Kommunikation und Kooperation [Reprint 2010 ed.] 9783111357713, 9783484301894

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German Pages 266 [268] Year 1987

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Table of contents :
Vorwort
Kooperation und Eigennutz
Kooperation und sprachliches Handeln
Kommunizieren als Übersetzungsproblem. Über Mißverständnisse und deren Verhinderung
Handeln ohne Zweck Zur Definition linguistischer Handlungsbegriffe
Kooperation, Bedeutung, Rationalität
Sprachhandeln ohne Kooperation? Über den "kooperativen" Balanceakt beim Manipulieren
Ausdruck und Übernahme von Einstellungen
Der Sprechakt als kooperative Anstrengung Adolf Reinachs Phänomenologie der "sozialen Akte", Kritik an der Sprechakttheorie und ein hörerseitiges Schlußfolgerungsmodell
Reziprozität als Grundlage kooperativen Handelns in Kontaktsituationen zwischen deutschen und französischen Sprechern
Sachregister
Personenregister
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Kommunikation und Kooperation [Reprint 2010 ed.]
 9783111357713, 9783484301894

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Linguistische Arbeiten

189

Herausgegeben von Hans Altmann, Herbert E. Brekle, Hans Jürgen Heringer, Christian Rohrer, Heinz Vater und Otmar Werner

Kommunikation und Kooperation Herausgegeben von Frank Liedtke und Rudi Keller

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1987

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Kommunikation und Kooperation / hrsg. von Frank Liedtke u. Rudi Keller. - Tübingen : Niemeyer, 1987. (Linguistische Arbeiten ; 189) NE: Liedtke, Frank [Hrsg.]; GT ISBN 3-484-30189-9

ISSN 0344-6727

© Max Niemeyer Verlag Tübingen 1987 Alle Rechte vorbehalten. Ohne Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus photomechanisch zu vervielfältigen. Printed in Germany. Druck: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt.

INHALT

Vorwort Rudi Keller Kooperation und Eigennutz

VII l

Konrad Ehlich Kooperation und sprachliches Handeln

17

Klaus Mudersbach Kommunizieren als Übersetzungsproblem. Über Mißverständnisse und deren Verhinderung

35

Fritz Hermanns

Handeln ohne Zweck Zur Definition linguistischer Handlungsbegriffe

71

Frank Liedtke Kooperation, Bedeutung, Rationalität

107

Werner Holly Sprachhandeln ohne Kooperation? Über den "kooperativen" Balanceakt beim Manipulieren

137

Gabriel Falkenberg Ausdruck und Übernahme von Einstellungen

159

Armin Burkhardt Der Sprechakt als kooperative Anstrengung Adolf Reinachs Phänomenologie der "sozialen Akte", Kritik an der Sprechakttheorie und ein hörerseitiges Schlußfolgerungsmodell

183

Günter Schmale Reziprozität als Grundlage kooperativen Handelns in Kontaktsituationen zwischen deutschen und französischen Sprechern

217

VI

Inhalt

Sachregister

244

Personenregister

253

VII

VORWORT

Sowohl in der Handlungstheorie, als auch in der handlungstheoretisch orientierten Sprachtheorie steht üblicherweise das Handeln des Einzelnen im Zentrum der Betrachtung. Es werden etwa Bedingungen formuliert, unter denen eine Aktivität überhaupt als Handlung gilt, unter denen die Handlung eines Individuums als gelungen oder erfolgreich angesehen werden kann, und so fort. Ein Zweiter spielt bei solcherart Überlegungen nur bisweilen und nur peripher eine Rolle. Beispielsweise ist die gesamte sprechakttheoretische Terminologie auf das Handeln von Individuen hin ausgelegt. Nun gibt es aber offensichtlich "Dinge", die ein Einzelner gar nicht tun kann; und zwar nicht nur aus kontingenten Gründen nicht, sondern aus logischen. Dazu gehören etwa sich im Kreise aufstellen oder sich prügeln . Sich ein Denn sich

im Kreise aufstellen ist kein Name einer Handlung, sondern Name für eine Vielzahl miteinander koordinierter Handlungen. wenn sich fünf Leute im Kreise aufstellen, kann keiner von sagen, e_r stelle sich im Kreise a u f .

Wie steht es mit dem Kommunizieren? Wenn A zu B spricht, in einer Sprache, die B nicht versteht, so würde man, was A tut, nicht kommunizieren nennen wollen. Und wenn A zu B spricht, in einer Sprache, die B zwar in der Lage ist zu verstehen, B aber nicht zuhört und mit seinen Gedanken ganz woanders ist, so würden wir A's Tun ebenfalls nicht kommunizieren nennen. Wir würden sagen, daß A versucht, mit B zu kommunizieren. Kommunizieren scheint somit zu jenen "Dingen" zu gehören, die aus logischen Gründen ein Einzelner nicht tun kann. Zum Kommunizieren braucht man (mindestens) einen Zweiten; und zwar nicht nur als "Adressaten", so wie man etwa zum Ohrfeigen einen Zweiten braucht. Der Zweite muß auch mitmachen. Das heißt nicht, daß er mitreden muß! Das mindeste, was der Zweite tun muß, ist, A seine Aufmerksamkeit zuwenden. Er muß zuhören. Kommunizieren scheint somit, wie sich im Kreise aufstellen nicht ein Name einer Handlung zu sein, sondern ein Name von mindestens zwei aufeinander bezogenen Handlungen von mindestens zwei Indivi-

VIII

Vorwort

duen (wenn wir den komplizierten Fall des Selbstgesprächs hier außer Acht lassen). Eine A r t , wie zwei Handlungen aufeinander bezogen sein können, stellt das Kooperieren dar. Der klärenden Diskussion des Begriffs der Kooperation und der Rolle des Kooperierens in der Kommunikation dienen die Beiträge dieses Bandes, die allesamt auf Vorträgen basieren, die im Rahmen der 8. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Sprachwissenschaft (DGfS) an der Universität Heidelberg (26. - 28. Februar 1986) gehalten wurden. Rudi Keller faßt in seinem Beitrag Kooperativität als Eigenschaft einer Handlungsstruktur a u f . Er definiert sprachliche wie nichtsprachliche Kooperation mithilfe des Begriffs der Zielinterdependenz. Zielinterdependenz liegt in einer Situation dann vor, wenn eine Person ihr Handlungsziel nur - oder mit geringeren Kosten erreicht -, wenn auch eine andere Person ihr Handlungsziel erreicht. Konrad Ehlich unterscheidet in seinem Aufsatz drei Typen von Kooperation: materielle Kooperation im Produktionsprozeß, materiale Kooperation als Form des Zusammenwirkens zur Realisierung eines gemeinsamen Zwecks und formale Kooperation als Handeln mehrerer Aktanten, das nicht unbedingt über einen gemeinsamen Zweck definiert wird. Klaus Mudersbach sieht Kommunikation als eine kooperative Übersetzungstätigkeit an, wobei Übersetzung als Zuordnung eines sprecherspezifischen Systems zu einem hörerspezifischen System aufgefaßt wird. Weisen die hinter den Äußerungen stehenden Systeme die gleiche Struktur a u f , dann kann man von Verstehen sprechen. Fritz Hermanns kritisiert die in der Sprechakttheorie gängige Rede von dem Zweck einer Handlung und schlägt vor, Handlungen jeweils strukturierte Bündel von Zwecken zuzuordnen, aber auch: zweckfreies Handeln theoretisch zu berücksichtigen. Frank Liedtke stellt eine Verbindung her zwischen generellen Rationalitätsannahmen, die für Kooperation im Gespräch gelten, und der Frage nach der Bedeutung sprachlicher Äußerungen. Er macht sich dabei die Erkenntnis zu nutze, daß Annahmen über die Rationalität einer Handlung bei ihrer Interpretation von Nutzen sein können. Werner Holly versucht, eine Klärung des Kooperationsbegriffs durch seine Anwendung auf politische Kommunikation zu erreichen. An Beispielen sprachlicher Manipulation legt er die Auffassung dar, daß

Vorwort

IX

es auch Typen nicht-kooperativen Sprachgebrauchs gibt. Gabriel Falkenberq untersucht Korrelationen von illokutionären Grundmodi von Sprechakttypen und Bewußtseinsinhalten von Sprechern. Kooperation charakterisiert er als Beziehung zwischen der Sprechhandlung eines Sprechers und dem Tun des Adressaten, wobei letzteres auch die Bildung von propositionalen Einstellungen umfaßt. Armin Burkhardt beschäftigt sich im ersten Teil seines Beitrags mit Adolf Reinach, in dem er einen Vorläufer der Sprechakttheorie sieht. Im zweiten Teil entwickelt er seine Position, nach der der Handlungswert einer Äußerung erst in der Interpretation durch einen Hörer re-konstruiert wird. Günter Schmale macht am Beispiel deutsch-französischer Kontaktsituationen deutlich, daß in diesen Fällen intensive kooperative Bemühungen von den Interaktanten erwartet werden. Er geht bei der Untersuchung dieser speziellen Kontaktsituationen von der Annahme aus, daß ein bestimmtes Maß an Kooperativität und Reziprozität Bedingung der Möglichkeit von Kommunikation ist. Zu dem für die Theorie der Kommunikation so wichtigen Begriff der Kooperation gibt es erstaunlicherweise recht wenig einschlägige Literatur. Die Autoren dieses Bandes konnten nicht auf einem allgemein akzeptierten Kooperationsbegriff aufbauen. An linguistischen Arbeiten, in denen der Kooperationsbegriff eine größere Rolle spielt, sind zu nennen: Allwood, Jens, 1976. Linguistic Communication in Action and Cooperation. Göteborg. (Gothemburg Monographs in Linguistics 2). Hancher, Michael, 1979. The classification of tionary acts. Language in Society 8. 1-14.

cooperative illocu-

Rehbein, Jochen, 1977. Komplexes Handeln. Stuttgart. (Kap. 3: "Kooperation"). Fiehler, Reinhardt, 1980. Kommunikation und Kooperation. Berlin. Den Herausgebern der Linguistischen Arbeiten sowie dem Verlag Max Niemeyer sei sehr herzlich dafür gedankt, daß dieses Buch in dieser Reihe erscheinen konnte.

Vorwort

Ganz besonderer Dank gilt Martina Denk und Michael Theisen, die das Manuskript in einem heldenhaften Kampf mit dem Großrechner der Universität Düsseldorf in die vorliegende Fassung gebracht haben. Ohne die langmütige Unterstützung durch die Mitarbeiter des Rechenzentrums wäre dieser Kampf verloren gewesen. Rudi Keller

Frank Liedtke

Rudi Keller

Kooperation und

Eigennutz

KOOPERATION UND EIGENNUTZ

1. Grice hat die Tatsache, daß von allen an einem Gespräch Beteiligten erwartet wird, daß der jeweilige Sprecher seinen Beitrag dem unterstellten Gesprächsablauf adäquat leistet, mit "dem Etikett Kooperationsprinzip versehen". (Grice 1975/1979, 248) Er hat nicht dazu gesagt, was dieses Wort bedeuten möge und damit einen Beitrag zur Dissensbildung geleistet. So sind etwa Henne und Rehbock der Meinung, "daß in faktischen Gesprächen immer nur Grade des kooperativen Prinzips gegenseitig akzeptiert und aktualisiert" werden (Henne/Rehbock 1979, 2 3 ) ; Braunroth, Seyfert u.a. halten das Gricesche Kooperationsprinzip offenbar für vollständig idealisierend. Nach ihrer Ansicht "nimmt (Grice) ein kommunikatives Verhalten an, das praktisch Herrschaftsfreiheit voraussetzen würde". "Da aber antagonistische Interessenwidersprüche" bestünden, könne das Gricesche "Kooperationsprinzip nur innerhalb der Klassen sinnvoll angenommen werden" (Braunroth, Seyfert u . a . 1975, 184 f . ) . Ich kann diese Ansichten nicht teilen, und neige dazu, das Kooperationsprinzip allgemeiner zu interpretieren und ihm einen prinzipielleren Rang in der Kommunikation beizumessen. Da ich mich nicht mit der Griceschen Theorie im besonderen, sondern mit der Frage der Kooperativität des Kommunizierens im allgemeinen befassen möchte, will ich diesem Dissens zunächst nicht weiter nachgehen. Auf jeden Fall müssen wir, wenn wir uns dem Problem der Kooperativität des Kommunizierens zuwenden wollen, zwei Fragen auseinanderhalten. Die Frage ob Kommunikation per se kooperativ ist, ist verschieden von der Frage,ob zwei Gesprächspartner in einem bestimmten Diskurs kooperativ kommunizieren. Kommunikation als Kooperation ist zu unterscheiden von der Kooperation in der Kommunikation. Beide Fragen sollen Gegenstand dieses Beitrags sein.

2. Eine Diskussion dieser Fragen setzt eine Klärung des Begriffs der Kooperation voraus. Ich will deshalb zunächst den Koopera-

R. Keller

tionsbegriff diskutieren. Auch wenn es mir nicht gelingt, ihn zu klären, so sollte die Diskussion zumindest einen reflektierteren und differenzierten Gebrauch des Wortes "Kooperation"zur Folge haben. Versetzen wir uns für einen Augenblick in folgende Situation: Ich arbeite in einem Team und bin daran interessiert beruflich weiterzukommen; das gilt auch für meine Teamkollegen. Wir alle wissen, daß unser Chef auf Teamgeist schwört und an seinen Untergebenen nichts so sehr schätzt, wie Kooperativität. Wenn einer von uns befördert wird, so wird es vermutlich der Kooperativste von uns sein. Jeder wird versuchen, die anderen an Kooperativität zu übertrumpfen. Liegt hier ein Fall von Kooperation vor? Müssen wir echte Kooperation von unechter Kooperation unterscheiden? Wie verhält sich Kooperation zu Kompetition?

3. Wir nennen in unserer Umgangssprache einen Menschen kooperativ, der hilfreich ist, der "da" ist, wenn man ihn braucht; einen Menschen, der in der Lage ist eigene Interessen zurückzustellen zugunsten partnerbezogener oder gemeinsamer Interessen. In diesem Sinne schreibt etwa Helen Bloch Lewis: "In truly co-operative work, personal needs can function only if they are relevant to the objective situation; the common objective, in other words, is more important than any personal objective." (Lewis 1944, 115) Mir scheint dieser Ansatz unangemessen restriktiv zu sein und auf einer Verwechslung von Begriffen zu beruhen, die man auseinanderhalten sollte. Jemand der kooperativ im oben genannten Sinne ist, mag uneigennützig und hilfreich sein. Die Frage jedoch, ob es sich bei Handlungen von zwei (oder mehr) Personen um einen Fall von Kooperation handelt, muß unabhängig von allgemeinen Verhaltensdispositionen oder Charaktereigenschaften der beteiligten Personen gesehen werden. Hilfreiche Menschen werden vermutlich häufiger und mit mehr Freude an kooperativen Situationen beteiligt sein, als etwa selbstsüchtige. Kooperativ (im oben genannten Sinne) zu sein ist jedoch keine Bedingung d a f ü r , kooperieren zu können.

