Adressatenwechsel: Literarische Kommunikation in Sowjetrußland (1917–1930) [Reprint 2022 ed.] 9783112617328, 9783112617311


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German Pages 208 [214] Year 1988

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Adressatenwechsel: Literarische Kommunikation in Sowjetrußland (1917–1930) [Reprint 2022 ed.]
 9783112617328, 9783112617311

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Nyota Thun

Adressaten Wechsel

Literatur und Gesellschaft Herausgegeben von der Akademie der Wissenschaften der DDR Zentralinstitut für Literaturgeschichte

Nyota Thun

Adressatenwechsel Literarische Kommunikation in Sowjetrußland (1917-1930)

Akademie-Verlag Berlin

1987

ISBN 3-05-000427-4 ISSN 0232-315X Erschienen im Akademie-Verlag Berlin, Leipziger Str. 3—4 D D R - 1086 Berlin, ©Akademie-Verlag Berlin 1987 Lizenznummer: 202 • 100/123/87 Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: IV/2/14 VEB Druckerei,,Gottfried Wilhelm Leibniz", 4450 Gräfenhainichen • 6727 Lektor: Elzbieta Mischke L S V : 8033 Bestellnummer: 7547476 (2150/91) 00850

Inhalt

Vorbemerkung Streitpunkt Leser. Majakowski und Lunatscharski Einführung: Übereinkunft und Widerspruch Erfahrungen aus der Vorrevolutionszeit Vom Nutzen der Plakat-Attacken Kunst kontra Kunstkonzept?

7 18 18 22 48 68

Der „neue" Leser Einführung: Das Leserproblem aus der Sicht der Zeit . . Auf der Suche nach dem Leser Der wirkliche Leser. Zeitbudget und Leseverhalten . . Vom Nutzen der Leserumfragen Trugbilder sind kein Ausweg aus den Sackgassen . . . Der Leser hat das Wort Das sibirische Modell des Adrian Toporow Der Anspruch auf Wahrhaftigkeit Über die Brauchbarkeit der neuen Bücher Das Experiment und die Folgen

81 81 84 84 90 96 102 102 109 118 124

Selbstbildnis des Lesers Einführung: Der Nutzen von Leserbriefen für einen Autor Michail Sostschenkos Nachdenken über den Leser . . . . Rollentausch. Briefe an einen Schriftsteller • Wessen Schriftsteller ist Michail Sostschenko?

132 132 133 144 154

Anmerkungen

166

Personenregister

202

Vorbemerkung

Die faszinierende Wirkung der jungen sowjetischen Kunst hält an. Texte, Bilder und Plakate, druckgraphische Erfindungen und städtebauliche Entwürfe werden reproduziert, beschrieben, analysiert. Die Fülle wie Vielfalt der Erscheinungen korrigiert vereinfachte Vorstellungen von dieser geschichtlich einmaligen revolutionären Kunstperiode und zwingt gleichzeitig zu einer kritischen Aufarbeitung der Zeugnisse eines neuartigen Umgangs mit Kunst. Die kräftigen Vorstöße einiger Theoretiker, den kommunikativen Beziehungen und Bewegungen größere oder gar die entscheidende Bedeutung im Literaturprozeß beizumessen, provozierten den Versuch, einige Fragestellungen am geschichtlichen Material experimentell durchzuspielen. Der Gewinn war beträchtlich. Das historisch außergewöhnliche Material gab nicht nur neue Aufschlüsse, die einige der gegenwärtig vieldiskutierten Probleme klären helfen. Das angewandte Verfahren ermöglichte auch tiefere Einblicke in die Vorgänge, wie sich in der Wirklichkeit neuartige Wechselbeziehungen zwischen Kunst und Öffentlichkeit herausbildeten. Viele Konflikte, Widersprüche zeigten sich auf diese Weise von ihrer produktiven Seite und verdeutlichten die Ursachen einiger bislang schwer erklärbaren Phänomene des literarischen Lebens. Dies darzustellen war schließlich das eigentliche Anliegen der drei Studien. Der Blickpunktwechsel vom Autor und Werk zum Leser beschäftigt seit einiger Zeit auch die Literaturgeschichtsschreibung. Die Konsequenzen sind jedoch noch nicht abzusehen und vor allem in ihren Dimensionen nicht überschaubar. Die Betrachtungsweise von Literatur als Teil des gesellschaftlichen Entwicklungsprozesses hatte in den siebziger Jahren die Aufmerksamkeit der marxistischen Forscher erneut auf die funktionalen Zusammenhänge gelenkt. Die Mittelpunktstellung der historisch-genetischen Forschung wurde in Frage gestellt. Die damit verbundene Kritik an traditionellen Funk7

tionsvorstellungen machte deutlich, daß der Zugang zu einigen wichtigen Vermittlungsmechanismen zwischen Literatur und Gesellschaft versperrt war. So rückten spezifische Probleme der literarischen Kommunikation in den Vordergrund. Gleichzeitig führte die Auseinandersetzung mit dem „Dilemma der Rezeptionsästhetik" zu einer theoretischen Aufwertung des Lesers aus marxistischer Sicht.1 In diesem Zusammenhang kann nicht näher erörtert werden, ob sich die Literaturgeschichtsschreibung heutzutage wirklich in der Zwangslage befindet, zwischen zwei unterschiedlichen Literaturbegriffen entscheiden zu müssen - „Literatur" als „eine Menge von Objekten (Werken) oder Merkmalen (sprachlich-literarischen oder künstlerisch-ästhetischen Qualitäten)", die von der Literaturgeschichte nur noch nachträglich zu ordnen seien, oder „Literatur" als „ein besonderes Beziehungsgefüge kommunikativer Tätigkeiten", das historisch und systematisch rekonstruiert werden müsse.2 Derartige Zuspitzungen eines Problems sind in der Regel Ausdruck wie Folge realer Prozesse, die sich in der Gegenwart vollziehen und mit den erprobten Methoden nicht mehr beschreiben lassen. Klaus Städtke hat einige äußerst verknappt benannt.3 - Die Literaturgeschichtsschreibung kann sich dieser Herausforderung der Theoretiker tatsächlich nicht entziehen. Aber wie? Der Literaturhistoriker empfindet mitunter eine gewisse Hilflosigkeit gegenüber den metatheoretischen Texten. Wenn beispielsweise zwischen der hermeneutischen und der empirischen Methode bei der Rezeption eines literarischen Textes unterschieden und dabei mit einem Leserbegriff gearbeitet wird, der zur Abgrenzung von der Hermeneutik nur noch den Forscher (sprich: Leser) als den entscheidenden Part in einem kommunikativen Akt (d. i. die Rolle des Subjekts mit seinem Wissen bei der Sinnsetzung und Sinndeutung) anerkennt/* dann nimmt es nicht wunder, daß sich der Literaturhistoriker solchen Angeboten verschließt. Derartige Verkürzungen des Systems der literarischen Kommunikation führen in die Sackgasse. Die kritischen Vorbehalte gegenüber solchen wenig praktikablen metahistorisch wie metasprachlich angelegten Diskursen über die Entwicklung der eigenen Disziplin entbinden jedoch den Literaturhistoriker nicht von der Aufgabe, sich der Arbeitsergebnisse der Theoretiker zu vergewissern. Allein schon der Umgang mit einigen Begriffen ist nicht wertfrei und beschreibt, nolens volens, die eigene Position in einem immensen Forschungsfeld. Die Begriffe Autor und 8

Leser, mit denen in den drei Studien gearbeitet wird, sind abstrakte Begriffe und wiederum im Literaturprozeß historische Kategorien. Die Verfasserin folgt der von Manfred Naumann vorgeschlagenen Terminologie.5 So wird der Autor als Produzent von Texten aufgefaßt und der Leser in Abhängigkeit von der jeweiligen Funktion als Rezipient, Adressat oder ästhetische Komponente im Werk. Darüber hinaus wird in der zweiten Studie der Begriff „der neue Leser" gebraucht, ein Begriff, der aus dem Selbstverständnis der Zeit die neuen kommunikativen Beziehungen vom Aspekt des Rezipientenwechsels beschreibt und zugleich historisch eingrenzt. Er mußte in Anbetracht der jüngsten theoretischen Erkenntnisse neu befragt und im Vergleich zu einigen früheren Arbeiten, u. a. zu den entsprechenden Überlegungen in dem Buch Das erste Jahrzehnt,6 problematisiert werden. Den am geschichtlichen Material untersuchten Autor-Leser-Beziehungen liegen folgende theoretischen Prämissen zugrunde. Der Autor als Produzent von Texten zieht die Erwartungshaltung der Leser ins Kalkül - davon haben Robert Jauß, Manfred Naumann, Rita Schober gesprochen, in Anknüpfung an den Gedanken von Werner Krauss: „Schreiben ist ein Vorgang mit einer Adresse" 7 , ein sprachliches Kunstwerk ist „im Hinblick auf einen konkreten Empfänger geschrieben", „Dichtung bewegt sich in Richtung auf ein Vernehmen"8. Dem Text sei folglich eine verschiedengradige „Appellfunktion", ein „impliziter Leser" 9 schon eingeschrieben - Manfred Naumann bezeichnete diese Erkenntnis als „die fruchtbarste Erkenntnis der modernen Texttheorien"10. Wolfgang Iser schreibt die „Sinnkonstruktion eines Textes" nicht nur der unverkennbaren Aktivität des Lesers zu. Mit dem impliziten Leser meint er „den im Text vorgezeichneten Aktcharakter des Lesens"11 und fesselt damit erneut die Aktivität des Lesers, worauf beispielsweise Rita Schober kritisch hingewiesen hat.12 Formal betrachtet kam Majakowski aus der Sicht eines Autors, der über sein Verhältnis zum Leser viel nachgedacht hat, zu ähnlichen Feststellungen wie Iser: „. . . in jedem Gedicht arbeiten hundert feinste rhythmische, metrische und auch sonstige Eigenheiten, die niemand außer dem Meister - und mit nichts als der bloßen Stimme wiedergeben kann." 13 Er hatte die Erfahrung gemacht, daß eigentlich nur er als der Produzent diese Eigenheiten dem Rezipienten restlos erschließen könne, da sie in einem individuellen Leseakt nicht zu erfassen seien und deshalb als Medium der Stimme bedürften. Die 9

Wortkunst habe sich, schlußfolgerte er, grundlegend verändertDer radikale Adressatenwechsel, der sein Dichten in der Nachrevolutionszeit bestimmte, führte nicht, wie er anfangs fest geglaubt hatte, gleichsam automatisch zur Identität von Adressat und Rezipient. Diese Einsicht kam ihm aber erst später - das Begreifen, er müsse das in seinen Versen Unverständliche verständlich machen und das Kunstneue in der Öffentlichkeit propagieren. So vollzog sich in seiner Kunstpraxis der Adressatenwechsel unter enormen Spannungen und Reibungen, deren Ursache häufig verkannt wird. Der Forschungsgegenstand der Arbeit erwies sich als außerordentlich produktiv. In der Sowjetunion wurden die Veränderungen der Autor-Leser-Beziehungen nach 1917 relativ bald wahrgenommen. Sie gingen in der Praxis sehr rasch vonstatten. Dennoch waren diese Beziehungen nicht gleich nur neu. Altes und Neues blieb noch lange Zeit bis zur Unkenntlichkeit ineinander verschränkt. Altes war nicht immer leicht als alt erkennbar und Neues nicht sofort als neu. Die E r forschung dieser Prozesse ist kompliziert, da das bisher erschlossene Material sie nur undifferenziert widerspiegelt und folglich die Gefahr von Vereinseitigungen groß ist. Die analytische Arbeit konnte sich u. a. auf keine wissenschaftlichen Ergebnisse der sowjetischen Leserforschung aus den zwanziger Jahren stützen. Diese Lücke wird auch künftig kaum zu schließen sein, weil zu jener Zeit keine exakten soziologischen Untersuchungen betrieben wurden. E i n Ziel der vorliegenden Studien sind Aussagen über Erscheinungen in der künstlerischen Produktion, die sich durch einen neuartigen U m g a n g mit K u n s t im Verlaufe der sozialistischen Kulturrevolution - insbesondere in ihrer Anfangsphase - erklären lassen. Daraus ergab sich zwangsläufig eine Ausweitung des Forschungsfeldes. Aus einem spezifischen Blickwinkel wurde historisches Material danach befragt, inwieweit es die Revolutionierung der Kunstprozesse im Sinne einer Politisierung der K u n s t bestätigt, wie sie Norbert Krenzlin definierte: nicht nur „Produktion von sozialistischer K u n s t . . ., sondern Politisierung des U m g a n g s mit K u n s t , und zwar aller K u n s t : der Gegenwart wie Vergangenheit, 'hoher' wie 'niederer'" 1 4 . E s muß Dieter Schlenstedt in der Diskussion u m Peter Weiss' Ästhetik des Widerstands zugestimmt werden (er hat als einziger auf diese Nullstelle im Konzept von Weiss hingewiesen): „das Bild der Möglichkeiten sozialistischer Kunst, sozialistischen K u n s t u m g a n g s und ästhetischer Aktivität" ist breiter zu fassen, als es Weiss vorschlägt. Erfahrungen aus der Zeit E n d e der zwanziger,

10

Anfang der dreißiger Jahre seien einzubeziehen. Schlenstedt berief sich auf Versuche im Umkreis von Brecht und Eisler. 15 Erst recht wären die neuen Vorstöße in der Sowjetunion aus den zwanziger Jahren in diesem Zusammenhang zu nennen. Das Interesse an den sechs bis sieben Jahrzehnte zurückliegenden neuen Kunsterfahrungen ist nicht ein rein geschichtliches, d. h., es befriedigt nicht nur das Bedürfnis zu erfahren, wie sich alles zugetragen und verändert hat. Der Literaturhistoriker versucht, Erfahrungen für die Lösung aktueller Fragen nutzbar zu macher. Einige in der Gegenwart weitergehende — aber anders weitergehende - Prozesse lassen sich schwer analysieren, solange noch alles in Bewegung ist. Die aus der Vergangenheit gewonnenen Erkenntnisse erleichtern, die Bewegungsrichtung besser zu erkennen. Ähnlich verfuhren einige Forscher in den zwanziger Jahren, als sie sich der Brüche und Umbrüche in dem Autor-Leser-Gefüge bewußt wurden. So wandte sich Boris Eichenbaum der Puschkin-Zeit zu, um die Faktoren herauszufinden, die die neue soziale Lage des Schriftstellers bestimmten und seine literarische Produktion beeinflußten. Er zog diese Linie über Tschernyschewski bis zu Tolstoi. 16 Der Leistung Tolstois nahm sich zunächst erst einmal Viktor Schklowski an, der nicht müde wurde, in mehreren Arbeiten mit langen Tolstoi-Zitaten aufzuwarten, um mit ihrer Hilfe den Nachweis zu erbringen, was bereits Tolstoi entdeckt hatte: „Die Bedeutung jedes Wortkunstwerks beruht darauf, daß es nicht im direkten Sinn wie eine Predigt belehrt, sondern daß es den Menschen ein Neues, ihnen Unbekanntes und zum größten Teil denjenigen Vorstellungen Entgegengesetztes erschließt, über die sich das große Publikum für über jeden Zweifel erhaben glaubt." 17 Schklowski interessierte sich bei Tolstoi gerade für das Schreiben gegen den öffentlichen Geschmack, gegen ein Publikum, das bereits Puschkin zu seiner Zeit in der Polemik mit Faddej Bulgarin scharf angegriffen hatte. Juri Tynjanow benannte schließlich den historischen „Punkt", an dem durch eine neue Beziehung des Lesers zum Buch das qualitativ Neue in die Literatur kam, eine Erscheinung, der die Literaturkritik völlig hilflos gegenübergestanden habe: „Gorkis Literatur, die den neuen Leser hervorrief, entdeckte eine neue Art von Imperativ; mit jeder Sache beherrschte er den Leser, und diese Macht lenkte den Leser stets auf ein Tun. Der neue Leser, Gorkis Leser, war derjenige, der die Revolution gemacht und den Sozialismus geschaffen hat und ihn weiterhin schafft." 18 Diese nahezu in Vergessenheit geratene geniale

11

Formulierung aus dem Jahre 1938 war das Ergebnis reifer Erfahrungen, Ergebnis auch gründlichen Nachdenkens über die jüngsten Literaturprozesse, an denen der Wissenschaftler Tynjanow als Schriftsteller selber beteiligt war. Fast zeitgleich notierte Brecht: „Gorki natürlich erreicht mit seiner Erzählung (Die Mutter - N. T.), daß er plötzlich ungeheuer viele Menschen angeht. Damit aber schaffte er der Sache der Arbeiterschaft Gehör als der allgemeinsten, umfassendsten, als der Sache der gesamten Menschheit. Und so wie er an dem Erfolg dieser Sache beteiligt ist, ist auch an seinem Erfolg die russische Arbeiterschaft beteiligt." 19 Er untersuchte Gorkis „ungeheure Wirkung auf den Leser" und die „große Leistung", daß er selbst Schriftsteller in Leser verwandelte. Er, Brecht, betrachtete sich als „ein Beispiel für die Art seines Einflusses" 20 und meinte im konkreten Fall die Dramatisierung der Mutter. Solche zu Erkenntnissen geronnenen praktischen Erfahrungen von Wissenschaftlern und Schriftstellern haben natürlich die Wahl des Forschungsgegenstands ebenso wie die Arbeitsmethoden der vorliegenden Studien beeinflußt. Das gilt auch für Zeitgenossen, deren Entwicklung die Verfasserin mitunter mehrere Jahrzehnte lang unmittelbar verfolgen konnte. Persönliche Begegnungen haben die eigenen Beobachtungen bestätigt oder auch widerlegt, festigten Meinungen oder stellten sie in Frage. Und wenn vom Arbeitsgrund die Rede ist, auf dem die Idee zu diesem Buch gereift ist, so ist von den Zeitgenossen an erster Stelle Alexander Twardowski zu nennen, obwohl er mit keinem Wort im Text erwähnt wird. Twardowski hat keine Definition seines Leserbegriffs gegeben, aber die Lektüre beispielsweise seines Bunin-Essays beweist, mit welcher Souveränität er dieses Kriterium handhabte, um die starken wie die schwachen Seiten bei Bunin herauszuarbeiten und zu ergründen, wann und wie Bunin der „Kontakt zwischen Leser und Schriftsteller" gelungen ist, „die gemeinsame Teilhaberschaft an einem erregenden, nur ihnen beiden einsichtigen Geheimnis, die Begegnung beider über die Kunst"21, und wann und warum er diesen Kontakt verlor. Twardowski hatte selbst ein aufgeschlossenes, dabei durchaus nicht unkritisches Verhältnis zu seinem realen Leser und hörte auf die Stimmen, die zu ihm drangen. Unter diesem Aspekt ist der Text Wie „Wassili Tjorkin" entstanden ist ein vielleicht einmaliges Zeugnis einer langjährigen „Ko-Autorschaft", der „Zusammenarbeit" von Dichter und Leser an einem Werk. Die dritte Studie, die Analyse von So12

stschenkos Buch Briefe an einen Schriftsteller, verdankt diesem Text einige Anregungen.22 Eine Äußerung von 1947, die die Verfasserin erst entdeckt hat, als die Studien bereits geschrieben waren, erhärtet die eigenen Forschungsergebnisse. Das Spannungsverhältnis zwischen den beiden Seiten der Autor-Leser-Beziehung - einerseits „die genaue Vorstellung von dem Leserkreis, für den ein Dichter schreibt, die innere Bestimmung seiner Dichtung: ich, der Autor, der Dichter, schreibe für jemanden, adressiere das Wort an jemanden", und andererseits „die objektive Existenz dieser Dichtung im Volk" - betrachtete Twardowski als ein Grundproblem des Schreibens schlechthin. Majakowski sei der erste gewesen, der so viel Kraft und Talent aufgebracht habe, „die Beziehung zwischen Dichter und Volk, Dichter und Leser" in der sozialistischen Gesellschaft neu zu bestimmen. „Im Werk Majakowskis", schlußfolgerte er, „war die Lösung dieses Themas von einer echten Tragik gekennzeichnet, die das Los des Dichters in einer so komplizierten und so schweren Zeit war. In diesem Sinne war Majakowski eine Figur, mit der meiner Ansicht nach die Beziehungen zwischen Dichter und Volk aufhörten, ein tragisches Problem zu sein."23 Es war kein Zufall, daß entgegen ursprünglichen Überlegungen Majakowski nicht nur zur Mittelpunktfigur der ersten Studie aufrückte, sondern daß er in gewisser Hinsicht zum Bezugspunkt des gesamten Buches wurde. Sein maximalistischer Anspruch, sofort ein „Hundertfünfzigmillionenvölkchen" mit Dichtung bedienen zu wollen, konfrontierte ihn mit ungeheuren Schwierigkeiten, die er nicht von Anfang an übersah. Der Mitarbeit an den sogenannten ROSTA-Fenstern verdankte er Kunsterfahrungen, die ihm halfen, sich einen Zugang zu seinem neuen Adressaten zu verschaffen. So betrachtet nahm diese Zeit eine Schlüsselstellung in seiner Entwicklung ein.24 Aber damit hatte er noch keine generelle Lösung der mit dem Adressatenwechsel verbundenen Probleme gefunden. Bis zu seinem tragischen Tod blieb er in die anhaltenden Kämpfe um die Eroberung des neuen Lesers verstrickt. Die Meinungsverschiedenheiten zwischen Majakowski und Lunatscharski wurden nicht hinter verschlossenen Türen ausgetragen. Sie wurden öffentlich verhandelt und bekamen dadurch den Anstrich von Widersprüchen zwischen revolutionärer Staatsmacht und revolutionärer Kunst. Doch das Problem hatte tiefere Wurzeln. Kunstanstrengungen und Kunstbedürfnisse gerieten mitunter in 13

Konflikt, selbst wenn sie auf das gleiche Ziel gerichtet waren. Wurde um den Leser (genauer: den Rezipienten) der neuen Bücher gestritten und dabei mit Argumenten wie „verständlich" oder „unverständlich" umgegangen, so war der Kern des Streits meistens eine unterschiedliche Auffassung von den Wirkungsmöglichkeiten der Kunst in der revolutionären Wirklichkeit. Lunatscharski vertrat ein gnoseologisch ausgerichtetes Kunstkonzept. Majakowski hingegen setzte sich für einen funktionalen Kunstbegriff ein und schlug radikale Lösungen zur Beseitigung des Unterschieds zwischen Kunst und Nicht-Kunst vor, die Lunatscharski nicht annahm, und wollte auf diesem Wege auch den Streitpunkt Leser schlichten. In der Tat ging es nicht nur um Literatur. Das wurde in der ersten Studie dargelegt. Nicht minder wichtig ist die Tatsache, daß der Streitpunkt Leser das Realitätsempfinden schärfte und zwangsläufig den gesamten literarischen Kommunikationskreis wieder ins Bewußtsein hob, sobald die Debatten in abstrakten Begriffsstreitereien auszuufern drohten. Die in jener Zeit diskutierte Frage, wer wen liest und wer wen wie liest, spitzte sich so enorm zu, weil in dem Ringen verschiedener Kunstkonzepte um die Vorherrschaft als Zeuge der Leser aufgerufen wurde. Dabei hätte zunächst geklärt werden müssen, wer denn dieser vielzitierte Leser in Wirklichkeit ist und ob er überhaupt eine Zeugenaussage machen kann. Infolge der konkreten Revolutionserfahrungen wurde jeder Begriff erst einmal ideologisch und sozial neu bestimmt. So gesehen war die pauschale Einteilung der Leser nach ideologischen und sozialen Merkmalen eine durchaus verständliche historische Erscheinung. Aber die Gefahr von Vereinseitigungen war groß. In der Realität verfestigten sich die verschiedenen Ansichten relativ schnell zu normativen Größen, die gegeneinander ausgespielt wurden und Verwirrung stifteten, anstatt, wie erhofft, den Klärungsprozeß zu fördern. Im Titel aller drei Studien ist nicht zufällig vom Leser die Rede. Dennoch dreht sich die Problematik nicht ausschließlich um ihn. Er interessiert nur insoweit, als er zum Autor in einer bestimmten Beziehung steht. Der Buchtitel Adressatenwechsel verdeutlicht dieses Grundanliegen. In Anbetracht der sowjetischen Literaturentwicklung in den zwanziger Jahren wäre es wenig sinnvoll gewesen, eine Typologie der Adressaten oder der Rezipienten anzustreben.25 Weitaus wichtiger war es, die Ursachen zu erforschen, warum die sich gerade erst konstituierende literarische Öffentlichkeit dem Leserproblem eine derartige Mittelpunktstellung einräumte. 14

Bei der Analyse des Materials mußten zwei Aspekte berücksichtigt werden. Erstens waren die neuartigen Einsichten der Schriftsteller in den kommunikativen Charakter des Schreibens zu ermitteln. Dabei interessierten vor allem die Faktoren, die bei der Hervorbringung eines Werks auf die Herstellung einer kommunikativen Beziehung gerichtet sind. Die Vermutung, daß die Beschränkung auf die Werkstruktur26 nicht ausreicht, bestätigte u. a. die Analyse der Schreibweise Sostschenkos. Der spezielle Bezugspunkt für derartige neue Konzepte war jeweils der Leser als Adressat, wobei der Begriff Leser stets weiter zu fassen ist, denn in den zwanziger Jahren war der Leser auch Betrachter und auch Publikum (Hörer), wie die dargestellten Beispiele (ROSTA-Fenster, das Experiment des Adrian Toporow) beweisen. Zweitens waren neben den veränderten - verschiedengradigen Wirkungsabsichten der Autoren die andersgearteten Wirkungsmöglichkeiten der Werke genauer zu fassen. Da sich die Autor-LeserBeziehungen nicht ausschließlich aus dem Blickwinkel des Adressatenwechsels erkennen lassen, wurde der Rezipient in die Betrachtung einbezogen. Auf Grund der sich in jener Zeit häufenden stereotypen Äußerungen mußte trotz des dürftigen Materials der Versuch gewagt werden, zu ermitteln, wer denn eigentlich der unbekannte neue Leser war, der in der jungen Sowjetrepublik, deren Bevölkerung 1917 noch zu drei Vierteln aus Analphabeten und Halbalphabeten bestand, zum obersten Richter in Sachen Literatur erkoren worden war. Dieses Unterfangen erwies sich als kompliziert. In Ermangelung von Fakten konnten keine soziologischen Forschungsergebnisse herangezogen werden. Die Darstellung beschränkt sich daher auf einige in der Praxis neu erprobte Aneignungsweisen von Literatur. Obwohl auch hier nur ein recht lückenhaftes Material vorlag, hat sich das gewählte Verfahren letztlich doch als recht ergiebig erwiesen, insofern es aufschlußreiche Einblicke in die wenig bekannten literarischen Wirkungsmechanismen zu jener Zeit gab. Das betrifft vor allem die Publikationen Bauern über Schriftsteller von Adrian Toporow und Briefe an einen Schriftsteller von Michail Sostschenko. Die von Toporow aufgezeichneten Gespräche über Literatur sind das Ergebnis systematischer Klubarbeit des Lehrers in einer sibirischen Kommune. Der im Verlaufe von Jahren zur Gewohnheit werdende Umgang mit dem Buch entwickelte die literarische Urteilsfähigkeit der Bauern. Ihr neues historisches Selbstbewußtsein - sie zählten zu den ersten, die gleich nach der Oktoberrevolution den 15

Boden kollektiv bearbeiteten - rückte einige spezifische Fragestellungen in den Vordergrund. Gewohnt, die persönlichen Belange als gesellschaftliche Belange zu sehen, forderten sie von den Schriftstellern, daß ihre Werke gesellschaftlich nützlich sind. Sostschenkos Briefschreiber zeichnete in der Mehrzahl weder ein so ausgeprägtes politisches Bewußtsein noch ein Interesse an direkt auf die Literatur bezogenen Problemen aus. Angeregt durch die Lektüre von Erzählungen des Autors, schrieb er in der Regel über sich selbst, über die eigenen Lebensprobleme, in seltenen Fällen über das Gelesene. Aber das Gelesene löste diese Gedanken aus. Die Briefe sind in ihrer Gesamtheit ein Selbstbildnis des Lesers, genauer: des Lesers von Sostschenko. Demnach handelt es sich bei beiden Beispielen um zwei unterschiedliche Lektüreweisen, die zu untersuchen waren und schließlich zu unterschiedlichen Ergebnissen führten. Aus der Sicht der sich herausbildenden neuartigen Autor-Leser-Beziehungen können die einen und die anderen Rezipienten nicht als ein und dieselbe Erscheinung des literarischen Lebens in der jungen Sowjetrepublik betrachtet werden. Aber die einen wie die anderen haben die sich entwickelnden sozialistischen Literaturverhältnisse beeinflußt und nicht zuletzt die Vorstellungen der Schriftsteller von ihren Adressaten. Das Buch ist nach systematischen wie historischen Gesichtspunkten gegliedert. Die in den drei Studien behandelten unterschiedlichen theoretischen Probleme sind jeweils an bestimmte geschichtliche Phasen der Literatur- und Kunstentwicklung nach der Oktoberrevolution gebunden: die Zeit des Kriegskommunismus mit ihren zum Teil grandiosen Ideen von einer Revolutionierung des gesamten Kunstlebens, die Mitte der zwanziger Jahre vor sich gehende politische und ökonomische Stabilisierung der Arbeiter-und-BauernMacht und das damit einsetzende Bemühen, die realen Vorgänge in allen Kunstbereichen mit ihren veränderten Kommunikationsbedingungen zu erfassen 27 , und schließlich die Wende der zwanziger zu den dreißiger Jahren mit der Annahme des ersten Fünfjahrplans zur Beschleunigung der Industrialisierung des Landes und den revolutionären Prozessen bei der durchgängigen Kollektivierung der Landwirtschaft sowie die Auswirkungen dieser Entwicklung auf die gesamte Kultur. Die zeitgebundenen Erscheinungen werden in ihrer Bewegung und Veränderlichkeit gezeigt und nicht starr einer Phase zugeordnet. Auf diese Weise konnte die ungeheure Dynamik, die in den zwanziger Jahren ein hervorstechendes Merkmal der 16

gesamten Entwicklung war, auch in den Autor-Leser-Beziehungen nachgewiesen werden. So verloren beispielsweise viele der zwischen Majakowski und Lunatscharski noch Anfang der zwanziger Jahre verhandelten Fragen bereits Mitte des Jahrzehnts ihre Schärfe. Unter dem unmittelbaren Eindruck der Revolutionserfahrungen waren gegen Ende des Kriegskommunismus und an der Schwelle zur N Ö P die utopischen Züge maximalistischer Kunstbestrebungen noch nicht so deutlich erkennbar. Die Revolutionierung von Hundertfünfzigmillionen zu Kunstverbrauchern schien in greifbare Nähe gerückt. Majakowski ging über die Arbeit an den ROSTA-Fenstern einen besonderen Weg, den Weg der Annäherung der Kunst an die rauhe Alltagswirklichkeit mit ihren Kämpfen und Widersprüchen. Um den Kern seiner Meinungsverschiedenheiten mit Lunatscharski, die trotz der Übereinstimmung in vielen politischen Grundfragen bestanden, freizulegen, wurde in der ersten Studie mit längeren historischen Rückblenden gearbeitet. Die Bindung an unterschiedliche Kunstkonzepte vor der Revolution, die ihre ästhetischen Anschauungen geprägt hatten, erklärt viele Zuspitzungen der diskutierten Probleme in den ersten Jahren nach der Oktoberrevolution. Erst auf dem Hintergrund dieser ersten Erfahrungen und Einsichten läßt sich die geschichtliche Bedeutung aller nachfolgenden Versuche ermessen, die Autor-Leser-Beziehungen neu zu regeln. Das Thema ist mit den drei Studien keineswegs erschöpfend behandelt worden. Es wurde lediglich ein eingegrenzter Raum ausgeschritten, um experimentell Möglichkeiten zu erkunden, die dem Literaturhistoriker neue Forschungswege eröffnen. Die erzielten Ergebnisse bestätigten die Richtigkeit des Weges. Gleichzeitig muß eingestanden werden, daß sich viele Erscheinungen des damaligen literarischen Lebens vom Aspekt des Adressatenwechsels nicht darstellen lassen. Das Schreiben als ein „Vorgang mit einer Adresse" muß besonders in den Fällen, da Autoren wie Prischwin den Verlust des Lesers beklagten oder wiederum andere wie Bulgakow die Hoffnung auf einen Leser sehr früh aufgegeben hatten, sehr behutsam analysiert werden, um voreilige Schlußfolgerungen zu vermeiden oder gar auf Grund solcher Symptome einseitige Urteile zu fällen. Dennoch, so meint die Verfasserin, war das entscheidende Ergebnis der geleisteten Forschungsarbeit nicht das Erkennen der Grenzen, sondern das Entdecken von Möglichkeiten, wie das Verständnis für vergangene wie gegenwärtige Literatur- und Kunsterscheinungen vertieft werden kann. 2

Thun! Autor, Leser

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Streitpunkt Leser. Majakowski und Lunatscharski

Einführung: Übereinkunft und Widerspruch Auf der öffentlichen Diskussion über Lunatscharskis Stücke Oliver Cromwell, Magier und Iwan im Paradies, die am 26. November 1920 im Moskauer Haus der Presse stattfand, sprach Majakowski mit dem Volkskommissar für Bildungswesen wie ein Schriftsteller mit einem anderen. Unmittelbarer Anlaß war die vernichtende Kritik von Piaton Kershenzew in der Prawda, die Behauptung, sobald sich Lunatscharski als Dramatiker äußere, habe er ein falsches Bewußtsein. Deshalb stellte der Autor einleitend die Frage: „. . . gibt es in der Art meiner Stücke tatsächlich etwas, was ein schwerer Fehler ist, der zu verurteilen wäre, oder ist dies die Schuld von Unverständnis anstelle von U n v e r s t ä n d l i c h k e i t . . ." 1 Der Polemiker Majakowski erkannte sofort die Parallelität eines ihm nur allzu vertrauten Vorgangs. Die so oft kritisierten „schlauen Futuristen", flocht er ein, pflegten in solchen Fällen auch zu antworten: „. . . wir bitten Sie, ist das nicht ein Zeichen Ihres eigenen Unverständnisses, wenn Ihnen bei uns etwas unverständlich erscheint?" 2 Einer der Hauptvorwürfe, den die Futuristen ständig zu hören bekamen, nicht zuletzt von Lunatscharski selbst, war wirklich das Argument, ihre Kunst sei den Massen unverständlich. Majakowski sah jetzt nicht ohne Befriedigung den Stückeschreiber Lunatscharski in die gleiche Lage gedrängt und hielt ihm vor, seine Gegenargumentation beweise gar nichts. Eine Lesung vor soundso viel Leuten, die mit ihrer Unterschrift die Verständlichkeit eines literarischen Werkes bestätigen, schaffe das Problem nicht aus der Welt. Auf diese Weise könne der Streit über den literarischen Wert und über die Wirkung eines Kunstwerkes nicht geschlichtet werden. (So redete Majakowski 1920; später, angesichts massiver Kritik an den eigenen Dichtungen seitens der RAPP, scheute er nicht die gleichen Mittel, um seinen Kontrahenten Beweisstücke vorzulegen, daß er von den Zuhörern trotz aller entgegengesetzten Behauptungen verstanden werde.) 18

Streitpunkt Leser. Majakowski und Lunatscharski

Einführung: Übereinkunft und Widerspruch Auf der öffentlichen Diskussion über Lunatscharskis Stücke Oliver Cromwell, Magier und Iwan im Paradies, die am 26. November 1920 im Moskauer Haus der Presse stattfand, sprach Majakowski mit dem Volkskommissar für Bildungswesen wie ein Schriftsteller mit einem anderen. Unmittelbarer Anlaß war die vernichtende Kritik von Piaton Kershenzew in der Prawda, die Behauptung, sobald sich Lunatscharski als Dramatiker äußere, habe er ein falsches Bewußtsein. Deshalb stellte der Autor einleitend die Frage: „. . . gibt es in der Art meiner Stücke tatsächlich etwas, was ein schwerer Fehler ist, der zu verurteilen wäre, oder ist dies die Schuld von Unverständnis anstelle von U n v e r s t ä n d l i c h k e i t . . ." 1 Der Polemiker Majakowski erkannte sofort die Parallelität eines ihm nur allzu vertrauten Vorgangs. Die so oft kritisierten „schlauen Futuristen", flocht er ein, pflegten in solchen Fällen auch zu antworten: „. . . wir bitten Sie, ist das nicht ein Zeichen Ihres eigenen Unverständnisses, wenn Ihnen bei uns etwas unverständlich erscheint?" 2 Einer der Hauptvorwürfe, den die Futuristen ständig zu hören bekamen, nicht zuletzt von Lunatscharski selbst, war wirklich das Argument, ihre Kunst sei den Massen unverständlich. Majakowski sah jetzt nicht ohne Befriedigung den Stückeschreiber Lunatscharski in die gleiche Lage gedrängt und hielt ihm vor, seine Gegenargumentation beweise gar nichts. Eine Lesung vor soundso viel Leuten, die mit ihrer Unterschrift die Verständlichkeit eines literarischen Werkes bestätigen, schaffe das Problem nicht aus der Welt. Auf diese Weise könne der Streit über den literarischen Wert und über die Wirkung eines Kunstwerkes nicht geschlichtet werden. (So redete Majakowski 1920; später, angesichts massiver Kritik an den eigenen Dichtungen seitens der RAPP, scheute er nicht die gleichen Mittel, um seinen Kontrahenten Beweisstücke vorzulegen, daß er von den Zuhörern trotz aller entgegengesetzten Behauptungen verstanden werde.) 18

Bemerkenswert an der Kontroverse war das Eingeständnis, daß das Kriterium „verständlich" oder „unverständlich" offenbar untauglich sei, da es nichts über das Werk selbst aussage. Die Ursachen dafür, daß ein Werk mißverstanden wird, könnten sowohl im Text liegen, u. a. am Schwierigkeitsgrad der semantischen Bezüge, als auch ausschließlich beim Leser, bei seiner Aufnahmefähigkeit (herrschender literarischer Standard, Bildung, Weltanschauung). Majakowski sah in dieser Frage keinen prinzipiellen Unterschied zwischen den Erfahrungen Lunatscharskis und seinen eigenen. Er betrachtete den Sachverhalt als etwas ganz und gar Natürliches: „Einige Kommunisten haben unter sich über Dichtung gestritten." 3 Aber er behauptete gleichzeitig, Lunatscharski vertrete als Autor Kunstauffassungen, die er als „Macht" nicht gelten lasse. In diesem Punkt war Majakowski nicht nur ungerecht. Er war einfach ungenau, wenn er Lunatscharskis Schreibweise einem gemäßigten Futurismus zuordnete. Dies war ein zu jener Zeit verbreitetes Argument von Ossip Brik und von Alexej Krutschonych vor allem, um Divergenzen in der Kunstpraxis einzuebnen und die eigenen Bemühungen als die einzig revolutionäre Kunstrichtung zu deklarieren, die sich in der Zukunft durchsetzen werde. Die Auseinandersetzung, die sich in der Frage „Unverständlichkeit" oder „Unverständnis" verschärfte, berührte nach Majakowskis Auffassung ein kunstpragmatisches Problem. Die Stücke Lunatscharskis wird er vielleicht sogar nur oberflächlich gekannt haben. Nicht ihnen galt sein Interesse, trotz der herausfordernden Bemerkung zum Stück Iwan im Paradies im Offenen Brief an A. W. Lunatscharski, der möglicherweise nicht einmal eine eigene Entdeckung zugrunde lag, sondern eher die Spitzfindigkeit der Freunde: „. . . jene Repliken aus der Hölle verraten ja die transrationale Sprache eines Alexej Krutschonych." 4 Majakowski verhandelte nicht ausschließlich eigene Produktionsfragen, Fragen der poetischen Sprache wie des besonderen Gegenstands der neuen Dichtkunst, obwohl sie ihn zu diesem Zeitpunkt stark beunruhigten. Er kämpfte um den Weg, für den er sich entschieden hatte und den er kompromißlos als den einzig richtigen Weg der neuen revolutionären Kunst betrachtete. Der Offene Brief, veröffentlicht am 30. November, d. h. vier Tage nach dem beschriebenen Disput und acht Tage nach dem Disput über Meyerholds Inszenierung der Morgenröte von Verhaeren, macht die Zusammenhänge deutlich. Die Formulierungen sind durchdacht. Die Argumente stützen sich ebenso wie in Lunatscharskis Erwiderung 2*

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An meine Opponenten auf die eigene, bereits der Geschichte überant wortete Erfahrung aus der Zeit vor dem ersten Weltkrieg. Lunatscharski führte die kontroversen Auffassungen, wie er s ie sah, auf „die einfache Tatsache" zurück, „daß der 'Linksdrall' in der Kunst hervorgegangen ist aus der ungesunden Atmosphäre auf den Boulevards des bürgerlichen Paris und in den Kaffeehäusern des bürgerlichen München, daß dieser Futurismus mit der Propagierung einer inhaltslosen Kunst und des reinen Formalismus, mit seinem Grimassenschneiden und der Mißachtung der Künstler untereinander — und dies bei einer erstaunlichen Monotonie der künstlerischen Verfahren - ein Produkt der Zersetzung der bürger liehen Kultur ist" 5 . Er spießte die „futuristische Hülle" Majakowskis auf, meinte, aus dem „gelben Hemd" müsse er doch nun endgültig herausgewachsen sein, und sprach den von Majakowski zum Beweis der Lebensfähigkeit der „Linken" angeführten „erdrückenden" Fakten 6 die Beweiskraft ab. Das auf Schockwirkung bedachte öffentliche Auftreten und analog dazu die „gekünstelten" Rhythmen wie das „Jonglieren mit Reimen" waren in Lunatscharskis Augen Erscheinungen des bürgerlichen Kunstbetriebs, die er während seines Pariser Exils von 1911 bis 1915 zur Genüge kennengelernt hatte und die er nun unter den veränderten politischen und sozialen Verhältnissen für unangebracht hielt. Aus diesem Grunde wies er auch Majakowskis Entgegnung 7 , die Futuristen seien nur deshalb unverständlich, weil man sie ungenügend propagiere, schroff zurück: „Nach dem Brief des ZK ist der Futurismus etwas angeschlagen, und ich möchte ihn nicht vollends zu Boden schlagen, dennoch muß die Wahrheit gesagt werden. Wir werden im Proletariat diese Verfallsprodukte der bürgerlichen Boheme natürlich nicht propagieren. Das Proletariat verlangt eine inhaltsreiche Kunst." 8 Diese sich um 1920, eigentlich schon seit 1918 in aller Öffentlichkeit abspielende Auseinandersetzung zwischen Lunatscharski und Majakowski 9 - sie wurde von beiden in einem scharfen, nicht selten ironisch-sarkastischen Ton geführt - zeigt die komplizierten widerspruchsvollen Kunstprozesse nach der Oktoberrevolution aus der Sicht von Leuten, die politisch auf der gleichen Seite standen, aber das in der Kunst erstrebte Ziel mit unterschiedlichen Mitteln erreichen wollten. Nicht zufällig beteuerten sich die Kontrahenten immer wieder gegenseitig in den Atempausen zwischen den scharfen Repliken, daß man doch eigentlich das Gleiche wolle und in seinem Widersacher einen Bundesgenossen zur Verwirklichung des eigenen 20

Programms sehe. Von den verschiedenen Blickwinkeln, aus denen sich die Auseinandersetzung betrachten läßt, ist in unserem Zusammenhang zunächst folgender Aspekt von besonderer Bedeutung: Lunatscharski wie Majakowski kämpften, genau betrachtet, um die größtmögliche Wirkung der Kunst auf die revolutionären Massen. Aber die Fronten verhärteten sich gerade in diesem Punkt, weil nicht nur die Vorstellungen von der „neuen" Kunst auseinandergingen, sondern auch davon, wie Kunst auf die Massen wirkt. Lunatscharski glaubte, Kunst müsse auf die Massen vor allem emotional wirken, sie „anstecken", während Majakowski Wirkung vorrangig als einen rationalen Vorgang auffaßte - das künstlerische Wort müsse Gedanken in Bewegung setzen und auf diese Weise zu neuen Einsichten führen. Zwar lenkten Vertreter der künstlerischen Avantgarde wie Majakowski und Meyerhold ein und ließen keine Gelegenheit ungenützt, um zu verkünden, „auch Lunatscharski" sei mit ihnen in ihrem Kampf um eine bisher nie dagewesene Verbindung zwischen Kunst und Volksmassen. Lunatscharski nahm jedoch ihre Experimente nicht an. E r unterband sie zwar nicht kraft seiner Machtbefugnisse, wie die Drucklegung einiger futuristischer Dichtungen in den Revolutionsjahren bewies. Aber unter Berufung auf die Kunstbedürfnisse des siegreichen Proletariats bezeichnete er sie in den scharfen Debatten häufig als bürgerliche Kunsterscheinungen. Lunatscharski verteidigte das sozialistische Bildungsziel der kämpfenden Arbeiterklasse, dessen grandiose Verwirklichung mit staatlichen Mitteln für ihn nach der Oktoberrevolution Realität geworden war, und damit ein Kunstideal, das aus der langen G e schichte der Künste all das in sich aufnimmt, was die revolutionären Massen in ihrem Kampf stärkt und bereichert. Majakowski hingegen verfocht ein Kunstprogramm, das anfangs aus der radikalen Negation der bürgerlichen Literatur- und Kunstverhältnisse entstanden war und das nun nach 1917, nachdem das bisherige literarische System Autor - Leser - Kritik nicht mehr funktionierte, die Aufhebung der traditionellen aufklärerischen Zweiteilung zwischen Autor und Leser zum Ziel hatte. Die konträre Haltung im Streit um die revolutionäre Kunst erklärt sich aus ihren unterschiedlichen ästhetischen Konzepten. Lunatscharski, auch Schriftsteller, aber doch vorwiegend Kulturpolitiker und -theoretiker, vertrat eine vorwiegend gnoseologisch ausgerichtete Ästhetik; er befragte ein Kunstwerk zuerst nach seinem Inhalt, nach dem realistischen Gehalt der künstlerischen Abbildung von Wirklichkeit. Der Dichter Majakowski 21

sah sich durch die Revolution geradezu gezwungen, die produktionsästhetischen Fragen neu zu stellen; er entwickelte zu diesem Zweck eine funktionale Kunstauffassung, die den kommunikativen Aspekt an die erste Stelle rückte. Der theoretisch vielbeschriebene „Widerspruch zwischen einem an der 'Funktion' und einem an der 'Gestaltung' orientierten Begriff von Literatur" 10 zeichnete sich folglich bereits in den sowjetischen Kunstdebatten der frühen zwanziger Jahre ab. Die Brisanz der Auseinandersetzung ergab sich aus dem Anspruch auf Allgeimingültigkeit, der von beiden Positionen aus erhoben wurde. Die gegeneinander ins Feld geführten Argumente rutschten dabei meist auf die politisch-ideologische Ebene und arteten nicht selten in gegenseitigen Verdächtigungen aus, unbrauchbar gewordene, durch den Oktober überholte Ansichten und Konzepte ins revolutionäre Heute transportieren zu wollen. Aus diesem Grunde ist zunächst der rationale Kern solcher Vorwürfe zu ermitteln.

Erfahrungen aus der Vorrevolutions^eit I. „Alles beginnt also mit der Malerei. Die Maler scheinen der am weitesten vorgeschobene Flügel des russischen Kunstlebens zu sein . . ." 1 1 - eine Ausnahme sei lediglich der junge mathematikbegeisterte Welemir Chlebnikow, der seit 1908 seine Texte den Zeitschriftenredaktionen anbot, allerdings mit wenig Erfolg. Diese Einschätzung der Formierung des russischen Futurismus um 1911 wird von den Forschern einhellig geteilt, unabhängig davon, daß der russische Futurismus selbst, wie Majakowski in der Polemik mit Lunatscharski präzisierte, keine eigene Malrichtung hervorgebracht hat. Die Impulse, die von Künstlern wie Michail Larionow, Natalja Gontscharowa, Alexandra Exter, Wassili Kandinsky oder Kasimir Malewitsch ausgingen, hinterließen kräftige Spuren in dem Poetenkreis, den Majakowskis Stimmkraft schon nach kurzer Zeit übertönte. „Es lassen sich in der Kunstgeschichte wohl kaum Zeiten finden", wies Nikolai Chardshijew bereits 1940 nach, „da Dichtung und Malerei so eng miteinander verkehrten wie in der Entstehungsphase des Kubofuturismus in Rußland." 1 2 Majakowski entdeckte anfangs seine Liebe zur Malerei. Verse, so glaubte er, gelingen ihm nicht. 1911, gerade achtzehn Jahre alt, wurde er in die Figurenklasse der Moskauer Lehranstalt für Malerei, 22

Bildhauerei und Architektur aufgenommen. Hier kam es zu der folgenreichen Begegnung mit David Burljuk, der ihn als erster einen Dichter nannte. Burljuk war gleich ihm ein neueingeschriebener Student, obzwar ein bereits profilierter Maler, dessen Bilder schon auf mehreren Ausstellungen junger Künstler vertreten waren; wegen ihrer öffentlichen Auftritte und Skandale wurden beide zusammen am 21. Februar 1914 aus der Lehranstalt ausgeschlossen. Majakowski verdankte den Lehrjahren außer soliden kunstpraktischen wie -theoretischen Kenntnissen vor allem das Gespür für die sich in der Kunstpraxis abspielenden Kämpfe und die Erfahrung, wie selbst in der renommierten Lehranstalt mit Talenten nicht immer sehr fein umgegangen wurde. „Fand erstaunlich", schrieb er später in seinen autobiographischen Notizen. „Nachahmer werden verhätschelt, selbständige Naturen hinausgeekelt. Larionow. Maschkow. Mit revolutionärem Instinkt trat ich ein für die Hinausgeekelten." 13 Die ständige Reibung zwischen der vermittelten Lehrmeinung und den Ansichten der Freunde schärfte die eigene Urteilskraft und trieb ihn in eine Antihaltung zur offiziellen Kunstszene. Das waren nicht nur Reibereien an der Oberfläche, obwohl die Jungen ihr Kontra recht lautstark und nicht selten in clownesker Aufmachung kostümiert, angepinselte Gesichter - zur Geltung brachten. Die Provokation war Ausdruck eines zum Programm erhobenen radikalen Bruchs mit aller bisherigen Kunst und mit dem herrschenden bürgerlichen Kunstbetrieb schlechthin. Majakowski setzte anfangs seine Malstudien systematisch fort,14 auch nachdem er bereits mit Dichten begonnen hatte. (Die bereits erwähnte Gontscharowa erklärte nach seinem Ausschluß aus der Lehranstalt, sie habe sich schon seit längerer Zeit gewundert, daß Majakowski noch immer in der Figurenklasse sitze und den alten Plunder male.) Die Vereinigung des malerischen und des dichterischen Prinzips im Kubofuturismus entsprach seiner künstlerischen Sehweise. Ilja Ehrenburg schreibt in seinen Memoiren, Majakowski habe die Welt eher gesehen als gehört.15 Dies ist durchaus kein Widerspruch zur Selbstanalyse in Wie macht man Verse, zu der Feststellung, für ihn sei das Finden eines bestimmten Tonstroms stets das Wichtigste bei der Entstehung eines Gedichtes. Auch Viktor Schklowski hat von der Wechselwirkung der beiden Künste Malerei und Dichtung beim jungen Majakowski gesprochen, von der „Verschiebung der Proportionen, Sehgewohnheiten und eben des Zeitempfindens"16. Diese Eigenart habe ihn mit einigen seiner 23

Zeitgenossen, so mit Filonow und Chlebnikow, sehr eng verbunden. Mit „Verschiebung der Proportionen" meinte Schklowski offensichtlich die perspektivischen Deformationen als Folge der A b weichungen v o m System der linearen Perspektive, die in Majakowskis Malstudien aus jener Zeit zu beobachten sind und zweifellos seine poetische Sehweise beeinflußt haben. D a s „sichtbare" Wort, 1 7 wie es Majakowski im Poem Mit aller Stimmkraft bezeichnet hat, entsprach seiner künstlerischen Veranlagung, die Umwelt mit den Augen eines Malers wahrzunehmen. Diese Besonderheit seines poetischen Stils, die Chardshijew und Duwakin überzeugend wissenschaftlich nachgewiesen haben, beschränkte sich nicht auf die frühe kubofuturistische Periode. Sie blieb ein hervorstechendes Merkmal seiner poetischen Bilder. D a s „sichtbare" (eigentlich materialisierte) Wort nahm in seiner Poetik einen hohen Stellenwert ein, vor allem in seinem Bemühen seit 1918, die Wirkung seiner Dichtung auf das „Hundertfünfzigmillionenvölkchen" maximal zu steigern. In der Frühphase schälte sich noch eine weitere Besonderheit des jungen Dichters heraus - ein konzeptiver Technikbezug. Theater, Kinematograph und Photokunst traten in sein Blickfeld. Bereits in den ersten publizistischen Texten von 1913, also ganz am Anfang seiner selbständigen ästhetischen Überlegungen, forderte er nicht nur eine klare Abgrenzung der bildenden K u n s t von den neuentdeckten photographischen und filmischen Mitteln. Er machte sich auch Gedanken über die Konsequenzen, die die Entdeckung dieser Mittel für die Kunst habe. Die vernichtenden Urteile, die der zwanzigbis einundzwanzigjährige Künstler über so anerkannte Maler wie Wereschtschagin und Korowin fällte, waren auch ein Ergebnis dieser neuen Überlegungen, wie die K u n s t angesichts der technischen Neuerungen ihr Instrumentarium überprüfen müsse. T r o t z der Vorliebe für Skandale ließ sich Majakowski nicht einfach von dem Motiv des Kampfes um jeden Preis leiten, als er den zeitgenössischen Realisten die Fähigkeit absprach, das Zeitempfinden des modernen Menschen in der bildenden K u n s t umsetzen zu können. E r bildete sich in diesen Jahren eine eigene Meinung über aktuelle Kunstfragen und bekannte sich zu einigen Grundprinzipien, die die eigenständige Entwicklung seiner Poetik bestimmten. Und obwohl er ständig an sich weiter arbeitete und zu Korrekturen früher geäußerter Ansichten durchaus bereit war, knüpfte er ein knappes Jahrzehnt später in der Polemik mit Lunatscharski an einige G e danken aus dieser frühen Zeit wieder an. 24

Es ist anzunehmen, daß Majakowskis Verhältnis zu Konstantin Korowin um 1911 durch die Vorgänge in der Lehranstalt persönlich belastet war. Nach Serows Tod hatte Korowin die Leitung der Figurenklasse übernommen, in der Majakowski studierte. Bereits die Ernennung hatte Proteste ausgelöst, denn Korowin war - auch nach der Meinung Majakowskis - der Veranlagung nach Bühnenbildner und kein Porträtist. Doch Majakowski war nicht nur skeptisch; er lehnte Korowin ab: „Der Mann hat vor vielen Jahren gewisse Farben aus sich herausgepreßt, eine Skizze geschaffen, die allen gefallen hat, und seither malt er alles auf ein und dieselbe Weise, variiert seine Bilder, ohne das Leben zu studieren. Immer nur Skizzen, Skizzen und Skizzen . . ." 18 Noch unerbittlicher urteilte er über das einzige Porträt, das sein „Lehrer" je gemalt habe, Porträt von F. I. Scbaljapin, das heute in der Tretjakow-Galerie hängt: „. . . an einen faustgroßen Kopf sind Beine angesetzt, riesenhafte, wie bei Puschkins Denkmal - sogar die unbedarften Schüler haben gelacht." 19 Majakowski kritisierte auch das Ausbildungssystem, das allein vom Geschmack der Ausbilder geprägt werde. Aber diese Kritik stand nicht im Mittelpunkt. Majakowski stritt im Namen einer neuen Kunstauffassung. Und in diesem Streit betrachtete er Korowin als seinen Gegner. Sechs Jahre danach sprach er wiederum recht geringschätzig von Korowin, als er ironisch zugespitzt die Theaterarbeit der Futuristen gegenüber Lunatscharski verteidigte: „Und untersagen Sie schließlich allen außer Herrn Korowin das Malen von Bühnendekorationen. Sind doch alle Bühnenbildner - ob Jakulow, Kusnezow, Kontschalowski, Lentulow, Maljutin oder Fedotow - auf die eine oder andere Weise 'Futuristen'. Dann konzentrieren Sie eben alle Kräfte darauf, daß die naturgemäßen Einflüsse der Zeit von Herrn Korowin ferngehalten werden. Verhüte Gott, daß dieser Dekorateur das Zeitliche segnet, denn dann bleibt von den Rechtsgerichteten keiner mehr übrig." 20 Majakowski war in seinem Urteil unerbittlich. 1914 betrachtete er Korowin als einen konservativen Künstler, 1920 als ein Hindernis auf dem Wege zur Revolutionierung der Künste. Korowin und die Revolution hielt er für unvereinbar. An diesem Vorgang interessieren in unserem Zusammenhang die konstanten wie die variablen Größen in Majakowskis Koordinatensystem künstlerischer Wertungen. Unveränderlich hielt er an dem Grundsatz fest: Kunst hat vom Leben auszugehen, nicht von Kunst, nicht von Bildern. Jedweder Kunst, die nicht in Übereinstimmung 25

mit der Zeit entsteht, sprach er das Existenzrecht ab. Und ferner: Kunst ist keine Kopie der Natur. Kunsterscheinungen, die die Wirklichkeit einfach verdoppeln, widersprechen dem Wesen der Kunst. So fand bereits der junge Dichter zur Grundregel seines künstlerischen Selbstverstehens, die Pasternak später im Schutzbrief mit dem eigenen Kunstverständnis identifiziert hat: „. . . Dichtkunst . . . verläuft in der Geschichte und im Zusammenwirken mit dem wirklichen Leben." 21 Die künstlerische Umsetzung dieser Erkenntnis wandelte sich. Sie durchlief verschiedene Phasen, eben nach der dialektischen Regel jener geschichtlichen Evolution, die schon der junge Majakowski, auf Grund seiner Studien marxistischer Literatur, auf der Tournee der Kubofuturisten 1913/1914 in seinen Vorträgen über Kunst verkündete, ohne allerdings die Konsequenz solcher Erklärungen bereits voll zu begreifen.22 Unausgereifte Gedanken oder aber Zugeständnisse an das Künstlermilieu, in dem er sich bewegte, waren häufig die Ursache, warum die produktiven Ansätze seiner Überlegungen in rhetorischen Erklärungen steckenblieben. Zur Zeit der ersten poetischen Versuche faszinierten Majakowski die neuen Möglichkeiten einer unmittelbaren Verbindung von poetischem Text, Illustration und graphischer Buchgestaltung. Die meist im lithographischen Verfahren hergestellten sogenannten Simultanbücher werden als eine typisch russische Erscheinung jener Jahre betrachtet.23 (Sonia Delaunays originelle buchgestalterische Idee bei der Drucklegung der Dichtung Die Prosa des Transsibirienexpreß und der kleinen Johanna in Frankreich von Blaise Cendrars, erschienen 1913, gilt als das erste Exemplar dieser Art in der westlichen Kunstwelt. 24 ) Nach dem Muster mittelalterlicher Bücher bildeten die Zeichnungen, der häufig mit der Hand geschriebene Text und die graphische Gestaltung einer Buchseite eine Einheit. Der Inhalt einer Buchseite sollte mit einem Blick sofort zu erfassen sein. Der Intention nach handelte es sich um eine E r w e i t e r u n g der zur Gewohnheit gewordenen Lektüreweise mit b i l d k ü n s t l e rischen Mitteln. Die Maler erhielten ihrerseits neue Anregungen, durch die Verbindung von Bild und Text bzw. Zahlen die eigenen Experimente im Bruch mit den Gestaltungsmitteln der Realisten weiter voranzutreiben. 25 Der radikale Schritt, Worte werden Bilder 26 , wurde von den russischen Kubofuturisten nicht vollzogen. Der Akzent lag nicht auf dem Überschreiten des Kommunikationssystems der Dichtkunst, sondern in erster Linie auf der Entwicklung synkretistischer Verfah26

ren. Die bildkünstlerischen Mittel waren in diesem Sinne Elemente des Textes und eben nicht ein besonderes - neues - Drittes, obwohl es später auch Versuche in dieser Richtung, beispielsweise von El Lissitzky, gegeben hat. Aber sie verfolgten bereits im Rahmen des Konstruktivismus andere Kunstziele. Viktor Schklowski erklärte die mehrfach umbrochene Verszeile bei Majakowski, den sogenannten Treppenvers, mit den sehr schmalen Zeitungsspalten nach der Revolution, so daß fast jeder Vers am Ende umbrochen werden mußte und das Schriftbild eines Gedichtes arg verschandelt wurde. Eine ähnliche Erklärung gab Wieland Herzfelde in seinen Erinnerungen. 27 Doch das ist eine Vereinfachung, selbst wenn auch solche Erwägungen eine Rolle gespielt haben mögen. Die Impulse kamen von den beschriebenen synkretistischen Konstruktionsprinzipien in der Malerei und Dichtung der Kubofuturisten. Dabei veränderten sich die Grundmuster in einer ganz bestimmten Richtung. Die Anfänge sind bereits in Majakowskis erstem Gedichtband Ich! (1913) zu erkennen. Die graphische Gestaltung besorgten Lew Shegin und Wassili Tschekrygin zusammen mit dem Autor. Im handgeschriebenen Text sind einzelne Wörter oder Silben, mitunter mitten in einem Vers, herausgestellt. Dadurch ergibt sich ein unruhiges, asymmetrisches Schriftbild, adäquat zur Maltechnik der Kubofuturisten. Es sollte der Lektüre D y n a m i k verleihen. (Der Versuch, mit malkünstlerischen Mitteln B e w e g u n g in zeitlicher Abfolge wiederzugeben, lag vielen Experimenten jener Zeit zugrunde; Lunatscharski stritt die Möglichkeit einer solchen ästhetischen Wirkung eines Bildes generell ab.) Außerdem sollte die Intimität der Rezeption eines Gedichts bzw. eines Buches, die doch gewöhnlich zu Hause erfolgt, gesprengt werden. Die Ausgabe der Tragödie Wladimir Majakowski von 1914 mit Zeichnungen von Wladimir und David Burljuk zeigt bereits neue Tendenzen an. Der Zeilenbruch ist noch eindeutig technisch bedingt, aber die graphische Textgestaltung verlagert den Akzent noch stärker auf die Semantik einzelner Wörter oder Verse. Sie lenkt durch eine andere Schriftart, meist Fettdrück, oder den wesentlich größeren Schriftgrad eines einzigen Buchstaben mitten im Wort oder am Versende sofort den Blick des Lesers auf ein einzelnes Wort und erhöht dadurch seine Zeichen- bzw. Signalfunktion im Text. Dies sind - graphisch umgesetzt - erste Anzeichen der für Majakowskis Dichtungen typischen Sprechintonation, begünstigt durch 27

den Umstand, daß es sich um ein Stück handelt, das bereits vor der Drucklegung, Ende des Jahres 1913, auf der Bühne des Petersburger Luna-Parks zwei Aufführungen erlebt hatte. Die Zeichnungen betonen die Metaphorik der handelnden Personen: Ein Mensch ohne das eine Ohr, Ein Mensch ohne Kopf, Ein Mensch mit zwei Küssen usw. und beschränken sich auf einige grobe Konturen, unzusammenhängende Striche - hier ein Mund, dort ein nicht zu Ende gezeichneter Kopf, ein Ohr. Das Buch, auch das Simultanbuch, das nur eine geringe Auflage hatte und folglich keine Breitenwirkung haben konnte, befriedigte Majakowski auf die Dauer nicht. Später brachte er unter weitaus günstigeren Bedingungen noch einige Text-Bild-Bände heraus, allerdings ohne entsprechende Experimente mit dem Schriftbild. Keine Simultanbücher. Einer der interessantesten Versuche dieser Jahre war 1923 die Erstausgabe des Poems Das bewußte Thema mit Photomontagen von Alexander Rodtschenko, unter Benutzung vieler Photos von Lilja Brik und dem Dichter.28 In jener frühen Zeit fanden sich schließlich auch keine Verleger mehr, die die Bücher der Kubofuturisten drucken wollten. Es kam zu einem regelrechten Boykott. Aber der Hauptgrund, über das gedruckte Wort hinaus nach neuen Formen des Kontaktes mit dem Leser zu suchen, war doch ein anderer. Krutschonych hat ihn in seinen Erinnerungen genannt: „Unsere Bücher verkauften sich im Handumdrehen. Aber der Umgang mit Nur-Lesern war uns zu wenig. Er schien uns zu kompliziert und die Distanz zu groß. Der streitbare Charakter unseres Auftretens brauchte einen direkten Zugang zu allem Jungen und Frischen, das nicht in der muffigen Beamtenluft der damaligen Großstädte erstickt wurde." 29 Der Dichter stellte sich seinem Leser in persona. Das Zwiegespräch zwischen Podium und Publikum zwang ihn, sein Instrumentarium zu überprüfen. Ein Gedicht wie Da habt ihrl war bereits auf eine bestimmte Zuhörerschaft zugeschnitten. Majakowski schrieb es für die Eröffnung des Moskauer Literaturkabaretts „Rosarote Laterne" Mitte Oktober 1913. Die eigentliche Wende setzte jedoch erst kurz danach ein. Vom Dezember 1913 bis zum März 1914 unternahm Majakowski zusammen mit David Burljuk und Wassili Kamenski eine Vortragsreise durch neunzehn russische Städte. Das Programm - Vorträge über den russischen Futurismus, Versrezitationen und Lichtbilder moderner russischer Malerei - diente propagandistischen Zwecken. Der Anspruch auf die Führungsrolle in der zeitgenössischen Kunst28

bewegung wurde lautstark kundgetan. Majakowski entpuppte sich als ein glänzender Redner und Rezitator. Dies haben viele Zeitgenossen dokumentiert und dabei nicht verschwiegen, daß sie von dem marktschreierischen und aufsässigen Gebaren aller drei Künstler schockiert waren. Für Majakowski war dies eine Zeit wichtiger Erfahrungen. Er sah seine Zuhörerschaft mit neuen Augen. Die häufig sehr unterschiedlichen Reaktionen im Publikum schärften sein Empfinden für den sozialen Charakter nicht von Kunst schlechthin, sondern vor allem von der Wirkung der Kunst auf den Menschen. Über die soziale Zusammensetzung des Publikums in den verschiedenen Städten gibt es keine genauen Angaben. Es kamen vornehmlich Leute aus den Mittelschichten, aus den Kreisen der örtlichen Intelligenz, Leute, die in der Kunstszene den Ton angaben, aber die kubofuturistischen Kunstbestrebungen in der Regel ablehnten. Das mit den Künstlern sympathisierende junge Volk „auf der Galerie", das in Berichten der Zeitgenossen immer wieder erwähnt wird, begeisterte sich ganz einfach an der öffentlich demonstrierten Auflehnung gegen festgefügte Hierarchien und an dem respektlosen Umgang mit anerkannten Kunstauffassungen und -großen. Pasternak lernte Majakowski etwa zu dieser Zeit kennen, in der üblichen zur Schau gestellten Pose: „Majakowski las, belustigte die Gesellschaft, schlang sein Essen herunter und konnte nicht ausstehen, wenn man sich zum Kartenspiel hinsetzte. Er war verletzend liebenswürdig und verbarg äußerst kunstvoll seine ständige Erregung. In ihm ging etwas vor, vollzog sich ein Wandel. Er wurde sich seiner Bestimmung bewußt. Nach außen setzte er sich in Pose, aber mit einer derart unterdrückten Unruhe und Fieberhaftigkeit, daß Tropfen kalten Schweißes seine Pose bedeckten." 30 Pasternak hat zu jener Zeit vielleicht als einziger, wenn zunächst auch rein instinktiv, die innere Triebfeder der provokanten Haltung des jungen Dichters in der Öffentlichkeit geahnt. Sein sicheres und selbstbewußtes Auftreten, verbunden mit Grobheit und Aggressivität, war Pose und kein Kampfmittel. Und die Pose war nichts anderes als ein Schutzschild, um die innere Scheu zu überwinden und nach außen zu kaschieren. Auch Lunatscharski hatte Anfang der zwanziger Jahre zeitweilig das gleiche Gespür und erblickte hinter der Pose das wahre Gesicht Majakowskis, ohne Maske. Aber da diese Maske noch Züge der Kubofuturisten in ihren jungen Jahren trug, war er argwöhnisch und befürchtete, Majakowski schleuse die Formen einer 29

bürgerlichen Kunstrevolte in das sozialistische Kulturleben ein. Von den auf diese Weise aufgetürmten Mißverständnissen wird noch später die Rede sein. Der Wandel, den Pasternak um 1914 beobachtete, betraf zwei Besonderheiten in Majakowskis künstlerischer Entwicklung. Mit Majakowski nahm die deklamatorische Linie in der russischen Dichtung ihren Anfang. 31 E r entdeckte zu dieser Zeit seine Stimmkraft als das entscheidende Medium, das zwischen ihm als Autor und seinem Leser einen direkten Kontakt herstellt. Außer den zu diesem Zweck vorangetriebenen graphisch-motorischen Elementen 3 2 entwickelte er mehr und mehr die Sprechintonation zum Grundelement seiner poetischen Sprache. Auch später verzichtete er nicht auf die unmittelbare Begegnung mit seinem Auditorium. Er betrachtete sie als unerläßliche Voraussetzung der inneren Einstellung eines Dichters zu seinem Leser und damit schlechthin der gesellschaftlichen Wirkung von Kunst. Und schließlich drängte die soziale Thematik die rein technischen Fragen der Kubofuturisten an die zweite Stelle. Doch damit waren wiederum Schwierigkeiten anderer Art verbunden. Majakowski hatte sich anfangs, d. h. 1912 -1914, nicht an eine bestimmte Klasse oder soziale Schicht gewandt, sondern an Zwischenschichten und an Außenseiter aus dem Künstlermilieu. Die einseitige gesellschaftliche Rebellion im Rahmen der Kunstprogrammatik der Kubofuturisten trug Züge eines anarchistischen Aufruhrs gegen die Umwelt, häufig sogar ausschließlich gegen die Kunstöffentlichkeit. Eine klare soziale Zielstellung fehlte. Die Reaktion auf diese Protesthaltung war dementsprechend. Das bürgerliche Publikum und die offizielle Kritik taten sein Auftreten entweder als „komische Kuriositäten" ab, nahmen es also nicht ernst oder betrachteten es als einen Affront, als Verspottung der Literatur wie des Lesers, zu dessen Schutz sie sich berufen fühlten. 33 Die ersten schweren Kriegserfahrungen von 1914 bewirkten in Majakowskis künstlerischem Selbstverständnis allmählich eine Veränderung. Das „gelbe Hemd" und die „Tricks", noch vor einem Jahr einzig zu dem Zweck ausgedacht, „den Bourgeois zu schrekken", 3 4 seien nun nicht mehr vonnöten, verkündete er bereits im November, nach anfänglichen Illusionen über Rußlands Beteiligung an dem Völkergemetzel. Das Interesse an Kunst im engen Sinne des Wortes schwand in diesem Winter voller Enttäuschungen und Entsetzen. Krieg! Die Wirklichkeit bringe Erscheinungen hervor, für die die alten Begriffe und Wörter nicht mehr taugen. In der Sprache

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eines Gogol ließe sich „das heute einzig aus Explosionen zusammengesetzte Dasein"35 nicht vorführen. Jahre später bekräftigte er die Grundhaltung jener Wochen und Monate: „Widerwillen und Haß gegen den Krieg. 'Drückt den Zeitungen die Augen zu* und anderes. Interesse für Kunstdinge völlig versiegt." 36 Majakowski bekannte sich nach wie vor zu den Thesen des kollektiven Manifestes der Futuristen von 1912: Vernichtung aller überkommenen Normen, Zerschlagung der „alten Art von Sprache" und Überbordwerfen der „alten Größen vom Dampfschiff der Jetztzeit" 37 . Die Aufgabe, die alten Kunstfesten niederzureißen, hielt er bereits für erfüllt. „Darum wundern Sie sich nicht", erklärte er programmatisch im Dezember 1915, „wenn Sie heute nicht mehr die Narrenschelle in unserer Hand erblicken, sondern die Planskizze des Baumeisters."38 Die im Krieg hintereinander geschriebenen Poeme Krieg und Welt (1915 -1916) und Der Mensch (1916 -1917) zeugen von seinem Engagement im Kampf gegen den imperialistischen Krieg und zugleich davon, was er darunter verstand, als er zu Kriegsbeginn an das Bewußtsein der Menschen appellierte, sie sollten begreifen, daß ab sofort das gesamte Leben vom Krieg gezeichnet ist. Angesichts solcher Tatsachen wie der Bombardierung und Einnahme von Antwerpen oder der im Grenzort Kalisz von den Deutschen gehenkten Bürger könne auch ein Maler nicht mehr malen, als sei nichts geschehen. Das sei nicht eine Frage des Themas, des Gegenstands, sondern der künstlerischen Sehweise. Mit den Appellen eines Lew Tolstoi oder Wassili Werestschagin („Du sollst nicht töten") könne man jetzt auf der Straße nichts ausrichten. Aus diesem Grunde lehnte er Werestschagins Bild Apotheose des Krieges (1899) ab, das am historischen Stoff den Irrsinn aller vergangenen wie künftigen Kriege vor Augen führen sollte. Die Darstellung von zu einer Pyramide aufgeschichteten Totenschädeln nahm er als Antwort der Kunst auf die Schrecken des Krieges nicht an. Handfeste Lösungen hatte jedoch der junge Majakowski auch nicht zu bieten. Er suchte weiter. Die Absicht, den Irrsinn des Krieges mit eigenen Augen zu sehen, schlug fehl. Er galt als politisch unzuverlässig, und daher wurde 1914 seinem Antrag, als Kriegsfreiwilliger an die Front zu gehen, nicht stattgegeben. Am 26. Februar 1915 druckte die Zeitschrift Nowy satirikon zum erstenmal ein Gedicht von Majakowski, den Hymnus auf den Richter. Das war die einzige Redaktion, die damals an seiner ständigen Mitarbeit interessiert war. Die Zeitschrift, die in Text und Bild das 31

