Adressatenwechsel: Literarische Kommunikation in Sowjetrußland, (1917–1930) [Reprint 2021 ed.] 9783112481523, 9783112481516


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German Pages 208 Year 1988

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Adressatenwechsel: Literarische Kommunikation in Sowjetrußland, (1917–1930) [Reprint 2021 ed.]
 9783112481523, 9783112481516

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Nyota Thun

Adressatenwechsel

Literatur und Gesellschaft Herausgegeben von der Akademie der Wissenschaften der DDR Zentralinstitut für Literaturgeschichte

Nyota Thun

Adressatenwechsel Literarische Kommunikation in Sowjetrußland

(1917-1930)

Akademie-Verlag Berlin

1987

ISBN 3-05-000427-4 ISSN 0232-315X Erschienen Im Akademie-Verlag Berlin, Leipziger Str. 3—4 DDR - 1086 Berlin, ©Akademie-Verlag Berlin 1987 Lizenznummer: 202 • 100/123/87 Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: IV/2/14 VEB Druckerei,,Gottfried Wilhelm Leibniz", 4450 Gräfenhainichen • 6727 Lektor: Elzbieta Mischke LSV: 8033 Bestellnummer: 7547476 (2150/91) 00850

Inhalt

Vorbemerkung Streitpunkt Leser. Majakowski und Lunatscharski Einführung: Übereinkunft und Widerspruch Erfahrungen aus der Vorrevolutionszeit Vom Nutzen der Plakat-Attacken Kunst kontra Kunstkonzept?

7 18 18 22 48 68

Der „neue" Leser Einführung: Das Leserproblem aus der Sicht der Zeit . . Auf der Suche nach dem Leser Der wirkliche Leser. Zeitbudget und Leseverhalten . . Vom Nutzen der Leserumfragen Trugbilder sind kein Ausweg aus den Sackgassen . . . Der Leser hat das Wort Das sibirische Modell des Adrian Toporow Der Anspruch auf Wahrhaftigkeit Über die Brauchbarkeit der neuen Bücher Das Experiment und die Folgen

81 81 84 84 90 96 102 102 109 118 124

Selbstbildnis des Lesers Einführung: Der Nutzen von Leserbriefen für einen Autor Michail Sostschenkos Nachdenken über den Leser . . . . Rollentausch. Briefe an einen Schriftsteller • Wessen Schriftsteller ist Michail Sostschenko?

132 132 133 144 154

Anmerkungen

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Personenregister

202

Vorbemerkung

Die faszinierende Wirkung der jungen sowjetischen Kunst hält an. Texte, Bilder und Plakate, druckgraphische Erfindungen und städtebauliche Entwürfe werden reproduziert, beschrieben, analysiert. Die Fülle wie Vielfalt der Erscheinungen korrigiert vereinfachte Vorstellungen von dieser geschichtlich einmaligen revolutionären Kunstperiode und zwingt gleichzeitig zu einer kritischen Aufarbeitung der Zeugnisse eines neuartigen Umgangs mit Kunst. Die kräftigen Vorstöße einiger Theoretiker, den kommunikativen Beziehungen und Bewegungen größere oder gar die entscheidende Bedeutung im Literaturprozeß beizumessen, provozierten den Versuch, einige Fragestellungen am geschichtlichen Material experimentell durchzuspielen. Der Gewinn war beträchtlich. Das historisch außergewöhnliche Material gab nicht nur neue Aufschlüsse, die einige der gegenwärtig vieldiskutierten Probleme klären helfen. Das angewandte Verfahren ermöglichte auch tiefere Einblicke in die Vorgänge, wie sich in der Wirklichkeit neuartige Wechselbeziehungen zwischen Kunst und Öffentlichkeit herausbildeten. Viele Konflikte, Widersprüche zeigten sich auf diese Weise von ihrer produktiven Seite und verdeutlichten die Ursachen einiger bislang schwer erklärbaren Phänomene des literarischen Lebens. Dies darzustellen war schließlich das eigentliche Anliegen der drei Studien. Der Blickpunktwechsel vom Autor und Werk zum Leser beschäftigt seit einiger Zeit auch die Literaturgeschichtsschreibung. Die Konsequenzen sind jedoch noch nicht abzusehen und vor allem in ihren Dimensionen nicht überschaubar. Die Betrachtungsweise von Literatur als Teil des gesellschaftlichen Entwicklungsprozesses hatte in den siebziger Jahren die Aufmerksamkeit der marxistischen Forscher erneut auf die funktionalen Zusammenhänge gelenkt. Die Mittelpunktstellung der historisch-genetischen Forschung wurde in Frage gestellt. Die damit verbundene Kritik an traditionellen Funk7

tionsvorstellungen machte deutlich, daß der Zugang zu einigen wichtigen Vermittlungsmechanismen zwischen Literatur und Gesellschaft versperrt war. So rückten spezifische Probleme der literarischen Kommunikation in den Vordergrund. Gleichzeitig führte die Auseinandersetzung mit dem „Dilemma der Rezeptionsästhetik" zu einer theoretischen Aufwertung des Lesers aus marxistischer Sicht. 1 In diesem Zusammenhang kann nicht näher erörtert werden, ob sich die Literaturgeschichtsschreibung heutzutage wirklich in der Zwangslage befindet, zwischen zwei unterschiedlichen Literaturbegriffen entscheiden zu müssen - „Literatur" als „eine Menge von Objekten (Werken) oder Merkmalen (sprachlich-literarischen oder künstlerisch-ästhetischen Qualitäten)", die von der Literaturgeschichte nur noch nachträglich zu ordnen seien, oder „Literatur" als „ein besonderes Beziehungsgefüge kommunikativer Tätigkeiten", das historisch und systematisch rekonstruiert werden müsse. 2 Derartige Zuspitzungen eines Problems sind in der Regel Ausdruck wie Folge realer Prozesse, die sich in der Gegenwart vollziehen und mit den erprobten Methoden nicht mehr beschreiben lassen. Klaus Städtke hat einige äußerst verknappt benannt. 3 - Die Literaturgeschichtsschreibung kann sich dieser Herausforderung der Theoretiker tatsächlich nicht entziehen. Aber wie? Der Literaturhistoriker empfindet mitunter eine gewisse Hilflosigkeit gegenüber den metatheoretischen Texten. Wenn beispielsweise zwischen der hermeneutischen und der empirischen Methode bei der Rezeption eines literarischen Textes unterschieden und dabei mit einem Leserbegriff gearbeitet wird, der zur Abgrenzung von der Hermeneutik nur noch den F o r s c h e r (sprich: Leser) als den entscheidenden Part in einem kommunikativen Akt (d. i. die Rolle des Subjekts mit seinem Wissen bei der Sinnsetzung und Sinndeutung) anerkennt, 4 dann nimmt es nicht wunder, daß sich der Literaturhistoriker solchen Angeboten verschließt. Derartige Verkürzungen des Systems der literarischen Kommunikation führen in die Sackgasse. Die kritischen Vorbehalte gegenüber solchen wenig praktikablen metahistorisch wie metasprachlich angelegten Diskursen über die Entwicklung der eigenen Disziplin entbinden jedoch den Literaturhistoriker nicht von der Aufgabe, sich der Arbeitsergebnisse der Theoretiker zu vergewissern. Allein schon der Umgang mit einigen Begriffen ist nicht wertfrei und beschreibt, nolens volens, die eigene Position in einem immensen Forschungsfeld. Die Begriffe Autor und

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Leser, mit denen in den drei Studien gearbeitet wird, sind abstrakte Begriffe und wiederum im Literaturprozeß historische Kategorien. Die Verfasserin folgt der von Manfred Naumann vorgeschlagenen Terminologie. 5 S o wird der Autor als Produzent von Texten aufgefaßt und der Leser in Abhängigkeit von der jeweiligen Funktion als Rezipient, Adressat oder ästhetische Komponente im Werk. Darüber hinaus wird in der zweiten Studie der Begriff „der n e u e L e s e r " gebraucht, ein Begriff, der aus dem Selbstverständnis der Zeit die neuen kommunikativen Beziehungen v o m Aspekt des Rezipientenwechsels beschreibt und zugleich historisch eingrenzt. E r mußte in Anbetracht der jüngsten theoretischen Erkenntnisse neu befragt und im Vergleich zu einigen früheren Arbeiten, u. a. zu den entsprechenden Überlegungen in dem Buch Das erste Jahrzehnt,6 problematisiert werden. Den am geschichtlichen Material untersuchten Autor-Leser-Beziehungen liegen folgende theoretischen Prämissen zugrunde. Der Autor als Produzent von Texten zieht die Erwartungshaltung der Leser ins Kalkül - davon haben Robert Jauß, Manfred Naumann, Rita Schober gesprochen, in A n k n ü p f u n g an den Gedanken von Werner K r a u s s : „Schreiben ist ein V o r g a n g mit einer A d r e s s e " 7 , ein sprachliches Kunstwerk ist „im Hinblick auf einen konkreten Empfänger geschrieben", „Dichtung bewegt sich in Richtung auf ein Vernehmen" 8 . D e m Text sei folglich eine verschiedengradige „Appellfunktion", ein „impliziter L e s e r " 9 schon eingeschrieben - Manfred Naumann bezeichnete diese Erkenntnis als „die fruchtbarste Erkenntnis der modernen Texttheorien" 1 0 . Wolfgang Iser schreibt die „Sinnkonstruktion eines Textes" nicht nur der unverkennbaren Aktivität des Lesers zu. Mit dem impliziten Leser meint er „den im T e x t vorgezeichneten Aktcharakter des L e s e n s " 1 1 und fesselt damit erneut die Aktivität des Lesers, worauf beispielsweise Rita Schober kritisch hingewiesen hat. 1 2 Formal betrachtet kam Majakowski aus der Sicht eines Autors, der über sein Verhältnis zum Leser viel nachgedacht hat, zu ähnlichen Feststellungen wie Iser: „ . . . in jedem Gedicht arbeiten hundert feinste rhythmische, metrische und auch sonstige Eigenheiten, die niemand außer dem Meister - und mit nichts als der bloßen Stimme wiedergeben k a n n . " 1 3 E r hatte die Erfahrung gemacht, daß eigentlich nur er als der Produzent diese Eigenheiten dem Rezipienten restlos erschließen könne, da sie in einem individuellen L e s e a k t nicht zu erfassen seien und deshalb als Medium der Stimme bedürften. Die

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Wortkunst habe sich, schlußfolgerte er, grundlegend verändertDer radikale Adressatenwechsel, der sein Dichten in der Nachrevolutionszeit bestimmte, führte nicht, wie er anfangs fest geglaubt hatte, gleichsam automatisch zur Identität von Adressat und Rezipient. Diese Einsicht kam ihm aber erst später - das Begreifen, er müsse das in seinen Versen Unverständliche verständlich machen und das Kunstneue in der Öffentlichkeit propagieren. So vollzog sich in seiner Kunstpraxis der Adressatenwechsel unter enormen Spannungen und Reibungen, deren Ursache häufig verkannt wird. Der Forschungsgegenstand der Arbeit erwies sich als außerordentlich produktiv. In der Sowjetunion wurden die Veränderungen der Autor-Leser-Beziehungen nach 1917 relativ bald wahrgenommen. Sie gingen in der Praxis sehr rasch vonstatten. Dennoch waren diese Beziehungen nicht gleich nur neu. Altes und Neues blieb noch lange Zeit bis zur Unkenntlichkeit ineinander verschränkt. Altes war nicht immer leicht als alt erkennbar und Neues nicht sofort als neu. Die E r forschung dieser Prozesse ist kompliziert, da das bisher erschlossene Material sie nur undifferenziert widerspiegelt und folglich die Gefahr von Vereinseitigungen groß ist. Die analytische Arbeit konnte sich u. a. auf keine wissenschaftlichen Ergebnisse der sowjetischen Leserforschung aus den zwanziger Jahren stützen. Diese Lücke wird auch künftig kaum zu schließen sein, weil zu jener Zeit keine exakten soziologischen Untersuchungen betrieben wurden. Ein Ziel der vorliegenden Studien sind Aussagen über Erscheinungen in der künstlerischen Produktion, die sich durch einen neuartigen U m g a n g mit K u n s t im Verlaufe der sozialistischen Kulturrevolution - insbesondere in ihrer Anfangsphase - erklären lassen. Daraus ergab sich zwangsläufig eine Ausweitung des Forschungsfeldes. A u s einem spezifischen Blickwinkel wurde historisches Material danach befragt, inwieweit es die Revolutionierung der Kunstprozesse im Sinne einer Politisierung der K u n s t bestätigt, wie sie Norbert Krenzlin definierte: nicht nur „Produktion von sozialistischer K u n s t . . ., sondern Politisierung des U m g a n g s mit K u n s t , und zwar aller K u n s t : der Gegenwart wie Vergangenheit, 'hoher' wie 'niederer'" 1 4 . E s muß Dieter Schlenstedt in der Diskussion u m Peter Weiss' Ästhetik des Widerstands zugestimmt werden (er hat als einziger auf diese Nullstelle im Konzept von Weiss hingewiesen): „das Bild der Möglichkeiten sozialistischer Kunst, sozialistischen Kunstumgangs und ästhetischer Aktivität" ist breiter zu fassen, als es Weiss vorschlägt. Erfahrungen aus der Zeit E n d e der zwanziger,

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Anfang der dreißiger Jahre seien einzubeziehen. Schlenstedt berief sich auf Versuche im Umkreis von Brecht und Eisler. 1 5 Erst recht wären die neuen Vorstöße in der Sowjetunion aus den zwanziger Jahren in diesem Zusammenhang zu nennen. Das Interesse an den sechs bis sieben Jahrzehnte zurückliegenden neuen Kunsterfahrungen ist nicht ein rein geschichtliches, d. h., es befriedigt nicht nur das Bedürfnis zu erfahren, wie sich alles zugetragen und verändert hat. Der Literaturhistoriker versucht, Erfahrungen für die Lösung aktueller Fragen nutzbar zu macher. Einige in der Gegenwart weitergehende — aber anders weitergehende - Prozesse lassen sich schwer analysieren, solange noch alles in Bewegung ist. Die aus der Vergangenheit gewonnenen Erkenntnisse erleichtern, die Bewegungsrichtung besser zu erkennen. Ähnlich verfuhren einige Forscher in den zwanziger Jahren, als sie sich der Brüche und Umbrüche in dem Autor-Leser-Gefüge bewußt wurden. So wandte sich Boris Eichenbaum der Puschkin-Zeit zu, um die Faktoren herauszufinden, die die neue soziale Lage des Schriftstellers bestimmten und seine literarische Produktion beeinflußten. Er zog diese Linie über Tschernyschewski bis zu Tolstoi. 1 6 Der Leistung Tolstois nahm sich zunächst erst einmal Viktor Schklowski an, der nicht müde wurde, in mehreren Arbeiten mit langen Tolstoi-Zitaten aufzuwarten, um mit ihrer Hilfe den Nachweis zu erbringen, was bereits Tolstoi entdeckt hatte: „Die Bedeutung jedes Wortkunstwerks beruht darauf, daß es nicht im direkten Sinn wie eine Predigt belehrt, sondern daß es den Menschen ein Neues, ihnen Unbekanntes und zum größten Teil denjenigen Vorstellungen Entgegengesetztes erschließt, über die sich das große Publikum für über jeden Zweifel erhaben glaubt." 1 7 Schklowski interessierte sich bei Tolstoi gerade für das Schreiben gegen den öffentlichen Geschmack, gegen ein Publikum, das bereits Puschkin zu seiner Zeit in der Polemik mit Faddej Bulgarin scharf angegriffen hatte. Juri Tynjanow benannte schließlich den historischen „Punkt", an dem durch eine neue Beziehung des Lesers zum Buch das qualitativ Neue in die Literatur kam, eine Erscheinung, der die Literaturkritik völlig hilflos gegenübergestanden habe: „Gorkis Literatur, die den neuen Leser hervorrief, entdeckte eine neue Art von Imperativ; mit jeder Sache beherrschte er den Leser, und diese Macht lenkte den Leser stets auf ein Tun. Der neue Leser, Gorkis Leser, war derjenige, der die Revolution gemacht und den Sozialismus geschaffen hat und ihn weiterhin schafft." 18 Diese nahezu in Vergessenheit geratene geniale 11

Formulierung aus dem Jahre 1938 war das Ergebnis reifer Erfahrungen, Ergebnis auch gründlichen Nachdenkens über die jüngsten Literaturprozesse, an denen der Wissenschaftler Tynjanow als Schriftsteller selber beteiligt war. Fast zeitgleich notierte Brecht: „Gorki natürlich erreicht mit seiner Erzählung (Die Mutter - N. T.), daß er plötzlich ungeheuer viele Menschen angeht. Damit aber schaffte er der Sache der Arbeiterschaft Gehör als der allgemeinsten, umfassendsten, als der Sache der gesamten Menschheit. Und so wie er an dem Erfolg dieser Sache beteiligt ist, ist auch an seinem Erfolg die russische Arbeiterschaft beteiligt." 19 Er untersuchte Gorkis „ungeheure Wirkung auf den Leser" und die „große Leistung", daß er selbst Schriftsteller in Leser verwandelte. Er, Brecht, betrachtete sich als „ein Beispiel für die Art seines Einflusses" 20 und meinte im konkreten Fall die Dramatisierung der Mutter. Solche zu Erkenntnissen geronnenen praktischen Erfahrungen von Wissenschaftlern und Schriftstellern haben natürlich die Wahl des Forschungsgegenstands ebenso wie die Arbeitsmethoden der vorliegenden Studien beeinflußt. Das gilt auch für Zeitgenossen, deren Entwicklung die Verfasserin mitunter mehrere Jahrzehnte lang unmittelbar verfolgen konnte. Persönliche Begegnungen haben die eigenen Beobachtungen bestätigt oder auch widerlegt, festigten Meinungen oder stellten sie in Frage. Und wenn vom Arbeitsgrund die Rede ist, auf dem die Idee zu diesem Buch gereift ist, so ist von den Zeitgenossen an erster Stelle Alexander Twardowski zu nennen, obwohl er mit keinem Wort im Text erwähnt wird. Twardowski hat keine Definition seines Leserbegriffs gegeben, aber die Lektüre beispielsweise seines Bunin-Essays beweist, mit welcher Souveränität er dieses Kriterium handhabte, um die starken wie die schwachen Seiten bei Bunin herauszuarbeiten und zu ergründen, wann und wie Bunin der „Kontakt zwischen Leser und Schriftsteller" gelungen ist, „die gemeinsame Teilhaberschaft an einem erregenden, nur ihnen beiden einsichtigen Geheimnis, die Begegnung beider über die Kunst" 2 !, und wann und warum er diesen Kontakt verlor. Twardowski hatte selbst ein aufgeschlossenes, dabei durchaus nicht unkritisches Verhältnis zu seinem realen Leser und hörte auf die Stimmen, die zu ihm drangen. Unter diesem Aspekt ist der Text Wie „Wassili Tjorkin" entstanden ist ein vielleicht einmaliges Zeugnis einer langjährigen „Ko-Autorschaft", der „Zusammenarbeit" von Dichter und Leser an einem Werk. Die dritte Studie, die Analyse von So12

stschenkos Buch Briefe an einen Schriftsteller, verdankt diesem Text einige Anregungen.22 Eine Äußerung von 1947, die die Verfasserin erst entdeckt hat, als die Studien bereits geschrieben waren, erhärtet die eigenen Forschungsergebnisse. Das Spannungsverhältnis zwischen den beiden Seiten der Autor-Leser-Beziehung - einerseits „die genaue Vorstellung von dem Leserkreis, für den ein Dichter schreibt, die innere Bestimmung seiner Dichtung: ich, der Autor, der Dichter, schreibe für jemanden, adressiere das Wort an jemanden", und andererseits „die objektive Existenz dieser Dichtung im Volk" - betrachtete Twardowski als ein Grundproblem des Schreibens schlechthin. Majakowski sei der erste gewesen, der so viel Kraft und Talent aufgebracht habe, „die Beziehung zwischen Dichter und Volk, Dichter und Leser" in der sozialistischen Gesellschaft neu zu bestimmen. „Im Werk Majakowskis", schlußfolgerte er, „war die Lösung dieses Themas von einer echten Tragik gekennzeichnet, die das Los des Dichters in einer so komplizierten und so schweren Zeit war. In diesem Sinne war Majakowski eine Figur, mit der meiner Ansicht nach die Beziehungen zwischen Dichter und Volk aufhörten, ein tragisches Problem zu sein."23 Es war kein Zufall, daß entgegen ursprünglichen Überlegungen Majakowskinicht nur zur Mittelpunktfigur der ersten Studie aufrückte, sondern daß er in gewisser Hinsicht zum Bezugspunkt des gesamten Buches wurde. Sein maximalistischer Anspruch, sofort ein „Hundertfünfzigmillionenvölkchen" mit Dichtung bedienen zu wollen, konfrontierte ihn mit ungeheuren Schwierigkeiten, die er nicht von Anfang an übersah. Der Mitarbeit an den sogenannten ROSTA-Fenstern verdankte er Kunsterfahrungen, die ihm halfen, sich einen Zugang zu seinem neuen Adressaten zu verschaffen. So betrachtet nahm diese Zeit eine Schlüsselstellung in seiner Entwicklung ein.24 Aber damit hatte er noch keine generelle Lösung der mit dem Adressatenwechsel verbundenen Probleme gefunden. Bis zu seinem tragischen Tod blieb er in die anhaltenden Kämpfe um die Eroberung des neuen Lesers verstrickt. Die Meinungsverschiedenheiten zwischen Majakowski und Lunatscharski wurden nicht hinter verschlossenen Türen ausgetragen. Sie wurden öffentlich verhandelt und bekamen dadurch den Anstrich von Widersprüchen zwischen revolutionärer Staatsmacht und revolutionärer Kunst. Doch das Problem hatte tiefere Wurzeln. Kunstanstrengungen und Kunstbedürfnisse gerieten mitunter in 13

Konflikt, selbst wenn sie auf das gleiche Ziel gerichtet waren. Wurde um den Leser (genauer: den Rezipienten) der neuen Bücher gestritten und dabei mit Argumenten wie „verständlich" oder „unverständlich" umgegangen, so war der Kern des Streits meistens eine unterschiedliche Auffassung von den Wirkungsmöglichkeiten der Kunst in der revolutionären Wirklichkeit. Lunatscharski vertrat ein gnoseologisch ausgerichtetes Kunstkonzept. Majakowski hingegen setzte sich für einen funktionalen Kunstbegriff ein und schlug radikale Lösungen zur Beseitigung des Unterschieds zwischen Kunst und Nicht-Kunst vor, die Lunatscharski nicht annahm, und wollte auf diesem Wege auch den Streitpunkt Leser schlichten. In der Tat ging es nicht nur um Literatur. Das wurde in der ersten Studie dargelegt. Nicht minder wichtig ist die Tatsache, daß der Streitpunkt Leser das Realitätsempfinden schärfte und zwangsläufig den gesamten literarischen Kommunikationskreis wieder ins Bewußtsein hob, sobald die Debatten in abstrakten Begriffsstreitereien auszuufern drohten. Die in jener Zeit diskutierte Frage, wer wen liest und wer wen wie liest, spitzte sich so enorm zu, weil in dem Ringen verschiedener Kunstkonzepte um die Vorherrschaft als Zeuge der Leser aufgerufen wurde. Dabei hätte zunächst geklärt werden müssen, wer denn dieser vielzitierte Leser in Wirklichkeit ist und ob er überhaupt eine Zeugenaussage machen kann. Infolge der konkreten Revolutionserfahrungen wurde jeder Begriff erst einmal ideologisch und sozial neu bestimmt. So gesehen war die pauschale Einteilung der Leser nach ideologischen und sozialen Merkmalen eine durchaus verständliche historische Erscheinung. Aber die Gefahr von Vereinseitigungen war grdß. In der Realität verfestigten sich die verschiedenen Ansichten relativ schnell zu normativen Größen, die gegeneinander ausgespielt wurden und Verwirrung stifteten, anstatt, wie erhofft, den Klärungsprozeß zu fördern. Im Titel aller drei Studien ist nicht zufällig vom Leser die Rede. Dennoch dreht sich die Problematik nicht ausschließlich um ihn. Er interessiert nur insoweit, als er zum Autor in einer bestimmten Beziehung steht. Der Buchtitel Adressatenwechsel verdeutlicht dieses Grundanliegen. In Anbetracht der sowjetischen Literaturentwicklung in den zwanziger Jahren wäre es wenig sinnvoll gewesen, eine Typologie der Adressaten oder der Rezipienten anzustreben.25 Weitaus wichtiger war es, die Ursachen zu erforschen, warum die sich gerade erst konstituierende literarische Öffentlichkeit dem Leserproblem eine derartige Mittelpunktstellung einräumte. 14

Bei der Analyse des Materials mußten zwei Aspekte berücksichtigt werden. Erstens waren die neuartigen Einsichten der Schriftsteller in den kommunikativen Charakter des Schreibens zu ermitteln. Dabei interessierten vor allem die Faktoren, die bei der Hervorbringung eines Werks auf die Herstellung einer kommunikativen Beziehung gerichtet sind. Die Vermutung, daß die Beschränkung auf die Werkstruktur26 nicht ausreicht, bestätigte u. a. die Analyse der Schreibweise Sostschenkos. Der spezielle Bezugspunkt für derartige neue Konzepte war jeweils der Leser als Adressat, wobei der Begriff Leser stets weiter zu fassen ist, denn in den zwanziger Jahren war der Leser auch Betrachter und auch Publikum (Hörer), wie die dargestellten Beispiele (ROSTA-Fenster, das Experiment des Adrian Toporow) beweisen. Zweitens waren neben den veränderten - verschiedengradigen Wirkungsabsichten der Autoren die andersgearteten Wirkungsmöglichkeiten der Werke genauer zu fassen. Da sich die Autor-LeserBeziehungen nicht ausschließlich aus dem Blickwinkel des Adressatenwechsels erkennen lassen, wurde der Rezipient in die Betrachtung einbezogen. Auf Grund der sich in jener Zeit häufenden stereotypen Äußerungen mußte trotz des dürftigen Materials der Versuch gewagt werden, zu ermitteln, wer denn eigentlich der unbekannte neue Leser war, der in der jungen Sowjetrepublik, deren Bevölkerung 1917 noch zu drei Vierteln aus Analphabeten und Halbalphabeten bestand, zum obersten Richter in Sachen Literatur erkoren worden war. Dieses Unterfangen erwies sich als kompliziert. In Ermangelung von Fakten konnten keine soziologischen Forschungsergebnisse herangezogen werden. Die Darstellung beschränkt sich daher auf einige in der Praxis neu erprobte Aneignungsweisen von Literatur. Obwohl auch hier nur ein recht lückenhaftes Material vorlag, hat sich das gewählte Verfahren letztlich doch als recht ergiebig erwiesen, insofern es aufschlußreiche Einblicke in die wenig bekannten literarischen Wirkungsmechanismen zu jener Zeit gab. Das betrifft vor allem die Publikationen 'Bauern über Schriftsteller von Adrian Toporow und Briefe an einen Schriftsteller von Michail Sostschenko. Die von Toporow aufgezeichneten Gespräche über Literatur sind das Ergebnis systematischer Klubarbeit des Lehrers in einer sibirischen Kommune. Der im Verlaufe von Jahren zur Gewohnheit werdende Umgang mit dem Buch entwickelte die literarische Urteilsfähigkeit der Bauern. Ihr neues historisches Selbstbewußtsein - sie zählten zu den ersten, die gleich nach der Oktoberrevolution den 15

Boden kollektiv bearbeiteten - rückte einige spezifische Fragestellungen in den Vordergrund. Gewohnt, die persönlichen Belange als gesellschaftliche Belange zu sehen, forderten sie von den Schriftstellern, daß ihre Werke gesellschaftlich nützlich sind. Sostschenkos Briefschreiber zeichnete in der Mehrzahl weder ein so ausgeprägtes politisches Bewußtsein noch ein Interesse an direkt auf die Literatur bezogenen Problemen aus. Angeregt durch die Lektüre von Erzählungen des Autors, schrieb er in der Regel über sich selbst, über die eigenen Lebensprobleme, in seltenen Fällen über das Gelesene. Aber das Gelesene löste diese Gedanken aus. Die Briefe sind in ihrer Gesamtheit ein Selbstbildnis des Lesers, genauer: des Lesers von Sostschenko. Demnach handelt es sich bei beiden Beispielen um zwei unterschiedliche Lektüreweisen, die zu untersuchen waren und schließlich zu unterschiedlichen Ergebnissen führten. Aus der Sicht der sich herausbildenden neuartigen Autor-Leser-Beziehungen können die einen und die anderen Rezipienten nicht als ein und dieselbe Erscheinung des literarischen Lebens in der jungen Sowjetrepublik betrachtet werden. Aber die einen wie die anderen haben die sich entwickelnden sozialistischen Literaturverhältnisse beeinflußt und nicht zuletzt die Vorstellungen der Schriftsteller von ihren Adressaten. Das Buch ist nach systematischen wie historischen Gesichtspunkten gegliedert. Die in den drei Studien behandelten unterschiedlichen theoretischen Probleme sind jeweils an bestimmte geschichtliche Phasen der Literatur- und Kunstentwicklung nach der Oktoberrevolution gebunden: die Zeit des Kriegskommunismus mit ihren zum Teil grandiosen Ideen von einer Revolutionierung des gesamten Kunstlebens, die Mitte der zwanziger Jahre vor sich gehende politische und ökonomische Stabilisierung der Arbeiter-und-BauernMacht und das damit einsetzende Bemühen, die realen Vorgänge in allen Kunstbereichen mit ihren veränderten Kommunikationsbedingungen zu erfassen27, und schließlich die Wende der zwanziger zu den dreißiger Jahren mit der Annahme des ersten Fünfjahrplans zur Beschleunigung der Industrialisierung des Landes und den revolutionären Prozessen bei der durchgängigen Kollektivierung der Landwirtschaft sowie die Auswirkungen dieser Entwicklung auf die gesamte Kultur. Die zeitgebundenen Erscheinungen werden in ihrer Bewegung und Veränderlichkeit gezeigt und nicht starr einer Phase zugeordnet. Auf diese Weise konnte die ungeheure Dynamik, die in den zwanziger Jahren ein hervorstechendes Merkmal der 16

gesamten Entwicklung war, auch in den Autor-Leser-Beziehungen nachgewiesen werden. So verloren beispielsweise viele der zwischen Majakowski und Lunatscharski noch Anfang der zwanziger Jahre verhandelten Fragen bereits Mitte des Jahrzehnts ihre Schärfe. Unter dem unmittelbaren Eindruck der Revolutionserfahrungen waren gegen Ende des Kriegskommunismus und an der Schwelle zur NÖP die utopischen Züge maximalistischer Kunstbestrebungen noch nicht so deutlich erkennbar. Die Revolutionierung von Hundertfünfzigmillionen zu Kunstverbrauchern schien in greifbare Nähe gerückt. Majakowski ging über die Arbeit an den ROSTA-Fenstern einen besonderen Weg, den Weg der Annäherung der Kunst an die rauhe Alltagswirklichkeit mit ihren Kämpfen und Widersprüchen. Um den Kern seiner Meinungsverschiedenheiten mit Lunatscharski, die trotz der Übereinstimmung in vielen politischen Grundfragen bestanden, freizulegen, wurde in der ersten Studie mit längeren historischen Rückblenden gearbeitet. Die Bindung an unterschiedliche Kunstkonzepte vor der Revolution, die ihre ästhetischen Anschauungen geprägt hatten, erklärt viele Zuspitzungen der diskutierten Probleme in den ersten Jahren nach der Oktoberrevolution. Erst auf dem Hintergrund dieser ersten Erfahrungen und Einsichten läßt sich die geschichtliche Bedeutung aller nachfolgenden Versuche ermessen, die Autor-Leser-Beziehungen neu zu regeln. Das Thema ist mit den drei Studien keineswegs erschöpfend behandelt worden. Es wurde lediglich ein eingegrenzter Raum ausgeschritten, um experimentell Möglichkeiten zu erkunden, die dem Literaturhistoriker neue Forschungswege eröffnen. Die erzielten Ergebnisse bestätigten die Richtigkeit des Weges. Gleichzeitig muß eingestanden werden, daß sich viele Erscheinungen des damaligen literarischen Lebens vom Aspekt des Adressatenwechsels nicht darstellen lassen. Das Schreiben als ein „Vorgang mit einer Adresse" muß besonders in den Fällen, da Autoren wie Prischwin den Verlust des Lesers beklagten oder wiederum andere wie Bulgakow die Hoffnung auf einen Leser sehr früh aufgegeben hatten, sehr behutsam analysiert werden, um voreilige Schlußfolgerungen zu vermeiden oder gar auf Grund solcher Symptome einseitige Urteile zu fällen. Dennoch, so meint die Verfasserin, war das entscheidende Ergebnis der geleisteten Forschungsarbeit nicht das Erkennen der Grenzen, sondern das Entdecken von Möglichkeiten, wie das Verständnis für vergangene wie gegenwärtige Literatur- und Kunsterscheinungen vertieft werden kann. 2 Thun; Autor, Leset

