewinnbringend in die historische Sinnbildung und Konstruktion der eigenen historischen Identität einbeziehen zu können.47 Eine ähnliche Beobachtung zeigt, dass die von Museumsmachern vorgegebenen Narrationen für L2-Lerner nur bedingt anschlussfähig für die eigene historische Sinnbildung sind und es das Ziel sein müsste, jene zum Entwurf eigener Narrationen anzuregen.48 2.2.2 Im Spannungsfeld zwischen traditionaler und kritischer Sinnbildung
Vordergründig sind von den vier Typen historischen Erzählens vor allem die Formen der traditionalen, der genetischen und teilweise der exemplarischen Sinnbildung zu erkennen.49 In der Schülerarbeit zum Dreißigjährigen Krieg dokumentierte sich die traditionale Sinnbildung latent darin, dass der Krieg als Endpunkt im Prozess der Ausdifferenzierung der beiden großen christlichen Konfessionen katholisch und protestantisch gesehen wurde. Die Schüler artikulierten diese Erkenntnis nicht offenkundig, sie schien aber in den Narrationen indirekt auf. Was allerdings vermisst wurde, war die Syntheseleistung, dies konkret auf den geographischen Raum Franken zu beziehen und gegenwärtige Verhältnisse der Konfessionsverteilung vor diesem Hintergrund zu deuten sowie einen Vergleich mit anderen Regionen anzustellen. Es wurde die Konfliktlinie entlang der konfessionellen Lager zum Status quo ante gezogen, ohne zu untersuchen, ob und wie sich diese Strukturen weiterentwickelt haben. Die Schülerarbeiten zu den Gesichtern der Reformation verfolgten unisono ein Narrativ, nach dem der Erfolg der Reformation wesentlich von der von ihnen porträtierten fränkischen Persönlichkeit abhängig gewesen sei. Traditionale Sinnbildung vollzieht sich darin, dass der gegenwärtige Zustand der Existenz zweier großer christlicher Konfessionen mit dem Handeln jener einzelnen Persönlichkeit in Kausalzusammenhang gebracht wurde. Eine Schwäche liegt darin, 46 Vgl. Becker, Tabea/Stude, Juliane: Lernen durch Interaktion, Imitation und Rekonstruktion in Erzählerwerb und Erzähldidaktik, in: Schmölzer-Eibinger, Sabine u. a. (Hg.): Erzählen in der Zweitsprache Deutsch, Stuttgart 2018, S. 13–34. 47 Insofern ist, Bezug nehmend auf die vorigen Ausführungen, eine Progression hinsichtlich der inhaltlichen Durchdringung festzustellen. Leichte Defizite wurden dadurch kompensiert, dass vorhandene Narrationen verstärkt analysiert und in eigene Narrationen überführt wurden, während bei komplexen Verständnisproblemen tendenziell fachsprachliche Begrifflichkeiten diese Lücke schließen sollten. 48 Vgl. Knoblach: Museum, S. 200 ff. bzw. 227 ff. 49 Rüsen: Historisches Erzählen, S. 44–50. Ders.: Lebendige Geschichte. Grundzüge einer Historik III: Formen und Funktionen des historischen Wissens, Göttingen 1989, S. 39–56.
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dass diese Persönlichkeiten und deren Wirken solitär nebeneinander betrachtet wurden und nur oberflächlich darauf eingegangen wurde, inwiefern sich das Handeln der Persönlichkeiten gegenseitig bedingte und besonders den geographischen Raum Franken prägte. Ein Beispiel wäre das Widerspiel zwischen Andreas Osiander und Hans Sachs sowie dessen oppositäre Haltung zur Figur des gelehrten lutherischen Theologen. Eine Syntheseleistung ist zumindest im Ansatz dort ersichtlich, wo die Interdependenzen zwischen Humanismus und Buchdruck herausgearbeitet wurden. Ebenso wäre es gewinnbringend gewesen, das Wirken dieser Figuren mit jenem weiterer Personen aus anderen Territorien zu vergleichen.50 Die Form der genetischen Sinnbildung dokumentierte sich in den exemplarisch betrachteten Schülerarbeiten vor allem in jener zu den Gesichtern der Reformation. Sie stellten einen Zusammenhang zwischen der Interdependenz von Reformation und Humanismus, daraus resultierenden Impulsen für das damalige Bildungswesen und deren Auswirkungen auf das heutige Bildungssystems her. Die Schüler stellten auf einem für Siebtklässler angemessenen Niveau dar, wie die qualitativen Veränderungen in der Vergangenheit in einen heutigen Zustand münden. Kritisch anzumerken ist allenfalls, dass die Schüler hierbei ein ausschließliches FortschrittsNarrativ entwarfen und nicht darauf eingingen, dass die Entwicklung des heutigen Bildungssystems nicht linear verlief, sondern auch Brüche enthält. Die Form der exemplarischen Sinnbildung zeigte sich vorwiegend in den Schülerarbeiten zum Dreißigjährigen Krieg. Ihre Erkenntnisse zu Ursache und Verlauf des Dreißigjährigen Krieges nutzten die Schüler dafür, um mit daraus abgeleiteten Erklärungsmustern gegenwärtige Ereignisse und Konflikte, vor allem auf dem afrikanischen und asiatischen Kontinent, zu erschließen und zu deuten.51 Hierbei blieben sie jedoch an der Oberfläche und übersahen beispielsweise zu prüfen, ob das aus dem Dreißigjährigen Krieg abgeleitete Narrativ des Religionskonflikts, der zum Territorialkrieg wurde, auch auf die von den Schülern angeführten gegenwärtigen Konflikte übertragbar wäre.52 Wie verhält es sich jedoch mit der kritischen Sinnbildung? Dafür muss zwangsläufig auch geklärt werden, welche kritische Sinnbildung bei den ausgewählten Beispielen möglich wäre: Im Fall der Arbeit zum Dreißigjährigen Krieg könnte z. B.
50 Die Aufgabenstellung, Phänomene nicht isoliert zu betrachten, sondern Vergleichspunkte zu identifizieren und ähnliche oder abweichende Strukturen zu ermitteln, hätte Raum für diese Leistung gegeben. Gleichwohl ist einzuwenden, dass dies nicht ohne Weiteres von Siebtklässlern erwartet werden kann. 51 Z. B. der Konflikt Israel-Palästina als interreligiöser Konflikt oder innerreligiöse Spannungen zwischen Sunniten/Wahhabiten und Schiiten und damit einhergehende machtpolitische, territoriale und gesellschaftliche Reibungen. 52 Für den historischen Untersuchungskern des konfessionellen Zeitalters wurde für die Einzelthemen der Dreischritt: Ursachen, Motive, Folgen vorgegeben.
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hinterfragt werden, ob es legitim ist, einer Religion wegen Krieg zu führen und diese für andere Ziele zu instrumentalisieren. Es ist nicht ausgeschlossen, gegenwärtige Konflikte mit Erklärungsmustern des Dreißigjährigen Krieges zu erschließen. Es muss aber auch immer bedacht werden, dass ein zutreffendes Erklärungsmuster niemals eine Rechtfertigung darstellen kann. Vielmehr ist zu überlegen, welche Schlüsse aus der Geschichte gezogen werden können und welche Denkansätze eine bloße Synopse, die quantitativ einen Kriterienkatalog vergleicht, qualitativ ersetzen können, um aus der Beschäftigung mit Geschichte abgeleitet Handlungsoptionen für Gegenwart und Zukunft zu identifizieren. Explizit vollzogen die Schüler diesen Denkschritt nicht. Er dokumentierte sich latent darin, dass sie zu erkennen glaubten, dass eine der Auswirkungen des Dreißigjährigen Krieges religiöse Toleranz sei. Dabei fehlte jedoch die Erkenntnis, dass es sich bei jenem Konflikt des 17. Jahrhunderts um einen vorwiegend zentraleuropäischen Konflikt handelte und dessen Folgen nicht ohne Weiteres auf eine globale Dimension übertragen werden können. Die Schülerlogik sprach von größerer Toleranz gegenüber anderen Religionen, erkannte aber gleichzeitig das Entstehen von Religionskonflikten in der Moderne. Im Zuge der kritischen Sinnbildung hätten diese im Kern guten Denkansätze beispielsweise anhand der Frage, weshalb es auch heute noch ein Defizit an religiöser Toleranz gibt und wie man sich selbst verhalten kann, weiterentwickelt werden können. Hervorzuheben ist jedoch der Stellenwert dieser Schülerlogik für den Prozess der Ausdifferenzierung der eigenen historischen Identität und der Konstruktion von Wir- und Ihr-Gruppen.53 Denn, wie oben bereits im Kontext Alteritätserfahrung angedeutet, machten auch Schüler mit Migrationshintergrund bzw. eigener Migrationserfahrung diese (christliche) Kulturgeschichte teilweise zu ihrer eigenen und zeigten ein hohes Maß an Affirmation, wenn auch für einen muslimischen Schüler ein christlich geprägtes Narrativ hinsichtlich religiöser Toleranz anschlussfähig war, obwohl auch andere Narrative denkbar gewesen wären.54 Im Fall der Arbeit zu den Gesichtern der Reformation sind hinsichtlich einer kritischen Sinnbildung der Bildungsgedanke und das durch die Schüler entworfene Fortschritts-Narrativ zentral. Kritisch zu hinterfragen ist, ob Humanisten und spätere Bildungsakteure wirklich als „Helden des Bildungssystems“55 bezeichnet werden können und inwiefern Anspruch und Wirklichkeit nicht nur damals, sondern auch heute noch auseinanderklaffen. Unstrittig ist, dass der Humanismus Bildung einer größeren Zielgruppe zugänglich machen wollte. Einschränkend ist zu konzedieren, dass er keineswegs Bildung für alle im Sinn hatte. Den Schülern ist 53 Vgl. Meyer-Hamme: Historische Identitäten, S. 89. 54 Zu verweisen ist wiederum auf die unmittelbar vorangegangene Unterrichtssequenz, die auch Anhaltspunkte für das Toleranz-Phänomen durch christlich-muslimischen Kulturkontakte im Spätmittelalter lieferte. 55 Aus einer Schülerarbeit.
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anzuerkennen, dass sie diese Diskrepanz grundsätzlich erkannten. Es gelang ihnen jedoch nicht, daraus Schlüsse für die Gegenwart zu ziehen und Schieflagen im heutigen Bildungssystem, beispielsweise anhand lebensweltlicher Erfahrungen, zu identifizieren. Sämtliche Schüler dieser Gruppe verfügen über einen Migrationshintergrund bzw. eigene Migrationserfahrung mit zum Teil einem Quereinstieg in das deutsche Bildungssystem, stammen aus einem sozial und ökonomisch schwächeren Milieu und zählen daher zu einer weniger privilegierten Gruppe im gegenwärtigen Bildungswesen. Eine mögliche Syntheseleistung und kritische Sinnbildung wäre, die am historischen Gegenstand gewonnenen Erkenntnisse zum Thema Bildung und der Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit zum Anlass zu nehmen und davon ausgehend gegenwärtige Probleme am Beispiel eigener Erfahrungen und der eigenen Bildungsbiografie zu identifizieren.
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Zwischen Genisa und Genozid Geschichtsdidaktisches Potential landjüdischer Spuren in Franken Um das Wort Genisa ranken sich fabelhafte Funde, Legenden und die Ehrfurcht vor dem geschriebenen Wort Gottes. Pragmatisch handelt es sich um ein verstecktes „Depot“ zur Aufbewahrung unbrauchbar gewordener ritueller und damit unzerstörbarer Schriften, das oft zwischen Dachsparren oder in Abmauerungen alter jüdischer Häuser zu finden war. Was in diesem Zufallsarchiv der Genisa verborgen war, bleibt lesbar und erinnerbar. Zwischen Zufallsfunden und Zernichtung1 steht die (land-)jüdische Forschung und dieser Artikel versucht das geschichtsdidaktische Potential der Medinat OSchPaH, also des ehemaligen Rabbinatverbunds (Medinat) der jüdischen Gemeinden Ottensoos, Schnaittach, Forth und Hüttenbach im heutigen Mittelfranken, für den Unterricht zu reflektieren und Beispiele für handlungsorientierte Erinnerungskultur mit Schülerinnen und Schülern zu zeigen. Die Ziele sind nicht gering. Es gilt, Antisemitismus vorzubeugen und zu bekämpfen. Es gilt, die Rolle der Jüdinnen und Juden im Geschichtsunterricht jenseits der Opferrolle zu etablieren und zu finden. Es gilt, die Lokalgeschichte dahingehend abzuklopfen, ob beides im Nahraum möglich ist. Und es gilt vorrangig der Jubilarin, Frau Professor Dr. Charlotte Bühl-Gramer, Dank abzustatten, dass ich in den zurückliegenden Semestern als abgeordnete Lehrkraft vielfältige Studierendengruppen als Gesprächspartner und Mitgestalter unterrichten konnte, die jüdische Geschichte im Unterricht neu aufsetzen wollen. Erstes Movens im Unterricht über jüdisches Leben muss Adornos berühmte Forderung bleiben, dass Auschwitz nicht noch einmal sei2 . Wir lehren Geschichte unter Anerkennung der „Dimension körperlicher Integrität, personaler Identität und
1 Georg Büchner hat im berühmten Brief vom grässlichen Fatalismus der Geschichte die zerstörerische Vernichtung neologistisch als Zernichtung zusammengefasst, vgl. Georg Büchner an die Braut, Gießen im März 1834, in: Büchner, Georg: Gesammelte Werke, hg. Knapp, Gerhard P., München 1993, S. 254. 2 Vgl. Alavi, Bettina: Herausforderungen an eine ‘Erziehung nach Auschwitz‘ in der multikulturellen Gesellschaft, in: Handbuch Nationalsozialismus und Holocaust. Historisch-politisches Lernen in Schule, außerschulischer Bildung und Lehrerbildung, hg. Rathenow, Hanns-Fred/Weber, Norbert H./ Wenzel, Birgit, Schwalbach 2013, S. 79–94.
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soziokultureller Zugehörigkeit“3 , und diese Anerkennung der Würde korrespondiert mit dem zugleich gedachten Demütigungsverbot. Zur derartigen Werteerziehung gehört auch das Nachdenken über die Dauerviktimisierung von Jüdinnen und Juden im Geschichtsunterricht, denn in der Vermittlung von deren Geschichte werden fortwährend Demütigung, Beleidigung, Ehrverletzungen, Verwundungen und Massenmorde erzählt. Um die Opferrolle der Juden und Jüdinnen zu brechen, müssen Positivbeispiele in den Unterricht aufgenommen werden, so dass Jüdinnen und Juden als Handelnde und nicht als Behandelte verstanden werden können. „Guter“ Geschichtsunterricht, so hofft man v. a. in der Politik, immunisiere hinsichtlich weiterer Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Diese Hoffnung widerlegen allerdings alarmierend ansteigende Zahlen von antisemitischen Straftaten und wachsende antidemokratische Tendenzen in unserer Gesellschaft4 . Bei der Behandlung jüdischer Themen im Geschichtsunterricht von der Antike bis zur PostShoa-Zeit wirken leider nicht nur die Mittel der Aufklärung und nachvollziehbarer Beweise, sondern auch judeophobe Phantasiekonstrukte5 , die vor allem im Medienverhalten von Jugendlichen ungefiltert ankommen und unhinterfragt inkorporiert werden. Faktenresistente und gewaltinduzierte Weltdeutungssysteme müssen im Gespräch mit der Schülerschaft angesprochen und mit unterschiedlichen didaktischen Methoden aufgehebelt werden. Deshalb wird hier neben Quellenkritik auch szenisches Spiel oder Hörspielerstellung als Mittel der Auseinandersetzung mit dem Judentum gewählt, die emotionale Zugänge zu den Biografien ermöglichen. Die Frage nach der Möglichkeit, Antisemitismus pädagogisch zu begegnen und sein Auftreten bei Jugendlichen weniger wahrscheinlich zu machen oder gar zum Verschwinden zu bringen, braucht eine Vielzahl von Methoden und letztlich die fakten- und erfahrungsreiche Begegnung mit „Jüdischem“, sei es in Schriftstücken, Museumsexponaten, Friedhöfen oder im Gespräch zwischen Juden und Nichtjuden heute. Der geographische Rahmen für die skizzierten Projekte ist die Medinat OSchPah, also bewusst das Landjudentum im Schatten der alte Reichsstadt Nürnberg und des fränkischen „Jerusalems“ Fürth. Es geht neben den historischen Fakten um die 3 Brumlik, Micha: Pädagogische Reaktionen auf Antisemitismus, in: Braun, Stephan/Geisler, Alexander/ Gerster, Martin (Hg.): Strategien der extremen Rechten. Hintergründe – Analysen – Antworten, Wiesbaden 2009, S. 579. 4 Der 2018 gegründete Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus e.V. (RIAS) erfasst mit Hilfe des Meldeportals www.report-antisemitism.de bundesweit antisemitische Vorfälle und verzeichnete 2021 bundesweit insgesamt 2.738 (zu 1.957 im Jahr 2020) antisemitische Vorfälle. Die Coronapandemie sowie die Eskalation des arabisch-israelischen Konflikts im Mai 2021 hat eine deutliche Erhöhung der Beleidigungen, Sachbeschädigungen und tätlichen Angriffe auf Jüdinnen und Juden in Deutschland bewirkt. 5 Schwarz-Friesel, Monika: Antisemitismus 2.0 und die Netzkultur des Hasses. Judenfeindschaft als kulturelle Konstante und kollektiver Gefühlswert im digitalen Zeitalter, Berlin 2018, S. 13.
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Frage, ob lokalgeschichtliche Archiv- und Projektarbeit der Dauerviktimisierung von Jüdinnen und Juden dem (Schulbuch-)Geschichtsverständnis entgegentreten kann, um Antisemitismusprävention und Werteerziehung zu leisten. Wo kann Geschichtsunterricht erinnerungskulturelle Beiträge leisten und die dörfliche Identifikation der agierenden Schülerinnen und Schüler stärken? Sechs geschichtskulturelle Vermittlungsangebote zwischen Sprachforschung, Grabsteinen, Quellen-, Archiv-, Hörspiel- und Theaterprojektarbeit innerhalb der Medinat OSchPaH6 werden im Kontext vorgestellt.
1.
Judeophobe Sprachbehandlung
Die Ansiedlung und Etablierung der vier landjüdischen, mittelfränkischen Gemeinden ging mit deren Anteil zur Wirtschaftsentwicklung, zur jüdischen Theologie und zum symbiotischen Nachbarschaftsleben einher, was sich v. a. an Lehnwörtern und Redewendungen aus dem Jiddisch-Hebräischen belegen lässt. Die Schülerinnen und Schüler sollen dabei zum Beispiel Begriffe wie Chuzpe, koscher, Macke, masl tov, meschugge, Tacheles reden oder Zores für Angst kennenlernen. Judenfeindschaft zeigte sich über die Jahrhunderte nicht nur in sozialer Diskriminierung und physischer Gewalt, sondern auch in beleidigenden und realitätsverzerrenden Sprachhandlungen gegenüber Jüdinnen und Juden. Sprache tradierte „negative Stereotype und aktivierte absichtsvoll eine Konzeptualisierung von Fremdheit und Abgrenzung gegenüber Juden“7 . Es gilt also bei der sprachgestalteten Einführung judeophobe Vorstellungen und Subtexte zu dekonstruieren, indem pejorative Lehnwörter aus dem Handelsleben, die antisemitische Vorurteile zementierten, wie etwa ausbaldowern, abzocken, Ganove, mauscheln, Reibach, schachern, schummeln oder Kaff, kritisch beurteilt werden. Sprache lässt sich
6 Darstellungen zu den vier Dörfern: Weinberg, Magnus: Geschichte der Juden in der Oberpfalz, Bd. 3: Der Bezirk Rothenberg (Schnaittach, Ottensoos, Hüttenbach, Forth), Sulzbürg 1909; Schieber, Martin: Ottensoos. Ein Streifzug durch elf Jahrhunderte Geschichte, Nürnberg 2003, S. 78–103; Switalski, Martina: Shalom Forth. Jüdisches Dorfleben in Franken, Münster/New York 2012; Burkhard, Hugo: Tanz mal Jude! Von Dachau bis Shanghai. Meine Erlebnisse in den Konzentrationslagern Dachau, Buchenwald, Getto Shanghai, 1933–1948. Nürnberg 1966; Kroder-Gumann, Birgit: „Häuser der Ewigkeit“ – die jüdischen Friedhöfe in Schnaittach, in: Die Fundgrube 1998, S. 6–13; Dies.: Pesach in Neuyork? Die Korrespondenz der mittelfränkischen Familien Guttag, Ullmann und Uhlfelder in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Kalonymos. Beiträge zur deutsch-jüdischen Geschichte aus dem Salomon-Ludwig- Steinheim Institut an der Universität Duisburg-Essen 22, H. 1 (2019), S. 1 f.; Kraus, Wolfgang/Hamm, Berndt/Schwarz, Meier (Hg.): Mehr als Steine. Synagogen-Gedenkband Bayern, Bd. 2: Mittelfranken, Lindenberg 2010. 7 Vgl. Schwarz-Friesel, Monika/Reinharz, Jehuda: Die Sprache der Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert, Berlin/Boston 2013, S. 1.
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als Seismograf langjähriger Verbundenheit christlicher und jüdischer Nachbarn herausarbeiten, zementiert aber auch Hass.
2.
Geschichtsdidaktisches Potential des Landjudentums
Die Genisa ist ein Relikt für heilige Schriften und die ehemals blühenden jüdischen Landgemeinden eine Reliktzone der Lokalgeschichte. Die Lokalgeschichte ist seit dem „spacial turn“, der topologischen Wende Ende der 1980er Jahre, in den Kultur- und Sozialwissenschaften neben der Kategorie Zeit als kulturelle Größe in den Fokus der Geschichtsforschung gerückt, nachdem eine scharfe Abgrenzung zur nationalsozialistisch konnotierten „Heimatgeschichte“ erkämpft worden war8 . (Über-)regionale Ortsgeschichte ist als sozial- und mentalitätsgeschichtlicher Ansatz der „Geschichte von unten“ seit den 80er Jahren unverzichtbarer Teilbereich der wissenschaftlichen Geschichtsforschung und bietet weitläufige Identifikationsmöglichkeiten an. Auch wenn für viele Jugendliche Mobilität, ortsungebundene Interaktionszusammenhänge in Arbeitswelten und beschleunigter Wandel ihrer Soziokulturen zur Signatur ihrer Lebenswelt gehört, kann lokale Verortung Hilfestellung und Bezugspunkte für die Entwicklung jenseits des bloßen Kontrapunkts der Globalisierung zur schnöden Provinz oder Dorfgegend schaffen9 . Auch das „Kaff “ hat und schafft also geschichtskulturelles Kapital. 2.1
Jüdische Grabsteine als Quelle
Gerade die drei jüdischen Friedhöfe in Schnaittach sprechen hörbar vom Leben der Juden in der Medinat OSchPaH. Die Schnaittacher Gemeinde beruht urkundlich ersterwähnt 1478 auf der Synagoge, die vor 1550 gebaut und 1570, 1858 sowie 1932 erweitert und renoviert wurde, sodann auf dem Gemeindehaus mit Schulräumen samt Wohnung für den Rabbiner und Vorbeter und einer Wohnung für den Schulklopfer, also Ausrufer10 . Mit der Mikwe und drei bis heute existenten Friedhöfen von 1537, 1834 und 1897 gibt es ungewöhnlich viele steinerne, jüdische Zeugen im 8 John, Anke: Lokal- und Regionalgeschichte, Frankfurt a. M. 2018, S. 84 ff.; Beilner, Helmut: Heimatgeschichte als Regional- und Lokalgeschichte, in: Schreiber, Waltraud (Hg.): Erste Begegnungen mit Geschichte. Grundlagen historischen Lernens, Bd. 2, 1. Teil, Neuried 2004, S. 859–884. 9 Vgl. John: Lokal- und Regionalgeschichte, S. 74. 10 Die Attraktivität dieses Marktflecks im Schatten des bayerischen Rothenbergs der Ganerben lag für die aus den spätmittelalterlichen Städten vertriebenen Jüdinnen und Juden auch im geistig-religiösen Zentrum, wenn etwa der protestantische Pfarrer und Reformator der Nürnberger Lorenzkirche Andreas Osiander (1498–1552) den jüdischen Schulmeister Wölfflein aus Schnaittach in die Reichsstadt einlud, um bei ihm Aramäisch zu lernen. Osiander wurde über die Sprache auch in jüdische Mystik eingeführt und suchte echten Kontakt zum Judentum. Anders als Luther lehnte er jede Form des
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Markt Schnaittach11 . Die drei Friedhofsareale wurden nach der Pogromnacht 1938 von den Nationalsozialisten geschändet und die Grabsteine für Straßen- und Mauerbau oder Garten- und Beeteinfassungen genutzt. Auch für das Heimatmuseum, das sich unter der Initiative von Häfnermeister Gottfried Stammler bald nach dem Novemberpogrom in der nun „ehemaligen“, weil von den Gläubigen „bereinigten“, Synagoge einquartierte, wurden jüdische Grabsteine geraubt und als Treppenstufen von der Synagoge zum Vorsängerhaus verwendet. Seit 2000 finden immer wieder spektakuläre Bergungsaktionen dieser geschändeten Steine aus der Schnaittach, aus deren Uferbereich und aus öffentlichem und privatem Bereich statt.12 Auf jüdischen Friedhöfen werden Gräber nicht aufgelassen, da die Seelen auf die Auferstehung warten und an die Ewigkeit mahnen. In der „Andacht zum Unbedeutenden“ (Gebrüder Grimm) erkennt das ruhende Auge auf den Grabsteininschriften leicht die rituellen Symboliken des Davidsterns, des Leuchters und der segnenden Hände eines Kohen, eines Tempelpriesters. Die Kannen verweisen auf die Leviten, die dem Kohen bei der rituellen Waschung zur Hand gehen. Tierdarstellungen wie der Löwe (Ari) verweisen auf die Zugehörigkeit zum Stamm Juda und die nachgeborenen Familien dieses Stammes nannten sich Löw, Loeb oder Löv. Anders als bei den Christen verbietet das Judentum Verbrennungen. Die drei jüdischen Friedhöfe in Schnaittach sind das pochende Herz aller Forschungen zur Medina OSchPaH. Dort beginnt jede Anfrage der Nachgeborenen, dort endet jeder Besuch von Holocaustüberlebenden. Oft waren die Gräber der einzige Grund, sich nach der Shoa überhaupt noch einmal ins Land der Täter und Täterinnen zu begeben. Jede Forschung über die landjüdische Rabbinatgemeinschaft beginnt bei den Toten. Wie kann dieses Wissen nun für Schüler und Schülerinnen aufgearbeitet werden? Zwei Hauptseminare entschieden sich während Corona-Pandemie für die Gestaltung multimedialer Erlebnistouren mit der Rallye-App Actionbound. Dieses Tool eignet sich als animierende Plattform zum Mitspielen aller Klassenmitglieder und zur multimedialen Gestaltung, wenn die Sachanalyse stattgefunden hat. Der Actionbound „Jüdische Friedhöfe“13 zeichnet das Hodonym „Judenweg“ zwischen Forth und Schnaittach nach. Der Wegename wurde von Nichtjuden vergeben, um
Antijudaismus ab und widerlegte 1540 die Ritualmordbeschuldigungen, vgl. Weinberg: Rothenberg, S. 4. 11 Vgl. Schwierz, Israel: Steinerne Zeugnisse jüdischen Lebens in Bayern. Eine Dokumentation, München 2 1992, S. 188. 12 Hüttenmeister, Nathanja: „Siehe, der Stein schreit aus der Mauer…“ – auch aus Schnaittachs Mauern, in: Kalonymos. Beiträge zur deutsch-jüdischen Geschichte aus dem Salomon Ludwig SteinheimInstitut an der Universität Duisburg-Essen 22, H. 4 (2019), S. 6. 13 Actionbound: https://actionbound.com/bound/duplicate-1409-13922 (12.03.2023).
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Der 1938 geschändete Schnaittacher Friedhof, 2021. Foto: Martina Switalski.
der diskriminierten Minderheit nur versteckten Zugang zu den jüdischen Begräbnisplätzen zu gewähren. Jüdinnen und Juden mussten auf dem Weg zum „Guten Ort“, dem Friedhof, das katholische Kirchdorf Kirchröttenbach meiden und sollten unbemerkt von der christlichen Majorität ihre Toten bestatten. Der Judenweg schlägt sich aufgrund dieser Ausschlussklausel unmerklich durch die Flur. Im Bound stellen die Studierenden einzelne Gräber aus Schnaittach und Forth vor und erzählen rituelle Grundlagen des jüdischen Totenrituals. Ein zweiter Bound14 „Jüdische Geschichte in Forth“ bietet einen 90-minütigen Rundgang durch die Geschichte der Juden in Forth und vermittelt Biographie- und Strukturgeschichte mit Videointerviews, Musik, Suchspielen, etymologischen Ausführungen und Quizformen. Beide Bounds sind in den Schulen angekommen und werden auch von interessierten (Rad)-Wanderern genutzt. 2.2
Landjüdische Biografie als szenisches Spiel: Emma Ullmann in „Pogrom 80“
Emma Ullmanns Geschichte bietet mit Grabsteinen, einem verbliebenen Haus in der Nürnberger Straße 32, Exponaten im Jüdischen Museum Franken und
14 Actionbound: https://actionbound.com/bound/juedischegeschichteforth9958-24994 (12.03.2023).
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Grab von Emma Ullmanns Vater Isaak (1857–1922): „Hier ist verborgen der besonnene Mann, Herr Isaak, der Sohn unseres Lehrers, des Rabbi, des Herrn Jakob Ullmann. Du hast Ehrfurcht erwiesen deinem Schöpfer alle Tage deiner Arbeit, Wohltätigkeit hast du getan mit deinem Geld und deinem Körper. Dich gelüstete es, zu beten zur Ehre/ Herrlichkeit deines Schöpfers. Deine Gemeinde hält dich in Ehren wegen der Größe deiner Sanftmut. Er starb am 2. Tag, den 27. Adar und wurde begraben am 4. Tag, den 29. Adar nach der kleinen Zeitrechnung. Es sei seine Seele eingebunden im Bündel des Lebens“, 2021. Foto: Helmut Meyer zur Capellen.
Narrationen in unterschiedlichen Medien (Radio, App und Theater) vielfache Möglichkeiten der geschichtlichen Vermittlung für die Öffentlichkeit, aber auch speziell für einen Geschichtsunterricht, der sich auf Biographieforschung und Alltagsgeschichte einlässt. Ganz aktuell läuft seit dem Beschluss des Verkehrsausschusses der Stadt Nürnberg vom 27.10.2022 das Verfahren im neu entstehenden Quartier NürnbergLichtenreuth in direkter Nähe zum ehemaligen Reichsparteitagsgelände eine Emma-Ullmann-Straße zu benennen. Wer war Emma Ullmann? Wie wurde ihrer und ihrer untergegangenen Welt in Schul- bzw. Lokalgeschichtsprojekten wie beim szenischen Spiel „Pogrom 80“ oder bei Hörpfaden für den Bayerischen Rundfunk aus Schulklassen in Schnaittach, Ottensoos und Forth gedacht? Ihre Mutter Pauline Guttag hatte nach einem Auswanderungsversuch nach Amerika 1876 das elterliche Schnittwaren- und Galanteriewarengeschäft übernommen und Isaak Ullmann, Sohn des aus Schnaittach stammenden Religionslehrers Koppel Ullmann in Ichenhausen, geheiratet. Von ihren sechs Kindern überlebte nur die Älteste, Emma (1884–1938). Emma trat in die Fußstapfen ihrer Eltern und übernahm den Laden in der Nürnberger Straße 32, in dem religiöse Devotionalien, „katholische und evangelische Gesang-, Gebets- und Andachtsbücher, Rosenkränze,
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Heiligenbildchen, Kommunionkerzen u. ä.“15 an die christliche Kundschaft verkauft wurden und Schabbat-Lampenöl, Gebetsriemen und religiöse Schriften an die jüdischen Einwohner der Umgebung. Ihr Vater war ein eifriger Sammler von alten Schriften, Bildern und hatte die älteste Buchbinderei in Schnaittach. Emma arbeitete, inzwischen 41 Jahre, nach dem Tod der Eltern 1922 und 1925 als alleinstehende Händlerin mit ihrem christlichen Dienstmädchen zusammen, bis Männer der SA immer wieder nachts die Fenster einschlugen. Sie wurde krank vor Angst und meldete bei der Industrie- und Handwerkskammer in Nürnberg einen Warenausverkauf an. Dieser wurde durch Brandlegung im Dachstuhl ihres Hauses in der Nacht vom 1. zum 2. Mai 1933 nichtig gemacht. Emma war als erfolgreiche Geschäftsfrau im Visier der SA, die sie der Spionage mit den USA verdächtigte. Tatsächlich wollte sie auswandern, weigerte sich aber, das Haus an die NSDAP abzugeben. In der Pogromnacht wurde Emma Ullman gewaltsam nach Nürnberg gebracht und verstarb im Polizeipräsidium durch „Erhängen“. Die Unterlagen sprachen von einem Suizid, aber ihre Nachbarn zweifelten aufgrund ihrer Aufrichtigkeit und Glaubenstreue daran. Emmas Schicksal als Opfer des NS-Terrors wurde in der Wandeltheateraufführung „Pogrom 80“16 dramatisiert und exakt hinter ihrem ehemaligen Haus im Kolbmannshof in der Nacht des 9. November 2018 anlässlich der 80. Wiederkehr der Pogromnacht in der Medinat OSchPaH17 von Schülerinnen und Schülern des Gymnasiums Eckental sowie dem Laientheater „Edelweiß e.V.“, dem Emma Ullmann vor 1938 angehört hatte, aufgeführt. Das Skript beruht auf authentischen Zeitzeugeninterviews mit Schnaittacherinnen von 200218 . Diese Frauen offenbaren lokale Erinnerungen an die Familie Ullmann während der NS-Zeit, aber auch den latenten Antisemitismus der Nachkriegszeit, wenn an Emma und ihre Eltern als „ganz stolze und geizige Familie“ erinnert wird und reziprok zu den Anfeindungen, Boykotten und Missachtungen die Ausweglosigkeit der alleinstehenden Emma Ullmann bis zu ihrem grausamen Tod in Gestapohaft am 12.11.1938 ohne Handlungsoption konstatiert wird. Historisch-szenisches Spiel ist trotz schauspielerischer Improvisation an Quellentexte und innere Wahrheit gebunden, die in diesem Fall durch die authentischen Interviewtexte vorlagen. Sicherlich ist „Reenactment“ eine umstrittene Methode,19
15 Kroder-Gumann, Birgit: Ein Leben in Schnaittach. Die Jüdin Emma Ullmann, in: Bennewitz, Nadja/ Franger Gaby (Hg.): Geschichte der Frauen in Mittelfranken. Alltag, Personen und Orte, Cadolzburg 2003, S. 296–304, hier S. 297. 16 Schnaittach: https://www.youtube.com/watch?v=V_0V3fyVMYg (12.03.2023). 17 Forth: https://www.youtube.com/watch?v=OX0YgCztgfI (12.03.2023). 18 Birgit Kroder-Gumann führte die Interviews 2002, vgl. Kroder-Gumann: Ein Leben. 19 Als Reenactment werden hier Geschichtstheater-Spiele verstanden, die mit einem gewissen Authentizitätsstandard historische Großereignisse nachstellen. Diese Living History ist v. a. in Nordamerika
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da Rollenspiele als Gegensatz zu ernsthaft-objektiven und quellenbasiertem Lernen verstanden werden, aber es erlaubt im Verlustzeitalter sinnlich-unmittelbarer Erfahrungen bei gleichzeitiger Informationsflut gestaltbare Handlungsspielräume und damit den Ausbau des Geschichtsbewusstseins bei den Reenactern und Zuschauern. Es ist auch eine Möglichkeit Empathie mit den Protagonisten, in diesem Fall Emma Ullmann, aufzubauen und Fremdverstehen zu üben. Dem szenischen Spiel verwandt, aber auf auditive Erfahrungen und eigene Narration zur jüdischen Geschichte der Orte Schnaittach und Forth beruhend, sind zwei Hörpfade, die von der Mittelschule Schnaittach20 und dem Gymnasium Eckental21 für den Bayerischen Rundfunk unter dem Stichwort „Klingende Landkarte“ produziert worden sind. 2.3
Sachquellen im Jüdischen Museum Franken: Aus Emma Ullmanns Nähkästchen
Neben der Sprache, den Grabsteinen und den Zeitzeugeninterviews eignen sich auch landjüdische Sachquellen zur Erforschung des Alltagslebens im 19. Jahrhundert. Das Jüdische Museum Franken in Schnaittach hat „die wohl größte JudaicaSammlung, deren Objekte aus einer Gemeinde stammen, erhalten“22 können. Eine große Gönnerin des 1932 gegründeten Heimatmuseums war wiederum Emma Ullmann (1884–1938), die u. a. vier Schabbat-Lampen aus dem 18. Jahrhundert, eine Reproduktion von Stanislaus Benders „Flucht“ von ca. 1925, einen Kupferstich von Josef Busch zu Ahasverus und Esther und eine Lithographie zu Psalmen „Misrach“ von 1857, einen Chanukkaleuchter, eine Pessach-Glückwunschkarte oder Spendenbüchse für die Armen aus dem Gutmann-Ullmann’schen Laden, Torawickelband, zwei Tefillin-Beutel, ihr Nähkästchen und Visitenkarten, Geschäftsbücher und Nachweise ihrer Vereinstätigkeit in „Fidelitas“ und dem Theaterverein Edelweiß e.V. spendete. An diesen personalisierbaren Gegenständen lassen sich jüdischer Schabbat mit Riten und Speisen erklären, schimmert Emmas gutbürgerlicher und womöglich vom Vater initiierter Kunstgeschmack im religiösen Rahmen für Schlachten des Bürgerkriegs (Schlacht von Gettysburg) bekannt geworden. Die Präzision des Replikats changiert zwischen reinem Kostümspiel bis hin zu quellenbasiertem Geschichtsspiel, vgl. Hochbruck, Wolfgang: Geschichtstheater Formen der Living History. Eine Typologie, Bielefeld 2013, S. 92–112. 20 Drei Hörpfade der Mittelschule Schnaittach: https://www.klingende-landkarte.de/schnaittach/ juedische-friedhoefe-schnaittach-friedehof-1/ (12.03.2023). 21 Drei Hörpfade des Gymnasiums Eckental über den Besuch des Auschwitzüberlebenden Albert Kimmelstiel: https://www.klingende-landkarte.de/eckental/forth-und-seine-juedische-geschichte-1/ (12.03.2023). 22 Bernhard Purin: Judaica aus der Medina Aschpah. Die Sammlung des Jüdischen Museums Franken in Schnaittach, Fürth 2003, S. 7.
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auf und kann ihre Geselligkeit in den dörflichen Vereinen abgelesen werden. Gerade der letzte Aspekt ist elementar, um im Unterricht auf die Wirkweisen des modernen Antisemitismus im 19. Jahrhundert hinzuweisen. Mit dem Judenedikt von 1813 wurde Jüdinnen und Juden erstmals das Bürgerrecht verliehen, aber auch eine Beschränkung der Einwanderungs- und Niederlassungsfreiheit im Königreich Bayern ausgerufen, so dass an jedem Ort nur noch eine kontingentierte Anzahl von Jüdinnen und Juden wohnen durfte. Gleichzeitig versuchten die „liberalen“ Bestrebungen, die wirtschaftliche Entfaltung dieser angeblich von „Nothandel“, „Wucher“ und „Schacher“ sich ernährenden und in traditionalistischer Isolation lebenden Juden zu verhindern. Die Aufnahme eines Handwerks oder der Erwerb von Ackerland war zwar rechtlich möglich, de facto aber kaum realisierbar. Juden blieben weiterhin in den traditionellen Handels- und Geldberufen, wenngleich mit der Öffnung der Universitäten eine ungewöhnliche Blütezeit im Austausch deutsch-jüdischer Kultur stattfand. Im Bodensatz dieser scheinbaren Assimilierung und Aufnahme jüdischer Bürgerinnen und Bürger in die Majoritätsgesellschaft entzündete sich der moderne Antisemitismus oft am sozialen Aufstieg von Juden und schrieb ihnen die mit Kapitalisierung, Urbanisierung, Industrialisierung oder Pauperisierung begrifflich umrissenen nachteiligen Folgen kapitalistischer Entwicklung zu. Antisemiten des Kaiserreichs überschätzten genau wie heutige Einfluss, Macht und Anzahl von Juden systematisch und hefteten ihnen in hartnäckigen Vorurteilen ein Übermaß an Reichtum, intellektueller Zersetzungskraft und internem Zusammenhalt an. Dieser Häme war auch Emma Ullmann vor, während und selbst nach der NS-Herrschaft ausgesetzt. Ihre authentische, da unmittelbar überlieferte Materialisierung in Form des Nähkästchens oder der Postkarten zeugen aber von vergangenem, menschlichem Handeln ohne Exklusion als Jüdin, denn sie galt als angesehene Mitbürgerin. 2.4
Archivarbeit zum Landjudentum: Schüler transkribieren mit KI
Wichtigste Orte zur Erforschung landjüdischer Spuren sind Kommunalarchive, hier speziell das Archiv der Marktgemeinde Schnaittach, Archiv des Marktes Eckental, des Jüdischen Museums Fürth, des Staatsarchivs Nürnberg und der Stadtarchive Nürnberg und Erlangen. Die Archive sind Gedächtnisträger für ihre umgebenden Kommunen und beherbergen das textliche Rohmaterial der Geschichtswissenschaft, die Quellen23 . Dieser außerschulische Lernort bietet direkte Begegnung mit
23 Brenner-Wilczek, Sabine/Cepl-Kaufmann, Gertrude/Plassmann, Max: Einführung in die moderne Archivarbeit, Darmstadt 2006; Lange, Thomas (Hg.): Geschichte – selbst erforschen. Schülerarbeit im Archiv, Weinheim/Basel 1993; Kleine Archivalienkunde: https: www.gda.bayern.de/ archivalienkunde/ (18.03.2023).
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Originalquellen24 und damit die Erfahrung der Alterität in Papierqualität und v. a. im Schriftbild. Während die Förderung des Konnexdenkens, freie Quellenkritik ohne Schulbuchleitfrage, Historizitätsbewusstsein und Einfühlung in vergangene Welten in der Aktenanalyse von Geschichtsdidaktikerinnen und -didaktikern lobend hervorgehoben wird,25 wird die Lesbarkeit der Akten für Schülerinnen und Schüler oft zur Hemmschwelle. Eine sehr gute Hilfe zur Transkription bietet die KIgestützte Plattform für Texterkennung der Universität Innsbruck „transkribus“26 .
3.
„People Love Dead Jews“ (Dara Horn)
Oberflächlich gesehen gilt dieses Urteil Dara Horns trotz unterschiedlich skizzierter didaktischer Herangehensweisen auch für den „Umgang“ mit Emma Ullmann, aber andererseits bietet jede im Unterricht behandelte jüdische Biographie die Möglichkeit, sinnvolle Strategien gegen Antisemitismus auf einem methodischen Dreieck basieren zu lassen, das vom Abbau von Informationsdefiziten, über die Konfrontation mit eigenen Vorurteilsstrukturen bis hin zur Förderung von Empathie mit den Opfern von antisemitischer Diskriminierung geprägt ist. Der Einbezug jüdischer Biografien in den Unterricht ist wichtig, um jüdische Mitbürger zu Agierenden, nicht zu Opfern der Geschichte zu machen, und es gilt auch den großen Abstand im Lehrplan zu füllen, wenn es um jüdische Teilhabe an der deutschen Geschichte geht. Böswillig formuliert, lernen die Kinder im Unterricht zum mittelalterlichen Stadtleben, dass die Juden Hostienschänder, Brunnenvergifter und Ritualmörder geheißen wurden, dann erfahren sie über die fünf folgenden Jahrhunderte nichts von Juden und Jüdinnen; erst deren Vernichtung in der Shoa wird wieder im
24 Ergiebig sind Recherchen zu jüdischen Einwohnern im Meldewesen etwa im Stadtarchiv Nürnberg (Einwohneramt – Meldekarteien jüdischer Einwohner bis 1945 unter der Signatur C 21/X), weil damit oft Passbilder und lokale Straßennamen verbindbar sind. Jüdische Biographien/Opferberichte sind im Bestand F14 (Dokumente zum jüdischen Leben in Nürnberg und Franken) des Stadtarchivs Nürnberg zu finden. Exemplarisch sei hier der Lagerbericht des Forthers Albert Kimmelstiel vom 11. November 1945 benannt. Digitalisierte Ego-Dokumente zu Juden und Jüdinnen der Medinat OSchPah finden sich auch auf: https://www.lbi.org/ bzw. Fotos und die zentrale Datenbank der ermordeten Jüdinnen und Juden auf https://www.yadvashem.org/de/collections.html. 25 Kessel, Jürgen: Geschichte im Archiv, in: Günther-Arndt, Hilke (Hg.): Geschichtsmethodik. Handbuch für die Sekundarstufe I und II, Berlin 2007, S. 128–133. 26 Die genossenschaftlich organisierte Plattform vergibt kostenlose Credits an Studierende und Lehrkräfte, um wissenschaftlichen Nachwuchs zu fördern. Transkribus-Stipendien werden projektbezogen und sehr unkompliziert vergeben: https://readcoop.eu/de/transkribus/scholarship/ (12.03.2023). Die Übersetzung mit vorhandenen Handschrift-Modellen ist sicherlich nicht fehlerfrei, hilft aber enorm die jeweilige Handschrift zu entziffern und sich an deren Eigenheiten zu gewöhnen.
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Unterricht behandelt. Es sollte im Geschichtsunterricht in allen historischen Epochen die Diversität jüdischen Lebens herausgefiltert werden, um zu zeigen, dass die jüdischen Opfer keine homogene Masse waren. Auch unter den verzweifelten Lebensbedingungen der Verfolgung im „Dritten Reich“ waren sie fähig, ihr Privatleben sowie kulturelle und religiöse Praktiken aufrechtzuerhalten, um damit ihre Identität gegen die Fremdbestimmung durch die Täter zu verteidigen. Die Versuche der Verfolgten, menschliche Würde und Selbstachtung auch unter den Bedingungen alltäglicher Verfolgung zu bewahren, machten aus den „verfolgten Juden noch keine solidarische Gemeinschaft und aus den Ghettos keine Inseln der Humanität. Sie wirkten aber dem Abgleiten in eine reine Wolfsgesellschaft entgegen“27 . Schule soll lehren, wie über gesellschaftspolitisch bedeutsame Fragen und Themen gedacht und geredet wird und der Unterricht soll den institutionalisierten Umgang mit Geschichte durch Habitualisierung, sprachliche Kategorisierung und Kritik einüben helfen. Schule ist ein Resonanzkörper der Geschichtskultur und vorherrschender politischer Prägungen und muss den Fokus darauf richten, Antisemitismus zu sehen, zu benennen und zu bekämpfen.
27 Bajohr, Frank: Nach dem Zivilisationsbruch. Stand und Perspektiven der Holocaustforschung, aus: APuZ 4–5 (2020), S. 25–30, hier S. 28.
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Umgang mit der NS-Vergangenheit Das Beispiel eines partizipativen Ausstellungsprojektes Die partizipative Entwicklung von Ausstellungen zusammen mit Schülerinnen und Schülern gewinnt seit einigen Jahren auch in Deutschland an Bedeutung.1 Das Schul- und Bildungsmuseum der Friedrich-Alexander Universität ErlangenNürnberg entwickelt seit über zehn Jahren Lernlabore und Ausstellungen in enger Zusammenarbeit mit den jeweiligen Zielgruppen.2 Die folgende Abhandlung beschreibt die übergreifenden Ziele, Umsetzungen und Potenziale am Beispiel eines aktuellen Ausstellungsvorhabens dieses Museums. Die Zusammenarbeit des Schulmuseums mit Schülerinnen und Schülern hat die optimale Passung der Ausstellung an die Bedürfnisse und Interessen der Zielgruppen zum Ziel. Im Fokus stehen die Relevanz und Attraktivität von Objekten und Inhalten sowie die Tauglichkeit des Ausstellungsmobiliars. In der Regel arbeitet das Museum hier mit Mittelschulen und Gymnasien zusammen, um die unterschiedliche soziale und kulturelle Herkunft der Jugendlichen bzw. die entsprechenden Zugänge für diesen Adressatenkreis zu integrieren. Die Jugendlichen setzen sich mit historischen Originalen, Text-Rohfassungen und Ausstellungs-Prototypen auseinander. Dabei verfolgen sie Fragen wie z. B.: Ist das Objekt als Eyecatcher geeignet? Spricht es mich direkt an? An welche Begebenheiten in meinem eigenen Alltag erinnert mich das Ganze? Werde ich ärgerlich, wenn ich das sehe? Verstehe ich sofort, was die Kuratorinnen und Kuratoren hier erzählen wollen? Würden das meine Freundinnen und Freunde oder meine Eltern verstehen? Wie könnte man das verbessern? Verstehe ich die Texte? Was hiervon würde ich gerne meinen besten Freundinnen oder Freunden zeigen wollen? Was interessiert mich hier gar nicht? Welche vergleichbaren Ereignisse kenne ich aus meinem Umfeld oder aus der Geschichte meiner Großeltern oder Urgroßeltern? Soll man diese Themen in
1 Vgl. u. a. Gesser, Susanne u. a. (Hg.): Das partizipative Museum. Zwischen Teilhabe und User Generated Content. Neue Anforderungen an kulturhistorische Ausstellungen, Bielefeld 2012; Piontek, Anja: Museum und Partizipation. Theorie und Praxis kooperativer Ausstellungsprojekte und Beteiligungsangebote, Bielefeld 2017; Braun, Tom/Witt, Kirsten (Hg.): Illusion Partizipation – Zukunft Partizipation. (Wie) Macht Kulturelle Bildung unsere Gesellschaft jugendgerechter?, München 2017. 2 Rösch, Mathias: Schule im Nationalsozialismus. Neue Wege der Vermittlung für Jugendliche. Eine Ausstellung des Schulmuseums Nürnberg, in: museum heute 47 (Juni 2015), S. 56–59; Ders.: Die Vermittlung von Technikgeschichte an Schülerinnen und Schüler im Rahmen eines naturwissenschaftlichen Schüler-Lernlabors, in: Zeitschrift für Museum und Bildung 75 (2013), S. 66–80.
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der Öffentlichkeit besprechen? Ist eines von diesen Themen für mich und für mein Leben wichtig und wenn ja warum? Welche Inhalte oder Themen würde ich gerne hier einbringen? Bei den Entwicklungsworkshops ist es wichtig, ablehnende oder auch gegensätzliche politisch-weltanschauliche Positionen zu erfassen und dabei herauszufinden, ob es hierfür mögliche Zugänge geben könnte.
1.
Ausstellungsvorhaben
In einer solche Entwicklungszusammenarbeit mit Jugendlichen entsteht derzeit die Wanderausstellung zum Umgang mit der NS-Vergangenheit in Deutschland von 1945 bis heute. Dieses Vorhaben des Schulmuseums Nürnberg richtet sich an Jugendliche jeder sozialen und kulturellen Herkunft und wird zusammen mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sowie Schülerinnen und Schülern von Schulen im gesamten Bundesgebiet entwickelt. Die Ausstellung wird durch die Alfred Landecker Stiftung getragen und startet voraussichtlich im Sommer 2024. Ziel ist es, neben der Vermittlung von Wissen ein kritisch-reflektierendes Bewusstsein für die Thematik zu wecken und mit der Zielgruppe ins Gespräch zu kommen: Wie soll es weitergehen im Umgang mit der NS-Vergangenheit? Welche besonderen Interessen und Bedürfnisse haben heutige Jugendliche? Im weiteren Verlauf werden das Vorgehen und die Ergebnisse dieser Entwicklungszusammenarbeit am Beispiel von zwei Ausstellungsstationen vorgestellt.
2.
Konzeption der Ausstellung
Die Ausstellung nähert sich ihrem Thema3 über exemplarische Einblicke. Skizziert wird die Entwicklung in Ost- und Westdeutschland zwischen 1945 und heute, insbesondere der sehr unterschiedliche Umgang mit der NS-Vergangenheit über acht Jahrzehnte hinweg und die Auswirkungen auf Gesellschaft und Politik. Zu Beginn werden Umfang und Dimensionen der von Deutschen 1933 bis 1945 begangenen Verbrechen auf den Punkt gebracht – die Hypothek des Neuanfangs 1945. Ein zusätzlicher Info-Pool informiert über das juristische Vorgehen der Alliierten gegen den Nationalsozialismus bis zur Gründung von BRD und DDR 1949. Im Hauptteil der Ausstellung beschreiben 16 Stationen in einer lockeren
3 Vgl. u. a. Fischer, Torben/Lorenz, Matthias N. (Hg.): Lexikon der „Vergangenheitsbewältigung“ in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945, Bielefeld 2015; Frei, Norbert: 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewusstsein der Deutschen, München 2009.
Umgang mit der NS-Vergangenheit
chronologischen Anordnung die zentralen Phänomene und die Faktoren der Veränderung. In fünf Stationen werden die Jahrzehnte des Schweigens, der Apologie und des Uminterpretierens der Verantwortung für Krieg und Massenverbrechen greifbar. Die erste Station gilt der Entstehung des Opfer-Narrativs.4 Nicht wenige Deutsche entwickelten nach 1945 die Vorstellung, eher Opfer als verantwortliche Handelnde gewesen zu sein, „verführt“ durch die Nationalsozialisten und belastet durch den Krieg. Die Eigendynamik des Wiederaufbaus und des Kalten Kriegs und die ein Schuldbewusstsein erschwerende, fortdauernde Prägung weiter Teile der Bevölkerung durch die NS-Ideologie verfestigten dieses Narrativ. Eine weitere Station beschreibt die Entscheidung in beiden deutschen Staaten ab 1949, die breite Masse der Anhängerinnen und Anhänger des Nationalsozialismus in Staat und Gesellschaft zu integrieren und auf eine konsequente und systematische juristische Strafverfolgung weitgehend zu verzichten5 – auch wenn sich die DDR demonstrativ als „antifaschistischer“ Staat präsentierte und höhere und mittlere Positionen in den Bereichen Justiz, Polizei und Schule deutlich „bereinigte“. Die langfristigen Konsequenzen dieser Entscheidung werden exemplarisch am westdeutschen Bundesjustizministerium6 und seiner weitgehenden Unterwanderung durch ehemalige Nationalsozialisten beschrieben sowie an den sehr ambivalenten west- und ostdeutschen Wiedergutmachungsverfahren und schließlich am verheerenden Umgang mit den Opfern der NS-Verfolgung – der streckenweise eher einer zweiten Verfolgung7 glich. Den psychischen Folgen der NS-Massenverbrechen für die Familien der überlebenden Opfer und der Täterinnen und Täter8 gilt eine eigene Station, ebenso der unterschiedlichen Situation der Gedenkstätten in Ost und West9 . 4 Frei, Norbert: 1945 und wir, in: Ders.: 1945, S 23–37. 5 Andreas Eichmüller: Die Strafverfolgung von NS-Verbrechen durch westdeutsche Justizbehörden seit 1945. Eine Zahlenbilanz, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 56 (2008), S. 621–640; Leide, Henry: NS-Verbrecher und Staatssicherheit. Die geheime Vergangenheitspolitik der DDR, Göttingen 2005; Weinke, Annette: Die Verfolgung von NS-Tätern im geteilten Deutschland. Vergangenheitsbewältigung 1949–1969 oder: eine deutsch-deutsche Beziehungsgeschichte im Kalten Krieg, Paderborn 2002; Frei, Norbert: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1999. 6 Manfred Görtemaker/Christoph Safferling: Die Akte Rosenburg. Das Bundesministerium der Justiz und die NS-Zeit, Bonn 2016. 7 Tümmers, Henning: Anerkennungskämpfe: die Nachgeschichte der nationalsozialistischen Zwangssterilisationen in der Bundesrepublik, Göttingen 2011; Brunner, José/Frei, Norbert/Goschler, Constantin (Hg.): Die Praxis der Wiedergutmachung. Geschichte, Erfahrung und Wirkung in Deutschland und Israel, Göttingen 2009. 8 Vgl. u. a. Rosenthal, Gabriele: Der Holocaust im Leben von drei Generationen. Familien von Überlebenden der Shoah und von Nazi-Tätern, Gießen 1999. 9 Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus. Eine Dokumentation, Band II, hg. Bundeszentrale für Politische Bildung, Bonn 2000.