Spießermilieu satirisch darstellte, war sehr beliebt und fand breite Resonanz. Majakowski, der seine Verse erstmals an ein zahlenmäßig größeres Lesepublikum richtete, machte neue Erfahrungen. Bestimmte Eigenarten seines Stils gab er nicht auf: Der Dichter spricht mit seinem Leser wie mit einem Hörer. Die soziale Zielsetzung hingegen ist stärker ausgeprägt denn je zuvor. Die Mitarbeit am Nony satirikon war in diesem Sinne eine Art Neuanfang. Nach der Oktoberrevolution setzte Majakowski diese Linie mit der Fibel für Rotarmisten und den Plakaten für die Russische Telegraphenagentur auf neuer Stufe fort und führte sie auch späterhin fast ohne Unterbrechung in Vers, Prosa und Schauspiel weiter. 39 Die Einberufung am 8. Oktober 1915 - er diente in einer Petrograder Einheit - unterband für längere Zeit das Auftreten in der Öffentlichkeit und mit wenigen Ausnahmen auch die Drucklegung neuer Texte. Jede Zeile mußte die Militärzensur passieren, die auf vielen Streichungen bestand. An die Februarrevolution knüpfte Majakowski anfangs alle Hoffnungen auf eine Befreiung der Kunst von sämtlichen Bindungen an Staat, Konvention, Hierarchien. Die Hoffnungen trogen.140 Er war daher völlig aufrichtig, als er nach der Oktoberrevolution in der harten Auseinandersetzung auf der Plenartagung des Verbandes der Kunstschaffenden am 17.(30.) November als einziger erklärte: „.. . man muß die neue Macht begrüßen und mit ihr Kontakt aufnehmen." 41 Doch so einfach, wie Ossip Brik diesen Vorgang 1936 darstellte,42 war er in Wirklichkeit nicht. Nur wenige Jahre später zeichnete Brik ein realistischeres Bild: „Politisch war alles klar, aber in einen konkreten sachlichen Kontakt mit den Organen der Sowjetmacht zu kommen gelang Majakowski nicht gleich." 43 Das erhoffte volle Einvernehmen beispielsweise mit Lunatscharski kam nicht zustande. Er fand bei ihm kein Gehör für die ihn am meisten beunruhigenden Fragen. Lunatscharskis Hauptsorge galt in der allerersten Zeit der Bewahrung des Kunsterbes, das mit der Revolution in die Hände des Volkes überführt worden war, und der Gewinnung der bürgerlichen Intelligenz zur Zusammenarbeit mit der Sowjetmacht. Ossip Brik sah hier den Konfliktstoff zwischen dem Dichter und dem Volkskommissar. Majakowski verstand nicht, daß er nach dieser Revolution im Volkskommissariat mit Leuten wie Alexander Benois nicht nur zusammentraf, sondern mit ihnen auch zusammenarbeiten sollte, mit Leuten, die er schon seit vielen Jahren als seine Gegner, ja Feinde in Sachen Kunst betrachtet und 32

vor aller Öffentlichkeit auch als seine Feinde behandelt hatte. (Den zum Direktor der Kunstsammlungen im ehemaligen Zarenschloß ernannten Benois, ehemals der führende Kopf in der Künstlervereinigung Die Welt der Kunst, bezeichnete Benedikt Lifschitz in seinen Erinnerungen als den „ersten Vorsänger in dem wilden Chor", der 1912 die öffentlichen Veranstaltungen der Kubofuturisten begleitet hatte/*4) Es brauchte eine geraume Zeit, bis Majakowski in der Bündnisfrage einlenkte und die Notwendigkeit der Zusammenarbeit mit loyal gesinnten Künstlern und Intellektuellen begriff. Das Abstreifen von Zügen des „Sozialismus-Anarchismus", zu dem er sich noch 1918 bekannte,'55 war ein langwieriger Prozeß. Nikolai Punin hat als einziger ein Zerwürfnis zwischen Majakowski und Lunatscharski in den ersten Wochen nach der Oktoberrevolution erwähnt - weder der eine noch der andere haben sich selber dazu geäußert. „Majakowski hatte einen Zusammenstoß mit Lunatscharski", erinnerte sich Punin. „. . . Es wäre sehr aufschlußreich herauszufinden, hatten sie Streit auf einem Meeting, in einer Zeitschrift oder in der Redaktion 'Nowaja shisn'. Dann ließe sich vielleicht genauer erklären, w a r u m sich M a j a k o w s k i und B r i k zur O k t o b e r r e v o l u t i o n v e r s p ä t e t haben." 4 6 Die Vermutung, daß Majakowski sowohl die staatliche Fürsorge für die alten Kunstschätze als auch die Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit bürgerlichen Künstlern nicht verstand, erscheint glaubhaft. 47 Der Majakowski-Biograph Wassili Katanjan hat diesen Momenten keine besondere Bedeutung beigemessen. Ossip Brik indessen suchte hier die Gründe für Majakowskis seltsames Verhalten in den kommenden Monaten. „Majakowski war enttäuscht. Ohne sich mit dem Volkskommissar abzustimmen und ohne andere Wege zu finden, die 'linke' Kunst zu propagieren, reiste er nach Moskau, wo er versuchte, zusammen mit David Burljuk und Wassili Kamenski über den Kopf Lunatscharskis hinweg mit dem Volk zu reden. Er wollte die Arbeiter und Bauern überzeugen, daß sie sich von der alten Kunst lossagen und einer Kunst zuwenden, die der Revolution entspricht, d. h. der Kunst der 'Linken'. Das 'Gespräch mit dem Volk' fand von der Bühne des Poeten-Cafés, Nastassin-Gasse, und des Cafés Pittoresque, Kusnezki-Brücke, statt sowie auf den Seiten der ersten und einzigen Nummer der Gasetafuturistow. . ," 48 Hier veröffentlichte Majakowski das zusammen mit Burljuk und Kamenski verfaßte Dekret Nr. 1

über die Demokratisierung der Künste mit der Losung Alle Kunst — dem 3

T h u n : Autor, Leser

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ganzen Volk! und dem Aufruf Auf die Straßen, Futuristen! Aber, so erinnerte sich Brik weiter, alle Bemühungen, vom Café auf die Straße, zu den Volksmassen zu kommen, seien umsonst gewesen. Mehr als ein paar Losungen und demonstrativ an Häuserwände geklebte und genagelte Bilder sei bei alldem nicht herausgekommen. Majakowski habe bald begriffen, daß das ganze ein „kindischer Einfall" war und daß der Kampf um eine neue Kunst nicht vom Poeten-Café aus oder auf den Spalten der Futuristenzeitung geführt werden könne, sondern nur „innerhalb des Sowjetsystems, beim gemeinsamen Aufbau des Kunstlebens in einem erneuerten Land". Die Angaben, die über den sechsmonatigen Moskauer Aufenthalt zur Verfügung stehen, widersprechen sich in einer wichtigen Frage: Wer waren die Leute, vor denen das „alte" Trio Majakowski, Burljuk und Kamenski fast wie in Vorkriegszeiten sein Futurismusprogramm propagierte, nur ohne viele der alten „Tricks" und ohne Maskierung, aber zumindest in gleicher Art und sogar am gleichen Ort wie unmittelbar vor dem Oktoberaufstand49? Konnten sie Majakowski das Empfinden geben, er spreche mit revolutionären Arbeitern, Bauern und Soldaten, die ihn in bisher nicht gekannter Weise zu Aussagen über die neue Zeit und sich selber herausfordern, wie es Kamenski, wenngleich mit gewissen Einschränkungen, darstellte? 50 Sergej Spasski, der schon bald zu den ständigen Mitstreitern im Poeten-Café zählte, machte recht genaue Angaben über die bunt zusammengewürfelten Besucher: junge Leute, die binnen kurzem in die Rote Armee gingen, Vertreter der Bourgeoisie aller Schattierungen (viele von ihnen warteten auf die Rückkehr der Weißen oder auf einen günstigen Moment, um Moskau zu verlassen), ehemalige junge Offiziere, Künstler und überhaupt allerlei „dunkles" Volk - Anarchisten.51 Diese Erinnerungen sind glaubhafter als die Beteuerungen anderer Zeitgenossen, Majakowski habe hier bereits einen Zugang zum neuen Publikum gefunden. Eins ist ihm offensichtlich geglückt: Das heterogene Publikum wurde in das Geschehen auf der Bühne unmittelbar mit einbezogen. Es beteiligte sich an den Rezitationen, Gesängen und meist scharf pointierten Repliken zwischen Künstlern und Zuhörern. Soziale und politische Widersprüche flammten auf. Der Klassenkampf wurde auf diese Weise von der Straße ins Café geholt und prägte das Frage-AntwortSpiel. Aber es blieb letztlich doch nur ein schaler Ersatz der politischen Vorgänge draußen in der Stadt. 34

Die Briefe an Lilja Brik beweisen, daß Majakowskis Stimmung schon bald umschlug. Mitte Dezember 1917: „Das Café ist einstweilen eine liebe und lustige Anstalt. (Wie der Hund in seiner ersten Zeit, was die Lustigkeit anbelangt!) Alles gerammelt voll. Auf dem Fußboden Hobelspäne. Auf dem Podium - wir. . . . Das Publikum schicken wir zu des Teufels Großmutter." 52 Die „Hundewelt", die sich teilweise wieder einfand, versuchte er mit dem berühmt gewordenen Zweizeiler „Friß Ananas, Bürger, und Haselhuhn./Mußt bald deinen letzten Seufzer tun" zu verjagen. Den demonstrativen Auszug einiger Bourgeois registrierte die Presse nicht ohne spitze Bemerkungen. Einen Monat später: „Das Café hängt mir schon zum Hals heraus. Ein seichter Wanzenwinkel. . . . Ich gehe ganz auf in meinen Veranstaltungen." Die Rede ist vom Tannenbäumchen der Futuristen im Polytechnischen Museum und davon, daß eine Menge Volk da war, „wie bei einer Sowjetkundgebung". 53 Am 15. März 1918: „Ich rette mich in Verlagsarbeit. "5'» Ende März: „Gedichte schreibe ich keine . . ." 55 Im April: „Ich flüchte zum Film." 56 Die Autobiographie ist noch karger, enthält jedoch unter der Überschrift Das]akr 1918 die wichtige Feststellung: „Die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik hat andere Sorgen als Kunst. Für mich aber ist gerade sie die Sorge." 57 Majakowski war zu dieser Zeit für die strikte Trennung von Staat und Kunst, aber nicht für eine apolitische Kunst. Die Kunst sollte das Leben der Menschen durchdringen und umgekehrt. Die Schranken zwischen Leben und Kunst sollten eingerissen, Kunst nicht mehr als ein Reich betrachtet werden, zu dem nur wenige einen Zugang haben. Doch konnte die erstrebte Demokratisierung der Kunst als Forderung Nummer eins von einer Handvoll Künstler realisiert werden? Ob sich Majakowski diese Frage damals gestellt hat, ist nicht belegt. Aber einige ernüchternde Erfahrungen werden sein Nachdenken sicher in diese Richtung gelenkt haben, denn er versuchte, mit den neuen Leuten auf anderen Wegen ins Gespräch zu kommen, außerhalb der engen Wände des Poeten-Cafés. Am 15. März erschien die erste und auch einzige Nummer der Gaseta futuristow. Majakowski hatte für sie einen Offenen Brief an die Arbeiter verfaßt. Darin heißt es u. a.: „An euch, die ihr Rußlands Erbe angetreten habt, an euch, die ihr (daran glaube ich fest!) morgen die Herren der Welt sein werdet, 3*

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richte ich die Frage: Mit welch phantastischen Bauwerken werdet ihr die Brandstätten von gestern bedecken? Was für Gesänge und Musiken werden aus euren geöffneten Fenstern in die Welt strömen? Mit welcherlei heiligen Schriften werdet ihr eure Seelen offenbaren? Befremdet sehe ich, . . . wie in den von euch akzeptierten Versen die Treibhausrosen der Gutsbesitzer wiedererscheinen und wie ihr die Augen aufreißt vor den Bilderchen, die die Herrlichkeit vergangener Zeiten wiedergeben. . . . Ihr sollt wissen: Für unsere Hälse, für die Hälse von Goliaths der Arbeit, wird sich im bourgeoisen Wäscheschrank keine passende Kragenweite finden. Nur die Sprengkraft einer Revolution des Geistes wird uns säubern vom Trödelkram der alten Kunst. . . . Wir sind es, die das erste Blatt der jüngsten Geschichte der Künste aufgeschlagen haben." 58 „Eine Adresse war gefunden", erinnert sich Spasski, „ein Rundschreiben wurde abgeschickt und dazu die Bekanntmachung: 'Die Weltföderation der Futuristen - Redner, Dichter, Maler gibt bekannt: wir treten unentgeltlich mit Reden, Versen und Bildern vor jedem Arbeiterpublikum auf, das das Bedürfnis nach revolutionärem Kunstschaffen hat.' Die Futuristen warten auf Einladungen. Doch aus keiner Ecke kommen Botschaften. Und da ist man erstaunt. Bisher keinerlei Anerkennung. . . . Offenbar muß man selber in die Massen gehen, wachsen zusammen mit dem Proletariat. Majakowski tut diesen Schritt." 59 Die vereinzelten Veranstaltungen im Polytechnischen Museum bewirkten ebenfalls noch keine Veränderung. Nach den „Ausbruchsversuchen" (Spasski) in große Säle kehrte Majakowski immer wieder in den Dichterkeller zurück. An der „feierlichen" Abschlußveranstaltung im "Poeten-Cafe — es zog in ein anderes Gebäude um - am 14. April, also vier Wochen nach dem mißglückten Appell an die Arbeiteröffentlichkeit, nahm Lunatscharski teil. Ob dies eine Reaktion auf die Futuristenzeitung war oder einfach der Versuch einer erneuten Annäherung, war nicht zu ermitteln, auch nicht, ob dies tatsächlich die erste Begegnung zwischen dem Volkskommissar und dem Dichter seit ihren Gesprächen in Petrograd kurz nach der Eroberung der Macht durch die Bolschewiki war. Die beiden Dokumente, die dieses Zusammentreffen festhalten, sind widersprüchlich. Der Figaro vom 15. April, ein kurzlebiges eindeutig rechtsgerichtetes - Blatt, preßte Majakowskis einführende Worte bis auf einen Satz zusammen: „wir machen die Kunst kompli36

zierter und bemühen uns gleichzeitig um ihre Demokratisierung". Anschließend gab er die kritische Haltung Lunatscharskis ausführlich wieder und stellte schließlich die einlenkenden Worte am Schluß als ein die Kritik vergoldendes Trostpflästerchen dar: Majakowski könne die Massen begeistern, und das verleihe dem Futurismus Volkstümlichkeit. 60 Spasski schilderte den Vorgang sachlicher. Majakowski habe von seiner Arbeit in einem sehr ruhigen Ton gesprochen, so als stehe er an der Werkbank und erläutere den Produktionsprozeß. Danach habe Lunatscharski ohne Didaktik und mit großer Sachkenntnis den Futurismus analysiert, die Schwierigkeiten nicht geleugnet, aber vor Fehlern gewarnt. Spasskis Schlußfolgerung erscheint glaubwürdig: „Das war eine nützliche Kritik, wie sie der Futurismus zum erstenmal zu hören bekam." 61 Lunatscharski und Majakowski verabredeten in dieser Zeit - vermutlich sogar an diesem Abend - eine gemeinsame Veranstaltung. Sie fand am 23. Mai im Polytechnischen Museum statt. Nach Lunatscharskis Vorlesung zum Thema Die neue Kunst und ihre Wege rezitierte Majakowski den letzten Teil seines Poems Krieg und Welt. Majakowski bereitete sich auf seine Rückkehr nach Petrograd vor. Bereits am 1. Mai hatte er sich im Café Pittoresque von seinem Moskauer Publikum verabschiedet. Damit fand die Kaffeehausperiode ihren Abschluß. Diese Phase der Dichterbiographie wird unterschiedlich bewertet. Hugo Huppert, von Wladimir Neustadt in die Atmosphäre dieser Zeit eingeführt, hebt den revolutionären Grundgestus hervor: „Man hätte diesen Punkt der Entwicklung als eine Spielart von russischem Dadaismus bezeichnen können, wären die sozialen Vorzeichen und das politische Kolorit solcher Ausbrüche nicht ganz e i n d e u t i g gewesen: 'Friß Ananas, Bürger, und Haselhuhn. Mußt bald deinen letzten Seufzer tun.' Das war ein berühmter majakowischer Spruch, den der junge W. W. schon in der Petersburger Kellerkneipe Zum vagabundierenden Hund hatte hören lassen und der, skandiert und gesungen, die aufständischen Matrosen 1917 zum Sturm aufs Winterpalais angespornt hatte - das hätte kein Dadaist der Welt je zuwege gebracht." 62 Kamenski, der Freund und Mitstreiter, setzt jedoch erst an diesem Punkt eine scharfe Zäsur. Erst jetzt sei die Phase des Suchens, Irrens und Schokkierenwollens zu Ende gegangen. Der Dichter wirkte gereifter und zielstrebiger. Er war fünfundzwanzig Jahre alt.63 Es begann ein neuer Abschnitt, die unmittelbare Reaktion auf die Ereignisse des Roten Oktober in für Majakowski neuen, bisher noch 37

nicht erprobten Genres mit dem Ziel, die Enge bisheriger Wirkungsmöglichkeiten zu durchbrechen und größere Wirkungsräume zu erobern, die nicht nur den gebildeten Schichten, sondern auch den Millionen Analphabeten und Halbalphabeten den Zugang zum revolutionären künstlerischen Wort öffneten. Mitte Juni ging Majakowski nach Petrograd zurück, lebte einige Wochen auf einer Datsche in der Nähe der Stadt, malte Landschaftsskizzen und schrieb das bereits im Vorjahr konzipierte Stück Mysterium buffo, seinen Beitrag zum ersten Jahrestag der Oktoberrevolution. 64 Die erste Lesung am 27. September fand im Freundeskreis und in Anwesenheit von Theaterleuten statt. Auch Lunatscharski war zugegen. Seine positive Einschätzung ist viel beschrieben worden. Alle Anzeichen schienen gegeben zu sein, daß der Volkskommissar und der Dichter trotz unterschiedlicher Kunstauffassungen eine gemeinsame Sprache finden werden. Lunatscharski war überzeugt, daß die Revolution ein so starkes Talent wie Majakowski braucht. Und seinerseits hatte Majakowski die Erfahrung gemacht, daß das gesteckte Ziel - Eroberung der Massen für eine revolutionäre Kunst - im Alleingang nicht zu erreichen war. II. Als Lunatscharski 1911 von Italien nach Paris übersiedelte, wurde er auf dem Gebiet der bildenden Kunst mit ähnlichen Erscheinungen konfrontiert wie zur gleichen Zeit Majakowski in Moskau. Unter vergleichbaren sozialen Bedingungen vollzogen sich in der Kunstpraxis beider Länder tiefgreifende Veränderungen, die trotz der besonderen nationalen Ausprägungen in Frankreich und in Rußland viele gemeinsame Züge hatten.65 Lunatscharski reagierte auf diese Prozesse völlig anders als Majakowski. Den Kubismus und die von ihm abgeleiteten neuen Maltechniken lehnte er als Erscheinungen des spätbürgerlichen Kunstbetriebs grundsätzlich ab, wobei diesem absoluten Urteil nicht nur rein politische Motive zugrunde lagen. Lunatscharski war zu dieser Zeit - aus der unmittelbaren politischen Arbeit hatte er sich vorübergehend zurückgezogen - auf zwei Gebieten tätig. Er suchte den Kontakt zu emigrierten russischen Arbeitern und die Verbindung zur lebendigen Kunstszene in Frankreich. Beide Bereiche hatten ihre eigene Spezifik und dennoch vielfache Berührungspunkte. Lunatscharski ging zu den russischen Arbeitern als Propagandist und Agitator. Er reiste in verschiedene 38

Städte auch außerhalb Frankreichs - u. a. nach Deutschland und in die Schweiz - und hielt Referate vorwiegend zu kulturtheoretischen Themen und Vorlesungen zur Geschichte der Weltliteratur. 66 1912 gründete er in Paris einen Zirkel proletarischer Kultur für russische Arbeiter, leitete die jungen Genossen bei ihren ersten literarischen Versuchen an und hielt Vorträge über theoretische wie praktische Kulturfragen der revolutionären Bewegung. Etwa die Hälfte der führenden Köpfe der späteren Proletkultbewegung, erklärte er rückblickend, seien damals seine Schüler gewesen, darunter Michail Gerassimow, Alexej Gastew, Fjodor Kalinin und Pawel Bessalko. 67 Zur selben Zeit schrieb Lunatscharski in seiner Eigenschaft als ständiger Korrespondent von drei legal in Rußland erscheinenden Zeitungen regelmäßig Artikel über die westeuropäische Literaturund Kunstentwicklung. Später schätzte er ein: „Das waren nicht einfach Artikel eines Schreibers, sondern das war eine umfangreiche Arbeit zur Analyse der westeuropäischen K u l t u r und insbesondere der französischen." 68 Dem angewandten analytischen Verfahren lagen drei Kriterien zugrunde: Realismus, Gewinn oder Verlust der in der Kunstpraxis verwirklichten neuen ästhetischen Auffassungen und Einordnung der beobachteten Grundtendenzen in die zeitgenössische Kulturentwicklung wie allgemein in die Kulturgeschichte. Lunatscharski sammelte eine Unmenge neuer Fakten vorwiegend über die moderne Kunstentwicklung - die bildenden Künste hatten im französischen Kunstleben die absolute Priorität - und baute die theoretischen Grundlagen seiner marxistischen Kulturkonzeption weiter aus. Zu diesem Zweck studierte er gründlich die neuen künstlerischen Phänomene und leitete von ihnen die kulturphilosophischen wie kulturhistorischen Fragestellungen ab. 69 Auf diese Weise waren beide Wirkungskreise, die Vorlesungstätigkeit und die journalistische Arbeit, miteinander verbunden. Wie fest die Bindung an französische Künstlerkreise war, läßt sich nur schlecht überblicken. Die meisten Fäden knüpfte Lunatscharski vermutlich über russische Freunde. Dafür gibt es zahlreiche Anhaltspunkte. In den Erinnerungen von Zeitgenossen wird er wiederholt erwähnt. Ausführliche Schilderungen sind jedoch bisher nicht zu ermitteln gewesen. Die in einschlägigen Arbeiten enthaltenen Fakten sind meist sehr ungenau. 70 Die russische Malerin Marevna nennt seinen Namen unter den „Gästen" eines Künstlerballs zugunsten russischer Emigranten, gibt aber keine weiteren Aufschlüsse 39

darüber, mit wem Lunatscharski damals zusammen war. 71 Jacques Chápiro erzählt die Geschichte, wie Lunatscharski in der berühmten La Ruche12 Chagall nach Details auf einem seiner Bilder befragte. 73 Doch diese Episode hatte Lunatscharski selber schon im März 1914 in seinem Chagall-Artikel ausführlich beschrieben: „Chagall hat launenhafte Einfälle, spielt, er glaubt, er könne nicht anders. Fragt man: 'Warum ist das bei Ihnen so und so?', so murmelt der Künstler hastig vor sich hin: 'Sehen Sie, ich mußte das so machen.' Auf den ersten Blick ist das ungezügelte Launenhaftigkeit. Aber in Wirklichkeit ist es Besessenheit. Nehmen wir als Beispiel ein kleines Bild. Ein Mann sitzt auf dem Dach eines Hauses und ißt; ein anderer geht im bloßen Hemd über die Straße. 'Sehen Sie', sagt Chagall in seiner kindhaften Ausdrucksweise. 'Das ist meine gesamte Biographie: Großväterchen fand man häufig oben auf dem Dach sitzend, wo er gerne Zimes aß. Und Onkelchen ging gerne im bloßen Hemd über die Straße.' 'Unsere Familie', 'unsere Diele', 'unser Eßzimmer', 'unsere Straße' - das wiederholt sich bei Chagall. . ," 74 Zu den vielen jungen russischen Künstlern, die seinerzeit in Paris lebten, lernten und arbeiteten und mit deren Malweise Lunatscharski große Hoffnungen für die Entwicklung einer fortschrittlichen russischen Kunst schon in naher Zukunft verknüpfte, zählte auch David Sterenberg. Auch ihn hatte er in der La Ruche kennengelernt. „Vorläufig sind die Experimente Sterenbergs formaler Art", heißt es am Ende des ihm gewidmeten Artikels, „aber es sind alle Anzeichen vorhanden, daß er nicht nur ein Maler, sondern auch ein Dichter ist. Wohin dieser Dichter geht, werden wir sehen." 75 Diese Wertung eines jungen Künstlers ist für Lunatscharskis Kunstauffassung sehr bezeichnend, für sein klar umrissenes, theoretisch fundiertes Konzept. Bei aller Aufgeschlossenheit für neue künstlerische Experimente wie überhaupt für alle jungen und frischen Erscheinungen im Kunstleben, die ihn stets auszeichnete, hielt er an einigen Grundprinzipien fest. Die Bezeichnung „Dichter" für einen Maler war in seiner Terminologie ein eindeutiges Werturteil. Bereits 1907 berief er sich auf Ibsens Gegenüberstellung von „Dichten" und „Herummodellieren" und betrachtete sie als weitaus exakter als die triviale und gängige Gegenüberstellung von „Literatur" und „reiner Malerei". 76 „Darin ist keine Dichtung" - das Wort „Dichtung" setzte er in deutscher Sprache ein - bedeutete in seinem Sprachgebrauch das 'Fehlen eines Ideengehalts'. Als Sozialist beunruhigte ihn zu dieser Zeit genauso wie dann auch in späteren 40

Jahren, daß die Entwicklung der russischen bildenden Kunst im Gefolge westeuropäischer - insbesondere französischer - Kunstströmungen den „Weg von einer echten Bild-Dichtung zur formalen Malerei" 77 eingeschlagen habe. Die Bedeutung von experimentellen Wegen für die Kunstentwicklung hat er zwar niemals abgestritten. Er räumte ein, neue technische Verfahren bereicherten die Kunst durchaus und könnten für die Nachfolger von hohem Nutzen sein. Aber wenn er den Eindruck hatte, daß das Experimentelle überwiegt oder das Skizzenhafte und Unvollendete, dann sprach er von einem ernsthaften Krankheitssymptom der zeitgenössischen Malerei. Kunst war in Lunatscharskis Vorstellung stets Dichtung, Gedanke, Gefühl. Und der Verlust des Inhalts war für ihn gleichbedeutend mit Verlust des Künstlerischen schlechthin. So beurteilte er auch die Entwicklung vom Impressionismus zum Kubismus und Suprematismus. Ein Orphist wie Francis Picabia, der in Linien und Farben „phantasiert", schaffe keine Kunst im eigentlichen Sinne. Er sei an absolut k e i n e r Wirklichkeit interessiert. Der Strudel malkünstlerischer Ideen, die er beim Anblick einer Erscheinung verspürt und auf die Leinwand bringt, sei abstrakt und ohne Beziehung zu den Bildern der Umwelt. 78 Für rein malkünstlerische Ideen lehnte Lunatscharski den Begriff Inhalt kategorisch ab. In den sogenannten Pariser Briefen über das französische Kunstleben (1913) hat er diese Überlegungen an praktischen Beispielen entwickelt und theoretisch begründet. Zwei Jahre intensiven Studiums der Pariser Kunstszene festigten seine Überzeugung, daß die mit dem Impressionismus einsetzende Wende zur subjektiven Erfassung der Welt („Ich male so, wie ich sehe") der Beginn jener Entwicklung sei, die zur völligen Deformation der Wirklichkeitserscheinungen und in der Endkonsequenz zum Kubismus geführt habe. Dabei übersah Lunatscharski nicht, daß der Kubismus gerade als Reaktion auf den extremen Subjektivismus entstanden war, als der Versuch, von den Gegenständen „nicht nur das, was wir sehen, sondern auch das, was wir von ihnen wissen" sichtbar zu machen. Er erkannte eine „gewisse logische Denkweise" und eine „ausgesprochen objektivistische Tendenz". Aber die Experimente eines Picasso, Braque, Metzinger oder Gleizes in dieser Richtung betrachtete er letztendlich als ein Paradoxon, „das von dem intensiven Bestreben der Objektivisten zeugt, die Flächenbegrenztheit der Malerei zu überwinden" 7 9 . Einen künstlerischen Wert sprach er ihnen kategorisch ab. 41

In dieser Argumentationskette räumte er dem Futurismus nur wenig Platz ein. Er hielt ihn eigentlich nur für eine Spielart der italienischen Richtung, die von einigen Franzosen nachgeahmt werde. Der Wunsch, die Bewegung mit bildkünstlerischen Mitteln zu reproduzieren, habe bloß subjektivistisches Chaos hervorgebracht. In diesem Zusammenhang äußerte er einen wichtigen Gedanken, der an dieser Stelle in aller Ausführlichkeit wiedergegeben wird, weil in ihm der Keim seiner Erwartungshaltung gegenüber den jungen russischen Avantgardisten in den ersten Revolutionsjahren steckt: „Schon allein die Lösung der Aufgabe, eine künstlerische Verarbeitung optisch wahrnehmbarer Bewegung in einem unbeweglichen Gemälde zu bieten, deucht mir ebensolche Quadratur des Kreises wie das Bestreben der Kubisten, auf der bloßen Fläche eine allseitige Darstellung des Körpers zu geben. Aber das für die Malerei falsche Bestreben der Kubisten findet eine ausgezeichnete Lösung in der Bildhauerei. Was kann die für den Maler falsche Unbeweglichkeit der Gemälde, das Problem der Behandlung einer lebendigen Bewegung lösen? Mir scheint, diese Lösung bringe mit sich einen weiteren Schritt, für den sich v o r e r s t noch kein Futurist entschieden hat: die Schaffung sich bewegender Projektionen, die Anpassung des Filmapparats an malkünstlerische Zwecke. Hierin erblicke ich einen Ausweg für das Suchen der Orphisten. Musik der Farbe, Symphonie der Farbtöne sowie Linienmelodien sind durchaus denkbar, besonders bei der Verschmelzung mit der Musik der Klänge. Aber Dynamik ist die Grundlage der Musik. Um es mit ihr aufzunehmen, muß das feine künstlerische Kaleidoskop der besten Orphisten gleichfalls dynamisch werden. Mögen die Futuristen ein Mittel a u s f i n d i g machen, uns eine s y n t h e t i sierte, plastische, charakteristische, vermenschlichte Widers p i e g e l u n g der B e w e g u n g zu bieten. Mögen die Neuerer der Malerei uns ermöglichen, zugegen zu sein bei dem herrlichen Spiel der Linien und der Farben, die miteinander den Kampf tanzender Töne, den abstrakten Reigentanz führen,wie wir ihn in der Musik finden. Mögen sich rein ornamentale, gemusterte Kompositionen wunderlich verflechten mit Erinnerungen und Gespenstern (zu deutsch besser: phantastischen Gebilden - N. T.) von Blumen, Landschaften, tierischen und menschlichen Gestalten, geboren aus einer Natur, von der die Phantasie befruchtet ward. - Dieser Gedanke mag wüst erscheinen. Aber du lieber Gott! - die Futuristen 42

erdreisten sich zu so vielem, und sollten sie zusammen mit den verknöcherten Passeisten gegen die Filmkunst bloß fauchen können?" 8 0 Heute kennen wir wichtige Einzelheiten darüber, was für eine magische Anziehungskraft die junge Filmkunst auf Praktiker wie Majakowski und Theoretiker wie Tynjanow ausgeübt hat. Aber eine Lösung der von Lunatscharski benannten Probleme moderner Kunstentwicklung hat sie nicht herbeigeführt. Die großen Versuche einer Synthese der Künste verliefen in anderen Bahnen. Trotz aller Faszination für das Suchen nach neuen künstlerischen Möglichkeiten war Lunatscharski überzeugt: Kubismus und Futurismus in den Erscheinungsformen, die er in diesen Jahren in Frankreich kennenlernte, seien Anzeichen einer „kranken" Kunst. Die „Krankheit" diagnostizierte er als eine Krankheit sozialen Charakters, nur überwindbar, wie er schrieb, durch „Fortschritt im sozialen Bereich" 8 1 . Lunatscharski ging es bereits damals nicht ausschließlich um die Kunst selbst, sondern um den Platz der Kunst in der Gesellschaft. Die Pariser Briefe lassen erkennen, wie er die Kriterien zur Bewertung neuer Trends im Pariser Kunstalltag aus den Keimformen einer proletarischen Öffentlichkeit zu gewinnen versuchte. E r analysierte den Mechanismus des spätbürgerlichen Kunstbetriebs mit seinen Ware-Geld-Beziehungen auf verschiedenen Gebieten - in der Literatur, bildenden Kunst, Musik und Unterhaltungskunst - und wies u. a. nach, daß die Marktmanipulationen der Kunsthändler bestimmte Modeströmungen erzeugen und auf diese Weise den öffentlichen Geschmack beeinflussen. Ein einfaches, gutgemachtes Bild bleibe völlig unbemerkt, während ein marktschreierisches Gebilde mit einem nichtssagenden Titel Aufsehen errege - es könnte da doch irgend etwas dran sein. In diesem Zusammenhang stellte er die Frage nach dem Entstehen einer „Gegenöffentlichkeit". Mit ihr verband er das Problem des Kunstfortschritts, das er schon damals im Leninschen Sinne in Verbindung mit der sich im Schöße der kapitalistischen Gesellschaft entwickelnden „zweiten Kultur" betrachtete. Aus der Zweiseitigkeit der Beziehungen zwischen Kunstproduzent und -konsument zog Lunatscharski einige neue Schlußfolgerungen. Ihn interessierte vorrangig, wie das Proletariat selber zum Schöpfer künstlerischer Werte wird. Die Studioarbeit mit jungen russischen Arbeitern und seine Referententätigkeit waren im R a h m e n seines K u l t u r k o n z e p t s tastende Vorstöße, um zu erkunden, wie dieser Prozeß vonstatten gehen und auf welchem Wege er beschleunigt

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werden könnte. Und nicht minder interessierte ihn, wie neue Trends in der Kunstentwicklung auf die - wiederum differenziert gesehenen - Verbraucher wirken und welche Rückkopplung dieser Wirkung beim Künstler zu beobachten ist. An einem plausiblen Beispiel pflegte er gewöhnlich seine Beobachtungen zu erläutern. Die meisten der begabten, aber bettelarmen Chansonniers vom Montmartre - er kannte einige von ihnen noch aus früheren Jahren - verwandelten sich, wenn sie echten Erfolg hatten, im Verlaufe von zehn bis fünfzehn Jahren in begüterte, satte Bourgeois.82 Ähnliche Beobachtungen machte er auch auf anderen Gebieten: „Der Anfang einer Künstlerkarriere beginnt fast immer in der Boheme. Eine solche gesellschaftliche Stellung stimmt den Künstler nicht gerade friedfertig gegenüber seiner Umwelt. . . . Jugend, Lebenshunger, tiefe Not und ständige Unzufriedenheit, die Stellung eines Ausgestoßenen, mit dem die satte Gesellschaft nichts zu tun haben will, und die verzweifelte Hoffnung, durch das eigene originelle Talent diese Gesellschaft dennoch für sich zu gewinnen, der irrsinnige Konkurrenzkampf dieser Talente und der irrsinnige Wettlauf um Originalität - in dieser Atmosphäre bildete sich die neueste Kunst heraus, mit ihrem bitteren Pessimismus, ihren düsteren Phantasien und hellen Träumen, mit ihrem unbestrittenen Suchen auf technischem wie geistigem Gebiet. Die ersten Verkünder dieser Kunst, die so ungerecht mit dem verpönten Namen 'Dekadente' abgestempelt wurden, drückten ihre Unzufriedenheit in ungewöhnlich vielfältigen Formen aus. Das in den Zwängen der Not erstickte Denken des brodelnden französischen intellektuellen Proletariats schwärmte in alle nur erdenkliche Richtungen aus, vom klarsten Traum bis zu einer Hypochondrie, die an Irrsinn grenzt, oder bis zur leidenschaftlichen Hingabe an eine rein formale Kunst." 83 Hier fand Lunatscharski auch die Erklärung dafür, warum in der französischen bildenden Kunst das soziale wie das politische Thema fast völlig fehlte; und wenn es von vereinzelten Künstlern behandelt wurde, dann schwach und epigonenhaft. Es habe keinen Nährboden und habe sich daher nicht frei entfalten können. Diese bereits im Februar 1905 in der Prawda gedruckten Eindrücke von Paris, also aus der Zeit seiner unmittelbaren Zusammenarbeit mit Lenin, enthalten im Kern das Grundmuster seiner Überlegungen ein knappes Jahrzehnt danach. Und sie bestimmten auch sein Verhalten gegenüber den jungen russischen Künstlern nach 1917. 1914 hatte Lunatscharski auf Grund der Beobachtungen in Frank44

reich wie auch der Publikationen in Rußland die Ü b e r z e u g u n g g e w o n n e n : „die Pariser Einflüsse überwiegen zur Zeit s o g a r unter der (russischen - N . T . ) J u g e n d . " D i e lauthals schreienden Neuerer würden leider nur L ä r m machen, anstatt daß sie die K r i s e genau studierten, die das künstlerische Paris, die „ A v a n t g a r d e der 'allerneuesten' K u n s t " , g e g e n w ä r t i g durchmache. „ I c h weiß w o h l " , heißt es weiterhin, „daß selbst diese 'allerneueste' K u n s t in ihren vielfältigen E r s c h e i n u n g s f o r m e n auch eine Menge Schlacke enthält. Aber daneben gibt e s Figuren und G r u p p e n , in deren Werken und Psyche kühner W a g e m u t und Grimassen zu einem riesigen Knäuel verfitzt sind . . . " D i e Grimassen aber seien nichts anderes als A u s druck der „Unfähigkeit, den neuen und qualvollen S t o f f in einigermaßen vollendete F o r m e n zu gießen" 8 ' 1 . Während Lunatscharski unter den jungen französischen Künstlern nur einige wenige entdeckt hatte, die bereits, wie er sich ausdrückte, einen Ariadnefaden in den Händen hielten, d. h., die z u m Neorealismus tendierten, verknüpfte er die H o f f n u n g auf eine neue K u n s t e n t w i c k l u n g in Rußland ausschließlich mit der herannahenden Revolution. In französischen Künstlerkreisen dominierte seiner M e i n u n g nach der v o n Sonia Delaunay als „ M o d e " bezeichnete Z w a n g , „in das Publikum eine gewisse M e n g e v o n Unwahrheiten, v o n Innovationen eindringen zu lassen" 8 5 . Diese durch den bürgerlichen K u n s t b e t r i e b stimulierte Praxis, in den „ S c h u l e n " , damals auch „kleine K a p e l l e n " genannt, nur kurze Zeit zu verbleiben, bestärkte ihn in seinem Verdacht, daß das eigentlich künstlerische M o m e n t der M o d e geopfert werde. Experimenten wie d e m bereits erwähnten Simultanbuch v o n Blaise Cendrars und Sonia Delaunay - das P o e m sollte simultan wie ein L e b e n s v o r g a n g rezipiert werden - maß er daher trotz seiner Sympathie für synthetische Kunstbestrebungen keine besondere Bedeutung bei. Apollinaire hatte das Buch als „ersten V e r s u c h einer schriftlichen Simultaneität" gerühmt, „in d e m die Farbkontraste das A u g e daran gewöhnten, ein gesamtes P o e m mit einem einzigen Blick zu lesen, so wie ein Dirigent die übereinander gesetzten N o t e n einer Partitur gleichzeitig erfaßt und so wie man die plastischen und textlichen Elemente eines Plakats gleichzeitig w a h r n i m m t " 8 6 . E r selbst experimentierte in ähnlicher Richtung. Seine Kalligramme sollten durch die besondere graphische A n o r d n u n g der Buchstaben wie ein Bild rezipierbar sein. Lunatscharski könnte einige v o n ihnen, darunter Die R eise und Herz, Krone und Spiegel ebenso wie den bereits zitierten Artikel Simultanismus - Librettismus, in der renommierten franzö-

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sischen Kunstzeitschrift Les Soirees de Paris Anfang des Jahres 1914 gelesen haben. Aber Experimente dieser Art pflegte er als „kleine Kapellen" abzutun, nicht wert, sich in ihnen lange aufzuhalten. Die H o f f n u n g auf die Entwicklung synkretistischer Verfahren verknüpfte er, wie bereits dargelegt wurde, mit anderen künstlerischen Tendenzen. Die gründliche Kenntnis des bürgerlichen Kunstbetriebs erklärt, warum Lunatscharski nach seiner Rückkehr nach Rußland im Mai 1917 einen Zusammenhang zwischen dem äußeren Erscheinungsbild der Kunstäußerungen der „linken" Künstler und der „ungesunden Atmosphäre auf den Boulevards des bürgerlichen Paris" herstellte. Dennoch war sein taktisches Verhalten ihnen gegenüber nicht von vornherein ablehnend. Im Gegenteil. E r erweiterte ihre Arbeitsmöglichkeiten sofort nach der siegreichen Revolution und setzte sie in verantwortliche Ämter ein. Als Grund wird meistens das v o m Volkskommissar selbst mehrfach angeführte Argument genannt: Die Mehrzahl der „linken" Künstler hatte sich sofort auf die Seite der Sowjets gestellt, während die Künstler mit Rang und Namen fast ausnahmslos die Arbeit des Volkskommissariats für Bildungswesen boykottierten. D a s Volkskommissariat war daher an der engen Mitarbeit dieser vorwiegend sehr jungen Künstler interessiert und baute auf ihre revolutionäre Gesinnung, so widersprüchlich sie im einzelnen Falle auch gewesen war. Aber darüber hinaus verknüpfte Lunatscharski gerade mit ihrem jugendlichen Elan, ihrer Experimentierfreudigkeit und ihrem Ideenreichtum die H o f f n u n g auf eine revolutionäre Erneuerung der Kunst. D a s Geleitwort für den Sammelband der „Futuristen", der 1918 unter dem Titel Das Roggen-Wort erschien und auch ein Vorwort von Majakowski enthielt, belegt die Motive seines aufrechten Wunsches nach fruchtbarer Zusammenarbeit. Doch schon bald stellten sich ernsthafte Zwistigkeiten ein. Lunatscharski akzeptierte nicht den v o m bürgerlichen Kunstbetrieb weitergeschleppten Freiheitsbegriff der „linken" Künstler und wurde in dieser Frage nicht nur von Lenin unterstützt, sondern geradezu gedrängt, auf K l ä r u n g der Positionen zu bestehen. In den in der Öffentlichkeit ausgetragenen Disputen glaubte er die altbekannten Grimassen im revolutionären Gewand wiederzuerkennen und attackierte sie als der neuen Zeit nicht gemäße Verkehrsformen zwischen Staat und Künstlern. Während er in der Frage Autonomie der K u n s t oder Anerkennung der Führungsrolle von Partei und

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Staat reale Verständigungsmöglichkeiten sah, schloß er jegliche Kompromißbereitschaft in der Auseinandersetzung um das Kunsterbe aus. Als Volkskommissar für Bildungswesen war Lunatscharski auch persönlich für den Schutz aller Kulturgüter verantwortlich. Mit hohem Engagement nahm er diese Funktion wahr. Als er von Zerstörungen im Kreml im Verlaufe der Kämpfe gegen die Truppen der Provisorischen Regierung erfuhr, reichte er sofort beim Rat der Volkskommissare sein Rücktrittsgesuch ein. Er sei machtlos, diesen Vorgängen Einhalt zu bieten. Seinem Wunsch wurde bekanntlich nicht stattgegeben. Lenin habe ihm gewaltig den Kopf gewaschen, erinnerte er sich später, weil er sich in einem so entscheidenden historischen Moment seiner Verantwortung entziehen wollte. In dem einen Tag danach verfaßten Aufruf Schätzt das Volksgut richtete er einen „flehenden" Appell an alle Bürger, die kulturellen Reichtümer zu hüten, die das Volk durch die siegreiche sozialistische Revolution als Erbe übernommen hat. Lunatscharski schreckten nicht allein die Übergriffe im Verlaufe der bewaffneten Kämpfe. Er befürchtete unwiederbringliche Verluste in einem Ausmaß, das beispielsweise die Bilderstürmerei im Gefolge der Großen Französischen Revolution angenommen hatte. Den willkürlichen Verstümmelungen war u. a. kaum eine der jahrhundertealten französischen Kathedralen, kaum ein Meisterwerk gotischer Baukunst entgangen. Vielleicht hatte er diese bis heute sichtbaren Spuren sinnloser Zerstörung vor Augen, als er sich auf die positiven historischen Lehren der Pariser Kommune zum Schutze der kulturellen Werte vergangener Jahrhunderte berief.87 Die Ausgangs- und Bezugspunkte waren tatsächlich sehr unterschiedlich, als sich Lunatscharski wie Majakowski in den ersten Revolutionsjahren um die Entwicklung einer neuen sozialistischen Kunst und Literatur bemühten. Unterschiedlich waren auch ihre Vorstellungen von der Beschaffenheit und von den Wegen dieser neuen Kunst. Aber das Ziel war für den einen wie für den anderen die maximale Einwirkung der Kunst auf die Volksmassen, die die neue Gesellschaft schaffen. Trotz divergierender ästhetischer Auffassungen und scharfer Auseinandersetzungen, denen auf beiden Seiten nicht selten Unduldsamkeit wie ungenügendes Verständnis für den Standpunkt des anderen zugrunde lagen, fanden daher der Dichter und der Volkskommissar in den entscheidenden politischen Tagesfragen eine gemeinsame Sprache. 47

Vom Nutzen der Plakat-Attacken „Zu Lebzeiten Majakowskis ist mir überhaupt nicht in den Sinn gekommen, daß ich später einmal seine Entwicklung (und habe ich sie denn jetzt schon in vollem Umfang erfaßt?) so erheblich bedeutender einschätzen werde als zu der Zeit, da er noch lebte." 88 Lunatscharskis Worte waren das Ergebnis eines neuen Nachdenkens Anfang der dreißiger Jahre. Die drei Texte Leben und Tod. Über Majakowski (1930) sowie Dichter der Revolution und Der Neuerer Wl. Majakowski (1931) enthalten keinen einzigen Hinweis auf den Streitpunkt vor einem Jahrzehnt. Auch nicht andeutungsweise erwähnt er das von ihm früher gebrauchte Argument „Wir verstehen das nicht!", dieses „eigentümliche Schlagwort" (Majakowski), gegen das sich der Dichter mit spitzer Zunge und Feder so hartnäckig gewehrt hatte, anfangs gegenüber dem Volkskommissar, später gegenüber der RAPP. Die skeptischen Töne sind geschwunden. Die „Erniedrigung der Dichtkunst", von Majakowski in Thematik, Lexik, Syntax, Rhythmus und Reim systematisch betrieben, findet nun in der Person Lunatscharskis einen eifrigen Verfechter. Selbst einen Ausdruck wie „Produktionsarbeiter in der Dichtkunst", den er bislang nicht akzeptiert hatte, gebraucht er jetzt zur Charakterisierung der Arbeitsweise des Dichters.89 Und das seinerzeit so heftig kritisierte öffentliche Benehmen - „die Rolle des geistreichen Skandalpoeten zu spielen eine Art hochbegabten randalierenden Hofnarren an der literarischen Front" - schreibt er ohne Einschränkungen Majakowskis Jugend zu.90 Auf einige Kontroversen der ersten Revolutionsjahre spielte Lunatscharski in einem anderen Kontext erst ein Jahr später, 1932, an. Er erinnerte an die Diskussion über Meyerholds Inszenierung der Morgenröte von Verhaeren, an Majakowskis polemische Bemerkung: „Lunartschaski sagt, ein Stück müsse begeistern, anregen, anstecken. Ich antworte darauf, Cholera und Flecktyphus stecken an - ist das denn gut?" 9 1 Paradoxa dieser Art, bekräftigte Lunatscharski nochmals im nachhinein, tendierten zur bürgerlichen Theorie derL'art pour l'art. Unumwunden bezeichnete er auch erneut den Versuch, die Arbeit eines Künstlers mit der Arbeit eines Produktionsarbeiters gleichzusetzen, als eine Abart des Formalismus, der den Dichter durch die sympathisierende Haltung zur Revolution beeindruckt und letztlich beeinflußt habe.92 Auf diese Weise rechnete Lunatscharski alles, was zeitweilig ihre gegenseitigen Beziehungen 48

getrübt hatte, zur „futuristischen Hülle", die er von Majakowskis Werk abtrennte. Damit fiel der Schere auch zum Opfer, was ein Kernstück seiner Kunstprogrammatik war: der neuartige Bezug auf den Leser als eine Kette von Erfahrungen, von denen er die einen verwarf, die anderen weiterführte. Sie waren eine Art ständiges Korrektiv seiner Arbeit am künstlerischen Wort. In Lunatscharskis Bemerkung steckt allerdings auch ein rationaler Kern. Majakowski gewann im Verlauf der Jahre tatsächlich ein reiferes Verständnis für die nach 1917 zugespitzte Streitfrage und gestand selbst ein, „daß erworbene Verhaltensweisen aus vorrevolutionären Jahren in uns verdammt festsitzen". Statt einen organisierten Kampf zu führen, sei er anarchisch gegen alle Hemmnisse, gegen die Schwierigkeiten bei der Drucklegung seiner Texte losgegangen, erinnerte er sich später, „denn innen fühlte ich, daß meine Linie in der Literatur gerade diejenige war, die eins werden wird mit der Linie der proletarischen Literatur" 93 . Die Schlüsselfrage war für ihn in den literarischen Tageskämpfen, ob er von seinen Lesern verstanden wird und ober sie auch richtig versteht. Deshalb reagierte er so überaus empfindlich, wenn ihm vorgehalten wurde, er schreibe unverständlich. Diese Empfindlichkeit steigerte sich nach der Revolution, als sich sein Literaturbegriff wandelte und damit auch seine Auffassung von den Beziehungen zwischen einem Dichter und seinem Publikum. Der kubofuturistischen Frühzeit verdankte Majakowski das Schreiben auf ein öffentliches Vernehmen hin und die unkonventionelle, „nichtliterarische" Bearbeitung des Wortmaterials im Bruch mit klassischen, symbolistischen und sonstigen tradierten Verfahren. Das Abstoßen von den Vorläufern war, genau besehen, die Voraussetzung für die Durchsetzung des früh deklarierten Demokratisierungsanspruchs und das Finden einer eigenen Sprache. Das Wort betrachtete er als das Material der Dichtkunst. Sein Gebrauch erfülle den Zweck, neue Seh- und Hörgewohnheiten zu provozieren, hervorzurufen. Von diesem programmatischen Ansatz hat sich Majakowski nicht losgesagt. Seine Stärke war, daß er die Fetischisierung von einmal Entdecktem ablehnte. Neues müsse immer wieder neu gemacht werden, lautete seine Grundregel. Aber niemals akzeptierte er Neues, nur weil es neu ist, sondern ausschließlich Neues, das der veränderten Zielstellung adäquat ist. Chlebnikow stellte eine dichterische Aufgabe, zeigte ihren Lösungsweg an und überließ es dann den anderen, den Nachfolgern, 4

Thun; Autor, Leser

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die angedeuteten Lösungen „für praktische Zwecke auszuwerten" 94 . Anders Majakowski. Der einzige vergleichbare Versuch mit dem Poem Hundertfünfzig Millionen - „will, daß jedermann den Text ergänzen und verbessern möge" 95 - kann nicht unmittelbar in der Tradition Chlebnikows gesehen werden; es entstand unter dem Einfluß der zu dieser Zeit verbreiteten kollektivistischen Ideen, zu denen sich auch die „Komfuten" bekannten, vor allem aber auf Grund der neuen Erfahrungen bei der ROSTA-Arbeit. Majakowski löste jede dichterische Aufgabe selbst, in Übereinstimmung mit der Wahl des Adressaten, die dieser Aufgabe zugrunde lag. Chlebnikows Umgang mit dem Wort als selbständige Kraft, „die das Material der Gefühle und Gedanken ordnet und gliedert" 96 , faszinierte ihn jedoch. Deshalb interessierte sich Majakowski für das von ihm entwickelte „periodische System des Wortes" - das Hinabsteigen zu den Wurzeln eines Wortes, das Aufspüren feinster Wurzelabzweigungen (nach Chlebnikow die Stammdeklination) und die Bildung von Wortreihungen, aus denen sich wie aus einer schmiedeeisernen Kette kein Glied herauslösen lasse. Tynjanow gab zwei Jahre später eine theoretische Erklärung, die in geradezu verblüffender Weise mit der Beobachtung des Praktikers übereinstimmt, so daß der Gedanke einer gegenseitigen Verständigung in diesem Punkt nicht auszuschließen ist: „Er (Chlebnikow - N. T.) belebte im Sinn des Wortes seine längst vergessene Verwandtschaft mit fremden Wörtern oder brachte das Wort in Verwandtschaft mit fremden Wörtern. Dies erreichte er, indem er den Vers als System auffaßte. Wenn man einander fremde, aber ähnlich klingende Wörter in eine Reihe, in ein System stellt, werden sie verwandt. Daher Chlebnikows 'Deklination der Wörter' (bog - beg) 97 , daher die neue 'Etymologie'. Indessen gab Chlebnikow seine Theorie nicht für wissenschaftliche Wahrheit aus (wie Schischkow), er betrachtete sie als Konstruktionsprinzip. Chlebnikow hielt sich nicht für einen Gelehrten, sondern für einen 'Wegbereiter der künstlerischen Sprache'." 98 Und weiter unten heißt es: „Er ist . . . in erster Linie der Dichter-Theoretiker. An die erste Stelle tritt in seinen Versen die nackte Konstruktion." 99 Majakowski zählte aus diesem Grunde Chlebnikows Gedichte zu den wichtigen Büchern, die nur an wenige adressiert sind, „aber nicht an Verbraucher, sondern an Erzeuger" 100 . Dies seien die Samen und Gerippe der Massenkunst, fügte er hinzu. Und gleichzeitig polemisierte er mit den Herausgebern einer ChlebnikowAusgabe, die Chlebnikows Gedichte kaputt machen würden, wie er 50

sich ausdrückte, indem sie diese als „Modellfall klassischer Versgestaltung" darböten. So paradox dies auch scheinen mag, der Vorwurf konnte nur gegen Tynjanow persönlich gerichtet sein, gegen einen der schärfsten Gegner jeglicher Mumifizierer großer Kunstleistungen, denn er war Mitherausgeber und Vorwortautor der geplanten Ausgabe. 101 Zu Chlebnikow verhielt sich Majakowski nicht nur als ein Nehmender. Das erwähnte früh praktizierte Schreiben auf ein öffentliches Vernehmen hin, insbesondere die direkte Anrede und die Stimmkraft als Medium einer unmittelbaren Verständigung zwischen Dichter und Publikum, blieb nicht ohne Wirkung auf Chlebnikow. Diese Wirkung setzte bereits im Krieg ein. Zwar war Chlebnikow ein miserabler Deklamator der eigenen Verse und zerstörte jedweden Kontakt zwischen sich und seinen Hörern schon nach kurzer Zeit, sobald er selber auf der Bühne stand. Aber Majakowskis Einsatz der Stimmkraft als Steigerung der Wirkungsmöglichkeiten von Dichtkunst beeindruckte Chlebnikow nachweislich. Großes Interesse bekundete er vor allem für Majakowskis neue Experimente, darunter für die Agitationsverse der ROSTA-Fenster in den Jahren 1919 bis 1920.«>2 Der Wechsel des Adressaten in Majakowskis Dichtungen der ersten Revolutionsjahre ist häufig erwähnt, aber kaum gründlich untersucht worden. 103 Die Schritt für Schritt vorangetriebenen Bemühungen um eine Demokratisierung der Künste - 1913, im Krieg, 1917-1918, 1919, 1923 - forderten dem Dichter jeweils enorme Anstrengungen ab. Spätestens 1918 begriff er, daß die Revolutionierung der Kunst, auch der Literatur, weder ausschließlich im Künstlermilieu noch in einem rein geistig-intellektuellen Klima vonstatten gehen kann. Deklarationen und Losungen der Art wie „Die Straßen sind jetzt unsre Pinsel,/unsre Paletten die Plätze" und „Futuristen, auf die Straßen,/ihr Trommler und Poeten!" 104 waren ein Fortschritt, insofern sie den Bruch mit intellektueller Lebensfremdheit, spießerhafter Sensationslust und anarchistischem Rebellentum öffentlich bekundeten und auch einleiten sollten. Der Adressat blieb jedoch in der Mehrzahl der alte, solange die Kaffeehausperiode nicht abgeschlossen war, trotz neuer Zuhörer aus der Masse ab und an. Ein Gedicht wie Unser Marsch, geschrieben Anfang des Jahres 1918, hatte als Adressaten eben nicht die revolutionären Massen, sondern die Futuristen. David Burljuk tat daher so unrecht nicht, als er es 1919 in der Tomsker Gaseta futuristow unter dem Titel 4*

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Futuristenmarsch veröffentlichte. Ein Revolutionsmarsch wie fast ein Jahr später der Linke Marsch war dieses Gedicht noch nicht, das Majakowski bestimmt nicht zufällig 1922 in Paris für Robert Delaunay zur Erinnerung aufschrieb und mit der Losung versah: „Es lebe der kom[munistische] Futfurismus]." 105 Ein Mann wie Majakowski, der nach Hugo Huppert „von der ersten bis zur letzten Äußerung auf die mündliche und auf die totale Kommunikation" 106 bedacht war, mußte gerade eingedenk der Moskauer Erfahrungen in den ersten Revolutionsmonaten an diesem Punkt neu beginnen. Anders war das erstrebte „Daseinsrecht" als Schriftsteller der Revolution nicht zu erwerben. 107 Der Linke Marsch, entstanden im Dezember 1918, war ein erster direkter Appell zur revolutionären Tat im Namen der siegreichen Klasse, gerichtet an einen konkreten Adressaten, an die Petrograder Roten Matrosen. Dieser „Erstling vom Revolutionsbeginn", wie ihn Majakowski 1930 nannte, 108 zeigte den Weg, war aber noch nicht der Weg selbst. Die wirkliche Suche nach geeigneten Kunstformen für die neuen Leser hatte erst jetzt begonnen. Uja Ehrenburg analysierte 1921 die Veränderungen im russischen Kunstleben nach 1917 und kam zu interessanten Schlußfolgerungen im Vergleich zur französischen Kunstszene. Qereits vor dem Krieg habe man in Pariser Künstlerkreisen über das Verhältnis zwischen Kunst und Leben heftig gestritten. Aber mit jedem Jahr hätten sich die Künstler von der Realität immer weiter entfernt. Sie arbeiteten schließlich nur noch „für das Gefängnis der Kunstsammler oder für den Friedhof der Museen" 109 . Sie schufen einmalige Stücke, aber keine Gegenstände für den Massenverbrauch. Für letzteren Zweck konstruierten sie niemals etwas Neues, sondern begnügten sich mit Dekorieren. So sei die Kunst der Avantgarde durch die Tücke der Umstände schließlich nicht nur unpopulär, sondern antipopulär geworden. In Rußland hingegen sei die Avantgarde erstmalig zu einer breiten Bewegung angewachsen, aber nicht etwa dank eines hervorragenden Meisters, sondern durch den Wechsel des Publikums. 110 Dieses Argument wird vielerorts zitiert.111 Und dennoch abgesehen von Ehrenburgs Befangenheit im Konstruktivismus - lag auch dieser Formulierung eine abstrakte, vereinfachende Vorstellung zugrunde. Der Wechsel des Publikums stimulierte tatsächlich die künstlerische Avantgarde zu enormer Aktivität und zu neuen Einfällen. Aber er vollzog sich nicht ohne Widersprüche und Konflikte und 52

vor allem nicht von heute auf morgen. Im Schaffen einzelner Künstler verliefen sie mitunter äußerst tragisch, denn die Schwierigkeiten, diese Widersprüche und Konflikte zu meistern, lagen nicht nur beim Künstler. Sie lagen auch beim Publikum. Der Künstler mußte eine andere „Sprache" finden, um das neue, ihm noch wenig bekannte Massenpublikum erreichen zu können. Und das Massenpublikum, das sich in der überwiegenden Mehrheit auf einem niedrigen Kulturniveau befand, mußte sich ein entwickeltes Kunstverständnis erst noch erarbeiten. Majakowski hat die Schwierigkeiten auf beiden Seiten - die Schwierigkeit des Schreibens wie die Schwierigkeit des Verstehens - in ihrer Komplexität wie Kompliziertheit früh begriffen und aus dieser Tatsache radikale Schlußfolgerungen gezogen. Im Mittelpunkt stand das Ziel, daß die Masse der Arbeiter und Bauern, die das neue Leben aufbauen, sich zu wirklichen Lesern entwickelt und daß er der Poet dieser Menschen ist. 112 Der entscheidende Schritt zur Erfüllung dieser sich selbst gestellten Forderung war gerade die Tätigkeit, der selbst in Freundeskreisen jeglicher Kunstwert abgesprochen wurde: die knapp zweieinhalbjährige Arbeit an den ROSTA-Fenstern. Nach eigener Darstellung erfolgte der Entschluß spontan. 113 Majakowski reizte die Möglichkeit, mit dem Mann auf der Straße in der kombinierten Sprache von Wort und Bild zu reden. Die Menge, die sich vor den Plakaten staute, war ein konkreter Adressat Arbeiter und Bauern, die Stadt- und Landarmut, Analphabeten und Halbalphabeten, kurzum Bevölkerungsschichten, denen die Revolution die Perspektive sozialer Gleichheit und Sicherheit gegeben hatte und derer die Revolution wiederum bedurfte, um diese Perspektive in der Wirklichkeit durchzusetzen. Die Denikin-Armee war 1919 in Südrußland zur Großoffensive übergegangen. Judenitsch bedrängte Petrograd. Majakowski begriff als einer der ersten der avantgardistischen Künstler die Notwendigkeit, die Kunst auf die veränderten Zeitumstände einzustellen und von allgemeinen Losungen zu aktuellen Tagesaufgaben überzugehen. E r schreckte nicht vor der realen Erscheinung der neuen Zeit zurück, als er sie erkannte „in Gestalt des russischen Iwan, mit verwühlten Haaren, zerrissenen und schmutzigen Kleidern, barfuß und mit zerarbeiteten und blutenden Händen" 1 1 4 . E r suchte den Weg zu ihr und sah in der Plakatarbeit eine einmalige Gelegenheit, das Grundanliegen jahrelanger Kunstanstrengungen - die Ü b e r w i n d u n g der K u n s t im traditionellen Sinn - verwirklichen zu können. Wirkungsstätten der

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Kunst sollten die Straßen und Plätze sein, wo Kunsc nicht ausgestellt, sondern in den Lebensalltag einfunktioniert wird. Dieses Grundprinzip der Futuristen, bereits verkündet im Dekret Nr. 1 über die Demokratisierung der Künste vom März 1918, war noch in Kraft. Korrigiert wurde die Einstellung auf den Adressaten. Dadurch veränderte sich der Gegenstand, und es veränderte sich die Bearbeitung des Materials. Die neuen Eigenschaften der Plakattexte erklären sich folglich aus einem anderen Funktionsverständnis. Die Meeting-Periode, „die ekstatische Zeit der Revolution", wie sie Lissitzky nannte,115 war vorbei. Die Revolution, von den „Linken" als ein Festtag der Kunst begrüßt, durchlebte das dritte entscheidende Kampfjahr. Auf den Feiertag folgte der Arbeitstag. Begonnen hatte die Phase des Vom-Himmel-auf-die-Erde-Hinabsteigens. Lenin hatte es bereits im September 1918 für die Presse gefordert: „weniger politisches Wortgeprassel", „weniger intelligenzlerische Betrachtungen", „weniger Politik", „mehr ökonomisches", mehr Aufmerksamkeit für das Neue, das in der Praxis aufgebaut wird.116 Majakowski berief sich auf diese Worte Lenins, als er im Mai 1920 eine „künstlerische Agitationsweise in fundamentaleren Bildwerten, in fundamentaleren Ausdrucksformen für das gegebene Agitationsmaterial und Propagandathema"117 forderte, und erneut 1923, als er die jüngsten Erfahrungen der ROSTA-Arbeit auf die künftigen Wege der revolutionären Dichtkunst ummünzte und programmatisch erklärte, der Schriftsteller müsse auf knappem Raum „im Telegrammstil" schreiben und das Geschriebene näher ans Leben heranführen. Lenins Appell aus der Großen Initiative (1919): „Weniger schwülstige Phrasen und mehr einfache, alltägliche Arbeit"118 entwickelte er zum Aktionsprogramm des Dichtens, dessen „Sinn" er danach bewertete, ob es „für eine Verbesserung des Lebens der Menschen nutzbringend ist"119, unbeirrt der Tatsache, daß er sich damit den Vorwurf des Utilitarismus einhandelte. Aber das waren schon weiterführende Betrachtungen im nachhinein, Schlußfolgerungen aus der praktischen Arbeit. Majakowski war von dem ersten Zweimeter-ROSTA-Plakat, das er im Oktober 1919 zufällig auf der Straße gesehen hatte, fasziniert gewesen und hatte dem Direktor der Russischen Telegraphenagentur seine Arbeitskraft als Texter und Zeichner sofort zur Verfügung gestellt. So entstand das Werk, das eine Schlüsselstellung in seiner Entwicklung einnehmen sollte. Viktor Duwakin nannte es sogar das wichtigste Lebenswerk und hatte dabei die neuen Kunst54

erfahrungen des Dichters im Sinn. 1 2 0 Es veränderte seine künstlerische Sicht und seinen Arbeitsstil und festigte seine Überzeugung, daß der revolutionäre Künstler nach Massenwirkung streben müsse, wenn er will, daß seine Produkte in der neuen Zeit „arbeiten". Viktor Duwakin hat eine gründliche, sachkundige Analyse der von Majakowski gedichteten und gezeichneten ROSTA-Fenster gegeben, die auch in einer reich illustrierten deutschsprachigen Ausgabe vorliegt, so daß sich eine Beschreibung erübrigt. (Nach dem jetzigen Forschungsstand hat Majakowski für die meisten der rund eintausendsechshundert ROSTA-Fenster die Texte verfaßt und etwa vierhundert selber gezeichnet.) In unserem Zusammenhang interessiert Majakowskis Entwicklung zum „Baumeister" einer neuen Ästhetik. Unter diesem Aspekt war die ROSTA-Zeit nicht Lehrzeit, sondern eine Zeit der Reife, der Festigung seiner Auffassung von Kunst als soziale Aktivität in den revolutionären Umbrüchen der Gegenwart. Eins der Grundprobleme Majakowskis war die Nutzbarmachung der „elementaren Gewalt der neuen Sprache" 1 2 1 für die Dichtkunst. Dieser Vorgang beschränkte sich jedoch nicht, wie häufig angenommen wird, auf die Erweiterung des Wortschatzes, auf das Hereinholen bisher verpönter umgangssprachlicher Wörter und Wendungen ins Gedicht, obwohl Majakowski gerade diese Seite der zu leistenden Wortarbeit stets herausgestellt hat. E r übernahm die von der Revolution auf die Straße geschleuderte „rauhe Sprache" 1 2 2 nicht pur. Die ROSTA-Fenster, nach seinen Worten „die manuelle Bedienung eines 150-Millionen-Völkchens durch eine Handvoll Künstler" 1 2 3 , erforderten die Suche nach wirksamen a g i t a t o r i s c h e n K u n s t f o r m e n . In seinem Selbstverständnis bedeutete das, den neuen Leser und Betrachter erreichen. „Es genügt nicht zu sagen: 'Der ewig-rege Feind ist wachsam' (Block)", lautete eine der neu formulierten Grundregeln Majakowskis. „Man muß die Gestalt des Feindes genau umreißen oder wenigstens die Möglichkeit bieten, ihn sich eindeutig vorzustellen. Es genügt nicht, aus der Marschkolonne auszuschwärmen. Man muß es nach allen Regeln des Straßenkampfes tun . . . " 1 2 S Die Straße hatte seinen bereits mehrfach zitierten Zweizeiler „Friß Ananas, Bürger, und Haselhuhn./Mußt bald deinen letzten Seufzer tun" angenommen. Das bestärkte ihn u. a. darin, die Möglichkeiten des Tschastuschka-Verses (Gassenhauers) weiter auszuschöpfen, wohl wissend, daß dieser Rückgriff auf die Volksdichtung wider alle Regeln der „hohen" Dichtkunst erfolgte. Die Problematik, der er sich

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konfrontiert sah, lag folglich nicht vorrangig im Entdecken von neuen Wörtern, Rhythmen, Reimen, Versen, sondern im Finden von Text- und Bildlösungen, in denen auch bereits benutzte, aber nicht abgenutzte (!) Mittel und Verfahren verarbeitet sind, vorausgesetzt, daß sich mit ihrer Hilfe die Massenwirksamkeit steigern lasse. Auf diese Weise entwickelte er eine eigenständige Auffassung von Innovation, einem Problem, das in Kreisen der künstlerischen Avantgarde einen zentralen, wenn nicht gar den zentralen Platz einnahm. Die entsprechende Formulierung aus Wie macht manVerse? ist auf eine Grunderfahrung der ROSTA-Arbeit zurückzuführen: „Bei einem dichterischen Produkt ist Neuheit Vorbedingung. Das Material an Worten und Wortzusammenstellungen, das sich dem Dichter bietet, muß umgearbeitet werden. Wenn zur Versfabrikation Wortschrott verwendet wird, muß er sich in genauer Übereinstimmung mit der Menge des neuen Rohstoffes befinden. Von der Quantität und Qualität dieses Neuen wird es abhängen, ob eine solche Legierung Gebrauchswert besitzt. Neuheit setzt selbstverständlich nicht das dauernde Aussprechen welterschütternder Entdeckungen vorauf. Jambus, freier Vers, Alliteration, Assonanz werden nicht jeden Tag neu geschaffen. Auch ihre Fortentwicklung, Vertiefung, Verbreitung bietet Arbeitsmöglichkeiten." 125 Diese Gedanken hat Majakowski wiederholt ausgesprochen und auch auf den Unsinn hingewiesen, Uhren zu erfinden, die schon erfunden sind. Das gelte auch für die Literatur. Die Themen waren hochaktuell. Die neuesten Agenturmeldungen wurden sofort zu Plakaten verarbeitet, so daß diese mitunter früher in Schaufenstern und öffentlichen Gebäuden ausgehängt wurden, als die Meldungen über die Zeitungen verbreitet werden konnten. (Die ersten regelmäßigen Rundfunksendungen begannen in der UdSSR erst 1924.) Sie erreichten auch Analphabeten, Halbalphabeten. Die beredte Bildsprache zog den Blick auf sich und forderte die Leute zum Stehenbleiben auf. Sie war das Ergebnis intensiven Nachdenkens über eine maximale optische Wirkung, die außerdem von anhaltender Dauer sein sollte. Auch der in Hast Vorbeieilende sollte im Laufen innehalten und das Plakat wahrnehmen. Majakowski betrieb diese Überlegungen mit professionellem Ernst und berief sich auf bereits vorliegende wissenschaftliche Ergebnisse der Rezeption von bildnerischen Lösungen in Verbindung mit dem Text. Der kräftige Einsatz der roten Farbe - die weithin sichtbaren wegweisenden roten Silhouetten, der effektvolle Kontrast der grünen Farbe 56

zu Rot - und die Dynamik der Linien ebenso wie die Vorliebe für den Imperativ waren typische Eigenschaften der von ihm entworfenen Plakate.126 Die Lektüre der ROSTA-Verse vermittelt Zeitgeschichte. Die Jahre 1919 bis 1922, bis zum Beginn der NÖP, ziehen als Jahre des Kampfes an mehreren Fronten vorüber: auf den verschiedenen Kriegsschauplätzen im Innern des Landes und in Polen127, bei der Mobilisierung aller Kräfte zur siegreichen Beendigung des Bürgerkrieges, zur Wiederinstandsetzung der Fabriken, zur Bekämpfung von Hunger, Kälte, Feuergefahr, Cholera, zur Hilfe für die skorbutkranken Kinder, zur Verdreifachung der Produktion. Majakowski war sich der historischen Bedeutung dieser Agitationskunst und ihres Dokumentarwerts wohl bewußt und bedauerte bereits 1923, daß die Plakate nicht sorgsam gesammelt wurden: „Dabei hätte man anhand dieser Plakate die Möglichkeit gehabt, Schritt für Schritt drei Jahre unserer Revolution, unseres Abwehrkampfes in Zeichnungen und Karikaturen zu studieren." 128 Für den Dichter Majakowski hatte die ROSTA-Arbeit noch eine ganz spezifische Bedeutung: Sie schulte seine Fähigkeit, ein historisch gewichtiges Thema am Material aus dem Alltagsleben abzuhandeln. Er kam ab von allegorischen Stoffen in der Art des Poems Hundertfünfzig Millionen und gewann eine neue Beziehung zum Wort. Die Suggestivkraft eines Satzes bzw. Satzgliedes stand im Vordergrund. Die syntaktischen Konstruktionen waren diesem Prinzip untergeordnet. Wortökonomie wurde zur Grundregel der Lexik. Die Einstellung auf den anderen Adressaten, den Plakatleser, erforderte die Abkehr von hochtrabenden Wörtern, vom gehobenen Stil der Ode, des Hymnus, des Mysteriumspiels zum Zwecke der Lobpreisung der Revolution. Diese Gedichtformen verschwinden zu dieser Zeit generell aus seiner Schreibpraxis. Hymnus und Märchen verwendet er lediglich in der parodistischen Umkehrung, um den Klassenfeind, so gefährlich er zu dieser Zeit auch noch war, dem Gespött der Leute preiszugeben und deutlich zu machen, daß er durchaus zu schlagen ist. Die direkte Anrede („Genossen!", „Rotarmist!", „Arbeiter!", „Bourgeoise Bürger!", „Ihr Werktätigen!", „Rotarmisten-Urlauber!") ist meist in die Aufruf- oder Frageform gekleidet. Es dominierte die Appellfunktion. Die alltäglichen Dinge gehen im ROSTA-Vers neue, ungewohnte Verbindungen ein. Dieser Vorgang ist mit der Besonderheit vergleichbar, die Viktor Schklowski in Lenins Sprache beobachtet hat: 57