Kooperation u. Eigennutz

Ich glaube, daß wir drei Dinge unterscheiden sollten, auch wenn sie in unserem alltaglichen Leben eng miteinander verwoben sind: Wir sollten die Struktur eines Handlunqsqefüqes unterscheiden von der Beziehungsstruktur der beteiligten Personen, und beides sollten wir unterscheiden von Verhaltensdispositionen (Charaktereigenschaften) der beteiligten Personen. Zwei Personen können so k o n k u r r e n z l i c h sein wie sie wollen, ihre Beziehung zueinander mag von Rivalität gekennzeichnet sein, so kann dennoch die S t r u k t u r ihrer Handlungen in einer gegebenen Situation kooperativ sein. Ich will der größeren Klarheit halber folgende Stipulation vornehmen: 1. 2. 3.

terminologische

Kooperation und Kompetition seien Namen für Handlungsstrukturen. Solidarität und R i v a l i t ä t seien Namen für Beziehungsstrukturen. Hilfreich und k o n k u r r e n z l i c h seien Namen für Verhaltensdispositionen.

Wir können Konkurrenzlichkeit und Rivalität samt ihrer Gegenbeg r i f f e als generelle b z w . auf eine bestimmte Person bezogene Präferenzhierarchie auffassen. Betrachten wir folgende "Erfolgs"-Tafel: In Bezug auf zwei Personen A und B und der Erreichung eines Handlungsziels gibt es vier Möglichkeiten: A

1 2 3 4

erreicht erreicht erreicht erreicht

B

sein Ziel es nicht sein Ziel es nicht

erreicht erreicht erreicht erreicht

sein Ziel sein Ziel es nicht es nicht

Wir können sagen: A ist konkurrenzlich , wenn er im allgemeinen, bezogen auf einen beliebigen B, tendenziell der Präferenzhierarchie 3 > (l > 4) > 2 zuneigt (wobei wir ihm zugestehen können,

cf. Mead 1937, 17, wo sie 'competition' von ' r i v a l r y ' und 'co-operation' von 'helpfulness' unterscheidet. Sie ist Nozicks Tafel nachempfunden. (Nozick 1976, 219 f.)

R. Keller

daß er bezüglich l und 4 keine Präferenz zu haben braucht). ("Ich will mein Ziel erreichen, und wenn ich es schon nicht erreiche, dann ist es mir lieber, es erreicht gar keiner.") A ist hilfreich , wenn er, im allgemeinen, bezogen auf einen beliebigen B, tendenziell der Präferenzhierarchie l > (2 > 3) > 4 zuneigt (wobei ihm, je nachdem, wieviel Altruismus wir dieser Tugend beimessen wollen, 2 lieber sein kann als 3, oder er bezüglich 2 und 3 keine Präferenz zu haben braucht). Für die Begriffe Rivalität und Solidarität gilt das gleiche mit dem Unterschied, daß die Präferenzen nicht allgemein gelten sollen, sondern auf eine bestimmte Person hin und eventuell auf eine bestimmte Situation bezogen. Es mag ja sein, daß ein bißchen zuviel Egoismus bzw. Altruismus in die Begriffe hineindefiniert worden ist, doch das ließe sich unschwer beheben. Es kommt mir hier mehr darauf an, den prinzipiellen Unterschied zur Kooperation und zur Kompetition aufzuzeigen. Die Frage, ob in einer gegebenen Situation ein Fall von Kooperation vorliegt, ist weit mehr von Eigenschaften der Situation selbst abhängig als von den Eigenschaften der Personen oder deren Beziehungen. Nur deshalb läßt sich überhaupt bezüglich der Kommunikation die Frage der Kooperativität in genereller Form sinnvoll stellen. Bevor ich mich nun endlich dem Begriff der Kooperation selbst zuwende, will ich zwei Formen sogenannter Kooperation aus der Betrachtung ausschließen: die automatische, d . h . nicht intentionale Kooperation (etwa Symbiosen im Pflanzen- und Tierreich) und die direktive, d . h . die von den Handelnden selbst unbemerkte Kooperation. (So haben etwa bei der Entwicklung der ersten Atombombe Tausende von Menschen "kooperiert" ohne dies und ohne voneinander zu wissen, ( c f . Nisbet in Sills 1968, 385)

4. Eine weit verbreitete Ansicht darüber, was Kooperation und was Kompetition ist, hat Margret Mead auf eine knappe Formel gebracht: "Competition: the act of seeking or endeavoring to gain what another is endeavoring to gain at the same time. Cooperation: the act of working together to one end." (Mead 1937, 8)

Kooperation u. Eigennutz

So einleuchtend diese Definitionen auf den ersten Blick sind, so unangemessen sind sie auf den zweiten: Wenn ich versuche etwas zu bekommen, was ein anderer zur gleichen Zeit zu bekommen versucht, so befinden wir uns natürlich nur dann in einer kompetitiven Situation, wenn das erstrebte Gut in relevanter Hinsicht knapp ist. Meads Bedingung der Kompetition ist also zumindest nicht hinreichend; ob sie notwendig ist, werden wir noch prüfen. Wie steht es mit ihrer Definition der Kooperation? Hier ist der Nachweis der Unangemessenheit etwas aufwendiger. Die Bedingung scheint (bei gutwilliger Interpretation) hinreichend zu sein. Das läßt sie so einleuchtend erscheinen. Aber sie ist nicht notwendig. Das Problem liegt in der Bedingung der Zielidentität (wenn es erlaubt ist "to one end" in diesem Sinne zu interpretieren). Es ist eine verbreitete Theorie, daß kooperatives Handeln Zielidentität voraussetze. (Auch Grice scheint eine solche Kooperationstheorie im Auge gehabt zu haben, als er das Verpflichtetsein auf eine gemeinsame Gesprächsrichtung 'Kooperationsprinzip' taufte.) Das Modell des gemeinsamen Hochhebens einer Kiste, die für jeden einzelnen zu schwer ist, mag dafür Pate gestanden haben. Und dies ist in der Tat ein prominentes Modell der Kooperation. Es gibt jedoch einen anderen Typus von Kooperation, der für die Kommunikation eventuell einschlägiger ist. Ich will ihn erläutern am Beispiel der Sexualität. Man verrät nichts Neues, wenn man sagt, daß zwischen Sexualität und Kommunikation Ähnlichkeiten bestehen. Aber worin bestehen sie? Es waren - glaube ich - Masters und Johnson , die das Spiel wechselseitiger sexueller Erregung ein "getting-by-giving" genannt haben. Damit ist die Struktur dieser Form der Kooperation treffend erfaßt: Sie stimuliert ihn und findet seine Erregung erregend. Er stimuliert sie und findet ihre Erregung erregend. Jeder hat das

vgl. auch Nisbets Definition: "Cooperation is joint or collaborative behavior that is directed toward some goal in which there is common interest or hope of reward." (in Sills 1968, V o l . 3, 384) Siehe etwa Nagels Aufsatz "Sexual Perversions", wo versucht wird, den Griceschen Begriff des Meinens für die Klärung sexueller Perversionen nutzbar zu machen. (Den Literaturhinweis verdanke ich Michael F r a n z . )

R. Keller

Ziel, die eigene Lust zu steigern, und der Weg besteht darin, die Lust des anderen zu erhöhen. Jeder hat sein Ziel. Ein gemeinsames Ziel gibt es nicht (wenn man von trivialen Formulierungen absieht.) Jeder kann sein Ziel nur erreichen, wenn der andere sein Ziel erreicht. In dem Maße, in dem der eine sein Ziel erreicht, ermöglicht er das Erreichen des Ziels des anderen, wobei altruistische Motive nicht nur nicht notwendig, sondern in gewissem Maße unerwünscht b z w . störend sind. (Die Bemerkung "Liebling, ich tu das alles nur für Dich" könnte verheerend sein.) Wir haben es hier mit einem Fall von Kooperation mit Zielinterdependenz zu tun. "Kooperation beinhaltet die Zielinterdependenz von Personen" schreibt Tries (1984, 5.83). Zielidentität ist nur ein Sonderfall davon. Wir haben es hier zugleich mit einer sinnfälligen Exemplifikation des Humeschen Gedankens zu tun, daß es das menschliche Streben nach Eigennutz ist, das der Kooperation zugrunde liegt. Hume stellt (wie nach ihm Herder) in seiner "Abhandlung über die menschliche Natur" fest, daß der Mensch ein Mängelwesen ist, insofern bei ihm eine Asymmetrie zwischen seinen "Begierden" und seinen "Mitteln der Befriedigung" zu verzeichnen ist. "Nur in dem Menschen findet sich die unnatürliche Verbindung von Schwäche und Bedürfnis in vollstem Maße ausgeprägt." (Hume 1739/1973, 228) Kooperation ist eines der Mittel, diesen Nachteil auszugleichen "ja sogar eine Überlegenheit ( z u ) gewinnen". Allerdings gibt es, denkt Hume, "keine Neigung des menschlichen Geistes", die "zugleich genügende Kraft ( h a t ) , um der Gewinnsucht das Gleichgewicht zu halten". "Wohlwollen gegen Fremde ist zu schwach für diesen Zweck". (Hume 1739/1973, 235) Nur die eigennützige Neigung selbst, sei dazu fähig "die eigennützige Neigung im Zaum zu halten". "Denn offenbar wird dieser Affekt durch seine Einschränkung weit besser befriedigt, als solange er frei ist." ( Hume 1739/1973, 236)

Zielformulierungen mit indexikalischen Ausdrücken sehen bisweilen auf den ersten Blick wie die Formulierung eines gemeinsamen Ziels aus.

Kooperation u . Eigennutz

Dieses Motiv findet sich in unseren modernen Kooperationstheorien in modifizierter Form wieder. Es ist definitorisches Merkmal der Kooperation, daß Kooperation eine höhere Gesamtbelohnung erbringen soll als entsprechende nicht-kooperierende Handlungen. Ich will nun Definitionsvorschläge für Kooperation und Konipetition vorstellen und dann zum Abschluß einige prototypische Fälle von Kommunikationssituationen auf ihre Kooperativität hin prüfen.

5. Eine kooperative Situation für zwei Personen A und B liegt v o r , gdw.: entweder radikale Zielinterdependenz besteht, d . h . A sein Ziel nur erreichen kann, wenn B sein Ziel erreicht, und vice versa, oder bedingte Zielinterdependenz besteht, d.h. A sein Ziel nur mit höheren Kosten erreichen kann, wenn B sein Ziel nicht erreicht, und vice versa. Zwei Personen A und B kooperieren genau dann, wenn sie ihre Handlungen zueinander in Bezug setzen in der Absicht,einen höheren Gesamtgewinn zu erzielen als sie erreichen würden, wenn sie ihre Ziele einzeln zu erreichen versuchten. Eine gdw:

kompetitive Situation für zwei Personen A und B liegt v o r ,

die Ziele oder die Ressourcen, die zur Zielerreichung benötigt werden dergestalt sind, daß -

entweder das Erreichen des Ziels durch A es B unmöglich macht sein Ziel zu erreichen, und vice versa, oder die Erreichung des Ziels, bzw. die Minderung der Kosten der Erreichung des Ziels durch A eine Erhöhung der Kosten der Erreichung des Ziels durch B (tendenziell) zur Folge hat, und vice versa.

Zwei Personen A und B verhalten sich kompetitiv genau dann, wenn sie ihre Handlungen so zueinander in Bezug setzen, daß der Gewinn von A den Gewinn von B (tendenziell) mindert oder ausschließt, und vice versa. Die Definitionen machen einen prinzipiellen Unterschied zwischen sehen Kooperation und Kompetition deutlich: man kooperiert auf

10

R. Keller

Ziele hin , aber man ist kompetitiv in Bezug auf knappe Güter . Weder die Kooperation noch die (Competition setzen gemeinsame Ziele voraus. Aber die Kompetition setzt mindestens das gemeinsame Begehren der gleichen (Menge knapper) Güter voraus.

6. Ich werde mich nun einigen exemplarischen und paradigmatischen Kommunikationssituationen zuwenden, um die Frage ihrer Kooperativität zu diskutieren. 1. Situation A und B besprechen lösen.

ein Problem mit der gemeinsamen Absicht es zu

Dies ist der problemlose idyllische Fall. Ein gemeinsames Ziel liegt vor. Es besteht (vermutlich) bedingte Zielinterdependenz. Jeder könnte das Ziel auch alleine erreichen, aber der Lösungsversuch zu zweit verspricht für beide Gewinn. Er kann bestehen in der Lösungsgeschwindigkeit, der Lösungsqualität, der größeren Kurzweil, etc. 2. Situation A und B streiten sich. Jeder ist darauf aus, recht zu behalten.

Recht-behalten-wollen stellt, wenn die beiden Positionen sich wechselseitig ausschließen ein Nullsummenspiel dar, ein Höchstmaß an Kompetitivität. Recht-behalten-wollen setzt einen gemeinsamen Streitgegenstand voraus. Wer vom Thema abweicht, wird zurückgep f i f f e n . Denn Recht-behalten-wollen erfordert Themenkonstanz. Wer Recht behalten will, muß erstens bereit sein zu streiten und zweitens jemanden finden, der recht behalten will und bereit ist zu streiten. A und B kooperieren im Dienste der Kompetition. Ein gemeinsames Ziel liegt nicht vor, aber die Ziele entsprechen sich dergestalt, daß beide Streitpartner gezwungen sind aufeinander und auf den gemeinsamen Streitpunkt bezug zu nehmen. Nicht A ' s und B's Versuch recht zu behalten stellt die Kooperation dar, sondern das Aufeinander-Bezug-nehmen und das Beim- Themableiben. Die Belohnung besteht im Erhalt einer Chance recht zu behalten. Wer sich der Kooperation entzöge, würde sich der Möglichkeit begeben, recht zu behalten. In der Möglichkeit liegt der Gewinn der Kooperation.

Kooperation u. Eigennutz

11

Der Fall liegt anders als etwa beim Schachspielen. Beim Spiel bringt der Reiz des spielerischen Wettstreits mehr Belohnung als Verlieren Kosten verursacht, so daß ein Gewinn bleibt. Deshalb bereut ein Schachspieler nach einer verlorenen Partie gewöhnlich nicht, gespielt zu haben, während man nach einem verlorenen Streit durchaus bereuen kann, gestritten zu haben. 3.Situation A und B beschimpfen sich ( u n f l ä t i g ) . Wechselseitige Beschimpfung besteht im wesentlichen im Austausch von (eventuell eskalierenden) Beleidigungen. Wenn sich A und B der Beschimpfung durch den jeweils anderen leicht entziehen können, stellt das Zuhören und Replizieren mit den jeweils situationsadäquaten Mitteln einen Fall von Kooperation dar. "Es bringt einem Belohnung, wenn man jemandem weh tun kann, der einem selbst weh tut", schreibt Homans (1968/74, 48). Das Streben nach der Belohnung, die die Beleidigung des Beleidigers darstellt, macht Kooperation notwendig und Eskalation wahrscheinlich. Im Gegensatz zur 2. Situation können in dieser Situation beide einen Gewinn erzielen. Dies ist dann der Fall, wenn für jeden die Kosten, die das Beleidigt-werden darstellen, niedriger sind, als die Belohnung, die das Beleidigen des Beleidigers erzeugt. Bisher haben wir gesehen, daß auch Kommunikationstypen, bei denen die Kommunikationsparner nicht darauf aus sind, dem jeweiligen Partner Gutes zu t u n , in ihrem Kern Kooperation erforderlich machen. Sich streiten, sich beschimpfen, sich beleidigen etc. sind Kooperationen im Dienste der Kompetition b z w . im Dienste der Verletzung, ähnlich einem Duell mit der Waffe. Wenn wir die Frage stellen, ob Kommunikation prinzipiell kooperativ ist, müssen wir den Gesprächsbeginn betrachten. 4. Situation Der Gesprächsbeginn mit einem Fremden auf der Straße. A: "Entschuldigen Sie bitte."