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Streitpunkt Leser. Majakowski und Lunatscharski

Einführung: Übereinkunft und Widerspruch Auf der öffentlichen Diskussion über Lunatscharskis Stücke Oliver Cromwell, Magier und Iwan im Paradies, die am 26. November 1920 im Moskauer Haus der Presse stattfand, sprach Majakowski mit dem Volkskommissar für Bildungswesen wie ein Schriftsteller mit einem anderen. Unmittelbarer Anlaß war die vernichtende Kritik von Piaton Kershenzew in der Prawda, die Behauptung, sobald sich Lunatscharski als Dramatiker äußere, habe er ein falsches Bewußtsein. Deshalb stellte der Autor einleitend die Frage: „. . . gibt es in der Art meiner Stücke tatsächlich etwas, was ein schwerer Fehler ist, der zu verurteilen wäre, oder ist dies die Schuld von Unverständnis anstelle von Unverständlichkeit. . Z'1 Der Polemiker Majakowski erkannte sofort die Parallelität eines ihm nur allzu vertrauten Vorgangs. Die so oft kritisierten „schlauen Futuristen", flocht er ein, pflegten in solchen Fällen auch zu antworten: „. . . wir bitten Sie, ist das nicht ein Zeichen Ihres eigenen Unverständnisses, wenn Ihnen bei uns etwas unverständlich erscheint?"2 Einer der Hauptvorwürfe, den die Futuristen ständig zu hören bekamen, nicht zuletzt von Lunatscharski selbst, war wirklich das Argument, ihre Kunst sei den Massen unverständlich. Majakowski sah jetzt nicht ohne Befriedigung den Stückeschreiber Lunatscharski in die gleiche Lage gedrängt und hielt ihm vor, seine Gegenargumentation beweise gar nichts. Eine Lesung vor soundso viel Leuten, die mit ihrer Unterschrift die Verständlichkeit eines literarischen Werkes bestätigen, schaffe das Problem nicht aus der Welt. Auf diese Weise könne der Streit über den literarischen Wert und über die Wirkung eines Kunstwerkes nicht geschlichtet werden. (So redete Majakowski 1920; später, angesichts massiver Kritik an den eigenen Dichtungen seitens der RAPP, scheute er nicht die gleichen Mittel, um seinen Kontrahenten Beweisstücke vorzulegen, daß er von den Zuhörern trotz aller entgegengesetzten Behauptungen verstanden werde.) 18

Bemerkenswert an der Kontroverse war das Eingeständnis, daß das Kriterium „verständlich" oder „unverständlich" offenbar untauglich sei, da es nichts über das Werk selbst aussage. Die Ursachen dafür, daß ein Werk mißverstanden wird, könnten sowohl im Text liegen, u. a. am Schwierigkeitsgrad der semantischen Bezüge, als auch ausschließlich beim Leser, bei seiner Aufnahmefähigkeit (herrschender literarischer Standard, Bildung, Weltanschauung). Majakowski sah in dieser Frage keinen prinzipiellen Unterschied zwischen den Erfahrungen Lunatscharskis und seinen eigenen. Er betrachtete den Sachverhalt als etwas ganz und gar Natürliches: „Einige Kommunisten haben unter sich über Dichtung gestritten."3 Aber er behauptete gleichzeitig, Lunatscharski vertrete als Autor Kunstauffassungen, die er als „Macht" nicht gelten lasse. In diesem Punkt war Majakowski nicht nur ungerecht. Er war einfach ungenau, wenn er Lunatscharskis Schreibweise einem gemäßigten Futurismus zuordnete. Dies war ein zu jener Zeit verbreitetes Argument von Ossip Brik und von Alexej Krutschonych vor allem, um Divergenzen in der Kunstpraxis einzuebnen und die eigenen Bemühungen als die einzig revolutionäre Kunstrichtung zu deklarieren, die sich in der Zukunft durchsetzen werde. Die Auseinandersetzung, die sich in der Frage „Unverständlichkeit" oder „Unverständnis" verschärfte, berührte nach Majakowskis Auffassung ein kunstpragmatisches Problem. Die Stücke Lunatscharskis wird er vielleicht sogar nur oberflächlich gekannt haben. Nicht ihnen galt sein Interesse, trotz der herausfordernden Bemerkung zum Stück Iwan im Paradies im Offenen Brief an A. W. Lunatscharski, der möglicherweise nicht einmal eine eigene Entdeckung zugrunde lag, sondern eher die Spitzfindigkeit der Freunde: „. . . jene Repliken aus der Hölle verraten ja die transrationale Sprache eines Alexej Krutschonych."4 Majakowski verhandelte nicht ausschließlich eigene Produktionsfragen, Fragen der poetischen Sprache wie des besonderen Gegenstands der neuen Dichtkunst, obwohl sie ihn zu diesem Zeitpunkt stark beunruhigten. Er kämpfte um den Weg, für den er sich entschieden hatte und den er kompromißlos als den einzig richtigen Weg der neuen revolutionären Kunst betrachtete. Der Offene Brief, veröffentlicht am 30. November, d. h. vier Tage nach dem beschriebenen Disput und acht Tage nach dem Disput über Meyerholds Inszenierung der Morgenröte von Verhaeren, macht die Zusammenhänge deutlich. Die Formulierungen sind durchdacht. Die Argumente stützen sich ebenso wie in Lunatscharskis Erwiderung 2*

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An meine Opponenten auf die eigene, bereits der Geschichte überant wortete Erfahrung aus der Zeit vor dem ersten Weltkrieg. Lunatscharski führte die kontroversen Auffassungen, wie er sie sah, auf „die einfache Tatsache" zurück, „daß der 'Linksdrall' in der Kunst hervorgegangen ist aus der ungesunden Atmosphäre auf den Boulevards des bürgerlichen Paris und in den Kaffeehäusern des bürgerlichen München, daß dieser Futurismus mit der Propagierung einer inhaltslosen Kunst und des reinen Formalismus, mit seinem Grimassenschneiden und der Mißachtung der Künstler untereinander — und dies bei einer erstaunlichen Monotonie der künstlerischen Verfahren - ein Produkt der Zersetzung der bürger liehen Kultur ist" 5 . Er spießte die „futuristische Hülle" Majakowskis auf, meinte, aus dem „gelben Hemd" müsse er doch nun endgültig herausgewachsen sein, und sprach den von Majakowski zum Beweis der Lebensfähigkeit der „Linken" angeführten „erdrückenden" Fakten6 die Beweiskraft ab. Das auf Schockwirkung bedachte öffentliche Auftreten und analog dazu die „gekünstelten" Rhythmen wie das „Jonglieren mit Reimen" waren in Lunatschar skis Augen Erscheinungen des bürgerlichen Kunstbetriebs, die er während seines Pariser Exils von 1911 bis 1915 zur Genüge kennengelernt hatte und die er nun unter den veränderten politischen und sozialen Verhältnissen für unangebracht hielt. Aus diesem Grunde wies er auch Majakowskis Entgegnung7, die Futuristen seien nur deshalb unverständlich, weil man sie ungenügend propagiere, schroff zurück: „Nach dem Brief des ZK ist der Futurismus etwas angeschlagen, und ich möchte ihn nicht vollends zu Boden schlagen, dennoch muß die Wahrheit gesagt werden. Wir werden im Proletariat diese Verfallsprodukte der bürgerlichen Boheme natürlich nicht propagieren. Das Proletariat verlangt eine inhaltsreiche Kunst."8 Diese sich um 1920, eigentlich schon seit 1918 in aller Öffentlichkeit abspielende Auseinandersetzung zwischen Lunatscharski und Majakowski9 - sie wurde von beiden in einem scharfen, nicht selten ironisch-sarkastischen Ton geführt - zeigt die komplizierten widerspruchsvollen Kunstprozesse nach der Oktoberrevolution aus der Sicht von Leuten, die politisch auf der gleichen Seite standen, aber das in der Kunst erstrebte Ziel mit unterschiedlichen Mitteln erreichen wollten. Nicht zufällig beteuerten sich die Kontrahenten immer wieder gegenseitig in den Atempausen zwischen den scharfen Repliken, daß man doch eigentlich das Gleiche wolle und in seinem Widersacher einen Bundesgenossen zur Verwirklichung des eigenen 20

Programms sehe. Von den verschiedenen Blickwinkeln, aus denen sich die Auseinandersetzung betrachten läßt, ist in unserem Zusammenhang zunächst folgender Aspekt von besonderer Bedeutung: Lunatscharski wie Majakowski kämpften, genau betrachtet, um die größtmögliche Wirkung der Kunst auf die revolutionären Massen. Aber die Fronten verhärteten sich gerade in diesem Punkt, weil nicht nur die Vorstellungen von der „neuen" Kunst auseinandergingen, sondern auch davon, wie Kunst auf die Massen wirkt. Lunatscharski glaubte, Kunst müsse auf die Massen vor allem emotional wirken, sie „anstecken", während Majakowski Wirkung vorrangig als einen rationalen Vorgang auffaßte - das künstlerische Wort müsse Gedanken in Bewegung setzen und auf diese Weise zu neuen Einsichten führen. Zwar lenkten Vertreter der künstlerischen Avantgarde wie Majakowski und Meyerhold ein und ließen keine Gelegenheit ungenützt, um zu verkünden, „auch Lunatscharski" sei mit ihnen in ihrem Kampf um eine bisher nie dagewesene Verbindung zwischen Kunst und Volksmassen. Lunatscharski nahm jedoch ihre Experimente nicht an. E r unterband sie zwar nicht kraft seiner Machtbefugnisse, wie die Drucklegung einiger futuristischer Dichtungen in den Revolutionsjahren bewies. Aber unter Berufung auf die Kunstbedürfnisse des siegreichen Proletariats bezeichnete er sie in den scharfen Debatten häufig als bürgerliche Kunsterscheinungen. Lunatscharski verteidigte das sozialistische Bildungsziel der kämpfenden Arbeiterklasse, dessen grandiose Verwirklichung mit staatlichen Mitteln für ihn nach der Oktoberrevolution Realität geworden war, und damit ein Kunstideal, das aus der langen Geschichte der Künste all das in sich aufnimmt, was die revolutionären Massen in ihrem Kampf stärkt und bereichert. Majakowski hingegen verfocht ein Kunstprogramm, das anfangs aus der radikalen Negation der bürgerlichen Literatur- und Kunstverhältnisse entstanden war und das nun nach 1917, nachdem das bisherige literarische System Autor - Leser - Kritik nicht mehr funktionierte, die Aufhebung der traditionellen aufklärerischen Zweiteilung zwischen Autor und Leser zum Ziel hatte. Die konträre Haltung im Streit um die revolutionäre Kunst erklärt sich aus ihren unterschiedlichen ästhetischen Konzepten. Lunatscharski, auch Schriftsteller, aber doch vorwiegend Kulturpolitiker und -theoretiker, vertrat eine vorwiegend gnoseologisch ausgerichtete Ästhetik; er befragte ein Kunstwerk zuerst nach seinem Inhalt, nach dem realistischen Gehalt der künstlerischen Abbildung von Wirklichkeit. Der Dichter Majakowski 21

sah sich durch die Revolution gerade2u gezwungen, die produktionsästhetischen Fragen neu zu stellen; er entwickelte zu diesem Zweck eine funktionale Kunstauffassung, die den kommunikativen Aspekt an die erste Stelle rückte. Der theoretisch vielbeschriebene „Widerspruch zwischen einem an der 'Funktion' und einem an der 'Gestaltung' orientierten Begriff von Literatur" 10 zeichnete sich folglich bereits in den sowjetischen Kunstdebatten der frühen zwanziger Jahre ab. Die Brisanz der Auseinandersetzung ergab sich aus dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit, der von beiden Positionen aus erhoben wurde. Die gegeneinander ins Feld geführten Argumente rutschten dabei meist auf die politisch-ideologische Ebene und arteten nicht selten in gegenseitigen Verdächtigungen aus, unbrauchbar gewordene, durch den Oktober überholte Ansichten und Konzepte ins revolutionäre Heute transportieren zu wollen. Aus diesem Grunde ist zunächst der rationale Kern solcher Vorwürfe zu ermitteln.

Erfahrungen aus der Vorrevolutions^eit I. „Alles beginnt also mit der Malerei. Die Maler scheinen der am weitesten vorgeschobene Flügel des russischen Kunstlebens zu sein . . . a i l - eine Ausnahme sei lediglich der junge mathematikbegeisterte Welemir Chlebnikow, der seit 1908 seine Texte den Zeitschriftenredaktionen anbot, allerdings mit wenig Erfolg. Diese Einschätzung der Formierung des russischen Futurismus um 1911 wird von den Forschern einhellig geteilt, unabhängig davon, daß der russische Futurismus selbst, wie Majakowski in der Polemik mit Lunatscharski präzisierte, keine eigene Malrichtung hervorgebracht hat. Die Impulse, die von Künstlern wie Michail Larionow, Natalja Gontscharowa, Alexandra Exter, Wassili Kandinsky oder Kasimir Malewitsch ausgingen, hinterließen kräftige Spuren in dem Poetenkreis, den Majakowskis Stimmkraft schon nach kurzer Zeit übertönte. „Es lassen sich in der Kunstgeschichte wohl kaum Zeiten finden", wies Nikolai Chardshijew bereits 1940 nach, „da Dichtung und Malerei so eng miteinander verkehrten wie in der Entstehungsphase des Kubofuturismus in Rußland." 12 Majakowski entdeckte anfangs seine Liebe zur Malerei. Verse, so glaubte er, gelingen ihm nicht. 1911, gerade achtzehn Jahre alt, wurde er in die Figurenklasse der Moskauer Lehranstalt für Malerei, 22

Bildhauerei und Architektur aufgenommen. Hier kam es zu der folgenreichen Begegnung mit David Burljuk, der ihn als erster einen Dichter nannte. Burljuk war gleich ihm ein neueingeschriebener Student, obzwar ein bereits profilierter Maler, dessen Bilder schon auf mehreren Ausstellungen junger Künstler vertreten waren; wegen ihrer öffentlichen Auftritte und Skandale wurden beide zusammen am 21. Februar 1914 aus der Lehranstalt ausgeschlossen. Majakowski verdankte den Lehrjahren außer soliden kunstpraktischen wie -theoretischen Kenntnissen vor allem das Gespür für die sich in der Kunstpraxis abspielenden Kämpfe und die Erfahrung, wie selbst in der renommierten Lehranstalt mit Talenten nicht immer sehr fein umgegangen wurde. „Fand erstaunlich", schrieb er später in seinen autobiographischen Notizen. „Nachahmer werden verhätschelt, selbständige Naturen hinausgeekelt. Larionow. Maschkow. Mit revolutionärem Instinkt trat ich ein für die Hinausgeekelten."13 Die ständige Reibung zwischen der vermittelten Lehrmeinung und den Ansichten der Freunde schärfte die eigene Urteilskraft und trieb ihn in eine Antihaltung zur offiziellen Kunstszene. Das waren nicht nur Reibereien an der Oberfläche, obwohl die Jungen ihr Kontra recht lautstark und nicht selten in clownesker Aufmachung kostümiert, angepinselte Gesichter - zur Geltung brachten. Die Provokation war Ausdruck eines zum Programm erhobenen radikalen Bruchs mit aller bisherigen Kunst und mit dem herrschenden bürgerlichen Kunstbetrieb schlechthin. Majakowski setzte anfangs seine Malstudien systematisch fort,14 auch nachdem er bereits mit Dichten begonnen hatte. (Die bereits erwähnte Gontscharowa erklärte nach seinem Ausschluß aus der Lehranstalt, sie habe sich schon seit längerer Zeit gewundert, daß Majakowski noch immer in der Figurenklasse sitze und den alten Plunder male.) Die Vereinigung des malerischen und des dichterischen Prinzips im Kubofuturismus entsprach seiner künstlerischen Sehweise. Ilja Ehrenburg schreibt in seinen Memoiren, Majakowski habe die Welt eher gesehen als gehört.15 Dies ist durchaus kein Widerspruch zur Selbstanalyse in Wie macht manVerse, zu der Feststellung, für ihn sei das Finden eines bestimmten Tonstroms stets das Wichtigste bei der Entstehung eines Gedichtes. Auch Viktor Schklowski hat von der Wechselwirkung der beiden Künste Malerei und Dichtung beim jungen Majakowski gesprochen, von der „Verschiebung der Proportionen, Sehgewohnheiten und eben des Zeitempfindens"16. Diese Eigenart habe ihn mit einigen seiner 23

Zeitgenossen, so mit Filonow und Chlebnikow, sehr eng verbunden. Mit „Verschiebung der Proportionen" meinte Schklowski offensichtlich die perspektivischen Deformationen als Folge der Abweichungen vom System der linearen Perspektive, die in Majakowskis Malstudien aus jener Zeit zu beobachten sind und zweifellos seine poetische Sehweise beeinflußt haben. Das „sichtbare" Wort,17 wie es Majakowski im Poem Mit aller Stimmkraft bezeichnet hat, entsprach seiner künstlerischen Veranlagung, die Umwelt mit den Augen eines Malers wahrzunehmen. Diese Besonderheit seines poetischen Stils, die Chardshijew und Duwakin überzeugend wissenschaftlich nachgewiesen haben, beschränkte sich nicht auf die frühe kubofuturistische Periode. Sie blieb ein hervorstechendes Merkmal seiner poetischen Bilder. Das „sichtbare" (eigentlich materialisierte) Wort nahm in seiner Poetik einen hohen Stellenwert ein, vor allem in seinem Bemühen seit 1918, die Wirkung seiner Dichtung auf das „Hundertfünfzigmillionenvölkchen" maximal zu steigern. In der Frühphase schälte sich noch eine weitere Besonderheit des jungen Dichters heraus - ein konzeptiver Technikbezug. Theater, Kinematograph und Photokunst traten in sein Blickfeld. Bereits in den ersten publizistischen Texten von 1913, also ganz am Anfang seiner selbständigen ästhetischen Überlegungen, forderte er nicht nur eine klare Abgrenzung der bildenden Kunst von den neuentdeckten photographischen und filmischen Mitteln. Er machte sich auch Gedanken über die Konsequenzen, die die Entdeckung dieser Mittel für die Kunst habe. Die vernichtenden Urteile, die der zwanzigbis einundzwanzigjährige Künstler über so anerkannte Maler wie Wereschtschagin und Korowin fällte, waren auch ein Ergebnis dieser neuen Überlegungen, wie die Kunst angesichts der technischen Neuerungen ihr Instrumentarium überprüfen müsse. Trotz der Vorliebe für Skandale ließ sich Majakowski nicht einfach von dem Motiv des Kampfes um jeden Preis leiten, als er den zeitgenössischen Realisten die Fähigkeit absprach, das Zeitempfinden des modernen Menschen in der bildenden Kunst umsetzen zu können. Er bildete sich in diesen Jahren eine eigene Meinung über aktuelle Kunstfragen und bekannte sich zu einigen Grundprinzipien, die die eigenständige Entwicklung seiner Poetik bestimmten. Und obwohl er ständig an sich weiter arbeitete und zu Korrekturen früher geäußerter Ansichten durchaus bereit war, knüpfte er ein knappes Jahrzehnt später in der Polemik mit Lunatscharski an einige Gedanken aus dieser frühen Zeit wieder an. 24

Es ist anzunehmen, daß Majakowskis Verhältnis zu Konstantin Korowin um 1911 durch die Vorgänge in der Lehranstalt persönlich belastet war. Nach Serows Tod hatte Korowin die Leitung der Figurenklasse übernommen, in der Majakowski studierte. Bereits die Ernennung hatte Proteste ausgelöst, denn Korowin war - auch nach der Meinung Majakowskis - der Veranlagung nach Bühnenbildner und kein Porträtist. Doch Majakowski war nicht nur skeptisch; er lehnte Korowin ab: „Der Mann hat vor vielen Jahren gewisse Farben aus sich herausgepreßt, eine Skizze geschaffen, die allen gefallen hat, und seither malt er alles auf ein und dieselbe Weise, variiert seine Bilder, ohne das Leben zu studieren. Immer nur Skizzen, Skizzen und Skizzen . . ." 18 Noch unerbittlicher urteilte er über das einzige Porträt, das sein „Lehrer" je gemalt habe, 'Porträt von F. I. Scbaljapin, das heute in der Tretjakow-Galerie hängt: „.. . an einen faustgroßen Kopf sind Beine angesetzt, riesenhafte, wie bei Puschkins Denkmal - sogar die unbedarften Schüler haben gelacht."19 Majakowski kritisierte auch das Ausbildungssystem, das allein vom Geschmack der Ausbilder geprägt werde. Aber diese Kritik stand nicht im Mittelpunkt. Majakowski stritt im Namen einer neuen Kunstauffassung. Und in diesem Streit betrachtete er Korowin als seinen Gegner. Sechs Jahre danach sprach er wiederum recht geringschätzig von Korowin, als er ironisch zugespitzt die Theaterarbeit der Futuristen gegenüber Lunatscharski verteidigte: „Und untersagen Sie schließlich allen außer Herrn Korowin das Malen von Bühnendekorationen. Sind doch alle Bühnenbildner - ob Jakulow, Kusnezow, Kontschalowski, Lentulow, Maljutin oder Fedotow - auf die eine oder andere Weise 'Futuristen'. Dann konzentrieren Sie eben alle Kräfte darauf, daß die naturgemäßen Einflüsse der Zeit von Herrn Korowin ferngehalten werden. Verhüte Gott, daß dieser Dekorateur das Zeitliche segnet, denn dann bleibt von den Rechtsgerichteten keiner mehr übrig." 20 Majakowski war in seinem Urteil unerbittlich. 1914 betrachtete er Korowin als einen konservativen Künstler, 1920 als ein Hindernis auf dem Wege zur Revolutionierung der Künste. Korowin und die Revolution hielt er für unvereinbar. An diesem Vorgang interessieren in unserem Zusammenhang die konstanten wie die variablen Größen in Majakowskis Koordinatensystem künstlerischer Wertungen. Unveränderlich hielt er an dem Grundsatz fest: Kunst hat vom Leben auszugehen, nicht von Kunst, nicht von Bildern. Jedweder Kunst, die nicht in Übereinstimmung 25

mit der Zeit entsteht, sprach er das Existenzrecht ab. Und ferner: Kunst ist keine Kopie der Natur. Kunsterscheinungen, die die Wirklichkeit einfach verdoppeln, widersprechen dem Wesen der Kunst. So fand bereits der junge Dichter zur Grundregel seines künstlerischen Selbstverstehens, die Pasternak später im Schutzbrief mit dem eigenen Kunstverständnis identifiziert hat: „.. . Dichtkunst verläuft in der Geschichte und im Zusammenwirken mit dem wirklichen Leben."21 Die künstlerische Umsetzung dieser Erkenntnis wandelte sich. Sie durchlief verschiedene Phasen, eben nach der dialektischen Regel jener geschichtlichen Evolution, die schon der junge Majakowski, auf Grund seiner Studien marxistischer Literatur, auf der Tournee der Kubofuturisten 1913/1914 in seinen Vorträgen über Kunst verkündete, ohne allerdings die Konsequenz solcher Erklärungen bereits voll zu begreifen.22 Unausgereifte Gedanken oder aber Zugeständnisse an das Künstlermilieu, in dem er sich bewegte, waren häufig die Ursache, warum die produktiven Ansätze seiner Überlegungen in rhetorischen Erklärungen steckenblieben. Zur Zeit der ersten poetischen Versuche faszinierten Majakowski die neuen Möglichkeiten einer unmittelbaren Verbindung von poetischem Text, Illustration und graphischer Buchgestaltung. Die meist im lithographischen Verfahren hergestellten sogenannten Simultanbücher werden als eine typisch russische Erscheinung jener Jahre betrachtet.23 (Sonia Delaunays originelle buchgestalterische Idee bei der Drucklegung der Dichtung Die Prosa des Transsibirienexpreß und der kleinen Johanna in Frankreich von Blaise Cendrars, erschienen 1913, gilt als das erste Exemplar dieser Art in der westlichen Kunstwelt.24) Nach dem Muster mittelalterlicher Bücher bildeten die Zeichnungen, der häufig mit der Hand geschriebene Text und die graphische Gestaltung einer Buchseite eine Einheit. Der Inhalt einer Buchseite sollte mit einem Blick sofort zu erfassen sein. Der Intention nach handelte es sich um eine Erweiterung der zur Gewohnheit gewordenen Lektüreweise mit bildkünstlerischen Mitteln. Die Maler erhielten ihrerseits neue Anregungen, durch die Verbindung von Bild und Text bzw. Zahlen die eigenen Experimente im Bruch mit den Gestaltungsmitteln der Realisten weiter voranzutreiben.25 Der radikale Schritt, Worte werden Bilder26, wurde von den russischen Kubofuturisten nicht vollzogen. Der Akzent lag nicht auf dem Überschreiten des Kommunikationssystems der Dichtkunst, sondern in erster Linie auf der Entwicklung synkretistischer Verfah26

ren. Die bildkünstlerischen Mittel waren in diesem Sinne Elemente des Textes und eben nicht ein besonderes -neues - Drittes, obwohl es später auch Versuche in dieser Richtung, beispielsweise von El Lissitzky, gegeben hat. Aber sie verfolgten bereits im Rahmen des Konstruktivismus andere Kunstziele. Viktor Schklowski erklärte die mehrfach umbrochene Verszeile bei Majakowski, den sogenannten Treppenvers, mit den sehr schmalen Zeitungsspalten nach der Revolution, so daß fast jeder Vers am Ende umbrochen werden mußte und das Schriftbild eines Gedichtes arg verschandelt wurde. Eine ähnliche Erklärung gab Wieland Herzfelde in seinen Erinnerungen.27 Doch das ist eine Vereinfachung, selbst wenn auch solche Erwägungen eine Rolle gespielt haben mögen. Die Impulse kamen von den beschriebenen synkretistischen Konstruktionsprinzipien in der Malerei und Dichtung der Kubofuturisten. Dabei veränderten sich die Grundmuster in einer ganz bestimmten Richtung. Die Anfänge sind bereits in Majakowskis erstem Gedichtband Ich1 (1913) zu erkennen. Die graphische Gestaltung besorgten Lew Shegin und Wassili Tschekrygin zusammen mit dem Autor. Im handgeschriebenen Text sind einzelne Wörter oder Silben, mitunter mitten in einem Vers, herausgestellt. Dadurch ergibt sich ein unruhiges, asymmetrisches Schriftbild, adäquat zur Maltechnik der Kubofuturisten. Es sollte der Lektüre Dynamik verleihen. (Der Versuch, mit malkünstlerischen Mitteln Bewegung in zeitlicher Abfolge wiederzugeben, lag vielen Experimenten jener Zeit zugrunde; Lunatscharski stritt die Möglichkeit einer solchen ästhetischen Wirkung eines Bildes generell ab.) Außerdem sollte die Intimität der Rezeption eines Gedichts bzw. eines Buches, die doch gewöhnlich zu Hause erfolgt, gesprengt werden. Die Ausgabe der Tragödie lVladimir Majakowski von 1914 mit Zeichnungen von Wladimir und David Burljuk zeigt bereits neue Tendenzen an. Der Zeilenbruch ist noch eindeutig technisch bedingt, aber die graphische Textgestaltung verlagert den Akzent noch stärker auf die Semantik einzelner Wörter oder Verse. Sie lenkt durch eine andere Schriftart, meist Fettdruck, oder den wesentlich größeren Schriftgrad eines einzigen Buchstaben mitten im Wort oder am Versende sofort den Blick des Lesers auf ein einzelnes Wort und erhöht dadurch seine Zeichen- bzw. Signalfunktion im Text. Dies sind - graphisch umgesetzt - erste Anzeichen der für Majakowskis Dichtungen typischen Sprechintonation, begünstigt durch 27

den Umstand, daß es sich um ein Stück handelt, das bereits vor der Drucklegung, Ende des Jahres 1913, auf der Bühne des Petersburger Luna-Parks zwei Aufführungen erlebt hatte. Die Zeichnungen betonen die Metaphorik der handelnden Personen: Ein Mensch ohne das eine Ohr, Ein Mensch ohne Kopf, Ein Mensch mit zwei Küssen usw. und beschränken sich auf einige grobe Konturen, unzusammenhängende Striche - hier ein Mund, dort ein nicht zu Ende gezeichneter Kopf, ein Ohr. Das Buch, auch das Simultanbuch, das nur eine geringe Auflage hatte und folglich keine Breitenwirkung haben konnte, befriedigte Majakowski auf die Dauer nicht. Später brachte er unter weitaus günstigeren Bedingungen noch einige Text-Bild-Bände heraus, allerdings ohne entsprechende Experimente mit dem Schriftbild. Keine Simultanbücher. Einer der interessantesten Versuche dieser Jahre war 1923 die Erstausgabe des Poems Das bewußte Thema mit Photomontagen von Alexander Rodtschenko, unter Benutzung vieler Photos von Lilja Brik und dem Dichter.28 In jener frühen Zeit fanden sich schließlich auch keine Verleger mehr, die die Bücher der Kubofuturisten drucken wollten. Es kam zu einem regelrechten Boykott. Aber der Hauptgrund, über das gedruckte Wort hinaus nach neuen Formen des Kontaktes mit dem Leser zu suchen, war doch ein anderer. Krutschonych hat ihn in seinen Erinnerungen genannt: „Unsere Bücher verkauften sich im Handumdrehen. Aber der Umgang mit Nur-Lesern war uns zu wenig. Er schien uns zu kompliziert und die Distanz zu groß. Der streitbare Charakter unseres Auftretens brauchte einen direkten Zugang zu allem Jungen und Frischen, das nicht in der muffigen Beamtenluft der damaligen Großstädte erstickt wurde."29 Der Dichter stellte sich seinem Leser in persona. Das Zwiegespräch zwischen Podium und Publikum zwang ihn, sein Instrumentarium zu überprüfen. Ein Gedicht wie Da habt ihrl war bereits auf eine bestimmte Zuhörerschaft zugeschnitten. Majakowski schrieb es für die Eröffnung des Moskauer Literaturkabaretts „Rosarote Laterne" Mitte Oktober 1913. Die eigentliche Wende setzte jedoch erst kurz danach ein. Vom Dezember 1913 bis zum März 1914 unternahm Majakowski zusammen mit David Burljuk und Wassili Kamenski eine Vortragsreise durch neunzehn russische Städte. Das Programm - Vorträge über den russischen Futurismus, Versrezitationen und Lichtbilder moderner russischer Malerei - diente propagandistischen Zwecken. Der Anspruch auf die Führungsrolle in der zeitgenössischen Kunst28

bewegung wurde lautstark kundgetan. Majakowski entpuppte sich als ein glänzender Redner und Rezitator. Dies haben viele Zeitgenossen dokumentiert und dabei nicht verschwiegen, daß sie von dem marktschreierischen und aufsässigen Gebaren aller drei Künstler schockiert waren. Für Majakowski war dies eine Zeit wichtiger Erfahrungen. Er sah seine Zuhörerschaft mit neuen Augen. Die häufig sehr unterschiedlichen Reaktionen im Publikum schärften sein Empfinden für den sozialen Charakter nicht von Kunst schlechthin, sondern vor allem von der Wirkung der Kunst auf den Menschen. Über die soziale Zusammensetzung des Publikums in den verschiedenen Städten gibt es keine genauen Angaben. Es kamen vornehmlich Leute aus den Mittelschichten, aus den Kreisen der örtlichen Intelligenz, Leute, die in der Kunstszene den Ton angaben, aber die kubofuturistischen Kunstbestrebungen in der Regel ablehnten. Das mit den Künstlern sympathisierende junge Volk „auf der Galerie", das in Berichten der Zeitgenossen immer wieder erwähnt wird, begeisterte sich ganz einfach an der öffentlich demonstrierten Auflehnung gegen festgefügte Hierarchien und an dem respektlosen Umgang mit anerkannten Kunstauffassungen und -großen. Pasternak lernte Majakowski etwa zu dieser Zeit kennen, in der üblichen zur Schau gestellten Pose: „Majakowski las, belustigte die Gesellschaft, schlang sein Essen herunter und konnte nicht ausstehen, wenn man sich zum Kartenspiel hinsetzte. Er war verletzend liebenswürdig und verbarg äußerst kunstvoll seine ständige Erregung. In ihm ging etwas vor, vollzog sich ein Wandel. Er wurde sich seiner Bestimmung bewußt. Nach außen setzte er sich in Pose, aber mit einer derart unterdrückten Unruhe und Fieberhaftigkeit, daß Tropfen kalten Schweißes seine Pose bedeckten." 30 Pasternak hat zu jener Zeit vielleicht als einziger, wenn zunächst auch rein instinktiv, die innere Triebfeder der provokanten Haltung des jungen Dichters in der Öffentlichkeit geahnt. Sein sicheres und selbstbewußtes Auftreten, verbunden mit Grobheit und Aggressivität, war Pose und kein Kampfmittel. Und die Pose war nichts anderes als ein Schutzschild, um die innere Scheu zu überwinden und nach außen zu kaschieren. Auch Lunatscharski hatte Anfang der zwanziger Jahre zeitweilig das gleiche Gespür und erblickte hinter der Pose das wahre Gesicht Majakowskis, ohne Maske. Aber da diese Maske noch Züge der Kubofuturisten in ihren jungen Jahren trug, war er argwöhnisch und befürchtete, Majakowski schleuse die Formen einer 29