„Der Alltag wird von Lenin angeführt, um ein Gegengift zur Phrase zu haben, mitunter wählte er absichtlich dafür ein begrenztes Thema: die Sauberkeit der Höfe und sogar das Ankleben von Bekanntmachungen . . . Wenn Lenin in seinem Werk Tatsachen aus dem Alltag aufnimmt, so 'standardisiert' er diesen Alltag nicht, sondern gebraucht ihn, um den Vergleichsmaßstab zu verändern. Er v e r g l e i c h t Großes mit Kleinem, er benutzt ein Beispiel geringster Größe, um das Wort vom Falsett herunterzuholen, um es aufzurütteln." 129 Es ist nicht auszuschließen, daß diese Feststellung auf einer Beobachtung des Dichters beruht, der bekanntlich die Studie sowie eine Reihe weiterer Untersuchungen dieser Art angeregt hat. Er hat Lenins Sprache sehr genau studiert, aus rein professionellen Gründen (u. a. ROSTA-Arbeit, Lenin-Gedichte und Poem) wie auch aus tagespolitischen Motiven. Bezogen auf die eigene Praxis sprach er von der organischen Verbindung „hochwertiger Publizistik" mit Dichtkunst. Gut und schön!, so glaubte er, war diesem Ziel sehr nahe gekommen, das er bereits 1924 in den „Jubiläumsversen" benannt und dann in der Autobiographie erläutert hat: „Knapperer Gebrauch der abstrakten poetischen Mittel (Hyperbel, vignettenartiger Einsatz des eigenwertigen Bildes) und Auffindung von Mitteln für die Verarbeitung zeitgeschichtlicher und propagandistischer Stoffe. Ironisches Pathos bei der Schilderung von Einzelheiten, die aber auch einen richtigen Schritt in kommende Zeiten eröffnen können ('Und kein Fliegenschwarm / macht die Butter käsig. / Ums Herz wird dir warm: / Alle Preise ermäßigt!')! Zwecks Auflockerung der Bildflächen: Einschub von Tatsachen unterschiedlicher Größenordnung, gerechtfertigt nur im Falle persönlicher Assoziationen (das Gespräch mit Alexander Block oder 'Das erzählte ein stiller Jude mir, / Pawel Iljitsch Lawut. . ,')." 130 Die genannten Probleme beschäftigten Majakowski viele Jahre. Ungewöhnliche Gegenüberstellungen und schroffe Wechsel scheinbar unvereinbarer Eindrücke bevorzugte er schon in seinen frühen Stadtgedichten. Diese scharfen Kontraste waren Ausdruck der auf Schockwirkung bedachten Kunstäußerungen der Kubofuturisten. Ihr antibürgerlicher Protest nahm bei ihm bald, wie bereits dargestellt, Züge eines bewußten sozialen Protestes gegen die bürgerliche Ordnung und Kultur an, trotz noch verbleibender Unverbindlichkeiten im politischen Tageskampf. Aber das rein Experimentelle überwog lange Zeit. Das Nebeneinander von offenem Affront und produktiver Herausforderung erklärte sich schon damals u. a. aus 58

seinem Kampf an mehreren Fronten. Der Adressatenwechsel erfolgte nicht in logischer, zeitlicher Abfolge. Fast gleichzeitig geschriebene Texte richteten sich an verschiedene Adressaten. Mal wandte sich Majakowski an die potentiellen Bundesgenossen Künstler, mal an seine Gegner von der Welt der Kunst, Anhänger der akademischen Schulen wie Alexander Benois, mal schlechthin an die Öffentlichkeit usw. usf. So erprobte er unterschiedliche Verfahren und Ausdrucksweisen, eine Praxis, die er nach der Oktoberrevolution weiterführte. Die zeichnerischen Arbeiten aus dieser Zeit bewegten sich im gleichen Umfeld. An der Moskauer Kunstausstellung 1915 beteiligte sich Majakowski mit einem Selbstbildnis. Ein halber Zylinder und ein schwarzer Handschuh waren an eine mit schwarzen Streifen bepinselte Wand angebracht. Die Zeichensprache war eindeutig: Das war der auf der Bühne auftrumpfende Dichter in Zylinder, gestreiftem Hemd und mit Handschuhen. Letztere symbolisierten den Fehdehandschuh, den er den Verteidigern des „gängigen Kunstgeschmacks", also einem bestimmten Künstlerkreis, hinwarf. Bereits 1913 lautete der Titel eines seiner Referate Der Handschuh.131 Und zur gleichen Zeit malte er seine ersten Volksbilderbogen für den Massengebrauch. Trotz unverkennbarer individueller Züge entwickelte er zu dieser Zeit noch keinen eigenen LubokTStil. Es blieb bei wenigen Versuchen. Aber der Bogen „Ach Sultan, wärst du doch zu Haus geblieben . . ."(1914),der in einer guten Reproduktion vorliegt,macht trotz der Schwächen in der Konzeption deutlich: „. . . Majakowskis Tätigkeit im Verlag Sewodnjaschni lubok' blieb für ihn nicht folgenlos. Hier wurde die Grundlage gelegt zu dem System jener farbkräftigen Lubok-Zeichnungen, mit Unterschriften versehen, die während der Revolutionsjahre in den ROSTA-Fenstern Majakowskis eine großartige Wiedergeburt erfuhren."132 An dieser Erneuerung des „lubok" nach der Oktoberrevolution hatte Majakowski großen Anteil. Im Vergleich zu dem erwähnten Bogen von 1914 sind seine Zeichnungen jetzt sparsamer im Detail, dafür dynamischer bei der Wiedergabe von in Bewegung umgesetzten Handlungsabläufen. Die Arbeit mit der Farbe ist expressiver. Die Flächen sind nicht mehr koloriert. Das erhöhte die Plastizität der gemalten Figuren, Gegenstände, Symbole. Majakowskis „Zeichnungen sind leuchtend, intensiv, lakonisch", betonte Michail Tscheremnych, „und gerade diese Eigenschaften brauchten die Fenster vor allen anderen"133. Der Freund sah in Majakowski in erster Linie den Plakatmaler, obwohl er schon damals Majakowskis 59

ungenügende Ausbildung im Zeichnen bemängelt hatte, und zwar einen Plakatmaler des besonderen Typs, der 1919/1920 kollektiv entwickelt wurde.134 Die Plakate waren nicht signiert, weder das Bild noch der Text. Letzterer stammte in der überwiegenden Mehrzahl von Majakowski. Er beeinflußte die Bildsprache des gesamten Kollektivs. Tonfall und Rhythmus des Textes, jeweils die besondere Form der Anrede (Ruf, Appell), die Bewertung der Tagesereignisse u. ä. waren künstlerische Vorgaben für die Auswahl der bildnerischen Elemente. Sie bestimmten weitgehend die Wirkungsabsicht eines Plakats und damit die gesamte graphische Gestaltung. Alexander Deineka malte 1919 bis 1920 in der Provinz ROSTA-Fenster nach Majakowski-Texten. Später bekannte er, diese Arbeit habe ein künstlerisches Umdenken erfordert und sei für junge Künstler wie ihn selbst folgenreich gewesen. Der schlagkräftige und knappe Vers habe eine ebenso treffende und verknappte zeichnerische Lösung verlangt. „So entstand eine neue Ästhetik"135, faßte er die eigenen Erfahrungen zusammen. Das Neue lag weder ausschließlich beim Text noch ausschließlich beim Bild. Es ergab sich aus dem Synkretismus der ROSTA-Fenster, aus der organischen Verbindung von Text und Bild auf der Grundlage eines neuen Konzepts von der Funktion des Plakats und seiner Wirkung, die entscheidend davon abhängt, ob es auch als Blickfang funktioniert. Majakowski bereicherte diese Überlegungen durch konstruktive Angebote. Er knüpfte nicht nur an die Experimente der Kubofuturistenzeit an, sondern vor allem an Arbeiten aus allerjüngster Zeit. Die Verse zu Zeichnungen von Ksenija Boguslawskaja, Wladimir Koslinski, Sergej Maklezow und Iwan Puni, die zum ersten Jahrestag der Oktoberrevolution unter dem Titel He/den und Opfer der Revolution herausgegeben wurden, hatte er verfaßt, und noch nach Jahren zählte er sie zu den Anfängen des revolutionären Plakats, insbesondere zu den Quellen der satirischen „Schaufenster" der ROSTA.136 (Es konnte leider nicht ermittelt werden, wer diese Mappe beschrifteter Plakate angeregt hat und ob die Texte tatsächlich nach den Zeichnungen entstanden sind oder vielleicht nicht doch umgekehrt.137) Die Rotarmistenfibel Das sowjetische ABC hatte zu den ROSTAPlakaten bereits eine direkte Beziehung. Majakowski hatte sie im September 1919, also noch vor der Zusammenarbeit mit Tscheremnych, geschrieben und die Zeichnungen zu jedem Buchstaben des Alphabets selbst lithographiert. Dieses kleine anonym erschienene 60

Büchlein133 war das einzige Gepäck, das er in die Telegraphenagentur mitbrachte und das sich auch schon bald als nützlich erweisen sollte. Zweizeiler zu einzelnen Buchstaben wurden in die ersten ROS TA-Fenster eingebaut. Sie belebten nicht schlechthin die anfangs nach dem Muster einer illustrierten Zeitungsseite gestalteten Plakate. Die verknappte Sprache des mit Kontrastwirkung arbeitenden politischen Epigramms, die bildhafte Ausdrucksweise, durchsetzt mit Kraftwörtern, und schließlich die ironische Intonation können durchaus als eine Art Modell der künftigen ROSTA-Verse bezeichnet werden. Die vom Autor erwähnte parodistische Ebene er parodierte einen „pornographisch angehauchten" alten Fibeltyp werden selbst Zeitgenossen kaum entschlüsselt haben. Für Majakowski war sie aber als polemischer Abstoßpunkt und Gegenpol ungemein wichtig, wie er überhaupt, trotz des Beharrens auf dem unmittlbaren Gebrauchswert eines literarischen Textes, sich nicht nur an seinen eigentlichen Adressaten, den Massenleser, wandte, sondern stets noch an einen „literarischen" Adressaten. Bei allem, was er als Künstler tat, bewegte er sich mit prononcierter Schärfe und hoher ästhetischer Bewußtheit in der Kunstlandschaft seiner Zeit. Das trifft in besonderem Maße auch auf seine ROSTA-Fenster zu. „Es war dies eine Umbruchperiode, zutiefst fruchtbar in schöpferischer Hinsicht", schlußfolgerte Viktor Duwakin. „Die Tätigkeit in der ROSTA half Majakowski, viele wichtige und brennend aktuelle Probleme der Kunst neu aufzuwerfen und für sich zu lösen."139 Die Lösungswege waren zunächst in einer ganz bestimmten Richtung vorprogrammiert, denn das Plakat wirkt bekanntlich in der Reihenfolge Bild, Linie, Text,d. h. in umgekehrter Reihenfolge wie ein Buch, anders auch als die erwähnte Rotarmistenfibel, in der die Zeichnung aus der Vignette heraus entwickelt war und den Text eigentlich nur untermalte. Duwakin hebt hervor, im Sowjetischen ABC habe Majakowski die gegenseitige Durchdringung von Bild und Text verwirklicht, auf welcher die ROSTA-Fenster beruhen.1,50 Aber es ist doch nur eine Vorstufe, denn ein synkretisches Bild entsteht erst jetzt. Der Plakatmaler Majakowski nutzt die bildnerischen Elemente, um die Wirkung der von überflüssigen Metaphern gereinigten verbalen Ausdrucksformen zu steigern, wobei die bildhaften Merkmale überwiegen. Die porträthaften Züge treten zurück. Viele seiner Figuren haben Zeichencharakter. Oft sind nur einzelne Details überdimensional ausgeführt (die Faust, der Hammer), aber stets doch so konkret, daß der Betrachter des Plakats sie schon vom Bild her sozial 61

bestimmen und bewerten kann: „Die Figur des Arbeiters mit der gebieterischen Geste sieht der Passant, das heißt der Betrachter der FENSTER, von weitem, noch bevor er die dazu gehörenden Zeichen 'He!4, 'Genossen!', 'Herhören!' oder einen anderen Aufruf entziffern kann. Während die Zeichnung die expressive Intonation des verbalen Ausdrucks vorwegnimmt, wird sie, die expressive Intonation, dadurch noch fühlbarer, gewichtiger. Diese synkretische Einheit, die gegenseitige Unterstützung von Geste und Intonation, ist sowohl vom verallgemeinerten Bild des Arbeiters wie auch von der Gestalt des Dichters selbst untrennbar. Majakowski zeichnet gleichsam seine eigne Stimme als Tribun, die Stimme des 'Agitators, Ausrufers, Anführers', er personifiziert sie in der Zeichnung."141 Eine besondere Funktion hatte die Farbe. Rot hatte „nicht nur eine emotional-symbolische, sondern auch eine logisch klare ideographische Bedeutung"142. In kräftigem Rot gemalt sind die Gestalten der Arbeiter und Rotarmisten - der Arbeiter häufig als eckige, mitunter fast quadratisch wirkende Silhouette - , aber je nach dem Bedeutungshintergrund auch ein Fabrikgebäude, eine Wandzeitung, eine Fahne. Der Umgang mit Rot und Schwarz erinnert an Lissitzkys Arbeiten aus jener Zeit, an das 1920 in Witebsk „konstruierte", aber erst 1922 erschienene Kinderbuch Von zwei Quadraten143 wie auch an die graphische Gestaltung des Majakowski-Buches Für die Stimme (1922), das dreizehn zum Vortragen bestimmte Gedichte enthielt. Lissitzky schöpfte in genialer Weise die Möglichkeiten des Zweifarbendrucks in Schwarz und Rot aus (Überlagerungen, Schraffurenkreuzungen) und schuf mit Hilfe einiger Wörter, die mitunter auch verkürzt sind, Ideogramme zu den einzelnen Gedichten. Die Zeichenschrift der Registerstichwörter (Kreise, Quadrate, Rechtecke, Satzzeichen) sind originelle Kombinationen der vier Elemente der Buchstaben: Waagerechte, Senkrechte, Schiefe, Bogen. Die in Rot und Schwarz ausgeführten graphischen Darstellungen waren ausschließlich mit Zeichen aus dem Setzkasten gesetzt und nicht lithographiert. Die Farben haben eine ähnliche allegorische Bedeutung wie in Majakowskis ROSTA-Plakaten, also keine musikalische wie in der symbolistischen Poetik. „Meine Seiten stehen zu den Gedichten etwa in ähnlichem Verhältnis wie das die Geige begleitende Klavier", erläuterte Lissitzky sein Verfahren. „So wie bei dem Dichter aus dem Gedanken und aus dem Laut das Einheitsgebilde, das Gedicht, entsteht, so wollte ich eine gleichwertige Einheit aus dem Gedicht und den Elementen der Typographie schaffen."144 62

Majakowski war von dieser „Konstruktion" fasziniert, von der „außergewöhnlichen" Technik graphischer Kunst.145 Sie entsprach seiner Vorstellung, wie Kunst in alle Lebenssphären eindringt und der Künstler auf diese Weise immer neue Möglichkeiten entdeckt. Ziel und Richtung der „Plakat-Attacken" ordnete Majakowski der tagespolitischen Agitation und Propaganda unter. Aber nicht ausschließlich. Daher die jahrelange Kontroverse mit Polonski und die bissig scharfe Zurückweisung des Buches über das revolutionäre Plakat.146 Der Dichter und Plakatmaler verstand die ROSTA-Erfahrungen als Ausdruck eines neuen Kunstbewußtseins. Der Zusammenschluß von revolutionärer Lebenspraxis und revolutionärer Kunstpraxis hatte für ihn auch einen kunstpragmatischen Aspekt: Ökonomie und Zweckmäßigkeit statt Schönheit,147 eine von überflüssigem Beiwerk gereinigte verbale und bildnerische Sprache statt Kunstübungen im Stile der alten Hellenen oder Verkitschungen musealer Marmorschönheit. Anerkennung der in dieser Richtung geleisteten Wortarbeit forderte er 1930, Anerkennung der jahrelangen Bemühungen, die „Sprache vom poetischen Drumherum zu säubern und zwar in einem Stoffkreis, der keinen Wortschwall zuläßt", und vor allem Anerkennung der funktionalen Seite der ROSTA-Arbeit: „. . . wir revolutionierten damit auch den Kunstgeschmack, erhöhten die Qualifikation der Plakatkunst und der agitatorischen Fertigkeit." 148 Aber war das 1930 wirklich eine „Fortschreibung" des Programms von einem Jahrzehnt zuvor? 149 Das Aufgebot der ROSTA-Erfahrungen in den aktuellen Kunstdebatten läßt sich über mehrere Jahre hinweg verfolgen. Der häufige Verweis in Gedicht, publizistischem Text und öffentlicher Rede war keine Floskel oder gar rhetorische Redensart. Er war ein wichtiges Argument zur Verteidigung des eigenen Kunstkonzepts, das sich nicht allein durch Politisierung und den Bezug auf die Millionen neuer Leser auszeichnete, sondern durch die beispiellose Konsequenz, mit der er die Verschmelzung von Lebenspraxis und Kunstausübung durchsetzen wollte. Die weiteren experimentellen Versuche nach dem Muster der ROSTA-Fenster mit Werbe- und Reklametexten führten ihn an einen Endpunkt. Vom Aspekt der in dieser Richtung vorangetriebenen Kunstarbeit war das ROSTA-Plakat in seinen Augen der wichtigste Aktivposten. Nicht jedem Agitationsplakat gestand er das Recht zu, als agitatorische Kunstform anerkannt zu werden, wie die erwähnte Polemik mit Polonski beweist. Dem kollektiv geschaffenen ROSTA-Plakat lag durch die synkretische Einheit 63

von Bild und Text ein ästhetisches Kommunikationsschema zugrunde - ein Begriff, den Majakowski nie benutzt hat, der aber sein Anliegen genau beschreibt, denn das entscheidende Kriterium einer künstlerischen Leistung war für ihn die Wirkung auf den Massenleser bzw. -betrachter. Die noch verbreitete Auffassung, seine Agitationsdichtung werde durch die lyrische Beziehung des Dichters zu seinem Stoff auf das „ N i v e a u großer K u n s t " gehoben, 1 5 0 widerspricht folglich Majakowskis Literaturbegriff. Seine Kunstanstrengungen bedürfen nicht einer derartigen Legitimierung, die aus den Hochphasen jahrtausendealter künstlerischer Betätigung des Menschen abgeleitet ist. Sie wird weder seinem subjektiven Kunstverständnis noch seiner Neuleistung als Dichter der Revolutionsepoche gerecht. D a s verdeutlicht allein schon die Arbeit an den ROSTA-Fenstern. Anfang der zwanziger Jahre stellte Majakowski die FormelDebatten fast völlig ein. Die manuelle Plakatfabrikation band alle Kraft. In dem Gedicht Seltsames Abenteuer Wladimir Majakowskis sommers auf dem Lande (1920), der genialen parodistischen Umkehr von Puschkins kleiner Tragödie Der steinerne Gast, attackierte der Dichter die Sonne mit ketzerhafter Stimme: „Taugenichts- / im Bett aus Wolkenwatte!/ Mal' m a l / i m Schweiße des Angesichts / jahraus jahrein Plakate!" 1 5 1 Und als Rechtfertigung für den dreisten T o n lenkt er dann im Zwiegespräch mit der v o m Himmel herabgestiegenen Sonne ein und versucht zu erklären, „wie erbost / die Rosta-Arbeit machte . . , " 1 5 2 Sonne und Dichter kommen schließlich überein: „ . . . laß uns zu zwein / die graue Welt belichten. / Ich lege los / mit meinem S c h e i n , / u n d du halt - / m i t Gedichten." 1 5 3 Licht und Gedicht wollen das gleiche: W e l t a u s l e u c h t e n . Die Jubiläumsverse (1924) - „Ich / bin jetzt / frei / von Liebe / und Plakaten . . . " 1 5 4 - benennen den Kern des verhandelten ästhetischen Problems unverblümt: Puschkins Siegeshymne ( Poltawa ), Liebesroman ( Eugen Onegiri) und „Klapper"jambus (der vielgerühmte Oneginsche Vers) taugten nicht zum Schreiben über die Schlachten der Revolution und die veränderten Beziehungen zwischen den Menschen. „Heugabelzinke" und „Bajonett" seien die Schreibfedern der Jetztzeit. D o c h ihm, Puschkin, könne man Agitationsverse, selbst Reklametexte, ruhig anvertraun, denn er könne „Sätze baun". E r sei ein wirklicher Dichter gewesen und obendrein als Mensch ein Draufgänger und Tollkopf, beteuert der Avantgardist seinem V o r fahren. Eine unverhoffte Liebeserklärung für Puschkin? Oder gar der Versuch, aus dem Widerspruch zwischen Dichtung und Nicht64

Dichtung herauszukommen, den Majakowski, an Puschkin gewandt, zur Sprache bringt: „Nur Dichter,/sehen Sie,/sind leider nicht vorhanden; / indes - / vielleicht / sind sie auch gar nicht nötig." 155 Begriff nun Majakowski diesen Widerspruch tatsächlich als einen Konflikt der eigenen Arbeitsweise, wie auch Lunatscharski später annahm? Oder hielt er nicht beides doch für vereinbar, das Ausdrücken der eigenen Individualität im Gedicht („Man sagt,/ich sei thematisch sehr p-e-r-s-ö-n-l-i-c-h!"156) und die im Tagesbefehl Nr. 2 an die Kunstarmee 1921 formulierte Grundsatzerklärung: „Euch tu ich kund egal, ob ich genial bin oder nicht-genial : ich habe den Nippsachen Adieu gesagt, mich hinein ins ,Rosta'-Milieu gewagt. Ich sage euch, bevor man euch mit Gewehrkolben jagt: ,Laßt es sein!' Macht Schluß! Vergeßt! Pfeift drauf! Keine Reime noch Arien, keine rosa Rosarien noch sonstigen Ramsch aus den Kunst-Arsenalen! Wen interessiert noch das schwärmerische Blech bitter-süßlicher Herzensqualen? nebst tränenseligem Liebespech? Meister brauchen wir, Ausbesserer, Entschädiger und keineswegs langhaarige Prediger!" 157 Die genannten Fragen lassen sich nicht pauschal beantworten. Majakowski hat jedenfalls für sich persönlich den kunstpraktischen Nutzen der ROSTA-Zeit nicht überschätzt, den Übergang von der großteils 5

Thun; Autor. Lesee

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noch individuellen „Zaunliteratur" und „Straßenmalerei" zur kollektiv betriebenen Plakatherstellung in der Verbindung von Bild und Text. D i e tagtägliche Hinwendung zu den konkreten Einzelheiten der außerordentlich komplizierten Lebensumstände in den Jahren des Bürgerkrieges und ganz zu Anfang der N Ö P veränderte nicht nur seinen Literaturbegriff und sein Funktionsverständnis von revolutionärer K u n s t schlechthin. Sie schulte auch seine Fähigkeit, a g i t a t o r i s c h e Kunstmittel auch zur Behandlung von Erscheinungen und Problemen aus dem Produktionsalltag einzusetzen. Dieses Phänomen aus der Anfangszeit sozialistischer Literaturentwicklung ist in zweifacher Hinsicht beachtenswert. Die geschichtlich neue Beziehung des Fabrikarbeiters zu seinem Arbeitsprodukt als seinem Eigentum wird nicht einfach nur gepriesen, nicht einmal als neues Bewußtsein schon vorausgesetzt. Die Einheit von verbaler und bildnerischer Plakatsprache soll dieses neuartige Verhältnis dem Betrachter überhaupt erst bewußt machen, mitunter sogar auf recht drastische Weise. U n d gleichzeitig verweist das Plakat auf die Pflichten und die Verantwortung, die sich für den einzelnen aus dieser neuen Beziehung und veränderten sozialen L a g e ergeben. So wurden die häufig gebrauchte direkte Anrede und die bereits besprochene Appellfunktion, Mittel der politischen Agitation und Propaganda schlechthin, als agitatorisches K u n s t mittel entdeckt. Diese Leistung spielte in der aktuellen Kunstdebatte kaum eine Rolle. Für Majakowski indessen war sie ein Wendepunkt oder anders ausgedrückt: die Grunderfahrung, um mit seinem neuen Publikum ins Gespräch zu kommen. Sie dokumentiert den in dieser Zeit vollzogenen Adressatenwechsel, das Schreiben für die „Millionen". Die Feststellung, daß die Plakat-Attacken der Jahre 1919 bis 1922 auch einen rein kunsttechnischen Aspekt hatten, bedarf noch einer Präzisierung. Die Doppelfunktionalität, von der schon die Rede war, d. h. die Zweiseitigkeit der literarischen Tätigkeit Majakowskis, gerichtet auf die revolutionäre Veränderung seiner Leserschaft und zu gleicher Zeit auf die praktische Verwirklichung des von ihm verteidigten avantgardistischen Kunstkonzepts, erklärt die Fortsetzung der Arbeit seit 1922 / 1923 in zweierlei Richtung: Eingriff in die revolutionäre Praxis und Eingriff in die Kunstentwicklung. Die in der futuristischen Frühzeit bis ins Extreme gesteigerte Deästhetisierung der Künste - Literatur als „Bürgerschreck", das ausgestellte Selbstbildnis von 1915 - nimmt jetzt Alltagsgestalt an. Analog zu den neuen Tendenzen in der angewandten Kunst (Gebrauchsgraphik,

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Design, Druckgraphik, Buchgestaltung, Kunstgewerbe u. ä.) befaßt sich Majakowski mit „angewandter" Dichtkunst: politische Losung, Reklamevers. Die entsprechende provokante Passage aus der Autobiographie, ein gutgemachter Reklamevers wie „Käufer komm / zum 'Mosselprom'!" sei auch „Dichtung höchsten Gütegrades" 158 , wurde von der Kritik schroff zurückgewiesen. Dabei war bei Majakowski nirgends die Rede davon, daß er Dichtkunst auf Reklame reduzieren wolle. Der Reklamevers hatte seiner Auffassung nach außer seiner unmittelbar zweckgebundenen auch eine geschmackbildende Funktion, die von den Künstlern wahrgenommen werden müsse und nicht Scharlatanen überlassen werden dürfe. Seine späteren Textentwürfe für Bonbonpapiere waren u. a. als Gegenmittel gegen die Abbildung der griechischen Venusfigur auf Einwickelpapier konzipiert. Die Reklame sollte dem Griff rein kommerzieller Zwecke entzogen werden, dem sie im Kapitalismus ausgeliefert ist, und wie alle Gegenstände, die den Menschen umgeben, dem einen großen Ziel untergeordnet sein: Identität von Kunst und Leben in allen Bereichen des Alltags, d. h. Organisierung des gesamten Lebens nicht nach den Gesetzen der Schönheit im Sinne der klassischen Ästhetik, sondern nach sozialer Zweckmäßigkeit und nach Ökonomie im Umgang mit dem Material. Das war eine Umstülpung des an klassischer Kunst geschulten Schönheitsideals. Und obendrein war diese literarische „Kleinkunst" in Majakowskis Selbstverständnis eine notwendige Werkstattarbeit, eine Art Fingerübung zur Verbesserung des eigenen Handwerks,159 zumal er vor einem neuen Problem stand. Die schon mehrfach erwähnte synkretistische Einheit von Bild und Text der ROSTA-Plakate ging in dem Moment verloren, da er wieder allein als Versemacher arbeitete. Die graphische Gestaltung seiner Bücher durch Lissitzky bzw. Rodtschenko160 war gewissermaßen eine Zutat zum fertigen Text, Illustration im besten Wortsinn. Die Neuheit lag in originellen buchgraphischen Lösungen, die die Effektivität des Lektürevorgangs steigerten. Auf die Text„konstruktion" hatten sie keinen Einfluß. Als Dichter empfand daher Majakowski stärker denn je zuvor den Druck, die Wirkungskraft des Wortes zu erhöhen. Theoretische Fragestellungen drängten sich automatisch wieder mehr in den Vordergrund. Der Brief über den Futurismus vom 1. September 1922 war ein erstes Anzeichen. Außer der allgemeinen Kunstund Kulturszene beunruhigten die eigenen ungelösten schöpferischen Probleme. Die großen Hoffnungen, die er in diesem Zusammenhang an die 1923 neugegründete Zeitschrift Lef band, erfüllten sich nur 5*

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partiell. Die Polemik spitzte sich wieder zu, auch mit Lunatscharski. Die experimentellen Überlegungen darüber, wie das Dichterwort stärker auf den Leser wirkt, fanden wenig Gehör.

Kunst

kontra

Kunstkon^ept?

Im Großen Saal des Moskauer Konservatoriums fand am 3. Juli 1923 unter Lunatscharskis Leitung ein öffentlicher Disput über das Thema Lef und Marxismus statt. Gekommen waren zweitausend Leute. Majakowski war abwesend. Er hatte seinen Sommerurlaub begonnen und war am gleichen Tag nach Königsberg geflogen. Ein Zufall? Vermutlich nicht. Ossip Brik und Sergej Tretjakow - letzterer anstelle des erkrankten Boris Arwatow - erläuterten das Programm und die Aufgaben der Zeitschrift. Nikolai Mestscherjakow vom Staatsverlag, Semjon Rodow und Leopold Awerbach von der Zeitschrift Na postu, ein Vertreter der antireligiösen Gesellschaft und ein Arbeiter traten als Opponenten auf. Lunatscharski hielt das Schlußwort. Das Streitgespräch uferte aus. Lunatscharski stellte erstaunt fest, deutlicher denn je zuvor sei sichtbar geworden, daß es selbst unter den Marxisten und Kommunisten ernsthafte Meinungsverschiedenheiten über die Grundfragen der Kultur und Kunst in der neuen Gesellschaft gibt. 161 Seine Haupteinwände gegen die ersten Lef-Hefte faßte er in den Satz: „Nicht in der Definition der Kunst liegt die Stärke des Lef . . ." 162 und griff von dieser Position das Programm der Zeitschrift an. Er äußerte sich nicht zu den veröffentlichten literarischen Texten von Majakowski, Assejew, Pasternak, Babel u. a., die anscheinend von ihm durchaus akzeptiert wurden. Er machte nur eine Ausnahme. Tschushak warf er Inkonsequenz vor, weil er eine belanglose Erzählung Briks einiger Todsünden bezichtigt hatte, die einem Lef-Mznn. nicht unterlaufen dürften: „erotischer Kult der Frau", „aufgebauschte bürgerliche Erotik" u. dgl. mehr. Aber, so fragte Lunatscharski, hätte nicht Tschushak mit genau denselben Argumenten erst recht Majakowskis Poem Das bewußte Thema kritisieren müssen, das gleich in der ersten Nummer abgedruckt war? „Im gesamten Vorwort", fuhr Lunatscharski fort, „ist die Rede davon, daß man machtlos ist, wenn die Liebe einen Menschen überfällt. [Das Poem] Das bewußte Thema ist mit einer hypertrophierten Aufrichtigkeit geschrieben, die mal in einen romanzenhaften Ton verfällt, mal in innere Beklemmungen, die sich in Stoßgebeten und Zukunfts68

beschwörungen äußern. Und nur ab und zu dringt Satire durch, die selbst nach dem Futuristenkodex erlaubt ist. Das gesamte Werk Majakowskis ist ein sentimentales Poem mit großartigen Reminiszenzen an Puschkin, an das Schicksal des Dichters, der vor der Pistolenmündung eines d'Anthes stand." 163 Ohne die futuristischen Reste, „die extreme Manieriertheit im Wortgebrauch", wäre das eine große Dichtung. Die Beantwortung der Frage, ob diese aus heutiger Sicht als „subjektiv", „einseitig" bezeichnete Wertung 164 Lunatscharski lediglich im Zuge der Kritik am Lef unterlaufen ist, führt zum Ausgangspunkt zurück, zur Klärung der Kontroverse zwischen dem Volkskommissar und dem Dichter. Lunatscharski war unter dem unmittelbaren Eindruck der Lesung des Poems in Majakowskis Wohnung von der lyrischen Ausdruckskraft der Dichtung sehr angetan gewesen. 165 Die These vom Doppelgänger in Majakowski selbst, vom Agitator und Lyriker in einer Person, entwickelte er erst nach dem Tod des Dichters. 166 1923 stellte er Das bewußte Thema mehrfach als eine bedeutende neue literarische Erscheinung heraus. Sogar in dem in den Iswestija am 11. April veröffentlichten Artikel Über A. N. Ostrowski und aus seinem Anlaß, der die vielumstrittene Forderung „Zurück zu Ostrowski" enthielt, nahm das Poem insofern eine Schlüsselstellung ein, da es als eines der wenigen Musterbeispiele für die in der Kunst erforderliche „Ausarbeitung einer neuen Ethik unter den Qualen eines zitternden Herzens"167 genannt wird. Lunatscharski schätzte es vor allem als lyrische Dichtung und auf Grund des aus dem Alltag geschöpften Beziehungsreichtums Mensch-,,byt". Das bedeutete die Anerkennung im Rahmen seines Realismuskonzepts, das sich in einigen Grundfragen ganz erheblich vom Programm des Lef unterschied. An die Adresse Tschushaks gewandt, benannte er daher die Divergenz, die futuristischen „Reste". Majakowskis Freunde betrachteten deshalb das Lob allenfalls als einen Pyrrhussieg. Der von Majakowski formulierte Anspruch auf die Rolle der „künstlerischen Avantgarde Rußlands und der Welt" 168 beruhte auf einem Konzept, das mit Lunatscharskis Kunstvorstellungen nicht übereinstimmte. Der scharfblickende Volkskommissar war aus diesem Grunde aufrichtig besorgt, daß das Avantgarde-Konzept mit der kulturpolitischen Grundorientierung im Zuge der eingeleiteten Kulturrevolution in Konflikt gerät. Die kulturelle Entwicklung verlief im Sowjetland Anfang der 69

zwanziger Jahre weitaus langsamer und widersprüchlicher, als theoretisch angenommen wurde. Das betraf nicht nur das Entstehen neuer Bedürfnisse innerhalb der Volksmassen. Die Bedürfnisse selbst schwankten und waren äußerst differenziert. Die Hemmnisse sowohl geistiger als auch rein materieller Natur ergaben sich aus den Folgen des Bürgerkriegs und der ausländischen Intervention. In dem für den Manchester Guardian geschriebenen Artikel Die Kultur in der RSFSR gab Lunatscharski eine ungeschminkte Einschätzung der Schwierigkeiten, die mit Lenins nüchterner Analyse der kulturellen Lage Ende 1922, Anfang 1923 übereinstimmte.169 Die von ihm angeführten Fakten belegen das Mißverhältnis zwischen den bereits geweckten neuen kulturellen Bedürfnissen und den finanziellen Mitteln, die der Staat zur Lösung der dringendsten Kulturaufgaben im Lande zur Verfügung hatte. In der „heroischen Revolutionszeit" ohne detaillierten Staatsplan waren, trotz tiefster Armut und in Unkenntnis der tatsächlich vorhandenen Ressourcen, der Kultur und somit den Künsten Mittel in einem so hohen Umfang zur Verfügung gestellt worden wie nie zuvor in der russischen Geschichte. Diese Situation hatte sich von Grund auf verändert. Die finanziellen Zuführungen für alle dem Volkskommissariat für Bildungswesen unterstellten Bereiche waren auf ein solches Minimum zurückgefallen, daß die ideologische Einflußnahme des Staates auf die Programmgestaltung der Kultureinrichtungen über die materiellen Hebel ernsthaft gefährdet war. Im Rahmen der Neuen ökonomischen Politik flössen wieder finanzielle Zuschüsse in kulturelle Einrichtungen, deren Tätigkeit fast völlig zum Erliegen gekommen war. Die Künste erlebten einen neuen Aufschwung. Aber es gab auch empfindliche Einbußen. Durch die wieder zugelassenen privaten Verlage stieg erneut der Anteil an ideologisch unverbindlicher Buchproduktion. Die nach wie vor geringe Anzahl lesender Arbeiter und Bauern wurde ungenügend mit neuer Literatur über ihre eigenen Lebensprobleme versorgt. Der Staat büßte weitgehend wieder seine ökonomische Macht über die Theater ein. Das zahlungskräftigste Publikum, NÖP-Leute, füllte die Säle, und die Theaterleitungen paßten sich schon mit wenigen Ausnahmen seinem kleinbürgerlichen Geschmack an. Lunatscharski schätzte nüchtern ein: „Wenn wir die Kunst als Ware an denjenigen verkaufen, der sie sich kaufen kann, so können wir schon im voraus sagen, daß wir unsere kulturelle Mission nicht voll erfüllen, ja nicht einmal zu einem Zehntel. . .'*170 70

Die teilweise Rückkehr der Verkehrsformen zwischen Künstler (Autor) und Publikum (Leser) zum privaten Markt, d. h. zu bürgerlichen Verkehrsformen, löste bei Lunatscharski die Befürchtung aus, die verbreitete „NÖP-Mann-Strömung" könne, noch begünstigt durch oberflächliche revolutionäre Losungen, die Jugend erfassen. Er sah die Verschärfung des ideologischen Kampfes und die Notwendigkeit, andere Möglichkeiten der Einwirkung auf die Ideologie der Volksmassen stärker zu nutzen. Er propagierte das Leninsche Programm der Kulturrevolution als ein wirksames Aktionsprogramm, um auf allen künstlerischen Gebieten das entstandene Mißverhältnis zwischen Wirkungsabsichten und Wirkungsmöglichkeiten zu überwinden, und wandte den Realismusbegriff, den er bereits vor der Revolution in der tagtäglichen kulturellen Aufklärungsarbeit unter revolutionär gesinnten russischen Arbeitern und Intellektuellen entwickelt hatte, auf die kulturpolitischen Erfordernisse der Gegenwart an. Von dieser Position attackierte er die Thesen der Lef-Leute (an Majakowski knüpfte er gesonderte Erwartungen): „Vom Sujet gelangten sie (die Futuristen - N. T.) zur Sujetlosigkeit und anschließend zur transrationalen Form. Man erklärte ganz eindeutig: jedes Sujet ist ein Minus; daher die transrationale Redeweise, die den Genossen noch immer anhängt. Und jetzt gibt es ein neues Extrem, wiederum ein künstlich erzeugtes: 'nicht zeichnen, sondern photographieren, nicht erschaffen, sondern protokollieren'. Wozu diese Übertreibung? Hier zeigt sich der völlige Mangel an innerer ideell-emotionaler schöpferischer Tätigkeit. 'Will man, daß ich frei bin, so gebe ich Form ohne Inhalt' oder umgekehrt: 'so gebe ich jeden beliebigen Inhalt ohne irgendeine Form'." 171 Die Inhalt-Form-Beziehung wurde zur Gretchenfrage. Lunatscharskis Auffassung, die ideologische „Erziehungs"aufgabe der Kunst Organisation der Gefühle und Gedanken der neuen Klasse - werde über den Inhalt verwirklicht, widersprach der am genauesten von Tretjakow formulierten These: anstatt Trennung und Gegenüberstellung der Begriffe „Form" und „Inhalt" Entwicklung der Lehre von den Bearbeitungsweisen des Materials zwecks Schaffung eines nützlichen Gegenstands sowie von der Bestimmung dieses Gegenstands und seinen Aneignungsweisen. An die Stelle des üblichen Begriffs „Inhalt" wurde der Begriff „Bestimmung" gesetzt. „Inhalt" wurde als „sozial nützliche Handlung" definiert, die der kollektiv „konsumierte" Gegenstand auslöst.172 Die Bewertungsmaßstäbe 71

von Kunstwerken wurden dementsprechend unterschiedlich, von der ideellen Aussage bzw. vom Gebrauchswert her, definiert. Viele polemische Spitzen der auf den Seiten des Lef geführten Verteidigung einer „neuen Ästhetik" richteten sich zweifellos gegen Lunatscharski, obwohl er namentlich nicht genannt ist. Der Vorwurf des „Passeismus" war sicherlich auch an seine Adresse gerichtet, ebenso Majakowskis Angriff „gegen jene, die aus Unwissen, weil sie bloß auf Realpolitik spezialisiert sind, gewisse von den Urgroßmüttern überkommene Tradition für den Willen des Volkes ausgeben" 173 , obwohl mit dieser Einschätzung Lunatscharskis Kunstprogramm vergröbert wurde. Majakowski lenkte später in der Erbefrage ein, aber der kommunikative Ansatz seiner Kunstkonzeption blieb unverändert. Dies war eine andere Sicht auf die Regelung der Verkehrsformen zwischen Autor und Leser, die Sicht eines „Produzenten" von Literatur, der seine Adressaten beunruhigen wollte, loslösen von überkommenen Kanons, Vorstellungen und eingebildeten absoluten Werten in allen künstlerischen Bereichen. Revolutionierung der Kunst war für ihn gleichbedeutend mit Schaffung des neuen Menschen. Kunst wurde auf diese Weise als Produktionsmittel im Prozeß der Produktion des neuen Menschen begriffen. 174 Die Einführung politökonomischer Begriffe in die „neue Ästhetik" kann nicht einfach von Arwatows Theorie der Produktionskunst abgeleitet werden, obwohl eine Verbindung durchaus gegeben war, und schon gar nicht von der vulgarisierenden Gleichstellung des Produktionsarbeiters mit dem proletarischen Künstler, die in den Proletkulturorganisationen propagiert wurde. Majakowski kämpfte um Anerkennung der künstlerischen Arbeit Seite an Seite mit der die materiellen Werte schaffenden Arbeiterklasse - sowohl vom Standpunkt des Produktionsprozesses als auch vom Standpunkt der sozialen Nützlichkeit des Produkts. Die manuelle Arbeit für die ROSTA-Fenster gab ihm - davon war er fest überzeugt - das Recht, Dichtkunst mit der verarbeitenden Industrie zu vergleichen. Lunatscharski indessen lehnte diesen Vergleich kategorisch ab. Er betrachtete solche Formulierungen als eine Unterschätzung der Spezifik der Literatur wie ihrer besonderen Funktion im gesellschaftlichen Leben. Er unterschätzte offenbar die politische Stoßrichtung der Übertragung von Begriffen aus der Arbeitswelt auf die Kunstwelt in den zugespitzten Klassenkämpfen der Revolutionszeit. Majakowskis laut artikuliertes Bekenntnis zur Dichterarbeit als Produktion gesellschaftlich nützlicher Werte war ein Bekenntnis zur 72

Diktatur des Proletariats. Und in diesem Sinne war die Gleichstellung von Kunstarbeiter und Produktionsarbeiter zugleich eine Art ideologische Wasserscheide zwischen den linken und den rechten Künstlern, zwischen dem Bruch mit dem veralteten bürgerlichen Kunstbetrieb und seiner Konservierung. Majakowskis wachsende politische Bewußtheit in den politischen Tageskämpfen zog Anfang der zwanziger Jahre die Bereitschaft nach sich, die alten Gepflogenheiten künstlerischer Betätigung - die als Bürgerschreck maskierten Kunstrevolten - endgültig zu verabschieden. Den Anspruch auf die Führungsrolle des Lef-Konzepts in der Kunstentwicklung Sowjetrußlands erhielt er jedoch weiterhin aufrecht und lieferte dadurch ständig neuen Zündstoff in die öffentlichen Debatten. Lunatscharski hat die innere Konsequenz dieser auf die neue Kunstentwicklung bezogenen öffentlichen Erklärungen erst später richtig verstanden: „Majakowski tat alles, was in seinen Kräften stand, um dem Menschen der Zukunft den Weg zu bereiten. Das war der Ausgangspunkt. . . . Man sagt, Majakowski hat sich vulgäre, zu alltägliche, kleine, feuilletonistische und dergleichen Themen ausgesucht. Zwar wählte er nicht immer kleine und alltägliche Themen: manchmal (sehr oft sogar) wählte er grandiose. Aber auch das grandiose Thema wählte er immer irgendwie anders - so, daß man fühlte, es berührt dennoch mit gleichsam gußeisernen Füßen den Boden und marschiert: ,links! links! links!' . . . Weil er's für das Ziel des Dichters hielt, die Welt umzugestalten, und auf Themen aus war, die mitten in das Gewühl dieser Umgestaltung verwickelt wären. . . . Majakowski . . . wollte Aufbau-Arbeiter sein. Darum erkor er Themen, die eine Beziehung zur Arbeit, zum Aufbau haben, . . . irdische Themen." 175 Zu Lebzeiten Majakowskis erwies sich die gegenseitige Übereinkunft im Ziel, das sich der Dichter wie der Volkskommissar in einem von der Revolution befreiten Land stellten, als nicht widerspruchsfreie Übereinkunft im Umgang mit Kunst im Alltag. Majakowskis polemische Spitzfindigkeiten waren häufig nur die Spitze des Eisberges der verhandelten ästhetischen Grundsatzprobleme. So konterte er stets mit ironischer Schärfe Äußerungen von Lunatscharski, die an das Verständnis für die besondere Schaffenssituation des Künstlers appellierten: Wenn man sich in das Gebiet der Dichtkunst begibt, müsse man bedenken, daß der Dichter ein Schöpfer ist, der einen „Traum" träumt. Majakowski verketzerte solche Aussprüche als metaphysische Erklärungen der Kunst und verletzte 73

nicht selten Lunatscharskis Kunstempfinden um so mehr, da der Volkskommissar in seiner einflußreichen staatlichen Funktion einer der wenigen war, der dem Dichter Majakowski jegliche Unterstützung und auch Anerkennung seines poetischen Talents zusicherte. Aus diesem Grund war der Angelpunkt des noch jahrelang von ihm in Dichtung und öffentlicher Rede mit Lunatscharski geführten Streitgesprächs häufig verhüllt, denn die Forderungen, die der eine wie der andere an die Kunst der Revolutionsepoche erhob, stimmten verbal in vielen Punkten überein. Majakowski erklärte 1923: „Unsere Waffe ist das Beispiel, die Agitation, die Propaganda." 176 Sechs Jahre später präzisierte er: „Wir fordern von jedem Werk, daß es fungiere und wirke, und nicht, daß es auf den zuckersüßen Leshnew Eindruck mache und die aufrichtigen Gefühle von Schriftstellern ä la Pilnjak, PolistschukSelwinski abgebe. Wir fordern von den Werken der Kunst: Qualifikation. Jedem Schreibenden werden wir mit maximaler Nörglersucht die Frage des W i e ? stellen. Wir fordern die Aktualität der Beispiele, die einem Werk einverleibt sind. Wir werden in jeder Zeile das Was ? suchen. Bestimmend für den heutigen Tag aber bleibt die Frage: W o f ü r ist diese Zeile geschrieben? Wir amnestieren alle Arten von Arbeit (und gedenken der aussterbenden Arten): das Foto, das Gemälde, die Skizze, das Lied, und wir fordern von ihnen nur eines: Propaganda, Agitation." 177 Lunatscharski schrieb 1928 an Wladimir Fritsche, die Kunst sei, bezogen auf die sozialistische Gesellschaft, ein „Werkzeug der Agitation und Propaganda", ein „Instrument unseres Aufbaus". 178 Die agitatorischen Wirkungsweisen der Literatur könnten jedoch nur beeinflußt werden, schrieb er bereits 1923, wenn die Gesetze, wie Literatur rezipiert wird, erforscht sind. Es müsse folglich analysiert werden, was in einem Kunstwerk zur Wirkung kommt und wie es - mit welchen ästhetischen Mitteln - auf den Leser wirkt. Dabei betrachtete er Literatur, generell Kunst, nie als ein Mittel reiner Didaktik. Ihn interessierte auch, „welche Rolle Kunst als reines Vergnügen, reine Lebensfreude spielt und in welchen Verbindungen Kunstwerke geschaffen werden können, die vom Aspekt der Kunsterziehung des Menschen einen tiefen Inhalt haben und vom Aspekt des unmittelbaren Vergnügens und Lebensgenusses gleichzeitig eine verführerische Anziehungskraft" 179 . Diese klassischen ästhetischen Fragestellungen haben Majakowski nicht interessiert. Auch nicht die gnoseologischen Schlußfolgerungen, die Lunatscharski 74

aus den Kunst-Wirklichkeit-Beziehungen zog. Und dennoch gab es Berührungspunkte, die jedoch nicht sachlich zwischen ihnen verhandelt wurden. Lunatscharski begriff die Kunst-Wirklichkeit-Beziehungen auch als eine kommunikative Beziehung und stellte daher der Wissenschaft die Aufgabe zu untersuchen, „wie das Bedürfnis nach dem künstlerischen Wort entsteht, wie das künstlerische Wort widergespiegelt wird und sich entwickelt und wie es auf die Gesellschaft wirkt, d. h. welche Rolle es in ihr spielt"180. Als Kulturpolitiker fragte er jedoch vordergründig nach den Regulierungsmechanismen literarischer wie allgemein künstlerischer Prozesse unter den jeweils gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen. Nicht zufällig befaßte er sich mit diesem Problem 1923, als ihm bewußt wurde, daß sich die von ihm selbst mehrfach geäußerte Vorstellung, die künstlerischen Produktions- und Konsumtionsprozesse würden von den wachsenden - „gesunden" - Bedürfnissen des siegreichen Proletariats geregelt, als verfrüht, kurzum als illusorisch erwies. Die Bevorzugung alter Kunstformen, stellte er erstmals fest, könne durchaus auch Ausdruck mangelhafter ästhetischer Bildung sein. Andererseits könne ein nach den klassischen Schönheitsgesetzen geschaffenes Kunstwerk den naiven Kunstbetrachter bzw. Leser abschrecken, nur weil es der Realität nicht ähnelt. Aber, so schlußfolgerte er, ähnlich oder unähnlich sei in der Kunst kein Maßstab, denn „außer der Naturwahrheit gibt es noch eine innere, eine Kunstwahrheit" 181 . Majakowski, der Kunstarbeiter, packte dieses Problem vom anderen Ende an. Die Hauptverantwortung zur Überwindung der vom bürgerlichen Kunstbetrieb übernommenen gestörten KunstWirklichkeit-Beziehungen trug seiner Auffassung nach der Künstler. Folglich verband er die Revolutionierung des ästhetischen Kommunikationsschemas nicht vorwiegend mit der Neuregelung der Regulierungsmechanismen zwischen Künstler und Publikum, sondern mit radikalen Veränderungen der Kunst selbst. Er lehnte die eingebürgerten Denkschemata ab, wie und in welcher Weise ein Kunstwerk hergestellt und angeeignet wird, da das, was vormals einen Kunstwert hatte, nun seinen Kunstwert eingebüßt habe. Oder anders ausgedrückt: Was vormals den bürgerlichen Marktverhältnissen angepaßt wurde und noch immer Kunstalltag war, entspreche nicht mehr den neuen Erfordernissen vom sozialen Gebrauch eines Kunstwerks. Wie weit sich Majakowski von den alten Denkschemata frei75

gemacht hatte, wurde ihm deutlich, als er 1922 „das lebendige Leben des malenden Paris" zu sehen bekam. Die französische Metropole verlor für ihn ihren einstigen Reiz und Glanz als Wallfahrtsort von Künstlern aus aller Welt. Die Besichtigung des Herbstsalons, nur einer der zahlreichen Pariser Ausstellungen, veranlaßte ihn nicht nur zu trübseligen Gedanken über die Eintönigkeit der in den Katalog aufgenommenen zweitausenddreihundertneunundfünfzig Ausstellungsstücke. Die um ein Mehrfaches größere „phantastische" Summe von jährlich gemalten und zur Schau gestellten Bildern Majakowski schätzte letztere auf zehntausend, die gemalten auf hunderttausend - löste in ihm groteske Zukunftsvisionen aus: „. . . jeder Franzose wird seinen eigenen kleinen Louvre besitzen. Kleine Louvres, weiter nichts: die gesündesten, die jüngsten Leute sitzen, statt zu arbeiten, und verdoppeln ihre Habe auf zweifelhafte malerische Weise. Früher hatte man eine Frau, jetzt zwei: die eine in natura, die andere auf dem Bild (wie wenn sie lebte!), und die lebende Frau kommt nicht zum Arbeiten, weil sie Modell stehen muß. Vorher hat man ein Hündchen gehabt, jetzt zwei, und so weiter und so weiter. Eine schwächliche Industrie!" 1 8 2 Sogar die Bilder der Kubisten Braque und Léger, die er schätzte, wirkten auf ihn inmitten der „wie Gehenkte" aufgereihten Malwerke „salonmäßig", und selbst das ihm so sympathische Antiästhetentum Légers war der revolutionären Kraft entblößt. Mit fast den gleichen Argumenten kritisierte Lissitzky 1922 die neuesten Arbeiten des in Deutschland lebenden Archipenko. Auf sie lege sich jetzt die „Vergoldung des Salons" J83 . Interessant ist dieses Urteil nicht allein auf Grund der Gleichzeitigkeit, sondern auf Grund des Blickpunktes: Vermarktung von Kunst als Ursache der Stagnation malkünstlerischer Innovationen. Die empfindlichen Einbußen an gesellschaftlicher Wirksamkeit würden durch einen hohen Standard an bildnerischen Qualitäten nicht aufgehoben. Infolge solcher Beobachtungen - Majakowski analysierte auch die den Profitinteressen untergeordneten Mode- und Geschmacksmanipulationen der Pariser Kunsthändler - stellte der Zeichner und Texter der ROSTA-Fenster nicht nur die traditionelle Malkunst in Frage, sondern generell die „Existenzberechtigung einer Gesellschaft", die sich mit einer Kunst begnügt, die sich im Ausschmücken der Salons mit Tafelbildern erschöpft.18/1 Die Literatur schloß er in dieses harte Urteil ein. Eine solche Kultur hielt er für überlebt. Auch in dieser Frage gab es durchaus Annäherungspunkte zwi76

sehen Majakowski und Lunatscharski. Als der Volkskommissar 1927 die Pariser Malerwelt besichtigte, befielen ihn ähnliche bedrückende Gedanken trotz der vielen Zeugnisse hohen bildnerischen Könnens, das auch Majakowski nie geleugnet hat: „Die Riesenausstellungen französischer oder von ihrem Fluidum angezogener Künstler vermitteln im großen und ganzen den Eindruck, daß ein enormer Arbeitsüberschuß vorhanden ist, dabei beachtliche Begabungen und vor allem Fertigkeiten, aber daß sie völlig umsonst vergeudet werden. Marmor, Gips, Bronze, große und kleine Bilder, Porträts und Gravüren fliegen vor den eigenen Augen wie in einen Abgrund. Alles verschwindet im Orkus, und es ist unbegreiflich, wozu es überhaupt ans Tageslicht gekommen ist. Wer braucht denn all diese Dinge? Auf welchen Dachböden werden sie ein Opfer von Staub, Mäusen und der Zeit?" 185 Das ist dasselbe Bild vom Pariser Kunstsalon wie vor über einem Jahrzehnt, als er ihn mit einer trostlosen Wüste verglich, dasselbe harte Urteil wie Majakowskis Vergleich des Salons mit einem Riesensarg. Beide sahen die sozialökonomischen Ursachen der Krise und waren überzeugt, daß nur eine revolutionäre Umwälzung der Gesellschaft die Kunst aus dieser Krise herausführt. Aber die radikale Lösung, die Majakowski den Künstlern antrug, hätte ein Lunatscharski nie formuliert: „Für den Bau der neuen Kultur ist eine Tabula-rasa-Theorie erforderlich. Da muß der Oktoberbesen her." 186 Die Tabula-rasa-Theorie widersprach Lunatscharskis Kultur- und Kunstkonzept und blieb ein Streitpunkt zwischen ihm und dem Dichter. Majakowski schlug sie Picasso vor, als er ihn in seinem Atelier besuchte, aber mit wenig Erfolg. 187 (Erst viel später, nach der Erfahrung des spanischen Bürgerkriegs und des zweiten Weltkriegs, erklärte Picasso, die Malerei sei nicht erfunden worden, um Wohnungen auszuschmücken - sie sei eine Angriffs- und Verteidigungswaffe.) Die französische Kunst verharrte in den Augen des sowjetischen Dichters Anfang der zwanziger Jahre in tödlicher Lethargie und hatte ihre Avantgardestellung eingebüßt. Sein Interesse für sie erlosch. In Paris traf er sich späterhin nur noch mit Léger und Delaunay. Das Todesurteil für Picassos Arbeitsweise, das der Spanier mit „geruhsamer Pose" entgegennahm, hatte in Majakowskis künstlerischem Selbstverständnis prinzipiellen Charakter. Nicht zufällig kam er im Kapitel über Picasso auf Tatlin zu sprechen: „Er ruft seit langem die Künstler auf, neue Wege zu beschreiten, nicht müßig mit schönem Blech und Eisen zu basteln, sondern in Richtung eines 77

Zustands zu wirken, wo all das Eisen, das gegenwärtig zu abgeschmackten Gebilden herhalten muß, gestalterisch verarbeitet wird." 188 Dies war der gleiche Gedanke, nur weiterentwickelt, wie die von Majakowski schon in jungen Jahren propagierten „Bücher aus Eisen" - Dichterverse als Aushängeschild, Reklametext und später auch als politische Losung. Er war überzeugt, die formalästhetischen Experimente seien bereits um 1915 an ihre eigenen Grenzen gestoßen, in der bildenden Kunst wie in der Literatur. Der Ausweg könne folglich nur in der Bestimmung neuer Aufgaben für die Kunst liegen: Verschönerung des Lebens für Millionen durch die industrielle Formgebung, alltäglicher Umgang mit dem zweckmäßig und ökonomisch bearbeiteten Dichterwort. Majakowski stand vor Picasso in dem Bewußtsein, Träger dieser avantgardistischen Idee zu sein, und zugleich in dem Wissen, daß der Schritt von der Theorie zur praktischen Verwirklichung noch nicht getan war und daß den Kunstarbeitern, auch den französischen, noch lange Lehrjahre bevorstanden. Die Kontroverse mit Lunatscharski im Anschluß an das Referat Die ersten Bausteine der neuen Kultur (1925) entstand auf Grund dieser kompromißlosen Haltung in allen künstlerischen Bereichen (Ablehnung der Porträtmalerei, des traditionellen Theaters wie der Prosa eines Leonow und einer Sejfullina).189 Die Texte über das Pariser Kunstleben entstanden zu einer Zeit intensiven Nachdenkens über die weiteren Wege der eigenen VersFabrikation". Die ROSTA-Arbeit war abgeschlossen, „die gewaltige prosaische 'Hilfs'arbeit in der Poesie", wie sie Platonow nannte.190 Sie blieb für Majakowski in vieler Hinsicht Grundmuster, Ansporn, Kriterium. Unterschätzt werden jedoch häufig - so auch von Platonow - die Schwierigkeiten des Übergangs von der Bild-TextSprache des Plakats zur rein verbalen Sprache des Gedichts, von den ROSTA-Fenstern zur Erzählung des Gießers Iwan Kosyrew vom Einzug in die neue Wohnung (1928). In Wie macht manVerse? ist die titanische Arbeit zur Entwicklung des „hörbaren" Wortes zusammengefaßt. Das war nicht schlechthin die Umkehrung des Prinzips „Optik statt Phonetik"191, auch nicht einfach die Rückkehr zu den neuentdeckten deklamatorischen Möglichkeiten des Wortes aus der Kubofuturistenzeit, von denen eingangs die Rede war. Aber die Rückbesinnung und Weiterführung aller bisherigen Erfahrungen war es zweifellos, mit einer entscheidenden Korrektur: Dichtung wird jetzt eingesetzt zur Mobilisierung der organisatorischen Kraft der Massen. Die große Provokation des Roten Oktober - „Der Oktober lehrte 78

arbeiten durch Arbeit" 192 - nahm Majakowski an als Aufgabe, mit dem Adressaten ohne jedwede Vermittlung ins Gespräch zu kommen. Marina Zwetajewa, in der Fremde abgeschnürt von ihrem eigentlichen Leser, faszinierte die direkte Rede, gerichtet an ein „lebendes Ziel". Unaufhörlich hämmere Majakowski etwas in die Köpfe der Leute, erreiche bei ihnen etwas mit jedem beliebigen Mittel, auch mit dem gröbsten, und treffe dabei stets ins Schwarze. Der in der Welt erste Dichter der Masse, wie ihn Marina Zwetajewa nannte, war zugleich in der russischen Literatur der erste Dichter-Redner. 193 Deshalb habe er keine Leser im eigentlichen Sinne des Wortes gehabt, sondern Hörer. „Majakowski bedarf nicht der Mitautorschaft des Lesers", stellte sie weiterhin fest, „wer Ohren hat (die einfachsten) zu hören, der hört und nimmt auf." 194 Majakowski müsse man zusammen lesen, am besten „im Chor", „der ganze Saal", „das ganze Jahrhundert". Zu genau derselben Schlußfolgerung kam der Linguist Grigori Winokur: „Das erste und allgemeinste stilistische Merkmal der Sprache Majakowskis besteht darin, daß sie ganz und gar vom mündlichen Element, dabei vorwiegend vom laut gesprochenen mündlichen Wort, durchdrungen ist." 195 Die Grundfrage, ob er auch wirklich gehört wird, blieb für Majakowski unklar. Die Zweifel mehrten sich. Es ging tatsächlich nicht allein um die Entdeckung, die Ausarbeitung einer neuen Struktur dichterischer Sprache, wie schon Platonow zum zehnten Todestag des Dichters feststellte: „Von sich aus kann diese dichterische Struktur nicht leben, wenn sie kein Echo findet in der Geisteshaltung der Zeitgenossen oder ihnen verwandter Generationen."196 Majakowskis Leistung sah er darin, „daß er die Erstarrung der Menschen überwinden, sie zwingen wollte, sich selbst zu verstehen. Zwingen nicht durch Gewalt, sondern dadurch, daß er sie ein neues Verhältnis zur Welt lehrte, ein neues Empfinden für das Schöne in der neuen Wirklichkeit." 197 Die Menschen setzten sich jedoch fast immer zur Wehr und kämpften gegen das, was sie vorantreibt. Diese typische Platonowsche Sicht auf den „Widerstand gegen den Wegbereiter" entsprach seiner Kunst-Wirklichkeit-Auffassung, die ihm Majakowski so nahebrachte, trotz der Divergenz in kunstpraktischen Fragen, insbesondere in der Bestimmung des Adressaten. Dadurch übersieht er in seinen Überlegungen über den „deutlich bezeichneten Empfänger" in Majakowskis Dichtung und das „Bemühen um das Verstehen" den Grundkonflikt des Dichters: Der intendierte Leserkreis, das „Hundertfünfzigmillionenvölkchen", erwies sich nicht als eine einheit79

liehe Schicht mit gleichem Bildungsstand und gleichen Kunstbedürfnissen. Hatte diese Frage 1940, als Platonow über Majakowski schrieb, ihre Schärfe eingebüßt, so wurde sie für den Dichter schließlich zur entscheidenden Frage. 198 Mitte der zwanziger Jahre verstrickte sich Majakowski mehr und mehr in den Kampf um das von der jLi/~-Gruppe verteidigte Avantgardekonzept. Die Zeitschrift Lef hatte ihr Erscheinen einstellen müssen. Sie fand wenig Resonanz. Der Leserkreis schrumpfte zusammen. Majakowski ging keinen Schritt zurück. Mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln kämpfte er um das Verständnis für die Notwendigkeit, Kunst, damit auch Literatur, auf den Standard der neuen Welt einzustellen. Die berechtigte Frage: Verlor nicht die Debatten-Ästhetik ihren Boden, da sie sich bei allem Bezug auf die Millionen doch an eine rede- und sprachtrainierte Gruppe von Aktivisten gewandt hatte?" 1 9 9 bezieht sich auf die Situation um 1929/1930. Mitte der zwanziger Jahre - nach Vollendung des Lenin-Poems und vor der Arbeit am Oktober-Poem - ändert sich nichts an der Grundorientierung seiner Dichtungen. Die erneut verstärkte Rezitations- und Vortragstätigkeit in der Sowjetunion (wie im Ausland!) festigte seine Überzeugung, stets das Publikum vor Augen zu haben, an das er sich in einem Gedicht wendet. Für das bereits 1921 benannte Problem, „klarzustellen, was für die Massen wirklich Bedeutung hat" 200 , gab es jedoch keine Pauschallösung, genausowenig in dem mit Lunatscharski geführten Streit um den neuen Adressaten.

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Der neue Leser

Einführung: Das Leserproblem aus der Siebt der Zeit „Der Leser ist sehr kompliziert geworden, er ist nahezu unsichtbar", stellte Juri Tynjanow 1924 sachlich fest. Die Kritiker machten sich häufig das Problem zu einfach. Sie wendeten sich an einen Ersatzleser, „entweder an ein Ideal - nicht Mensch, sondern Anthropos, der erzogen werden müsse - oder an den erstbesten Freund, wenn nicht gar an sich selber"201. Die Verunsicherung war in der Tat beträchtlich. Der Weg zum wirklich neuen Leser202, zu den sprunghaft ansteigenden Lesermassen schien versperrt. Das spürten die Schriftsteller genauso wie die Kritiker und Wissenschaftler. Das Leserproblem brannte auf den Nägeln. Es war daher kein Zufall, daß die Auseinandersetzung um die neuen Wege der Literatur in dieser Frage auf die Spitze getrieben wurde. Jede der kämpfenden Litcraturparteien nahm für sich in Anspruch, die echten Bedürfnisse der Lesermassen zu befriedigen. Die Kriterien waren jedoch unscharf, in den meisten Fällen sogar untauglich. Die Wissenschaft war auf eine solche Wende überhaupt nicht vorbereitet. Zwar hatte sie einige Methoden zur Verfügung, die noch in zaristischer Zeit zum Zwecke statistischer Erhebungen entwickelt worden waren, aber eine nach marxistischen Prinzipien betriebene Leserforschung gab es nicht, folglich auch noch keine Theorie zur Erforschung des realen Lesers.203 Einige Trends von früher lebten wieder auf. Starke Beachtung fand die 1924 in Leningrad veröffentlichte Arbeit Was ist die bibliologische Psychologie? von Nikolai Rubakin, der seit seiner Emigration 1907 in der Schweiz lebte. Der theoretische Ausgangspunkt seiner als „Bibliopsycholcgie" bekanntgewordenen Forschungsmethode war der Gedanke, daß der Einfluß des mündlichen, handschriftlichen und gedruckten Wortes auf das Individuum wie das Kollektiv als eine funktionale Abhängigkeit begriffen werden müsse. Jedes Buch enthalte einen bestimmten Vorrat an Ideen, Tatsachen, die nicht 6 Thun; Autor, Lesee

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Der neue Leser

Einführung: Das Leserproblem aus der Siebt der Zeit „Der Leser ist sehr kompliziert geworden, er ist nahezu unsichtbar", stellte Juri Tynjanow 1924 sachlich fest. Die Kritiker machten sich häufig das Problem zu einfach. Sie wendeten sich an einen Ersatzleser, „entweder an ein Ideal - nicht Mensch, sondern Anthropos, der erzogen werden müsse - oder an den erstbesten Freund, wenn nicht gar an sich selber"201. Die Verunsicherung war in der Tat beträchtlich. Der Weg zum wirklich neuen Leser202, zu den sprunghaft ansteigenden Lesermassen schien versperrt. Das spürten die Schriftsteller genauso wie die Kritiker und Wissenschaftler. Das Leserproblem brannte auf den Nägeln. Es war daher kein Zufall, daß die Auseinandersetzung um die neuen Wege der Literatur in dieser Frage auf die Spitze getrieben wurde. Jede der kämpfenden Litcraturparteien nahm für sich in Anspruch, die echten Bedürfnisse der Lesermassen zu befriedigen. Die Kriterien waren jedoch unscharf, in den meisten Fällen sogar untauglich. Die Wissenschaft war auf eine solche Wende überhaupt nicht vorbereitet. Zwar hatte sie einige Methoden zur Verfügung, die noch in zaristischer Zeit zum Zwecke statistischer Erhebungen entwickelt worden waren, aber eine nach marxistischen Prinzipien betriebene Leserforschung gab es nicht, folglich auch noch keine Theorie zur Erforschung des realen Lesers.203 Einige Trends von früher lebten wieder auf. Starke Beachtung fand die 1924 in Leningrad veröffentlichte Arbeit Was ist die bibliologische Psychologie? von Nikolai Rubakin, der seit seiner Emigration 1907 in der Schweiz lebte. Der theoretische Ausgangspunkt seiner als „Bibliopsycholcgie" bekanntgewordenen Forschungsmethode war der Gedanke, daß der Einfluß des mündlichen, handschriftlichen und gedruckten Wortes auf das Individuum wie das Kollektiv als eine funktionale Abhängigkeit begriffen werden müsse. Jedes Buch enthalte einen bestimmten Vorrat an Ideen, Tatsachen, die nicht 6 Thun; Autor, Lesee

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sofort erschlossen werden. Die Feststellung, mit der Veränderung des Lesers verändere sich auch der Inhalt eines Buches, führte Rubakin zu der Überlegung, daß das Buch und sein Autor, genau betrachtet, lediglich die geistigen Projektionen eines Lesers bzw. Forschers sind. Eine seiner Grundthesen lautete: „Die Literatur ist nicht die Gesamtheit von W o r t k u n s t w e r k e n , sondern die Gesamtheit der psychischen Erlebnisse, die durch das Wort und seinen Autor als Quelle dieses Reizes hervorgerufen werden." 204 Der von Mach und Bogdanow beeinflußte Rubakin bezweckte von Anfang an - das bekräftigt der Begriff „Bibliopsychologie" - die Anwendung seiner Theorie auf die Bibliotheksarbeit. Seine Forderung, man müsse zunächst den Leser kennen, um den Umlauf wie praktischen Nutzen eines Buches steuern und verbessern zu können, fand seinerzeit im jungen sowjetischen Bibliothekswesen breiten Widerhall und stimulierte die hier neu betriebene Leserforschung. So gewann schon bald ein praktizistischer Aspekt die Oberhand. 205 Gleichzeitig wuchs die kritische Distanz zu der von Rubakin betriebenen Auflösung einer literarischen Aussage in einem reinen Relativismus. In der Literaturwissenschaft rückte der Leser ebenfalls ins Blickfeld. Man würde offene Türen einrennen, schrieb Alexander Bilezky 1922, würde man heutzutage beweisen wollen, „daß die Literaturgeschichte nicht nur die Geschichte der Schriftsteller, sondern auch die Geschichte der Leser ist, daß sogar die schöpferische Produktivität ohne die das Kunstwerk rezipierende Masse unvorstellbar ist und daß sich die Literaturgeschichte für die in der Masse verbreiteten literarischen Formen interessieren muß, für deren Kampf, sich in Leserkreisen zu behaupten und durchzusetzen" 206 . Bilezky beeindruckten die methodischen Fragestellungen Rubakins. Er beneidete ihn geradezu um die Möglichkeiten, über die Bibliotheken den zeitgenössischen Leser befragen zu können und auf diesem Wege Fakten in die Hand zu bekommen, die die traditionelle Literaturwissenschaft ihm als Literaturhistoriker verweigerte. Ohne eine Geschichte des Lesers, d. h. ohne unter diesem Aspekt gesammeltes und systematisiertes Material, hielt er die literaturgeschichtliche Forschung für unzulänglich. Die entscheidenden Kriterien zur Auswahl und Wertung literaturgeschichtlicher Erscheinungen und Vorgänge liefere erst die genaue Kenntnis ihrer Rezeption zu der Zeit, da sie entstanden sind. 207 Bilezky fragte nicht nach dem Leser als fiktivem Gesprächspartner des Autors, sondern in erster Linien nach dem Leser als Konsumenten eines literarischen Textes, um herauszufinden, 82

wie dessen Urteil über das Werk auf den Autor zurückwirkt und somit den gesamten Literaturprozeß beeinflußt. Es bestand natürlich ein Zusammenhang zwischen der von Bilezky angeregten historisch-kommunikativen Literaturforschung und dem sich Anfang bis Mitte der zwanziger Jahre immer stärker ausprägenden Bewußtsein, daß der Leser nicht nur ein passiver Verbraucher von Literatur ist. Beide Seiten dieses Sachverhalts - die „Ko-Autorschaft" des Lesers bei der Lektüre eines Textes 2 0 8 und die Rückwirkung der Leserurteile auf die Entstehung neuer Texte - nahmen als Problem an Brisanz zu. Trotz beachtlicher Bemühungen 209 hat jedoch die sowjetische Literaturgeschichte dieses Problem seinerzeit nicht gelöst, auch nicht Bilezky. 210 Eine der Ursachen war höchstwahrscheinlich die wachsende Unsicherheit, welche Folgen die sich historisch verändernde Zusammensetzung der Leserschaft in der Gegenwart für den Literaturprozeß hatte, zumal der allgemeine Trend zur ausschließlich soziologischen Erklärung literarischer Erscheinungen die ursprünglich breiter angelegten Fragestellungen abschnürte. 211 Die produktiven Ansätze einer kommunikativen Literaturbetrachtung wurden nicht weiterentwickelt und erst in jüngerer Zeit wieder neuentdeckt. Die Literaturgeschichte und -theorie gerieten ins Schlepptau der Kämpfe, die in der Zeitschriftenkritik ausgetragen wurden. Sie hatten ihrerseits kein handfestes theoretisches Konzept zur Beeinflussung dieser Prozesse vorzuweisen. Die Geschichte des sowjetischen Lesers der zwanziger Jahre ist bis heute nicht geschrieben. Die dazu erforderlichen umfangreichen Beweismittel sind nicht gesammelt, und das Vorhandene ist nicht ausgewertet worden. Die relativ wenigen - vorwiegend in Zeitschriften - zur Verfügung stehenden Angaben und Materialien geben in der Regel genauere Einblicke in die sich verändernden Verkehrsformen zwischen Autor und Leser als die vereinzelten Buchpublikationen dieser Zeit, die den mit Nachdruck vertretenen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit nicht einlösten und gewöhnlich in reiner (meist nur an bestimmte Gruppen gebundener) Empirik steckenblieben. 212 Leserforschung wurde derzeit einseitig als Erforschung von Verhaltensweisen im Umgang mit dem Buch betrieben. Aus dem in der Presse veröffentlichten Material, mit dem in der Literaturgeschichte noch immer schlecht gearbeitet wird, 2 1 3 werden im folgenden einige unterschiedliche Positionen herausgefiltert, die das neuartige Spannungsfeld Autor - Leser, Produktion - Konsumtion beleuchten. Ihre Bündelung erfolgt nicht nach Lesergruppen, 6«

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also nicht nach soziologischen Gesichtspunkten, sondern nach einigen literarischen Problemen, über die der direkte Dialog zwischen Autor und Leser allmählich in Gang kam.

Auf der Suche nach dem Leser Der wirkliebe Leser. Zeitbudget und Leseverbalten „Der Leser ist jetzt in Mode. Insbesondere der Arbeiterleser. O. M. B r i k rief kürzlich bei einem Disput aus: 'Wo ist er denn? Wo ist er, der wirkliche Arbeiterleser? Gebt ihn uns, zeigt ihn . . . ' W. P. P o l o n s k i baut ganze Theorien über die Eigenschaften und Fähigkeiten der Klassentypen von Lesern. A. K. W o r o n s k i befaßte sich mit den Arbeiterkorrespondenten. T a i r o w , der Regisseur des Kammertheaters, äußerte sich jüngst auf einer Versammlung von Arbeiterkorrespondenten: 'Vor Arbeitern spielen ist mein Traum!' In der Musik genau dasselbe. Selbst die dekadentesten Strömungen reden von der 'Masse', vom 'Arbeiter' u. dgl. Gewiß, der Arbeiter ist jetzt ein Abtrünniger. Nur der Arbeiter selbst, der arme, das kann man wohl annehmen, der weiß davon kaum etwas. In den Großstädten ehrt man ihn, reicht man ihn wie ein Wunderding, eine neue Sache herum, wie den 'letzten Schrei' der Mode. In den literarisch gehobenen Kreisen entbrennen seinetwegen bereits Wort- und Tintenschlachten. Ihm zu Ehren werden Toaste ausgebracht. Aber unserem Ehrenkind tropft von alldem vorläufig nur der Zahn - es wird davon nicht satt. Warum hat sich wohl unsere öffentliche Meinung mit dem Arbeiter befaßt? Ursache dieses Interesses ist ein gewichtiger Tatbestand: In unserem Land gibt es bereits e t w a e i n e M i l l i o n A r b e i t e r l e s e r . " Der dreiundzwanzigjährige Alexander Bek leitete von der ironischen Situationsschilderung die nüchterne Schlußfolgerung ab: „.. . die Million Arbeiterleser, die irgendwo in der Ferne, im Nebel vorhanden ist, die umherschwirrt, drängt, drückt, etwas fordert, die beginnt, ihre Kritiker und Interessenvertreter zu erkennen und ihre Schriftsteller ausfindig zu machen, diese Million ist eine Tatsache, die sogar die bürgerlichen Schriftsteller gezwungen hat, vom Arbeiteileser zu sprechen."214 Mit den Bauern verhalte es sich ähnlich. Bek verfocht die Linie der Napestu-Leute, wie die Bemerkung über den sich in der Literatur zuspitzenden Klassenkampf unschwer erkennen läßt.215 Dennoch beschränkte sich das benannte Problem 84

also nicht nach soziologischen Gesichtspunkten, sondern nach einigen literarischen Problemen, über die der direkte Dialog zwischen Autor und Leser allmählich in Gang kam.