12

R. Keller

Da zur Kooperation mindestens zwei gehören, kann der Gesprächsbeginn nicht unter die Definition von Kooperation fallen. Aber er trägt Züge der Kooperation. Der Gesprächsbeginner wählt die sprachlichen Mittel, die er für adressaten- und situationsadäquat hält; d . h . die Mittel, von denen er glaubt, daß sie dem Adressaten erlauben, mit ihm zu kooperieren. Er eröffnet eine Kooperationsleerstelle. Die Gesprächseröffnung ist eine Einladung zur Kooperation. Die Kooperation ist in vollem Gange, sobald der Adressat aktiv zuhört. Kooperationsverweigerung besteht im nicht reagieren, im "stehen lassen". Einfache Äußerungen kann man nicht nicht verstehen, wenn man nur die Sprache beherrscht. Man versteht sie, sobald man sie hört. Der Sprecher nutzt in diesem Fall die Tatsache, daß der Adressat hört , um ihn dazu zu bringen, daß er zuhört . Der Adressat kooperiert dadurch, daß er zuhört. Er signalisiert, ob er diesen Beitrag leistet oder nicht. Die Kosten für diesen Beitrag sind seine Zeit und die ihm eventuell entgehenden Alternativhandlungen. Worin besteht die zu erwartende Belohnung? Das ist schwer generell zu sagen, aber versetzen Sie sich in die Situation, von jemandem angesprochen zu werden: von einem Touristen, von einer hübschen jungen Dame bzw. einem hübschen jungen Herrn, einem besoffenen Stadtstreicher, von einem Ministerpräsidenten, von einem kleinen Kind, etc. Die erwartete Belohnung kann bestehen im erwarteten Dank, im Prestigegewinn, in der Befriedigung von Neugier, im Gefühl etwas Gutes getan zu haben, im Reiz des Neuen, etc. In solchen Situationen kommt für den Angesprochenen auch zum Tragen, daß er als Sprachteilhaber Partizipient an einem mehrzügigen Spiel ist. Wir wissen aus Untersuchungen zum Gefangenendilemma, daß wir u n s , wenn wir glauben, mehrmals in eine solche Situation kommen zu können, tendenziell anders verhalten, als wenn wir glauben, vor einer einmaligen Entscheidung zu stehen. (In einer Kneipe, in die ich vermutlich nie mehr kommen werde, habe ich ein anderes "Trinkgeldverhalten" als in einer, die ich häufig besuche.) In einem mehrzügigen Spiel werde ich eher bereit sein, Kosten, die die zu erwartende Belohnung übersteigen in Kauf zu nehmen, und dies gleichsam als Vorauszahlung für die Situation, in der ich der Ansprechende sein werde, zu betrachten.

Kooperation u. Eigennutz

13

7. Fassen wir zusammen:

(1) Kommunikation ist in ihrem Wesen kooperativ. Zielidentität liegt nicht vor, aber Zielinterdependenz. Die Kündigung der Kooperation besteht in der Beendigung der Kommunikation: Das Auflegen des Hörers ist ein Beispiel dafür. (2) Die Kooperation, die das Kommunizieren prinzipiell darstellt, kann wiederum im Dienste kooperativer oder auch kompetitiver Bemühungen stehen, und so fort. Bei der Kooperation in der Kommunikation ist Zielidentität möglich. (3) Da Kommunizieren ein Mixed-motive-game ist, können kooperative und kompetitive Situationen nicht nur auf hierarchisch verschiedenen Stufen der Betrachtung alternieren, sondern auch auf ein und derselben Stufe gleichzeitig auftreten. Wir können in einem Gespräch darin kooperieren, daß wir uns um die Lösung eines gemeinsamen Problems gemeinsam bemühen und darum wetteifern, wer die besten Ideen dazu beiträgt. (4) Man stelle sich folgenden Wortwechsel vor: A: Kommen Sie morgen? B: 1:0 für Borussia. Hat B mit A kommuniziert aber nicht mit ihm kooperiert, oder er nicht mit ihm kommuniziert? Ich neige dazu, anzunehmen, wir, wenn wir ihm Geistesgestörtheit absprechen wollen und nicht unterstellen wollen, eine Implikatur erzeugen zu wollen, gen sollten, er habe nicht kommuniziert.

hat daß ihm sa-

Literatur Bloch Lewis, H . , 1944. An Experimental Study of the Role of Ego in Work. Vol. I: The Role of Ego in co-operative Work. 3. Exp. Psychlo. 34. 113-127 Braunroth, M . , G. Seyfert, K. Siegel, F. Vahle, 1975. Ansätze und Aufgaben der linguistischen Pragmatik. Frankfurt/Main. Deutsch, M . , 1949. A Theory of Co-operation and Competition. Human Relations 2.129-152.

14

R. Keller

Grice, H. P., 1975/1979. Logic and Conversation. Syntax and Semantics, Vol. 3, hg. von P. Cole, J. Morgan. 41-58. New York, San Francisco. ( D t . : Logik und Konversation. Handlung, Kommunikation, Bedeutung, hg. von G. Meggle. 243-265. F r a n k f u r t / M a i n . ) Henne, H . , H. Rehbock. 1979. Einführung Berlin, New York

in

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1739/1973.

Verhal-

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Nozick, R . , 1976. Anarchie, Staat, Utopie. München. Tries, J., 1984. Bedingungen kooperativen Handelns: eine Meta-Analyse. Diss. Universität Düsseldorf.

Konrad Ehlich

Kooperation

und sprachliches Handeln

19

KOOPERATION UNO SPRACHLICHES HANDELN*

1 Metaphorisierungen in der Wissenschaft 2 Arbeit, Kooperation und Sprache 3 Alltagssprachliche Übertragungen und das "cooperative principle" 4 'Materielle', 'materiale' und 'formale Kooperation' 5 Methodologische Konsequenzen formaler Kooperation beim sprachlichen Handeln

l

Metaphorisierungen in der Wissenschaft

'Kooperation' ist ein Ausdruck, der - wie so viele - in sehr unterschiedlichen Weisen verwendet wird. Der Ausdruck hat seinen Ort zunächst in der alltäglichen Sprache, er ist kein wissenschaftlich- terminologisches Kunstwort. Gleichwohl ist er ein Stichwort, das sich in der Sprachanalyse wie in der Handlungsanalyse eines gewissen Interesses, ja einer gewissen Konjunktur erfreut. Gerade junge Disziplinen und Forschungsrichtungen sind verstärkt angewiesen darauf, für ihr Nachdenken auf die alltägliche Sprache zurückzugreifen und ihre Ausdrücke in Anspruch zu nehmen, um ihre analytische Tätigkeit auszuüben und um die Ergebnisse dieser Tätigkeit niederzulegen. Die Inanspruchnahme alltäglicher Ausdrücke hat dabei ein eigenartiges Doppelgesicht: der R ü c k g r i f f auf das Bekannte ist eine Hilfe für die analytische Verständigung; er ist zugleich aber auch eine Gefahr für sie. Der Umschlag von der Hilfe zur Gefährdung des analytischen Bemühens ist oft nur schwer zu bemerken. Die Hilfe besteht darin, daß der Rückbezug auf das alltagssprachlich Bekannte Verständigung über die neuen Sachverhalte erleichtert, ja zum Teil erst ermöglicht. Die Gefahr ist doppelt: (a) die alltäglich bekannten Ausdrücke können die Verstehensbemühung um die Sache von dieser wegführen auf etwas, was im alltägli* Vortrag, gehalten auf der 8.Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Sprachwissenschaft (DGfS) an der Universität Heidelberg, 26.-28. Februar 1986

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chen Ausdruck an Bedeutung niedergelegt ist, gehört;

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aber nicht zur Sache

(b) sie können Verständigung als Einsicht dort suggerieren, wo die Analyse noch gar nicht geleistet ist. Die Inanspruchnahme der alltäglichen Ausdrücke ist nur schwer zu rekonstruieren. Dies scheint umso mehr dann der Fall zu sein, wenn auch das Objekt der Analyse mit Sprache zu tun hat, also etwa bei der Theorie der Literatur, und nochmals verstärkt bei der Sprachtheorie und der Theorie des sprachlichen Handelns. Rückbezug auf das Bekannte und handlungspräsuppositive Inanspruchnahme von Bekanntem als Erkenntnisgewinn durch das Auffinden eines glücklichen Ausdrucks in der alltäglichen Sprache gehen hier schnell ein nur noch schwer auflösbares Amalgam mit dem Vorantreiben der Sachanalyse ein. Die Konkretion dieser Prozesse ist sicher komplex. Eine spezifische Verfahrensweise, die dabei eine Rolle spielt, ist der Prozeß der Metaphorisierung. Dieser ist bisher mit viel Scharfsinn für die Literatur und die rhetorische Praxis untersucht worden. Viel weniger Aufmerksamkeit hingegen haben Metaphernbildung und Metaphern- Einsatz in der wissenschaftlichen Sprache gefunden. Vielleicht am ehesten ist dies geschehen in der Tradition einer bestimmten Sprachkritik, die von Bacon über die englische Tradition und die Aufklärung hin zu bestimmten positivistischen Konzeptionen reicht. Diese Tradition beschränkt sich allerdings meist auf ein mit dem Pathos des Entlarvens auftretendes "ideologie"-kritisches Interesse, das der Komplexität des Problems nicht gerecht wird, das in den Metaphorisierungen resultiert. Sicher gibt es zahlreiche Fälle, in denen Metaphern in trügerischer, ja betrügerischer Absicht, sozusagen als Falschgeld der wissenschaftlichen Kommunikation, eingesetzt worden sind. Aber das eigentliche Problem liegt ja gerade darin, daß auch die Metaphern häufig unaufgebbares Verständigungsmittel sind, das eben auch in glücklicher Weise Aspekte der Sache treffen kann, wie etwa das besonders frappante und bekannte Beispiel des Benzolrings zeigt. Wie in einem Brennglas werden die Probleme, von denen ich eben gesprochen habe, gebündelt in einem Phänomen, das ich "minimale Metaphern" nennen möchte. Damit meine ich semantische Übertragungen innerhalb semantisch unmittelbar benachbarter Bereiche. Das Problem verdichtet sich hier nun dadurch, daß die Prozesse der Metaphorisierung bis zur Unerkennbarkeit undeutlich werden, so daß

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die Doppelgesichtigkeit der Inanspruchnahme von alltäglichen Ausdrücken sich erheblich verschärft. Solche minimalen Metaphorisierungen liegen etwa bei einer Reihe überkommener grammatischer Kategorien v o r , die vom Gebiet der Philosophie auf das der Sprachanalyse übertragen worden sind - etwa der Ausdruck ' S u b j e k t ' : das hypokeimenon, das 'subjectum', suggeriert in der Übertragung einer philosophisch- ontologischen Interpretation ein Verständnis der sprachlichen Erscheinungen, das zunächst sehr leicht einsehbar scheint, wenn die entsprechende philosophische Analyse geteilt wird (der Aspekt der "Hilfe"), das aber je länger je mehr die linguistische Untersuchung behinderte (der Aspekt der Gefährdung), weil die Übertragung begrifflicher Gehalte als semantischer Kennzeichen dermaßen vor die Sachverhalte selbst getreten war, daß es den Analytikern kaum möglich wurde, sich aus dieser Umklammerung noch zu lösen b z w . , dies nur mit Gewaltstreichen wie dem "psychologischen Subjekt" zu tun . Die minimale Metapher überformt dann die Vorstellungen von der Sache derart, daß sie als sie selbst gar nicht mehr zu Gesicht gerät. Beispiele für diese Prozesse bietet nun gerade die jüngere Sprach- und Handlungstheorie in recht reichlichem Maß. Eins ist etwa das 'aushandeln' , das Dieckmann und Paul (1983) einer genaueren Untersuchung unterzogen haben. Ihre Darstellung, wie dieser Ausdruck in die Linguistik Eingang gefunden hat, verstehe ich als einen konkreten Beitrag zur Rekonstruktion der minimalen Metaphorisierung. Gerade dann, wenn ein für die Analyse noch relativ neues Gebiet untersucht wird, ist der Bedarf an Metaphern offenbar relativ groß, und die kritische Bilanzierung und Reinigung einer wissenschaftlichen Sprache, d . h . ihre Überprüfung nach Kriterien, die auf die jeweilige Sache bezogen und ihrerseits an ihr entwickelt sind, gehört anscheinend mit zur Konsolidierung der Erkenntnisse. Der erhöhte Bedarf an Metaphern entspricht dabei einem sehr wichtigen Bedürfnis der jeweiligen Analytikergemeinschaft, nämlich dem nach Plausibilisierung. Im Extremfall werden die Metaphern zu Erkennungszeichen einer Schule und damit zu Marken der Vergewisserung für die Gruppe als Kommunikationsgemeinschaft. Die Plausibilität von Metaphern ermöglicht - im sachlich glücklichen Fall einen sprunghaften Zugewinn an Erkenntnis, der die mühsamen Einzelschritte der Ableitung und die Erarbeitung der inneren Verbindungsglieder von Erkenntnissen über die jeweilige Sache erspart. Im unglücklichen Fall hingegen tritt jene stillschweigende Ersetzung ein, die oben bereits benannt war. Indem man sich über die Metapher einigt, verabschiedet man sich dann - geradezu eo ipsovon der Sache. Die Bemühung der Metapher geschieht dann o f t , um sich einer Gemeinsamkeit im Verdikt über die Sache zu vergewissern, d . h . die Metapher dient der Immunisierung. Indem man sich

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auf die Metapher beruft, ruft man die gemeinsame Gewißheit a u f , die dann als eine Art Mauer gegen die Infragestellungen dient , die von der Sache her ausgehen. Hier wird nun die Plausibilität leicht zu einem Konsensus gegen die Wahrheit. Die Prozesse, von denen ich eben gesprochen habe, lassen sich an relativ glücklosen Wissenschaften wie der Literaturwissenschaft vergleichsweise deutlich ausmachen. Doch betreffen sie offenbar alle Wissenschaften, und die sichere Distanz, aus der heraus man sie in anderen betrachten mag, weicht sehr schnell der Betroffenheit ( u n d den Getroffenheiten), sobald wir uns kritisch auf die eigene Disziplin einlassen.