bürgerlichen Kunstrevolte in das sozialistische Kulturleben ein. Von den auf diese Weise aufgetürmten Mißverständnissen wird noch später die Rede sein. Der Wandel, den Pasternak um 1914 beobachtete, betraf zwei Besonderheiten in Majakowskis künstlerischer Entwicklung. Mit Majakowski nahm die deklamatorische Linie in der russischen Dichtung ihren Anfang.31 Er entdeckte zu dieser Zeit seine Stimmkraft als das entscheidende Medium, das zwischen ihm als Autor und seinem Leser einen direkten Kontakt herstellt. Außer den zu diesem Zweck vorangetriebenen graphisch-motorischen Elementen 32 entwickelte er mehr und mehr die Sprechintonation zum Grundelement seiner poetischen Sprache. Auch später verzichtete er nicht auf die unmittelbare Begegnung mit seinem Auditorium. Er betrachtete sie als unerläßliche Voraussetzung der inneren Einstellung eines Dichters zu seinem Leser und damit schlechthin der gesellschaftlichen Wirkung von Kunst. Und schließlich drängte die soziale Thematik die rein technischen Fragen der Kubofuturisten an die zweite Stelle. Doch damit waren wiederum Schwierigkeiten anderer Art verbunden. Majakowski hatte sich anfangs, d. h. 1912 -1914, nicht an eine bestimmte Klasse oder soziale Schicht gewandt, sondern an Zwischenschichten und an Außenseiter aus dem Künstlermilieu. Die einseitige gesellschaftliche Rebellion im Rahmen der Kunstprogrammatik der Kubofuturisten trug Züge eines anarchistischen Aufruhrs gegen die Umwelt, häufig sogar ausschließlich gegen die Kunstöffentlichkeit. Eine klare soziale Zielstellung fehlte. Die Reaktion auf diese Protesthaltung war dementsprechend. Das bürgerliche Publikum und die offizielle Kritik taten sein Auftreten entweder als „komische Kuriositäten" ab, nahmen es also nicht ernst oder betrachteten es als einen Affront, als Verspottung der Literatur wie des Lesers, zu dessen Schutz sie sich berufen fühlten.33 Die ersten schweren Kriegserfahrungen von 1914 bewirkten in Majakowskis künstlerischem Selbstverständnis allmählich eine Veränderung. Das „gelbe Hemd" und die „Tricks", noch vor einem Jahr einzig zu dem Zweck ausgedacht, „den Bourgeois zu schrekken", 3 4 seien nun nicht mehr vonnöten, verkündete er bereits im November, nach anfänglichen Illusionen über Rußlands Beteiligung an dem Völkergemetzel. Das Interesse an Kunst im engen Sinne des Wortes schwand in diesem Winter voller Enttäuschungen und Entsetzen. Krieg! Die Wirklichkeit bringe Erscheinungen hervor, für die die alten Begriffe und Wörter nicht mehr taugen. In der Sprache 30

eines Gogol ließe sich „das heute einzig aus Explosionen zusammengesetzte Dasein"35 nicht vorführen. Jahre später bekräftigte er die Grundhaltung jener Wochen und Monate: „Widerwillen und Haß gegen den Krieg. 'Drückt den Zeitungen die Augen zu* und anderes. Interesse für Kunstdinge völlig versiegt."36 Majakowski bekannte sich nach wie vor zu den Thesen des kollektiven Manifestes der Futuristen von 1912: Vernichtung aller überkommenen Normen, Zerschlagung der „alten Art von Sprache" und Überbordwerfen der „alten Größen vom Dampfschiff der Jetztzeit"37. Die Aufgabe, die alten Kunstfesten niederzureißen, hielt er bereits für erfüllt. „Darum wundern Sie sich nicht", erklärte er programmatisch im Dezember 1915, „wenn Sie heute nicht mehr die Narrenschelle in unserer Hand erblicken, sondern die Planskizze des Baumeisters."38 Die im Krieg hintereinander geschriebenen Poeme Krieg und Welt (1915 -1916) und Der Mensch (1916 -1917) zeugen von seinem Engagement im Kampf gegen den imperialistischen Krieg und zugleich davon, was er darunter verstand, als er zu Kriegsbeginn an das Bewußtsein der Menschen appellierte, sie sollten begreifen, daß ab sofort das gesamte Leben vom Krieg gezeichnet ist. Angesichts solcher Tatsachen wie der Bombardierung und Einnahme von Antwerpen oder der im Grenzort Kalisz von den Deutschen gehenkten Bürger könne auch ein Maler nicht mehr malen, als sei nichts geschehen. Das sei nicht eine Frage des Themas, des Gegenstands, sondern der künstlerischen Sehweise. Mit den Appellen eines Lew Tolstoi oder Wassili Werestschagin („Du sollst nicht töten") könne man jetzt auf der Straße nichts ausrichten. Aus diesem Grunde lehnte er Werestschagins Bild Apotheose des Krieges (1899) ab, das am historischen Stoff den Irrsinn aller vergangenen wie künftigen Kriege vor Augen führen sollte. Die Darstellung von zu einer Pyramide aufgeschichteten Totenschädeln nahm er als Antwort der Kunst auf die Schrecken des Krieges nicht an. Handfeste Lösungen hatte jedoch der junge Majakowski auch nicht zu bieten. Er suchte weiter. Die Absicht, den Irrsinn des Krieges mit eigenen Augen zu sehen, schlug fehl. Er galt als politisch unzuverlässig, und daher wurde 1914 seinem Antrag, als Kriegsfreiwilliger an die Front zu gehen, nicht stattgegeben. Am 26. Februar 1915 druckte die Zeitschrift Nony satirihon zum erstenmal ein Gedicht von Majakowski, den Hymnus auf den Richter. Das war die einzige Redaktion, die damals an seiner ständigen Mitarbeit interessiert war. Die Zeitschrift, die in Text und Bild das 31

Spießermilieu satirisch darstellte, war sehr beliebt und fand breite Resonanz. Majakowski, der seine Verse erstmals an ein zahlenmäßig größeres Lesepublikum richtete, machte neue Erfahrungen. Bestimmte Eigenarten seines Stils gab er nicht auf: Der Dichter spricht mit seinem Leser wie mit einem Hörer. Die soziale Zielsetzung hingegen ist stärker ausgeprägt denn je zuvor. Die Mitarbeit am Nowy satirikon war in diesem Sinne eine Art Neuanfang. Nach der Oktoberrevolution setzte Majakowski diese Linie mit der Fibel für Rotarmisten und den Plakaten für die Russische Telegraphenagentur auf neuer Stufe fort und führte sie auch späterhin fast ohne Unterbrechung in Vers, Prosa und Schauspiel weiter.39 Die Einberufung am 8. Oktober 1915 - er diente in einer Petrograder Einheit - unterband für längere Zeit das Auftreten in der Öffentlichkeit und mit wenigen Ausnahmen auch die Drucklegung neuer Texte. Jede Zeile mußte die Militärzensur passieren, die auf vielen Streichungen bestand. An die Februarrevolution knüpfte Majakowski anfangs alle Hoffnungen auf eine Befreiung der Kunst von sämtlichen Bindungen an Staat, Konvention, Hierarchien. Die Hoffnungen trogen.40 Er war daher völlig aufrichtig, als er nach der Oktoberrevolution in der harten Auseinandersetzung auf der Plenartagung des Verbandes der Kunstschaffenden am 17.(30.) November als einziger erklärte: „. . . man muß die neue Macht begrüßen und mit ihr Kontakt aufnehmen."41 Doch so einfach, wie Ossip Brik diesen Vorgang 1936 darstellte,42 war er in Wirklichkeit nicht. Nur wenige Jahre später zeichnete Brik ein realistischeres Bild: „Politisch war alles klar, aber in einen konkreten sachlichen Kontakt mit den Organen der Sowjetmacht zu kommen gelang Majakowski nicht gleich."43 Das erhoffte volle Einvernehmen beispielsweise mit Lunatscharski kam nicht zustande. Er fand bei ihm kein Gehör für die ihn am meisten beunruhigenden Fragen. Lunatscharskis Hauptsorge galt in der allerersten Zeit der Bewahrung des Kunsterbes, das mit der Revolution in die Hände des Volkes überführt worden war, und der Gewinnung der bürgerlichen Intelligenz zur Zusammenarbeit mit der Sowjetmacht. Ossip Brik sah hier den Konfliktstoff zwischen dem Dichter und dem Volkskommissar. Majakowski verstand nicht, daß er nach dieser Revolution im Volkskommissariat mit Leuten wie Alexander Benois nicht nur zusammentraf, sondern mit ihnen auch zusammenarbeiten sollte, mit Leuten, die er schon seit vielen Jahren als seine Gegner, ja Feinde in Sachen Kunst betrachtet und 32

vor aller Öffentlichkeit auch als seine Feinde behandelt hatte. (Den zum Direktor der Kunstsammlungen im ehemaligen Zarenschloß ernannten Benois, ehemals der führende Kopf in der Künstlervereinigung Die Welt der Kunst, bezeichnete Benedikt Lifschitz in seinen Erinnerungen als den „ersten Vorsänger in dem wilden Chor", der 1912 die öffentlichen Veranstaltungen der Kubofuturisten begleitet hatte.44) Es brauchte eine geraume Zeit, bis Majakowski in der Bündnisfrage einlenkte und die Notwendigkeit der Zusammenarbeit mit loyal gesinnten Künstlern und Intellektuellen begriff. Das Abstreifen von Zügen des „Sozialismus-Anarchismus", zu dem er sich noch 1918 bekannte,45 war ein langwieriger Prozeß. Nikolai Punin hat als einziger ein Zerwürfnis zwischen Majakowski und Lunatscharski in den ersten Wochen nach der Oktoberrevolution erwähnt - weder der eine noch der andere haben sich selber dazu geäußert. „Majakowski hatte einen Zusammenstoß mit Lunatscharski", erinnerte sich Punin. „ . . . Es wäre sehr aufschlußreich herauszufinden, hatten sie Streit auf einem Meeting, in einer Zeitschrift oder in der Redaktion 'Nowaja shisn'. Dann ließe sich vielleicht genauer erklären, warum sich Majakowski und Brik zur Oktoberrevolution verspätet haben." 46 Die Vermutung, daß Majakowski sowohl die staatliche Fürsorge für die alten Kunstschätze als auch die Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit bürgerlichen Künstlern nicht verstand, erscheint glaubhaft.47 Der Majakowski-Biograph Wassili Katanjan hat diesen Momenten keine besondere Bedeutung beigemessen. Ossip Brik indessen suchte hier die Gründe für Majakowskis seltsames Verhalten in den kommenden Monaten. „Majakowski war enttäuscht. Ohne sich mit dem Volkskommissar abzustimmen und ohne andere Wege zu finden, die 'linke' Kunst zu propagieren, reiste er nach Moskau, wo er versuchte, zusammen mit David Burljuk und Wassili Kamenski über den Kopf Lunatscharskis hinweg mit dem Volk zu reden. Er wollte die Arbeiter und Bauern überzeugen, daß sie sich von der alten Kunst lossagen und einer Kunst zuwenden, die der Revolution entspricht, d. h. der Kunst der 'Linken'. Das 'Gespräch mit dem Volk' fand von der Bühne des Poeten-Cafés, Nastassin-Gasse, und des Cafés Pittoresque, Kusnezki-Brücke, statt sowie auf den Seiten der ersten und einzigen Nummer der Gaseta futuristow. . ." 48 Hier veröffentlichte Majakowski das zusammen mit Burljuk und Kamenski verfaßte Dekret Nr. 1

über die Demokratisierung der Künste mit der Losung Alle Kunst - dem

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Thun: Autor. Leser

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ganzen Volk! und dem Aufruf Auf die Straßen, Futuristen! Aber, so erinnerte sich Brik weiter, alle Bemühungen, vom Café auf die Straße, zu den Volksmassen zu kommen, seien umsonst gewesen. Mehr als ein paar Losungen und demonstrativ an Häuserwände geklebte und genagelte Bilder sei bei alldem nicht herausgekommen. Majakowski habe bald begriffen, daß das ganze ein „kindischer Einfall" war und daß der Kampf um eine neue Kunst nicht vom Poeten-Café aus oder auf den Spalten der Futuristenzeitung geführt werden könne, sondern nur „innerhalb des Sowjetsystems, beim gemeinsamen Aufbau des Kunstlebens in einem erneuerten Land". Die Angaben, die über den sechsmonatigen Moskauer Aufenthalt zur Verfügung stehen, widersprechen sich in einer wichtigen Frage: Wer waren die Leute, vor denen das „alte" Trio Majakowski, Burljuk und Kamenski fast wie in Vorkriegszeiten sein Futurismusprogramm propagierte, nur ohne viele der alten „Tricks" und ohne Maskierung, aber zumindest in gleicher Art und sogar am gleichen Ort wie unmittelbar vor dem Oktoberaufstand49? Konnten sie Majakowski das Empfinden geben, er spreche mit revolutionären Arbeitern, Bauern und Soldaten, die ihn in bisher nicht gekannter Weise zu Aussagen über die neue Zeit und sich selber herausfordern, wie es Kamenski, wenngleich mit gewissen Einschränkungen, darstellte?50 Sergej Spasski, der schon bald zu den ständigen Mitstreitern im Poeten-Café zählte, machte recht genaue Angaben über die bunt zusammengewürfelten Besucher: junge Leute, die binnen kurzem in die Rote Armee gingen, Vertreter der Bourgeoisie aller Schattierungen (viele von ihnen warteten auf die Rückkehr der Weißen oder auf einen günstigen Moment, um Moskau zu verlassen), ehemalige junge Offiziere, Künstler und überhaupt allerlei „dunkles" Volk - Anarchisten.51 Diese Erinnerungen sind glaubhafter als die Beteuerungen anderer Zeitgenossen, Majakowski habe hier bereits einen Zugang zum neuen Publikum gefunden. Eins ist ihm offensichtlich geglückt: Das heterogene Publikum wurde in das Geschehen auf der Bühne unmittelbar mit einbezogen. Es beteiligte sich an den Rezitationen, Gesängen und meist scharf pointierten Repliken zwischen Künstlern und Zuhörern. Soziale und politische Widersprüche flammten auf. Der Klassenkampf wurde auf diese Weise von der Straße ins Café geholt und prägte das Frage-AntwortSpiel. Aber es blieb letztlich doch nur ein schaler Ersatz der politischen Vorgänge draußen in der Stadt. 34

Die Briefe an Lilja Brik beweisen, daß Majakowskis Stimmung schon bald umschlug. Mitte Dezember 1917: „Das Café ist einstweilen eine liebe und lustige Anstalt. (Wie der Hund in seiner ersten Zeit, was die Lustigkeit anbelangt!) Alles gerammelt voll. Auf dem Fußboden Hobelspäne. Auf dem Podium - wir. . . . Das Publikum schicken wir zu des Teufels Großmutter."52 Die „Hundewelt", die sich teilweise wieder einfand, versuchte er mit dem berühmt gewordenen Zweizeiler „Friß Ananas, Bürger, und Haselhuhn./Mußt bald deinen letzten Seufzer tun" zu verjagen. Den demonstrativen Auszug einiger Bourgeois registrierte die Presse nicht ohne spitze Bemerkungen. Einen Monat später: „Das Café hängt mir schon zum Hals heraus. Ein seichter Wanzenwinkel. . . . Ich gehe ganz auf in meinen Veranstaltungen." Die Rede ist vom Tannenbäumchen der Futuristen im Polytechnischen Museum und davon, daß eine Menge Volk da war, „wie bei einer Sowjetkundgebung".53 Am 15. März 1918: „Ich rette mich in Verlagsarbeit."54 Ende März: „Gedichte schreibe ich keine . . .',&5 Im April: „Ich flüchte zum Film."56 Die Autobiographie ist noch karger, enthält jedoch unter der Überschrift Das Jahr 1918 die wichtige Feststellung: „Die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik hat andere Sorgen als Kunst. Für mich aber ist gerade sie die Sorge."57 Majakowski war zu dieser Zeit für die strikte Trennung von Staat und Kunst, aber nicht für eine apolitische Kunst. Die Kunst sollte das Leben der Menschen durchdringen und umgekehrt. Die Schranken zwischen Leben und Kunst sollten eingerissen, Kunst nicht mehr als ein Reich betrachtet werden, zu dem nur wenige einen Zugang haben. Doch konnte die erstrebte Demokratisierung der Kunst als Forderung Nummer eins von einer Handvoll Künstler realisiert werden? Ob sich Majakowski diese Frage damals gestellt hat, ist nicht belegt. Aber einige ernüchternde Erfahrungen werden sein Nachdenken sicher in diese Richtung gelenkt haben, denn er versuchte, mit den neuen Leuten auf anderen Wegen ins Gespräch zu kommen, außerhalb der engen Wände des Poeten-Cafés. Am 15. März erschien die erste und auch einzige Nummer der Gaseta futuristow. Majakowski hatte für sie einen Offenen Brief an die Arbeiter verfaßt. Darin heißt es u. a.: „An euch, die ihr Rußlands Erbe angetreten habt, an euch, die ihr (daran glaube ich fest!) morgen die Herren der Welt sein werdet, 3»

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richte ich die Frage: Mit welch phantastischen Bauwerken werdet ihr die Brandstätten von gestern bedecken? Was für Gesänge und Musiken werden aus euren geöffneten Fenstern in die Welt strömen? Mit welcherlei heiligen Schriften werdet ihr eure Seelen offenbaren? Befremdet sehe ich, . . . wie in den von euch akzeptierten Versen die Treibhausrosen der Gutsbesitzer wiedererscheinen und wie ihr die Augen aufreißt vor den Bilderchen, die die Herrlichkeit vergangener Zeiten wiedergeben. . . . Ihr sollt wissen: Für unsere Hälse, für die Hälse von Goliaths der Arbeit, wird sich im bourgeoisen Wäscheschrank keine passende Kragenweite finden. Nur die Sprengkraft einer Revolution des Geistes wird uns säubern vom Trödelkram der alten Kunst. . . . Wir sind es, die das erste Blatt der jüngsten Geschichte der Künste aufgeschlagen haben."58 „Eine Adresse war gefunden", erinnert sich Spasski, „ein Rundschreiben wurde abgeschickt und dazu die Bekanntmachung: 'Die Weltföderation der Futuristen - Redner, Dichter, Maler gibt bekannt: wir treten unentgeltlich mit Reden, Versen und Bildern vor jedem Arbeiterpublikum auf, das das Bedürfnis nach revolutionärem Kunstschaffen hat.' Die Futuristen warten auf Einladungen. Doch aus keiner Ecke kommen Botschaften. Und da ist man erstaunt. Bisher keinerlei Anerkennung. . . . Offenbar muß man selber in die Massen gehen, wachsen zusammen mit dem Proletariat. Majakowski tut diesen Schritt."59 Die vereinzelten Veranstaltungen im Polytechnischen Museum bewirkten ebenfalls noch keine Veränderung. Nach den „Ausbruchsversuchen" (Spasski) in große Säle kehrte Majakowski immer wieder in den Dichterkeller zurück. An der „feierlichen" Abschlußveranstaltung im Poeten-Café - es zog in ein anderes Gebäude um - am 14. April, also vier Wochen nach dem mißglückten Appell an die Arbeiteröffentlichkeit, nahm Lunatscharski teil. Ob dies eine Reaktion auf die Futuristenzeitung war oder einfach der Versuch einer erneuten Annäherung, war nicht zu ermitteln, auch nicht, ob dies tatsächlich die erste Begegnung zwischen dem Volkskommissar und dem Dichter seit ihren Gesprächen in Petrograd kurz nach der Eroberung der Macht durch die Bolschewiki war. Die beiden Dokumente, die dieses Zusammentreffen festhalten, sind widersprüchlich. Der Figaro vom 15. April, ein kurzlebiges eindeutig rechtsgerichtetes - Blatt, preßte Majakowskis einführende Worte bis auf einen Satz zusammen: „wir machen die Kunst kompli36

zierter und bemühen uns gleichzeitig um ihre Demokratisierung". Anschließend gab er die kritische Haltung Lunatscharskis ausführlich wieder und stellte schließlich die einlenkenden Worte am Schluß als ein die Kritik vergoldendes Trostpflästerchen dar: Majakowski könne die Massen begeistern, und das verleihe dem Futurismus Volkstümlichkeit. 60 Spasski schilderte den Vorgang sachlicher. Majakowski habe von seiner Arbeit in einem sehr ruhigen Ton gesprochen, so als stehe er an der Werkbank und erläutere den Produktionsprozeß. Danach habe Lunatscharski ohne Didaktik und mit großer Sachkenntnis den Futurismus analysiert, die Schwierigkeiten nicht geleugnet, aber vor Fehlern gewarnt. Spasskis Schlußfolgerung erscheint glaubwürdig: „Das war eine nützliche Kritik, wie sie der Futurismus zum erstenmal zu hören bekam." 61 Lunatscharski und Majakowski verabredeten in dieser Zeit - vermutlich sogar an diesem Abend - eine gemeinsame Veranstaltung. Sie fand am 23. Mai im Polytechnischen Museum statt. Nach Lunatscharskis Vorlesung zum Thema Die neue Kunst und ihre Wege rezitierte Majakowski den letzten Teil seines Poems Krieg und Welt. Majakowski bereitete sich auf seine Rückkehr nach Petrograd vor. Bereits am 1. Mai hatte er sich im Café Pittoresque von seinem Moskauer Publikum verabschiedet. Damit fand die Kaffeehausperiode ihren Abschluß. Diese Phase der Dichterbiographie wird unterschiedlich bewertet. Hugo Huppert, von Wladimir Neustadt in die Atmosphäre dieser Zeit eingeführt, hebt den revolutionären Grundgestus hervor: „Man hätte diesen Punkt der Entwicklung als eine Spielart von russischem Dadaismus bezeichnen können, wären die sozialen Vorzeichen und das politische Kolorit solcher Ausbrüche nicht ganz e i n d e u t i g gewesen: 'Friß Ananas, Bürger, und Haselhuhn. Mußt bald deinen letzten Seufzer tun.' Das war ein berühmter majakowischer Spruch, den der junge W. W. schon in der Petersburger Kellerkneipe Zum vagabundierenden Hund hatte hören lassen und der, skandiert und gesungen, die aufständischen Matrosen 1917 zum Sturm aufs Winterpalais angespornt hatte - das hätte kein Dadaist der Welt je zuwege gebracht." 62 Kamenski, der Freund und Mitstreiter, setzt jedoch erst an diesem Punkt eine scharfe Zäsur. Erst jetzt sei die Phase des Suchens, Irrens und Schokkierenwollens zu Ende gegangen. Der Dichter wirkte gereifter und zielstrebiger. Er war fünfundzwanzig Jahre alt.63 Es begann ein neuer Abschnitt, die unmittelbare Reaktion auf die Ereignisse des Roten Oktober in für Majakowski neuen, bisher noch 37

nicht erprobten Genres mit dem Ziel, die Enge bisheriger Wirkungsmöglichkeiten zu durchbrechen und größere Wirkungsräume zu erobern, die nicht nur den gebildeten Schichten, sondern auch den Millionen Analphabeten und Halbalphabeten den Zugang zum revolutionären künstlerischen Wort öffneten. Mitte Juni ging Majakowski nach Petrograd zurück, lebte einige Wochen auf einer Datsche in der Nähe der Stadt, malte Landschaftsskizzen und schrieb das bereits im Vorjahr konzipierte Stück Mysterium buffo, seinen Beitrag zum ersten Jahrestag der Oktoberrevolution. 64 Die erste Lesung am 27. September fand im Freundeskreis und in Anwesenheit von Theaterleuten statt. Auch Lunatscharski war zugegen. Seine positive Einschätzung ist viel beschrieben worden. Alle Anzeichen schienen gegeben zu sein, daß der Volkskommissar und der Dichter trotz unterschiedlicher Kunstauffassungen eine gemeinsame Sprache finden werden. Lunatscharski war überzeugt, daß die Revolution ein so starkes Talent wie Majakowski braucht. Und seinerseits hatte Majakowski die Erfahrung gemacht, daß das gesteckte Ziel - Eroberung der Massen für eine revolutionäre Kunst - im Alleingang nicht zu erreichen war.

II. Als Lunatscharski 1911 von Italien nach Paris übersiedelte, wurde er auf dem Gebiet der bildenden Kunst mit ähnlichen Erscheinungen konfrontiert wie zur gleichen Zeit Majakowski in Moskau. Unter vergleichbaren sozialen Bedingungen vollzogen sich in der Kunstpraxis beider Länder tiefgreifende Veränderungen, die trotz der besonderen nationalen Ausprägungen in Frankreich und in Rußland viele gemeinsame Züge hatten. 65 Lunatscharski reagierte auf diese Prozesse völlig anders als Majakowski. Den Kubismus und die von ihm abgeleiteten neuen Maltechniken lehnte er als Erscheinungen des spätbürgerlichen Kunstbetriebs grundsätzlich ab, wobei diesem absoluten Urteil nicht nur rein politische Motive zugrunde lagen. Lunatscharski war zu dieser Zeit - aus der unmittelbaren politischen Arbeit hatte er sich vorübergehend zurückgezogen - auf zwei Gebieten tätig. Er suchte den Kontakt zu emigrierten russischen Arbeitern und die Verbindung zur lebendigen Kunstszene in Frankreich. Beide Bereiche hatten ihre eigene Spezifik und dennoch vielfache Berührungspunkte. Lunatscharski ging zu den russischen Arbeitern als Propagandist und Agitator. Er reiste in verschiedene 38

Städte auch außerhalb Frankreichs - u. a. nach Deutschland und in die Schweiz - und hielt Referate vorwiegend zu kulturtheoretischen Themen und Vorlesungen zur Geschichte der Weltliteratur.66 1912 gründete er in Paris einen Zirkel proletarischer Kultur für russische Arbeiter, leitete die jungen Genossen bei ihren ersten literarischen Versuchen an und hielt Vorträge über theoretische wie praktische Kulturfragen der revolutionären Bewegung. Etwa die Hälfte der führenden Köpfe der späteren Proletkultbewegung, erklärte er rückblickend, seien damals seine Schüler gewesen, darunter Michail Gerassimow, Alexej Gastew, Fjodor Kalinin und Pawel Bessalko.67 Zur selben Zeit schrieb Lunatscharski in seiner Eigenschaft als ständiger Korrespondent von drei legal in Rußland erscheinenden Zeitungen regelmäßig Artikel über die westeuropäische Literaturund Kunstentwicklung. Später schätzte er ein: „Das waren nicht einfach Artikel eines Schreibers, sondern das war eine umfangreiche Arbeit zur Analyse der westeuropäischen Kultur und insbesondere der französischen."68 Dem angewandten analytischen Verfahren lagen drei Kriterien zugrunde: Realismus, Gewinn oder Verlust der in der Kunstpraxis verwirklichten neuen ästhetischen Auffassungen und Einordnung der beobachteten Grundtendenzen in die zeitgenössische Kulturentwicklung wie allgemein in die Kulturgeschichte. Lunatscharski sammelte eine Unmenge neuer Fakten vorwiegend über die moderne Kunstentwicklung - die bildenden Künste hatten im französischen Kunstleben die absolute Priorität - und baute die theoretischen Grundlagen seiner marxistischen Kulturkonzeption weiter aus. Zu diesem Zweck studierte er gründlich die neuen künstlerischen Phänomene und leitete von ihnen die kulturphilosophischen wie kulturhistorischen Fragestellungen ab. 69 Auf diese Weise waren beide Wirkungskreise, die Vorlesungstätigkeit und die journalistische Arbeit, miteinander verbunden. Wie fest die Bindung an französische Künstlerkreise war, läßt sich nur schlecht überblicken. Die meisten Fäden knüpfte Lunatscharski vermutlich über russische Freunde. Dafür gibt es zahlreiche Anhaltspunkte. In den Erinnerungen von Zeitgenossen wird er wiederholt erwähnt. Ausführliche Schilderungen sind jedoch bisher nicht zu ermitteln gewesen. Die in einschlägigen Arbeiten enthaltenen Fakten sind meist sehr ungenau.70 Die russische Malerin Marevna nennt seinen Namen unter den „Gästen" eines Künstlerballs zugunsten russischer Emigranten, gibt aber keine weiteren Aufschlüsse

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darüber, mit wem Lunatscharski damals zusammen war. 71 Jacques Chápiro erzählt die Geschichte, wie Lunatscharski in der berühmten La Ruche72 Chagall nach Details auf einem seiner Bilder befragte. 73 Doch diese Episode hatte Lunatscharski selber schon im März 1914 in seinem Chagall-Artikel ausführlich beschrieben: „Chagall hat launenhafte Einfälle, spielt, er glaubt, er könne nicht anders. Fragt man: 'Warum ist das bei Ihnen so und so?', so murmelt der Künstler hastig vor sich hin: 'Sehen Sie, ich mußte das so machen.' Auf den ersten Blick ist das ungezügelte Launenhaftigkeit. Aber in Wirklichkeit ist es Besessenheit. Nehmen wir als Beispiel ein kleines Bild. Ein Mann sitzt auf dem Dach eines Hauses und ißt; ein anderer geht im bloßen Hemd über die Straße. 'Sehen Sie', sagt Chagall in seiner kindhaften Ausdrucksweise. 'Das ist meine gesamte Biographie: Großväterchen fand man häufig oben auf dem Dach sitzend, wo er gerne Zimes aß. Und Onkelchen ging gerne im bloßen Hemd über die Straße.' 'Unsere Familie', 'unsere Diele', 'unser Eßzimmer', 'unsere Straße' - das wiederholt sich bei Chagall. . ." 74 Zu den vielen jungen russischen Künstlern, die seinerzeit in Paris lebten, lernten und arbeiteten und mit deren Malweise Lunatscharski große Hoffnungen für die Entwicklung einer fortschrittlichen russischen Kunst schon in naher Zukunft verknüpfte, zählte auch David Sterenberg. Auch ihn hatte er in der La Ruche kennengelernt. „Vorläufig sind die Experimente Sterenbergs formaler Art", heißt es am Ende des ihm gewidmeten Artikels, „aber es sind alle Anzeichen vorhanden, daß er nicht nur ein Maler, sondern auch ein Dichter ist. Wohin dieser Dichter geht, werden wir sehen." 75 Diese Wertung eines jungen Künstlers ist für Lunatscharskis Kunstauffassung sehr bezeichnend, für sein klar umrissenes, theoretisch fundiertes Konzept. Bei aller Aufgeschlossenheit für neue künstlerische Experimente wie überhaupt für alle jungen und frischen Erscheinungen im Kunstleben, die ihn stets auszeichnete, hielt er an einigen Grundprinzipien fest. Die Bezeichnung „Dichter" für einen Maler war in seiner Terminologie ein eindeutiges Werturteil. Bereits 1907 berief er sich auf Ibsens Gegenüberstellung von „Dichten" und „Herummodellieren" und betrachtete sie als weitaus exakter als die triviale und gängige Gegenüberstellung von „Literatur" und „reiner Malerei". 76 „Darin ist keine Dichtung" - das Wort „Dichtung" setzte er in deutscher Sprache ein - bedeutete in seinem Sprachgebrauch das 'Fehlen eines Ideengehalts'. Als Sozialist beunruhigte ihn zu dieser Zeit genauso wie dann auch in späteren 40