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Zwischen den 1960er und den 1990er Jahren gelang in Gesellschaft und Politik der BRD der Wandel hin zu einem offeneren, reflektierenden und kritischen Umgang mit der NS-Vergangenheit. Die fünf wichtigsten Faktoren werden in eigenen Stationen dargestellt: Der Auschwitz-Prozess in Frankfurt am Main 1963–196810 und seine (auch mediale) Wirkung als „Versuch eine Selbstaufklärung der Deutschen“, die Wirkung privater Initiativen – exemplarisch hier Beate Klarsfeld11 –, die Rolle von Schülerprojekten und Geschichtswerkstätten ab den 1980er Jahren, die Bedeutung wissenschaftlicher Forschung. Dieser Wandel war von Sackgassen und Brüchen geprägt und wurde von Teilen der Gesellschaft nicht mitgetragen. Ausdruck dafür sind – in je eigenen Stationen dargestellt – die massiven Proteste gegen die 1997 gestartete Ausstellung über die Massenverbrechen der Wehrmacht12 und die erst nach 2000 einsetzende Entschädigung der ausländischen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter durch die deutsche Wirtschaft.13 Im zweiten Jahrzehnt nach 2000 wird dieser Wandel immer stärker Infrage gestellt – nicht zuletzt durch das Aufkommen des Rechtspopulismus. Eine Station thematisiert das Phänomen „Hitler-Memes“ und Provokationen von Jugendlichen in Schule und Alltag. Eine zweite Station geht den ablehnenden Reaktionen auf die letzten NS-Strafverfahren14 gegen hochbetagte ehemalige NS-Täterinnen und Täter nach. Diese drei Phänomene, die Phase der Apologie und des Schweigens, die Hochzeit der kritischen Reflektion und die Phase wachsender Infragestellung sind keine zeitlich klar abgegrenzten Epochen. Viele Elemente entwickeln sich parallel oder gehen fließend ineinander über, manche dauern fort bis heute, wie etwa der OpferMythos. Drei übergreifende Themen werden in zusätzlichen Infografik-Wänden dargestellt: Der Rechtsextremismus und Antisemitismus seit 1945, die kontinuierlichen Schlussstrich-Forderungen seit 1945 und die Quellenbelege für den Holocaust. Um dem jugendlichen Zielpublikum möglichst intensive Zugänge zu eröffnen, ziehen sich drei thematische Stränge durch die Darstellung: Wo immer möglich, wird die Perspektive von Jugendlichen der 1950er oder 1980er eingebracht sowie die Erfahrungen der zweiten und dritten Generation, d. h. der Nachkommen
10 Wojak, Irmtrud (Hg.): „Gerichtstag halten über uns selbst…“. Geschichte und Wirkung des ersten Frankfurter Auschwitz-Prozesses, Frankfurt a. M. 2001. 11 Klarsfeld, Beate und Serge: Erinnerungen, München 2015; Fröhlich, Claudia (Hg.): Engagierte Demokraten. Vergangenheitspolitik in kritischer Absicht, Münster 1999. 12 Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944. Ausstellungskatalog, hg. Hamburger Institut für Sozialforschung, Hamburg 1996. 13 Lang, Peter/Goschler, Constantin: Schuld und Schulden. Die Politik der Wiedergutmachung für NS-Verfolgte seit 1945, Göttingen 2008. 14 Vgl. u. a. Volk, Rainer: Das letzte Urteil. Die Medien und der Demjanuk-Prozess, München 2012.
Umgang mit der NS-Vergangenheit
derjenigen, die unter der NS-Verfolgung gelitten hatten und derjenigen, die diese verursacht hatten (dies sind mehr oder minder die Eltern der heutigen Jugendlichen). Um Jugendliche mit Migrationshintergrund anzusprechen, werden auch Opfer der NS-Verfolgung in den besetzten Gebieten sichtbar gemacht.
3.
Partizipative Ausstellungsentwicklung
Die Ausstellung wird verschiedene Großstädte in Deutschland besuchen. Entsprechend waren an der Entwicklung bislang Schulklassen aus Berlin, München, Frankfurt a. M., Nürnberg und aus einer Kleinstadt in Thüringen beteiligt. Weitere Schüler-Workshops sind in Stuttgart, Hamburg, Jena und Leipzig geplant. Für das Vorkonzept der Ausstellung, insbesondere die genannten drei thematischen Stränge, entstanden wichtige Beiträge in einer Vielzahl von Einzelgesprächen mit Schülerinnen und Schülern sowie zusammen mit dem Oberstufen-Projektseminar eines Nürnberger Gymnasiums. Im Folgenden wird die Arbeit mit den Schülerinnen und Schülern an Gymnasien in Berlin und München im Herbst 2022 beschrieben: Eine 10. und eine 11. Klasse in München – 23 bzw. 25 Jugendliche, 60 % Migrationsanteil – entwickelte eigene Ideen und Vorstellungen zur geplanten Holocaust-Belege-Wand. Eine weitere 11. Klasse in Berlin – 25 Jugendliche, 70 % Migrationsanteil – widmete sich dem Auschwitz-Prozess. Die Lehrkräfte waren durchgehend anwesend, beteiligten sich jedoch nicht an der Arbeit. Die Jugendlichen verfügten zumeist über ausreichendes Vorwissen zum Nationalsozialismus und zum Holocaust – bedingt durch den Unterricht bei engagierten Lehrkräften. Die geplante Darstellung der Holocaust-Quellenbelege – auf einer Wand oder auch in anderer Form – soll die große Vielfalt und den gewaltigen Umfang der Belege für die Massenvernichtung dokumentieren und zugleich verdeutlichen, wie viele unterschiedliche Nationen betroffen waren, von Russland über Polen bis nach Frankreich. Dadurch wird zudem deutlich, wie groß der Kreis der Täter, Täterinnen, Mitläufer und Mitläuferinnen gewesen sein muss und vor welchen Herausforderungen eine gesellschaftliche und juristische Aufarbeitung seit 1945 stand und immer noch steht – insbesondere dann, wenn in Justiz und wichtigen Institutionen noch bis in die 1970er Jahre hinein NS-ideologisch belastetes „Fachpersonal“ dominierte. Diese Ziele wurden den Jugendlichen im Münchner Workshop erst im Verlauf kommuniziert. Im Vordergrund standen zunächst Umsetzungsideen für die Ausstellung. Hier galt es, die Jugendlichen in ihrer eigenen Kompetenz anzusprechen und die für ihre Altersgruppe wichtigen thematischen Zugänge herauszuarbeiten. Der Workshop startete mit einer Vorstellungsrunde und einer Einführung. Anschließend arbeiteten die Jugendlichen mit Abbildungen von Objekten und
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Dokumenten. In der Abschlussrunde wurden der Workshop bewertet und abschließende Fragen gestellt. In der Einführungsrunde berichteten die Jugendlichen vom Bezug der eigenen Familie zu Nationalsozialismus und Krieg. Sie hatten in ihren Familien – so der Auftrag Wochen zuvor – nach entsprechenden Objekten recherchiert und präsentierten diese jetzt zusammen mit der Hintergrundgeschichte in einem offenen Stuhlkreis. Die mitgebrachten Gegenstände wurden in der Mitte auf vorbereitetes Archiv-Seidenpapier gelegt. Die Moderation des Workshops vertiefte durch Nachfragen das Wissen zu den Objekten und erläuterte den historischen Kontext sowie aus der Forschung bekannte, vergleichbare Familien-Narrative. Über weitere, von der Moderation eingebrachte Originalobjekte wurde der Bezug zum Holocaust hergestellt. Auf diese Weise waren die teilnehmenden Jugendlichen zu den Themen Nationalsozialismus und Holocaust vorinformiert und hatten erfahren, wie die NS-Zeit ihre eigene Familie geprägt hatte bzw. wie hochrelevant die Thematik auch heute noch für sie selbst ist. Etliche der Objekte wirkten durch ihre Hintergrundgeschichte emotional sehr berührend. Der gemeinsame Austausch stärkte sichtlich die Verbundenheit innerhalb der Gruppe. Solche Arbeitseinheiten spielen bei den Entwicklungsworkshops des Museums eine besondere Rolle, da sie durch die Erfahrung von Eigenkompetenz, Relevanz, Empathie und Verbundenheit der anschließenden Arbeit mit den Dokumenten eine ganz eigene Schubkraft verleihen. Für die Dokumenten-Arbeit teilte sich die Runde in Kleingruppen à zwei bis drei Personen. Das Format Kleingruppenarbeit motiviert die Jugendlichen, sich intensiver einzubringen. Jede Gruppe erhielt jeweils ein Schlüssel-Objekt bzw. Dokument zum Holocaust mit ergänzenden Zusatzinformationen: Einen SS-EinsatzgruppenBericht aus der Sowjetunion im Herbst 1941, einen Ausschnitt aus dem WannseeProtokoll 1942, Fotografien der archäologischen Ausgrabungen 2014 im Vernichtungslager Sobibór, Auszüge eines Interviews mit einem jüdischen Überlebenden von Sobibór, den Tagebuch-Eintrag eines Holocaust-Täters 1943, britische Luftaufnahmen des Vernichtungslagers Ausschwitz 1944, die Baupläne von Auschwitz, Reichsbahn-Dokumente zum Transport jüdischer Menschen in die Vernichtungslager im Osten 1943, eine im Boden vergrabene Botschaft des HäftlingsSonderkommandos bei den Gaskammern in Auschwitz sowie die beiden einzigen noch existierenden Fotografien, die eben dieses Sonderkommando 1944 heimlich angefertigt hatte. Jede Arbeitsgruppe erhielt vier Aufträge und etwa zwei Stunden Zeit. Die Ergebnisse wurden auf Papier festgehalten, namentlich gekennzeichnet und von der Moderation eingesammelt. Arbeitsaufträge waren: 1. Untersucht diese Quelle und nutzt dazu auch das Internet: Was erzählt diese Quelle über den Holocaust und welche Bedeutung hat diese Erzählung? 2. Wovor habt ihr Angst/Furcht, wenn ihr an diese Quelle oder an den Holocaust denkt?
Umgang mit der NS-Vergangenheit
3. Was bewegt euch an dieser Quelle besonders: Welches Thema, welche Auswirkung, welche Person? 4. Wie würdet ihr diese Quelle in der Ausstellung präsentieren? Darf man so etwas ausstellen? Die Berliner Klasse, die sich intensiv mit dem Ausschwitz-Prozess beschäftigte, erhielt biografische Materialien zu Thomas Gnielka,15 Fritz Bauer,16 Hans Stark17 und Josef Kral18 und dazu dieselben vier Aufträge wie die Münchner Schülerinnen und Schüler. Gnielka war als 16-jähriger Flakhelfer 1944/45 unmittelbar neben dem Vernichtungslager Auschwitz stationiert und hatte das Lager wenige Stunden vor der Befreiung auch selbst betreten. Nach 1945 wurden ihm die Auseinandersetzung mit dem Lager und die Aufarbeitung seiner Geschichte zur Lebensaufgabe. Als Journalist lieferte er durch einen Aktenfund den entscheidenden Anstoß für die Auschwitz-Prozesse. Bauer hatte als hessischer Generalstaatsanwalt die Prozesse mit großem Geschick und Einsatz gegen erhebliche Widerstände in die Wege geleitet. Stark gilt als einer der brutalsten Täter in Auschwitz und Kral hatte als ehemaliger Häftling im Prozess 1965 entscheidend gegen Stark ausgesagt. Der Berliner Workshop verfolgte drei Ziele: Die Jugendlichen sollten ein Gespür entwickeln für die Leistung der Justiz, die ein Verfahren zu Verbrechen in solch unvorstellbaren Dimensionen zu führen hatte: In Auschwitz wurden innerhalb von drei Jahren über eine Million Menschen ermordet. Zum Zweiten sollte die Wirkung dieses Prozesses deutlich werden, der Teile der damaligen jüngeren Generation im Umgang mit der NS-Vergangenheit erheblich sensibilisierte. Zum Dritten ging es darum, die „Triftigkeit“ der bis dahin geplanten Inhalte und Objekte für das Ausstellungsvorhaben zu diskutieren und die für Jugendliche interessanten Fragestellungen herauszuarbeiten.
4.
Potentiale der Ausstellung
Die Ergebnisse und Beobachtungen der Workshops werden in unterschiedlicher Weise in die Entwicklung der Ausstellung integriert. In der Regel entstehen verbindliche Vorgaben für die Gestaltungsagenturen zu Inhalten, Objekten und
15 Vgl. u. a. Als Kindersoldat in Auschwitz. Die Geschichte einer Klasse. Romanfragment von Thomas Gnielka. Mit einer Dokumentation, hg. Gnielka, Kerstin/Renz, Werner, Hamburg 2014. 16 Wojak, Irmtrud: Fritz Bauer 1903–1968. Eine Biografie, München 2009. 17 Vgl. u.a. Biografie Hans Stark, in: http://www.auschwitz-prozess-frankfurt.de/index.php?id=121 (29.03.2023). 18 Vgl. u.a. Tonbandmitschnitte des Auschwitz-Prozesses (1963–1965): www.auschwitz-prozess.de/ zeugenaussagen/Kral-Jozef/ (29.03.2023).
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Ausstellungsmöbeln. Von den vielfältigen Ergebnissen der Berliner und Münchner Workshops werden im Folgenden zwei Beispiele dargestellt. In der Einführungsrunde in München berichteten Schülerinnen und Schülern von Erzählungen der Großeltern und Eltern über Menschen „aus fremden Ländern“, die während des Zweiten Weltkriegs auf dem Bauernhof oder im Haus mitgearbeitet hätten – vermutlich aus Polen oder Ungarn, dazu wäre die Erinnerung unklar. Diese Menschen seien nett gewesen und alle Beteiligten hätten sich gut verstanden. Diese Erinnerung in der vierten Generation an Zwangsarbeit – um die es sich hier zweifellos handelt – ist spannend. Zum einen, weil die Beteiligten nicht wussten, dass hier Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter gemeint waren. Zum anderen wegen der positiven Zuschreibung. Es lässt sich ohne weitere Quellen nicht zweifelsfrei beurteilen, ob die Beziehung zwischen den Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern und den Deutschen dieser Erzählung tatsächlich angenehm oder zu mindestens erträglich gestaltet war. Die Formulierung, „man hat sich gut verstanden“, ist eine über Jahrzehnte hinweg, von Deutschen v. a. im Familienkreis und selbst in der dritten und vierten Generation immer wieder gebrauchte Chiffre für die Beschreibung von Zwangsarbeit. Das interessante ist die positive Wendung. Das ganze Geschehen ist in positive Worte gefasst, so als ob wechselseitige Sympathie dominant gewesen, so als ob hier fast schon von Urlaubsgästen die Rede sei. Die Realität der Zwangsarbeit wird nicht erwähnt.19 Selbst, wenn diese Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter vor Ort gut behandelt worden wären –, die Arbeitsverhältnisse z. B. in der Landwirtschaft oder in der Rüstungsindustrie waren z. T. sehr unterschiedlich: Die 13,5 Millionen Betroffenen, die 1939 bis 1945 in Deutschland arbeiteten, taten das zu allermeist nicht freiwillig. Ca. 1,7 Millionen kamen aus den Konzentrationslagern, 4,6 Millionen waren Kriegsgefangene, 8,4 Millionen waren zivile Gefangene, die in den deutsch besetzten Gebieten aufgegriffen und abtransportiert worden waren. Gut 2 Millionen waren Jugendliche unter 18 Jahren. Die Bezahlung war marginal oder nicht vorhanden. Diese Menschen galten nicht nur in den Augen der NS-Ideologen als Feinde und billige Arbeitskräfte. Sie wurden in bewachten Lagern und einfachen Baracken gehalten, litten an Heimweh und Hunger. Sie mussten permanent damit rechnen, verhaftet, gefoltert oder umgebracht zu werden. Von 13,5 Millionen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern in Deutschland starben
19 Im Folgenden: Steinert, Johannes-Dieter: Deportation und Zwangsarbeit. Polnische und sowjetische Kinder im nationalsozialistischen Deutschland und im besetzten Osteuropa 1939–1945, Essen 2013; Plato, Alexander von/Leh, Almut/Thonfeld, Christoph (Hg.): Hitlers Sklaven. Lebensgeschichtliche Analysen zur Zwangsarbeit im internationalen Vergleich, Wien/Köln 2008; Spoerer, Marc: Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz. Ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und Häftlinge im Deutschen Reich und im besetzten Europa 1938–1945, Stuttgart/München 2001; Herbert, Ulrich: Fremdarbeiter. Politik und Praxis des „Ausländer-Einsatzes“ in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches, Bonn 2 1999.
Umgang mit der NS-Vergangenheit
etwa 2,7 Millionen an den häufig katastrophalen Arbeits- und Lebensbedingungen. Hin- und wieder wurden sie sogar von den einheimischen Deutschen ermordet. Diese eindeutigen Fakten wurden in der kollektiven Erinnerung vieler Deutschen im Nachhinein positiv überformt. Die Mehrzahl der Deutschen blendete das Thema Zwangsarbeit noch bis in die achtziger Jahre hinein fast vollständig aus – vielleicht gerade, weil sich hier die individuelle Verantwortung für die NS-Verfolgungspolitik so leicht greifen ließ. Es ist spannend, dass selbst heutige, gut informierte und reflektierende Jugendliche diesem kollektiven Narrativ folgen. Die Entwicklungsarbeit zusammen mit den Zielgruppen bietet den Ausstellungskuratoren gute Möglichkeiten auf solche Themen bzw. Fragestellungen aufmerksam zu werden. Dieses generationenübergreifende „Ausblenden“ von Erinnerung wird in der Station zur Zwangsarbeiterentschädigung thematisiert werden: Das Ausstellungspublikum soll die Möglichkeit erhalten, sich anhand von Objekten Schritt für Schritt weg von solchen Narrativen und hin zur Realität zu bewegen. Die Erinnerungen der beteiligten Münchner Jugendlichen offenbart jedoch noch ein weiteres wichtiges Thema für die Ausstellung: Den Schülerinnen und Schülern wurde bewusst, dass Zwangsarbeit nicht irgendwo im Geheimen stattgefunden hatte, sondern mitten in der Gesellschaft, für alle sichtbar, und dass damit die Verantwortung auch bei weitaus mehr Menschen lag, als nur bei drei oder vier NS-Funktionären. In diesem Zusammenhang wurde deutlich, dass die wenigsten Workshop-Teilnehmerinnen und -teilnehmer bis dahin gewusst hatten, dass das Deutsche Reich den Krieg überhaupt nur durch die rücksichtslose Ausbeutung von Millionen von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern so lange führen konnte. Im Berliner Workshop entstanden ebenfalls neue Fragestellungen und Zugänge für die Ausstellung. Die vorgeschlagenen Biografien und Inhalte fanden breite Zustimmung. Diskutiert wurde das Anliegen Fritz Bauers, auf Rache zu verzichten und dafür die Selbstaufklärung der Deutschen zu stärken, aber auch das starke Engagement Thomas Gnielkas für die Opfergruppen. Im Folgenden soll die Diskussion um eine Fragestellung beschrieben werden, die überraschend neue Perspektiven eröffnete. Zwei 17-jährige Jungen, beide mit Migrationshintergrund, beschäftigten sich mit der Biografie des 19-jährigen SS-Täters Hans Stark. Zentral wurde für beide die Frage: Wie erkennt man eigentlich das Böse in einem Menschen? Auf den vorliegenden Fotografien von Hans Stark ist ein normal wirkender Mensch zu sehen, in Anzug und mit Aktentasche. Stark hatte bis zu seiner Verhaftung 1963 als Lehrer an einer Darmstädter Schule gearbeitet. Im Gegensatz dazu zeigten die PolizeiAufnahmen Stark unmittelbar nach der Verhaftung, und hier fiel die kalte, brutale Ausstrahlung des Mannes ins Auge. Die Jugendlichen waren von der Diskrepanz irritiert und diskutierten intensiv, woran man einen Mörder erkennen könnte. Verändern Verbrechen wie Massenmord einen Menschen äußerlich? Kann man solche Taten auch komplett verdrängen? Muss ich damit rechnen, dass auch in meiner
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Umgebung gefährliche Verbrecher leben, ohne dass ich sie erkenne? Wie wird man zum Massenmörder? Diese Fragen der Jugendlichen ließen sich mit Christopher Brownings Studie „ganz normale Männer“20 in Verbindung setzen ebenso wie mit der Selbstinszenierung vieler SS-Täter vor Gericht in den 1960er und 1970er Jahren. Die Irritation und Befürchtungen werden in die Ausstellungsstationen zum Auschwitz-Prozess sowie zum Thema „zerstörte Familien“ integriert werden. Die Jugendlichen schlugen hierfür eine Fotoreihe mit sympathisch anmutenden Tätern aus unterschiedlichen NS-Verbrechenskomplexen vor. Ausstellungsbesucher könnten hier selbst überlegen, ob jeweils Täterinnen und Täter dargestellt sind. Auch wenn diese Entwicklungsarbeit in München und Berlin mit Jugendlichen durchgeführt wurde, die über ein breites Vorwissen verfügen und sehr offen für die Thematik waren – und damit nicht dem Durchschnitt der zu erwartenden Besuchergruppen entsprechen –, so lassen sich trotzdem, wie beschrieben, zielführende Erkenntnisse für das Ausstellungsvorhaben gewinnen. Ganz allgemein wurde im Verlauf der gesamten, bald zweijährigen Entwicklungsarbeit mit Schülerinnen und Schülern der 8. bis 12. Jahrgangsstufe von Mittelschulen, Realschulen und Gymnasien deutlich, dass unter Jugendlichen aktuell nach wie vor ein erhebliches Interesse an der NS-Thematik vorhanden ist und dass sich dieses Interesse ähnlich intensiv auch auf die Zeit nach 1945 erstreckt. Zudem stellen die Jugendlichen quer über alle Schularten hinweg in der Regel sehr ähnliche Anforderungen an die Vermittlung der NS-Thematik. Diese sind in der Ausstellungsdidaktik seit langem bekannt:21 Visualisierung, Personalisierung, Herausforderung (im Sinne von kombinieren, knobeln, überlegen müssen), Reduzierung der Textmengen, Passung der Inhalte und Texte an die Zielgruppen und deren Kompetenzstufen, Verzicht auf „Überwältigungspädagogik“, Rücksichtnahme auf das Timing der Jugendlichen und der Einsatz moderner Medien. An einigen Punkten werden in der Entwicklungsarbeit des Schulmuseums jedoch noch weitere Erkenntnisse bzw. Anforderungen der Jugendlichen greifbar: Vor allem ab der 8. Jahrgangsstufe wird es wichtig, eine Ausstellung ohne strikte Vorgaben und Lenkung durch Lehrkräfte besichtigen zu können. Der Wunsch, sich Ausstellungsinhalte häufiger auch im Sitzen erarbeiten zu können, ist ein weiteres Bedürfnis – das schon in der Entwicklung früherer Ausstellungen des Schulmuseums quer über alle Schularten hinweg deutlich wurde. Auffällig ist die starke Attraktivität authentischer, biografischer Objekte, die durchaus im „Wettbewerb“ mit Mediengeräten bestehen können. Das
20 Browning, Christopher R.: „Ganz normale Männer“. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die „Endlösung“ in Polen, Hamburg 1999. 21 Dengel, Sabine u. a.: schule@museum – Eine Handreichung für die Zusammenarbeit, hg. Deutscher Museumsbund e.V. u. a., Berlin 2011; Hooper-Greenhill, Eilean: Museums and Education. Purpose, Pedagogy, Performance, London/New York 2007; Wagner, Ernst/Dreykorn, Monika (Hg.): Museum Schule Bildung. Aktuelle Diskurse, Innovative Modelle, erprobte Methoden, München 2007.
Umgang mit der NS-Vergangenheit
Überraschungsmoment, die Systematik und die extreme Brutalität des Vorgehens der NS-Verfolger bewegt die Jugendlichen quer über alle Altersgruppen und sozialen und kulturellen Hintergründe hinweg. Dazu kommt das Interesse für die Opfer nichtdeutscher Herkunft und für die jahrzehntelang in Deutschland vergessen Opfergruppen. Und nicht wenige Jugendliche mit Migrationshintergrund beobachten, wie sich die aktuelle deutsche Gesellschaft gegenüber dieser NS-Vergangenheit verhält und ob von dieser ein Engagement gegen die mögliche künftige Verfolgung Andersdenkender oder Minderheiten zu erwarten ist.
Fazit Diese Form der partizipativen Ausstellungsentwicklung ist zeit- und personalaufwändig. Ein durchschnittlicher Workshop dauert drei bis vier Zeitstunden und beschäftigt mindestens eine Museumskraft. Dazu kommen die Vorbereitungen, die Anfahrt und die Auswertung der Ergebnisse und das Gespräch. Manchmal muss hier im Nachhinein noch mal bei den Jugendlichen nachgehakt werden, um Intentionen und Erzählungen zu verifizieren. Für die Entwicklung der Inhalte und des Mobiliars der Ausstellung „Nationalsozialismus in der Schule“ (2015–2018) waren die Teams über ein komplettes Schuljahr hinweg jede Woche drei Unterrichtsstunden mit den Jugendlichen zusammen. Dazu kamen damals etwa 150 Stunden Auswertung u. a. auch mit der Gestalter-Agentur. Zur Entwicklung des Vorkonzepts der hier vorgestellten Ausstellung über den Umgang mit der NS-Vergangenheit wurden über 20 Einzelgespräche mit Jugendlichen der unterschiedlichsten Herkunftsländer geführt sowie fünf Arbeitssitzungen mit dem Projekt-Seminar eines Nürnberger Gymnasiums, das Objekte und Inhalte in den eigenen Familien recherchiert sowie Interviews geführt hatte. Parallel wurden über zwei Jahre hinweg in drei Universitäts-Seminaren zusammen mit Studierenden Prototypen für Ausstellungseinheiten und das Online-Vorhaben des Projektes entwickelt und wiederum mit Schülerinnen und Schülern getestet. In den kommenden Monaten werden weitere Schüler-Workshops u. a. in Leipzig durchgeführt werden, um den Umgang mit der NS-Vergangenheit in der ehemaligen DDR zu bearbeiten. Doch auf Dauer lohnt sich diese Entwicklungszusammenarbeit. Die direkte Zusammenarbeit mit den Zielgruppen einer Ausstellung setzt bei den Faktoren für das Gelingen des Vorhabens an, von der Relevanz der Inhalte und Objekte über die Interaktivität, die Personalisierung, Vermeiden einer Überpädagogisierung bis hin zum passgenauen Einsatz von Medientechnik. Doch nicht nur Kuratorinnen und Kuratoren oder die Aktiven in der Museumspädagogik gewinnen erhebliche Expertise. Diese Entwicklungsarbeit generiert im Vorfeld einer Ausstellung sehr wirksame Werbung für die konkrete Ausstellung, aber auch generell für die Institution Museum. Die Beteiligten gewinnen Einblick in die Entwicklung von
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Ausstellungen, sehen, was Ausstellungen in der Gesellschaft anzustoßen vermögen und erleben Partizipation als reale Möglichkeit. In der Zusammenarbeit mit Mittelschulen ergibt sich noch ein weiterer sehr wesentlicher Vorteil: Die Jugendlichen bewirken bei den beteiligten Museumsteams eine positive Veränderung in der Einstellung gegenüber dieser speziellen Zielgruppe.
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Brücken in die Gegenwart Nachhaltigkeit als Thema in kulturhistorischen Museen Zeitgemäße Museumspädagogik soll museale Exponate möglichst durch Gegenwarts- und Lebensweltbezüge veranschaulichen.1 Dies kann dabei helfen, die Distanz zwischen historischem Objekt und zeitgenössischem Betrachtenden zu überbrücken und die Relevanz des kulturellen Erbes für die heutige Gesellschaft zu vermitteln.2 Ohne Gegenwartsbezug bleibt das Verständnis für ein Objekt vielen Besuchenden erschwert oder gänzlich verschlossen. Der Brückenbau über weite Zeiträume hinweg ist eine zentrale Aufgabe für Kultureinrichtungen und insbesondere Museen, wenn sie ihre Relevanz unter Beweis stellen und ein breites Publikum erreichen wollen. Für die gesellschaftliche Öffnung der Museen ist es wichtig, aktuelle Themen aufzugreifen. Dies muss jedoch in Auseinandersetzung mit den eigenen Beständen geschehen, um einen sinnvollen Dialog zwischen dem Erbe der Vergangenheit und der modernen Gesellschaft zu moderieren und die Kernaufgaben der Museumsarbeit – Bewahrung und Erforschung der Sammlungen und Vermittlung derselben – zu erfüllen. Eines der zeitgenössischen Themen, mit denen sich Museen seit einigen Jahren intensiv auseinandersetzen, ist die Nachhaltigkeit. Museumsverbände ermutigen Häuser dazu, sich auf verschiedenen Ebenen mit dem Thema zu beschäftigen. Es soll möglichst ein Transformationsprozess angestoßen werden, der die gesamte Institution zu einer nachhaltigen Einrichtung mit gesellschaftlicher Agenda werden lässt (Whole Institution Approach).3 Das reicht von klima- und ressourcenschonender Energienutzung, Einkaufs- und Ausstellungspolitik bis hin zu Fragen der 1 Deutscher Museumsbund e.V. und Bundesverband Museumspädagogik e.V. (Hg.): Leitfaden Bildung und Vermittlung im Museum gestalten, Berlin 2020, S. 20 („gegenwarts- und lebensweltrelevant“); Nettke, Tobias: Was ist Museumspädagogik? Bildung und Vermittlung im Museum, in: Commandeur, Beatrix/Kunz-Ott, Hannelore/Schad, Karin (Hg.): Handbuch Museumspädagogik. Kulturelle Bildung in Museen (Kulturelle Bildung 51), München 2016, S. 31–42, hier S. 35 (gegenwartsbezogene Vermittlung). 2 Zur Bedeutung intrinsischer Motivation für die Bildungsprozesse im Museum und der Bedeutung des Lebensweltbezugs: Csikszentmihalyi, Mihaly/Hermanson, Kim: Intrinsic Motivation in Museums: Why Does One Want to Learn?, in: Falk, John H./Dierkin, Lynn D. (Hg.): Public Institutions For Personal Learning. Establishing a Research Agenda, Washington 1995, p. 67–77, hier p. 73. 3 McGhie, Henry: Museums and the Sustainable Development Goals. A How-To Guide for Museums, Galleries, the Cultural Sectors and Their Partners, 2019: http://www.curatingtomorrow.co.uk/wpcontent/uploads/2020/01/museums-and-the-sustainable-development-goals-2019.pdf (29.01.2023);
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Museumsethik, z. B. im Umgang mit problematischen Provenienzen. Wesentlich sind auch Forderungen nach diskriminierungsfreier und diversitätsfördernder Personalgewinnung sowie nach Möglichkeiten der Co-Produktion und Partizipation für die Gesellschaft. Nachhaltigkeit wird dabei stets im umfassenden Sinne der im Rahmen der Agenda 2030 von den Vereinten Nationen verfassten 17 Nachhaltigkeitsziele (Sustainable Development Goals, SDG) verstanden und meint damit alle Maßnahmen, die ein gutes und gerechtes Leben für alle Menschen auf dieser Welt befördern – darunter ökologisches ebenso wie soziales und wirtschaftliches Handeln.4 Nachhaltigkeit im Museum ist eine Aufgabe für alle Abteilungen und alle Beschäftigten. Die Abteilungen für Bildung und Vermittlung spielen jedoch eine besondere Rolle. Durch die Integration von Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) können sie ein breites Publikum für das Thema sensibilisieren, Werte vermitteln und dadurch die SDG fördern.5 BNE wendet bestimmte, vor allem dialogische und partizipative Methoden an, um transformative Lernprozesse anzustoßen. Die Schlüsselkompetenzen, die vermittelt werden sollen, sind u. a. kritisches und vorausschauendes Denken, Problemlösungskompetenzen und Kooperationskompetenzen – aber auch Empathie und die Fähigkeit, die eigene Rolle in der Gesellschaft zu überdenken.6 Daraus resultierend soll möglichst eine Verhaltensveränderung im Sinne eines nachhaltigen Lebensstils angestoßen werden. Mit partizipativen und dialogischen Methoden lassen sich diese Kompetenzen von der Museumspädagogik fördern. Dennoch muss BNE im Museum auch objektbasiert arbeiten, d. h. dass neben den kompetenzfördernden Methoden der BNE auch die vermittelten Inhalte sinnvoll mit dem Thema Nachhaltigkeit verbunden werden müssen. Dabei sind Umsicht und Fingerspitzengefühl gefragt. Denn es gilt zugleich, die historischen Zusammenhänge wissenschaftlich korrekt darzustellen und nicht durch ungenaue Übertragung auf gegenwärtige Phänomene zu verunklären.
Garthe, Christopher J.: Das nachhaltige Museum. Vom nachhaltigen Betrieb zur gesellschaftlichen Transformation, Bielefeld 2022. 4 Die Bundesregierung: Nachhaltigkeitsziele verständlich erklären: https://www.bundesregierung.de/ breg-de/themen/nachhaltigkeitspolitik/nachhaltigkeitsziele-erklaert-232174 (29.01.2023). 5 McGhie, 2019, S. 50: „Museums can incorporate ESD (Education for Sustainable Development) into all of their educational programmes, for all ages and abilities.“; Garthe: Das nachhaltige Museum, S. 191–210. 6 ESD Expert Net (Hg.): Die Ziele für Nachhaltige Entwicklung im Unterricht. Ein Beitrag zum UNESCO-Weltaktionsprogramm Bildung für nachhaltige Entwicklung (deutsche Übersetzung von „Teaching The Sustainable Development Goals“, hg. ESD Expert Net, 2017), o. J., S. 12 f.; Garthe: Das nachhaltige Museum, S. 200 f.
Brücken in die Gegenwart
Ein Seminar im Germanischen Nationalmuseum Nachhaltigkeit ist in naturkundlichen Museen, Technikmuseen und Science Centern ein naheliegendes Thema für die Vermittlungsarbeit. In kunst- und kulturhistorischen Museen stellt es jedoch eine vermeintlich größere Herausforderung dar, Bezüge zur aktuellen Nachhaltigkeitsdebatte herzustellen. Dieses Ziel verfolgte das museumspädagogische Seminar „Nachhaltigkeit in der Museumsvermittlung“, welches als Kooperationsveranstaltung des Kunst- und kulturpädagogischen Zentrums der Museen in Nürnberg und der Friedrich-Alexander-Universität ErlangenNürnberg im Wintersemester 2021/2022 im Germanischen Nationalmuseum stattfand. Die Studierenden erforschten dabei verschiedene kunst- und kulturhistorische Exponate der Dauerausstellung „Renaissance – Barock – Aufklärung“, setzten sie in Bezug zu jeweils einem der 17 SDGs und erarbeiten Konzeptideen für Vermittlungsangebote für verschiedene Zielgruppen. Das Germanische Nationalmuseum ist das größte kulturhistorische Museum des deutschen Sprachraums mit transnationaler europäischer Perspektive.7 Seit einigen Jahren verfolgt es eine weitreichende Neuausrichtung für eine verstärkte gesellschaftliche Öffnung und thematisiert in vielen Ausstellungen aktuelle Relevanz und Gegenwartsbezüge. Im Germanischen Nationalmuseum sollen Besuchende aus der kulturhistorischen Vergangenheit lernen und die Relevanz der Geschichte für unser heutiges Denken und Handeln erkennen können. Die Vielfalt der kulturhistorischen Sammlungen mit Objekten aus unterschiedlichsten Funktionszusammenhängen und gesellschaftlichen Kontexten erlaubt es, Bezüge zu fast allen Aspekten menschlicher Kultur- und Geistesgeschichte herzustellen. Für das Thema der Nachhaltigkeit bieten sich beispielsweise Exponate der Textilsammlung zur Gegenüberstellung früherer Produktionsmethoden mit den heutigen Arbeitsund Produktionsbedingungen einer globalen Fast-Fashion-Industrie an. Auch die Themen Recycling, Upcycling und Wiederverwendung können in der Kleidersammlung anhand von Notkleidung oder in anderen Sammlungen am Beispiel der Reparatur und Wiederverwendung verschiedener kulturhistorischer Artefakte thematisiert werden. Zu Aspekten sozialer Nachhaltigkeit lassen sich rund um die Themen Geschlechterklischees, Gendergerechtigkeit, globale Gerechtigkeit und Diversität vielfältige Objektbezüge herstellen.8
7 Vgl. das Leitbild des GNM: https://www.gnm.de/museum/ueber-uns (29.01.2023). 8 Vgl. das buchbare KPZ-Angebot „Gleichberechtigt? Rollenbilder in Frage stellen“ für Schulklassen ab der Jahrgangsstufe 9: https://kpz-nuernberg.de/bildungsangebot/gleichberechtigt-rollenbilder-infrage-stellen (29.01.2023).
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Die kulturhistorischen Objekte und ihre Bezüge zu den Nachhaltigkeitszielen Im Seminar dienten unterschiedliche Nachhaltigkeitsziele als Bezugsrahmen für die Betrachtung der kulturhistorischen Objekte. Beispielhaft seien im Folgenden einige der diskutierten Exponate mit den Bezügen zu jeweils einem der SDG aufgelistet: Hans Wertinger: Der Monat September (Ernte) aus einer Folge von Monatsbildern, um 1516/1525 (Gm1239)9 | SDG 2: „Kein Hunger“ (Agrargeschichte, saisonaler Konsum) Nicolas Neufchâtel: Der Nürnberger Schreibmeister Johann Neudörfer mit einem Schüler, 1561 (Gm1836)10 | SDG 4: „Hochwertige Bildung“ (Bildungsideale im Wandel der Zeit) Nautilusmuschel mit dem Einzug Gustav Wilhelm von Imhoffs in Batavia, um 1742/43 (Pl.O.783)11 | SDG 10: „Weniger Ungleichheiten“ (Kolonialgeschichte) Johann Eberhard Ihle: Bildnis der Familie Leinker, um 1776 (Gm2319)12 | SDG 12: „Nachhaltige/r Konsum und Produktion“ (Import von Kaffee als neuem Genussmittel)
Bestimmte Exponate drängen sich aufgrund ihrer offensichtlichen Aktualität für eine Neubewertung unter dem Gesichtspunkt sozialer Nachhaltigkeit und globaler Gerechtigkeit auf, wie beispielsweise das Bildnis des Markgrafen von BrandenburgSchwedt mit Schwarzem Jungen von Anna Rosina Lisiewska-Matthieu-de Gasc (Gm1452).13 Das Gemälde wurde im Seminar im Zusammenhang mit dem SDG 10: „Weniger Ungleichheiten“ diskutiert. Derartige Darstellungen aus dem Kontext der Kolonial- und Sklavereigeschichte werden heute von den Museen mit erläuternden Kommentaren versehen. Sie müssen respektvoll interpretiert und mit Kenntnissen der aktuellen Debatten um koloniales Erbe und rassismuskritisches Kuratieren vermittelt werden. Aber auch prominente Objekte des Museums wie z. B. der Behaim-Globus erfordern zeitgemäße Zugänge. So steht der Globus am Beginn der europäischen Expansion und des Kolonialismus und verweist damit auch auf die bis heute wirkmächtigen globalen Folgen dieser Entwicklungen. Die Funktion des Globus war es wohl, finanzstarke Investoren für Forschungsund Handelsreisen nach Asien zu gewinnen, um wertvolle Rohstoffe von dort
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GNM: https://objektkatalog.gnm.de/objekt/gm1239 (29.01.2023). GNM: https://objektkatalog.gnm.de/objekt/gm1816 (29.01.2023). GNM: https://objektkatalog.gnm.de/objekt/Pl.O.783 (29.01.2023). GNM: https://objektkatalog.gnm.de/objekt/gm2319 (29.01.2023). GNM: https://objektkatalog.gnm.de/objekt/gm1452 (29.01.2023).
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zu importieren.14 Zahlreiche Inschriften auf dem Globus weisen auf reiche Gewürzvorkommen und andere Rohstoffe hin, deren Ausbeutung die europäischen Invasoren in der Folge in weiten Regionen der Erde intensiv betreiben sollten. Demnach hat der Behaim-Globus als herausragendes kulturhistorisches Objekt eine große Aussagekraft für das heutige Verhältnis des globalen Nordens und des globalen Südens und für die in den SDG fixierten Forderungen nach gerechtem und fairem weltweiten Handel. Ihn ausschließlich als Symbol von Entdeckergeist und Aufbruchsstimmung der Frühen Neuzeit in Europa verstehen zu wollen, greift vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Auseinandersetzungen mit dem globalen Erbe des Kolonialzeitalters deutlich zu kurz.15 Andere Exponate ermöglichen Bezüge zu den in der Öffentlichkeit stärker mit Nachhaltigkeit verbundenen ökologischen Herausforderungen unserer Zeit. Die Erzstufe des Christof III. Scheurl von 1563 (HG10294) beispielsweise ist ein auf den ersten Blick kurioses Objekt, bestehend aus kostbaren mineralischen Gesteinsfunden – Handsteine genannt –, die mit kleinen Miniatur-Figuren zu einer künstlichen Landschaft zusammengefügt und in ein Kunstkammerstück verwandelt wurden.16 Handsteine bzw. Erzstufen symbolisierten höchste gesellschaftliche Stellung und beträchtlichen Reichtum der zumeist fürstlichen Auftraggeber, basierend auf deren Bergrechten und dem von ihnen betriebenen Abbau von Silber, Erzen und kostbaren Erden.17 Das Objekt kann sowohl im Zusammenhang mit dem SDG 8: „Menschenwürdige Arbeit und Wirtschaftswachstum“ oder mit dem SDG 12: „Nachhaltige/r Konsum und Produktion“ verhandelt werden. Der mittelalterliche und frühneuzeitliche Bergbau brachte enormen Wohlstand und Einfluss für wenige, dafür härteste Arbeitsbedingungen und grausame Lebensumstände für die in den Bergwerken arbeitenden Bergleute.18 Er prägte damals schon weite Landstriche kulturell wie ökologisch. Spuren von extensivem Abbau sind bis heute
14 Eser, Thomas: Weltbild in Bewegung: Zwei Globen und ein Silberschiff, in: Hess, Daniel/Hirschfelder, Dagmar (Hg.): Renaissance, Barock, Aufklärung. Kunst und Kultur vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, Nürnberg 2010, S. 33–45, hier S. 34. 15 Siehe hierzu auch: Hess, Daniel: Beginn der Globalisierung 1492 und der Behaim-Globus: Die Seuchen reisen mit: GNM_Blog, 17.04.2020: https://www.gnm.de/museum-aktuell/global-seit1492/ (27.01.2023). 16 GNM: https://objektkatalog.gnm.de/objekt/HG10294 (27.01.2023). 17 Haug, Henrike: „Wunderbarliche Gewechse“. Bergbau und Goldschmiedekunst im 16. Jahrhundert, in: Kritische Berichte 3 (2012), S. 48–63; Strieder, Peter: Erzstufe, in: Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte, Bd. 5, 1967, Sp. 1408–1417. 18 Wilsdorff, Helmut: Montanwesen. Eine Kulturgeschichte, Leipzig 1987; Eisgerber, Gert: Mittelalterliches Montanwesen und seine Wirkung auf Landschaft und Umwelt, in: Jockenhövel, Albrecht (Hg.): Bergbau, Verhüttung und Waldnutzung im Mittelalter (Vierteljahresschrift für Wirtschaftsund Sozialgeschichte, Beihefte 121), Stuttgart 1996, S.128–139.
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in betroffenen Kulturlandschaften sicht- oder messbar.19 Von all diesen Aspekten erzählt die Erzstufe. Einige der in ihr zusammengefügten kostbaren Mineralien und Erze sind bis heute gefragte Rohstoffe, nicht zuletzt für die Produktion von Mobiltelefonen. Der große Bedarf des Menschen an diesen Materialien, die damit verbundene Profitgier und die ökologischen Folgen lassen sich auch über einen großen Zeitraum von mehreren hundert Jahren hinweg verfolgen und diskutieren. Einer der heute begehrtesten Rohstoffe ist Sand, der unerlässlich für den Straßenund Wohnungsbau ist und als Bestandteil von Beton wesentlich zur fortschreitenden Versiegelung der Böden beiträgt. Sand wird zunehmend zu einer knappen, heftig umkämpften Ressource. Die globalen Auswirkungen der Sandknappheit sind vielen Menschen nicht bewusst, so dass hier sinnvolle Aufklärungsarbeit geleistet werden kann. Einen Anknüpfungspunkt dafür bieten zwei Landschaftsdarstellungen von Johann Christian Brand aus dem 18. Jahrhundert, die eine außergewöhnliche Landschaftsformation – den Sandberg des sogenannten Thebener Kogels in Niederösterreich – zeigen.20 Sie können sowohl im Zusammenhang mit dem SDG 9: „Industrie, Innovation und Infrastruktur“ als auch mit dem SDG 12: „Nachhaltige/r Konsum und Produktion“ erörtert werden. Ob am Thebener Kogel Sandabbau betrieben wurde, konnte nicht recherchiert werden, doch bieten die Landschaftsbilder eine kulturhistorische Folie für Überlegungen rund um den Rohstoff Sand, der auch damals für das Bauen und die Glasherstellung von großer Bedeutung war. Die Darstellung von Schloss Hof – Witwensitz von Kaiserin Maria Theresia – im Hintergrund des einen Gemäldes (Gm1196) erinnert daran, dass nicht zuletzt derart repräsentative Gebäude ohne Sand nicht hätten entstehen können. Sand wurde aber auch als Reinigungsmittel stark nachgefragt, und die sogenannten Sandkrämer, die den Sand abbauten und in den Städten verkauften, gehörten zu den niedrigsten sozialen Schichten.21 Auch hier lassen sich aus den historischen Sachverhalten rund um einen bis heute begehrten Rohstoff die mit seiner Ausbeutung verbundenen sozialen und ökologischen Folgen diskutieren. Ein weiteres ungewöhnliches Objekt verweist auf die SDG 14: „Leben unter Wasser“ oder SDG 12: „Nachhaltige/r Konsum und Produktion“. Es handelt sich um ein bemaltes Walfischschulterblatt aus dem 17. Jahrhundert.22
19 Siehe am Beispiel Schwarzwald: Frenzl, Burkhard/Kempter, Heike: Frühe Umweltverschmutzungen: Die Schwermetallablagerungen in Schwarzwälder Hochmooren, in: Markl, Gregor/Lorenz, Sönke (Hg.): Silber, Kupfer, Kobalt. Bergbau im Schwarzwald, Filderstadt 2004, S. 99–130. 20 GNM: https://objektkatalog.gnm.de/objektkatalog/gm1196 und https://objektkatalog.gnm.de/objektkatalog/gm1340 (27.01.2023). 21 Sallmann, Morinda/Sallmann, Sulamith: Berufe dieser Welt: https://berufe-dieser-welt.de/Sandmann (27.01.2023). 22 GNM: https://objektkatalog.gnm.de/objektkatalog/gm2362 (27.01.2023).
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Walschulterblatt, 2. Drittel 17. Jahrhundert, Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg. Leihgabe der Zoologischen Sammlung, FAU Erlangen. Foto: G. Janßen mit offiziellem Logo SDG 12: „Nachhaltige/r Konsum und Produktion“: https://www.wirsindfarbe.de/ziele-fuer-nachhaltige-entwicklung/downloadbereich#gallery-12.
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Der Knochen gehört zu einem Grönlandwal, und die Darstellung zeigt die Jagd und das Zerlegen von Walen bei Spitzbergen.23 Die Geschichte des Walfangs in Europa dokumentiert besonders eindrücklich die jahrhundertelang wirksamen Folgen eines nicht-nachhaltigen Konsumverhaltens. Walfang wurde schon früh so intensiv betrieben, dass Bestände sich erschöpften und neue Jagdgebiete erschlossen werden mussten. Eine Hochzeit erlebte der Walfang, nachdem englische und niederländische Walfänger zu Beginn des 17. Jahrhunderts damit begannen, im Gebiet um Spitzbergen Jagd auf Grönlandwale zu machen. Die vielfältigen Verwertungsmöglichkeiten des Wals vom Tran bis zu den Barten machten seine Ausbeutung so wichtig für viele Handwerks- und Wirtschaftszweige Europas. Dass u. a. der Bedarf an Barten als Fischbein für die Herstellung von Korsetts und Reifröcken und damit ein modisches Konsumverhalten Motivation für den Walfang war, ist ein überraschender und dadurch eindrucksvoller kulturhistorischer Verweis.24 Neben den Fragen nach globaler Gerechtigkeit und den ökologischen Forderungen sind vor allem Aspekte von Gendergerechtigkeit und insbesondere der Schutz von Frauen und Mädchen sowie von aufgrund ihrer sexuellen Orientierung diskriminierten Gruppen ein wichtiges Anliegen der SDG, speziell des SDG 5: „Geschlechtergerechtigkeit“. Hier bieten die kulturhistorischen Sammlungen viele passende Darstellungen zur historischen Dimension von Geschlechter- und Diskriminierungsfragen. Eine Statuette aus Elfenbein und Nussbaumholz von Simon Troger aus der Zeit um 1750 (Pl.O.2976)25 mit der Darstellung einer Bettlerin mit Kind irritiert durch die Kombination der Darstellung höchsten Elends mit exquisitem Kunsthandwerk und kostbaren Materialien. Es stellt sich die Frage, aus welchen Gründen wohlhabende Auftraggeber und Auftraggeberinnen sich derartige Werke in ihre Kunst- und Wunderkammern stellten. Handelt es sich um eine Form des Voyeurismus oder um soziale Abgrenzung „nach unten“? Auffallend ist, dass die dargestellte Bettlerin nicht nur durch ihre Armut bloßgestellt, sondern durch ihre Nacktheit zusätzlich zum Objekt des mutmaßlich männlichen Betrachterblicks degradiert wird. Warum zeigt sie, deren Gesicht dem einer Greisin ähnelt, aufreizend ihre Brust? Das in vielfältigen Darstellungen transportierte misogyne Geschlechterklischee der hässlichen, lüsternen Alten oder Kupplerin drängt sich auf. Die historische Recherche offenbart weitere mögliche Deutungsansätze. Armut traf im 18. Jahrhundert wie auch heute vor allem Kinder und Frauen, insbesondere
23 Barthelmess, Klaus: Neun bemalte Walschulterblätter und ein beschnitzter Wal-Humerus (Oberarmknochen), in: Deutsches Schifffahrtsarchiv 17 (1994), S. 253–272: https://www.ssoar-dsa-1994barthelmess-Neun_bemalte_Walschulterblatter_und_ein.pdf (27.01.2023). 24 Zu Walfang und Fischbein-Herstellung für Reifröcke siehe: Rasche, Adelheid: Luxus in Seide. Mode des 18. Jahrhunderts (Kulturgeschichtliche Spaziergänge im Germanischen Nationalmuseum), Nürnberg 2018, S. 40 f. 25 GNM: https://objektkatalog.gnm.de/objekt/Pl.O.2976 (29.01.2023).
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unverheiratete oder verwitwete.26 Ihnen blieb häufig nur der Weg in die Bettelei oder die Prostitution – möglicherweise spielt die Statuette mit der entblößten Bettlerin auch darauf an und intendiert damit einen moralisierenden Fingerzeig auf verarmte Frauen. Die in vielen Ländern dieser Welt immer noch äußerst prekären Lebensumstände von Mädchen und Frauen werden in mehreren SDG, z. B. im SDG 1: „Keine Armut,“ als wichtiges Handlungsfeld genannt und bieten einen geeigneten Bezug zu der Statuette. Die SDG fordern Bildung und Chancengleichheit für alle Menschen, unabhängig von Herkunft, Geschlecht oder sexueller Orientierung. Das Selbstbildnis Anna Dorothea Therbuschs (Gm1277) aus dem Jahr 178227 bietet hier inhaltliche Bezüge, da Therbusch als Malerin des 18. Jahrhunderts eindrucksvoll die ihr auferlegten Rollenzuweisungen herausforderte. Ausgebildet im Maleratelier des Vaters – die damals einzige Möglichkeit einer derartigen Berufsausbildung für Mädchen – heiratete sie zunächst und lebte ein zeittypisches Leben als Ehefrau und Mutter. Mit 40 Jahren verließ sie Berlin und reiste nach Aufenthalten in Stuttgart und Mannheim nach Paris, wo sie in die Akademie aufgenommen wurde. Weitere Etappen führten sie nach Wien, wo sie als erste Frau Mitglied der Akademie wurde. Erst nach fast 10 Jahren kehrte sie zurück und führte in Berlin zusammen mit ihrem Bruder eine erfolgreiche Werkstatt. Ihr Selbstporträt als Frau im fortgeschrittenen Alter, mutig ungeschönt mit Einglas und als gebildete Frau mit Buch dargestellt, entstand in ihrem letzten Lebensjahr. Es wird allgemein als außergewöhnliche Selbstbefragung einer Frau gedeutet, die die gesellschaftlichen Grenzen ihrer Zeit erfolgreich überwand – ein Beispiel von Zielstrebigkeit und Mut, das sich als Hintergrundfolie für Gespräche über Geschlechtergerechtigkeit in unserer Gegenwart eignet. Dass es diesbezüglich auch in unseren westlichen Gesellschaften noch immer erhebliche Defizite gibt, belegt die u. a. aktuelle Diskussion um die Rezeption von Anna Dorothea Therbusch. Ihren 300. Geburtstag, ihre geringe Bekanntheit und die verhaltene Resonanz der Museen auf das Jubiläum der Malerin nahmen Aktivistinnen der Initiative fair share zum Anlass, die nach wie vor geringe Quote an Ausstellungen zu Künstlerinnen in deutschen Museen zu kritisieren.28
26 Hippel, Wolfgang von: Armut, Unterschichten, Randgruppen in der frühen Neuzeit, München 1995; Bräuer, Helmut: Kinderbettel und Bettelkinder Mitteleuropas zwischen 1500 und 1800, Leipzig 2010; Valentinitsch, Helfried: Bettlerinnen in Österreich (16.–18. Jahrhundert), in: Gerhard, Ute (Hg.): Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, München 1997, S. 175–184. 27 GNM: https://objektkatalog.gnm.de/objekt/gm1277 (27.01.2023). 28 Malerin Anna Dorothea Therbusch zum 300.: Die Dame mit dem Augenglas: TAZ: https://taz.de/ Malerin-Anna-Dorothea-Therbusch-zum-300/!5785092&s=Die+Dame+mit+dem+Augenglas/ (27.01.2023).
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Anna Dorothea Therbusch: Selbstbildnis, 1782, Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg. Foto: G. Janßen mit offiziellem Logo SDG 5: „Geschlechtergerechtigkeit“, https://www.wirsindfarbe.de/zielefuer-nachhaltige-entwicklung/download-bereich#gallery-5.
Vermittlung durch Visualisierung Zu den oben genannten Objekten recherchierten die Studierenden im Seminar einerseits den wissenschaftlichen Kenntnisstand zum Objekt und dessen kulturhis-
Brücken in die Gegenwart
torischen Kontext. Andererseits arbeiteten sie sich in jeweils eines der SDG ein, welches sie dem Exponat gegenüberstellten. Hieraus entwickelten sie u. a. eine Führung vor dem Objekt und erarbeiteten Konzepte für die Vermittlung an verschiedene Zielgruppen. Es wurde diskutiert, wie die Komplexität jeweils beider Themen – der historischen (Werk)-Zusammenhänge und der SDG – angemessen didaktisch reduziert vermittelt werden könnte. Schließlich arbeiteten die Studierenden mit den Mitteln der Visualisierung gestaltete, leicht verständliche Vermittlungskarten.29 Sie sollten in der kürzesten denkbaren Form die wichtigsten Objektinformationen sowie die zentralen Forderungen eines der SDG enthalten. Die SDG wurden mit den offiziellen Symbolen dargestellt, deren Farbigkeit in der Gestaltung der Karte aufgegriffen wurde. Auf einigen Karten wurde das Objektbild mit einer Darstellung unserer Gegenwart aus dem Kontext des jeweiligen SDG konfrontiert. Diese Kombination wirkt visuell sehr auffällig und macht neugierig auf den Hintergrund der ungewöhnlichen Bildzusammenstellung. So wurde die gemalte Walfangszene auf dem Walschulterblatt einer modernen Fotografie vom heute noch in Japan betriebenen Walfang gegenübergestellt, das Landschaftsgemälde mit dem Sandberg aus dem 18. Jahrhundert stand neben einer Fotografie eines modernen Sandabbaubetriebs. Der Vergleich der überraschenden Bildpaare ergab mitunter verblüffende formale Parallelen zwischen historischem Exponat und zeitgenössischer Fotografie. Neben dem Bild der Erzstufe stand das Foto eines Smartphones, um auf den Ressourcenverbrauch an wertvollen Erzen bei der Herstellung von Mobiltelefonen hinzuweisen. Andere Karten kombinierten die Objektbilder mit einer prägnant hervorgehobenen Zahl, die mit großer Deutlichkeit die Dringlichkeit des jeweiligen SDG vor Augen führt – z. B. die Quote von Künstlerinnen bei weltweiten Kunstauktionen zum Selbstporträt von Anna Dorothea Therbusch oder die Menge an Essen, die jährlich in Deutschland pro Kopf weggeworfen wird, zum Erntebild des Hans Wertinger. Auf der Rückseite der Karten standen sehr kurze Texte zum Objekt und die wichtigsten Stichpunkte zum jeweiligen SDG. Darunter fanden sich jeweils kleine alltagstaugliche Tipps für Nachhaltigkeit, sogenannte „Tu Du’s“ zur Förderung der SDG für alle. Dies entspricht dem Grundsatz der BNE, transformative Bildungsanstöße zur Veränderung des eigenen Handelns im Sinne der Nachhaltigkeit zu geben. Die Vermittlungskarten nutzten die Methodik der Visualisierung effektiv, indem auf unerwartete Weise Inhalte oder Bilder aus Gegenwart und Vergangenheit miteinander kombiniert wurden. Diese positiv wirksame Irritation weckt Neugier und ermuntert dadurch zur Auseinandersetzung mit dem historischen Erbe. Die 29 Siehe zur Visualisierung: Bergedick, Alexandra/Rohr, Dirk/Wegener, Anja: Bilden mit Bildern. Visualisieren in der Weiterbildung, hg. Deutsches Institut für Erwachsenenbildung, Bielefeld 2011; Bluhm: Katharina: Warum lohnt es sich zu visualisieren: https://katharinabluhm.de/warum-lohnt-essich-zu-visualisieren/ (30.01.2023).