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Arbeit, Kooperation und Sprache

Nun, mir scheint, daß der Ausdruck 'Kooperation* in den oben beschriebenen Zusammenhang gehört. Er ist eine solch glanzlose, aber doch offenbar sehr lohnende Metapher, deren Gebrauch Nutzen verspricht. Sie gehört in das Wortfeld von 'Arbeit'. Der Ausdruck 'Kooperation' hat es etymologisch und systematisch zunächst mit Arbeit zu tun. Auch "Arbeit" wird gegenwärtig in Anspruch genommen etwa von der Psychoanalyse und der Psychotherapie: "Trauerarbeit", "Imagearbeit", "Seelenarbeit". Der Weg geht von der Hand über den Kopf zu den Gefühlen; es ist in dieser Expansionsgeschichte nicht erstaunlich, daß auch das Sprechen als Arbeit verstanden wird. Dabei hat dieser Gebrauch seinen tatsächlichen Ansatz in einer Reihe von Gemeinsamkeiten, die alltägliche Arbeit mit Sprachlichem verbinden. Sie bieten oft Anlaß, statt die Analyse von Sprache und Sprechen konkret zu betreiben, analoghaft die Erkenntnisse über die Arbeit auf Sprache zu übertragen. Eine erste Verwendung von "Kooperation" bezieht sich auf die reale Kooperation im Zusammenhang von Arbeitsprozessen. Diese ist in der politischen Ökonomie und ihrer Kritik ausführlich behandelt worden. Kooperation spielt bei der Entfaltung der materiellen Produktion eine erhebliche Rolle. Sie ist in bestimmten Phasen der gesellschaftlichen Entwicklung zur Voraussetzung für qualitativ neue Formen des Arbeitsprozesses geworden, insbesondere in der Manufaktur und in deren Überwindung durch die große Industrie (s. Marx 1972 Bd. I, Kapitel 11 und öfter). Aufgrund der Teilung von Hand- und Kopfarbeit ist selbstverständlich auch für die Kopfarbeit Kooperation in einer spezifischen

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Form zu erwarten. Anders als bei der Handarbeit, ist bei der geistigen Arbeit die Kooperation in unmittelbarer Weise eine Integration von synchronen und diachronen Aspekten. "... alle wissenschaftliche Arbeit ..." ist "allgemeine Arbeit". "Sie ist bedingt teils durch Kooperation mit Lebenden, teils durch Benutzung der Arbeiten Früherer." Demgegenüber "unterstellt" die "gemeinschaftliche Arbeit" "die unmittelbare Kooperation der Individuen" (Marx 1972 Bd. I I I , 113 f . ) . Innerhalb der Kooperation im Produktionsprozeß und für ihre Realisierung spielt die Sprache eine wichtige Rolle. Dazu sind in den vergangenen Jahren verschiedene Analysen entstanden, besonders Rehbein (1977, Kapitel 3 ) , Brünner (1978), Fiehler (1980). Insofern Sprache diese eigene Rolle spielt, kann von sprachlich vermittelter oder von sprachlicher Kooperation sinnvoll gesprochen werden, wie es in diesen Arbeiten getan wird.

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Alltagssprachliche Übertragungen und das "cooperative ple"

princi-

Der Ausdruck 'Kooperation* wird in der alltäglichen Sprache aber auch jenseits von Arbeitszusammenhängen übertragen gebraucht. Er bezieht sich dann auf eine Gemeinsamkeit des Handelns verschiedener Aktanten (vgl. Keller (1987)). Diese übertragene Verwendungsweise von 'Kooperation' im Sinne der "Ko-aktion" ist auch von Linguisten in Anspruch genommen worden, so von Rehbein (1977) in einer zweiten Verwendung, die er von dem Ausdruck macht. Er unterscheidet zwischen der Unterstelltheit der Aktanten unter denselben gesellschaftlichen Zweck und der Unterstelltheit unter gegensätzliche Zwecke. Für beide Fälle gibt es jeweils spezifische Handlungsmuster; in der Untersuchung des "Komplexen Handelns" beschränkt Rehbein sich auf die Untersuchung der "kooperative(n) Handlungsmuster" (103). Als Oberbegriff verwendet er den Ausdruck des "gesellschaftlichen Zusammenwirkens von Aktanten". Der Kampf als Form dieses Zusammenwirkens bleibt hingegen explizit unberücksichtigt. Dieser Sinn von "Kooperation" liegt auch der Verwendung des Ausdrucks bei H. Paul Grice (1975) zugrunde. Grice spricht bekanntlich von einem "COOPERATIVE PRINCIPLE" (45). Mit dieser Formulierung hat er der Kooperation einen grundsätzlichen Stellenwert zugewiesen. Fraglich ist aber, wofür diese Zuweisung gilt. Hier ist der Beitrag zu "Logic and Conversation" ausgesprochen vage und unpräzise. Die folgenden Ausdrücke werden - mehr oder minder als quid pro quo - von Grice in seinem Artikel gebraucht:

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(a) (a') (b) (b') (c) (c') (d) (e)

conversation casual conversation discourse realm of discourse talk talk exchange type of exchange transaction

Neben der casual conversation wird weiterhin quarreling und letter writing angeführt. Der Geltungsbereich des Kooperationsprinzips bleibt insofern undeutlich. Daß hier ein zentrales Problem seiner Auffassung vorliegt, macht Grice nicht zuletzt in den zahlreichen relativierenden Bemerkungen deutlich, mit denen er seine Aussagen modalisiert. Was er am Beispiel der "conversation" oder - etwas weiter - des "talk" erarbeitet, sei, so meint er, auf andere Formen der Kommunikation durch eine einfache Generalisierung zu übertragen: Er hat sein Konzept der Maximen (und damit des - ihnen zugrundeliegenden - Prinzips der Kooperation) zunächst an die spezifischen Zwecke des "talk" gebunden (47)(vgl. zu dieser Problematik auch Rolf (1986)). "I have stated my maxims as if this purpose were a maximally effective exchange of information; this specification is, of course, too narrow, and the scheme needs to be generalized to allow for such general purposes as influencing or directing the actions of others." (47) Diese durch "of course" leichthin heruntergespielte Formulierung verbirgt m . E . in Wahrheit eine zentrale Problematik der Griceschen Kooperationsauffassung: durch die Fassung des Kooperationskonzepts bei Grice wird einerseits aufgrund der weiten Terminologie ein genereller Anspruch wenn nicht erhoben, so doch zumindest suggeriert: "Prinzipien" und "Maximen" sind eben mehr als spezielle Fälle; andererseits wird die empirische Problematik, die gesehen wird, über eine bekannte Figur (Generalisierung des Speziellen) scheinbar mit schneller Hand bewältigt - nicht jedoch in der analytischen Wirklichkeit, sondern eben bloß in der Versicherung, dies lasse sich einfach erreichen. Versucht man die Inanspruchnahme eines "Kantischen Echos" (45) durch Grice ernst zu nehmen, so wird man durch Grice's Parallelisierung der vier Typen von Maximen auf die Urteils- und die Kategorientafel bei Kant verwiesen. Geht man dem Verweis nach, zeigt sich schnell, daß hier kaum von mehr als einer bloßen Analogisierung die Rede sein kann. Die Struktur

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beider Tafeln bei ihrerseits nicht worden sind:

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Kant verdankt sich gerade dem Anspruch, daß sie über irgendwelche Analogisierungen entwickelt

"Diese Einteilung ist systematisch aus einem gemeinschaftlichen Prinzip, nämlich dem Vermögen zu urteilen, (welches ebensoviel ist, als das Vermögen zu denken,) erzeugt, und nicht rhapsodistisch, aus einer auf gut Glück unternommenen Aufsuchung reiner Begriffe entstanden, von deren Vollzähligkeit man niemals gewiß sein kann, da sie nur durch Induktion geschlossen wird, ohne zu gedenken, daß man noch auf die letztere Art niemals einsieht, warum denn gerade diese und nicht andere Begriffe dem reinen Verstande beiwohnen." ( K . d . r . V . , A 80f.XB.107) Ob dieser Anspruch von Kant tatsächlich eingelöst wird, kann hier nicht erörtert werden. Angesichts der sprachlichen Korruptheit der entscheidenden Passage scheinen Zweifel m. E. durchaus am Platz. "Dieselbe Funktion, welche den verschiedenen Vorstellungen in einem Urteile Einheit gibt, die gibt auch der bloßen Synthesis verschiedene Vorstellungen in einer Anschauung Einheit, welche allgemein ausgedrückt, der reine Verstandesbegriff heißt". ( K . d . r . V . , A 79XB 104f.) Ob nicht möglicherweise auch bei Kant kaum mehr geschieht als die Versicherung dessen, was zu beweisen wäre, ist schwer zu sehen. Aber immerhin wird auf den systematischen Stellenwert hingewiesen, der diesem Aufweis zukommt. Gegenüber der von Kant vorausgesetzten und verlangten strengen Ableitung beläßt Grice es an der für seinen Zusammenhang zentralen Stelle im Blick auf die universelle Geltung seiner Maximen und seines Prinzips jedoch bei der bloßen Nebeneinanderstellung der entscheidenden beiden Bereiche: "...that anyone who cares about the goals that are central to conversationXcommunication ( e . g . giving and receiving information, influencing and being influenced by others) must be expected to have an interest, given suitable circumstances, in participation in talk exchanges that will be profitable only on the assumption that they are conducted in general accordance with the CP and the maxims."(49) Wenn er diese Formulierung durch eine relativierende Modalisierung einleitet und abschließt, so drückt sich darin m . E . also mehr als

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ein sympathischer, aber letztlich belangloser Sprachgestus der Bescheidenheit aus: es ist ein realistischer Ausdruck des tatsächlichen theoretischen Stellenwerts - der freilich von der Rezeption ebenso geflissentlich überlesen wird, wie diese sich bisher weigert, die Gründe beizubringen, deren Fehlen eben jene Modalisierung beklagt: "So I would like to be able to show that observance of the CP and maxims is reasonable (rational) along the following lines... Whether any such conclusion can be reached, I am uncertain. " (49) Das Kooperationsprinzip, das Grice aufstellte, ist also bisher allenfalls gültig für den Bereich eines Ausschnitts sprachlicher Handlungen , der im einzelnen näher zu spezifizieren ist. Gerade die von Grice fairerweise selbst angeführten Beispiele von Typen sprachlicher Handlungen, die sich nicht umstandslos unter Maximen und CP subsumieren lassen, Streiten und das Briefeschreiben , haben eine - systematisch gesehen - nicht unerhebliche Bedeutung. Konkrete Analysen anderer kommunikativer Formen haben gezeigt, daß hier z . T . anderen Prinzipien gefolgt wird (Brünner 197B § 6 . 6 . ) . Darüber hinaus hat Maas (1976) die Formulierung der Prinzipien als Ausdruck eines bürgerlichen Kontrakt- und Tauschdenkens bezeichnet wobei freilich die Relativierungen bei Grice selbst nicht hinreichend beachtet worden sind. Gleichwohl dürfte in dieser Kennzeichnung ein zentrales Motiv der Kooperationsauffassung benannt sein, das der Griceschen Reflexion zugrundeliegt und das ihn in einem Denk- und Metaphorisierungszusammenhang zeigt, der als grundlegend für die Behandlung von Sprache in Europa seit der Neuzeit angesehen werden kann. Das Problem, vor das Grice sich gestellt sieht, erfordert den Aufweis der das sprachliche Handeln und seine Muster bestimmenden Zwecke und deren Umsetzung in diese. Während Grice die Kategorie des Zwecks ("purpose") durchaus in seiner zentralen Stellung erkennt und einsetzt, bleibt er dort, wo dessen Systematisierung sachlich erfordert ist, stehen und verflüchtigt seine Reflexion in allgemeine Überlegungen zur Rationalität (47), die Maas wiederum abstrakt kritisiert. Die Rolle, die dem Kooperationsprinzip bei Grice zukommt, ist von einer Fragestellung bestimmt, die sich nicht primär der Analyse des sprachlichen Handelns als sprachlichen Handelns verdankt, sondern einem bestimmten semantischen - bei Grice auf tatsächliche Kommunikation hin ausgeweiteten - Problem, dem, was Ausdrücke "bedeuten". Das Kooperationsprinzip und die Konversationsmaximen dienen Grice als Systemhintergrund für die Beantwortung der Frage nach 2 Arten von Bedeutung, sozusagen von den Standard - bedeutun-

Kooperation und sprachliches Handeln

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gen und ihren Standardimplikatien (die als konventionell geregelt gelten) abweichenden Bedeutungen , die kommunikativ gleichwohl rekonstruierbar sind (500). Diese Fragestellung bestimmt, was als Kooperation gefaßt wird. Damit verläßt sich Grice auf einen Kontext, der von der traditionellen Linguistik vorgegeben ist. Dies macht sich nicht nur direkt, in der genannten Fragestellung, sondern auch in der Lösung bemerkbar, die Grice entwickelt. Die kommunikativen Handlungen, für die er das Kooperationsprinzip formuliert, sind die, die bereits Aristoteles seiner Sprachanalyse zugrundelegte, nämlich die Assertionen : im Zentrum seiner Analyse steht der reine Informationsaustausch. Dieses Zentrum ist, wie oben bereits gesagt wurde, eben nicht umstandslos auf andere sprachliche Handlungen zu erweitern. Daß die Weitergabe von Informationen ein kooperatives Verfahren kat exochen ist, steht dabei außer Frage. Genauer: es ist eigentlich eine sprachliche Handlung, die eo ipso eine der Kooperation ist. Insofern formuliert das Prinzip nichts, was "synthetisch" im Kantischen Sinn zu seiner Charakterisierung angeführt werden könnte, sondern es formuliert "analytisch" etwas, was der Handlung als sprachlicher Handlung eigentlich bereits inhärent ist. Die Assertion ist eines jener Muster, von denen Rehbein im "Komplexen Handeln" als von einer kooperativen Form des gesellschaftlichen Zusammenwirkens von Aktanten spricht.

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'Materielle', 'materiale' und 'formale Kooperation'

Die zwei bisher erörterten Gebrauchsweisen des Ausdrucks "Kooperation" machen es sinnvoll, sie eigens zu bezeichnen. Die Kooperation im Produktionsprozeß nenne ich die materielle Kooperation. Die Kooperation, die bei der Sprache festgestellt wurde, bezieht sich zwar möglicherweise durchaus auf diese materielle Produktion. Doch ist dies nicht notwendig so. Vielmehr kommt bei ihr ein anderes Verständnis von 'Kooperation' ins Spiel, das den Ausdruck allgemeiner faßt und alle möglichen Formen des Zusammenwirkens menschlicher Aktanten bezeichnet, die einem gemeinsamen Ziel sich unterordnen, einen gemeinsamen Zweck realisieren, welche freilich nicht unbedingt durch Arbeit im ökonomischen Sinn zu realisieren sind. Gleichwohl ist auch hier die Orientierung auf ein außerhalb der Kooperation selbst liegendes Veränderungsziel gegeben. Ich spreche hier deshalb von einer materialen Kooperation .