Auf der Suche nach dem Leser Der wirkliebe Leser. Zeitbudget und Leseverbalten „Der Leser ist jetzt in Mode. Insbesondere der Arbeiterleser. O. M. B r i k rief kürzlich bei einem Disput aus: 'Wo ist er denn? Wo ist er, der wirkliche Arbeiterleser? Gebt ihn uns, zeigt ihn . . . ' W. P. P o l o n s k i baut ganze Theorien über die Eigenschaften und Fähigkeiten der Klassentypen von Lesern. A. K. W o r o n s k i befaßte sich mit den Arbeiterkorrespondenten. T a i r o w , der Regisseur des Kammertheaters, äußerte sich jüngst auf einer Versammlung von Arbeiterkorrespondenten: 'Vor Arbeitern spielen ist mein Traum!' In der Musik genau dasselbe. Selbst die dekadentesten Strömungen reden von der 'Masse', vom 'Arbeiter' u. dgl. Gewiß, der Arbeiter ist jetzt ein Abtrünniger. Nur der Arbeiter selbst, der arme, das kann man wohl annehmen, der weiß davon kaum etwas. In den Großstädten ehrt man ihn, reicht man ihn wie ein Wunderding, eine neue Sache herum, wie den 'letzten Schrei' der Mode. In den literarisch gehobenen Kreisen entbrennen seinetwegen bereits Wort- und Tintenschlachten. Ihm zu Ehren werden Toaste ausgebracht. Aber unserem Ehrenkind tropft von alldem vorläufig nur der Zahn - es wird davon nicht satt. Warum hat sich wohl unsere öffentliche Meinung mit dem Arbeiter befaßt? Ursache dieses Interesses ist ein gewichtiger Tatbestand: In unserem Land gibt es bereits e t w a e i n e M i l l i o n A r b e i t e r l e s e r . " Der dreiundzwanzigjährige Alexander Bek leitete von der ironischen Situationsschilderung die nüchterne Schlußfolgerung ab: „.. . die Million Arbeiterleser, die irgendwo in der Ferne, im Nebel vorhanden ist, die umherschwirrt, drängt, drückt, etwas fordert, die beginnt, ihre Kritiker und Interessenvertreter zu erkennen und ihre Schriftsteller ausfindig zu machen, diese Million ist eine Tatsache, die sogar die bürgerlichen Schriftsteller gezwungen hat, vom Arbeiteileser zu sprechen."214 Mit den Bauern verhalte es sich ähnlich. Bek verfocht die Linie der Napestu-Leute, wie die Bemerkung über den sich in der Literatur zuspitzenden Klassenkampf unschwer erkennen läßt.215 Dennoch beschränkte sich das benannte Problem 84

nicht auf die Position einer Gruppe. Die von Bek aufgeworfenen Fragen und Forderungen waren Symptome des Streits, der Mitte der zwanziger Jahre in der gesamten literarischen Öffentlichkeit aufflammte. Tynjanow hatte so unrecht nicht, als er schon 1924 skeptisch äußerte: „Wenn es die Literatur schwer hat, beginnt man vom Leser zu sprechen."216 Die kritische Spitze war an die Adresse der Autoren gerichtet, die da generell glaubten, sie könnten ihr Wort über den toten Punkt bringen, wenn sie ihre Stimme umstellten. Der direkt in die Literatur eingeführte „Leser" tauge jedoch nicht zur Motivierung eines Auswegs aus den Sackgassen. Tynjanow ließ lediglich jene Versuche in der Dichtkunst gelten, bei denen sich durch die direkte Anrede das ganze Intonationssystem ändert, und in „literarischen Krisenzeiten" auch den Skas, der den Prosaschreiber zwinge, die Rede seiner Figuren zu „spielen". Tynjanows besonderes Interesse für Majakowski galt folgerichtig dem „Dichter mit Adresse", der die Schar seiner Adressaten immer mehr erweiterte. Fürwahr kein Lef-Mann, beobachtete er mit hellwacher Neugier das Experiment mit dem Mosselprom-Vers, der dem Dichter in breiten literarischen Kreisen und durchaus nicht nur bei den Vertretern traditioneller Kunstauffassungen tiefste Mißachtung eingebracht hatte. Ihn bewegte, ob Majakowski auf diesem Wege neue poetische Möglichkeiten entdeckt. Die Frage: „Wird der kaltblütige Mosselprom Majakowski befruchten, wie ihn einst das ROSTA-Plakat befruchtet hat?"217 verrät den Weitblick des Literaturhistorikers, der wußte, daß sich die Albumverse eines Puschkin, Halb-Epigramme und Halb-Madrigale, letztlich nicht als Vergeudung, sondern als Bereicherung poetischer Begabung erwiesen haben. Ossip Mandelstam, der Dichter, urteilte aus einem anderen Blickwinkel. Er beschrieb die zentrale Streitfrage, die von der russischen Avantgarde aufgeworfen wurde, als er 1922 erläuterte, wie Majakowski das elementare und große Problem Dichtung für alle und nicht für A u s e r w ä h l t e lösen wollte. Die von Majakowski betriebene extensive Erweiterung des Platzes, der der Dichtkunst eingeräumt wird, so meinte Mandelstam, gehe unweigerlich zu Lasten von Qualität, von Ausdruckskraft, Gehalt und poetischer Kultur. Majakowski sei nicht konsequent gewesen, sonst hätte er alles Unverständliche, d. h. all das, was bei seinem Leser oder Zuhörer eine gewisse poetische Vorbildung voraussetzt, aus seinen Versen aus85

treiben müssen. Da er dies nicht tue, klaffe ein tiefer Widerspruch „der Nichtvorgebildete versteht nichts, oder die von jeglicher Kultur befreite Dichtung hört auf, Dichtung zu sein, und wird auf Grund der seltsamen Eigenschaft der menschlichen Natur einem unübersehbaren Zuhörerkreis zugänglich" 2 1 8 . Mandelstam hatte in einem Punkt nicht recht. Das Konzept K u n s t f ü r alle, das die Angleichung von Kunst und Leben anstrebte, zog in Majakowskis Selbstverständnis nicht automatisch die Befreiung der Kunst von jeglicher poetischer Kultur nach sich. Es setzte allerdings einen veränderten Begriff von poetischer Kultur voraus, der unter dem Einfluß einiger kühner Fragestellungen der Revolutionsepoche von den grundlegend neuen Beziehungen zwischen Kunst und Gesellschaft abgeleitet war. Diese reale Verbindung erklärt die bis zum Siedepunkt angeheizten Debatten auf der einen Seite und die vielen Mißverständnisse, Irrtümer auf der anderen. Sie gerät jedoch nicht selten in Vergessenheit, und in der Tagespolemik zugespitzte Formulierungen werden dann voreilig mit dem Wörtchen „konstruiert" abgestempelt, anstatt daß die Zusammenhänge aufgehellt werden. Das folgende Beispiel ist Ausdruck des Suchens, wie auf der Grundlage der realen Lebensund Arbeitsbedingungen der Werktätigen im ökonomisch weit hinter den westlichen Industrieländern zurückgebliebenen jungen Sowjetland die neuen Literaturprogramme durchgesetzt werden könnten. Eine scheinbar am Rande liegende Fragestellung berührt den Kern der Debatten um die Hervorbringung und geistige Entwicklung des neuen Massenlesers. 1925 verkündete Majakowski: „Nicht genug, daß Tolstoi einen enormen Zeitaufwand brauchte, um .Krieg und Frieden' zu schreiben; man müßte darüber hinaus einmal feststellen, wieviel Arbeitsstunden ein Arbeiter zur Lektüre von ,Krieg und Frieden' benötigte. Über dieses Problem muß nachgedacht werden. Unbedingt." 2 1 9 Diese Äußerung, von vielen Zeitgenossen als Verketzerung der Kunst schlechthin begriffen, kursierte in Le/"-Kreisen jahrelang als ein Hauptargument, um die Theorie der „Literatur des Fakts" zu stützen. Ob nun Majakowski der Erfinder dieser Formel war oder Viktor Perzow, ist nicht ganz eindeutig, aber letzten Endes auch belanglos. Unbestritten dürfte sein, daß der Dichter einen Zusammenhang zwischen den Lebensbedingungen und den kulturellen Bedürfnissen eines Menschen sah und daraus Schlußfolgerungen für seine Poetik ableitete. Dafür handelte er sich massive Vorwürfe ein: 86

Unterschätzung des Massenlesers, Verteidigung einer extrem rationalistischen Kunstauffassung, die mit den nationalliterarischen Traditionen unvereinbar sei. Bis in die Gegenwart wird sein skeptischer Ausspruch, ob solche dickleibigen Romane wie Krieg und Frieden überhaupt noch zeitgemäß seien, mit den Worten kommentiert: Hier irrte sich Majakowski. Doch irrte er sich in seiner Zeit wirklich? Wenige Monate zuvor hatte Stanislaw Strumilin in der Studie Das Zeitbudget des russischen Arbeiters und Bauern 1922-1923 die Frage nach der „Rationalisierung der Freizeit des Arbeiters durch optimale Nutzung der arbeitsfreien Stunden"220 aufgeworfen. Als Ökonom interessierte ihn in erster Linie der volkswirtschaftliche Aspekt. Im Gegensatz zu der auch unter Marxisten verbreiteten Methode, bei der Analyse des Budgets der Arbeiter ausschließlich den Umlauf der materiellen Werte (Löhne, Kaufkraft usw.) zu erforschen, betrachtete er die Reproduktion der Arbeitskraft als einen Prozeß, der von dem gesamten Zeitaufwand einer Arbeiterfamilie, d. h. auch von der im Haushalt erforderlichen Arbeit wie von der reinen Freizeit, beeinflußt wird. 221 Auf diese Weise gab Strumilin ein reales, differenziertes Bild von der für kulturelle Bedürfnisse zur Verfügung stehenden Zeit bei den einzelnen Mitgliedern der befragten Arbeiterfamilien.222 Obwohl sich bei ihm kein Hinweis auf Alexej Gastew findet, den Direktor des 1920 gegründeten Zentralinstituts für Arbeit,223 so ist die indirekte Polemik mit Gastews ausschließlich auf die Arbeitsorganisation gerichteten Überlegungen zur Steigerung der Arbeitsproduktivität offenkundig. Strumilin versuchte, aus den spezifisch materiellen Daseinsbedingungen der Arbeiterfamilien Aufschlüsse über ihre geistige Tätigkeit zu gewinnen, mit dem Ziel, bisher nicht beachtete Mechanismen herauszufinden, über die die Steigerung des materiellen Reichtums der sozialistischen Gesellschaft beschleunigt werden kann. Die Faszination, die von Strumilins Buch ausstrahlte, war die Folge des souveränen Umgangs mit exaktem und völlig unbekanntem Zahlenmaterial anstelle der noch verbreiteten rein spekulativen Erläuterungen. Es entsprach vielen subjektiven Beobachtungen und widerlegte die vom Proletkult beeinflußten utopischen Vorstellungen von den realen Möglichkeiten geistig-kultureller Betätigung in einer Arbeiterfamilie. Nach der Oktoberrevolution verdrängten solche abstrakten Ideen lange Jahre die sachliche Erörte87

rung des Problems. In den revolutionär gesinnten literarischen Kreisen waren sie besonders zählebig und fanden, geringfügig variiert, mehrfach Wiederauferstehung. Um so erbitterter waren die geistigen Auseinandersetzungen und der Widerstand gegen reale Einschätzungen. Erst allmählich setzte sich ein nüchterner Blick für die sich sprunghaft, dabei widersprüchlich vollziehenden kulturellen Entwicklungsprozesse in den Arbeiterkreisen durch. Majakowski war einer der Wortführer und geriet dadurch Mitte der zwanziger Jahre sehr schnell in den Verruf, den in westlichen Industrieländern verbreiteten technokratischen Standpunkt zu verteidigen. Dabei warf er literarische Produktionsfragen auf, ohne deren Lösung die Umorientierung auf den neuen Massenleser unmöglich war. In diesem Zusammenhang verliert auch die Frage nach dem Umfang eines Buches im Verhältnis zur erforderlichen Lektürezeit ihren provokativen Charakter. Viktor Perzow hatte vermutlich als erster Majakowski auf dieses Problem aus Strumilins Sicht aufmerksam gemacht. Aber den Einbau in ein Literaturkonzept und die Zuspitzung verdankte er sicherlich dem Dichter. Er berechnete die Lektürezeit wie folgt: Nehme man an, die Lesezeit betrage je Druckseite - die Seite mit 2520 Buchstaben - zwei Minuten, so erfordere die Lektüre von Krieg und Frieden bei einem Umfang von 1432 Druckseiten insgesamt 47 Stunden und 44 Minuten. Nach den von Strumilin vorliegenden Berechnungen bedeute das, ein Arbeiter müsse zwei Monate, also ein Sechstel der ihm jährlich für kulturelle Belange (einschließlich Zeitungslektüre, Weiterbildung usw.) zur Verfügung stehenden Freizeit, für das Lesen eines so umfangreichen Romans aufwenden.224 Perzow zog aus dieser Zeitrechnung radikale Schlußfolgerungen: „Die Frage des Umfangs eines literarischen Kunstwerkes ist eine Frage der Klassenkultur unserer Zeit." In der Gutsbesitzergesellschaft habe es keine Rolle gespielt, wieviel Zeit die Lektüre eines Buches in Anspruch nahm. Die Zeit der jetzt herrschenden Klasse sei jedoch mit Arbeit ausgefüllt. Es genügten durchaus drei Seiten, „um ein Maximum an künstlerischer Wirkung zu erreichen"225. Der Titel der Studie, Der Umfang eines Kunstwerks und das Zeitbudget des russischen Arbeiters, verweist auf die zwei Quellen, zu denen sich der junge Perzow offen bekannte: Majakowski und Strumilin. Gleichzeitig arbeitete er mit Begriffen und Argumenten, die Theoretiker wie Arwatow und Tschushak entwickelt hatten und über die 88

Zeitschrift Lef später auch Notvj Lef, verbreiteten. Den ersten Anstoß gab jedoch Gastew, in dessen Institut er einige Zeit beschäftigt gewesen war.226 Perzow beeindruckten die im Namen des Proletariats betriebenen Bemühungen Gastews aus der Zeit unmittelbar nach der Oktoberrevolution, das künstlerische Wort nicht grammatikalisch zu reformieren, sondern seine „Technisierung" zu bewirken. Er setzte sie gegen die von Brjussow und Bely in den Proletkultstudios propagierte These, der neue Schriftsteller brauche nur den neuen Inhalt in die alten Formen zu gießen. Das führe zu nichts. Die Entwicklung solcher Dichter wie Kirillow, Gerassimow und Alexandrowski sei ein klarer Beweis.227 Auch in dieser Frage verfocht also Perzow konsequent die Linie der Lef-heute, denen er sich 1926 fest anschloß. Gastew sympathisierte trotz seiner organisatorischen Bindung an den Proletkult mit den Futuristen. Und umgekehrt imponierte sein radikaler Bruch mit dem künstlerischen Wort einem Mann wie Majakowski, obwohl er selber zu einer so extremen Entscheidung nicht fähig war. Arwatows Rezension von Gastews Gedichtbuch Ein Bündel Order (1921) in der ersten Le/-Nummer hatte zweifellos programmatischen Charakter. Die „Sozialisierung der poetischen Formen" - „der Dichter beginnt im Namen der sozialen Sache in einer sozial aktiven Sprache zu sprechen"228 - stand Majakowski nahe. Er hatte im Januar 1923 die Absicht, Gastew als Mitarbeiter seiner Zeitschrift für Fragen der sozialistischen Kunstentwicklung zu gewinnen. Dennoch galt nicht dem Dichter, sondern dem Theoretiker für Arbeitsorganisation Majakowskis meiste Sympathie. Viele Denkansätze zur Revolutionierung der Beziehungen von Kunst und Gesellschaft waren mit Ideen Gastews zur Veränderung der Arbeitskultur des in der materiellen Produktion beschäftigten Menschen verbunden.229 Majakowski war Praktiker. Das Konzept einer kommunikativen Literaturbetrachtung unter sozialistischen Literaturverhältnissen, das von 'Lef-Leuten vorgelegt wurde, hat er mit seiner ganzen Autorität unterstützt. Der von Perzow untersuchte Zusammenhang von Buchumfang und Lektürezeit war jedoch nur ein Teilaspekt des Leserproblems, das Mitte der zwanziger Jahre mit zunehmender Schärfe in fast allen literarischen Gruppierungen erörtert und von den Schriftstellern zusehends als ein Produktionsproblem begriffen wurde. Das erklärt die theoretischen Unschärfen ebenso wie die verfestigten subjektiven Meinungen vieler Autoren und ihrer Anhänger. 89

Vom Nutzen der

Leserumfragen

Die neugegründete Zeitschrift^ Nowy Lef230 wurde mit dem von Majakowski verfaßten, aber von ihm nicht gezeichneten Leitartikel An den Leser! eröffnet. Er enthielt ein Kampfprogramm zur Neubestimmung der Literatur unter den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen im zehnten Jahr der Revolution - die Absage an die Marktnachfrage als Kriterium für den Wert kultureller Erscheinungen mit dem Ziel, die verbreitete Anpassung an den „üblen" NÖP-Geschmack zu überwinden, sowie die Einsetzung der Kunst in ihre eigentliche Funktion, d. h. ihre unmittelbare Teilnahme am Klassenkampf. „Unser ständiger Kampf um Qualität, Industrialismus, Konstruktivismus (d. h. Zweckmäßigkeit und Ökonomie in der Kunst)", heißt es am Schluß, „verläuft gegenwärtig parallel zu den wichtigsten politischen und volkswirtschaftlichen Losungen des Landes und soll alle neuen Kulturschaffenden zu uns heranziehen."231 Dieses Avantgarde-Konzept - Majakowski stellte mit Nachdruck seinen experimentellen und veränderbaren Charakter heraus - berührte zu diesem Zeitpunkt die überwiegende Mehrheit der Lesermassen nur von der praktischen Seite. Sie beurteilten die Produkte, die Werke. Den abstrakten Debatten konnten sie in der Mehrzahl nicht folgen. So entfernte sich der literaturkritische und -theoretische Teil der Zeitschrift, der schließlich überwog, mehr und mehr von den eigentlichen Literaturfragen, die den n e u e n Leser bewegten. Und dies war kein Einzelfall. Perzow beispielsweise trug auf den Seiten des Noury Lef theoretischmethodische Dispute aus. Perewersew warf er vor, daß er lediglich den Produktionsprozeß und die Produktionsverhältnisse als Voraussetzung für das Entstehen eines Kunstwerks untersuche und dabei dessen s o z i a l e F u n k t i o n und W i r k u n g völlig außer acht lasse.232 In der Polemik mit Woronski führte er die „technische" Seite des Schreibens literarischer Texte auf die gleiche Frage zurück: „Jede wirkliche Erfindung auf dem Gebiet der künstlerischen Technik ist ihrem Wesen nach ein neues Mittel der sozialen Wirkung." 233 Eine künstlerische Erfindung, so heißt es bei Perzow weiter, gerate analog zu einer technischen Erfindung mit dem sich gefestigten künstlerischen System in Konflikt. Darin liege für den einzelnen Künstler nicht selten eine persönliche Tragik, aber zugleich der gesellschaftliche Sinn seiner Arbeit. Mit einem B e k e n n t n i s zur sozialen Wirkung von Kunst ließ 90

sich jedoch das Problem nicht lösen. Schwand der reale Adressat aus dem Blickfeld, so verengte sich das Literaturgespräch zu einem Fachgespräch unter Kollegen. Der Disput über die neue soziale Funktion der Kunst wurde über die K ö p f e der Leser hinweg geführt. Selbst der Leser, den Majakowski im Titel des von ihm verfaßten Leitartikels anredet**, war nicht identisch mit dem Leser, für den er die Mehrzahl seiner Verse schrieb. Dies waren erste bedenkliche Anzeichen des von Fritz Mierau als Frage formulierten V o r g a n g s : „Verlor nicht die Debatten-Ästhetik ihren Boden, d a sie sich bei allem Bezug auf die Millionen doch an eine rede- und sprachtrainierte G r u p p e von Aktivisten gewandt hatte? " 2 3 i Jewgenija Shurbina zeichnete noch 1928 zu dem Thema Gespräch des Lesers mit dem Schriftsteller ein Genrebild grau in grau. Der Schriftsteller spricht nur über sich selbst, und d e r L e s e r s c h w e i g t . Die direkte Anrede an den Leser sei noch genauso rhetorisch wie zu G o g o l s Zeiten. Der Schriftsteller erfinde eigentlich nur, wie er auf den Leser wirkt. D a s schade jedoch seinem Ansehen. V o r den Augen des Lesers verwandele er sich in einen „professionellen Illusionisten" und könne danach kaum noch eine ernsthafte Einstellung zur eigenen Arbeit erwarten. 235 - Die Zeitschrift Na literaturnom postu stellte den Artikel zur Diskussion. Eine Diskussion fand nicht statt. Die A r g u mente konnten nicht mit leichter Hand beiseite geschoben werden, aber die RAPP-Leute, in deren Organ diese sachlich nüchterne Einschätzung abgedruckt war, waren sicher an einer offenen Diskussion gar nicht interessiert. E i n Jahrzehnt zuvor hatte der Futurist Wassili Kamenski ein ähnliches Bild gemalt, nur in kräftigeren Farben und aus einem anderen Blickwinkel. E r verglich den Dichter und sein Leserpublikum mit zwei hohen Bergen, zwischen denen sich ein tiefes „ T a l allgemeinen Nichtverstehens" erstrecke. Während für den Dichter das Wort einen Eigenwert, ein Eigenziel habe und der Gedanke Beweg u n g , Flug sei, sei das eine wie das andere für den Leser ein Mittel, ein Produkt und etwas kaum Verständliches: „Leserspezialisten gibt es also nicht", schlußfolgerte Kamenski, „demnach gibt es keine gesunden, entwickelten, organisierten Rezipienten des Wortes." 2 3 6 E r stützte sich auf Platen, u m zu bekräftigen, daß es einer strengen Erziehungsarbeit bedürfe, um die Rezeption von Wortkunstwerken zu verbessern. Kamenskis Situationsschilderung entsprach den Erfahrungen von früher, während der Kubofuturistentournee vor dem ersten Weltkrieg

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und der Kaffeehausperiode unmittelbar nach dem Oktober 1917. Er bürdete die Mühen zur Überbrückung der Kluft ausschließlich dem Leser auf. Shurbina indessen beschuldigte den Autor und rügte sein mangelhaftes Verständnis für den Leser sowie die ungenügende Bereitschaft, sich in dessen Denkweise zu versetzen. Beide Positionen waren zu unterschiedlichen Zeiten an Literaturkonzepte gebunden, die um die Vorherrschaft kämpften. Kamenski vertrat in der Revolutionsphase den radikalen Flügel der russischen Avantgarde-Dichter. Shurbina verteidigte ein Jahrzehnt später die proletarische Literaturbewegung und machte sich zum Fürsprecher der Arbeiterleser. Doch Anstrengungen waren auf beiden Seiten vonnöten, beim Autor wie beim Leser. Aber das Begreifen stellte sich nicht sofort ein. Mißerfolge, Enttäuschungen, voreilige Rückschlüsse verleiteten manch einen zu der Annahme, das Problem sei im gegebenen Moment überhaupt nicht lösbar, da das allgemeine kulturelle Niveau noch zu niedrig und der Lebensstandard von Millionen noch zu unterentwickelt war. Die Annäherung zwischen Autor und Leser war jedoch nicht durch solche Bedenken am stärksten gefährdet. Weitaus folgenschwerer war die Tendenz, das unterschiedliche Literaturverständnis einzuebnen und damit die echten Widersprüche zu verkleistern, anstatt sie aufzudecken. Diese Diskrepanz nahm teilweise krasse Formen an. Das Studium des nicht umfangreichen, aber doch sehr informativen Materials, das seit 1926/1927 in literarischen Zeitschriften wie Na literaturnom postu und Sibirskie ogni veröffentlicht wurde, gibt einen Einblick in die äußerst komplizierten Rezeptionsprozesse nicht nur bei Lesern, die nach der Revolution zum erstenmal zum Buch griffen, sondern auch bei dem kulturell und politisch fortgeschrittenen Teil der werktätigen Massen. Einerseits werden die Schwierigkeiten der Bibliothekare benannt, bei Leserumfragen aufrichtige und nicht frisierte oder gar nur stereotype Antworten zu erhalten. Und andererseits wird sichtbar, wie langsam sich ein reiferes Literaturverständnis herausbildete und was für reale Hemmnisse diese Entwicklung abbremsten (u. a. der vielbeklagte Buchhunger, mangelhafte Ausbildung und Bildung der Bibliothekare, aber auch der Kritiker, die für Wand- und Betriebszeitungen wie generell in der Presse über Neuerscheinungen schrieben, insbesondere in der Provinz, vor allem in den vom Zentrum entfernten Gebieten). Die Fakten sprechen eine klare Sprache. Trotz alledem war die Zuständigkeit des neuen Massenlesers etwa seit Mitte der zwanziger 92

Jahre eines der wichtigsten Argumente von Autoren wie Kritikern, um die eigene Position im Literaturkampf der verschiedenen Richtungen und Gruppen zu stärken. In der Realität war jedoch diese Zuständigkeit noch eine Fiktion. Ein einzelner Schriftsteller konnte zwar aus einer persönlichen Begegnung mit seinen Lesern - sei es in mündlicher oder schriftlicher Form - durchaus entscheidende Impulse für seine Arbeit empfangen. Und solche sich in der Tat mehrenden Beispiele waren durchaus Anzeichen einer neuen Tendenz. Aber solche vereinzelten persönlichen Erfahrungen konnten nicht den Anspruch auf Verallgemeinerung im großen Rahmen oder gar im Republikmaßstab erheben. Das Mitte der zwanziger Jahre in der Öffentlichkeit sprunghaft anwachsende allgemeine Interesse für die Bedürfnisse der n e u e n Leser hatte mehrere Ursachen. Die praktische Arbeit mit der schönen Literatur gewann im Prozeß der sozialistischen Kulturrevolution an Bedeutung. Gemessen an der gesamten kulturellen Massenarbeit, deren Umfang in dem derzeit in großen Teilen kulturell noch unentwickelten Land schwer überschaubar ist, nahm die wachsende Nach frage nach dem Buch einen verhältnismäßig hohen Stellenwert ein. Die Beseitigung des Analphabetentums, des traurigen Erbes des Zarismus, zog einen regelrechten Buchhunger nach sich. Bildung schloß Lesen ein. Ein Buch lesen war Ausdruck des Bemühens, das eigene - meist sehr geringe - Wissen auf a l l e n Lebensgebieten zu erweitern. Belesenheit verschaffte Achtung, Ansehen. Doch die Zahl der Bücher, die über Bibliotheken, Klubhäuser und Buchhandel zur Verfügung standen, ging infolge der wirtschaftlichen Auswirkungen des Bürgerkriegs anfangs noch weiter zurück. Die Wiederbelebung der Druckkapazitäten während der NÖP bewirkte zwar eine quantitativ bessere Versorgung des Landes mit Buch- und Presseerzeugnissen. Aber durch die Zulassung von Privatverlagen verschob sich gegenüber der Zeit des Kriegskommunismus erneut der Anteil an Trivialliteratur, die nicht den geistig-kulturellen Interessen der Arbeiter-und-Bauern-Macht entsprach. In Umlauf kam auch eine beträchtliche Menge von Übersetzungsliteratur in der Art der Tarzan-Serie von Burroughs. An dem Gezerre um den Leser, das Alexander Bek so eindringlich beschrieben hat, beteiligten sich über die literarischen Gruppen nicht nur die Künstler selbst, sondern in zunehmendem Maße öffentliche Institutionen, die über diese Entwicklung beunruhigt waren. Es ging nicht um Marktforschung schlechthin. Auf der Grundlage 93

einer besseren Kenntnis des n e u e n Lesers sollten Mechanismen geschaffen werden, über die das gesamte Buchwesen von der Produktion bis zur Konsumtion neu geregelt wird. Das Interesse daran, daß sich der Leser zu einem echten - wirklich z u s t ä n d i g e n Gesprächspartner des Autors entwickelt, war demnach der Teilaspekt eines umfassenderen Problems. Die Leserforschung wurde jedoch nach wie vor nach unterschiedlichen Gesichtspunkten betrieben. Das erwartete Ergebnis bestimmte den Weg. Die Vermengung der Angaben, die im Interesse einzelner Literaturkonzepte gesammelt und ausgewertet wurden, mit den Fakten, die zur Ermittlung des erreichten Entwicklungsstands nach zehn Jahren Kulturrevolution zusammengetragen wurden, verdunkelte nicht selten das reale Bild. Die Betriebsbibliotheken registrierten den stärksten Leserzuwachs. Für die hier durchgeführten Umfragen wurden Fragespiegel nach einem ziemlich einheitlichen Schema benutzt, das an folgendem Beispiel leicht einsehbar ist. Die Personen, die bei einer Umfrage in sechs Bibliotheken der goldgewinnenden Industrie im Gebiet von Bodaibo (Sibirien) befragt wurden, sind nach drei Lesergruppen aufgeschlüsselt: Arbeiter, Angestellte, Frauen.237 Der Schwerpunkt der abgefragten Angaben lag auf der Ermittlung von Informationen über die Bücher und Autoren, die von den Lesern bevorzugt wurden. Die veröffentlichte Tabelle238 weicht insofern von der allgemein verbreiteten Rangfolge ab, daß zwar Gorki, Demjan Bedny und Leo Tolstoi an erster Stelle stehen, indessen sowjetische Autoren realtiv wenig genannt sind. (Dies wird mit dem noch geringen Buchbestand erklärt; Werke von Gladkow, Sostschenko oderLeonow waren nur in wenigen Exemplaren vorhanden, Zement gab es nicht einmal in allen erfaßten Bibliotheken.) Aufschlußreicher noch als die Rangfolge der Autoren sind die Hinweise auf einen vorwiegend naiven Umgang mit dem Buch bei der Mehrzahl der Leser. Thema, Spannung und Autorennamen bestimmen die Einschätzung des eigenen Leseerlebnisses. Autorennamen werden mitunter verwechselt häufig die drei Tolstois. Die Ungenauigkeit vieler Angaben hat mehrere Urachen. So können häufig die Buchtitel nicht benannt werden. Insgesamt beweist die Analyse, daß der neue Arbeiterleser nicht nur beruflich wenig qualifiziert war, sondern daß er in literarischen Fragen, häufig durch den geringen Grad seiner Lese- und Schreibfähigkeit bedingt, 239 wenig Erfahrung hatte. Einerseits äußerte er sich spontan über seine unmittelbaren Leseeindrücke. 94

Und andererseits war er sehr anfällig für Meinungen, die ihm mündlich oder gedruckt als Lesehilfe dargeboten wurden, d. h., die eigene Kritikfähigkeit war noch nicht geschult. Der unerfahrene Leser, so schrieb seinerzeit ein Kritiker nicht ohne guten Grund, verspüre mit der Feder in der Hand eine besondere Verantwortung, die man etwa so beschreiben könne: „Es handelt sich nicht darum, ob mir das Buch gefällt oder nicht, sondern darum, ob es mir gefallen soll oder nicht. Die Antwort erfolgt auf die letzte Frage, aber sie wird als Antwort auf die erste ausgegeben (vermutlich scheint es dem Schreiber selber so). Dabei kommt etwa dasselbe heraus, als erhielte man auf die Frage: schmeckt Rizinusöl? die Antwort: ja, es ist nützlich.'^ Das Beispiel aus dem Gebiet von Bodaibo weist noch eine weitere Besonderheit auf. Während Strumilin bei seinen statistischen Erhebungen den Zusammenhang zwischen der politischen und gesellschaftlichen Aktivität eines Arbeiters und der zum Lesen verwandten Freizeit darin sah, daß der politisch engagierte Arbeiter mehr liest und dadurch auch mehr weiß, werden in dieser Analyse die „Arbeiter mittleren Alters, parteilose Arbeiter, die dem gesellschaftlichen Leben fernstehen", als die „beständigen und zuverlässigen Besucher der Bibliothek, mitunter auch des Literaturzirkels", herausgestellt. Diese „als Ausnahme" bezeichneten Arbeiter bevorzugten wie die Angestellten die vorrevolutionäre Literatur gegenüber der nachrevolutionären.2'11 Aber nicht sie zählten zum Kern der n e u e n Leserschaft, auf die sich alle Hoffnungen richteten. Die regional bedingten Unterschiede zwischen dem politischideologischen Bildungsstand der Arbeiter im Moskauer Gebiet und auf den sibirischen Goldfeldern waren bedeutend. Und dennoch hatten einige Probleme, die bereits in den zwanziger Jahren in Verbindung mit der Leserforschung kritisch erwähnt wurden, grundsätzlichen Charakter. Das betraf insbesondere die Methoden, mit denen Leserwerbung und -Schulung betrieben wurden. In den Betriebsbibliotheken fand die Praxis von Wandzeitungen, häufig „Leserstimmen" betitelt, rasche Verbreitung. Ein Leseraktiv, meist unter der Anleitung des Bibliothekars, redigierte Lesermeinungen. Im Mittelpunkt standen in der Regel die Figuren und die Sprache eines Buches. Die positiven Erfahrungen wurden zur Nachahmung empfohlen: „Die Zeitung - jeder Leser lernt beim anderen und hat die Möglichkeit, aktiv auf das Gelesene zu reagieren - wird zweifellos in den Arbeiterklubs und -bibliotheken großen Erfolg haben und 95

nützlich sein."242 Eine knappe Bemerkung machte jedoch auf die Schwierigkeiten dieser Arbeit aufmerksam. Die Bibliothekare verfügten häufig nicht über das notwendige Wissen, um das Leseraktiv anzuleiten. Die Assoziation proletarischer Schriftsteller wurde daher aufgefordert, regelmäßig Hinweise und „verantwortungsbewußte" Unterstützung zu gewährleisten. Das gesamte System, die Leser mit Büchern und literarischen Kenntnissen zu versorgen, hatte trotz des enormen Aufwands an Mitteln und des hohen persönlichen Einsatzes anfangs mehr quantitative als qualitative Erfolge. Diese Erfolge können im Zuge der Kulturrevolution nicht hoch genug eingeschätzt werden. Das waren die Anfänge: Hundertfünfzigmillionen wurden zu einem Volk von Lesern. Problematisch hingegen war, wenn die ersten Ergebnisse bereits als das erstrebte Ergebnis ausgegeben wurden. Solche Überspitzungen schürten in der Regel die Auseinandersetzungen, die von verschiedenen Seiten um den so häufig zitierten neuen Leser im Gange waren. Adrian Toporow, Verfasser des berühmt gewordenen Buches Bauern über Schriftsteller, stellte rückblickend einige der damals meist verbreiteten Formen der Arbeit mit dem Buch generell in Frage: „Die Bewertung der schönen Literatur mit Hilfe von Bibliotheksumfragen ist ein grober Ersatz einer echten Leserkritik. Tausende von Lesern füllen Fragebögen über Bücher aus, nur um von den Bibliothekaren in Ruhe gelassen zu werden. Bis heute kann man in vielen Bibliotheken Wandzeitungen und schöne Alben finden, in denen mit Schreibmaschine abgetippte Lesermeinungen über Bücher wiedergegeben sind - trockenes, schablonenhaftes Geschreibe. Ich habe da kein einziges offenherziges Wort gefunden! Es ist kein Zufall, daß sie nie erforscht wurden. Aus ihnen wurden keine Schlußfolgerungen gezogen."243 Toporow war einen anderen Weg gegangen. Dies erklärt sein Urteil und auch das Recht auf eine so kritische Bewertung. Trugbilder sind kein Ausweg aus den

Sackgassen

Majakowski hatte ein scharfes Auge und ein feines Gehör. Spätestens seit Mitte der zwanziger Jahre begann er allmählich zu begreifen, daß die neuen Leser und Zuhörer noch nicht den Vorstellungen entsprachen, die er von ihnen gehabt hatte. Anfangs wollte er diese Tatsache nicht wahrhaben. Unverblümt ausgesprochen hat er sie erst 1928, nach seinem Austritt aus der Redaktion des Nowy Lef. 96

Der Dichtetfreund Nikolai Assejew erkannte genauso wie Majakowski das Problem, verschleierte es jedoch bis zu einem gewissen Grad. Ihn habe die Einförmigkeit der Fragen erstaunt, wenn er zusammen mit Majakowski in der Öffentlichkeit auftrat, notierte er in seinem Tagebuch. In Tula, Kursk, Kiew und Charkow ähnelten die an sie gerichteten Fragezettel nach Diktion, Syntax und Inhalt derart, daß sie von ein und denselben Personen hätten geschrieben sein können, die mit ihnen von Ort zu Ort zogen. Assejew betrachtete diese Tatsache als Bestätigung des sozialen Faktors, als Ausdruck des gesellschaftlichen Denkens, in dem sich eine Erscheinung wie die Welle auf einer flachen Oberfläche verbreitete.24,4 Das war aber nicht die ganze Wahrheit. Dieses soziale Erscheinungsbild hatte auch eine Kehrseite: die Gefahr oberflächlicher, schemadscher Kunsturteile. Assejew sah sie nicht, zumindest benannte er sie nicht. In den Vordergrund des Autor-Leser-Problems rückte auch er, wie so viele Schriftsteller zu jener Zeit, die Interessen und das Literaturprogramm der eigenen Gruppe, des Lef. Die allgemein anerkannte Forderung, der Schriftsteller müsse seinen Leser kennen, habe sich mittlerweile weitgehend durchgesetzt, führte Assejew seine Überlegungen fort. Es könne kaum noch jemand bestreiten, daß ein Jessenin, Leonow, Kallinikow oder Jewdokimow den Geschmack der Leser kenne. Sie würden ihn sogar derart genau kennen, daß sie nur die Hand auszustrecken brauchten, und schon klopften sie ihrem Leser auf die Schulter und der Leser ihnen. Aber, so fügte er hinzu, das Sich-Anbiedern, das Auf-die-Schultern-Klopfen, könnte eines schönen Tages auch schlecht enden, denn der Schriftsteller habe nur zwei Hände, aber die Leser hätten Hunderttausende. Da könne er, der Schreiber, leicht ins Schwanken geraten und den Boden unter den Füßen verlieren. Die Schlußfolgerung klingt überzeugend: „Es ist nicht üblich, davon zu sprechen, daß man den Leser erst hervorbringen muß." Aber sie entpuppt sich bei ihm schließlich als eine leere Redensart im Literaturkampf: „Ich glaube, mein Leser wie der Bergarbeiter aus der Annenski-Grube, einer von den ganz wenigen, der uns einen Brief geschrieben h a t , . . . ist unser Stolz und unsere Kraft. Wir haben ihn hervorgebracht, allem Gezische und Gezerre der Hüter alter Traditionen zum Trotz. Einem solchen Leser klopft man nicht auf die Schulter: er schiebt höflich die klopfende Hand beiseite und findet sich selber im Literaturstreit zurecht."245 Wenn Assejwe „wir" schreibt, meint er die Redaktion des Lef. 7

Thun; Autor, Leser

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In dem besagten Leserbrief wird folgendes mitgeteilt: Der Briefschreiber, neuerdings Abonnent der Zeitschrift Nony Lef bezeichnet Nummer drei, das erste von ihm bezogene Heft, als „wertvoll" und bedauert, daß die Zeitschrift so wenig Abonnenten (nur dreitausend) habe. An Majakowski gerichtet, heißt es wörtlich: „Wenn man in Ihrer Zeitschrift immer so schreibt, so ist Ihre Zeitschrift besser als alle anderen Zeitschriften. D a s sagen Ihnen diejenigen, denen die Sowjetmacht teuer ist." 2 4 6 Genauere Erläuterungen wie Titel und Autorennamen fehlen. Heft drei enthält Majakowskis Gedicht Wofür wir gekämpft haben? mit den vielumstrittenen Versen, für die K o m m u n e sei jetzt ein Nagel wichtiger als Thesen über den Kommunismus, A u s z ü g e aus Tretjakows Stück Ich will ein Kind haben und Assejews Gedicht Die Moskauer. Ansonsten überwiegen ganz spezifische literaturtheoretische und -kritische Texte von Brik ( Rhythmus und Syntax), Schklowski (Zur Verteidigung der soziologischen Methode), Perzow (Das Gesicht der „dicken" Uteraturzeitschriften) und Tschushak ( Menschen, Zeitschriften, Sitten). Breiten Raum nimmt das Protokoll über Polonski ein, d. h. das Stenogramm einer Redäktionssitzung des Nony Lef unter dem Vorsitz von Majakowski. E s informiert über die erneut zugespitzte Auseinandersetzung zwischen den Lef-Leuten und dem Kritiker. (Polonski hatte sie im Februar 1927 auf den Seiten der Iswestija mit schweren Anschuldigungen an die Adresse des Lef ausgelöst. 2 '' 7 ) Die Durchsicht dieser L i / - N u m m e r läßt einige Zweifel an Assejews Argumentation aufkommen, weniger an der Aufrichtigkeit des gewissen A. J e . , über dessen Person - Werdegang, Belesenheit, literarischer Geschmack - nichts gesagt wird. Assejew behauptete quasi, daß A . J e . der heiß herbeigesehnte n e u e Leser sei und daß diesen Leser die Texte der Lef-Leute „hervorgebracht" hätten. Aber das war natürlich Hochstapelei. S o wie eine Schwalbe noch keinen Sommer macht, so brachte eine Zeitschriftennummer noch nicht den zuständigen Leser hervor. Dabei ist nicht auszuschließen, daß A . J e . mit Genuß und persönlichem Gewinn die literarischen Texte von Majakowski, Tretjakow und Assejew gelesen hat, daß er vielleicht sogar Gefallen fand an dem ungewöhnlich scharfen polemischen T o n und dem hohen Hitzegrad des auf den Seiten dieses Heftes geführten Literaturstreits, ohne dessen Hintergrund voll zu erfassen. Aber Assejews Beweis war nicht stichhaltig. Hätte er darüber gesprochen, w i e man den n e u e n Leser „hervorbringt", wie man ihm 98

systematisch hilft, das eigene Wissen zu erweitern, hätte er konstruktiv zur Diskussion beitragen können. So aber wiederholte er nur stereotyp die Theoreme einiger seiner Freunde. Trotz der mit unverminderter Hartnäckigkeit vertretenen Behauptung der Lef-Leute, daß allein sie auf den Seiten ihrer Zeitschrift ein auf den n e u e n Leser orientiertes Programm verteidigen, wobei sie nicht selten das Erhoffte schon als das Erreichte darstellten, setzte sich auch hier allmählich die Auffassung durch: Das Verstehen kommt nicht im Selbstlauf. Eine immer häufiger benutzte Losung lautete daher: lesen lernen.248 In diesem Sinne verfaßte Majakowski für die von ihm redigierte Zeitschrift seine beeindruckenden Rechenschaftsberichte über die „Belieferung der Unionsstädte mit Lef-Ideen und Versen ": „Insgesamt fünfundvierzig Auftritte, die eine vierzigtausendköpfige Zuhörerschaft verschiedener Schichten und Interessen bedienen - die Leninschen Werkstätten in Rostow ebenso wie den Lef in Kasan und die Studenten der Hochschule von Nowotscherkassk. Ich habe über siebentausend Zettel erhalten, die systematisch ausgewertet und zu einem Buch verarbeitet werden, zu einer annähernd universellen Antwort auf alle Fragen, die die Unionslesermasse gestellt hat. Ich weiß nicht, ob jemals ein Dichter so eine Verbindung zur Lesermasse hatte." 249 Das Buch, die „universelle Antwort" an seine Leser, hat Majakowski nicht geschrieben. Assejews Bemerkung über die erstaunliche Einförmigkeit der Fragen könnte als ein Hinweis dienen, um die Ursachen zu ermitteln. Aber das war bestimmt nicht der einzige Grund. Nehmen wir Majakowski beim Wort und glauben ihm, daß er den n e u e n Leser gefunden hat, daß er ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand und ihn erkannte, so besteht kein Zweifel: Er hat über die noch verbreitete Diskrepanz zwischen literarischem Text und Textverständnis,250 die ihm nicht verschlossen blieb, nachgedacht. Die Erwartung, daß die Rezipienten das angebotene Ausdrucksmaterial annehmen,251 hatte sich nicht in dem Maße erfüllt, wie er erhofft hatte. Aber allein durch Verändern der Ausdrucksmittel, von Stoff, Genres und Bildstruktur, hätte das Problem nicht gelöst werden können. Das Einstellen auf das Verstehen des noch ungeschulten Lesers hatte Tücken, denn derselbe Leser konnte schon am nächsten Tag weitaus höhere Ansprüche anmelden. Die Spanne zwischen realem Leser und intentiertem Leser war nicht generell aufhebbar. Sie war historisch bedingt. 99

Ein Weg, um diese Spanne so gering wie nur irgend möglich zu halten, war der Versuch, das Literaturgespräch auf einer anderen Ebene fortzuführen. Majakowski war einer der ersten, der das Einstellen des Gruppengezänks unter den politisch gleichgesinnten Autoren forderte. Die Schriftstellergruppierungen hätten ihre Bedeutung eingebüßt, erklärte er im Herbst 1928 zum Erstaunen seiner Freunde vom Lef wie auch seiner literarischen Gegner. Es gebe niemanden mehr, mit dem man kämpfen müsse.252 Diese Vorwegnahme der K o n s o l i d i e r u n g aller l i t e r a r i s c h e n K r ä f t e im Bunde mit demLeser, die erst in den Jahren 1932 bis 1934 erreicht wurde, fand wenig Gehör. Sein abrupter Bruch mit den „negativen Losungen" des Lef253 wirkte in den eigenen Reihen wie ein Schock: „Ich amnestiere Rembrandt", „ich sage, man braucht das Lied, das Poem und nicht nur die Zeitung", „nicht jeder Junge, der mit dem Photoapparat knipst, ist ein Le/-Mann".2M Der Massenleser war von Majakowski unterschätzt worden. Er las durchaus die Klassiker, auch Tolstoi. Aber Krieg und Frieden las er in den zwanziger Jahren noch nicht. Hier war Majakowski der Wahrheit sehr nahe gekommen. Die Hypothese, daß ein Zusammenhang zwischen Buchumfang und Freizeit bestehe, hatte sich bestätigt.255 Majakowski gestand jedoch ein, daß die Lesebedürfnisse sich anders entwickelt hatten, als er ursprünglich annahm: „Bisher betrachtete der Lef das Zeitungsblatt (den Agitationstext) als die einzig mögliche Form der Massenarbeit. Aber der Arbeiterleser ist kulturell gewachsen, und die literarische Situation ist komplizierter geworden. Man kann die konkrete Zeitungsarbeit nicht in einen Fetisch verwandeln . . . Die Lef-Leute werden das Buch erobern und es durch die Prinzipien bereichern, die sie in der Zeitungserfahrung gewonnen haben."256 Bemerkenswert ist nicht nur die Feststellung, daß das kulturelle Niveau des Arbeiterlesers gewachsen sei und sich der Autor darauf neu einstellen müsse. Majakowski forderte die A n e r k e n n u n g der L e s e r k o n t r o l l e und die E i n s t e l l u n g der W o r t a r b e i t auf den Massenleser. So neu waren zwar diese Worte aus Majakowskis Munde wiederum auch nicht. Neu aber war das reifere Verständnis für die aktuelle literarische Situation. Hatte er bisher auf die stereotypen Behauptungen seiner literarischen Gegner von der RAPP, seine Dichtungen fänden beim Leser keine Anerkennung,257 mit Paradoxa geantwortet, so veränderte er jetzt die Taktik. Er versuchte, seinen Maximalismus aufzugeben, und rief zur gemeinsamen Arbeit auf, 100

„zusammen mit den volkswirtschaftlichen Einrichtungen des Landes und in d e n Produktionsbetrieben" 2 5 8 . E r verstärkte seine Vortragstätigkeit, wollte den Kontakt mit seinen Lesern verbessern und erlebte dabei Enttäuschungen, die ihn zutiefst verletzten. Als Hauptargument hielt er bis zuletzt seinen Opponenten entgegen, daß in zehn bis fünfzehn Jahren, wenn sich das Kulturniveau der Werktätigen erhöht habe, alle seine Dichtungen genauso gut verstanden werden wie schon jetzt sein Poem Wladimir lljitsch Lenin, 259 Trotz der verbreiteten Verwirrung über den „neuen, aber unauffindbaren Leser" 2 6 0 bewirkte der Leserwechsel nach der R e v o lution einen tiefgreifenden Wandel im gesamten literarischen Leben. Mochte der eine oder andere auch den Verlust des „treuen" Lesers, der alten russischen Intelligenz, beklagen, die Entwicklung war unaufhaltsam. Die Befreiung von den Trugbildern, die in den K ö p f e n der Dichter, Kritiker und Theoretiker v o m n e u e n Leser umherschwirrten, war allerdings ein langwieriger Prozeß. U n d es ist kein Z u fall, daß bei der historischen Betrachtung dieses V o r g a n g s Majakowskis Erfahrung ständig ins Blickfeld gerät, denn seine Poetik war ganz und gar auf den Massenleser eingestellt. Außerdem rückte er in den zwanziger Jahren kraft seines lauthals verkündeten Anspruchs auf Verständlichkeit immer wieder zur Mittelpunktfigur der Debatten auf. D a s Gespräch über den n e u e n Leser nahm gegen E n d e der zwanziger Jahre einen veränderten Charakter ein. Der Leser meldete sich selbstsicherer zu Wort. Und gleichzeitig zeichnete sich in der Literaturkritik eine schärfere soziologische Grenzziehung ab. Die Rubrizierung der Leser nach Klassen und sozialen Schichten, die eine Folge der besonderen Klassenstruktur zu Beginn des ersten Fünfjahrplans war, engte die Vorstellung davon, wie Kunst und Literatur wirken, bedenklich ein. Die Tatsache, „daß jeder Mensch stets mehreren Gruppen gleichzeitig angehört und so den disparatesten Einflüssen unterliegt" 2 6 1 , wurde nicht reflektiert. Solange jedoch unbeachtet blieb, daß Rezeptionsvorgänge nicht nur von den sozialen Faktoren bedingt sind, sondern auch von regionalen, kulturell-ideologischen und psychologischen, konnten die Fragen der sozialistischen Literaturentwicklung aus kommunikativer Sicht nicht beantwortet werden. Einige Vorstöße in dieser Richtung wurden ungenügend beachtet und konnten sich dadurch nicht entfalten. 262 Vereinzelte Experimente in der praktischen Arbeit mit dem Buch führten zu überraschenden Ergebnissen. Trotz der breiten Resonanz wurden sie von den Zeitgenossen theoretisch nicht verallgemeinert.

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Der Leser bat das Wort

Das sibirische Modell des Adrian Toporow „Belinskis in Bastschuhen" nannte Abram Agranowski 1928 in einem Iswestija-Ktükt\ die Mitglieder einer Kommune, die sich seit ihrem Zusammenschluß im Jahre 1920, fünftausend Kilometer von Moskau entfernt, Abend für Abend zu Buchlesungen im Dorfklub einfanden.263 Vorgelesen wurden Werke der russischen und ausländischen Literatur sowie Neuerscheinungen der Sowjetliteratur. Die Titelliste264 nahm mit den Jahren einen Umfang an, der dem Lehrprogramm einer Hochschule kaum nachstand. Die ersten Veröffentlichungen des Dorfschullehrers Adrian Toporow in der Zeitschrift Sibirskie ogni265 erregten in der literarischen Öffentlichkeit Aufsehen. Ungewöhnlich war die enorme Zahl der in Lesungen vollständig vorgestellten Bücher, war das Programm, nach dem der Lehrer arbeitete, und war vor allem anderen der souveräne Umgang der Leute mit dem Buch, so daß der Eindruck von einem Ereignis im literarischen Leben des Landes entstand. Aus Sorrent schrieb Gorki an Sasubrin in Nowosibirsk: „ . . . schicken Sie mir Ihr Buch 'Zwei Welten'. Ich habe darüber ein äußerst interessantes Gespräch von Zuhörern gelesen und bin fast erstickt vor Vergnügen." 266 Im Nachwort, das er kurze Zeit später für die Buchausgabe des Romans verfaßte, bezeichnete er Toporows Aufzeichnungen als die echte „Stimme des Volkes". 267 Sasubrin hatte über die von ihm bis 1928 redigierte Zeitschrift mit dem Lehrer bereits brieflichen Kontakt und teilte ihm Gorkis Worte der Anerkennung mit. An Toporow schrieben auch Jefim Permitin, Semjon Podjatschew, Wikenti Weressajew und nach Erscheinen der Buchfassung 1930 aus der Schweiz der bereits erwähnte Rubakin, der hervorhob, das Buch werde die Augen öffnen über die wirkliche Rolle der Literatur und ihre soziale Bestimmung.268 Die Schriftsteller beeindruckte die „unvoreingenommene Bewertung der eigenen literarischen Arbeiten durch ein Publikum, das von politischem Gezänk, literarischen Schmeicheleien und dergleichen entfernt ist"269. Dieses Publikum entsprach ein Jahrzehnt nach der Oktoberrevolution den Vorstellungen, die viele sowjetische Autoren vom literaturinteressierten n e u e n Leser hatten. Sie begriffen ihn im Sinne Gorkis als Voraussetzung dafür, daß sich jenes innige Vertrauensverhältnis zwischen Leser und Autor 102

Der Leser bat das Wort

Das sibirische Modell des Adrian Toporow „Belinskis in Bastschuhen" nannte Abram Agranowski 1928 in einem Iswestija-Ktükt\ die Mitglieder einer Kommune, die sich seit ihrem Zusammenschluß im Jahre 1920, fünftausend Kilometer von Moskau entfernt, Abend für Abend zu Buchlesungen im Dorfklub einfanden.263 Vorgelesen wurden Werke der russischen und ausländischen Literatur sowie Neuerscheinungen der Sowjetliteratur. Die Titelliste264 nahm mit den Jahren einen Umfang an, der dem Lehrprogramm einer Hochschule kaum nachstand. Die ersten Veröffentlichungen des Dorfschullehrers Adrian Toporow in der Zeitschrift Sibirskie ogni265 erregten in der literarischen Öffentlichkeit Aufsehen. Ungewöhnlich war die enorme Zahl der in Lesungen vollständig vorgestellten Bücher, war das Programm, nach dem der Lehrer arbeitete, und war vor allem anderen der souveräne Umgang der Leute mit dem Buch, so daß der Eindruck von einem Ereignis im literarischen Leben des Landes entstand. Aus Sorrent schrieb Gorki an Sasubrin in Nowosibirsk: „ . . . schicken Sie mir Ihr Buch 'Zwei Welten'. Ich habe darüber ein äußerst interessantes Gespräch von Zuhörern gelesen und bin fast erstickt vor Vergnügen." 266 Im Nachwort, das er kurze Zeit später für die Buchausgabe des Romans verfaßte, bezeichnete er Toporows Aufzeichnungen als die echte „Stimme des Volkes". 267 Sasubrin hatte über die von ihm bis 1928 redigierte Zeitschrift mit dem Lehrer bereits brieflichen Kontakt und teilte ihm Gorkis Worte der Anerkennung mit. An Toporow schrieben auch Jefim Permitin, Semjon Podjatschew, Wikenti Weressajew und nach Erscheinen der Buchfassung 1930 aus der Schweiz der bereits erwähnte Rubakin, der hervorhob, das Buch werde die Augen öffnen über die wirkliche Rolle der Literatur und ihre soziale Bestimmung.268 Die Schriftsteller beeindruckte die „unvoreingenommene Bewertung der eigenen literarischen Arbeiten durch ein Publikum, das von politischem Gezänk, literarischen Schmeicheleien und dergleichen entfernt ist"269. Dieses Publikum entsprach ein Jahrzehnt nach der Oktoberrevolution den Vorstellungen, die viele sowjetische Autoren vom literaturinteressierten n e u e n Leser hatten. Sie begriffen ihn im Sinne Gorkis als Voraussetzung dafür, daß sich jenes innige Vertrauensverhältnis zwischen Leser und Autor 102

einstellt, ohne das keine „echte Kunst" entsteht,270 aber sie begegneten ihm im literarischen Leben nur höchst selten. Der starke Widerhall in Schriftstellerkreisen war zugleich eine Reaktion auf den bereits erörterten Widerspruch zwischen den in eine bestimmte Richtung gelenkten Leserstimmen, die ab und an in der Presse abgedruckt wurden, und der erhofften Wirkung des eigenen Werkes auf den Massenleser.271 So gesehen stärkte das Experiment des Adrian Toporow die Zuversicht, wenn nicht gar die Überzeugung vieler Autoren, der Weg zur Überwindung der Kluft zwischen dem Anspruch, vom n e u e n Leser auch wirklich verstanden zu werden, und der Möglichkeit, das eigene Kunstkonzept in der Praxis durchsetzen zu können, sei gefunden. Das von Toporow veröffentlichte Material kennzeichnet eine kommunikative Situation, in der sich eine neuartige Partnerschaft zwischen Autor und Leser herauszubilden begann, a u s der S i c h t des Lesers. In dem gegebenen Fall eignete sich der Leser Literatur nicht in einem individuellen Lektüreakt an, sondern fast ausschließlich über das kollektive Hören der Werke. (Das individuelle Lesen bezeichnete unter den beschriebenen Umständen in der Regel schon die zweite Bildungsstufe des Lesers, es ist nicht zu verwechseln mit dem Hören und Lesen als zwei gleichzeitig entwickelten verschiedenen Rezeptionsweisen, die nebeneinander existieren.) Die Hoffnungen, die an diesen spezifischen Rezipienten seitens der Autoren geknüpft wurden, waren berechtigt. Aber entsprachen sie auch den tatsächlichen Möglichkeiten, wie die im geschichtlichen Prozeß immer wieder aufs neue entstehenden Konflikte zwischen Autor und Leser unter den gegebenen Bedingungen einer sozialistischen Literaturgesellschaft überbrückt werden können? Diese Frage läßt sich nur beantworten, wenn die konkreten geschichtlichen, sozialen und geistig-kulturellen Bezüge der Rezeptionsvorgänge in der sibirischen Kommune gesehen und begriffen werden. Toporows Modell der Arbeit mit dem Buch zeichnete eine Besonderheit aus. Seine Zuhörer waren, wie bereits erwähnt, Mitglieder einer Kommune im Altai-Gebiet. Sie waren also keine gewöhnlichen Bauern, in der Mehrzahl Leute mit Revolutions- und Bürgerkriegserfahrung und einer aktiven politischen Einstellung zum Sowjetstaat, gewillt, an der revolutionären Veränderung der bäuerlichen Produktions- und Lebensweise mitzuwirken. Analphabeten und Halbalphabeten waren nahezu alle Frauen; ihre Bemühungen zur Überwindung dieses Bildungsdefizits hatten in den zwanziger Jahren 103

noch unterschiedlichen Erfolg. Der Bildungsstand der Männer war höher, aber nicht einheitlich; ein näheres Verhältnis zu Literatur- und Kunstfragen gewannen auch sie in der Regel erst durch die Kulturarbeit in der Kommune. Alle Kommunemitglieder waren auf Grund des gemeinschaftlichen Eigentums an den Produktionsmitteln nicht nur im Arbeitsprozeß vereint und aufeinander angewiesen. Sie lebten auch in einem neuen Siedlungsgebiet räumlich eng zusammen, waren von der Stadtkultur nahezu abgeschnitten und auf eigene Initiativen angewiesen. Das wirkte sich auf die kulturelle Massenarbeit recht positiv aus. Sie war auf eine bestimmte soziale Schicht ausgerichtet und erfaßte einen ziemlich festen Kreis von Menschen, die sich untereinander kannten und voreinander keine Scheu hatten. Und dennoch, trotz dieser außergewöhnlichen Bedingungen, nahm die hier geleistete Arbeit mit dem Buch gegen Ende der zwanziger Jahre einen Modellcharakter an. Aus historischer Distanz ist er sogar noch deutlicher erkennbar, als dies vielleicht die Zeitgenossen wahrgenommen haben. Seit Mitte der zwanziger Jahre veröffentlichte Toporow in einigen sibirischen Zeitungen und Zeitschriften Leserstimmen mit knappen Kommentaren und 1930 schließlich die erste Buchausgabe272, der zwei weitere Bände folgen sollten. Das Vorhaben kam jedoch nicht zustande. Toporows methodischer Vorschlag wurde abgelehnt und in der Presse kritisiert. Die Weiterführung der Klubarbeit wurde ihm von der neuen Kolchosleitung untersagt. So verließ Toporow 1932 das Dorf. Das Experiment geriet über drei Jahrzehnte lang in Vergessenheit.273 Die genaueren Umstände und Gründe werden in einem anderen Zusammenhang dargelegt. Fragen wir heute, worin die besondere Leistung Toporows bestand, so war es in erster Linie die kulturrevolutionäre Aufgabe, die er sich gestellt hatte, und gleichzeitig die Systematik und Umsicht, mit der er sie löste. Das starke Interesse der Schriftsteller für diese Publikationen war vornehmlich ein professionelles. Sie vernahmen die lebendige Stimme des Lesers, von dem sie nur eine vage Vorstellung hatten. Solche Wirkungen sollten vom Aspekt des Adressatenwechsels nicht unterschätzt, aber auch nicht überschätzt werden. Unser Wissen über solche Vorgänge, die mitunter dem Schreibenden selbst nicht bewußt sind, ist äußerst dürftig. Nähere Aufschlüsse, sei es auch nur in Form von Hypothesen, können folglich allein durch Analyse der besonderen Aneignungsweisen des einen oder anderen literarischen Werkes innerhalb eines genau eingegrenzten Umfelds gewonnen werden. 104

Anfangs konzentrierte sich die Arbeit Toporows darauf, Interessenten für die Leseabende zu gewinnen und auf diese Weise die Zuhörer an die schöne Literatur heranzuführen oder, anders gesehen, den n e u e n Leser erst einmal „zu schaffen". 274 Über diese Anfangsphase liegen genaue Angaben nicht vor. Folgen wir den Erinnerungen des Lehrers, so ging er zunächst rein empirisch vor. Er theoretisierte nicht, trat nicht mit dem Anspruch auf, die Arbeit als ein vorbildliches Beispiel hinzustellen. E s ging ihm um die Sache selbst. Zu Vereinseitigungen und Verabsolutierungen der eigenen Erfahrungen neigte er offenbar erst später, als er aufgefordert wurde, die Äußerungen der Leute aufzuzeichnen und zu veröffentlichen, und als er seine Methoden erläuterte. Der Lehrer erprobte im Verlaufe der Jahre neue Formen von Buchlesungen im Dorf, veränderte, variierte, wobei sich das L e h r e r Schüler-Verhältnis mitunter auch umkehrte. Er war darauf bedacht, das kritische Urteilsvermögen seiner Zuhörer zu schärfen, ohne daß er auf eine Vereinheitlichung der Urteile gedrängt hätte. Gefragt waren selbständige, gut begründete Ansichten, frei von vorgefaßten Meinungen, und schon gar nicht etwaige Bekenntnisse zu einer bestimmten literarischen Gruppe. Von ihnen wußten die Bauern in der Regel nicht viel. Derartige Fragen wurden unseres Wissens nicht besprochen. Aber das Experiment als solches blieb von ihnen nicht unberührt. Das bewies die scharfe Kritik nach Erscheinen des Buches. Mit den Jahren bildete sich in der Kommune ein fester Kreis von Zuhörern heraus, die im Verlaufe eines Jahrzehnts begannen, Texte nicht mehr nur rein stofflich aufzunehmen, sondern sich auch für künstlerische Fragestellungen zu interessieren. Der Horizont weitete sich. Jedes neue Werk wurde mit der eigenen Wirklichkeitserfahrung verglichen und zu gleicher Zeit zu anderen bereits gehörten oder in wenigen Fällen selbst gelesenen Werken in Beziehung gesetzt. Das auf diese Weise entstandene Dokument ist einmalig. Aus jener Zeit sind keine vergleichbaren Beispiele bekannt. Die rezeptive Grundsituation der namentlich genannten und im Buch kurz vorgestellten Personen war nahezu identisch. Die literarisch-künstlerischen, politisch-ideologischen und biographisch-geschichtlichen Bezugspunkte, die bei der Aneignung und Bewertung der Werke eine Rolle spielten, wichen nur geringfügig voneinander ab. Trotzdem waren die Werkeinschätzungen nicht stereotyp. Persönliche Eindrücke und Neigungen wurden mitunter recht hartnäckig verteidigt, ohne daß der Lehrer auf die Herausbildung einer gemeinsamen Auffassung in 105

der einen oder anderen literarischen Frage bestanden hätte. Die kollektiv vor sich gehende Rezeption - eine sich minimal verändernde Zuhörerschaft „erlebt" die vorgelesenen Werke - ist demnach als ein Vorgang der i n d i v i d u e l l e n Rezeption zu verstehen. Textaneignung und die im kollektiven Meinungsaustausch erarbeitete, durchaus nicht widerspruchsfreie Werkinterpretation spiegeln eine völlig neue Beziehung zwischen Werk und Leser bzw. Hörer wider. 275 Im nachhinein formulierte Toporow das Ziel, das er sich von Anfang an gestellt hatte, wie folgt: „1. Von den Bauern selbst in Erfahrung bringen, was sie von der neuesten schönen Literatur annehmen, was sie als unbrauchbar verwerfen und was sie von den zeitgenössischen Schriftstellern erwarten. 2. Die unsinnige Meinung widerlegen, die Bauern könnten meisterhafte Wortkunstwerke nicht verstehen und richtig beurteilen. 3. E r s t e B e i s p i e l e e i n e r a u f r i c h t i g e n , a l l g e m e i n v e r s t ä n d l i c h e n , u n v o r e i n g e n o m m e n e n L i t e r a t u r k r i t i k geb e n , d i e f r e i v o n G r u p p e n t e n d e n z e n ist. 4. Eine lebendige B r ü c k e z w i s c h e n B a u e r n u n d S c h r i f t s t e l l e r n errichten. 5. Den Landarbeitern Liebe zum lebendigen Wort einimpfen. 6. Den Verlagen bei der Auswahl schöner Literatur für das Dorf nach Kräften helfen. 7. Mit der Erziehung von Literaturkritikern aus der Tiefe des Volkes beginnen." 276 Der Text beschreibt den Versuch, Landarbeiter an das Buch heranzuführen. Dennoch darf die soziale Eingrenzung auf den b ä u e r l i c h e n Rezipienten nicht zu eng gesehen werden. Bereits die zeitgenössische Kritik machte Toporow auf die ungerechtfertigte Überbetonung des bäuerlichen sozialen Status aufmerksam. Die Frage: „Sind das denn typische Bauern?" 2 7 7 hatte einen rationalen Kern. Die Kommunemitglieder hatten auf Grund ihrer besonderen Produktionsverhältnisse und der an sie gebundenen Mentalität zwar ausgeprägte bäuerliche Züge, unterschieden sich aber durch ein entscheidendes Merkmal schon damals von den Bauernmassen: Sie hatten kein Eigentum mehr an Produktionsmitteln und bewirtschafteten den Boden kollektiv. Insofern beschränkt sich der Modellcharakter der von Toporow aufgezeichneten Literatururteile nicht auf das seit Jahrhunderten spezifische bäuerliche Milieu in Rußland. Die Tatsache, daß es ständig herausgestellt wurde und daß die einzelnen Personen selber immer wieder beteuerten, sie urteilten als B a u e r n

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über Literatur, erklärt sich zweifellos aus der Art und Weise, wie Toporow die Arbeit anleitete. Die von ihm soziologisch zugespitzten Fragen, insbesondere die Betonung des praktischen Nutzens von Literatur für das D o r f , für die Denk- und Lebensweise d e r B a u e r n , entsprachen dem ästhetischen Konzept, das er sich in jungen Jahren, also bereits vor der Revolution, angeeignet hatte und von dem noch später die Rede sein wird. Die Analyse der publizierten Äußerungen zeigt die Widersprüche, die Möglichkeiten wie die Grenzen einer systematischen Arbeit mit dem Buch unter den Bedingungen der sich in den zwanziger Jahren neu herausbildenden sozialistischen Literaturverhältnisse. Zwei Momente sind bei der Auswertung der Materialien zu berücksichtigen, ohne daß sie ständig ins Blickfeld gerückt werden können: Zum einen die bereits charakterisierte rezeptive Grundsituation in der Kommune. Sie war geradezu ein Idealfall literarischer Rezeption unter den gegebenen Umständen zu Beginn der sozialistischen Kulturrevolution in einem Land, dessen Bevölkerung 1917 zu 76 Prozent aus Analphabeten und Halbalphabeten bestand. Dieser Idealfall, wie einfache Bauern von den kulturellen Werten Besitz ergreifen, spiegelt in historisch verkürzter Frist die zeitlich überlagerten Stufen von einer naiven zu einer bewußten Aneignung literarischer Texte. Die am sibirischen Modell erkennbare Gleichzeitigkeit in sich widersprüchlicher Vorgänge macht sichtbar, wie die Kulturrevolution in der Praxis am Werke war und wie diese Praxis mit ihren Widersprüchen letztendlich die literarischen Prozesse beeinflußte. Und zum anderen die Tatsache, daß die Äußerungen der Zuhörerschaft über ihre Literatureindrücke Ausdruck jener unmittelbaren Kunstwirkungen waren, die die revolutionär gesinnten Künstler im jungen Sowjetstaat einschließlich der künstlerischen Avantgarde zum Ziel ihrer neuen Kunstanstrengungen erklärten. So betrachtet, hatten die Literatururteile solcher sich erst zum Leser entwickelnden Rezipienten sogar eine provokative Note, die im Streit der Künstler mit der professionellen Literatur- und Kunstkritik nicht selten ausgespielt wurde, ohne daß dabei konkret auf das sibirische Modell verwiesen werden konnte, weil es einfach noch nicht bekannt war. So unterschied Sergej Eisenstein unmißverständlich zwischen zwei Arten von Kritik, zwischen der Kritik der Arbeiterauditorien, für die die revolutionären Künstler schaffen, und der Kritik der Fachleute, wobei seine Sympathie eindeutig ersteren galt. Er schätzte deren „unmittelbare Anschauung und Wahrnehmung", das noch nicht abgestumpfte 107

Sehvermögen und zog es der „dazwischen" gelagerten Kritik von Leuten vor, „die zum wahren Kennen und Verstehen unserer Sache noch nicht herangereift sind und zugleich für die unmittelbare Wahrnehmung bereits ihre 'Unschuld verloren' haben" 2 7 8 . Der rezeptiven Grundhaltung naiver Leser sind allerdings objektive Grenzen gesetzt. Das traf auch auf die Zuhörerschaft Adrian Toporows zu. Über diese Grenzen war um 1930 noch keine vernünftige Verständigung möglich, da eng subjektive bzw. gruppengebundene Auffassungen noch meist im Vordergrund standen. Toporow selber hatte sie nicht real eingeschätzt. Lunatscharski brachte sie zur Sprache, als er sich zu praktikablen Lösungen des Grundprinzips „Die Künste müssen den Massen verständlich sein" äußerte. Er gab zu bedenken, ob es beispielsweise richtig war, daß Toporow vor Bauern Neid von Juri Olescha vorgelesen hatte. Der totale Verriß dieses „hervorragenden Romans" - Lunatscharski berief sich in diesem Zusammenhang sogar auf einige Bemerkungen Gorkis - bestätige, daß man sich nicht ausschließlich nach dem einfachsten, unerfahrensten Leser richten dürfe. Es müßten auch höhere kulturelle Ansprüche befriedigt werden. Diese Feststellung hebe die Forderung nach Verständlichkeit keineswegs auf. Er sei sogar überzeugt, dieselben Bauern würden, wenn sie das Leben in der Stadt kennenlernten, nach zwei bis drei Jahren ihr scharfes Urteil von früher wieder zurücknehmen. 279 Toporow lehnte, wie bereits erwähnt, die Vorgabe von Rezeptionsmodellen, bezogen auf ein bestimmtes Werk und einen bestimmten Autor, ab. Das engte natürlich in gewissem Rahmen die Aufnahmebereitschaft für solche Bücher wie den Roman von Olescha ein. Dabei entwickelte sich die Kritikfähigkeit seiner Zuhörer ganz und gar nicht im Selbstlauf, d. h. nicht automatisch durch die Werke selbst, wie anfangs viele Vertreter der künstlerischen Avantgarde angenommen hatten. Sollte, wie beabsichtigt, die „unmittelbare Anschauung und Wahrnehmung" artikuliert werden, bedurfte es eines Impulses. Als Lehrer wußte Toporow, daß das Gespräch über einen noch unbekannten Gegenstand keinen Nutzen bringt, wenn es nicht angeleitet wird. Daher erarbeitete er sich als methodisches Hilfsmittel eine Art Fragespiegel: „Die zusammengestellten Fragen trug ich jedesmal dem Auditorium vor und forderte es auf, über sie nachzudenken, sie zu ergänzen oder abzuändern. Bei einer Buchbesprechung bat ich die Zuhörer, sich zunächst völlig frei, nicht anhand meiner Fragen, zu äußern. Wenn die freie Aussprache versiegte, 108

stellte ich Fragen: für den 'fortgeschrittenen' Zuhörer war das schwerer, für den Anfänger leichter. Die Fragen wurden in einfacher Form gestellt. Ohne Fragen kam man nicht aus, vor allem in der allerersten Zeit. Ich kenne viele Fälle, daß sich selbst kluge Bauern ohne Fragen verlassen vorkamen und nichts zu sagen hatten. Die Fragen führten sie aus der Sackgasse und die 'hoffnungslosen' Kritiker gaben ausgezeichnete Urteile ab. Die Fragen erziehen schließlich die 'Schweiger' zum öffentlichen Reden." 280 Toporow beteuerte, daß er stets darauf geachtet habe, daß er weder durch Gestik noch durch Intonation den eigenen Lektüreeindruck vermittelte und auf diese Weise das Auditorium beeinflußte. Und dennoch war das beschriebene methodische Verfahren nicht frei von Beeinflussung. Dem als Orientierungsschema ausgearbeiteten „Fragespiegel" 281 lag ein ästhetisches Normensystem zugrunde, das den Lektüre- bzw. Hörvorgang von Anfang an in eine ganz bestimmte Richtung lenkte. Diesem didaktischen Moment kommt sogar eine größere Bedeutung zu, als gemeinhin bei der Beschreibung des sibirischen Modells angenommen wird. Die Interaktion Werk Hörer / Leser ging eben trotz der vielgerühmten Unmittelbarkeit bei der Aneignung eines literarischen Textes nicht ohne ideologische Inhalte und Interessen vermittelnde Ideen vonstatten, die mit den ästhetischen Normen transportiert wurden und in den nicht theoretisch formulierten Fragen verpackt waren.282 Ein wertendes Moment lag allein schon in der Auswahl der von Toporow vorgetragenen Texte, trotz aller Zufälligkeiten, die in dem einen oder anderen Fall auf Grund der Buchsituation eine Rolle spielten. Der breite Spielraum, auf den Toporow so großen Wert legte, bezog sich vor allem auf die Entwicklung der Fähigkeit, selbständig Urteile über Kunsteindrücke zu fällen und zu artikulieren. Zu diesem Zwecke setzte er Schwerpunkte. An ihrem Beispiel soll zugleich ermittelt werden, welche ästhetischen Vorstellungen Toporow der Arbeit mit dem Buch zugrunde legte. Der Anspruch auf Wahrhaftigkeit