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Karten sollten bei Führungen verteilt und zur Erinnerung mit nach Hause genommen werden. Sie könnten theoretisch aber auch ohne Führung als Materialien für Einzelbesuchende ausgegeben werden.
Resümee Die Arbeit im Seminar ergab, dass sich auch in einem kulturhistorischen Museum wie dem Germanischen Nationalmuseum in der Auseinandersetzung mit historischen Objekten sinnvolle Anknüpfungspunkte für Vermittlungsinhalte zur nachhaltigen Entwicklung finden lassen. Es ist ein wertvolles Unterfangen, Zeugnisse vergangener Epochen mit heutigen ökologischen oder sozialen Fragestellungen in Bezug zu setzen und auf Parallelen oder Unterschiede in den jeweiligen Kontexten hinzuweisen. Bei vielen Themen lassen sich Entwicklungen stringent bis in die Vergangenheit zurückverfolgen, wo bestimmte Herausforderungen unserer Gegenwart ihren Anfang nahmen. Vor der Folie eines hochaktuellen Themas aus dem Bereich der nachhaltigen Entwicklung gewinnen prominente wie auch bislang wenig vermittlungsrelevante Exponate eine neue Bedeutung für das zeitgenössische Publikum. Zu den meisten der 17 SDG fanden sich in der Vorbereitung des Seminars passende Objekte aus der Frühen Neuzeit bis zur Aufklärung. Die kulturhistorische Recherche ergab weiterführende Kontexte, die in der kunsthistorischen Forschung zu den Objekten zum Teil eher im Hintergrund standen – wie die Sozialgeschichte zur Armut von Frauen im 18. Jahrhundert am Beispiel der Bettlerin oder die kulturhistorische Bedeutung der Sandgewinnung im 18. Jahrhundert am Beispiel des Landschaftsgemäldes mit Sandberg. Museumspädagogik fordert die multiperspektivische Betrachtung von Exponaten. Eine in vielen Museen noch neuartige Perspektive ist der Gegenwartsbezug zur Nachhaltigkeit und den SDG. Wer ihn wagt, wird durch überraschende neue Betrachtungsmöglichkeiten und frische Blicke auf historische Objekte belohnt, die damit für ein heutiges Publikum an Relevanz gewinnen.
Magdalena Michalak
Mehrsprachige Zugänge zum historischen Lernen
1.
Ausgangslage
Unabhängig von der Schulform zeichnet sich jede Lerngruppe in jedem Fachunterricht durch eine große Heterogenität aus, die u. a. durch vielfältige sprachliche und kulturelle Voraussetzungen der einzelnen Schüler:innen geprägt ist. Die KMKEmpfehlungen1 fordern ausdrücklich, diese verschiedenen Ressourcen in jedem Fachunterricht aufzugreifen und gezielt für die Lehr-Lernprozesse zu nutzen. Dies schließt auch die Mehrsprachigkeit der Lernenden ein. Dementsprechend bilden die individuellen mehrsprachigen Erfahrungen und Sprachkompetenzen den Ausgangspunkt für sprachliche Bildung und Sprachförderung, um daran anknüpfend die bildungssprachlichen Kompetenzen der Lernenden in der deutschen Sprache zu stärken und die Zielgruppe systematisch an die Fachsprache(n) heranzuführen.2 Die mehrsprachigen und den Begegnungen mit unterschiedlichen Kulturen zu verdankenden differierenden Voraussetzungen der Schüler:innen können aber zugleich für einen plurikulturellen Zugang genutzt werden und bieten damit ein Potenzial für fachliches Lernen. Dies gilt für alle Unterrichtsfächer, ist aber insbesondere für die Auseinandersetzung mit historischen Sachverhalten gewinnbringend (siehe Multiperspektivität – Kontroversität – Pluralität3 ). Zudem zeigen Studien mit Blick auf neuzugewanderte Schüler:innen, dass die fachspezifische Herangehensweise kulturell bedingt ist und sich in der sprachlichen Realisierung abbildet (siehe am Beispiel mathematischer Operationen4 ). Die Zugänge unterscheiden sich von den in den deutschsprachigen Schulen etablierten Vorgehensweisen und
1 Kultusministerkonferenz (KMK): Bildungssprachliche Kompetenzen in der deutschen Sprache stärken, 2019, S. 5 und S. 7: https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/veroeffentlichungen_beschluesse/ 2019/2019_12_05-Beschluss-Bildungssprachl-Kompetenzen.pdf (21.10.2022). 2 Ebd. 3 Bergmann, Klaus: Multiperspektivität, in: Mayer, Ulrich/Pandel, Hans-Jürgen/Schneider, Gerhard (Hg.): Handbuch Methoden im Geschichtsunterricht, Schwalbach 5 2016, S. 65–77, hier S. 65 f. 4 Schüler-Meyer, Alexander/Prediger, Susanne/Wagner, Jonas/Weinert, Henrike: Bedingungen für zweisprachige Lernangebote – videobasierte Analysen zu Nutzung und Wirksamkeit einer Förderung zu Brüchen, in: Psychologie in Erziehung und Unterricht 66 (2019), S. 161–175.
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erfordern das Bewusstsein der Lehrkräfte hierfür sowie die Einbindung angemessener, differenzierter bzw. differenzierender Erarbeitungsformen.5 Strebt man das Ziel an, die mehrsprachigen und plurikulturellen Erfahrungen sowie Sprachkenntnisse aller Schüler:innen als Ressourcen in LehrLernprozessen im Fachunterricht aktiv und möglichst systematisch einzubinden, sind didaktische Konzepte notwendig, die an die fachlichen Inhalte und die fachspezifische Denk- und Arbeitsweise anknüpfen.6 Derartige Angebote, wie z. B. der Language Awareness-Ansatz7 oder die Sprachmittlung8 , liegen für den (Fremd-)Sprach(en)unterricht und das sprachliche Lernen vor. Konzepte, die eine gezielte Nutzung des gesamten Sprachrepertoires und der kulturellen Einsichten von mehrsprachigen Lernenden im Fachunterricht bieten, sind bislang allerdings rar. Das Angebot von Aufgabenstellungen bzw. Anregungen für die Berücksichtigung der migrationsbedingten Sprachen- und Kulturenvielfalt in Lehrmaterialien und Lehrwerken scheint – obwohl diese für die Unterrichtsplanung und -ausgestaltung richtunggebend sind – bislang unbefriedigend zu sein.9 Der vorliegende Beitrag greift diese Thematik aus der Perspektive des Deutschen als Zweitsprache und des sprachbewussten Fachunterrichts auf. Im Mittelpunkt der Betrachtung stehen zuerst mehrsprachige Lernende und ihre Kompetenzen. Anknüpfend an die oben formulierten Anforderungen und Desiderata wird anschließend ein didaktisches Modell nach Budde und Michalak10 vorgestellt, das die Einbindung von mehrsprachigen Potenzialen der Lernenden bei der Gestaltung von Fachunterricht ermöglicht. Das Modell systematisiert Lernsituationen, in denen die Lernenden sowohl fachbezogene und fachsprachliche Kenntnisse aktivieren als auch ihre mehrsprachigen Fähigkeiten heranziehen müssen, um Bedeutungen aus-
5 Redder, Angelika: Sprachlich-mentale Fachkonzepte als interkulturelle Herausforderung – zum Beispiel Arabisch und Türkisch relativ zum Deutschen, in: Der Deutschunterricht 71, H. 3 (2019), S. 86–94, hier S. 86 f. 6 Feigenspan, Katja/Michalak, Magdalena: Subject first – why linguistically sensitive teaching should always start from the subject, in: Gierlinger, Erwin/Döll, Marion (Hg.): TALK for CLIL in a plurilingual classroom: Teachers’ awareness of language knowledge in secondary education, Münster 2023, p. 69–90. 7 Hawkins, Eric: Awareness of Language. An Introduction, Cambridge 1984. 8 Caspari, Daniela/Schinschke, Andrea: Sprachmittlung: Überlegungen zur Förderung einer komplexen Kompetenz, in: Fremdsprachen lehren und lernen 41, H. 1 (2012), S. 40–53. 9 Schulte, Brigitte: Diversität und Migration im Spiegel aktueller Deutschlehrwerke, in: Michalak, Magdalena/Döll, Marion (Hg.): Lehrwerke und Lehrmaterialien im Kontext des Deutschen als Zweitsprache und der sprachlichen Bildung, Münster 2021, S. 143–162; Niehaus, Inga/Hoppe, Rosa/Otto, Marcus: Schulbuchstudie Migration und Integration, Berlin 2015: https://www.uni-hildesheim.de/ media/zbi/Schulbuchstudie_Migration_und_Integration_09_03_2015.pdf (10.01.2023). 10 Budde, Monika Angela/Michalak, Magdalena: Einführung in die Didaktik des Deutschen als Zweitsprache, Stuttgart 2023 (im Druck).
Mehrsprachige Zugänge zum historischen Lernen
zuhandeln und zu Erkenntnissen zu gelangen. Exemplarisch wird die Umsetzung dieses Konzeptes anhand von Lernarrangements vorgestellt, die im Rahmen des Projektes „Mehrsprachige Zugänge zur Geschichte“ an der Friedrich-AlexanderUniversität Erlangen-Nürnberg entstanden sind.
2.
Mehrsprachige Lernende und ihre Kompetenzen
Mehrsprachige und plurikulturelle Kompetenzen umfassen die Fähigkeit, alle vorhandenen sprachlichen und kulturellen Ressourcen in zweck- und zielbezogenen Kommunikationssituationen zu nutzen.11 Die Sprache(n) – auch Dialekte und Soziolekte – kann/können ohne die kulturelle Umgebung, in die sie eingebettet ist/ sind, nicht betrachtet werden.12 Der Vergleich der kulturellen Auffassungen erlaubt das Durchdringen der Denkweise, die die Auswahl der sprachlichen Mitteln beeinflusst, und trägt zur Entwicklung des Verständnisses für kulturell geprägtes Handeln bei. So schließt die Mehrsprachigkeit die mehrkulturellen Wissensbestände ein. Das sprachliche Spektrum der Lernenden umfasst sowohl die unterschiedlichsten Erstsprachen und ihre dialektalen Formen als auch die institutionell angeeigneten Fremdsprachen und ihre Verwendung. Hinzu kommen noch weitere individuelle Voraussetzungen: heterogene schulbezogene Kenntnisse aus vorangegangenen Schulerfahrungen, unterschiedliche Lerntraditionen, interkulturelle Kompetenzen durch das Leben in zwei und mehreren Sprachen und verschiedene literale Erfahrungen. Mehrsprachige Schüler:innen können in Deutschland geboren sein, können aber in einem anderssprachigen Familienzusammenhang aufwachsen, der wiederum aus einer oder mehreren Sprachen und Kulturen bestehen kann. Weiterhin kann es sich um Mehrsprachige handeln, die nicht in Deutschland geboren sind und erst seit kurzer Zeit hier wohnen. Sie haben Leben, Kulturbezüge und schulischen Unterricht in einem anderen Land, einer anderen Kultur erfahren. In den verschiedenen Ländern werden die zu erlernenden Inhalte und die zu erwerbenden Kompetenzen kultur- oder ländergebunden festgelegt. Lernkulturen des westlichen Europas betrachten z. B. das Weltgeschehen, eine Weltkarte und politische Ereignisse aus einer ganz anderen Perspektive als etwa in Ägypten, einem Land mit ausgeprägter Bildungskultur, anderer Geschichte oder anderen Werten, anderem Wissen und anderem Kulturgut.13 Andere Mehrsprachige wiederum sind
11 Neuland, Eva/Peschel, Corinna: Mehrsprachigkeit und Deutschunterricht, in: Der Deutschunterricht 6 (2016), S. 2–7, hier S. 2; Trim, John u. a.: Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für Sprachen. Lernen, lehren, beurteilen, Berlin 2001, S. 163. 12 Roche, Jörg: Mehrsprachigkeitstheorie. Erwerb – Kognition – Transkulturation – Ökologie, Tübingen 2013, S. 160. 13 Schulte: Diversität, S. 153–158.
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mehrere Jahre auf der Flucht und in unterschiedlichen Ländern unterwegs gewesen, haben vielleicht auf diesem Wege am Schulunterricht teilgenommen und/oder mehrere Sprachen zum Überleben sprechen gelernt.14 Sie verfügen eventuell nicht über kulturelles Wissen über Deutschland, aber ganz sicher haben sie auf ihrem Weg interkulturelle Kompetenzen erworben15 und verfügen über Fähigkeiten in der Sprachmittlung. Einzelne dieser individuellen Voraussetzungen werden für den Unterricht didaktisch genutzt. Hierzu liegen punktuell mehrsprachigkeitsorientierte Unterrichtsvorschläge vor, die meist jedoch einen Projektcharakter haben.16 Derartige Vorschläge wie beispielsweise Sprachvergleiche, Nutzung von gewohnten Lesestrategien oder themenbezogene Recherchen in den Erstsprachen greifen die in den Lerngruppen vorhandenen Sprachen insbesondere als Gegenstand des Sprachunterrichts auf. Das strategiebezogene Potenzial der Lernenden kann auf das fachliche Lernen transferiert werden. Forschungen belegen jedoch, dass dieser Transfer nicht automatisch erfolgt,17 sondern durch explizite Instruktionen bzw. Aufgabenstellungen angeregt werden muss.18 Die vielfältigen Lernvoraussetzungen setzen zudem voraus, den Lernraum für vorhandene kulturgeprägte Lerntraditionen, Sicht- und Denkweisen und für die damit zusammenhängenden Kompetenzen der mehrsprachigen Schüler:innen zu öffnen. Dies erfordert weiterhin, dass unterschiedliche Kulturbezüge wahrgenommen, thematisiert und eingebunden werden, zum Beispiel durch Gelegenheiten, das eigene Wissen und die eigenen Sichtweisen auf gesellschaftlich-historische Themen (Weltkriege, Industrialisierung etc.), einzubringen oder über areligiöse und religiöse Weltanschauungen zu reflektieren und damit zusammenhängende Lebens- und Zukunftsvorstellungen zu diskutieren.
14 Dirim, İnci/Müller, Astrid: Sprachliche Heterogenität – Deutsch lernen in mehrsprachigen Lernkontexten., in: Praxis Deutsch 202 (2007), S. 6–15, hier S. 7–10. 15 Hu, Adelheid: Plurilinguale Identitäten? Entwicklungen in der Theoriebildung und empirische Forschungsergebnisse zur Mehrsprachigkeit an Schulen, in: Language Education and Multilingualism 66, H. 1 (2018), S. 66–84. 16 Zum Überblick aktueller didaktischen Konzepte siehe Budde, Monika Angela: Translanguaging im Deutschunterricht. Didaktische Grundlegung eines Modells für den Unterricht in mehrsprachigen Lerngruppen, in: Der Deutschunterricht 3 (2019), S. 17–31. 17 Budde, Monika: Mehrsprachige Potentiale von SeiteneinsteigerInnen wahrnehmen und nutzen. Das Projekt LAWA, in: Allgäuer-Hackl, Elisabeth u. a. (Hg.): Mehr Sprachen – PlurCur! Berichte aus Forschung und Praxis zu Gesamtsprachencurricula, Baltmannsweiler 2015, S. 137–169, hier S. 140–160. 18 Rubin, Joan/Uhl Chamot, Anna/Harris, Vee/Anderson, Neil: Intervening in the use of strategies, in: Macaro, Ernesto/Cohen, Andrew (Hg.): Language learner strategies: 30 years of research and practice, Oxford 2007, p. 141–160, hier 156.
Mehrsprachige Zugänge zum historischen Lernen
3.
Modell zur Mobilisierung von mehrsprachigen Ressourcen für das fachliche Lernen
Vor diesem Hintergrund wurde ein Modell zur mehrsprachigkeitsorientierten Gestaltung von Fachunterricht entwickelt.19 Es bietet den Lehrkräften eine Orientierung für eine lernerorientierte Unterrichtsplanung sowie für die Auswahl bzw. Ausarbeitung von fachspezifischen Aufgaben/Lernsituationen, die die vorhandenen vielschichtigen, kulturell geprägten Ressourcen von mehrsprachigen Schüler:innen für das fachliche Lernen mobilisieren und gezielt aufgreifen. Der Fokus liegt auf dem fachlichen Kompetenzerwerb und auf der fachspezifischen Herangehensweise. Das Modell zur Mobilisierung von mehrsprachigen Ressourcen für das fachliche Lernen berücksichtigt einerseits die für die Entwicklung von Kompetenzen benötigten und aktivierten sprachlichen, lern- und kulturbezogenen Potenziale, andererseits die lernerbezogenen Faktoren des multiplen Sprachenerwerbs. Es knüpft an den Referenzrahmen für plurale Ansätze20 an, der Mehrsprachigkeit in drei Dimensionen modelliert: deklaratives Wissen (savoir), prozedurales Wissen (savoirfaire) und persönlichkeitsbezogenes Wissen (savoir-être). Weiterhin schließt es die Erweiterung der Dimensionen um die Sprachlernbewusstheit (savoir-apprendre) im Sinne von Martinez21 ein. Die vier genannten Dimensionen werden über das fremdsprachliche Lernen hinaus auf den Unterricht der anderen Fächer und ihre fachspezifischen Herangehensweisen übertragen.22 Das Modell sieht vor, dass fachliches mit sprachlichem Lernen verbunden wird. Auf dessen Grundlage können Lehrkräfte fachspezifische Aufgaben bzw. Lernsituationen gestalten, die beim interaktiven Lernen auf verschiedenen Ebenen die aktive Auseinandersetzung mit fachlichen Themen anregen und Angebote schaffen, die Kompetenzentwicklung unter Einbezug vorhandener Ressourcen zu steuern und zu optimieren. Dadurch wird den Lernenden Raum und Transparenz gegeben, die für bestimmte Ziele des fachlichen und sprachlichen Lernens im Fach erforderlichen Verfahren, Kenntnisse und Wissensbereiche eigenständig aufzubauen. Damit dies gelingen kann, sind die Lernenden gefordert, nicht nur die Bestände des Wissens und Könnens und der Haltungen aufzurufen, sondern sich ihrer eigenen Fähigkeiten, Möglichkeiten und Strategien bewusst zu werden, um auf diese Kompetenzen zugreifen zu können.
19 Budde/Michalak: Einführung. 20 Candelier, Michel u. a.: Referenzrahmen für Plurale Ansätze zu Sprachen und Kulturen (REPA). Graz: CELV/Strasbourg: Europarat 2009.: https://carap.ecml.at/Portals/11/documents/RePA_Version3_ DE_08062010.pdf?ver=2010-07-16-180914-770 (10.01.2023). 21 Martinez, Hélène: From Standards to Tasks and vice versa. Challenges in foreign language teaching and learning, in: Fremdsprachen Lehren und Lernen 42 (2013), S. 99–114. 22 Budde/Michalak: Einführung.
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Das Modell zur Mobilisierung von mehrsprachigen Ressourcen für das fachliche Lernen nach Budde/ Michalak.
Im Folgenden werden die einzelnen Dimensionen ausdifferenziert (vgl. Tabelle), in der tatsächlichen Realisierung greifen sie in Lernprozessen jedoch ineinander (Kap. 4). 3.1
Dimension Wissen (savoir)
Die Dimension Wissen (savoir) umfasst sprachliches und kulturbezogenes Wissen und bezieht sich auf das Wissen über verschiedene Themen und Inhalte im jeweiligen Fach. Für das Fach Geschichte kann es beispielsweise fachliches Wissen über Ereignisse und ihre historische Einordnung auf der Zeitleiste sein, die in einem vergleichbaren zeitlichen Rahmen zu den im Unterricht analysierten Geschehnissen
Mehrsprachige Zugänge zum historischen Lernen
z. B. auf den Gebieten der Herkunftsländer der Lernenden stattfanden. Dies umfasst auch multiperspektivische Betrachtungen historischer Ereignisse (z. B. Blick auf den Dreißigjährigen Krieg aus der deutschen oder polnischen Perspektive oder auf Migrationsbewegungen zu unterschiedlichen Zeitpunkten). Durch konkrete Aufgabenstellungen kann das vorhandene Wissen z. B. über das alltägliche Leben, bestimmte Berufe, verwendete Gegenstände früher und heute vor Ort und in den Herkunftsländern aufgerufen werden. Das Wissen über inter- und intralinguale Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Sprachen bzw. Sprachgebrauch in verschiedenen Kommunikationssituationen und im fachspezifischen Kontext kann beispielsweise bei der Analyse der Gesellschaftsordnung in verschiedenen Epochen aktiviert werden, da durch den Wechsel zwischen den Registern die sozialen Rollen markiert werden. Die Betrachtung der situationsadäquaten Sprachverwendung erlaubt Rückschlüsse auf kulturelle Gepflogenheiten früher und heute. 3.2
Dimension Sprachliches Handeln (savoir-faire)
Die Dimension Sprachliches Handeln umfasst sprachliche Handlungsfähigkeiten im fachlichen Kontext. Dies schließt Situationen ein, in denen eine andere (Herkunfts-)Sprache dazu genutzt wird, Inhalte zu erschließen, Arbeitsprozesse zu koordinieren oder die Denk- und Herangehensweisen in einer vertrauten Sprache oder -tradition einzubeziehen (siehe funktionale Anwendung der Erstund Zielsprache als Denk- und Arbeitssprache).23 Geeignete Aufgaben in dieser Dimension regen also an, kollaborative Aushandlungsprozesse zu gestalten, vertraute Texterschließungs- oder Textproduktionsfähigkeiten für spezifische Fachund Sachtexte einzusetzen, aber auch Situationen der mehr- oder anderssprachigen Umgebung zu bewältigen. Digital verfügbare Dokumente in den vorhandenen Sprachen können erarbeitet und zusammengetragen werden. Eltern oder Verwandte, die in den Herkunftsländern wohnen, liefern ebenso ergiebige Informationen bzw. können als Zeitzeug:innen zu bestimmten historischen Themen befragt werden und diese aus unterschiedlichen – kulturell bedingten – Perspektiven beleuchten. Mind- oder Concept-Maps können in verschiedenen Sprachen verfasst werden, wenn dies dazu dient, das eigene Wissen zu sortieren, zu verarbeiten, zu konservieren und so aufzubereiten, dass anhand dessen Narrationen in der Unterrichtssprache Deutsch verfasst werden.
23 Grießhaber, Wilhelm/Özel, Bilge/Rehbein, Jochen: Aspekte von Arbeits- und Denksprache türkischer Schüler, in: Unterrichtswissenschaft 24, H. 1 (1996), S. 3–20.
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3.3
Dimension Einstellungen und Haltungen (savoir-être)
Die Dimension Einstellungen und Haltungen (savoir-être) umfasst u. a. die Einstellungen, Haltungen und Motivation, sich in eine Lernsituation zu begeben, in der die eigenen (mehr)sprachlichen Ressourcen aktiviert werden bzw. die der anderen zur Bewältigung eines Problems bzw. einer Aufgabe herangezogen werden. Dies erfordert Anregungen und Aufgabenstellungen, die Flexibilität und Offenheit gegenüber den anderen Lernenden benötigen, hervorrufen oder erzeugen, die Interesse an ihnen als Personen mit weiteren/anderen Wissensbeständen wecken und insgesamt Neugier auf Sprachen und Kulturen erregen. Motivierende Gelegenheiten zur Auseinandersetzung mit Sprachen und Kulturen können zu einer die Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität der Lerngruppe wertschätzenden Lernatmosphäre beitragen. Im Sinne des interkulturellen Lernens kann so Bereitschaft unterstützt werden, auf den Perspektivwechsel und auf Identifikationsangebote anderer einzugehen oder eigene Identifikationsangebote anzubieten. 3.4
Dimension Sprachlernbewusstheit (savoir-apprendre)
Die Dimension Sprachlernbewusstheit bzw. die Bewusstheit über die eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten und über den Einsatz von Strategien liegt quer zu den anderen Bereichen, d. h. sie wird in den drei anderen Dimensionen wirksam. Hierfür sind Lernarrangements zu empfehlen, die das Aktivieren und Anwenden von eigenen Kommunikations-, Erschließungs- und Schreibstrategien ermöglichen und den Austausch und die kritische Reflexion ihres Nutzens mit anderen Lernenden vorsehen. Aufgaben können so formuliert sein, dass sie individuelle Zugangsweisen zu den eigenen Wissensbeständen anregen. Sie können Gelegenheiten bieten, durch sprachmittelnde Aktivitäten zu einem fachlichen Austausch zu kommen, die eigenen Lernaktivitäten kritisch zu reflektieren und sich gegenseitig im Lernfortschritt zu unterstützen.
4.
Konkrete Umsetzung: Mehrsprachige Zugänge zur Geschichte
Wie das Modell in der Praxis als Grundlage für die Erarbeitung geeigneter Lernaufgaben genutzt werden kann, wird am Beispiel der 2018 im Rahmen des kooperativen Seminars der Geschichtsdidaktik (Dr. G. Büchert) und der Didaktik des Deutschen als Zweitsprache (Prof. Dr. M. Michalak) an der FAU „Mehrsprachige Zugänge zur Geschichte“ entwickelten Aufgaben vorgestellt. Die Beispiele sind lediglich als Anregungen für die Erarbeitung von Lernsituationen zu verstehen, die an die verschiedenen und sprachlichen Voraussetzungen der Zielgruppe sowie an die curricularen Vorgaben angepasst werden müssen. Die Lernarrangements wurden
Mehrsprachige Zugänge zum historischen Lernen
1 Sprachliches und kulturbezogenes Wissen über
•
•
•
•
2 Sprachliches Handeln
verschiedene • Themen hinsichtlich unterschiedlicher • kulturbezogener Perspektiven inter- und intralinguale Gemein- • samkeiten und Unterschiede von Sprachen und ihrem Gebrauch in verschiedenen Kommunikationssituationen und im fachspezifischen Kontext Vielfalt der Gesellschaft, Mehrsprachigkeit und Migration andere Kulturen und die Verschiedenartigkeit ihrer Ausprägungen
3 Einstellung und Haltung
Bewältigung von • Begegnungssituationen Umgang mit mehrkulturellen Kommunikations- • situationen Aushandeln in kollaborativen Aushandlungsprozessen • •
4 Sprachlernbewusstheit; d. h.: Wissen über/ Anwenden von/ Reflexion über
Flexibilität, Offen- • heit, Interesse und Neugier auf Sprachen und Kulturen • Motivation zur Auseinandersetzung mit Sprachen und Kulturen Perspektivwechsel • Unterbreitung von Identifikationsangeboten • •
verschiedene Zugangsweisen zu Sprachen und Kulturen sprachliches Handeln in verschiedenen Kulturen und deren kulturgeprägte Spezifik/ mehrsprachige Sprachmittlung Kommunikations-, Erschließungsund Schreibstrategien Eigene Fähigkeiten Strategien und deren individueller, das Lernen unterstützender Einsatz
ausgehend von der fachspezifischen Denk- und Arbeitsweise für die Arbeit mit sprachlich heterogenen Lerngruppen am Lernort Museum geplant. Die gewählten Schritte entsprechen der fachspezifischen Vorgehensweise: von der Wahrnehmung als erste Annäherung an das Objekt, über die Erschließung (d. h. Klärung der Entstehung, Herstellung und Verwendung der Objekte) und das Erkennen (d. h. Einordnung in den historischen Kontext) der Sachquelle hin zum Dokumentieren der Untersuchungsergebnisse.24 Die entwickelten Materialien beziehen sich auf Ausstellungsräume und ausgewählte Exponate des Germanischen Nationalmuseums in Nürnberg. 4.1
Beispiel 1: Annäherung an Objekte
Das Ziel dieser Lernarrangements ist es, die Prinzipien der Komposition von ausgestellten Objekten in dem ausgewählten Raum zu erkennen. Es handelt sich dabei um den Ausstellungsraum im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg zur
24 Heese, Thorsten: Vergangenheit „begreifen“: Die gegenständliche Quelle im Geschichtsunterricht, Schwalbach/Ts. 2007, hier S. 88–90.
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europäischen Kunst und der Sammelleidenschaft in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts.25 In einem ersten Schritt betrachten die Lernenden den Saal genauer und entdecken die Details der Sammlung. Sie werden explizit dazu aufgefordert, sich in dem Raum umzuschauen und in Gruppenarbeit fünf zum Raum passende Bezeichnungen auszuwählen. Für diese Aufgabe erhalten die Lernenden auf einzelnen Zetteln 20 Begriffe in verschiedenen Sprachen, ohne ihre Entsprechungen im Deutschen. Allerdings beschreiben ausschließlich sieben Bezeichnungen davon die Merkmale der Ausstellung: idealny zbiór sztuki (ideale Kunstsammlung), accrocher rapprochées (dicht nebeneinander hängen), simetrično razporejene (symmetrisch anordnen), μυθολογικές σκηνές (mythologische Szenen), пространственная иллюзия (räumliche Illusion), vicino alla natura (Naturnähe), postura artificial (artifizielle Körperhaltung). Die anderen Begriffe in je einer anderen Sprache haben keinen Bezug zu den Objekten in dem Ausstellungsraum und stammen aus dem Alltag, wie schmackhafter Tee, dunkles Brot oder Apfelschorle etc. Auf diese Weise werden die Lernenden dazu motiviert, in erster Linie die historischen Objekte genauer zu betrachten und so nach Merkmalen der Ausstellung zu suchen, dabei aber nicht nur an die Exponate offen heranzugehen, sondern auch die eigene Offenheit für sprachliche und kulturelle Zugänge bewusst zu nutzen. Durch den Lernort ist eine thematische Orientierung vorgegeben, die gleichzeitig jedoch ein interessensorientiertes Lernen ermöglicht, da die Zielgruppe sich am Lernort bewegt, sich jedoch der Aufgabenstellung durch ihr eigenes Interesse und auch assoziatives Vorgehen geleitet nähern kann. Die Aufforderung zur Begründung der eigenen Auswahl der zutreffenden Bezeichnungen eröffnet den Raum für kommunikative Aushandlungsprozesse und eine differenzierte Auseinandersetzung mit verschiedenen Kulturen – einerseits durch die verschiedenen Sprachen, andererseits durch die hergestellten Bezüge zu verschiedenen Kulturen in Objekten und auch durch die Interpretation der Lernenden. In Gruppenarbeit formulieren die Lernenden Vermutungen zur Herkunft und Einordnung der Kunstobjekte und suchen nach verbindenden Elementen. Sie leiten die Bedeutung der Bezeichnungen von den ihnen bekannten Sprachen ab und nutzen dabei auch ihr allgemeines Wissen. So argumentiert beispielsweise ein Teilnehmer, dass die Bezeichnung mit den chinesischen Schriftzeichen zu dem Bild passt, auf dem Seide abgebildet wird, da Seide in China produziert wurde. In Gruppen wird ausgehandelt, inwiefern sich diese Perspektive möglicherweise auch auf andere Objekte im Saal bezieht.
25 Großmann, Ulrich: Germanisches Nationalmuseum – Führer durch die Sammlungen, Nürnberg 2012, hier S. 104 f.
Mehrsprachige Zugänge zum historischen Lernen
Die darauffolgende Aufgabe regt die Lernenden dazu an, fünf Motive bzw. dargestellte Elemente aus fünf verschiedenen Ländern zu identifizieren, die in und durch die Objekte in dem Ausstellungsraum vorhanden sind und diese schriftlich festzuhalten. In einem nächsten Schritt werden die Lernenden dazu aufgefordert, sich die Herkunftsländer der meisten Objekte bzw. Motive in dem Saal zu überlegen und den Grund für ihre Einordnung zu reflektieren. Dadurch rücken erneut die Inhalte in den Mittelpunkt, um typische Merkmale des Manierismus und der Barockzeit anhand der Gemälde und Skulpturen in diesem Raum zu eruieren. So können die Teilnehmenden bei der Bestimmung der Herkunft von festgelegten Elementen an ihre plurikulturellen Erfahrungen sowie an ihr Vorwissen anknüpfen und ihre Vermutung über Bezüge zu verschiedenen Ländern und Kulturen formulieren. Ihre Begründungen eröffnen Möglichkeiten für weitere Diskussionen. Das entdeckende Lernen schafft Raum für problemlösendes Denken und Handeln im Sinne eines offenen Lernsettings und eines handlungsorientierten Geschichtsunterrichts. Im Plenum werden die Ergebnisse präsentiert, gemeinsam diskutiert und vor dem historischen Hintergrund beleuchtet. 4.2
Beispiel 2: Erschließung der Objekte
In Kleingruppenarbeit setzen sich die Lernenden mit fachspezifischen Textformen, also kurzen Katalog- bzw. Objekttexten, auseinander, denen sie Informationen über Museumsobjekte entnehmen können. Jede Gruppe erhält einen Text jeweils zu einem anderen Objekt. Allerdings wurden die Texte in verschiedenen Sprachen (z. B. Italienisch, Polnisch oder Türkisch), die an die Mehrsprachigkeit der Lernenden anknüpfen, oder sprachlichen Varietäten, d. h. Dialekten des Deutschen, denen die Teilnehmenden im Alltag begegnen (z. B. Fränkisch), verfasst. Die Herausforderung für die Schüler:innen besteht darin, den jeweiligen Text ohne Hilfsmittel zu erschließen und einem Objekt in dem Ausstellungsraum zuzuordnen. Dies setzt eine intensive Auseinandersetzung mit verschiedenen Objekten und zugleich das kooperative Aushandeln der Inhalte voraus. Eine Unterstützung bietet die Aufgabenstellung, die das Zusammenspiel von Top-down (Einbringen von Wissen und Erwartungen) und Bottom-up-Verarbeitungsprozessen (Informationsentnahme aus dem Text, Analyse der sprachlichen Strukturen) in den verschiedenen Phasen der Lektüre berücksichtigt. Zunächst werden die Lernenden dazu angeleitet, die Textsorte und das Thema des Textes zu erkennen und so eigene Erwartungen an die Inhalte zu formulieren. Anschließend werden sie dazu aufgefordert, Elemente zu identifizieren und schriftlich festzuhalten, welche ihnen das Textverstehen erleichtern. Hierbei kann der inter- und intralinguale Transfer genutzt werden. Die Reflexion über die Herkunft der Wörter, die Entdeckung von Internationalismen, die Untersuchung der Rolle von einzelnen Wortgruppen im Satz, die Nutzung des Kontextes eines Wortes zur Entschlüsselung seiner Bedeutung und schließlich der
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Vergleich mit den Objekten helfen den Text zu verstehen. Zusammenhänge werden in immer größer werdenden Einheiten erfasst: vom Wort zum Satz zum Text. Nach dieser schrittweise angeleiteten Analyse wird der Versuch unternommen, WFragen zu dem Text (Wer? Mit wem? Wo? Wann? Was? Warum?) in der Zielsprache Deutsch zu beantworten und anschließend das beschriebene Objekt im Saal zu entdecken. Somit begeben sich die Schüler:innen orientiert an dem Verstandenem auf die Suche nach dem dazu passenden Objekt im Ausstellungsraum. Anschließend stellen die Gruppen das Ergebnis ihrer Arbeit im Plenum vor und besprechen die Vor- und Nachteile ihrer Vorgehensweise. Auf diese Weise werden zum einen verschiedene Objekte fachlich beschrieben, erschlossen und historisch eingeordnet. Zum anderen werden die angewandten Strategien gemeinsam reflektiert. 4.3
Beispiel 3: Analyse der Objekte
Analysiert wird das Gemälde „Gesellschaftsstück“ (1663) von Pieter de Hooch. Durch die Betrachtung des Gemäldes, das den Flirt zwischen einer jungen Frau und einem Offizier darstellt, wird ein Perspektivwechsel angeregt. Zugleich spielen die Mehrsprachigkeit und der damit verbundene Wechsel zwischen Registern bezogen auf die damalige und heutige Sprachverwendung in der dargestellten Kommunikationssituation eine entscheidende Rolle für die intensive Auseinandersetzung mit dem Objekt. Nach der Beschreibung des Gemäldes erhalten die Lernenden folgende Aufgabe: Wenn die Frau und der Mann im Vordergrund heute leben würden, würden sie vielleicht folgendermaßen miteinander sprechen: Sie: „Hey du Süßer, was machst du denn heute? Lust auf Kaffee?“ Er: „Bei dir oder bei mir?“ Wie war es zur damaligen Zeit? Schreibt einen Dialog zwischen den beiden Personen. Die Aufgabe initiiert die Reflexion über und den Vergleich von den kulturellen und gesellschaftlichen Gepflogenheiten der entsprechenden Epochen (z. B. Anredeformen, sprachliches Handeln in der gegebenen historischen Männer- und Frauen-Rolle) und bietet zugleich die Möglichkeit, Bezüge zu kulturell geprägtem Rollenverständnis von Frau und Mann in der heutigen Zeit herzustellen. Reflektiert wird auch der gendertypische Sprachgebrauch, der an die sozialen Rollen gekoppelt ist. Für die Bewältigung dieser Aufgabe müssen die Lernenden den Flirt zuerst entdecken und die für die damalige Zeit ungewöhnliche Situation interpretieren, bevor sie die Figuren sprachlich handeln lassen. Damit folgt man hier der fachlich historischen Vorgehensweise, wofür sprachliche Zugänge geschaffen werden, indem die dargestellte Bekleidung, die Gestik und Mimik der Protagonisten, die
Mehrsprachige Zugänge zum historischen Lernen
Gesellschaftsstück, Gemälde: Pieter de Hooch (1629–1684), um 1663. GNM Gm406, Foto: Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg. Leihgabe der Museen der Stadt Nürnberg, Kunstsammlungen. Foto: Dirk Meßberger.
typische Ausstattung des Raums sowie die Anwesenheit des Mannes am Fenster und der Frau im Nebenraum bewusstgemacht werden. Erst nach dieser sprachlichen Aktivierung werden die Dialoge in Gruppenarbeit verfasst und anschließend präsentiert. Dies kann eine Diskussion über die vorliegenden kulturell bedingten Ansichten in der Gesellschaft anregen. Durch diese Öffnung für mehrsprachige Zugänge kann die Genderthematik nicht nur gesellschaftlich, sondern auch interkulturell beleuchtet werden. Durch die Anschlusskommunikation wird eine Diskussion über das Gesellschaftsbild im Hinblick auf die Geschlechterrolle sowohl im Zielland als auch in anderen Ländern angebahnt.
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Fazit Mit dem oben vorgestellten Modell nach Budde und Michalak26 liegt ein Vorschlag vor, die bisherigen Konzepte zur Berücksichtigung und Wahrnehmung der sprachlichen Vielfalt im Klassenzimmer um die Dimension des fachlichen Lernens unter mehrsprachigen Voraussetzungen zu erweitern. Damit wird ein Planungsgerüst zur Verfügung gestellt, das eine kontinuierliche Gestaltung des Fachunterrichts unter den Bedingungen der Mehrsprachigkeit vorsieht. Dieser Zugang erfordert die Wahrnehmung, Akzeptanz und Wertschätzung aller vorhandenen (auch sprachlichen und kulturbezogenen) Fähigkeiten und Möglichkeiten. Wie die individuellen mehrsprachigen und plurikulturellen Potenziale in den unterschiedlichen Dimensionen mobilisiert werden können, wurde an beispielhaften Aufgaben aufgezeigt. Die entwickelten Lernsituationen können nicht immer gleichwertig alle Dimensionen zur Aktivierung vorhandener Ressourcen berücksichtigen, wichtig ist jedoch zu bedenken, dass die Beschränkung auf nur eine Dimension zum Kompetenzerwerb im Fach nicht ausreichend ist.
26 Budde/Michalak: Einführung.
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Die Uni ins Archiv und das Archiv in die Uni bringen Archive als Chance für die Vermittlung Historischer Hilfswissenschaften in akademischer Lehre und Forschung
1.
Einleitung
Lange Zeit war der deutschsprachige Raum ein Hort der Erforschung mittelalterlicher Quellen, die in der Entwicklung eines Kanons von Historischen Hilfswissenschaften ihren Ausdruck fand. Die Auseinandersetzung mit diesen Teildisziplinen der Geschichtswissenschaft ist in Deutschland auch heute noch lebendig.1 Wenn auch Ian Wood gezeigt hat, dass das Interesse am Mittelalter und seinen Quellen deutlich vor der Übergangszeit einsetzte,2 so hat das 19. Jahrhundert mit seinen nationalstaatlichen Tendenzen doch entscheidende Impulse für ihre Herausbildung gegeben. Die Gründungen der Monumenta Germaniae Historica 1819 und der École des Chartes 1821 erfolgten in der Zeit der Restauration nach dem Wiener Kongress, die des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung im Jahr 1854, sechs Jahre nachdem in der Frankfurter Nationalversammlung ein großdeutscher Zuschnitt des Bundesgebietes unter Einschluss von Österreich unwahrscheinlich geworden war. Alle drei wurden zu Institutionen, die die Erforschung der Quellen des Mittelalters maßgeblich vorantrieben – inhaltlich und systematisch. Wenn an dieser Stelle von Historischen Hilfswissenschaften geschrieben wird, so erfolgt damit unweigerlich die Einnahme einer Position in einer schon recht alten Debatte. Der Begriff taucht erstmals bei Johann Christoph Gatterer auf.3 Den Vorschlag der Umbenennung in Historische Grundwissenschaften machte schon 1939 Karl Brandi.4 Der Begriff der Quellenkunde konnte sich für den ge-
1 Siehe hierzu v.a. Hohls, Rüdiger/Prinz, Claudia/Schlotheuber, Eva (Hg.): Historische Grundwissenschaften und die digitale Herausforderung (Historisches Forum 18, 2016), in: H-Soz-Kult, 19.12.2017: www.hsozkult.de/journal/id/z6ann-109609. Eva Schlotheuber sei an dieser Stelle auch für wichtige weitergehende Hinweise und Anregungen ganz herzlich gedankt. 2 Wood, Ian: The Modern Origins of the Early Middle Ages, Oxford 2013. 3 Gatterer, Johann Christoph: Abriß der Universalhistorie nach ihrem gesamten Umfange von Erschaffung der Erde bis auf unsere Zeiten erste Hälfte nebst einer vorläufigen Einleitung von der Historie überhaupt und der Universalhistorie insbesonderheit wie auch von den bisher gehörigen Schriftstellern, Göttingen 1765. 4 Brandi, Karl: Die Pflege der historischen Hilfswissenschaften in Deutschland, in: Geistige Arbeit 6, H. 2 (1939).
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meinten Fächerkanon nicht etablieren.5 Die weitere Verwendung des Begriffs der Historischen Hilfswissenschaften erfolgt hier tendenziell in Anlehnung an die Argumentation von Eckhart Henning,6 jedoch ohne diese Frage zum Gegenstand der vorliegenden Darstellung machen zu wollen – wer den Begriff der Historischen Grundwissenschaften favorisiert, möge diesen im Geiste einsetzen. Für einen langen Zeitraum gehörte es zu einem Geschichtsstudium, sich diese anzueignen. Die einzelnen Teilbereiche der Historischen Hilfswissenschaften wurden in einem Proseminar, meist zur mittelalterlichen Geschichte, erläutert und parallel bzw. in der Folge gab es Übungen, in denen diese erlernt und geübt werden konnten. Parallel zu den universitären Veranstaltungen entstanden Übersichtswerke, die in gedruckter Form eine Einführung boten und in teils hohen Auflagen erschienen sind.7 Wahrscheinlich war es die Anbindung an die Mediävistik die dazu führte, dass der universitäre Kanon der Hilfswissenschaften von den Disziplinen bestimmt wurde, die für die Erforschung dieser Epoche den größten Nutzen brachten. Die Aktenkunde neigte schon immer etwas in Richtung der Archivausbildung,8 andere Disziplinen reüssierten teils auch außerhalb der wissenschaftlichen Sphäre, worauf unten noch eingegangen wird. Immer wieder haben Standortbestimmungen zu den historischen Hilfswissenschaften stattgefunden, in denen ihre jeweils gegenwärtige Situation dargestellt und problematisiert wurde.9 Erfolgten diese zunächst klassisch in gedruckter Form, so
5 Ein Hinweis auf Gründe dafür mag sich in der etwas anderen Herangehensweise im Werk von Friedrich Beck finden: Beck, Friedrich: Die archivalischen Quellen. Mit einer Einführung in die historischen Hilfswissenschaften, Köln 5 2012. 6 Henning, Eckart: Begriffsplädoyer für die Historischen „Hilfs“wissenschaften, in: Henning, Eckart: Auxilia Historica. Beiträge zu den Historischen Hilfswissenschaften und ihren Wechselbeziehungen. Neustadt a.d. Aisch 2000, S. 3–16. 7 Die meisten Auflagen erzielte Brandt, Ahasver von: Werkzeug des Historikers. Eine Einführung in die historischen Hilfswissenschaften, Stuttgart 1 1958–18 2012, zuletzt bearbeitet von Franz Fuchs. Auch Goetz, Hans-Werner: Proseminar Geschichte: Mittelalter, Stuttgart 1 1993–3 2006 wurde mehrfach aufgelegt. Noch in der Erstauflage verfügbar sind Kümper, Hiram: Materialwissenschaft Mediävistik. Eine Einführung in die Historischen Hilfswissenschaften, Paderborn 2014 und Rohr, Christian: Historische Hilfswissenschaften. Eine Einführung, Wien u. a. 2015. 8 Grundlegendes in diesem Bereich wurde vor allem von hauptberuflich archivisch tätigen Personen publiziert; so z. B. Kloosterhuis, Jürgen: Amtliche Aktenkunde der Neuzeit: Ein hilfswissenschaftliches Kompendium, in: Archiv für Diplomatik 45, S. 465–563 oder Hochedlinger, Michael: Aktenkunde. Urkunden- und Aktenlehre der Neuzeit, Köln 2009. Die Reihe der Veröffentlichungen der Archivschule Marburg erschließt auch einzelne Aspekte zum Thema. 9 Etwa Lücke, Monika (Hg): Historische Hilfswissenschaften in der Gegenwart. Anforderungen und Perspektiven. Herrn Prof. Dr. Walter Zöllner zum 65. Geburtstag (Hallische Beiträge zu den historischen Hilfswissenschaften. Bd. 1), Halle 1998 oder Diederich, Toni/Oepen, Joachim (Hg.): Historische Hilfswissenschaften. Stand und Perspektiven der Forschung, Köln u. a. 2005.
Die Uni ins Archiv und das Archiv in die Uni bringen
kamen die damit verbundenen Debatten später auch in entsprechenden OnlineMedien auf, wie zuletzt im Historischen Forum.10 Besonders die dort geführte Diskussion über die Existenz und Definition eines Grund- bzw. Vollangebotes in Forschung und Lehre stellt die Frage, welchen Beitrag Archive zur Vermittlung weiterhin leisten können. Historische Hilfswissenschaften werden gegenwärtig auch oft mit Digital Humanities in Verbindung gebracht. Letztere werden dabei teils als Ergänzung oder weitere hilfswissenschaftliche Disziplin(en) dargestellt, teils auch als Nachfolger des etablierten Kanons der historischen Hilfswissenschaften verstanden. Dabei sind sie nicht mehr so neu, dass es dazu nicht auch schon Einführungen und Lehrwerke gäbe.11 Im Folgenden soll, ohne dieses Feld umfassend diskutieren zu können davon ausgegangen werden, dass die Digital Humanities die historischen Hilfswissenschaften nicht ersetzen, jedoch in vielen Bereichen sowohl ergänzen als auch verändern, denn gerade auch bei ihrer Vermittlung wurden zahlreiche Versuche der Einbindung digitaler Techniken unternommen.12
2.
Die Veranstaltungsreihe
Der hier geschilderte Ansatz entstand zunächst für die Universität Paderborn. Die am Mittelalter interessierten Kolleginnen und Kollegen hatten sich zunächst zu einem „Paderborner berufsbezogenen Mittelalterkolleg Kloster und Welt im Mittelalter“ zusammengeschlossen, aus dem 2005 das Institut zur Erforschung des Mittelalters und seines Nachlebens (IEMAN) wurde. Neben der Universität gab es mit der Theologischen Fakultät Paderborn eine zweite höhere Bildungseinrichtung mit (kirchen-)historischen Forschungsschwerpunkten und auch an der Katholischen Fachhochschule (heute Katholische Hochschule) gab es mit Hans-Martin Weikmann einen Kollegen mit mediävistischer Editionserfahrung.13 Universität und Erzbistum verfügten über eine wissenschaftliche Bibliothek, Erzbistum und
10 Hohls/Prinz/Schlotheuber: Grundwissenschaften. 11 Z. B. Kurz, Susanne: Digital Humanities. Grundlagen und Technologien für die Praxis, Wiesbaden 2 2016 oder Janidis, Fotis/Kohle Hubertus/Rehbein, Malte (Hg.): Digital Humanities. Eine Einführung, Stuttgart 2017. 12 Viele, auch frühe Zeugnisse lassen sich immer noch über die 2000 von Georg Vogeler und Patrick Sahle aufgelegte Virtual Library Historische Hilfswissenschaften der LMU München finden (unimuenchen.de), auch wenn die Seite 2006 letztmalig gepflegt wurde. Viele der Links führen inzwischen ins Leere. 13 Weikmann, Hans Martin: Heimo von Bamberg: De decursu temporum (MGH QGM 190), hg. Ders., Hannover 2004.
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Stadt über historische Archive und Museen mit historischem Auftrag, worunter auch das Museum in der Kaiserpfalz des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe fiel. Kooperationen waren über Institutions- und Trägergrenzen hinweg gleichsam fruchtbar wie üblich und ermöglichten es, eine Veranstaltungsreihe zu entwickeln, die den Bedürfnissen des Standortes entsprach. Mit ihrem Zuschnitt versucht die Seminarreihe, eine vermittelnde Position zwischen einer Überblicksveranstaltung, die lediglich informiert, und einer intensiven Übung einzunehmen, in der die Sitzungen selbst Gewähr dafür tragen, dass der Stoff während ihrer Dauer vollständig erklärt, wiederholt und eingeprägt werden kann. In der Zusammenfassung von jeweils drei Teildisziplinen der historischen Hilfswissenschaften in einer Veranstaltung bietet sich in der Regel für eine davon die Möglichkeit intensiverer Übungsschritte. Die beiden anderen unterstützen deren Verständnis und werden in etwas geringerem Zeitumfang vorgestellt. Jede Veranstaltung geht zunächst von 15 Seminarsitzungen aus. Die gesamte Reihe basiert auf einem Kooperationsmodell, das die Abhaltung einer universitären Veranstaltung auch außerhalb der Universität und stattdessen in den Räumen des Archivs zulässt. Sinn und Zweck dessen ist die Möglichkeit der Vorlage von Originalen. Neben räumlich begrenzten Möglichkeiten wird dadurch die Betreuungsintensität limitierender Faktor bei der Konzeption einer solchen Veranstaltung. Um ein Üben noch zu ermöglichen, ist eine Gruppengröße von über 15 Personen nicht sinnvoll. 2.1
Teilnahmevoraussetzungen
Auch wenn im angelsächsischen Bereich die Vermittlung historischer Hilfswissenschaften inzwischen vielfach in (oft auch nicht rein geschichtswissenschaftliche) Masterstudiengänge verschoben worden ist, gelten sie in Deutschland weiter als Grundfertigkeiten wissenschaftlichen Arbeitens, deren Aneignung als Teil des Grund- bzw. Bachelorstudiums ohne spezielle Voraussetzung möglich sein und für die es, anders als beim Hauptseminar, das den Erwerb eines entsprechenden Proseminarscheins voraussetzt, eine formelle Barriere zum Besuch nicht geben soll. Allerdings sind bestimmte sprachliche Vorkenntnisse erforderlich. Im deutschsprachigen Raum galt für das Geschichtsstudium lange Zeit recht selbstverständlich die Grundvoraussetzung, dass die Studierenden Latein und Französisch beherrschten. Dass Erstsemester systematische Kenntnisse von Varietäten des mittelalterlichen Deutsch (wenn, dann in der Regel Mittelhochdeutsch) hatten, war schon immer die Ausnahme. In Bezug auf Latein nähert sich die Situation diesem Zustand langsam an: Konnte in der Arbeit mit historischen Texten noch in den 90er Jahren von einer recht breiten Schicht an Studierenden ausgegangen werden, die durch den noch nicht allzu lang zurückliegenden Erwerb des Latinums zufriedenstellend reaktivierba-
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re Kenntnisse des Lateinischen hatten, so ist deren Anteil inzwischen stetig im Sinken begriffen und um den Sinn eines weit verbreiteten Lateinunterrichts hat sich eine lebhafte, teils auch wissenschaftlich geführte Debatte entsponnen, die auch zu negativen Ergebnissen kommt.14 Vielleicht wären Classes préparatoires nach französischem Vorbild15 oder theologische Modelle der Sprachenaus- und -fortbildung im Grundstudium eine Lösung. Der Lage in Deutschland entsprechend wurden die Teilnahmevoraussetzungen für die hier beschriebene Seminarreihe zu den historischen Hilfswissenschaften nach und nach angepasst. Aus „zumindest das kleine Latinum ist zur Teilnahme erforderlich“ wurde nach „Lateinkenntnisse sind zum Verständnis der Quellen erforderlich“ über die Jahre „Neugier und Kreativität im Umgang mit den lateinischen und historischen Sprachständen der eigenen Sprache sind von Vorteil“. Dies trägt auch der Tatsache Rechnung, dass sich Begabung bzw. Vorkenntnisse einzelner Studierender für den Umgang mit Texten von der formal testierten Sprachbildung teils erheblich unterscheiden. So hilft ein sicherer Wechsel zwischen Dialekt und Hochsprache der Gegenwart auch bei der Erschließung von historischen Ständen des Deutschen: Nicht nur haben sich im Dialekt vielfach Elemente der Lexik, Pragmatik und Flexionsformen erhalten, die sich bei einer Identität der Herkunft von Urkunde und Studierenden spontan wiederfinden lassen, ein Gespür für die Varietät von Dialekt und Hochsprache hilft auch bei der Erschließung von Texten, die räumlich aus einer anderen Gegend kommen als die Sprecherinnen und Sprecher von Dialekten. Gelernt wurden diese nicht im Unterricht, sondern im familiären Kontext. 2.2
Leistungsnachweise
Mehr als sonst böten sich die Veranstaltungen dieser Reihe zur Abhaltung von Klausuren an. Bewusst wird jedoch ein anderer Weg gewählt. In allen Seminaren der Reihe werden Kurzreferate (ca. 15 Min.) vergeben. In der Paläographie behandeln
14 Gerhards, Jürgen/Sawert, Tim/Kohler, Ulrich: Des Kaisers alte Kleider: Fiktion und Wirklichkeit des Nutzens von Lateinkenntnissen, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 71 (2019), S. 309–326 und Haag, Ludwig/Stern, Elsbeth: In search of the benefits of learning Latin, in: Journal of Educational Psychology, 95, H.1 (2003), p. 174–178. Zusammenfassend auch Kranzdorf, Anna: Ausleseinstrument, Denkschule und Muttersprache des Abendlandes. Debatten um den Lateinunterricht in Deutschland 1920–1980, Berlin 2018. 15 An einigen französischen Gymnasien trainieren ca. 200 Abiturientinnen und Abiturienten nach der eigentlichen Schullaufbahn noch zwei Jahre für den Concours um die 24 Plätze in den beiden Ausbildungsgängen der École des Chartes. Die große Mehrheit derjenigen, die zwar die Vorbereitung besteht, danach jedoch nicht aufgenommen wird, gilt mitnichten als Versager, sondern sie sind gern gesehene Studierende der Geschichte an den Universitäten des Landes, wobei ihnen der Vorbereitungskurs als Studienzeit und -leistung anerkannt wird.
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diese einzelne Schriften und ihre Leitbuchstaben oder übergreifende Aspekte der Disziplin. In der Diplomatik sind ebenfalls einige wenige übergreifende Themen vorgesehen, der Regelfall des Leistungsnachweises ist hier jedoch die Regestierung und Vorstellung einer einzelnen Urkunde. Ähnlich ist es in der Heraldik, wo neben übergreifenden Aspekten die Gelegenheit zur Vorstellung von Wappenund Münzfamilien besteht. In der Genealogie gibt es neben der Rezension von Werken der genealogischen Forschung auch die Möglichkeit einer Auswertung von Personenstandsregistern in genealogischer oder prosopographischer Hinsicht. Die wesentlichen Inhalte bzw. Thesen des Referates sollen auf einer, höchstens zwei Seiten zusammengefasst werden. Teil dieser Zusammenfassung soll eine kommentierte Bibliographie von 3–5 Titeln sein. Lernziel ist, dass die knappe Zusammenfassung eines Aspektes des Seminarthemas sicher beherrscht wird – eine Anforderung, die in wissenschaftlich fundierten Positionen auch im Berufsleben immer wieder gestellt wird.
3.