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Sprache kann einerseits als Bestandteil und Mittel materieller Kooperation dienen. Sie kann andererseits - als spezifische Form komplexen Handelns - Realisierung materialer Kooperation sein. Dies ist der Fall, den Grice in seinem Kooperationsprizip thematisiert. Doch damit ist noch nicht der gesamte Bereich der Kooperation im Blick auf Sprache e r f a ß t . Neben den genannten Formen der Kooperation ist vielmehr das sprachliche Handeln sozusagen in sich kooperativ. Diese Charakterisierung ist nicht identisch mit d e m , was Grice im Kooperationsprinzip benannte. Vielmehr ist alles sprachliche Handeln als Handeln, das im Normalfall mehr als einen Aktanten betrifft , ein Handeln, für das von elementaren Kennzeichen der Kooperativität gesprochen werden kann. Diesen dritten Aspekt von Kooperation im Blick auf Sprache möchte ich formale Kooperation nennen. Diese Kennzeichnung verwendet den Ausdruck 'formal' nicht in einem allgemeinen Sinn wie 'auf die eine oder andere Form bezogen' oder als adjektivisches Bestimmungswort mit einer Funktion, die dem Nominalkompositionselement 'Form-' entspricht. Vielmehr verstehe ich den Ausdruck 'formal* hier als Opposition zu ' m a t e r i a l ' . Diese Opposition hat ihre deutlichste theoriegeschichtliche Ausprägung in der Unterscheidung zwischen einer materialen und einer formalen Ethik gefunden. Eine materiale Ethik ist eine solche Ethik, die ethische Güter, also Inhalte der Handlungslehre, Handlungsziele und ihre Bewertung aufstellt; eine formale Ethik hingegen nennt ethische Verfahrensweisen ohne direkten Bezug auf solche Inhalte. In der Unterscheidung zwischen "materiell" und "material", die oben gemacht wurde, habe ich den Ausdruck 'material' bereits im Sinne einer derartigen Distinktion verwendet. Die materiale Kooperation hat kooperative Tätigkeiten selbst zum Inhalt. Mit der "formalen Kooperation" hingegen soll die Kooperation bezeichnet werden, die das Zusammenwirken der Aktanten beim sprachlichen Handeln als solches kennzeichnet. Anders als bei der ethischen Distinktion ist die Unterscheidung innerhalb der Kooperation zwischen "formal" und "material" eine Unterscheidung unterschiedlicher Aspekte am sprachlichen Handeln. Die materiale Kooperation hat nämlich zugleich Teil an der formalen Kooperation. Aber nicht alle formale Kooperation ist auch materiale Kooperation. Die formale Kooperation beim sprachlichen Handeln ist eine Elementarform der Kooperation. Ich möchte dies an einem nicht-sprachlichen Beispiel illustrieren. Reinhard Lettau beginnt einen kleinen Text mit dem Titel "Feinde" in folgender Weise:

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Draußen regnet es. Der General kommt zurück. "Haben Sie gewonnen?" wird er gefragt. "Ich habe den Feind nicht gefunden", antwortet der General. Neben ihm stehen die Herren, die mit ihm hereingekommen sind, in triefenden Paletots. Pfützen auf der Diele. "Der Gegner wurde nicht sichtbar. Wir fanden ihn nirgends", sagte der General." (Reinhard Lettau 1968, 7) Dies ist ein Ende von Strategie und Taktik. Selbst bei einem auf die Eliminierung des anderen Interaktanten abzielenden Handeln wie dem Krieg ist der von Lettau fingierte Fall etwas Unerhörtes, eigentlich etwas, das jeder Beschreibung spottet. Auch für diesen Extremfall der Interaktion sind bestimmte minimale Anforderungen gestellt, die erfüllt sein müssen, damit die Interaktion stattfinden kann, die das Ende der Interaktion zum Ziel hat. In einem materialen Sinn wäre es kaum sinnvoll, solche Interaktion als 'Kooperation' zu bezeichnen: Die Handlungsziele, denen sich beide Seiten unterordnen, sind diametral entgegengesetzt und auf die Eliminierung der Ziele des Gegners, ja deren selbst, orientiert. Doch auch diese material so charakterisierten Ziele erfordern ein minimales Zusammenwirken, ohne das keine der beiden Seiten eine Chance erhält, sie zu erreichen. Weniger martialische Beispiele, in denen es doch um Auseinandersetzungen zwischen Interaktanten geht, sind in gleicher Weise daran gebunden, daß elementare Formen des Zusammenwirkens realisiert sind, ohne die es zu keiner Interaktion kommen kann. Dies sind Beispiele für das, was ich 'formale Kooperation' genannt habe. Die formale Kooperation umfaßt ein weites Feld sprachlicher Phänomene, die ebenso unumgänglich wie unscheinbar sind. Deshalb, weil sie elementar sind, entziehen sie sich weithin unserer analytischen Aufmerksamkeit. Sie haben einen Charakter, der nicht unmittelbar sichtbar ist, weil sie in jeder Kommunikation immer schon in Anspruch genommen werden. Insofern kommt ihnen ein Meta-Status zu. Doch ist dieser Meta-Status kein eigentlich transzendentaler, wenn der Ausdruck 'transzendental' nicht in einer zu metaphorischen Weise eingesetzt werden soll. Der Meta-Status betrifft allerdings die Möglichkeit von Kommunikation und hat Bedingungen für sie zum Inhalt.

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Methodologische Konsequenzen sprachlichen Handeln

formaler

Kooperation beim

1. Die formale Kooperation war eben bereits als eine elementare Kooperation gekennzeichnet worden. Sie ist auch eine unmittelbare und zwar in dem Sinn, daß sie aufruht auf der gemeinschaftlichen raumzeitlichen Präsenz der beteiligten Interaktanten. Insofern ist die sogenannte face-to-face-Kommunikation elementare Kommunikation. Diese Bestimmung hat hier ihren systematischen O r t . Unmittelbar ist die face-to-face-Kommunikation nur als formale Kommunikation. Deshalb ist m . E . jede emphatische Verwendung dieser Unmittelbarkeit eine Verwechslung zweier Typen von Kooperation, die gerade nicht füreinander eintreten können. 2. Das Erfordernis der raumzeitlichen Kopräsenz ist zugleich die systematische Grundlage für die Kategorie der Sprechsituation im strengen Sinn. Nur in diesem strengen Sinn genommen, hat diese Kategorie eine analytische Funktion. Die wandernden origines reflektieren im sprachlichen Handeln selbst die formale Kooperation als Zeitort für dieses Handeln. Da die formale Kooperation alles andere Zusammenwirken von Aktanten immer schon begleitet, kann sie als Basis für ein darauf bezogenes spezifisches Sprachsystem, das deiktische, in Anspruch genommen werden. In der Unumgänglichkeit der formalen Kooperation liegt der Grund für die Effizienz des deiktischen Systems beim sprachlichen Handeln. 3. Die formale Kooperation bedeutet, daß - sozusagen prinzipiellS und H involviert sind. Die Abstraktion von einem von beiden, meist von H, steht also in der Gefahr, elementare Bestimmungen des sprachlichen Handels zu verfehlen. Sprecher und Hörer sind von vorneherein gemeinsam involviert. Die Umkehrbarkeit der Zuschreibungen und damit die Grundlage der Reziprozität ist Ausdruck der formalen Kooperation. 4. Die formale Kooperation setzt sich um in ein System von Zwecken zweiter oder genauer nullter Stufe. Diese liegen unterhalb der illokutiven Zwecke. Sie sind aber ebenso wie diese Ablagerungen gesellschaftlicher Erfahrungen. Sie setzen sich in die materiale Kooperation und in den Kampf in jeweils spezifischer Weise um. 5. Die formale Kooperation bildet sich systematisch gesellschaftlich aus zum Sprachsystem als solchem. Das Sprachsystem ist die Form der formalen Kooperation. Als diese Form ist Sprache abgelagerte gesellschaftliche Erfahrung und liegt dem sprachlichen Han-

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dein immer schon voraus. Sie wird zu einer zweiten Natur des Menschen - systematisch gesehen - und erweist sich als schwer veränderbar. Dies ist der Grund dafür, daß sie verschiedene Gesellschaftsformationen übergreift. In ihren Strukturen bietet sie als praktisches Bewußtsein Möglichkeiten für die Erkenntnisse der Formationen, legt jedoch zugleich deren und ihr eigenes Miß-Konzept nahe. 6. Zu den Miß-Konzeptionen ihrer selbst gehört die Ontologisierung des sprachlichen Handels in das Zeichen und seine Eigenschaften und die anschließende Addition eines Willens zum Zeichengebrauch. Dabei wird die grundlegende formale Kooperativität, die die Basis für die Möglichkeiten zu dieser Abstraktion ist, eleminiert. Die Folge ist eine scheinbare Autonomität des sprachlichen Zeichens. 7. Die formale Kooperation wirkt sich aus - im Wissen der Interaktanten - als System der Erwartungen in Bezug auf die Realisierung der formalen Kooperation - für die Prozessierung der Interaktion in den unterschiedlichen Umsetzungen in materiale Kooperation und Kampf. Zur Prozessierung der formalen Kooperation gehören die kommunikativen Apparate, die bisher vor allem von conversation analysis und Ethnomethodologie untersucht worden sind. Dabei kommt es freilich oft zu einer doppelten Verwechslung: Die Ethnomethodologen nehmen die materiale Kommunikation als formale, indem sie den externen Zweck eleminieren und das inhaltliche Zusammenwirken lediglich als technisches betrachten, das zudem jeweils neu im "hic-et-nunc" "konstituiert" wird. Zugleich behandeln sie die formale Kooperation als materiale, indem sie die Herstellung von Formalität im "Hier und Jetzt" als einzigen Gegenstand der Kommunikation thematisieren. Demgegenüber käme es darauf an, die formale Kooperation beim sprachlichen Handeln als solche und in ihrem Stellenwert für dieses Handeln zu rekonstruieren und der Unmöglichkeit, sie zu planieren wie, sie aufzublasen, systematisch Rechnung zu tragen.

Literatur Brünner, G . , 1978. Kommunikation in betrieblichen Kooperationsprozessen. Diss. Osnabrück. Dieckmann, W . , I. Paul, 1983. "Aushandeln" als Konzept der Konversationsanalyse. Zeitschrift für Sprachwissenschaft 2. 169-196.

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K. Ehlich

Fiehler, R . , 1980. Kommunikation und Kooperation. Theoretische und empirische Untersuchungen zur kommunikativen Organisation kooperativer Prozesse. Berlin. Grice, H. P . , 1975. Logic and conversation. 3, hg. von P. Cole u.a. 43-58. New York. Kant, I . , 1781).

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Klaus Mudersbach

Kommunizieren

als •·

Ubersetzungsproblem

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KOMMUNIZIEREN ALS ÜBERSETZUNGSPROBLEM

Über Mißverständnisse und deren Verhinderung

1. Einleitung. Wenn wir hier im Workshop miteinander reden, dann erfordert dies, daß ich mich auf Sie einstelle und Sie sich auf mich einstellen. Sie haben dabei das Interesse, nehme ich an, das verstehen zu wollen, was ich Ihnen erzähle und ich habe die Intention und das Interesse, Ihnen etwas in verstehbarer Form über meine Auffassung von Kommunikation mitzuteilen. Wenn Sie mich verstehen wollen, genügt es nicht, daß Sie den Inhalt meiner Äußerungen und meine Intention zur Kenntnis nehmen; Sie müssen sich auch "irgendwie" auf all das einstellen, was Ihnen sonderbar oder ungewohnt vorkommt an dem, was ich sage (an Wortverwendung, Satzgliederung, Inhalt des Gesagten, u s w . ) . Ich sagte: Sie versuchen sich "irgendwie" darauf einzustellen - auf welche Weise, das soll jetzt genauer dargestellt werden. Zunächst kann man einmal sagen: Immer wenn Ihnen beim Zuhören eine Diskrepanz auffällt, müssen Sie sich intuitiv entscheiden, - ob Sie diesen Teil des Gehörten als nicht-verständlich zurückweisen wollen (und dann nach Möglichkeit durch Rückfragen eine verstehbare Alternativformulierung hören) - oder ob Sie sich intuitiv dafür entscheiden, sich auf das, was ich sage einzustellen, indem Sie bei sich denken: was ER mit seinen Worten eben so und so ausgedrückt hat, ist fast (wahrscheinlich/vermutlich/vorläufig mal) dasselbe wie das, was ICH in meinen Worten und Gedanken so und so ausdrücken würde (wobei Sie sogar offen lassen können, ob Sie den so umformulierten Inhalt des Gesagten dann selbst für wahr halten würden oder nicht). Wenn Sie so verfahren, dann haben Sie eigentlich schon eine Übersetzung hergestellt zwischen meiner Äußerung und Ihrer entsprechend denkbaren Äußerung.

Dies ist nicht nur eine Übersetzung der Wörter, sondern auch eine Übersetzung der Kontexte (sprachlich und sachlich), d . h . Sie können intuitiv die Überlegung anstellen: Die Formulierung, die der

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K. Mudersbach

Sprecher bei seiner Auffassung und Sachkenntnis hier in diesem Kontext zur Differenzierung eingeführt und verwendet hat, die würde ich durch die und die entsprechende Differenzierung in meinem (sprachlichen und gedanklichen)Kontext ausdrücken. Falls Sie sich NICHT auf eine solche Übersetzung einlassen wollen, werden Sie allmählich den Faden und das Interesse verlieren und überhaupt nichts mehr verstehen. Falls Sie sich aber DOCH auf eine solche Übersetzung einlassen und

die Übersetzung war erfolgreich für Sie (was nicht heißen m u ß , daß sie "richtig" w a r ! ) , dann werden Sie damit belohnt, daß Sie den Ändern verstehen und ihm folgen können. Nun kann sich aber trotzdem etwas später eine Situation ergeben, in der Sie etwas hören, was sich nun beim besten Willen mit Ihrer Übersetzungsidee (oder Verstehenshypothese) nicht verstehen läßt. Sie können dann den Sprecher der Inkohärenz bezichtigen oder vielleicht bemerken Sie, daß Sie bislang etwas verstanden haben, was vom Sprecher nicht so gemeint war. Sie wissen JETZT also, daß sie VORHER nur GEGLAUBT haben, den Ändern zu verstehen. JETZT dagegen WISSEN Sie, daß dieser Glaube falsch war, d . h . Sie haben den Ändern vorher nicht "richtig verstanden", Sie haben ihn mißverstanden (Sie sagen sich nicht: Sie hätten ihn vorher NICHT verstanden, dann hätten Sie ja gleich nachgefragt. Es kam Ihnen nur so vor als würden Sie verstehen). Aber ob Sie den Ändern jetzt TATSÄCHLICH richtig verstehen, können Sie JETZT auch nicht wissen. Denn mit derselben Argumentation ergibt sich: vorher glaubten Sie zu wissen, daß Sie den Ändern verstanden haben; JETZT aber wissen Sie, daß Sie den Ändern VORHER mißverstanden haben, ihn JETZT aber verstehen (falls Sie nicht aufgeben und sich sagen: ich versteh' ihn nicht mehr). Aber WISSEN Sie, ob Sie ihn jetzt richtig verstehen? Oder werden Sie vielleicht SPÄTER wiederum einsehen, daß Sie JETZT GLAUBTEN, den Ändern verstanden zu haben, aber eigentlich war es doch so, wie Sie zuerst geglaubt hatten (oder vielleicht ganz anders). Pointiert ausgedrückt: wir glauben, die Worte des Ändern zu verstehen und hoffen, daß dies so bleibt und sich nicht nach einer Weile als Mißverständnis herausstellt. - Wir hoffen auf ein dauerhaftes Verstehen des Ändern, - aber ein ebenso dauerhaftes latent bleibendes Mißverstehen des Ändern erscheint uns ebenfalls als ein dauerhaftes Verstehen. Wir können nicht mit Sicherheit feststel-

Kommunizieren als Ü.Probl.