Jahren, daß die Entwicklung der russischen bildenden Kunst im Gefolge westeuropäischer - insbesondere französischer - Kunstströmungen den „Weg von einer echten Bild-Dichtung zur formalen Malerei" 77 eingeschlagen habe. Die Bedeutung von experimentellen Wegen für die Kunstentwicklung hat er zwar niemals abgestritten. Er räumte ein, neue technische Verfahren bereicherten die Kunst durchaus und könnten für die Nachfolger von hohem Nutzen sein. Aber wenn er den Eindruck hatte, daß das Experimentelle überwiegt oder das Skizzenhafte und Unvollendete, dann sprach er von einem ernsthaften Krankheitssymptom der zeitgenössischen Malerei. Kunst war in Lunatscharskis Vorstellung stets Dichtung, Gedanke, Gefühl. Und der Verlust des Inhalts war für ihn gleichbedeutend mit Verlust des Künstlerischen schlechthin. So beurteilte er auch die Entwicklung vom Impressionismus zum Kubismus und Suprematismus. Ein Orphist wie Francis Picabia, der in Linien und Farben „phantasiert", schaffe keine Kunst im eigentlichen Sinne. Er sei an absolut keiner Wirklichkeit interessiert. Der Strudel malkünstlerischer Ideen, die er beim Anblick einer Erscheinung verspürt und auf die Leinwand bringt, sei abstrakt und ohne Beziehung zu den Bildern der Umwelt. 78 Für rein malkünstlerische Ideen lehnte Lunatscharski den Begriff Inhalt kategorisch ab. In den sogenannten Pariser Briefen über das französische Kunstleben (1913) hat er diese Überlegungen an praktischen Beispielen entwickelt und theoretisch begründet. Zwei Jahre intensiven Studiums der Pariser Kunstszene festigten seine Überzeugung, daß die mit dem Impressionismus einsetzende Wende zur subjektiven Erfassung der Welt („Ich male so, wie ich sehe") der Beginn jener Entwicklung sei, die zur völligen Deformation der Wirklichkeitserscheinungen und in der Endkonsequenz zum Kubismus geführt habe. Dabei übersah Lunatscharski nicht, daß der Kubismus gerade als Reaktion auf den extremen Subjektivismus entstanden war, als der Versuch, von den Gegenständen „nicht nur das, was wir sehen, sondern auch das, was wir von ihnen wissen" sichtbar zu machen. Er erkannte eine „gewisse logische Denkweise" und eine „ausgesprochen objektivistische Tendenz". Aber die Experimente eines Picasso, Braque, Metzinger oder Gleizes in dieser Richtung betrachtete er letztendlich als ein Paradoxon, „das von dem intensiven Bestreben der Objektivisten zeugt, die Flächenbegrenztheit der Malerei zu überwinden" 79 . Einen künstlerischen Wert sprach er ihnen kategorisch ab. 41

In dieser Argumentationskette räumte er dem Futurismus nur wenig Platz ein. Er hielt ihn eigentlich nur für eine Spielart der italienischen Richtung, die von einigen Franzosen nachgeahmt werde. Der Wunsch, die Bewegung mit bildkünstlerischen Mitteln zu reproduzieren, habe bloß subjektivistisches Chaos hervorgebracht. In diesem Zusammenhang äußerte er einen wichtigen Gedanken, der an dieser Stelle in aller Ausführlichkeit wiedergegeben wird, weil in ihm der Keim seiner Erwartungshaltung gegenüber den jungen russischen Avantgardisten in den ersten Revolutionsjahren steckt: „Schon allein die Lösung der Aufgabe, eine künstlerische Verarbeitung optisch wahrnehmbarer Bewegung in einem unbeweglichen Gemälde zu bieten, deucht mir ebensolche Quadratur des Kreises wie das Bestreben der Kubisten, auf der bloßen Fläche eine allseitige Darstellung des Körpers zu geben. Aber das für die Malerei falsche Bestreben der Kubisten findet eine ausgezeichnete Lösung in der Bildhauerei. Was kann die für den Maler falsche Unbeweglichkeit der Gemälde, das Problem der Behandlung einer lebendigen Bewegung lösen? Mir scheint, diese Lösung bringe mit sich einen weiteren Schritt, für den sich vorerst noch kein Futurist entschieden hat: die Schaffung sich bewegender Projektionen, die Anpassung des Filmapparats an malkünstlerische Zwecke. Hierin erblicke ich einen Ausweg für das Suchen der Orphisten. Musik der Farbe, Symphonie der Farbtöne sowie Linienmelodien sind durchaus denkbar, besonders bei der Verschmelzung mit der Musik der Klänge. Aber Dynamik ist die Grundlage der Musik. Um es mit ihr aufzunehmen, muß das feine künstlerische Kaleidoskop der besten Orphisten gleichfalls dynamisch werden. Mögen die F u t u r i s t e n e i n Mittel ausfindig machen, uns eine synthetisierte, plastische, charakteristische, vermenschlichte Widerspiegelung der Bewegung zu bieten. Mögen die Neuerer der Malerei uns ermöglichen, zugegen zu sein bei dem herrlichen Spiel der Linien und der Farben, die miteinander den Kampf tanzender Töne, den abstrakten Reigentanz führen,wie wir ihn in der Musik finden. Mögen sich rein ornamentale, gemusterte Kompositionen wunderlich verflechten mit Erinnerungen und Gespenstern (zu deutsch besser: phantastischen Gebilden - N. T.) von Blumen, Landschaften, tierischen und menschlichen Gestalten, geboren aus einer Natur, von der die Phantasie befruchtet ward. - Dieser Gedanke mag wüst erscheinen. Aber du lieber Gott! - die Futuristen 42

erdreisten sich zu so vielem, und sollten sie zusammen mit den verknöcherten Passeisten gegen die Filmkunst bloß fauchen können?" 8 0 Heute kennen wir wichtige Einzelheiten darüber, was für eine magische Anziehungskraft die junge Filmkunst auf Praktiker wie Majakowski und Theoretiker wie Tynjanow ausgeübt hat. Aber eine Lösung der von Lunatscharski benannten Probleme moderner Kunstentwicklung hat sie nicht herbeigeführt. Die großen Versuche einer Synthese der Künste verliefen in anderen Bahnen. Trotz aller Faszination für das Suchen nach neuen künstlerischen Möglichkeiten war Lunatscharski überzeugt: Kubismus und Futurismus in den Erscheinungsformen, die er in diesen Jahren in Frankreich kennenlernte, seien Anzeichen einer „kranken" Kunst. Die „Krankheit" diagnostizierte er als eine Krankheit sozialen Charakters, nur überwindbar, wie er schrieb, durch „Fortschritt im sozialen Bereich" 81 . Lunatscharski ging es bereits damals nicht ausschließlich um die Kunst selbst, sondern um den Platz der Kunst in der Gesellschaft. Die Pariser Briefe lassen erkennen, wie er die Kriterien zur Bewertung neuer Trends im Pariser Kunstalltag aus den Keimformen einer proletarischen Öffentlichkeit zu gewinnen versuchte. Er analysierte den Mechanismus des spätbürgerlichen Kunstbetriebs mit seinen Ware-Geld-Beziehungen auf verschiedenen Gebieten - in der Literatur, bildenden Kunst, Musik und Unterhaltungskunst - und wies u. a. nach, daß die Marktmanipulationen der Kunsthändler bestimmte Modeströmungen erzeugen und auf diese Weise den öffentlichen Geschmack beeinflussen. Ein einfaches, gutgemachtes Bild bleibe völlig unbemerkt, während ein marktschreierisches Gebilde mit einem nichtssagenden Titel Aufsehen errege - es könnte da doch irgend etwas dran sein. In diesem Zusammenhang stellte er die Frage nach dem Entstehen einer „Gegenöffentlichkeit". Mit ihr verband er das Problem des Kunstfortschritts, das er schon damals im Leninschen Sinne in Verbindung mit der sich im Schöße der kapitalistischen Gesellschaft entwickelnden „zweiten Kultur" betrachtete. Aus der Zweiseitigkeit der Beziehungen zwischen Kunstproduzent und -konsument zog Lunatscharski einige neue Schlußfolgerungen. Ihn interessierte vorrangig, wie das Proletariat selber zum Schöpfer künstlerischer Werte wird. Die Studioarbeit mit jungen russischen Arbeitern und seine Referententätigkeit waren im Rahmen seines Kulturkonzepts tastende Vorstöße, um zu erkunden, wie dieser Prozeß vonstatten gehen und auf welchem Wege er beschleunigt 43

werden könnte. Und nicht minder interessierte ihn, wie neue Trends in der Kunstentwicklung auf die - wiederum differenziert gesehenen - Verbraucher wirken und welche Rückkopplung dieser Wirkung beim Künstler zu beobachten ist. An einem plausiblen Beispiel pflegte er gewöhnlich seine Beobachtungen zu erläutern. Die meisten der begabten, aber bettelarmen Chansonniers vom Montmartre - er kannte einige von ihnen noch aus früheren Jahren - verwandelten sich, wenn sie echten Erfolg hatten, im Verlaufe von zehn bis fünfzehn Jahren in begüterte, satte Bourgeois. 82 Ähnliche Beobachtungen machte er auch auf anderen Gebieten: „Der Anfang einer Künstlerkarriere beginnt fast immer in der Boheme. Eine solche gesellschaftliche Stellung stimmt den Künstler nicht gerade friedfertig gegenüber seiner Umwelt. . . . Jugend, Lebenshunger, tiefe Not und ständige Unzufriedenheit, die Stellung eines Ausgestoßenen, mit dem die satte Gesellschaft nichts zu tun haben will, und die verzweifelte Hoffnung, durch das eigene originelle Talent diese Gesellschaft dennoch für sich zu gewinnen, der irrsinnige Konkurrenzkampf dieser Talente und der irrsinnige Wettlauf um Originalität - in dieser Atmosphäre bildete sich die neueste Kunst heraus, mit ihrem bitteren Pessimismus, ihren düsteren Phantasien und hellen Träumen, mit ihrem unbestrittenen Suchen auf technischem wie geistigem Gebiet. Die ersten Verkünder dieser Kunst, die so ungerecht mit dem verpönten Namen 'Dekadente' abgestempelt wurden, drückten ihre Unzufriedenheit in ungewöhnlich vielfältigen Formen aus. Das in den Zwängen der Not erstickte Denken des brodelnden französischen intellektuellen Proletariats schwärmte in alle nur erdenkliche Richtungen aus, vom klarsten Traum bis zu einer Hypochondrie, die an Irrsinn grenzt, oder bis zur leidenschaftlichen Hingabe an eine rein formale Kunst." 83 Hier fand Lunatscharski auch die Erklärung dafür, warum in der französischen bildenden Kunst das soziale wie das politische Thema fast völlig fehlte; und wenn es von vereinzelten Künstlern behandelt wurde, dann schwach und epigonenhaft. Es habe keinen Nährboden und habe sich daher nicht frei entfalten können. Diese bereits im Februar 1905 in der Prawda gedruckten Eindrücke von Paris, also aus der Zeit seiner unmittelbaren Zusammenarbeit mit Lenin, enthalten im Kern das Grundmuster seiner Überlegungen ein knappes Jahrzehnt danach. Und sie bestimmten auch sein Verhalten gegenüber den jungen russischen Künstlern nach 1917. 1914 hatte Lunatscharski auf Grund der Beobachtungen in Frank44

reich wie auch der Publikationen in Rußland die Überzeugung gewonnen: „die Pariser Einflüsse überwiegen zur Zeit sogar unter der (russischen - N. T.) Jugend." Die lauthals schreienden Neuerer würden leider nur Lärm machen, anstatt daß sie die Krise genau studierten, die das künstlerische Paris, die „Avantgarde der 'allerneuesten' Kunst", gegenwärtig durchmache. „Ich weiß wohl", heißt es weiterhin, „daß selbst diese 'allerneueste' Kunst in ihren vielfältigen Erscheinungsformen auch eine Menge Schlacke enthält. Aber daneben gibt es Figuren und Gruppen, in deren Werken und Psyche kühner Wagemut und Grimassen zu einem riesigen Knäuel verfitzt sind . . . " Die Grimassen aber seien nichts anderes als Ausdruck der „Unfähigkeit, den neuen und qualvollen Stoff in einigermaßen vollendete Formen zu gießen"84. Während Lunatscharski unter den jungen französischen Künstlern nur einige wenige entdeckt hatte, die bereits, wie er sich ausdrückte, einen Ariadnefaden in den Händen hielten, d. h., die zum Neorealismus tendierten, verknüpfte er die Hoffnung auf eine neue Kunstentwicklung in Rußland ausschließlich mit der herannahenden Revolution. In französischen Künstlerkreisen dominierte seiner Meinung nach der von Sonia Delaunay als „Mode" bezeichnete Zwang, „in das Publikum eine gewisse Menge von Unwahrheiten, von Innovationen eindringen zu lassen"85. Diese durch den bürgerlichen Kunstbetrieb stimulierte Praxis, in den „Schulen", damals auch „kleine Kapellen" genannt, nur kurze Zeit zu verbleiben, bestärkte ihn in seinem Verdacht, daß das eigentlich künstlerische Moment der Mode geopfert werde. Experimenten wie dem bereits erwähnten Simultanbuch von Blaise Cendrars und Sonia Delaunay - das Poem sollte simultan wie ein Lebensvorgang rezipiert werden - maß er daher trotz seiner Sympathie für synthetische Kunstbestrebungen keine besondere Bedeutung bei. Apollinaire hatte das Buch als „ersten Versuch einer schriftlichen Simultaneität" gerühmt, „in dem die Farbkontraste das Auge daran gewöhnten, ein gesamtes Poem mit einem einzigen Blick zu lesen, so wie ein Dirigent die übereinander gesetzten Noten einer Partitur gleichzeitig erfaßt und so wie man die plastischen und textlichen Elemente eines Plakats gleichzeitig wahrnimmt"86. Er selbst experimentierte in ähnlicher Richtung. Seine Kalligramme sollten durch die besondere graphische Anordnung der Buchstaben wie ein Bild rezipierbar sein. Lunatscharski könnte einige von ihnen, darunter Die Reise und Herz, Krone und Spiegel ebenso wie den bereits zitierten Artikel Simultanismus - Librettismus, in der renommierten franzö45

sischen Kunstzeitschrift Les Soirées de Paris Anfang des Jahres 1914 gelesen haben. Aber Experimente dieser Art pflegte er als „kleine Kapellen" abzutun, nicht wert, sich in ihnen lange aufzuhalten. Die Hoffnung auf die Entwicklung synkretistischer Verfahren verknüpfte er, wie bereits dargelegt wurde, mit anderen künstlerischen Tendenzen. Die gründliche Kenntnis des bürgerlichen Kunstbetriebs erklärt, warum Lunatscharski nach seiner Rückkehr nach Rußland im Mai 1917 einen Zusammenhang zwischen dem äußeren Erscheinungsbild der Kunstäußerungen der „linken" Künstler und der „ungesunden Atmosphäre auf den Boulevards des bürgerlichen Paris" herstellte. Dennoch war sein taktisches Verhalten ihnen gegenüber nicht von vornherein ablehnend. Im Gegenteil. Er erweiterte ihre Arbeitsmöglichkeiten sofort nach der siegreichen Revolution und setzte sie in verantwortliche Ämter ein. Als Grund wird meistens das vom Volkskommissar selbst mehrfach angeführte Argument genannt: Die Mehrzahl der „linken" Künstler hatte sich sofort auf die Seite der Sowjets gestellt, während die Künstler mit Rang und Namen fast ausnahmslos die Arbeit des Volkskommissariats für Bildungswesen boykottierten. Das Volkskommissariat war daher an der engen Mitarbeit dieser vorwiegend sehr jungen Künstler interessiert und baute auf ihre revolutionäre Gesinnung, so widersprüchlich sie im einzelnen Falle auch gewesen war. Aber darüber hinaus verknüpfte Lunatscharski gerade mit ihrem jugendlichen Elan, ihrer Experimentierfreudigkeit und ihrem Ideenreichtum die Hoffnung auf eine revolutionäre Erneuerung der Kunst. Das Geleitwort für den Sammelband der „Futuristen", der 1918 unter dem Titel Das Roggen-Wort erschien und auch ein Vorwort von Majakowski enthielt, belegt die Motive seines aufrechten Wunsches nach fruchtbarer Zusammenarbeit. Doch schon bald stellten sich ernsthafte Zwistigkeiten ein. Lunatscharski akzeptierte nicht den vom bürgerlichen Kunstbetrieb weitergeschleppten Freiheitsbegriff der „linken" Künstler und wurde in dieser Frage nicht nur von Lenin unterstützt, sondern geradezu gedrängt, auf Klärung der Positionen zu bestehen. In den in der Öffentlichkeit ausgetragenen Disputen glaubte er die altbekannten Grimassen im revolutionären Gewand wiederzuerkennen und attackierte sie als der neuen Zeit nicht gemäße Verkehrsformen zwischen Staat und Künstlern. Während er in der Frage Autonomie der Kunst oder Anerkennung der Führungsrolle von Partei und 46

Staat reale Verständigungsmöglichkeiten sah, schloß er jegliche Kompromißbereitschaft in der Auseinandersetzung um das Kunsterbe aus. Als Volkskommissar für Bildungswesen war Lunatscharski auch persönlich für den Schutz aller Kulturgüter verantwortlich. Mit hohem Engagement nahm er diese Funktion wahr. Als er von Zerstörungen im Kreml im Verlaufe der Kämpfe gegen die Truppen der Provisorischen Regierung erfuhr, reichte er sofort beim Rat der Volkskommissare sein Rücktrittsgesuch ein. Er sei machtlos, diesen Vorgängen Einhalt zu bieten. Seinem Wunsch wurde bekanntlich nicht stattgegeben. Lenin habe ihm gewaltig den Kopf gewaschen, erinnerte er sich später, weil er sich in einem so entscheidenden historischen Moment seiner Verantwortung entziehen wollte. In dem einen Tag danach verfaßten Aufruf Schützt das Volksgut richtete er einen „flehenden" Appell an alle Bürger, die kulturellen Reichtümer zu hüten, die das Volk durch die siegreiche sozialistische Revolution als Erbe übernommen hat. Lunatscharski schreckten nicht allein die Übergriffe im Verlaufe der bewaffneten Kämpfe. Er befürchtete unwiederbringliche Verluste in einem Ausmaß, das beispielsweise die Bilderstürmerei im Gefolge der Großen Französischen Revolution angenommen hatte. Den willkürlichen Verstümmelungen war u. a. kaum eine der jahrhundertealten französischen Kathedralen, kaum ein Meisterwerk gotischer Baukunst entgangen. Vielleicht hatte er diese bis heute sichtbaren Spuren sinnloser Zerstörung vor Augen, als er sich auf die positiven historischen Lehren der Pariser Kommune zum Schutze der kulturellen Werte vergangener Jahrhunderte berief.87 Die Ausgangs- und Bezugspunkte waren tatsächlich sehr unterschiedlich, als sich Lunatscharski wie Majakowski in den ersten Revolutionsjahren um die Entwicklung einer neuen sozialistischen Kunst und Literatur bemühten. Unterschiedlich waren auch ihre Vorstellungen von der Beschaffenheit und von den Wegen dieser neuen Kunst. Aber das Ziel war für den einen wie für den anderen die maximale Einwirkung der Kunst auf die Volksmassen, die die neue Gesellschaft schaffen. Trotz divergierender ästhetischer Auffassungen und scharfer Auseinandersetzungen, denen auf beiden Seiten nicht selten Unduldsamkeit wie ungenügendes Verständnis für den Standpunkt des anderen zugrunde lagen, fanden daher der Dichter und der Volkskommissar in den entscheidenden politischen Tagesfragen eine gemeinsame Sprache. 47

Vom Nutzen der Plakat-Attachen „Zu Lebzeiten Majakowskis ist mir überhaupt nicht in den Sinn gekommen, daß ich später einmal seine Entwicklung (und habe ich sie denn jetzt schon in vollem Umfang erfaßt?) so erheblich bedeutender einschätzen werde als zu der Zeit, da er noch lebte."88 Lunatscharskis Worte waren das Ergebnis eines neuen Nachdenkens Anfang der dreißiger Jahre. Die drei Texte L,eben und Tod. Über Majakowski (1930) sowie Dichter der Revolution und Der Neuerer Wl. Majakowski (1931) enthalten keinen einzigen Hinweis auf den Streitpunkt vor einem Jahrzehnt. Auch nicht andeutungsweise erwähnt er das von ihm früher gebrauchte Argument „Wir verstehen das nicht!", dieses „eigentümliche Schlagwort" (Majakowski), gegen das sich der Dichter mit spitzer Zunge und Feder so hartnäckig gewehrt hatte, anfangs gegenüber dem Volkskommissar, später gegenüber der RAPP. Die skeptischen Töne sind geschwunden. Die „Erniedrigung der Dichtkunst", von Majakowski in Thematik, Lexik, Syntax, Rhythmus und Reim systematisch betrieben, findet nun in der Person Lunatscharskis einen eifrigen Verfechter. Selbst einen Ausdruck wie „Produktionsarbeiter in der Dichtkunst", den er bislang nicht akzeptiert hatte, gebraucht er jetzt zur Charakterisierung der Arbeitsweise des Dichters.89 Und das seinerzeit so heftig kritisierte öffentliche Benehmen - „die Rolle des geistreichen Skandalpoeten zu spielen eine Art hochbegabten randalierenden Hofnarren an der literarischen Front" - schreibt er ohne Einschränkungen Majakowskis Jugend zu.9« Auf einige Kontroversen der ersten Revolutionsjahre spielte Lunatscharski in einem anderen Kontext erst ein Jahr später, 1932, an. Er erinnerte an die Diskussion über Meyerholds Inszenierung der Morgenröte von Verhaeren, an Majakowskis polemische Bemerkung: „Lunartschaski sagt, ein Stück müsse begeistern, anregen, anstecken. Ich antworte darauf, Cholera und Flecktyphus stecken an - ist das denn gut?" 91 Paradoxa dieser Art, bekräftigte Lunatscharski nochmals im nachhinein, tendierten zur bürgerlichen Theorie derL'art pour l'art. Unumwunden bezeichnete er auch erneut den Versuch, die Arbeit eines Künstlers mit der Arbeit eines Produktionsarbeiters gleichzusetzen, als eine Abart des Formalismus, der den Dichter durch die sympathisierende Haltung zur Revolution beeindruckt und letztlich beeinflußt habe.92 Auf diese Weise rechnete Lunatscharski alles, was zeitweilig ihre gegenseitigen Beziehungen 48

getrübt hatte, zur „futuristischen Hülle", die er von Majakowskis Werk abtrennte. Damit fiel der Schere auch zum Opfer, was ein Kernstück seiner Kunstprogrammatik war: der neuartige Bezug a'-.f den Leser als eine Kette von Erfahrungen, von denen er die einen verwarf, die anderen weiterführte. Sie waren eine Art ständiges Korrektiv seiner Arbeit am künstlerischen Wort. In Lunatscharskis Bemerkung steckt allerdings auch ein rationaler Kern. Majakowski gewann im Verlauf der Jahre tatsächlich ein reiferes Verständnis für die nach 1917 zugespitzte Streitfrage und gestand selbst ein, „daß erworbene Verhaltensweisen aus vorrevolutionären Jahren in uns verdammt festsitzen". Statt einen organisierten Kampf zu führen, sei er anarchisch gegen alle Hemmnisse, gegen die Schwierigkeiten bei der Drucklegung seiner Texte losgegangen, erinnerte er sich später, „denn innen fühlte ich, daß meine Linie in der Literatur gerade diejenige war, die eins werden wird mit der Linie der proletarischen Literatur" 93 . Die Schlüsselfrage war für ihn in den literarischen Tageskämpfen, ob er von seinen Lesern verstanden wird und ob er sie auch richtig versteht. Deshalb reagierte er so überaus empfindlich, wenn ihm vorgehalten wurde, er schreibe unverständlich. Diese Empfindlichkeit steigerte sich nach der Revolution, als sich sein Literaturbegriff wandelte und damit auch seine Auffassung von den Beziehungen zwischen einem Dichter und seinem Publikum. Der kubofuturistischen Frühzeit verdankte Majakowski das Schreiben auf ein öffentliches Vernehmen hin und die unkonventionelle, „nichtliterarische" Bearbeitung des Wortmaterials im Bruch mit klassischen, symbolistischen und sonstigen tradierten Verfahren. Das Abstoßen von den Vorläufern war, genau besehen, die Voraussetzung für die Durchsetzung des früh deklarierten Demokratisierungsanspruchs und das Finden einer eigenen Sprache. Das Wort betrachtete er als das Material der Dichtkunst. Sein Gebrauch erfülle den Zweck, neue Seh- und Hörgewohnheiten zu provozieren, hervorzurufen. Von diesem programmatischen Ansatz hat sich Majakowski nicht losgesagt. Seine Stärke war, daß er die Fetischisierung von einmal Entdecktem ablehnte. Neues müsse immer wieder neu gemacht werden, lautete seine Grundregel. Aber niemals akzeptierte er Neues, nur weil es neu ist, sondern ausschließlich Neues, das der veränderten Zielstellung adäquat ist. Chlebnikow stellte eine dichterische Aufgabe, zeigte ihren Lösungsweg an und überließ es dann den anderen, den Nachfolgern, 4

Thun; Autor, Leser

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die angedeuteten Lösungen „für praktische Zwecke auszuwerten" 94 . Anders Majakowski. Der einzige vergleichbare Versuch mit dem Poem Hundertfünfzig Millionen - „will, daß jedermann den Text ergänzen und verbessern möge" 95 - kann nicht unmittelbar in der Tradition Chlebnikows gesehen werden; es entstand unter dem Einfluß der zu dieser Zeit verbreiteten kollektivistischen Ideen, zu denen sich auch die „Komfuten" bekannten, vor allem aber auf Grund der neuen Erfahrungen bei der ROSTA-Arbeit. Majakowski löste jede dichterische Aufgabe selbst, in Übereinstimmung mit der Wahl des Adressaten, die dieser Aufgabe zugrunde lag. Chlebnikows Umgang mit dem Wort als selbständige Kraft, „die das Material der Gefühle und Gedanken ordnet und gliedert" 96 , faszinierte ihn jedoch. Deshalb interessierte sich Majakowski für das von ihm entwickelte „periodische System des Wortes" - das Hinabsteigen zu den Wurzeln eines Wortes, das Aufspüren feinster Wurzelabzweigungen (nach Chlebnikow die Stammdeklination) und die Bildung von Wortreihungen, aus denen sich wie aus einer schmiedeeisernen Kette kein Glied herauslösen lasse. Tynjanow gab zwei Jahre später eine theoretische Erklärung, die in geradezu verblüffender Weise mit der Beobachtung des Praktikers übereinstimmt, so daß der Gedanke einer gegenseitigen Verständigung in diesem Punkt nicht auszuschließen ist: „Er (Chlebnikow - N. T.) belebte im Sinn des Wortes seine längst vergessene Verwandtschaft mit fremden Wörtern oder brachte das Wort in Verwandtschaft mit fremden Wörtern. Dies erreichte tr, indem er den Vers als System auffaßte. Wenn man einander fremde, aber ähnlich klingende Wörter in eine Reihe, in ein System stellt, werden sie verwandt. Daher Chlebnikows 'Deklination der Wörter' (bog - beg) 97 , daher die neue 'Etymologie'. Indessen gab Chlebnikow seine Theorie nicht für wissenschaftliche Wahrheit aus (wie Schischkow), er betrachtete sie als Konstruktionsprinzip. Chlebnikow hielt sich nicht für einen Gelehrten, sondern für einen 'Wegbereiter der künstlerischen Sprache'." 98 Und weiter unten heißt es: „Er ist . . . in erster Linie der Dichter-Theoretiker. An die erste Stelle tritt in seinen Versen die nackte Konstruktion." 99 Majakowski zählte aus diesem Grunde Chlebnikows Gedichte zu den wichtigen Büchern, die nur an wenige adressiert sind, „aber nicht an Verbraucher, sondern an Erzeuger" 100 . Dies seien die Samen und Gerippe der Massenkunst, fügte er hinzu. Und gleichzeitig polemisierte er mit den Herausgebern einer ChlebnikowAusgabe, die Chlebnikows Gedichte kaputt machen würden, wie er 50

sich ausdrückte, indem sie diese als „Modellfall klassischer Versgestaltung" darböten. So paradox dies auch scheinen mag, der Vorwurf konnte nur gegen Tynjanow persönlich gerichtet sein, gegen einen der schärfsten Gegner jeglicher Mumifizierer großer Kunstleistungen, denn er war Mitherausgeber und Vorwortautor der geplanten Ausgabe.101 Zu Chlebnikow verhielt sich Majakowski nicht nur als ein Nehmender. Das erwähnte früh praktizierte Schreiben auf ein öffentliches Vernehmen hin, insbesondere die direkte Anrede und die Stimmkraft als Medium einer unmittelbaren Verständigung zwischen Dichter und Publikum, blieb nicht ohne Wirkung auf Chlebnikow. Diese Wirkung setzte bereits im Krieg ein. Zwar war Chlebnikow ein miserabler Deklamator der eigenen Verse und zerstörte jedweden Kontakt zwischen sich und seinen Hörern schon nach kurzer Zeit, sobald er selber auf der Bühne stand. Aber Majakowskis Einsatz der Stimmkraft als Steigerung der Wirkungsmöglichkeiten von Dichtkunst beeindruckte Chlebnikow nachweislich. Großes Interesse bekundete er vor allem für Majakowskis neue Experimente, darunter für die Agitationsverse der ROSTA-Fenster in den Jahren 1919 bis 1920.102 Der Wechsel des Adressaten in Majakowskis Dichtungen der ersten Revolutionsjahre ist häufig erwähnt, aber kaum gründlich untersucht worden.103 Die Schritt für Schritt vorangetriebenen Bemühungen um eine Demokratisierung der Künste - 1913, im Krieg, 1917-1918, 1919, 1923 - forderten dem Dichter jeweils enorme Anstrengungen ab. Spätestens 1918 begriff er, daß die Revolutionierung der Kunst, auch der Literatur, weder ausschließlich im Künstlermilieu noch in einem rein geistig-intellektuellen Klima vonstatten gehen kann. Deklarationen und Losungen der Art wie „Die Straßen sind jetzt unsre Pinsel,/unsre Paletten die Plätze" und „Futuristen, auf die Straßen,/ihr Trommler und Poeten!"104 waren ein Fortschritt, insofern sie den Bruch mit intellektueller Lebensfremdheit, spießerhafter Sensationslust und anarchistischem Rebellentum öffentlich bekundeten und auch einleiten sollten. Der Adressat blieb jedoch in der Mehrzahl der alte, solange die Kaffeehausperiode nicht abgeschlossen war, trotz neuer Zuhörer aus der Masse ab und an. Ein Gedicht wie Unser Marsch, geschrieben Anfang des Jahres 1918, hatte als Adressaten eben nicht die revolutionären Massen, sondern die Futuristen. David Burljuk tat daher so unrecht nicht, als er es 1919 in der Tomsker Gaseta futuristow unter dem Titel 4*