Die einzelnen Veranstaltungen
Gemäß der Studienordnung ist jede der vier Veranstaltungen in sich abgeschlossen und sie bauen nicht aufeinander auf. In ihrer Abfolge wurde jedoch zumindest die Möglichkeit gegeben, sich vom Allgemeinen ins Spezielle vorzuarbeiten. Die Reihe beginnt daher mit der Veranstaltung zur Paläographie. In der Veranstaltung zur Diplomatik besteht dann im folgenden Semester die Gelegenheit, die erworbene Lesefertigkeit an Urkunden anzuwenden. Ein Semester später ist dann die Funktion von Siegeln innerhalb der Urkunde bei deren Analyse bereits bekannt. Paläographie und Sphragistik werden den Wintersemestern zugeordnet, einerseits um gerade Siegel nicht der Sommerhitze aussetzen zu müssen, andererseits, um in diesen Disziplinen etwas mehr Zeit zum Übern zu haben. Die beiden anderen Veranstaltungen werden dementsprechend im Sommer angeboten. 3.1
Paläographie, Epigraphik, Codicologie
Das erste Seminar der Reihe würdigt Paläographie, Codicologie und Epigraphik. Hierbei steht die erstgenannte Hilfswissenschaft eindeutig im Mittelpunkt. Bei ihrer Vermittlung wird – relativ klassisch – grundsätzlich einem chronologischen Ansatz gefolgt und, um einen Zugang zur Entstehung der europäischen Schriften zu eröffnen, mit Capitalis Quadrata und älterer römischer Kursive begonnen – Schriften, in denen es ob des hohen Alters der Quellen und der geringen Quellenbasis höchst
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unwahrscheinlich ist, dass die Studierenden damit jemals forschungsinnovativ tätig sein werden. Dennoch werden sie in die Lehre eingepflegt.16 Parallel gibt es jedoch einen Ansatz, in jeder Sitzung einen Zugang zu Originalquellen (bei entsprechender konservatorischer Situation oder einer Online-Sitzung auch über Digitalisat) zu bieten, um die Abhaltung im Archiv auch zu rechtfertigen.17 Das „Original des Tages“ kann daher nicht immer in die Reihe der erläuterten Schriften passen, es werden anhand dessen jedoch auch andere Aspekte mittelalterlicher Schriftlichkeit erklärt: Schreibgeräte, Beschreibstoffe, Pergament- und Papierherstellung. Auch auf die Wasserzeichen, die mit der Filigranologie eigentlich über eine eigene Hilfswissenschaft verfügen, wird am Rande eingegangen. Eigene, jedoch kleinere Blöcke erhalten zwei weitere Hilfswissenschaften: In zwei Sitzungen wird auf die Codicologie eingegangen. Dankbare Beispiele dafür sind beschädigte Buchblöcke, an denen Bünde, Lagen, Kapitale, Einbandmakulatur und ähnliches freiliegend erklärt werden können. Auch die Seitengestaltung von Handschriften hat ihren Platz in der Regel in einer dieser beiden Seminarsitzungen. Da Archivalien in Buchform oft nur einen geringen Teil der Bestände ausmachen, ist die Codicologie immer ein willkommener Anlass zur Kooperation mit einer benachbarten Bibliothek, die in der Regel über weitere gute Beispiele verfügt.18 Ein zweiter, in etwa gleich langer Block ist der Epigraphik gewidmet. Die Erforschung deutscher Inschriften ist erfreulicherweise vielerorts schon fortgeschritten, so dass häufig auf die Bände – und das digitale Angebot DIO – des entsprechenden Großforschungsprojektes zurückgegriffen werden kann.19 Wo dies nicht der Fall ist, lassen sich oft lokale Arbeiten zitieren, mit denen die epigraphischen
16 Dabei wird immer noch herangezogen Bischoff, Bernhard: Paläographie des römischen Altertums und des abendländischen Mittelalters. Mit einer Auswahlbibliographie 1986–2008 von Walter Koch, Berlin 4 2009. Wichtige Impulse gibt auch Kluge, Mathias: Handschriften des Mittelalters: Grundwissen Kodikologie und Paläographie, Ostfildern 2019. 17 Zur Vorbereitung und Flankierung erscheinen hierfür unverzichtbar Schneider, Karin: Paläographie und Handschriftenkunde für Germanisten. Eine Einführung, Tübingen 3 2014 (Sammlung kurzer Grammatiken germanischer Dialekte. B, Ergänzungsreihe 8) und Beck, Friedrich/Beck, Lorenz: Die Lateinische Schrift. Schriftzeugnisse aus dem deutschen Sprachgebiet vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Köln 2007. 18 Als Grundlage wird verwendet Szirmai, János A.: The archaeology of medieval bookbinding, Aldershot 1999. Wichtige Ergänzungen bietet auch Schneider: Paläograpie, 3 2014. Ergänzend zum in Deutschland nur lückenhaft verfügbaren Werk von Szirmai wird für Arbeiten der Studierenden Jakobi-Mirwald, Christine: Das mittelalterliche Buch. Funktion und Ausstattung, Stuttgart 2004 empfohlen. 19 So etwa Zahn, Peter (Bearb.): Die Inschriften der Friedhöfe St. Johannis, St. Rochus und Wöhrd in Nürnberg Teil 1, Wiesbaden 1972, Teil 2, Wiesbaden 2009 und Teil 3, Wiesbaden 2013.
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Arbeitsmethoden vorgestellt werden können.20 Naheliegender Weise erfolgt die Behandlung der Epigraphik in Form von zwei kleinen Exkursionen, bei denen die Inschriften in situ begutachtet werden können. Hierfür werden Inschriften identifiziert, an denen idealerweise zunächst eigentätig deren Beschreibung geübt werden kann, die dann mit einer bereits vorliegenden wissenschaftlichen Bearbeitung abgeglichen werden können.21 3.2
Diplomatik, Chronologie, Metrologie
Im Seminar rund um Diplomatik, Chronologie und Metrologie nimmt die erstgenannte Disziplin eine Mittelpunktsrolle ein. Der Zugang erfolgt zunächst über den Aufbau der Urkunde, wobei anhand von Beispielen verschiedener Aussteller je eine Sitzung dem Protokoll, dem Kontext und dem Eschatokoll gewidmet wird. Diese werden dann wiederum in ihre Bestandteile zerlegt, die einzeln erläutert werden. Wichtiger Aspekt sind Signalwörter in deutscher und lateinischer Sprache, anhand derer man den Übergang eines Urkundenbestandteils zum nächsten erkennen kann. Sind alle drei durchgenommen, widmet sich eine eigene Sitzung der Regestierungstechnik, wobei die Erstellung von Kurz-, Voll- und Kopfregesten erläutert wird. Mit eigenen Urkundenbeispielen werden diese dann eingeübt. Die Anfertigung von Regesten ist der beste Zeitpunkt, um in der Seminarreihe die Bedeutung von Sprache für den Historiker zu erläutern: Wer mit Originalquellen arbeiten möchte, kommt um Originalsprachen nicht herum. Ziel des Seminars ist das Verstehen und die exakte Wiedergabe des historischen Textes in der historischen sowie die Paraphrase in der eigenen Sprache – nicht eine stilistisch vollendete Übersetzung. Am Ende des Seminars steht die Differenzierung von Urkundenstilen verschiedener Aussteller: Papst-, Herrscher- und Privaturkunden werden in je einer Sitzung vorgestellt, wobei die stilistische Bandbreite letzterer enorm sein kann und nicht selten Elemente einer der erstgenannten aufgreift. Zwischen diesen Sitzungsblöcken werden Chronologie und Metrologie in zwei Blöcken à je zwei Sitzungen vorwiegend zu Beginn des Seminars eingestreut. In
20 Z. B. Weiß, Dieter J.: Die Inschriften der St. Sebalduskirche zu Nürnberg. (Diplomarbeit an der Friedrich-Alexander-Universität, Typoskript), Erlangen/Nürnberg 1984 (Bibliothek des StadtAN, Av 4661.4). 21 Aufgrund des geringen Umfangs der Einheit wurden dabei bislang nicht verwendet Kloos, Rudolf M.: Einführung in die Epigraphik des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Darmstadt 2 1992 sowie Koch, Walter: Inschriftenpaläographie des abendländischen Mittelalters und der früheren Neuzeit, Bd. 1: Früh- und Hochmittelalter, Wien 2007. Wertvolle praktische Hilfe bietet Deutsche Inschriften. Terminologie zur Schriftbeschreibung. Erarbeitet von den Mitarbeitern der Inschriftenkommissionen der Akademien der Wissenschaften in Berlin u. a., Wiesbaden 1999.
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der Chronologie werden dabei der Römische Kalender und die Indiktion in einer Sitzung zusammengefasst, in einer weiteren werden Datierungen nach Heiligenfesten erklärt und anhand von Zeugenlisten methodisch erläutert. In der Metrologie erfolgt meist eine Zusammenfassung von Hohl- und Gewichtsmaßen zur Messung von Gütern und eine Darstellung der Maße von Längen und Flächen zur Bestimmung von Strecken und der Größe von Grundstücken. 3.3
Heraldik, Numismatik, Sphragistik
Eine derart eindeutige Schwerpunktbildung ist bei Heraldik, Numismatik und Sphragistik nicht möglich. Wappen enthalten Wappenbilder, die auch auf Münzen und Siegeln vorkommen. Letzteren beiden ist wiederum die Um- bzw. Aufschrift gemein. War es in der Beschäftigung mit Paläographie und Diplomatik wichtig, das Verhältnis der eigenen Arbeit zur mittellateinischen Philologie zu klären, so ist hier die Kunstgeschichte die Referenzwissenschaft, deren eigene Methodik anzuerkennen ist. Aus der Aneignung ihrer Methoden bzw. einer zielgerichteten Kooperation kann später eine wirkliche Interdisziplinarität erwachsen. Für diese Veranstaltung reicht die Erkenntnis, dass, auch wenn alle drei Disziplinen mit bildhaften Quellen arbeiten, der Historiker dadurch nicht automatisch zum Kunsthistoriker wird. Wenn auch in diesem Seminar deutlich mehr hin- und hergesprungen wird, als in den beiden erstgenannten, so bildet den Beginn doch eine Erläuterung heraldischer Farben, Richtungen und gemeiner Figuren, über die dann Stück für Stück die Technik des Blasonierens eingeübt wird.22 Als Auflockerung immer noch recht beliebt ist das sogenannte Stille Blasonieren, ein Spiel, das der Verfasser an der Archivschule Marburg kennenlernte und bei dem analog zur „Stillen Post“ von einem Blason ein Wappen zu zeichnen ist, für das dann wiederum ein Blason zu erstellen ist usw., ohne dass man auf die Ergebnisse weiter als eine Position vor sich selbst schauen dürfte. Bei der Numismatik bedingt ein antiker Bezug oft die Zuordnung zum Kanon der Altertumswissenschaften, während mit einem späteren Bezugsrahmen eine hilfswissenschaftliche Disziplin der Geschichte verbunden wird. Sie ist nicht auf das akademische Umfeld beschränkt; die private Sammeltätigkeit brachte vielmehr konzise Werke der Systematisierung hervor.23 Gleichwohl wird in öffentlichen
22 Die theoretischen Grundlagen hierzu werden erarbeitet mit Biewer, Ludwig/Henning, Eckart: Wappen. Handbuch der Heraldik. Überarbeitete und neugestaltete Auflage der Wappenfibel von M. Hildebrandt, Köln u.a 20 2017; Scheibelreiter, Georg: Heraldik, Wien u. a. 2006. Ergänzend hinzugezogen werden Werke von Otfried Neubecker sowie Jahrbücher genealogischer Vereine. 23 So etwa Mehlhausen, Wolfgang J.: Handbuch Münzensammeln. Ein Leitfaden für Münzsammler und solche, die es werden wollen.Tipps, Tricks und Infos vom Fachmann, Regenstauf 6 2022; der
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Sammlungen auch eine wissenschaftlich fundierte Numismatik gepflegt,24 bis hin zu einer Fachbibliothek bei der Deutschen Bundesbank, die dort als eigene Organisationseinheit innerhalb der Münz- und Geldscheinsammlung besteht.25 In der Behandlung der Münzen erfolgt eine grundlegende Einführung in das Verhältnis von Nenn- und Materialwert, von Rau- und Feingewicht und von Münzherren und Münzorten. Immer wieder bietet sich dabei jedoch die Gelegenheit zu springen und in der Betrachtung einer bestimmten Zeit oder Region Münzen, Siegel und Wappen zu vergleichen. Zur Erläuterung von Siegeln spielen Aussteller und mit ihnen korrespondierende Siegelformen und Siegelbilder eine Rolle. Auch die Umschriften und Arten der Anbringung werden erklärt.26 Wurde schon in der Paläographie auf Urkunden als Lesevorlage vorgegriffen, so erfolgt in der Sphragistik ein Rückgriff auf diese als Träger der verwendeten Siegel. Es kann also durchaus sein, dass einzelne Stücke die Studierenden über drei Semester immer wieder begleiten. 3.4
Genealogie, Prosopographie, Phaleristik
Im letzten Seminar des Viererzyklus wird am häufigsten das Mittelalter verlassen und mit neuzeitlichen Quellen gearbeitet. Die Genealogie des Mittelalters, deren Möglichkeiten sich auf Familien der führenden Schichten beschränken, wird in der Regel über die Forschungsliteratur präsentiert. Eingeübt wird die Methode der Genealogie, um mit Hilfe von Geburtszeugnissen einer Person an deren Eltern, zu deren Lebensdaten und wiederum deren Eltern zu gelangen, in der Regel mit Personenstandsregistern des 19. Jahrhunderts. Noch weit stärker als die Numismatik bietet die Genealogie vielen Menschen auch ohne akademischen Hintergrund eine interessante Freizeitbeschäftigung,
Verlag Battenberg hat sich in diesem Segment spezialisiert, hier erschienen auch Faßbender, Dieter: Münzen sammeln, Regenstauf 2 2002 sowie zahlreiche Münzkataloge. 24 Sowohl von Münzsammlern als auch von Numismatikern mit rein systematischem Interesse wird anscheinend Steinbach, Sebastian: Numismatik. Eine Einführung in Theorie und Praxis, Stuttgart 2 2022 verwendet. Numismatische Grundlagenwerke sind etwa Kluge, Bernd: Numismatik des Mittelalters. Bd. 1: Handbuch und Thesaurus Nummorum Medii Aevi, Wien 2007; Ders: Münzen. eine Geschichte von der Antike bis zur Gegenwart, München 2016 und Klüßendorf, Niklot: Numismatik und Geldgeschichte: Basiswissen für Mittelalter und Neuzeit, Peine 2015. 25 Homepage der Deutschen Bundesbank: https://www.bundesbank.de/de/bundesbank/kunst-undnumismatik/muenz-und-geldscheinsammlung/numismatische-fachbibliothek/numismatischefachbibliothek-607530 (14.12.2022). 26 Theoretische Grundlagen bieten Stieldorf, Andrea: Siegelkunde-Basiswissen, Hannover 2004 und Diederich, Toni: Siegelkunde. Beiträge zu ihrer Vertiefung und Weiterführung, Wien u. a. 2012.
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die mit entsprechenden Sachbüchern unterstützt wird.27 Oft geschieht die genealogische Arbeit im Rahmen von Vereinstätigkeiten, die auch eine Plattform für Publikationen der oft beachtlichen Ergebnisse liefern. Vielleicht ist es diese breite Szene, die es der wissenschaftlichen Genealogie nicht eben leichtmacht, im Kanon der Hilfswissenschaften universitär Fuß zu fassen.28 Dadurch ist sie jedoch diejenige Hilfswissenschaft, von der die meisten Studierenden auch schon vor ihrem Studium einmal gehört haben, entweder durch dementsprechende Aktivitäten von Verwandten oder durch eigene familienkundliche Arbeiten. Auch sind Schriften des 19. Jahrhundert oft schon eingeübt. In der Arbeit mit Kirchenbüchern werden jedoch auch alternative Methoden zu deren Auswertung vorgestellt und etwa Familienverhältnisse unehelicher Kinder im 19. Jahrhundert, Todesursachen und Lebenserwartungen bestimmter Berufsgruppen u. ä. analysiert. Damit erreicht die Veranstaltung den Übergangsbereich zur Prosopographie, die sich auch in anderen Bereichen mit der Genealogie verbindet.29 Die Phaleristik bildet innerhalb der Veranstaltung eher einen Exkurs, in dem zunächst vor allem hinsichtlich der Eigenschaft von Orden als identifizierbarer Gemeinschaft einerseits (z. B. Souveräner Malteserorden; Order of the Bath) und reiner Ehrenzeichen andererseits (z. B. Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich; Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland) differenziert wird. Als sinnvoll hat sich hierbei eine kleine Selektverzeichnung erwiesen, die
27 Einen Meilenstein in der Entwicklung des Sachbuchs zur Genealogie legte 1994 Pies, Eike: Abenteuer Ahnenforschung. Das praktische Handbuch für Einsteiger und Profis, Wuppertal 6 2009. Mit dem Verein für Computergenealogie entstand 1989 in Dortmund eine Institution, in der ehrenamtlich tätige Genealogen die Nutzung der EDV für diese Hilfswissenschaft systematisch vorantrieben (Verein für Computergenealogie e.V. (Hg.): Computergenealogie: Magazin für Familienforschung, 1.1985). Die hier unternommenen Arbeiten ermöglichen gemeinsam mit den nicht zuletzt durch die Gliederungen der Church of Jesus Christ of Latter-day Saints („Mormonen“) erzielten Fortschritten Publikationen wie etwa Helm, Matthew/April, Leigh: Genealogy Online for Dummies, Needham 1 1998–8 2017 (ab der 2. Auflage bei John Wiley, Hoboken NJ). Die von Birgit Wendt besorgte deutsche Übersetzung (Ahnenforschung online für Dummies, Frechen 2000) war mit nur einer Auflage weniger erfolgreich. 28 Zur Abgrenzung der beiden Bereiche vgl. Hecht, Michael/Thimm, Elisabeth (Hg.): Genealogie in der Moderne. Akteure – Praktiken – Perspektiven (Cultures and Practices of Knowledge in History 7), Berlin 2022 und Fertig, Georg/Guzzi-Heeb, Sandro (Hg.): Genealogien. Zwischen populären Praktiken und akademischer Forschung. (Jahrbuch für Geschichte des ländlichen Raumes 18), Innsbruck 2022. Maßgebliche Publikationen stammen vom vormaligen Archivar der Max-Planck-Gesellschaft Henning, Eckart: Taschenbuch für Familiengeschichtsforschung (mit Wolfgang Ribbe), Insingen 13 2006; zurückgehend auf Ders.: Handbuch der Genealogie, Neustadt a.d. Aisch 1972. 29 Vielfältig einsetzbar ist Michels, Paul: Ahnentafeln Paderborner Domherren, Paderborn 1966. Die Domherren erscheinen hier agnatisch in ihren familiären Zusammenhängen und synchron in ihrem Kapitel. Bildtafeln zeigen zudem die Wappen der Familien, aus denen die Domherren stammen.
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Arnold Otto
einen Zugriff auf die zumeist in Personennachlässen enthaltenen Orden und Ehrenzeichen sowie die zugehörigen Urkunden ermöglicht.30
Ausblick Lohnt dieser Aufwand? Der Verfasser ist der Meinung, dass dies unbedingt der Fall ist. Die Zahl der Studierenden, die jedes Semester ihren Weg in die Veranstaltungen finden, ist nicht nur durch die räumlichen Möglichkeiten begrenzt. Der Weg zu einem anderen Veranstaltungsort und auch jede noch so freundlich vorgetragene Nachfrage nach der Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit historischen Sprachen bilden limitierende Faktoren, die an der Universität Paderborn dazu führten, dass die Reihe anfangs mit ca. 5–8 Teilnehmern hart am unteren Rand der Durchführbarkeit war, nach 3–4 Jahren hatte sich eine Nachfrage eingependelt, die dem Angebot ziemlich genau entsprach. Die auf 15 Teilnehmer ausgelegte Veranstaltung wurde dann meist mit 16–17 Personen überbucht, im Laufe des Semesters hielten davon meist zwölf durch. An der FAU stellt sich die Situation 2022 wieder wie zu Beginn 2005 in Paderborn dar, was jedoch einstweilig nicht weiter beunruhigt. Wie stark die Qualität der Geschichtsforschung im deutschsprachigen Raum durch mangelnde hilfswissenschaftliche Kompetenz nun gefährdet ist oder nicht, sei an dieser Stelle der bereits anderenorts geführten Debatte anheimgestellt. Die Möglichkeit, dem zu begegnen sind einstweilig jedenfalls relativ gut. In fast allen hilfswissenschaftlichen Disziplinen gibt es konzise Zusammenfassungen, die vor dem Hintergrund noch nicht allzu lang zurückliegender Forschung einen Überblick gewähren, mit dem eigene Arbeiten aufgenommen werden können. Auch an frei verfügbaren Angeboten im Internet mangelt es nicht. Gerade in den am stärksten von der Corona-Pandemie betroffenen Semestern zeigte sich jedoch, dass, auch wenn technisch in Bezug auf die Abhaltung der Lehre online sehr viel möglich ist, das Angebot hilfswissenschaftlicher Seminare in Präsenz letztlich nur schwer zu ersetzen ist. Der Einsatz von Konferenzprogrammen und Online-Foren kann seit dem Wintersemester 2022/23 wieder auf das sinnvolle Maß reduziert und Veranstaltungen vor Ort angeboten werden. Die Studierenden, die den Weg dorthin finden, waren in der Vergangenheit, wenn nicht überdurchschnittlich begabt oder vorgebildet, zumindest überdurchschnittlich interessiert, so dass immer der Eindruck blieb, dass sich die Veranstaltung auch für wenige lohnt. Nicht selten inspirierte die Teilnahme zu Praktika, die sich bisweilen in Werkverträge oder Aushilfstätigkeiten überführen ließen. Einzelne Studierende haben
30 Als wissenschaftliche Grundlage dient hier Henning, Eckhart: Orden und Ehrenzeichen. Handbuch der Phaleristik, Köln 2010.
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schlussendlich sogar einen Beruf im Archiv gefunden, wenn auch nicht immer über den klassischen Weg an einer der archivfachlichen Hochschulen. Die Vermittlung hilfswissenschaftlicher Kenntnisse hat somit Sinn – unabhängig vom jeweiligen Erscheinungsbild des akademischen Systems, in dem sie geschieht.
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Geschichtsforschung zu Franken
Walter Bauernfeind
Conrad von Neuenfels – ein Adeliger als Bordellbetreiber in der Reichsstadt Nürnberg
„Die fragmentarischen Hinweise zur sozialen Herkunft der Frauenwirte weisen allesamt auf eine niedere gesellschaftliche Stellung.“ Mit dieser Aussage resümierte Peter Schuster 1992 die soziale Stellung der Bordellbetreiberinnen und -betreiber im 15. und 16. Jahrhundert.1 Und noch deutlicher meinte Beate Schuster 1995: „Wie die Dirnen rekrutierten sich die Frauenwirte und -wirtinnen aus den mobilen Unterschichten.“2 Der folgende Beitrag möchte diese weiterhin in der Forschung vertretene Ansicht3 doch deutlich relativieren: Auch wenn Frauenwirtinnen und Frauenwirte im 15. Jahrhundert sicherlich in der reichsstädtischen Gesellschaft Nürnbergs kein hohes Ansehen genossen, bedeutet dies nicht, dass ihre Stellung in der spätmittelalterlichen Ständeordnung niedrig anzusetzen ist. Vielmehr führt zumindest die Spur eines Vertreters, der seit spätestens den 1460er Jahren bis Anfang der 1480er Jahre das Nürnberger Rotlichtmilieu prägte, sogar in den Niederadel am Oberrhein. „Conrat von Freyburg ist Burger worden quinta post Epiphanias domini [14]68 et dedit X fl Werung“4 , so lautet der Eintrag zum Bürgerrechtserwerb unseres Protagonisten am 13. Januar 1468. Allein schon der Umstand, dass ihm der reichsstädtische Rat gestattete, das Nürnberger Bürgerrecht zu erwerben und damit auch in die mächtige Schutz- und Rechtsgemeinschaft der Reichsstadt aufgenommen zu werden, ist bezeichnend. Er sollte diese neue Stellung dann bald zu seinen Gunsten nutzen. Dass Conrad auch ein entsprechendes Vermögen vorweisen musste, wurde allein schon in der Aufnahmegebühr zum Ausdruck gebracht: nach heutigem Geld
1 Schuster, Peter: Das Frauenhaus. Städtische Bordelle in Deutschland (1350–1600), Paderborn 1992, S. 100. 2 Ders.: Die freien Frauen. Dirnen und Frauenhäuser im 15. und 16. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1995, S. 103. 3 Hammer, Michael M.: Das Frauenhaus in Bozen: Ein Fallbeispiel für das spätmittelalterliche Bordellwesen, in: Geschichte und Region/Storia e regione Bd. 27 (2018), S. 163 f; Sonnleitner, Käthe: Das rechte Maß. Der Umgang spätmittelalterlicher Städte mit Vergnügungsstätten am Beispiel Nürnbergs, in: Medium aevum quotidianum 67 (2014), S. 48–57; Knefelkamp, Ulrich: Diskriminierung durch Prostitution. Dirnen, Huren und städtische Gesellschaft in Mitteleuropa vom 14.–16. Jahrhundert, in: Joerden, Jan C. (Hg.): Diskriminierung – Antidiskriminierung, Berlin 1996, S. 39–66; Hergemöller, Bernd-Ulrich: Prostitution; in: Lexikon des Mittelalters Bd. VII, Sp. 267 f. 4 StAN Rep. 52b Nr. 299, S. 14.
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entsprechen die 10 Gulden Stadtwährung einer Größenordnung von 33.000 €.5 Dazu muss man wissen, dass die handelnden Politiker sehr genau wussten, um wen es sich bei Conrad von Freiburg handelte.6 Denn einerseits war eine entsprechende, intensive Recherche bei einer Bürgerrechtsverleihung damals eine Selbstverständlichkeit, wozu es außerdem Fürsprecher – bzw. bis Mitte des 14. Jahrhunderts sogar Bürgen – brauchte. Andererseits war unser Protagonist schon seit Jahren in Nürnberg als Frauenwirt ansässig; sein Status war dabei der eines sog. Inwohners bzw. Schutzverwandten mit eingeschränkten Rechten: Bereits im bislang frühesten, bekannten Quellenbeleg über ihn von 14617 wurde per Ratsverlass dem Frauenwirt „Contz von Fryburg“ erlaubt, ein Haus in der Breiten Gasse zu erbauen, das jedoch explizit kein Frauenhaus sein sollte – dazu später noch mehr. Dass der Nürnberger Frauenwirt ständisch eine herausgehobene Stellung hatte, wird auch dadurch deutlich, dass ein bislang leider unbekannter Historiker der Nürnberger Familien aus dem Patrizierhause Ebner um 1700 ihn und seine Ehefrau Anna in seiner genealogischen Sammlung8 verewigte – allerdings ohne deren drei leiblichen Töchter aufzuführen. Offenbar hatte Ebner dazu Auseinandersetzungen vor dem Nürnberger Stadtgericht aus den Jahren 1473 bzw. 1482 ausgewertet, wo er wohl auch auf das Wappen bzw. den richtigen Namen des Conrad von Neuenfels gestoßen ist. Worum ging es bei diesen Auseinandersetzungen? Ohne hier in die Details gehen zu können, war der Auslöser, dass Conrad II. Marstaller (+1492)9 aus einer bekannten Nürnberger Genanntenfamilie Schulden bei dem ritterbürtigen Christof Steinberger hatte. Daher übergab Marstaller ihm sein vom Vater geerbtes Haus im Dezember 1470 (später S 72 – Winklerstr. 25; siehe Abb. 1).10 Da Steinberger kein Nürnberger Bürger war, musste er nach Stadtrecht das Haus binnen Jahr und Tag an einen Nürnberger verkaufen. Dieser Verkauf erfolgte im Oktober 1471 an Heinrich
5 Als Vergleichsmaßstab dient der Taglohn eines ungelernten Arbeiters, der um 1470 zehn Pfennige betrug: StadtAN D 2/III Nr. 24; ein Nürnberger Stadtwährungsgulden war etwa 330 Pfennige wert. Für 2023 kann man bei acht Stunden Arbeit den Mindestlohn in Deutschland ansetzen, also etwa 100 €. Zur Methodik vgl. Bauernfeind, Walter: Materielle Grundstrukturen im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit, Nürnberg 1993, S. 339–349 u. S. 374–402. 6 Zu seiner Person und seiner Familie siehe StadtAN GSI 180 Nr. 75.585, bearbeitet von Walter Bauernfeind. 7 StAN Reichsstadt Nürnberg, Ratsbuch 1 b, Bl. 404 v. Allerdings könnte sich ein Eintrag vom 19.02.1456 auch auf ihn beziehen: hier wird der spätere Nürnberger Büchsenmeister Herman Widerstein als Eigenmann des Contz von Freyberg bezeichnet: StAN Reichsstadt Nürnberg, Ratsbuch 1 b, Bl. 288 r–v. 8 StadtAN E 56/VI. 9 StadtAN GSI 180 Nr. 51.652, bearbeitet von Walter Bauernfeind. 10 StadtAN F 5 Nr. 3/III S. 173–174.
Conrad von Neuenfels – ein Adeliger als Bordellbetreiber in der Reichsstadt Nürnberg
Das Haus S 72 in der Winklerstraße unterhalb von St. Sebald und direkt gegenüber der Stadtwaage bzw. Herrentrinkstube. Kartengrundlage: StadtAN A 4/V Nr. 33.
Gastelsdorfer, wobei aber offenbar der Käufer nur als Strohmann fungierte.11 Denn bereits im Dezember 1471 übergab Gastelsdorfer das Haus ohne Nennung von Gründen wieder an Christof Steinberger.12 Ohne Quellenbeleg muss das Haus dann von diesem an seinen Standesgenossen Conrad von Neuenfels, genannt Freiburger, übergeben bzw. verkauft worden sein, denn am 17. Juni 1472 kam es zu einem einstweiligen Vergleich zwischen dem neuen Besitzer und den Brüdern des Conrad Marstaller, die noch Erbansprüche anmeldeten.13 Das Haus blieb aber vorerst im Besitz Conrads, der vielleicht vorhatte, sich in einer bevorzugten Wohnlage fest zu etablieren. Allerdings kennen wir seine Beweggründe und Vorstellungen nicht und wissen auch bislang nicht, ob die Familie von Neuenfels das Haus jemals selbst bewohnte. Dass allerdings diese etwas obskuren Immobiliengeschäfte zwischen ‚fremden‘ Standesgenossen dem Nürnberger Rat nicht gefielen, kann vorausgesetzt werden. Und man wünschte sich auch nicht die Familie des Frauenwirts als Nachbarn im
11 StadtAN F 5 Nr. 3/III S. 175–176. 12 StadtAN F 5 Nr. 3/III S. 178. 13 StadtAN F 5 Nr. 3/III S. 179–180.
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Handels- und Machtzentrum der Reichsstadt, egal ob diese ritterbürtig war oder nicht.14 Am 4. Februar 1478 verkauften „Conradt vom Newenfels den man nennt Freyburger“ und seine Ehefrau Anna ihr Haus an den Nürnberger Bürger Michel Barth.15 Gegen rechtliche Ansprüche Dritter hatte das Ehepaar mit seinen Häusern im Mauckental Sicherheit geleistet. Als im Jahr 1482 allerdings bekannt wurde, dass das Ehepaar von Neuenfels diese Häuser verkaufen wollte, bekam Michel Barth Angst um seine Sicherheitsgarantie und klagte.16 Hierbei bekommen wir nun etwas genauere Einblicke in die Lebensumstände der Familie. Der Anwalt von Michel Barth brachte vor, dass das Ehepaar von Neuenfels, genannt Freiburger, ihm sein Haus „vor der wag uber gelegen“ verkauft hatte, das früher Conrad Marstaller gehört hatte. Das beklagte Paar sollte für das Haus einige Jahre lang „Werschafft“ tun und als Unterpfand die Häuser im Mauckental einsetzen. Darüber war eine gesiegelte Urkunde ausgestellt worden. Nun hatte das Ehepaar von Neuenfels diese Häuser ohne Barths Zustimmung zum Verkauf angeboten. Die Häuser seien aber noch nicht von der Pfändung befreit. Barth verlangte daher, dass ihm durch den Verkauf der Häuser kein Nachteil entstehe. Daraufhin verteidigte sich Anna von Neuenfels: Ihr Mann habe zwar die Häuser im Mauckental verkauft, jedoch noch nicht auf sie verzichtet. Er sei auch nicht verpflichtet, bis zur Bezahlung des Betrags auf die Häuser zu verzichten. Da er ein „ungeurlaubter“ Nürnberger Bürger und nicht persönlich geladen worden sei, verlangte die Beklagte die Vertagung des Prozesses.17 Daraufhin entschied das Gericht, dass Conrad von Neuenfels zu der Sache geladen werden solle, um selbst auszusagen. Da er sich aber nicht in Nürnberg aufhielt, sondern in oder um Freiburg, sollte Michel Barth ihn durch einen Boten und mit Briefen laden lassen. Ein entsprechender Ladungsbrief wurde Barth innerhalb bestimmter Grenzen erteilt, wo dann Conrad binnen 14 Tagen nach Nürnberg vor Gericht kommen sollte. Die Ladung wurde am 17. Juni 1482 vom Gericht ausgesprochen. Der Bote Niclas Cramer kam am 8. Juli bei Conrad von Neuenfels in dessen Schloss an und händigte ihm persönlich den Brief um 3 Uhr mittags aus. Neuenfels erklärte daraufhin, so der vereidigte Bote, dass der Hausverkauf keinen Nachteil für Michel Barths Sicherheiten bedeute. Über diesen Sachverhalt wurde Michel Barth abschließend vom
14 Bauernfeind, Walter: Die Wohnquartiere der Herrschaftselite in der Reichsstadt Nürnberg vom 14. bis zum 17. Jahrhundert, in: Diefenbacher, Michael/Olga Fejtová/Zdzislaw Noga (Hg.): Krakau – Nürnberg – Prag: Die Eliten der Städte im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Herkunft, Nationalität, Mobilität, Mentalität (Documenta Pragensia/Monographia 33,1) (2016), S. 529–559. 15 StadtAN F 5 Nr. 3/III, S. 181. Zu Michel Barth, Handelsmann wohl aus der bekannten Münchner Familie, vgl. StadtAN GSI 180 Nr. 155.220, bearbeitet von Walter Bauernfeind. 16 StadtAN B 14/III Nr. 14, Bl. 136 r. 17 StadtAN B 14/III Nr. 14, Bl. 136 r–v.
Conrad von Neuenfels – ein Adeliger als Bordellbetreiber in der Reichsstadt Nürnberg
Stadtgericht eine gesiegelte Urkunde ausgestellt,18 womit er sich offenbar zufrieden gab. Interessant ist in diesem Zusammenhang natürlich, dass sich Conrad gar nicht selbst in Nürnberg aufhielt, sondern dass seinen Nürnberger Hausstand und seine Interessen die Ehefrau Anna – deren Herkunft wir bislang leider nicht kennen – vertrat. Vielleicht kümmerte er sich gerade um seine Weinberge bei Freiburg, und die Vorstellung, dass er deren Ertrag bislang in seinen Nürnberger Frauenhäusern ausgeschenkt hatte, ist dabei nicht von der Hand zu weisen. Wo aber befand sich sein oben genanntes Schloss und was ist eigentlich über die Familie von Neuenfels bekannt?19 Die Spornburg Neuenfels, etwa 25 km südsüdwestlich von Freiburg i. Br. bzw. ca. 2 km nordnordöstlich von Badenweiler, wurde vermutlich um 1300 von den Herren von Neuenfels als reine Wohnburg selbst erbaut, ist 1343 erstmals urkundlich erwähnt und seitdem wohl immer von der Familie bzw. einem Familienzweig selbst bewohnt worden; seit 1540 war die Burg dann dem Verfall preisgegeben. Allerdings gibt es zu ihrer mittelalterlichen Nutzung – zumindest nach Auskunft einschlägiger Archive20 – keine Überlieferung. Die Burg hatte nie eine militärische Bedeutung, sondern wurde als Wohnhaus genutzt. Während des Spätmittelalters amtierten die Herren von Neuenfels, die bereits seit 1307 als „de Nuwenfels“ nachgewiesen sind, in der Region etwa als Burgvögte der Herrschaft Badenweiler, als Schultheißen von Neuenburg, einer als Landvogt zu Rötteln, einer als Abt von St. Trudpert; Familienvertreter sind weiterhin als Richter oder auch Priester nachzuweisen. Da die jeweiligen Inhaber der Herrschaft Badenweiler allerdings die Region politisch dominierten, blieb den Herren von Neuenfels offenbar nichts anderes übrig, als sich ihnen als Dienstmannen unterzuordnen. Der letzte bekannte Vertreter, Christof von Neuenfels, verkaufte 1538 die Reste der Grundherrschaft und zog nach Freiburg. Doch zurück nach Nürnberg und der Frage, wo sich die Frauenhäuser überhaupt befanden. Im Detail und insbesondere bei Gestalt und Aufteilung der einzelnen Häuser ist zwar noch vieles unklar, zur Lage können aber doch einigermaßen
18 StadtAN B 14/III Nr. 14, Bl. 136 v–137 r. 19 Vgl. im Folgenden: Vogel, Elmar/Maier, Dieter: Das Ende der Herren von Neuenfels, in: Geschichtsverein Markgräflerland e.V. (Hg.): Das Markgräflerland Bd. 2016, Schopfheim 2016, S. 195–198; Scheffelt, Ernst: Der Neuenfels, in: Die Markgrafschaft, Heft 2 (1951), S. 14–15; Kindler von Knobloch, Julius: Oberbadisches Geschlechterbuch, Bd. 3, Heidelberg 1919, S. 205. 20 Bzw. auch zur Familie Neuenfels selbst lt. Auskunft des Generallandesarchivs Karlsruhe bzw. der Stadtarchive Freiburg und Müllheim.
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konkrete Angaben gemacht werden (Abb. 2).21 Das Wohnhaus der Familie von Neuenfels, das offenbar ca. 1461/62 an der Breiten Gasse neu gebaut wurde,22 ist identisch mit der Nr. 452 in der Infografik. Inwiefern die danebenliegende, heutige Krebsgasse, das eigentliche Mauckental, schon immer öffentlicher Grund war oder vielleicht sogar bis zur Abschaffung der Häuser 1562 Privatgrund, wird hoffentlich noch zu klären sein. Die drei oder vier separaten Frauenhäuser selbst befanden sich jedenfalls auf den in der Karte umrissenen Grundstücken mit Durchgang zur – nomen est omen – Frauengasse. Die Lage des ersten Nürnberger Rotlichtviertels direkt an der ersten Stadtmauer ähnelt dabei stark der heutigen Lage an der Frauentormauer, nur eben ca. 500 m nordöstlich davon und deutlich kleiner. Über den Betrieb dieser Frauenhäuser bzw. das Geschäftsgebaren des Conrad von Neuenfels kam es 1482 zu einer gerichtlichen Auseinandersetzung,23 die noch einmal einen Einblick in die genaueren Umstände sowie auch zeitliche Entwicklungen bietet; auch hier können aus Platzgründen jedoch keine Details ausgebreitet werden. Klagende Parteien waren dabei nicht weniger als 20, zum größten Teil stadtbekannte Personen, nämlich die Gläubiger von zwei Frauenwirten, Michel von Eßlingen24 und Ulrich Viderlin25 . Sie warfen Conrad von Neuenfels im Prinzip vor, von den beiden überhöhte wöchentliche Zinszahlungen verlangt zu haben bzw. sie jeweils übervorteilt zu haben, so dass diese Konkurs anmelden mussten.26 Dabei konnte aber durch die Gläubiger kein Rückgriff auf die Häuser im Mauckental erfolgen, da hier Conrad von Neuenfels bei ausbleibenden Zinszahlungen den Erstzugriff hatte und die Häuser in seinen (Erbrechts-)Besitz zurückfielen. Endgültiger Auslöser der Klage war, dass nun die Häuser erneut verkauft worden waren, und zwar an Contz Hohenloch [wohl Conrad von Hohenlohe] um 5.500 fl. rh.27 Um zuerst noch einmal die enormen Summen, um die es hier ging, zu verdeutlichen: 5.500 fl. rh. entsprechen einer Größenordnung von 14 Mio. €.28 Wöchentli-
21 Im Forschungsprojekt TopoN des Stadtarchivs Nürnberg kann der derzeitige Forschungsstand nachvollzogen werden; einschlägig sind die Liegenschaftsobjekte StadtAN GSI 175 Nr. 44.977, Nr. 44.979, Nr. 44.983 und Nr. 44.986. 22 StAN Reichsstadt Nürnberg, Ratsbuch 1 b, Bl. 404 v. 23 StadtAN B 14/III Nr. 14, Bl. 231 r–245 r. 24 StadtAN GSI 180 Nr. 359.442, bearbeitet von Walter Bauernfeind. 25 StadtAN GSI 180 Nr. 359.445, bearbeitet von Walter Bauernfeind. 26 StadtAN B 14/III Nr. 14, Bl. 231 r–232 r. 27 StadtAN B 14/III Nr. 14, Bl. 234 r. 28 Als Vergleichsmaßstab dient der Taglohn eines ungelernten Arbeiters, der um 1470 zehn Pfennige betrug: StadtAN D 2/III Nr. 24; im Gegensatz zum Stadtwährungsgulden hatte der rheinische Gulden einen geringeren Feingehalt und um 1470 einen Wert von 250 Pfennigen. Für 2023 kann man bei acht Stunden Arbeit den Mindestlohn in Deutschland ansetzen, also etwa 100 €. Zur Methodik vgl. Bauernfeind, Walter: Materielle Grundstrukturen im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit, Nürnberg 1993, S. 339–349 u. S. 374–402.
Conrad von Neuenfels – ein Adeliger als Bordellbetreiber in der Reichsstadt Nürnberg
che Zinszahlungen von 8 fl. rh. entsprechen 20.000 € mithin einer Monatsmiete von 80.000 €. Wenn man damit allerdings etwa die Monatsmieten von heutigen Innenstadt-Kaufhäusern vergleicht, dann ist man mindestens beim fünf- bis sechsfachen Betrag, was wiederum diese Größenordnungen auch plausibel macht. Andererseits ist damit auch nachvollziehbar, dass eine solche Investition um 1470 niemand aus der ‚Unterschicht‘ leisten konnte – abgesehen davon, dass solche Personen auch nicht das Nürnberger Bürgerrecht erhalten hätten. Hauptargument der 20 Kläger war nun, dass die überhöhten Zinsforderungen sowie insgesamt das Geschäftsgebaren Conrads gegen die Rechtsordnung der Reichsstadt verstoßen würden. Es soll hier aber keine rechtliche Würdigung der Vorgänge versucht werden, zumal im Ergebnis Conrad von Neuenfels am 13. Dezember 1482
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nur dazu verpflichtet wurde, den Klägern darzulegen, was er von Ulrich Viderlin selbst oder in dessen Auftrag bzw. im Nachgang aus seiner übrigen Habe und deren Nutzung eingenommen hatte.29 Vielmehr soll zusammengefasst werden, was sich zu Besitz und Betrieb der Frauenhäuser zwischen ca. 1460 und 1482 sagen lässt: Conrad von Neuenfels hatte um 1460 alle Frauenhäuser von der Nürnberger Familie Schiller zu Erbrecht erworben und sie ab dann wohl selbst geführt. 1465 verkaufte er sie jedoch an Michel von Eßlingen um angeblich 6.000 fl. rh. – offenbar mit Zustimmung der Familie Schiller.30 Da Michel jedoch nur 800 fl. rh. in bar beglich, war die Restsumme mit wöchentlichen Zahlungen von 6 fl. rh. abzulösen, seit 1470 erhöht auf 8 fl. rh.; als Pfand für die regelmäßigen Zinszahlungen dienten die Häuser selbst. 1471 ging Michel von Eßlingen in Konkurs. Da niemand von dessen Gläubigern dazu bereit war, die Häuser zu übernehmen – Conrad hatte noch das Pfandrecht, was für einen Dritten heikel gewesen wäre –, erhielt Conrad von Neuenfels selbst wieder die Häuser von der Familie Schiller zu Erbrecht. Hier ist nun äußerst interessant, wie sich Conrad dazu vor Gericht äußerte: Da er – um an sein Geld zu kommen –, die Häuser selbst wieder erwerben musste, habe er dafür „Schmach, Schannd und Laster dabey gehapt“,31 was entsprechend niemand der anderen Gläubiger auf sich nehmen wollte. Wir erinnern uns, in diese Zeit fiel auch der eingangs dargestellte Hauskauf in der Winklerstraße bzw. damit vielleicht auch der Versuch, sich in der ‚besseren‘ reichsstädtischen Gesellschaft zu etablieren. Doch zurück zum Gewerbe mit dem „Laster“: 1471 hatte es offenbar doch einen Interessenten zur Übernahme der Frauenhäuser zu Erbrecht gegeben – Ulrich Viderlin –, den allerdings Margaretha Schiller als Eigenherrin nicht akzeptieren wollte.32 Offenbar zurecht, da Conrad an eben diesen die Frauenhäuser nun zwar um 8 fl. rh. Wochenzins ‚vermietete‘, Viderlin aber bereits nach neun Monaten in Konkurs ging. Daher führte ab Juni 1472 die Familie von Neuenfels die Frauenhäuser tatsächlich wieder in Eigenregie. Im Zusammenhang mit beiden Konkursen musste es übrigens schon zu mehreren Auseinandersetzungen vor Gericht in den Jahren um 1472 gekommen sein, auf die im Prozessverlauf mehrmals verwiesen wurde – dabei ist als prominentester Beteiligter von beiden Seiten der damalige Septemvir und aktuelle zweite Losunger Niclas Groß33 wohl bewusst nachdrücklich angeführt. Nach zehn Jahren Eigenbetrieb konnte dann mit Contz Hohenloch
29 StadtAN B 14/III Nr. 14, Bl. 245 r. Ob es im Nachgang zu einem Vergleich kam oder die Gläubigergruppen daraus keinen Nutzen ziehen konnten, ist bislang nicht bekannt. 30 StadtAN D 10 Nr. 54, Urkunde von 1465. 31 StadtAN B 14/III Nr. 14, Bl. 235 v. 32 StadtAN B 14/III Nr. 14, Bl. 236 r–v. Erbrechtsverkäufe waren üblich, allerdings hatte nach Nürnberger Stadtrecht dabei die Eigenherrschaft (in diesem Fall die Witwe Margaretha Schiller als alleinige Besitzerin und Eigenherrin) ein Zustimmungsrecht. 33 Zur Person vgl. StadtAN GSI 152 Nr. 55.250, bearbeitet von Walter Bauernfeind.
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wahrscheinlich tatsächlich erst wieder 1482 ein für die Familie Schiller akzeptabler Käufer gefunden werden. Wann Conrad von Neuenfels genau gestorben ist und wie alt er eigentlich wurde, ist bislang nicht bekannt; am 14. August 1487 ist er jedenfalls erstmals als gestorben nachzuweisen.34 Seine Witwe Anna und seine drei Töchter Anna, Agnes und Ursula regelten in der Folge den Nachlass bzw. waren auch mit entsprechenden Schuldforderungen konfrontiert, so etwa noch 1494 durch Wilhelm von Rappoltstein zu Hohenack und Geroldseck.35 Seine Witwe Anna scheint dabei das Gewerbe noch teilweise fortgeführt zu haben und auch die drei Töchter kommen in einschlägigen Zusammenhängen bis Anfang des 16. Jahrhunderts vor. Dies wäre jedoch ein eigenes Thema, bei dem insbesondere auch der neue, langjährig tätige Frauenwirt Hans Kusser und dessen Ehefrau Margaretha eine tragende Rolle spielen müssten. Es stellt sich nun die Frage, ob Conrad von Neuenfels als blaublütiger Frauenwirt ein Einzelfall war. Schon sein direkter Nachfolger bzw. Vorgänger, Michel von Eßlingen, könnte hier dagegen sprechen. Zwar ist zu seiner Person bislang kaum etwas bekannt, doch allein schon seine Bürgerrechtsverleihung am 14. September 146536 – fast zeitgleich mit dem Kauf der Frauenhäuser – lässt aufhorchen. Jedenfalls musste er zu dieser Zeit über deutlich mehr als 800 fl. rh. (2 Mio €) in bar verfügen, um sein neues Gewerbe in Angriff nehmen zu können. Und auch ein Vorgänger aus der Zeit um 1430, Engelhart von Creußen und seine Ehefrau Petronella,37 klingen erst einmal vom Namen her interessant. Der Käufer von 1482, Contz Hohenloch, könnte jedenfalls aus der weitverzweigten Dynastie von Hohenlohe stammen – wobei man auch immer illegitime Nachkommen bedenken muss. Abschließend sei noch ein weiterer, differenzierter Blick auf das Gewerbe geworfen. Denn ein Ratsverlass vom 24. November 148738 zeigt, dass es offenbar nicht nur „gemeine Töchter“39 gab – so der zeitgenössische Begriff für die Bewohnerinnen der Frauenhäuser, die eben laut Frauenhausordnung dazu verpflichtet waren, eigentlich jeden Kunden zu akzeptieren. Offenbar bestand auch ein eigenes Marktsegment für die gehobene Kundschaft der reichsstädtischen Gesellschaft, in dem vielleicht sogar relativ selbständig agierende Frauen ihrem Gewerbe nachgingen, auch wenn die beiden Frauen in diesem Fall offenbar unter höchster, da zumindest im weiteren Sinn kaiserlicher Protektion standen:
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StadtAN B 14/II Nr. D, Bl. 250 v. StadtAN B 14/II Nr. J, Bl. 50 r. StadtAN GSI 180 Nr. 359.442, bearbeitet von Walter Bauernfeind. StadtAN GSI 180 Nr. 359.527, bearbeitet von Walter Bauernfeind. StAN, Rst. Nbg, Ratsbuch 4, Bl. 279 r. In der Bedeutung von ‚allgemein‘ / ‚für jeden‘.
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Einer Frawen von Kempten, die dem kaiserlichen Hof i[h]rer Geschäfft halben nachvolgt, ist vergönnt, i[h]r Wesen hie bei einem Burger vnd nämlich bei Jacob Staudigel zu haben; doch das sie nicht aigen Rauch habe. Deßgleichen ist vergönndt Kunigunden Zehenderin von Koberg [wohl Coburg], bei Hannsen Schilher am Vischpach zu sein.
Wir können in beiden Fällen wohl zumindest von hochgestellten Persönlichkeiten ausgehen, die den Nürnberger Rat darum gebeten hatten, ein entsprechendes Aufenthaltsrecht auszusprechen und auch gleich noch geeignete Wohnungen zu organisieren. Zumindest Jacob Staudigel residierte dabei in bester Wohnlage auf der Lorenzer Seite am Roßmarkt.40 Und Hans Schiller sollte wohl aus derjenigen Familie Schiller stammen, die an Conrad von Neuenfels vor 1461 einen Teil des Frauenhäuserareals verkauft bzw. 1465 wieder zu Erbrecht überlassen hatte41 und dann 1489 das Gesamtareal zum Obereigentum an das Nürnberger Waisenhaus veräußerte.42 In beiden Fällen stellt sich jedenfalls die Frage, ob die Unterbringung eine außergewöhnliche Gefälligkeit von Jacob Staudigel bzw. Hans Schiller für ihre Obrigkeit war, oder ob dadurch schlaglichtartig eine gehobenere Form von Prostitution sichtbar wird. Eine entsprechende Nachfrage sollte jedenfalls vorhanden gewesen sein.
40 Zur Wohnlage, siehe Bauernfeind: Wohnquartiere; zum Haus selbst, siehe StadtAN GSI 175 Nr. 74.830 und Nr. 18.790. 41 Das Haus L 452 (siehe Abb. 2) hatte in den 1430er Jahren ein Eberhard Schiller besessen: StadtAN GSI 175 Nr. 359.409, bearbeitet von Walter Bauernfeind. Den südöstlichen Teil von L 450 hatte Margaretha, die Witwe von Hans Schiller an Conrad von Neuenfels (wieder) zu Erbrecht übergeben: StadtAN D 10 Nr. 54, Urkunde von 1465. 42 StadtAN D 10 Nr. 54, Urkunde von 1489.
Michael Diefenbacher
Johannes Müllner und seine „Annalen“
Vor 400 Jahren, im Jahr 1623, beendete der Nürnberger Ratsschreiber Johannes Müllner sein Hauptwerk, die „Annalen“ der Reichsstadt Nürnberg. Johannes (auch Johann d. J.) Müllner (1565–1634) entstammte einem Nürnberger Pfarrhaus. Sein Vater Johann (d. Ä.) Müllner, genannt Molitor (1528–1605), war als bekannter Philippist1 Pfarrer in Nürnberger Landgemeinden (so z. B. in Lonnerstadt 1553–1555), wurde 1567 Diakon an St. Lorenz, 1575 Diakon an St. Sebald und schließlich 1603 Schaffer in St. Sebald2 . Sohn Johannes immatrikulierte sich nach dem Besuch der Lorenzer Schule 1581 an der Nürnberger Hochschule in Altdorf zum Studium der Philosophie und Rechtswissenschaften (1583 Magister). 1586 studierte er die Rechte in Heidelberg und war 1588 wieder in Altdorf unter den Hörern der Rechtsgelehrten Hugo Donellus und Hubert Gyphanius. 1590 war er in Ingolstadt immatrikuliert. Studienreisen führten ihn an die Universitäten Tübingen, Straßburg, Basel, Würzburg, Mainz und Prag und zum Reichskammergericht nach Speyer. 1591 kehrte er nach Nürnberg zurück. In der Nürnberger Verwaltung wurde Müllner 1592 zunächst als Supernumerar-Syndicus angestellt, zuständig vornehmlich für diplomatische und juristische Verhandlungen, die ihn beinahe in alle bedeutenden Orte Frankens (besonders ans Kaiserliche Landgericht in Ansbach), 1595 aber auch nach Amberg und Eger und 1597 in Zollsachen nach München führten. 1598 wurde Johannes Müllner zum Registrator in der Ratskanzlei, 1602 zum Jüngeren Ratsschreiber und schließlich 1624 zum Älteren Ratsschreiber ernannt. Als Jüngerer Ratsschreiber protokollierte Müllner über 20 Jahre lang die
1 Philippisten waren Anhänger der in einigen Bereichen von der reinen Lehre Martin Luthers abweichenden Theologie Philipp Melanchthons; sie fanden sich in der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts in Nürnberg vor allem in den führenden politischen und ökonomischen Kreisen, vgl. Mährle, Wolfgang: Academia Norica. Wissenschaft und Bildung an der Nürnberger Hohen Schule in Altdorf (1575–1623) (Contubernium 54), Stuttgart 2000, S. 35–38, S. 486–491, und Ders.: Eine Hochburg des „Kryptoclavinismus“ und des „Kryptosozianismus“? Heterodoxie an der Nürnberger Hochschule in Altdorf um 1600, in: MVGN 97 (2010), S. 195–234, hier S. 200. 2 Martin, Uwe: Die Nürnberger Musikgesellschaften. Rudolf Wagner zum Andenken, in: MVGN 49 (1959), S. 185–225, hier S. 191; Simon, Matthias: Nürnbergisches Pfarrerbuch. Die evangelischlutherische Geistlichkeit der Reichsstadt Nürnberg und ihres Gebietes 1524–1806 (Einzelarbeiten aus der Kirchengeschichte Bayerns 41), Nürnberg 1965, S. 154 (Nr. 918), S. 297 (Lonnerstadt); Grieb, Manfred H. (Hg.): Nürnberger Künstlerlexikon. Bildende Künstler, Kunsthandwerker, Gelehrte, Sammler, Kulturschaffende und Mäzene vom 12. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, München 2007, S. 1051 f.
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Michael Diefenbacher
Eigenhändige Unterschrift Müllners unter dem 4. Band der Reinschrift der „Annalen“ von 1623. StAN, Reichsstadt Nürnberg, Handschriften Nr. 32.