Die Entsprechung von Buchwelt und wirklicher Welt rückte in den Mittelpunkt der persönlichen Beziehung zu einem gehörten Text. Es bedürfte nicht einmal der Kenntnis des „Fragespiegels", um dieses zentrale Kriterium herauszufinden. Die von Toporow gestellte Frage: „Entspricht das vom Schriftsteller Dargestellte der Wahr109

heit?" 2 8 3 besaß natürlich eine enorme Suggestivkraft. Trotzdem wäre es eine grobe Vereinfachung, würde diese Sicht auf die in einem literarischen Werk vorgeführte fiktive Welt ausschließlich als ein Ergebnis der methodisch-didaktischen Arbeit des Dorflehrers begriffen. Die direkte Beziehung, die die Kommunemitglieder zwischen Buchwelt und selbsterlebter Welt herstellten, ergab sich in Anbetracht der spezifischen Rezeptionsbedingungen weitgehend aus der besonderen Beschaffenheit der ausgewählten Texte. Am deutlichsten ist dieser Vorgang an den literarischen Beispielen zu erkennen, die vergleichbare Ereignisse aus der Zeit von Revolution und Bürgerkrieg behandelten. Das jeweilige Werk wurde als eine Aufforderung verstanden, die realen Wirklichkeitsprozesse tiefer zu erfassen und damit auch die eigenen Lebenserfahrungen in ähnlichen Situationen. Oder anders ausgedrückt: Die Unmittelbarkeit, mit der die literarischen Texte danach befragt wurden, ob das Dargestellte „wahrhaft" ist, war bis zu einem gewissen Grad Ausdruck didaktischer Vorgaben wie auch noch wenig entwickelter ästhetischer Urteilsfähigkeit (Kunst wird mit Leben identifiziert); in hohem Maße war sie aber zugleich eine Folge der wirkungsstrategischen Komponenten, die in solche realistischen Texte „eingeschrieben" sind. Diese von Rita Schober theoretisch aufgearbeitete Doppelperspektive Werk - W e l t , Welt - Werk erklärt solche Besonderheiten einer pragmatischen Lektüreweise unter Berücksichtigung der konkreten zeit- und literaturgeschichtlichen Zusammenhänge.- 84 Die Lektüre 285 sowjetischer Neuerscheinungen über die jüngsten geschichtlichen Ereignisse setzte bei den Lesern eine Fülle von Bezügen zur eigenen Wirklichkeitserfahrung frei. Der dadurch provozierte Vergleich des literarischen Gegenstands und der literarischen Darstellung, mit den persönlichen Erfahrungswerten birgt bei einem naiven Leser gewöhnlich die Gefahr in sich, daß die eigene empirische Weltsicht zu einem Schema zusammengepreßt wird, nach dem über Kunstwerke befunden wird. Das sibirische Modell läßt solche Tendenzen erkennen. Daß sie jedoch nicht dominierten, war dem Umstand zu verdanken, wie der Umgang mit dem Buch vor sich ging. In einem verhältnismäßig kurzen - sicherlich einmalig kurzen Zeitraum wurden hintereinander viele Texte, dabei sehr verschiedene, vorgetragen. Infolgedessen erweiterte sich ständig nicht nur die Vorstellungswelt, sondern auch die Kritikfähigkeit. In dem Maße, wie sich zu den persönlichen Erfahrungen immer mehr Literaturerfahrungen hinzugesellten, schärfte man die kritische Haltung 110

zur eigenen Weltsicht und damit die Bereitschaft, aktiv in den Lebensprozeß einzugreifen. So bestätigte das Experiment in der Praxis Wirkungsmöglichkeiten von Literatur, die der Autor Brecht generell von der Kunst forderte, um „die Wahrheit handhabbar zu machen als eine Waffe", ein Gedanke, den er 1935 in den Lehrsatz faßte: „Wenn man erfolgreich über schlimme Zustände schreiben will, muß man sie so schreiben, daß ihre v^rmeidbaren Ursachen erkannt werden können. Wenn die vermeidbaren Ursachen erkannt werden, können die schlimmen Zustände bekämpft werden."286 Toporow las einige der bekannten Bürgerkriegsdarstellungen in folgender Reihenfolge vor: Zwei Welten (1921) von Wladimir Sasubrin, 'Partisanen (1921) von Wsewolod Iwanow, Eine Woche (1922) von Juri Libedinski und Der eiserne Strom (1924) von Alexander Serafimowitsch. Diese Lesungen erfolgten im Verlaufe von knapp zwei Jahren, Ende 1927 bis Oktober 1929, also zu einem Zeitpunkt, da viele der Zuhörer bereits über relativ breite Literaturkenntnisse verfügten und recht souverän mit Namen und Werken umgingen. Autoritäten zählten nicht. Außerdem war man ja recht wenig bewandert in den feinen Differenzierungen und Streitigkeiten, die sich auf den Seiten der zentralen literarischen Zeitschriften widerspiegelten. Man beurteilte den jeweils neuen literarischen Text: kritisch, möglichst vorurteilsfrei, in der überwiegenden Mehrheit betont emotional. Die meist gebrauchten Begriffe, mit denen die Werk — Wirklichkeit-Beziehung in den genannten Bürgerkriegsromanen beschrieben wird, sind auf den ersten Blick einander sehr ähnlich. Die Äußerung zu Isaak Goldbergs Erzählung Der Sarg des Obersten Nedotschedow: „Das ist r i c h t i g d a r g e s t e l l t . So war es"287 war eines der häufigsten Argumente, mit denen die Bedeutung und Wirkung eines literarischen Textes im Meinungsstreit verteidigt wurden. Viele Formulierungen unterscheiden sich dem Sinn nach nicht voneinander: „Nach dem Leben aufgezeichnet" (80), „alles ist w i r k lich wahr" (78), „alles ist wie im Leben und aus dem Leben genommen" (146), „vollständige Ähnlichkeit mit dem Leben" (148), „die reine Wahrheit" (148), „ich erkenne alles als richtig an" (154 ). . . Die Ausdrucksweise erinnert an eine Zeugenaussage. Dementsprechend war auch die Ablehnung formuliert, die Verketzerung einer Episode oder Figur mit „Lüge" (170). Aber in der Regel beschränkte sich die Einschätzung eines Werkes nicht auf den Gegensatz Wahrheit — Lüge. Der Wahrheitsbegriff wurde difieren 111

zierter gehandhabt, vor allem von solchen Zuhörern / Lesern, die auf das Künstlerische („chudozestvo") in einem Werk und die besondere innertextliche Funktion einzelner Episoden, Figuren und Aussagen hinwiesen. Am deutlichsten kommt das in solchen Bemerkungen zum Ausdruck, die den auf die Literatur angewandten Wahrheitsanspruch mit konkreten Forderungen an das jeweilige Werk bzw. seinen Autor verknüpfen. Partisanen von Iwanow hielten dem kritischen Urteil nicht stand. Die Aussprache ähnelte einem unerbitdichen Gerichtsverfahren. Abgelehnt wurde nicht die Schreibweise schlechthin, obzwar die färben- und metaphernreiche Sprache keinen Anklang fand. Abgelehnt wurde Iwanows 'Darstellung einer Partisaneneinheit in Sibirien. Widerspruch rief gleich im ersten Kapitel die Motivierung hervor, warum Selesnjow zu den Partisanen ging. Er habe lediglich seine eigene Haut retten wollen, weil in seinem Hause ein Mord begangen wurde. Einen Beweis, daß er „nach seinem Gewissen" einfach nicht anders hätte handeln können, gebe es nicht. Folglich überzeugte seine Entscheidung nicht: „Sein Platz ist nicht bei den Partisanen. Der Klasse nach geht das nicht. Er ist kein Schaf aus unserem Stall. Er hätte ruhig bei den Weißen bleiben können. Niemand hätte ihm ein Haar gekrümmt. Selbstgebrannter? Das ist kein Verbrechen. Er hätte die Partisanen denunzieren können, und die Koltschak-Leute hätten ihm verziehen. Als er das Dorf schon verlassen hatte, da erst schlug er sich zu den Partisanen." (100) Aus diesem Grunde wurde das erste Kapitel verworfen und für überflüssig erklärt. Der Autor solle es streichen. Die Begründung lief auf den Einwand hinaus: „Nirgends wohl war es so, daß die Partisanenbewegung mit Schnapsbrennen begann." (98) In der Realität seien die Leute gezwungen gewesen, sich den Partisaneneinheiten anzuschließen, damit sie den Schikanen und Untaten und Morden der Koltschak-Leute entkamen. Die Vorwürfe an die Adresse des Autors betrafen nicht nur die Figur des Selesnjow. Sie betrafen das gesamte Konzept der Erzählung. Die Erwartungen, die der Titel geweckt hatte, waren enttäuscht worden: „Der Autor hat die Partisanen mächtig verbäuerlicht. Solche wie bei ihm waren kaum bei den Partisanen." (96) „Was sind das schon für Partisanen? Es ist unglaubhaft, daß Selesnjow zum Organisator werden konnte . . . Man sieht nicht ihre (d. h. der Partisanen - N. T.) rote Idee. Das sind keine richtigen bewußten Partisanen . . . Und sie haben sozusagen eigentlich nichts geleistet, 112

sondern nur Mist gebaut, worunter viele Leute zu leiden hatten." (101) Angefochten wurde also Iwanows Wiedergabe eines bedeutenden historischen Vorgangs an einem Einzelfall, der nach der fast einhelligen Meinung der Zuhörer mit der Partisanenbewegung nicht übereinstimmte. Obwohl einzelne Szenen und Details im Verlaufe der Lesung ihre Wirkung auf das Auditorium nicht verfehlt hatten, lautete der Urteilsspruch: Verstoß gegen die Wirklichkeit. Mit dem Wahrheitsbegriff wurde in diesem Zusammenhang nicht argumentiert, aber der Anspruch auf eine w a h r h a f t e Darstellung der Partisanenkämpfe bestimmte eindeutig die Wertung. Die Lebenspraxis war das entscheidende Kriterium, nicht ein genaues interpretatorisches Verfahren. Dabei wurde nicht abstrakt diskutiert, sondern stets konkret. Behauptungen wurden mit Beispielen belegt, die sich bei der Lesung eingeprägt hatten. Der Hinweis auf bereits bekannte Werke, insbesondere auf das Poem Partisanen (1927) von Pjotr Petrow, macht diesen Sachverhalt noch deutlicher. Der Doppelbezug, der Bezug auf die eigene Wirklichkeitserfahrung u n d auf andere literarische Modelle, erweist sich im Falle der Partisanenerzählung von Iwanow (und nicht nur hier) als ein durchgängiges Verfahren der Urteilsfindung, das jedoch nicht zu verwechseln ist mit den zwei - in der Rezeptionsästhetik gegenwärtig vieldiskutierten - unterschiedlichen Methoden, der empirischen und der hermeneutischen, mit denen versucht wird, genauere Aussagen über die Sinnkonstituierung eines literarischen Textes zu gewinnen. Das Poem Partisanen war in der Kommune ausschließlich positiv bewertet worden. 288 Solche Beispiele einer völligen Identifikation mit einem vorgetragenen Text waren selten. Im Falle der Dichtung von Petrow läßt sie sich mit der Brisanz der Thematik allein nicht erklären, denn diese war schließlich auch in Iwanows Erzählung gegeben. Die Rezeption wurde von einem veränderten Zeit- und Geschichtsempfinden beeinflußt. Ende der zwanziger Jahre spitzten sich die Debatten über die historische Wahrheit der literarischen Darstellung von Revolution und Bürgerkrieg zu. Die Teilpublikationen der großen Bürgerkriegsromane von Alexej Tolstoi und Michail Scholochow, Alexander Fadejews Die Neunzehn, Majakowskis Oktober-Poem Gut und schön u. a. hatten sie neu belebt. Die frühen Werke von Sasubrin, Iwanow, Libedinski und Serafimowitsch standen dadurch plötzlich in einem anderen literarischen und ge8

Thun; Autor, Leser

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schichtlichen Umfeld. Und obgleich die Zuhörerschaft in der sibirischen Kommune diesen Wandel, der die kritische Sicht auf die frühen sowjetischen Werke enorm verschärfte, wohl kaum bewußt mitvollzog, betrachtete auch sie die selbst durchlebten Revolutionsereignisse aus einem veränderten Blickwinkel. Die wachsende zeitliche Distanz verlagerte das Interesse vom Vereinzelten, Besonderen auf den geschichtlichen Prozeß in seiner Gesamtheit. Das Selbsterfahrene wurde als Teil wie als Ausdruck einer großen historischen Bewegung begriffen. Dieses neue Erkennen und Sehen prägten die Aneignung der in Lesungen vorgeführten Texte. Die Frage, daß in einem Einzelfall die Partisanentätigkeit eben auch durchaus in der von Iwanow geschilderten Weise hätte entstehen und verlaufen können, berührten die Kommunemitglieder gar nicht. Das Ganze in seinen typischen Erscheinungsformen wurde im Einzelnen gesucht. Dennoch ist diese Erklärung noch nicht ausreichend, um zu verstehen, warum die Kommunemitglieder Iwanows Partisanen, d. h. eine der frühen künstlerisch starken Darstellungen der Partisanenbewegung in Sibirien, so rigoros ablehnten, aber Petrows Poem Partisanen, eine künstlerisch wenig gelungene Dichtung, in einer derart kategorischen Weise literarisch aufwerteten. Es ist zu vermuten, daß hier Auseinandersetzungen reflektiert wurden, die speziell in der sibirischen literarischen Öffentlichkeit breite Kreise zogen: Wer ist kompetent, über ein Ereignis zu schreiben? Etwa nur derjenige, der selbst daran beteiligt war? Sasubrins Frage an Petrow: „Können denn nur Partisanen über Partisanen etwas wissen?" 289 beschreibt diesen Streit über die Authentizität der Zeugenschaft als ein Problem der literarischen Produktion. Es war nicht minder ein Problem der literarischen Rezeption. Die Grenze zwischen beiden Seiten, zwischen dem Autor und dem Leser, ist aufgehoben, sobald der Autor in die Rolle eines Lesers schlüpft. Diesen Vorgang beschrieb Petrow in seinem Brief vom 14. Juli 1929 an Toporow. Angeregt durch die Veröffentlichung der Diskussion über Iwanows Partisanen, teilte er dem Dorfschullehrer mit, daß er vor fünf Jahren, also v o r dem Schreiben seiner eigenen Dichtung, in einem Gutachten genau so hart Iwanows Partisanen verurteilt habe wie das Auditorium Toporows.290 Das Einverständnis zwischen dem Autor Petrow und den Zuhörern aus der Kommune beruhte folglich auf einer gleichen Meinung in der Schlüsselfrage, wie historische Begebenheiten realistisch dargestellt werden sollten. Die Überein114

Stimmung kam bei der positiven Beurteilung der Dichtung und der Ablehnung der Erzählung zutage, obwohl ein direktes Vorverständnis nicht vorlag. Und dennoch haben einige Faktoren diesen Rezeptionsvorgang beeinflußt. Petrow schrieb seine Dichtung in innerer Polemik mit Iwanows Text (die gleiche Titelwahl erhärtet diese Vermutung), die von den mittlerweile literarisch recht bewanderten Kommunemitgliedern mühelos aufgespürt wurde, und Toporow steuerte diesen Vorgang, indem er beide Werke nicht in chronologischer Reihenfolge vorlas, sondern erst das Poem und nach einer Woche die sechs Jahre früher geschaffene Erzählung. Problematisch bleibt der an diesem Beispiel sichtbare Widerspruch zwischen öffentlich bescheinigter adäquater Wirklichkeitsdarstellung und überschätzter literarischer Qualität. Der Autor, vorwiegend Prosaschreiber, bekannte sich selber zu den Mängeln. In der Kommune kamen sie nicht ein einziges Mal zur Sprache. Das war ungewöhnlich. Toporow erklärte rückblickend die Dichtung ebenfalls als ein nicht gelungenes Werk. 294 Offenbar spielte die persönliche stoffliche Befangenheit der Rezipienten die entscheidende Rolle, daß das Wahrheitskriterium so absolut gesetzt wurde, denn in den meisten Fällen hat man der freien künstlerischen Gestaltung des Wirklichkeitsstoffes einen breiteren Spielraum zugestanden. Im Verlaufe der Aussprache über den Roman Der eiserne Strom von Serafimowitsch entbrannte ein Streit um die künstlerische Funktion der alten Gorpina im Roman. Der Auffassung, sie spiele innerhalb der Handlung überhaupt keine Rolle und daher überzeuge ihre Anwesenheit im Text nicht, wurde entgegengehalten: „Es mußte doch ein Bild gezeigt werden. Was die Gorpina zu Anfang sagte und was zum Schluß, das ist der Sinn." (158) Diese Äußerung eines achtunddreißigjährigen Mitglieds der Kommune, eines ehemals landarmen Bauern, der im Selbststudium lesen und schreiben gelernt hatte, deckt sich mit den heute gängigen wissenschaftlichen Interpretationen der Funktion, die der Gorpina innerhalb der Romanstruktur zugesprochen wird. Dieses Beispiel beweist, daß durchaus nicht nur einseitig in der Richtung diskutiert wurde, ob eine Episode oder eine Figur mit der Wirklichkeit übereinstimmt oder nicht. Überhaupt war wohl bei keiner anderen Textdiskussion so oft vom „Künstlerischen" („chudozestvo") die Rede wie in bezug auf den 8*

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Eisernen Strom. Bezeichnend hierfür ist die Bemerkung: „In Zwei Welten ist viel Grauenhaftes, aber hier mehr Künstlerisches." (159) Einzelne Tatsachen, die im Roman fehlen, aber eigentlich hätten gestaltet sein müssen, werden mit Bezug auf die spezifisch künstlerische Abbildung der Realität und auf die besondere Funktion von Kunst in der Realität nicht ausdrücklich gefordert, obwohl von ihnen durchaus die Rede ist. Die kritischen Überlegungen betreffen in der Mehrzahl den Gesamteindruck: „Das Geschriebene müßte so beschaffen sein, daß die Leiden der Leute auf ihrem Treck und in der Schlacht dargestellt sind, aber so gibt es in den Kämpfen keine Leiden . . . Fast nicht! Noch mehr wären die Zuhörer erschüttert, wenn die unsrigen im Kampfein ganz klein bißchen litten. Wir sprechen nicht davon, daß man die Unsrigen schlug, aber das hier ist doch Kunst! Das muß erschüttern!" (159) Leichte Siege gab es nicht in der Realität. Ihnen glaubte man auch nicht in der Kunst, akzeptierte höchstens, daß das Schwere, schier Unerträgliche im alltäglichen Leben nicht immer ausgesprochen wird, während es die Kunst aussprechen müsse. Die Wahrhaftigkeit der literarischen Darstellung in einem Buch wurde auf zwei Ebenen diskutiert: bezogen auf die Glaubwürdigkeit eines an der gemeinschaftlichen Lebenspraxis wie der eigenen Lebenserfahrung überprüfbaren Vorgangs und auf die Genauigkeit der vermittelten Details. Die erste Ebene, die erstrebte Übereinstimmung einer künstlerischen Aussage mit der Praxis292, beschränkte sich im konkreten Fall nicht darauf, daß die Übereinstimmungsrelation der entscheidende Maßstab war, nach dem ein literarisches Werk bewertet wurde. Hier kreuzten sich zwei Betrachtungsweisen von Kunst, die in der Theorie verbreitet streng voneinander getrennt werden: die Übereinstimmung von Kunst und Wirklichkeit unter gnoseologischen Gesichtspunkten und die soziale Brauchbarkeit eines Kunstwerks. 293 In der Aussprache über ein soeben gehörtes Werk verknüpfte man das eine mit dem anderen. Das Gebrauchtwerden eines Buches in der privaten wie gesellschaftlichen Lebenssphäre wurde an den Wahrheitsgehalt gebunden. Inwieweit man dieses Konzept im Rückgriff auf die revolutionär-demokratischen Traditionen entwickelte, wird in der Gesamteinschätzung des sibirischen Modells noch näher erörtert. Die zweite Ebene, die Authentizität der Details und Beschreibungen, betrifft Grundfragen der literarischen Technik. Die Leute verlangten von einem Schriftsteller, daß er ein Ding, das er beschrei116

ben will, mit Sachkenntnis beschreibt, oder anders ausgedrückt: daß er sein Handwerk beherrscht. Jeden Verstoß gegen diese Regel ahndeten sie mit scharfen Vorwürfen, betraf dies nun ein technisches Detail oder eine Verhaltensweise in einer bestimmten Situation. Trotz höchsten Lobs für die Wahrhaftigkeit der Darstellung in Lidija Sejfullinas Erzählung Rechtsverletzer (1922) wurden vereinzelte „unglaubhafte" Episoden und Ausdrücke herausgepickt, die ihrer Meinung nach den Eindruck innerer Geschlossenheit und die Wahrheitstreue verletzten.294 Und umgekehrt äußerten sie ihre aufrichtige Bewunderung für die hervorragende Beobachtungsgabe und detaillierte Lebenskenntnis eines Autors und belegten dies mit Beispielen, die sie sich beim Hören erstaunlich genau gemerkt hatten. Aus Iwanows Erzählung Partisanen prägten sich u. a. folgende Einzelheiten ein: „Selbst zu den Kücken hat der Schriftsteller das Passende gefunden. Sieh nur, sie sind wie Butterklümpchen." (94) „Den Zimmerleuten sind die Hände von der Axt steif geworden. Die Handflächen lassen sich nicht gradebiegen. Richtig. Ich bin selber Zimmermann. Ich weiß das." (94) Trunew meinte unter Bezugnahme auf das bekannte PuschkinGedicht Der Schuster (Ein Gleichnis)295: „'Nicht weiter als bis zum Schuh' urteilen auch die Kommunemitglieder" und fügte dieser Bemerkung einschränkend hinzu, „aber in ihrem Urteil darüber, was sie kennen, sind sie streng". Wichtig in diesem Zusammenhang ist außer der Feststellung, daß jeder einzelne der neuen Leser einen bestimmten Arbeitsvorgang beherrscht und einen bestimmten Wirklichkeitsbereich gründlich kennt, vor allem die daraus gezogene Schlußfolgerung: „Die Vielfalt und Breite dieser Kenntnisse der Leser zusammengenommen läßt erkennen, wie aus der einfachen, nicht ausgetüftelten Forderung nach 'Wahrhaftigkeit' etwas anderes entsteht: die Forderung an den Schriftsteller nach genauem Wissen und umfangreichen Kenntnissen von allem, was er darstellt."296 Zur Bekräftigung der damit den Lesern in ihrer Gesamtheit bescheinigten Kompetenz, Literatururteile fällen zu können, kann auf Bertolt Brecht verwiesen werden, der jedem das Recht absprach, etwas von Kunst verstehen zu wollen, „ohne von der Wirklichkeit etwas zu verstehen"297. Es ist nicht schwer herauszufinden, daß das am sibirischen Modell von den Zeitgenossen erörterte Wahrheitsproblem die Grundfrage realistischer Darstellung berührt. Wurde über, den Wahrheitsgehalt eines literarischen Werkes befunden, so ging es den Zu117

hörern zu allererst um Glaubwürdigkeit, um Authentizität im „Kleinen" wie „im Großen", d. h., sie erwarteten von einem Kunstwerk (mit Ausnahme des Märchens!), daß es Aussagen macht, die der konkreten Lebenspraxis nicht widersprechen, ohne daß die Forderung nach „Verdoppelung" der Wirklichkeit erhoben wurde, wie dies bei einer naiven Kunstbetrachtung nicht selten der Fall ist. Der an die Literatur gerichtete Wahrheitsanspruch erwuchs ihrer Lebenshaltung, ihrer im Alltag erwirkten Berechtigung, unter den revolutionär veränderten Lebensbedingungen am gesellschaftlichen Lebensprozeß mitzuwirken. Kunst und Literatur bezogen sie in diesen geschichtlichen Lebenszusammenhang unmittelbar mit ein. Die konkreten sozialen und kommunikativen Verhältnisse, in denen sie sich literarische Texte aneigneten, bedingten die Koppelung der Wahrheitsproblematik an den sozialen Gebrauch der Bücher, die ihnen Adrian Toporow im Dorfklub vorstellte.

Über die Brauchbarkeit der neuen Bücher Es ist dies eine der umstrittensten, weil häufig doktrinär gehandhabten Fragen, die Toporow am Schluß einer Lesung an sein Publikum zu richten pflegte: B r a u c h t das Dorf das Buch, oder kann es darauf verzichten? Dieser praktische Aspekt erschließt eine wesentliche Seite der heute meist mit Leseverhalten 298 bezeichneten Wirkungen der literarischen Texte auf die Zuhörerschaft in der sibirischen Kommune. Die Frage nach der gesellschaftlichen Brauchbarkeit eines bestimmten Kunstwerks läßt sich erst dann beantworten, wenn die Frage nach den Zwecken von Literatur und von Kunst schlechthin in dem konkreten sozialen und geschichtlichen Zusammenhang hinreichend geklärt ist. Das sibirische Modell bestätigt diese allgemeine Regel. Zu dem Zeitpunkt, da Toporow die Meinungen seines Auditoriums aufzeichnete, also in den Jahren 1927 bis 1929, hatte sich beim Kern seiner Zuhörerschaft bereits eine feste Meinung darüber herausgebildet, welche Funktionen Literatur in der sich entwickelnden sozialistischen Gesellschaft hat. Das Modell gibt folglich weniger Auskunft über den Vorgang, wie solche Vorstellungen allmählich entstanden, als vielmehr über schon kollektiv erarbeitete, relativ gefestigte Literaturauffassungen, die bereits den Charakter von Normvorstellungen angenommen hatten. Die „Etablierung von ästhetischen und ideellen Vorgaben für die individuelle Rezeption" 299 118

hatte also schon stattgefunden, war aber nicht abgeschlossen. Die neu rezipierten Werke erweiterten ständig die Vorstellungen davon, was Literatur unter den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen zu leisten vermag bzw. was die aktive, schöpferische Aneignung eines literarischen Textes hemmt. In einigen Fällen setzte ein Buch sogar neue Maßstäbe, und dann wurde der Titel zu einer Art Kürzel für die Bezeichnung des Standards, nach dem über neue Texte befunden wurde. Sasubrins Roman Zwei Welten - Toporow hatte ihn sicher absichtlich ziemlich an den Anfang der Lektüre sowjetischer Bürgerkriegsromane^gestellt - übernahm in diesem Sinne die Funktion einer Art Vorverständigung über die Kriterien, nach denen über andere Schreibweisen geurteilt wurde. Blinow, ein vierzigjähriger politisch aktiver belesener Bauer ohne abgeschlossene Grundschulbildung, hatte den Roman nicht nur gehört, sondern auch gründlich gelesen; seinen Gesamteindruck faßte er in die Worte: „Das Dorf braucht das Buch für die Volksbildung. Nach dem Lesen versteht selbst jeder Holzkopf, welche 'Welt' besser ist, die weiße oder die rote . . . Zwei Welten ist akkurat für Leute wie uns verfaßt. Mag sein, manch ein 'Schöngeist' ist nicht befriedigt. Für uns ist es grade das richtige. Besser braucht es nicht zu sein." (88) Er rückte also die politisch-aufklärerische Funktion bei der Bewertung an die erste Stelle und legte seine - hier stark gekürzt wiedergegebene - Meinung ganz konkret am literarischen Material dar. Das gleiche trifft auf die gesamte Diskussion über Sasubrins Roman zu, so daß der aufmerksame Leser des Buches von Toporow Bauern über Schriftsteller ohne Schwierigkeiten erkennt, warum gerade dieser Roman bei den Überlegungen über andere Texte ständig zum Vergleich herangezogen wurde, um den eigenen Standpunkt in Einzelfragen klarer zum Ausdruck zu bringen. Zusammengefaßt ergibt sich folgendes Bild: Generell wurde von einem literarischen Text „Politik" erwartet, d. h. eine klare Klassenposition in den revolutionären Kämpfen der Zeit. Die Lebenserscheinungen wertete man in der Kunst genauso wie im Alltag zuallererst politisch. Daraus ergab sich logisch eine Betrachtungsweise, die an die russischen revolutionären Demokraten anknüpfte: das Buch als Lehrbuch, als Lebenshilfe. Es lehrt „kämpfen", „handeln", „leben", vor allem „besser leben", den Klassenfeind vom echten Genossen unterscheiden und schließlich lehrt es, „sowjetisch leben, denken und fühlen und die Sache des Sozialismus lieben" (113). An alle Werke wurde das gleiche Maß angelegt - an die Stücke 119

Windstille von Bill-Belozerkowski und Ljubow Jarowaja von Trenjow, an die genannten Bürgerkriegsromane, an Erzählungen von Sejfullina, Ljaschko oder Iwanow. Wurde über die N ü t z l i c h k e i t befunden, so kamen in erster Linie die erzieherisch aufklärerischen und die politisch aktivierenden Wirkungen zur Sprache. Nicht zufällig taucht in diesem Zusammenhang in vielen Wortverbindungen der Begriff „Vernunft", „Verstand" (russisch „ u m " ) auf, u m diese Wirkungen auf das Denken des Menschen und seine auf die Lebenspraxis gerichtete gemeinnützliche Tätigkeit als einen unmittelbaren Zweck der Beschäftigung mit dem entsprechenden Buch zu verdeutlichen. T o p o r o w s Hörerkreis plädierte einstimmig für politische Agitation mit den Mitteln der Kunst, so beispielsweise in den erwähnten Stücken von Bill-Belozerkowski und Trenjow, lehnte aber kategorisch die zeitbedingten Agitationsstücke a b : „ D i e Agitationsstücke, das ist Unsinn. Wie die Stundengebete in der Kirche. Bei uns in Losicha hat man welche aufgeführt. Man wird überschüttet wie ein B e r g mit Steinen und trägt dann an der Last. Die Agitationsstücke stoßen jetzt das Volk vor die Stirn und schrecken es v o m Theater a b . " (54) War dies nicht ein Widerspruch? Hätte nicht im Sinne ihrer Kunstauffassung die reine Agitation auf der Laienbühne auch ihren Zweck verfolgen können? Warum wurde sie so absolut verworfen? U n d warum z o g man schließlich das Spielen künstlerisch bedeutender Stücke oder auch nur einzelner Szenen daraus vor, obwohl sie mit den Laienkräften nur höchst unvollkommen aufgeführt werden konnten?»» T o p o r o w s Auditorium hielt an einem Literatur- und Kunstbegriff fest, der die beiden Ebenen, die Agitation und Aufklärung mit künstlerischen Mitteln und die Agitation mit propagandistischen Mitteln, streng voneinander trennte. Im Gegensatz zur künstlerischen Avantgarde, die diese Teilung aufheben wollte, bestanden die Leute darauf, daß die Literatur mit den anderen Bereichen der Ideologie nicht vermischt wurde. Sie machten ihr kritisches Urteil von der Bewertung der politisch-ideologischen Aussage eines Buches abhängig, setzten aber voraus, daß der Text sie emotional bewegt, daß er im richtigen Moment die „nötigen" Gefühle - Haß, Mitgefühl, Kampfbereitschaft, Aktivität schlechthin - auslöst. Oder anders ausgedrückt: Über die gefühlsmäßige Aneignung eines Textes wurden Motivationen für richtiges Verhalten in der eigenen Lebenspraxis erwartet. E s ging nicht grundsätzlich u m die Forderung nach

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Identifikationsmöglichkeiten, obwohl ein besonderes Lob an die Adresse des Autors lautete: beim Zuhören werde man von den Figuren förmlich „angesteckt", ein Begriff, mit dem bekanntlich auch Lunatscharski arbeitete, wodurch er Majakowskis bissige Ironie auf sich zog. Ästhetische Wirkungen wurden an der Stärke der Gefühle gemessen, die unmittelbar beim Hören eines Textes ausgelöst wurden, und gleichzeitig an der Langzeitdauer der Nachwirkungen auf das Denken. Das eine wurde mit dem anderen häufig in Zusammenhang gebracht. Eine Halbalphabetin gestand ein: „Dieses Buch (Zwei Welten - N. T.) . . . hat mich ganz beeinflußt. . . . Es tat weh zuzuhören. . . . Es war, als stünde der Autor irgendwo auf einem Platz vor der Stadt; niemand rührte ihn an, störte ihn, er aber dachte über so mancherlei nach, überlegte, wie all die kriegerische Unruhe der Leute, alle Leidenschaften am besten zu beschreiben seien. Von seinen Erzählungen kommen auch meinem unbedarften Kopf Gedanken, einer nach dem andern, einer nach dem andern, einer nach dem andern . . . " (77) Oder: „. . . ganz verbrannt hat mich das Geschriebene. . . . Es war die Sache des Schriftstellers, das (die Koltschak-Zeit — N. T.) zu zeigen. Mögen nun die Leute damit zurechtkommen, denn jeder hat seine eigene Vorliebe für Menschen. Lies. Beim größten Dummkopf entsteht im Kopf ein Strom geistigen Nachdenkens." (90) Dieser dreißigjährige junge Mann, von dem die letzten Worte stammen und der bereits Bücher „verschlang", aber selbst noch schlecht schrieb, betonte mehrfach (oder wiederholte die Worte des Lehrers?), der Schriftsteller lege die Gedanken dem Leser nicht „in den Mund", jeder müsse den „Geschmack, der in den Worten liegt", schon selber „herausschmecken" (161). Das erfordere eine genaue Lektüre und auch die Berücksichtigung der Satzzeichen, von Punkt und Ausrufezeichen, die mit Bedacht gesetzt seien. Interessant an diesen und ähnlichen Äußerungen ist zu beobachten, vie der unmittelbare Nutzen, den die Zuhörer aus einer Buchlesung für sich persönlich zogen, mit den sprachlichen Besonderheiten eines Textes verbunden wurde. Das war in den zwanziger Jahren bei Buchlesungen in dieser Form gar nicht einmal ungewöhnlich, ungeachtet der Tendenzen, mit dem „Begreifen" und „Nichtbegreifen" in den literarischen Gruppenkämpfen zu jonglieren. Die Mitglieder der Kommune hatten einen erstaunlich kräftig entwickelten Sinn für das künstlerische Wort, wohlgemerkt: für das gesprochene künstlerische Wort. Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß viele 121

Äußerungen zur Ausdrucksweise eines Autors auf die Vortragskunst des Lehrers zurückzuführen sind. 301 Es spielte natürlich eine Rolle, ob und wie er einzelne Wörter „auf der Zunge zergehen" ließ oder „verschluckte", Aber die starke Wirkung, die das Wort an sich bei der Aneignung eines literarischen Textes auf die Zuhörer ausübte, hatte doch komplexere Ursachen. In diesem Zusammenhang können nur zwei Momente hervorgehoben werden. Erstens war bei diesen Leuten, die seit kurzem erst lesen und schreiben lernten und unter Analphabeten aufgewachsen waren (und das traf auf die Mehrzahl zu), das Zuhören wie das richtig Hinhören weitaus stärker ausgebildet als bei denen, die sich literarische Werke vorwiegend in einem individuellen Lektüreakt aneigneten. Das künstlerisch verarbeitete Wort wurde in ihrem Lebenskreis von Kindesbeinen an in der Regel von Mund zu Mund weitergegeben und beim Weitergeben häufig neu geschaffen. Und zweitens ist die sibirische Umgangssprache (bis heute!) besonders reich an Bildern. Die originellen Wendungen und Wortbildungen 3 0 2 , die der Ausdrucksweise der Zuhörerschaft ein besonderes Kolorit verleihen, verraten einen noch sehr ursprünglichen Umgang mit Sprache. Die Sprache lebt. Sie wird im Gebrauch geformt, umgeformt, erschaffen. Die Nähe zur Folklore, zur Sprache des Märchens vor allem, ist unverkennbar. Daraus resultiert wiederum die Abneigung gegenüber allen gekünstelten Wortbildern und Sätzen in einem literarischen Text. Farbige Bilder an sich verfehlten den Eindruck: „Es pfeift an einem vorbei." (96) Sprache sollte erregen: „Die Worte des Autors gehen nicht zu Herzen, sondern schrauben sich dem Zuhörer ins Herz." (118) „Die Sprache des Schriftstellers packt einen mit ihren Klauen ganz und gar." (154) Höchste Anerkennung ist in die Worte gefaßt: „Die Sprache ist . . . die unsrige." (116) Das heißt, der sprachliche Ausdruck ist „volkstümlich", „gemeinschaftlich", so wie im Dorf allgemein üblich. Toporows Veröffentlichungen beziehen sich in der Mehrzahl auf Literatur mit Dorfthematik. So könnte der Eindruck entstehen, es seien fast nur Bücher mit bäuerlicher Problematik und Ausdrucksweise aufgenommen worden. Dies war allerdings nicht der Fall, obwohl, wie bereits erwähnt, dieser Trend in der Kulturarbeit des Lehrers kräftig entwickelt war. Die überlieferten Leserstimmen beispielweise zu Puschkin-Texten verdeutlichen, daß der Begriff „bäuerlich" nicht zu eng als ein rein soziologisches Kriterium benutzt wurde, sondern von den Zuhörern in vielen Fällen als ein Synonym 122

zu „volkstümlich", „volksverbunden". Dementsprechend wurde mit „unsre" Sprache die Umgangssprache des einfachen Volkes bezeichnet. Die Äußerungen zu Werken von Puschkin verdeutlichen noch eine weitere Besonderheit. Die Zuhörer bewunderten die „Leuchtkraft" und „Schärfe" seiner künstlerischen Bilder und fanden dafür so bildhafte Vergleiche wie „Feuersäule" und „Rasiermesser" (33). Die „Einfachheit" und „Klarheit" seiner Sprache (35) beeindruckten sie ebenso wie der Gedankenreichtum: „Aus jedem einzelnen Wort sprießen zehn eigene Wörter hervor", „Bei Puschkin gibt es wenig Einzelheiten, aber man denkt sie selber hinzu" (38). Überlegungen dieser Art geben wichtige Aufschlüsse über die Aneignungsweise literarischer Texte. Wirkung wurde in der Selbstreflexion als ein Vorgang begriffen, der nur kraft der künstlerischen Darstellung eines Gedankens funktioniert. Eine wort- und bildreichi Sprache war gewissermaßen eine Vorbedingung dafür, daß sich die erhofften Wirkungen (um ihretwillen ging man ja in den Dorfklub!) einstellten. Aber nicht jede Art von sprachlichem Ausdruck erzielte die kommunikative Funktion in der vom Autor erwünschten und der vom Leser erwarteten Weise. Und darüber wurde nachgedacht. Die Leser-Werk-Beziehung nahm mitunter Formen eines privaten Umgangs mit dem Schriftsteller an. Vom Gespräch mit dem Buch „wie mit einem lebenden Menschen" 303 war es nur ein Schritt bis zum Gespräch mit dem Autor selbst, vermittelt über den Auftrag an den Lehrer, er möge dem Autor diesen oder jenen Eindruck genau mitteilen. Man lobte, kritisierte, tadelte, forderte Korrekturen oder lehnte rundweg ab. Da war keine ehrfürchtige Distanz zwischen diesem Leser/Zuhörer und seinem Autor. Nach Jahren intensiver Beschäftigung mit dem Buch hielt man sich durchaus für zuständig, sich beim Verfasser Gehör zu verschaffen und die eigenen Überlegungen an seine Adresse zu richten. Wenn es in der Gegenüberstellung von Pique Dame und Der eiserne Strom hieß, bei den heutigen Schriftstellern wisse man immer gleich, „wie alles endet" (166), während man bei Puschkin niemals den Ausgang einer Geschichte im voraus erraten könne, so äußerte sich das Unbehagen darüber, daß in den neuen Büchern bei der Darstellung eines Vorgangs an einem Einzelschicksal meist schon von Anbeginn an das Ende eines solchen Schicksals klar vorgezeichnet ist. Solche spezifischen erzähltechnischen oder sprachlichen Hinweise sollten jedoch nicht zu der Schlußfolgerung verleiten, Toporows 123

Zuhörerschaft sei mit der Zeit von ideologischen Kunsturteilen zu ästhetischen Urteilen gelangt. Die Brauchbarkeit eines Textes in der alltäglichen Lebenspraxis war die übergreifende Fragestellung, und zwar in dem direkten Sinn, wie Brecht, an die Adresse der Künstler und Kunsthistoriker gerichtet, von der „Verpflichtung" sprach, „an der Änderung der Zustände zu arbeiten" 304 . Aus der Sicht der Rezipienten in der sibirischen Kommune war das die Forderung an ein Buch, gekleidet in die Frage „Was 'lernt' uns das?" Die vordergründig utilitaristische Betrachtungsweise hatte unter den gegebenen Literaturverhältnissen einen ausgesprochen produktiven Ansatz, denn Millionen Menschen, denen im vorrevolutionären Rußland auf Grund ihrer sozialen Lage die Inbesitznahme der Kulturgüter versagt blieb, befaßten sich nun mit dem Buch zu ganz bestimmten n u t z b r i n g e n d e n gesellschaftlichen Zwecken. 305 Der Erweiterung der gesellschaftlichen Aufgaben von Kunst und Literatur im Rahmen der Kulturrevolution entsprach ihre „Umfunktionierung in eine pädagogische Disziplin" 306 . Dies war ein Prozeß, der in der Tiefe des Sowjetlandes vor sich ging und Bedürfnisse weckte, die wissenschaftlich nur schwer zu erfassen sind, weil sie nicht differenziert aufgezeichnet wurden. Toporows Modell hat u. a. den Vorzug, daß sichtbar wird, wie die direkte Beziehung zwischen Buchwelt und wirklicher Welt ebenso wie die Bestimmung des sozialen Gebrauchs eines literarischen Textes Ausdruck solcher neuen Bedürfnisse war, mit denen aber die Autoren in der Regel so konkret nicht konfrontiert wurden. Darüber hinaus gibt das Modell Einblick in den Mechanismus, wie in der Praxis im Verlaufe eines längeren Zeitraums außer der Urteilsfähigkeit auch die Genußfähigkeit entwickelt wurde, d. h. das Empfinden dafür, daß ein literarischer Text außer dem im Alltag gebrauchten Wissen und außer dem gefühlsmäßigen Erfassen der Wirklichkeitserscheinungen auch einen ästhetischen Genuß vermittelt. Ohne theoretisches Vorwissen stellte sich die Erfahrung ein, daß ein solcher Text ein mit künstlerischen Mitteln organisierter Text ist und sich dadurch von anderen Texten grundlegend unterscheidet.

Das Experiment und die Folgen Formal betrachtet, blieben die erwarteten Folgen aus. Toporow bedauerte noch nach drei Jahrzehnten, daß sein Experiment keine Fortsetzer gefunden habe. Der Untertitel der ersten Buchausgabe 124

unterstrich das Grundanliegen der Publikation: „Versuch, Methodik und Beispiele der Kritik von Bauern über die zeitgenössische schöne Literatur." Ihm ging es um die Weiterführung s e i n e r Methode und letztlich um Anerkennung der gesellschaftlichen Nützlichkeit seines Experiments. Aber gerade dieser Anspruch wurde scharf zurückgewiesen, der Modellcharakter nicht bestätigt. 1930 gab es, im Vergleich zum Vorjahr, zu den anerkennenden Äußerungen einiger Schriftsteller (Gorki, Sasubrin, Weressajew) und vereinzelter Kritiker (Trunew, Goffenschefer) keine Versuche einer objektiven Wertung des sibirischen Beispiels mehr. Im Verlaufe eines einzigen Jahres schlug die öffentliche Meinung um. Betrachtete Nikolai Trunew noch 1929 die Texte als eine wichtige Quelle, um viele Erscheinungen des veränderten literarischen Lebens einschätzen zu können, so wurde nun auf den Seiten aller führenden Literaturzeitschriften dem Buch eine allgemeingültige Bedeutung rundweg abgesprochen. 307 Die wirklichen Gründe, warum Toporows Experiment - Bauern urteilen über Literatur - Anfang der dreißiger Jahre verworfen, als Vorbild abgelehnt wurde, waren komplexer Art. Sie wurden bisher nicht gründlich wissenschaftlich erforscht. Überzeugende Argumente gab Nikolai Janowski. E r wertete die Buchausgabe als einen „Fakt aktiver Teilnahme an den literarischen und nichtliterarischen Kämpfen der Zeit" 3 0 8 und fand auf diese Weise eine Erklärung für den Widerspruch zwischen den positiven Ergebnissen der praktischen Arbeit mit dem Buch und der vernichtenden Kritik an der von Toporow propagierten Methode. Viele Tatsachen, die diesen Sachverhalt im einzelnen belegen könnten, werden sich auch in Zukunft kaum noch rekonstruieren lassen. Aber mit Sicherheit lassen sich schon jetzt einige Rückschlüsse ziehen, die den Vorgang aufhellen. Toporow wollte in der Praxis beweisen, daß Bauern, die in kultureller Hinsicht rückständigste soziale Schicht der Bevölkerung, politisch und kulturell gebildet und durchaus auch zu eigenständigen Literatururteilen befähigt werden können. Dieser soziale Aspekt, verknüpft mit einem hohen aufklärerischen Ethos, stand von Anfang an im Mittelpunkt seiner Kulturarbeit. Vor der Revolution war er als junger Lehrer mit dem ehemaligen Narodowolzen Leonid Jeschin befreundet gewesen, war mit ihm nach Sibirien gegangen und hatte über ihn in Barnaul engen Kontakt zu verbannten Revolutionären bekommen. In ihrem Kreis wurden die unterschiedlichsten 125

politischen Ideen und Kampferfahrungen diskutiert - „die politischen Anschauungen der russischen Marxisten, die Dichtung Blocks, die Ideen Lew Tolstois, die Erfahrungen der Volkstümlerbewegung, die Niederlage zunächst der Narodowolzen und später der ersten russischen Revolution" 309 . Hier studierte er gründlich die Methode Bacons und befaßte sich offenbar auch eingehend mit Tschernyschewskis ästhetischen Schriften, denn eine Verbindung der Baconschen Experimentalphilosophie 310 mit Tschernyschewskis ästhetischem Konzept läßt sich noch in den Ende der zwanziger Jahre verfaßten Texten erkennen. Getreu seinen Überzeugungen verließ ToporowBarnaul und „ging ins Volk", in das Dorf Werch-Shinskoje im Altai-Gebiet, wo sich nach der Zerschlagung der KoltschakArmee eine Gruppe von landlosen und landarmen Bauern zusammentat, eine Kommune gründete und auf unbebautes Land übersiedelte. Toporow zählte zu den aktiven Propagandisten und schloß sich ihnen an. Der „Gang ins Volk" vor der Revolution war der eigentliche Beginn der Aufklärungsarbeit Toporows im Dorf, die zweifellos weitaus stärker, als gemeinhin angenommen wird, von Tolstoi beeinflußt war. 311 In der Nachfolge und kritischen Überwindung der Volkstümlerbewegung wollte er die Bauernmassen für den Kampf um ihre Befreiung mobilisieren und ihnen zu diesem Zweck Bildung und Wissen vermitteln, zu einer Zeit, als dank der organisierten Aufklärungspolitik der sozialdemokratischen Partei und ihres Zeitschriften- und Buchwesens der proletarische n e u e Leser bereits „zur Welt gekommen war" 3 1 2 . Zunächst stand der praktische Nutzen im Sinne eines revolutionär-demokratischen Aufklärungs- und Revolutionskonzepts im Vordergrund. Nach der siegreichen proletarischen Revolution sprengte die Umfunktionierung dieses Konzepts in ein kulturrevolutionäres Programm zur Festigung der eroberten Machtpositionen die ursprüngliche Eingrenzung auf die Bauernmassen. Der in der Praxis allmählich vor sich gehende politisch-ideologische und kulturelle Entwicklungsprozeß wurde in der Kommune durch die besonderen Lebens- und Arbeitsbedingungen beschleunigt. Toporow wurde sich offenbar dieser Konsequenzen nie recht bewußt. Er wirkte nach wie vor im Kreise von Menschen, die den Boden bearbeiteten und deren Denken und Empfinden tief im bäuerlichen Milieu verwurzelt waren. Daher sah er trotz der radikalen Veränderung der Produktionsverhältnisse und der politisch-ideologischen Reife der Leute in erster Linie immer die soziale Spezifik. 126

Das übergreifende Moment, das sich aus ihrem kollektiven Zusammenschluß in einer Kommune ergab und über die besonderen Umstände des dörflichen Zusammenlebens hinauswies, hat er wenig reflektiert. Dadurch transportierte er einige Vorstellungen in die neue Zeit, die mit der Entwicklung in Konflikt gerieten. Und dennoch war dies nicht die Hauptursache der Kämpfe, in die er verstrickt wurde. Das Buch geriet 1930 in den Sog jener gesellschaftlichen Umbruchsprozesse, die im Zuge der Kollektivierung die spezifische Bauernproblematik an den Rand drückten. Eine Publikation wie diese Bauern reden über Literatur - erregte allein schon deshalb vielerorts Argwohn, weil die jüngsten Wandlungsprozesse auf dem Land nicht im Gespräch waren. Die RAPP, die seinerzeit stärkste Schriftstellervereinigung, hinreichend bekannt durch ihre linkssektiererischen Tendenzen, gab den scharfen Ton vor. Ihr Einfluß reichte bis nach Sibirien. Die sogenannte Sibirische Assoziation proletarischer Schriftsteller hatte sich in Nowosibirsk in alle leitenden Posten vorgeschoben und auch die Redaktion der Zeitschrift Sibirskie ogni übernommen. Damit waren zugleich die Kräfte ausgeschaltet worden, die in den vorangegangenen, von Agranowski beschriebenen Auseinandersetzungen den Lehrer tatkräftig unterstützt hatten. (Auf die sehr komplizierte - mit vielerlei anderen Fakten verquickte persönliche Situation Sasubrins, des ehemaligen Chefredakteurs, kann an dieser Stelle nur verwiesen werden.) Angezweifelt wurde nicht die aufrichtige Gesinnung der Kommunemitglieder (dies wäre auch schwerlich möglich gewesen, da sie während der Kollektivierung an vorderster Front standen). Verdächtig erschien Toporows Umgang mit Literatur, auf den sich nun die Kritik konzentrierte. Toporow bereitete sein Buch für den Druck vor, ohne diese Entwicklung zu überschauen - und hätte sie überhaupt jemand rechtzeitig signalisieren können? und offenbar auch in Unkenntnis des besonderen Klimas, das das literarische Leben in der Hauptstadt bestimmte. War er sich der provokanten Stellen in seiner über fünfzig Seiten umfassenden Einleitung bewußt? In hohem Maße gewiß, denn er trat mit dem Selbstbewußtsein eines Mannes auf, dem bekannt war, daß niemand etwas Ähnliches auf diesem Gebiet geleistet hatte. Aber die kulturpolitischen Reaktionen, die er mit einigen Behauptungen heraufbeschwor, hatte er sicherlich unterschätzt. Offenbar hatte ihn das positive Echo auf die Veröffentlichungen in den Sibirskie ogni zu selbstsicher gemacht. So bedachte er nicht, 127

daß ein Generalangriff wie der seine auf die Journalkritik jener Zeit mit fast denselben Worten bestenfalls noch in einer sibirischen Zeitschrift, d. h. an der Peripherie des großen Landes, geduldet wurde. Auf den Seiten eines in Moskau verlegten Buches wurde er nicht mit dem selben Gleichmut hingenommen. Man schlug zurück. Zwei Momente wurden dem Lehrer besonders verübelt: die pauschale Abwertung der professionellen Literaturkritik der „fünften und sechsten E t a g e " - die einfachen Arbeiter und Bauern könnten mit ihr nichts anfangen, sie verhalle wie ein hohler Klang im R a u m und das vernichtende Urteil der Bauern über Panfjorows neuen Roman Wolgabauern, der zu diesem Zeitpunkt für das literarische Standardwerk über die Kollektivierung gehalten wurde. D a s totale Unverständnis u. a. für diesen Roman war ein Anlaß, die gesamte methodische Anleitung der Klubarbeit als objektivistisch abzustempeln. U n d dies war damals einer der schwersten Vorwürfe auf ideologischem Gebiet. D e m Lehrer wurden volkstümlerische Tendenzen nachgewiesen und vorgeworfen, er erziehe seine Zuhörer nicht zu einer klassenbewußten, parteilichen Bewertung literarischer Werke. Inwieweit das eine wie das andere um 1930 tatsächlich noch auf T o p o r o w s Klubarbeit zutraf, zumindest partiell, läßt sich auf Grund der Materiallage schwer einschätzen. Einige Schwächen seiner Arbeit wurden mit Schlagwörtern aus der politischen Tagessprache belegt. S o hieß es u. a., er verfolge eine „Nachtrabpolitik", denn er lasse sich von dem Grundsatz leiten, der Leser wisse schon, was nützlich sei. Die einzigartige kulturpolitische Pionierarbeit des Lehrers wurde nicht gewürdigt, sein Modellvorschlag nicht einmal ernsthaft geprüft, denn er widersprach den eigenen Vorstellungen von einem didaktischen Modell. Die Diskussionsebene verschob sich von der Sache auf die Person. E r s t nach dem ZK-Beschluß von 1934 über die A u f l ö s u n g aller bestehenden Schriftstellervereinigungen einschließlich der R A P P konnte T o p o r o w öffentlich zu der Kritik Stellung nehmen. 3 1 3 In zwölf Punkten legte er die Fehler dar, zu denen er sich bekannte (u. a. Unschärfen der Methode, des Auswahlprinzips und der Anleitung sowie ungerechtfertigte einseitige Urteile über die gesamte Literaturkritik und mangelhafte Konzentration auf die aktuellen gesellschaftlichen und politischen Fragen des Klassenkampfes und des sozialistischen Aufbaus). Erstaunlicherweise äußerte er auch sein Bedauern darüber, daß das Buch irrtümlich als methodisches Handbuch aufgenommen worden sei. Hatte er nicht selber durch die 128

ausführliche Einleitung einen solchen Eindruck provoziert? Jetzt ging es Toporow um die Trennung von zwei verschiedenen Aufgaben der Arbeit mit dem Buch: Ermittlung des Geschmacks und der Bedürfnisse des Lesers sowie Anleitung bei der Geschmacksbildung und Erziehung von Bedürfnissen. Beides könne nicht voneinander losgelöst betrachtet werden. Er habe sich jedoch nur die erste Aufgabe gestellt. Dieser Rückzug überzeugt nicht. Die praktische Arbeit war weit über eine reine Bedürfnisermittlung des n e u e n Lesers im Dorf hinausgegangen. Offenbar erfolgte dieser Rückzug mehr aus taktischen Erwägungen, denn 1963 hat sich Toporow nicht wieder zu dieser These bekannt. Der Titel des Artikels - Die Frage bleibt o f f e n - trifft den uns interessierenden Sachverhalt. Das Experiment für sich genommen, objektiv ein Teil des eingeleiteten kulturrevolutionären Prozesses, entblößte den Vorgang selbst. Es machte Bewegungstendenzen sichtbar und damit auch die ihnen innewohnenden Widersprüche. Auf der einen Seite gab es in der Tat kaum einen klareren Beweis dafür, daß der Adressatenwechsel davon abhängig war, wie und in welchem Tempo eine neue Leserschaft von der Literatur Besitz ergriff. Und auf der anderen Seite kam es auch in der Kommune zu Verengungen, die Toporow nicht rechtzeitig erkannte, weil ihm der Blick für die zu dieser Zeit notwendigen Differenzierungen bei der Einflußnahme auf den Prozeß fehlte. Toporow beschränkte sich bei der Lesung zeitgenössischer sowjetischer Literatur in der Mehrzahl auf Bücher über das Dorfleben bzw. auf Bücher mit Figuren, die aus dem Dorf stammen. Werke mit Problemen des kämpfenden und siegreichen Proletariats und neuen Fragestellungen aus ihrem Arbeitsleben spielten eine untergeordnete Rolle. Die Bedürfnisse für solche Bücher wurden nicht geweckt. Das Verständnis für diese Fragen der sowjetischen Wirklichkeit, die vorwiegend an dem eigenen Erfahrungshorizont gemessen wurden, war dadurch schwach entwickelt. Ein Dichter wie Majakowski tauchte in den Aufzählungen der Lesungen nicht einmal auf. In gewisser Hinsicht lieferte Toporow ungewollt das dörfliche Gegenbeispiel zu der fast gleichzeitig erschienenen Leningrader Ausgabe Die Stimme des Arbeiterlesers, die Materialien von der Literaturarbeit der Metallarbeitergewerkschaft veröffentlichte.314 Auch hier sollte Kritikfähigkeit entwickelt werden. Das Schwergewicht lag jedoch auf der Formulierung von Kollektivmeinungen zu einem bestimmten Buch, die zum Beschluß erhoben wurden, also auf einem Ver9 Thun; Autor, Leset

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fahren, das Toporow strikt ablehnte. Insofern vermitteln die von ihm aufgezeichneten Leserstimmen ein weitaus aufschlußreicheres Bild von den sich entwickelnden neuen Aneignungsweisen literarischer Werke. (Ein direkter Vergleich bietet sich allein schon auf Grund der verschiedenen Gegenstände und Lesarten nicht an.) Der beschriebene Vorgang spiegelt objektive Entwicklungsprozesse, die nicht einfach übersprungen werden konnten. Aber sie waren beeinflußbar. Eine der Hauptursachen des Konflikts zwischen Toporow und der sich 1930 herausbildenden öffentlichen Meinung war die von ihm vertretene Auffassung, die Leute könnten über literarische Texte nur auf Grund der e i g e n e n Wirklichkeitserfahrung urteilen. In diesem Sinne regelte er auch das Problem der Verständlichkeit eines Textes. Hatte diese Einstellung um 1920 eine reale Grundlage und eine Berechtigung, so mußte sie ein Jahrzehnt später in Frage gestellt werden. Denn wurde die ideologische wie ästhetische Urteilsfähigkeit der Zuhörerschaft bis zu einem so hohen Grad von ihrer unmittelbaren Lebenspraxis abhängig gemacht, so wurde sie im gleichen Moment, da sie sich frei entfalten sollte, wieder abgeschnürt, und das just in dem Moment, da sie erst begann, ihren Anspruch voll geltend zu machen. Die Ablösung der Kunstkonzepte, die sich in den revolutionären Kampfperioden bewährt hatten, durch adäquate neue Kunstkonzepte nach der Eroberung der Macht war ein höchst komplizierter Prozeß. Toporows Experiment erhellt, daß davon nicht nur die literarische Produktion betroffen war, wie meist dargestellt wird, oder die zwischen Autor und Leser vermittelnden Institutionen, sondern in nicht geringerem Maße der Leser selbst und insbesondere der n e u e Leser. Als der Lehrer im fernen Altai-Gebiet sein Experiment durchführte und anfangs an eine Veröffentlichung noch gar nicht dachte, war die breite literarische Öffentlichkeit überhaupt erst im Begriff, über eigene Erfahrungshorizonte hinauszuschauen und sich Gedanken darüber zu machen, welche Art von Kunst sie in dieser historischen Umbruchsphase für ihren Lebenskampf tatsächlich brauchte. Unter diesem Aspekt gibt das sibirische Modell tatsächlich weitreichende Aufschlüsse. Anschauliches Material liefert ü. a. die Puschkin-Kritik. Sie ist insofern originell, weil sie sich vom rationalen Denkschema der russischen revolutionären Demokraten abhob, ohne die Wende zur soziologischen Einordnung seiner Werke, die in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre einsetzte, mit zu vollziehen. Puschkin beein130

druckte, wirkte emotional ganz unmittelbar. Und Puschkin wurde verstanden, trotz der zum Teil mit der eigenen Lebenserfahrung stark divergierenden Umstände, unter denen seine Figuren agierten. Man empfand seine Texte wie einen „Vulkan", der den Menschen „verbrennt". Und gleichzeitig funktionierte man ihn in das eigene Weltbild ein und nannte ihn einen „Revolutionär", der furchtlos gegen Willkür und Unterdrückung auftrat. So wie er schreibe, müsse jeder schreiben, „damit das Geschriebene f ü r d a s V o l k k l u g , b i l d h a f t , p o l i t i s c h ist und zu H e r z e n g e h t , damit der Bärtige und der Milchbart, die Großmutter und die Enkelin ohne irgendwelche Gehirnverrenkungen die Literatur verstehen" (35; Hervorhebungen - N. T.). Diese Verbindung von sinnlicher Anschauung mit der Forderung nach einer klaren ideellen Aussage beschreibt das Ergebnis der im Verlaufe eines Jahrzehnts geschulten literarischen Urteilsfähigkeit der sibirischen Kommunemitglieder. Der scharfsinnige Brecht fand Anfang der dreißiger Jahre gerade diese beiden Seiten heraus, die in der Sowjetunion die Anforderungen an die literarische Produktion bestimmten: „Sie (die russischen Genossen - N. T.) brauchen die Doktrin u n d die Natur. Sie brauchen die Plastik der Gestaltung, eine Schreibweise, die sich an die Sinne wendet, und sie brauchen gestaltet eine Wirklichkeit, die ihre Gesetzlichkeit zeigt." 3 1 5 Das sibirische Experiment beweist, daß Wahrhaftigkeit der Darstellung und Emotionalität der Aneignung nicht theoretisch erfundene Prämissen der künstlerischen und speziell der literarischen Entwicklung waren. Das waren in entscheidendem Maße Forderungen der Konsumenten an die Produzenten. Toporows Hoffnungen erfüllten sich nicht in der erwarteten Richtung. Aber indem er das Experiment der Öffentlichkeit übergab, wurde es objektiv zu einem Faktor, der die realen Entwicklungsprozesse der Werk-Leser-Beziehungen am Vorabend des I. Sowjetischen Schriftstellerkongresses förderte, indem er sie durchschaubar machte. Schließlich setzte das sibirische Modell in dem Streit um den n e u e n Leser einige Akzente, die verdeutlichen, welch tiefgreifender Wandel sich in den Wirkungsmöglichkeiten der Literatur angebahnt hatte.

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Selbstbildnis des Lesers

Einführung: Der Nutzen von Leserbriefen für einen Autor „In den letzten zwei bis drei Jahren erhalte ich viele Leserbriefe. Die Briefe kommen hauptsächlich aus der Provinz. Ich werde gefragt, wie soll man leben, wie schreibt man Verse und was soll man lesen. Mir werden literarische Stoffe angeboten, man kritisiert, billigt und beschimpft mich. Offenbar nimmt mich der Leser nicht genauso auf wie die Kritik." 316 Mit diesen Worten begann Michail Sostschenko im April 1929 das Vorwort zur Erstausgabe der Briefe an einen Schriftsteller. Der Briefband - „das Buch ist wie ein Roman gemacht"317 - trägt die Handschrift des Herausgebers und ist dennoch ein Selbstbildnis seines Lesers.318 Die Verbindung von authentischen Briefdokumenten und literarischer Machart erschwert einerseits die Rekonstruktion des Bildes, das Sostschenkos Leser von sich selbst schuf, ohne sich dabei dieses Vorgangs bewußt zu sein. Andererseits verdankt das Selbstbildnis erst der ordnenden und formenden Hand des Autors die scharfen Konturen und markanten Züge. Gorki war voll aufrichtigen Lobes: „Das ist ein gutes Buch, eines von denen, wie sie nur bei uns und in unserer Zeit möglich sind, in der der Schriftsteller für den Leser wie nirgend und nie zuvor zu einem wahrhaften Freund und nahestehenden Menschen wird. Und obwohl das sehr häufig einen Prozeß des Sichversenkens in sinnloses Zeug, in den Kehrricht des Alltags, bedeutet, ist es doch meiner Ansicht nach ein höchst interessanter Prozeß der engen Annäherung an das Leben unserer Zeit."319 Gorki hob die für den Autor produktive Seite hervor, den Aufschluß von Lebenskenntnissen, derer der Autor beim Schreiben über die neue Zeit unbedingt bedürfe. Und gleichzeitig berührte er ein wichtiges Werkstattproblem. Er zerstreute zwar Sostschenkos Bedenken, daß er sich seinem Leser gegenüber plump und unaufrichtig verhalten habe, brachte aber ohne Umschweife einen Mangel zur Sprache. Er be132

Selbstbildnis des Lesers

Einführung: Der Nutzen von Leserbriefen für einen Autor „In den letzten zwei bis drei Jahren erhalte ich viele Leserbriefe. Die Briefe kommen hauptsächlich aus der Provinz. Ich werde gefragt, wie soll man leben, wie schreibt man Verse und was soll man lesen. Mir werden literarische Stoffe angeboten, man kritisiert, billigt und beschimpft mich. Offenbar nimmt mich der Leser nicht genauso auf wie die Kritik." 316 Mit diesen Worten begann Michail Sostschenko im April 1929 das Vorwort zur Erstausgabe der Briefe an einen Schriftsteller. Der Briefband - „das Buch ist wie ein Roman gemacht"317 - trägt die Handschrift des Herausgebers und ist dennoch ein Selbstbildnis seines Lesers.318 Die Verbindung von authentischen Briefdokumenten und literarischer Machart erschwert einerseits die Rekonstruktion des Bildes, das Sostschenkos Leser von sich selbst schuf, ohne sich dabei dieses Vorgangs bewußt zu sein. Andererseits verdankt das Selbstbildnis erst der ordnenden und formenden Hand des Autors die scharfen Konturen und markanten Züge. Gorki war voll aufrichtigen Lobes: „Das ist ein gutes Buch, eines von denen, wie sie nur bei uns und in unserer Zeit möglich sind, in der der Schriftsteller für den Leser wie nirgend und nie zuvor zu einem wahrhaften Freund und nahestehenden Menschen wird. Und obwohl das sehr häufig einen Prozeß des Sichversenkens in sinnloses Zeug, in den Kehrricht des Alltags, bedeutet, ist es doch meiner Ansicht nach ein höchst interessanter Prozeß der engen Annäherung an das Leben unserer Zeit."319 Gorki hob die für den Autor produktive Seite hervor, den Aufschluß von Lebenskenntnissen, derer der Autor beim Schreiben über die neue Zeit unbedingt bedürfe. Und gleichzeitig berührte er ein wichtiges Werkstattproblem. Er zerstreute zwar Sostschenkos Bedenken, daß er sich seinem Leser gegenüber plump und unaufrichtig verhalten habe, brachte aber ohne Umschweife einen Mangel zur Sprache. Er be132

dauerte, daß Sostschenko nicht die ganze Kraft seines Humors eingesetzt habe. Die Bemerkung, er wisse Sostschenkos Humor dessen Eigenart und „soziale Pädagogik" - sehr zu schätzen, verdeutlicht die Stoßrichtung seines Urteils. Er wertete das literarische Produkt im Hinblick auf seine mögliche sozialpädagogische Wirkung. Der Autor hatte vorrangig einen anderen Zweck verfolgt. Ihn hatte tatsächlich das Selbstbildnis s e i n e s Lesers gereizt, als er das Buch zusammenstellte, denn dieser Leser war die Schlüsselfigur seiner Erzählungen aus den zwanziger Jahren. Und um diese Figur und um den humoristischen Effekt seiner Bücher nahm er zu diesem Zeitpunkt in der Öffentlichkeit den Streit auf. Er tat das nicht so unmittelbar und nicht so auTallig wie beispielsweise ein Majakowski. Er fürchtete sich geradezu vor öffentlichen Auftritten und Disputen. Die Briefe an einen Schriftsteller betrachtete er in dieser Auseinandersetzung, die er zumeist indirekt in seinen satirischen Texten austrug, als die wichtigsten Beweisstücke, mit denen er seinen - von den Kritikern häufig mißverstandenen - Erzählerstandpunkt verteidigte. Aber unter diesem Aspekt wurden sie nicht gelesen. Bei aller Hochachtung für Gorki, die auf Vertrauen und Zuneigung beruhte, gewann Sostschenko in diesen Jahren eine breitere Vorstellung von den Aufgaben des Schriftstellers im nachrevolutionären Sowjetland. Sie bestehe „nicht nur im Belehren, sondern auch im Heilen des Menschen"320, formulierte Arseni Gulyga und führte die sich in Sostschenko festigende Überzeugung, daß sich Literatur nicht auf ein pädagogisches Ziel beschränken dürfe, auf das aufmerksame Studium der Leserbriefe zurück. Um die Wende der zwanziger und dreißiger Jahre läßt sich dieser Prozeß genau verfolgen. Er ist allerdings nicht als Ablösung des Belehrens vom Heilenwollen zu verstehen. Im Gegenteil, der didaktische Grundgestus verstärkte sich anfangs noch in dem Maße, wie sich Sostschenko bemühte, den Menschen zu helfen, die sie quälenden Fragen zu lösen und sich aus den sie erniedrigenden Bindungen zu befreien.