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Futuristenmarsch veröffentlichte. Ein Revolutionsmarsch wie fast ein Jahr später der Linke Marsch war dieses Gedicht noch nicht, das Majakowski bestimmt nicht zufällig 1922 in Paris für Robert Delaunay zur Erinnerung aufschrieb und mit der Losung versah: „Es lebe der komfmunistische] Futfurismus]."105 Ein Mann wie Majakowski, der nach Hugo Huppert „von der ersten bis zur letzten Äußerung auf die mündliche und auf die totale Kommunikation"106 bedacht war, mußte gerade eingedenk der Moskauer Erfahrungen in den ersten Revolutionsmonaten an diesem Punkt neu beginnen. Anders war das erstrebte „Daseinsrecht" als Schriftsteller der Revolution nicht zu erwerben.107 Der Unke Marsch, entstanden im Dezember 1918, war ein erster direkter Appell zur revolutionären Tat im Namen der siegreichen Klasse, gerichtet an einen konkreten Adressaten, an die Petrograder Roten Matrosen. Dieser „Erstling vom Revolutionsbeginn", wie ihn Majakowski 1930 nannte,108 zeigte den Weg, war aber noch nicht der Weg selbst. Die wirkliche Suche nach geeigneten Kunstformen für die neuen Leser hatte erst jetzt begonnen. Ilja Ehrenburg analysierte 1921 die Veränderungen im russischen Kunstleben nach 1917 und kam zu interessanten Schlußfolgerungen im Vergleich zur französischen Kunstszene. Bereits vor dem Krieg habe man in Pariser Künstlerkreisen über das Verhältnis zwischen Kunst und Leben heftig gestritten. Aber mit jedem Jahr hätten sich die Künstler von der Realität immer weiter entfernt. Sie arbeiteten schließlich nur noch „für das Gefängnis der Kunstsammler oder für den Friedhof der Museen"109. Sie schufen einmalige Stücke, aber keine Gegenstände für den Massenverbrauch. Für letzteren Zweck konstruierten sie niemals etwas Neues, sondern begnügten sich mit Dekorieren. So sei die Kunst der Avantgarde durch die Tücke der Umstände schließlich nicht nur unpopulär, sondern antipopulär geworden. In Rußland hingegen sei die Avantgarde erstmalig zu einer breiten Bewegung angewachsen, aber nicht etwa dank eines hervorragenden Meisters, sondern durch den Wechsel des Publikums.110 Dieses Argument wird vielerorts zitiert.111 Und dennoch abgesehen von Ehrenburgs Befangenheit im Konstruktivismus - lag auch dieser Formulierung eine abstrakte, vereinfachende Vorstellung zugrunde. Der Wechsel des Publikums stimulierte tatsächlich die künstlerische Avantgarde zu enormer Aktivität und zu neuen Einfällen. Aber er vollzog sich nicht ohne Widersprüche und Konflikte und 52

vor allem nicht von heute auf morgen. Im Schaffen einzelner Künstler verliefen sie mitunter äußerst tragisch, denn die Schwierigkeiten, diese Widersprüche und Konflikte zu meistern, lagen nicht nur beim Künstler. Sie lagen auch beim Publikum. Der Künstler mußte eine andere „Sprache" finden, um das neue, ihm noch wenig bekannte Massenpublikum erreichen zu können. Und das Massenpublikum, das sich in der überwiegenden Mehrheit auf einem niedrigen Kulturniveau befand, mußte sich ein entwickeltes Kunstverständnis erst noch erarbeiten. Majakowski hat die Schwierigkeiten auf beiden Seiten - die Schwierigkeit des Schreibens wie die Schwierigkeit des Verstehens - in ihrer Komplexität wie Kompliziertheit früh begriffen und aus dieser Tatsache radikale Schlußfolgerungen gezogen. Im Mittelpunkt stand das Ziel, daß die Masse der Arbeiter und Bauern, die das neue Leben aufbauen, sich zu wirklichen Lesern entwickelt und daß er der Poet dieser Menschen ist. 112 Der entscheidende Schritt zur Erfüllung dieser sich selbst gestellten Forderung war gerade die Tätigkeit, der selbst in Freundeskreisen jeglicher Kunstwert abgesprochen wurde: die knapp zweieinhalbjährige Arbeit an den ROSTA-Fenstern. Nach eigener Darstellung erfolgte der Entschluß spontan. 113 Majakowski reizte die Möglichkeit, mit dem Mann auf der Straße in der kombinierten Sprache von Wort und Bild zu reden. Die Menge, die sich vor den Plakaten staute, war ein konkreter Adressat Arbeiter und Bauern, die Stadt- und Landarmut, Analphabeten und Halbalphabeten, kurzum Bevölkerungsschichten, denen die Revolution die Perspektive sozialer Gleichheit und Sicherheit gegeben hatte und derer die Revolution wiederum bedurfte, um diese Perspektive in der Wirklichkeit durchzusetzen. Die Denikin-Armee war 1919 in Südrußland zur Großoffensive übergegangen. Judenitsch bedrängte Petrograd. Majakowski begriff als einer der ersten der avantgardistischen Künstler die Notwendigkeit, die Kunst auf die veränderten Zeitumstände einzustellen und von allgemeinen Losungen zu aktuellen Tagesaufgaben überzugehen. Er schreckte nicht vor der realen Erscheinung der neuen Zeit zurück, als er sie erkannte „in Gestalt des russischen Iwan, mit verwühlten Haaren, zerrissenen und schmutzigen Kleidern, barfuß und mit zerarbeiteten und blutenden Händen" 11,5 . Er suchte den Weg zu ihr und sah in der Plakatarbeit eine einmalige Gelegenheit, das Grundanliegen jahrelanger Kunstanstrengungen - die Ü b e r w i n d u n g der K u n s t im traditionellen Sinn - verwirklichen zu können. Wirkungsstätten der

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Kunst sollten die Straßen und Plätze sein, wo Kunsc nicht ausgestellt, sondern in den Lebensalltag einfunktioniert wird. Dieses Grundprinzip der Futuristen, bereits verkündet im Dekret Nr. 1 über die Demokratisierung der Künste vom März 1918, war noch in Kraft. Korrigiert wurde die Einstellung auf den Adressaten. Dadurch veränderte sich der Gegenstand, und es veränderte sich die Bearbeitung des Materials. Die neuen Eigenschaften der Plakattexte erklären sich folglich aus einem anderen Funktionsverständnis. Die Meeting-Periode, „die ekstatische Zeit der Revolution", wie sie Lissitzky nannte,115 war vorbei. Die Revolution, von den „Linken" als ein Festtag der Kunst begrüßt, durchlebte das dritte entscheidende Kampfjahr. Auf den Feiertag folgte der Arbeitstag. Begonnen hatte die Phase des Vom-Himmel-auf-die-Erde-Hinabsteigens. Lenin hatte es bereits im September 1918 für die Presse gefordert: „weniger politisches Wortgeprassel", „weniger intelligenzlerische Betrachtungen", „weniger Politik", „mehr ökonomisches", mehr Aufmerksamkeit für das Neue, das in der Praxis aufgebaut wird.116 Majakowski berief sich auf diese Worte Lenins, als er im Mai 1920 eine „künstlerische Agitationsweise in fundamentaleren Bildwerten, in fundamentaleren Ausdrucksformen für das gegebene Agitationsmaterial und Propagandathema"117 forderte, und erneut 1923, als er die jüngsten Erfahrungen der ROSTA-Arbeit auf die künftigen Wege der revolutionären Dichtkunst ummünzte und programmatisch erklärte, der Schriftsteller müsse auf knappem Raum „im Telegrammstil" schreiben und das Geschriebene näher ans Leben heranführen. Lenins Appell aus der Großen Initiative (1919): „Weniger schwülstige Phrasen und mehr einfache, alltägliche Arbeit"118 entwickelte er zum Aktionsprogramm des Dichtens, dessen „Sinn" er danach bewertete, ob es „für eine Verbesserung des Lebens der Menschen nutzbringend ist"119, unbeirrt der Tatsache, daß er sich damit den Vorwurf des Utilitarismus einhandelte. Aber das waren schon weiterführende Betrachtungen im nachhinein, Schlußfolgerungen aus der praktischen Arbeit. Majakowski war von dem ersten Zweimeter-ROSTA-Plakat, das er im Oktober 1919 zufällig auf der Straße gesehen hatte, fasziniert gewesen und hatte dem Direktor der Russischen Telegraphenagentur seine Arbeitskraft als Texter und Zeichner sofort zur Verfügung gestellt. So entstand das Werk, das eine Schlüsselstellung in seiner Entwicklung einnehmen sollte. Viktor Du wakin nannte es sogar das wichtigste Lebenswerk und hatte dabei die neuen Kunst54

erfahrungen des Dichters im Sinn. 120 Es veränderte seine künstlerische Sicht und seinen Arbeitsstil und festigte seine Überzeugung, daß der revolutionäre Künstler nach Massenwirkung streben müsse, wenn er will, daß seine Produkte in der neuen Zeit „arbeiten". Viktor Duwakin hat eine gründliche, sachkundige Analyse der von Majakowski gedichteten und gezeichneten ROSTA-Fenster gegeben, die auch in einer reich illustrierten deutschsprachigen Ausgabe vorliegt, so daß sich eine Beschreibung erübrigt. (Nach dem jetzigen Forschungsstand hat Majakowski für die meisten der rund eintausendsechshundert ROSTA-Fenster die Texte verfaßt und etwa vierhundert selber gezeichnet.) In unserem Zusammenhang interessiert Majakowskis Entwicklung zum „Baumeister" einer neuen Ästhetik. Unter diesem Aspekt war die ROSTA-Zeit nicht Lehrzeit, sondern eine Zeit der Reife, der Festigung seiner Auffassung von Kunst als soziale Aktivität in den revolutionären Umbrüchen der Gegenwart. Eins der Grundprobleme Majakowskis war die Nutzbarmachung der „elementaren Gewalt der neuen Sprache" 121 für die Dichtkunst. Dieser Vorgang beschränkte sich jedoch nicht, wie häufig angenommen wird, auf die Erweiterung des Wortschatzes, auf das Hereinholen bisher verpönter umgangssprachlicher Wörter und Wendungen ins Gedicht, obwohl Majakowski gerade diese Seite der zu leistenden Wortarbeit stets herausgestellt hat. Er übernahm die von der Revolution auf die Straße geschleuderte „rauhe Sprache" 122 nicht pur. Die ROSTA-Fenster, nach seinen Worten „die manuelle Bedienung eines 150-Millionen-Völkchens durch eine Handvoll Künstler" 123 , erforderten die Suche nach wirksamen agitatorischen K u n s t formen. In seinem Selbstverständnis bedeutete das, den neuen Leser und Betrachter erreichen. „Es genügt nicht zu sagen: 'Der ewig-rege Feind ist wachsam' (Block)", lautete eine der neu formulierten Grundregeln Majakowskis. „Man muß die Gestalt des Feindes genau umreißen oder wenigstens die Möglichkeit bieten, ihn sich eindeutig vorzustellen. Es genügt nicht, aus der Marschkolonne auszuschwärmen. Man muß es nach allen Regeln des Straßenkampfes tun . . ." 1 2 4 Die Straße hatte seinen bereits mehrfach zitierten Zweizeiler „Friß Ananas, Bürger, und Haselhuhn./Mußt bald deinen letzten Seufzer tun" angenommen. Das bestärkte ihn u. a. darin, die Möglichkeiten des Tschastuschka-Verses (Gassenhauers) weiter auszuschöpfen, wohl wissend, daß dieser Rückgriff auf die Volksdichtung wider alle Regeln der „hohen" Dichtkunst erfolgte. Die Problematik, der er sich

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konfrontiert sah, lag folglich nicht vorrangig im Entdecken von neuen Wörtern, Rhythmen, Reimen, Versen, sondern im Finden von Text- und Bildlösungen, in denen auch bereits benutzte, aber nicht abgenutzte (!) Mittel und Verfahren verarbeitet sind, vorausgesetzt, daß sich mit ihrer Hilfe die Massen-Wirksamkeit steigern lasse. Auf diese Weise entwickelte er eine eigenständige Auffassung von Innovation, einem Problem, das in Kreisen der künstlerischen Avantgarde einen zentralen, wenn nicht gar den zentralen Platz einnahm. Die entsprechende Formulierung aus Wie macht man Verse? ist auf eine Grunderfahrung der ROSTA-Arbeit zurückzuführen: „Bei einem dichterischen Produkt ist Neuheit Vorbedingung. Das Material an Worten und Wortzusammenstellungen, das sich dem Dichter bietet, muß umgearbeitet werden. Wenn zur Versfabrikation Wortschrott verwendet wird, muß er sich in genauer Übereinstimmung mit der Menge des neuen Rohstoffes befinden. Von der Quantität und Qualität dieses Neuen wird es abhängen, ob eine solche Legierung Gebrauchswert besitzt. Neuheit setzt selbstverständlich nicht das dauernde Aussprechen welterschütternder Entdeckungen voraus. Jambus, freier Vers, Alliteration, Assonanz werden nicht jeden Tag neu geschaffen. Auch ihre Fortentwicklung, Vertiefung, Verbreitung bietet Arbeitsmöglichkeiten."125 Diese Gedanken hat Majakowski wiederholt ausgesprochen und auch auf den Unsinn hingewiesen, Uhren zu erfinden, die schon erfunden sind. Das gelte auch für die Literatur. Die Themen waren hochaktuell. Die neuesten Agenturmeldungen wurden sofort zu Plakaten verarbeitet, so daß diese mitunter früher in Schaufenstern und öffentlichen Gebäuden ausgehängt wurden, als die Meldungen über die Zeitungen verbreitet werden konnten. (Die ersten regelmäßigen Rundfunksendungen begannen in der UdSSR erst 1924.) Sie erreichten auch Analphabeten, Halbalphabeten. Die beredte Bildsprache zog den Blick auf sich und forderte die Leute zum Stehenbleiben auf. Sie war das Ergebnis intensiven Nachdenkens über eine maximale optische Wirkung, die außerdem von anhaltender Dauer sein sollte. Auch der in Hast Vorbeieilende sollte im Laufen innehalten und das Plakat wahrnehmen. Majakowski betrieb diese Überlegungen mit professionellem Ernst und berief sich auf bereits vorliegende wissenschaftliche Ergebnisse der Rezeption von bildnerischen Lösungen in Verbindung mit dem Text. Der kräftige Einsatz der roten Farbe - die weithin sichtbaren wegweisenden roten Silhouetten, der effektvolle Kontrast der grünen Farbe 56

zu Rot - und die Dynamik der Linien ebenso wie die Vorliebe für den Imperativ waren typische Eigenschaften der von ihm entworfenen Plakate.126 Die Lektüre der ROSTA-Verse vermittelt Zeitgeschichte. Die Jahre 1919 bis 1922, bis zum Beginn der NÖP, ziehen als Jahre des Kampfes an mehreren Fronten vorüber: auf den verschiedenen Kriegsschauplätzen im Innern des Landes und in Polen127, bei der Mobilisierung aller Kräfte zur siegreichen Beendigung des Bürgerkrieges, zur Wiederinstandsetzung der Fabriken, zur Bekämpfung von Hunger, Kälte, Feuergefahr, Cholera, zur Hilfe für die skorbutkranken Kinder, zur Verdreifachung der Produktion. Majakowski war sich der historischen Bedeutung dieser Agitationskunst und ihres Dokumentarwerts wohl bewußt und bedauerte bereits 1923, daß die Plakate nicht sorgsam gesammelt wurden: „Dabei hätte man anhand dieser Plakate die Möglichkeit gehabt, Schritt für Schritt drei Jahre unserer Revolution, unseres Abwehrkampfes in Zeichnungen und Karikaturen zu studieren."128 Für den Dichter Majakowski hatte die ROSTA-Arbeit noch eine ganz spezifische Bedeutung: Sie schulte seine Fähigkeit, ein historisch gewichtiges Thema am Material aus dem Alltagsleben abzuhandeln. Er kam ab von allegorischen Stoffen in der Art des Poems Hundertfünfzig Millionen und gewann eine neue Beziehung zum Wort. Die Suggestivkraft eines Satzes bzw. Satzgliedes stand im Vordergrund. Die syntaktischen Konstruktionen waren diesem Prinzip untergeordnet. Wortökonomie wurde zur Grundregel der Lexik. Die Einstellung auf den anderen Adressaten, den Plakatleser, erforderte die Abkehr von hochtrabenden Wörtern, vom gehobenen Stil der Ode, des Hymnus, des Mysteriumspiels zum Zwecke der Lobpreisung der Revolution. Diese Gedichtformen verschwinden zu dieser Zeit generell aus seiner Schreibpraxis. Hymnus und Märchen verwendet er lediglich in der parodistischen Umkehrung, um den Klassenfeind, so gefährlich er zu dieser Zeit auch noch war, dem Gespött der Leute preiszugeben und deutlich zu machen, daß er durchaus zu schlagen ist. Die direkte Anrede („Genossen!", „Rotarmist!", „Arbeiter!", „Bourgeoise Bürger!", „Ihr Werktätigen!", „Rotarmisten-Urlauber!") ist meist in die Aufruf- oder Frageform gekleidet. Es dominierte die Appellfunktion. Die alltäglichen Dinge gehen im ROSTA-Vers neue, ungewohnte Verbindungen ein. Dieser Vorgang ist mit der Besonderheit vergleichbar, die Viktor Schklowski in Lenins Sprache beobachtet hat: 57

„Der Alltag wird von Lenin angeführt, um ein Gegengift zur Phrase zu haben, mitunter wählte er absichtlich dafür ein begrenztes Thema: die Sauberkeit der Höfe und sogar das Ankleben von Bekanntmachungen . . . Wenn Lenin in seinem Werk Tatsachen aus dem Alltag aufnimmt, so 'standardisiert' er diesen Alltag nicht, sondern gebraucht ihn, um den Vergleichsmaßstab zu verändern. Er vergleicht Großes mit Kleinem, er benutzt ein Beispiel geringster Größe, um das Wort vom Falsett herunterzuholen, um es aufzurütteln." 129 Es ist nicht auszuschließen, daß diese Feststellung auf einer Beobachtung des Dichters beruht, der bekanntlich die Studie sowie eine Reihe weiterer Untersuchungen dieser Art angeregt hat. Er hat Lenins Sprache sehr genau studiert, aus rein professionellen Gründen (u. a. ROSTA-Arbeit, Lenin-Gedichte und Poem) wie auch aus tagespolitischen Motiven. Bezogen auf die eigene Praxis sprach er von der organischen Verbindung „hochwertiger Publizistik" mit Dichtkunst. Gut und schön!, so glaubte er, war diesem Ziel sehr nahe gekommen, das er bereits 1924 in den „Jubiläumsversen" benannt und dann in der Autobiographie erläutert hat: „Knapperer Gebrauch der abstrakten poetischen Mittel (Hyperbel, vignettenartiger Einsatz des eigenwertigen Bildes) und Auffindung von Mitteln für die Verarbeitung zeitgeschichtlicher und propagandistischer Stoffe. Ironisches Pathos bei der Schilderung von Einzelheiten, die aber auch einen richtigen Schritt in kommende Zeiten eröffnen können ('Und kein Fliegenschwarm / macht die Butter käsig. / Ums Herz wird dir warm: / Alle Preise ermäßigt!')! Zwecks Auflockerung der Bildflächen: Einschub von Tatsachen unterschiedlicher Größenordnung, gerechtfertigt nur im Falle persönlicher Assoziationen (das Gespräch mit Alexander Block oder 'Das erzählte ein stiller Jude mir, / Pawel Iljitsch Lawut. . .')." 13 ° Die genannten Probleme beschäftigten Majakowski viele Jahre. Ungewöhnliche Gegenüberstellungen und schroffe Wechsel scheinbar unvereinbarer Eindrücke bevorzugte er schon in seinen frühen Stadtgedichten. Diese scharfen Kontraste waren Ausdruck der auf Schockwirkung bedachten Kunstäußerungen der Kubofuturisten. Ihr antibürgerlicher Protest nahm bei ihm bald, wie bereits dargestellt, Züge eines bewußten sozialen Protestes gegen die bürgerliche Ordnung und Kultur an, trotz noch verbleibender Unverbindlichkeiten im politischen Tageskampf. Aber das rein Experimentelle überwog lange Zeit. Das Nebeneinander von offenem Affront und produktiver Herausforderung erklärte sich schon damals u. a. aus 58

seinem Kampf an mehreren Fronten. Der Adressatenwechsel erfolgte nicht in logischer, zeitlicher Abfolge. Fast gleichzeitig geschriebene Texte richteten sich an verschiedene Adressaten. Mal wandte sich Majakowski an die potentiellen Bundesgenossen Künstler, mal an seine Gegner von der Welt der Kunst, Anhänger der akademischen Schulen wie Alexander Benois, mal schlechthin an die Öffentlichkeit usw. usf. So erprobte er unterschiedliche Verfahren und Ausdrucksweisen, eine Praxis, die er nach der Oktoberrevolution weiterführte. Die zeichnerischen Arbeiten aus dieser Zeit bewegten sich im gleichen Umfeld. An der Moskauer Kunstausstellung 1915 beteiligte sich Majakowski mit einem Selbstbildnis. Ein halber Zylinder und ein schwarzer Handschuh waren an eine mit schwarzen Streifen bepinselte Wand angebracht. Die Zeichensprache war eindeutig: Das war der auf der Bühne auftrumpfende Dichter in Zylinder, gestreiftem Hemd und mit Handschuhen. Letztere symbolisierten den Fehdehandschuh, den er den Verteidigern des „gängigen Kunstgeschmacks", also einem bestimmten Künstlerkreis, hinwarf. Bereits 1913 lautete der Titel eines seiner Referate Der Handschuh.131 Und zur gleichen Zeit malte er seine ersten Volksbilderbogen für den Massengebrauch. Trotz unverkennbarer individueller Züge entwickelte er zu dieser Zeit noch keinen eigenen Lubok-Stil. Es blieb bei wenigen Versuchen. Aber der Bogen „Ach Sultan, wärst du doch zu Haus geblieben . . ."(1914), der in einer guten Reproduktion vorliegt, macht trotz der Schwächen in der Konzeption deutlich: „. . . Majakowskis Tätigkeit im Verlag Sewodnjaschni lubok' blieb für ihn nicht folgenlos. Hier wurde die Grundlage gelegt zu dem System jener farbkräftigen Lubok-Zeichnungen, mit Unterschriften versehen, die während der Revolutionsjahre in den ROSTA-Fenstern Majakowskis eine großartige Wiedergeburt erfuhren."132 An dieser Erneuerung des „lubok" nach der Oktoberrevolution hatte Majakowski großen Anteil. Im Vergleich zu dem erwähnten Bogen von 1914 sind seine Zeichnungen jetzt sparsamer im Detail, dafür dynamischer bei der Wiedergabe von in Bewegung umgesetzten Handlungsabläufen. Die Arbeit mit der Farbe ist expressiver. Die Flächen sind nicht mehr koloriert. Das erhöhte die Plastizität der gemalten Figuren, Gegenstände, Symbole. Majakowskis „Zeichnungen sind leuchtend, intensiv, lakonisch", betonte Michail Tscheremnych, „und gerade diese Eigenschaften brauchten die Fenster vor allen anderen"133. Der Freund sah in Majakowski in erster Linie den Plakatmaler, obwohl er schon damals Majakowskis 59

ungenügende Ausbildung im Zeichnen bemängelt hatte, und zwar einen Plakatmaler des besonderen Typs, der 1919/1920 kollektiv entwickelt wurde.134 Die Plakate waren nicht signiert, weder das Bild noch der Text. Letzterer stammte in der überwiegenden Mehrzahl von Majakowski. Er beeinflußte die Bildsprache des gesamten Kollektivs. Tonfall und Rhythmus des Textes, jeweils die besondere Form der Anrede (Ruf, Appell), die Bewertung der Tagesereignisse u. ä. waren künstlerische Vorgaben für die Auswahl der bildnerischen Elemente. Sie bestimmten weitgehend die Wirkungsabsicht eines Plakats und damit die gesamte graphische Gestaltung. Alexander Deineka malte 1919 bis 1920 in der Provinz ROSTA-Fenster nach Majakowski-Texten. Später bekannte er, diese Arbeit habe ein künstlerisches Umdenken erfordert und sei für junge Künstler wie ihn selbst folgenreich gewesen. Der schlagkräftige und knappe Vers habe eine ebenso treffende und verknappte zeichnerische Lösung verlangt. „So entstand eine neue Ästhetik"135, faßte er die eigenen Erfahrungen zusammen. Das Neue lag weder ausschließlich beim Text noch ausschließlich beim Bild. Es ergab sich aus dem Synkretismus der ROSTA-Fenster, aus der organischen Verbindung von Text und Bild auf der Grundlage eines neuen Konzepts von der Funktion des Plakats und seiner Wirkung, die entscheidend davon abhängt, ob es auch als Blickfang funktioniert. Majakowski bereicherte diese Überlegungen durch konstruktive Angebote. Er knüpfte nicht nur an die Experimente der Kubofuturistenzeit an, sondern vor allem an Arbeiten aus allerjüngster Zeit. Die Verse zu Zeichnungen von Ksenija Boguslawskaja, Wladimir Koslinski, Sergej Maklezow und Iwan Puni, die zum ersten Jahrestag der Oktoberrevolution unter dem Titel He/den und Opfer der 'Revolution herausgegeben wurden, hatte er verfaßt, und noch nach Jahren zählte er sie zu den Anfängen des revolutionären Plakats, insbesondere zu den Quellen der satirischen „Schaufenster" der ROSTA.136 (Es konnte leider nicht ermittelt werden, wer diese Mappe beschrifteter Plakate angeregt hat und ob die Texte tatsächlich nach den Zeichnungen entstanden sind oder vielleicht nicht doch umgekehrt.137) Die Rotarmistenfibel Das sowjetische ABC hatte zu den ROSTAPlakaten bereits eine direkte Beziehung. Majakowski hatte sie im September 1919, also noch vor der Zusammenarbeit mit Tscheremnych, geschrieben und die Zeichnungen zu jedem Buchstaben des Alphabets selbst lithographiert. Dieses kleine anonym erschienene 60

Büchlein138 war das einzige Gepäck, das er in die Telegraphenagentur mitbrachte und das sich auch schon bald als nützlich erweisen sollte. Zweizeiler zu einzelnen Buchstaben wurden in die ersten ROSTA-Fenster eingebaut. Sie belebten nicht schlechthin die anfangs nach dem Muster einer illustrierten Zeitungsseite gestalteten Plakate. Die verknappte Sprache des mit Kontrastwirkung arbeitenden politischen Epigramms, die bildhafte Ausdrucksweise, durchsetzt mit Kraftwörtern, und schließlich die ironische Intonation können durchaus als eine Art Modell der künftigen ROSTA-Verse bezeichnet werden. Die vom Autor erwähnte parodistische Ebene er parodierte einen „pornographisch angehauchten" alten Fibeltyp werden selbst Zeitgenossen kaum entschlüsselt haben. Für Majakowski war sie aber als polemischer Abstoßpunkt und Gegenpol ungemein wichtig, wie er überhaupt, trotz des Beharrens auf dem unmittlbaren Gebrauchswert eines literarischen Textes, sich nicht nur an seinen eigentlichen Adressaten, den Massenleser, wandte, sondern stets noch an einen „literarischen" Adressaten. Bei allem, was er als Künstler tat, bewegte er sich mit prononcierter Schärfe und hoher ästhetischer Bewußtheit in der Kunstlandschaft seiner Zeit. Das trifft in besonderem Maße auch auf seine ROSTA-Fenster zu. „Es war dies eine Umbruchperiode, zutiefst fruchtbar in schöpferischer Hinsicht", schlußfolgerte Viktor Duwakin. „Die Tätigkeit in der ROSTA half Majakowski, viele wichtige und brennend aktuelle Probleme der Kunst neu aufzuwerfen und für sich zu lösen."139 Die Lösungswege waren zunächst in einer ganz bestimmten Richtung vorprogrammiert, denn das Plakat wirkt bekanntlich in der Reihenfolge Bild, Linie, Text, d. h. in umgekehrter Reihenfolge wie ein Buch, anders auch als die erwähnte Rotarmistenfibel, in der die Zeichnung aus der Vignette heraus entwickelt war und den Text eigentlich nur untermalte. Duwakin hebt hervor, im Sowjetischen ABC habe Majakowski die gegenseitige Durchdringung von Bild und Text verwirklicht, auf welcher die ROSTA-Fenster beruhen.1,50 Aber es ist doch nur eine Vorstufe, denn ein synkretisches Bild entsteht erst jetzt. Der Plakatmaler Majakowski nutzt die bildnerischen Elemente, um die Wirkung der von überflüssigen Metaphern gereinigten verbalen Ausdrucksformen zu steigern, wobei die bildhaften Merkmale überwiegen. Die porträthaften Züge treten zurück. Viele seiner Figuren haben Zeichencharakter. Oft sind nur einzelne Details überdimensional ausgeführt (die Faust, der Hammer), aber stets doch so konkret, daß der Betrachter des Plakats sie schon vom Bild her sozial 61

bestimmen und bewerten kann: „Die Figur des Arbeiters mit der gebieterischen Geste sieht der Passant, das heißt der Betrachter der FENSTER, von weitem, noch bevor er die dazu gehörenden Zeichen 'He!', 'Genossen!', 'Herhören!' oder einen anderen Aufruf entziffern kann. Während die Zeichnung die expressive Intonation des verbalen Ausdrucks vorwegnimmt, wird sie, die expressive Intonation, dadurch noch fühlbarer, gewichtiger. Diese synkretische Einheit, die gegenseitige Unterstützung von Geste und Intonation, ist sowohl vom verallgemeinerten Bild des Arbeiters wie auch von der Gestalt des Dichters selbst untrennbar. Majakowski zeichnet gleichsam seine eigne Stimme als Tribun, die Stimme des 'Agitators, Ausrufers, Anführers', er personifiziert sie in der Zeichnung."141 Eine besondere Funktion hatte die Farbe. Rot hatte „nicht nur eine emotional-symbolische, sondern auch eine logisch klare ideographische Bedeutung"142. In kräftigem Rot gemalt sind die Gestalten der Arbeiter und Rotarmisten - der Arbeiter häufig als eckige, mitunter fast quadratisch wirkende Silhouette -, aber je nach dem Bedeutungshintergrund auch ein Fabrikgebäude, eine Wandzeitung, eine Fahne. Der Umgang mit Rot und Schwarz erinnert an Lissitzkys Arbeiten aus jener Zeit, an das 1920 in Witebsk „konstruierte", aber erst 1922 erschienene Kinderbuch Von zwei Quadraten1/l3 wie auch an die graphische Gestaltung des Majakowski-Buches Für die Stimme (1922), das dreizehn zum Vortragen bestimmte Gedichte enthielt. Lissitzky schöpfte in genialer Weise die Möglichkeiten des Zweifarbendrucks in Schwarz und Rot aus (Überlagerungen, Schraffurenkreuzungen) und schuf mit Hilfe einiger Wörter, die mitunter auch verkürzt sind, Ideogramme zu den einzelnen Gedichten. Die Zeichenschrift der Registerstichwörter (Kreise, Quadrate, Rechtecke, Satzzeichen) sind originelle Kombinationen der vier Elemente der Buchstaben: Waagerechte, Senkrechte, Schiefe, Bogen. Die in Rot und Schwarz ausgeführten graphischen Darstellungen waren ausschließlich mit Zeichen aus dem Setzkasten gesetzt und nicht lithographiert. Die Farben haben eine ähnliche allegorische Bedeutung wie in Majakowskis ROSTA-Plakaten, also keine musikalische wie in der symbolistischen Poetik. „Meine Seiten stehen zu den Gedichten etwa in ähnlichem Verhältnis wiedas die Geige begleitende Klavier", erläuterte Lissitzky sein Verfahren. „So wie bei dem Dichter aus dem Gedanken und aus dem Laut das Einheitsgebilde, das Gedicht, entsteht, so wollte ich eine gleichwertige Einheit aus dem Gedicht und den Elementen der Typographie schaffen."144 62