Sitzungen der Sieben Älteren Herren, des eigentlichen Führungsgremiums der Reichsstadt, und bekam somit automatisch Einblick in sämtliche Belange der Stadt. Seit 1603 gehörte Müllner zudem bis zu seinem Tod 1634 dem Größeren Rat der Reichsstadt an.3 Diese berufliche Tätigkeit – die letzten zehn Jahre der „Annalen“ erlebte er fast ausschließlich als Agierender in der zweiten oder dritten Reihe in diplomatischen Diensten seiner Vaterstadt, bevor er als Registrator und Ratsschreiber quasi in den „Innendienst“ wechselte – banden Müllner ähnlich wie seine Herkunft aus einem evangelischen Pfarrhaus und seine ehelichen Verbindungen in die innenund außenpolitischen, religiös-kulturellen und wirtschaftlich-sozialen Verhältnisse der Pegnitzmetropole ein. Johannes Müllner war über Vater und Mutter in das geistig-schulisch-kulturelle Bürgertum der Reichsstadt Nürnberg hineingeboren worden. Seine Mutter Dorothea Beheim (gest. 1605) war die Schwester des Altphilologen und Dichters Andreas Beheim (Bohemus) (1538–1611), 1571–1611 Rektor der Lorenzer und 1611 noch wenige Monate bis zu seinem Tod Rektor der Sebalder Lateinschule4 und 1568 Gründungsmitglied einer der ältesten Nürnberger Musikgesellschaften5 . Müllner heiratete drei Mal: Seine erste Frau Anna Richter (Heirat 1594, gest. 1603), war die Tochter des Tuchmachermeisters (in Nürnberg Färber genannt)
3 Zur Person Müllners vgl. StadtAN E 18 Nr. 634 (Lebenslauf) und StadtAN GSI 152 (Genanntendatenbank) Nr. 57.775. Literatur: Hirschmann, Gerhard (Hg.): Die Annalen der Reichsstadt Nürnberg von 1623 von Johannes Müllner, Band I: Von den Anfängen bis 1350 (Quellen zur Geschichte und Kultur der Stadt Nürnberg 8), Nürnberg 1972, S. 8*–14*; Ders.: Müllner, Johannes, in: Neue Deutsche Biographie 18 (1987), S. 515 f.; Ebneth, Bernhard: Müllner, Johannes M., Ratsschreiber, Chronist, in: Diefenbacher, Michael/Endres, Rudolf (Hg.): Stadtlexikon Nürnberg, Nürnberg 2 2000, S. 705; Grieb: Künstlerlexikon, S. 1052. 4 Brusniak, Friedhelm: Nürnberger Schülerlisten des 16. Jahrhunderts als musik-, schul- und sozialgeschichtliche Quellen, in: MVGN 69 (1982), S. 1–109, Kurzbiografie: S. 41 und viele weitere Nennungen; Grieb: Künstlerlexikon, S. 102. 5 Martin: Musikgesellschaften, S. 191, S. 203 f.; Harrassowitz, Hermann: Geschichte der Kirchenmusik an St. Lorenz in Nürnberg, in: MVGN 60 (1973), S. 1–152, hier S. 149.
Johannes Müllner und seine „Annalen“
Albrecht d.Ä. Richter (gest. 1577)6 , seit 1563 Genannter des Größeren Rats der Reichsstadt7 . Nach Annas Tod führte Johannes Müllner 1604/05 als Vormund seiner Kinder aus dieser Ehe vor dem Stadt-, Bauern- und Untergericht der Reichsstadt einen Prozess gegen seinen Schwager Albrecht d.J. Richter (gest. 1610)8 um eine Darlehensforderung von 500 Gulden9 . Mitvormund der Kinder war der englische Tuchbereiter Conrad Richter (gest. 1626), ein weiterer Schwager Müllners10 . Nicht ganz ein Jahr nach Annas Tod am 8. November 1603 heiratete Johannes Müllner am 17. September 1604 Maria Hörauf (gest. 1611), die Tochter des Stefan Hörauf, Bürger und Mitglied des größeren Rates zu Windsbach11 . Marias Mutter Anna, geb. Priester, aus Eschenbach12 , war eine Stiefschwester13 des Hans Geißler (gest. 1608), Handelsmann zu Nürnberg14 .
6 Meisterzeichen Albrecht d.Ä. Richters 1568 als Tuchmachermeister, in: StadtAN E 5/77 Nr. 2, S. 468. Albrecht betrieb in der Sterngasse eine Gewandschneiderei (ebd., S. 494 und 495). Der in ebd., S. 494 (1581), S. 495 (1593) und S. 507 (1599) mit eigenem Zeichen vertretene Albrecht d. J. war Annas Bruder und somit der Schwager Johannes Müllners. 7 Albrecht d.Ä. Richter war 1563–1577 Genannter des Größeren Rats: StadtAN GSI 152 (Genanntendatenbank) Nr. 56.809. 8 Albrecht d.J. Richter war 1598–1610 Genannter des Größeren Rats: StadtAN GSI 152 (Genanntendatenbank) Nr. 57.691. 9 StadtAN B 14/IV Nr. 169. Der hier genannte Prozessgegner Albrecht Richter, hier als Speismeister zu Altdorf bezeichnet, der 1605 in weitere Prozesse mit Verwandten vor dem Stadtgericht verwickelt war (mit seinem Bruder Hieronymus Richter: ebd. Nr. 170, mit seinem Schwager Hans Beckh und seinem Bruder Conrad Richter: ebd. Nr. 171, hier wird Albrecht Richter als gewesener Kriegsschreiber bezeichnet) ist mit dem als Tuchmachermeister belegten Albrecht d.J. Richter (vgl. oben) identisch. 10 Conrad Richter war 1603–1626 Genannter des Größeren Rats: StadtAN GSI 152 (Genanntendatenbank) Nr. 57.778. Zu ihm und seiner Rolle im Handwerk der englischen Tuchbereiter im späten 16. Jahrhundert vgl. Sakuma, Hironobu: Die Nürnberger Tuchmacher, Weber, Färber und Bereiter vom 14. bis 17. Jahrhundert (Nürnberger Werkstücke zur Stadt- und Landesgeschichte 51), Nürnberg 1993, S. 288 f. 11 Bereits im Ansbacher Reichssteuerverzeichnis von 1497 sind in Amt und Stadt Windsbach mehrere Vertreter namens Hörauf verzeichnet: Rechter, Gerhard (Bearb.): Das Reichssteuerregister von 1497 des Fürstentums Brandenburg-Ansbach-Kulmbach unterhalb Gebürgs, 2 Teilbde. (Quellen und Forschungen zur fränkischen Familiengeschichte 1), Nürnberg 1985, S. 69–72, Nr. 1934, 1949, 1956, 1966, 1969 und 1971. 12 Im Reichssteuerregister des Deutschen Ordens von 1495 tauchen in (Wolframs-)Eschenbach, in der Vorstadt, mit Herman Briesterin, Mertin Briester und Hanns Briester mehrere Vertreter Priester auf: Schmid, Peter: Der Deutsche Orden und die Reichssteuer des Gemeinen Pfennigs von 1495. Die Grundherrschaft des Deutschen Ordens im Reich an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert (Einzelarbeiten aus der Kirchengeschichte Bayerns 76), Neustadt a.d. Aisch 2000, S. 165. 13 So StadtAN E 18 Nr. 634. 14 Hans Geißler war 1589–1608 Genannter des Größeren Rats: StadtAN GSI 152 (Genanntendatenbank) Nr. 57.392. Er fungierte in Nürnberg als Vertrauter des St. Galler Großkaufmanns und Tuchhändlers Hans Schlumpf, der seit 1594 selbst in Nürnberg ansässig war: Peters, Lambert F.:
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Dritte Ehefrau Müllners wurde, nachdem Maria am 19. September 1611 verstorben war, ziemlich genau ein Jahr später (Heirat am 22. September 1612) Felicitas Strolunz. Felicitas war eine Tochter des Großkaufmanns und Tuchhändlers Hans (III.) Strolunz (gest. 1621)15 . Die Strolunz waren in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in Nürnberg eine der bedeutenderen Großhandelsfamilien, sie waren im Tuch-, Gold-, Silber- und Safranhandel tätig, engagierten sich als Kunstsammler und zählten 1560 zu den Gründervätern des Nürnberger Handelsvorstands sowie 1569 zu den Wegbereitern der englischen Tuchbereitung in der Pegnitzstadt. Mitglieder der Familie arbeiteten in Nürnberg auch für Augsburger Tuchhandelsfirmen.16 Aus diesen drei Ehen hatte Johannes Müllner 15 Kinder.17 Von den acht mit Anna Richter gezeugten überlebten drei: Martha (geb. 1598), verheiratet seit 1623 mit dem Spezereihändler Jakob Winkler (1581–1635)18 , die ledig verstorbene Barbara (1600–1623) und Hans Christof (1602–1662)19 , verheiratet seit 1633 mit Juliana Nöttel, einer Tochter des Großkaufmanns und Stadtfähnrichs Hans Nöttel (gest. 1649)20 . Hans Christof Müllner wurde wie sein Vater Johannes Nürnberger
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Der Handel Nürnbergs am Anfang des Dreißigjährigen Krieges (Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beiheft 112), Stuttgart 1994, S. 502. Zu den Schlumpf: Friese, Rainer: Die St. Galler Familie Schlumpf in Nürnberg, in: Genealogie. Deutsche Zeitschrift für Familienkunde 28 (2006/07), S. 532–557, zum Handel besonders S. 534–537. Zu den Handelsaktivitäten der Schlumpf außerdem: Peters: Handel, besonders S. 498–506, und Peters, Lambert F.: Die Großkaufleute und Bankiers Werdemann aus Italien in Nürnberg (16. und 17. Jahrhundert). Forschungsstand – neue Forschungsergebnisse – Forschungsaufgaben, in: MVGN 98 (2011), S. 197–270, hier S. 206, S. 209 und S. 211. Hans (III.) Strolunz war 1577–1589 Genannter des Größeren Rats, die Ratswürde wurde ihm 1589 wegen Bankrotts aberteilt (StadtAN E 11 Nr. 3288), vgl. StadtAN GSI 152 (Genanntendatenbank) Nr. 57.121. Zu ihm als Tuchhändler auch Sakuma: Tuchmacher, S. 162. Wunder, Gerd: Strolunz in Nürnberg, in: Blätter für fränkische Familienkunde 8 (1961–1965), S. 295–297; Diefenbacher, Michael: Der Nürnberger Handelsvorstand und seine Gründer, in: MVGN 102 (2015), S. 33–190, hier S. 122–125 (mit weiterführender Literatur). Müllner zählt auf Folio 2010r die Strolunz zu den 1550 an Bedeutung hinzugekommenen Nürnberger Familien, vgl. Diefenbacher, Michael (Bearb.): Die Annalen der Reichsstadt Nürnberg von Johannes Müllner von 1623, Band IV: 1545–1600 (erscheint 2024). Vgl. StadtAN E 18 Nr. 634. Jakob Winkler war 1618–1635 Genannter des Größeren Rats: StadtAN GSI 152 (Genanntendatenbank) Nr. 58.186. Hans Christof Müllner war 1605–1649 Genannter des Größeren Rats, vgl. StadtAN GSI 152 (Genanntendatenbank) Nr. 59.037. Seinen Lebenslauf (StadtAN E 18 Nr. 635) verfasste der Ratsschreiber Johann Andreas Bayer, Genannter des Größeren Rats 1668–1686, vgl. StadtAN GSI 152 (Genanntendatenbank) Nr. 59.657. Hans Nöttel war 1605–1649 Genannter des Größeren Rats, vgl. StadtAN GSI 152 (Genanntendatenbank) Nr. 57.827. Grabinschrift bei Zahn, Peter: Die Inschriften der Friedhöfe St. Johannis,
Johannes Müllner und seine „Annalen“
Ratsschreiber.21 Aus der Ehe mit Maria Hörauf gingen fünf Kinder hervor, von denen nur die ledig verstorbene Maria Magdalena (1605–1621) das Erwachsenenalter erreichte, und von den zwei Kindern aus der Ehe mit Felicitas Strolunz überlebte der 1615 geborene Sohn Johann Leonhard, der in den 1630er Jahren im nordfranzösischen St. Quentin (Département Aisne) als Soldat verstorben ist22 . Sein familiäres Umfeld zeigt uns Johannes Müllner einerseits im protestantischphilippistischen Umfeld seines Elternhauses, geprägt von religiös-theologischen, aber auch philologisch-schulischen Interessen, im Studium vertieft durch rechtlichphilosophische Tendenzen. Andererseits heiratete er in Kreisen der handwerklichen Oberschicht (Richter) und mittleren Kaufmannschaft (Hörauf-Geißler) bis hin zum gehobeneren Groß- und Fernhandel (Strolunz). Handwerk wie Kaufmannschaft und Fernhandel weisen stark ins Textilgewerbe (Tuchmacher = Färber, englische Tuchbereiter, Tuchhandel), ein Sektor, in dem Nürnberg im 16. Jahrhundert eines der führenden Zentren, wenn nicht gar das führende Zentrum Süddeutschlands war.23 Hatte dieses Umfeld Auswirkungen auf das von Müllner geschaffene Werk? Die schriftstellerische Tätigkeit des Johannes Müllner begann 1612 mit seinem Bericht über den Einzug des Kaisers Matthias (Kaiser 1612–1619) in Nürnberg. Hiermit hatten ihn die Sieben Älteren Herren beauftragt, das Ergebnis war ein von ihm selbst verfasstes Konzept von 159 Folioblättern24 , wovon der Rat 1614 von einem Kanzlisten eine prunkvoll ausgestattete Reinschrift anfertigen ließ25 . Mit seinen „Annalen“, einer chronologisch geordneten Geschichte Nürnbergs von den Anfängen bis 1600, wurde Müllner dann zum bedeutendsten Chronisten der Reichsstadt. An ihnen arbeitete er neben seiner beruflichen Tätigkeit als Registrator und Rats-
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St. Rochus und Wöhrd zu Nürnberg [1581–1609], Bd. 3 (Nr. 3000–4486) (Die deutschen Inschriften, Bd. 90 = Münchener Reihe, Bd. 16), 2 Teilbde., München 2013, Nr. 3647 (Grab Johannis P 48). Ratsschreiber 1641–1662: StadtAN B 11 Nr. 125, S. 203. StadtAN E 18 Nr. 634. Johann Leonhard Müllner muss in St. Quentin nicht in Folge von Kriegshandlungen ums Leben gekommen sein, sondern könnte auch Opfer der dort wütenden Seuchenzüge (Pestepidemien) der Jahre 1635, 1636 oder 1637 geworden sein, vgl. https://www.sastq.fr/articles/ 1635-1636-et-1637-une-epidemie-de-peste-decime-la-ville-de-saint-quentin/ (03.02.2023). Sakuma: Tuchmacher, S. 142–151, Diefenbacher, Michael: Massenproduktion und Spezialisierung. Das Handwerk in der Reichsstadt Nürnberg, in: Kaufhold, Karl Heinrich/Reininghaus, Wilfried (Hg.): Stadt und Handwerk in Mittelalter und Früher Neuzeit (Städteforschung A 54), Köln/Weimar/ Wien 2000, S. 211–228, hier S. 226 f.; Diefenbacher, Michael: Ratspolitik und Handelsinteressen – Wie attraktiv war die Handels- und Wirtschaftsmetropole Nürnberg in der frühen Neuzeit für Nichtnürnberger?, in: Korn, Brigitte/Diefenbacher, Michael/Zahlaus, Steven M. (Hg.): Von nah und fern. Zuwanderer in die Reichsstadt Nürnberg (Schriftenreihe der Museen der Stadt Nürnberg 4), Petersberg 2014, S. 15–32, hier S. 27 f. StAN Reichsstadt Nürnberg, Krönungsakten Nr. 16. StAN Reichsstadt Nürnberg, Krönungsakten Nr. 15.
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Müllners „Annalen“. Titelblatt des 4. Bandes der Reinschrift von 1623. StAN, Reichsstadt Nürnberg, Handschriften Nr. 32.
schreiber 25 Jahre lang, war also damit schon über zehn Jahre beschäftigt, als er den Auftrag für seinen Bericht zu Kaiser Matthias‘ Einzug erhielt. Müllners eigenhändiger Entwurf der „Annalen“ umfasst sechs Bände26 , drei Kopisten fertigten ab 1617 eine vier Bände starke Reinschrift27 . 1623 war das Gesamtwerk abgeschlossen.28 Wenn man davon ausgeht, dass die Kopisten erst beauftragt wurden, als Müllner seine Arbeiten am Konzept der „Annalen“ zumindest weitestgehend abgeschlossen hatte, und der Beginn der Arbeit an den „Annalen“ etwa mit der Übernahme des Amtes als Registrator in der Ratskanzlei 1598 zusammenfällt, so liegt nahe, dass 1612 die Tatsache, dass er bereits an einem umfangreichen Geschichtswerk arbeitete, entweder publik oder wenigstens bei den Entscheidungsträgern bekannt war. Dies, eine entsprechende „Mund-zu-Mund-Propaganda“ oder gar „Probestücke“ aus den Konzepten der „Annalen“ dürfte folglich einen entscheidenden Einfluss auf die Auftragsvergabe für den Bericht über den kaiserlichen Einzug 1612 gehabt haben. Die Zufriedenheit mit Müllners Chronik bei den in Nürnberg Verantwortlichen war so groß, dass er bereits 1624 mit einer weiteren umfangreichen Arbeit beauf26 StAN Reichsstadt Nürnberg, Handschriften Nr. 22–27. 27 StAN Reichsstadt Nürnberg, Handschriften Nr. 29–32. 28 Zu Müllners „Annalen“ vgl. Hirschmann: Müllner I, S. 14*–24*; Diefenbacher, Michael: Die Nürnberger Chronistik im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit (Nuremberg Chronicles in the Late Middle Age and Early Modern Period), in: Fejtová, Olga/Ledvinka, Václav/Maříková, Martina/Pešek, Jiří (Hg.): Historiografie s mestem spojená (Documenta Pragensia 37), Praha 2018, S. 163–191, hier S. 172 f.
Johannes Müllner und seine „Annalen“
tragt wurde. Diese, Müllners „Relationen“, neben den „Annalen“ sein bedeutendstes Werk, bilden den Abschluss seiner schriftstellerischen Tätigkeit, der bereits fünf Jahre später, 1629, vorlag. In 22 Einzeldarstellungen29 stellte er hierbei die wichtigsten staatsrechtlichen Grundlagen Nürnbergs zusammen, die heute ebenfalls als Reinschrift in drei Foliobänden zusammengefasst vorliegen30 . Ursprünglich waren sowohl die „Annalen“ als auch die „Relationen“ als amtsinterne Werke des Nürnberger Rats nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Aufgrund ihrer inhaltlichen Bedeutung wurden sie jedoch vor allem im 18. Jahrhundert häufig kopiert.31 Müllners Darstellung der allgemeinen Geschichte in den „Annalen“ basiert auf dem Stand der damals gedruckt vorliegenden Literatur, seine Stadtgeschichte schöpft aus den Quellen des reichsstädtischen Archivs32 , das ihm als Registrator in der Ratskanzlei und als Ratsschreiber zugänglich war. Da er zudem für seine Zeit sehr quellenkritisch arbeitete und Teile der Überlieferung, die ihm zugänglich waren, im 19. Jahrhundert vernichtet wurden, können die „Annalen“ der modernen Geschichtsforschung als Ersatzüberlieferung dienen.33 Am Schluss der Würdigung von Müllners „Annalen“ soll erneut die Frage nach dem persönlichen Umfeld des Ratsschreibers und dessen Einfluss auf seine Arbeit stehen. Alle drei vorgestellten Werke sind entweder direkt („Einzug“ und „Relationen“) oder indirekt („Annalen“) im Auftrag bzw. mit Wissen des Nürnberger Rats entstanden. Müllners eigene Sicht auf die Dinge, die er berichtet, kann also nur in Nuancen sichtbar werden, zumal er immer bestrebt war, dass sein Werk nicht „einem Pastquill“ gleiche, sondern „einem unparteyschen Scripto historico“34 . Aus der Kenntnis der beiden jüngeren Bände der „Annalen“ können die Aussagen, die Gerhard Hirschmann aus der Bearbeitung der ersten beiden Bände
29 Die – gekürzten – Titel bei Hirschmann: Müllner I, S. 24*. 30 StAN Reichsstadt Nürnberg, Handschriften Nr. 342–344. 31 Auch in den Nürnberger Archiven finden sich zahlreiche Abschriften des 17./18. Jahrhunderts, so z. B. im Stadtarchiv: Abschriften der „Annalen“ in StadtAN F 1 Nr. 2–7, Abschriften der „Relationen“ in StadtAN F 1 Nr. 8–13. 32 So Müllner wörtlich am Ende seiner „Annalen“ (fol. 2444r): „Doch hab ich alles, was zur Hand zu bringen muglich gewest, aus den scriptoribus mediae aetatis und aus obangezogenen und viel andern Closterchronicken, auch den Schrifften, so zu unnsern Zeiten an Tag kummen, mitt unverdroßner Muhe, gleichwohl mitt langer Hand, soviel mir neben Verrichtung meiner Ambtsgeschefft an Zeit übrig gewest, durchloffen, und was ich von der Statt Nurnberg und derselben Reichsvögten und Burggraven Geschichten gefunden, mitt Vleiß zusammengetragen und mitt dem, was mir dieser Statt Archivum suppeditirt hatt, conferirt, biß ich daraus einen bestendigen Bericht faßen können.“, vgl. Diefenbacher: Müllner IV, S. 856. 33 Zur Würdigung von Müllners Gesamtwerk vgl. Hirschmann: Müllner I, S. 24*–31*, und Diefenbacher, Michael: Müllnersche Chronik, in: Diefenbacher/Endres: Stadtlexikon, S. 705. 34 Müllners „Annalen“, fol. 2444r, vgl. Diefenbacher: Müllner IV, S. 856.
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gewonnen hat35 , untermauert werden. Müllner stellt bei aller angestrebten Objektivität des Geschichtsforschers die Geschichte der Reichsstadt Nürnberg aus der Sicht eines hohen reichsstädtischen Verwaltungsbeamten dar. Seine volle Loyalität zum Rat – in dessen „Auftrag“ oder Kenntnis er zumindest offiziös arbeitete – tritt besonders in jenen Passagen zu Tage, wo er die andauernden Auseinandersetzungen mit den markgräflichen Nachbarn (im 4. Band der Zweite Markgrafenkrieg, der Fraischprozess und das ewige Gezerre um Geleitrechte und Wildbann), aber auch mit Bamberg (im 4. Band z. B. die Auseinandersetzungen um die Holznutzung im Veldensteiner Forst und die Zerstörung Gräfenbergs 1561–1563 oder der Streit um Pfarrrechte in Hausen bei Forchheim 1566) schildert oder die Haltung Nürnbergs in den Grumbachschen Händeln mit dem Gothaischen Krieg oder im Landsberger Bund bewertet. Wurde in Band 3 noch der Markgraf von Müllner gelegentlich als „gemainer Statt Nurnberg Erbfeind“36 betitelt, so fiel dieser zweifelhafte Titel in Band 4 den osmanischen Truppen in Ungarn zu37 . So ist es auch nicht zu verwundern, dass Skandale oder Reibereien innerhalb des Ratsgremiums ebenso wenig Gegenstand seiner Chronik sind wie das Resignieren einzelner Ratsmitglieder aus Alters-, Krankheits- oder anderen persönlichen Gründen38 . Auch finanzielles und kriminelles Fehlverhalten wird nur thematisiert, wenn dieses auch jenseits der Reichsstadtgrenzen bekannt geworden ist. So werden in Band 3 beispielsweise der Geheimnisverrat Anton Tetzels 1514 und seine Folgen oder der Mord Berthold IV. Nützels an seiner Ehefrau Helena geb. Haiden 1495 geschildert39 oder in Band 4 der Fall des berühmten „Bratwurst-Stromer“ Hans X. Stromer (1517–1592), der 1554 wegen Mordes an einem Edelmann zu lebenslanger Turmhaft verurteilt worden war, wo er nach 38-jähriger Haft verstarb und während dieser Zeit 28.000 Bratwürste gegessen haben soll40 . Besonders interessant ist die Sicht Müllners auf den Fall Karl Fürers (1530–1567). Dieser war 1557 als Jüngerer Bürgermeister in den Kleineren Rat berufen worden, seinen Amtsgeschäften aber über Jahre nicht nachgekommen, weil er angeblich als Kaufmann im Saigerhandel
35 Hirschmann, Müllner I, S. 24*–31*, und Hirschmann, Gerhard (Hg,): Die Annalen der Reichsstadt Nürnberg von 1623 von Johannes Müllner, Band II: Von 1351–1469 (Quellen zur Geschichte und Kultur der Stadt Nürnberg 11), Nürnberg 1984, S. 6* f. 36 Diefenbacher, Michael (Barb.); Die Annalen der Reichsstadt Nürnberg von 1623 von Johannes Müllner, Band III: Von 1470–1544 (Quellen und Forschungen zur Geschichte und Kultur der Stadt Nürnberg 32), Nürnberg 2003, z. B. S. 540. 37 Müllners „Annalen“, fol. 2426v, vgl. Diefenbacher, Müllner IV, S. 816. 38 Hierzu Fleischmann, Peter: Rat und Patriziat in Nürnberg (Nürnberger Forschungen 31), 3 Teilbde., Nürnberg 2008, S. 280–282. 39 Diefenbacher, Müllner III, S. 143 f. (Nützel), S. 428 (Tetzel); Fleischmann, Rat, S. 295 und 737 (Nützel), S. 295 und S. 983 f. (Tetzel). 40 Müllners „Annalen“, fol. 2183r–v und fol. 2388r–v, vgl. Diefenbacher: Müllner IV, S. 417 und S. 748; Fleischmann: Rat, S. 295 f., S. 958 und S. 969.
Johannes Müllner und seine „Annalen“
und zudem mit dem Wiederaufbau seines im Markgrafenkrieg zerstörten Herrensitzes Haimendorf zu sehr beschäftigt gewesen sei. Deshalb wurde er 1567 im Rat zum Alten Genannten zurückgestuft. Noch im selben Jahr verschwand Karl Fürer spurlos. Er war wohl auf dem Weg nach Haimendorf entführt und auf ein Schloss in Hessen und später nach Sachsen verschleppt worden. Die Entführer wurden nie namhaft gemacht, die Ratsstelle Karl Fürers hat man 1568 noch freigehalten, aber im folgenden Jahr neu besetzt41 . Johannes Müllner berichtet über diesen spektakulären Fall im Jahr 1567 lapidar, Karl Fürer sei auf dem Weg nach Haimendorf „verloren“ gegangen und seine Familie suche nach ihm und im Jahr 1569 von der Wiederbesetzung der Ratsstelle.42 Ebenso deutlich wie seine Loyalität zum Rat tritt uns Müllners religiöse Sicht als überzeugter Lutheraner vor Augen: Waren es in Band 3 in den Jahrzehnten vor und während der Reformation seine Kommentierungen von in seinen Augen typisch katholischen Vorgängen wie z. B. die Singstiftung Kaiser Friedrichs III. für Hostien- oder Sakramentsprozessionen in beiden Nürnberger Pfarrkirchen 1475, die Müllner mit der Marginalie „Kayserliche Stifftung, vor dem Brodgötzen zu singen“ versah43 , seine Verdammung der Heiltumsweisung als „Abgötterei“44 oder seine durchgängige Abscheu vor dem „Ablaßkram“45 , so sind es im 4. Band neben den bekenntnispolitischen Ereignissen der 1540er Jahre (Schmalkaldischer Krieg, Interim) die großen innerprotestantischen Auseinandersetzungen um das richtige evangelische Bekenntnis, die von Müllner geradezu zu Jahresschwerpunkten in seinen „Annalen“ gemacht wurden: 1561 der Religionstag (Fürstentag) zu Naumburg und seine Folgen (fol. 2232r–2234v), 1563 der Theologenstreit um den freien Willen und besonders die Rolle des Nürnberger Predigers bei St. Egidien Konrad Klingenbeck (fol. 2247r–v), Nürnbergs Kampf gegen Schwenckfeldische (1565, fol. 2253v–2254r) und Flacianische Lehren (1568, fol. 2264r–2265r), 1573 das Ringen um die Bekenntnisnorm „norma doctrinae“ (fol. 2289r–v), 1575 und 1583 der Streit um Exorzismus bei der Taufe (fol. 2296v–2298r und fol. 2340–2341v), 1577 die Ablehnung des Konkordienbuches (fol. 2309r–2311r), 1585 der Streit unter den Nürnberger Theologen um eine abermalige Unterschrift unter die norma doctrinae
41 Fleischmann: Rat, S. 113 und S. 386 f. Zum Wiederaufbau von Schloss Haimendorf: Giersch, Robert/ Schlunk, Andreas/Haller, Bertold Frhr. von: Burgen und Herrensitze in der Nürnberger Landschaft, Lauf a.d. Pegnitz 2006, S. 164 f. 42 Müllners „Annalen“, fol. 2263r (1567): „Carl Füerer deß Raths zu Nurnberg ist diß Jar, alß er auff seinen Herrensitz gen Haimendorff geritten, verlohren worden, das sein Ehewirtin und Freundschafft über allen angewenden Vleiß nichts von ihme erfahren können, wo er hinkumen“, und fol. 2268r (1569), vgl. Diefenbacher: Müllner IV, S. 553 und S. 560. 43 Diefenbacher: Müllner III, S. 28. 44 Ebd., S. 486. 45 Ebd., S. 106 und S. 110 f.
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Michael Diefenbacher
(fol. 2350r–v) und 1586 die Flucht dreier Nürnberger Pfarrer wegen der Kalenderreform nach Augsburg sowie der dortige Kalenderstreit (fol. 2353v–2355r). Bei keiner dieser innerprotestantischen Querelen ist Müllners philippistische Einstellung so deutlich zu spüren wie bei Nürnbergs ablehnender Haltung gegenüber der lutherischen Konkordienformel 1577. Aber auch hier berichtete der Chronist vor allem über die Auseinandersetzungen in der Nürnberger Theologenschaft und die Diskussionen Nürnbergs mit den Befürwortern des torgauisch-bergischen Konkordienbuchs (Kurfürst von Sachsen, Landgraf von Hessen, Markgraf von Brandenburg-Ansbach), die Divergenzen innerhalb des Ratsgremiums um die Position des weniger philippistisch gesinnten Jüngeren Bürgermeisters Paulus V. Harsdörffer, der für eine Annahme des Konkordienbuchs eintrat, ließ er außen vor.46 Insgesamt lässt sich die Arbeit an den „Annalen“ wie folgt charakterisieren: Sie war zumindest seit 1612 offiziös, wenn nicht gar offiziell. In ihr – und da besonders im 4. Band – spiegeln sich deutlich Müllners Herkunft und die sozialen und wirtschaftlichen Kreise seiner Ehefrauen. Die „Annalen“ sind auch heute noch nicht nur eine unverzichtbare historische Quelle, sondern sie geben in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts gerade jene politischen, religiösen und gesellschaftlichen Verhältnisse wieder, in denen ihr Autor sich bewegte. Johannes Müllners Subjektivierungen gerade in Religionsangelegenheiten geben seinen „Annalen“ als chronikalischem Werk eines überzeugten Protestanten einen besonderen Wert.
46 Müllners „Annalen“, fol. 2309r–2311r; vgl. Diefenbacher: Müllner IV, S. 629–631. Die Position Harsdörffers bei Fleischmann: Rat, S. 286 f. und S. 552.
Georg Seiderer
„Norisches Wesen“ in der „Barbaria“ Georg Wilhelm Friedrich Hegel und sein Nürnberg-Bild
Wir haben seit einigen Monaten ein in der Tat sehr schönes Museum, das an die Stelle der alten Harmonie, die sich jedoch auch noch erhält, getreten ist; – kürzlich hat sich ein Herr von Haller durch den Kopf geschossen; Frau Senatorin von Strömer [sic] hat das Kind ihrer Fräulein Tochter ins Wasser getragen und sitzt im Turm; nächster Tage wird ein Mann gerädert, der mit seiner Tochter Blutschande getrieben, die letztere wird mit geköpft, weil beide auch noch das Kind getötet; andere Fräulein sind noch schwanger; früher ging das 14jährige Mädchen eines Bekannten von mir mit einem Komödianten durch, ein paar Tage darauf folgte ihm eine andere; hin und wieder findet man tote Weibspersonen im Wasser; die natürlichen Todesfälle nicht mitgerechnet; – wir haben Konzert, wobei wir nur eine Sängerin wie Ihre Frau Gemahlin vermissen; – Komödie ohnehin; von den Organisationen und Desorganisationen, die man oft nicht unterscheiden kann, nichts zu sagen; kurz, an Inzidenzen und Quodlibet fehlt es uns, wie Sie sehen, auch nicht.1
Der, der da geradezu ungeniert am 14. Dezember 1810 mit einem Allerlei, einem Mischmasch von Klatsch und Tratsch aus Nürnberg aufwartete, war kein geringerer als Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der sich über die Verhältnisse in der ehemaligen Reichsstadt recht gut unterrichtet zeigte: Nicht als Philosoph, der seit zwei Jahren an dem ehrwürdigen Egidiengymnasium unterrichtete und ansonsten in seiner abgeschiedenen Studierstube an der Wissenschaft der Logik arbeitete, vielmehr als Bürger der Stadt, der an deren großen und kleinen Ereignissen Anteil nahm und mit einer gewissen Belustigung auf Dinge blickte, die ihm als Ausdruck vollendeter Krähwinkelei erscheinen mochten. Auch der Adressat dieser Zeilen, Karl Ludwig von Knebel, war mit Nürnberg vertraut: Der „Urfreund“ Goethes entstammte einer ansbachischen Beamten- und Pfarrerfamilie, und obwohl er längst in Weimar und Jena lebte, besuchte er doch immer wieder Franken und hielt engen Kontakt zu Nürnberger Bürgern wie Paul Wolfgang Merkel.2 1 Hegel an Knebel, Nürnberg, 14.12.1810, in: Hoffmeister, Johannes (Hg.): Briefe von und an Hegel, 3 Bde. (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe. Begr. von Georg Lasson. In neuer Anordnung und Bearbeitung hg. Hoffmeister, Johannes, Bd. XXVII–XXIX), Hamburg 1952–1960, hier Bd. 1: 1785–1812, S. 340 f. 2 Siehe hierzu Diefenbacher, Michael/Olaru, Alice/Seiderer, Georg unter Mitarbeit von Zahlaus, Steven (Hg.): Paul Wolfgang Merkel. Tagebücher (Quellen und Forschungen zur Geschichte und Kultur der Stadt Nürnberg 40), Nürnberg 2022.
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Georg Seiderer
Hegel berichtete Knebel über kleinere und größere Inzidenzen, Vorfälle in der seit vier Jahren bayerischen ehemaligen Reichsstadt. So war im Jahre 1810 das Museum gegründet worden, ein geselliger Verein, an dem Männer aus den gebildeten Ständen – Beamte, Akademiker, Kaufleute, Patrizier – teilnahmen und der ihnen die Gelegenheit gab, sich bei der Lektüre, beim Spiel oder der Konversation zu erholen; die wenige Jahre vorher mit ähnlichen Zwecken gegründete Harmonie konnte es an Attraktivität nicht mit dem Museum aufnehmen, das sich ein eigenes Vereinsgebäude an der Barfüßerbrücke, der heutigen Museumsbrücke, errichtete.3 Dass die Konzerte in Nürnberg eine Sängerin wie die Gemahlin Knebels vermissen ließen, war nicht nur Schmeichelei: Knebels Frau, Luise von Rudorff, war als Sopranistin am Weimarer Hoftheater tätig gewesen und hatte dort als Mozart-Interpretin große Erfolge erzielt.4 Und Johann Sigmund Haller von Hallerstein, Schützenhauptmann bei der Nationalgarde, war am 19. November 1810 mit 48 Jahren gestorben – verunglückt, wie das Sterberegister meldete;5 ob das Unglück seiner Schulden wegen geschah, derentwegen seine Schwester noch an Silvester in der Bayerischen Nationalzeitung inserierte, kann nicht zuverlässig gesagt werden.6 Als Philosoph zeichnete sich Hegel kaum durch einen gefälligen Duktus aus. Seine Schriften sind von einer zähledernen, kaum verdaulich wirkenden Schwerverständlichkeit, und er selbst bezeichnete mit dem ihm eigenen Humor seine in Nürnberg verfasste Wissenschaft der Logik als „ein Buch des abstrusesten Inhalts“, das zu schreiben „im ersten Semester seiner Verheuratung“ „keine Kleinigkeit“ gewesen sei.7 Um es mit Hegels Biograph Horst Althaus zu sagen: Die „Deutung von außen begegnet in der Semantik des Hegelschen Satzes einem Widerstand, der sich nicht ohne weiteres und oft überhaupt nicht überwinden läßt.“8 Derselbe Hegel zeigte sich aber als Briefschreiber mit Witz und Laune, und es scheint, als habe er sich über seinen Briefen von der Anstrengung des Gedankens erholt. Hegel war durch Vermittlung seines württembergischen Landsmanns, des Zentralschulrats Friedrich Immanuel Niethammer, 1808 Rektor des Egidiengymna-
3 Seiderer, Georg: Formen der Aufklärung in fränkischen Städten. Ansbach, Bamberg und Nürnberg im Vergleich (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 114), München 1997, S. 187–191; Reicke, Emil: 125 Jahre Gesellschaft Museum Nürnberg. Ein Rückblick auf ihre Entstehung und Geschichte, Nürnberg 1935; Schepp, Susanne: Nürnbergs Lesegesellschaften an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, in: Wolfenbütteler Notizen zur Buchgeschichte (1992), S. 109–151, hier S. 135–140. 4 Freyer, Stefanie/Horn, Katrin/Grochowina, Nicole: Frauengestalten Weimar-Jena um 1800. Ein biobibliographisches Lexikon, Heidelberg ²2009, S. 216 f. 5 StadtAN C 21/II Nr. 56/525. 6 Beilage Nr. 305 der Kgl. Priv. Bayerischen Nationalzeitung, 31.12.1810. 7 Hegel an Niethammer, Nürnberg, 05.02.1812, in: Hegel: Briefe 1, S. 393. 8 Althaus, Horst: Hegel und die heroischen Jahre der Philosophie. Eine Biographie, München 1992, S. 261.
„Norisches Wesen“ in der „Barbaria“
siums geworden.9 Die Begegnung mit Nürnberg bedeutete für ihn zunächst die Konfrontation mit unerfreulichen Schulverhältnissen. Zu den Unersprießlichkeiten, denen er sich, kaum in Nürnberg, ausgesetzt sah, zählte eine „Geschichte“, die „gar zu schmählich und sozusagen scheußlich“ war:10 In den beiden Lateinschulen, die als Progymnasien dienten, befanden sich keine Aborte, wodurch sich Hegel in der Verlegenheit sah, bei der Aufnahme von Schülern die Eltern danach zu fragen, ob ihre Kinder auch „die Geschicklichkeit haben, ohne Abtritt aus freier Faust zu hoffieren“.11 Der sich über Monate hinziehende „Abtrittsjammer“12 soll nicht en detail ausgebreitet werden. Wesentlich scheint ein anderes, das sich bereits im „Abtrittswesen“13 zeigt: Hegels Begegnung mit Nürnberg war zugleich eine Begegnung mit dem bayerischen Staat. Nicht die erste; immerhin war er schon als Redakteur in Bamberg auf bayerischem, genauer neubayerischem Boden gelandet. Wohl aber handelte es sich um die erste Konfrontation mit dem bayerischen Staat als dessen Beamter. Hegel war alles andere als ein unpolitischer Kopf, und er bewegte sich mit seiner Anteilnahme an der Politik seiner Zeit keineswegs nur im Reiche der bloßen Ideen, sondern verfolgte aufmerksam die Tagespolitik. Noch in Jena, bevor er sich zu Bamberg auf die „Zeitungsgaleere“ verfügte, bezeichnete er das „Zeitungslesen des Morgens früh“ als „eine Art von realistischem Morgensegen. Man orientiert seine Haltung gegen Gott oder an dem, was die Welt ist. Jenes gibt dieselbe Sicherheit wie hier, daß man wisse, wie man daran sei.“14 Und sein 1813 geborener Sohn Karl, seit 1856 Professor für Geschichte an der Erlanger Universität, erinnerte sich: „Von jeher ein eifriger Zeitungsleser, pflegte mein Vater oft beim Frühstück sich über die Tagespolitik gegen uns auszulassen.“15 Zusammen mit seinen Freunden Schelling und Hölderlin hatte er sich als Stipendiat des Tübinger Stifts um 1790 für die Französische Revolution begeistert, auch wenn diese Begeisterung – wie bei anderen frühen deutschen Revolutionsenthusiasten – angesichts der „terreur“ um 1793/94 nachließ.16 In frühen Schriften kritisierte er um 1800 die Verfassungen seines württembergischen Vaterlands und
9 Ebd., S. 229–231; siehe auch Glaser, Hermann: Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Weltgeist in Franken, Gunzenhausen 2008, S. 56–112; Liedtke, Max: Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Schulrat in Nürnberg 1813–1816, Nürnberg 2009. 10 Hegel an Niethammer, Nürnberg, 12.02.1809, in: Hegel: Briefe 1, S. 274. 11 Ebd. 12 Ebd., S. 276, S. 274. 13 Hegel an Niethammer, Nürnberg, 07.05.1809, in: Hegel: Briefe 1, S. 284. 14 Zit. nach Heintel, Peter: Hegel. Der letzte universelle Philosoph, Göttingen 1970, S. 59. 15 Hegel, Karl: Leben und Erinnerungen, Leipzig 1900, S. 15. 16 Vieweg, Klaus: Hegel. Der Philosoph der Freiheit. Biographie, München ²2020, S. 66–73, S. 106 f.
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der patrizisch regierten Schweizer Republik Bern, wo er sich als Hauslehrer aufgehalten hatte.17 Für das Heilige Römische Reich schrieb er schon 1802 den Nachruf: „Deutschland ist kein Staat mehr“, meinte er lapidar; es sei „kein Streit mehr darüber, unter welchen Begriff die deutsche Verfassung falle. Was nicht mehr begriffen werden kann, ist nicht mehr.“ Allenfalls als Anarchie könne dieser „Zustand der Auflösung des Staats“ noch bezeichnet werden.18 Und obgleich er zu den Leidtragenden der Doppelschlacht von Jena und Auerstedt im Oktober 1806 gehörte, war er ein Bewunderer Napoleons, der die wankenden Verhältnisse zum Einsturz gebracht hatte: Nach Shlomo Avineri, einem der Hegelinterpreten, die ihn dezidiert „links“ zu lesen versuchen, ging es ihm „um die Erneuerung des politischen Systems in Deutschland“: die radikale Transformation der Struktur der deutschen Staaten während der Zeit von 1806 – 1815 [bedeutete] die Realisierung dessen, wofür Hegel in seinem Essay aus dem Jahre 1802 plädiert hatte.19
Hegel zählte zu einer Reihe von Protestanten, die aus anderen deutschen Staaten nach Bayern berufen worden waren und teils als Beamte die Reformpolitik Montgelas’ mittrugen, teils als Gelehrte an der Universität wirkten. Unter ihnen befanden sich nicht wenige Württemberger, mit denen Hegel im freundschaftlichen Verkehr stand:20 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling lehrte seit 1803 an der eben bayerisch gewordenen Würzburger Universität und ging 1806 nach München an die Bayerische Akademie der Wissenschaften, Heinrich Eberhard Gottlob Paulus wurde 1803 nach Würzburg berufen und war zwischen 1807 und 1811 Kreisschulrat in Bamberg, Nürnberg und Ansbach, Friedrich Immanuel Niethammer lehrte seit 1803 ebenfalls zunächst an der Universität Würzburg und wirkte seit 1807 als Zentralschulrat und Oberkirchenrat in München. Bayern erfuhr unter Montgelas einen Prozess der Modernisierung und Staatsbildung, in dem rigoros mit überkommenen Traditionen gebrochen wurde – nicht nur mit denen der eingegliederten Hochstifter, Markgraftümer, Reichsstädte und Grafschaften Frankens und Schwabens,
17 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Zur Verfassung Württembergs. Vier Fragmente, und Vertrauliche Briefe über das vormalige staatsrechtliche Verhältniß des Waadtlandes (Pays de Vaud) zur Stadt Bern (1798), in: Ders.: Frühe Schriften II, bearb. von Nicolin, Friedhelm/Rill, Ingo/Kriegel, Peter, hg. von Jaeschke, Walter (Gesammelte Werke 2), Hamburg 2014, S. 99–109 und S. 397–581. 18 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Fragmente einer Kritik der Verfassung Deutschlands, in: Ders.: Schriften und Entwürfe (1799–1808), unter Mitarbeit von Ebert, Theodor, hg. Baum, Manfred/ Meist, Kurt Rainer (Gesammelte Werke 5), Hamburg 1998, S. 1–219, hier S. 161. 19 Avineri, Shlomo: Hegels Theorie des modernen Staates, Frankfurt a. M. 1976, S. 50 f. 20 Vgl. Vieweg: Hegel, S. 344.
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sondern auch mit denen Altbayerns selbst, nicht zuletzt denen der katholischen Kirche und ihrer monastischen Kultur.21 Gleichwohl scheint bei den nach Bayern berufenen württembergischen Protestanten das Bild, das in der Spätaufklärung von Bayern entworfen worden war, das des neuen Bayern überlagert zu haben: Das Bild eines rückständigen, erzkatholischen Landes, das verderblichem klerikalem Einfluss ausgesetzt war, ein Bild, das um 1780 nicht zuletzt von bayerischen Autoren wie Joseph Milbiller, Ignaz Schmid und Johann Pezzl verbreitet worden war.22 Das Wortspiel mit dem Gleichklang von „Barbaria“ und „Bavaria“ war um 1810 eine Art stehender Wendung in der Korrespondenz Hegels und Niethammers: Im November 1807, noch in Bamberg, schrieb Hegel an Niethammer von den „Einwohnern Barbariae (was ich oft so weich aussprechen hörte, daß es beinahe Bavariae klang)“23 , im Mai 1808 beklagte er sich über die Vernachlässigung der Philosophie an den bayerischen Universitäten: „o tempora! o barbaria!“24 Und im November 1809, nach einer infolge der Auflösung der ehemaligen Nürnbergischen Universität fehlgeschlagenen Bitte um die Versetzung auf eine Professur in Altdorf, schrieb Niethammer an den Hallenser Professor Christian Gottfried Schütz: „Mein Leben in dieser Barbaria wird mir alle Tage schwerer und ich werde es nicht aushalten können.“25 Zu Beginn des Jahres 1808 berichtete Hegel an Niethammer über ein kontrovers verlaufenes Gespräch mit dem Geheimen Rat von Bayard, einem bayerischen Katholiken: „Ich sagte bei Gelegenheit zu ihm, daß Bayern ein wahrer Dintenklecks in dem Lichttableau von Deutschland gewesen“;26 wenige Monate später klang es beinahe zuversichtlich: „Doch, wills Gott, wird noch in Bayern eine neue Welt aufgehen; man hat seit Jahr und Tagen die Hoffnung dazu“.27 Zweifellos sprachen aus diesen Urteilen eingewurzelte protestantische Vorurteile ebenso wie eine Art von Sendungsbewusstsein. Zugleich reflektierten sie die Schwierigkeiten, denen sich die Neubayern zumal in München ausgesetzt sahen. Während die aus Norddeutschland oder Württemberg berufenen Protestanten in München ihre gesellschaftlichen Kontakte meist auf den Verkehr untereinander 21 Siehe grundlegend Weis, Eberhard: Montgelas, Bd. 2: Der Architekt des modernen Bayerischen Staates 1799–1838, München 2005. 22 Schaich, Michael: Staat und Öffentlichkeit im Kurfürstentum Bayern der Spätaufklärung (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 136), München 2001, S. 101–140. 23 Hegel an Niethammer, Bamberg, Nov. 1807, in: Hegel: Briefe 1, S. 195. 24 Hegel an Niethammer, Bamberg, 20.05.1808, in: Ebd., S. 231. 25 Zit. nach Lindner, Gerhard: Friedrich Immanuel Niethammer als Christ und Theologe. Seine Entwicklung vom deutschen Idealismus zum konfessionellen Luthertum (Einzelarbeiten aus der Kirchengeschichte Bayerns 1), Nürnberg 1971, S. 187. 26 Hegel an Niethammer, Bamberg, 22.01.1808, in: Hegel: Briefe 1, S. 210. 27 Hegel an Frommann, Bamberg, 09.07.1808, in: Ebd., S. 236; siehe auch S. 253 f. und S. 337; Hegel: Briefe 2, S. 141.
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beschränkten,28 regte sich unter den eingesessenen bayerischen Gelehrten Unmut über die landfremden Protestanten, der in eine veritable Fehde mündete. Der Hofbibliothekar Johann Christoph von Aretin wandte sich in dem 1807 aufkommenden „Akademiestreit“ gegen die protestantischen „Ausländer“, die er 1809 in einer Flugschrift mit dem Vorwurf angriff, an einer Verschwörung gegen Napoleon beteiligt zu sein; auf eine andere Schrift Aretins mit schweren Beleidigungen gegen die Protestanten hin erhoben Niethammer und andere gegen Aretin Klage.29 Die Konflikte gipfelten im Februar 1811 in einem Messerattentat auf den aus Sachsen stammenden Gymnasialprofessor Friedrich Thiersch: Der Täter konnte zwar nie ermittelt werden, doch wurde Aretin an das Appellationsgericht in Neuburg an der Donau versetzt, was zur Beruhigung beitrug. Hegel nahm an diesen Vorkommnissen lebhaft Anteil und erklärte am 15. März 1810 gegenüber Niethammer, „daß wir uns über die alleinseligmachende Münchener Bestialität freilich genug gewundert haben.“30 Die folgenden Passagen gehören zu den deftigsten, die das an harschen Invektiven gegen verachtete Gelehrte nicht gerade arme Werk Hegels aufweisen dürfte. Was hat dies alles mit Nürnberg und dem Bilde Hegels von Nürnberg zu tun? Nürnberg stand unter bayerischer Herrschaft; als Gymnasialrektor und Lokalschulrat hatte es Hegel mit der bayerischen Regierung und Verwaltung zu tun. In seinen Urteilen über bayerische Maßnahmen zeigte sich Kritik an übereiltem Vorgehen, an sich widersprechenden Vorgaben und am bloß Dekretierten. Hegel kann als Befürworter der Reformpolitik unter Montgelas gelten, doch traute er auch dem neuen Bayern nicht recht – so etwa, als er bald nach seiner Berufung im Februar 1809 unsicher war, ob am Gymnasium Schulgeld zu bezahlen sei, und sich dabei wünschte, „die Regierung spräche es endlich einmal aus, daß die Studienanstalten unentgeltlich sind“: Da […] bisher noch keine Bezahlung gefodert worden, so wäre sehr zu wünschen, daß jetzt nicht hintennach noch gefodert würde. Die Sache sähe wieder zu bavarice aus, von vornherein Liberalität, Generosität zu zeigen und hintennach dies zu einem bloßen Schein und nicht wort haltendem Versprechen zu machen.31
Zu den Irritationen, die die bayerische Regierung bei Hegel und den Nürnbergern auslöste, trug bei, dass die Aufhebung des Gymnasiums – nach Hegel „die
28 Lindner: Niethammer, S. 202–207. 29 Ebd., S. 189–196; von Aretin, Karl Otmar: Drei Leben für die bayerische Krone. Adam, Georg und Christoph von Aretin, Regensburg 2013, S. 94–114. 30 Hegel an Niethammer, Nürnberg, 15.03.1810, in: Hegel: Briefe 1, S. 303. 31 Hegel an Niethammer, Nürnberg, 20.02.1809, in: Ebd., S. 280.
„Norisches Wesen“ in der „Barbaria“
einzige Anstalt, für welche alle Einwohner der Regierung Dank wußten“32 –, im Herbst 1810 bevorzustehen schien: Nach Auffassung der Regierung in München war für die Fonds zur Unterhaltung der Anstalt keine rechtliche Begründung zu erbringen; den Nürnberger Anwärtern auf eine höhere Schulbildung sei es zuzumuten, das nahe gelegene Gymnasium zu Ansbach zu besuchen33 – im selben Jahre war der Pegnitzkreis aufgelöst und dem Rezatkreis eingegliedert worden.34 Die in Abwesenheit Niethammers beschlossene Aufhebung versetzte dem Kreisschulrat Paulus zufolge, dem der Fortbestand der Schule wesentlich zu verdanken war, „die ganze Nürnberger Bürgerschaft in die schmerzlichste Bestürzung“.35 Es waren auch solche Ereignisse, die „wieder zu bavarice“ aussahen. Hegel stand nicht nur aus Eigenliebe hinter dem Unmut der Nürnberger Bürgerschaft: „Sie wissen selbst am besten,“ schrieb er an Niethammer, wie sehr die Protestanten auf gelehrte Bildungsanstalten halten; daß ihnen diese so teuer sind als die Kirchen, und gewiß sind sie so viel wert als diese; der Protestantismus besteht nicht so sehr in einer besondern Konfession als im Geiste des Nachdenkens und höherer, vernünftiger Bildung, nicht eines zu irgend diesen und jenen Brauchbarkeiten zweckmäßigen Dressierens: Empfindlicher hätte man sie nicht angreifen können als an ihren Studienanstalten.36
Vermochte Hegel im „Geist des Nachdenkens“ und in der Wertschätzung höherer Bildungsanstalten eine Parallele zu seiner württembergischen Heimat zu entdecken, so zeichnete er im Übrigen keineswegs ein schmeichelhaftes Bild von den Nürnbergern, deren „hiesiges, altes, altfränkisches, antikes, gotisches, ja, was mehr ist, norisches Wesen“37 er Niethammer beschrieb. „Höhere Ideen gehen überhaupt schwer in sie hinein,“ hieß es etwa, „denn es ist hier eine große Tröselei von jeher zu Haus. Wenn etwas nicht zu einer hergebrachten Pegnitzerei wird, so sagt es ihnen nichts; man wird aber schon dafür sorgen, daß sich nichts mehr herbringt, sondern eher alles fortgeschafft wird.“38 Und an anderer Stelle:
32 Hegel an Niethammer, Nürnberg, 03.11.1810, in: Ebd., S. 336. 33 Anm. zu Brief 165, in: Ebd., S. 501. 34 Schott, Herbert: Von der Hauptstadt des Pegnitzkreises (1808) zur Metropolregion. Warum wurde Nürnberg nicht die Hauptstadt von Mittelfranken?, in: MVGN 100 (2013), S. 449–500, hier S. 454–457. 35 Zit. nach Anm. zu Brief 165, in: Hegel: Briefe 1, S. 502. 36 Hegel an Niethammer, Nürnberg, 03.11.1810, in: Ebd., S. 337. 37 Hegel an Niethammer, Nürnberg, 12.02.1809, in: Ebd., S. 277. 38 Hegel an Niethammer, Nürnberg, 27.10.1810, in: Ebd., S. 333.
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Sie kennen übrigens uns Nürnberger; wenn alle ersinnlichen Gründe anraten, ein Roß zu kaufen, so wirkt deren erster Vortrag immer soviel, daß man vor der Hand ein Paket Roßhaare kauft. Weil nun aber der übrige Gaul daranhängt, so muß derselbe nach und nach auch in den Stall gezogen werden.39
Das Nürnbergische Wesen zeichnete sich demnach durch eine gewisse Mattigkeit, Unentschiedenheit und Passivität aus, die dem zuweilen etwas hitzigen Schwaben mitunter sauer aufstieß – und es scheint, als sei darin eine Kritik daran zu sehen, dass Nürnberg sich zu sehr in die Verhältnisse fügte: Etwas Widersprechendes finde ich noch immer darin, daß Nürnberg nach dem allgemeinen Schlendrian behandelt wird (ob sich zwar keine Stadt, kein Land dazu mehr eignet als Nürnberg); denn es wird erfordert, daß etwas zuerst eingerichtet, erschaffen seie, daß ein Stoff da seie, der geschlendriant werden könne. Die anderen Anstalten des Reichs haben sich gut schlendrianen lassen, denn sie existieren schon; aber daß wir bereits vor unserer Geburt geschlendriant werden, darin ist die Natur Nürnbergs nicht zu verkennen, die das Geborne wie das Nichtgeborne in derselben diesem Schicksal überliefert.40
Und als gegen Ende des Jahres 1813, als die nachrückenden Armeen der Alliierten Napoleon vor sich hertrieben, zu Gerüchten kam, dass „wie Frankfurt (womit jetzt ein Anfang erscheint) Hamburg etc., so auch Leipzig, Nürnberg, Augsburg eine eigentümliche Verfassung erhalten sollen und zwar mit besonderem Vorschub und Garantie der Engländer“, meinte Hegel: Ich meinesorts bin unter solchen Umständen dem Beschluß eines Magistrats, der die Wichtigkeit der Lage der Dinge dieser Zeit reiflich bedachte, beigetreten, noch 8 Tage zuzusehen und dann es gehen zu lassen, wie es will.
Hegel verband seine Weihnachtsgrüße in diesem Brief, wie alle Jahre, mit einer Sendung Nürnberger Lebkuchen, die „unter allen Revolutionen sich treu und gleich“ erhalten.41
39 Hegel an Niethammer, Nürnberg, 30.05.1811, in: Ebd., S. 363. 40 Hegel an Niethammer, Nürnberg, 07.05.1809, in: Ebd., S. 284 f. 41 Hegel an Niethammer, Nürnberg, 23.12.1813, in: Hegel: Briefe 2, S. 15 f. Im Nürnberger Bürgertum riefen die Gerüchte über eine Wiederherstellung freier Städte gegen Ende 1813 zum Teil den Wunsch nach der Unabhängigkeit Nürnbergs hervor, so bei Rudolph von Holzschuher und Paul Wolfgang Merkel. Siehe Bauernfeind, Walter: Nürnberg 1793 bis 1814: Eine Darstellung der politischen Entwicklung aus patrizischer Sicht und der Verfassungsentwurf für eine wiederzuerrichtende Reichsstadt, in: MVGN 92 (2005), S. 199–247; StadtAN E 18 Nr. 208.