Michail Sostschenkos Nachdenken über den Leser Öffentliche Erklärungen darüber, wann und in welchen Zusammenhängen Sostschenko begonnen hatte, gründlicher über s e i n e n Leser nachzudenken, sind nicht auffindbar. Es ist auch kaum anzu133

nehmen, daß er schon zu Anfang seiner literarischen Arbeit Anfang der zwanziger Jahre in der Lage gewesen wäre, genaue Auskünfte zu geben. Er beobachtete den Alltag der Menschen im vom Bürgerkrieg geschwächten Land, studierte die Presse und kam so zu der Überzeugung, daß die Schriftsteller so wie bisher nicht mehr schreiben könnten. Ausgenommen einige Briefe, von denen bisher nur vereinzelte veröffentlicht wurden, 321 scheute er sich, theoretische Fragen aufzuwerfen. Den Anspruch, auf Grund der eigenen literarischen Erfahrungen eine Theorie zu bilden, hat er zurückgewiesen. Er argumentierte mit seinem Werk. Die Beteuerung aus dem Jahre 1928: „Ich bin Schriftsteller, und diese Eigenart verläßt mich leider nicht mehr" 322 , war keine Floskel, um sich im nachhinein für etwaige ungelenke Formulierungen im Kreise von Fachleuten aus dem Leningrader Kunsthistorischen Institut, vor denen er gesprochen hatte, zu entschuldigen. Er hatte begreiflicherweise Schwierigkeiten, sein originelles Schreibkonzept auf eine wissenschaftlich stichhaltige Formel zu bringen, zumal er sich in einer kritischen literarischen Situation befand, die ihn veranlaßte, seine Schreibweise abermals umzustellen. Erst in den dreißiger Jahren versuchte er, einige Grundprinzipien zu benennen, zu denen er sich zu allen Zeiten bekannt hat. Im Brief an Gorki vom 30. September 1930, also ein Jahr nach Veröffentlichung der eingangs erwähnten Briefe, gestand Sostschenko ein: „Immer wenn ich mich an den Schreibtisch setzte, empfand ich ein gewisses Schuldgefühl, eine, wenn man so sagen darf, literarische Schuld. Ich denke da an unsere frühe Literatur. Unsere Dichter schrieben Verslein über Blümchen und Vögelchen, zugleich aber liefen primitive, ungebildete und sogar schreckenerregende Menschen umher. Irgend etwas stimmte da doch nicht." 323 Die ironische Anspielung auf „Verslein über Blümchen und Vögelchen" war ein derzeit allgemeinverständliches Kürzel für einen Literaturbegriff, der solche unverbindlichen Naturbilder als Klischees und sentimentale Gefühlsduseleien verwarf. Sostschenko arbeitete mit ihm u. a. in den Sentimentalen Erzählungen. Wenn schon dem Vöglein Existenzrecht eingeräumt wurde, so allein im Puschkinschen Sinne dem im Käfig umherflatternden Sänger, der „aus des Kerkers Banden" befreit wird. 324 In dieser Frage stimmte Sostschenko mit Majakowski vollends überein.325 Die zitierte Briefstelle war -folglich nicht einfach ein Bekenntnis. Das war die Programmerklärung eines Autors, der aus der Kluft zwischen dem Lebensalltag der Volksmassen 134

und dem in Büchern beschriebenen Leben schon früh radikale Schlußfolgerungen gezogen hatte. Vera Sostschenko, seine Frau, bezeugte die Schroffheit der Wende in jungen Jahren. Noch im Frühjahr 1917 stand er, der knapp zweiundzwanzigjährige wegen eines Herzleidens demobilisierte Stabshauptmann, unter dem Eindruck literarischer Modeströmungen. Der Einfluß solcher Schriftsteller wie Michail Arzybaschew und Anastassija Werbizkaja 326 bestimmte Thema und Stil einiger Erzählungen, die noch nicht gedruckt wurden. 327 In den 1922 erschienenen Erzählungen des Herrn Nasar Iljitsch Sinebrjuchow war der Bruch mit dieser Art von Literatur schon vollzogen. Später schätzte er selber ein: „Meine ersten Schritte nach der Revolution waren falsch. Ich begann, lange Erzählungen in einer alten Form und einer alten halbverschlissenen Sprache zu schreiben, in der bis heute noch manch eine große Literatur dahingeht. Erst nach einem Jahr etwa begriff ich den Irrtum und stellte mich auf der ganzen Front um." 328 Marietta Tschudakowa zeichnete den Weg nach. Mit Blocks Poem Die Zwölf habe für Sostschenko die neue Literatur begonnen: „einige seiner schöpferischen Aufgaben übernahm er sozusagen unmittelbar aus den Händen Blocks" - „die fremden, nicht auktorialen Stimmen" 329 . Die Quellen des Neuanfangs beschränkten sich natürlich nicht auf Block. Marietta Tschudakowa hat die verschiedenen Ströme, die er in sich aufnahm und eigenständig verabeitete, erforscht. Auf diese Weise hat sie erstmalig Sostschenkos Poetik dieser Jahre genau beschrieben, die parodistische Distanz zwischen Autor und Wort, die sich in den Sentimentalen Erzählungen zum „Sprechen 'im eigenen Namen' . . . aber 'mit fremder Stimme'" 330 entwickelte. Lediglich Majakowski nimmt in dieser Reihe nicht den ihm gebührenden Platz ein. Diese Verbindung ist im Werk schwieriger nachzuweisen. Aber sie bestand und hatte unmittelbar etwas mit der „literarischen Schuld" zu tun, die Sostschenko im Brief an Gorki erwähnte. Mit Majakowski verband ihn die kompromißlose Einstellung der satirischen Arbeit auf den „Durchschnitts"leser, auf dessen Lebens- und Denkgewohnheiten und auf die Sprache, die „Sprache der Straße". Das war die eine, die artistische Seite. Die Lebenspraxis war die andere, die überhaupt erst den Ausschlag gab, einen eigenen Weg in der Literatur zu suchen. Der Alltag der Menschen, die durch die Revolution aus den gewohnten Bahnen geworfen waren, trat in Sostschenkos Blickfeld. In frühen unveröffentlichten Texten gibt 135

es Situationsschilderungen, aus denen auch Gorkische Töne herauszuhören sind.331 Die zwei Jahrzehnte später entstandenen verknappten autobiographischen Episoden aus Vor Sonnenaufgang (1943), dem ersten Teil des deutsch unter dem ursprünglichen Titel erschienenen Buches Schlüssel des Glücks, bezeugen, wie Sostschenko Schritt für Schritt ein Leben entdeckte, von dem er keinerlei Vorstellungen gehabt hatte. Er vernahm „die leise Antwort des Sklaven" im Dorf und erschrak, daß es dies nach einer solchen Revolution überhaupt noch gab.332 Er beteiligte sich als freiwilliger Helfer an einer Allunionsvolkszählung, „um zu sehen, wie die Menschen leben" 333 . Und er erschrak wiederum angesichts der bedrückenden Enge in den Stuben, beim Anblick von Unrat, Lumpen und Elend. So drangen die „Schatten vergangener Lebensgewohnheiten", der eiserne „Schattender Vergangenheit" in sein Bewußtsein. Diese Schilderungen aus historischer Distanz sind ausgefeilte literarische Texte. Das Erfahrene ist durchdacht und in eine knappe Sprache gefaßt. Der junge Mann reagierte zwanzig Jahre zuvor bestimmt spontaner auf diese Umwelteindrücke und gewiß nicht mit dem gleichen philosophisch-weltanschaulichen Weitblick. Das analytische Verfahren, das Sostschenko in Schlüssel des Glücks anstrengte, legt die Schichten frei, ohne deren Kenntnis schwer verständlich ist, warum gerade er als einziger der Serapionsbrüder mit einer solchen Zielstrebigkeit den Adressatenwechsel, die Einstellung seiner Schreibweise auf die breiten Leserschichten vornahm. In Ermangelung von Zeitdokumenten ist es daher ein durchaus legitimes Mittel, sich auf das bereits literarisch bearbeitete Material zu berufen. Es erläutert die realen Lebensvorgänge und persönlichen Erfahrungen, die Sostschenko zu dem mehrfach gebrauchten Argument veranlaßten, der Schriftsteller dürfe nicht mehr so schreiben, als habe sich im Lande rein gar nichts ereignet. Die vor der Revolution begonnene Literaturentwicklung könne nicht einfach weitergeführt werden. Das schade dem Autor wie dem Leser.334 In den Kommentaren zu den Briefen rief er seine Leser zu Zeugen auf, daß er sich nicht geirrt hatte. Sostschenko war kein Tribünendichter. Er hatte eine ausgesprochene Scheu, vor seine Leser zu treten und mit ihnen zu sprechen, und sei es auch nur, das Geschriebene vorzutragen. Erst Anfang der dreißiger Jahre ließ er sich von Pawel Lawut zu einer Vortragsreise überreden. In der Regel beschränkte er sich auf den indirekten Kontakt und redete mit seinen Lesern im Text, aber nicht mit 136

„eigener Stimme". (Dies ist übrigens einer der Gründe, warum sich seine Erzählungen so hervorragend für den öffentlichen Vortrag eignen, wovon in den zwanziger Jahren Schauspieler und Rezitatoren regen Gebrauch machten.) Die E v o l u t i o n des Verfahrens, den Adressaten seiner Texte, seinen spezifischen Leser, zu aktivieren, ist nicht das eigentliche Ziel dieser Studie, obwohl diese Veränderungen ständig im Blickfeld stehen.335 Es soll ermittelt werden, welche Vorstellungen Sostschenko von seinem Adressaten hatte, in welcher Richtung sich diese Vorstellungen um die Zeit, da er die Briefe an einen Schriftsteller herausgab, wandelten und inwieweit daraus Schlußfolgerungen für den gesamten Literaturprozeß dieser Jahre gezogen werden können. In den zwanziger Jahren beteiligte sich Sostschenko an keinerlei öffentlichen Literaturdebatten und -umfragen. Eine Ausnahme bildeten die ironisch herausfordernden Erklärungen sämtlicher Serapionsbrüder von 1922 in den Uteraturnje sapiski, von denen sich auch sein autobiographischer Text in keiner Weise abhob. 336 Das Leserproblem berührte er nicht, obwohl es ihn schon beschäftigte, wie seine ersten gedruckten Erzählungen ausweisen. Während der gesamten NÖP-Periode schwelte dieses Problem unaufhörlich unter der Oberfläche des literarischen Lebens und flammte von Zeit zu Zeit mit erneuter Heftigkeit auf. Die Beunruhigung über den Tod des alten Lesers ebbte ab. Die Mehrzahl der Autoren begriff die Unumkehrbarkeit des Prozesses. Einfach nur gut gemachte Literatur war nicht mehr gefragt. Vorübergehend hatte es sogar den Anschein, als stünde nur noch die Trivialliteratur in der Gunst des Lesers. Andrej Sobol gab jedoch nicht ihm die Schuld, daß er in die Umarmung des Affen Tarzan geraten sei, etwa weil er schlecht oder nicht wählerisch sei. Die Welle einer so fragwürdigen Übersetzungsliteratur wie der Bücher von Burroughs, die den Büchermarkt überschwemmte, könne nicht einfach der NÖP angelastet werden: „Die Einteilung des Lesers in Leser 'von der Straße' und nicht 'von der Straße' ist eine Einteilung der Zeitungsleute." Tarzan werde von allen gelesen, selbst von Studenten der Arbeiterfakultät wie vom Komsomol. Schuld sei allein der Schreibmechanismus der Autoren „wir haben ihn (den Leser - N. T.) in die Arme des Affen getrieben" 337 . Der Serapionsbruder Nikolai Nikitin tat all das Gerede unter Schriftstellern als Selbstbefriedigung ab und benannte zwei Hauptsünden der Autoren - sie arbeiteten, ohne ein Ziel anzuvisieren („Wir schießen einfach in den Raum - solche blinden Einschüsse 137

nützen niemand"), und sie berücksichtigten nicht die Bedürfnisse des Lesers. 3 3 8 Illarion Wardin, der Sprecher der Napostu-Gruppe, bezeichnete auf der Beratung „Über die Politik der Partei auf dem Gebiet der Literatur" v o m Mai 1924 diese Schriftstellererklärungen, die kurz zuvor unter dem Titel Schriftsteller über die Kunst und über sich selbst erschienen waren, als ein „Selbstbildnis der poputtschiki". 3 3 9 D a s Stichwort war gefallen. Selbstbildnisse von Autoren gab es in der Tat zur Genüge. Selbstbildnisse der Leser g a b es nicht. Dies hatte zum Teil bedenkliche Auswirkungen. Alexej Tolstoi verkündete 1923 kurz nach seiner Rückkehr aus der Emigration: „ D e r Leser ist ein Bestandteil der K u n s t . " 3 4 0 Dieser Ausspruch, der heutzutage fast wie eine Binsenwahrheit anmutet, signalisierte in Tolstois Literaturverständnis einen bemerkenswerten Fortschritt, befördert durch seine persönliche literarische Situation. E r fühlte sich befreit aus einer N o t , die ihn in letzter Zeit am Schreiben gehindert hatte, befreit v o m totalen Verlust des Lesers fern der Heimat. D o c h den n e u e n Leser, auf den er nun setzte, gab es seiner Meinung nach noch gar nicht. Folglich könne er, der Autor, seinen potentiellen Leser zunächst nur als ein „hundertmillionenköpfiges Phantasiegebilde" in den Schaffensprozeß einbringen. D a s benannte Problem war natürlich mit einem Phantasiegebilde vor A u g e n nicht zu lösen, trotz aller aufrichtigen Bemühungen des einen oder anderen Schriftstellers, das Leben im Lande eingehender kennenzulernen. Der Grundtenor solcher Selbstverständigungen in Autorenkreisen änderte sich auch in den kommenden Jahren kaum. Unter den neuen Bedingungen ließ sich die Schere zwischen Autorenschaft und Lesermassen nur in der literarischen Praxis lösen. Neue theoretische Ansätze regten zum Nachdenken an. Mehr aber nicht. Lunatscharski erhoffte sich dennoch von der marxistischerf Literaturwissenschaft eine Antwort auf die F r a g e : „Wie können die Leser- oder Hörermassen mit Hilfe der Literatur in einer ganz bestimmten Richtung beeinflußt werden?" 3 , 4 1 E r sprach von dem „schöpferischen A k t " des Lesers bei der Erschließung eines literarischen Textes und auch davon, daß sehr viel von.der Struktur und von den künstlerischen Verfahren eines Kunstwerks abhänge, in welcher Weise es rezipiert werde. Solche Überlegungen hatten auf die Schriftsteller selbst kaum eine Wirkung, zumal die Theoretiker die produktiven Ansätze solcher Erwägungen nicht weiter entwickelten. An solche in einem anderen Zusammenhang bereits erwähnten Fakten des literarischen Lebens mußte an dieser Stelle nochmals 138

erinnert werden, um das allgemeine Klima und seinen Einfluß auf Sostschenko bewußt zu machen. Er war einer der wenigen, die Thema, Sprache und Genre auf die Bedürfnisse des Lesers, den sie erreichen wollten, zuschnitten und dabei zu originellen Lösungen kamen. Majakowski war offensichtlich von seinem Weg sehr angetan und sprach das auch öffentlich aus. Er, der so selten einen Schriftstellerkollegen lobte, wenn er nicht ein Lef-Mann war, erkannte trotz des erheblichen Unterschiedes ihrer Poetik die Gemeinsamkeiten. Das betraf nicht nur die Auswahl des Materials und die künstlerischen Mittel einiger satirischer Texte,342 sondern die Grundeinstellung dazu, was Literatur bewirken kann und soll. Er sah in Sostschenko einen Verbündeten im Kampf um eine lebensnahe Kunst. Nicht zufällig lud er ihn zusammen mit Valentin Katajew, Semjon Kirsanow und Juri Olescha zur Lesung seines Stücks Das Schwitzbad am 23. September 1929 ins Meyerhold-Theater ein. Zwei weitere auf den ersten Blick scheinbar belanglose Fakten verdeutlichen, wo Majakowski offensichtlich innere Übereinstimmungen seiner Literaturauffassung mit der von Sostschenko erkannt hat. Majakowski lehnte grundsätzlich ab, daß mit Auflagenhöhen jongliert wird, um über die allgemeine Verständlichkeit eines literarischen Textes zu befinden. Und gleichzeitig vertrat er die Ansicht, daß die Zeitungs- und Zeitschriftenredaktionen ein Großteil Schuld daran tragen, wenn die Texte der Schriftsteller ungenügend verbreitet werden. Dabei berief er sich auf Sostschenko: „Sostschenko war im Ogonjok bei einer Auflage von zwei Millionen Exemplaren vergriffen. Jessenin bei hunderttausend. Sostschenko ist in Anbetracht der Ebbe in unserer satirischen Arbeit ein bedeutender, qualifizierter und der populärste Schriftsteller. Er muß auf jede erdenkliche Weise in die Zeitschriften gebracht werden. Das macht der Ogonjok."343 Majakowski kämpfte nicht nur in eigener Sache. Er nannte Sostschenko und verfocht den Anspruch, daß in den Massenmedien, die zu den breiten Massen Zugang haben, jedwede Art von Literatur, auch Verse, verbreitet wird. Das war die gleiche Position, die auch Sostschenko in der literarischen Praxis einnahm. Majakowski hat Sostschenkos Arbeit für die Presse und die Versuche, den Wirkungsraum von Literatur generell zu erweitern, genau verfolgt. Das bekräftigt eine Bemerkung in dem Grundsatzartikel Die Arbeiter und Bauern verstehen Sie nicht (1928): „Hat es an Umsatz gefehlt? Was ist da zu sagen! So sucht es doch einem Notvj mir 139

und einem Michail Sostschenko gleichzutun." 344 Der Dichter delegierte das Problem nicht ausschließlich an die Redakteure. Als nachahmenswertes Beispiel nannte er die Redaktion des Nowy mir u n d Sostschenko. Er kritisierte, daß die Zeitungen und Zeitschriften mit hohen Auflagen der Literatur zu wenig Platz einräumen und dadurch unter dem Standard bleiben, den sie in sozialistischen Literaturverhältnissen erreichen müßten. Und gleichzeitig verwies er auf Sostschenko, der für den Massenleser schrieb und dafür in Kauf nahm, daß seine Texte der Nicht-Literatur zugeordnet wurden. So betrachtet, erkannte Majakowski in ihm einen Bundesgenossen. Doch dies war nicht der einzige Grund. Das wenig bekannte Gedicht Optimistenfabrikanten (Provinzielles), das Majakowski nicht zufällig 1927 in Saratow verfaßt hatte, enthält ganz im Stile Sostschenkos die ironische Bemerkung, dem sich photographierenlassenden Dämchen schwebe schon das Bild vor Augen, „daß es Sostschenko heiratet" 345 . Die scharfe Kritik an der Optimistenfabrik, einem Photoatelier in der Provinz, ist das vernichtende Urteil an einem platten, klischeehaften, die Wirklichkeit vergoldenden Kunstideal. Gekoppelt mit Sostschenkos Namen, ist es eine Anspielung auf die Sentimentalen Erzählungen, auf die hier geführte innerliterarische Polemik. Auf einigen Anschlägen, die das Programm geplanter Literaturveranstaltungen enthielten, kündigte Majakowski das Gedicht Optimistenfabrikanten sogar unter dem Titel Heirat mit Sostschenko an. 346 Schon der Name allein hatte bei den Lesern und Hörern eine ungemeine Anziehungskraft. Das wußte auch ein Majakowski. Die Berührungspunkte und Unterschiede zwischen den künstlerischen Systemen von Majakowski und Sostschenko sind insbesondre vom kommunikativen Aspekt noch nicht erforscht. Isaak Ewentow betont das gemeinsame Anliegen ihrer Satire, spricht in bezug auf die Schreibweise von „Anklängen, Parallelen und Annäherungen" und benennt die Besonderheiten. Majakowski bevorzuge den „poetischen Monolog", Sostschenko den „Skas" („. . . die Sprache des Helden verwandelte sich in ein universelles Mittel zur Lösung künstlerischer Aufgaben" 347 ). Ein entscheidendes, beide Autoren verbindendes Moment sieht Ewentow in der Verarbeitung gängiger Begriffe aus dem Spießermilieu mit dem daselbst vorherrschenden Dingfetischismus. Kleinbürgerliche Sehnsucht nach Bequemlichkeit und Wohlstand wird von innen heraus der Lächerlichkeit preisgegeben und als unzeitgemäß angeprangert. 348 Die wenig überzeugende 140

pauschale Unterscheidung zwischen Monolog und Skas, die Ewentow vornimmt, kann an dieser Stelle nicht näher erörtert werden. Zu fragen ist nach den Adressaten aus der Sicht des jeweiligen Autors. Majakowski zählte gleich im Anschluß an den Hinweis auf die von Sostschenko praktizierte Lösung des Umsatzproblems der eigenen Produktion die Käufergruppen der Zeitschrift Lef auf: Hochschuljugend, Arbeiter- und Bauernkomsomol, Arbeiterkorrespondenten, Schriftstellernachwuchs. Er setzte also auf die lernbegierige Jugend im Lande, schränkte aber damit seinen Leser- und Hörerkreis im Vergleich zu den sonstigen Erklärungen, in denen er es auf eine vielmillionenköpfige Leser- und Hörerschaft aller sozialen Schichten abzielte, enorm ein. So geriet der Lef-Mznn Majakowski mit dem Dichter Majakowski in Konflikt. Sostschenko beschrieb fast zum gleichen Zeitpunkt die Adressaten seiner Bücher als „bewußte Bürger, die über das Leben, ihr Schicksal, über Geld und Literatur nachgedacht haben" 349 . Der Begriff „bewußte Bürger" bedeutete nicht „politisch bewußte" Leser, sondern besagte lediglich, daß es sich um Menschen handelt, die sich Gedanken machen, daher zum Buch greifen und das Gelesene verarbeiten. Er betonte die subjektive Interessiertheit an Literatur schlechthin und machte im Gegensatz zu Majakowski von vornherein Abstriche an seinen Vorstellungen über den kulturellen Bildungsstand seiner Leserschaft. Er hatte von Anfang an keinerlei Illusionen über ihre Aufnahmefähigkeit und paßte daher seine Schreibweise diesem Bildungsstand z e i t w e i l i g , wie er wiederholt erklärte, an. So durchbrach er mit Erfolg den Teufelskreis, den viele sowjetische Autoren in den zwanziger Jahren beklagten, als sie feststellten, daß ihre Texte nicht auf dem Buchmarkt zu finden seien. „In den Zeitschriften wird gedruckt. In den Zeitschriften wird diskutiert. Auf den breiten Lesermarkt gelangten inzwischen Ehrenburg, Sejfullina (mit einer Sache) und Sostschenko." 350 Das war nicht einfach eines der üblichen Paradoxa von Viktor Schklowski. Trotz der Buntheit der in diesen Sachverhalt eingeflochtenen Bilder und Vergleiche sprach er eine Tatsache aus. Zweifellos hat sich Sostschenko ständig zu Majakowski in Beziehung gesetzt. Anhaltspunkte, wenn auch wenige, lassen sich nachweisen. Dieses Interesse beruhte vorwiegend auf der satirischen Ebene. Ob Sostschenko die ROSTA-Fenster Majakowskis gekannt hat, ist nicht bekannt. Aber von diesen Plakaten über den Mossel141

prom-Vers und die größeren satirischen Gedichte bis zu den Stücken Die Wanze und Das Schwitzbad ist ein Konzept zu erkennen, das v o m funktionalen Aspekt sehr ähnlich war. Sostschenko sah ganz und gar nichts Unehrenhaftes für einen Schriftsteller darin, wenn er auf den Seiten eines dünnen Karikaturblattes wie Begemot gedruckt wurde. Valentin Stenitsch zitierte auf einer Diskussion über S o stschenko 1930 einen Ausspruch des Schriftstellers: „Wenn ich wüßte, daß sich der Massenleser für mich interessiert, würde ich mich liebend gern auf Bonbonpapier in Millionenauflagen drucken lassen." 3 5 1 Dieser Ausspruch - nehmen wir an, er kann für verbürgt gelten könnte auch von Majakowski stammen. Der entscheidende Unterschied zwischen beiden Autoren bestand aber letztlich doch darin, daß Majakowski um eine Avantgarde-Kunst kämpfte und mit seinen Dichtungen den fortgeschrittenen Teil der Leserschaft ansprach, während sich Sostschenko „einstweilen n o c h " , wie er immer wieder betonte, ohne Ausnahme auf das geistige und kulturelle Niveau der erst im sozialistischen Staat zu entwickelnden breiten Bevölkerungsschichten einstellte. Boris Kasanski und J u r i Tynjanow, beide von der Opojas-Schule geprägt und beide Mitarbeiter des Kunsthistorischen Instituts, gaben 1928 ein schmales, bemerkenswertes Sachbuch über Sostschenko heraus. Bemerkenswert allein schon deshalb, weil es von einem Autor handelte, der erst seit sechs bis sieben Jahren gedruckt wurde, in Leserkreisen sehr schnell Anerkennung gefunden hatte, aber dennoch in gewissen Kreisen nicht als literaturwürdig galt. Die an poetologischen und linguistischen Problemen interessierten jungen Wissenschaftler fragten nach den Ursachen der ungewöhnlichen Wirkung auf die Lesermassen und legten detaillierte Untersuchungen der Sprache Sostschenkos vor. 3 5 2 O b nun Sostschenkos Texte Literatur oder Nicht-Literatur sind, war für sie kein Diskussionsgegenstand. Aber ließ sich mit ihren wissenschaftlichen Ergebnissen der Streit schlichten? Schklowski hatte auf die wunde Stelle hingewiesen, die Sostschenko schmerzte. Die Kritik stempelte ihn als kleinbürgerlichen Schriftsteller ab, während die Leser, so meinte Schklowski, den Schreibmechanismus durchschauten: „ D e r Leser n i m m t . . . die Ereignisse nicht so auf, wie sie erzählt werden.. . . Der Leser errät, wie es scheint, von selber, daß man den Gegenstand auch anders sehen k a n n . " 3 5 3 Und Schklowski schlußfolgerte: „Die Machart der Sachen von Sostschenko, das Vorhandensein einer zweiten Ebene, die ordentliche und erfinderische Bauweise der 142

Sprache machten Sostschenko zum populärsten russischen Prosaiker." 3 5 4 Gab sich Sostschenko mit einer solchen Interpretation zufrieden? Ein sichtliches Unbehagen ist aus seinen Ausführungen, die dem Bändchen vorangestellt sind, herauszuhören. Die Stilanalysen, vor allem die genaue Unterscheidung der sprachlichen Ebenen zwischen Erzähler, „Autor" und Verfasser, 355 auf die er einen so großen Wert legte, hätte er eigentlich nur begrüßen müssen. Die Untersuchungen beschrieben jedoch lediglich das literarische Ergebnis seiner Anstrengungen, beim Leser einen ganz bestimmten Effekt auszulösen, lediglich die neuartigen Verfahren und die besondere Form des Skas, die er zu diesem Zweck entwickelt hatte. Das eigentliche Ziel kam hier nicht zur Sprache, auch nicht die besonderen Wirkungsmechanismen, die sich nicht auf das rein Sprachliche reduzieren ließen. Der Versuch des Autors, diese Verschiebungen zu korrigieren, enthält zwei bemerkenswerte Eingeständnisse: Erstens die These, daß die besondere Form seiner Erzählungen jeweils von der Aufgabenstellung, vom Thema und von den geschilderten Typen abhänge, folglich ständig variiere, und zweitens die lapidare Erklärung, „ich bin ein proletarischer Schriftsteller". „Genauer betrachtet", präzisierte er diese Behauptung, „parodiere ich mit meinen Sachen den fiktiven, aber echten proletarischen Schriftsteller, den es unter den jetzigen Lebensbedingungen und im jetzigen Milieu geben müßte. Aber solch einen Schriftsteller kann es zumindest jetzt nicht geben. Und wenn es ihn geben wird, so werden sein gesellschaftliches Sein und sein Milieu in jeglicher Beziehung ein wesentlich höheres Niveau haben. Ich parodiere nur. Ich ersetze zeitweilig den proletarischen Schriftsteller. Dadurch sind die Themen meiner Erzählungen von einer naiven Philosophie durchdrungen, die meinen Lesern angemessen ist."356 Und schließlich am Schluß nochmals zur Bekräftigung: „Ich schreibe äußerst gedrängt. Der Satz ist kurz, den Armen leicht verständlich. Vielleicht habe ich deshalb so viele Leser." 357 Bereits die Drucklegung der ursprünglich mündlich vorgetragenen Ausführungen befriedigte den Autor nicht mehr. Er fand nicht alles überzeugend, was nun schwarz auf weiß geschrieben dastand. Vielleicht war er auch in Polemiken verwickelt worden, von denen wir nur nichts wissen. So nahm er eine generelle Antwort in Arbeit, das Buch, das von allen seinen Büchern aus dieser Zeit in der breiten Öffentlichkeit die wenigste Resonanz gefunden hat. Von seinen Lesern fühlten sich offenbar nur die unmittelbar betroffenen Brief143

Schreiber angesprochen. Das Buch fand hie und da ein Wort des Lobes oder auch des Tadels. Es war erdacht als eine Art Leitfaden der neuartigen Autor-Leser-Beziehungen in der Übergangszeit zum Sozialismus mit allen Merkmalen der Zeitweiligkeit eines solchen Bezugs auf die Interessen und Bedürfnisse des Lesers.

Kollentauscb. Briefe an einen Schriftsteller In den Briefen an einen Schriftsteller sind die Rollen vertauscht. Der jeweilige Briefschreiber tritt als Autor auf und der Schriftsteller als Leser. Die Kommentare des Schriftstellers zu den Briefen geben unmittelbare Leseeindrücke wieder und überschreiten gleichzeitig die Grenzen des Lektüreaktes. Der Leser Sostschenko bewertet und bespricht das Gelesene und ordnet es in größere Zusammenhänge ein. Dabei schlüpft er wieder in seine eigentliche Rolle als Schriftsteller, der die an ihn gerichteten Briefe nicht unbefangen lesen kann, denn jeder Brief ist für ihn eine Reaktion auf die geleistete literarische Arbeit und nicht einfach eine Mitteilung über einen bestimmten Sachverhalt. In den Kommentaren bezeichnet er allerdings stets den Briefschreiber als Autor, um den Rollentausch bewußt zu machen. So läßt sich auch der Titel erklären, der von Sostschenko nur selten benutzte Begriff „Schriftsteller"; er benötigte ihn zur Abgrenzung der verschiedenen Rollen, in denen der Autor Sostschenko im Buch in Erscheinung tritt. Im Vorwort ist die Rollenverteilung die übliche. Sostschenko wendet sich in eigenem Namen als Autor an den künftigen Leser, den eigentlichen Adressaten des Briefbands, und trifft einige bemerkenswerte Feststellungen. Sostschenko faszinierte der Materialneuwert der Briefe, den er allerdings nicht von Anfang an erkannt hatte. Vor 1926 ließ er die Briefe unbeantwortet und vernichtete sie. Er habe sich damals in einem krankhaften, neurasthenischen Erregungszustand befunden, heißt es gleichsam zur Entschuldigung in einer Anmerkung. 358 Offenbar empfand er in seiner damaligen schlechten gesundheitlichen Verfassung die Selbstdarstellungen seiner Briefpartner als eine schwere Last, die ihm aufgebürdet und schier untragbar wurde. Der Briefstrom riß dennoch nicht ab, nahm eher noch zu und das zu der Zeit, als er in den Sentimentalen Erzählungen den „Leser" wie den „Autor" als Akteure in den Text hereingeholt und sich mit diesen Figuren viele Fehlinterpretationen und Mißverständnisse eingehandelt 144

hatte. In dieser Situation las er die Briefe plötzlich mit anderen Augen und entdeckte den dokumentarischen Wert des Materials von verschiedenen Aspekten. Die Buntheit der Leserschaft, wie sie sich auf den Seiten des Buches in sehr persönlich gehaltenen Briefen selbst darstellt, widerlegt alle soziologischen Schemata. Die Revolution hatte die Briefschreiber trotz unterschiedlicher Herkunft etwa auf die gleiche soziale Stufe gestellt. Das Alltagsleben war in den breiten Bevölkerungsschichten höchst beschwerlich, das Wohnungsproblem in den Städten ungelöst. Die in den wohlhabenden Bürgerhäusern geschaffenen Gemein schaftswohnungen hatten den Wohnraum insgesamt erweitert, aber auch diese, weil ungewohnten Lebensbedingungen waren die Ursache nicht vorausgesehener Verschärfungen und Verhärtungen der menschlichen Beziehungen. Sostschenko hatte anhand realer Fakten aus dem Alltag diese Probleme in seinen Feuilletons und humoristischen Erzählungen in satirischer Form aufgespießt, um die Leser zum Nachdenken anzuregen, wie solche Erscheinungen ausgemerzt werden könnten. Seine Figuren waren meistens Menschen, die unter diesen Lebensumständen litten, ihnen entkommen wollten und deshalb zu List, Intrige und Niederträchtigkeiten griffen. Das Gemeinschaftsgefühl der Wand an Wand in einer Wohnung zusammenlebenden Menschen entwickelte sich nicht wie erwartet. Die kleinbürgerlichen Lebensformen, die Juri Tynjanow in seinen Notizbüchern historisch entwickelt und plastisch dargestellt hat, die „scheelen Blicke auf Fremde", „mitunter Neid", „fast immer Gleichgültigkeit", 359 breiteten sich aus. Sostschenko kannte all das nicht nur aus den Schilderungen der anderen. Er hatte selber unter solchen Bedingungen in Leningrad gelebt. In der letzten der vier Sentimentalen Erzählungen, Der Flieder blüht (1929), sind autobiographische Notizen und Erklärungen eingestreut, die zwar noch der fiktiven Person „Autor" in den Mund gelegt sind, aber unvermittelt die „naive Philosophie" dieser Person aufgeben und in Sostschenkos „eigenem Namen" und mit „eigener Stimme" verfaßt sind: „Er schildert die Ereignisse nicht vom Planeten Mars, sondern von unserer verehrten Erde, unserer östlichen Halbkugel aus, wo sich haargenau in einem Haus eine kleine kommunale Wohnung befindet, in der der Autor seinen Wohnsitz hat und von der er sozusagen mit eigenen Augen die Menschen ohne jegliches Beiwerk, ohne Hülle und Drapierungen sieht. . . . Würde man den Autor fragen: 'Was willst du eigentlich? Was ist es konkret, was du 10

Thun; Autot, Leser

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brennend gern an den Menschen in deiner Umgebung ändern möchtest?' - würde es ihm schwerfallen, sofort zu antworten. Ändern will er gar nichts. Allenfalls eine ganze Kleinigkeit. In Hinsicht auf die Raffgier. In Hinsicht auf die alltägliche Schurkerei, sich von materiellen Motiven leiten zu lassen." 360 Das war die indirekte Auseinandersetzung mit den Kritikern, die seinen Alltagsszenen Verunglimpfung der sowjetischen Lebensweise, Vereinseitigung negativer Erscheinungen vorwarfen. Und das war zugleich der Neuansatz zum Himmelblaubuch. Ein Teil der Briefe war von Menschen geschrieben, die genau so wie einige seiner literarischen Figuren ausschließlich auf ihren persönlichen Vorteil bedacht waren und ihm alles unterordneten: Anstand, Freundschaft, Liebe, Ehrgefühl, Sinn für Kunst und für Schönheit schlechthin. Ein von den Briefschreibern mehrfach variiertes Thema ist die Bitte an den Schriftsteller, bei der Drucklegung erster literarischer Versuche behilflich zu sein. Die Motive bewegten sich zwischen jugendlicher Schwärmerei für Verse, aufrechtem innerem Bedürfnis zu schreiben und der schamlos ausgesprochenen Idee, die literarische Tätigkeit sei ein bequemer Gelderwerb. In der Erzählung Ein bäuerliches Naturtalent (1924) hatte Sostschenko bereits die Spekulationen mit echt bäuerlicher Abstammung, das sinnlose Versekritzeln ohne harte Arbeit an den eigenen Fähigkeiten und ohne Bindung an das reale Leben verlacht. Das bloße Streben, man könne mit Poesie „bißchen was zuverdienen" 361 , und das Einrichten eines Textes ausschließlich nach dem Zeilenhonorar verurteilte er scharf. Und besonders empfindlich reagierte er auf das Angebot eines Matrosen von der Schwarzmeerflotte, er liefere dem Schriftsteller die Sujets, Sostschenko könne sie ihm dann abkaufen, bearbeiten und unter eigenem Namen veröffentlichen. Auf diesen „kühnen Brief", wie sich Sostschenko vorsichtig ausdrückte, habe er geantwortet: „Literatur ist kein Segeltuch und keine Geleefrucht, und man kann mit ihr keinen Handel treiben." 362 Der Matrose ließ jedoch nicht von seiner fixen Idee ab. Er hatte keinerlei Gespür für sein beleidigendes Anerbieten und schrieb dem Schriftsteller erneut. Leute mit einem so energischen Charakter, heißt es sinngemäß am Schluß des Autorkommentars, machen gewöhnlich Karriere. Das mehrfach abgehandelte Thema, wie wird man Schriftsteller, nimmt in dem Briefwechsel zwischen Leser und Autor nicht zufällig einen so breiten Raum ein. Von Seiten der Briefschreibet, häufig be 146

jungen Menschen und insbesondere bei jungen Mädchen, die noch eine gute Schulbildung genossen hatten, war der Drang, in Versen das eigene Erleben und Weltgefühl auszudrücken, eine ganz normale Erscheinung. Sie lebten in einer kunstfreundlichen Zeit, erfuhren von der Förderung neuer Talente und glaubten an leichte Erfolge. Sostschenko zerstreute diese Illusionen, war ironisch und auch sarkastisch, sobald er falsche Töne aus den Briefen heraushörte, bewies aber ein bemerkenswertes Feingefühl, wenn er Begabung und Bescheidenheit in den Zeilen des Briefschreibers entdeckte. Dann gab er Ratschläge und hoffte sogar, er werde eines Tages den einen oder anderen Namen unter den Veröffentlichungen junger Autoren finden. Nur an einer Stelle bricht in einer Art Vorrede zu einem Brief die für Sostschenkos Handschrift so charakteristische bittere Ironie hervor: „Ich hatte ein leichtes und erfolgreiches literarisches Leben. Ich mußte nicht von einer Redaktion zur anderen laufen. Und ich mußte nicht meine Produktion durchdrücken. Ich begann 1920/21 zu schreiben. In jenen glücklichen Jahren kamen die verantwortlichen Redakteure selbst in die Wohnung, um sich die Manuskripte zu holen, und hielten das Geld zwischen den Zähnen. Die jungen Schriftsteller arbeiteten damals fast ohne Konkurrenz. Dank ihrer herrlichen Jugend wurden sie alle später zu Klassikern. Aber ich kann mir vorstellen, wie schwer es ist, von einer Redaktion zur anderen zu laufen, und wieviel Energie ein junger Schriftsteller braucht, um das erstemal gedruckt zu werden, wenn er nicht mindestens ein Dostojewski ist." 3 6 3 Schwache Nerven - so betitelte er den im Anschluß veröffentlichten Brief - seien fehl am Platz. Weder Protektion noch ein leichter Weg führten zu Erfolgen, nur jahraus, jahrein unermüdliche Arbeit an sich selbst. Das war der eigentliche Sinn der parodistischen Umkehrung eigener Lebenserfahrung. Sostschenko benutzte die Briefe, um das Klischee vom leichten Schriftstellerberuf abzubauen. Schriftsteller zu sein als Ausweg aus der Alltagsmisere, als Befreiung von eintöniger beruflicher Arbeit war eine Einbildung und eine gefährliche dazu. Dahinter verbarg sich der noch wichtigere Gedanke: Welche Vorstellungen entwickelt eigentlich eine Gesellschaft von ihrer Literatur? Diese Frage beunruhigte ihn zutiefst. Die eingesandten Texte bestätigten seine Vermutung, daß der literarische Geschmack der breiten Massen unterentwickelt und durch pseudoromantische Muster verbildet war. Eine Briefstelle erinnert fatal an die Kitschszenen aus der Trivialliteratur: „Kommen Sie am Donnerstag in den Michailowski-Garten. 10*

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Dort gibt es am Teich eine Marmorbank. Gewiß, das klingt für einen Prosaiker wie Sie viel zu poetisch, aber es ist das einzige Erkennungsmerkmal in diesem Garten . . Z'364 Mitunter gab Sostschenko auch nur ein einziges Detail, das diese Problematik aufleuchten ließ und über den Briefschreiber, seine Mentalität und Beziehung zur Kunst, Wesentliches aussagt. So bat ein Bauer auf einer offenen Karte um die Empfehlung eines Handbuchs zur Anleitung, wie man Verse und Prosa schreiben lernt. Die Karte wird in der Vorbemerkung des Herausgebers wie folgt beschrieben: „Eine alte vergilbte Ansichtskarte, mit Fliegenschmutz bedeckt. Sicherlich hing diese Karte viele Jahre lang in einem Bauernhaus unter der Ikone. Sie hat ein Loch von einer Reißzwecke. Auf der Ansicht ist irgendein Mitglied der ersten Staatsduma . . Z'365 Das Bemühen, die Leute mit den gleichen Mitteln bloßzustellen, die sie selber benutzten, oder, wie sich Konstantin Fedin ausdrückte, „sich der Mittel der Vereinfachung zu bedienen, um gegen die Vereinfacher der Kunst vorzugehen" 366 , erfüllte nicht immer die Funktion, die Sostschenko bei der Rezeption seiner Texte erwartet hatte. Das war nicht allein ein Problem der ständigen Reibungen zwischen dem Autor und seinen Kritikern, sondern auch zwischen dem Autor und seinen Lesern. Diese Erfahrungen wurden durch die Briefe erhärtet. Im Hinblick auf seine weitere literarische Entwicklung, das Umstellen der Schreibweise, sollten die Denkanstöße in dieser Richtung nicht unterschätzt werden. Nicht zufällig nannte Sostschenko 1934 die Briefe am Beginn der Aufzählung seiner neueren Werke: Briefe an einen Schriftsteller, Wiedergefundene Jugend und Das Himmelblaubuch.367 Einige Verkennungen und Mißverständnisse, die in den Briefen deutlich wurden, hat er in den Kommentaren aufgeklärt, so die Anfrage, ob er nicht doch die Sentimentalen Erzählungen „in einer Person" geschrieben habe und der andere Bürger, gemeint war J. W. Kolendorow, eine erfundene Figur sei. Sostschenko hat dies nicht nur bejaht. Er hat im Vorwort zur vierten Ausgabe, das mit April 1929 datiert ist, das Spiel mit den Verfassernamen aufgegeben und es als einen „literarischen Kunstgriff" erklärt. 368 Solche Mißdeutungen seitens seiner L e s e r stimmten ihn natürlich nachdenklich darüber, inwieweit sie seine parodistische Schreibweise überhaupt rezipierten. Die Selbstbloßstellungen der Briefschreiber ebenso wie ihre Enthüllungen einiger Tatbestände bestärkten Sostschenko in der Wahl seiner Themen. In erster Linie interessierten sie ihn als Lebensstoff, 148

der seiner Meinung nach ohne Einschränkungen literaturwürdig war. Vorgeschlagene Sujets erwiesen sich hingegen in der Regel als s o d u m m , daß es ihm für den Briefschreiber geradezu peinlich war, s o die Geschichte v o n den falschen Goldzähnen, oder sie entpuppten sich, wie das Motiv v o n der gestohlen geglaubten U h r , als „ g e k l a u t " bzw. literarisch schon abgearbeitet. 3 6 9 In diesem Sinne verdeutlichte der Briefband auch die I r r w e g e der Leser S o s t s c h e n k o s , die fatalen F o l g e n falscher Vorstellungen v o n Literatur unter den neuen gesellschaftlichen Verhältnissen, sobald der eine oder andere selbst zur Feder griff. Gleichzeitig setzte der Schriftsteller einige Lichter. T r o t z aller Schwächen v o m rein poetologischen Gesichtspunkt werden im Band einige Gedichte vorgestellt, u. a. Die alte Frau und ihre Tochter, Verse über Lenin, Geschichten aus dem Nachtasyl, Schlimme Jugend?70 In diesen Versen hatte Sostschenko ein eigenständiges T h e m a und die Fähigkeit z u m Denken und z u m A u s d r ü c k e n der eigenen Gedanken entdeckt. E r setzte nur wenige negative Beispiele d a g e g e n , da es ihm v o r w i e g e n d u m zwei Momente bei den aus d e m Leben seiner Leser g e n o m m e n e n realen Fakten g i n g . E r wollte erstens nachweisen (selbstverständlich zur B e s t ä t i g u n g der eigenen Poetik), daß es keine Fakten gibt, die nicht in die Literatur E i n g a n g finden könnten. U n d zweitens war für ihn nicht d a s Material die Schlüsselfrage, sondern die künstlerische Bearbeitung. E i n literarischer T e x t war für ihn in erster Linie ein künstlerisches P r o d u k t : „Viele Literaten vergessen, daß ein literarisches Werk vor allem ein K u n s t w e r k sein muß. In m a n c h einem Werk ist scheinbar alles am Platze. D a s Sujet ist entwickelt. Die Menschen bewegen sich. Sie vollbringen Taten. Streiten. Verändern sich. Nichtsdestotrotz fehlt im Werk das Wichtigste - die K u n s t . K u n s t entsteht nicht, indem man handelnde Personen z e i g t ; sie entsteht, indem man diesen Personen L e b e n eingibt."371 Sostschenko lieferte mit seinen literarischen Texten gleichsam d a s Anschauungsmaterial zu Schklowskis T h e s e : „. . . der Literaturbegriff verändert sich ständig. D i e Literatur wächst v o m Rande her, indem sie außerästhetisches Material in sich aufnimmt. D a s Material und die Veränderungen, die es bei der B e r ü h r u n g mit bereits ästhetisch bearbeitetem Material erfährt, müssen berücksichtigt werden. D i e Literatur lebt, indem sie sich auf die Nicht-Literatur ausdehnt. A b e r die künstlerische F o r m vollbringt eine A r t R a u b der Sabinerinnen. D a s Material hört auf, seinen Herren anzuerkennen. E s ist nach dem Gesetz der K u n s t bearbeitet und kann bereits außerhalb 149

seiner Herkunft betrachtet werden." 372 Im Unterschied zu Schklowski interessierte sich Sostschenko nicht für solche theoretischen Erklärungen, sondern schlicht und einfach für die kunstpraktische Seite. Er suchte den Weg zum Leser. Die Bemühungen um die Verwirklichung seines kommunikationsästhetisch ausgerichteten Konzepts waren daher stets konkrete Schritte, neue Texte und Bücher, von Zeit zu Zeit die Umstellung seiner Schreibweise entsprechend den Veränderungen, die er in den Bedürfnissen der Leser wahrnahm. So gesehen verfolgte der Rollentausch, die Verschiebung der Ebenen zwischen Autor und Leser in dem Buch Briefe an einen Schriftsteller, einen ausgesprochen pragmatischen Zweck. Die Briefe waren in seinen Augen Epistolarliteratur, d. h. l i t e r a r i s c h e Zeugnisse von Denk- und Verhaltensweisen einer bestimmten Leserschicht in der Nachrevolutionszeit, also Zeitdokumente in einem weiteren Sinne, nicht nur auf literarische Geschmacks- und Bildungsfragen bezogen. Das war aufgeschriebenes erlebtes Leben, verbunden mit Selbstenthüllungen von stellenweise erstaunlicher, sicher sogar ungewollter Offenheit. Der Briefschreiber wollte bestimmt nicht immer all das aussprechen, was nun indirekt ausgesagt wird. Die ein Selbstbildnis vollendenden Striche stehen in einigen Briefen als Postskriptum. Sostschenko kommentierte sie nicht, obwohl sie das I-Tüpfelchen setzen, meist vermittelt über einen vom übrigen Brieftext abseitigen Gedanken. An einigen Beispielen soll dies verdeutlicht werden: „Wenn Sie kranke Augen haben, so schadet Ihnen meine rote Tinte, die übrigens historische Bedeutung hat: sie wurde in vorrevolutionärer Zeit gekauft und ist seither nicht verdorben." 373 „Entschuldigen Sie, daß ich nicht auf Briefpapier schreibe, aber ich bin zu träge, nach dem Buvard zu greifen."37'1 „Schreibe, für welchen Autor Du schwärmst. Liebst Du Sostschenko und Majakowski? Ich hasse sie." 375 Dies ist der Nachsatz zu einem Sostschenko interessehalber übersandten Brief, betiteltDe/- Fund. „Sie verstehen nicht, warum ich Ihnen das geschrieben habe. Einfach, weil ich nun erleichtert bin. Ich habe alle Karten aufgedeckt, und es gibt kein Geheimnis mehr . . ." 376 Die Postskripte häufen sich auf den ersten Seiten des Briefbands und verschwinden dann. Das erhärtet die Vermutung, daß der große Mystifikator Sostschenko hie und da doch die Hand im Spiele hatte.377 Wie dem auch sei, sie waren für ihn bei seiner besonderen Schreibweise natürlich von hohem psychologischem, stilistischem 150

wie sprachlichem Interesse. Sie könnten ihn derart fasziniert haben, daß er sie gleich zu Anfang für seinen Zweck nutzte und dann verhindern wollte, daß sich dieses Mittel verbraucht und dadurch nicht mehr auf den Leser wirkt. Solche Briefstellen machen das Aufeinanderstoßen von Rationalem und Irrationalem, das Igor Saz in Sostschenkos Erzählungen so gut beobachtet hat, besonders deutlich. 378 Die Briefe sind auch unter diesem Aspekt Belege dafür, daß einige Erzählstrukturen Sostschenkos nicht reine Erfindungen sind, sondern aus der Denk- und Sprechweise bestimmter sozialer Schichten entwickelt wurden. Der individuelle Briefstil pflegt solche Besonderheiten aufzubewahren. Die von Sostschenko zu hoher Meisterschaft entwickelte Kunst, in seinen Erzählungen und Parodien mit Kommentaren, Vorworten, Prologen und Nachsätzen, die mitunter auch die „Moral" der Geschichte enthalten, zu arbeiten, erinnert an die Postskripte seiner Briefpartner. Und dennoch sind die Briefe an einen Schriftsteller in erster Linie ein Materialbuch. Die Beteuerungen des Autors und der von ihm benutzte Materialbegriff („Ich kann nicht, ich habe nicht das Recht dazu, in meinem Schreibtisch ein solch außergewöhnliches Material zurückzuhalten" 379 ) bekräftigen, daß es ihm nicht schlechthin um reines Tatsachenmaterial ging. Ihn interessierte nicht minder, wie die Briefschreiber, seine realen Leser, sich selber sahen und mit welchen Mitteln sie ihr Leben und ihre Person beschrieben. Das war gleichermaßen der Blick eines professionellen Schreibers auf seinen Gegenstand, der unvermutet lebendige Züge annahm. (Am deutlichsten spürte er diese Reibung nach dem Erscheinen der ersten Ausgabe, als einige Briefschreiber in persona zu ihm kamen: „Mein Buch belebte sich sozusagen. Lebende Helden traten aus den Buchseiten heraus." 380 ) Der eigene literarische Gegenstand und der Adressat unterschieden sich kaum voneinander. Das war die Entdeckung, die noch näher zu untersuchen ist. Die meisten Briefe schildern komplizierte menschliche Schicksale. Und selbst in den Fällen, in denen hervorgekehrtes Selbstbewußtsein Gaunerei und Spitzbubenpsyche kaschieren soll, wirken solche Haltungen im Kontext von Kommentar, Briefmontage und Vorwort nicht nur abschreckend, sondern zeigen sich zugleich von ihrer tragischen Seite. Diese Leben erscheinen als falsch gelebtes Leben. Die Frage nach den Ursachen wird nicht gestellt. Sie stellt sich dem Leser der Briefe, damit auch die Frage nach den Möglichkeiten, die die Gesellschaft hat, auf solche Schicksale Einfluß zu nehmen, ihnen 151

einen neuen Sinn zu geben, solche Menschen aus ihrem nur auf persönlichen Vorteil bedachten Tun, das ihnen schon zur Gewohnheit geworden ist, herauszureißen. Im Vorwort berührte Sostschenko ganz bewußt die moralische Seite dieses Problems und distanzierte sich von ihr mit der Begründung : „Ich konnte und vermochte nicht zu allen gut und aufmerksam sein. Ich konnte mich nicht mit humanen Ideen abgeben. Das hätte meiner Literatur geschadet." 3 8 1 Als Schriftsteller lehnte er jegliches Moralisieren, ein Sich-Ergehen in menschenfreundlichen Betrachtungen ab. Sein Anliegen war, „das wirkliche und unverhüllte Leben zu zeigen, wirkliche lebendige Menschen mit ihren Wünschen, ihrem Geschmack, ihren Gedanken" 3 8 2 , um auf diese Weise seine Leser zum Nachdenken über sich selbst anzuregen. Diesen Standpunkt hat er nicht aufgegeben. 1930 antwortete er einer jungen Leserin, die von ihm eine Umorientierung auf andere Figuren verlangte, „ich bestehe auf der Veränderung der Leser und nicht der literarischen Figuren. Das ist meine Aufgabe. Eine literarische Figur verändern kostet nichts. Aber mit Hilfe des Lachens den Lesern verändern, den Leser zwingen, spießerhafte und unanständige Gewohnheiten aufzugeben, das ist die eigentliche Sache eines Schriftstellers." 383 Nach dem Selbstbildnis des Lesers zu urteilen, wie es Sostschenko aus einer Unmenge von Briefmaterial gleich einem Puzzlespiel zusammengesetzt hat, schrieb er nicht nur für den „ungebildeten, gerade erst alphabetisierten Leser" 3 8 4 . Seine Adressaten waren vorwiegend die zahllosen Menschen, die in der Mehrzahl nach der Revolution nicht mehr so weiter leben konnten wie vorher und nun erst auf der Suche nach einem anderen, besseren Weg waren. Davon waren die untersten sozialen Schichten ohne jegliche Bildung genauso betroffen wie beispielsweise die Jugendlichen, die noch in wohlbehüteten Bürgerhäusern aufgewachsen waren und nun mit ihrer Bildung einfach nichts anzufangen wußten, da sie keinen praktischen Beruf erlernt hatten. Die alten Wertvorstellungen vom Menschen waren ungültig geworden, und neue hatten sie noch nicht erworben. Die Briefschreiber, also Sostschenkos reale Leser, waren u. a.: sentimentale Fräuleins verschiedener sozialer Herkunft, wie Stil und Orthographie auswiesen (allein schon die Bezeichnung für eines von ihnen, das Fräulein aus Kronstadt, war in der Nachrevolutionszeit ein Widerspruch in sich); Emporkömmlinge und Abenteurer oder solche, die es durch Raffgier werden wollten; Soldaten und Matrosen; einfache Arbeiter, darunter Eisenbahner mit einem auffallend ge152

pflegten Stil, klaren Gedanken und der fürwahr ungewöhnlichen Erklärung: „Ihnen schreiben einfache arbeitende Menschen (nicht im Sinne von 'wir, die Arbeiter')" 585 ; Fabrikjugend; Hausangestellte; Landarbeiter; ein verkrüppeltes Mädchen; Menschen, die auf die allerunterste soziale Stufe gerutscht und im Nachtasyl oder wie das Mädchen, mit dem sich dann der Autor aus Wißbegier traf, auf der Straße gelandet waren („Ich trage meine neunzehn Jahre und mein gelbes Köfferchen" 386 - das war ihre ganze Habe). Diese Liste ließe sich noch fortsetzen. Doch nicht Vollständigkeit der Aufzählung entschlüsselt im Falle Sostschenkos die Autor-Leser-Beziehung, sondern die Bestimmung einiger Merkmale, die seine Thematik und seinen Stil geprägt haben. Der Adressat seiner Bücher lebte an der Wende zweier Epochen. Viele Widersprüche, Konflikte, Ungereimtheiten, tragische Verkettungen durch eigene wie fremde Schuld hatten in diesem Aufeinanderprall verschiedener historischer Kräfte ihre Ursache. Nicht den Umständen lastet er von vornherein die komplizierten, nicht selten echt tragischen Lebensschicksale an. Die Menschen fanden häufig nicht in sich selbst die Kraft zur Überwindung der Bindungen an Lebensgewohnheiten, die sie als erniedrigend empfanden. So ließen sie sich aushalten, korrumpieren, büßten ihre Menschenwürde ein und litten. Sostschenko verurteilte sie nicht pauschal. Er begriff, daß diese Menschen in den durch die Revolution geschaffenen neuen Lebensformen zunächst erst einmal um ihr „Recht zu leben" kämpften, um den Erwerb des täglichen Brots.387 Sie mußten lernen, diese ungewohnten Bedingungen zu meistern. Und er als Schriftsteller sah hier seine Aufgabe, am Bewußtsein des Lesers zu arbeiten. 388 In den Vorworten zu den Sentimentalen Erzählungen ist die Rede von einer „ganzen Galerie aussterbender Typen", die seine Bücher bevölkern, von Menschen, die „einstweilen auf dieser Welt noch überaus stark verbreitet sind". Die Überzeugungskraft seiner Argumentation stützte sich in hohem Maße auf das Selbstbildnis seines realen Lesers. Deshalb muß außerordentlich behutsam mit der Aussage umgegangen werden, er habe sich eher als ein Partner seines Lesers verstanden. In der Abgrenzung von der traditionellen Distanz zwischen Autor und Leser mag dies noch stimmen, aber schon nicht mehr unter den veränderten Literaturverhältnissen im Hinblick auf die Herausbildung eines neuartigen Partnerschaftsverhältnisses, wie es beispielsweise Anna Seghers nach dem Krieg, zurückgekehrt in die vom Faschismus befreite Heimat, in den Satz faßte: „Der Autor 153

und der Leser sind im Bunde: sie versuchen zusammen auf die Wahrheit zu kommen" 389 oder wie es Hermann Kant mit dem Begriff des „zuständigen Lesers" bezeichnete. Die Herausbildung solcher Beziehungen ist ein langer, widersprüchlicher Prozeß. Und das Beispiel Sostschenko ist gerade deshalb so aufschlußreich, weil es die Langwierigkeit wie die Differenziertheit solcher neuartigen Beziehungen zwischen Autor und Leser in den zwanziger Jahren verdeutlicht. Sostschenko war ständig in eine innerliterarische Polemik verstrickt, die er im Text seiner Erzählungen mit den Mitteln der Parodie weiterführte. Er war Schriftsteller und kämpfte um die Anerkennung seines Konzepts. Die Entdeckung, daß es viele Fälle einer Identität zwischen seinen literarischen Figuren, seinen Adressaten und seinen realen Lesern gab, war sicherlich der entscheidende Impuls, als er sich entschloß, die Briefe herauszugeben. Das beweist auch die geringe Anzahl der abgedruckten literarischen Wertungen seiner Erzählungen, die er bis auf wenige Ausnahmen am Ende des Buches zusammenfaßte. Insofern unterscheiden sich die Brieftexte grundlegend von den Veröffentlichungen Toporows Bauern über Schriftsteller. Im Vordergrund stand nicht die Wiedergabe von literaturkritischen Äußerungen zu Wirkungen, die der eine oder andere Text auf Leser ausübte. Der Schwerpunkt lag auf dem Lebensstoff, auf den die Leser bei der Lektüre von Sostschenko-Texten direkt oder indirekt reagierten und dabei begannen, über sich selbst nachzudenken. Darin sah er die Bestätigung seiner Berufung als Schriftsteller der neuen Zeit. In diesem Sinne empfand er die Äußerung eines Dorfkorrespondenten aus dem Ural als höchstes Lob: „Sostschenko schreibt Fakten. Sostschenko nimmt das Leben nicht aus seinem literarischen Kabinett, sondern indem er sich im Leben umtut." 390

Wessen Schriftsteller ist Michail Sostschenko? „Nein, Sostschenko ist kein uns feindlich gesinnter Schriftsteller. Sostschenko ist kein kleinbürgerlicher Schriftsteller. Sostschenko kämpft gegen das Spießertum, und in diesem Sinne ist er mit uns." 391 Michail Tschumandrin, Verfasser des zu dieser Zeit in deutschen Arbeiterkreisen populären Romans Konfitürenfabrik Rablewerke"392, faßte mit diesen Worten das Ergebnis seines Nachdenkens über 154

Sostschenko zusammen. D e r „gesetzmäßige W e g " v o n den K u r z geschichten und Erzählungen bis zu den Briefen an einen Schriftsteller veranlaßte ihn zu dieser E r k l ä r u n g a m Schluß seines V o r t r a g s v o m 19. J a n u a r 1930 im H a u s der Leningrader Föderation der Vereinig u n g e n sowjetischer Schriftsteller unter d e m p r o v o k a n t e n Titel „Wessen Schriftsteller ist Michail S o s t s c h e n k o ? " D i e schon fast bekenntnishafte Wertung eines Autors durch einen anderen A u t o r gibt ein plastisches Bild v o n der Situation, der sich S o s t s c h e n k o mit den Briefen offen stellte, u m die eigene Sache in der Öffentlichkeit zu verteidigen. Tschumandrin - k n a p p fünfundzwanzig J a h r e alt, gelernter Presser, seit wenigen J a h r e n aktives Mitglied der Assoziation proletarischer Schriftsteller - klärte gleich zu Beginn die ideologischen Fronten aus der bekannten RAPP-Sicht. Sostschenko zählte er zu d e m den proletarischen Schriftstellern am nächsten stehenden Flügel der sogenannten Mitläufer, der „poputtschiki" ( u m 1922/23 habe er n o c h z u m rechten Flügel gehört), und v o n dieser Position bemühte er sich u m eine U m w e r t u n g der gesellschaftlichen B e d e u t u n g , ohne die künstlerische umgehen zu können: „ O b w o h l mich in diesem Referat lediglich das Antlitz Sostschenkos als Schriftsteller unserer Gesellschaft interessiert, muß hervorgehoben werden, daß S o stschenko ein außergewöhnlich starker und begabter Künstler i s t . " 3 9 3 E s muß Tschumandrin zugestanden werden, daß er trotz einiger weiterhin nicht völlig ausgeräumter ideologischer Bedenken die T e x t e der Sentimentalen Erzählungen und der Briefe an einen Schriftsteller gründlich durchgesehen hat. Dabei machte er die wichtige E n t d e c k u n g : „ D i e s e s B u c h (Briefe an einen Schriftsteller - N . T . ) ist die entscheidende W e n d u n g Sostschenkos nach unserer S e i t e . " 3 9 4 E r b e z o g sich auf das ausgewählte Material und die Autorenposition, die im V o r w o r t und in den Kommentaren z u m A u s d r u c k k o m m e , und lobte vor allem die publizistische Zielstellung, die Einstellung auf den Massenleser. T s c h u m a n d r i n operierte mit längeren Zitaten aus S o s t s c h e n k o s Erläuterungen zu den Brieftexten und konzentrierte sich im wesentlichen auf zwei F r a g e n k o m p l e x e : Was für ein Leser wird in d e m B u c h vorgestellt? und Wie ist Sostschenkos H a l t u n g in d e m sich zu jener Zeit zuspitzenden Streit u m die „ A u f f r i s c h u n g " der Literatursprache durch die „ S p r a c h e der Straße" zu bewerten? In der zweiten F r a g e teilte er uneingeschränkt Sostschenkos A u f f a s s u n g , würdigte die B e m ü h u n g e n u m eine weitere D e m o k r a t i s i e r u n g der Literatur155

spräche und belegte seine Thesen mit einigen Musterbeispielen der Sprachkunst Sostschenkos aus den Autorkommentaren. - Tschumandrin hatte die Briefe tatsächlich sehr genau gelesen. Bei der Analyse des erstgenannten Problems geriet Tschumandrin in Schwierigkeiten. Er zitierte aus dem Vorwort: „Ich kann nicht sagen, daß man in diesem meinem Buch das wirkliche Antlitz des Lesers sehen kann. Ganz und gar nicht. Diese Briefe sind hauptsächlich von einer besonderen Kategorie Leser verfaßt. . . . Das sind bewußte Bürger, die über das Leben, ihr Schicksal, über Geld und Literatur nachgedacht haben." 3 9 5 Von diesen Worten leitete er dann zwei Schlußfolgerungen ab. Sostschenko habe den zeitgenössischen Leser nicht in seiner Gesamtheit vorgestellt, sondern nur „eine Lesergruppe, die im wesentlichen nicht seine Sympathie genießt" 396 . Und Sostschenko habe eine ironische Haltung zu seinen Lesern, deren Briefe er veröffentlichte. Er bedauere sie nicht wie ein Spießbürger und verfolge dabei mit seinem Buch eine bestimmte gesellschaftliche Absicht. Hier war nun Tschumandrin im Unrecht, denn Sostschenko hatte keineswegs ausschließlich eine ironische Einstellung zu den Briefschreibern. Das Mißverständnis, das dann im Schlußwort offen zutage trat, beruhte auf Tschumandrins sektiererischer Auffassung vom zeitgenössischen Leser: „ E i n f a c h den L e s e r gibt es nicht; es gibt unseren Leser, den Arbeiterleser, und den uns feindlich gesinnten Leser." 3 9 7 Und da Sostschenkos Bücher bei dem einen wie dem anderen beliebt waren, hielt er es für erwiesen, daß die Angriffe gegen das Spießbürgertum vom Autor noch nicht zielstrebig genug geführt worden wären. Tschumandrin artikulierte den Widerspruch zwischen der eigenen neugewonnenen Beziehung zu Sostschenkos Schreibweise und dem vulgärsoziologischen Leserbegriff der RAPP, den er teilte. Diesen Widerspruch erkannte er selbst nicht. Leider hakte sich die Diskussion an diesem Punkt nicht fest, so daß der Leseraspekt an den Rand gedrückt wurde. Der RAPP-Mann Libedinski setzte sich ebenfalls für eine Neubewertung der literarischen Leistung Sostschenkos ein. Doch der bereits erwähnte Valentin Stenitsch wies dieses so plötzliche einsichtige Verhalten seiner beiden Vorredner gegenüber dem Autor scharf zurück. Sostschenko schreibe schon acht Jahre lang in der gleichen Weise; man habe es nur nicht bemerkt. Selbst die sogenannten Mitläufer hätten ihn als einen gefährlichen Autor betrachtet und ihn nicht drucken wollen. „Und Sie", ging er zum direkten Angriff 156

über, „haben acht Jahre lang über Sostschenko wie über einen Schriftsteller geredet, der der dickleibigen Zeitschriften nicht würdig sei. Und erst die Briefe an einen Schriftsteller, in denen er sich genau und schlicht äußert, haben Sie zur Besinnung kommen lassen. Ich wiederhole: er ist nicht zu Ihnen gekommen, er hat seine Sache getan . . ," 398 Er sei immer derselbe gewesen. Die Bemerkung, sogar die Serapionsbrüder seien durch die Briefe in Unruhe versetzt worden, provozierte Nikolai Tichonow zu dem Eingeständnis, Sostschenko habe man nicht zu den „Erfindern hoher Formen" zählen können. Die Serapionsbrüder hätten ihm daher von Zeit zu Zeit gesagt, er gehe nicht den richtigen Weg. Aber auch er fühlte sich sogleich zu der Erklärung verpflichtet: „Dennoch ist es eine Tatsache, daß Sostschenko ein ungewöhnlich viel gelesener Autor ist" 399 , vielleicht vergleichbar nur mit Gorki. Das Nachdenken war in Gang gekommen. Aber die unterschiedlichen Bewertungen des Weges wurden nicht ausgeräumt. Tschumandrin blieb am Ende bei seiner Grundthese. Sostschenkos neue Phase der Annäherung an die proletarische Literatur beginne mit den Feuilletons für den Rege/not unter dem Pseudonym Gawrilytsch und schließe mit den Briefen an einen Schriftsteller ab. In diesem Sinne seien die Briefe zugleich ein Neubeginn. Die Leningrader Diskussion, die in der Zeitschrift Swesda veröffentlicht wurde, hat mehrere interessante Aspekte. Besondere Beachtung verdient, daß sie ausschließlich von Schriftstellern bestritten wurde. Kritiker beteiligten sich nicht an diesem Gespräch. Sie verharrten in der überwiegenden Mehrheit auf den alten Positionen. Der in der Literaturenzyklopädie im gleichen Jahr abgedruckte Abschnitt über Sostschenko war geradezu ein Musterbeispiel von Identifikation eines Schriftstellers mit seinem Gegenstand: „Sostschenko verlacht seine Helden. Dabei stellt er sich als Autor nie in eine Gegenposition zu ihnen und erhebt sich nicht über ihren Gesichtskreis. Ein und derselbe scherzhafte Skas übertüncht nicht nur ausnahmslos alle Nivellen, sondern auch seine Autorenvorworte und seine Autobiographie. Die anekdotenhafte oberflächliche Komik und die fehlende soziale Perspektive geben Sostschenkos Werk einen kleinbürgerlichen und spießerhaften Anstrich." 400 Die Besonderheiten seines Stils, so die zweite Ebene der Parodie oder die Gespräche des Autors mit seinem Leser als ästhetische Komponenten seiner Erzählweise, ignorierte der Kritiker. Der Grund war nicht schlechthin Unwissenheit oder gar mangelhaftes Verständnis 157

für poetologische Fragen. Es bestand ein prinzipieller Widerspruch in der Auffassung, in welcher Richtung sich die Autor-Leser-Beziehungen unter den Bedingungen der eingeleiteten sozialistischen Kulturrevolution entwickeln. Die Erwartungen, die an den Leser und seinen Einfluß auf den Literaturprozeß geknüpft wurden, divergierten, wobei allein schon die Vorstellungen vom Leser der gedruckten Literatur stark voneinander abwichen. Die Hilflosigkeit bei der Bestimmung des n e u e n Lesers, von der bereits mehrfach die Rede war, hatte noch eine besondere Ursache, die in der Diskussion um Sostschenkos Briefe an einen Schriftsteller deutlich wurde. Die Tagespresse und die literarischen Zeitschriften veröffentlichten Leserumfragen zu einem ganz speziellen Zweck. Sie betrieben Marktforschung und Sozialforschung, und bestenfalls interessierten sie sich noch dafür, wie die Leser im Verlaufe des kulturrevolutionären Entwicklungsprozesses literaturkritische Fähigkeiten entwickelten. Für die Autoren waren diese Auskünfte nützlich, aber wenig produktiv. Die Befragung von zweiundzwanzig Schriftstellern, die 1929 im Auftrage des im Volkskommissariat für Bildungswesen eingerichteten Kabinetts zur Erforschung des Lesers schöner Literatur durchgeführt wurde, zeigte die Möglichkeiten wie die Grenzen solcher Methoden. Die Autoren stützten sich auf „Arbeiterkritik, Literaturdispute, Leserbriefe und Bibliotheksgutachten" 401 . Die Frage nach dem Einfluß von Lesermeinungen auf die eigene literarische Arbeit verneinten u. a. Wsewolod Iwanow, Alexej Tschapygin und Artjom Wesjoly, der unumwunden eingestand: „Briefe geben nichts. "/l02 Auch die Äußerungen der Leser auf öffentlichen Literaturveranstaltungen hätten in der Regel einen rein zufälligen Charakter. Die zahlenmäßig größte Gruppe bekannte sich dazu, daß sie die Meinungen der Leser zur Kenntnis nehme. Einige differenzierten die Leser nach ihrem Bildungsgrad. So betonte Leonid Leonow, daß für ihn vor allem der „kluge Leser" wichtig sei. Nur wenige Autoren, unter ihnen Alexander Serafimowitsch, bekannten sich zur direkten Wirkung von Leseräußerungen auf die Entstehung bzw. die Endfassung eines literarischen Textes und belegten dies anhand einiger Beispiele. Die mangelhafte Bildung der breiten Lesermassen wurde generell als ein Problem benannt. Und in diesem Zusammenhang knüpften einige Autoren große Hoffnungen an die erzieherische Wirkung der eigenen literarischen Werke auf den Bildungsstand ihrer Leser. 158

Das Ergebnis der Umfrage war insgesamt wenig konkret. Sie wurde eingeschätzt als „ein erster Schritt der Arbeit mit den Schriftstellern" 403 . Boris Eichenbaum machte 1927 die Beobachtung: „Der Schriftsteller tastet jetzt seine professionellen Möglichkeiten ab. Sie sind unbestimmt, weil die Funktionen der Literatur zu einem komplizierten Knoten verschlungen sind." 404 Das war seitens eines Theoretikers der Opojas-Schule die Wiederentdeckung der Person des Schriftstellers für die literaturwissenschaftliche Forschung. Sie schloß die Erkenntnis ein, daß ein echtes Werkverständnis nur im Spannungsfeld Autor - Leser und im weiteren Sinne als ein Faktor des literarischen Lebens („byt") gewonnen werden kann. Er untersuchte das Problem vorwiegend am literaturhistorischen Material, wie bereits die Studie Uteratur und Schriftsteller (1927) zeigte. Eine Studie über Literatur und Leser schrieb er nicht. Die Beziehung Autor - Leser wurde nur einseitig aus dem Blickwinkel des Autors gesehen. Der Blickwinkel des Lesers entzog sich der praktischen Erfahrung und war wenig, wenn nicht sogar völlig unerforscht. Damit entzog er sich auch dem Zugriff der Wissenschaft. Und die Gegenwart, aus der die neuen Impulse für die Forschung kamen, schärfte zwar das Empfinden dafür, daß die Autor-Leser-Beziehungen ein wechselseitiger Vorgang sind. Aber sie hatte noch keine Verfahren bereitgestellt, wie das Material aufzubereiten und wissenschaftlich zu bearbeiten ist. Die Schriftsteller waren auf sich selbst zurückgeworfen und begriffen mehr denn je zuvor die Herausforderung, die das zahlenmäßig enorme Anwachsen der Lesermassen für sie bedeutete. Sie spürten die ersten Anzeichen des „Aufruhrs des Leserpublikums" 405 , wie sich Isaak Babel 1936 scherzhaft-ironisch ausdrückte, als er einige literarische Produktionsprobleme zur Sprache brachte. Das gute Einvernehmen mit dem Leser war für die Autoren natürlich auch ein Absatzproblem, denn sie lebten vom Honorar ihrer Bücher. In den Vordergrund schob sich dennoch die Frage, für welchen Leser sie tatsächlich schrieben. Dieser funktionale Aspekt griff tief in ihr Literaturverständnis ein. Majakowski hatte sich sehr früh darüber Gedanken gemacht und wurde nur von wenigen verstanden. Die Zuspitzungen des Problems, in der Absicht, es sinnlich wahrnehmbar zu machen, wurden als Übertreibungen abgetan. Sostschenko ging einen ähnlichen Weg, seinen Weg. Da er keine Erklärungen abgab, sich den Auseinandersetzungen nicht in aller Öffentlichkeit stellte, 159

sondern die literarische Polemik in verschlüsselter, parodistischer Form auf die Seiten seiner Erzählungen verlagerte, haben nur die wenigsten die Entwicklung seiner Poetik verfolgt, die seit Beginn der zwanziger Jahre vom Massenleser her konzipiert war. In Schlüssel des Glücks erzählt Sostschenko eine autobiographische Begebenheit aus den allerersten Anfängen seiner Schreibversuche. Er arbeitete als Telefonist des Grenzschutzes und schickte an die Redaktion Die rote Zeitung eine Erzählung unter dem Pseudonym M. Tschirkow. Er wartete vergebens auf eine Nachricht und las statt dessen in der Rubrik „Briefkasten" die lakonische Antwort: „An A. M. Tschirkow. - Wir brauchen Roggenbrot, aber keinen Briekäse."406 Der junge Autor entschied sich hinfort fürs Roggenbrot. Als Tschumandrin fragte: Wessen Schriftsteller ist Michail Sostschenko? - ging es ihm um die politisch-ideologische Einstufung des Autors. In der Literaturdebatte der Jahre 1929/1930 kam der zweite Sinn, der in diesen Worten steckte, zum Vorschein: Wer liest Sostschenko? Die Briefe an einen Schriftsteller hatten einen Sachverhalt enthüllt, der einige Vorstellungen umstülpte. Sie dokumentierten einen Kontakt zwischen Autor und Leser, den sich viele bestenfalls erhofft, aber noch nicht für möglich gehalten hatten. Alexander Woronski hatte noch 1927 erklärt, es fehle der nötige Kontakt zwischen Leser und Schriftsteller: „Der Schriftsteller beklagt sich, daß er beim Leser und in der Presse keinen Widerhall findet; der Leser beklagt sich, daß der Schriftsteller nicht auf seine Bedürfnisse eingeht. Müssen nicht vor allem hier, in der Beseitigung der Trennwand zwischen Schriftsteller und Leser, die Mittel und Wege gesucht werden, die all das verbessern, was in der Gegenwartsliteratur ungeordnet, unorganisiert und unerfreulich ist?" 407 Die Möglichkeiten seien gegeben. Aber auch ein Woronski hätte sich nicht vorstellen können, daß gerade Sostschenko einen unter diesem Aspekt beneidenswerten Weg gefunden hatte, gerade der Autor, der auf den Seiten der von ihm redigierten Zeitschrift, Krasnaja now, keine Anerkennung genoß, weil die Erzählweise, das „Roggenbrot", aus seiner Sicht nicht den Ansprüchen an die Literatur zu genügen schien. Sostschenko hatte seine außergewöhnliche Popularität natürlich zu einem großen Teil gerade der Tatsache zu verdanken, daß er nicht in den angesehenen Literaturzeitschriften und nicht zwischen den Buchdeckeln seriöser Ausgaben gedruckt wurde. Die Kurz160

geschichten und Feuilletons erschienen in satirischen Zeitschriften. Die Erzählungen wurden über einen Buchtyp verbreitet, der sehr hohe Auflagen erreichte, über die Zeitungskioske vertrieben wurde und nicht teuer war. Das waren zumeist auf Zeitungspapier gedruckte Heftchen, wie sie beispielsweise in der Bibliothek des Ogonjok bis heute verlegt werden. Der Umfang betrug im Durchschnitt vierzig bis siebzig Seiten, in Ausnahmefällen um hundert. (Der Band Verehrte Bürger von 1927 umfaßte 274 Seiten und war bereits ein anderer Buchtyp.) Sie waren nicht anstrengend zu lesen, ließen sich leicht verstauen. Daher zählte man sie zu der sogenannten Reiselektüre, ein Begriff, der Sostschenkos Erzählungen als Aushängeschild für mindere Qualität angehängt wurde, den er aber in der Polemik als ein Merkmal für besondere Qualität ummünzte. Sostschenko kam wie viele junge Autoren nach der Revolution von der Zeitungsarbeit zur Literatur. Aber er betrachtete sie nicht nur als Sprungbrett. Er blieb lange Jahre mit einigen Redaktionen eng verbunden, schrieb nach neuesten Fakten, die er dort in die Hand bekam, Feuilletons und redigierte Manuskripte. Kornej Tschukowski hat sehr anschaulich die Zusammenarbeit mit den Journalisten vom Begemot beschrieben und hinzugefügt, es gebe Zeitschriftennummern, in denen man buchstäblich auf jeder Seite Sostschenkos Eingriff spüre.40® Auf die mit Gawrilytsch gezeichneten Feuilletons ging eine Fülle von Leserbriefen in der Redaktion ein, die Sostschenko gleich an Ort und Stelle gründlich durchlas. Viele waren in einem scherzhaften Ton verfaßt und ohne besonderen Wert. Einige verarbeitete er sogleich zu Texten. Und auf wenige antwortete er persönlich. Den erschütternden Brief eines verkrüppelten Mädchens nahm er in sein Buch auf.409 An Gorki schrieb er im Herbst 1930: „Zur Zeit arbeite ich beispielsweise an einer Fabrik Wandzeitung und an der Betriebszeitung eines Werkes. Diese Arbeit habe ich mir selbst gesucht, um einen Einblick in das ganze Leben zu gewinnen und um irgendwie nützlich zu sein, denn die künstlerische Literatur ist, soweit ich das verstehe, gegenwärtig ziemlich unbedeutend und wird kaum von jemandem gebraucht. Und in diesem Sinne habe ich meine literarischen Arbeiten bereits seit langem umgestellt und umgekrempelt. Aus meinen alten Ideen und Plänen habe ich viele kleine Erzählungen zurechtgehobelt. Und ich schreibe diese Erzählungen nicht, weil sie mir leicht fallen und ich Spaß daran habe. Ich schreibe sie, weil sie mir für den gegenwärtigen Leser am besten geeignet und verständlich erscheinen."410 11 Thun; Autor, Lesee

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Die Zeitung ebenso wie die Briefe gaben Sostschenko das Gefühl für seinen Leser. Und sie gaben ihm die Stoffe. 4 1 1 Die Authentizität des Details und die Zeitgenauigkeit, denen er seine Wirkung auf die breiten Lesermassen verdankte, waren in ein klares historisches Konzept eingebunden. Der hochsensible Sostschenko verspürte sehr schnell die sich in der Lebenspraxis der Menschen abzeichnenden Veränderungen. E r wollte weder alte Zustände konservieren, noch wollte er die Probleme an den morgigen T a g delegieren, wenn er den heutigen mit seinen Schwierigkeiten und Nöten beschrieb. So formulierte er 1930, von jungen Autoren und Arbeiterkorrespondenten befragt, sein Credo: „. . . vor dem Schriftsteller unserer T a g e steht nach meiner Meinung die A u f g a b e : E r muß so schreiben lernen, daß möglichst eine große Anzahl von Menschen seine Werke versteht. E r muß die Masse für die Literatur interessieren. Und das erfordert, klar, kurz und möglichst einfach zu schreiben." 4 1 2 Der Hinweis „klar, kurz und einfach" war das Puschkinsche K o n zept, das er seit Anfang der dreißiger Jahre zielstrebig verfolgte, aber nicht kopierte. 4 1 3 D a s Selbstbildnis seines Lesers, das er aus vielen Teilchen zusammengesetzt hatte, und die neuen Erfahrungen, die ihm das literarische Leben der Jahre 1929 und 1930 vermittelte, weckten Zweifel, ob er die neuen Themen weiterhin in der erprobten Erzählweise bearbeiten könne. Der in den Sentimentalen 'Erzählungen und dann in Michel Sinjagin bis zur Perfektion ausgefeilte parodistische Stil schien ihm nicht mehr zeitgemäß. Nicht die Kritiker, die ihn mißverstanden, bestärkten ihn in dieser Vermutung. E s waren die Leser, die in der Mehrheit dieses feine Gewebe nicht durchschauten. D a s den Erzählfluß mehrfach unterbrechende Gespräch des „ A u t o r s " mit dem „ L e s e r " wurde häufig nicht als ein besonderes Verfahren erkannt, das den Leser zum Mitdenken und Schlußfolgern aktivieren und damit zu einer kritischen Haltung zum Gesagten provozieren sollte. Die Suggestivkraft war so stark, daß der Leser den „ A u t o r " mit dem realen Autor identifizierte und den „ L e s e r " mit sich selber. Die kritische Distanz, die der Autor in beiden Fällen zwischen der fiktiven und der realen Figur setzte, wurde n u r in seltenen Fällen erkannt. 4 1 4 Leider hat die deutsche Übersetzung beispielsweise von Tamara und Apollon die Verwechslungsmöglichkeiten gerade dadurch noch erhöht, daß der „ A u t o r " im Text ab und an durch „Verfasser" ersetzt wurde, offenbar um die H ä u f u n g des Wortes „ A u t o r " abzubauen. 4 1 5 Dabei arbeitete Sostschenko ganz bewußt mit dieser ständigen

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Wiederholung als ein Mittel zur Steigerung des Drucks, der auf den Leser ausgeübt wird, um die ironische Distanz nach beiden Seiten hin fühlbar zu machen, „gegenüber dem 'naiven' Leser ebenso wie gegenüber dem parodierten literarischen Muster" 416 . Michel Sinjagin ist die letzte Erzählung, in der Sostschenko dieses Verfahren angewandt und sogar noch verfeinert hat, wobei stellenweise die Stimme des „Autors" mit der Stimme des realen Autors verschmilzt, wie beispielsweise bei den Überlegungen über das sogenannte Privatleben der Menschen in der Nachrevolutionszeit. Der Leser werde einst denken, erläutert der „Autor", „daß wir die ganze Zeit über in Erdlöchern gehockt, Spatzen gegessen und ein unvorstellbar rauhes Leben voller tagtäglicher Katastrophen und Schrecken gelebt hätten. Gewiß muß man sagen, daß viele kein sogenanntes Privatleben hatten - sie setzten ihre ganze Kraft und ihren ganzen Willen für ihre Ideen und die Erreichung des Ziels ein. Nun und manche Leute von kleinerem Format lavierten, paßten sich an und versuchten mit der Zeit Schritt zu halten, um hervorragend dahinzuleben und kräftiger zu essen. Aber das Leben nahm seinen Lauf. Es gab Liebe und Eifersucht und Kindergeburten und die verschiedensten großen Muttergefühle und die verschiedensten derartigen großartigen Erlebnisse. Und wir gingen mit Mädchen ins Kino. Und wir fuhren Boot. Und wir. aßen Kremwaffeln. Und wir trugen modisch gestreifte Socken. Und wir tanzten daheim Foxtrott nach dem Klavier. Nein, das sogenannte Privatleben ging schrittweise dahin, wie es immer und in jeden beliebigen Verhältnissen zu sein pflegt. Und wer ein solches Leben liebte, paßte sich nach seinen Kräften an und richtete sich ein. Jede Epoche hat sozusagen ihre Psyche. Und in jeder Epoche war es gleich leicht oder besser: gleich schwer zu leben." 417 Hier hat Sostschenko die „naive Philosophie" seines „Autors" durchbrochen und spricht schon nicht mehr mit einem fiktiven Leser, sondern mit seinem Leser, dem er in den Briefen von Angesicht zu Angesicht begegnet war. Tschumandrin hatte so unrecht nicht, wenn er die Briefe an einen Schriftsteller als einen Neubeginn bezeichnete. Er irrte jedoch, wenn er diesen Neubeginn als eine politisch-ideologische Zäsur einschätzte. Sostschenko war an einem Punkt angelangt, an dem er begriff, daß er die Stoffe, die er behandeln wollte, nicht mehr in der gewohnten Weise darlegen konnte. Die Zeit war eine andere. Die Themen veränderten sich. Und der Leser wandelte sich. Nicht zuletzt trat auch im Literaturprozeß eine Wende ein, die noch schwer bestimmbar war. u*

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Aber eins war gewiß: Die alten, von ihm parodierten literarischen Muster verloren an Bedeutung, obgleich ihr Einfluß auf den künstlerischen Geschmack noch andauerte. Tschumandrin hatte sich offenbar von einer Kommentarstelle in den Briefen täuschen lassen und die ironischen Noten in dieser klugen Erläuterung nicht herausgehört: „Gewöhnlich glaubt man, ich verzerre die 'schöne russische Sprache', nehme die Wörter nicht in der Bedeutung, die ihnen vom Leben gegeben ist, und spreche absichtlich in einer gebrochenen Sprache, um das ehrenwerte Publikum zu belustigen. Das stimmt nicht. Ich verzerre fast gar nichts. Ich schreibe in der Sprache, in der heutzutage die Straße redet und denkt. Ich habe das (in den Kurzgeschichten) nicht um irgendwelcher Kuriositäten willen getan und auch nicht deshalb, um unser Leben genauer zu kopieren. Ich tat das, um wenigstens zeitweilig den kolossalen Riß auszufüllen, der sich zwischen Literatur und Straße aufgetan hat. Ich betone: zeitweilig, denn so schreibe ich wirklich nur zeitweilig und parodistisch. Es ist nun die Sache anderer (proletarischer) Schriftsteller, künftig die Literatur und die Leser einander näher zu bringen und die Literatur leicht lesbar und für die Massen verständlich zu machen."418 Im Vergleich zu der sehr ähnlichen Äußerung vom Vorjahr, die bereits zitiert wurde,419 sind zwei neue Momente bemerkenswert. Sostschenko grenzt sich zwar weiterhin von dem proletarischen Schriftsteller ab, der er aufgrund seiner Herkunft und Bildung auch nicht war, gab aber nun die doch recht umstrittene Formulierung auf, er parodiere nur den fiktiven, aber echten proletarischen Schriftsteller, den es noch nicht gebe. Er identifiziert also nicht mehr die „naive Philosophie" des „Autors" seiner Erzählungen mit dem eigentlichen proletarischen Schriftsteller. Und gleichzeitig verabschiedet er die literarische Arbeit von acht Jahren, um in dem kommenden Jahrzehnt, das anbrach, Neues zu beginnen. „Ich veröffentliche das Buch mit einer gewissen Wehmut und Unruhe", heißt es am Schluß des Vorworts zu den Briefen an einen Schriftsteller. „Ich bedaure seine Veröffentlichung. Ich hätte die Lektüre eines solchen Buches, zusammengestellt von einem anderen Schriftsteller, vorgezogen."420 Sostschenko hoffte auf einen anderen Leserkreis, auf anderen Lebensstoff, auf die Erweiterung der eigenen literarischen Möglichkeiten. Vor ihm lag die Arbeit an einer Trilogie 421 besonderer Art: Wiedergefundene Jugend (1833), der Versuch einer Synthese zwischen Belletristik und Theorie422, Das Himmelblaubuch (1935), „eine kurze Geschichte der menschlichen Beziehungen"423, 164

und Schlüssel des Glücks (1943), die Wiederaufnahme des E x p e r i m e n t s mit der Wiedergefundenen Jugend und gleichzeitig seine p r o d u k t i v e Ü b e r w i n d u n g . D a s war Sostschenkos Beitrag zu einigen kräftigen Unterströmungen im sowjetischen Literaturprozeß der dreißiger Jahre.