Majakowski war von dieser „Konstruktion" fasziniert, von der „außergewöhnlichen" Technik graphischer Kunst.145 Sie entsprach seiner Vorstellung, wie Kunst in alle Lebenssphären eindringt und der Künstler auf diese Weise immer neue Möglichkeiten entdeckt. Ziel und Richtung der „Plakat-Attacken" ordnete Majakowski der tagespolitischen Agitation und Propaganda unter. Aber nicht ausschließlich. Daher die jahrelange Kontroverse mit Polonski und die bissig scharfe Zurückweisung des Buches über das revolutionäre Plakat.146 Der Dichter und Plakatmaler verstand die ROSTA-Erfahrungen als Ausdruck eines neuen Kunstbewußtseins. Der Zusammenschluß von revolutionärer Lebenspraxis und revolutionärer Kunstpraxis hatte für ihn auch einen kunstpragmatischen Aspekt: Ökonomie und Zweckmäßigkeit statt Schönheit,147 eine von überflüssigem Beiwerk gereinigte verbale und bildnerische Sprache statt Kunstübungen im Stile der alten Hellenen oder Verkitschungen musealer Marmorschönheit. Anerkennung der in dieser Richtung geleisteten Wortarbeit forderte er 1930, Anerkennung der jahrelangen Bemühungen, die „Sprache vom poetischen Drumherum zu säubern und zwar in einem Stoffkreis, der keinen Wortschwall zuläßt", und vor allem Anerkennung der funktionalen Seite der ROSTA-Arbeit: „. . . wir revolutionierten damit auch den Kunstgeschmack, erhöhten die Qualifikation der Plakatkunst und der agitatorischen Fertigkeit." 148 Aber war das 1930 wirklich eine „Fortschreibung" des Programms von einem Jahrzehnt zuvor? 149 Das Aufgebot der ROSTA-Erfahrungen in den aktuellen Kunstdebatten läßt sich über mehrere Jahre hinweg verfolgen. Der häufige Verweis in Gedicht, publizistischem Text und öffentlicher Rede war keine Floskel oder gar rhetorische Redensart. Er war ein wichtiges Argument zur Verteidigung des eigenen Kunstkonzepts, das sich nicht allein durch Politisierung und den Bezug auf die Millionen neuer Leser auszeichnete, sondern durch die beispiellose Konsequenz, mit der er die Verschmelzung von Lebenspraxis und Kunstausübung durchsetzen wollte. Die weiteren experimentellen Versuche nach dem Muster der ROSTA-Fenster mit Werbe- und Reklametexten führten ihn an einen Endpunkt. Vom Aspekt der in dieser Richtung vorangetriebenen Kunstarbeit war das ROSTA-Plakat in seinen Augen der wichtigste Aktivposten. Nicht jedem Agitationsplakat gestand er das Recht zu, als agitatorische Kunstform anerkannt zu werden, wie die erwähnte Polemik mit Polonski beweist. Dem kollektiv geschaffenen ROSTA-Plakat lag durch die synkretische Einheit 63

von Bild und Text ein ästhetisches Kommunikationsschema zugrunde - ein Begriff, den Majakowski nie benutzt hat, der aber sein Anliegen genau beschreibt, denn das entscheidende Kriterium einer künstlerischen Leistung war für ihn die Wirkung auf den Massenleser bzw. -betrachter. Die noch verbreitete Auffassung, seine Agitationsdichtung werde durch die lyrische Beziehung des Dichters zu seinem Stoff auf das „Niveau großer K u n s t " gehoben, 1 5 0 widerspricht folglich Majakowskis Literaturbegriff. Seine Kunstanstrengungen bedürfen nicht einer derartigen Legitimierung, die aus den Hochphasen jahrtausendealter künstlerischer Betätigung des Menschen abgeleitet ist. Sie wird weder seinem subjektiven Kunstverständnis noch seiner Neuleistung als Dichter der Revolutionsepoche gerecht. D a s verdeutlicht allein schon die Arbeit an den ROSTA-Fenstern. Anfang der zwanziger Jahre stellte Majakowski die FormelDebatten fast völlig ein. Die manuelle Plakatfabrikation band alle Kraft. In dem Gedicht Seltsames Abenteuer Wladimir Majakowskis sommers auf dem Lande (1920), der genialen parodistischen Umkehr von Puschkins kleiner Tragödie Der steinerne Gast, attackierte der Dichter die Sonne mit ketzerhafter Stimme: „Taugenichts- / im Bett aus Wolkenwatte! / Mal' mal / im Schweiße des Angesichts / jahraus jahrein Plakate!"! 5 1 U n d als Rechtfertigung für den dreisten T o n lenkt er dann im Zwiegespräch mit der v o m Himmel herabgestiegenen Sonne ein und versucht zu erklären, „wie erbost / die Rosta-Arbeit machte . . , " 1 5 2 Sonne und Dichter kommen schließlich überein: „. . . laß uns zu zwein / die graue Welt belichten. / Ich lege los / mit meinem S c h e i n , / u n d du halt - / m i t Gedichten." 1 5 3 Licht und Gedicht wollen das gleiche: W e l t a u s l e u c h t e n . D i e Jubiläumsverse (1924) - „Ich / b i n j e t z t / f r e i / von L i e b e / u n d Plakaten . . . " 1 5 4 - b e n e n n e n den Kern des verhandelten ästhetischen Problems unverblümt: Puschkins Siegeshymne (Poltawa), Liebesroman ( Eugen Onegiri) und „Klapper"jambus (der vielgerühmte Oneginsche Vers) taugten nicht zum Schreiben über die Schlachten der Revolution und die veränderten Beziehungen zwischen den Menschen. „Heugabelzinke" und „Bajonett" seien die Schreibfedern der Jetztzeit. D o c h ihm, Puschkin, könne man Agitationsverse, selbst Reklametexte, ruhig anvertraun, denn er könne „Sätze baun". E r sei ein wirklicher Dichter gewesen und obendrein als Mensch ein Draufgänger und Tollkopf, beteuert der Avantgardist seinem V o r fahren. Eine unverhoffte Liebeserklärung für Puschkin? Oder gar der Versuch, aus dem Widerspruch zwischen Dichtung und Nicht64

Dichtung herauszukommen, den Majakowski, an Puschkin gewandt, zur Sprache bringt: „Nur Dichter,/sehen Sie,/sind leider nicht vorhanden; / indes - / vielleicht / sind sie auch gar nicht nötig." 155 Begriff nun Majakowski diesen Widerspruch tatsächlich als einen Konflikt der eigenen Arbeitsweise, wie auch Lunatscharski später annahm? Oder hielt er nicht beides doch für vereinbar, das Ausdrücken der eigenen Individualität im Gedicht („Man sagt,/ich sei thematisch sehr p-e-r-s-ö-n-l-i-c-h!" 156 ) und die im Tagesbefehl Nr. 2 an die Kunstarmee 1921 formulierte Grundsatzerklärung: „Euch tu ich kund egal, ob ich genial bin oder nicht-genial: ich habe den Nippsachen Adieu gesagt, mich hinein ins .Rosta'-Milieu gewagt. Ich sage euch, bevor man euch mit Gewehrkolben jagt: ,Laßt es sein!' Macht Schluß! Vergeßt! Pfeift drauf! Keine Reime noch Arien, keine rosa Rosarien noch sonstigen Ramsch aus den Kunst-Arsenalen! Wen interessiert noch das schwärmerische Blech bitter-süßlicher Herzensqualen? nebst tränenseligem Liebespech? Meister brauchen wir, Ausbesserer, Entschädiget und keineswegs langhaarige Prediger!" 157 Die genannten Fragen lassen sich nicht pauschal beantworten. Majakowski hat jedenfalls für sich persönlich den kunstpraktischen Nutzen der ROSTA-Zeit nicht überschätzt, den Übergang von der großteils 5

Thun; Autor, Leser

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noch individuellen „Zaunliteratur" und „Straßenmalerei" zur kollektiv betriebenen Plakatherstellung in der Verbindung von Bild und Text. Die tagtägliche Hinwendung zu den konkreten Einzelheiten der außerordentlich komplizierten Lebensumstände in den Jahren des Bürgerkrieges und ganz zu Anfang der N Ö P veränderte nicht nur seinen Literaturbegriff und sein Funktionsverständnis von revolutionärer Kunst schlechthin. Sie schulte auch seine Fähigkeit, a g i t a t o r i s c h e Kunstmittel auch zur Behandlung von Erscheinungen und Problemen aus dem Produktionsalltag einzusetzen. Dieses Phänomen aus der Anfangszeit sozialistischer Literaturentwicklung ist in zweifacher Hinsicht beachtenswert. Die geschichtlich neue Beziehung des Fabrikarbeiters zu seinem Arbeitsprodukt als seinem Eigentum wird nicht einfach nur gepriesen, nicht einmal als neues Bewußtsein schon vorausgesetzt. Die Einheit von verbaler und bildnerischer Plakatsprache soll dieses neuartige Verhältnis dem Betrachter überhaupt erst bewußt machen, mitunter sogar auf recht drastische Weise. Und gleichzeitig verweist das Plakat auf die Pflichten und die Verantwortung, die sich für den einzelnen aus dieser neuen Beziehung und veränderten sozialen L a g e ergeben. So wurden die häufig gebrauchte direkte Anrede und die bereits besprochene Appellfunktion, Mittel der politischen Agitation und Propaganda schlechthin, als agitatorisches K u n s t m i t t e l entdeckt. Diese Leistung spielte in der aktuellen Kunstdebatte kaum eine Rolle. Für Majakowski indessen war sie ein Wendepunkt oder anders ausgedrückt: die Grunderfahrung, u m mit seinem neuen Publikum ins Gespräch zu kommen. Sie dokumentiert den in dieser Zeit vollzogenen Adressatenwechsel, das Schreiben für die „Millionen". Die Feststellung, daß die Plakat-Attacken der Jahre 1919 bis 1922 auch einen rein kunsttechnischen Aspekt hatten, bedarf noch einer Präzisierung. Die Doppelfunktionalität, von der schon die Rede war, d. h. die Zweiseitigkeit der literarischen Tätigkeit Majakowskis, gerichtet auf die revolutionäre Veränderung seiner Leserschaft und zu gleicher Zeit auf die praktische Verwirklichung des von ihm verteidigten avantgardistischen Kunstkonzepts, erklärt die F o r t setzung der Arbeit seit 1922/ 1923 in zweierlei Richtung: Eingriff in die revolutionäre Praxis und Eingriff in die Kunstentwicklung. Die in der futuristischen Frühzeit bis ins Extreme gesteigerte Deästhetisierung der Künste - Literatur als „Bürgerschreck", das ausgestellte Selbstbildnis von 1915 - nimmt jetzt Alltagsgestalt an. Analog zu den neuen Tendenzen in der angewandten K u n s t (Gebrauchsgraphik,

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Design, Druckgraphik, Buchgestaltung, Kunstgewerbe u. ä.) befaßt sich Majakowski mit „angewandter" Dichtkunst: politische Losung, Reklamevers. Die entsprechende provokante Passage aus der Autobiographie, ein gutgemachter Reklamevers wie „Käufer komm / zum 'Mosselprom'!" sei auch „Dichtung höchsten Gütegrades"158, wurde von der Kritik schroff zurückgewiesen. Dabei war bei Majakowski nirgends die Rede davon, daß er Dichtkunst auf Reklame reduzieren wolle. Der Reklamevers hatte seiner Auffassung nach außer seiner unmittelbar zweckgebundenen auch eine geschmackbildende Funktion, die von den Künstlern wahrgenommen werden müsse und nicht Scharlatanen überlassen werden dürfe. Seine späteren Textentwürfe für Bonbonpapiere waren u. a. als Gegenmittel gegen die Abbildung der griechischen Venusfigur auf Einwickelpapier konzipiert. Die Reklame sollte dem Griff rein kommerzieller Zwecke entzogen werden, dem sie im Kapitalismus ausgeliefert ist, und wie alle Gegenstände, die den Menschen umgeben, dem einen großen Ziel untergeordnet sein: Identität von Kunst und Leben in allen Bereichen des Alltags, d. h. Organisierung des gesamten Lebens nicht nach den Gesetzen der Schönheit im Sinne der klassischen Ästhetik, sondern nach sozialer Zweckmäßigkeit und nach Ökonomie im Umgang mit dem Material. Das war eine Umstülpung des an klassischer Kunst geschulten Schönheitsideals. Und obendrein war diese literarische „Kleinkunst" in Majakowskis Selbstverständnis eine notwendige Werkstattarbeit, eine Art Fingerübung zur Verbesserung des eigenen Handwerks,159 zumal er vor einem neuen Problem stand. Die schon mehrfach erwähnte synkretistische Einheit von Bild und Text der ROSTA-Plakate ging in dem Moment verloren, da er wieder allein als Versemacher arbeitete. Die graphische Gestaltung seiner Bücher durch Lissitzky bzw. Rodtschenko160 war gewissermaßen eine Zutat zum fertigen Text, Illustration im besten Wortsinn. Die Neuheit lag in originellen buchgraphischen Lösungen, die die Effektivität des Lektürevorgangs steigerten. Auf die Text„konstruktion" hatten sie keinen Einfluß. Als Dichter empfand daher Majakowski stärker denn je zuvor den Druck, die Wirkungskraft des Wortes zu erhöhen. Theoretische Fragestellungen drängten sich automatisch wieder mehr in den Vordergrund. Der Brief über den Futurismus vom 1. September 1922 war ein erstes Anzeichen. Außer der allgemeinen Kunstund Kulturszene beunruhigten die eigenen ungelösten schöpferischen Probleme. Die großen Hoffnungen, die er in diesem Zusammenhang an die 1923 neugegründete Zeitschrift TLef band, erfüllten sich nur 5*

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partiell. Die Polemik spitzte sich wieder zu, auch mit Lunatscharski. Die experimentellen Überlegungen darüber, wie das Dichterwort stärker auf den Leser wirkt, fanden wenig Gehör. Kunst kontra

Kunstkon^ept?

Im Großen Saal des Moskauer Konservatoriums fand am 3. Juli 1923 unter Lunatscharskis Leitung ein öffentlicher Disput über das Thema Lef und Marxismus statt. Gekommen waren zweitausend Leute. Majakowski war abwesend. Er hatte seinen Sommerurlaub begonnen und war am gleichen Tag nach Königsberg geflogen. Ein Zufall? Vermutlich nicht. Ossip Brik und Sergej Tretjakow - letzterer anstelle des erkrankten Boris Arwatow - erläuterten das Programm und die Aufgaben der Zeitschrift. Nikolai Mestscherjakow vom Staatsverlag, Semjon Rodow und Leopold Awerbach von der Zeitschrift Na postu, ein Vertreter der antireligiösen Gesellschaft und ein Arbeiter traten als Opponenten auf. Lunatscharski hielt das Schlußwort. Das Streitgespräch uferte aus. Lunatscharski stellte erstaunt fest, deutlicher denn je zuvor sei sichtbar geworden, daß es selbst unter den Marxisten und Kommunisten ernsthafte Meinungsverschiedenheiten über die Grundfragen der Kultur und Kunst in der neuen Gesellschaft gibt.161 Seine Haupteinwände gegen die ersten Le/-Hefte faßte er in den Satz: „Nicht in der Definition der Kunst liegt die Stärke des Lef . . ."162 und griff von dieser Position das Programm der Zeitschrift an. Er äußerte sich nicht zu den veröffentlichten literarischen Texten von Majakowski, Assejew, Pasternak, Babel u. a., die anscheinend von ihm durchaus akzeptiert wurden. Er machte nur eine Ausnahme. Tschushak warf er Inkonsequenz vor, weil er eine belanglose Erzählung Briks einiger Todsünden bezichtigt hatte, die einem Lef-Mann nicht unterlaufen dürften: „erotischer Kult der Frau", „aufgebauschte bürgerliche Erotik" u. dgl. mehr. Aber, so fragte Lunatscharski, hätte nicht Tschushak mit genau denselben Argumenten erst recht Majakowskis Poem Das bewußte Thema kritisieren müssen, das gleich in der ersten Nummer abgedruckt war? „Im gesamten Vorwort", fuhr Lunatscharski fort, „ist die Rede davon, daß man machtlos ist, wenn die Liebe einen Menschen überfällt. [Das Poem] Das bewußte Thema ist mit einer hypertrophierten Aufrichtigkeit geschrieben, die mal in einen romanzenhaften Ton verfällt, mal in innere Beklemmungen, die sich in Stoßgebeten und Zukunfts68

beschwörungen äußern. Und nur ab und zu dringt Satire durch, die selbst nach dem Futuristenkodex erlaubt ist. Das gesamte Werk Majakowskis ist ein sentimentales Poem mit großartigen Reminiszenzen an Puschkin, an das Schicksal des Dichters, der vor der Pistolenmündung eines d'Anthes stand." 163 Ohne die futuristischen Reste, „die extreme Manieriertheit im Wortgebrauch", wäre das eine große Dichtung. Die Beantwortung der Frage, ob diese aus heutiger Sicht als „subjektiv", „einseitig" bezeichnete Wertung 164 Lunatscharski lediglich im Zuge der Kritik am Lef unterlaufen ist, führt zum Ausgangspunkt zurück, zur Klärung der Kontroverse zwischen dem Volkskommissar und dem Dichter. Lunatscharski war unter dem unmittelbaren Eindruck der Lesung des Poems in Majakowskis Wohnung von der lyrischen Ausdruckskraft der Dichtung sehr angetan gewesen.165 Die These vom Doppelgänger in Majakowski selbst, vom Agitator und Lyriker in einer Person, entwickelte er erst nach dem Tod des Dichters.166 1923 stellte er Das bewußte Thema mehrfach als eine bedeutende neue literarische Erscheinung heraus. Sogar in dem in den Iswestija am 11. April veröffentlichten Artikel Über A. N. Ostrowski und aus seinem Anlaß, der die vielumstrittene Forderung „Zurück zu Ostrowski" enthielt, nahm das Poem insofern eine Schlüsselstellung ein, da es als eines der wenigen Musterbeispiele für die in der Kunst erforderliche „Ausarbeitung einer neuen Ethik unter den Qualen eines zitternden Herzens"167 genannt wird. Lunatscharski schätzte es vor allem als lyrische Dichtung und auf Grund des aus dem Alltag geschöpften Beziehungsreichtums Mensch -„byt". Das bedeutete die Anerkennung im Rahmen seines Realismuskonzepts, das sich in einigen Grundfragen ganz erheblich vom Programm des Lef unterschied. An die Adresse Tschushaks gewandt, benannte er daher die Divergenz, die futuristischen „Reste". Majakowskis Freunde betrachteten deshalb das Lob allenfalls als einen Pyrrhussieg. Der von Majakowski formulierte Anspruch auf die Rolle der „künstlerischen Avantgarde Rußlands und der Welt" 168 beruhte auf einem Konzept, das mit Lunatscharskis Kunstvorstellungen nicht übereinstimmte. Der scharfblickende Volkskommissar war aus diesem Grunde aufrichtig besorgt, daß das Avantgarde-Konzept mit der kulturpolitischen Grundorientierung im Zuge der eingeleiteten Kulturrevolution in Konflikt gerät. Die kulturelle Entwicklung verlief im Sowjetland Anfang der 69

zwanziger Jahre weitaus langsamer und widersprüchlicher, als theoretisch angenommen wurde. Das betraf nicht nur das Entstehen neuer Bedürfnisse innerhalb der Volksmassen. Die Bedürfnisse selbst schwankten und waren äußerst differenziert. Die Hemmnisse sowohl geistiger als auch rein materieller Natur ergaben sich aus den Folgen des Bürgerkriegs und der ausländischen Intervention. In dem für den Manchester Guardian geschriebenen Artikel Die Kultur in der RS FSR gab Lunatscharski eine ungeschminkte Einschätzung der Schwierigkeiten, die mit Lenins nüchterner Analyse der kulturellen Lage Ende 1922, Anfang 1923 übereinstimmte.169 Die von ihm angeführten Fakten belegen das Mißverhältnis zwischen den bereits geweckten neuen kulturellen Bedürfnissen und den finanziellen Mitteln, die der Staat zur Lösung der dringendsten Kulturaufgaben im Lande zur Verfügung hatte. In der „heroischen Revolutionszeit" ohne detaillierten Staatsplan waren, trotz tiefster Armut und in Unkenntnis der tatsächlich vorhandenen Ressourcen, der Kultur und somit den Künsten Mittel in einem so hohen Umfang zur Verfügung gestellt worden wie nie zuvor in der russischen Geschichte. Diese Situation hatte sich von Grund auf verändert. Die finanziellen Zuführungen für alle dem Volkskommissariat für Bildungswesen unterstellten Bereiche waren auf ein solches Minimum zurückgefallen, daß die ideologische Einflußnahme des Staates auf die Programmgestaltung der Kultureinrichtungen über die materiellen Hebel ernsthaft gefährdet war. Im Rahmen der Neuen ökonomischen Politik flössen wieder finanzielle Zuschüsse in kulturelle Einrichtungen, deren Tätigkeit fast völlig zum Erliegen gekommen war. Die Künste erlebten einen neuen Aufschwung. Aber es gab auch empfindliche Einbußen. Durch die wieder zugelassenen privaten Verlage stieg erneut der Anteil an ideologisch unverbindlicher Buchproduktion. Die nach wie vor geringe Anzahl lesender Arbeiter und Bauern wurde ungenügend mit neuer Literatur über ihre eigenen Lebensprobleme versorgt. Der Staat büßte weitgehend wieder seine ökonomische Macht über die Theater ein. Das zahlungskräftigste Publikum, NÖP-Leute, füllte die Säle, und die Theaterleitungen paßten sich schon mit wenigen Ausnahmen seinem kleinbürgerlichen Geschmack an. Lunatscharski schätzte nüchtern ein: „Wenn wir die Kunst als Ware an denjenigen verkaufen, der sie sich kaufen kann, so können wir schon im voraus sagen, daß wir unsere kulturelle Mission nicht voll erfüllen, ja nicht einmal zu einem Zehntel.. ."17° 70

Die teilweise Rückkehr der Verkehrsformen zwischen Künstler (Autor) und Publikum (Leser) zum privaten Markt, d. h. zu bürgerlichen Verkehrsformen, löste bei Lunatscharski die Befürchtung aus, die verbreitete „NÖP-Mann-Strömung" könne, noch begünstigt durch oberflächliche revolutionäre Losungen, die Jugend erfassen. Er sah die Verschärfung des ideologischen Kampfes und die Notwendigkeit, andere Möglichkeiten der Einwirkung auf die Ideologie der Volksmassen stärker zu nutzen. Er propagierte das Leninsche Programm der Kulturrevolution als ein wirksames Aktionsprogramm, um auf allen künstlerischen Gebieten das entstandene Mißverhältnis zwischen Wirkungsabsichten und Wirkungsmöglichkeiten zu überwinden, und wandte den Realismusbegriff, den er bereits vor der Revolution in der tagtäglichen kulturellen Aufklärungsarbeit unter revolutionär gesinnten russischen Arbeitern und Intellektuellen entwickelt hatte, auf die kulturpolitischen Erfordernisse der Gegenwart an. Von dieser Position attackierte er die Thesen der Lef-Leute (an Majakowski knüpfte er gesonderte Erwartungen): „Vom Sujet gelangten sie (die Futuristen - N. T.) zur Sujetlosigkeit und anschließend zur transrationalen Form. Man erklärte ganz eindeutig: jedes Sujet ist ein Minus; daher die transrationale Redeweise, die den Genossen noch immer anhängt. Und jetzt gibt es ein neues Extrem, wiederum ein künstlich erzeugtes: 'nicht zeichnen, sondern photographieren, nicht erschaffen, sondern protokollieren*. Wozu diese Übertreibung? Hier zeigt sich der völlige Mangel an innerer ideell-emotionaler schöpferischer Tätigkeit. 'Will man, daß ich frei bin, so gebe ich Form ohne Inhalt' oder umgekehrt: 'so gebe ich jeden beliebigen Inhalt ohne irgendeine Form'." 171 Die Inhalt-Form-Beziehung wurde zur Gretchenfrage. Lunatscharskis Auffassung, die ideologische „Erziehungs"aufgabe der Kunst Organisation der Gefühle und Gedanken der neuen Klasse - werde über den Inhalt verwirklicht, widersprach der am genauesten von Tretjakow formulierten These: anstatt Trennung und Gegenüberstellung der Begriffe „Form" und „Inhalt" Entwicklung der Lehre von den Bearbeitungsweisen des Materials zwecks Schaffung eines nützlichen Gegenstands sowie von der Bestimmung dieses Gegenstands und seinen Aneignungsweisen. An die Stelle des üblichen Begriffs „Inhalt" wurde der Begriff „Bestimmung" gesetzt. „Inhalt" wurde als „sozial nützliche Handlung" definiert, die der kollektiv „konsumierte" Gegenstand auslöst.172 Die Bewertungsmaßstäbe 71

von Kunstwerken wurden dementsprechend unterschiedlich, von der ideellen Aussage bzw. vom Gebrauchswert her, definiert. Viele polemische Spitzen der auf den Seiten des Lef geführten Verteidigung einer „neuen Ästhetik" richteten sich zweifellos gegen Lunatscharski, obwohl er namentlich nicht genannt ist. Der Vorwurf des „Passeismus" war sicherlich auch an seine Adresse gerichtet, ebenso Majakowskis Angriff „gegen jene, die aus Unwissen, weil sie bloß auf Realpolitik spezialisiert sind, gewisse von den Urgroßmüttern überkommene Tradition für den Willen des Volkes ausgeben" 173 , obwohl mit dieser Einschätzung Lunatscharskis Kunstprogramm vergröbert wurde. Majakowski lenkte später in der Erbefrage ein, aber der kommunikative Ansatz seiner Kunstkonzeption blieb unverändert. Dies war eine andere Sicht auf die Regelung der Verkehrsformen zwischen Autor und Leser, die Sicht eines „Produzenten" von Literatur, der seine Adressaten beunruhigen wollte, loslösen von überkommenen Kanons, Vorstellungen und eingebildeten absoluten Werten in allen künstlerischen Bereichen. Revolutionierung der Kunst war für ihn gleichbedeutend mit Schaffung des neuen Menschen. Kunst wurde auf diese Weise als Produktionsmittel im Prozeß der Produktion des neuen Menschen begriffen.174 Die Einführung politökonomischer Begriffe in die „neue Ästhetik" kann nicht einfach von Arwatows Theorie der Produktionskunst abgeleitet werden, obwohl eine Verbindung durchaus gegeben war, und schon gar nicht von der vulgarisierenden Gleichstellung des Produktionsarbeiters mit dem proletarischen Künstler, die in den Proletkulturorganisationen propagiert wurde. Majakowski kämpfte um Anerkennung der künstlerischen Arbeit Seite an Seite mit der die materiellen Werte schaffenden Arbeiterklasse - sowohl vom Standpunkt des Produktionsprozesses als auch vom Standpunkt der sozialen Nützlichkeit des Produkts. Die manuelle Arbeit für die ROSTA-Fenster gab ihm - davon war er fest überzeugt - das Recht, Dichtkunst mit der verarbeitenden Industrie zu vergleichen. Lunatscharski indessen lehnte diesen Vergleich kategorisch ab. Er betrachtete solche Formulierungen als eine Unterschätzung der Spezifik der Literatur wie ihrer besonderen Funktion im gesellschaftlichen Leben. Er unterschätzte offenbar die politische Stoßrichtung der Übertragung von Begriffen aus der Arbeitswelt auf die Kunstwelt in den zugespitzten Klassenkämpfen der Revolutionszeit. Majakowskis laut artikuliertes Bekenntnis zur Dichterarbeit als Produktion gesellschaftlich nützlicher Werte war ein Bekenntnis zur 72

Diktatur des Proletariats. Und in diesem Sinne war die Gleichstellung von Kunstarbeiter und Produktionsarbeiter zugleich eine Art ideologische Wasserscheide zwischen den linken und den rechten Künstlern, zwischen dem Bruch mit dem veralteten bürgerlichen Kunstbetrieb und seiner Konservierung. Majakowskis wachsende politische Bewußtheit in den politischen Tageskämpfen zog Anfang der zwanziger Jahre die Bereitschaft nach sich, die alten Gepflogenheiten künstlerischer Betätigung - die als Bürgerschreck maskierten Kunstrevolten - endgültig zu verabschieden. Den Anspruch auf die Führungsrolle des Le/-Konzepts in der Kunstentwicklung Sowjetrußlands erhielt er jedoch weiterhin aufrecht und lieferte dadurch ständig neuen Zündstoff in die öffentlichen Debatten. Lunatscharski hat die innere Konsequenz dieser auf die neue Kunstentwicklung bezogenen öffentlichen Erklärungen erst später richtig verstanden: „Majakowski tat alles, was in seinen Kräften stand, um dem Menschen der Zukunft den Weg zu bereiten. Das war der Ausgangspunkt. . . . Man sagt, Majakowski hat sich vulgäre, zu alltägliche, kleine, feuilletonistische und dergleichen Themen ausgesucht. Zwar wählte er nicht immer kleine und alltägliche Themen: manchmal (sehr oft sogar) wählte er grandiose. Aber auch das grandiose Thema wählte er immer irgendwie anders - so, daß man fühlte, es berührt dennoch mit gleichsam gußeisernen Füßen den Boden und marschiert: .links! links! links!' . . . Weil er's für das Ziel des Dichters hielt, die Welt umzugestalten, und auf Themen aus war, die mitten in das Gewühl dieser Umgestaltung verwickelt wären. . . . Majakowski . . . wollte Aufbau-Arbeiter sein. Darum erkor er Themen, die eine Beziehung zur Arbeit, zum Aufbau haben, . . . irdische Themen." 1 7 5 Zu Lebzeiten Majakowskis erwies sich die gegenseitige Übereinkunft im Ziel, das sich der Dichter wie der Volkskommissar in einem von der Revolution befreiten Land stellten, als nicht widerspruchsfreie Übereinkunft im Umgang mit Kunst im Alltag. Majakowskis polemische Spitzfindigkeiten waren häufig nur die Spitze des Eisberges der verhandelten ästhetischen Grundsatzprobleme. So konterte er stets mit ironischer Schärfe Äußerungen von Lunatscharski, die an das Verständnis für die besondere Schaffenssituation des Künstlers appellierten: Wenn man sich in das Gebiet der Dichtkunst begibt, müsse man bedenken, daß der Dichter ein Schöpfer ist, der einen „Traum" träumt. Majakowski verketzerte solche Aussprüche als metaphysische Erklärungen der Kunst und verletzte 73

nicht selten Lunatscharskis Kunstempfinden um so mehr, da der Volkskommissar in seiner einflußreichen staatlichen Funktion einer der wenigen war, der dem Dichter Majakowski jegliche Unterstützung und auch Anerkennung seines poetischen Talents zusicherte. Aus diesem Grund war der Angelpunkt des noch jahrelang von ihm in Dichtung und öffentlicher Rede mit Lunatscharski geführten Streitgesprächs häufig verhüllt, denn die Forderungen, die der eine wie der andere an die Kunst der Revolutionsepoche erhob, stimmten verbal in vielen Punkten überein. Majakowski erklärte 1923: „Unsere Waffe ist das Beispiel, die Agitation, die Propaganda." 176 Sechs Jahre später präzisierte er: „Wir fordern von jedem Werk, daß es fungiere und wirke, und nicht, daß es auf den zuckersüßen Leshnew Eindruck mache und die aufrichtigen Gefühle von Schriftstellern ä la Pilnjak, PolistschukSelwinski abgebe. Wir fordern von den Werken der Kunst: Qualifikation. Jedem Schreibenden werden wir mit maximaler Nörglersucht die Frage des Wie? stellen. Wir fordern die Aktualität der Beispiele, die einem Werk einverleibt sind. Wir werden in jeder Zeile das Was ? suchen. Bestimmend für den heutigen Tag aber bleibt die Frage: Wofür ist diese Zeile geschrieben? Wir amnestieren alle Arten von Arbeit (und gedenken der aussterbenden Arten): das Foto, das Gemälde, die Skizze, das Lied, und wir fordern von ihnen nur eines: Propaganda, Agitation." 177 Lunatscharski schrieb 1928 an Wladimir Fritsche, die Kunst sei, bezogen auf die sozialistische Gesellschaft, ein „Werkzeug der Agitation und Propaganda", ein „Instrument unseres Aufbaus". 178 Die agitatorischen Wirkungsweisen der Literatur könnten jedoch nur beeinflußt werden, schrieb er bereits 1923, wenn die Gesetze, wie Literatur rezipiert wird, erforscht sind. Es müsse folglich analysiert werden, was in einem Kunstwerk zur Wirkung kommt und wie es - mit welchen ästhetischen Mitteln - auf den Leser wirkt. Dabei betrachtete er Literatur, generell Kunst, nie als ein Mittel reiner Didaktik. Ihn interessierte auch, „welche Rolle Kunst als reines Vergnügen, reine Lebensfreude spielt und in welchen Verbindungen Kunstwerke geschaffen werden können, die vom Aspekt der Kunsterziehung des Menschen einen tiefen Inhalt haben und vom Aspekt des unmittelbaren Vergnügens und Lebensgenusses gleichzeitig eine verführerische Anziehungskraft" 179 . Diese klassischen ästhetischen Fragestellungen haben Majakowski nicht interessiert. Auch nicht die gnoseologischen Schlußfolgerungen, die Lunatscharski 74

aus den Kunst-Wirklichkeit-Beziehungen zog. Und dennoch gab es Berührungspunkte, die jedoch nicht sachlich zwischen ihnen verhandelt wurden. Lunatscharski begriff die Kunst-Wirklichkeit-Beziehungen auch als eine kommunikative Beziehung und stellte daher der Wissenschaft die Aufgabe zu untersuchen, „wie das Bedürfnis nach dem künstlerischen Wort entsteht, wie das künstlerische Wort widergespiegelt wird und sich entwickelt und wie es auf die Gesellschaft wirkt, d. h. welche Rolle es in ihr spielt"180. Als Kulturpolitiker fragte er jedoch vordergründig nach den Regulierungsmechanismen literarischer wie allgemein künstlerischer Prozesse unter den jeweils gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen. Nicht zufällig befaßte er sich mit diesem Problem 1923, als ihm bewußt wurde, daß sich die von ihm selbst mehrfach geäußerte Vorstellung, die künstlerischen Produktions- und Konsumtionsprozesse würden von den wachsenden - „gesunden" - Bedürfnissen des siegreichen Proletariats geregelt, als verfrüht, kurzum als illusorisch erwies. Die Bevorzugung alter Kunstformen, stellte er erstmals fest, könne durchaus auch Ausdruck mangelhafter ästhetischer Bildung sein. Andererseits könne ein nach den klassischen Schönheitsgesetzen geschaffenes Kunstwerk den naiven Kunstbetrachter bzw. Leser abschrecken, nur weil es der Realität nicht ähnelt. Aber, so schlußfolgerte er, ähnlich oder unähnlich sei in der Kunst kein Maßstab, denn „außer der Naturwahrheit gibt es noch eine innere, eine Kunstwahrheit" 181 . Majakowski, der Kunstarbeiter, packte dieses Problem vom anderen Ende an. Die Hauptverantwortung zur Überwindung der vom bürgerlichen Kunstbetrieb übernommenen gestörten KunstWirklichkeit-Beziehungen trug seiner Auffassung nach der Künsder. Folglich verband er die Revolutionierung des ästhetischen Kommunikationsschemas nicht vorwiegend mit der Neuregelung der Regulierungsmechanismen zwischen Künstler und Publikum, sondern mit radikalen Veränderungen der Kunst selbst. Er lehnte die eingebürgerten Denkschemata ab, wie und in welcher Weise ein Kunstwerk hergestellt und angeeignet wird, da das, was vormals einen Kunstwert hatte, nun seinen Kunstwert eingebüßt habe. Oder anders ausgedrückt: Was vormals den bürgerlichen Marktverhältnissen angepaßt wurde und noch immer Kunstalltag war, entspreche nicht mehr den neuen Erfordernissen vom sozialen Gebrauch eines Kunstwerks. Wie weit sich Majakowski von den alten Denkschemata frei75