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len, daß wir den Ändern verstanden haben; es besteht immer die Möglichkeit, daß wir ein Mißverständnis bei uns entdecken. Aber wir können auch nicht mit Sicherheit feststellen, daß wir den Ändern mißverstanden haben; es besteht immer die Möglichkeit, daß wir entdecken, daß wir ihn doch verstanden haben. Aber wer kann dann überhaupt behaupten, daß wir den Ändern tatsächlich verstanden haben? oder daß wir ihn mißverstanden haben? Sicher nicht wir, die wir in der Situation drinstehen und zu verstehen trachten; wohl aber ein Außenstehender oder ein Besseroder ein Alleswisser oder gar ein Allwissender, der alle Fäden in der Hand hält, etwa so wie der Autor einer Verwechslungskomödie die Mißverständnisse der Personen so konstruiert hat oder wie die Zuschauer der Komödie, die sich an der Kette der Mißverständnisse erfreuen, die zwischen den Personen auf der Bühne andauern, aber aus der Logensicht schon längst durchschaut sind. Wer noch hat die Fäden in der Hand, um ein andauerndes Mißverständnis zu durchschauen? Nun vielleicht auch der, der das Mißverständnis provozieren wollte und den Ändern im Glauben verstanden zu haben, belassen möchte ... Vielleicht sind Sie der Meinung, Mißverständnisse seien nur Randfälle der Kommunikation, seltene Kommunikationspannen, vielleicht sogar, sie seien kommunikations-pathologischer Natur oder Naturen zuzuschreiben, die sich chronisch mißverstanden fühlen. MEINE Erfahrung bei der Vorbereitung des Themas war jedoch: es genügt, mit jemandem über das Problem des Mißverstehens zu sprechen und man merkt gleich, wie oft man sich gegenseitig mißversteht. ABER: üblicherweise versucht man das Mißverständnis unter der Hand zu reparieren und dann die Zwischenspiele des Mißverständnisses in der Informationsaufnahme wegzufiltern, ähnlich wie man Nebengeräusche während des Zuhörens wegfiltert oder Sprechfehler überhört und Satzbrüche übergeht. Ich hoffe nun, daß Sie sich auf diese suggestive Vortragsart eingestellt haben und daß Sie glauben, daß es in diesem unwissenschaftlichen Stil so weitergehen wird. Denn dann kann ich Ihnen sagen, daß Sie einem Mißverständnis unterlegen sind: diese Einleitung sollte dazu dienen, Sie auf die Fragestellung vorzubereiten anstatt Sie gleich mit Definitionen und Formeln zu überfallen.

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2. Thesen zu: Mißverständnis und Übersetzung in der Kommunikation Um dieses Mißverständnis zu verhindern, hätte mit folgenden Thesen anfangen können:

ich

ja auch direkt

21. Kommunikation erfordert Übersetzung an allen Stellen, an denen dem Sprecher b z w . dem Hörer Diskrepanzen zur eigenen oder fremden Erwartung auffallen. Kommunikation erfordert aber diese Übersetzung pro Übersetzungseinheit nur von einem der Gesprächspartner: - entweder der Sprecher übersetzt für den Hörer - oder der Hörer übersetzt den (vom Sprecher nicht-übersetzten) Äußerungsteil für sich. Da es keine "halbe" Übersetzung gibt, muß - ob Sprecher oder Hörer - der eine dem ändern (pro Übersetzungseinheit!) den ganzen Weg entgegenkommen (vgl. 33.Ml f f . ) . Sich auf halbem Wege treffen, ist übersetzungsbegrifflich nicht möglich (wenn man die Kommunikationsbeschreibung nicht noch durch eine gedachte Interlingua erschweren w i l l ) . Wenn jeder dem ändern entgegenkommt, laufen beide aneinander vorbei, und wenn keiner sich auf den Weg zum ändern macht, kommt kein Verstehen zustande. Kooperieren heißt hier also nicht sich die Arbeit zu teilen, sondern - entweder den Ändern die Arbeit machen zu lassen (nämlich das Übersetzen) und selbst nur zu verstehen zu trachten, was er übersetzt hat, - oder selbst das Nicht-Übersetzte zu übersetzen und dann auf die eigenen Informationen zu beziehen. 22. "Übersetzung" wird hier nicht im engeren Sinn der Übersetzung zwischen zwei Einzelsprachen verstanden, sondern als Übersetzung zwischen Sprechersprachen ( Eiqensprachen ) oder Sprecherinformationen etc., allgemein als Zuordnung zwischen Systemen, die zwei Kommunikationspartner ( a b g e k ü r z t : Kommunikanten ) zur Verfügung haben. Genauer: als Überführung einer Struktur , die zum System des Sprechers gehört, in eine S t r u k t u r , die mit den Mitteln des Systems des Hörers dargestellt werden kann. Daher soll diese Art von Übersetzung, die in die Kommunikation zwischen Sprecher und Hörer notwendigerweise eingehen m u ß , wenn nicht die Gleichheit der Systeme vorausgesetzt w i r d , Sprecher-Hörer-Übersetzung (abgekürzt: S-H-Übersetzung) genannt werden.

221. Mit System ist hier ein zusammenhängendes begriffliches Gebilde gemeint, das durch ein Netz von Beziehungen zwischen Knotenbegrif-

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fen beschrieben werden kann. So kann ein Kommunikant z . B . ein Sprachsystem , ein Informationssystem und ein Gesetzessystem zur Verfügung haben.

222. Eine Struktur ist ein Gebilde, das nach bestimmten Regeln aus Knoten oder Teilen des Systems aufgebaut ist. Z . B . ein Satz, den ein Kommunikant äußert, eine Struktur, die aus Knoten (Wörtern) aus einem lexikalischen Netz des Kommunikanten nach syntakto-semantischen Regeln des Kommunikanten aufgebaut ist. 23.

Die Anforderungen an ein Modell für die Sprecher-Hörer-Übersetzunq lassen sich am besten aus dem entwickeln, was bei mißlungener Kommunikation (aufgrund von fehlender oder falscher Übersetzung) schief laufen und zu Mißverständnissen führen kann. Mißverständnisse bilden also die Daten und den Prüfstein für die Frage, was alles in einem Übersetzungsmodell der Kommunikation zu berücksichtigen ist. Vorläufig läßt sich schon der folgende Aspekt angeben: da ein Kommunikant keinen direkten Zugang zur Sicht des Gesprächspartners hat, ist er auf Hypothesen über den ändern angewiesen. Die Beschreibung der Kommunikation hat daher so zu erfolgen, wie sie ein beteiligter Kommunikant in seiner Innensicht wahrnimmt. Diese Art der kommunikanteninternen Betrachtung soll "epistemische Beschreibung" genannt werden (Mudersbach 1984). Diese Sicht kann dann verglichen werden mit der "externen" Sicht, die üblicherweise bei der linguistischen Betrachtung der Kommunikation zugrundegelegt wird (vgl. auch Zaefferer 1977). Es wird sich zeigen, daß die Unterschiede zwischen beiden Ansätzen umso größer sind, je individualistischer sich eine Person in Sprache, Wissen und Kenntnis der Ändern verhält (siehe die nachfolgende Definition und die Ausführungen in 3). 24.

Definition von Mißverstehen; Die Definition wird aus den in 23. genannten Gründen für die Sicht eines am Gespräch (als Hörer) Beteiligten und aus der Sicht eines Außenstehenden getrennt formuliert: Grundausdrücke; A, B, S, H, K, W: Kommunikanten, U ( K ) : Äußerung(steil oder -aspekt) eines Kommunikanten K, Ml, M2: Mögliche Bedeutungen ( b z w . allgemeiner: andere Zuordnungseinheiten) zu U ( K ) (cf. Anm. A o . ) tl, t2: Zeitabschnitte ("Zeitpunkte") t nach t': Zeitrelation

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3stellige Relationsausdrücke: K HÄLT FÜR WAHR zum Zeitpunkt t: die Aussage Y , K VERSTEHT als M (vom selben Typ wie Ml, M2) Anm: "FÜR WAHR HALTEN zu t: —" soll als metasprachlicher Ausdruck dienen für das, was alltagssprachlich mit "glauben (im jeweiligen Tempus), daß " ausgedrückt wird. Damit wird der Ansatz von alltagssprachlichen Präsuppositionen (relativ zu "wissen") gelöst. DEF. l . ; MIßVERSTEHEN aus der Sicht eines beteiligten Kommunikanten A (als H ö r e r ) : A HÄLT FÜR WAHR zum Zeitpunkt t2: A MIßVERSTEHT die Äußerung U ( B ) als Ml genau dann, wenn gilt: A HÄLT FÜR WAHR zu tl: A VERSTEHT U ( B ) als Ml und B VERSTEHT U ( B ) als Ml und A HÄLT FÜR WAHR zu t2 (nach tl): A VERSTEHT U ( B ) als M2 (verschieden von Ml) und B VERSTEHT U ( B ) als M2. DEF. 2 . ; MIßVERSTEHEN aus senden W;

der Sicht des außenstehenden Besserwis-

W HÄLT FÜR WAHR zum Zeitpunkt tl: A MIßVERSTEHT die Äußerung U ( B ) als Ml genau dann, wenn gilt: W HÄLT FÜR WAHR zu

tl:

B VERSTEHT U ( B ) als W HÄLT FÜR WAHR zu A VERSTEHT U ( B ) als

M2 und tl: Ml und

B VERSTEHT U ( B ) als

Ml.

Anmerkungen zu diesen Definitionen; AO. Diese Definitionen sollen als Rahmendefinitionen dienen, d . h . man kann sie zunächst einmal so lesen, daß Ml bzw. M2 eine Bedeutungszuordnung zu U ( B ) angibt, die der Hörer mit dem Sprecher zu teilen glaubt. Wenn diese Definitionen jedoch für weitergehende Mißverständnisse, wie sie in 3. dargestellt werden, ebenfalls als Rahmen dienen sollen, muß man die in ihr enthaltenen Ausdrücke der jeweiligen Mißverständnisart anpassen. Wenn z . B . ein Thema-Rhema-Miß-

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Verständnis beschrieben werden soll ( v g l . 3 4 . ) , dann müßte man von der Formulierung ausgehen:

A mißversteht die Thema-Rhema-Gliederung TRU(B) (der Äußerung U ( B ) als thema-rhema-gegliedert in Ml genau dann, wenn ... Ebenso kann auch statt der Äußerung U ( B ) ein Teil oder ein Aspekt der Äußerung zugrundegelegt werden ( z . B . ein Referenzterm (vgl. 33.), oder der Sprechhandlungs-Charakter (vgl. 38.). AI. Da beide Definitionen konsequent aus der Innensicht eines Kommunikanten (des beteiligten Hörers A oder des Besserwissenden W) formuliert sind, ist eine Festlegung einer "objektiven Verstehensgröße" (wie U ( B ) richtig zu verstehen wäre) nicht relevant (da diese den Kommunikanten nicht zugänglich ist). Hier ist zusätzlich anzumerken, daß der Besserwisser W ebenfalls nicht im Besitz einer objektiven Erkenntnis ist, aber eine Sonderrolle einnimmt dadurch, daß er als Dritter (an der Kommunikation nicht beteiligter Beobachter) "zuhört" und das Mißverständnis beim Hörer eventuell "sofort" ( z u m Zeitpunkt tl) durchschauen kann.

Aus der Sicht eines weiteren Beobachters kann jedoch auch dies ein Mißverständnis sein. Außerdem läßt sich die Definition D2. auch für den Sprecher B der Äußerung U ( B ) in der Rolle des Besserwissers W ansetzen. Für W=B ergibt sich der Fall, daß der Sprecher das Mißverständnis des Hörers A durchschaut. Pointiert gesagt: man kann immer relativ zum Ändern (und sein Mißverstehen) die Rolle des Besserwissers (W) einnehmen, für sich selbst (als Hörer A) dagegen "weiß man es im Moment der Kommunikation nicht besser": man versteht oder man versteht nicht. A2. Statt der Formulierung für den Sprecher B: "B INTENDIERT MIT U die Mitteilung von M2" wurde hier auch für die Sprecherabsicht die Hörer-Formulierung gewählt "B VERSTEHT U ( B ) als M2". Damit erspart man sich einen Grundausdruck ("INTENDIEREN" neben "VERSTEHEN"). Man kann "VERSTEHEN (von Seiten des Sprechers)" als Abkürzung für "INTENDIEREN (von selten des Sprechers)" definieren und hat damit das Problem formal gelöst. A3. Inhaltlich fällt auf, daß in der DEF. 1. zwar von zwei Zeitpunkten die Rede ist. Aber zum zweiten Zeitpunkt liegt eine Glaubens-Kon-

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stellation vor, die der ersten gleicht bis auf die Ersetzung von Ml durch M2. Das hat zur Folge, daß auch der Zustand in t2 ein Mißverständnis sein kann, das sich für A erst zu einem späteren Zeitpunkt t3 "aufklärt". Und da dieser Prozeß des vermeintlichen Verstehens, das sich später als Mißverständnis entpuppt, zu keinem Zeitpunkt zu einem Kriterium führt, das einen Endzustand des Verstehens markieren würde, bleibt es für A immer offen, ob er B verstanden hat oder irgendwann bemerkt, daß er ihn mißverstanden hat. Diese Offenheit ist meiner Meinung nach nicht ein Fehler der hier vorgeschlagenen Definition, sondern t r i f f t die Wirklichkeit, in der wir kommunizieren: Verstehen ist möglicherweise nur eine Maske des Mißverstehens, eine Maske, die für das Gesicht selbst angesehen wird und deswegen dauerhaft erscheint. Ein Mißverständnis erkennen, heißt zuerst: zu entdecken, daß das Gesicht eine Maske war - und dann erst: aufzudecken, welches "wahre" Gesicht die Maske bedeckte. - Aber wer wann demaskiert, bleibt offen, möglicherweise lange oder immer. A4. Wenn vom Mißverständnis der Bedeutung M zu U ( B ) die Rede sein soll, ist es nicht erforderlich, auf die Sachverhalts- oder Wahrheitswertebene zu rekurrieren. Denn: man kann jemanden verstehen oder mißverstehen, ohne auf einen für wahr gehaltenen Sachverhalt Bezug nehmen zu müssen. ( z . B . "ich hatte gemeint, du verstehst unter das und das, jetzt hab' ich verstanden, daß du mit das meinst, was ich unter z verstehe. Und dann sehe ich die Sache eigentlich genau so wie du.") A5. Mißverstehen ist von Nicht-Verstehen streng zu trennen: zum Mißverstehen gehört, GEGLAUBT zu haben, den Ändern zu verstehen. Das Mißverstehen erscheint zunächst als etwas Verstandenes. Daher sind die semantischen Beziehungen zwischen "verstehen" und "mißverstehen" in epistemischer Sicht nicht als einfache Opposition beschreibbar. Bei Nicht-Verstehen kann kein Mißverständnis auftreten. A6. Die Sprechersicht des B und das, was er tatsächlich intendiert hat als Bedeutung M einer Äußerung U, tritt in der Definition nicht in Erscheinung. Denn: der Hörer hat nur seine Hypothesen über den Sprecher zur Verfügung, nicht die Sprecherintention selbst. Daher kann A seine Vermutungen nur immer mit dem messen, was er jetzt oder früher von B's Äußerungen versteht oder verstanden hat (vgl. die epistemische Basis in 31.).