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Anmerkungen

Abkürzungen Majakovskij Majakowski Lunacarskij

V. V. Majakovskij: Polnoe sobranie socinenij v trinadcati tomach. Moskva 1955-1961. W . W. Majakowski: Ausgewählte Werke. Hg. von L. Kossuth. Band 1 - 5 . Berlin 1966-1973. A. V. Lunacarskij: Sobranie socinenij v vos'mi tomach. Moskva 1963-1967.

Zitate aus fremdsprachigen Quellen wurden von Nyota Thun übersetzt.

Vorbemerkung 1 Vgl. Manfred Naumann: Das Dilemma der „Rezeptionsästhetik". In: Naumann: Blickpunkt Leser. Literaturtheoretische Aufsätze. Leipzig 1984, S. 139-148. 2 Klaus Städtke: Das Werk in der Geschichte. Zu Fragen einer Theorie der Literaturgeschichte. In: Weimarer Beiträge, 7/1985, S. 1101. 3 Ebenda, S. 1100-1101. 4 Vgl. das Referat von Elrud Ibsch: Reception aesthetics versus empirical research of reader's response, gehalten auf dem XI. Kongreß der AILC 1985 in Paris. — Stenogramm bei der Verfasserin. 5 Vgl. Gesellschaft. Literatur. Lesen. Literaturrezeption in theoretischer Sicht. Von einem Kollektiv unter Leitung von Manfred Naumann. Berlin — Weimar 1973, S. 53. 6 Vgl. Nyota Thun: Das erste Jahrzehnt. Literatur und Kulturrevolution in der Sowjetunion. Berlin 1973 (Literatur und Gesellschaft). 7 Werner Krauss: Grundprobleme der Literaturwissenschaft. Reinbek b. Hamburg 1968, S. 39. 8 Werner Krauss: Studien und Aufsätze. Berlin 1959, S. 66. 9 Vgl. Wolfgang Iser: Die Appellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa. Konstanz 1970, S. 8; ferner: Wolfgang Iser: Der implizite Leser. Kommunikationsformen des Romans von Bunyan bis Beckett. München 1972, S. 7 - 9 .

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10 Manfred Naumann: Werk und Literaturgeschichte. In: Naumann: Blickpunkt Leser, S. 216. 11 Wolfgang Iser: Der implizite Leser, S. 9. 12 Vgl. Rita Schober: Rezeption und Realismus. In: Weimarer Beiträge, 1/1982, S. 11-12. 13 W.W.Majakowski: Erweiterung der lexikalischen Basis. In: Majakowski, Bd. 5, Publizistik, S. 285. — Die Ubersetzung wurde von der Verfasserin begrifflich leicht verändert. 14 Norbert Krenzlin: „Die Ästhetik des Widerstands" von Peter Weiss — eine Herausforderung der marxistischen Ästhetik. In: Weimarer Beiträge, 3/1984, S. 426. 15 Avantgarde — Arbeiterklasse — Erbe. Gespräch zu Peter Weiss' „Die Ästhetik des Widerstands". In: Sinn und Form, 1/1984, S. 81. 16 Vgl. B. M. fijchenbau m: Literatura i pisateP. In: Ejchenbaum: Moj vremennik. Slovesnost, Nauka, Kritika, Smes'. Leningrad 1929, S. 59—81. — Die Arbeit wurde 1927 erstmalig publiziert, ist aber offenbar schon früher, vermutlich 1925, geschrieben worden. 17 Zit. nach V. B. Sklovskij: Tret'ja fabrika. Moskva 1926, S. 83. 18 Ju. N. Tynjanov: Aleksej Maksimovic Gor'kij. In: Literaturnyj sovremennik, 5-6/1938, S. 172. 19 Bertolt Brecht: Gorkis Einfluß auf die Literatur. In: Brecht: Schriften zur Literatur und Kunst. Bd. 2. Berlin — Weimar 1966, S. 224. 20 Ebenda, S. 223. 21 A. T. Twardowski: Über Bunin. In: Twardowski: Prosa/Über Literatur. Hg. und mit einem Nachwort von Nyota Thun. Berlin 1985, S. 323. 22 Anregungen ganz anderer Art, insbesondere zum Verständnis der literarischen Evolution von Sostschenko, verdankt die Veifasserin Tschingis Aitmatow. Befragt nach der Rückwirkung von Lesermeinungen auf den eigenen Schaffensprozeß, erläuterte er: „Der Schriftsteller schreibt. Der Leser liest, nimmt auf, überdenkt, gibt das Durchdachte an den Schriftsteller zurück. Und das geht bereits in die neue Arbeit ein, die neuen Ideen, die einen Schriftsteller gerade bewegen. Das ist viel wichtiger als die Frage nach dem Platz, den ein Buch im Schaffen eines Schriftstellers einnimmt." Kunstpraktische Erfahrungen dieser Art zwingen natürlich den Forscher, die Abfolge der literarischen Werke eines Autors wie generell die Gesetze der literarischen Evolution kritisch zu überprüfen und vor allem den Leserbegriff noch genauer zu bestimmen. — Zit. nach eigenem Stenogramm auf der Pressekonferenz mit Tschingis Aitmatow am 26. April 1983 im Verlag Volk und Welt in Berlin. 23 A. T . Tvardovskij: X I Plenum pravlenija Sojuza sovetskich pisatelej SSSR. Prenija po dokladu tov. A- Fadeeva i sodokladam N. A. Kotnejcuka, S. tikovani, Ajbeka, A. Venclovy, A. Kraulinja i O. Urgarta. In: Literaturnaja gazeta v. 12. 7. 1947, S. 1. 24 Dieser beispielsweise auch von Gerd Wilbert richtig erkannte Sachverhalt erhält im Kontext des Problems des Adressatenwechsels im Schaffen Maja-

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kowskis eine gcößere Dimension. — Vgl. Gerd Wilbert: Entstehung und Entwicklung des Programms der „Linken" Kunst und der „Linken Front der Künste" (LEF) 1917—1925. Zum Verhältnis von künstlerischer Intelligenz und sozialistischer Revolution in Sowjetrußland. Gießen 1976, S. 94ff. (Marburger Abhandlungen zur Geschichte und Kultur Osteuropas. Bd. 13). 25 Vgl. „Eine Typologie möglicher Adressaten aufzustellen hätte . . . wenig Sinn." Manfred Naumann: Autor — Adressat — Leser. In: Naumann: Blickpunkt Leser, S. 143. 26 Vgl. Gesellschaft. Literatur. Lesen, S. 56. 27 Vgl. vor allem die Resolution des ZK der KPdSU (B) vom 18. 6. 1925 Über die Politik der Partei auf dem Gebiet der Literatur. In: O partijnoj i sovetskoj pecati. Sbornik dokumentov. Moskva 1954, S. 343—347.

Text 1 Zit. nach: V. V. Majakovskij: Vystuplenie na dispute o dramaturgii A. V. Lunacarskogo 26 nojabrja 1920 g. Kommentar v. A. V. Fevral'skij. In: Novoe o Majakovskom. Moskva 1959, S. 19 (Literaturnoe nasledstvo. Bd. 65). 2 V. V. Majakovskij: Vystuplenie na dispute o dramaturgii A. V. Lunacarskogo 26 nojabrja 1920 g. In: Majakovskij, Bd. 12, Moskva 1960, S. 249. 3 Ebenda, S. 250. 4 W.W.Majakowski: Offener Brief an A. W. Lunatscharski. In: Majakowski, Bd. 5, Publizistik, S. 68. — Vgl. Anmerkung S. 431: „. . . die 'Repliken aus der Hölle' lauten: 'Addai-dai. U-u-u. Grr, bych, taibssh. Abau, abau, pchof, bch!"' — Hugo Huppert hat den Begriff „zaumnyj jazyk", zu deutsch meist mit „sinnüberschreitende" oder „transmentale Sprache" wiedergegeben, hier nicht ganz exakt mit „irrational überspannte Sprache" übersetzt. Er wurde im Zitat in „transrationale Sprache" umgeändert. 5 A. V. Lunacarskij: Moim opponentam. In: Lunacarskij, Bd. 2, Moskva 1964, S. 230. 6 Vgl. „Anatoli Wassiljewitsch! In Ihrer Rede verwiesen Sie auf die Linie der RKP: man agitiere mit Tatsachen. 'Das Theater der Zauberkunst' und 'das Theater als Schlafmittel' — das sind keine Tatsachen. . . . Unsere Tatsachen lauten: 'Kommunisten als Futuristen', 'Kunst der Kommune', 'Museum malerischer Kultur', 'Inszenierung der «Wecktrommeln»' durch Meyerhold und Bebutow, 'adäquates «Mysterium buffo»', 'Bühnenbildner Jakulow', 'Hundertfünfzig Millionen', 'neun Zehntel aller Studierenden sind Futuristen' usw. Auf den Rädern dieser Tatsachen jagen wir in die Zukunft. Womit wollen Sie diese Tatsachen widerlegen?" W. W. Majakowski, Offener Brief an A. W. Lunatscharski. In: Majakowski, Bd. 5, Publizistik, S. 70. — Verhaerens Stück Les aubes ist hier irrtümlicherweise mit Wecktrommeln übersetzt. Es muß heißen: Die Morgenröte. 7 Majakowski hatte entgegnet: „So sei denn Agitation eingesetzt für die neue Kunst, und vielleicht wird das Murren umschlagen in Begeisterung. . . Sobald 168

wir Propaganda machen, k o m m t den Leuten auch das Verständnis."

In:

E b e n d a , S. 69. 8 A . V . Lunacarskij: Moim o p p o n e n t a m . I n : Lunacarskij, B d . 2, S. 230. — D e r erwähnte Brief des Z K erschien a m 10. 12. 1920 unter d e m Titel Über die

Proletkuit-Organisationen.

Hier heißt es u . a . : „ . . . in die Proletkult-Organi-

sationen sind uns f r e m d e soziale E l e m e n t e , kleinbürgerliche E l e m e n t e , eingedrungen, d i e mitunter die Leitung faktisch an sich gerissen haben. . . Unter dem Anschein 'proletarischer Kultur' hat man den Arbeitern

bürgerliche

philosophische Anschauungen (den Machismus) präsentiert. Und auf dem Gebiet der K u n s t hat man den Arbeitern einen unsinnigen, verdrehten

Ge-

schmack (den Futurismus) e i n g e i m p f t . " O literature. Sbornik d o k u m e n t o v . M o s k v a 1960, S. 132. — Ausführlich i n : N y o t a T h u n : D a s erste Jahrzehnt. Literatur und Kulturrevolution in der Sowjetunion. Berlin 1973, S. 133—134 (Literatur und Gesellschaft). 9 V g l . A . V . Lunacarskij: L o k a protivojadija. I n : Lunacarskij, B d . 2, S. 270—280 (vor allem a b : „ A b e r Majakowski macht mir ernsthafte S o r g e n . . . " ) . Ferner: A . V . Lunacarskij: „ D o m i s k u s s t v " . I n : E b e n d a , S . 240—243. — E s handelt sich u m eine Rezension der Zeitschrift Dom

iskusstv.

10 W o l f g a n g Thierse/Dieter K ü c h e : DDR-Literaturwissenschaft in den siebziger Jahren. Bemerkungen zur E n t w i c k l u n g ihrer Positionen und Methoden. I n : Weimarer Beiträge, 2/1985, S. 281. 11 Serge Fauchereau: D u futurisme russe. I n : E u r o p e , 4/1975, S. 31. 12 N . I. Chardziev: Majakovskij i zivopis'. I n : Majakovskij. Materialy i issledovanija. H g . v o n V . O . Percov und M . I. Serebrjanskij. M o s k v a 1940, S. 338. — Diese gründliche Studie, die viele neue Materialien enthielt, g i n g in einer überarbeiteten Fassung in f o l g e n d e s Buch e i n : N . I. Chardziev/V. V . T r e n i n : Poeticeskaja kul'tura M a j a k o v s k o g o . M o s k v a 1970. Sie wird nachfolgend nach dieser leichter verfügbaren A u s g a b e zitiert. 13 W. W. M a j a k o w s k i : Ich selber. I n : Majakowski, Bd. 4, Prosa, S. 18. 14 V g l . über den Maler Majakowski i n : N . I. Chardziev/V. V . T r e n i n : Poeticeskaja kul'tura M a j a k o v s k o g o , S. 15—16, 22—24. 15 I. E h r e n b u r g :

Menschen. Jahre.

Leben.

Memoiren. B d . 1. Berlin

1978,

S. 265. - V g l . Wiktor D u w a k i n : R O S T A F E N S T E R . M a j a k o w s k i als Dichter und bildender Künstler. 3. A u f l . Dresden 1980, S. 167. 16 O k s a n a B u l g a k o w a / D i e t m a r H o c h m u t h : D a m a l s schien die Welt verrutscht. Aufzeichnungen v o n Gesprächen mit Viktor Schklowski. I n : S o n n t a g v. 23. 1. 1983, S. 10. - V g l . „ D i e Futuiisten haben den Fluchtpunkt aller Perspektivlinien zerschmettert und die Scherben über die ganze Leinwand zerstreut." E l Lissitzky. Maler, Architekt, Typograf, F o t o g r a f . Erinnerungen, Briefe, Schriften. Übergeben v o n S o p h i e Lissitzky-Küppers. D r e s d e n 1980, S. 3 3 8 - 3 3 9 . 17 V g l . V . V . Majakovskij: V o ves' g o l o s . I n : Majakovskij, B d . 10, M o s k v a 1958, S. 281, 99. Verszeile. — D a s Wort „ z r i m o " (sichtbar) ist in der deutschen Nachdichtung ( I n : Majakowski, B d . 2, Poeme, S. 419) leider nicht wiedergegeben.

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18 V. V. Majakovskij: Zivopis' segodnjasnego dnja. In: Majakovskij, Bd. 1, Moskva 1963, S. 290 (Hervorhebung - N. T.). 19 V. V. Majakovskij: Kak by Moskva ne ostat'sja bez chudoznikov. In: Ebenda, S. 335. 20 W. W. Majakowski : Offener Brief an A. W. Lunatscharski. In : Majakowski, Bd. 5, Publizistik, S. 68. — Majakowski hielt an dieser Auffassung auch späterhin fest. In der Diskussion zu Lunatscharskis Rede Die ersten 'Sausteine der neuen Kultur (1925) erklärte er, er könne in der Malweise, insbesondere bei der Darstellung der Figuren, zwischen Repins Gemälde Festsitzung des Staatsrates am 7. Mai 1901 anläßlieb des hundertjährigen Jubiläums seiner Gründung (1901—1903) und Brodskis vielgerühmtem Bild Feierliche Eröffnung des II. Kongresses der Komintern (1920—1924) keinen Unterschied erkennen. Der paradox anmutende Vergleich hatte natürlich auch noch einen politischen Hintergrund, denn den in Finnland verbliebenen Repin lehnte Majakowski ab, obwohl ihn die Begegnung mit ihm 1915 tief beeindruckt hatte. Aber Majakowski ging es natürlich in erster Linie um den künstlerischen Aspekt. Das beweist auch die vom malerischen Standpunkt scharfe Kritik an Brodskis Bild W. I. Lenin auf dem Hintergrund des Kremls (1923), das er Serows Porträt Peter I. (1907) gleichstellte. Das Maximale an „Erfindungskraft", das Brodski bewiesen habe, sei der Austausch des Hintergrunds, anstelle des stürmischen Meeres bei Serow nun der Moskwa-Fluß. Ansonsten hätten die Photographie und der Kinomatograph es viel besser gekonnt und wirklich einen l e b e n d e n Lenin wiedergegeben. — Vgl. Novoe o Majakovskom, S. 25—26. 21 B.L.Pasternak: Ochrannaja gramota. In: Pasternak: Vozdusnye puti. Proza raznych let. Moskva 1982, S. 267-268. 22 Vgl. N. I. Chardiiev: Turne kubo-futuristov 1913—1914 gg. Materialy k literaturnoj biografii Majakovskogo. In: Majakovskij. Materialy i issledovanija. Moskva 1940, S. 422-423, 426. 23 Einige der ersten sogenannten Simultanbücher sind in einer im Reprintverfahren zusammengestellten Sammlung von Texten des Futuristen A. E. Krutschonych leicht zugänglich : A. E. Krucenych : Izbrannoe. Hg. von Vladimir Markov. München 1973(Centrifuga. Russian Reprintings and Printings. Vol. 8). Besondere Aufmerksamkeit verdienen folgende Ausgaben der Jahre 1912—1913 : Starinnaja ljubov'. Ausstattung von M. F. Larionov, o. O. u. J. ; Pustynniki. Poem. Zeichnungen von N. S. Goncarova, o. O. u. J. ; Pomada. Zeichnungen von M. F. Larionov; Vozpropscem. Zeichnungen v. O. V. Rozanova und K. S. Malevic, o. O. u. J. — N. Chardshijew hat im Vergleich mit ähnlichen französischen Experimenten die Übereinstimmungen wie Abweichungen bestimmt und die Besonderheiten der russischen Simultanbücher dargestellt : N. I. Chardiiev/V. V. Trenin: Poéticeskaja kul'tura Majakovskogo, S. 34—42. 24 Vgl. Jean-Claude Marcadé/Valentine Marcadé : Femmes d'avant-garde sur fond russe. 1907—1930. In: L'Avant-garde au féminin. Moscou — Saint-Pétersbourg - Paris 1907-1930. Katalog. Paris 1983, S. 9-10. 25 Vgl. auch die Bilder aus der Soldatenserie von Michail Larionow, die meist

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primitiven Wandkritzeleien, die ein neues bildkompositorisches Element darstellten, bis hin zu den Zahlen und Buchstaben in den Bildern der Kubisten und Suprematisten, in späteren Jahren auch bei den Konstruktivisten. Die Experimente Larionows zählen zu den Anfängen der in jüngster Zeit kräftig entwickelten Graffiti, die sich als selbständige Kunstrichtung etabliert haben. Vgl. Worte werden Bilder. Eine Ausstellung der Kunst- und Museumsbibliothek im Wallraff-Richartz-Museum Köln vom 7. 10. bis 22. 11. 1972. Katalog. Mit einer Einleitung von A. Schug. (Köln) 1972, S. 6—12. Wieland Herzfelde: So kann der Zufall Schule machen. Einige Erinnerungen an Wladimir Majakowski. In: Erinnerungen an Majakowski. Hg. von Gerhard Schaumann. Leipzig 1972, S. 362—363. V. V. Majakovskij: Pro éto. Photomontage des Umschlags und der Illustrationen von dem Konstruktivisten A. M. Rodcenko. Photographien von V. Vasserman, Kapustjanskij und D. P. Sterenberg. Moskva 1923. — Zu erwähnen ist auch in diesem Zusammenhang die von Chardshijew beschriebene und a. a. O. mit einigen Seiten reproduzierte handschriftliche Ausgabe des Poems Die Wirbelsäulen/löte Die Abschrift besorgte Lilja Brik, die Zeichnungen Majakowski. Vgl. N. I. Chardziev/V. V. Trenin: Poéticeskaja kul'tura Majakovskogo, S. 24. A. E. Krucenych: Iz vospominanij. In: Den' poézi¡1983. Moskva 1983, S. 160. B. L. Pasternak: Ochrannaja gramota, S. 268. Ebenda, S. 261. Vgl. N. I. Chardziev/V. V. Trenin: Poéticeskaja kul'tura Majakovskogo, S. 34. Vgl. Ebenda, S. 75. Den Begriff „épater les bourgeois" hat Valeri Brjussow in die russische Literatur- und Kunstkritik eingebürgert: „. . . den Leser verblüffen und die Kritiker reizen (was später épater les bourgeois genannt wird)." Anlaß war eine Rezension zu dem auf Tapetenpapier gedruckten Bändchen der russischen Futuristen Die Reuse der Richter. — Vgl. V. Ja. Brjusovs Rezension unter der Rubrik Novye sborniki sticbov. In: Russkaja mysl', 2/1911, 2. Abt., S. 230. W.W.Majakowski: Jetzt zu den Amerikas! In: Majakowski, Bd. 5, Publizistik, S. 30. — Vgl. auch den Artikel: Das Zivilschrapnell. Den mit dem Pinsel Lügenden (1914). In: Ebenda, S. 26-28. — Der Schlüsselsatz: „Man kann ü b e r den Krieg nicht schreiben aber man kann nicht umhin, u n t e r Kriegsdiktat zu schreiben", gibt den Gedanken Majakowskis nicht genau wieder. Sinngemäß muß es deutsch heißen: „Über den Krieg kann man nicht schreiben, aber man m u ß so schreiben, daß der Krieg in allem gegenwärtig ist." W. W. Majakowski: Ich selber. In: Majakowski, Bd. 4, Prosa, S. 22. W.W.Majakowski: Ein Tropfen Teer. In: Majakowski, Bd. 5, Publizistik, S. 49. Vgl. auch S. 556-557. Ebenda, S. 50. Vgl. N. I. Chardüiev/V. V. Trenin: Poéticeskaja kul'tura Majakovskogo, S. 93-95. 171

40 Vgl. E. A. Dinerstejn: Majakovskij v fevrale—oktjabre 1917 g. In: Novoe o Majakovskom, S. 541—570. 41 V. V. Majakovskij: Vystuplenie na obscem sobranii vremennogo komiteta upolnomocennych sojuza dejatelej iskusstv. 17 (30) nojabrja 1917 goda. In: Majakovskij, Bd. 12, S. 215. Vgl. Nyota Thun: Das erste Jahrzehnt. Literatur und Kulturrevolution in der Sowjetunion. Berlin 1973, S. 38—40 (Literatur und Gesellschaft). 42 Vgl. O. M. Brik: Majakovskij — redaktor i organizátor. Materialy k literaturnoj biografii. In: Literaturnyj kritik, 4/1936, S. 116. 43 O. M. Brik: IMO — Iskusstvo molodych. In: Majakovskomu. Sbornik vospominanij i statej. Leningrad 1940, S. 88. 44 B. K. Lifsic: Polutoraglazyj strelec. Leningrad 1933, S. 69. 45 W . W . M a j a k o w s k i : Offener Brief an die Arbeiter. In: Majakowski, Bd. 5, Publizistik, S. 54. 46 Zit. nach: E. A. Dinerstejn: Majakovskij v fevrale—oktjabre 1917 g. In: Novoe o Majakovskom, S. 563—564 (Hervorhebung — N. T.). 47 Vgl. auch O. M. Brik: Majakovskij—redaktor i organizator, S. 116—117. 48 O. M. Brik: IMO — Iskusstvo molodych. In: Majakovskomu. Sbornik vospominanij i statej, S. 89. V g l . : Ebenda, S. 8 8 - 9 1 . 49 Vgl. V. V. Kamenskij: 2izn' s Majakovskim. Moskva 1940, S. 190-191 (Centrifuga. Russian Reprintings and Paintings. Vol. 34. München 1974.). 50 Ebenda, S. 196, 198. Vgl. auch: V. V. Kamenskij: Put' éntuziasta. Avtobiograficeskaja kniga. [Perm] 1968, S. 208—213. — Dieses Buch von Kamenski, Erstveröffentlichung 1930, nutzen viele Forscher als Quelle, um das Künstlermilieu der russischen Avantgarde kurz vor und nach der Oktoberrevolution plastisch zu schildern. Allerdings sind die einzelnen Vorgänge wie ihr chronologischer Ablauf in dem Buch derart komprimiert dargestellt, daß die Vermischung von ehrlichem politischem Engagement und Kunstrevolte ungenügend verdeutlicht worden ist. U. a.: Camilla Giay: L'Avant-garde russe dans l'art moderne. 1863-1922. Lausanne o. J., S. 189-190. 51 S . D . Spasskij: Moskva. In: V. Majakovskij v vospominanijachsovremennikov. Moskva 1963, S. 170-171. 52 Majakowski an L. J. und O. M. Brik, Mitte Dezember 1917. In: Majakowski Bd. 4, Prosa, S. 255. 53 Majakowski an L. J. und O. M. Brik, Mitte Januar 1918. In: Majakowski, Bd. 4, Prosa, S. 256. 54 Majakowski an L. J. Brik, vor dem 15. März 1918. In: Majakowski, Bd. 4, Prosa, S. 257. 55 Majakowski an L. J.Brik, Ende März 1918. In: Majakowski, Bd. 4, Prosa, S. 258. 56 Majakowski an L. J . B r i k , April 1918. In: Majakowski, Bd. 4, Prosa, S. 259. 57 W. W. Majakowski: Ich selber. In: Majakowski, Bd. 4, Prosa, S. 25. 58 W . W . M a j a k o w s k i : Offener Brief an die Arbeiter. In: Majakowski, Bd. 5, Publizistik, S. 53, 54. 172

59 S. D. Spasskij: Moskva. In: V. Majakovskij v vospominanijach sovremennikov, S. 172. 60 Vgl. V. A. Katanjan: Majakovskij. Literatutnaja chronika. 3., erg. Aufl. Moskva 1956, S. 103. 61 S.D. Spasskij: Moskva. In : V. Majakovskij v vospominanijach sovremennikov, S. 173. 62 Hugo Huppert: Ungeduld des Jahrhunderts. Erinnerungen an Majakowski. Berlin 1976, S. 144—145. — Die deutsche Bezeichnung des gleichen Cafés ist auch bei Hugo Huppert unterschiedlich: Herrenloser Hund bzw. Zum vagabundierenden Hund. Am genauesten ist Zum streunenden Hund. 63 V. V. Kamenskij: Zizn's Majakovskim, S. 212. 64 Lilja Brik schreibt in ihren Erinnerungen: „Den ganzen Tag ging er spazieren, malte Landschaften, fragte, ob er beim Malen Fortschritte mache. Die Landschaften waren klein, gleichen Formats, von der Größe einer Studie. Meistens smaragdgrüne Waldwiesen, von blauen Tannen umgeben. Die Bildchen lagen dann zusammengerollt in der Wohnung in der Shukowski-Straße und blieben dort zusammen mit den Büchern und Möbeln, als Majakowski nach Moskau zog." L. Ju. Brik: Iz vospominanij o stichach Majakovskogo. In: Znamja, 4/1941, S. 219. — Dieses etwas idyllisch gezeichnete Bild verdeckt die enorme Arbeit am Stück Mysterium b u f f o zu dieser Zeit, das nach den Worten L. Briks „plötzlich" fertig vorlag. 65 Vgl. N. I. Chardziev/V. V. Trenin : Poèticeskaja kul'tura Majakovskogo, S. 26—27. 66 Lunacarskij bekannte in seinen Erinnerungen, diese Arbeit habe ihn damals mehr befriedigt als die rein politische Arbeit, von der er sich zeitweilig zurückgezogen hatte. Die Ursache war sicherlich die jahrelang geführte Auseinandersetzung mit den Bolschewiki über einige Grundsatzfragen der Strategie und Taktik der Partei. Vgl. A. V. Lunacarskij : Vospominanija iz revoljucionnogo proslogo. Moskva 1925, S. 58. 67 Mit Fjodor Kalinin, dem Leiter der Abteilung für proletarische Kultur des Volkskommissariats für Bildungswesen, ursprünglich Abteilung für selbständige kulturelle Aufklärungsorganisationen, arbeitete Lunatscharski 1918 bis 1919 eng zusammen. Auch die Bekanntschaft mit David Sterenberg, dem späteren Leiter der Abteilung für bildende Kunst im Volkskommissariat, stammt aus der Pariser Exilzeit. 68 A. V. Lunacarskij: Vospominanija iz revoljucionnogo proslogo. In: Lunacarskij: Vospominanija i vpecatlenija. Moskva 1968, S. 49 (Hervorhebung — N. T.). 69 Die Phasen der Annäherung und erneuten Abgrenzung von Bogdanows Kulturkonzept können im Rahmen dieser Arbeit nicht behandelt werden. 70 Vgl. Jeanne Warnod: La Ruche & Montparnasse. Genève — Paris 1978, S. 30, 147. — Eine genaue Angabe enthält ein Brief aus jener Zeit: „Letzte Woche war ich unter anderem am Sonnabend in der Russischen Akademie zu einer Vorlesung von Lunatscharski über den Kubismus. . . . Der Ínteres-

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sante Lektor (Lunatscharski wird seit langem in russischen Zeitschriften gedruckt) und das aktuelle Thema zogen eine Masse Leute an, unter ihnen traf ich viele gute und flüchtige Bekannte. Die Vorlesung zog sich in die Länge, so daß die Diskussion auf den nächsten Sonnabend verschoben wurde." B. N. Temovec an N. M. Ternovec, 18. April 1913, Paris. In: B. N. Ternovec : Pis'ma, Dnevniki, Stat'i. Hg. und mit einer Einleitung versehen von L. S. Alesin und N. V. Javorskaja. Moskva 1977, S. 68. — „Letzten Sonnabend war ich in der Russischen Akademie, wo die Diskussion zur Vorlesung von Lunatscharski stattfand. Es sprachen der Dichter Ehrenburg, der Bildhauer Shukow und einige andere ohne bekannten Namen . . . " B. N. Ternovec an N. M. Ternovec, 23. April 1913, Paris. In: Ebenda. 71 Marevna: Life with the Painters of La Ruche. Aus dem Russischen. London 1972, S. 29: 72 Der von Alfred Boucher Anfang des Jahrhunderts für arme Künstler erbaute Rundbau La Rucbe, zu deutsch „Bienenstock", befindet sich noch heute in der Danziger Passage 2. Hier lebten und arbeiteten zur Zeit von Lunatscharskis Pariser Aufenthalt viele junge unbemittelte Künstler aus Rußland, u. a. Chagall, Kikoine, Kisling, Soutine, Zadkine. Auch Nathan Altman lebte hier einige Monate und schuf u. a. die Landschaftsstudie La Rucbe (1911). Modigliani hielt sich hier häufig auf. Zur Gruppe der französischen Bewohner zählte zeitweilig Léger. La Rucbe galt zu jener Zeit als eines der Zentren der sogenannten jungen Pariser Schule im Montparnasse-Viertel. 73 Jacques Chapiro : La Ruche. Paris 1960, S. 73—74. 74 A. V. Lunacarskij : Molodaja Rossija v Parize. Mark Sagal. In : Lunacarskij : Ob iskusstve. V dvuch tomach. Hg. von I. A. Sac und A. F. Ermakov. Bd. 2. Moskva 1982, S. 33-34. 75 A. V. Lunacarskij : Molodaja Rossija v Parize. David Sterenberg. In: Ebenda, S. 32. Vgl. auch Anmerkung 67. 76 Vgl. bei Ibsen: „Irene: Was hast Du seitdem gedichtet? In Marmor, mein' ich . . . Professor Rubek: Nichts mehr hab' ich gedichtet seit jenem Tage. Bloß so ...herummodelliert hab ich." Henrik Ibsen: Sämtliche Werke. Volksausgabe in fünf Bänden. Bd. 5. Berlin 1917, S. 507. 77 A. V. Lunacarskij : Vystavka kartin „Sojuza russkich chudoznikov". In: Lunacarskij: Ob iskusstve, Bd. 2, S. 9. 78 A. W. Lunatscharski : Pariser Briefe. In : Lunatscharski : Die Revolution und die Kunst. Essays, Reden, Notizen. Hg. von Franz Leschnitzer. Dresden 1962, S. 74. 79 Ebenda, S. 86. 80 Ebenda, S. 90-91 (Hervorhebung - N. T.). 81 Ebenda, S. 91. 82 Vgl. u. a. A. V. Lunacarskij : Pevec parizskoj golyt'by. In: A. V. Lunacarskij o massovych prazdnestvach, éstrade, cirke. Moskva 1981, S. 338—340. — Lunatscharski erwähnte in diesem Zusammenhang Jean Ripchin und Aristide Bruant

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im Vergleich zu Jehan Rictus, dessen Lieder er sehr schätzte und zur sozialistischen Dichtkunst zählte. A. V. Lunacarskij : Osennij salon v Parize. In : Lunacarskij : Ob iskusstve, Bd. 1, Moskva 1982, S. 52. A. V. Lunacarskij: Molodaja Rossija v Parize. In: Ebenda, Bd. 2, S. 29. Sonia Delaunay: Nous irons jusqu'au soleil. Unter der Mitarbeit von Jacques Damase und Patrick Raynaud. Paris 1978, S. 27. Guillaume Apollinaire: Simultanisme — Librettisme. In: Les Soirées de Paris, 1914, Nr. 25, S. 324. — Sonia Delaunay beschrieb ihre Buchgestaltung wie folgt: „ . . . ich schlug ihm (Cendrars — N . T.) vor, ein Buch zu machen, das zwei Meter Länge hat, sobald es auseinandergefaltet ist. Der Text inspirierte mich zu einer Farbharmonie, die parallel zum Poem verläuft. Wir wählten die Druckbuchstaben aus, verschiedene Typen und Größen, alles zu jener Zeit revolutionäre Dinge. Der Texthintergrund ist koloriert, damit er mit der Illustration harmoniert. Ich schuf ein Bulletin, ebenfalls im Schabloneverfahren hergestellt. Hintergrund und Buchstaben bildeten durch Simultankontraste eine Harmonie." Sonia Delaunay: Nous irons jusqu'au soleil, S. 54. — Ein Faksimile dieser Ausgabe ist enthalten in: Worte werden Bilder. Eine Ausstellung der Kunst- und Museumsbibliothek im Wallraff-RichartzMuseum Köln vom 7. 10. bis 22. 11. 1972. Katalog. Mit einer Einleitung von A. Schug.

Vgl. auch J. F. Kowtun : Die Wiedergeburt der künstlerischen Druckgraphik. Aus der Geschichte der russischen Kunst zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Dresden 1984, S. 101. 87 Vgl. „Genosse Schapirstein treibt vergeblich mit dem Theateroktober seine Scherze. Die Große Oktoberrevolution hat genau so wie die Große Pariser Kommune sofort Maßnahmen zum Schutz aller Werte der Vergangenheit ergriffen . . ." A. V. Lunacarskij: Moim opponentam. In: Lunacarskij, Bd. 2, S. 227. — Sapirstejn ist ein Pseudonym von Ja. E . Él'sberg. 88 A. V. Lunacarskij : Evgenij Bagrationovic Bd. 3, Moskva 1964, S. 455.

Vachtangov.

In : Lunacarskij,

89 Vgl. A. W. Lunatscharski: Der Neuerer Wladimir Majakowski. In: Lunatscharski: Die Revolution und die Kunst, S. 235. Die hier vertretene — zu Recht umstrittene — These Lunatscharskis vom Kampf des Dichters der Revolution gegen den Doppelgänger in sich selbst, den „kleinbürgerlich individualistischen Hang zur Lyrik", kann in diesem Kontext nicht erörtert werden. 90 Vgl. A. W. Lunatscharski : Leben und Tod. Uber Majakowski. In: Erinnerungen an Majakowski. Hg. von Gerhard Schaumann. Leipzig 1972, S. 204-205. 91 V. V. Majakovskij: Vystuplenija na dispute o postanovke „ Z o r ' " v teatre R S F S R Pervom. 22 nojabrja 1920 goda. In: Majakovskij, Bd. 12, S. 247-248. 92 Vgl. A. V. Lunacarskij: K stoletiju Aleksandrinskogo teatra. In: Lunacarskij, Bd. 3, S. 471-472.

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93 W. W. M a j a k o w s k i : Antworten auf Fragezettel und Diskussionsreden. I n : Majakowski, B d . 5, Publizistik, S. 349. 94 W . W . M a j a k o w s k i : V . W . Chlebnikow. I n : E b e n d a , S . 93. 95 W. W. M a j a k o w s k i : Ich selber. I n : Majakowski, B d . 4, Prosa, S. 26. 96 W. W. M a j a k o w s k i : V . W. Chlebnikow. I n : Majakowski, B d . 5, Publizistik, S. 93. 97 Vgl. auch V . V . M a j a k o v s k i j : N a s mars. 7. Verszeile: „ N a s b o g b e g . " I n : Majakovskij, B d . 2,

S . 7. — Bei der graphischen Gestaltung des Buches Für die Stimme v o n Majakowski arbeitete E l Lissitzky mit solchen Wortverbindungen: bej — b o g , m o j — maj. 98 J . N . T y n j a n o w : D i e Zwischenzeit. I n : T y n j a n o w : D e r A f f e und die G l o c k e . Erzählungen, D r a m a , E s s a y . H g . und mit einem Nachwort v o n Fritz Mierau. Berlin 1975, S. 4 7 1 - 4 7 2 . 99 E b e n d a , S. 472. 100 W. W. Majakowski : „ D i e Arbeiter und Bauern verstehen Sie nicht." In : Majakowski, B d . 5, Publizistik, S. 288. — In der deutschen A u s g a b e fehlt der sich anschließende S a t z : „ D i e s sind die Samen und G e r i p p e der Massenkunst." Tynjanow schrieb 1928 in bezug auf dieses P h ä n o m e n :

„...die

Schüler bereiteten das Erscheinen des Lehrers v o r " , o h n e einen einzigen N a m e n zu nennen, hat aber

sicherlich auch Majakowski gemeint.

Vgl.

J . N . T y n j a n o w : Chlebnikow. I n : T y n j a n o w : D e r A f f e und die G l o c k e , S. 437. 101 V g l . V . V . Chlebnikov: Sobranie socinenij. Bd. 1—5. Mit je einem V o r w o r t von J u . N . Tynjanov und N . L . Stepanov. M o s k v a 1928—1933. — V g l . ferner zu den Debatten u m die Chlebnikow-Ausgabe : Iz perepiski J u . Tynjanova i B . Êjchenbauma s V . Sklovskim. Veröffl. von O . Pancenko. I n : V o p r o s y literatury, 12/1984, S. 1 9 8 - 2 0 0 . 102 V g l . „ D i e Vers- und Sprachexperimente Chlebnikows halfen Majakowski, seine poetische Methode zu entwickeln, und seinerseits hat Majakowskis publizistischer und Sprechvers funktionelle Veränderungen im poetischen System Chlebnikows bewirkt." N . Chardshiew hat diese These wissenschaftlich nachgewiesen i n : N . I. Chardziev/V. V . Trenin: Poeticeskaja kul'tura M a j a k o v s k o g o , S. 1 2 1 - 1 2 6 . 103 G e r d Wilbert macht auf die Veränderung des „Adressaten der künstlerischen Demokratisierung" nach der Oktoberrevolution aufmerksam, untersucht sie aber nicht gründlich am Text selbst. V g l . G e r d Wilbert: Entstehung und Entwicklung des P r o g r a m m s der „ L i n k e n " K u n s t und der „ L i n k e n Front der K ü n s t e " ( L E F ) 1917—1925. Z u m Verhältnis v o n künstlerischer Intelligenz und sozialistischer Revolution in Sowjetrußland. Gießen 1976, S . 45, 60, 95 (Marburger A b h a n d l u n g e n zur Geschichte und Kultur O s t e u r o p a s . Bd. 13.). 104 W. W. M a j a k o w s k i : Erlaß an die A r m e e der K u n s t . I n : M a j a k o w s k i : A u s vollem Halse. Deutsch v o n Johannes v o n Guenther. Berlin o . J . , S. 22. 105 Sonia et Robert Delaunay.

K a t a l o g . Bibliothèque Nationale. Paris 1977,

S. 47.

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106 Hugo Huppert: Zur sprachlichen Reproduktion der Werke Majakowskis. In: Majakowski, Bd. 5, Publizistik, S. 377. 107 Vgl. W. W. Majakowski: Rede im Komsomol-Haus Krasnaja Presnja auf dem Abend zum 20jährigen Schaffensjubiläum. In: Majakowski, Bd. 5, Publizistik, S. 343. 108 W. W. Majakowski: Antworten auf Fragezettel und Diskussionsreden. In: Majakowski, Bd. 5, Publizistik, S. 354. 109 Elie Ehrenbourg: L'art tusse d'aujourd'hui. In:L'Amourde l'art, November 1921, S. 367. 110 Ebenda, S. 368. 111 Vgl. u . a . Paris — Moscou. 1900—1930. Catalogue de l'exposition Paris — Moscou. Paris 1979, S. 34. 112 Vgl. W. W. Majakowski: Rede im Komsomol-Haus Krasnaja Presnja auf dem Abend zum 20jährigen Schaffensjubiläum. In: Majakowski, Bd. 5, Publizistik, S. 339. 113 Vgl. W. W. Majakowski: Ich bitte ums Wort . . . I n : Majakowski, Bd. 5, Publizistik, 5. 321. 114'El Lissitzky: Neue russische Kunst. Vortrag. In: El Lissitzky. Maler, Architekt, Typograf, Fotograf, S. 335. 115 Lissitzky an Sophie Küppers, 20. Juni 1925. In: Ebenda, S. 62. 116- Vgl. W. I. Lenin: Über den Charakter unserer Zeitungen. In: Lenin, Werke. Bd. 28. Berlin 1968, S. 86-88. Ferner: W.I.Lenin: Über die Arbeit des Volkskommissariats für Bildungswesen. Inn Lenin, Werke. Bd. 32. Berlin 1967, S.120, 121, 125. > 117 W. W. Majakowski, Bericht über die künstlerische Propaganda, .gehalten auf dem Ersten Allrussischen Kongreß der ROSTA-Arbeiter am 19. Mai 1920. In: Majakowski, Bd. 5, Publizistik, S. 62. 118 W. I.Lenin: Die große Initiative. In: Lenin, Werke. Bd. 29. Berlin 1970, S. 418. 119 W.W.Majakowski: Vom Himmel auf die Erde. In: Majakowski, Bd. 5, Publizistik, 8,110. 120 Wiktor Duwakin: ROSTAFENSTER, S. 233. 121 W. W. Majakowski: Wie macht man Verse? Deutsch von Siegfried Behrsing. Berlin 1949, S. 47. — Da die Ubersetzung von Siegfried Behrsing in einigen Schlüsselformulierungen genauer ist als der deutsche Text in der fünfbändigen Ausgabe, wird Wie macht man Verse? ausschließlich nach dieser deutschen Fassung zitiert. 122 Vgl. ebenda, S. 46-47. 123 Vgl. Wiktor Duwakin: ROSTAFENSTER, S. 43. - Diese deutsche Fassung des Majakowski-Ausspruches ist genauer als in der fünfbändigen deutschen Ausgabe (vgl. Majakowski, Bd. 5, Publizistik, S. 274.). 124 W. W. Majakowski: Wie macht man Verse?, S. 48. 125 Ebenda, S. 49. 126 Vgl. W. W. Majakowski: Referat „Bildende Kunst und Produktionspropa12

Thun; Autor, Leser

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ganda" auf der Allrussischen Konferenz über Produktionspropaganda. 4. März 1921. In: Majakowski, Bd. 5, Publizistik, S. 86-88. Vgl. „1. Gab's ehedem Nationalkrieg, 2. gibt's jetzt Klassenkrieg, Sozialkrieg. 3. Jeder Bourgeois möcht dem Bourgeois die Freundeshand reichen. 4. Jeder Proletarier liebt seinesgleichen. 5. Kampf den Pans und den ihnen Erbötigen, doch nicht den polnischen Werktätigen ! 6. Mit den Pans werden wir nicht Frieden schließen, den soll das Proletariat genießen. 7. Daß diese Metzeleien sich nicht wiederholen, vereinigt euch, Proletarier von Rußland und Polen!" ROSTA Nr. 188, Juli 1920. Zit. nach: Wiktor Duwakin: ROSTAFENSTER, Abbildung 14. W . W . Majakowski : Das revolutionäre Plakat. In : Majakowski, Bd. 5, Publizistik, S. 106. Vgl. auch: Sammelt die Geschichte! aus dem gleichen Jahr. In : Majakowski, Bd. 5, Publizistik, S. 107—108. — 1930 nannte sie Majakowski eine „protokollarische Niederschrift über das schwierigste Jahrdritt des revolutionären Ringens, vermittelt durch Farbflecke und den Klang von Losungen". W. W. Majakowski: Ich bitte ums Wort . . . In: Ebenda, S. 319. Viktor Schklowski : Lenin als Dekanonisator. In : V. Schklowski, J. Tynjanow u. a. : Sprache und Stil Lenins. Hg. und mit einem Vorwort von Fritz Mierau. Berlin 1970, S. 32 (Hervorhebung - N. T.). W. W. Majakowski: Ich selber. In: Majakowski, Bd. 4, Prosa, S. 29. - Wo es die Verfasserin für notwendig hielt, wurden einige Begriffe anders übersetzt : „priem", „meloci", „associacii" mit „Mittel", „Einzelheiten" und „Assoziationen" anstatt „Kunstmittel" bzw. „Kunstgriffe", „Detailausschnitte" und „Reminiszenzanknüpfungen". Vgl. auch: „Doch manchmal / steht in andrem Bildaspekt / das Leben, / und du begreifst / das Große dann / durch einen Schmarrn." W. W. Majakowski: Jubiläumsverse. In: Majakowski, Bd. 1, Gedichte, S. 100. Vgl. N. I. Chardziev/V. V. Trenin: Poeticeskaja kul'tura Majakovskogo, 5. 22-23. J. F. Kowtun: Die Wiedergeburt der künstlerischen Druckgraphik. Aus der Geschichte der russischen Kunst zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Dresden 1984, S. 79. — Vgl. die Abbildung des Lubok „Ach Sultan, wärst du doch zu Haus geblieben . . ." In: Ebenda, S. 121. Der Originaltext ist abgedruckt in: Makajovskij, Bd. 1, S. 359, Nr. 19. Zu den Traditionen des russischen „Lubok" (Volksbilderbogen) vgl. le loubok: L'imagerie populaire russe. XVIIe—XIXe siècles. Leningrad 1984 . M. M. Ceremnych: Majakovskij v ROSTA. In: Iskusstvo, 3/1940, S. 44. Vgl. die Erinnerungen von M. M. Ceremnych in: Ebenda, S. 39—41. A. A. Dejneka: Vladimir Vladimirovic. In: Ebenda, S. 50. Vgl. W.W.Majakowski: Nur keine Erinnerungen . . . I n : Majakowski, Bd. 5, Publizistik, S. 273-274. Vgl. V. V. Majakovskij : Geroi i zertvy revoljucii. Podpisi k 18 risunkam. Anmerkungen. In: Majakovskij, Bd. 2, S. 499. Vgl. ausführlich Wiktor Duwakin: ROSTAFENSTER, S. 202. Ferner:

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W. W. Majakowski: Rede im Komsomol-Haus Krasnaja Presnja auf dem Abend zum 20jährigen Schaffensjubiläum. 25. März 1930. In: Majakowski, Bd. 5, Publizistik, S. 345-346. 139 Wiktor Du wakin: ROSTAFENSTER, S. 66. 140 Vgl. ebenda, S. 202. 141 Ebenda, S. 214. 142 Ebenda, S. 223. Duwakin erinnert daran, daß rot die Farbe der Revolution war und das Wort „rot" im Verlaufe der Jahre zum Synonym des Wortes „Revolution" wurde. 143 Vgl. den Nachdruck in: El Lissitzky. Maler, Architekt, Typograf, Fotograf, Abbildung 80-91. 144 Zit. nach: Ebenda, Tafeln, Tafel Nr. 95. 145 V. V. Majakovskij: Beseda s sotrudnikom odesskoj gazety „Izvestija". Vladimir Majakovskij ob iskusstve voobsce i Lefe v castnosti. In: Majakovskij, Bd. 13, S. 221. Vgl. auch Lissitzkys Erinnerungen in: El Lissitzky. Maler, Architekt, Typograf, Fotograf, S. 21—22. Ferner: N. I. Chardshijew: Der Buchgestalter El Lissitzky. In: Ebenda, S. 385—386. 146 V. P. Polonskij: Russkij revoljucionnyj plakat. Moskva 1925. — Die Buchausgabe ist mit der Zeitschriftenfassung nahezu identisch: V. P. Polonskij: Russkij revoljucionnyj plakat. In: Pecat' i revoljucija, 2/1922, S. 56—77. Vgl. die Wertung der ROSTA-Arbeit Majakowskis, S. 67-68. 147 Vgl. „Anstatt der Schönheit die Ökonomie". El Lissitzky. Neue russische Kunst. In: El Lissitzky. Maler, Architekt, Typograf, Fotograf, S. 339. 148 W. W. Majakowski: Ich bitte ums Wort . . . In: Majakowski, Bd. 5, Publizistik, S. 322. 149 Vgl. Fritz Mierau: Majakowskis Ausstellung und Tod. In: Künstlerische Avantgarde. Annäherungen an ein unabgeschlossenes Kapitel. Hg. und mit einer Einleitung von Karlheinz Barck, Dieter Schlenstedt und Wolfgang Thierse. Berlin 1979, S. 101-104 (Literatur und Gesellschaft). 150 A. Rudnik/O. Jakimova, Russkaja i sovetskaja literatura. 1900—1930. In: Moskva - Paris. 1900-1930. Katalog der Ausstellung. Bd. 1. Moskva 1981, S. 171. 151 W.W.Majakowski: Seltsames Abenteuer Wladimir Majakowskis sommers auf dem Lande. In: Majakowski, Bd. 1, Gedichte, S. 44. 152 Ebenda, S. 45. 153 Ebenda, S. 46. 154 W. W. Majakowski: Jubiläumsverse. In: Majakowski, Bd. 1, Gedichte, S. 99. — Majakowski spielte auf das Poem Das bewußte Thema (in der Übersetzung von A. E. Thoß Darüber betitelt) und die ROSTA-Fenster an. 155 Ebenda, S. 107. 156 Ebenda, S. 102. Hier bezieht sich Majakowski vorrangig auf das Poem Das bewußte Thema. 157 W. W. Majakowski: Tagesbefehl Nr. 2 an die Kunstarmee. In: Ebenda, S. 55. 158 W.W.Majakowski: Ich selber. In: Majakowski, Bd. 4, Prosa, S.27. Vgl. 12*

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ausführlich: A. M. Rodcenko: Rabota s poetom. In: V. Majakovskij v vospominanijach sovremennikov, S. 220—222. 159 Vgl. „Die Konstruktivsten begriffen ihre Kunst noch in einem anderen Sinne als Funktion — als Vorarbeit nämlich für die Zukunft, als Laboratoriumsarbeit, als experimentelle Erprobung der Mittel, die wirklich allgemeingültig erst in einer künftigen Gesellschaft werden würden. Auch dies ist ein weit über den Konstruktivismus im engeren Sinne hinausreichender Grundzug künstlerischer Erneuerung und des Selbstbewußtseins der Künstler nach Oktober- und Novemberrevolution." Karin Hirdina: Pathos der Sachlichkeit. Tendenzen materialistischer Ästhetik in den zwanziger Jahren. Berlin 1981, S. 55. — Diese Beobachtung trifft durchaus auch auf Majakowski zu. 160 A. M. Rodtschenko besorgte 1923 die erste Buchausgabe des Poems Das bewußte Tbema. Die Photomontagen mit Originalphotos von Majakowski und Lilja Brik unterstreichen die Gebundenheit des intimen Themas an Konventionen im Alltagsleben. Vgl. die Abbildungen 17—21 in: Majakowski, Bd. 2, Poeme, Einlage. 161 Vgl. A. V. Lunacarskij i Lef. Veröffentlichung und Kommentar von I. Kuznecova. In: Voprosy literatury, 11/1975, S. 230. 162 Ebenda, S. 236. 163 Ebenda, S. 235. — Tschushaks - scharf ironische Abwertung der Dichtung Majakowskis ließ in der Tat nicht lange auf sich warten. Vgl. N. F. tuzak: K zadacam dnja. (Stat'ja diskussionnaja). In: Lef, 2/1923, S. 149—151. 164 Vgl. A. V. Lunacarskij i Lef, S. 229. 165 Vgl. Natalia Alexandrowna Lunatscharskaja-Rosenel: Lunatscharski und Majakowski. In: Erinnerungen an Majakowski. Hg. von Gerhard Schaumann. Leipzig 1972, S. 216-217. 166 Vgl. A. W. Lunatscharski: Der Neuerer Wladimir Majakowski, S. 238-241. Ferner: „Majakowski trat mit besonderer und1 qualvoller Begeisterung 'dem eigenen Lied auf die Kehle', das heißt seinem kleinbürgerlichen individualistischen Lyrismus, damit dieses persönliche Lied das öffentliche Lied nicht am Erschallen hindert . . ." A. V. Lunacarskij: K stoletiju Aleksandrinskogo teatra. In: Lunacarskij, Bd. 3, S. 472. 167 A. V. Lunacarskij: Ob Aleksandre Nikolaevice Ostrovskom i po povodu ego. In: Lunacarskij, Bd. 1, Moskva 1963, S. 204. 168 Ziel der Zeitschrift Lef, formulierte Majakowski, sei u. a., „unter Aufnahme der revolutionären Ströme in der Kunst die Avantgarde der russischen und der Weltkunst zu sein". Majakowski an die Abteilung für Agitation des ZK der KPR (B), Anfang Januar 1923. In: Majakovskij, Bd. 13, Moskva 1961, S. 204. 169 A. V. Lunacarskij: Kul'tura v RSFSR. In: Lunacarskij: I. Idealizm i materializm. II. Kul'tura burzuaznaja, perechodnaja i socialisticeskaja. Moskva — Leningrad 1924, S. 133, 136. 170 A. V. Lunacarskij: Sredi sezona 1923—1924 g. In Lunacarskij, Bd. 3, S. 17. 171 A. V. Lunacarskij i Lef, S. 234. 180

172 S. M. Tret'jakov: Otkuda i kuda. Perspektivy futurizma. In: Lef, 1/1923, S. 199. 173 W . W . M a j a k o w s k i : In wen verbeißt sich „Lef"? In: Majakowski, Bd. 5, Publizistik, S. 117. 174 Vgl. S. M. Tret'jakov: Otkuda i kuda, S. 194-195. 175 A. W. Lunatscharski: Der Neuerer Wladimir Majakowski, S. 227, 231-232. 176 W . W. Majakowski: In wen verbeißt sich „Lef"?, S. 118. 177 W . W . Majakowski: [Genossen!] In: Majakowski, Bd. 5, Publizistik, S. 317-318. 178 A. V. Lunacarskij an V. M. Frice; 1928. In: A. V. Lunacarskij. Neizdannye materialy. Moskva 1970, S. 67 (Literaturnoe nasledstvo. Bd. 82.). 179 A. V. Lunacarskij: Marksizm i literatura. In: Lunacarskij, Bd. 7, Moskva 1957, S. 339. 180 Ebenda, S. 337-338. 181 A. V. Lunacarskij: Puti iskusstva. In: Lunacarskij: Ob iskusstve, Bd. 1, S. 266. 182 W . W . M a j a k o w s k i : Siebentageüberblick über die französische Malerei. In: Majakowski, Bd. 4, Prosa, S. 74. — In der sowjetischen Werkausgabe (Majakovskij, Bd. 4, S. 238), nach der die deutsche Übersetzung des Textes besorgt wurde, ist von „2395 Katalognummern" die Rede, während es in Wirklichkeit 2 359 ausgestellte Kunstwerke (ausgenommen Werke der industriellen Formgebung) waren. Vgl. Société du Salon d'Automne. Catalogue. Paris 1922, S. 304. 183 El Lissitzky. Ausstellungen in Berlin. In: El Lissitzky. Maler, Architekt, Typograf, Fotograf, S. 346. 184 W. W. Majakowski: Siebentageüberblick über die französische Malerei, S. 79. — Vgl. auch: „Aber eine neue Kunst wird endlich ihren Gebrauchswert nennen und angeben müssen, wozu sie gebraucht werden will. Und man wird einem Maler hoffentlich nicht gestatten, Bilder nur zu malen, damit sie gerührt angeglotzt werden." Bertolt Brecht. In: Brecht: Schriften zur Literatur und Kunst. Bd. 1. Berlin - Weimar 1966, S. 103. 185 A. V. Lunacarskij: Salony zivopisi i skul'ptury. In: Lunacarskij: Ob iskusstve, Bd. 1, S. 365. 186 W. W . Majakowski: Siebentageüberblick über die französische Malerei, S. 74. 187 Vgl. ebenda, S. 83. 188 Ebenda. 189 Vgl. Vystuplenija na dispute „Pervye kamni novoj kul'tury" 9 fevialja 1925 g. In: Novoe o Majakovskom, S. 23—36. 190 Andrej Platonow: Gedanken über Majakowski. In: Platonow: Gedanken eines Lesers. Aufsätze und Essays. Leipzig — Weimar 1979, S. 18. 191 El Lissitzky, Topographie der Typographie. In: El Lissitzky. Maler, Architekt, Typograf, Fotograf, S. 360. — Vgl. auch: „SIE sollen von den Schriftstellern fordern, daß er seine Schrift wirklich stellt. Denn seine Gedanken kommen ±u ihnen durch das Auge und nicht durch das Ohr. Darum soll die

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typographische Plastik durch ihre Optik das tun, was die Geste des Redners für seine Gedanken schafft." Ebenda, S. 361. 192 Zit. nach O. M. Brik: Majakovskij — redaktor i organizator, S. 131. — Die von Brik veröffentlichte Fassung gibt den Gedanken Majakowskis am genauesten wieder. In der Erstfassung heißt es: „Der Oktober lehrte durch Arbeit." Vgl. Za cto boretsjaLef. In: Lef, 1/1923, S. 4. Die Verkürzung des Gedankens von Majakowski in der Werkausgabe Polnoe sobranie socinienij v trinadcati tomacb ist nicht exakt:,, Der Oktober lehrte arbeiten". Vgl. Majakovskij, Bd. 12, S. 42. 193 Vgl. M. I. Cvetaeva: Èpos i lirika sovremennoj Rossii. Vladimir Majakovskij i Boris Pasternak. In: Cvetaeva: Socinenija v dvuch tomach. Bd. 2. Moskva 1980, S. 403. 194 Ebenda, S. 404. 195 G. O. Vinokur: Majakovskij — novator jazyka. Moskva 1943, S. 111. 196 Andrej Platonow: Gedanken über Majakowski, S. 28. 197 Ebenda, S. 29. 198 Vgl. V. V. Majakovskij : Vystuplenie na dispute „Teatral'naja politika sovetskoj vlasti" 2 oktjabrja 1926 g. In: Novoe o Majakovskom, S. 40. 199 Fritz Mierau : Majakowskis Ausstellung und Tod, S. 103. 200 W . W . Majakowski: Referat „Bildende Kunst und Produktionspropaganda" auf der Allrussischen Konferenz über Produktionspropaganda, S. 87. 201 Ju. N. Tynjanov: Zumal, kritik, citatel' i pisatel'. In: Tynjanov: Poétika, Istorija literatury, Kino. Hg. von V. A. Kaverin und A. S. Mjasnikov. Mit einem Vorwort von V. A. Kaverin. Moskva 1977, S. 147, 147—148. 202 Der Begriff „der n e u e Leser" bzw. „der n e u e Massenleser" wird anstelle des bei uns eingeführten Begriffs „der zuständige Leser" gesetzt, da er historisch genauer eingrenzbar und bestimmbar ist. Die Definition von Dieter Schönstedt, die sich unter unseren Literaturwissenschaftlern und Soziologen durchgesetzt hat, trifft nur partiell auf den sowjetischen n e u e n Leser nach der Oktoberrevolution zu. Die Entwicklung fundierter Urteilsfähigkeiten in breiten Leserschichten wurde vor allem im ersten Jahrzehnt der Sowjetmacht (aber natürlich auch noch wesentlich länger!) durch den hohen Prozentsatz von Analphabeten gebremst. Die Gleichzeitigkeit mehrerer Entwicklungsstufen (die sich in den westlichen Industrieländern nacheinander vollzogen) beeinflußte das Leseverhalten in den zwanziger Jahren. Sie erklärt auch die polemischen Überspitzungen und maximalistischen Tendenzen in der Literaturkritik. Die weite Verbreitung von B u c h l e s u n g e n und das starke Bedürfnis nach dieser Form der Vermittlung von Literatur als einer Vorstufe individueller Lektüre waren ebenfalls eine Folge dieser spezifischen Gegebenheiten. Vgl. Dieter Schlenstedt: Wirkungsästhetische Analysen. Poetologie und Prosa in der neueren DDR-Literatur. Berlin 1979, S. 88 (Literatur und Gesellschaft). 203 Vgl. B.V.Bank: Iz istorii izucenija citatelej v SSSR. In: Sovetskij citatel'. Opyt konkretno-sociologiceskogo issledovanija. Moskva 1968, S. 24. 182

204 N . A. Rubakin: Cto takoe bibliologiceskaja psichologija? Leningrad 1924, S. 22. 205 Die breite Resonanz der Ideen Rubakins Anfang bis Mitte der zwanziger Jahre erklärt sich aus der besonderen Situation im sowjetischen Bibliothekswesen, das neu aufgebaut werden mußte. Die Orientierung auf den konkreten Leser einer Bibliothek und die unter diesem Aspekt betriebene Leserforschung entsprachen der Notwendigkeit, die Arbeit der Bibliothekare (Buchbeschaffung, Beratung der Leser usw.) auf die neuen Bedürfnisse schneller und besser einzustellen. Vgl. u. a. A. A. Bek: Problema izucenija citatelja. In: N a literaturnom postu, 5—6/1926, S. 24. 206 A. I. Beleckij: Ob odnoj iz ocerednych zadac istorikoliteraturnoj nauki. Izucenie istorii citatelja. In: Beleckij: Izbrannye trudy po teorii literatury. Moskva 1964, S. 26. 207 Bilezky sprach 1922 von drei Gruppen, denen er seine soziologischen Kriterien zugrunde legte. Zur ersten Gruppe zählte er die „blinden" Anhänger eines Buches, die gewöhnlich Modetrends anzeigen (z. B. die „Werther"-Mode in Rußland Anfang des 19. Jahrhunderts). Die zweite Gruppe setze sich aus der meist für bedeutende literarische Erscheinungen „tauben" Lesermasse zusammen (so habe es unter den Durchschnittslesern der sogenannten Puschkin-Zeit der russischen Literatur für Puschkin überhaupt kein Bedürfnis gegeben); mitunter habe sie sich für die einheimische Literatur kaum interessiert. Und zur dritten Gruppe rechnete er schließlich eine relativ kleine Leserzahl, die dem Autor ihre eigenen Ideen aufzwinge und mitunter selbst zur Feder greife. Vgl. ebenda, S. 33—37. 208 Vgl. „ D a s Kunstwerk ist dem Leser nicht vollständig gegeben, es ist in bedeutendem Maße ihm nur vorgegeben. Der Leser muß selber die thematische Reihe rekonstruieren; darin drückt sich vorwiegend seine Ko-Autorschaft aus." A. I. Beleckij/N. L. Brodskij/L. P. Grossmann/I. N . Kubikov/ V. L. L'vov-Rogacevskij: Novejsaja russkaja literatura, Kritika, Teatr, Metodologija, Temy, Bibliografija. Iwanowo-Wosnessensk 1927, S. 89—90. 209 Vgl. u. a. Kapitel 4, „Die Theorie der Leserrezeption und der russische Leser Ende des neunzehnten, Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts". In: Ebenda, S. 86-106. 210 Bilezky hat sich mit diesem Problem zeit seines Lebens stark beschäftigt, ohne eine ihn zufriedenstellende, praktikable Lösung gefunden zu haben. Vgl. A. I. Beleckij: Avtobiografija. 1945. In: Beleckij: Izbrannye trudy po teorii literatury, S. 19. Ferner: A. I. Beleckij: Iz poslednicb tetradej. In: Literaturnaja gazeta v. 31. 10. 1984, S. 6. 211 Vgl. Anm. 207. 212 Vgl. u . a . S. Krylova/L. Lebedinskij/Ra-be (A. Bek)/L. T o o m : Rabocie o literature, teatre i muzyke. Leningrad 1926; Z. Ja. Stejnman: „Sfinks" govorjascij (O rabocem citatele). In: Novyj mir, 6/1927, S. 184—189; Pisatel' pered sudom rabocego citatelja. Vecera rabocej kritiki. Hg. von G. Brylov, N . Vejs u n d V . Sacharov. Leningrad 1928; B. V. Bank/A. Vilenkin: Krest'-

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janskaja molodez i kniga (Opyt issledovanija citatel'skich interesov). Mit einem Vorwort von V. A. Zelenko und L. N. Tropovskij. Moskva — Leningrad 1929; Golos rabocego citatelja. Sovremennaja sovetskaja chudozestvennaja literatura v svete massovoj rabocej kritiki. Hg. von G. Brylov, N. Lebedev, B. Majberg und V. Sacharov. Leningrad 1929. — Nicht einsehbar war die von der Themenstellung interessante Arbeit: M. A. Spuskova: Pervye itogi izucenija citatelja. Obzor literatury. Moskva — Leningrad 1926. — In vielen Untersuchungen aus jüngster Zeit wird der intendierte Leser vorwiegend anhand von Literaturbeispielen aus dem 19. Jahrhundert untersucht. Das trifft auch auf das Forschungsprogramm an der Universität von Kalinin zu. Vgl. Literaturnoe proizvedenie i citatel'skoe vosprijatie. Mezvuzovskij tematiceskij sbornik. Kalinin 1982. 213 Vgl. „. . . zwischen den in der Presse mitgeteilten Fakten, Ziffern, Beobachtungen und den sich auf ihrer Grundlage herauskristallisierenden Verallgemeinerungen bestand und besteht bis heute eine beachtliche Disproportion." V. V. Prozorov: Citatel' i literaturnyj process. Saratov 1975, S. 8. 214 A. A. Bek: Problema izucenija citatelja. In: Na literaturnom postu, 5—6/ 1926. S. 23. 215 Bereits die 1923 gegründete Zeitschrift Na postu, Organ der Gruppe „Oktjabr'", vertrat sektiererische Tendenzen, die im ZK-Beschluß vom 18. Juni 1925 Über die Politik der Partei auf dem Gebiet der Literatur scharf kritisiert wurden. Dennoch lebtin die alten Argumente in neuer Aufmachung auf den Seiten von Na literaturnom postu wieder auf. Als Organ der RAPP entwickelte sie sich Ende der zwanziger Jahre immer ausgeprägter zum Sprachrohr des extrem dogmatischen Flügels um Leopold Awerbach. 216 J. N. Tynjanow: Die Zwischenzeit. In: Tynjanow: Der Affe und die Glocke, S. 453. 217 Ebenda, S. 268. — „Mosselprom" ist die Abkürzung für Moskauer Vereinigung der Betriebe zur Verarbeitung von Produkten der landwirtschaftlichen Industrie. 218 O. E. Mandel'stam, Literaturnaja Moskva. In: Rossija, 2/1922, S. 23. — Vgl. auch Pasternaks Frage in bezug auf Krutschonych, Majakowski und Assejew: „ I s t d a s a l l e s n o c h K u n s t oder seit langem stabilisierte vielversprechende Banalität?" B.L.Pasternak: Vzamen predislovija. In: A. Je. Krucenych: Kalendar'. Mit einem Vorwort von B. L. Pasternak. Moskva 1925, S. 4. 219 Zit. nach: V. V. Majakovskij: Vystuplenija na Pervoj Vsesojuznoj' konferencii proletarskich pisatelej 9 janvarja 1925 goda. In: Polnoe sobranie socinenij. Bd. 12. Moskva 1937, S. 343. — In der 13bändigen Werkausgabe ist eine redigierte Fassung des Stenogramms abgedruckt, in der der Name Perzows genannt wird. Wer diese Kopie des Stenogramms redigiert hat, ist unbekannt. Vgl. Majakowskij, Bd. 12, S. 269. 220 S. G. Strumilin: Bjudzet vremeni russkogo rabocego i krest'janina v 1922—1923 godach. Statistiko-ekonomiceskie ocerki. 2. verb. Aufl. Moskva — Leningrad 1924, S. 7—8. — Diese Ausgabe enthält gegenüber der Erstauflage 184

genauere Angaben über das Zeitbudget in Bauernfamilien im Vergleich zu den Arbeitern. 221 Vgl. die These: „ . . . ohne Berücksichtigung der Hausarbeit ist es undenkbar, sich eine Vorstellung von den Bedingungen und dem gesellschaftlichen Wert der Reproduktion der Arbeitskraft zu machen." Ebenda, S. 8. 222 Abgeleitet von Strumilins Frage, ob die populäre Dreieiformel aus der revolutionären Arbeiterbewegung „acht Stunden Arbeit, acht Stunden Schlaf, acht Stunden Freizeit" bei allen Familienmitgliedern gleichermaßen rationell und zweckmäßig verwirklicht werde, können an dieser Stelle nur einige der behandelten Probleme benannt werden: — die Proportionalität von Zeitaufwand für kulturell-geistige Beschäftigung in der Freizeit und Qualifikation am Arbeitsplatz; — der beträchtlich unterschiedliche Zeitaufwand für die sogenannte freiwillige Arbeit einschließlich Buch- und Zeitunglesen in der Freizeit bei den Mitgliedern einer Arbeiterfamilie (Männer, Frauen, Jugendliche, arbeitende bzw. nichtarbeitende im Haushalt lebende Personen); — die spezifische Situation der arbeitenden Arbeiterfrauen, die trotz der Überlastung im Haushalt zwar weniger Bücher und Zeitungen lesen als die Männer, abfer weit mehr Zeit aufwenden für Abendschulen, Zirkelarbeit usw., um den Rückstand gegenüber den Männern aufzuholen, bei gleichzeitiger Verkürzung der für den Schlaf zur Verfügung stehenden Zeit;

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— der Unterschied zwischen den arbeitenden und den nichtarbeitenden Arbeiterfrauen; bei den Hausfrauen ist das Bedürfnis nach geistig-kultureller Beschäftigung weitaus geringer als bei den arbeitenden, bei den Bauersfrauen fast null. Vgl. ausführlicher zu Gastew in: Nyota Thun: Das erste Jahrzehnt. Literatur und Kulturrevolution in der Sowjetunion. Berlin 1973, S. 189—193 (Literatur und Gesellschaft). V. O. Percov: Ob-em chudozestvennoge proizvedenija i bjudzet vremeni russkogo rabocego. In: Na putjach iskusstva. Moskva 1926, S. 234. Ebenda, S. 230-231. Am 26. Januar 1972 bestätigte Viktor Perzow in einem Gespräch mit der Verfasserin die anfangs enge Bindung an Gastew, die er habe „überwinden müssen". Vgl. V . O . Percov: Sovremenniki. Gastev, Chlebnikov. In: Novyj Lef, 8-9/1927, S. 77. B. I. Arvatov: Rezension zu Aleksej Gastev, Packa orderov. Riga 1921. In: Lef, 1/1923, S. 243. Vgl. „Daß der Dichter als Organisator direkt in die Produktion ging, gefiel Majakovski; er sprach immer mit Hochachtung über Gastews ausgezeichnete Arbeit zur Entwicklung vernünftiger, schöpferischer Arbeitsmethoden und zur Nutzung der Arbeitszeit. Das war auch eine Art 'Dichtung des Arbeitsschlags', aber schon kein Buch mehr, sondern das Leben selbst." V. O. Percov: Majakovskij. Zizn' i tvorcestvo. Bd. 2. Moskva 1958, S. 49.

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230 E s erschienen nur die beiden J a h r g ä n g e 1927 und 1928. D i e letzten fünf N u m m e r n hat Majakowski nicht mehr als Chefredakteur herausgegeben. D i e anfangs unter dem V o r w a n d der Auslandsreise vollzogene Ü b e r g a b e der Leitung an Tretjakow erwies sich recht bald als die Spitze des E i s b e r g s , als A u s d r u c k des nicht mehr zu überbrückenden K o n f l i k t s zwischen den Redaktionsmitgliedern. 231 [V. V . Majakovskij]: Citatel'. Leitartikel. I n : N o v y j L e f , 1/1927, S. 2. 232 V g l . V . O . P e r c o v : Protiv Peteverzeva. I n : N o v y j Lef, 2/1927, S . 48. 233 V . O . P e r c o v : Ideologija i technika v iskusstve. I n : N o v y j Lef, 5/1927, S. 26. 234 Fritz Mierau, Majakowskis Ausstellung und T o d , S. 103. 235 V g l . J e . I. Z u r b i n a :

Razgovor

citatelja s pisatelem. I n : N a literaturnom

postu, 10/1928, S. 49, 51. 236 V . V . K a m e n s k i j : Vosprijatie Slova. I n : K a m e n s k i j : E g o — m o j a biografija velikogo futurista. 7 dnej predislovij. M o s k v a 1918, S . 33. 237 V o n 830 befragten Personen waren 7 5 , 8 % Arbeiter, 2 4 , 2 % Angestellte. Unter ihnen waren nur 8 , 4 % Frauen. Dies war in den zwanziger Jahren angesichts der noch hohen Zahl v o n Analphabeten kein außergewöhnliches Bild, auch unter Berücksichtigung der bereits erwähnten Gründe, warum damals die Zahl der lesenden Frauen insgesamt noch sehr niedrig war. D e n n o c h müssen bei diesen statistischen E r h e b u n g e n die besonderen regionalen wie berufsbedingten Faktoren berücksichtige werden. 238 V g l . S . : Citateli otdalennogo rabocego rajona o belletristike. I n : N a literaturnom postu, 10/1927, S. 66. — D i e R a n g f o l g e der am häufigsten genannten zwölf N a m e n ist wie f o l g t : Gorki, Demjan, Bedny, L e o Tolstoi, Puschkin, Jack London,

Sinclair, L e r m o n t o w ,

Tschechow, H u g o , Turgenjew, Sej-

fullina und Dostojewski. Serafimowitsch steht erst an 13. Stelle, Majakowski an 22. Verse wurden allgemein sehr wenig gelesen. Sicherlich hat bei der Rezeption Majakowskis auch der M a n g e l an Majakowski-Ausgaben eine Rolle gespielt, denn v o n den Befragten wurde nur sein Gedichtband Die Tretjakow-Galerie genannt. Wichtig zur Einschätzung solcher R a n g f o l g e n ist auch der Hinweis: „ D i e verstärkte N a c h f r a g e nach einem Buch in den Bibliotheken sagt nicht unbedingt etwas über das Interesse aus, sondern vielleicht eher über das Zähneknirschen, mit dem der unfreiwillige Leser das Buch 'mit jungen Zähnen knackt'. V o r den Aufnahmeprüfungen für die Hochschule grast die J u g e n d alle Bibliotheken ab . . ." N . V . T r u n e v : N o v y j citatel'. I n : Sibirskie o g n i , 5/1929, S. 147. 239 Vgl. auch die Hinweise auf den „besonderen Stil", die „phantastische Orthographie" und die Unsicherheit im Urteil, die die Leser häufig selbst mit ihrer mangelhaften Ausbildung begründeten ( „ . . . man hätte mehr M ä n g e l aufschreiben können, aber auf G r u n d der Bildung, die ich habe, habe ich sie nicht bemerkt."). B e z e : L i c o rabocego citatelja. I n : N a literaturnom postu, 9/1927, S. 61. - Diese A n g a b e n wurden im Winter 1926/27 in der Zentralbibliothek der Proletarischen Manufaktur, Twer, gesammelt. 240 N . V . T r u n e v : N o v y j citatel', S. 147.