„Norisches Wesen“ in der „Barbaria“
Der Bereitschaft, sich „schlendrianen“ zu lassen, einer Art von Indolenz, entsprach eine beharrliche Anhänglichkeit an das Alte, Hergebrachte, das sich bei den von Hegel geschätzten Lebkuchen als vorteilhaft erwies, aber auch das Vorrücken mit dem Fortschritt verhinderte und ein Hängen am Überlebten bedeutete: Glauben Sie übrigens nicht, daß selbst die besten Nürnberger zufrieden gemacht werden, wenn nicht jedes wurmstichige Brett, jeder verrostete Nagel, jede Spinnwebe heilig an ihrem Orte gelassen wird.42
In solchen Äußerungen, die das Enge, Lokale, Beschränkte am „norischen Wesen“ konstatierten, scheinen Nachwirkungen der verbreiteten Urteile über Reichsstädte und Reichsstädter zum Ausdruck zu kommen, die im 18. Jahrhundert in Reisebeschreibungen verbreitet wurden: „Alles ist beengt, kleinlich, niedergedrückt, alles ein Bild der Leerheit und des Sinkens. Mehr als eine mittelmäßige Existenz verlangt man gar nicht“, schrieb etwa 1795 Georg Friedrich Rebmann.43 Ins Positive gewendet findet sich das Bild des Altertümlichen bei den frühen Romantikern: Die Stadt selbst kann ich nicht genug mit Verwunderung ansehen; weil man kein einziges neues Gebäude, sondern lauter alte […] findet, so wird man ganz ins Alterthum versetzt u erwartet immer einem Ritter, od. einem Mönch, oder einem Bürger in alter Tracht zu begegnen, denn die neue Tracht paßt gar nicht zu dem Kostum in der Bauart,
schrieb 1793 Wilhelm Heinrich Wackenroder,44 der die Stadt kurz darauf als Stätte der „alten vaterländischen Kunst“ verklärte.45 Die Topoi, die sich in der Spätaufklärung und in der Romantik mit dem Namen der Stadt verbanden, finden in den Urteilen Hegels ihren Widerhall. Handelte es sich dabei nur um Topoi? Offenbar hatte Hegel die Reaktionen der Nürnberger auf Veränderungen im Auge, denen die Stadt in den ersten Jahren unter bayerischer Herrschaft unterworfen war. Am 10. Oktober 1811 schrieb er, dass in Nürnberg „jede Spinnwebe heilig an ihrem Orte gelassen“ werden müsste – knapp zwei Wochen vorher, am 28. September, hatte
42 Hegel an Niethammer, Nürnberg, 10.10.1811, in: Hegel: Briefe 1, S. 387. 43 Rebmann, Georg Friedrich: Wanderungen und Kreuzzüge durch einen Teil Deutschlands von Anselmus Rabiosus dem Jüngern (1795), in: Ders.: Werke und Briefe, hg. Voegt, Hedwig/Greiling, Werner/Ritschel, Wolfgang, Bd. 1, Berlin 1990, S. 509. Zu dem Bild Nürnbergs in der Spätaufklärung Seiderer: Formen der Aufklärung, S. 485–489. 44 Wackenroder, Wilhelm Heinrich: Beschreibung einer kleinen Reise nach Nürnberg, Nürnberg, 23.06.1793, in: Ders.: Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe, hg. Vietta, Silvio/ Littlejohns, Richard, Bd. II, Heidelberg 1991, S. 187. 45 Wackenroder, Wilhelm Heinrich/Tieck, Ludwig: Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders, Stuttgart 1979, S. 50.
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der Verein Nürnbergischer Künstler und Kunstfreunde eine Eingabe an das Stadtkommissariat gerichtet, in der 48 Unterzeichner, darunter der von Hegel geschätzte Paul Wolfgang Merkel, die „Erhaltung der wenigen noch übrigen Kunstschätze unserer Vaterstadt“ verlangten und die von den bayerischen Behörden veranlassten Demontagen in scharfer Form anprangerten;46 wenige Monate vorher hatten Bürgerproteste den von der Polizeidirektion geplanten Abbruch des Laufer Schlagturms und des Weißen Turms in letzter Minute verhindert.47 Als Bewunderer Napoleons, der noch ganz andere Dinge zu Fall brachte als die funktionslos gewordenen Reste der vorletzten Stadtumwallung, scheint Hegel für diese Anhänglichkeit an das reichsstädtische Erbe nur wenig Verständnis aufgebracht zu haben. Zeigten sich darin auch die Schwierigkeiten eines Nürnberger Neubürgers, in der Gesellschaft der ehemaligen Reichsstadt Fuß zu fassen? Zu seinen engeren Bekanntschaften in Nürnberg gehörten vor allem das Ehepaar Paulus und der ebenfalls 1808 nach Nürnberg gezogene Arzt Wilhelm von Hoven, die, wie er selbst, aus Württemberg stammten,48 und noch im Mai 1811, kurz nach der Verlobung mit Maria Helena Susanna Tucher von Simmelsdorf, erwähnte er, dass der Kaufmann Paul Wolfgang Merkel „außer meiner Marie noch mein einziger Umgang hier ist“.49 Im Hause Merkels fand Hegel beinahe so etwas wie Familienanschluss; 1810 feierte er dort das Weihnachtsfest, und gegenüber Merkels Tochter Käthe, die mit seinem württembergischen Landsmann Friedrich Roth verheiratet war, zeigte der Philosoph „Geschicklichkeiten, welche ich gar nicht bei ihm vermuthet hätte“, und beriet sie, „auf was für Art und Weise ich unsrer Elise Zuller [Schnuller] machen sollte. Wo findet man leicht einen Mann, der so etwas kan?“50 Eher schwer scheint er sich dagegen mit der Verwandtschaft seiner Braut getan zu haben. Zwar suchte ihm der Freund Niethammer seine „unbegründete Furchtsamkeit“ wegen der Verbindung mit einem adeligen Fräulein zu nehmen, indem er ihm vorstellte, dass er
46 Bauernfeind, Martina: Die Entwendung und Verschleuderung von Kunst- und Kulturgut nach der Besitzergreifung Nürnbergs durch Bayern bis zum Erlass des Gemeindeedikts 1818, in: Diefenbacher, Michael/Rechter, Gerhard (Hg.): Vom Adler zum Löwen. Die Region Nürnberg wird bayerisch 1775–1835 (Ausstellungskatalog des Stadtarchivs Nürnberg 17), Nürnberg 2006, S. 119–176, hier S. 161. 47 Müller, Kurt: Verhinderte Abrißpläne. Laufer Schlagturm, Männerschuldturm und Weißer Turm sollten im 19. Jahrhundert der Spitzhacke zum Opfer fallen, in: MVGN 78 (1991), S. 175–196. 48 Vieweg: Hegel, S. 344. 49 Hegel an Niethammer, Nürnberg, 30.05.1811, in: Hegel: Briefe 1, S. 366. 50 LAELKB Personen XLVI (Familie von Roth), Nr. 51, Katharina Roth an Friedrich Roth, Nürnberg, 17.10.1810.
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als Professor und Rektor des Gymnasiums in Nürnberg […] angesehen und würdig genug [sei], um öffentlich und solenn als Mitglied einer Familie aufgenommen zu werden, die in dem vormaligen Glanze der Reichsstadt Nürnberg allerdings eine sehr angesehene Stellung eingenommen hat,
und darauf verwies, dass sie in einer Zeit lebten, „in welcher die Könige selbst keine Ahnen mehr aufzuweisen gehalten sind, um das Recht des Freiens um Königstöchter zu erlangen, in einer Zeit, in welcher persönliches Verdienst und selbsterworbener Rang ohne alle Ahnen mehr adelt als alle Ahnenproben“.51 Obwohl auch in Nürnberg mit seinen ausgeprägten Standesschranken gegen Ende des 18. Jahrhunderts die oberen, „gebildeten Stände“ einander näher gerückt waren, wozu die Aufklärungsgesellschaften beigetragen hatten,52 war es Hegel vor seiner künftigen Verwandtschaft nicht ganz geheuer. Bald nach der Verlobung wiederholte er seine langgehegten Hoffnungen auf eine Professur in Erlangen, die nicht nur zur Verbesserung seiner ökonomischen Lage notwendig sei: Alsdann ist Nürnberg dadurch, daß sie eine große Stadt ist, nur eine um so weitläufigere Kleinstädterei, und wir können uns bei der Marie allseitigem schnick-schnackischen Zusammenhange das Losreißen daraus nicht anders als wesentlich zu unserem häuslichen Glücke denken.53
Hegel wollte nicht in Nürnberg bleiben, und zu den Motiven dafür zählte auch eine Flucht des künftigen Schwiegersohns vor der Familie seiner geliebten Braut: „Häusliches Glück“ schien ihm nur dort zu hoffen, wo sie ihm angehörte – und nicht er ihrem Haus. Dies war jedoch nicht der einzige Grund. Hegel widmete sich seinen Aufgaben als Gymnasialprofessor, Rektor und Lokalschulrat mit Fleiß, Gewissenhaftigkeit und Pflichtbewusstsein. Das Staatsarchiv Nürnberg verwahrt zahlreiche Autographen des Philosophen: Tabellen, Beurteilungen von Lehrern und Schülern, die mit größter Sorgfalt ausgearbeitet sind,54 deren Verfertigung Hegel selbst allerdings nur als „Zeitvertrödelei“ betrachtete.55 Obgleich er nach seiner Heirat meinte, dass er „mit einem Amte und einem lieben Weibe“ die beiden wichtigsten Stücke errungen hätte, die es im Leben zu erringen galt – alles andere seien nur „Paragraphen oder Anmerkungen“ zu diesen beiden Hauptkapiteln –,56 sah er den ihm gemäßen Platz doch an einer Universität. Die Hoffnung auf eine 51 52 53 54 55 56
Niethammer an Hegel, 05.05.1811, in: Hegel: Briefe 1, S. 359 f. Seiderer: Formen der Aufklärung, S. 163–191. Hegel an Niethammer, Nürnberg, 30.05.1811, in: Hegel: Briefe 1, S. 364 f. Siehe etwa StAN Reg. v. Mfr., KdI Abg. 1900 Nr. 4585. Hegel an Niethammer, Nürnberg, 12.02.1809, in: Hegel: Briefe 1, S. 276. Hegel an Niethammer, Nürnberg, 10.10.1811, in: Ebd., S. 386.
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Professur in Erlangen zieht sich durch seine Korrespondenz mit Niethammer, doch bot der bayerische Staat ihm erst dann den Lehrstuhl in Erlangen an, als er ihn ebenso wie einen nach Berlin ergangenen Ruf zugunsten Heidelbergs ausschlagen musste. Zwei Jahre später erfolgte der erneute Ruf nach Berlin, den er dann annahm. Gleichwohl bewahrte Hegel, der in Nürnberg die Liebe seines Lebens gefunden hatte und dessen beiden ehelichen Söhne dort geboren worden waren, der Stadt eine Anhänglichkeit, die er auch für andere frühere Wirkungsstätten empfand: „Es ist sehr schön in und um Bamberg […]; ich habe anderthalb Jahr dort gelebt!“57 Als seine Frau und seine Kinder im Sommer 1826 Nürnberg besuchten, versah er sie – d. h. vor allem seine Söhne – von Berlin aus mit Ratschlägen, was sie ihrer Aufmerksamkeit für wert halten sollten: Seht Euch die Nürnberger Hauptkirchen, Sebalder, Lorenzer, vornehmlich auch Katholische auf dem Markt, recht an (auch Herrn von Schwarz‘ Haus soll von dieser Manier, soweit ein Wohnhaus diese Formen brauchen kann, haben), dies sind gotische, wie man es nennt, – oder wahrhaft deutsche Bauarten (der Schönbrunnen ist auch von dieser Art).58
Hatte Hegel fünfzehn Jahre zuvor für die Anhänglichkeit der Nürnberger an das Alte spöttische Worte gefunden, so verklärte sich ihm nun die Stadt mit ihren mittelalterlichen Kirchen und den ersten im Stile der historisierenden Neugotik errichteten Wohngebäuden zu einem Idealbild der Gotik: Der Hallenchor von St. Sebald mit seiner „großartigen, freien, offenen Schlankheit und Zierlichkeit“ fand Eingang in Hegels Vorlesungen über die Ästhetik,59 und 1822 erinnerte sich Hegel angesichts des Magdeburger Doms wehmütig der gotischen Kirchen Nürnbergs, mit denen jener den Vergleich nicht aushielt.60 Das Nürnberg-Bild Hegels hatte, durchaus zeittypisch, Züge der romantischen Verklärung angenommen. Die Stadt stand damit nicht mehr zwischen reichsstädtischer Indolenz einerseits und der bayerischen Bürokratie mit ihren Licht- und Schattenseiten andererseits, sondern entschwebte, in der Rückschau und aus der Ferne, in eine idealisierte protestantischreichsstädtische Vergangenheit:
57 Hegel an Frau und Kinder, Berlin, 29.07.1826, in: Hegel: Briefe 3, S. 120. 58 Hegel an Frau und Kinder, Berlin, 29.07.1826, in: Ebd., S. 119. 59 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Ästhetik, hg. Bassenge, Friedrich, Bd. II, Berlin-Weimar 1976, S. 77. 60 Hegel an seine Frau, Magdeburg, 15.09.1822, in: Hegel: Briefe 2, S. 340.
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auf der alten Veste bin ich nicht gewesen, da muß ich noch einmal hin, – da hat sich Nürnberg brav gehalten für unsern evangelischen Glauben und damit für uns alle, – für die Vernunft, Wahrheit und Freiheit; das ist eine Perle in der Geschichte.61
61 Hegel an Frau und Kinder, Berlin, 10.08.1826, in: Hegel: Briefe 3, S. 123.
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„[…] weil jeder Nürnberger Bürger so gut wie der Erlanger Bürger weiß und wissen muß, was er aus der Contactirung mit Studenten gesetzlich zu erwarten hat.“ Der Erlanger Studentenauszug nach Altdorf 1822 und die Zensur Ein bekanntes und vielzitiertes Ereignis der Erlanger Universitätsgeschichte, das sich auch in vielen Egodokumenten niedergeschlagen hat, ist der Studentenauszug nach Altdorf 1822. Das demonstrative Verlassen der Universitätsstadt als Protestreaktion auf einen örtlichen Konflikt ist nicht selten in der deutschen Universitätsgeschichte festzustellen – auch in Erlangen waren es erneut auftretende tätliche Auseinandersetzungen mit Handwerksburschen, die am Abend des 26. Februar 1822 die Studenten zum Auszug in die ehemalige Universitätsstadt Altdorf bewogen. Nach der Einigung über die Modalitäten der Rückkehr zog man am 5. März 1822 über Nürnberg in einem triumphalen Zug nach Erlangen zurück.1 Große Bekanntheit erlangte dieses öffentlichkeitswirksame und von der Obrigkeit argwöhnisch mit Untersuchungen hinsichtlich staatsfeindlicher Umtriebe belegte Ereignis durch die folgende Lithographie,2 die in Nürnberg von Johann Adam Klein (1792–1875) und Conrad Wießner (1796–1865)3 gefertigt und durch Georg Paul Buchner (1779–1833)4 verlegt wurde:
1 Jakob, Andreas: Katalog Nr. 4.2.9–4.2.18, in: Stadtmuseum Erlangen (Hg.): Die Friedrich-AlexanderUniversität Erlangen-Nürnberg 1743–1993. Geschichte einer deutschen Hochschule (Ausstellungskatalog), Erlangen 1993, S. 411–413; Kolde, Theodor: Die Universität Erlangen unter dem Hause Wittelsbach 1810–1910. Festschrift zur Jahrhundertfeier der Verbindung der Friderico-Alexandrina mit der Krone Bayern, Erlangen/Leipzig 1910, S. 262–269. – Eine weitergehende Aufarbeitung dieses Ereignisses unter Zugrundelegung neuer Forschungsergebnisse ist vom Verfasser für den Jahresband 111 (2024) der MVGN geplant. 2 Vgl. Hofmann-Randall, Christina: Katalog Nr. 6.16.9, in: Jakob, Andreas/Hofmann-Randall, Christina (Hg.): Erlanger Stadtansichten. Zeichnungen, Gemälde und Graphiken aus sieben Jahrhunderten (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Erlangen 1), Erlangen 2003, S. 320–321. 3 Zu beiden siehe Tschoeke, Jutta (Hg.): Romantische Entdeckungen. Johann Adam Klein 1792–1875. Gemälde. Zeichnungen. Druckgrafik (Ausstellungskatalog Museen der Stadt Nürnberg. Grafische Sammlung), Nürnberg 2006, passim. 4 Mende, Matthias: Buchner, Georg Paul, in: Grieb, Manfred H. (Hg.): Nürnberger Künstlerlexikon, Bd. 1, München 2007, S. 196.
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Rückkehr der Studierenden von Altdorf über Nürnberg nach Erlangen, den 5. März 1822. Kolorierte Lithographie (37 x 48,4 cm) von Johann Adam Klein und Conrad Wiesner, 1822. Universitätsbibliothek Erlangen-Nürnberg, Slg. Erlangensia B 25.
Häufig wird angeführt, diese Abbildung sei seinerzeit verboten worden; dies erwähnt etwa „der“ Erlanger Universitätshistoriograph des 19. Jahrhunderts, der Kirchenhistoriker Theodor Kolde, in seiner zur hundertjährigen Zugehörigkeit zum Königreich Bayern 1910 erschienenen Universitätsgeschichte: Zum ewigen Andenken daran wurde bei dem Nürnberger Künstler Klein eine Zeichnung des Auszugs und der glorreichen Rückkehr bestellt, die, trotzdem daß das Ministerium alsbald ihre Konfiskation verfügte und auf die Verbreitung strengste Strafe setzte, in vielen Abdrücken sich erhalten hat.5
5 Kolde: Festschrift, S. 268. – Auf diesen Angaben bei Kolde beruhen wohl spätere Erwähnungen in der Sekundärliteratur, vgl. beispielsweise Konrad, Karl: Bilderkunde des deutschen Studentenwesens. Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte des deutschen Studententums, Nr. 285, Bd. 1, Breslau 1931, S. 48 und S. 50; Bischoff, Johannes: Erlangen 1790 bis 1818. Studie zu einer Zeit stetigen Wandels und zum Ende der „Französischen Kolonie“, in: Sandweg, Jürgen (Hg.): Erlangen. Von der Strumpferzur Siemens-Stadt. Beiträge zur Geschichte Erlangens vom 18. zum 20. Jahrhundert, Erlangen 1982, S. 59–126, hier S. 113; Keunecke, Hans-Otto: Die Studentenschaft im 19. und 20. Jahrhundert. Politi-
Der Erlanger Studentenauszug nach Altdorf 1822 und die Zensur
Koldes Festschrift ist – wenn auch ohne detaillierten Quellenapparat abgefasst – unter Zugrundelegung der Universitätsakten erstellt worden und in der Faktenwiedergabe meist zuverlässig, gerade aber in dieser Passage in mehrfacher Hinsicht missverständlich bzw., wie im Folgenden zu zeigen sein wird, irrig. Hat tatsächlich das Ministerium ein Verbreitungsverbot verfügt? Geht es um mehrere Zeichnungen mit dem Auszug sowie der Rückkehr? Und welcher Art sollte die schwere Strafandrohung gewesen sein, sofern es sie überhaupt gegeben hat? Bei genauem Aktenstudium erweist sich ein mögliches Verbot als komplexe Angelegenheit und offenbart aufschlussreiche Einblicke in die Wirkungsebenen von widerstreitenden Akteuren und die zeitgenössische Bewertung von Studenten als einem Störfaktor für die öffentliche Ruhe und Ordnung. Obgleich dem Auszug keine unmittelbaren politischen Absichten zugrunde lagen, ist die Demonstration dieses studentischen Selbstbewusstseins natürlich vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund zu sehen. Seit den Befreiungskriegen war bei den Studenten eine zunehmende Politisierung festzustellen, mit dem Wartburgfest 1817 als erster großer gemeinschaftlicher Veranstaltung, an deren Anschluss sich auch in Erlangen die allgemeine Burschenschaft gründete.6 Gleichzeitig wurde diese Entwicklung durch restriktive staatliche Maßnahmen flankiert. Bereits im Jahr 1814 war eine Angleichung der Erlanger Studierendengesetze7 an die der beiden anderen bayerischen Landesuniversitäten wie auch die Aufhebung der akademischen Gerichtsbarkeit und eine Beschneidung der akademischen Selbstverwaltung erfolgt.8 Mit Edikt vom 15. September 1818 unterlagen dann die akademischen Polizeiangelegenheiten einem speziell in Universitätsstädten eingerichteten „Directorium der Universitäts- und Stadtpolizei“, das unter dem Vorsitz des Stadtkommissärs aus
sche Haltung und Lebensform im Wandel, in: Wendehorst, Alfred (Hg.): Erlangen. Geschichte der Stadt in Darstellung und Bilddokumenten, München 1984, S. 93–99, hier S. 94. 6 Jakob, Andreas: Politische Betätigung Erlanger Studenten im 19. Jahrhundert, in: Stadtmuseum: Friedrich-Alexander-Universität, S. 292–299; Ders.: Katalog 3.1, in: Ebd., S. 300–309; Wendehorst, Alfred: Geschichte der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. 1743–1993, München 1993, S. 92–95; Boehm, Laetitia: Bildung und Wissenschaft in Bayern im Zeitalter Maximilian Josephs, in: Glaser, Hubert (Hg.): Krone und Verfassung. König Max I. Joseph und der neue Staat (Wittelsbach und Bayern III/1), München 1980, S. 186–220, hier S. 209–215. 7 UAE A1/1 Nr. 79, Gesetze für die Studierenden an der königlich Baierischen Friedrich-AlexandersUniversität zu Erlangen, Erlangen 1814. 8 Wachter, Clemens: Der Übergang der Universitäten Altdorf und Erlangen an Bayern, in: Diefenbacher, Michael/Rechter, Gerhard (Hg.): Vom Adler zum Löwen. Die Region Nürnberg wird bayerisch 1775–1835 (Ausstellungskatalog des Stadtarchivs Nürnberg 17), Nürnberg 2006, S. 301–318 (Aufsatz), hier S. 310–311; Ders.: Die Universitäten Erlangen und Altdorf werden bayerisch, in: ebd.: S. 501–507 (Katalog), hier S. 505–506.
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je zwei Vertretern der Universität und des städtischen Magistrats bestand.9 Dieses Amt eines Stadtkommissärs wiederum war in Bayern mit dem Gemeindeedikt 1818 geschaffen worden und als der Kreisregierung unterstellte staatliche Unterbehörde unter anderem – was im Folgenden von Wichtigkeit sein wird – für die Kontrolle der städtischen Gremien in Angelegenheiten des Pressewesens zuständig.10 Der Stadtkommissär von Nürnberg, Johann Georg Eberhard Faber (1775–1856),11 sollte dann auch die entscheidende Rolle in den folgenden Auseinandersetzungen um die besagte Lithographie spielen. Am 31. März 1822 war er von seinem Erlanger Kollegen, Stadtkommissär Matthäus Philipp Wöhrnitz (1787–1853),12 davon in Kenntnis gesetzt worden, dass die Studenten „ihren Einzug in Nürnberg […] lithographieren lassen wollten, welches ein übles Denkmal einer von der A[ller]h[öchsten] Stelle mißbilligten Handlung seyn werde“. Unter dem 15. April 1822 (die Abbildung scheint folglich Anfang April gedruckt worden zu sein) wurde aktenkundig, dass sich Wöhrnitz und Faber das inzwischen gefertigte Blatt angesehen und die Feststellung getroffen hatten, es sei – entgegen der Vorahnung Wöhrnitz’ – „zur Beschlagnahme nicht geeigenschaftet“.13 In der Tat lag die Zuständigkeit für die Beurteilung beim Stadtkommissär – und zwar, da es sich um einen Nürnberger Verleger handelte, bei Faber. Die bayerische Verfassung garantierte zwar die prinzipielle Freiheit der Presse und des Buchhandels,14 unterwarf die Ausführung aber einem als Beilage III verfertigten Edikt, demzufolge eine polizeiliche Aufsichtspflicht über unter anderem die ortsansässigen lithographischen Anstalten bestand, mit der Maßgabe, gegen die Verbreitung von Druckerzeugnissen einzuschreiten, wenn sie „der öffentlichen Ruhe und Ordnung […] gefährlich“ seien.15 Keine Auswirkung auf den vorliegenden Fall hatten 9 UAE A1/7 Nr. 9, Edikt, die Polizei in den Universitätsstädten betreffend, vom 15.09.1818, abgedruckt in: Döllinger, Georg Ferdinand (Hg.): Sammlung der im Gebiete der inneren Staats-Verwaltung des Königreichs Bayern bestehenden Verordnungen Bd. 9, München 1838, S. 221–223. 10 Bauernfeind, Walter: Nürnberg 1806–1818 – Politik und Verwaltung, in: Diefenbacher/Rechter: Adler, S. 43–59, hier S. 55; Ders,: Frühe Bayerische Verwaltung, in: Diefenbacher, Michael/Endres, Rudolf (Hg.): Stadtlexikon Nürnberg, Nürnberg 2 2000, S. 311; Friedrich, Gunther: Stadtkommissariat, in: Ebd.: S. 1021. 11 Johann Georg Faber, in: fuerthwiki.de: https://www.fuerthwiki.de/wiki/index.php/Johann_Georg_ Faber (02.01.2023). 12 Hofmann, Andreas C.: Deutsche Universitätspolitik im Vormärz (1815–1848). Ein Beitrag zur Neubewertung des Deutschen Bundes (Schriftenreihe der Stipendiatinnen und Stipendiaten der Friedrich–Ebert-Stiftung 51), Münster 2019, S. 216–217, S. 225–228 und S. 232–238. 13 StAN Reg. v. Mfr., K. d. I., Abg. 1932, Tit. I, Nr. 38, Bericht von Mulzers in der Sitzung der Regierung des Rezatkreises, 29.05.1822. 14 Verfassungs-Urkunde des Königreichs Baiern, 26.05.1818, hier Titel IV § 11, publiziert im Gesetzblatt für das Königreich Bayern, VII. Stück, 06.06.1818, hier Sp. 118–119. 15 Edikt über die Freyheit der Presse und des Buchhandels, 26.05.1818, hier § 4, publiziert im Gesetzblatt für das Königreich Bayern, X. Stück, 24.06.1818, hier Sp. 183.
Der Erlanger Studentenauszug nach Altdorf 1822 und die Zensur
hingegen die Zensurvorschriften des Pressegesetzes der Karlsbader Beschlüsse, da dieses in Bayern nur insoweit vollzogen wurde, als es den Bestimmungen der bayerischen Verfassung nicht entgegenstand.16 Mit dem Urteil des Nürnberger Stadtkommissärs Faber hätte es sein Bewenden haben können, wäre nicht noch ein weiterer Akteur auf den Plan getreten. Denn in Folge der Karlsbader Beschlüsse hatte man in jeder bayerischen Universitätsstadt einen Bevollmächtigten des Landesherrn zur besonderen Überwachung der Universitäten eingesetzt;17 dieses Amt eines außerordentlichen Ministerialkommissärs hatte an der Universität Erlangen von 1819 bis 1826 Gottfried Albrecht Freudel (1775–1851) inne.18 Mit den Geschehnissen des Studentenauszugs nach Altdorf natürlich bestens bekannt – war doch ungeachtet der Rückkehr der Studenten noch eine Untersuchung der Vorkommnisse anhängig –, richtete Freudel nun eine Woche später, am 23. April 1822, eine „förmliche Requisition“ an Faber, das Blatt bis zum Erlass einer allerhöchsten Entschließung zu beschlagnahmen.19 Eine Anordnungsbefugnis besaß Freudel jedoch nicht. Dem Innenministerium weisungsgebunden (im Gegensatz zum Stadtkommissär, der der Kreisregierung unterstellt war), konnte er im „Fall nothwendiger Communication mit anderen Stellen“ über die Kreisregierung „in Form von Auftrag“ handeln, aber nur, wenn es inhaltlich seinen eigenen Zuständigkeitsbereich betraf.20 Dies war hier aber nicht der Fall, da es im Kern nicht um eine Angelegenheit Erlanger Studenten, sondern um die eines Nürnberger Verlegers ging. Dass man freilich – wenn auch nicht verfahrensrechtlich, so doch inhaltlich – eine Involviertheit konstruieren wollte, wird später noch deutlich werden. Offenkundig etwas verunsichert unterrichtete Faber den Verleger Buchner von Freudels Intervention, forderte ihn auf, von der Abbildung vorläufig nichts zu verbreiten, was dieser mit dem Bemerken versicherte, es habe noch niemand einen Abdruck erhalten „außer den Studierenden, welche
16 Stephan, Michael: Zensur (Altbayern und Bayern), in: Historisches Lexikon Bayerns: https://www. historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Zensur_(Altbayern_und_Bayern) (17.12.2022); Széchényi, Barbara: Rechtliche Grundlagen bayerischer Zensur im 19. Jahrhundert (Rechtshistorische Reihe 273), Frankfurt a.M. 2003, S. 75–95; Kraus, Andreas: Geschichte Bayerns. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1983, S. 444–449; Treml, Manfred: Bayerns Pressepolitik zwischen Verfassungstreue und Bundespflicht (1815–1837). Ein Beitrag zum bayerischen Souveränitätsverständnis und Konstitutionalismus im Vormärz (Beiträge zu einer historischen Strukturanalyse Bayerns im Industriezeitalter 16), Berlin 1977, S. 45–73. 17 Hofmann: Universitätspolitik, S. 175–205. 18 Ebd., S. 190–192 und S. 214–218. 19 StAN Reg. v. Mfr., K. d. I., Abg. 1932, Tit. I, Nr. 38: Bericht von Mulzers in der Sitzung der Regierung des Rezatkreises, 29.05.1822. 20 UAE A1/7 Nr. 11, Instruction für die ausserordentlichen Ministerialcommissäre an den Universitäten vom 11.11.1819, auszugsweise abgedruckt in: Döllinger: Verordnungen, S. 158.
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die Abbildung für sich bestellt hätten“, und beide warteten erst einmal ab, was passieren würde.21 Damit zog nun die Angelegenheit ihre Kreise durch das Innenministerium, und mehrere Wochen später wurde auch die Universität offiziell am 15. Mai 1822 in Kenntnis gesetzt. Das Prorektorat erhielt durch Ministerialkommissär Freudel „zur eigenen Wissenschaft und Aufmerksamkeit“, also ohne konkrete Weisung, von der Entschließung des Innenministeriums Kenntnis: Dem Vernehmen nach werden in Nürnberg Abbildungen des jüngsten Ein- und Auszuges der Erlanger Studierenden veranstaltet. Es ist durchaus nicht zu dulden, daß strafbare Handlungen, wodurch die öffentliche Ruhe und Sicherheit auf eine so auffallende Weise verlezt [sic!] worden sind, und worüber die strafrechtliche Untersuchung noch abhängig ist, gleichsam als eine von Hand zu Hand zu überliefernde Denkwürdigkeit durch Druck oder Stich verherrlicht, dadurch den Gesetzen Hohn gesprochen und Ungehorsam und zügellose Leidenschaft genährt und gestärkt werden. Die Regierung des Rezatkreises erhält den Befehl, diesem Unfug durch alle ihr zu Gebot stehenden Mittel zu steuern.22
An der Universität war man freilich schon auf dem Laufenden. Bereits zwei Tage zuvor, am 13. Mai 1822, waren ausgewählte Studierende, die an dem Auszug teilgenommen hatten, unter Ausspruch der Missbilligung ihres Verhaltens belehrt worden. Man hatte sie aufgefordert, sie sollten sich künftig würdig erweisen, dass man sich für sie eingesetzt habe: Es gehöre ferner dahin die in Nürnberg geschehene Bestellung einer Abbildung des Wiedereinzuges der Studierenden in hiesige Stadt, die bei der allerhöchsten Stelle den höchsten Unwillen erregt habe, weshalb die Unterdrückung durch Verfügung an die Königl. Kreis-Regierung befohlen sey, und jeden Versuch der Verbreitung dieser Abbildung die strengste Ahndung erwarte.23
Dies entsprach freilich nicht dem Sachstand, diente aber wohl trefflich als Druckmittel gegenüber den Studenten. Damit endet die Überlieferung in den Universitätsakten zu diesem Sachbezug, da die Universität ja nur die akademischen Angelegenheiten, nicht aber die eines Nürnberger Verlegers von Lithographien betrafen –
21 StAN, Reg. v. Mfr., K. d. I., Abg. 1932, Tit. I, Nr. 38: Bericht von Mulzers in der Sitzung der Regierung des Rezatkreises, 29.05.1822. 22 UAE A3/14 Nr. 26: Ministerialkommissär Freudel an das Prorektorat der Universität Erlangen, 15.05.1822, unter Beigabe einer Abschrift der Entschließung des Staatsministeriums des Inneren an die Regierung des Rezatkreises vom 07.05.1822. 23 UAE A3/17 Nr. 20: Protokoll über die Belehrung ausgewählter Studierender, 13.05.1822.
Der Erlanger Studentenauszug nach Altdorf 1822 und die Zensur
was wohl in der Folgezeit zu der eingangs erwähnten irrigen Darstellung in Koldes Standardwerk führte.24 Die aufgrund der ministeriellen Intervention erfolgte Aufforderung der Kreisregierung an Stadtkommissär Faber, der Verbreitung des Blattes Einhalt zu gebieten, nutzte dieser am 14. Mai 1822 zu einer weitausholenden Begründung, warum er eine förmliche Beschlagnahmung ablehne: So gelungen diese Darstellung als Kunstproduct erscheint, so wenig dürfte in dieser einfachen Schilderung einer wirklichen Begebenheit irgendetwas Gesetzwidriges liegen. Wollte man dieser Schilderung in Beziehung auf die Unterschrift irgend eine besondere Deutung geben, so müßte sie als eine Darstellung des Moments gelten, in welchem die studierende Jugend zu ihrer Pflicht zurückkehrt und dem Gesetze gehorcht. Wird sie aber ohne Rücksicht auf die Unterschrift betrachtet, so bietet sie einen gewöhnlichen Studentenzug dar, wie man ihn öfters hier zu sehen gewohnt ist, und wobei sich das Publikum gewöhnlich nur ergözt [sic!]. Bei der gesetzlichen Ordnung, in der sich hier alles bewegt, wird es Niemand auch nur entfernt einfallen, in der befragten Schilderung irgend etwas von dem zu suchen oder zu finden, was dem königl. Staats-Ministerium des Innern in allzu ängstlicher Befangenheit und ohne nähere Kenntnis des Gegenstandes vorgestellt worden seyn mag […].25
Dergestalt „ängstlicher Befangenheit“ und Unkenntnis geziehen (die entsprechenden Passagen hatte man empfängerseits rot angestrichen) konnte die Kreisregierung den Vorfall kaum auf sich beruhen lassen. Weiteres Öl ins Feuer goss die gleichzeitig abgegebene Erklärung des Verlegers Buchner „Zur Erleichterung des Protocolls“, ein laut Anmerkung Fabers „sehr rechtlicher und industriöser [gemeint ist: fleißiger] – aber bei dem Stocken so vieler Industrie-Zweige nur mit Anstrengung sich nährender Bürger […], dem die Scheiterung des vorliegenden Unternehmens einen unverschmerzlichen Schaden verursachen würde.“26 Jene Erklärung Buchners zeugt von einem großen Selbstbewusstsein, das sich zum einen sicherlich aus wirtschaftlichem Druck speiste, zum anderen aber auch aus dem Status eines Verlegers, der mit arrivierten Künstlern seiner Zeit arbeitete und kaum gewillt war, staatlichen Zensurmaßnahmen vorschnell kleinbeizugeben. Buchner hielt der Kreisregierung in weitausschweifenden Phrasen zunächst die Bestimmungen des Edikts über die Pressefreiheit vor und erklärte dann souverän:
24 Kolde: Festschrift, S. 268. 25 StAN Reg. v. Mfr., K. d. I., Abg. 1932, Tit. I, Nr. 38: Stadtkommissär Faber zu Nürnberg an die Regierung des Rezatkreises, 14.05.1822. 26 Ebd.
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Nichts von allen dem [sic!] fällt der Platte zur Last, die ich abliefern soll, oder den Abdrücken, deren Verbreitung gehemmt werden will, ein Beschlag darauf ist also […] ungesetzl[ich] und enthält eine Verletzung konstitutioneller Rechte. […] Der Steindruck […] zeigt nichts als einen Studenten-Zug, wie er wirkl[ich] auf öffentl[icher] Landstraße stattfand. Diesen abzubilden, kann nicht verboten seyn. […] Der Tod Ludwig XVI., die Ermordung Gustav durch Ankerström,27 der Meuchelmord Kotzebues durch Sand,28 die Insurrektion der Tyroler, Gräuel aus der französischen Revolution, Mordthaten, Räuberungen und hundert derg[eichen] verbrecherl[ichen] oder aufrührer[ischen] Sinnen sind hundertmal beschrieben worden oder hängen als Kupferstich und Gemälde in allen Zimmern, sie müssen beschrieben und dargestellt werden, denn sie gehören der Geschichte an, die ein Gemeingut aller Menschen ist […]. Wen[n] dem Künstler die Darstellung des Geschichtlichen, dem Gewerbsmann der Debit desselben nicht mehr gestattet seyn sollte, in welchen unerhörten Fesseln läge dann in Baiern Kunst und Industrie.29
Buchner forderte schlussendlich, die Verbreitung nicht zu behindern und behielt sich andernfalls Schadensersatzforderungen vor, da ihm die Fertigung des Blattes große finanzielle Aufwendungen bereitet habe. Davon kann in der Tat ausgegangen werden, schließlich war insbesondere mit Johann Adam Klein ein bereits zeitgenössisch berühmter und hochpreisiger Künstler beteiligt. Am folgenden Tag, den 15. Mai 1822, kam neuer Druck aus der nachbarschaftlichen Universitätsstadt, diesmal von Fabers Stadtkommissärskollegen Wöhrnitz. Zwar ist dessen Originalschreiben nicht überliefert, die Kommentierung Fabers im Zuge der Weiterleitung an die Kreisregierung lässt aber Rückschlüsse auf dessen Inhalt zu. Entweder hatte der Erlanger Stadtkommissär – vielleicht unter Einwirkung Freudels – einen Sinneswandel durchlaufen, oder die frühere Behauptung Fabers, man habe das Blatt anfänglich gemeinsam bewertet, hatte nicht der Wahrheit entsprochen. Jedenfalls entgegnete Faber, er könne den Argumenten Wöhrnitz‘ nicht zustimmen, denn es stehe noch nicht fest, ob die Lithographie überhaupt verboten werden könne, ferner dürften Beschlagnahmungen nur von Unverkauftem erfolgen und nicht von demjenigen, was sich schon in Privatbesitz befinde, und er kenne 27 Gemeint ist die Ermordung des schwedischen Königs Gustav III. durch Jacob Johan Anckarström 1792. 28 Die bildlichen Darstellungen vom Schicksal von Carl Ludwig Sand waren seinerzeit die ersten Beschlagnahmungen nach den Karlsbader Beschlüssen (Laufer, Ulrike: Verboten! Wie der bayerische Staat vor 150 Jahren seine Untertanen vor verderblichen Einflüssen schützte, in: Ottomeyer, Hans (Hg.): Biedermeiers Glück und Ende. … die gestörte Idylle 1815–1848 (Ausstellungskatalog Münchner Stadtmuseum), München 1987, S. 698–700 und Kat. 11.4.3–11.4.4). 29 StAN Reg. v. Mfr., K. d. I., Abg. 1932, Tit. I, Nr. 38: Erklärung von Georg Paul Buchner „Zur Erleichterung des Protocolls“, 14.05.1822. Mit der Erklärung übersandte Buchner ein unkoloriertes und nicht mit den Namensrandleisten versehenes Exemplar der Lithographie, das im Anschluss an die Erklärung im Akt eingebunden ist.
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außerdem kein Gesetz, nach dem einer Privatperson verboten werden könne, sich bei einem Künstler etwas zu bestellen oder einem Künstler, „auf Privatbestellung etwas zu fertigen“.30 Dem wollte sich sein Gegenpart bei der Kreisregierung in Ansbach, Vizepräsident Adam Joseph August Freiherr von Mulzer (1772–1831),31 nicht anschließen. Das Problem sei nicht das Dargestellte, sondern die Tatsache, dass noch eine Untersuchung anhängig sei, und er teile die Befürchtung Wöhrnitz‘, dass diese „Art und Weise, wie man durch Widersetzlichkeit sich noch einen ehrenvollen Rückzug erzwingen kann“, Nachahmer auf den Plan rufen könnte.32 Die Kreisregierung kam in ihrer Sitzung vom 17. Mai aber freilich nicht umhin, trotz der gegensätzlichen inhaltlichen Positionierung das weitere Vorgehen den gesetzlichen Bestimmungen zu unterwerfen: „Der k. Stadtcommissaire Faber in Nürnberg hat in Folge des Preßedicts in [primo] zu erkennen, ob [das Blatt] dem Beschlage gesetzlich unterliege.“33 Daraufhin begründete Faber penibel seine Entscheidung gegen einen Beschlag. Er als Stadtkommissär habe keine richterliche Entscheidungsbefugnis, sondern sei ein Exekutivorgan, das nur bei eindeutigen Gesetzesübertretungen aus dem Stand heraus einschreite: Die befragte Abbildung ist meiner Aufmerksamkeit nicht entgangen, ich habe die Darstellung der bekannten Thatsache selbst mit Erwägung aller Umstände und Beziehungen geprüft und durchaus keinen gesetzlichen Grund finden können, von Amtswegen [sic!] dagegen einzuschreiten.
Wenn diese Ansicht nicht geteilt werde, müsse eben eine richterliche Entscheidung gefällt werden.34 Vizepräsident von Mulzer, der in seinen Auslassungen gegen Faber von Zeile zu Zeile aggressiver wurde und ihm in herablassender Weise vorwarf, dass er die vorliegende erbärmliche Lithographierung für ein wohlgelungenes Kunstprodukt [halte], von der Ergötzlichkeit des Publikums bei den Studentenzügen [spreche]
30 StAN, Reg. v. Mfr., K. d. I., Abg. 1932, Tit. I, Nr. 38: Stadtkommissär Faber zu Nürnberg an die Regierung des Rezatkreises, 16.05.1822. 31 Neuer Nekrolog der Deutschen, 9 (1831), Teil 2, Ilmenau 1833, S. 1012–1018. – Von Mulzer war seit 1817 Vizepräsident der Regierung des Rezatkreises in Ansbach und wurde 1826 Präsident der Regierung des Unterdonaukreises. 32 StAN Reg. v. Mfr., K. d. I., Abg. 1932, Tit. I, Nr. 38: Aktennotiz von Mulzers, 17.05.1822. 33 StAN Reg. v. Mfr., K. d. I., Abg. 1932, Tit. I, Nr. 38: Aktennotiz der Regierung des Rezatkreises, 17.05.1822. 34 StAN Reg. v. Mfr., K. d. I., Abg. 1932, Tit. I, Nr. 38: Stadtkommissär Faber zu Nürnberg an die Regierung des Rezatkreises, 21.05.1822 (Hervorhebung im Original).
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und die neuste einfache Requis[ition] des St. C. Wöhrnitz auf Vernehmlassung des Lithogr[aphen] Buchner mit der Unstatthaftigkeit einer Confiskation von Buchners Bildern in Privathänden vermeng[e],35
betrachtete die Angelegenheit vor einem anderen Horizont. Während der Nürnberger Stadtkommissär abseits des akademischen Umfeldes lediglich eine Abbildung von reitenden Studenten sehen wollte, witterte die Kreisregierung die Verherrlichung staatsfeindlicher Umtriebe und echauffierte sich, weil Faber verweigerte, sich diese Bewertungskriterien zu eigen zu machen. Insbesondere ging bei der Kreisregierung die Furcht um, es könnten sich die durch die triumphale Rückkehr der Studenten letztendlich unterlegenen Handwerksburschen herausgefordert fühlen und sich durch die fortwährende Publikation des Ereignisses zur Nachahmung animiert fühlen. Faber hingegen interessierte sich naheliegenderweise weniger für die Befindlichkeiten des Innenministeriums bezüglich studentischer Umtriebe in der Nachbarstadt als vielmehr für die wirtschaftlichen Sorgen seines eigenen Stadtbürgers, des Verlegers Buchner. Die Argumentation von Mulzers zeigt sehr deutlich, wie argwöhnisch man studentische Gruppierungen betrachtete und dass man den Universitäten in erster Linie die Funktion als Ausbildungsstätte loyaler Beamter zuzuweisen gedachte: Universitätsangelegenheiten und Studentenhändel dürfen nicht nach den Ansichten im gewöhnlichen Privatleben, sondern nach den eigends [sic!] bestehenden akademischen Gesetzen beurtheilt werden. Nur in der strengen Handhabung dieser Gesetze kann der Staat seine Hofnung [sic!] erfüllt sehen, an Fleiß und Ordnung gewöhnte Beamten [sic!] zu erhalten; und nur diese können den Eltern die Beruhigung geben, daß ihre den Universitäten anvertrauten Söhne von Allem abgehalten werden, was den Zweck des Studierens stört. Jeder Staatsbeamte muß wissen, wie sehr jede Störung der akademischen Ordnung verpönt ist, und daß jeder akademische Bürger an die Beobachtung der akad[emischen] Gesetze gleich bei dem Beziehen der Universität durch förmliches Handgelöbnis gebunden wird. Alle Studentenzüge, sie seyen Aus- oder Ein-Züge, die sich auf Unordnungen beziehen, sind gesetzwidrige Handlungen, und sogar Eidesbruch, welches man bei künftigen Staatsbeamten nur nicht gleichgültig betrachten darf. […] Wenn der St. K. Faber in der vorliegenden Verherrlichung eines solchen gesetzwidrigen Zuges ein wohlgelungenes Kunstprodukt und die unschuldige Darstellung einer wahren Begebenheit […] erblikt [sic!], so bedauere ich – für ihn – seinen Kunstsinn und – für den Staat – seinen Beamtensinn. […] Ein R[e]g[ierun]gsbeamter kann sich nur selbst betrügen wollen,
35 StAN Reg. v. Mfr., K. d. I., Abg. 1932, Tit. I, Nr. 38: Bericht von Mulzers in der Sitzung der Regierung des Rezatkreises, 29.05.1822.
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wenn er glauben will, daß die Studenten durch die bestellte Abbildung ihres feyerl[ichen] Rückzuges ihrer Rückkehr zur Ordnung ein Denkmal setzen wollten!36
Die besondere Beurteilung der Lage bei Angelegenheiten der Universität gelte nach Vizepräsident von Mulzer, der offensichtlich kein Verständnis für die Gelassenheit der Nürnberger Seite hinsichtlich des Verhaltens akademischer Bürger aufbrachte, auch für beteiligte Dritte: „Der Lithograph Buchner verdient bei der Sache gar keine Rücksicht, weil jeder Nürnberger Bürger so gut wie der Erlanger Bürger weiß und wissen muß, was er aus der Contactirung mit Studenten gesetzlich zu erwarten hat.“37 Letztendlich entschied die Angelegenheit ein Verfahrensfehler. Die gesetzliche Grundlage war in den Paragraphen 7 und 8 des Edikts über die Pressefreiheit gelegt; demnach war gegen die Verbreitung von „Schriften oder sinnliche[n] Darstellungen“, die „der öffentlichen Ruhe und Ordnung durch Aufmunterung zum Aufruhr […] gefährlich“ werden könnten, durch den Stadtkommissär einzuschreiten, der ein Exemplar an die vorgesetzte Behörde „ohne Verzug“ einzusenden hatte, welche dann innerhalb von acht Tagen über die Beschlagnahme zu befinden hatte.38 Faber jedoch hatte, wie ihm die Kreisregierung vorwarf, „eine Beschlagnahme der […] lythographirten Darstellung nicht für gesetzlich [gehalten,] aber dem ohngeachtet eine Art von Confiscation der Platte und der Abdrücke eingeleitet“ – indem er den Verleger aufgefordert hatte, den Vertrieb vorerst auszusetzen, ohne jedoch die Kreisregierung zu informieren und ein Exemplar des Blattes, wie gesetzlich vorgeschrieben, abzuliefern.39 Ob Faber nur ungeschickt handelte oder den Verleger Buchner tatsächlich unterstützen wollte,40 indem er die gesetzliche Handlungsvorgabe durch seine eigene „Art von Confiscation“ aushebelte, sei dahingestellt. Jedenfalls sah sich die Kreisregierung veranlasst, eine Beschlagnahme, die aber gleichzeitig keine war, aufheben zu müssen.
36 Ebd. (Hervorhebung im Original). 37 Ebd. 38 Edikt über die Freyheit der Presse und des Buchhandels, 26.05.1818, publiziert im Gesetzblatt für das Königreich Bayern, X. Stück, 24.06.1818, hier Sp. 184–185. 39 StAN Reg. v. Mfr., K. d. I., Abg. 1932, Tit. I, Nr. 38: Regierung des Rezatkreises an den Stadtkommissär Faber zu Nürnberg, 29.05.1822. 40 Zu letzterer Einschätzung kommt Cremer, Sabine Gertrud: Nicolaus Christian Hohe (1798–1868). Universitätszeichenlehrer in Bonn (Dissertation), Bonn 2001, S. 34–37, die erstmals die Aktenüberlieferung zu diesem Fall im Staatsarchiv Nürnberg eingehend herangezogen hat. Allerdings irrt sie mit der Feststellung, dass nach Aktenlage unklar sei, ob Buchner Platte und Abdrücke wieder zurückerhalten habe – er hatte sie vielmehr nie abliefern müssen.
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Nun war die Angelegenheit noch dem (für die Bestätigung zuständigen) Innenministerium zu erklären, das am 12. Juni 1822 bei der Kreisregierung nach einem Bericht verlangte, warum die Darstellung, welche den Durchzug der Studierenden von Erlangen durch die Stadt Nürnberg zeigt, und welche angeblich der Künstler Buchner zu eigener Speculation gemacht ha[be], von der K. Regierung des Rezatkreises als dem Preß-Edicte nicht entgegen und frei erklärt worden sey.41
Die Kreisregierung antwortete mit einer ausführlichen Darlegung des Hin und Her der Geschehnisse und kam nicht umhin, sich die spitzfindige Argumentation Fabers zu eigen zu machen, um „diesem schwankenden Benehmen endlich ein Ziel zu setzen“ und die Beschwerde des Verlegers zu berücksichtigen (schließlich stand noch die Androhung Buchners von Schadensersatz im Raum): Das Blatt sei nicht den Bestimmungen des Ediktes über die Pressefreiheit zu unterwerfen, „indem es nicht den Auszug der Studierenden aus Erlangen, sondern nur deren Rückzug dahin, folglich den ersten Schritt zur Ruhe und Ordnung, und auch diesen Rückzug nur in der Gegend von Nürnberg darstell[e]“42 – also kein Aufbruch zu Ungesetzlichkeiten und überdies abseits des Hochschulortes. Gemäß dieser Argumentation wäre somit eine zweite anlässlich jenes Ereignisses angefertigte Lithographie, darstellend den Aufbruch der Studenten vom Erlanger Wels-Garten am 26. Februar 1822 von Nicolaus Christian Hohe (1798–1868), bei einer Veröffentlichung eindeutig der Beschlagnahme zu unterwerfen gewesen. Offenkundig hatte man von dieser aber keine Kenntnis, weil sie nicht verlegt oder zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht gefertigt war – wie auch von der dritten Lithographie, darstellend die Schlusskundgebung auf dem Erlanger Marktplatz am 5. März 1822 von Conrad Wießner, welche demzufolge höchstkompliziert als zwar Rückkehr zur Ordnung, allerdings am Universitätsort Erlangen, zu bewerten gewesen wäre.43 Das Innenministerium ließ sich dann nochmals drei Monate Zeit, bis es per Erlass vom 23. September 1822 der Kreisregierung mitteilte, „daß der Gegenstand für dießmal auf sich beruhen möge“.44 Jedenfalls vergaß das Ministerium nicht
41 StAN Reg. v. Mfr., K. d. I., Abg. 1932, Tit. I, Nr. 38: Staatsministerium des Inneren an die Regierung des Rezatkreises, 12.06.1822. 42 StAN Reg. v. Mfr., K. d. I., Abg. 1932, Tit. I, Nr. 38: Regierung des Rezatkreises an das Staatsministerium des Innern, 27.06.1822 (Hervorhebung im Original). 43 Vgl. zu den beiden Blättern Jakob, Andreas: Katalog Nr. 4.2.9 und 4.2.12, in: Stadtmuseum, 1993, S. 410–413. 44 StAN Reg. v. Mfr., K. d. I., Abg. 1932, Tit. I, Nr. 38: Staatsministerium des Inneren an die Regierung des Rezatkreises, 23.09.1822.
Der Erlanger Studentenauszug nach Altdorf 1822 und die Zensur
hinzuzufügen, dass „in den Verhandlungen darüber das schwankende Benehmen des Stadt-Commissariats zu Nürnberg mißfällig wahrgenommen worden sey.“ Die Verfügung mit der negativen Beurteilung teilte Vizepräsident von Mulzer Stadtkommissär Faber am 4. Oktober 1822 mit.45 Der weiteren Karriere Fabers, der 1839 altersentsprechend in den Ruhestand versetzt wurde,46 war dies ebenso wenig abträglich wie derjenigen der Lithographie, die bis heute ein beredtes und vielzitiertes Dokument der Erlanger Universitätsgeschichte darstellt.
45 Ebd. 46 Faber, in: fuerthwiki.de. – Verwehrt blieb Faber aber eine Ehrung wie die seiner Erlanger Kollegen, Ministerialkommissär Freudel und Stadtkommissär Wöhrnitz, die am 10.03.1826 bzw. 24.12.1848 die Ehrendoktorwürde der Juristischen Fakultät der Universität Erlangen erhielten (UAE C2/3 Nr. 165.2 und 329).
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Theodor Rimberger – ein vergessener 48er in Oberfranken
1921 schrieb der junge Jurist Thomas Dehler (1897–1967) aus Lichtenfels – nachmals Bundesminister der Justiz – in einer Broschüre, die anlässlich eines reichsweiten Treffens der „Jungdemokraten“ in Kronach erschien: Oh ja, trotz Krummstab und Kutte gab es stets Demokraten in Bamberg; die „Roten“ waren sie genannt; schwarz-rot-goldene Fahnen schmücken seit alters an Allerseelen ihre Gräber, der Titus, Ultsch, Heinkelmann, Staub.1
Doch nicht jedem Mann, der sich während der Revolution von 1848/49 hervortat, wurde in seiner Heimat ein solches Andenken gewahrt. An manchen regionalen oder lokalen Akteur erinnerte sich die Nachwelt nicht mehr. Von einem solchen vergessenen 48er handelt der nachstehende Aufsatz: vom Arzt Dr. Theodor Rimberger.2 Sowohl in seinem Geburts- als auch in seinem Wirkungsort ist der Vorkämpfer von Demokratie und Republik vergessen. In keiner Stadtgeschichte erscheint sein Name; keine Tafel erinnert an ihn. Als Mediziner gehörte Rimberger zu einer Gruppe, die sich auf Seiten der demokratischen Bewegung besonders exponierte. Bernd Zinner kommt bei der Analyse der 1852 erstellten Listen von Männern, die sich „für und […] gegen den Thron und die Regierung hervorgetan haben“, zum Ergebnis: „Die Literaten und Ärzte sind in Bayern […] und in Oberfranken […] die Berufsgruppen mit der größten Revolutionsaffinität.“3 Besonders im Vordergrund standen in Oberfranken Dr. Heinrich
1 Zit. nach Wengst, Udo: Thomas Dehler 1897–1967. Eine politische Biographie, München 1997, S. 32. 2 Das Thema wurde gewählt, da die Verbundenheit des Verfassers mit Charlotte Bühl-Gramer auf die gemeinsame Beschäftigung mit der Revolution in Franken zurückgeht. Grundlegende Veröffentlichungen von Charlotte Bühl zum Thema sind: Revolution, Demokratie, Reichsbewußtsein – Nürnberg 1848/49, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 85 (1998), S. 185–277; Nürnberg – ein Zentrum der Revolution in Franken, in: Die Einheits- und Freiheitsbewegung und die Revolution von 1848/1849 in Franken (Materialien zur bayerischen Geschichte und Kultur 8), Augsburg 1999, S. 43–57. 3 Zinner, Bernd: Zur Revolution von 1848/49 in Oberfranken. „Schwarze und weiße Listen“ der Regierung über das politische Verhalten der Bevölkerung, in: Archiv für Geschichte von Oberfranken 63 (1983), S. 97–123, hier S. 101.