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3. Übersicht Über Mißverständnisarten, Übersetzungen und Modelle der Beschreibung. Zwei Vorbemerkungen: VI. Auffällig ist, wie wenig Literatur es gibt zum Thema des Mißverstehens, wo es doch eine Fülle von Arbeiten zum Verstehen gibt. Erwähnt seien hier Zaefferer (1977), Reiß (1980) und Dascal (1985). Außerdem haben Hermeneutiker wie Gadamer (1960) und Betti (1967) sich zum Mißverstehen geäußert, aber in einer hermeneutischen und nicht analysierenden Weise. V2. Von welchen Daten könnte man ausgehen, wenn man Vorkommen und Eigenschaften von Mißverständnissituationen empirisch untersuchen will? Es gibt Mißverständnisse im akustischen Bereich, in der Wortbedeutung, in der syntaktischen und semantischen Gliederung, im Textaufbau, der Textintention (Ironie oder Ernst) usw. - Auch Witze leben von solchen Mißverständnissen. (Schnell diesen: Immatrikuliert sich ein Afrikaner zum Medizinstudium. Er wird gefragt: "Welchen Zweig wählen Sie?" - "Wieso? Gibt es bei Ihnen keine Hörsäle?") Außerdem gibt es im literarischen Bereich Darstellungen von Mißverständnissen, die der Leser durchschauen soll (Verwechslungskomödien) und solche, die er mitmachen soll. Aber auch solche, wo der Zuschauer eventuell der Mißverstehende ist, nicht jedoch die Personen im Stück ( z . B . L. Pirandellos 'Heinrich der V i e r t e ' ) . - Camus nennt ein Stück 'Le Malentendu' ('Das Mißverständnis'): eine Wirtin ermordet reiche Gäste, darunter auch einen, der sich nachträglich als ihr Sohn herausstellt. - Aber hier liegt eigentlich kein Mißverstehen von Äußerungen v o r , sondern ein Nicht-Erkennen einer Person.

Betrachten wir nun die Möglichkeiten von Mißverständnissen im Detail. Sie sind angeordnet von kleineren zu größeren sprachlichen Einheiten aufsteigend. Akustische, phonologische und intonatorische Mißverständnisse sind jedoch nicht berücksichtigt. Dabei wird ein Schema mit 5 Einträgen zugrundegelegt: BE: - die betrachtete Einheit MV: - die Mißverständnismöglichkeit

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UM: - die Abhilfe durch eine geeignete Übersetzung (entweder vom Sprecher vor der Verbalisierung oder vom Hörer nach dem Hören der Äußerung zu leisten) oder sonstige Strategien ZB: - Veranschaulichung des Mißverständnisses und deren Verhinderung mittels Beispielen MOD:- die Skizze der Anforderungen an ein für diese Mißverständnisart geeignetes Modell und evtl. die Skizze eines solchen Modells

30. Allgemeine Grundlagen der epistemischen Beschreibung. BE. Ausgangspunkt dabei ist die Unterscheidung zwischen der Sicht des Sprechers S und der des Hörers H bei jeder betrachteten Einheit X. Der Kommunikant soll jeweils durch hochgestellte Indizes (manchmal auch durch Angabe in Klammer) angegeben werden: X s oder X ( S ) : die Einheit X aus der Sicht des Sprechers S. X H oder X ( H ) : die Einheit X aus der Sicht des Hörers H. Da epistemisch gesehen aber nicht die Sicht von außen zu betrachten ist, sondern die, die sich in der Innensicht des Sprechers oder des Hörers ergibt, benötigen wir noch: H/S: die Sicht des Sprechers von der Sicht des Hörers und S/H: die Sicht des Hörers von der Sicht des Sprechers. MV. Voraussetzung für die Möglichkeit, daß der Hörer H eine Einheit X des Sprechers mißversteht: nachträglich stellt sich die Einheit X in den verschiedenen Sichten des H (H bzw. S/H) als unterschiedlich heraus, d . h . es soll gelten VS1. XH = XS/H ÜB. Die Voraussetzung für eine echte Übersetzung einer "Sprecher-Einheit" in eine "Hörer-Einheit" ist zusätzlich zu VS1. VS2.: X s = X H/S Damit kann der Sprecher intern für sich die Sprecher-Hörer-Übersetzung vornehmen zwischen: X s und X H/S bzw. der Hörer die interne S-H-Übersetzung zwischen: X H und X 5 / H .

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ZB. Beispiele für diese Verhältnisse werden bei den einzelnen Einheiten betrachtet. Am Schluß wird ein Beispiel mit einigen Mißverständniserscheinungen ausführlich diskutiert. MOD. Die ausführliche Darstellung des Modells zu diesen kommunikanteninternen (epistemischen) Sichten ist in Mudersbach (1984) enthalten. Dort werden auch weitere Kommunikanten wie der Glaubende, über den etwas mitgeteilt wird, einbezogen.

31. Eigensprach-System. BE. Möglicherweise ist die Sprache des Sprechers (in Teilen) verschieden von der Sprache des Hörers, nicht nur im Sinn der Verschiedenheit von Einzelsprachen, sondern im Sinne der Verschiedenheit von "Eigensprachen", d . h . die Eigensprache des Sprechers L ( S ) ist im Lexikon, und in den syntakto-semantischen Aufbauregeln verschieden von der Eigensprache des Hörers L ( H ) (obwohl beide, S und H, oberflächlich betrachtet, "dieselbe" Einzelsprache zu sprechen scheinen): US) ± L ( H ) bzw. epistemisch gesehen: verschieden von der Hypothese ( L ( H / S ) des Sprechers über die Eigensprache des Hörers und umgekehrt L(H/S) L(S) bzw. L ( H ) = L ( S / H ) Es soll, zur Vereinfachung der Beschreibung der Kommunikation, im folgenden angenommen werden, daß die Eigensprachen zumindest in Teilen gleich sind (einen Überlapp haben, gemeinsames Wissen bilden), bzw. epistemisch formuliert: daß ein Sprecher glaubt, daß sein Partner zumindest einige Ausdrücke und Satzkonstruktionen genauso versteht wie der Sprecher, weil diese in dessen Eigensprache gleich sind. Diese Hypothese über einen nicht leeren Überlapp zwischen den beiden Eigensprachen ist aber ebenfalls nicht gesichert. Wenn der Sprecher S nun gegenüber dem Hörer eine Einheit, die S im Überlapp vermutet, verwendet, so zeigt die Reaktion des Hörers dem Sprecher, daß die Überlapps-Hypothese des S für diese Einheit

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bestätigt wird oder gegebenenfalls nicht. seine Überlapphypothese modifizieren.

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In diesem Fall muß S

MV. Die interessanten Fälle von Mißverständnissen zwischen zwei Kommunikanten, die beide dieselbe Einzelsprache beherrschen, liegen meines Erachtens im lexikalischen Bereich, da sich die Wörter der Umgangssprache zum einen am wenigsten Normen der Bedeutung unterwerfen lassen, zum anderen weil die Wortbedeutung stark kontextabhängig eingesetzt werden kann, wie jetzt im folgenden ( 3 2 . ) behandelt werden soll. ÜB. Man stellt sich in der Komplexität und Wahl des Satzbaus sowie in der Differenzierung der sprachsystematischen Strukturen (Paradigmen) auf den Hörer ein. ZB. Beispiele dafür: Sich (Nicht- oder Über-) Einstellen auf die Sprache eines Gastarbeiters, auf die Sprache (s)eines Kindes, auf die Sprache eines Dialektsprechers (und eventuell seine Überkorrekturen), auf die Sprache Goethes in der Periode des Sturm und Drang. Jeder von uns, der in seiner Sprache, wenn nicht in der Syntax, so doch sicher im Lexikon individuell gefärbte Wörter und deren Bedeutungen zur Verfügung hat, versucht, sich mehr oder weniger auf den Ändern einzustellen, wenn er annimmt, daß der Hörer diese Bedeutung noch nicht kennt oder eine andere zum selben Wort hat, die zu Mißverständnissen führen könnte. (Vgl. Dascal 1985, 202f.) MOD. Eine Theorie, bei der solche Eigensprachen formal eingeführt werden, ist in Mudersbach (1984) ausgearbeitet. 32. Bedeutungsaspekt. BE. Lexikalische Bedeutung, kontextbezogene Bedeutungsdifferenzierung (Vagheit, Präzisierung, Bedeutungsangabe) MV. 1) Wenn die lexikalische Bedeutung eines Wortes (wie sie im internalisierten subjektiven Lexikon vorhanden ist) beim Hörer verschieden ist von der bei S/H (cf. ÜB: 31.), 2) wenn ein Wort vom Hörer H in einen anderen Kontext (sprachlich oder sachlich) eingebettet wird als vom S/H und damit unterschiedlich präzis bzw. vage verstanden wird.

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ÜB. Zur Vermeidung der Mißverständnisse in der Bedeutung muß der Sprecher S seine eigene Wortbedeutung mit der von H/S vergleichen, das gleiche gilt für H gegenüber S/H. ZB. Vgl. z . B . die Bedeutung von "dünn" im Beispiel in 4. MOD. Hier ist ein Modell der lexikalischen Bedeutung erforderlich, das sowohl dazu geeignet ist, die Systembedeutung des Lexems zu beschreiben, als auch diese Bedeutung so flexibel in einen Kontext einzubetten, daß sie durch den Kontext modifiziert werden kann. Ein solches Modell wird in Mudersbach (1983) vorgeschlagen: die Systembedeutunq wird bezogen auf das gesamte Netz von Bedeutunqsrelationen , das zwischen den Wörtern eines Sprechers besteht. Die Bedeutung eines einzelnen Wortes ergibt sich aus den Bedeutungsbeziehungen zu einer größeren oder kleineren Umgebung im Gesamtnetz. Wie groß die jeweilig zu berücksichtigende Umgebung zu wählen ist (und damit auch der Differenzierungsgrad (Vagheit) in der Bedeutung), ist durch den Kontext bestimmt, in dem das Wort eingebettet ist. Oder: wenn die Bedeutung eines Wortes fachsprachlich fixiert ist bzw. im Gespräch kooperativ festgelegt wurde ( d . h . eine bestimmte Umgebung des Wortes, ein Teilnetz wird fest vorgegeben für den Kontext), dann schränkt das Teilnetz die möglichen Teilnetze, die sich aus den Kontextwörtern ergeben könnten, ein. Damit ist der unterschiedliche Vagheitsgrad zwischen Hörer und Sprecher in Hörersicht darstellbar und es kann gezeigt werden, wie er durch Übersetzung vermieden werden kann. (Vgl. hierzu auch die Präzisierung durch eine Skalenbildung für Werte in 37.) 33. Referenzherstellung und Objektdifferenzierung. BE. Wenn S ein Objekt aus seinem Objektbereich herausgreifen will, um dem Hörer etwas darüber mitzuteilen, muß er einen Referenzterm wählen, der relativ zur Umgebung im Objektbereich dieses eine Objekt spezifiziert. Die Informationen, die dazu benötigt werden, hängen von den Informationen über alle anderen Objekte der Umgebung ab. MV. Wenn diese Informationsstände beim Hörer H und bei S/H verschieden sind, kann es beim Hörer zu Mißverständnissen kommen: H spezifiziert ein anderes Objekt, als S intendiert hat oder gar keines.

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ÜB. Der Sprecher muß sich also zunächst in die Informationssituation des Hörers hineinversetzen d . h . seinen Objektbereich zuerst in den Bereich der entsprechenden Objekte bei H/S überführen und dann bei der Wahl eines Referenzterms von den bei H/S vorhandenen Informationen Gebrauch machen. Unter Umständen sind bei H/S weniger Objekte bekannt, bzw. weniger oder andere Informationen zu den einzelnen Objekten (oder auch mehr Objekte). Ebenso soll sich der Hörer, falls dies der Sprecher nicht getan hat, in die Informationssituation des Sprechers hineinversetzen, um "dort" das gesuchte Objekt spezifizieren zu können. ZB. Wenn ein Erwachsener mit einem Kind spricht, um es zu veranlassen, ein bestimmtes Objekt zu ergreifen, dann wird der Erwachsene für den Referenzausdruck solche Eigenschaften des Objektes wählen, die dem Kind zugänglich und bekannt sind. Er wird also z.B. sagen "nimm mal den roten großen Ball dort in der Spielkiste", und nicht etwa: "nimm mal den Ball, der 1.50 gekostet hat und zum Ballspielset der Firma Ballermann gehört." So würden allenfalls die Verkäuferinnen in einem Spielwarengeschäft untereinander die Objekte spezifizieren! MOD. Die Darstellung von Objekten durch Eigenschaften, die unabhängig von S und H ("objektiv") sind, ist epistemistisch gesehen nicht hilfreich. Statt eines einzigen "objektiven" Objekts muß daher ein S-bezogenes Objekt d ( S ) (zusammen mit den Informationen, die S mit diesem Objekt verbindet) zur Verfügung stehen. Ähnliches gilt aus der Hörersicht für ein Objekt d ( H ) und d (S/H). Diese 4 Objekte sind nicht auf ein einziges objektives Objekt beziehbar (da keiner der Kommunikanten objektiv weiß, welche Eigenschaften dem "Objekt an sich" zukommen, aber sie sind durch eine Entsprechungs-Relation alle vier miteinander verbunden). Zu klären ist nun noch, wie die Informationen zu einem Objekt z . B . d(S) zu repräsentieren sind? Da den Kommunikanten keine objektive Sprache der Informationsrepräsentation zur Verfügung stehen kann (denn dann könnten sie sich ja wieder über diese am besten verständigen), müssen die Informationen entweder in einer eigenen Kbezogenen Informationssprache formuliert sein (die dann in die Eigensprache des K zu übersetzen wäre) oder sie werden gleich auf die K-Eigensprache bezogen. In Mudersbach (1982) und Mudersbach (1984) wurde dafür die Darstellung als "Dividuum" gewählt: die Informationen werden mittels der Bedeutung der eigensprachlichen Ausdrücke formuliert und pro Objekt zu einer Menge (dem Dividuum d ( S ) ) zusammengefaßt. Diese Darstellung hat u . a . den Vorteil, daß die sprachliche Formulierung eines geeigneten Referenzterms ohne Übersetzung aus der K-Informationssprache in die K-Eigensprache

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auskommt.

Welcher Referenzterm für H geeignet ist zur Spezifikation eines Objektes d l ( 5 ) (im S-Objektbereich), ergibt sich nun einmal aus dem Übergang zur Entsprechung dl(H/S) im H/S-Objektbereich und zweitens der Wahl von Informationen über dieses Objekt, die gestatten, dl(H/S) relativ zu seiner Umgebung zu spezifizieren. Wenn dies z . B . : die Informationen ROT, GROß, BALL (als Bedeutung der entsprechenden Wörter der H/S-Eigensprache) sind, so kann S zu H sagen: "Nimm den großen, roten Ball (relativ zu deinen Informationen und deiner Eigensprache)". Diese Übersetzungsweise des S läßt sich kurz also folgendermaßen charakterisieren: Ml. sl. Überführung des S-Objektes d ( S ) vom S-Objektbereich in den H/ S-Objektbereich als d ( H / S ) , s2. dazu wird eine auf den H/5-Bereich bezogene "Referenzinformation" R I ( d ( H / 5 ) ) in der H/5-Sprache aufgesucht, die schließlich verbalisiert wird.

Der Sprecher benutzt den Referenzterm: der soundso H/s ) H/5 (statt "/S"). Der hochgestellte Index bezieht sich auf die Eigensprache des Kommunikanten, der tiefgestellte auf den Objektbereich, aus dem das Objekt gewählt wird. In diesem Fall muß der Hörer hl. sich dazu entscheiden, den Ausdruck über der -Sprache zu interpretieren und dann h2. in seinem H-Objektbereich nach dem Objekt mit den geeigneten Informationen suchen, vorausgesetzt S hat die "richtige" Hypothese über die Sprache und die Objekte des H! Hier hat der Sprecher zwei Schritte auszuführen und der Hörer auch zwei. Daneben sind auch noch folgende Möglichkeiten denkbar: M2. sl. Zum S-Objekt gehört relativ zum S-Objektbereich die Referenzinformation R I ( d ( S ) ) . s2. 5 verbalisiert diese Information in der S-Sprache, ohne auf den Hörer Rücksicht zu nehmen.