186

241 S . : Citateli otdalennogo r a b o c e g o rajona o belletristike, S. 67. 242 V o s t o k o v : V p o m o s c ' rabocemu citatelju. I n : N a literaturnom postu, 10/1927, S. 69. 243 A . M . T o p o r o v : Krest'jane o pisateljach. 2. erg. und Überarb. A u f l . N o w o sibirsk 1963, S. 215. 244 V g l . N . N . A s e j e v : [Zapisnaja knizka Lefa] I n : N o v y j Lef, 5/1927. S. 7. 245 E b e n d a . 246 V g l . Korrespondenty. I n : N o v y j Lef, 4/1927, S. 38. - D e r Brief ist nur mit den Initialen A . J e . gezeichnet. 247 V g l . die gesamte Polemik seitens Polonskis. V . P. Polonskij. L e f ili B l e f ? u n d : Blef prodolzaetsja. I n : P o l o n s k i : N a literaturnye temy. M o s k v a 1927, S. 7—22, 23—45. — D e r erste Artikel erschien am 25. und 27. Februar 1927 in der Zeitung l^vestija. V g l . auch Majakowskis ironisches Gedicht Die Venus

von Milo und Wjatscbeslaw Polonski, das er auf den ersten Seiten v o n Heft 5 seiner Zeitschrift als Antwort abdruckte. 248 V g l . L . A . K a s s i l ' : „Izustnyj

period"

v g . P o k r o v s k e . I n : N o v y j Lef,

1/1928, S. 42—45. — L e w Kassil berichtet über die E r f a h r u n g e n im heimatlichen Wolgagebiet, w o er in systematischer — geduldiger — Klubarbeit erreichte, daß die als schwerverständlich geltenden Verse

Majakowskis

schließlich doch verstanden wurden. 249 V . V . Majakovskij: Cto ja delaju.

I n : N o v y j Lef, 4/1927, S. 46, 47 ( v g l .

a u c h : Majakovskij, B d . 12, S. 137). 250 V g l . die aufgezeichnete Äußerung eines Häuers ( D o r f s c h u l e ) : „Ich habe Majakowskis Buch

'Tretjakow-Galerie',

'Majakowski-Auswahl',

gelesen;

mir hat es sehr gefallen, es ist nur manchmal unverständlich, und ich glaube, d a schreibt ein alter Schriftsteller, der sich mit der Sowjetmacht nur

ver-

bunden fühlt, deshalb ist seine Sprache noch nicht auf proletarische Manier umgearbeitet; über seine Sachen kann man von Herzen lachen, es ist nur schade, daß es da viele ausländische N a m e n g i b t ; man muß mehr die zentrale Presse lesen, um zu verstehen, warum über jemanden gelacht wird." S . : Citateli otdalennogo rabocego rajona o belletristike, S. 68—69. 251 V g l . Karin Hirdina: Pathos der Sachlichkeit. Traditionen materialistischer Ästhetik in den zwanziger Jahren. Berlin 1981, S. 56. — Diese E r w a r t u n g s h a l t u n g beschränkte sich in der Sowjetunion nicht nur auf den konstruktivistisch begriffenen Funktionszusammenhang, sondern betraf alle revolutionären

Kunstbestrebungen,

allerdings

mit unterschiedlichen

ästhetischen

Grundhaltungen. 252 E i n e der Thesen lautete: „ K a m p f gegen die literarischen Gruppierungen, die die Verarbeitung der vielfältigen Lebenstatsachen durch

Aufsaugen

v o n literarischem Geschwätz ersetzen. Nicht im N a m e n der 'freien Künstler', nicht im N a m e n einer anarchistisch gesinnten B o h e m e wird dieser K a m p f geführt, sondern für die bessere Disziplinierung der künstlerischen Arbeit im N a m e n der Planerfüllung aller Unionsbetriebe, die das Wort, die Farben, die Unterhaltungskunst brauchen." V . V . Majakovskij: [ O . Lefe]. I n : Maja-

187

kovskij, Bd. 12, S. 183. - Vgl. auch: ;,Wir Lef-Leute . . . saßen 1918-1925 genauso in den Thermopylen und erwehrten uns heldenhaft der uns belagernden Horden von Ästheten und sonstiger rechter Kunstflanken. Nach dem Beispiel der Lef-Gruppe schufen die Schriftsteller ihre eigenen Thermopylen und Thermopylchen und richteten sich fest und auf lange ein. Der 'Kampf mit den Persern' nahm andere Formen an. Die 'Perser' selber wurden andere. Wir aber sitzen noch immer in unseren Schluchten. Proviant in Form von Papier wird herbeigeschafft, die Verlage drucken — wir sitzen und sitzen. Es ist an der Zeit, das läppische und unsinnige Organisations- und Richtungenspiel aufzugeben, in das unser literarisches Leben ausgeartet ist. In all diesen Schluchten sitzen nach den Berechnungen der WAPP viertausend Dichter". Aber in den weiten Ebenen, in der Presse und im Rundfunk ist niemand zum Arbeiten da." V. V. Majakovskij: Doklad „Levej Lefa" 26 sentjabrja 1928 goda. In: Ebenda, S. 503. 253 Vgl. u. a. Schklowskis Forderung: „Man muß den Brief des Bauern lefisieren." Er empfahl die Herausgabe einer Sammlung von Briefmustetn als Anleitung für die Bauern, Briefe als „Kristalle neuer byt-Standards" von Dorf zu Dorf zu schreiben. Zapisnaja knizka Lefa. In: Novyj Lef, 3/1928, S. 21. 254 Zit. nach: I. G. Terent'ev: Majakovskij „Levee Lefa". In: Novyj Lef, 9/1928, S. 48. 255 In allen publizierten Umfragen ist zwar Tolstoi stets mit an der Spitze der meist gelesenen Autoren genannt. Aber Krieg und Frieden ist in den zur Verfügung stehenden Materialien nicht erwähnt. Gelesen wurde seine kürzere Prosa, auch Theaterstücke, auch der Roman Anna Karenina. Krieg und Frieden stellte offenbar vom Umfang wie von der nötigen Vorbildung die höchsten Ansprüche an die Lektüre. Vgl. ferner: N. Pokrovskaja (Chaimovic): Utracen-li interes k Tolstomu? In: Citatel' i pisatel', 35/1928, S. 4; Je. Chlebcevic: Massovyj citatel' i Tolstoj. [Nach Angaben der Arbeit mit Lesern der Roten Armee.] In: Ebenda, 36/1928. 256 V. V. Majakovskij: Doklad „Levej Lefa" 29 sentjabrja 1928 goda. In: Majakovskij, Bd. 12, S. 505. 257 In Na literaturnom postu wurde eine regelrechte Kampagne gegen Majakowski geführt, wobei die Behauptungen zum Teil den in der gleichen Zeitschrift veröffentlichten Angaben der statistischen Umfragen widersprachen. So weist L. Malinow in belehrendem Ton Majakowski zurecht, er solle darüber nachdenken, für wen er schreibe. Das Hauptargument, nur eine Angestellte (Buchhalterin) habe erklärt, sie verstehe Majakowski, galt in der Tat als der größte Schimpf, den man derzeit einem revolutionären Schriftsteller antun konnte. Vgl. L. Malinov: Rabocie citateli o nasich pisateljach. In: Na literaturnom postu, 8/1927, S. 66. — Korneli Selinski fabrizierte bereits eine Theorie. Anhand des Oktober-Poems entwickelte er den Widerspruch zwischen dem revolutionären Leitmotiv der Dichtung Majakowskis und der Bitterkeit, nicht anerkannt zu weiden. Das Problem wurde verabsolutiert und gegen den 188

Dichter als „Waffe" eingesetzt. Vgl. K . L. Zelinskij: Itti Ii nam s Majakovskom? In: Na literaturnom postu, 5/1928, S. 49—54. — Nach dem Tod des Dichters, Anfang ¡der dreißiger Jahre, zeichnete sich eine bemerkenswerte Wende ab. Die Nachfrage nach: seinen Werken stieg merklich an. Ein Jahr vor dem bekannten Ausspruch Stalins von 1935 und der damit einsetzenden Erschließung des Majakowski-Erbes führte die Auswertung von Leserumfragen zu der Erkenntnis, Majakowski könne nicht länger aus der Liste der Dichter det Gegenwart gestrichen werden. Die Leser fragten hartnäckig: „Und wo ist Majakowski? Er wurde doch nicht vergessen?" Fast auf jedem Fragebogen sei von ihm die Rede. Seine Verse ließen niemanden gleichgültig, wobei die Meinungen darüber, ob er verständlich sei, durchaus sehr widersprüchlich waren. M. Konstantinov: Govorit citatel'. In: Literaturnyj sovremennik, 6/1934, S. 184-185. 258 Zit. nach I. G. Terent'ev: Majakovskij „Levee Lefa", S. 48. 259 Vgl. V. A. Katanjan: Majakovskij. Literaturnaja chronika, S. 406. 260 B. M. Ejchenbaum: V ozidanii literatury. In: Ejchenbaum: Literatura. Teorija. Kritika. Polemika. Leningrad 1927, S. 279. — Vgl. „Außer der neuen Berufsintelligenz, die nicht so sehr vom Schriftsteller aU vielmehr vom Verleger bedient wird, gibt es noch einen neuen, aber unauffindbaren Leser. Er liest; mit. Enthusiasmus und Gier alles, was ihn erreicht. Aber er braucht nicht die russische Literatur, sondern das Buch an sich. Er ahnt nicht, daß die russische Literatur ihn sucht, daß sie den Wunsch hat, er möge sie genau verfolgen. E r ist bereit, alles zu lesen, aber er denkt nicht über das Schicksal der russischen Literatur nach. Auf diese Weise hat die russische Literatur nicht nur ihren bisherigen Leser verloren, sondern auch ihren bisherigen Ehrenplatz; Sie hat natürlich keinen Zufalls'verbraucher'. Aber das genügt ihr nicht. Sie braucht einen enthusiastischen Liebhaber — wenigstens so einen, wie ihn der Kinomatograph in den letzten Jahren erworben hat. Aber so einen gibt es nicht." 261 Achim Walter: Soziale Determinanten des Leseverhaltens. In: Leseerfahrung. Lebenserfahrung. Literatursoziologische Untersuchungen. H g . von Dietrich Sommer, Dietrich Loffler, Achim Walter und E v a Maria Scherf. Berlin — Weimar 1983, S. 10. 262 Besonders hervorgehoben sei in diesem Zusammenhang: L . S. Wygotski: Psychologie der Kunst. Dresden 1976 (Fundus-Bücher 44/45). Insbesondere Kap. I und Kap. XI. 263 A. D . Agranövskij: Genrich Gejne i glafira. Iz tetradi raz-ezdnogo korrespondenta. In: Izvestija, 7. 11. 1928, S. 3. Zit. nach: A. M. T o p o r o v : Krest'jane o pisateljach, S. 19. 264 Vgl. A. M. Toporov: O pervom opyte krest'janskoj kritiki chudozestvennych proizvedenij. In: T o p o r o v : Krest'jane o pisateljach, S. 227—231. 265 Vgl. A. M. T o p o r o v : Derevnja o sovremennoj chudozestvennoj literature. In: Sibirskie ogni, 6/1927, S. 129-231; 1/1928, S. 2 1 7 - 2 4 3 ; 2/1928, S. 228—238; A. M. Toporov: Derevnja o sovremennoj poezii. In: Ebenda j

189

5/1928,

S. 1 7 2 - 1 9 0 ;

A. M. T o p o r o v :

Smechul'ki.

In:

Ebenda,

3/1929,

S. 1 6 6 - 1 7 2 . 266 Maksim G o r ' k i j an V . J a . Zazubrin, 17. März 1928. I n : M . G o r ' k i j i sovetskaja pecat'. M o s k v a 1965, S. 350 (Archiv M . G o r ' k o g o , B d . 10, 2. Buch). 267 Predislovie M . G o r ' k o g o k romanu V . Zazubrina „ D v a m i r a " . I n : G o r ' k i j : Sibir'. Pis'ma, Vospominanija. H g . v o n S. J e . K o z e v n i k o v und A . L . K o p t e l o v . [Novosibirsk] 1961, S. 158. 268 N . A . Rubakin

an

A. M. Toporov,

26. J u n i

1930.

In:

A. M. Toporov:

Krest'jane o pisateljach, S. 252. 269 J e . N . Permitin an A . M . T o p o r o v , 24. Mai 1930. I n : E b e n d a , S. 250. 270 V g l . M a x i m G o r k i : V o r w o r t [zum „ S a m m e l b a n d proletarischer Schriftsteller"]. I n : G o r k i : Über Literatur. Mit einem V o r w o r t v o n Boris Bjalik. Berlin - Weimar 1968, S. 108. 271 D a s neuartige Spannungsverhältnis zwischen A u t o r und Leser unter sich erst herausbildenden sozialistischen Literaturverhältnissen wurde nach 1945 v o n unseren Schriftstellern gerade unter diesem Aspekt sehr kritisch betrachtet. V g l . u. a. Stephan Hermlin 1948: „ . . . der Gegensatz zwischen M a s s e und Schriftsteller kann nicht allein v o m Schriftsteller überbrückt werden." Stephan Hermlin zu „ F ü n f F r a g e n über den Schriftsteller". I n : Ulenspiegel, 21/1948, S. 6. Zit. n a c h : Silvia Schlenstedt: Stephan Hermlin. Berlin 1985, S. 104. V g l . ausführlich auf S. 104—106. — Beachtenswert ist insbesondere Hermlins Nachdenken über M a j a k o w s k i s Überlegungen zu den neuen A u t o r Leser-Beziehungen nach der Oktoberrevolution, die wiederum v o n Dichtern wie Johannes R. Becher, Bertolt Brecht oder Erich Weinert anders reflektiert insbesondere Hermlins Aufsatz

Majakowski

v o n 1948, nachgedruckt i n : Stephan H e r m l i n : Äußerungen

1944—1982.

wurden. V g l .

ebenda und

Berlin - Weimar 1983, S. 7 1 - 7 9 . 272 A . M . T o p o r o v : Krest'jane o pisateljach. Opyt, metodika i obrazcy kyrest'janskoj kritiki sovremennoj chudozestvennoj literatury. Mit einer E i n f ü h r u n g v o n A . D . A g r a n o v s k i j und V . C. G o f f e n s e f e r . M o s k v a — Leningrad 1930. — D a diese A u s g a b e gegenwärtig schwer zugänglich ist, wurde nach der zweiten Ausgabe von

1963 zitiert. Beide A u s g a b e n unterscheiden sich durch die

Zusammenstellung der T e x t e und die E i n f ü h r u n g v o n T o p o r o w , die f ü r die zweite A u s g a b e stark überarbeitet und auf den neuesten Stand gebracht wurde. A n den Texten selbst wurden keine Veränderungen v o r g e n o m m e n . In den Nachauflagen (bisher erschienen vier identische Fassungen) w u r d e auf Leserstimmen zu den Büchern verzichtet, zu denen die Zuhörer keinen Z u g a n g fanden, o b w o h l es sich u m beachtliche Erscheinungen der jungen Sowjetliteratur

handelte.

Entweder entsprach der Stoff nicht ihrem E r -

fahrungshorizont oder wurde die Sprache als zu intellektuell e m p f u n d e n . D a s betraf eine Anzahl v o n Gedichten (u. a. Verse v o n Spektorski, und v o n Jessenin) und einige Prosawerke (u. a. Neid, Erzählungen v o n W s . Iwanow und Babel, z. B . Salz). v o n P a n f j o r o w s R o m a n Wolgabauern rückte 1930 in den

190

Pasternak, z. B . Oleschas R o m a n D i e Ablehnung Mittelpunkt der

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Polemik mit Toporow. Der völlige Verzicht auf solche Texte in den Nachauflagen engt natürlich den Gesamteindruck ein. Die Verfasserin hat bei der Analyse der Arbeit von Toporow alle veröffentlichten Texte berücksichtigt, obwohl sie nicht alle angeführt werden konnten. Das hätte die Darlegung der Grundgedanken überfrachtet. Die Ausgabe von 1963 enthält auch einige bis dahin unveröffentlichte Texte, u. a. über Puschkin. Sie sind in einer Zeitschriftenredaktion zufällig wieder aufgefunden worden. Toporows gesamtes Archiv, darunter auch die noch unveröffentlichten Materialien, ging durch Kriegseinwirkung verloren. Vgl. V. Glotov: Ucitel'. V pamjat' ob Adriane Toporove. In: Literaturnaja gazeta, 13.2.1985, S. 2; V. V. Gusel'nikov: Scast'e Adriana Toporova. Barnaul 1965. — Diese erste größere biographische Skizze ist belletristisch aufbereitet und enthält im Vergleich zu den bereits erwähnten Darstellungen von Agranowski, Goffenschefer, Janowski und Glotow nur wenige zusätzliche Fakten. Vgl. N. N. Janovskij: Adrian Toporov i ego kniga „Krest'jane o pisateljach". In: Janovskij: Golosa vremeni. Novosibirsk 1971, S. 133. Vgl. zum Unterschied zwischen individueller und kollektiver Rezeption bei Rita Schober: Rezeption und Realismus. In: Schober: Abbild, Sinnbild, Wertung. Aufsätze zur Theorie und Praxis literarischer Kommunikation. Berlin - Weimar 1982, S. 193. A. M. Toporov: O pervom opyte krest'janskoj kritiki chudozestvennych proizvedenij, S. 220 (Hervorhebungen — N. T.). — Diese Punkte sind bereits in der Erstausgabe (1930) enthalten. In der zitierten Fassung wurden lediglich einige Begriffe geändert. N. V. Trunev: Novyj citatel'. Po povodu literaturnych ctenij v kommune „Majskoe utro", S. 145. Sergej Eisenstein: Yo. Ich selbst. Memoiren. Hg. von Naum Klejman und Walentina Korschunowa. Mit einer Einleitung von Sergej Jutkewitsch. Berlin 1984, S. 238. — In der deutschen Übersetzung steht irrtümlicherweise statt „Wahrnehmung" der Begriff „Auffassung". Der deutsche Text wurde dementsprechend verändert. Vgl. auch S. 368. A. V. Lunacarskij: Pis'ma ob iskusstve. Pervoe pis'mo. In: Lunacarskij, Bd. 8, Moskva 1967, S. 201-202. A. M. Toporov: O pervom opyte krest'janskoj kritiki chudozestvennych proizvedenij, S. 225. Vgl. ebenda, S. 222. Vgl. die theoretischen Prämissen von Manfred Naumann: Bemerkungen zur Literaturrezeption als geschichtliches und gesellschaftliches Ereignis. In: Naumann: Blickpunkt Leser, S. 200-201. A. M. Toporov: Derevnja o sovremennoj chudozestvennoj literature, S. 194. — Ausführlich heißt es: „Die Kritik der Bauern wird in folgende Bahnen gelenkt: Entspricht das vom Schriftsteller Dargestellte der Wahrheit (das bezieht sich natürlich nicht auf das Märchen), inwieweit sind die Typen

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sinnlich faßbar, ist die Sprache schön, treffend und bildhaft, ergreift das Geschriebene und bleibt es in der Erinnerung haften, was lehrt das gegebene Werk das Dorf an Gutem oder Schlechtem?" A. M. Toporov: Derevnja o sovremennoj chudozestvennoj literature, S. 194. 284 Vgl. „ . . . die 'wandernde Blickpunkttechnik' (nach Iser — N . T.) ist in realistischen Werken auf quasipragmatische Lektüre hin angelegt und kann andererseits auch nur durch eine solche : Aufnahmeweise, in der Leseerfahrung und Realerfahrung sich wechselseitig durchdringen, korrigieren, ergänzen und präformieren, realisiert werden. Das heißt, die rezeptionsstrategische Steuerungsfunktion realistischer, Textvorgaben, ganz gleich, wie sie im einzelnen gestaltungsmethodisch und damit auch wirkungsstrategisch aufbereitet ist, ist auf die Doppelperspektive Werk — Welt, Welt — Werk hin angelegt. Ihre bewußtseins- und damit gesellschafts- und geschichtsbildende Funktion ist folglich an die vorstellungsmäßige Realisierung ihrer 'abbildenden' Funktion gebunden. Soll also realistische Literatur zu einem das Sinnpotential 'realistisch' einlösenden Lektüreeigebnis führen, muß diese Leistung — die man gewöhnlich mit dem unscharfen Terminus 'erleben' bezeichnet — vom Leser als Grundbedingung des Kommunikationsvorganges erbracht werden." Rita Schober: Rezeption und Realismus. In: Schober: Abbild, Sinnbild, Wertung, S. 233-234. 285 Im folgenden wird zwischen den Begriffen „Lektüre" und „Leser" und den Begriffen „Hören" und „Zuhörer" nicht konsequent unterschieden. Aus deAufzeichnungen Toporows ist nicht eindeutig ersichtlich, ob sich die Äußerungen ausschließlich auf den Eindruck einer Buchlesung oder die individuelle — zusätzliche — Lektüre beziehen. 286 Bertolt Brecht: Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit. In: Brecht: Schriften zur Literatur und Kunst. Bd. 1, S. 275. 287 A. M. T o p o r o v : Krest'jane o pisateljach, S. 70 (Hervorhebungen — N. T.). — Im folgenden werden die Seitenangaben der Zitate von Äußerungen der Kommunemitglieder im Text in Klammern gesetzt. 288 Vgl. ebenda, S. 196-201. 289 P. P. Petrov an A. M. Toporov, 14. Juli 1929. In: Ebenda, S. 249. 290 Vgl. „Übrigens schrieb ich bei der Analyse der 'Partisanen' von Ws. Iwanow 1924 an Sasubrin, daß Schischkows 'Die Horde' und Ws. Iwanows 'Partisanen' Pamphlete auf die Partisanenbewegung sind und daß die Autoren echte Partisanen gar nicht kennen." Ebenda, S. 248. 291 Ebenda, S. 249. 292 Vgl. „ D i e W a h r h e i t als Z i e l m e n s c h l i c h e r M ü h e n m e i n t aber n i c h t die einzelne konkrete Wahrheit, sondern die Ü b e r e i n s t i m m u n g unsererBehauptungen mitderWirklichkeit—eine Übereinstimm u n g , d i e s c h w e r zu e r z i e l e n i s t . " Michael Franz: Wahrheit in der Kunst. Neue Überlegungen zu einem alten Thema. Berlin — Weimar 1984, S. 11. 293 Die Verfasserin schließt sich dem Argument von Michael Franz an: „Wenn

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jedoch Kunst als Folge ihrer historischen Bedingungen und Kunst ab Ursache der durch sie ermöglichten Aktivitäten in ein unvermitteltes abstraktes Gegensatzverhältnis gebracht werden, wird die wechselseitige Isolierung von Widerspiegelungsprinzip und Funktionalprinzip nicht überwunden, sondern aus einer anderen Blickrichtung befestigt. So kann nicht erfaßt werden, was K u n s t als F o l g e und K u n s t als U r s a c h e m i t e i n a n d e r v e r m i t t e l t : ihr o b j e k t i v b e d i n g t e s Wir kungs ver mögen. . . . D i e W a h r h e i t s f r a g e wird im s o z i a l e n G e b r a u c h von K u n s t g e s t e l l t , d. h. vorwiegend unter funktionalen, keineswegs unter beschränkt gnoseologischen Gesichtspunkten. Sie wird gestellt im Prozeßzusammenhang der Aneignung als Gesamtprozeß der historischen Subjektwerdung der Individuen in ihrem gegenständlichen Verhalten und seinen notwendigen materiellen Formen, den gesellschaftlichen Verhältnissen." In: Ebenda, S. 167 (Hervorhebungen — N. T.). Vgl. A. M. Toporov : Krest'jane o pisateljach, S. 146, 148. Vgl. die Nachdichtung von Martin Remané in: A.S.Puschkin: Gedichte, 2. Aufl. Berlin — Weimar 1973, S. 309. — Wörtlich übersetzt lauten die zitierten Verse: „Ein Bild sah einst ein Schuster / Und am Schuh 'nen Fehler er fand. / Drauf nahm der Maler den Pinsel und besserte es aus . . . " Puschkin kritisierte die Beckmesserei einiger seiner Zeitgenossen, die sich in Kunstangelegenheiten einmischten, ohne über ein tiefes Kunstveiständnis zu verfügen. Nicht unwesentlich ist allerdings, daß Puschkin „seinen" Künstler den kleinen Fehler im Detail korrigieren läßt, d. h., daß er die Genauigkeit im Detail anerkennt, jedoch ablehnt, wenn die Kunstwahrheit mit ihr identifiziert wird. N. V. Trunev : Novyj citatel', S. 149. Bertolt Brecht: Der Dreigroschenprozeß. In: Brecht: Schriften zur Literatur und Kunst, Bd. 1, S. 184. Vgl. Achim Walter: Soziale Determinanten des Leseverhaltens. In: Leseerfahrung, Lebenserfahrung. Literatursoziologische Untersuchungen. Hg. von Dietrich Sommer, Dietrich Löffler, Achim Walter und Eva Maria Scherf. Berlin - Weimar 1983, S. 15-23. Manfred Naumann: Bemerkungen zur Literaturrezeption als geschichtliches und gesellschaftliches Ereignis. In : Naumann : Blickpunkt Leser, S. 201. Die Zahl der auf der Laienbühne der Kommune gespielten Stücke war erstaunlich groß: u. a. Der Revisor von Gogol, Der Wald und Armut ist heia Laster von Ostrowski, Onkel Wanja von Tschechow, Nachtasyl von Gorki, Der Edelmann als Freier von Molière; von zeitgenössischen Autoren u. a. Stücke von Trenjow, Bill-Belozerkowski, Valentin Katajew. Vgl. Toporows eigene Darstellung, wie er jahrelang, auch schon vor der Revolution, an seiner Fähigkeit gearbeitet hat, literarische Texte in der Öffentlichkeit vorzulesen. In den zwanziger Jahren studierte er zu diesem Zweck Stanislawskis System. Vgl. auch den Hinweis, daß ihm ein Kritiker Ende der zwanziger Jahre öffentlich vorgeworfen hat, er habe „wie ein

Thun; Autor, Leset

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Schauspieler" gelesen und verstanden, eine gute Sache schlechter und eine schlechte besser zu machen. A. M. Toporov: O pervom opyte krest'janskoj kritiki chudozestvennych proizvedenij, S. 220—221. 302 Nicht zufällig sprach Gorki in diesem Zusammenhang von der „Stimme des Volkes" und verwandte die altrussische Form für „golos"-„glas". Siehe Anm. 267. 303 Vgl. „Liest man in einem Buch von ihm (Podjatschew — N. T.), so liest man nicht, sondern spricht ganz einfach wie mit einem lebenden Menschen." (65) — „Wenn man das Buch (Geschichte von den Tagen meines Lebens von Iwan Wolnow — N. T.) liest, so ist es, als tausche man mit dem Autor seine Meinung aus." (ebenda) 304 Bertolt Brecht: Über die Notwendigkeit von Kunst in unserer Zeit. In: Brecht: Schriften zur Literatur und Kunst, Bd. 1, S. 104. 305 Es handelt sich folglich um eine — im Vergleich zu der von Rita Schober beschriebenen — andere historische und gesellschaftliche Situation. Vgl. „Wenn allerdings im Literaturunterricht der Schule literarische Werke nur unter dem Aspekt vordergründiger politischer und ideologischer Utilität präsentiert werden — nach dem Motto 'Was 'lernt' uns das?' —, dem wird sich Literatur ebenfalls kaum in ihrer Spezifik erschließen." Rita Schober: Rezeption und Bewertung. In: Schober: Abbild. Sinnbild. Wertung, S. 262-263. 306 Diese von Brecht nicht auf die sozialistischen Literaturverhältnisse gemünzte Definition beschreibt sehr klar die Grundtendenz der Prozesse, die sich nach der siegreichen Revolution der Arbeiter- und Bauernmassen in den AutorLeser-Beziehungen durchsetzte. Bertolt Brecht: Der Dreigroschenprozeß. In: Brecht: Schriften zur Literatur und Kunst, Bd. 1, S. 180. 307 Vgl. u. a. folgende Rezensionen: M. B.: Rezension zu A. M. Toporow: „Krest'jane o pisateljach". Moskva — Leningrad 1930. In: Literatura i iskusstvo, 1/1930, S. 187—189; M. Bekker: Protiv toporovsciny. O knige „Krest'jane o pisateljach". In: Na literaturnom postu, 23—24/1930, S. 57—60; M. F. tumandrin: Ob izucenii citatelja i o chvostizme. In: Leningrad, 3/1930, S. 123—124; V. A. Krasil'nikov: Uspechi i osibki nuznogo opyta. (O knige A. M. Toporova „Krest'jane o pisateljach", Moskva — Leningrad 1930.) In: Zemlja sovetskaja, 10-11/1930, Sp. 355-358; G. Pavlov: Metodika „strozajsego bespristrastija". In: Sibirskie ogni, 7/1930, S. 106—114; L. M. Poljak: Rezension zu A. M. Toporov: „Krest'jane o pisateljach". Moskva — Leningrad 1930. In: Krasnaja nov', 8/1930, S. 186-187; I. V. Sergievskij: Pod nadeznym prikrytiem. In: Novyj mir, 11/1930, S. 195—199; Leserbrief, gezeichnet von P. Sonnina: „Bruski" i Toporov. In: Sibirskie ogni, 8/1930, S. 115—116. — Eine Ausnahme in dem allgemeinen Chor negativer Stimmen bildet eine kurze Besprechung in einer kleinen Zeitschrift aus Tula (M. Mosolov: Knigu, kotoruju nado znat'. In: Molot, 6—7/1930), die auf der dritten Umschlagseite der Zeitschrift placiert worden ist. 308 N. N. Janovskij: Adrian Toporov i ego kniga „Krest'jane o pisateljach", 194

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S. 131. — Janowski greift einige Formulierungen von Trunew (1929) wieder auf und spricht ebenfalls von den Veröffentlichungen Toporows als von einer bedeutenden „Erscheinung des literarischen Lebens". Ebenda. Vladimir Glotov: Ucitel', S. 10. — Die Narodowolzen waren Anhänger des anarchistischen Flügels der Volkstümler-Organisation Narodnaja wolja (Volksfreiheit). Die „Anwendung Baconscher Experimentalphilosophie auf die Kunst", von Martin Fontius als Methode definiert, „die Erscheinungen der Natur mit maximaler Ähnlichkeit künstlich hervorzubringen", verband Toporow mit dem ästhetischen Konzept Tschernyschewskis. Vgl. Martin Fontius: Das Ende einer Denkform. Zur Ablösung des Nachahmungsprinzips im 18. Jahrhundert. In: Literarische Widerspiegelung. Geschichtliche und theoretische Dimensionen eines Problems. Berlin — Weimar 1981, S. 229. Auf Spekulationen darüber, was Toporow tatsächlich zu jener Zeit gewußt und gedacht hat, läßt sich kein Beweismaterial aufbauen. Fakten liegen nicht vor, insbesondere nicht in bezug auf Tolstoi. Aber eine gewisse Ähnlichkeit im methodischen Ansatz der Arbeit mit dem Buch und im aufklärerischen Impuls ist unverkennbar. Vgl. die vom kommunikativen Aspekt aufschlußreiche Studie von Istschuk, vor allem das letzte Kapitel, „L. W. Tolstois Bauernleser" in: G. N. Iscuk: Lev Tolstoi. Dialog s citatelem. Moskva 1984, S. 141-178. A. W. Lunatscharski: Dialog über die Kunst. In: Lunatscharski: Vom Proletkult zum sozialistischen Realismus. Aufsätze zur Kunst der Zeit. Berlin 1981, S. 49. A. M. Toporov: Vopros ostaetsja otkrytym. (Po povodu kritiki moej knigi „Krest'jane o pisateljach".) In: Zemlja sovetskaja, 9/1932, S. 142—149. Golos rabocego citatelja. Sovremennaja sovetskaja chudozestvennaja literatura v svete massovoj rabocej kritiki. Leningrad 1929. Bertolt Brecht: Uber das Programm der Sowjetschriftsteller. In: Brecht: Schriften zur Literatur und Kunst, Bd. 2, S. 229. M. M. Zoscenko: Pis'ma k pisatelju. In: Zoscenko: Sobranie socinenij v sesti tomach. Bd. 6. Leningrad 1931, S. 1. — Da die Erstausgabe von 1929 nur schwer zugänglich ist, wird mit der von Sostschenko besorgten zweiten Fassung gearbeitet, die gegenüber der Erstfassung nur geringfügig verändert ist. Die Veränderungen sind im Kontext dieser Studie ohne Belang. Vgl. auch das Vorwort des Autors zu dieser zweiten Ausgabe vom Februar 1931 in: Ebenda, S. 6. Ebenda, S. 4. — Die vom Autor erfundenen Briefüberschriften lesen sich wie die Kapitelüberschriften eines Romans. Das ist vom Aufbau her der gleiche Buchtyp wie einige Sammlungen der Kurzgeschichten Sostschenkos aus den zwanziger Jahren. Den Begriff „Selbstbildnis des Lesers" entlehnt der Verfasser Olshas Sulejmenow: „Ich möchte unbedingt irgendwann einmal eine Sammlung, nein: ein Buch ausgewählter Briefe herausgeben, das Selbstbildnis meines Lesers." 195

O. O. Sulejmenov: My prichodim, ctoby dejstvovat'. In: Literaturnaja gazeta, 2. September 1981, S. 3. 319 Maxim Gorki an M. M. Sostschenko, 13. Oktober 1930; Maxim Gorki: Briefwechsel mit sowjetischen Schriftstellern. Hg. von Ilse Idzikowski. Berlin 1984, S. 431. 320 A. W. Gulyga: Der Verstand siegt. Nachwort. In: M. M. Sostschenko: Schlüssel des Glücks. Leipzig 1977, S. 318. 321 Das trifft u. a. auf den Briefwechsel mit Gorki zu. Ansonsten ist aus Sostschenkos Archiv bisher nur wenig publiziert worden. Die im Leningrader Institut für Russische Literatur (IRLI) aufbewahrten umfangreichen Archivmaterialien wurden bisher nur sehr allgemein beschrieben und nur vereinzelt ausgewertet. Vgl. M. I. Malova/N. T . Pancenko: Obzor istoriko-literaturnych archivnych materialnov XVIII—XX vv., postupivsich v RO IRLI (PD) za 1958—1961 g. In: Ezegodnik Rukopisnogo otdela Puskinskogo doma na 1969 g. Leningrad 1971, S. 93, 95, 99, 100. 322 M. M. Zoscenko: O sebe, o kritikach i o svoej rabote. In: Michail Zoscenko. Stat'i i materialy. Hg. von B. V. Kazanskij und Ju. N . Tynjanov. Leningrad 1928, S. 7. 323 M. M. Sostschenko an Maxim Gorki. 30. September 1930; Maxim Gorki: Briefwechsel mit sowjetischen Schriftstellern, S. 429. 324 Vgl. Puschkins Gedicht Das Vöglein, in: A. S. Puschkin, Gedichte, 2. Auflage, Berlin 1973, S. 182 (Gesammelte Werke in sechs Bänden. Hg. von Harald Raab). 325 Vgl. Majakowskis Notiz über einen Teenachmittag, den die Gesellschaft für deutsch-sowjetische Annäherung während seines kurzen Berliner Aufenthalts im Frühjahr 1927 veranstaltete: „Nur ein einziger Poet war dabei . . .Der Poet war ein ziemlich bejahrter Mann. Schenkte mir sein Buch mit Widmung. Ich schlug es aus Liebenswürdigkeit auf — und prallte zurück: die erste Gedichtzeile, die mir vor Augen kam. lautete: 'Die Vöglein singen' und so weiter in diesem Sinn. Ich schob das Buch unters Teetischtuch . . . "W. W. Majakowski: Folgenderweise ging meine Reise vonstatten. In: Majakowski, Bd. 4, Prosa, S. 203. 326 Ihr derzeit äußerst populärer mehrbändiger Roman Schlüssel des Glücks (1909—1913) war eine Art Courths-Mahler-Literatur in Rußland, deren Klischees Sostschenko in den zwanziger Jahren parodierte. 327 Vgl. V. V. Zoscenko: Tak nacinal M. Zoscenko. In: Michail Zoscenko v vospominanijach sovremennikov. Moskva 1981, S. 71ff. 328 Zit. nach: M. O. Cudakova: Poetika Michaila Zoscenko. Moskva 1979, S. 43. 329 Ebenda, S. 22, 23. - Vgl. Zum „Weg" auch: Nyota Thun: Puschkinbilder. Bulgakow, Tynjanow, Platonow, Sostschenko, Zwetajewa. Berlin — Weimar 1984, S. 154-186. 330 Ebenda, S. 64. 331 Vgl. ebenda, S. 42. 332 M. M. Sostschenko: Schlüssel des Glücks, S. 64.

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333 Ebenda, S. 79. 334 Vgl. „Man schreibt weiterhin so, als habe sich im Lande nichts ereignet." M. M. Zoscenko: Pis'ma k pisatelju, S. 60. — Ferner: „In unserer Literatur wird dem 'inneren Erleben' und der 'ideologischen Umgestaltung' des Intellektuellen viel zu viel Aufmerksamkeit geschenkt und viel zu wenig den 'inneren Erlebnissen' des neuen Menschen. Bis heute herrscht die Tradition der intellektuellen Literatur von einst vor, in der die psychologischen Erlebnisse des Intellektuellen den Hauptgegenstand der Kunst darstellen. Mit dieser Tradition muß gebrochen werden, denn man kann nicht so schreiben, als habe sich im Lande nichts ereignet." M. M. Zoscenko: Literatura dolzna byt' narodnoj.In: Zoscenko: 1935—1937. Rasskazy, povesti, fel'etony, teatr, kritika. Leningrad 1937, S. 394. — „Bei uns gibt es Dichter, die schreiben, als habe sich im Lande nichts ereignet. Sie setzen die Literatur fort, die vor der Revolution begonnen wurde. Dahinter verbirgt sich ein Fehler, und ein großes Unheil, denn die alte Sprächstruktur diktiert die alten Formen. Und in diesen alten Formen ist es äußerst schwer, das Leben von heute abzubilden. Darunter leidet der Dichter wie der Leser." Zit. nach: M. O. Cudakova: Poetika Michaila Zoscenko, S. 25. 335 Marietta Tschudakowa hat, soweit dies die gegenwärtige Materiallage zuläßt, diese Arbeit vom poetologischen Standpunkt bereits geleistet. Im Kontext dieser Arbeit geht es auch nicht vorrangig um die Verfahren und Mittel, sondern um eine genauere Bestimmung des Adressaten, der Sostschenkos Schreibweise beeinflußte. 336 M. M. Zoscenko: O sebe, ob ideologii i esce koe o cem. In: Serapionovy brat'ja o sebe. In: Literaturnye zapiski, 2. Abteilung, 3/1922, S. 28—29. Vgl. D. M. Moldavskij: Michail Zoscenko. Ocerk tvorcestva. Leningrad 1977, S. 2 9 - 3 1 . 337 Andrej Sobol': Kosnojazycnoe. In: Pisateli ob iskusstve i o sebe. Sbornik statej. Bd. 1. Moskva — Leningrad 1924, S. 99. 338 N . N . Nikitin: Vrednye mysli. In: Ebenda, S. 123. 339 Voprosy kul'tury pri diktature proletariata. Moskva — Leningrad 1925, S. 68. — „Poputtschiki", zu deutsch „Mitläufer", hat man in den zwanziger Jahren die Schriftsteller der bürgerlichen Intelligenz genannt. Dieses Wort wurde schließlich von sektiererischen Kräften mißbraucht und nahm gegen Ende der zwanziger Jahre fast den Charakter eines Schimpfwortes an. 340 A . N . T o l s t o i : Der Leser. Eine Art Vorwort. In: Tolstoi: Erzählungen 1942—1944. Uber Literatur, Autobiographisches. Hg. und mit einem Nachwort von Nyota Thun. Berlin — Weimar 1985, S. 75. 341 A. V. Lunacarskij: Marksizm i literatura. In: Krasnaja nov', 7/1923, S. 239. 342 Vgl. I. S. fiventov: Ob odnom dialoge s V. Majakovskim. In: Majakovskij v sovremennom mire. Stat'i, issledovanija, materialy i vospomimanija. Leningrad 1984, S. 195-200. 343 V. V. Majakovskij: Vystuplenie na dispute o sovetskom illjustrirovannom zurnale. 29 marta 1926 goda. In: Majakovskij, Bd. 12, S. 295-296. - Ge-

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meint ist die kleine Bibliothek, die von det Redaktion des Ogottjok herausgegeben wurde. W.W.Majakowski: „Die Arbeiter und Bauern verstehen Sie nicht". In: Majakowski, Bd. 1, Gedichte, S. 290. — Die Zeitschift Noay mir hatte zu jener Zeit im Vergleich zu allen anderen literarischen Zeitschriften die höchste Auflage erreicht. V. V. Majakovskij: Fabrikanty optimisty (Provincial'noe). In: Majakovskij, Bd. 8, S. 20. V. V. Majakovskij: Slusaj novoe. In: Majakovskij, Bd. 13, S. 169. — Vgl. die Erinnerungen von Pawel Lawut in: Michail Zoscenko v vospominanijach sovremennikov. Hg. von A. Smoljan und N. Jurgeneva. Moskva 1981, S. 201. I. S. ßventov: Ob odnom dialoge s V. Majakovskim, S. 200, 199. — Die von Gudrun Düwel gegebene Definition des Skas — die als mündliche Rede stilisierte Form personalen Erzählens — ist m. E. die im Deutschen genaueste Wiedergabe des in der sowjetischen Literaturwissenschaft und Kritik verbreiteten erzähltechnischen Begriffs — vgl. Gudrun Düwel, Rezension zu: M. O. Cudakova: Poetika Michaila Zoscenko, Moskva 1979. In: Referatedienst zur Literaturwissenschaft, 2/1981, S. 257. Vgl. I. S. Eventov: Ob odnom dialoge s V, Majakovskim, S. 196. — Det gesamte Text des erwähnten Leningrader Plakats ist abgedruckt in: V. V. Majakovskij: Daes' izjascnuju zizn'. In: Majakovskij, Bd. 13, S. 167. M. M. Zoscenko: Pis'ma k pisatelju, S. 2. V. B. Sklovskij: O Zoscenke i bol'soj literature. In: Michail Zoscenko. Stat'i i materialy, S. 15. M. F. Cumandrin: Cej pisatel' — Michail Zoscenko? Diskussion. In: Zvezda, 3/1930, S. 216. Michail Zoscenko. Stat'i i materialy: V . B . Sklovskij: O Zoscenke i bol'soj literature. S. 13-25; A. G. Barmin: Puti Zoscenki, S. 2 7 - 5 0 ; V. V. Vinogradov: Jazyk Zoscenki, S. 51—92. V. B. Sklovskij: O Zoscenke i bol'soj literature, S. 22. Ebenda, S. 25. Vgl. A. G. Barmin: Puti Zoscenki, S. 41. — Der Begriff „Autor" wurde an dieser Stelle nach Manfred Naumann in Anführungszeichen gesetzt, um die fiktive Person von der authentischen zu unterscheiden. Vgl. Gesellschaft. Literatur. Lesen, S. 52—53. M. M. Zoscenko: O sebe, o kritikach i o svoej rabote, S. 10. Ebenda, S. 11. M. M. Zoscenko: Pis'ma k pisatelju, S. 4. Ju. N . Tynjanow: Aus den Notizbüchern. In: Tynjanow: Der Affe und die Glocke, S. 66. M. M. Sostschenko: Der Flieder blüht. In: Sostschenko: Eine schreckliche Nacht. Erzählungen und Kurzgeschichten. Hg. und mit einem Nachwort von Karlheinz Kasper. Berlin 1981, S. 188-189.

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361 M. M. Sostschenko: Ein bäuerliches Naturtalent. In: Sostschenko: Die Reize der Kultur. Satiren. Hg. von Marlies Juhnke. Berlin — Weimar 1980, S. 45. 362 M. M. Zoscenko: Pis'ma k pisatelju, S. 16. 363 Ebenda, S. 63. 364 Ebenda, S. 89-90. 365 Ebenda, S. 29. 366 K. A. Fedin: Gorki unter uns. Bilder aus dem literarischen Leben. Berlin — Weimar 1982, S. 224. 367 M. M. Zoscenko : Osnovnye voprosy nasej professii. In: Zoscenko: 1935 bis 1937. Rasskazy, povesti, fel'etony, teatr, kritika, S. 379. 368 Vgl. M. M. Zoscenko: Pis'ma k pisatelju, S. 99—100. — Ferner die Vorworte zu den Sentimentalen Erzählungen, in: M. M. Sostschenko: Eine schreckliche Nacht, S. 99-103. 369 Vgl. M. M. Zoscenko: Pis'ma k pisatelju, S. 41-42, 43-45. 370 Ebenda, S. 25-26, 31, 104-107 und 114-117. 371 M. M. Zoscenko: O literaturnom iskusstve. In: Literaturnyj sovremennik, 3/1941, S. 124. 372 V.B. Sklovskij: Tret'jafabrika. Leningrad 1926, S. 99. 373 M. M. Zosöenko, Pis'ma k pisatelju, S. 10. 374 Ebenda, S. 12. 375 Ebenda, S. 68. 376 Ebenda, S. 76. 377 Solange die Originale der publizierten Briefe nicht zugänglich sind, können die von der Verfasserin geäußerten Zweifel nicht beseitigt werden. Es wird nicht generell angezweifelt, daß es sich um Originalbriefe handelt, die, wie der Schriftsteller betont, von ihm nur gekürzt und teilweise orthographisch bearbeitet wurden. Auffällig ist die mehrfache — von Sostschenko nur an einer Stelle angemerkte — Übereinstimmung zwischen Schreibweise und Stil der Briefautoren und der „naiven Philosophie" des „Autors" im Text der Sentimentalen Erzählungen wie in Michel Sinjagin. Daher hält die Verfasserin einige Eingriffe Sostschenkos in die Brieftexte nicht für ausgeschlossen, zumal Sostschenko die Mystifikation, wie wir aus vielen anderen Beispielen wissen, sehr liebte. 378 Vgl. I. A. Sac: Geroj Michaila Zoscenko. In: Literaturnyj kritik, 3/1938, S. 153-154. 379 M. M. Zoscenko: Pis'ma k pisatelju, S. 1. 380 Ebenda, S. 6. 381 Ebenda, S. 3. 382 Ebenda, S. 2. 383 M. M. Zoscenko : Iz perepiski s citateljami. In : Literaturnyj sovremennik, 3/1941, S. 127. 384 Birgit Mai: Satire und Psychologie. Michail Sostschenkos Schriftstellerbiographie. In: Weimarer Beiträge, 5/1984, S. 796.

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385 M. M. Zoscenko: Pis'ma k pisatelju, S. 36. 386 Ebenda, S. 147. 387 M. M. Sostschenko: Apollon und Tamara. In: Sostschenko: Eine schreckliche Nacht, S. 116. 388 Vgl. M. M. Zoscenko: Osnovnye voprosy nasej professii, S. 377. 389 Anna Seghers im Vorwort zum Roman Die Rettung. In: Anna Segheis: Über Kunstwerk und Wirklichkeit. II. Erlebnis und Gestaltung. Hg. von Sigrid Bock. Berlin 1971, S. 17. 390 M. M. Zoscenko, Pis'ma k pisatelju, S. 158. 391 M. F. Cumandrin: Cej pisatel' — Michail Zoscenko?, S. 214. 392 So lautete der Titel der 1930 erschienenen deutschen Ausgabe des Romans Fabrika Kable (1928). Eigentlich hätte es deutsch Konfitürenfabrik RabelaisWerk heißen müssen. — Tschumandrin ist im Sowjetisch-Finnischen Krieg am 4. Februar 1940 gefallen. 393 M. F. Cumandrin: Cej pisatel' — Michail Zoscenko?, S. 206. 394 Ebenda, S. 210. 395 M. M. Zoscenko: Pis'ma k pisatelju, S. 2. 396 M. F. Cumandrin: Cej pisatel' — Michail Zoscenko?, S. 211. 397 Ebenda, S. 219. 398 Ebenda, Diskussion, S. 2 1 6 - 2 1 7 . 399 Ebenda, S. 217. 400 L . Kagan: M. M. Zoscenko. I n : Literaturnaja énciklopedija. Bd. 4, Moskva 1930, Sp. 378. 401 E . Korobkova/L. Polljak: Pisatel' i citateF. I n : Na literaturnom postu, 5-6/1930, S. 100. 402 Ebenda, S. 101. 403 Ebenda, S. 103. 404 B. M. Éjchenbaum: Literatura i literaturnyj byt. I n : Na literaturnom postu, 9/1927, S. 52. 405 I. É . Babel' o svoem tvorcestve, o Nikolae Ostrovskom i D . A. Furmanove. I n : Vstreci s proslym. Vypusk 2. Sbornik neopublikovannych materialov Central'nogo Archiva literatury i iskusstva SSSR. Moskva 1975, S. 236. 406 M. M. Sostschenko: Schlüssel des Glücks, S. 70. 407 A. K. Voronskij: Pisatel', kniga, citatel'. Chudozestvennaja proza za isteksij god. In: Krasnaja nov', 1/1927, S. 239. 408 Vgl. K . I. Cukovskij: Iz vospominanij. I n : Michail Zoscenko v vospominanijach sovremennikov, S. 45—46. — Die Arbeit in der Redaktion Begemot datiert Sostschenko mit 1928. 409 V g l . M. M. Zoscenko, Pis'ma k pisatelju, S. 1 1 8 - 1 2 6 . 410 M. M. Sostschenko an Maxim Gorki, 30. September 1930; Maxim Gorki: Briefwechsel mit sowjetischen Schriftstellern, S. 428—429. 411 Auf die Frage, ob er bei der Suche nach einem Sujet Zeitungsmaterial verwende, antwortete Sostschenko: „Sehr oft. 30 bis 40 Prozent der Sujets meiner Kurzgeschichten sind Zeitungen entnommen, wenn nicht vollständig,

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so ging ich von einem Detail eines Sujets aus der Zeitung aus." M. M. ZoScenk o : Kak my pisem. In: Kak my piäem. Sammelband. Leningrad 1930, S. 56. 412 Ebenda, S. 57—58. — Der Fragespiegel, der den Antworten der Schriftsteller zugrunde lag, konzentrierte sich auf Fragen der „Technologie der literarischen Meisterschaft". Die Umfrage führte das „Kabinett für den jungen A u t o r " im Leningrader Haus der Presse 1929 bis 1930 durch. Ein Teil der Beiträge wurde in der Zeitschrift Uteraturnaja uceba vorabgedruckt. Eine spezielle Frage nach den Leserbeziehungen eines Autors gab es nicht. (Vgl. den Fragespiegel i n : Maxim Gorki: Über Literatur. Mit einem Vorwort von Boris Bjalik. Berlin — Weimar 1968, S. 256.) Außer Sostschenko ist nur noch Boris Lawrenjow gründlicher auf dieses Problem eingegangen. Weniamin Kawerin streifte es am Rande, aus einem polemischen, nicht konstruktiven Blickwinkel. 413 Vgl. Ankety o Puskine. M. M. Zoscenko. In: Literaturnyj sovremennik, 1/1937, S. 313. Deutsch in: Nyota Thun: Puschkinbilder, S. 154. 414 Der mit dem Titel Eine sachliche Kritik überschriebene Brief Moskauer Eisenbahner zeichnet sich durch ein erstaunliches Einfühlungsvermögen in die komplizierte parodistische Form Sostschenkos aus. Vgl. M. M. Zoscenko: Pis'ma k pisatelju, S. 36—39. 415 Vgl. „ A n dieser Stelle muß der A u t o r seinen L e s e r n eine Erklärung abgeben . . . Der V e r f a s s e r versichert den werten L e s e r n . . . Diese Schilderungen widersprechen sozusagen dem Geschmack des A u t o r s . . . werden aber der Wahrheit zuliebe nicht ausgelassen. Der Wahrheit zuliebe behält der V e r f a s s e r sogar die richtigen Namen der Helden bei. Der L e s e r möge also nicht glauben, der A u t o r hätte seinen Helden so seltene, ausgefallene Namen wie Tamara und Apollon gegeben . . ." M. M. Sostschenko: Apollon und Tamara. In: Sostschenko: Eine schreckliche Nacht, S. 110—111. 416 Birgit Mai: Satireund Psychologie, S. 800. 417 M. M. Zoscenko: Misel' Sinjagin. In: Zoscenko: Izbrannoe v dvuch tomach. Hg. von I. V. Isakowitsch und mit einem Vorwort von L . F. Jerschow. Bd. 1, Leningrad 1978, S. 468. — E s liegt die Vermutung nahe, daß Konstantin Simonow von dieser Textstelle (ob bewußt oder unbewußt, mag dahingestellt sein) angeregt wurde, als er drei Erzählungen über den Krieg unter dem Titel Das sogenannte Privatleben veröffentlichte. 418 419 420 421

M. M. Zoscenko: Pis'ma k pisatelju, S. 60. Vgl. S. 143. M. M. Zoscenko: Pis'ma k pisatelju, S. 5. Diese Bezeichnung verdankt der Verfasser Fritz Mierau. Fritz Mierau: Nachwort. In: M. M. Sostschenko: Das Himmelblaubuch.Berlin 1973, S. 433. 422 Vgl. „Ich glaube, die auf historischem Material beruhende Belletristik wird jetzt sehr bald vorbei sein, und es kommt die auf Theorie beruhende Belletristik. E s beginnt eine Zeit der Theorie." Ju. N . Tynjanov an V. B . Sklovskij, 31. März 1929. Iz perepiski Ju. TynjanovaiB. Ejchenbauma s V. Sklovskim. In: Voprosy literatury, 12/1984, S. 200. 423 M. M. Sostschenko: Das Himmelblaubuch, S. 6.

201

Personenregister

Agranowski, Abram Davidowitsch (Agrano vskij, A . D . ) 102 127 191 Aitmatow, Tschingis(Ajtmatov,C.) 167 Alexandrowski, Wassili Dmitrijewitsch (Aleksandrovskij, V. D.) 89 Altman, Nathan Issajewitsch (Al'tman, N. I.) 174 Anthes (Danthes), Georges-Charles d', Baron de Heeckeren 69 Apollinaire, Guillaume (d. i. Wilhelm Apolinaris de Kostrowitzki) 45 Archipenko, Alexander Porfirowitsch (Archipenko, A. P.) 76 Arwatow, Boris Ignatjewitsch (Arvatov, B. I.) 68 72 88 89 Arzybaschew, Michail Petrowitsch (Arcybasev, M. P.) 135 Assejew, Nikolai Nikolajewitsch (Aseev, N. N.) 68 9 7 - 9 9 184 Awerbach, Leopold Leonidowitsch (Averbach, L. L.) 68 184 Babel, Isaak Emmanuilowitsch (Babel', I. E.) 68 159 190 Bacon, Francis 126 195 Becher, Johannes R. (Robert) 190 Bedny, Demjan (Bednyj, D. — d. i. Efim Alekseevic Pridvorov) 94 186 Behrsing, Siegfried 177 Bek, Alexander Alfredowitsch (Bek, A. A.) 84 85 93 Belinski, Wissarion Grigorjewitsch (Belinskij, V. G.) 102

Bely, Andrej (Belyj, A. — d. i. Boris Nikolaevic Bugaev) 89 Benois, Alexander Nikolajewitsch (Benua, A. N.) 32 33 59 Bessalko, Pawel Karpowitsch (Bessal'ko, P. K.) 39 Bilezky, Oleksandr Iwanowytsch (Bilec'kyj, O. I.) 82 83 183 Bill-Belozerkowski, Wladimir Naumowitsch (Bill'-Belocerkovskij, V. N.) 120 193 Blinow, Je. S. (Blinov, E. S.) 119 Block, Alexander Alexandrowitsch (Blok, A. A.) 55 58 126 135 Bogdanow, Alexander Alexandrowitsch (Bogdanov, A. A. — d. i. Malinovski j) 82 173 Boguslawskaja, Ksenija Leonidowna (Boguslavskaja, K. L.) 60 Boucher, Alfred 174 Braque, Georges 41 76 Brecht, Bertolt 11 12 111 117 124 131 190 194 Brik, Lilja Jurjewna (Brik, L. Ju.) 28 35 171 173 180 Brik, Ossip Maximowitsch (Brik, O. M.) 19 3 2 - 3 4 68 84 98 182 Brjussow, Valeri Jakowlewitsch (Brjusov, V. Ja.) 89 171 Brodski, Isaak Israilewitsch (Brodskij, I. I.) 170 Bruant, Aristide 174

202

Bulgakow,

Afanasjewitsch

Eisler, Hanns

17

Ewentow,

Michail

(Bulgakov, M. A.) Bulgarin,

Faddej

Wenediktowitsch

(Bulgarin, F. V . )

11

Stanislawowitsch

(Eventov, I. S.) Exter,

Bunin, Iwan Alexejewitsch (Bunin, I. A.)

11 Isaak

140 141

Alexandra

Alexandrowna

(Ekster, A . A . )

22

12

Burljuk, David ljuk, D . D.) Burljuk,

Davidowitsch

(Bur-

Fadejew, Alexander

23 27 28 33 34 51

Wladimir

(Fadeev, A . A . )

Davidowitsch

(Burljuk, V. D.)

Fedin,

27

Burroughs, William

Konstantin

(Fedin, K . A.)

93 137

tov, P . A . )

25

Filonow, Pawel Nikolajewitsch (Filo-

26 45 175

nov, P. N.)

Chagall, Marc (Sacharowitsch) (Sagal,

Chardshijew,

24

Fontius, Martin Franz, Michael

40 174

Chapiro, Jacques

Fritsche,

40

Nikolai

(Chardziev, N. I.)

Alexandrowitsch 148

Fedotow, Pawel Andrejewitsch (Fedo-

Cendrars, Biaise (d. i. Sauser, Frédéric)

M. Z.)

Alexandrowitsch 113

195 192

Wladimir

(Frice, V. M.)

Iwanowitsch

Maximowitsch

74

22 24 170 171

176

Gastew, Alexej Kapitonowitsch (Ga-

Chlebnikow, Welimir (Viktor

Wladi-

mirowitsch) (Chlebnikov, V . ) 24 4 9 - 5 1

22

stev, A. K.) Gerassimow,

176

39 87 89 185 Michail

Courths-Mahler, Hedwig

196

Gladkow,

(Dejneka, A. A.) Delaunay, Robert

Wassiljewitsch 94

Alexandrowitsch

Gleizes, Albert

60

Glotow, W. (Glotov, V . )

52

Goffenschefer,

Delaunay-Terk, Sonia Iljinowna (Delaunay-Terk, S. I.)

26 45 175

41 191

Weniamin

Zesarje-

witsch (Goffensefer, V. C.)

125 191

Gogol, Nikolai Wassiljewitsch (Gogol',

Denikin, Anton Iwanowitsch (Denikin,

N. V.)

31 91 193

Goldberg, Isaak Grigorjewitsch (Gol'd-

53

Dostojewski,

39 89

Fjodor

(Gladkov, F. V.) Deineka, Alexander

A. I.)

Prokofjewitsch

(Gerasimov, M. P.)

Fjodor

(Dostoevskij, F. M.)

berg, I. G.)

Michailowitsch 147

186

Gontscharowa,

Duwakin, Viktor Dmitrijewitsch (Duvakin, V . D . )

24 54 55 61 179

Düwel, Gudrun

111 Natalja

(Goncarova, N. S.) Gorki, Maxim Aleksej

198

Sergejewna

22 23

(Gor'kij,

Maksimovic

M. — d. i. Peskov)

11

12 94 102 108 125 1 3 2 - 1 3 5 157 161 186 193 194 196

Ehrenburg, Ilja Grigorjewitsch (Èrenburg, I. G.) Eichenbaum,

23 52 141 174 Boris

(Éjchenbaum, B. M.) Eisenstein,

Sergej

(Èjzenstejn, S. M.)

Gulyga,

Arseni

Wladimirowitsch

(Gulyga, A. V.)

133

Michailowitsch

Hermlin, Stephan

190

107

Herzfelde, Wieland

Michaiiowitsch 11 159

203

27

Hugo, Victor

186

Huppert, Hugo

Kershenzew,

37 52 168 173

P. M.) Ibsen, Henrik Istschuk,

(Iscuk, G . N . ) Iwanow,

Nikolajewitsch

(Ivanov,

174

Wladimir

WjatscheslawoV. V.)

111-115

117 120 158 190 192

89

sanov, S. I.)

139

Kisling, Moise

174

Koltschak,

Alexander

(Kolcak, A. V.) Jakulow,

Georgi

(Jakulov, G. B.) Janowski,

Bogdanowitsch

Nikolai

Nikolajewitsch 125 191 195

Jauß, Hans Robert Jessenin,

Sergej

Jewdokimow,

Iwan

Nikolajewitsch

39 173

Kallinikow,

Krauss, Werner Krutschonych,

Jossif

Fjodorowitsch

9

Wassili

Wassiljewitsch

(Kamenskij, V . V.)

28 33 34 37 91

Wassili

(Kandinskij, V . V.) Kant, Hermann

Wassiljewitsch

Larionow,

142

Kassil, Lew

Fjodorowitsch

Lawrenjow,

Boris

22 23 170 171 Andrejewitsch

Lawut,

Pawel

201

Iljitsch (Lavut,

P. I.)

58 136 198 76 77 174

Lenin, Wladimir Iljitsch (Lenin, V . I. — 44 46 47 54 57 58

70 71 80 101 149

154

Kasanski, Boris Wassiljewitsch (Kazanskij, B. V.)

25

Michail

d. i. Uljanov)

22

Jelissejewitsch 19 28 170 184

Kusnezow, Pawel Warfolomejewitsch

Léger, Fernand

92 172 Kandinsky,

10

Alexej

(Lavrenev, B. A.)

97

Iwanowitsch 60

(Larionov, M. F.)

(Kallinikov, I. F.) Kamenski,

Wladimir

(Kuznecov, P. V.)

53

Alexejewitsch

24 25

(Krucenych, A. E . )

97

Kalinin, Fjodor Iwanowitsch (Kalinin, F. I.)

Petrowitsch 25

Konstantin

Krenzlin, Norbert

Wassiljewitsch

Nikolai

(Judenic, N . N . )

Pjotr

(Kozlinskij, V. I.)

97 139 190

(Evdokimov, I. V.) Judenitsch,

Korowin, Koslinski,

125

Alexandrowitsch

(Esenin, S. A.)

Kontschalowski,

(Korovin, K . A.)

9

Jeschin, Leonid (Esin, L.)

Wassiljewitsch

112 121 126

(Koncalovskij, P. P.)

25 168

(Janovskij, N . N.)

Timofejewitsch

(Kirillov, V. T.)

Kirsanow, Semjon Isaakowitsch (Kir-

195

Wsewolod

witsch

Kirillow,

9 10 192

Gennadi

Michailowitsch

18

Kikoine, Michel

40 174

Iser, Wolfgang

Piaton

(Kerzencev, P. M. — d. i. Lebedev,

Lentulow,

Aristarch

(Lentulov, A. V.) (Kassil',

Leonow, Leonid Maximowitsch (Leo-

Katajew, Valentin Petrowitsch (Kataev

Lermontow, Michail Jurjewitsch (Ler-

L. A.) V . P.) Katanjan,

Abramowitsch

Wassiljewitsch 25

nov, L. M.)

187 139 193 Wassili

(Katanjan, V . A.)

78 94 97 158

montov, M. Ju.) Abgaro witsch

nev, A. Z. - d. i. Gorelik, A . Z.) 74

33

Kawerin, Weniamin Alexandrowitsch (Kaverin, V. A. - d. i. Zil'ber)

186

Leshnew, Abram Sacharowitsch (Lez-

201

204

Libedinski, Juri Nikolajewitsch (Libedinskij, Ju. N.)

111 113 156

Lifschitz, Benedikt Konstantinowitsch (Livsic, B. K.) 33 Lissitzky, E l (Lisickij, É1' — d. i. Lisickij, L . M.) 27 54 62 67 76 176 Ljaschko, Nikolai Nikolajewitsch (Ljasko, N. N . — d. i. Ljascenko) 120 London, Jack (d. i. John Griffith London) 186 Lunatscharski, Anatoli Wassiljewitsch (Lunacarskij, A. V.) 13 14 1 7 - 2 2 24 25 27 29 32 33 3 6 - 4 9 65 6 8 - 7 5 77 78 80 108 121 138 170 173-175 Mach, Ernst 82 Majakowski, Wladimir Wladimirowitsch (Majakovskij, V. V.) 9 13 14 17-38 43 4 6 - 6 9 71-80 8 5 - 9 1 9 6 - 1 0 1 113 121 129 133-135 139-142 150 159 167-171 173 176-182 184-190 196 Maklezow, Sergej Nikolajewitsch (Maklecov, S. N.) 60 Malewitsch, Kasimir Sewerinowitsch (Malevic, K . S.) 22 Malinow, L. (Malinov, L.) 188 Maljutin, Sergej Wassiljewitsch (Maljutin, S. V.) 25 Mandelstam, Ossip Emiljewitsch (Mandel'stam, O. É.) 85 86 Marevna (d. i. Marija Vorob'eva-Stebel'skaja) 39 Maschkow, Ilja Iwanowitsch (Maskov, I I.) 23 Mestscherjakow, Nikolai Leonidowitsch (Mescerjakov, N. L.) 68 Metzinger, Jean 41 Meyerhold, Wsewolod Emiljewitsch (Mejerchol'd, V. É.) 19 21 48 139 168 Mierau, Fritz 91 201 Modigliani, Amedeo 174 Molière (d. i. Jean-Baptiste Poquelin) 193

Naumann, Manfred 9 198 Neustadt, Wladimir Iljitsch (Nejstadt, V . l . ) 37 Nikitin, Nikolai Nikolajewitsch 137 Olescha, Juri Karlowitsch (Olesa, Ju. K.) 108 139 190 Ostrowski, Alexander Nikolajewitsch (Ostrovskij, A. N.) 69 193 Panfjorow, Fjodor Iwanowitsch (Panfero v, F. I.) 128 190 Pasternak, Boris Leonidowitsch (Pasternak, B. L.) 26 29 30 68 184 190 Perewersew, Walerjan Fjodorowitsch (Pereverzev, V. F.) 90 Permitin, Jefim Nikolajewitsch (Permitin, E . N.) 102 Perzow, Viktor Ossipowitsch (Percov, V. O.) 86 8 8 - 9 0 98 184 185 Petrow, Pjotr Polikarpowitsch (Petrov, P. P.) 113-115 Picabia, Francis 41 Picasso, Pablo (d. i. Ruiz y Picasso) 41 77 78 Pilnjak, Boris Andrejewitsch (Pil'njak, B. A. — d. i. Vogau) 74 Platen-Hallermünde, August, Graf von 91 Platonow, Andrej (Platonov, A. — d. i. Andrej Platonovic Klimentov) 78-80 Podjatschew, Semjon Pawlowitsch (Pod-jacev, S. P.) 102 194 Polistschuk-Selwinski, Walerian Lwowitsch (Poliscuk-Zel'vins'kyj, V. L.) 74 Polonski, Wjatscheslaw Pawlowitsch (Polonskij, V. P. - d. i. Gusin) 63 84 98 187 Prischwin, Michail Michailowitsch (Prisvin, M. M.) 17 Puni, Iwan Albertowitsch (Pougny, Jean) 60

205

Punin, Nikolai Nikolajewitsch (Punin, N. N.) Puschkin,

Selinski, Korneli Ljuzianowitsch (Zelinskij, K . L.)

33 Alexander

(Puskin, A. S.)

Sergejewitsch

11 25 64 65 69 85

117 122 123 130 131 162 183 186 191

witsch (Serafimovic, Popov) Serow,

193 196

188

Serafimowitsch, Alexander

111 113 115 158 186 Valentin

(Serov, V. A.) Rembrandt Rijn)

(d. i. R . Harmensz

van

100

170 Saint-Amant)

Fjodorowitsch

d. i. Sechtel')

Shukow,

Ripchin, Jean

Issaakowna

91 92

Konstantin

Michailowitsch

(d. i. Kirill)

(Simonov,

K . M.)

201

68

Rodtschenko,

Nikolajewitsch 174

Jewgenija

Simonow,

174

Rodow, Semjon Abramowitsch (Rodov, S . A . )

Shurbina,

(Zegin,

27

Nikolai

(Zurbina, E . I.)

175

Alexandrowitsch 25 170

(Zukov, N. N.)

Rictus, Jehan (d. i. Gabriel Randon de

Alexander

Michailo-

witsch (Rodcenko, A. M.)

28 67

180 Rubakin,

Shegin, Lew L. F. -

Repin, Ilja Jefimowitsch (Repin, I. E . )

Serafimo-

A. S. — d. i.

Sinclair, Upton Beall Sobol,

186

Andrej (Sobol',

A.

Julij Michajlovic Sobol') Nikolai

Alexandrowitsch

(Rubakin, N. A.)

Sostschenko, Michail (Zoscenko,

81 82 102 183

M. M.)

— d. i. 137

Michailowitsch 12 13 15

16

94 1 3 2 - 1 3 7 1 3 9 - 1 6 5 167 1 9 5 - 1 9 7 Sasubrin,

Wladimir

(Zazubrin,

Jakowlewitsch

V . Ja. — d. i. Zubcov)

102 111 113 114 119 125 127 192 Saz, Igor Alexandrowitsch (Sac, I. A.) 151 japin, F. I.)

25

Soutine, Chaim

Wladimirowna 135

174

175

Schischkow,

34 36 37

berg, D . P.) Städtke, Klaus

Wjatscheslaw

witsch (Siskov, V . Ja.) Schklowski,

kij, S. D . )

Sterenberg, David Petrowitsch (Steren-

Schapirstein (d. i. Jakov Efimovic El's-

Viktor

(Sklovskij, V . B . )

Jakowle50 192

Schlenstedt, Dieter Schober, Rita

(Stanislavskij, K . S. — d. i. Alekseev) 193 Stenitsch, (Stenic,

(Sej-

78 117 120 141 186

206



Ossipowitsch d. i. Smetanic)

Stanislaw

Gustawowitsch

(Strumilin, S. G . — d. i. StrumilloPetraskevic)

153 200 Nikolajewna

Valentin V. O.

142 156 157 Strumilin,

113

Seg hers, Anna (d. i. Netty Radvanyi,

fullina, L. N . )

(Sta189

Stanislawski, Konstantin Sergejewitsch

Scholochow, Michail Alexandrowitsch

Lidija

d. i. Dzugasvili)

Borissowitsch

9 110 191 194

geb. Reiling)

8

11 23 24 27 57 10 11 182

(Solochov, M. A.)

40 173

Stalin, Jossif Wissarionowitsch lin, I. V. -

98 141 142 149 150 188

Sejfullina,

Vera

(Zoscenko, V . V.)

Spasski, Sergej Dmitrijewitsch (Spass-

Schaljapin, Fjodor Iwanowitsch (Sal-

berg)

199-201 Sostschenko,

Sulejmenow,

87 88 95 185 Olshas

(Sulejmenov, O. O.)

Omarowitsch 195

Tairow, Alexander Jakowlewitsch (Tairov, A. Ja. — d. i. Kornblit) 84 Tatlin, Wladimir Jewgrafowitsch (Tatlin, V. E.) 77 Thoß, A. E. 179 Tichonow, Nikolai Semjonowitsch (Tichonov, N. S.) 157 Tolstoi, Alexej Konstantinowitsch (Tolstoj, A. K.) 94 Tolstoi, Alexej Nikolajewitsch (Tolstoj, A. N.) 94 113 138 Tolstoi, Lew Nikolajewitsch (Tolstoj, L. N.) 11 31 86 94 100 126 186 188 195 Toporow, Adrian Mitrofanowitsch (Toporov, A. M.) 15 96 102-111 114 115 118-120 122-131 154 190-193 195 Trenjow, Konstantin Andrejewitsch (Trenev, K. A.) 120 193 Tretjakow, Sergej Michailowitsch (Tret'jakov, S. M.) 68 71 98 186 Trunew, Nikolai (Trunev, N. V.) 117 125 195 Tschapygin, Alexej Pawlowitsch (Capygin, A. P.) 158 Tschechow, Anton Pawlowitsch (Cechov, A. P.) 186 193 Tschekrygin, Wassili Nikolajewitsch (Cekrygin, V. N.) 27 Tscheremnych, Michail Michailowitsch (Ceremnych, M. M.) 59 60 Tschernyschewski, Nikolai Gawrilowitsch (Cernysevskij, N. G.) 11 126 195 Tschudakowa, Marietta Omarowna (Cudakova, M. O.) 135 197 Tschukowski, Kornej Iwanowitsch (Cukovskij, K. I. — d. i. Nikolaj Vasil'evic Kornejcukov) 161 Tschumandrin, Michail Fjodorowitsch

(Cumandrin, M. F.) 154-157 160 163 164 200 Tschushak, Nikolai Fjodorowitsch (Cuzak, N. F. — d. i. Nasimovic) 68 69 88 98 180 Turgenjew, Iwan Sergejewitsch (Turgenev, I. S.) 186 Twardowski, Alexander Trifonowitsch (Tvardovskij, A. T.) 12 13 Tynjanow, Juri Nikolajewitsch (Tynjanov, Ju. N.) 11 12 43 50 51 81 85 142 145 176 Verhaeren, Emile

19 48 168

Wardin, Illarion Wissarionowitsch (Vardin, I. V. - d. i. Mgeladze) 138 Weinert, Erich 190 Weiss, Peter 10 Werbizkaja, Anastassija Alexejewna (Verbickaja, A. A.) 135 Weressajew, Wikenti Wikentjewitsch (Veresaev, V. V. — d. i. Smidovic) 102 125 Werestschagin, Wassili Wassiljewitsch (Verescagin, V. V.) 24 31 Wesjoly, Artjom (Veselyi, Artem — d. i. N. I. Kockurov) 158 Wilbert, Gerd 167 176 Winokur, Grigori Ossipowitsch (Vinokur, G. O.) 79 Wolnow, Iwan Jegorowitsch (Vol'nov, I. E. - d. i. Vladimirov) 194 Woronski, Alexander Konstantinowitsch (Yoronskij, A. K.) 84 90 160 Zadkine, Ossip 174 Zwetajewa, Marina Iwanowna (Cvetaeva, M. I.) 79

(Zusammenstellung des Registers: Cornelia Thamke)