gemacht hatte, wurde ihm deutlich, als er 1922 „das lebendige Leben des malenden Paris" zu sehen bekam. Die französische Metropole verlor für ihn ihren einstigen Reiz und Glanz als Wallfahrtsort von Künstlern aus aller Welt. Die Besichtigung des Herbstsalons, nur einer der zahlreichen Pariser Ausstellungen, veranlaßte ihn nicht nur zu trübseligen Gedanken über die Eintönigkeit der in den Katalog aufgenommenen zweitausenddreihundertneunundfünfzig Ausstellungsstücke. Die um ein Mehrfaches größere „phantastische" Summe von jährlich gemalten und zur Schau gestellten Bildern Majakowski schätzte letztere auf zehntausend, die gemalten auf hunderttausend - löste in ihm groteske Zukunftsvisionen aus: „ . . . jeder Franzose wird seinen eigenen kleinen Louvre besitzen. Kleine Louvres, weiter nichts: die gesündesten, die jüngsten Leute sitzen, statt zu arbeiten, und verdoppeln ihre Habe auf zweifelhafte malerische Weise. Früher hatte man eine Frau, jetzt zwei: die eine in natura, die andere auf dem Bild (wie wenn sie lebte!), und die lebende Frau kommt nicht zum Arbeiten, weil sie Modell stehen muß. Vorher hat man ein Hündchen gehabt, jetzt zwei, und so weiter und so weiter. Eine schwächliche Industrie!" 182 Sogar die Bilder der Kubisten Braque und Léger, die er schätzte, wirkten auf ihn inmitten der „wie Gehenkte" aufgereihten Malwerke „salonmäßig", und selbst das ihm so sympathische Antiästhetentum Légers war der revolutionären Kraft entblößt. Mit fast den gleichen Argumenten kritisierte Lissitzky 1922 die neuesten Arbeiten des in Deutschland lebenden Archipenko. Auf sie lege sich jetzt die „Vergoldung des Salons" 183 . Interessant ist dieses Urteil nicht allein auf Grund der Gleichzeitigkeit, sondern auf Grund des Blickpunktes: Vermarktung von Kunst als Ursache der Stagnation malkünstlerischer Innovationen. Die empfindlichen Einbußen an gesellschaftlicher Wirksamkeit würden durch einen hohen Standard an bildnerischen Qualitäten nicht aufgehoben. Infolge solcher Beobachtungen - Majakowski analysierte auch die den Profitinteressen untergeordneten Mode- und Geschmacksmanipulationen der Pariser Kunsthändler - stellte der Zeichner und Texter der ROSTA-Fenster nicht nur die traditionelle Malkunst in Frage, sondern generell die „Existenzberechtigung einer Gesellschaft", die sich mit einer Kunst begnügt, die sich im Ausschmücken der Salons mit Tafelbildern erschöpft.184 Die Literatur schloß er in dieses harte Urteil ein. Eine solche Kultur hielt er für überlebt. Auch in dieser Frage gab es durchaus Annäherungspunkte zwi76

sehen Majakowski und Lunatscharski. Als der Volkskommissar 1927 die Pariser Malerwelt besichtigte, befielen ihn ähnliche bedrückende Gedanken trotz der vielen Zeugnisse hohen bildnerischen Könnens, das auch Majakowski nie geleugnet hat: „Die Riesenausstellungen französischer oder von ihrem Fluidum angezogener Künstler vermitteln im großen und ganzen den Eindruck, daß ein enormer Arbeitsüberschuß vorhanden ist, dabei beachtliche Begabungen und vor allem Fertigkeiten, aber daß sie völlig umsonst vergeudet werden. Marmor, Gips, Bronze, große und kleine Bilder, Porträts und Gravüren fliegen vor den eigenen Augen wie in einen Abgrund. Alles verschwindet im Orkus, und es ist unbegreiflich, wozu es überhaupt ans Tageslicht gekommen ist. Wer braucht denn all diese Dinge? Auf welchen Dachböden werden sie ein Opfer von Staub, Mäusen und der Zeit?" 185 Das ist dasselbe Bild vom Pariser Kunstsalon wie vor über einem Jahrzehnt, als er ihn mit einer trostlosen Wüste verglich, dasselbe harte Urteil wie Majakowskis Vergleich des Salons mit einem Riesensarg. Beide sahen die sozialökonomischen Ursachen der Krise und waren überzeugt, daß nur eine revolutionäre Umwälzung der Gesellschaft die Kunst aus dieser Krise herausführt. Aber die radikale Lösung, die Majakowski den Künstlern antrug, hätte ein Lunatscharski nie formuliert: „Für den Bau der neuen Kultur ist eine Tabula-rasa-Theorie erforderlich. Da muß der Oktoberbesen her." 186 Die Tabula-rasa-Theorie widersprach Lunatscharskis Kultur- und Kunstkonzept und blieb ein Streitpunkt zwischen ihm und dem Dichter. Majakowski schlug sie Picasso vor, als er ihn in seinem Atelier besuchte, aber mit wenig Erfolg. 187 (Erst viel später, nach der Erfahrung des spanischen Bürgerkriegs und des zweiten Weltkriegs, erklärte Picasso, die Malerei sei nicht erfunden worden, um Wohnungen auszuschmücken - sie sei eine Angriffs- und Verteidigungswaffe.) Die französische Kunst verharrte in den Augen des sowjetischen Dichters Anfang der zwanziger Jahre in tödlicher Lethargie und hatte ihre Avantgardestellung eingebüßt. Sein Interesse für sie erlosch. In Paris traf er sich späterhin nur noch mit Léger und Delaunay. Das Todesurteil für Picassos Arbeitsweise, das der Spanier mit „geruhsamer Pose" entgegennahm, hatte in Majakowskis künstlerischem Selbstverständnis prinzipiellen Charakter. Nicht zufällig kam er im Kapitel über Picasso auf Tatlin zu sprechen : „Er ruft seit langem die Künstler auf, neue Wege zu beschreiten, nicht müßig mit schönem Blech und Eisen zu basteln, sondern in Richtung eines 77

Zustands zu wirken, wo all das Eisen, das gegenwärtig zu abgeschmackten Gebilden herhalten muß, gestalterisch verarbeitet wird." 188 Dies war der gleiche Gedanke, nur weiterentwickelt, wie die von Majakowski schon in jungen Jahren propagierten „Bücher aus Eisen" - Dichterverse als Aushängeschild, Reklametext und später auch als politische Losung. Er war überzeugt, die formalästhetischen Experimente seien bereits um 1915 an ihre eigenen Grenzen gestoßen, in der bildenden Kunst wie in der Literatur. Der Ausweg könne folglich nur in der Bestimmung neuer Aufgaben für die Kunst liegen: Verschönerung des Lebens für Millionen durch die industrielle Formgebung, alltäglicher Umgang mit dem zweckmäßig und ökonomisch bearbeiteten Dichterwort. Majakowski stand vor Picasso in dem Bewußtsein, Träger dieser avantgardistischen Idee zu sein, und zugleich in dem Wissen, daß der Schritt von der Theorie zur praktischen Verwirklichung noch nicht getan war und daß den Kunstarbeitern, auch den französischen, noch lange Lehrjahre bevorstanden. Die Kontroverse mit Lunatscharski im Anschluß an das Referat Die ersten Bausteine der neuen Kultur (1925) entstand auf Grund dieser kompromißlosen Haltung in allen künstlerischen Bereichen (Ablehnung der Porträtmalerei, des traditionellen Theaters wie der Prosa eines Leonow und einer Sejfullina).189 Die Texte über das Pariser Kunstleben entstanden zu einer Zeit intensiven Nachdenkens über die weiteren Wege der eigenen VersFabrikation". Die ROSTA-Arbeit war abgeschlossen, „die gewaltige prosaische 'Hilfs'arbeit in der Poesie", wie sie Platonow nannte.190 Sie blieb für Majakowski in vieler Hinsicht Grundmuster, Ansporn, Kriterium. Unterschätzt werden jedoch häufig - so auch von Platonow - die Schwierigkeiten des Übergangs von der Bild-TextSprache des Plakats zur rein verbalen Sprache des Gedichts, von den ROSTA-Fenstern zur Erzählung des Gießers Iwan Kosjrew vom Einzug in die neue Wohnung (1928). In Wie macht manVerse? ist die titanische Arbeit zur Entwicklung des „hörbaren" Wortes zusammengefaßt. Das war nicht schlechthin die Umkehrung des Prinzips „Optik statt Phonetik"191, auch nicht einfach die Rückkehr zu den neuentdeckten deklamatorischen Möglichkeiten des Wortes aus der Kubofuturistenzeit, von denen eingangs die Rede war. Aber die Rückbesinnung und Weiterführung aller bisherigen Erfahrungen war es zweifellos, mit einer entscheidenden Korrektur: Dichtung wird jetzt eingesetzt zur Mobilisierung der organisatorischen Kraft der Massen. Die große Provokation des Roten Oktober - „Der Oktober lehrte 78

arbeiten durch Arbeit" 192 - nahm Majakowski an als Aufgabe, mit dem Adressaten ohne jedwede Vermittlung ins Gespräch zu kommen. Marina Zwetajewa, in der Fremde abgeschnürt von ihrem eigentlichen Leser, faszinierte die direkte Rede, gerichtet an ein „lebendes Ziel". Unaufhörlich hämmere Majakowski etwas in die Köpfe der Leute, erreiche bei ihnen etwas mit jedem beliebigen Mittel, auch mit dem gröbsten, und treffe dabei stets ins Schwarze. Der in der Welt erste Dichter der Masse, wie ihn Marina Zwetajewa nannte, war zugleich in der russischen Literatur der erste Dichter-Redner. 193 Deshalb habe er keine Leser im eigentlichen Sinne des Wortes gehabt, sondern Hörer. „Majakowski bedarf nicht der Mitautorschaft des Lesers", stellte sie weiterhin fest, „wer Ohren hat (die einfachsten) zu hören, der hört und nimmt auf." 194 Majakowski müsse man zusammen lesen, am besten „im Chor", „der ganze Saal", „das ganze Jahrhundert". Zu genau derselben Schlußfolgerung kam der Linguist Grigori Winokur: „Das erste und allgemeinste stilistische Merkmal der Sprache Majakowskis besteht darin, daß sie ganz und gar vom mündlichen Element, dabei vorwiegend vom laut gesprochenen mündlichen Wort, durchdrungen ist." 195 Die Grundfrage, ob er auch wirklich gehört wird, blieb für Majakowski unklar. Die Zweifel mehrten sich. Es ging tatsächlich nicht allein um die Entdeckung, die Ausarbeitung einer neuen Struktur dichterischer Sprache, wie schon Platonow zum zehnten Todestag des Dichters feststellte: „Von sich aus kann diese dichterische Struktur nicht leben, wenn sie kein Echo findet in der Geisteshaltung der Zeitgenossen oder ihnen verwandter Generationen." 196 Majakowskis Leistung sah er darin, „daß er die Erstarrung der Menschen überwinden, sie zwingen wollte, sich selbst zu verstehen. Zwingen nicht durch Gewalt, sondern dadurch, daß er sie ein neues Verhältnis zur Welt lehrte, ein neues Empfinden für das Schöne in der neuen Wirklichkeit." 197 Die Menschen setzten sich jedoch fast immer zur Wehr und kämpften gegen das, was sie vorantreibt. Diese typische Platonowsche Sicht auf den „Widerstand gegen den Wegbereiter" entsprach seiner Kunst-Wirklichkeit-Auffassung, die ihm Majakowski so nahebrachte, trotz der Divergenz in kunstpraktischen Fragen, insbesondere in der Bestimmung des Adressaten. Dadurch übersieht er in seinen Überlegungen über den „deutlich bezeichneten Empfänger" in Majakowskis Dichtung und das „Bemühen um das Verstehen" den Grundkonflikt des Dichters: Der intendierte Leserkreis, das „Hundertfünfzigmillionen völkchen", erwies sich nicht als eine einheit79

liehe Schicht mit gleichem Bildungsstand und gleichen Kunstbedürfnissen. Hatte diese Frage 1940, als Platonow über Majakowski schrieb, ihre Schärfe eingebüßt, so wurde sie für den Dichter schließlich zur entscheidenden Frage. 198 Mitte der zwanziger Jahre verstrickte sich Majakowski mehr und mehr in den Kampf um das von der Lef-Gruppe verteidigte Avantgardekonzept. Die Zeitschrift Lef hatte ihr Erscheinen einstellen müssen. Sie fand wenig Resonanz. Der Leserkreis schrumpfte zusammen. Majakowski ging keinen Schritt zurück. Mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln kämpfte er um das Verständnis für die Notwendigkeit, Kunst, damit auch Literatur, auf den Standard der neuen Welt einzustellen. Die berechtigte Frage: „Verlor nicht die Debatten-Ästhetik ihren Boden, da sie sich bei allem Bezug auf die Millionen doch an eine rede- und sprachtrainierte Gruppe von Aktivisten gewandt hatte?" 1 " bezieht sich auf die Situation um 1929/1930. Mitte der zwanziger Jahre - nach Vollendung des Lenin-Poems und vor der Arbeit am Oktober-Poem - ändert sich nichts an der Grundorientierung seiner Dichtungen. Die erneut verstärkte Rezitations- und Vortragstätigkeit in der Sowjetunion (wie im Ausland!) festigte seine Überzeugung, stets das Publikum vor Augen zu haben, an das er sich in einem Gedicht wendet. Für das bereits 1921 benannte Problem, „klarzustellen, was für die Massen wirklich Bedeutung hat" 200 , gab es jedoch keine Pauschallösung, genausowenig in dem mit Lunatscharski geführten Streit um den neuen Adressaten.

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Der neue Leser

Einführung: Das Leserproblem aus der Siebt der Zeit „Der Leser ist sehr kompliziert geworden, er ist nahezu unsichtbar", stellte Juri Tynjanow 1924 sachlich fest. Die Kritiker machten sich häufig das Problem zu einfach. Sie wendeten sich an einen Ersatzleser, „entweder an ein Ideal - nicht Mensch, sondern Anthropos, der erzogen werden müsse - oder an den erstbesten Freund, wenn nicht gar an sich selber"201. Die Verunsicherung war in der Tat beträchtlich. Der Weg zum wirklich neuen Leser202, zu den sprunghaft ansteigenden Lesermassen schien versperrt. Das spürten die Schriftsteller genauso wie die Kritiker und Wissenschaftler. Das Leserproblem brannte auf den Nägeln. Es war daher kein Zufall, daß die Auseinandersetzung um die neuen Wege der Literatur in dieser Frage auf die Spitze getrieben wurde. Jede der kämpfenden Literaturparteien nahm für sich in Anspruch, die echten Bedürfnisse der Lesermassen zu befriedigen. Die Kriterien waren jedoch unscharf, in den meisten Fällen sogar untauglich. Die Wissenschaft war auf eine solche Wende überhaupt nicht vorbereitet. Zwar hatte sie einige Methoden zur Verfügung, die noch in zaristischer Zeit zum Zwecke statistischer Erhebungen entwickelt worden waren, aber eine nach marxistischen Prinzipien betriebene Leserforschung gab es nicht, folglich auch noch keine Theorie zur Erforschung des realen Lesers.203 Einige Trends von früher lebten wieder auf. Starke Beachtung fand die 1924 in Leningrad veröffentlichte Arbeit Was ist die bibliologische Psychologie? von Nikolai Rubakin, der seit seiner Emigration 1907 in der Schweiz lebte. Der theoretische Ausgangspunkt seiner als „Bibliopsychologie" bekanntgewordenen Forschungsmethode war der Gedanke, daß der Einfluß des mündlichen, handschriftlichen und gedruckten Wortes auf das Individuum wie das Kollektiv als eine funktionale Abhängigkeit begriffen werden müsse. Jedes Buch enthalte einen bestimmten Vorrat an Ideen, Tatsachen, die nicht 6 Thun; Autor, Leset

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sofort erschlossen werden. Die Feststellung, mit der Veränderung des Lesers verändere sich auch der Inhalt eines Buches, führte Rubakin zu der Überlegung, daß das Buch und sein Autor, genau betrachtet, lediglich die geistigen Projektionen eines Lesers bzw. Forschers sind. Eine seiner Grundthesen lautete: „Die Literatur ist nicht die Gesamtheit von W o r t k u n s t w e r k e n , sondern die Gesamtheit der psychischen Erlebnisse, die durch das Wort und seinen Autor als Quelle dieses Reizes hervorgerufen werden." 204 Der von Mach und Bogdanow beeinflußte Rubakin bezweckte von Anfang an - das bekräftigt der Begriff „Bibliopsychologie" - die Anwendung seiner Theorie auf die Bibliotheksarbeit. Seine Forderung, man müsse zunächst den Leser kennen, um den Umlauf wie praktischen Nutzen eines Buches steuern und verbessern zu können, fand seinerzeit im jungen sowjetischen Bibliothekswesen breiten Widerhall und stimulierte die hier neu betriebene Leserforschung. So gewann schon bald ein praktizistischer Aspekt die Oberhand. 205 Gleichzeitig wuchs die kritische Distanz zu der von Rubakin betriebenen Auflösung einer literarischen Aussage in einem reinen Relativismus. In der Literaturwissenschaft rückte der Leser ebenfalls ins Blickfeld. Man würde offene Türen einrennen, schrieb Alexander Bilezky 1922, würde man heutzutage beweisen wollen, „daß die Literaturgeschichte nicht nur die Geschichte der Schriftsteller, sondern auch die Geschichte der Leser ist, daß sogar die schöpferische Produktivität ohne die das Kunstwerk rezipierende Masse unvorstellbar ist und daß sich die Literaturgeschichte für die in der Masse verbreiteten literarischen Formen interessieren muß, für deren Kampf, sich in Leserkreisen zu behaupten und durchzusetzen" 206 . Bilezky beeindruckten die methodischen Fragestellungen Rubakins. Er beneidete ihn geradezu um die Möglichkeiten, über die Bibliotheken den zeitgenössischen Leser befragen zu können und auf diesem Wege Fakten in die Hand zu bekommen, die die traditionelle Literaturwissenschaft ihm als Literaturhistoriker verweigerte. Ohne eine Geschichte des Lesers, d. h. ohne unter diesem Aspekt gesammeltes und systematisiertes Material, hielt er die literaturgeschichtliche Forschung für unzulänglich. Die entscheidenden Kriterien zur Auswahl und Wertung literaturgeschichtlicher Erscheinungen und Vorgänge liefere erst die genaue Kenntnis ihrer Rezeption zu der Zeit, da sie entstanden sind. 207 Bilezky fragte nicht nach dem Leser als fiktivem Gesprächspartner des Autors, sondern in erster Linien nach dem Leser als Konsumenten eines literarischen Textes, um herauszufinden,

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wie dessen Urteil über das Werk auf den Autor zurückwirkt und somit den gesamten Literaturprozeß beeinflußt. Es bestand natürlich ein Zusammenhang zwischen der von Bilezky angeregten historisch-kommunikativen Literaturforschung und dem sich Anfang bis Mitte der zwanziger Jahre immer stärker ausprägenden Bewußtsein, daß der Leser nicht nur ein passiver Verbraucher von Literatur ist. Beide Seiten dieses Sachverhalts - die „Ko-Autorschaft" des Lesers bei der Lektüre eines Textes 2 0 8 und die Rückwirkung der Leserurteile auf die Entstehung neuer Texte - nahmen als Problem an Brisanz zu. Trotz beachtlicher Bemühungen 209 hat jedoch die sowjetische Literaturgeschichte dieses Problem seinerzeit nicht gelöst, auch nicht Bilezky. 210 Eine der Ursachen war höchstwahrscheinlich die wachsende Unsicherheit, welche Folgen die sich historisch verändernde Zusammensetzung der Leserschaft in der Gegenwart für den Literaturprozeß hatte, zumal der allgemeine Trend zur ausschließlich soziologischen Erklärung literarischer Erscheinungen die ursprünglich breiter angelegten Fragestellungen abschnürte. 211 Die produktiven Ansätze einer kommunikativen Literaturbetrachtung wurden nicht weiterentwickelt und erst in jüngerer Zeit wieder neuentdeckt. Die Literaturgeschichte und -theorie gerieten ins Schlepptau der Kämpfe, die in der Zeitschriftenkritik ausgetragen wurden. Sie hatten ihrerseits kein handfestes theoretisches Konzept zur Beeinflussung dieser Prozesse vorzuweisen. Die Geschichte des sowjetischen Lesers der zwanziger Jahre ist bis heute nicht geschrieben. Die dazu erforderlichen umfangreichen Beweismittel sind nicht gesammelt, und das Vorhandene ist nicht ausgewertet worden. Die relativ wenigen - vorwiegend in Zeitschriften - zur Verfügung stehenden Angaben und Materialien geben in der Regel genauere Einblicke in die sich verändernden Verkehrsformen zwischen Autor und Leser als die vereinzelten Buchpublikationen dieser Zeit, die den mit Nachdruck vertretenen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit nicht einlösten und gewöhnlich in reiner (meist nur an bestimmte Gruppen gebundener) Empirik steckenblieben. 212 Leserforschung wurde derzeit einseitig als Erforschung von Verhaltensweisen im Umgang mit dem Buch betrieben. Aus dem in der Presse veröffentlichten Material, mit dem in der Literaturgeschichte noch immer schlecht gearbeitet wird, 2 1 3 werden im folgenden einige unterschiedliche Positionen herausgefiltert, die das neuartige Spannungsfeld Autor - Leser, Produktion - Konsumtion beleuchten. Ihre Bündelung erfolgt nicht nach Lesergruppen, 6»

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also nicht nach soziologischen Gesichtspunkten, sondern nach einigen literarischen Problemen, über die der direkte Dialog zwischen Autor und Leser allmählich in Gang kam.

Auf der Suche nach dem Leser Der wirkliche Leser. Tjeitbudget und Leseverbalten

„Der Leser ist jetzt in Mode. Insbesondere der Arbeiterleser. O. M. B r i k rief kürzlich bei einem Disput aus: 'Wo ist er denn? Wo ist er, der wirkliche Arbeiterleser? Gebt ihn uns, zeigt ihn . . W . P. P o l o n s k i baut ganze Theorien über die Eigenschaften und Fähigkeiten der Klassentypen von Lesern. A. K. W o r o n s k i befaßte sich mit den Arbeiterkorrespondenten. T a i r o w , der Regisseur des Kammertheaters, äußerte sich jüngst auf einer Versammlung von Arbeiterkorrespondenten: 'Vor Arbeitern spielen ist mein Traum!' In der Musik genau dasselbe. Selbst die dekadentesten Strömungen reden von der 'Masse', vom 'Arbeiter' u. dgl. Gewiß, der Arbeiter ist jetzt ein Abtrünniger. Nur der Arbeiter selbst, der arme, das kann man wohl annehmen, der weiß davon kaum etwas. In den Großstädten ehrt man ihn, reicht man ihn wie ein Wunderding, eine neue Sache herum, wie den 'letzten Schrei' der Mode. In den literarisch gehobenen Kreisen entbrennen seinetwegen bereits Wort- und Tintenschlachten. Ihm zu Ehren werden Toaste ausgebracht. Aber unserem Ehrenkind tropft von alldem vorläufig nur der Zahn - es wird davon nicht satt. Warumhat sich wohl unsere öffentliche Meinung mit dem Arbeiter befaßt? Ursache dieses Interesses ist ein gewichtiger Tatbestand: In unserem Land gibt es bereits e t w a e i n e M i l l i o n A r b e i t e r l e s e r . " Der dreiundzwanzigjährige Alexander Bek leitete von der ironischen Situationsschilderung die nüchterne Schlußfolgerung ab: „ . . . die Million Arbeiterleser, die irgendwo in der Ferne, im Nebel vorhanden ist, die umherschwirrt, drängt, drückt, etwas fordert, die beginnt, ihre Kritiker und Interessenvertreter zu erkennen und ihre Schriftsteller ausfindig zu machen, diese Million ist eine Tatsache, die sogar die bürgerlichen Schriftsteller gezwungen hat, vom Arbeiteileser zu sprechen."214 Mit den Bauern verhalte es sich ähnlich. Bek verfocht die Linie der Napostu-Leute, wie die Bemerkung über den sich in der Literatur zuspitzenden Klassenkampf unschwer erkennen läßt. 215 Dennoch beschränkte sich das benannte Problem 84

nicht auf die Position einer Gruppe. Die von Bek aufgeworfenen Fragen und Forderungen waren Symptome des Streits, der Mitte der zwanziger Jahre in der gesamten literarischen Öffentlichkeit aufflammte. Tynjanow hatte so unrecht nicht, als er schon 1924 skeptisch äußerte: „Wenn es die Literatur schwer hat, beginnt man vom Leser zu sprechen."216 Die kritische Spitze war an die Adresse der Autoren gerichtet, die da generell glaubten, sie könnten ihr Wort über den toten Punkt bringen, wenn sie ihre Stimme umstellten. Der direkt in die Literatur eingeführte „Leser" tauge jedoch nicht zur Motivierung eines Auswegs aus den Sackgassen. Tynjanow ließ lediglich jene Versuche in der Dichtkunst gelten, bei denen sich durch die direkte Anrede das ganze Intonationssystem ändert, und in „literarischen Krisenzeiten" auch den Skas, der den Prosaschreiber zwinge, die Rede seiner Figuren zu „spielen". Tynjanows besonderes Interesse für Majakowski galt folgerichtig dem „Dichter mit Adresse", der die Schar seiner Adressaten immer mehr erweiterte. Fürwahr kein Lef-Mann, beobachtete er mit hellwacher Neugier das Experiment mit dem Mosselprom-Vers, der dem Dichter in breiten literarischen Kreisen und durchaus nicht nur bei den Vertretern traditioneller Kunstauffassungen tiefste Mißachtung eingebracht hatte. Ihn bewegte, ob Majakowski auf diesem Wege neue poetische Möglichkeiten entdeckt. Die Frage: „Wird der kaltblütige Mosselprom Majakowski befruchten, wie ihn einst das ROSTA-Plakat befruchtet hat?"217 verrät den Weitblick des Literaturhistorikers, der wußte, daß sich die Albumverse eines Puschkin, Halb-Epigramme und Halb-Madrigale, letztlich nicht als Vergeudung, sondern als Bereicherung poetischer Begabung erwiesen haben. Ossip Mandelstam, der Dichter, urteilte aus einem anderen Blickwinkel. Er beschrieb die zentrale Streitfrage, die von der russischen Avantgarde aufgeworfen wurde, als er 1922 erläuterte, wie Majakowski das elementare und große Problem Dichtung für alle und nicht für A u s e r w ä h l t e lösen wollte. Die von Majakowski betriebene extensive Erweiterung des Platzes, der der Dichtkunst eingeräumt wird, so meinte Mandelstam, gehe unweigerlich zu Lasten von Qualität, von Ausdruckskraft, Gehalt und poetischer Kultur. Majakowski sei nicht konsequent gewesen, sonst hätte er alles Unverständliche, d. h. all das, was bei seinem Leser oder Zuhörer eine gewisse poetische Vorbildung voraussetzt, aus seinen Versen aus85

treiben müssen. Da er dies nicht tue, klaffe ein tiefer Widerspruch „der Nichtvorgebildete versteht nichts, oder die von jeglicher Kultur befreite Dichtung hört auf, Dichtung zu sein, und wird auf Grund der seltsamen Eigenschaft der menschlichen Natur einem unübersehbaren Zuhörerkreis zugänglich" 218 . Mandelstam hatte in einem Punkt nicht recht. Das Konzept Kunst für alle, das die Angleichung von Kunst und Leben anstrebte, zog in Majakowskis Selbstverständnis nicht automatisch die Befreiung der Kunst von jeglicher poetischer Kultur nach sich. Es setzte allerdings einen veränderten Begriff von poetischer Kultur voraus, der unter dem Einfluß einiger kühner Fragestellungen der Revolutionsepoche von den grundlegend neuen Beziehungen zwischen Kunst und Gesellschaft abgeleitet war. Diese reale Verbindung erklärt die bis zum Siedepunkt angeheizten Debatten auf der einen Seite und die vielen Mißverständnisse, Irrtümer auf der anderen. Sie gerät jedoch nicht selten in Vergessenheit, und in der Tagespolemik zugespitzte Formulierungen werden dann voreilig mit dem Wörtchen „konstruiert" abgestempelt, anstatt daß die Zusammenhänge aufgehellt werden. Das folgende Beispiel ist Ausdruck des Suchens, wie auf der Grundlage der realen Lebensund Arbeitsbedingungen der Werktätigen im ökonomisch weit hinter den westlichen Industrieländern zurückgebliebenen jungen Sowjetland die neuen Literaturprogramme durchgesetzt werden könnten. Eine scheinbar am Rande liegende Fragestellung berührt den Kern der Debatten um die Hervorbringung und geistige Entwicklung des neuen Massenlesers. 1925 verkündete Majakowski: „Nicht genug, daß Tolstoi einen enormen Zeitaufwand brauchte, um .Krieg und Frieden' zu schreiben; man müßte darüber hinaus einmal feststellen, wieviel Arbeitsstunden ein Arbeiter zur Lektüre von ,Krieg und Frieden' benötigte. Über dieses Problem muß nachgedacht werden. Unbedingt." 219 Diese Äußerung, von vielen Zeitgenossen als Verketzerung der Kunst schlechthin begriffen, kursierte in Le/-Kreisen jahrelang als ein Hauptargument, um die Theorie der „Literatur des Fakts" zu stützen. Ob nun Majakowski der Erfinder dieser Formel war oder Viktor Perzow, ist nicht ganz eindeutig, aber letzten Endes auch belanglos. Unbestritten dürfte sein, daß der Dichter einen Zusammenhang zwischen den Lebensbedingungen und den kulturellen Bedürfnissen eines Menschen sah und daraus Schlußfolgerungen für seine Poetik ableitete. Dafür handelte er sich massive Vorwürfe ein: 86