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Heinkelmann (1807–1866)4 , der in und um Bamberg als Volksredner für die Republik warb, und der aus Nürnberg stammende, in Kirchenlamitz wirkende Dr. Gustav Blumröder (1802–1853)5 , der in die Paulskirche gewählt wurde. Johann Theodor Rimberger wurde am 29. Mai 1808 als fünftes von sieben Kindern in Kronach geboren.6 Sein Vater, Georg Rimberger (1775–1854), war Apotheker in der Festungsstadt wie zuvor sein Schwiegervater.7 Als Gastwirtssohn in Kronach zur Welt gekommen, hatte er in Bamberg studiert.8 Er wohnte und praktizierte im Anwesen mit der heutigen Bezeichnung Lucas-Cranach-Straße 5 (damals Nr. 111). Von 1818 bis 1848 stand er als Bürgermeister an der Spitze der Stadt.9 Bis heute hängt sein Porträt im großen Saal des alten Rathauses Kronach.10 Der ältere Sohn Theodor Rimberger besuchte das Gymnasium in Bamberg, wo er zu den schwächeren Schülern zählte.11 Dann immatrikulierte er sich an der Universität Würzburg für Medizin.12 Sein Studium setzte er in München fort, wo er 1834 mit einer lateinischen Arbeit über die Rachitis zum Doktor promoviert
4 Über ihn Dippold, Günter: Heinrich Heinkelmann, Arzt und Vorkämpfer von Demokratie und Republik, in: Bamberger Medizingeschichten. Medizingeschichtlicher Rundweg durch Bamberg, Bamberg 2020, S. 108–110. 5 Über ihn zuletzt Große Kracht, Andreas: Gustav Blumröder (1802–1853). Studien zu Leben und Werk unter besonderer Berücksichtigung seiner anthropologischen Psychiatrie. Med. Diss., Hannover 1998; Meyer, Heinrich: Ein Kirchenlamitzer war 1848/49 Abgeordneter der Frankfurter Nationalversammlung: Dr. med. Gustav Blumröder (1802–1853), in: Die Krebsbacker 8 (1998), S. 69–94; Schödel, Siegfried: Gustav Blumröder. Skizzen zu einem Porträt des Nürnberger Psychiaters, Politikers und Romanciers, in: Literatur in Bayern 74 (2003), S. 34–41; Bergmann, Werner: Blumröder und die Blumröderhöhe, in: Die Krebsbacker 21 (2011), S. 23–32; Ders.: Ess- und Trinkkultur anno 1837. Dr. Gustav Blumröders „Vorlesungen über die Esskunst“ entstanden in den bürgerlichen Kreisen des Fichtelgebirges, in: Siebenstern 89 (2020), Heft 5, S. 12 f.; Mühlnikel, Marcus: Poesie und Politik. Die Autographen der oberfränkischen Abgeordneten in der Frankfurter Nationalversammlung 1848/49, in: „Und in Deutschlands Mitte Franken“. Günter Dippold zum 60. Geburtstag, Bayreuth 2022, S. 207–225. 6 AEB Pfarrarchiv Kronach, M 32, pag. 505. 7 Fehn, Georg: Chronik von Kronach. Bd. 2, Kronach o. J., S. 303. Großvater von Theodor Rimberger war der aus Bonn stammende Apotheker Johann Theodor Reusch. 8 Spörlein, Bernhard (Hg.): Die Matrikel der Akademie und Universität Bamberg 1648–1803 (Veröffentlichungen der Gesellschaft für fränkische Geschichte IV, 12), Würzburg 2014, S. 961. 9 Stöhr, Coelestinus/Stöhr, Hieronymus: Neue Chronick der Stadt Cronach, Kronach 1825, S. 129; Fehn, Georg: Chronik von Kronach. Bd. 5, Kronach 1970, S. 177, S. 180, S. 189. Zur Feier seines 25jährigen Dienstjubiläums Mertel, Carl: Fortgesetzte Chronik der Stadt Cronach, Kronach 2015, S. 18 f. 10 Breuer, Tilmann: Landkreis Kronach (Bayerische Kunstdenkmale 19), München 1964, S. 130. 11 Rimberger war auf Platz 46 unter 48 Schülern. Jahres-Bericht über die königlichen Studien-Anstalten zu Bamberg nebst einer Abhandlung über den Eid, Bamberg 1825, S. 4. 12 Verzeichniß des Personals und der Studierenden an der Julius-Maximilians-Universität zu Würzburg. Sommer-Semester 1831, Würzburg 1831, S. 20.
Theodor Rimberger – ein vergessener 48er in Oberfranken
wurde.13 Er widmete die 30seitige Schrift nicht einem Professor, sondern seinem Würzburger Studienfreund Friedrich August Vogt (1812–1893), der, obwohl jünger, sein Studium bereits abgeschlossen hatte.14 Rimberger unternahm anschließend ausgedehnte Bildungsreisen – was sich nur wenige seiner Kommilitonen in diesem Ausmaß leisten konnten. Er ging nach Zürich zum großen Pathologen Johann Lukas Schönlein (1793–1864) aus Bamberg, wo er zwei Monate blieb. Anderthalb Jahre verbrachte er in Paris. Dort praktizierte er bei namhaften Medizinern wie dem königlichen Leibarzt Jean-Louis Alibert (1768–1837), einem berühmten Dermatologen, und dem namhaften Chirurgen und Augenarzt Louis-Joseph Sanson (1790–1841). Mit einem Monat in Louvain beschloss Rimberger seinen Auslandsaufenthalt.15 Nachdem er am 6. Juli 1836 die Staatsprüfung bestanden hatte16 , wies die Regierung des Obermainkreises Rimberger seine erste Stelle zu: als praktischer Arzt in Schwarzenbach am Wald. Ende 1838 erlangte er eine von vielen Kollegen erstrebte Position, nämlich die eines Amtsarztes, der neben den Erträgen seiner Praxis ein festes Salär bezog: Er wurde Herrschaftsgerichtsarzt in Guttenberg.17 Dieses Amt gab er 1842 auf, um als praktischer Arzt in seine Heimatstadt Kronach zu ziehen.18 Am 12. Mai 1845 heiratete Rimberger die damals 23jährige Theresia Krappmann aus Lichtenfels.19 Deren Vater war der einflussreiche Landgerichtsarzt Dr. Michael Krappmann (1776–1864)20 , der, aus kleinen Verhältnissen stammend, zu Ansehen und Wohlstand gelangt war. Von 1831 bis 1837 hatte er der Abgeordnetenkammer des Bayerischen Landtags angehört, und dem Lichtenfelser Landrichter erschien er als „das Muster eines Thron- und Ordnungs-Freundes“.21 Der siebzigjährige Krappmann war aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr in der Lage, sein Amt
13 Rimberger, Theodor: De rhachitide, München 1834. 14 Über ihn Weid, Inge (Bearb.): Der Landkreis Würzburg um 1860. Amtsärzte berichten aus den Landgerichten Aub, Ochsenfurt und Würzburg (Veröffentlichungen zur Volkskunde und Kulturgeschichte 91), Würzburg 2001, S. 151–153. 15 StABa K 3 F III, Nr. 1375/II, fol. 189r–190r (auch zum Folgenden). 16 StABa K 3 F III, Nr. 1570, Schreiben vom 22.9.1879. 17 Königlich Bayerisches Intelligenzblatt für Oberfranken 1839, S. 12. 18 Medicinisches Correspondenz-Blatt bayerischer Aerzte 3 (1842), S. 144. 19 AEB Pfarrarchiv Lichtenfels, M 14, Aufschlag 25. 20 Jäck, Heinrich Joachim: Zweites Pantheon der Literaten und Künstler Bambergs vom XI. Jahrhunderte bis 1843, Bamberg 1843, S. 60; Dippold, Günter: Trieb. Ein langheimisches Klosterdorf und seine Entwicklung im 19. Jahrhundert (Heimatbeilage zum Oberfränkischen Schulanzeiger 322), Bayreuth 2005, S. 36 f. Zu seiner frühen Biographie: StABa K 3 F III, Nr. 1375/II, fol. 67r–68r. Zu seinen Auszeichnungen: BayHStA Ordensakten 13773. 21 StABa K 3 Präs.reg., Nr. 964, fol. 38r.
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allein wahrzunehmen. Er sorgte deshalb dafür, dass ihm im Oktober 1846 sein Schwiegersohn als Stellvertreter an die Seite gestellt wurde.22 Rimbergers Leben verlief mithin in geordneten Bahnen: Er entstammte einem gutsituierten Elternhaus, absolvierte eine aufwendige Ausbildung, heiratete in eine reputierliche Familie ein – und es war abzusehen, dass er eines Tages seinem Schwiegervater im Amt nachfolgen würde.23 Äußerlich bedeutete die Revolution einen Bruch. Wie der oberfränkische Regierungspräsident Melchior von Stenglein (1790–1857) – wie Rimberger ein gebürtiger Kronacher – im Nachhinein darlegte, habe sich Rimberger seit dem Ausbruch der Revolution gewandelt. Vor 1848 sei sein Verhalten einwandfrei gewesen. Während dieser ganzen Zeit genoß er den besten Ruf in politischer wie in jeder anderen Beziehung und gab niemals zu irgendeiner Einschreitung oder Verdächtigung die geringste Veranlassung, bis sich mit dem Anfange der allgemeinen Bewegung […] allmälig ein ganz anderer als der bisher gezeigte Charakter in ihm entwickelte. Seit jener Zeit gab er sich den schwindelndsten Ideen in demokratischer Richtung, einem gänzlichen Indifferentismus in religiöser Beziehung hin, und kann in dieser doppelten Hinsicht als wahrhafter Fanatiker für die sogenannten freisinnigen Ideen bezeichnet werden.
Rimberger habe sich, so der Regierungspräsident, mit seinem Vater und mit seinem Schwiegervater überworfen und sei mit seiner Frau in Streit gelegen.24 Allerdings spricht Manches auch dafür, dass die Hinwendung zu revolutionären Ideen nicht völlig überraschend kam. Rimbergers Heimatstadt Kronach galt schon im Vormärz als liberales, ja geradezu umstürzlerisches Pflaster. Dem kurzlebigen Press- und Vaterlandsverein, der 1832 unter maßgeblicher Beteiligung des Journalisten Johann Georg August Wirth (1798–1848) gegründet worden war, gehörten 15 Kronacher an.25 Ein Kronacher war als Würzburger Student 1833 verdächtig, am Frankfurter Wachensturm beteiligt gewesen zu sein.26 Schon im Vorfeld dieser Unruhen hatte man einen der Protagonisten versichert, dass Kronach „den Mit-
22 StABa K 3 Präs.reg., Nr. 813/VI, fol. 351r–v. 23 Tatsächlich folgte 1850 auf den in den Ruhestand tretenden Krappmann Dr. Johann Wolfgang Schmidt (1797–1878) aus Berndorf, bis dahin Herrschaftsgerichtsarzt in Thurnau. Er war mit einer Stieftochter Krappmanns – einer älteren Halbschwester von Theresia Rimberger – verheiratet. Über ihn BayHStA MInn 61098. 24 StABa K 3 Präs.reg., Nr. 813/VI, fol. 352r–v. 25 Foerster, Cornelia: Der Preß- und Vaterlandsverein von 1832/33. Sozialstruktur und Organisationsformen der bürgerlichen Bewegung in der Zeit des Hambacher Festes (Trierer Historische Forschungen 3), Trier 1982, S. 196. 26 Zinner: Revolution, S. 121.
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telpunkt eines Aufstandes für das Fichtelgebirge und den Thüringer Wald bilden würde“.27 Eine ältere Schwester Rimbergers, Anna Sidonia Rimberger (1804–1888), war seit 1829 mit dem Kronacher Floßhändler Georg Joseph Fillweber (1799–1879) verheiratet28 , über den der Regierungspräsident 1849 schrieb, er sei „seit je Demokrat“.29 Schon seinen Vater hatte man zu denen gerechnet, die in politischer Hinsicht „sehr frei sprechen“.30 Der Onkel von Rimbergers Frau, der Jurist und Gutsbesitzer Thomas Rüblein (1781–1846) in Vierzehnheiligen, hatte die Schrift „Die politische Reform Deutschlands“ verbreitet, wofür ihn das Oberappellationsgericht 1833 zu mehrjähriger Festungshaft verurteilte.31 Im Umfeld Rimbergers waren also durchaus Vorbilder für eine antimonarchische, auf die Stärkung bürgerlicher Rechte bedachte Haltung zu finden. Für uns erkennbar, trat Rimberger erstmals im Spätherbst 1848 politisch in Erscheinung. Am 29. November 1848 gab er durch eine knappe Annonce im „Tag-Blatt der Stadt Bamberg“ bekannt, dass er Spenden für die Familie des hingerichteten Paulskirchen-Abgeordneten Robert Blum (1807–1848) sammle.32 Der Verleger und Autor, Abgeordneter für Leipzig in der Nationalversammlung, hatte in Wien auf den Barrikaden gekämpft, als die revolutionären Errungenschaften durch Militärgewalt beseitigt wurden, und war am 9. November 1848 in der Brigittenau füsiliert worden. Revolutionsanhänger verehrten Blum buchstäblich als Märtyrer. Um dieselbe Zeit wurde Rimbergers Schwager Georg Joseph Fillweber als Vertreter des Wahlkreises Lichtenfels in die Abgeordnetenkammer des Landtags gewählt, wo er sich zur Linken hielt.33
27 Heer, Georg: Geschichte der Deutschen Burschenschaft. Bd. 2: Die Demagogenzeit. Von den Karlsbader Beschlüssen bis zum Frankfurter Wachensturm (1820–1833) (Quellen und Darstellungen zur Geschichte der Burschenschaft und der deutschen Einheitsbewegung 10), Heidelberg 1927. 28 AEB Pfarrarchiv Kronach, M 20, pag. 81. 29 Zit. nach Zuber, Karl-Heinz: Der „Fürst Proletarier“ Ludwig von Oettingen-Wallerstein (1791–1870). Adeliges Leben und konservative Reformpolitik im konstitutionellen Bayern (Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte, Beiheft 10), München 1978, S. 288. 30 StABa K 100/I, Nr. 142, fol. 20v. 31 Jäck, Joachim Heinrich: Thomas Rüblein, in: Neuer Nekrolog der Deutschen. 24. Jg.: 1846, Weimar 1848, S. 359 f.; Dippold, Günter: Die Lichtenfelser Gerichtsvorstände und ihre Zeit. Von Ära Montgelas bis ins Dritte Reich, in: Ders. (Hg.): Bayerische Justiz am Obermain. Festgabe zur 100-Jahr-Feier des Amtsgerichts Lichtenfels (CHW-Monographien 4), Lichtenfels 2003, S. 9–50, hier S. 15. 32 Tag-Blatt der Stadt Bamberg 1848, S. 1724. Über Blum: Reichel, Peter: Robert Blum. Ein deutscher Revolutionär 1807–1848, Göttingen 2007; Zerback, Ralf: Robert Blum. Eine Biographie, Leipzig 2007. 33 Dippold, Günter: Die Revolution auf dem Lande – das Beispiel des Landgerichts Lichtenfels, in: Ders./Wirz, Ulrich (Hg.): Die Revolution von 1848/49 in Franken (Schriften zur Heimatpflege in Oberfranken I, 2), Bayreuth 2 1999, S. 193–247, hier S. 222.
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Zu Weihnachten 1848 verabschiedete die Nationalversammlung zu Frankfurt die „Grundrechte des deutschen Volkes“, die ersten und zentralen Teile der künftigen Reichsverfassung. Doch zeigten die Regierungen der deutschen Bundesstaaten, zumal der größeren Fürstentümer wie Bayern, sich wenig geneigt, die Grundrechte als verbindlich anzuerkennen. In dieser Situation bildeten sich vielerorts demokratische „Volksvereine“, deren Ziel es war, den Grundrechten zum Sieg zu verhelfen. Auch in Lichtenfels entstand im Frühjahr 1849 ein solcher Verein, wobei Rimberger wohl eine entscheidende Rolle spielte. Er vertrat zusammen mit dem Färbermeister Franz Xaver Krug (1816–1875)34 den Verein im April 1849 auf dem Bamberger Demokratenkongress.35 Damals zählte der Verein, obwohl erst kurz zuvor gegründet, „nahe an 100 Mitglieder“.36 Für den 17. Mai 1849 luden die demokratischen Vereine von Lichtenfels und Schney zu einer Volksversammlung ein. Nachdem die bayerische Regierung weder die Grundrechte noch die Ende März 1849 von der Nationalversammlung beschlossene Reichsverfassung als gültiges Recht ansah, versuchten die demokratischen Kräfte, durch Großveranstaltungen Druck auf München auszuüben. Eine der wichtigsten Versammlungen dieser Art in Oberfranken fand an Christi Himmelfahrt des Jahres 1849 auf dem Lichtenfelser Schützenanger statt. Die Schätzungen schwankten – abhängig vom politischen Standort der Beobachter – zwischen 2000 und 8000 Teilnehmern.37 Jedenfalls war eine ungeheure Menschenmenge versammelt, als Rimberger am Nachmittag des Feiertages die Rednerbühne bestieg. Der Lichtenfelser Landrichter berichtete tags darauf der Regierung, der Arzt habe „in kurzen Worten die bedenkliche[n], jedoch zur Erringung der Volksfreiheit günstigen Zeitverhältniße geschildert“ und die gegen das Volk gerichteten „Umtriebe der Staatsregierung“ angeprangert.38 Dem Regierungspräsidenten kam zu Ohren, er habe in seiner Eröffnungsrede bereits mit „unbemessenen Ausdrücken zur Bewaffnung gegen die Staatsregierung und zum gewaltsamen Umsturz der bestehenden Verfassung“ aufgerufen.39 Hauptredner der Veranstaltung war der Bamberger Arzt Dr. Heinrich Heinkelmann, der darlegte, wie Bayern in den vorangegangenen Jahrzehnten die fränkischen Landesteile ausgeblutet habe. Deshalb müsse sich Franken fest an das im Entstehen begriffene Deutsche Reich anschließen: „Wir Franken […] erkennen
34 Über ihn Lichtenfelser Tagblatt vom 20.1.1875; Meyer, Heinrich: Chronik der Königlich Privilegierten Scharfschützengesellschaft Lichtenfels, Lichtenfels 1960, S. 110. 35 StABa K 3 Präs.reg., Nr. 813/VII, fol. 159r; Zinner: Revolution, S. 121. 36 Der freie Staatsbürger 1849, S. 431. 37 Ausführlich zu dieser Volksversammlung: Dippold: Revolution auf dem Lande, S. 237–241. 38 StABa K 3 Präs.reg., Nr. 813/VI, fol. 60v. 39 Ebd., fol. 353r.
Theodor Rimberger – ein vergessener 48er in Oberfranken
diese Verfassung als allgemeines deutsches Reichsgesetz feierlich an.“40 Weiterhin sprachen namhafte Vertreter der republikanischen-demokratischen Idee aus Coburg. Die Volksversammlungen machten zwar Eindruck – auf die Obrigkeit ebenso wie auf die Anwesenden –, doch verfehlten die veranstaltenden Vereine ihr Ziel. Im Mai 1849 kam es in der bayerischen Pfalz zu einem bewaffneten Aufstand mit dem Ziel, eine Republik zu errichten. Nur mit preußischer Hilfe konnte ihn der bayerische König niederschlagen. Kaum war Maximilian II. wieder Herr der Lage, da vollzog er den offenen Bruch mit der Paulskirche: Am 5. Juni 1849 erklärte er, die Frankfurter Nationalversammlung habe zu bestehen aufgehört; wenige Tage später löste er den mehrheitlich linken Landtag auf. In diesen Tagen provozierte Dr. Theodor Rimberger Obrigkeit und Bürgerschaft: An Fronleichnam, dem 7. Juni 1849, schmückten die Katholiken traditionell ihre Häuser. Auch Rimberger zierte sein Haus, das in prominenter Lage am Marktplatz stand41 – allerdings nicht mit religiösen Symbolen, sondern mit Porträts der Anführer des badischen Aufstands, Gustav Struve (1805–1870) und Friedrich Hecker (1811–1881), sowie mit einem Bild Robert Blums und einer Darstellung von dessen Erschießung. Ein Zeitungsbericht, der hierüber in einer Münchner Tageszeitung erschien, machte den Vorfall bayernweit bekannt, wobei es die konservativen Gemüter besonders erregte, dass Rimberger als stellvertretender Gerichtsarzt eine Amtsperson war.42 Am 3. Juli 1849 wurde Rimberger aufgrund seines Auftritts bei der Volksversammlung vom 17. Mai verhaftet. Die Anklage lautete auf versuchten Staatsverrat.43 Rimberger entkam aber noch am Abend desselben Tages aus dem Lichtenfelser Gefängnis. Er sprang kurzentschlossen aus einem Fenster im ersten Stock. Wie der Regierungspräsident nach München berichtete, habe „eine auffallende Vernachläßigung von Seite des Gerichtsdieners […] zur Flucht die Veranlaßung gegeben, diese wenigstens sehr erleichtert“.44 In der Überlieferung, die Emil Marschalk von Ostheim (1841–1903) fast vier Jahrzehnte später aufzeichnete, wird ein zusätzliches Detail von Rimbergers Flucht erwähnt:
40 Bamberger Volks-Blatt 1849, S. 370. 41 Rimberger wohnte in Haus Nr. 10, heute Marktplatz 22, direkt neben dem Rentamt. AEB, Pfarrarchiv Lichtenfels, M 6, Aufschlag 155. 42 Neue Münchener Zeitung 1849, S. 571. 43 StABa K 3 Präs.reg., Nr. 813/VI, fol. 353v. Zum Delikt: Strafgesezbuch [!] für das Königreich Baiern. München 1813, S. 121 Art. 308. 44 StABa K 3 Präs.reg., Nr. 813/VI, fol. 354r.
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Seine Frau wußte sich Zutritt zu ihm [zu] verschaffen, besprach mit wenig Worten einen Fluchtplan, und während dieselbe außerhalb der Gefängnißthüre sich mit dem Wärter besprach, sprang Rimberger aus dem Fenster.45
Möglicherweise verschwieg der Regierungspräsident die Beteiligung von Theresia Rimberger aus Rücksicht auf deren Vater Dr. Krappmann. Rimberger rannte aus der Stadt und lief nach Coburg, wo er eine Nacht auf einem Dachboden, verborgen im Taubenschlag, verbrachte. Von dort schlug er sich nach Paris durch, das er durch seinen Aufenthalt als angehender Arzt kannte. In Le Havre schiffte er sich nach Nordamerika ein.46 In Bayern wurde der Geflohene steckbrieflich gesucht. Die Bamberger Staatsanwaltschaft veröffentlichte folgende Personenbeschreibung: Theodor Rimberger ist 40 Jahre alt, 6 Schuh groß, von magerer Statur, hat schwarze Haare, schwarzen starken Bart, zur Zeit seiner Entweichung um das ganze Kinn, braune gesunde Gesichtsfarbe, langes schmales Gesicht, blaugraue Augen, etwas gebogene scharfgezeichnete Nase.
Typisch für einen Demokraten während der Revolution von 1848/49 war die Barttracht, die der badische Revolutionär Friedrich Hecker (1811–1881) kultiviert hatte47 und die auch führende Bamberger Republikaner wie Nikolaus Titus und Heinrich Heinkelmann trugen. Die Beschreibung lautet weiter: Kleidung: Trug bei seiner Entweichung einen dunkeln kurzen Überrock neben mit Taschen, hellgraue Sommerbeinkleider, hellgraue Weste, weißen runden Filzhut. Besondere Kennzeichen: Trägt eine schwarze Haar-Tour [Perücke], dann eine Brille, an der er beständig herumrückt, und ist im Gesichte etwas verwundet.
Nachdem König Maximilian II. von Bayern Ende 1849 ein Amnestiegesetz für politische Verbrechen erlassen hatte, wurde die Untersuchung gegen Rimberger eingestellt, der Steckbrief für erloschen erklärt.48 Der Flüchtling kehrte wohl 1851 nach Lichtenfels zurück, um im Rahmen einer geordneten Auswanderung seine Familie in die USA nachzuholen: seine Ehefrau und die drei Töchter Clara (geboren
45 StABa G 35, Annalen, Kasten 31, Zettel 832. 46 Ebd. 47 Belting, Isabella: Mode und Revolution. Deutschland 1848/49 (Historische Texte und Studien 15), Hildesheim/Zürich/New York 1997, S. 82, 84 u. ö. 48 Allgemeine Zeitung 1850, S. 1088.
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11. August 1846), Agnes (geboren 13. Juni 1848) und Dorothea (geboren 18. Oktober 1849).49 Die Jüngste, erst nach der Flucht des Vaters zur Welt gekommen, dürfte er bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal gesehen haben. Im Januar 1852 regelte er Erbsachen mit seinem Vater. Wir erfahren bei dieser Gelegenheit, dass der jüngere Bruder Rimbergers, der 1812 geborene Carl Theodor50 , sich ebenfalls in den USA niedergelassen hatte.51 Er starb vor 1876 als Apotheker in St. Louis.52 Theodor Rimberger verließ mit seiner Familie, begleitet von zwei Dienstmägden, am 26. Februar 1852 Lichtenfels mit großem Gepäck. Ziel der Reise war Bremen. Doch tags darauf wurde Rimberger am Bahnhof von Leipzig auf Antrag des Landgerichts Hof durch die sächsische Polizei festgenommen. Sein Schwager Fillweber schilderte die Szene vor dem Landtag: Er wurde gleich dem gemeinsten Verbrecher in den Kerker gesteckt, alles, was er bei sich trug, abgenommen, er selbst vom Kopfe bis zum Fuße durchsucht […]. Gleichzeitig wurde auch in der Wohnung der Frau Rimberger alles bei sich habende Gepäck aufgerissen, durchsucht und der der Verzweiflung nahen, kranken Frau zu verstehen gegeben, sie könnte wieder nach Hause gehen, indem sie schwerlich die Freilassung ihres Mannes […] abwarten könne.53
Rimberger hatte erst wenige Tage zuvor seinen Reisepass von der Regierung von Oberfranken erhalten. Auf ein Telegramm antwortete das Hofer Gericht knapp, Rimberger sei freizulassen. Nun aber erreichte die Familie nur noch mit Mühe und erheblichen Kosten das Schiff. Eine Erklärung für den Vorfall verweigerte der Justizminister im Landtag.54 Die Überfahrt der siebenköpfigen Gruppe erfolgte mit dem Schiff „Ernestine“, das am 10. Mai 1852 New Orleans erreichte. Sie verbrachte diese Zeit nicht, wie die Masse der Passagiere, im Mitteldeck, sondern komfortabel in einer Kabine.55 Offenbar bald nach der Ankunft erkrankte die Familie „am gelben Fieber“. Theresia Rimberger, bereits während der Reise kränkelnd, starb daran.56 Rimberger
49 50 51 52 53
Geburtsdaten aus AEB, Pfarrarchiv Lichtenfels, M 6, Aufschlag 131, 155, 173. AEB Pfarrarchiv Kronach, M 35, pag. 47. StABa K 121 NL, Nr. 941, Prot. vom 13.1.1852. StABa K 121 NL, Nr. 558, Testament; zum Beruf Nr. 1117, Prot. vom 31.05.1892. Verhandlungen der Kammer der Abgeordneten des bayerischen Landtages im Jahre 1852. Stenographische Berichte von Nr. 116–133. Bd. 5. München o. J., S. 163. 54 Ebd., S. 163 f. 55 Immigrant Ships Transcribers Guild (ISTG): https://www.immigrantships.net/v12/1800v12/ernestine18520510.html (31.01.2023). 56 StABa G 35, Annalen, Kasten Nr. 31, Zettel 833.
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siedelte sich, wie sein Bruder, in St. Louis an, wo ihn ein Chronist als „tüchtigen, wenn auch nur im kleineren Kreise bekannten Arzt“ erwähnt.57 Die drei Töchter wurden zurück nach Deutschland gebracht, zu ihren Lichtenfelser Großeltern und ihrer Tante Clara (1808–1868), einer Halbschwester von Theresia Rimberger, die mit Gallus Silbermann (1809–1887), dem Eigentümer der Porzellanfabrik in Hausen bei Lichtenfels, verheiratet war. In seinem 1863 abgefassten Testament bedachte Hofrat Dr. Michael Krappmann58 seine drei Rimberger-Enkelinnen, schloss aber deren Vater „von jeder Einmischung in ihre Erbschaft und Nuzniesung ihres erhaltenen Vermögens vollkommen aus“. Die Abneigung Krappmanns gegen seinen Schwiegersohn war gewiss noch dadurch gesteigert worden, dass dieser sich Jahre lang „um seine Kinder […] nicht mehr bekümmerte und nichts von sich hören ließ“.59 Im Sommer 1866 erwarteten die oberfränkischen Behörden eine Rückkehr Rimbergers nach Kronach oder Lichtenfels.60 Silbermann hingegen meinte, „daß die Rückkehr […] nach den jetzigen politischen Verhältnissen noch sehr in Frage steht“.61 Die älteste Tochter Clara Rimberger († 1913) heiratete 1867 in Herreth den Bamberger Tabakfabrikanten Rudolph Groß (1843–1909).62 Ihre Schwester Agnes nahm 1868 den Bamberger Textilkaufmann Michael August Vornberger zum Mann.63 Die Ehe wurde später geschieden; 1892 lebte Agnes als verheiratete Barlet in Wiesbaden.64 Die jüngste Tochter Dorothea Rimberger – genannt Dorchen – besuchte die Schule der Englischen Fräulein in Bamberg. 1868 reiste sie nach Amerika, wohl um ihren Vater zu besuchen.65 Sie lebte 1876 als verheiratete Adler in St. Louis.66
57 Kargau, E. D.: St. Louis in früheren Jahren. Ein Gedenkbuch für das Deutschthum, St. Louis 1893, S. 260 f. 58 Den Titel eines Hofrats trug er ab 1. Januar 1850. BayHStA Ordensakten 13773. 59 StABa K 110 Stadtgericht, NL 1863/64, Nr. 40, Testament. 60 StABa K 123 Vormundschaftsakten vor 1864, Nr. 578, fol. 70r. 61 Ebd., fol. 72r. 62 AEB Pfarrarchiv Banz, M 9, Aufschlag 24; Krauss, Marita (Hg.): Die bayerischen Kommerzienräte. Eine deutsche Wirtschaftselite von 1880 bis 1928, München 2016, S. 468. – Aus der Ehe gingen sechs Kinder hervor, die das Erwachsenenalter erreichten. Ein Sohn, Arnold Groß, wurde Arzt wie der Großvater, ebenso ein Enkel von Clara Groß, der Kinderchirurg Anton Oberniedermayr (1899–1986). StABa K 110, Nr. 2263 und 4041. Über Rimbergers Urenkel Oswald, Siegfried: Leben und Werk des Kinderchirurgen Professor Dr. med. Anton Oberniedermayr. Med. Diss., München 1994. 63 AEB Pfarrarchiv Banz, M 9, Aufschlag 26. 64 StABa K 121 NL, Nr. 1117. 65 StABa K 123 Vormundschaftsakten vor 1864, Nr. 578, Schreiben vom 05.09.1868. 66 StABa K 121 NL, Nr. 558, Testament.
Theodor Rimberger – ein vergessener 48er in Oberfranken
Erst im Sommer 1879 kehrte Dr. Theodor Rimberger, der offenbar Witwer blieb, nach Deutschland zurück. Er ließ sich in Kronach, wo seine Kinder und er das Heimatrecht besaßen67 , als praktischer Arzt nieder.68 Am 12. November 1883 starb er in Kronach im Anwesen Lucas-Cranach-Straße 18. Wie der Pfarrer vermerkte, war er mit den Sterbesakramenten versehen. Lakonisch fügte der Geistliche hinzu: „Ein 1848er“.69 Theodor Rimberger steht für eine große Zahl von Personen, die sich 1848/49 für Demokratie und Republik engagierten und ihr Auftreten mit Strafverfolgung büßten. Er gehörte zu den Männern, die sich ihr durch Flucht ins Ausland entzogen. Mit seiner Rückkehr als alter Mann ist er zugleich ein Beispiel für die noch nicht ausreichend untersuchte Remigration aus den USA.
67 Fehn: Chronik von Cronach, Bd. 5, S. 375. 68 StABa K 3 F III, Nr. 1570, Schreiben vom 22.09.1879. 69 AEB Pfarrarchiv Kronach, M 33, Aufschlag 153.
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Masl im Kuhstall. Der Jochsberger Chuppastein
Im Sommer 2004 konnte das Jüdische Museum Franken seine Sammlung um einen Chuppastein (Hochzeitsstein) der Jochsberger Synagoge erweitern. Die Existenz des Hochzeitssteins war für viele Jahrzehnte in Vergessenheit geraten, weil die Synagoge sich seit 1920 in nichtjüdischem Besitz befand. Erst Israel Schwierz wies in seiner 1988 erschienenen Veröffentlichung „Steinerne Zeugnisse jüdischen Lebens in Bayern“ auf die Existenz des Steins hin: „[…] ein Chuppastein (noch relativ ordentlich erhalten) ist im Stall eingemauert“.1 16 Jahre später gelangte der Jochsberger Chuppastein durch die Vermittlung von Professor Dr. Peter Kuhn an das Jüdische Museum Franken. Die Geschichte und die Bedeutung des Chuppasteins für das fränkische Judentum und für das nichtjüdische Umfeld ist vielschichtig und bietet einen spannenden Einblick in die für Franken und Süddeutschland typischen Gebräuche, die heute in Vergessenheit geraten sind. Synagogen und Judaika aus der Vorkriegszeit befinden sich heute aus den unterschiedlichsten Gründen in nichtjüdischem Besitz. Meist handelt es sich um Gegenstände, die im Nationalsozialismus und insbesondere in der Pogromnacht 1938 enteignet wurden.2 Im Fall des Jochsberger Chuppasteins hat es jedoch eine andere Bewandtnis. Der Eigentümer des Chuppasteins hatte die Synagoge mit
1 Schwierz, Israel: Steinerne Zeugnisse jüdischen Lebens in Bayern. Eine Dokumentation, Bamberg 1988, S. 164; eine spätere Erwähnung findet sich in: Stimpfig, Karl Ernst: Die Juden in Leutershausen, Jochsberg, Colmberg und Wiedersbach. Eine Dokumentation, Leutershausen 2000, S. 110 u. S. 136. 2 Exemplarisch hierfür steht die Enteignung der Schnaittacher Synagoge mit Rabbiner- und Vorsängerhaus, die der damalige Leiter des Schnaittacher Heimatmuseums Gottfried Stammler (1885–1959) als Heimatmuseum einrichten ließ. In die Sammlung integrierte er Judaika und Objekte jüdischer Gemeindemitglieder, die er vor 1933 gesammelt hatte, jedoch setzten sich die von ihm gesammelten Judaika aus überwiegend enteigneten Zeremonialgeräten aus Franken zusammen; siehe hierzu: Purin, Bernhard: Invent-arisiert. Zur Aneignung von Judaica durch Museen im Nationalsozialismus, in: Schade, Sigrid/Fliedl, Gottfried/Sturm, Martin (Hg.): Kunst als Beute. Zur symbolischen Zirkulation von Kulturobjekten, Wien 2000, S. 75–88; Berthold, Monika: Die Judaika-Sammlung des Gottfried Stammler. Geschichte einer Arisierung, in: nurinst 9 (2018), S. 45–58; siehe auch: „Sieben Kisten mit jüdischem Material“. Von Raub und Wiederentdeckung 1938 bis heute. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Jüdischen Museum München vom 6. November 2018 bis 1. Mai 2019 und im Museum für Franken – Staatliches Museum für Kunst- und Kulturgeschichte in Würzburg vom 5. Juni bis 15. September 2019; Purin, Bernhard (Hg.): Im Labyrinth der Zeiten. Mit Mordechai W. Bernstein durch 1700 Jahre deutsch-jüdische Geschichte, Berlin 2021.
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Der Jochsberger Chuppastein, 1804. Foto: Annette Kradisch. © Jüdisches Museum Franken
angrenzendem Lehrhaus vom Vorstand der jüdischen Gemeinde Leutershausen am 23. Juli 1920 rechtmäßig erworben.3 Um 2000 herum hatte Professor Peter Kuhn den Eigentümer der ehemaligen Synagoge, nun schon in der zweiten Generation, wiederholt besucht. Kuhn versuchte ihn zu überzeugen, den Hochzeitsstein an das Jüdische Museum Franken zu schenken. Allerdings weigerte sich der Eigentümer. Offensichtlich auch, weil er, wie schon sein Vater, den Chuppastein für einen Glücksstein hielt, dem er wohl eine magische Wirkung zuschrieb. Erst als er verstarb, schenkte seine Familie den Stein dem Jüdischen Museum Franken. Wer heute durch das ländliche Franken fährt, wundert sich über die vielen alten Dorfsynagogen und jüdischen Friedhöfe. Franken hat – im Gegensatz zu Altbayern – eine lange jüdische Geschichte. Juden und Jüdinnen lebten in diesem Gebiet seit dem 11. Jahrhundert über mehrere Jahrhunderte hinweg.4 In dieser Zeit entwickelte
3 Engelhardt, Barbara/Purrman, Frank: Leutershausen, in: Mehr als Steine. Synagogen-Gedenkband Bayern, Bd. 1, hg. Kraus, Wolfgang, Lindenberg i.A. 2015, S. 409. 4 Dies verdankt Franken seiner bis 1800 existierenden territorialen Zersplitterung in Reichsstädte, Hochstifte, reichsritterschaftliche Gebiete sowie in die Markgrafentümer Ansbach und Bayreuth, siehe: Daxelmüller, Christoph: Jüdische Kultur in Franken, Würzburg 1988; Guth, Klaus: Jüdische Landgemeinden in Oberfranken (1800–1942), ein historisch-topographisches Handbuch, Bamberg 1988; Ophir, Baruch Zvi: Pinqas ha-qehillot Germaniya Bavariya, Jerusalem 1972; Ders./Wiesemann, Falk: Die jüdischen Gemeinden in Bayern 1918–1945. Geschichte und Zerstörung, München/Wien 1979; Deneke, Bernward (Hg.): Siehe der Stein schreit aus der Mauer. Geschichte und Kultur der Juden in Bayern. Eine Ausstellung des Germanischen Nationalmuseums und des Hauses der Bayerischen Geschichte im Germanischen Nationalmuseum 25.10.1988–22.01.1989, Nürnberg 1989; Brenner, Michael/Eisenstein, Daniela F. (Hg.): Juden in Franken, München 2012.
Masl im Kuhstall. Der Jochsberger Chuppastein
sich eine vielfältige und bedeutende kulturelle Tradition mit eigenen Minhagim (Gebräuchen), fränkisch-jüdischen Dialekten sowie hunderten von Synagogenbauten und zahlreichen jüdischen Friedhöfen. Jüdinnen und Juden erlebten zunächst eine Blütezeit jüdischen Gemeindelebens in den mittelalterlichen städtischen Zentren. Als sie jedoch im ausgehenden Mittelalter aus vielen Reichsstädten vertrieben wurden, flüchteten sie nach Frankfurt, Italien sowie in die ländlichen Gebiete Frankens. Dort errichteten sie Landgemeinden, zum Teil auch an den entlegensten Orten, wo sie über mehrere Jahrhunderte dauerhaft lebten. Vor allem nach dem 30-jährigen Krieg kam es zu einer vermehrten Ansiedlung von Juden und Jüdinnen wie auch Hugenotten in Franken, von der sich die Schutzherren einen raschen Wiederaufbau und wirtschaftlichen Aufschwung versprachen. Erst im 19. Jahrhundert wanderten viele Juden und Jüdinnen der Landgemeinden ins Ausland oder zogen wieder in die Städte. Mit dem Nationalsozialismus wurden die letzten verbliebenen Landgemeinden vernichtet. Jochsberg liegt im oberen Altmühltal und ist ein Dorf mit etwa 250 Einwohnern. Es ist Gemeindeteil der Stadt Leutershausen im Landkreis Ansbach. Jochsberg war einst Sitz des fränkischen Adelsgeschlechts Seckendorff. Die erste urkundliche Erwähnung von Jochsberg (Jochesperc) lässt sich auf 1274 zurückdatieren.5 Im Jahre 1339 gab es eine weitere urkundliche Erwähnung, in der der Burggraf Johann von Nürnberg die Erbauung und Stiftung einer Kapelle in der Burg Jochsberg durch den Ritter Bernhard von Seckendorff bestätigt. Nach dem Tode Johannes von Seckendorff (1630) ging die Seckendorffsche Zeit zu Ende und der Ort fiel als eröffnetes Lehen an Ansbach.6 1791 wurde Jochsberg mit der übrigen Markgrafschaft preußisch und wenige Jahre später vereinigte sich das Vogtamt Jochsberg mit dem Vogtamt Leutershausen. 1806 wurde Jochsberg schließlich bayerisch. Über das jüdische Leben in Jochsberg ist heute wenig bekannt. Die erste urkundliche Erwähnung eines Jochsberger Juden findet sich 1339 in Zusammenhang mit der Aufnahme von Josel von Jochsberg als sogenannter „Judenbürger“ in Nürnberg.7 1343 zählten zwei in Nürnberg ansässige Juden aus Jochsberg zu den Gläubigern des Burggrafen Johann.8 Zu einer kontinuierlichen Ansiedlung durch jüdische Familien kam es erst im 18. Jahrhundert. 1714 lebten in Jochsberg sechs9 , um 1802
5 Nordwestlich von Leutershausen, am Ende des bei Frommetsfelden beginnenden Engtales der noch jungen Altmühl liegt Jochsberg. 6 Geographisches Statistisch-Topographisches Lexikon von Franken, Dritter Band, Ulm 1801, S. 23–24. 7 Avneri, Zvi: Germania Judaica, Bd. II. Von 1238 bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts, Tübingen 1968, S. 379. 8 Ebd. 9 Haenle, Siegfried: Geschichte der Juden im ehemaligen Fürstentum Ansbach. Vollständiger Nachdruck der Ausgabe von 1867, bearbeitet und mit einem Schlagwortverzeichnis versehen von Hermann Süß, hg. Schubsky, Karl W./ Süß, Hermann, Kranj 1990, S. 139.
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bereits 14 Familien. Um 1800, als die zweite Synagoge errichtet wurde, lebten dort etwa 27 christliche und acht jüdische Hausbesitzer, die – mit Ausnahme einer jüdischen Witwe – das Gemeinderecht erhielten (Schutzjuden). Um 1840 war bereits ein Viertel der Jochsberger Gesamtbevölkerung jüdisch.10 Die überwiegende Mehrheit der Juden und Jüdinnen in Jochsberg lebte im 18. Jahrhundert vom Viehhandel. Dieser Berufszweig nahm jedoch im Laufe des 19. Jahrhunderts zugunsten anderer Berufsarten, wie etwa der des Händlers, des Schnitt- und Tuchwarenhändlers und des Ökonoms, ab.11 Für die Gemeinde war auch stets ein sogenannter Schmuser (Heiratsvermittler) tätig sowie eine Person, die als Vorsänger, Schächter und Lehrer fungierte.12 Einen eigenen Rabbiner beschäftigte die jüdische Gemeinde nicht. 1804 weihte die jüdische Gemeinde in Jochsberg eine neue Synagoge ein.13 Der Eingang befand sich an der Südseite links. Ein um ca. 40 cm niedrigerer Anbau mit einer Lehrerwohnung im Obergeschoss und einem Schulzimmer im Erdgeschoss grenzte an. Dort befand sich auch die Mikwe (Ritualbad). Der Eingang zum Lehrhaus befand sich auf der Nordseite.14 Der Dachrücken der Synagoge wie auch des Anbaus verlief von Ost nach West. Das Synagogendach lief auf vier Seiten schräg nach oben. In der Mitte befand sich eine Kugel mit Spitze.15 Je zwei große Bogenfenster waren an der Nord-, Ost- und Südseite des Synagogengebäudes angebracht und mit bleigefassten Glassegmenten in den Farben weiß, gelb, blau, rot und grün versehen.16 Der Synagogenraum war geräumig und reichte fast bis zur Spitze, wo sich eine verputzte Deckenplatte mit aufgemaltem Strahlenkranz befand. Von ihrer Mitte hing ein Leuchter. In der Ostwand befand sich eine Toranische. Im Erdgeschoss befand sich der mit festen Bankreihen versehene Bereich für die Männer, auf einer Empore, die mit einer Mechitza (Gitter) versehen war, richtete die Gemeinde einen Frauenbereich ein, der holzvertäfelt war.17 Der Chuppastein
10 „248 Seelen, worunter 68 Israeliten“, aus: Vetter, Eduard (Hg.): Statistisches Hand- und Adreßbuch von Mittelfranken im Königreich Bayern, Ansbach 1846, S. 189–190, Google books: https://books. google.de/books?id=KZRBAAAAcAAJ&pg=PA189#v=onepage&q&f=false (12.12.2022). 11 Stimpfig: Die Juden in Leutershausen, S. 106. 12 Ebd., S. 102–106. 13 Zur Beschreibung der Synagoge siehe: Stimpfig: Leutershausen, S. 110 und S. 136. 14 Um 1800 erwarb die jüdische Gemeinde das Haus Nr. 14, heute Am Ring 15, und errichtete dort die neue Synagoge, aus: Reese, Gunther (Hg.): Spuren jüdischen Lebens rund um den Hesselberg, Unterschwaningen 2011, S. 63–64; die Jahresinschrift der Jochsberger Chuppastein ist mit dem Eröffnungsjahr 1804 datiert; zuvor betrieb die jüdische Gemeinde Jochsberg eine kleine Betstube am Haus 22 (heute Dorfplatz 1), siehe Reese: Spuren, S. 64. 15 Stimpfig: Leutershausen, S. 136. 16 Ebd., S. 110. 17 Ebd.
Masl im Kuhstall. Der Jochsberger Chuppastein
wurde an der nördlichen Außenmauer zwischen den beiden Bogenfenstern mit der Datierung 1804 eingelassen. Im Laufe des 19. und frühen 20. Jahrhunderts nahm die Anzahl jüdischer Familien rapide ab. Hatte Jochsberg 1892 noch 75 jüdische Einwohner, so lebten 1925 nur noch zwei ältere Juden dort. Der größte Teil der jüdischen Gemeindemitglieder zog im Zuge zunehmender Verstädterung in urbanere Zentren oder in die Nachbargemeinde Leutershausen. Bereits Ende 1919 beantragte der Ansbacher Rabbiner Dr. David Brader bei der mittelfränkischen Regierung, die jüdische Gemeinde Jochsberg mit der jüdischen Gemeinde Leutershausen zu vereinigen, da zu dieser Zeit nur noch zwei ältere jüdische Gemeindemitglieder in Jochsberg lebten.18 Die Regierung beschloss schließlich am 17. Juni 1920 den Zusammenschluss.19 Im Sommer 1920 verkaufte der Vorstand der jüdischen Gemeinde Leutershausen die Jochsberger Synagoge mit angegliedertem Lehrhaus und Mikwe an einen Ortsansässigen für 7.500 Goldmark.20 Das Inventar, darunter vier Torarollen, zwei Toravorhänge, vier Messingleuchter, ein Toraschild, ein Toraschrein, Stände und Bänke, boten sie im Juli 1920 in der Monatszeitschrift „Der Israelit“ zum Verkauf an.21 Der Erlös sollte der Leutershausener jüdischen Gemeinde zugutekommen und für die Schuldentilgung der 1886 erbauten Synagoge und für die Reparatur der Torarollen verwendet werden. Der Chuppastein (Hochzeitsstein) an der nördlichen Außenmauer blieb in der Außenmauer zurück. Der nichtjüdische Käufer baute die Synagoge samt Anbau in ein Wohnhaus um. Er zog in der Synagoge auf Ebene der Frauenempore ein Stockwerk für den Wohnbereich ein und errichtete im ehemaligen Betraum der Synagoge einen Kuhstall. Die Balustrade der Frauenempore verwendete er als Einfassung für den Misthaufen.22 1940 baute er das Dach um und entfernte eine Genisa.23 Den Hochzeitsstein aber brach er aus der nördlichen Außenmauer heraus und senkte ihn mit der Gravur nach außen zeigend in die ehemalige Toranische, in die Ostwand des Kuhstalls, ein.24 Wann der Eigentümer den Stein aus der Außenmauer herausbrach, ist nicht
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Ebd, S. 106; Engelhardt/Purrman: Leutershausen, S. 409. Ebd. Stimpfig: Leutershausen, S. 136; Engelhardt: Leutershausen, S. 409. Anzeige in “Der Israelit”, Heft 26 (1.7.1920), S. 11, entnommen aus: https://sammlungen.ub.unifrankfurt.de/cm/periodical/pageview/2525449?query=jochsberg (12.12.22). 22 Schwierz: Steinerne Zeugnisse, S. 163–164. 23 Stimpfig: Leutershausen, S. 136. Eine Genisa ist ein Aufbewahrungsort für verbrauchte jüdische liturgische Schriften; siehe z. B. Edelmann, Martina/Singer-Brehm, Elisabeth/Weinhold, Beate: Genisot: Funde aus Synagogen, in: Museums-Bausteine. Jüdisches Kulturgut: Erkennen, Bewahren, Vermitteln, hg. Lohr, Otto/Purin, Bernhard, Berlin/München 2017, S. 97–110. Siehe hierzu auch den Beitrag von Schwitalski, Martina: Genisa und Genießer: Geschichtsdidaktisches Potential landjüdischer Spuren in Franken in diesem Band. 24 Schwierz: Steinerne Zeugnisse, S. 164; Stimpfig: Die Juden in Leutershausen, S. 136.
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bekannt. Vermutlich sollte das Haus wegen des aufkommenden Nationalsozialismus keine sichtbaren jüdischen Spuren aufweisen. Der Eigentümer hätte den Hochzeitsstein auch zerstören oder woanders verbauen können, doch wusste er, dass es sich beim Chuppastein um einen „Glücksstein“ handelte, der womöglich einen positiven Einfluss auf seine milchgebenden Kühe haben könnte.25 Auch wenn er vermutlich nichts über die jüdischen Riten und die religiöse Ausübung der jüdischen Gemeinde in Jochsberg wusste, so hatte er doch einen wesentlichen Aspekt der Hochzeitszeremonie aufgeschnappt und mit dem Chuppastein in Verbindung gebracht. Hochzeitssteine waren überwiegend in Süddeutschland verbreitet. Die Tradition des Chuppasteins und einige andere Bräuche fanden in den jüdischen Gemeinden Süddeutschlands eine gemeinsame Praxis.26 Heute sind 27 existierende Chuppasteine bekannt, von denen der älteste, ein Stein aus Höchberg im Landkreis Würzburg, aus dem Jahr 1660/61 stammt. Acht der Steine sind nicht mehr an ihrem originalen Platz.27 Chuppasteine wurden als Steinplatte in die Außenmauer eingelassen oder auf dem Schlussstein des Eingangs als Relief oder Gravur angebracht. Das bildliche Motiv des Chuppasteins war ein Stern. Er konnte aus sechs, acht oder zwölf Strahlen bestehen oder ein Magen David (Davidstern/Hexagramm) sein. Manche Chuppasteine waren farbig bemalt und in manchen aufwändig gestalteten Chuppasteinen wurde florale Ornamentik eingearbeitet. In der Mitte des Sterns oder seitlich flankierend wurde meist die hebräische Inschrift „masl tow“ eingraviert. Der Stern spielt auf die Doppelbedeutung des hebräischen Wortes „masal“ an, welches Stern, Schicksal oder Glück bedeuten kann. Mit der Redewendung „masl tow“ wünscht man sich zu Feiertagen oder an Hochzeiten viel Glück bzw. eine gute Sternenkonstellation.28 Die meisten Hochzeitssteine weisen den hebräischen Vers „kol sason we-kol simcha, kol chatan, we-kol kalla“29 (die Stimme des Bräutigams, die
25 Diese Information wurde dem Jüdischen Museum Franken bei der Übergabe des Steins übermittelt. 26 Wiesemann, Falk: „Masal tow“ für Braut und Bräutigam. Der Davidstern auf Hochzeitssteinen, in: Stegemann, Wolf/Eichmann, S. Johanna: Der Davidstern, Zeichen der Schmach – Symbol der Hoffnung. Ein Beitrag zur Geschichte der Juden, Dorsten 1991, S. 86–91, hier S. 86. 27 Der Chuppastein von Alsenz befindet sich in der Synagoge, die heute ein privates Wohnhaus ist; der Bingener Chuppastein befindet sich im Israel Museum, Jerusalem; der Hochzeitsstein der Synagoge in Edelfingen befindet sich als Mahnmal im Rathaus von Edelfingen; der Chuppastein aus Heidingsfeld wird in der Dauerausstellung von Shalom Europa, Würzburg, präsentiert; der Höchberger Chuppastein befindet sich in der ehemaligen Synagoge, die heute als Kirche genutzt wird; der Laupheimer Chuppastein wird im Museum zur Geschichte der Christen und Juden im Schloss Großlaupheim gezeigt; der Jochsberger Hochzeitsstein wird seit 2004 im Jüdischen Museum Franken in Schnaittach gezeigt. 28 Frankel, Ellen/Teutsch, Betsy Platkin: The Encyclopedia of Jewish Symbols, Oxford 1992, S. 163. 29 ( קול ששון וקול שמחה קול חתן וקול כלהJeremia 33:10-11).
Masl im Kuhstall. Der Jochsberger Chuppastein
Die geschehene Copulation, Stich: Johann Georg Puschner, 1735, aus: „Jüdisches Ceremoniel“, in der Sammlung des Jüdischen Museums Franken. © Jüdisches Museum Franken
Stimme der Braut, die Stimme des Jubels und die Stimme der Freude) auf. Der Text, der um das Sternmotiv herumlaufend ausgeschrieben oder als Abbreviation in den vier Ecken des Steins eingemeißelt werden konnte, stammt aus den sieben Segenswünschen für das Brautpaar, die am Schluss der Trauung gesprochen werden. Auch das Entstehungsjahr in hebräischen Lettern befindet sich auf den meisten Hochzeitssteinen. Der Jochsberger Hochzeitsstein wurde als rechteckige Steinplatte angefertigt. Auf ihr wurde ein inmitten eines Kreises befindlicher achtstrahliger Stern eingemeißelt. In den vier Ecken befinden sich die hebräischen Abbreviationen des bei Trauungen üblichen Spruches „Die Stimme der Wonne und der Freude, die Stimme des Bräutigams und der Braut“. Im unteren Teil steht in hebräischen Lettern das Einweihungsjahr der Synagoge 1804. Die übliche Abkürzung für „masl tow“ ist auf der stark verwitterten Oberfläche des Chuppasteins nicht mehr zu erkennen, befand sich aber vermutlich in der Mitte des Sterns. Hochzeitszeremonien wurden im Freien vor dem Chuppastein abgehalten. Braut und Bräutigam wurden vom Rabbiner unter einer Chuppa – einem von vier
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unverheirateten Männern gehaltenen Baldachin – getraut. Paul Christian Kirchner30 , der eine der wichtigsten Quellen zum jüdischen Leben im 18. Jahrhundert verfasste, beschrieb in seinem Buch über jüdische Zeremonien eine Hochzeitsszene vor dem Chuppastein: Darauf wünschet ein jeder der gebetteten Hochzeit-Gästen viel Glücke. Endlich nimmt der Cantor eines von denen abgemeldeten Gläsern mit Wein und überreichet solches Braut und Bräutigam daraus zu trinken, welches darauf der Bräutigam mit dem überbliebenen Weine über die Thür des Tempels wirft.31
Auch das von Andreas Würfel überlieferte Tekkunot-Büchlein, das Regelwerk der Fürther jüdischen Gemeinde, beschreibt die Hochzeitszeremonie vor dem Chuppastein der Fürther Altschul: Braut und Bräutigam, kommt jedes besonders zu dieser Trauung. Dieser am ersten, in Begleitung der Männer, jene aber in Gesellschaft der Weiber. Die Brautleute tretten alsdann unter den aufgerichteten Himmel, und die Braut wird mit Thalles32 des Bräutigams bedecket. Der Rabbiner ließt den Heyrathscontract, der in Chaldäischer Sprache muß geschrieben seyn; spricht den Seegen über 2 Glässer Wein. Von dem einen bekommen die Brauthleute zu trinken, das andere aber wirft der Bräutigam nach dem in die Wand eingehauenen Stern; besichtiget den Ring, und stellet ihm dem Bräutigam, dieser der Braut zu. Einige von den gegenwärtigen sprechen noch einen Seegen, und damit ist die Trauung vollendet. Die Brautleute, welche biß hieher haben fasten mussen, gehen alsdann mit der ganzen Gesellschafft zur Mahlzeit.33
30 Zu Paul Christian Kirchner siehe: Herzig, Arno: Das Interesse am Judentum zu Beginn des 18. Jahrhunderts: Paul Christian Kirchners „Jüdisches Ceremoniel“, in: Aschkenas 20, H. 1 (2010), S. 1–20; Paul Christian Kirchners „Jüdisches Ceremoniel“ ist nicht frei von judenfeindlichen Kommentaren. So schrieb er in seinem Vorwort, dass er mit seinem 1717 erschienenen Werk beabsichtige, Juden davon zu überzeugen, seinem Beispiel (zum Christentum zu konvertieren) zu folgen. 1724 wirkte der Amateur-Hebraist Sebastian Jugendres an einer Neuauflage des Jüdischen Ceremoniel mit. Er redigierte nicht nur den Text, sondern milderte auch Kirchners höhnischen Ton. Aus einem Nachdruck dieser Ausgabe wird im Weiteren zitiert. Trotz judenfeindlicher Kommentare Kirchners bleibt das „Jüdische Ceremoniel“ eine wichtige Quelle, weil Kirchner Wissen aus erster Hand besaß. Auch die Bebilderungen von Johann G. Puschner haben einen erheblichen dokumentarischen Wert. 31 Kirchner, Paul Christian: Jüdisches Ceremoniel oder Beschreibung dererjenigen Gebräuche […], Nürnberg 1730 (Nachdruck Hildesheim 1974), S. 184–185. 32 Tallit (Gebetsmantel). 33 Aus: Würfel, Andreas: Historische Nachricht Von der Judengemeinde in dem Hofmarkt Fürth Unterhalb Nürnberg, Frankfurt a. M./Prag 1754, S. 130–131.
Masl im Kuhstall. Der Jochsberger Chuppastein
Heute ist die Tradition, Hochzeitszeremonien vor einem Hochzeitsstein abzuhalten, in Vergessenheit geraten. Im Zuge der jüdischen Aufklärung und der darauffolgenden Reformierung religiöser Praxis im 18. und 19. Jahrhundert wurden viele Bräuche abgeschafft, darunter auch die Chuppasteintradition. Hochzeitszeremonien wurden in den Innenraum verlegt. Doch welche Bedeutung hatte die Hochzeitszeremonie mit dem Chuppastein vor der Reformierung und woher kam diese Tradition? Jüdische Zeremonien und Bräuche haben sich stets weiterentwickelt, sie haben sich verändert, wurden von Generation zu Generation immer wieder neu interpretiert und leicht abgewandelt, manchmal auch ganz aufgegeben. Begleitet wurde dieser Prozess meist von einer Spannung zwischen den reinen Glaubenssätzen, wie sie von vielen Gelehrten weitergegeben wurden, und dem populären Glauben sowie manch mystisch geprägten Gelehrten. Weil Rabbiner heidnische Riten abgelehnt hatten, aber nicht immer erfolgreich abwehren konnten, wurden viele dieser Riten zu Minhagim (jüdischen Gebräuchen) und erhielten erst im Laufe der Zeit eine neue jüdische Interpretation. So etwa das Zerbrechen eines Glases, das heute an das traurige historische Ereignis der Zerstörung des Jerusalemer Tempels erinnert und die Zerbrechlichkeit des Glücks symbolisiert, früher aber Dämonen vertreiben sollte. Der amerikanische Judaist Jacob Zallel Lauterbach (1873–1942) führt in seinem Essay „The Ceremony of Breaking a Glass at a Wedding“ die Tradition des Hochzeitssteins auf heidnische Ursprünge zurück, die im Laufe der Zeit uminterpretiert und zu einem jüdischen Minhag (Brauch) wurde.34 Ursprünglich hatte dieser Brauch abergläubische Komponenten. So ging man davon aus, dass sich durch das Zerbrechen des Glases Dämonen vertreiben ließen. Der heidnische Grundgedanke, der dieser Hochzeitszeremonie zugrunde läge, so Lauterbach, wäre die Idee von bösen Geistern oder Dämonen, die auf das menschliche Glück eifersüchtig seien und deshalb versuchen würden, den einzelnen Glücklichen zu verletzen. Bräutigam und insbesondere die Braut wären folglich potentielle Opfer solcher Angriffe.35 Lauterbach zeichnet den Wandel vom Aberglauben zum jüdischen Ritus anhand rabbinischer Kommentare zum Talmud nach. In Berachot 54 b steht geschrieben, dass Bräutigam und Braut des Schutzes bedürfen.36 Auch der mittelalterliche jüdische Gelehrte Raschi (1040/41–1105) kommentierte Berachot 54 b, dass Braut und Bräutigam gegen Dämonen beschützt werden müssten, weil sie sonst durch Neid
34 Lauterbach, Jacob Z.: Studies in Jewish Law, Custom and Folklore, selected, with an introduction by Bernard J. Bamberger, New York 1970, p. 1–29A. 35 Lauterbach: Studies, p. 5. 36 ְוַכלּה, ָחָתן, ַחיּה, חוֶֹלה: בַּמְת ִניָתא תּ ָנא. ְוַכלּה, ָחָתן, ְוֵאלּוּ ֵהן — חוֶֹלה, שֹׁלשׁה ְצ ִריִכין שׁימּוּר:ָאַמר ַרב ְיהוּ ָדה. Zit. aus: https://www.sefaria.org/Berakhot.54b.21?lang=bi (12.12.22).
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und Eifersucht gefährdet wären.37 In der Woche vor der Trauung wird heute noch in manchen ultra-orthodoxen chassidischen Familien der Brauch gepflegt, der es dem Bräutigam verbietet, ohne Aufsicht aus dem Haus zugehen. Auch die Verschleierung oder das Bedecken der jüdischen Braut ist auf diesen Schutz zurückzuführen. Paul Christian Kirchner beispielsweise weist darauf hin, dass „Drey Tage […] vor diesem [dem Hochzeitstag] aber darf sich weder Braut noch Bräutigam ausser ihrem Hause sehen lassen, weil sie sich befürchten verzaubert zu werden […].“38 Insgesamt macht Lauterbach drei Möglichkeiten der Abwehr im populären Aberglauben fest39 : Erstens müssten Dämonen vertrieben werden. Zweitens sollten sie durch Geschenke bestochen und besänftigt werden. Drittens sollten sie getäuscht werden, in dem man ihnen vorspielte, voll Trauer zu sein. Jeder dieser Punkte fände in einer entsprechenden Zeremonie seinen Ausdruck und würde angewandt, um Schutz vor bösen Kräften zu finden.40 So sind beispielsweise jüdische Hochzeitsbräuche aus dem 12. Jahrhundert aus Mainz und in rabbinischen Kommentaren überliefert, die laute Musik bei der Hochzeit, Kerzen auch bei Tag, die Bestreuung des Brautpaars mit Salz oder ein Stück Eisen in der Tasche des Bräutigams vorsahen.41 Was die zweite Abwehrmöglichkeit betraf, so waren weitere Bräuche wie das Verschütten von Wein oder Öl, Weizen und Nüssen oder das Streuen von getrocknetem Fisch vor dem Brautpaar beispielsweise in der Tosefta Sabbat (VII, 16) überliefert.42 Auch Kirchner beschrieb, wie Weizen zum Streuen an Hochzeitsfeiern vorbereitet wurde: Alsdenn nehmen der Verlobten Vater eine Schüssel mit Waitzen, Korn oder Gersten, thun so viel Geld darunter, als ihnen beliebet, und geben von diesem gemengten allen Hochzeit-Gästen einen Theil, welches so dann diese Gäste, wie sie es bekommen, auf Braut und Bräutigam werfen, darzu sie folgende Worte ausrufen: Seyd fruchtbahr und mehret euch, und erfüllet die Erde.43
Die dritte Möglichkeit der Dämonenabwehr vollzog man, indem man vortäuschte, zu trauern. Der Brauch, Asche auf das Haupt des Bräutigams zu streuen, wird im Talmud und in rabbinischer Literatur besprochen. Ebenfalls wird auch das Weinen und Lamentieren auf Hochzeiten im Talmud (Berachot) erwähnt.
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Ebd. Kirchner: Jüdisches Ceremoniel, S. 175. Lauterbach: Studies, p. 6. Ebd., p. 7. Ebd., p. 8. Ebd. Kirchner: Jüdisches Ceremoniel, S. 177.
Masl im Kuhstall. Der Jochsberger Chuppastein
Lauterbach sieht in der Hochzeitszeremonie am Chuppastein alle drei Formen der Abwehr erfüllt: die Besänftigung der bösen Geister durch Ausschütten des Weines, die Bekämpfung der Dämonen, indem der Bräutigam gegen die Wand ein Glas wirft und sie verletzt, und schließlich die Vertreibung der Dämonen durch den Lärm des zerbrechenden Glases.44 Heute soll das Zerbrechen des Glases an die Zerstörung des Jerusalemer Tempels und an die Zerbrechlichkeit des Glücks erinnern. Die erste schriftliche Quelle dieser Interpretation findet sich in den Hilchot Tischa Be’av, oder auch Kolbo genannt, das 1547 in Venedig verfasst wurde und sämtliche Riten der Erinnerung an die Zerstörung des Jerusalemer Tempels zusammenfasst.45 Der Kolbo schrieb vor, das Glas am Ende der Hochzeitszeremonie, nach den sieben Berachot (Segenssprüchen), zu zerbrechen. Es ist schließlich diese neue rabbinische Interpretation, die dem Brauch das Überleben sicherte, weil er – bereinigt von heidnischen Inhalten – problemlos von Rabbinern praktiziert und tradiert werden konnte. So begründeten die großen rabbinischen Autoritäten des 17. Jahrhunderts Joseph Caro, Moses Isserles und Mordechai Jaffe die neue Bedeutung des Glaszerbrechens mit Kolbos These. Manche mystisch geprägte Gelehrte wie Rabbi Jeschaja ben Awraham Halevi Horowitz (1565–1630) hingegen hielten die ursprüngliche populäre Bedeutung der Dämonenabwehr aufrecht. In seinem mehrbändigen kabbalistischen Werk „Schnei Luchot Habrit“ (1658/59), das 1764 in Fürth gedruckt wurde, beschreibt er das Zerbrechen des Glases als ein Mittel der Dämonenabwehr. Es verwundert nicht, dass Horowitz’ „Schnei Luchot Habrit“ noch Mitte des 18. Jahrhunderts in Fürth gedruckt wurde. In Fürth und in vielen anderen jüdischen Gemeinden in Franken waren die Kabbala und kabbalistische Schriften weit verbreitet.46 Wie lange es in Franken dauerte, bis das Zerbrechen eines Glases auf dem Chuppastein nicht mehr mit dem Aberglauben verbunden war und wie lange der Brauch trotz Reformierung praktiziert wurde, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden. Hierzu fehlen noch die Recherche und Auswertung vornehmlich jüdischer Quellen und Responsen aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Feststeht, dass der Synagogenkäufer, wenn auch nicht ganz frei von Ressentiments, mit seiner Assoziation zur Bedeutung des Chuppasteins unwissentlich an einen über zweihundertjährigen Minhag (Brauch) anknüpfte.
44 Lauterbach: Studies, p. 6. 45 Ebd., p. 21. 46 Dies belegen handgeschriebene Gebetbücher in der Sammlung des Jüdischen Museums Franken, die Nachdrucke kabbalistischer Werke in den hebräischen Druckereien Frankens oder auch der nahegelegenen Hebräischen Druckerei in Sulzbach-Rosenberg, die viele Abnehmer in Franken hatte, sowie die vielen Betstuben kabbalistischer Anhänger und Gelehrter, siehe hierzu u. a.: Haarmann, Julia: Hüter der Tradition. Erinnerung und Identität im Selbstzeugnis des Pinchas Katzenellenbogen (1691–1767), Göttingen 2013, S. 209–231.
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Stadträumliche Mitgestaltung durch Nürnbergs jüdische Unternehmerelite am Beispiel kultureller Infrastruktur um 1900
„Wenn nicht Alles trügt, rauscht es in den Schachtelhalmen“1 , kommentierte Oberbürgermeister Georg Ritter von Schuh den Aufbruch der Stadt Nürnberg in einen neuen Kulturfrühling, der 1913 mit der Eröffnung der Ausstellungshalle am Marientor eingeläutet wurde. Damit und mit dem bereits 1910 errichteten Künstlerhaus war eine moderne Infrastruktur für Kunst und Kultur geschaffen worden, die den bürgerlichen Ansprüchen an Repräsentation und Urbanität Rechnung tragen sollte. Während Schuhs Amtszeit war Nürnberg zur führenden Industriestadt im Königreich Bayern avanciert. Der damit einhergehende Modernisierungsschub schlug sich im Stadtbild nieder. Nicht nur rauchende Schlöte, sondern fortschreitende Technisierung mit oberirdischen Stromleitungen, Schienensträngen, elektrischer Straßenbeleuchtung sowie Anlagen öffentlicher Hygiene erzeugten ein kontrastreiches Bild zur historischen Bausubstanz. Durch Eingemeindungen der organisch längst mit der Altstadt korrespondierenden Vorstädte wuchs die Stadt ebenso wie aufgrund der Erschließung neuer Stadtviertel außerhalb des Mauerrings, wie etwa der Marienvorstadt.2 Mit dem rasanten Transformationstempo nicht mithalten konnte im „langen 19. Jahrhundert“ die künstlerische Entwicklung. Schmerzhafte Abgänge an Kunstartefakte im Zuge der Eingliederung in das Königreich Bayern ab 18063 , die Herabstufung der ältesten Kunstakademie4 im deutschen Sprachraum zur Kunstgewerbeschule und die seit der Gründung des Germanischen Nationalmuseums 1852 einsetzende Sammlungsdichotomie einschließlich der damit verbundenen Abgrenzungshistorie zählten zu den bremsenden Faktoren einer
1 StadtAN C7/I Nr. 9999. 2 Vgl. Bühl-Gramer, Charlotte: Nürnberg 1850 bis 1892. Stadtentwicklung, Kommunalpolitik und Stadtverwaltung im Zeichen von Industrialisierung und Urbanisierung (Nürnberger Werkstücke zur Stadt- und Landesgeschichte 62), Nürnberg 2003, S. 63–182. 3 Vgl. Bauernfeind, Martina: Die Entwendung und Verschleuderung von Kunst- und Kulturgut nach der Besitzergreifung Nürnbergs durch Bayern 1806 bis zum Erlass des Gemeindeedikts 1818, in: Diefenbacher, Michael/Rechter, Gerhard (Hg.): Vom Adler zum Löwen. Die Region Nürnberg wird bayerisch 1775–1835, Nürnberg 2002, S. 119–176. 4 Vgl. Henkel, Matthias/Kubach-Reutter, Ursula (Hg.): 1662–1806. Die Frühzeit der Nürnberger Kunstakademie, Nürnberg 2012.
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zukunftsgewandten und neue Strömungen aufgreifenden Kulturentwicklung.5 Um 1900 intensivierte die Stadtverwaltung deshalb ihre Bemühungen, neben dem Image als progressive Industriemetropole auch Nürnbergs große Tradition als Kunst- und Kulturstadt von Weltrang herauszustellen und in die Gegenwart zu übersetzen. Wichtige kulturpolitische Komponenten markierten neue infrastrukturelle Maßnahmen und Investitionen. Die Idee eines Künstlerhauses datiert bereits in die Mitte des 19. Jahrhunderts. In zahlreichen Städten wie München, Berlin, Leipzig, Stuttgart, Hannover oder Dresden formierten sich Interessengruppen, um durch entsprechende Einrichtungen zeitgenössische Kunstschaffende zu fördern. Die Künstlerhäuser sollten als milieubildende Zentren gesellschaftlichen Bedürfnissen ebenso Rechnung tragen wie als Galerie- und Ausstellungshäuser wirtschaftlichen Interessen. In Nürnberg konnte keiner der aus der Bürgerschaft artikulierten Vorstöße die Stadtspitze überzeugen.6 Vielmehr präsentierte anlässlich seiner Ernennung zum Ehrenmitglied des Nürnberger Künstlervereins 1902 Bürgermeister von Schuh seinen eigenen Plan für ein Künstlerhaus mit Ausstellungs- und Gesellschaftsräumen zusammen mit seinem Duzfreund, dem wohlhabenden jüdischen Hopfenhändler Ludwig von Gerngros, der als Stifter des Neptunbrunnens auf dem Hauptmarkt zeitgleich mit Schuh zum Ehrenmitglied erhoben worden war. Mit vier weiteren Stiftern hatte der Mäzen dem Bürgermeister ein Grundkapital in Höhe von 150.000 Mark für die Errichtung eines Künstlerhauses zur Verfügung gestellt.7 Der Zeitpunkt des Vorstoßes war genau kalkuliert und steht in engem Zusammenhang mit der von Schuh 1902 initiierten Jubiläumsausstellung 1906 anlässlich der 100-jährigen Zugehörigkeit Nürnbergs zum Königreich Bayern. Im Kielwasser der Ausstellungsvorbereitung hoffte man auf bessere Chancen für ein derartiges Projekt. Ein Kulturbau als permanente städtebauliche Signatur würde einerseits als Leistungsbeleg der Stadtverwaltung im Jubiläumsjahr ein großes Publikum und damit zahlreiche Multiplikatoren erreichen, andererseits den Stellenwert von Kunst und Kultur in Nürnberg weithin sichtbar machen. Nicht zuletzt sollten gute Rahmenbedingungen zur Etablierung einer Künstlerszene geschaffen werden. Mit „Recht betont die Stadtgemeinde Nürnberg, daß gerade dadurch ein fester Stamm anerkannter Künstler in Nürnberg erhalten
5 Vgl. Dippel, Andrea: Das Projekt der Kunstvilla als Verlustgeschichte – oder: Ist ein regional ausgerichtetes Kunstmuseum heute noch zeitgemäß?, in: Dippel, Andrea/Strobel, Matthias: Kunst/Villa. Kunst in Nürnberg von 1900 bis heute, Nürnberg 2014, S. 11–21, hier S. 11. 6 Vgl. Bauernfeind, Martina: Bürgermeister Georg Ritter von Schuh. Stadtentwicklung in Erlangen und Nürnberg im Zeichen der Hochindustrialisierung 1878–1913 (Nürnberger Werkstücke zur Stadtund Landesgeschichte 60), Nürnberg 2000, S. 344. 7 Schulz, Fritz Traugott: Festschrift zur Einweihung des Künstlerhauses in Nürnberg am 3. Juli 1910, I. Teil, Vorgeschichte. Der Bau in seiner Anlage und Ausstattung, Nürnberg 1910, S. 43–47.
Stadträumliche Mitgestaltung durch Nürnbergs jüdische Unternehmerelite
und andere nach Nürnberg gezogen werden“,8 bestätigte auch die Kreisregierung. Mit der Gründungsinitiative setzte Nürnberg tatsächlich Standards, denn bereits 1904 folgten Angehörige der Münchner Wirtschaftselite diesem Beispiel und gaben in der Landeshauptstadt den Impuls für das Münchner Künstlerhaus.9 Das Nürnberger Künstlerhaus sollte nach Schuhs Vorstellung sowohl Forum für Künstler, Gönner und Kunstinteressierte als auch Präsentationsort für die Bestände des Albrecht-Dürer-Vereins, als ältestem deutschen Kunstverein, und die Städtische Galerie sein. 1867 hatte die Stadt mit der Eröffnung einer Galerie10 im kleinen Rathaussaal Ambitionen zur Förderung und Pflege bildender Kunst, insbesondere Gemälden, entfaltet. Als 1874 ein Großteil des Sammlungsbestandes wegen Raummangels als Depositum an das Germanische Nationalmuseum abgegeben wurde, schloss die Rathausgalerie wieder. Mit der Fertigstellung des sogenannten Essenweinbaus erhielt der Rumpfbestand der städtischen Gemäldesammlung im Dachgeschoss einen neuen Ort, der 1890 eröffnet wurde. Durch Ankäufe, Schenkungen und Stiftungen baute die Stadt in den folgenden Jahren eine eigene Sammlung zeitgenössischer Kunst auf. Vor allem im Nürnberger Wirtschaftsbürgertum fanden sich zahlreiche Unterstützer.11 Zu ihnen gehörten der jüdische Bleistiftfabrikant Heinrich Berolzheimer sowie die ebenfalls jüdischen Hopfenhändler Ludwig und Wilhelm Gerngros. Letzterer ermöglichte u. a. mit einer Spende in Höhe von 1.550 Mark den Ankauf einer Sammlung mit 61 Aquarellen von Johann Adam Klein durch die Stadt.12 Die Galerie blieb allerdings ohne eigene städtische Leitung, weshalb eine konzeptionelle Sammlungsentwicklung vorerst unterblieb. Vis à vis zum Hauptbahnhof, dem Entree zur Altstadt, wurde der Bauplatz für das Künstlerhaus auf dem Areal des alten Salzstadelzwingers am Königstor in ausgesprochen prominenter Lage definiert. Dies belegte nicht nur die der neuen Kulturinstitution beigemessene Relevanz. Umgekehrt wurden damit auch kulturelle Bedarfe strategisch für Ziele der Stadtentwicklung instrumentalisiert, denn es sei dringend erwünscht, „dass bis zur Ausstellung 1906 der hässliche, sogenannte Salzstadel am Königstor beseitigt“13 würde, begründete Schuh die Platzwahl. Dieser 8 StadtAN C7/I Nr. 9998, Entschließung am 25.03.1912. 9 Krauss, Marita (Hg.): Die bayerischen Kommerzienräte. Eine deutsche Wirtschaftselite von 1880 bis 1928, München 2016, S. 30. 10 Zur Städtischen Galerie vgl. Schwemmer, Wilhelm: Aus der Geschichte der Kunstsammlungen der Stadt Nürnberg, in: MVGN 40 (1949), S. 97–206; Dippel: Kunstvilla; Eser, Thomas (Hg.): Luppes Galerie. Die Kunstsammlungen der Stadt Nürnberg in der Weimarer Republik, Nürnberg 2022. Siehe hierzu auch den Beitrag von Büchert, Gesa in diesem Band. 11 Kunstsammlungen der Stadt Nürnberg: Katalog über die Kunstsammlungen der Stadt Nürnberg (Inventarbuch), handschr., 1897 ff. 12 Vgl. Grieb, Manfred (Hg.): Nürnberger Künstlerlexikon Bd. 1, Nürnberg 2007, S. 465. 13 StAN Reg. v. Mfr., K.d.I., Abg. 1968, Titel X Nr. 460, Bericht am 20.01.1905.
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Argumentation folgte die Regierung von Mittelfranken, obwohl die bauliche Veränderung im Umgriff der historischen Stadtmauer geplant war. Es hieß, der Wunsch sei berechtigt, „es möchte am Haupteingang zur Stadt ein Gebäude stehen, dessen Bauart gewissermaßen die Zeit von Nürnbergs höchster Blüte repräsentirt.“14 Die Baukosten wurden auf bis zu 800.000 Mark veranschlagt. 1903 konnte Schuh bereits eine Spendensumme von 500.000 Mark vorweisen. Die Stadt selbst beteiligte sich mit einem Betrag in Höhe von 100.000 Mark sowie dem Bauplatz an dem Vorhaben. Am Schluss umfasste die Liste der Spender und einer Spenderin 33 Personen. Mit neun Vertretern der jüdischen Wirtschaftselite betrug deren Anteil nahezu ein Drittel.15 Die hohe Wertschätzung, die den Unternehmern für ihre Verdienste um Wirtschaft und Allgemeinwohl zu Teil wurde, spiegelte sich auf kommunaler wie staatlicher Ebene im Rahmen einer differenzierten Auszeichnungspraxis wider.16 Davon waren auch die jüdischen Spender und Stifter nicht ausgenommen. Zu ihnen zählte Siegfried Bach17 . Bach war Teilhaber in der väterlichen Spiegelfabrik sowie Inhaber einer Handlung für Edelhölzer und Silberpapier. Er war Honorarkonsul der Türkei und wurde mehrfach ausgezeichnet, u. a. 1906 mit dem „Großherrlich-Türkischen Medschidje-Orden“, 1908 mit dem Titel des Kommerzienrats und 1911 mit der „Prinzregent-Luitpold-Medaille“ in Silber. Gespendet hatte darüber hinaus der Kaufmann und Bleistiftfabrikant Heinrich Berolzheimer18 . Mit umfangreichen Stiftungen wie zur Errichtung des nach ihm benannten Volksbildungsheimes Berolzheimerianum in Fürth und des Luitpoldhauses in Nürnberg, für die Naturhistorische Gesellschaft oder die städtischen Kunstsammlungen wurde er zum wichtigen Mäzen im Großraum. Für seine Verdienste verliehen ihm 1904 bzw. 1905 die Städte Nürnberg und Fürth die Ehrenbürgerwürde, bereits 1894 war die Ernennung zum Kommerzienrat erfolgt. Zudem wurde er mit dem „Verdienstorden vom Heiligen Michael IV. Klasse mit der Krone“ und dem „Verdienstorden vom Heiligen Michael III. Klasse“ geehrt. Es spendete ebenso Ignaz Bing19 . Vielfältig unternehmerisch tätig, hatte Bing u. a. die „Nürnberger Metallwarenfabrik, Gebr. Bing“, gegründet. Als Magistratsrat, aber auch Mäzen setzte sich Bing für die Stadt Nürnberg ein, die ihn 1892 mit der Bürgermedaille in Silber ehrte. Bereits 1890 war er zum Kommerzienrat sowie 1910 zum Geheimen Kommerzienrat ernannt
14 StAN Reg. v. Mfr., K.d.I., Abg. 1968, Titel X Nr. 460, gutachterliche Äußerung am 24.01.1905. 15 Zu den nichtjüdischen Stiftenden vgl. StadtAN C7/I Nr. 9998. 16 Zur soziographischen Einordnung in Nürnberg vgl. Bauernfeind, Walter: Nürnberger Kommerzienräte 1880 bis 1928 – eine Strukturanalyse, in: Krauss: Kommerzienräte, S. 91–101. 17 Zur Biografie vgl. Krauss: Kommerzienräte, S. 400, Siegfried Leopold Bach (1862 Fürth – 1919 Nürnberg). 18 Vgl. ebd., S. 411, Heinrich Berolzheimer (1836 Fürth – 1906 Nürnberg). 19 Vgl. ebd., S. 413, Ignaz Bing (1840 Memmelsdorf – 1918 Nürnberg).
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und 1904 mit dem „Verdienstorden vom Heiligen Michael IV. Klasse mit der Krone“ dekoriert worden. Zu den Förderern zählte überdies Salomon Forchheimer20 . Der Holz- und Hopfengroßhändler begleitete zudem das Amt eines Armenpflegschaftsrates und errichtete 1904 eine Wohltätigkeitsstiftung. Seine Tochter war die Schriftstellerin Else Dormitzer.21 Als weitere Stifter taten sich die Gebrüder Gerngros – beide Teilhaber der gemeinsamen Hopfengroßhandlung „Gerngros & Frauenfeld“ – hervor. Das mäzenatische Wirken von Wilhelm Gerngros22 deckte ein breites Förderspektrum ab mit einem deutlichen Akzent auf kulturellen Themen. Zuwendungen erhielt u. a. das Germanische Nationalmuseum. 1912 gehörte Gerngros mit anderen Nürnberger Juden zu den Unterzeichnern eines Aufrufs zur Gründung eines Deutsch-jüdischen Museums, das an das Germanische Nationalmuseum angegliedert werden sollte. 1898 wurde Gerngros zum Kommerzienrat ernannt; sein umfangreiches Engagement wurde 1910 zudem mit dem „Verdienstorden vom Heiligen Michael III. Klasse“ gewürdigt. Weitere Ehrungen waren die „Prinzregent-Luitpold-Medaille“ sowie der preußische „Rote Adlerorden III. Klasse“. 1913 erfolgte die Erhebung in den persönlichen Adelsstand. Ludwig Gerngros23 war wie sein Bruder Teilhaber der Hopfengroßhandlung „Gerngros & Frauenfeld“. Auch er spendete in großem Stil für kulturelle Belange, u. a. für das Germanische Nationalmuseum, die städtischen Kunstsammlungen und den Albrecht-DürerVerein. Den Bau des Künstlerhauses unterstützte er mit 10.000 Mark24 . 1889 wurde er mit dem Titel des Kommerzienrates, 1908 des Geheimen Kommerzienrates bedacht. Weitere hohe Auszeichnungen waren 1891 der „Verdienstorden vom Heiligen Michael IV. Klasse mit der Krone“, 1901 der „Verdienstorden vom Heiligen Michael III. Klasse“ sowie 1911 der „Verdienstorden vom „Heiligen Michael II. Klasse mit Stern“. Die Stadt Nürnberg ernannte Gerngros 1901 zum Ehrenbürger und verlieh ihm 1909 die Goldene Bürgermedaille. 1902 wurde er zum „Ritter vom Kronenorden“ ernannt, verbunden mit der Erhebung in den persönlichen Adelsstand, und im gleichen Jahr erfolgte die Verleihung des „Komturkreuzes des Verdienstordens der Bayerischen Krone“. Ein weiterer großzügiger Spender war Joseph Hopf,25
20 StadtAN C7/I Nr. 9998, Sitzungsbericht des Ausführungsausschusses am 24.03.1910; GSI 99, Salomon Forchheimer (1848 Welbhausen b. Uffenheim – 1904 Nürnberg); vgl. auch Rosenberg, Leibl: Im Schatten der Burg. Jüdisches Leben in Nürnberg, Nürnberg 2020, S. 13. 21 StadtAN C7/I Nr. 9471; D 20/II Nr. 664, 665. 22 Vgl. StadtAN GSI 180 Wilhelm von Gerngros (1843 Baiersdorf – 1928 Nürnberg); Krauss: Kommerzienräte, S. 461. 23 Vgl. Krauss: Kommerzienräte, S. 461, Ludwig von Gerngros (1839 Baiersdorf – 1916 Nürnberg). 24 StadtAN C7/I Nr. 9998, Verzeichnis der Zuwendungen vom 15.09.1910. 25 Gulden, Sebastian: Die Kunstvilla. Zur Geschichte eines Nürnberger Baudenkmals, hg. Kunstvilla im KunstKulturQuartier, Nürnberg 2014, S. 18; vgl. Krauss: Kommerzienräte, S. 497, Joseph Hopf (1829 Uehlfeld – 1907 Nürnberg); Gulden, Sebastian: Villa für Herrn Hopf – Villa für die Kunst: Das Haus
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Mitbegründer der Hopfengroßhandlung „Hopf & Söhne“ in Nürnberg. Neben seinem kulturellen Engagement unterstützte Hopf vor allem caritative Zwecke. 1903 wurde er mit dem Titel des Kommerzienrates ausgezeichnet. Hopf förderte das Künstlerhausprojekt mit einer Spende in Höhe von 25.000 Mark. Seine Tochter Clara war mit Max Philipp Tuchmann26 verheiratet, der ebenfalls zu den Spendern zählte. Tuchmann war Kaufmann und Teilhaber der Hopfengroßhandlung „Philipp Tuchmann Hopfenhandlung, Nürnberg“ sowie der „Schwabacher Nadel- und Federnfabrik Fr. Reingruber“. Insbesondere die Unterstützung von Einrichtungen des Gesundheits- und Wohlfahrtswesens war ihm ein Anliegen. 1906 wurde er mit dem Titel des Kommerzienrates ausgezeichnet. Neben der „Prinzregent-LuitpoldMedaille“ in Silber erhielt er den „Verdienstorden vom Heiligen Michael III. Klasse“. Ein weiterer namhafter Förderer war Albert Mayer-Dinkel27 . Dieser hatte sich vor allem mit Verbesserungen in Hopfenanbau und -lagertechnik verdient gemacht. 1901 wurde er zum Kommerzienrat ernannt, erhielt 1906 das „Ritterkreuz I. Klasse“ des schwedischen Wasa-Ordens sowie 1908 den „Verdienstorden vom Heiligen Michael IV. Klasse mit der Krone“. Durch finanzielle Großzügigkeit im sozialen und kulturellen Bereich hatten Mäzene maßgeblichen Anteil an Nürnbergs Umbau zur modernen Großstadt. Aber auch durch Bekleidung von kommunalen Ämtern übernahm man Verantwortung. War es aus christlicher Perspektive der Begriff der Nächstenliebe, galt für die jüdische Gesellschaft das Gebot der Wohltätigkeit – „Zedaka“. 95 Stiftungen jüdischer Provenienz für unterschiedliche wohltätige und kulturelle Zwecke wurden um 1900 errichtet.28 Mit dem Wunsch zu helfen, gingen die Aussicht auf Sozialprestige und Emanzipation sowie ein schichtspezifisches Repräsentationsbedürfnis einher. Dass diese Erwartungen bedient wurden, lag auch am Agieren Bürgermeister von Schuhs, der sich um Ehrungen bemühte. So schlug Schuh Joseph Hopf für den Titel des Kommerzienrates vor. Hopf habe ungeachtet religiöser und konfessioneller Unterschiede stets eine reichlich gebende Hand.29 Mit 75 Jahren war Hopf der bei seiner Ernennung älteste Nürnberger Titelträger. Als Mitinitiator und -finanzier des Künstlerhauses empfahl Schuh zudem Ludwig Gerngros für eine Ehrung, ebenso wie dessen Bruder Wilhelm Gerngros. Heinrich Berolzheimer würdigte Schuh 1905 mit dem Ehrenbürgerbrief.30
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Blumenstraße 17 in seinem kunst- und kulturgeschichtlichen Zusammenhang, in: Dippel/Strobel: Kunst / Villa, S. 25–53, hier S. 27. Vgl. Krauss: Kommerzienräte, S. 685, Max Philipp Tuchmann (1855 Dessau – 1934). Vgl. ebd., S. 563, Albert Mayer-Dinkel (1858 Mannheim – 1925 Nürnberg); StadtAN GSI 180. Vgl. Rosenberg: Burg, S. 13. StAN Reg. v. Mfr., K.d.I. Abg. 1968, Titel 1b Nr. 117, Bericht am 17.11.1900. StadtAN C7/I Nr. 9906.
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Aus religionssoziologischer Sicht ist bemerkenswert, dass im Gesamtzeitraum der Vergabepraxis von 1880 bis 1928 in Nürnberg der Anteil der jüdischen Kommerzienräte mit insgesamt 55 Personen im Vergleich zur Gesamtzahl 13-mal größer war, als der Anteil der Nürnberger Bevölkerung jüdischen Glaubens an der Gesamtbevölkerung. Dies ist nicht nur ein Indikator für die enorme wirtschaftliche Potenz der jüdischen Unternehmerelite, sondern auch für das signifikante Interesse der kommunalen und staatlichen Instanzen an dieser gesellschaftlichen Gruppe. Neben einer sicherlich antijüdischen Grundhaltung hatte man noch wenige Jahrzehnte vorher auch aus Angst vor wirtschaftlicher Konkurrenz Juden die Niederlassung in Nürnberg versagt. Nun war deren stadtgesellschaftlicher Beitrag explizit gewünscht und mitverantwortlich für die Dynamik, mit der Hochindustrialisierung und Urbanisierung in Nürnberg von statten gingen.31 Zu kurz gegriffen wäre allerdings, das Engagement der Stifter für das Bauvorhaben Künstlerhaus nur mit deren Streben nach ausgestellter Großzügigkeit zu erklären. Ein Blick auf die Wohnadressen32 gibt Aufschluss darüber, dass mit Ausnahme der Gebrüder Gerngros alle jüdischen Stifter in räumlichem Bezug zum künftigen Standort des repräsentativen Bauprojekts standen. Hier ist im Kontext der nach dem Ende der Festungseigenschaft entstandenen Marienvorstadt vor allem eine Aufwertung des von Gärten, Villenarchitektur und Großhandel geprägten Stadtviertels gewünscht und befördert worden. Meist wohlhabende jüdische Familien lebten hier, wo sich nicht zuletzt aufgrund der Nähe zum Bahnhof ein Hotspot des von jüdischen Kaufleuten dominierten Hopfengroßhandels etabliert hatte33 . 1876 betrieben 46 Händler und Großhändler in der neuen Stadtlage ihre Geschäfte, davon alleine 23 Hopfenhandlungen.34 Aufgrund langwieriger Diskussionen um die architektonische Gestaltung konnte der angestrebte Eröffnungszeitraum nicht eingehalten werden. 1908 wurden zumindest die Ausstellungsräume für den Albrecht-Dürer-Verein und die bei der Stadt verbliebene Sammlung für den Publikumsverkehr frei gegeben. Die eigentliche Einweihungsfeier fand am 2. und 3. Juli 1910 statt, wobei Prinz Ludwig von Bayern am 3. Juli auf der Durchreise nach Erlangen einen Stopp einlegte und das neue Künstlerhaus offiziell eröffnete. In der Endabrechnung betrugen die Gesamtkosten 1.005.000 Mark. Mit Ausnahme des städtischen Zuschusses von knapp zehn Prozent war die Summe allein durch Spenden aufgebracht worden. Als Dank an die Stifter sowie Bürgermeister von Schuh als geschickten Spendenwerber und Motor des Projekts wurden im Hercules-Velodrom am 2. Juli ein Festaufzug inszeniert
31 Vgl. Bauernfeind: Strukturanalyse, S. 98. 32 Vgl. StadtAN F 23 Nr. 86 Siegfried Bach: Frauentorgraben 3; Heinrich Berolzheimer: Marienplatz 7; Ignaz Bing: Marienstraße 15; Albert Mayer-Dinkel: Bahnhofstraße 19; Max Philipp Tuchmann: Bahnhofstraße 23; F 23 Nr. 82 Salomon Forchheimer: Blumenstraße 9. 33 Vgl. Bühl-Gramer: Nürnberg 1850 bis 1892, S. 176 f.; Gulden: Villa, S. 25–33. 34 Vgl. Bühl-Gramer: Nürnberg 1850 bis 1892, S. 177 f.
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sowie eine mittlerweile abgegangene Ehrentafel mit den Spender-Namen aus der Werkstatt Philipp Kittlers an prominenter Stelle im Künstlerhaus angebracht. Noch während der Planungsphase gab es Kritik am Raumkonzept des Künstlerhauses. Es fehlten dringend benötigte Ausstellungsräume. Nur mit Gesellschaftsräumen sei den Kunstschaffenden wenig gedient. Schuh ging auf diese Forderung ein und stellte im Anschluss an das Künstlerhaus einen eigenen Ausstellungstrakt in Aussicht35 , der schon 1913 als Kunstausstellungshalle am Marientor tatsächlich eröffnet wurde. Während Architektur und speziell die Raum- und Lichtverhältnisse der Ausstellungshalle von der Lokalpresse gelobt wurden, bezweifelte die „Fränkische Tagespost“ die von Schuh beschworene Signalwirkung der neuen Einrichtungen und kritisierte das provinzielle Niveau der Sammlung. Die Galerie sei zwar unter Schuh sehr bereichert worden, „aber der innere Wert des Zuwachses ist in den meisten Fällen äußerst fraglich“36 gewesen, urteilte das SPD-Organ in einem Nachruf über das am 2. Juli 1918 verstorbene Stadtoberhaupt.37 Letztendlich konnten weder Künstlerhaus noch Ausstellungshalle am Marientor in der kurzen Zeit bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs schöpferische Impulse setzen. Auch eine 1914 geforderte „sachgerechte Erweiterung“ der Kunstbestände etwa durch Arbeiten regionaler Künstler konnte nicht mehr angestoßen werden38 . Erst unter Oberbürgermeister Hermann Luppe erlangte die Städtische Galerie eine signifikante Aufwertung.39 Im Zuge einer gründlichen Bestandsrevision waren zahlreiche Bilder, die unter Schuh hinzugekommen waren, abgestoßen worden. Man konzentrierte sich nun auf Kunst nach 1800. Arbeiten von Max Liebermann, Oskar Kokoschka, Edvard Munch, Otto Dix, Lovis Corinth, Arnold Böcklin, Max Pechstein oder Georg Grosz kamen in den 1920er Jahren zur Sammlung.40 Zudem erfolgte mit der zunächst ehrenamtlichen Berufung des am Germanischen Nationalmuseum beschäftigten Kunsthistorikers Fritz Traugott Schulz die Besetzung einer Leitungsstelle der Städtischen Galerie.41 Anlässlich des Dürer-Jahres 1928 stieg Schulz zum hauptamtlichen Direktor der städtischen Kunstsammlungen auf. Unter dem Eindruck des Jubiläums erfolgte zudem die Umwidmung der KunstAusstellungs-Halle am Marientor, die – quasi als Extra-Abteilung der Städtischen 35 StadtAN C7/I Nr. 9999, die Gesamtkosten von 150.000 Mark übernahm Oskar von Petri, Generaldirektor der Continentalen Gesellschaft und der EAG. 36 FT, 04.07.1918. 37 Vgl. Curtius, Andreas: Einführung: Hermann Luppe, die Kunstsammlungen und die Städtische Galerie, in: Eser: Luppes Galerie, S. 15–25, hier S. 18. 38 Vgl. ebd., S. 17. 39 Dazu Eser: Luppes Galerie. 40 Dazu Curtius: Einführung, S. 20. 41 Vgl. Schmidt, Alexander: Moderne in einer alten Stadt – Weimarer Kultur in Nürnberg, in: FischerPache, Wiltrud et al (Hg.): Weimarer Republik Nürnberg 1918 1933, Bd. 1 zur Ausstellung des Stadtarchivs Nürnberg, Nürnberg 2021, S. 407–455, hier S. 422; Curtius: Einführung, S. 18.
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Galerie – ab 1931 als „Fränkische Galerie am Marientor“ Werke zeitgenössischer lokaler und nordbayerischer Künstler zeigte. Für Wechselausstellungen wurde die alte Norishalle zur Verfügung gestellt und damit der ansässigen Künstlerszene an prominenter Stelle ein Forum überlassen – allerdings nur wenige Jahre. Bereits 1937 wurde die Dauerausstellung der Fränkischen Galerie wieder geschlossen und die Räume erneut Wechselausstellungen der fränkischen Künstlervereinigungen, aber auch für NS-ideologische Präsentationen vorbehalten.42 Zudem war Schulz 1933 seines Amtes enthoben und durch den Kunstlehrer Emil Stahl43 ersetzt worden. Dieser veranstaltete in der Städtischen Galerie noch im selben Jahr eine als „Kammer des Schreckens“ bezeichnete Schau, in deren Rahmen zahlreiche Werke sogenannter Entarteter Kunst in diffamierender Weise präsentiert wurden.44 Zusammen mit dem Stadtbaurat Paul Seegy, dem Maler Gustav Adolf Engelhard sowie dem Leiter des Reichspropagandaamtes Franken Hans Bäselsöder sortierte Stahl 1937 über 100 weitere Kunstwerke aus, von denen die meisten Arbeiten als zerstört gelten.45 In den ersten Nachkriegsjahren wurde die Fränkische Galerie zunächst bedarfsorientiert genutzt. Neben Ausstellungen fand 1948 dort beispielsweise die Präsentation der Pläne des Architekturwettbewerbs zum Wiederaufbau der Altstadt statt.46 1952 war die Instandsetzung der Fränkischen Galerie abgeschlossen und Wilhelm Schwemmer47 avancierte trotz erwiesener NS-Vergangenheit zum Direktor der städtischen Kunstsammlungen. 1955 räumte die US-amerikanische Besatzungsmacht das Künstlerhaus, welches damit für eine städtische Nutzung wieder zur Verfügung stand.48 Das Ausstellungsprogramm umfasste nun fränkisches Kulturschaffen genauso wie überregionale Positionen.
42 Vgl. Gulden: Kunstvilla, S. 9. 43 Vgl. Grieb: Künstlerlexikon, Bd. 3, S. 1469. 44 Vgl. Dippel, Andrea/Steinmüller, Alexander: Die „Schreckenskammer“ – Ausstellungen. Vorläufer der „Entartete Kunst“ – Ausstellung, in: Dippel, Andrea [Hg.]: Grauzonen. Nürnberger Künstler:innen im Nationalsozialismus, Nürnberg 2022, S. 48–63, hier S. 49. 45 Vgl. Eser: Luppes Galerie, S. 199; Schwemmer: Kunstsammlungen, S. 183; Dippel/Steinmüller: Schreckenskammer, S. 53. 46 Hierzu grundlegend Wachter, Clemens: Kultur in Nürnberg 1945–1950. Kulturpolitik, kulturelles Leben und Bild der Stadt zwischen dem Ende der NS-Diktatur und der Prosperität der fünfziger Jahre (Nürnberger Werkstücke zur Stadt- und Landesgeschichte 59), Nürnberg 1999, S. 175–121. 47 Schwemmer war seit 01.05.1933 NSDAP-Mitglied, ab 1934 im Kommunaldienst und wurde 1945 von den US-Behörden wegen seiner NS-Belastung aus dem Dienst entfernt. 1948 wiedereingestellt war er 1952–1966 die prägende Gestalt der städtischen Sammlungs- und Ausstellungstätigkeit: StadtAN C 18/II, Nr. 11215. 48 Vgl. Knöpfle, Franziska: Im Zeichen der „Soziokultur“. Hermann Glaser und die kommunale Kulturpolitik in Nürnberg (Nürnberger Werkstücke zur Stadt- und Landesgeschichte 64), Nürnberg 2007, S. 105.
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Symptomatisch für den Umgang mit dem nationalsozialistischen, aber auch jüdischen Erbe in den ersten Nachkriegsjahrzehnten wurde eine Ausstellung von Zeichnungen und Lithographien von Léo Marchutz, die vom 8. bis 29. September 1957 in der Fränkischen Galerie gezeigt wurde. Der Künstler war der Sohn des Fahrradfabrikanten Carl Marschütz, der 1886 in Nürnberg die Hercules-Werke gegründet hatte. Auf seine Initiative ging 1898 auch der Bau des Hercules-Velodroms zurück, in dem der Eröffnungsfestakt des Künstlerhauses inszeniert worden war. Erst 1938 verließ die Familie nach „Arisierung“ des Unternehmens und zunehmender Lebensgefahr Nürnberg und emigrierte in die USA. Leo war am 29. August 1903 in Nürnberg geboren worden und anders als sein Vater nicht unternehmerisch, sondern als Maler erfolgreich. Seinem französischen Vorbild Paul Cézanne folgend, lebte er seit 1931 in der Nähe von Aix-en-Provence. Dort überlebte er auch versteckt den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust. Seinen Namen passte er der neuen Heimat an und firmierte als Léo Marchutz.49 Prägend für die Motive seiner Arbeiten waren die Jugendeindrücke aus seiner Geburtsstadt, wie er 1948 einem Bekannten schrieb: „Ich bin in Nürnberg geboren und habe dort meine Jugend verbracht, also Dürer, Veit Stoss, Adam Kraft (die Stationen des Kreuzwegs). Es gab so viele wichtige Begegnungen.“50 Da in der Nürnberger Ausstellung von 1957 auch Arbeiten des Künstlers aus Münchner Beständen gezeigt wurden, formulierte Konrad Röthel, Direktor der städtischen Kunstsammlungen München, in Abstimmung mit Schwemmer auch den Text des Faltblatts zur Ausstellung: Vor dreißig Jahren trieb es Leo Marschütz, den gebürtigen Nürnberger, nach Aix-enProvence. […] Es ist ein schönes Zeichen von künstlerischer Anerkennung und menschlicher Verbundenheit, daß die erste Ausstellung von Leo Marschütz in Deutschland in den Räumen der fränkischen Galerie in Nürnberg, seiner Vaterstadt, stattfinden kann.51
Weder die Kontextualisierung mit „Arisierung“ und Holocaust als Anlass für die Familie Marschütz, Nürnberg und Deutschland zu verlassen, noch die herausragenden unternehmerischen Verdienste des Firmengründers, von denen Nürnbergs Ruf als führender Produktionsstandort der Zweiradindustrie immer noch zehrte, wurden in der regen Korrespondenz von Marchutz, Röthel und Schwemmer thematisiert. Auch die Presse griff in ihrer Berichterstattung die Hintergründe
49 Ab 1959 gab er Kunstunterricht und gründete 1972 in Aix-en-Provence die „Leo Marchutz School of Painting and Drawing“. Marchutz verstarb am 04.01.1976. Seine Werke befinden sich u. a. in den Sammlungen des Louvre in Paris, des Metropolitan Museum of Art und des Museum of Modern Art in New York, der Albertina in Wien und des Lenbachhauses in München. Vgl. auch Rosenberg: Burg, S. 31 f. 50 Zitiert nach https://www.leomarchutz.fr/biographie/biographie-deutsche-version/ (16.01.2023). 51 StadtAN Kunstsammlungen Nr. 226, Ausstellungs–Faltblatt.
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nicht auf. Umso bemerkenswerter mutet es an, dass trotz alledem der am 19. April desselben Jahres in Los Angeles verstorbene Carl Marschütz in seiner Heimatstadt auf dem Westfriedhof begraben werden wollte. Die Ausstellung fand laut Schwemmer „allgemein guten Anklang“52 und führte zu städtischen Ankäufen von dort gezeigten Lithographien, nämlich „Straße St. Ludwig in Aix“53 , „Aus Venedig“54 und „Mädchenbildnis“55 sowie der Kreidezeichnung „Heilige Familie“56 zu je 100 D-Mark. Die Chance zur Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit bzw. den Auswirkungen des „Dritten Reiches“ auf den Kunst- und Kulturbetrieb wurde beflissentlich ausgelassen. Mit der Neuausrichtung der Fränkischen Galerie endete zehn Jahre später abermals die exklusive Präsentationsmöglichkeit für Kunst aus der Region. Unter dem Namen „Kunsthalle Nürnberg“ wird dort seither in Wechselausstellungen zeitgenössische internationale Kunst seit 1960 gezeigt. Die regionalen Bestände der städtischen Kunstsammlung wurden in Depots eingelagert oder als Dekoration von städtischen Amtsräumen verwandt. Somit endete auch die 1867 als Gemäldegalerie im Rathaus wieder aufgenommene öffentliche Präsentation städtischer Kunstwerke nach 100 Jahren. Initiiert hatte die Neuprogrammierung der seit 1966 amtierende Leiter der städtischen Kunstsammlungen Dietrich Mahlow, den Hermann Glaser nach Nürnberg geholt hatte.57 Als Schul- und Kulturreferent hatte Glaser mit den Traditionslinien der städtischen Kunstsammlungen radikal brechen wollen.58 Bereits bei seinem Amtsantritt positionierte er sich gegen die Wiederaufnahme einer gezielten städtischen Sammlungstätigkeit und plädierte dafür, auch den Großteil des städtischen Kunstbesitzes des 19. und 20. Jahrhunderts dem Germanischen Nationalmuseum als Leihgabe zu überlassen.59 Im Mittelpunkt der Überlegungen stand zudem ein neues Galerie- und Ausstellungsgebäude für zeitgenössische Kunst und soziokulturellen Diskurs. Zwar kam es aus politischen Gründen nicht zu einer völligen Preisgabe der städtischen Sammlungen, aber auch das ambitionierte Museumsprojekt konnte nicht umgesetzt werden. Gelitten hatte überdies die regionale Künstlerschaft, da Dietrich Mahlow deren Ausstellungsmöglichkeiten in der Kunsthalle stark eingeschränkt hatte.60
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Ebd., Schreiben Schwemmers an Marchutz, 12.10.1957. StadtMus Gr.A. 01801. StadtMus Gr.A. 01799. StadtMus Gr.A. 01800. StadtMus Gr.A. 01798. Vgl. Knöpfle: Soziokultur, S. 78 f. Vgl. ebd., S. 71 ff. Vgl. ebd., S. 73 ff. Vgl. ebd., S. 99 f.
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Erst 2014 fand mit der Eröffnung der Kunstvilla als Neue Fränkische Galerie regionale Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts wieder eine entsprechende institutionelle Verankerung.61 Die denkmalgeschützte neobarocke Villa, Blumenstraße 17, gestiftet von Verleger Bruno Schnell, wurde durch die Stadt Nürnberg adäquat saniert und gehört zur selben Verwaltungseinheit wie das Künstlerhaus. Hier startete 100 Jahre nach dessen Eröffnung und noch vor Vollendung der Gebäudesanierung die Kunstvilla ihr Ausstellungsprogramm. In mehrfacher Hinsicht erfordert die Institutionalisierung des regionalen Kunstschaffens an gerade diesem Ort eine Auseinandersetzung mit den Ursprüngen der kulturellen Infrastruktur um 1900 sowie ihrer Verflechtung mit dem äußerst bemerkenswerten jüdischen Mäzenatentum in Nürnberg. Denn die Villa Hopf im Herzen der Marienvorstadt wurde 1895 vom jüdischen Hopfenhändler und Bankier Emil Hopf als sein Wohnsitz erbaut. Dessen Vater und Onkel, Joseph und Stephan, hatten zu den ambitionierten Förderern von Kunst und Kultur in Nürnberg gezählt. Joseph war einer der Hauptgeldgeber des Künstlerhauses62 , die damit eine bis heute gültige Grundlage der städtischen Kulturinfrastruktur geschaffen haben. Im Rückblick trotz wechselnder Schwerpunktsetzungen im kulturellen Auftrag immer eindeutig und nicht verhandelbar, bildet das Künstlerhaus seit 2008 zusammen mit der Kunstvilla, der Kunsthalle und weiteren Komponenten das KunstKulturQuartier.63 Die Signaturen jüdischen Engagements und übernommener Verantwortung sind also vorhanden und sichtbar. Es gilt, diese permanent auszuleuchten und im kollektiven Gedächtnis der Stadt öffentlich wirksam und fest zu verankern. Kulturinstitutionen – zumal im jüdischen Kontext – sind hierfür konkrete und originäre Reflexionsflächen, die es auch weiterhin intensiv wahr- und im Sinne ihrer historischen Provenienz ernst zu nehmen gilt.
61 Lehner, Julia: Grußwort, in: Kunst/Villa, S. 3. 62 Ausführlich Gulden: Kunstvilla, S. 18; Gulden: Villa. 63 KunstKulturQuartier: https://www.kunstkulturquartier.de (12.02.2023).
Autor:innenverzeichnis
Dr. Walter Bauernfeind, Abteilungsleiter am Stadtarchiv Nürnberg Dr. Martina Bauernfeind, Persönliche Mitarbeiterin der Bürgermeisterin der Stadt Nürnberg – Geschäftsbereich Kultur Nadja Bennewitz M.A., Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Didaktik der Geschichte an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg; selbständig tätige Historikerin Prof. Dr. Stefan Benz, Akademischer Direktor für Didaktik der Geschichte an der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Bayreuth Dr. Hannes Burkhardt, Studienrat in Vollabordnung als Fortbildungsreferent für Gesellschaftswissenschaften (Fachbereich Geschichte); Mitglied der Rahmenplankommission Geschichte des Instituts für Qualitätsentwicklung des Ministeriums für Bildung und Kindertagesstätten Mecklenburg-Vorpommern; Lehrbeauftragter am Lehrstuhl für Didaktik der Geschichte an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Dr. Gesa Büchert, Leiterin der Abteilung Schulen und Jugendliche und stellvertretende Gesamtleiterin des Kunst- und Kulturpädagogischen Zentrums der Museen in Nürnberg; Lehrbeauftragte am Lehrstuhl für Didaktik der Geschichte an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Prof. Dr. Uwe Danker, Seniorprofessor am Seminar für Geschichte und Geschichtsdidaktik der Europa-Universität Flensburg; Geschäftsführender Direktor der Forschungsstelle für regionale Zeitgeschichte und Public History (frzph, ehemals IZRG) der Europa-Universität Flensburg Prof. Dr. Simone Derix, Inhaberin des Lehrstuhls für Neueste Geschichte und Zeitgeschichte an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Dr. Michael Diefenbacher, Direktor des Stadtarchivs Nürnberg i.R.
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Autor:innenverzeichnis
Prof. Dr. Günter Dippold, Bezirksheimatpfleger von Oberfranken; Honorarprofessor für Volkskunde / Europäische Ethnologie an der Universität Bamberg Daniela F. Eisenstein M.A., Direktorin des Jüdischen Museums Franken Prof. Dr. Elisabeth Erdmann, Inhaberin des Lehrstuhls für Didaktik der Geschichte der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg i.R. Prof. Dr. Anke John, Professorin für Geschichtsdidaktik an der Friedrich-SchillerUniversität Jena Prof. Dr. Alfons Kenkmann, Professor für Fachdidaktik der Geschichte an der Universität Leipzig Dr. Mona Kilau, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Didaktik der Geschichte an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg; Seminarlehrerin für Geschichte am Christian-Ernst-Gymnasium Erlangen; Zentrale Fachberaterin für die Seminarausbildung im Fach Geschichte am Gymnasium in Bayern Dr. Johannes M. Knoblach, Studienrat für Deutsch und Geschichte am Gymnasium Herzogenaurach Prof. Dr. Christian Kuchler, Professor für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften an der Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen Prof. Dr. Julia Lehner, Bürgermeisterin der Stadt Nürnberg – Geschäftsbereich Kultur Dr. Jessica Mack-Andrick, Leiterin des Kunst- und Kulturpädagogischen Zentrums der Museen in Nürnberg Prof. Dr. Magdalena Michalak, Inhaberin des Lehrstuhls für Didaktik des Deutschen als Zweitsprache an der Friedrich-Alexander-Universität ErlangenNürnberg Prof. Dr. Andreas Michler, Professor für Didaktik der Geschichte an der Universität Passau
Autor:innenverzeichnis
Dr. Arnold Otto, Direktor des Stadtarchivs Nürnberg; Lehrbeauftragter am Lehrstuhl für Bayerische und Fränkische Landesgeschichte an der Friedrich-AlexanderUniversität Erlangen-Nürnberg Prof. Dr. Susanne Popp, Inhaberin des Lehrstuhls für Didaktik der Geschichte an der Universität Augsburg i.R., Präsidentin der Internationalen Gesellschaft für Geschichtsdidaktik (ISHD) Dr. Mathias Rösch, Leiter des Schulmuseums an der Friedrich-AlexanderUniversität Erlangen-Nürnberg und der Stadt Nürnberg im Museum Industriekultur Dr. Jutta Schumann, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Didaktik der Geschichte der Universität Augsburg Prof. Dr. Astrid Schwabe, Professorin für Public History und Frühes Historisches Lernen an der Europa-Universität Flensburg Prof. Dr. Georg Seiderer, Professor für Neuere Bayerische und Fränkische Landesgeschichte und Volkskunde an der Friedrich-Alexander-Universität ErlangenNürnberg Leonard Stöcklein, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für die Didaktik der Geschichte an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Dr. Martina Switalski, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Didaktik der Geschichte an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg; Oberstudienrätin für Deutsch, Geschichte, Sozialkunde am MelanchthonGymnasium Nürnberg Dr. Clemens Wachter, Archivar der Friedrich-Alexander-Universität ErlangenNürnberg
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