Unterschätzung des Massenlesers, Verteidigung einer extrem rationalistischen Kunstauffassung, die mit den nationalliterarischen Traditionen unvereinbar sei. Bis in die Gegenwart wird sein skeptischer Ausspruch, ob solche dickleibigen Romane wie Krieg und Frieden überhaupt noch zeitgemäß seien, mit den Worten kommentiert: Hier irrte sich Majakowski. Doch irrte er sich in seiner Zeit wirklich? Wenige Monate zuvor hatte Stanislaw Strumilin in der Studie Das Zeitbudget des russischen Arbeiters und Bauern 1922-1923 die Frage nach der „Rationalisierung der Freizeit des Arbeiters durch optimale Nutzung der arbeitsfreien Stunden"220 aufgeworfen. Als Ökonom interessierte ihn in erster Linie der volkswirtschaftliche Aspekt. Im Gegensatz zu der auch unter Marxisten verbreiteten Methode, bei der Analyse des Budgets der Arbeiter ausschließlich den Umlauf der materiellen Werte (Löhne, Kaufkraft usw.) zu erforschen, betrachtete er die Reproduktion der Arbeitskraft als einen Prozeß, der von dem gesamten Zeitaufwand einer Arbeiterfamilie, d. h. auch von der im Haushalt erforderlichen Arbeit wie von der reinen Freizeit, beeinflußt wird.221 Auf diese Weise gab Strumilin ein reales, differenziertes Bild von der für kulturelle Bedürfnisse zur Verfügung stehenden Zeit bei den einzelnen Mitgliedern der befragten Arbeiterfamilien.222 Obwohl sich bei ihm kein Hinweis auf Alexej Gastew findet, den Direktor des 1920 gegründeten Zentralinstituts für Arbeit,223 so ist die indirekte Polemik mit Gastews ausschließlich auf die Arbeitsorganisation gerichteten Überlegungen zur Steigerung der Arbeitsproduktivität offenkundig. Strumilin versuchte, aus den spezifisch materiellen Daseinsbedingungen der Arbeiterfamilien Aufschlüsse über ihre geistige Tätigkeit zu gewinnen, mit dem Ziel, bisher nicht beachtete Mechanismen herauszufinden, über die die Steigerung des materiellen Reichtums der sozialistischen Gesellschaft beschleunigt werden kann. Die Faszination, die von Strumilins Buch ausstrahlte, war die Folge des souveränen Umgangs mit exaktem und völlig unbekanntem Zahlenmaterial anstelle der noch verbreiteten rein spekulativen Erläuterungen. Es entsprach vielen subjektiven Beobachtungen und widerlegte die vom Proletkult beeinflußten utopischen Vorstellungen von den realen Möglichkeiten geistig-kultureller Betätigung in einer Arbeiterfamilie. Nach der Oktoberrevolution verdrängten solche abstrakten Ideen lange Jahre die sachliche Erörte87

rung des Problems. In den revolutionär gesinnten literarischen Kreisen waren sie besonders zählebig und fanden, geringfügig variiert, mehrfach Wiederauferstehung. Um so erbitterter waren die geistigen Auseinandersetzungen und der Widerstand gegen reale Einschätzungen. Erst allmählich setzte sich ein nüchterner Blick für die sich sprunghaft, dabei widersprüchlich vollziehenden kulturellen Entwicklungsprozesse in den Arbeiterkreisen durch. Majakowski war einer der Wortführer und geriet dadurch Mitte der zwanziger Jahre sehr schnell in den Verruf, den in westlichen Industrieländern verbreiteten technokratischen Standpunkt zu verteidigen. Dabei warf er literarische Produktionsfragen auf, ohne deren Lösung die Umorientierung auf den neuen Massenleser unmöglich war. In diesem Zusammenhang verliert auch die Frage nach dem Umfang eines Buches im Verhältnis zur erforderlichen Lektürezeit ihren provokativen Charakter. Viktor Perzow hatte vermutlich als erster Majakowski auf dieses Problem aus Strumilins Sicht aufmerksam gemacht. Aber den Einbau in ein Literaturkonzept und die Zuspitzung verdankte er sicherlich dem Dichter. Er berechnete die Lektürezeit wie folgt: Nehme man an, die Lesezeit betrage je Druckseite - die Seite mit 2520 Buchstaben - zwei Minuten, so erfordere die Lektüre von Krieg und Frieden bei einem Umfang von 1432 Druckseiten insgesamt 47 Stunden und 44 Minuten. Nach den von Strumilin vorliegenden Berechnungen bedeute das, ein Arbeiter müsse zwei Monate, also ein Sechstel der ihm jährlich für kulturelle Belange (einschließlich Zeitungslektüre, Weiterbildung usw.) zur Verfügung stehenden Freizeit, für das Lesen eines so umfangreichen Romans aufwenden.224 Perzow zog aus dieser Zeitrechnung radikale Schlußfolgerungen: „Die Frage des Umfangs eines literarischen Kunstwerkes ist eine Frage der Klassenkultur unserer Zeit." In der Gutsbesitzergesellschaft habe es keine Rolle gespielt, wieviel Zeit die Lektüre eines Buches in Anspruch nahm. Die Zeit der jetzt herrschenden Klasse sei jedoch mit Arbeit ausgefüllt. Es genügten durchaus drei Seiten, „um ein Maximum an künstlerischer Wirkung zu erreichen"225. Der Titel der Studie, Der Umfang eines Kunstwerks und das Zeitbudget des russischen Arbeiters, verweist auf die zwei Quellen, zu denen sich der junge Perzow offen bekannte: Majakowski und Strumilin. Gleichzeitig arbeitete er mit Begriffen und Argumenten, die Theoretiker wie Arwatow und Tschushak entwickelt hatten und über die 88

Zeitschrift Lef, später auch Nony Lef, verbreiteten. Den ersten Anstoß gab jedoch Gastew, in dessen Institut er einige Zeit beschäftigt gewesen war.226 Perzow beeindruckten die im Namen des Proletariats betriebenen Bemühungen Gastews aus der Zeit unmittelbar nach der Oktoberrevolution, das künstlerische Wort nicht grammatikalisch zu reformieren, sondern seine „Technisierung" zu bewirken. Er setzte sie gegen die von Brjussow und Bely in den Proletkultstudios propagierte These, der neue Schriftsteller brauche nur den neuen Inhalt in die alten Formen zu gießen. Das führe zu nichts. Die Entwicklung solcher Dichter wie Kirillow, Gerassimow und Alexandrowski sei ein klarer Beweis.227 Auch in dieser Frage verfocht also Perzow konsequent die Linie der Lef-Leute, denen er sich 1926 fest anschloß. Gastew sympathisierte trotz seiner organisatorischen Bindung an den Proletkult mit den Futuristen. Und umgekehrt imponierte sein radikaler Bruch mit dem künstlerischen Wort einem Mann wie Majakowski, obwohl er selber zu einer so extremen Entscheidung nicht fähig war. Arwatows Rezension von Gastews Gedichtbuch Hin Bündel Order (1921) in der ersten Li/-Nummer hatte zweifellos programmatischen Charakter. Die „ Sozialisierung der poetischen Formen" - „der Dichter beginnt im Namen der sozialen Sache in einer sozial aktiven Sprache zu sprechen"228 - stand Majakowski nahe. Er hatte im Januar 1923 die Absicht, Gastew als Mitarbeiter seiner Zeitschrift für Fragen der sozialistischen Kunstentwicklung zu gewinnen. Dennoch galt nicht dem Dichter, sondern dem Theoretiker für Arbeitsorganisation Majakowskis meiste Sympathie. Viele Denkansätze zur Revolutionierung der Beziehungen von Kunst und Gesellschaft waren mit Ideen Gastews zur Veränderung der Arbeitskultur des in der materiellen Produktion beschäftigten Menschen verbunden.229 Majakowski war Praktiker. Das Konzept einer kommunikativen Literaturbetrachtung unter sozialistischen Literatur Verhältnissen, das von Lef-Leuten vorgelegt wurde, hat er mit seiner ganzen Autorität unterstützt. Der von Perzow untersuchte Zusammenhang von Buchumfang und Lektürezeit war jedoch nur ein Teilaspekt des Leserproblems, das Mitte der zwanziger Jahre mit zunehmender Schärfe in fast allen literarischen Gruppierungen erörtert und von den Schriftstellern zusehends als ein Produktionsproblem begriffen wurde. Das erklärt die theoretischen Unschärfen ebenso wie die verfestigten subjektiven Meinungen vieler Autoren und ihrer Anhänger. 89

Vom Nutzen der

Leserumfragen

Die neugegründete Zeitschrift Nony Lef230 wurde mit dem von Majakowski verfaßten, aber von ihm nicht gezeichneten Leitartikel An den Leser! eröffnet. Er enthielt ein Kampfprogramm zur Neubestimmung der Literatur unter den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen im zehnten Jahr der Revolution - die Absage an die Marktnachfrage als Kriterium für den Wert kultureller Erscheinungen mit dem Ziel, die verbreitete Anpassung an den „üblen" NÖP-Geschmack zu überwinden, sowie die Einsetzung der Kunst in ihre eigentliche Funktion, d. h. ihre unmittelbare Teilnahme am Klassenkampf. „Unser ständiger Kampf um Qualität, Industrialismus, Konstruktivismus (d. h. Zweckmäßigkeit und Ökonomie in der Kunst)", heißt es am Schluß, „verläuft gegenwärtig parallel zu den wichtigsten politischen und volkswirtschaftlichen Losungen des Landes und soll alle neuen Kulturschaffenden zu uns heranziehen."231 Dieses Avantgarde-Konzept - Majakowski stellte mit Nachdruck seinen experimentellen und veränderbaren Charakter heraus - berührte zu diesem Zeitpunkt die überwiegende Mehrheit der Lesermassen nur von der praktischen Seite. Sie beurteilten die Produkte, die Werke. Den abstrakten Debatten konnten sie in der Mehrzahl nicht folgen. So entfernte sich der literaturkritische und -theoretische Teil der Zeitschrift, der schließlich überwog, mehr und mehr von den eigentlichen Literaturfragen, die den neuen Leser bewegten. Und dies war kein Einzelfall. Perzow beispielsweise trug auf den Seiten des Nony Lef theoretischmethodische Dispute aus. Perewersew warf er vor, daß er lediglich den Produktionsprozeß und die Produktionsverhältnisse als Voraussetzung für das Entstehen eines Kunstwerks untersuche und dabei dessen soziale F u n k t i o n und W i r k u n g völlig außer acht lasse.232 In der Polemik mit Woronski führte er die „technische" Seite des Schreibens literarischer Texte auf die gleiche Frage zurück: „Jede wirkliche Erfindung auf dem Gebiet der künstlerischen Technik ist ihrem Wesen nach ein neues Mittel der sozialen Wirkung."233 Eine künstlerische Erfindung, so heißt es bei Perzow weiter, gerate analog zu einer technischen Erfindung mit dem sich gefestigten künstlerischen System in Konflikt. Darin liege für den einzelnen Künstler nicht selten eine persönliche Tragik, aber zugleich der gesellschaftliche Sinn seiner Arbeit. Mit einem B e k e n n t n i s zur sozialen Wirkung von Kunst ließ 90

sich jedoch das Problem nicht lösen. Schwand der reale Adressat aus dem Blickfeld, so verengte sich das Literaturgespräch zu einem Fachgespräch unter Kollegen. Der Disput über die neue soziale Funktion der Kunst wurde über die Köpfe der Leser hinweg geführt. Selbst der Leser, den Majakowski im Titel des von ihm verfaßten Leitartikels anredet«", war nicht identisch mit dem Leser, für den er die Mehrzahl seiner Verse schrieb. Dies waren erste bedenkliche Anzeichen des von Fritz Mierau als Frage formulierten Vorgangs: „Verlor nicht die Debatten-Ästhetik ihren Boden, da sie sich bei allem Bezug auf die Millionen doch an eine rede- und sprachtrainierte Gruppe von Aktivisten gewandt hatte?" 234 Jewgenija Shurbina zeichnete noch 1928 zu dem Thema Gespräch des Lesers mit dem Schriftsteller ein Genrebild grau in grau. Der Schriftsteller spricht nur über sich selbst, und der Leser s c h w e i g t . Die direkte Anrede an den Leser sei noch genauso rhetorisch wie zu Gogols Zeiten. Der Schriftsteller erfinde eigentlich nur, wie er auf den Leser wirkt. Das schade jedoch seinem Ansehen. Vor den Augen des Lesers verwandele er sich in einen „professionellen Illusionisten" und könne danach kaum noch eine ernsthafte Einstellung zur eigenen Arbeit erwarten.235 - Die Zeitschrift Na literaturnom postu stellte den Artikel zur Diskussion. Eine Diskussion fand nicht statt. Die Argumente konnten nicht mit leichter Hand beiseite geschoben werden, aber die RAPP-Leute, in deren Organ diese sachlich nüchterne Einschätzung abgedruckt war, waren sicher an einer offenen Diskussion gar nicht interessiert. Ein Jahrzehnt zuvor hatte der Futurist Wassili Kamenski ein ähnliches Bild gemalt, nur in kräftigeren Farben und aus einem anderen Blickwinkel. Er verglich den Dichter und sein Leserpublikum mit zwei hohen Bergen, zwischen denen sich ein tiefes „Tal allgemeinen Nichtverstehens" erstrecke. Während für den Dichter das Wort einen Eigenwert, ein Eigenziel habe und der Gedanke Bewegung, Flug sei, sei das eine wie das andere für den Leser ein Mittel, ein Produkt und etwas kaum Verständliches: „Leserspezialisten gibt es also nicht", schlußfolgerte Kamenski, „demnach gibt es keine gesunden, entwickelten, organisierten Rezipienten des Wortes." 236 Er stützte sich auf Platen, um zu bekräftigen, daß es einer strengen Erziehungsarbeit bedürfe, um die Rezeption von Wortkunstwerken zu verbessern. Kamenskis Situationsschilderung entsprach den Erfahrungen von früher, während der Kubofuturistentournee vor dem ersten Weltkrieg 91

und der Kaffeehausperiode unmittelbar nach d e m O k t o b e r 1917. E r bürdete die Mühen zur Ü b e r b r ü c k u n g der K l u f t ausschließlich d e m Leser auf. Shurbina indessen beschuldigte den A u t o r u n d rügte sein mangelhaftes Verständnis für den Leser sowie die u n g e n ü g e n d e Bereitschaft, sich in dessen Denkweise zu versetzen. Beide Positionen waren zu unterschiedlichen Zeiten an Literaturkonzepte gebunden, die u m die Vorherrschaft kämpften. K a m e n s k i vertrat in der Revolutionsphase den radikalen Flügel der russischen Avantgarde-Dichter. Shurbina verteidigte ein Jahrzehnt später die proletarische Literaturbewegung und machte sich z u m Fürsprecher der Arbeiterleser. D o c h Anstrengungen waren auf beiden Seiten vonnöten, beim A u t o r wie beim Leser. A b e r das Begreifen stellte sich nicht sofort ein. Mißerfolge, Enttäuschungen, voreilige R ü c k schlüsse verleiteten manch einen zu der Annahme, das P r o b l e m sei im gegebenen M o m e n t überhaupt nicht lösbar, d a das allgemeine kulturelle N i v e a u noch zu niedrig und der Lebensstandard v o n Millionen noch zu unterentwickelt war. D i e Annäherung zwischen Autor und Leser war jedoch nicht durch solche Bedenken a m stärksten gefährdet. Weitaus folgenschwerer war die Tendenz, d a s unterschiedliche Literaturverständnis einzuebnen und damit die echten Widersprüche zu verkleistern, anstatt sie aufzudecken. D i e s e D i s krepanz nahm teilweise krasse F o r m e n an. D a s Studium des nicht umfangreichen, aber doch sehr informativen Materials, das seit 1926/1927 in literarischen Zeitschriften wie Na literaturnom postu und Sibirskie ogni veröffentlicht wurde, gibt einen Einblick in die äußerst komplizierten Rezeptionsprozesse nicht nur bei Lesern, die nach der Revolution z u m erstenmal z u m Buch griffen, sondern auch bei d e m kulturell u n d politisch f o r t geschrittenen Teil der werktätigen Massen. Einerseits werden die Schwierigkeiten der Bibliothekare benannt, bei L e s e r u m f r a g e n aufrichtige und nicht frisierte oder gar nur stereotype Antworten zu erhalten. U n d andererseits wird sichtbar, wie l a n g s a m sich ein reiferes Literaturverständnis herausbildete und was für reale H e m m n i s s e diese E n t w i c k l u n g abbremsten (u. a. der vielbeklagte B u c h h u n g e r , mangelhafte A u s b i l d u n g und B i l d u n g der Bibliothekare, aber auch der Kritiker, die für Wand- und Betriebszeitungen wie generell in der Presse über Neuerscheinungen schrieben, insbesondere in der Provinz, vor allem in den v o m Zentrum entfernten Gebieten). D i e Fakten sprechen eine klare Sprache. T r o t z alledem war die Zuständigkeit des neuen Massenlesers etwa seit Mitte der zwanziger 92

Jahre eines der wichtigsten Argumente von Autoren wie Kritikern, um die eigene Position im Literaturkampf der verschiedenen Richtungen und Gruppen zu stärken. In der Realität war jedoch diese Zuständigkeit noch eine Fiktion. Ein einzelner Schriftsteller konnte zwar aus einer persönlichen Begegnung mit seinen Lesern - sei es in mündlicher oder schriftlicher Form - durchaus entscheidende Impulse für seine Arbeit empfangen. Und solche sich in der Tat mehrenden Beispiele waren durchaus Anzeichen einer neuen Tendenz. Aber solche vereinzelten persönlichen Erfahrungen konnten nicht den Anspruch auf Verallgemeinerung im großen Rahmen oder gar im Republikmaßstab erheben. Das Mitte der zwanziger Jahre in der Öffentlichkeit sprunghaft anwachsende allgemeine Interesse für die Bedürfnisse der n e u e n Leser hatte mehrere Ursachen. Die praktische Arbeit mit der schönen Literatur gewann im Prozeß der sozialistischen Kulturrevolution an Bedeutung. Gemessen an der gesamten kulturellen Massenarbeit, deren Umfang in dem derzeit in großen Teilen kulturell noch unentwickelten Land schwer überschaubar ist, nahm die wachsende Nach frage nach dem Buch einen verhältnismäßig hohen Stellenwert ein. Die Beseitigung des Analphabetentums, des traurigen Erbes des Zarismus, zog einen regelrechten Buchhunger nach sich. Bildung schloß Lesen ein. Ein Buch lesen war Ausdruck des Bemühens, das eigene - meist sehr geringe - Wissen auf a l l e n Lebensgebieten zu erweitern. Belesenheit verschaffte Achtung, Ansehen. Doch die Zahl der Bücher, die über Bibliotheken, Klubhäuser und Buchhandel zur Verfügung standen, ging infolge der wirtschaftlichen Auswirkungen des Bürgerkriegs anfangs noch weiter zurück. Die Wiederbelebung der Druckkapazitäten während der NÖP bewirkte zwar eine quantitativ bessere Versorgung des Landes mit Buch- und Presseerzeugnissen. Aber durch die Zulassung von Privatverlagen verschob sich gegenüber der Zeit des Kriegskommunismus erneut der Anteil an Trivialliteratur, die nicht den geistig-kulturellen Interessen der Arbeiter-und-Bauern-Macht entsprach. In Umlauf kam auch eine beträchtliche Menge von Übersetzungsliteratur in der Art der Tarzan-Serie von Burroughs. An dem Gezerre um den Leser, das Alexander Bek so eindringlich beschrieben hat, beteiligten sich über die literarischen Gruppen nicht nur die Künstler selbst, sondern in zunehmendem Maße öffentliche Institutionen, die über diese Entwicklung beunruhigt waren. Es ging nicht um Marktforschung schlechthin. Auf der Grundlage 93

einer besseren Kenntnis des n e u e n Lesers sollten Mechanismen geschaffen werden, über die das gesamte Buchwesen von der Produktion bis zur Konsumtion neu geregelt wird. Das Interesse daran, daß sich der Leser zu einem echten - wirklich z u s t ä n d i g e n Gesprächspartner des Autors entwickelt, war demnach der Teilaspekt eines umfassenderen Problems. Die Leserforschung wurde jedoch nach wie vor nach unterschiedlichen Gesichtspunkten betrieben. Das erwartete Ergebnis bestimmte den Weg. Die Vermengung der Angaben, die im Interesse einzelner Literaturkonzepte gesammelt und ausgewertet wurden, mit den Fakten, die zur Ermittlung des erreichten Entwicklungsstands nach zehn Jahren Kulturrevolution zusammengetragen wurden, verdunkelte nicht selten das reale Bild. Die Betriebsbibliotheken registrierten den stärksten Leserzuwachs. Für die hier durchgeführten Umfragen wurden Fragespiegel nach einem ziemlich einheitlichen Schema benutzt, das an folgendem Beispiel leicht einsehbar ist. Die Personen, die bei einer Umfrage in sechs Bibliotheken der goldgewinnenden Industrie im Gebiet von Bodaibo (Sibirien) befragt wurden, sind nach drei Lesergruppen aufgeschlüsselt: Arbeiter, Angestellte, Frauen.237 Der Schwerpunkt der abgefragten Angaben lag auf der Ermittlung von Informationen über die Bücher und Autoren, die von den Lesern bevorzugt wurden. Die veröffentlichte Tabelle238 weicht insofern von der allgemein verbreiteten Rangfolge ab, daß zwar Gorki, Demjan Bedny und Leo Tolstoi an erster Stelle stehen, indessen sowjetische Autoren realtiv wenig genannt sind. (Dies wird mit dem noch geringen Buchbestand erklärt; Werke von Gladkow, Sostschenko oder Leonow waren nur in wenigen Exemplaren vorhanden, Zement gab es nicht einmal in allen erfaßten Bibliotheken.) Aufschlußreicher noch als die Rangfolge der Autoren sind die Hinweise auf einen vorwiegend naiven Umgang mit dem Buch bei der Mehrzahl der Leser. Thema, Spannung und Autorennamen bestimmen die Einschätzung des eigenen Leseerlebnisses. Autorennamen werden mitunter verwechselt häufig die drei Tolstois. Die Ungenauigkeit vieler Angaben hat mehrere Urachen. So können häufig die Buchtitel nicht benannt werden. Insgesamt beweist die Analyse, daß der neue Arbeiterleser nicht nur beruflich wenig qualifiziert war, sondern daß er in literarischen Fragen, häufig durch den geringen Grad seiner Lese- und Schreibfähigkeit bedingt, 239 wenig Erfahrung hatte. Einerseits äußerte er sich spontan über seine unmittelbaren Leseeindrücke. 94

Und andererseits war er sehr anfällig für Meinungen, die ihm mündlich oder gedruckt als Lesehilfe dargeboten wurden, d. h., die eigene Kritikfähigkeit war noch nicht geschult. Der unerfahrene Leser, so schrieb seinerzeit ein Kritiker nicht ohne guten Grund, verspüre mit der Feder in der Hand eine besondere Verantwortung, die man etwa so beschreiben könne: „Es handelt sich nicht darum, ob mir das Buch gefällt oder nicht, sondern darum, ob es mir gefallen soll oder nicht. Die Antwort erfolgt auf die letzte Frage, aber sie wird als Antwort auf die erste ausgegeben (vermutlich scheint es dem Schreiber selber so). Dabei kommt etwa dasselbe heraus, als erhielte man auf die Frage: schmeckt Rizinusöl? die Antwort: ja, es ist nützlich.'^ Das Beispiel aus dem Gebiet von Bodaibo weist noch eine weitere Besonderheit auf. Während Strumilin bei seinen statistischen Erhebungen den Zusammenhang zwischen der politischen und gesellschaftlichen Aktivität eines Arbeiters und der zum Lesen verwandten Freizeit darin sah, daß der politisch engagierte Arbeiter mehr liest und dadurch auch mehr weiß, werden in dieser Analyse die „Arbeiter mittleren Alters, parteilose Arbeiter, die dem gesellschaftlichen Leben fernstehen", als die „beständigen und zuverlässigen Besucher der Bibliothek, mitunter auch des Literaturzirkels", herausgestellt. Diese „als Ausnahme" bezeichneten Arbeiter bevorzugten wie die Angestellten die vorrevolutionäre Literatur gegenüber der nachrevolutionären. 241 Aber nicht sie zählten zum Kern der n e u e n Leserschaft, auf die sich alle Hoffnungen richteten. Die regional bedingten Unterschiede zwischen dem politischideologischen Bildungsstand der Arbeiter im Moskauer Gebiet und auf den sibirischen Goldfeldern waren bedeutend. Und dennoch hatten einige Probleme, die bereits in den zwanziger Jahren in Verbindung mit der Leserforschung kritisch erwähnt wurden, grundsätzlichen Charakter. Das betraf insbesondere die Methoden, mit denen Leserwerbung und -Schulung betrieben wurden. In den Betriebsbibliotheken fand die Praxis von Wandzeitungen, häufig „Leserstimmen" betitelt, rasche Verbreitung. Ein Leseraktiv, meist unter der Anleitung des Bibliothekars, redigierte Lesermeinungen. Im Mittelpunkt standen in der Regel die Figuren und die Sprache eines Buches. Die positiven Erfahrungen wurden zur Nachahmung empfohlen: „Die Zeitung - jeder Leser lernt beim anderen und hat die Möglichkeit, aktiv auf das Gelesene zu reagieren - wird zweifellos in den Arbeiterklubs und -bibliotheken großen Erfolg haben und 95

nützlich sein."242 Eine knappe Bemerkung machte jedoch auf die Schwierigkeiten dieser Arbeit aufmerksam. Die Bibliothekare verfügten häufig nicht über das notwendige Wissen, um das Leseraktiv anzuleiten. Die Assoziation proletarischer Schriftsteller wurde daher aufgefordert, regelmäßig Hinweise und „verantwortungsbewußte" Unterstützung zu gewährleisten. Das gesamte System, die Leser mit Büchern und literarischen Kenntnissen zu versorgen, hatte trotz des enormen Aufwands an Mitteln und des hohen persönlichen Einsatzes anfangs mehr quantitative als qualitative Erfolge. Diese Erfolge können im Zuge der Kulturrevolution nicht hoch genug eingeschätzt werden. Das waren die Anfänge: Hundertfünfzigmillionen wurden zu einem Volk von Lesern. Problematisch hingegen war, wenn die ersten Ergebnisse bereits als das erstrebte Ergebnis ausgegeben wurden. Solche Überspitzungen schürten in der Regel die Auseinandersetzungen, die von verschiedenen Seiten um den so häufig zitierten neuen Leser im Gange waren. Adrian Toporow, Verfasser des berühmt gewordenen Buches Bauern über Schriftsteller, stellte rückblickend einige der damals meist verbreiteten Formen der Arbeit mit dem Buch generell in Frage: „Die Bewertung der schönen Literatur mit Hilfe von Bibliotheksumfragen ist ein grober Ersatz einer echten Leserkritik. Tausende von Lesern füllen Fragebögen über Bücher aus, nur um von den Bibliothekaren in Ruhe gelassen zu werden. Bis heute kann man in vielen Bibliotheken Wandzeitungen und schöne Alben finden, in denen mit Schreibmaschine abgetippte Lesermeinungen über Bücher wiedergegeben sind - trockenes, schablonenhaftes Geschreibe. Ich habe da kein einziges offenherziges Wort gefunden! Es ist kein Zufall, daß sie nie erforscht wurden. Aus ihnen wurden keine Schlußfolgerungen gezogen."243 Toporow war einen anderen Weg gegangen. Dies erklärt sein Urteil und auch das Recht auf eine so kritische Bewertung. Trugbilder sind kein Ausweg aus den

Sackgassen

Majakowski hatte ein scharfes Auge und ein feines Gehör. Spätestens seit Mitte der zwanziger Jahre begann er allmählich zu begreifen, daß die neuen Leser und Zuhörer noch nicht den Vorstellungen entsprachen, die er von ihnen gehabt hatte. Anfangs wollte er diese Tatsache nicht wahrhaben. Unverblümt ausgesprochen hat er sie erst 1928, nach seinem Austritt aus der Redaktion des Notvj Lef. 96

Der Dichterfreund Nikolai Assejew erkannte genauso wie Majakowski das Problem, verschleierte es jedoch bis zu einem gewissen Grad. Ihn habe die Einförmigkeit der Fragen erstaunt, wenn er zusammen mit Majakowski in der Öffentlichkeit auftrat, notierte er in seinem Tagebuch. In Tula, Kursk, Kiew und Charkow ähnelten die an sie gerichteten Fragezettel nach Diktion, Syntax und Inhalt derart, daß sie von ein und denselben Personen hätten geschrieben sein können, die mit ihnen von Ort zu Ort zogen. Assejew betrachtete diese Tatsache als Bestätigung des sozialen Faktors, als Ausdruck des gesellschaftlichen Denkens, in dem sich eine Erscheinung wie die Welle auf einer flachen Oberfläche verbreitete.244 Das war aber nicht die ganze Wahrheit. Dieses soziale Erscheinungsbild hatte auch eine Kehrseite: die Gefahr oberflächlicher, schematischer Kunsturteile. Assejew sah sie nicht, zumindest benannte er sie nicht. In den Vordergrund des Autor-Leser-Problems rückte auch er, wie so viele Schriftsteller zu jener Zeit, die Interessen und das Literaturprogramm der eigenen Gruppe, des Lef. Die allgemein anerkannte Forderung, der Schriftsteller müsse seinen Leser kennen, habe sich mittlerweile weitgehend durchgesetzt, führte Assejew seine Überlegungen fort. Es könne kaum noch jemand bestreiten, daß ein Jessenin, Leonow, Kallinikow oder Jewdokimow den Geschmack der Leser kenne. Sie würden ihn sogar derart genau kennen, daß sie nur die Hand auszustrecken brauchten, und schon klopften sie ihrem Leser auf die Schulter und der Leser ihnen. Aber, so fügte er hinzu, das Sich-Anbiedern, das Auf-die-Schultern-Klopfen, könnte eines schönen Tages auch schlecht enden, denn der Schriftsteller habe nur zwei Hände, aber die Leser hätten Hunderttausende. Da könne er, der Schreiber, leicht ins Schwanken geraten und den Boden unter den Füßen verlieren. Die Schlußfolgerung klingt überzeugend: „Es ist nicht üblich, davon zu sprechen, daß man den Leser erst hervorbringen muß." Aber sie entpuppt sich bei ihm schließlich als-, eine leere Redensart im Literaturkampf: „Ich glaube, mein Leser wie der Bergarbeiter aus der Annenski-Grube, einer von den ganz wenigen, der uns einen Brief geschrieben h a t , . . . ist unser Stolz und unsere Kraft. Wir haben ihn hervorgebracht, allem Gezische und Gezerre der Hüter alter Traditionen zum Trotz. Einem solchen Leser klopft man nicht auf die Schulter: er schiebt höflich die klopfende Hand beiseite und findet sich selber im Literaturstreit zurecht."245 Wenn Assejwe „wir" schreibt, meint er die Redaktion des Lef. 7

Thun; Autor, Leser

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In dem besagten Leserbrief wird folgendes mitgeteilt: Der Briefschreiber, neuerdings Abonnent der Zeitschrift Nony Lef, bezeichnet Nummer drei, das erste von ihm bezogene Heft, als „wertvoll" und bedauert, daß die Zeitschrift so wenig Abonnenten (nur dreitausend) habe. An Majakowski gerichtet, heißt es wörtlich: „Wenn man in Ihrer Zeitschrift immer so schreibt, so ist Ihre Zeitschrift besser als alle anderen Zeitschriften. Das sagen Ihnen diejenigen, denen die Sowjetmacht teuer ist."246 Genauere Erläuterungen wie Titel und Autorennamen fehlen. Heft drei enthält Majakowskis Gedicht Wofür wir gekämpft haben? mit den vielumstrittenen Versen, für die Kommune sei jetzt ein Nagel wichtiger als Thesen über den Kommunismus, Auszüge aus Tretjakows Stück Ick will ein Kind haben und Assejews Gedicht Die Moskauer. Ansonsten überwiegen ganz spezifische literaturtheoretische und -kritische Texte von Brik (Rhythmus und Syntax), Schklowski {Zur Verteidigung der soziologischen Methode), Perzow (Das Gesicht der „dicken" Uteraturzeitschriften) und Tschushak (Menschen, Zeitschriften, Sitten). Breiten Raum nimmt das 'Protokoll über Polonski ein, d. h. das Stenogramm einer Redaktionssitzung des Nowy Lef unter dem Vorsitz von Majakowski. Es informiert über die erneut zugespitzte Auseinandersetzung zwischen den ¿«/"-Leuten und dem Kritiker. (Polonski hatte sie im Februar 1927 auf den Seiten der lswestija mit schweren Anschuldigungen an die Adresse des Lef ausgelöst.2''7) Die Durchsicht dieser Le/"-Nummer läßt einige Zweifel an Assejews Argumentation aufkommen, weniger an der Aufrichtigkeit des gewissen A. Je., über dessen Person - Werdegang, Belesenheit, literarischer Geschmack - nichts gesagt wird. Assejew behauptete quasi, daß A. Je. der heiß herbeigesehnte neue Leser sei und daß diesen Leser die Texte der Lef-Leute „hervorgebracht" hätten. Aber das war natürlich Hochstapelei. So wie eine Schwalbe noch keinen Sommer macht, so brachte eine Zeitschriftennummer noch nicht den zuständigen Leser hervor. Dabei ist nicht auszuschließen, daß A. Je. mit Genuß und persönlichem Gewinn die literarischen Texte von Majakowski, Tretjakow und Assejew gelesen hat, daß er vielleicht sogar Gefallen fand an dem ungewöhnlich scharfen polemischen Ton und dem hohen Hitzegrad des auf den Seiten dieses Heftes geführten Literaturstreits, ohne dessen Hintergrund voll zu erfassen. Aber Assejews Beweis war nicht stichhaltig. Hätte er darüber gesprochen, wie man den neuen Leser „hervorbringt", wie man ihm 98

systematisch hilft, das eigene Wissen zu erweitern, hätte er konstruktiv zur Diskussion beitragen können. So aber wiederholte er nur stereotyp die Theoreme einiger seiner Freunde. Trotz der mit unverminderter Hartnäckigkeit vertretenen Behauptung der .L