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Der Sprecher benutzt den Referenzterm: (der In diesem Fall muß der Hörer hl. sich zunächst einmal dazu entscheiden, den gehörten Referenzterm als Ausdruck der S/H-Sprache zu interpretieren, h2. danach im S/H-Objektbereich ein geeignetes Objekt ausfindig machen und h3. dann zur Entsprechung in seinem H-Objektbereich übergehen. Hier hat der Hörer drei Schritte zwei.

auszuführen,

der

Sprecher

nur

M3.

sl. Zum S-Objekt gehört die Referenzinformation R I ( d ( S ) ) - relativ zum S-Objektbereich. s2. S übersetzt diese Information in die H/S-Sprache R I ( d ( S ) i/H/S und verbalisiert sie als u ( H / S ) . Der Sprecher benutzt den Referenzterm: (der soundso' ™ ^ ) s · In diesem Fall muß der Hörer hl. sich zunächst einmal dazu entscheiden, den gehörten Referenzterm als Ausdruck der -Sprache zu interpretieren: u ( H ) h2. danach ihn zu übersetzen in die S/H-Sprache: u(S/H) h3. dann im S/H-Objektbereich ein geeignetes Objekt ausfindig machen und h4. schließlich zur Entsprechung in seinem H-Objektbereich übergehen. Hier hat der Hörer 4 Schritte auszuführen, der Sprecher nur zwei. Trotz des "Entgegenkommens" des Sprechers bei s2. (Formulierung in der H/S-Sprache) hat er dem Hörer einen Bärendienst erwiesen, da H nur auf dem Umweg der Rückübersetzung in S/H zu dem geeigneten Objekt gelangen kann.

m.

Ähnlich umständlich liegt der Fall: sl. Überführung des S-Objektes d ( S ) vom S-Objektbereich in den H/ S-Objektbereich d(H/S) s2. Bestimmen einer geeigneten Referenzinformation R I ( d ( H / S ) )

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s3. mit anschließender Rückübersetzung der Information aus der H/ S-Sprache in die S-Sprache und Verbalisierung der (auf den H/ S-Bereich bezogenen und in der 5-Sprache formulierten!) "Referenzinformation" R I ( d ( H / 5 ) ) / 5 Der Sprecher 5 benutzt den Referenzterm: (der soundso (statt H/S)) H / S . In diesem Fall muß der Hörer H hl. sich dazu entscheiden, die gehörte Äußerung u als U(S/H) zu interpretieren, h2. diese zu übersetzen in u ( H ) h3. und zur darin enthaltenen Referenzinformation im H-Objektbereich ein Objekt d ( H ) suchen. Hier haben Sprecher und Hörer je 3 Schritte auszuführen. Die Umständlichkeit ergibt sich daraus, daß der Sprecher zunächst in der Objektwahl dem Hörer entgegengeht, in der Sprachwahl aber wieder zur S-Sprache zurückkehrt. Daher muß der Hörer in die H-Sprache übersetzen, um die Referenzinformation in seinem Objektbereich nutzbar machen zu können. Diese 4 Möglichkeiten führen dann evtl. zu Mißverständnissen, wenn S mindestens eine falsche Hypothese über eine entsprechende H/SEinheit (Objekt, Sprache) hat oder wenn H eine falsche Hypothese über eine S/H-Einheit hat. Außerdem zeigt sich hier auch die Anfälligkeit in der Grundentscheidung ( h l . ) , wie die Äußerung zu interpretieren sei. In der Darstellung M1.-M4. wurde der Einfachheit halber angenommen, der Hörer t r i f f t die "richtige" Entscheidung (nämlich mit denselben Indizes die Äußerung zu hören, wie sie der Sprecher geäußert hat). Die Hörertätigkeiten hl. ff. sind aber im Prinzip frei über die 4 Möglichkeiten verteilbar, denn der Hörer hat im allgemeinsten Fall keinerlei Anhaltspunkte welche der 4 Strategien er einschlagen soll. Daher kann es bei der Verwendung von Referenztermen zu 4 mal 4 Mißverständnisarten kommen. 34. Thema-Rhema-Gliederung. BE. Vorbereitung der Äußerung unter dem Thema-Rhema-Aspekt: An einem bestimmten Punkt des Gespräches sei die Aufmerksamkeit von B und A auf ein bestimmtes Objekt d (als Thema-Teil) gerichtet und zusätzlich auf bestimmte momentan relevante Informationen über dieses Objekt (Aufmerksamkeitsbereich). Möglicherweise hat A di-

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rekt nach neuen Informationen in diesem Bereich gefragt. B glaubt, daß A diese Informationen über d noch nicht hat und will sie ihm mitteilen (Rhema-Teil). B bildet nach dieser Vorgabe eine Äußerung, die sich dann in einen Thema-Ausdruck und einen Rhema-Ausdruck gliedern läßt. Ähnlich gliedert A die gehörte Äußerung auf unter dem Gesichtspunkt, was für ihn Thema-Ausdruck , Rhema-Ausdruck und Aufmerksamkeitsbereich ist. MV. Wenn B davon ausgeht, daß Aufmerksamkeitsbereich und thematisiertes Objekt für ihn und für A/B gleich sind, dies aber nicht der Fall ist, dann unterliegt B einer Täuschung (ohne es möglicherweise zu m e r k e n ) . Diese Täuschung kann dahin führen, daß B eine Antwort gegenüber A äußert, an der A das Mißverständnis erkennen kann. So kann A (in der Rolle des Besserwissers W in der Def. 2 in 2 4 . ) möglicherweise folgende Mißverständnisse feststellen: tl. daß das Objekt, von dem bei B die Rede ist, ihm unter dieser Referenzinformation (siehe vorhergehenden Teil) nicht bekannt ist, daß der von B als Thema-Ausdruck intendierte Äußerungsteil für A ein Rhema-Ausdruck (eine neue Information) darstellt und/oder t2. daß die von B intendierte Rhema-Information ihm schon bekannt ist (entgegen der Annahme des B). In diesem Fall bringt die Gesamtäußerung für A keine neue Information. Unter Hinzunahme des Falles tl. kann A die ihm bekannte Information des Rhemas benutzen, um das Objekt herauszufinden, das mit der dem A unbekannten Referenzinformation nicht zu finden war. t3. daß die Rhema-Information für A zwar neu ist, aber irrelevant, da der von B intendierte Aufmerksamkeitsbereich nicht mit dem von A übereinstimmt. In all diesen Fällen ergibt sich aus der Sicht des A ein Mißverständnis bei der Interpretation des B einer vorausgegangenen Äußerung des A. Für B kann dieses Mißverständnis verborgen bleiben, wenn es A nicht daran gelegen ist, es a u f z u d e c k e n . Ich habe hier nicht die Sicht des Mißverstehenden (der Hörer H) zugrundegelegt wie in den Einheiten davor, da es wegen SprecherHörer-Wechsels zu Darstellungs-schwierigkeiten gekommen wäre. Stattdessen habe ich die Sicht des Anderen miteinbezogen, der es in diesem Fall als derjenige, der das Thema initiiert hat und an bestimmten Informationen interessiert ist, besser weiß und daher die Möglichkeit h a t , das Mißverständnis aufzuklären. Dagegen blei-

Kommunizieren als Ü.Probl.

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ben die in tl.-t3. formulierten Mißverständnisse in der Thema-Rhema-Gliederung aus der Innensicht des B verborgen.) ÜB. Die hier zu wählende Strategie des A ist: nachdem das Mißverständnis bei B eingetreten ist und A dies bemerkt hat, kann A dieses aufdecken. (Wohlgemerkt: auch A kann fälschlicherweise glauben, daß ein Mißverständnis bei B vorliegt, wenn er selbst den gleichen Fehlern tl.-t3. jetzt aber aus der Sicht des B unterliegen würde!) Es handelt sich hier also nicht darum, ein falsches Thema oder einen falschen Aufmerksamkeitsbereich zu übersetzen in den richtigen, sondern ihn explizit zu ersetzen oder sich darauf einzustellen unter momentanem Verzicht auf den eigenen Ausgangspunkt. Z.B. Leute, die auf eine Frage mit der falschen Ausführung beginnen (vorausgesetzt, daß sie es nicht absichtlich machen) anstatt die gewünschte Rhema-Information mitzuteilen. ( z . B . Schiller: Kabale und Liebe, 2. A k t , 3. Szene. Ferdinand: Und soll Ihnen melden, daß wir uns heiraten - so weit der Auftrag meines Vaters. Lady Milford: Nicht Ihres Herzens? F.: Minister und Kuppler pflegen das niemals zu fragen. L . M . : N u n , dahin ging meine Sorge nicht F.: - Ohne Sie "mißzuverstehen" war' ich doch verloren!) Statt eines Rhemas zur Frage nach den eigenen Gefühlen geht F. (absichtlich) zu einem neuen Thema über: - solche Fragen - und formuliert das Rhema dazu: wie sich Minister etc. dazu verhalten. Hier also kein Mißverständnis, da absichtliches Ausweichen! L . M . will es als Mißverständnis deuten, um auf ihrer Frage insistieren zu können. Aber F. will seinerseits auf seiner Weise zu verstehen insistieren. (für Kenner: prüfen Sie nicht den Text. Die beiden letzten Zeilen stammen von m i r . Ich mußte den Text etwas "zwingen", um ihn meinem Argument "gefügig" zu machen - aber verbleibe, so manipulierend, wohl dennoch im Geiste des S t ü c k e s . . . ) MOD. eine Thema-Rhema-Theorie, die auch Mißverständnisse behandeln möchte, muß von einer Aufteilung der Informationen getrennt nach Sprecher- b z w . Hörersicht ausgehen: in der Sprechersicht muß der Aufmerksamkeitsbereich und das Themaobjekt ( b z w . eine allgemeinere Thema-Einheit) aufgrund der Gesprächssituation vorgegeben sein. Der Sprecher organisiert die bei ihm vorhandenen

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K. Mudersbach

Informationen unter dem Gesichtspunkt, welche Informationen zum Themaobjekt bei S und bei H/S gemeinsam vorliegen und welche neuen Informationen innerhalb des Aufmerksamkeitsbereichs für B von Interesse sind. Nach dieser Thema-Rhema-Gliederung der (noch nicht verbalisierten) Informationen kann der Sprecher diese gegenüber dem Hörer äußern. - Der Hörer seinerseits bettet die aufgenommenen Informationen mit einer von ihm gewählten Thema-Rhema-Gliederung in seinen bisherigen Informationsstand ein. Aus den Diskrepanzen in der Wahl des Hörers bzgl. der Thema-Rhema-Gliederung relativ zu der von S angesetzten Gliederung ergibt sich die Beschreibung der oben aufgeführten Mißverständnisse. Eine ausführlichere Darstellung dieser Thema-Rhema-Theorie liegt in Mudersbach (1981) vor. 35. Gesetzesartiges Wissen. BE. Jeder Kommunikant S hat nicht nur eine eigene Sprache und einen eigenen Informationsstand über die Objekte seiner Wirklichkeit, sondern einen eigenen Gesetzesbereich GS-* und dazu einen hypothetischen Gesetzesbereich GS™^ für jeden hypothetischen Kommunikanten H. Das Gesetzesartige Wissen des S bildet die "Eigenkultur" des S. Epistemistisch gesehen ist der Unterschied zwischen Sach- und Sprachwissen im Prinzip nicht relevant. (Das Sprachwissen ist schon in 31. behandelt worden). Ein Kommunikant S wendet seine Gesetze (mehr oder weniger explizit) an auf Sachinformationen und zwar als Sprecher vor seinen Äußerungen oder als Hörer zum Verstehen der Äußerungen Anderer. Zu den gesetzesbezogenen Äußerungen gehören Äußerungen mit kontrafaktischen Bedingungssätzen, Begründungssätzen, epistemischen Modalsätzen, Metaphern, idiomatischen Wendungen und in sich informationslosen Sätzen (wie Tautologien, Kontradiktionen), die in der Äußerungssituation zu sinnvollen Äußerungen umgedeutet werden. MV. Wenn ein Hörer glaubt, eine implizite Gesetzesanwendung mitvollzogen zu haben, ohne daß von dem zugrundegelegten Gesetz explizit die Rede war, dann kann der Sprecher evtl. ein anderes Gesetz angewandt haben als der Hörer. ÜB. Zur Vermeidung von Mißverständnissen muß der Sprecher das verwendete Gesetz eigentlich immer explizit formulieren und hinzufügen, ob es sein eigenes ist oder das eines hypothetischen

Kommunizieren als Ü.Probl.

Kommunikanten. Dies ist jedoch stische Forderung:

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aus zwei Gründen eine wenig reali-

1. liegen wohl den meisten Menschen die wenigsten der Gesetze, mit denen sie leben, in expliziter durchreflektierter Form vor. (Dies ist nicht negativ zu verstehen, da wir vielleicht nur in dieser Form mit unseren Gesetzen im Leben zurechtkommen.), und 2. leben bestimmte Äußerungsformen geradezu vom Verschweigen des Gesetzesartigen, wie z . B . die Metapher, bei der der Hörer selbsttätig die Inkompatibilität zwischen darin impliziten Bedeutungsgesetzen erkennen soll. Ebenso die kontrafaktischen Äußerungen und die umzudeutenden Kontradiktionen und Tautologien. Wir haben es hier also mit einem Bereich zu tun, der notwendigerweise in hohem Maße anfällig ist für Mißverständnisse. ZB. Das Fürwahrhalten eines Begründungssatzes (bei dem aber das Gesetz, das den Begründungszusammenhang herstellt, nicht explizit geäußert w i r d ) , das Akzeptieren eines kontrafaktischen Bedingungssatzes, bei dem ebenfalls das Gesetz, das den Übergang zum Consequens herstellt, nicht explizit vorliegt, fordert auf zur Anwendung eines eigenen Gesetzes, das die Verbindung herstellen kann. Hierbei können Mißverständnisse unterlaufen. Ähnliches gilt für die ändern aufgeführten Satztypen. MOD. Eine Theorie zum Gesetzesartigen Wissen muß epistemistisch gesehen mit den Kommunikanten-Indizes arbeiten; der Bereich des Gesetzeswissens und der der kontingenten Objektinformationen muß strikt voneinander getrennt werden, damit die Offenheit gegenüber dem logischen Schließen und insbes. die Möglichkeit latenter Widersprüche gegeben bleibt. Das Anwenden von Gesetzen in logischen Schlüssen muß von der Entscheidung des Kommunikanten (und damit von der Kommunikationssituation) abhängig gemacht werden. Eine neue Objektinformation, die durch Gesetzesanwendung entstand (z.B. in Berlin muß es jetzt regnen), ist zu trennen von einer kontingenten faktischen Objektinformation (In Berlin regnet es jetzt). Eine Theorie zum epistemistischen Begriff des Eigengesetzes und dessen Anwendung findet sich in Mudersbach (1984), 309-334. Der Vergleich zwischen der Gesetzesanwendung des Hörers und der des Sprechers zeigt dann, wo Mißverständnisse angelegt sind.

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K. Mudersbach

36. Einstellungen zu einer Information. BE. Ein Sprecher gibt mehr oder weniger explizit in seinen Äußerungen an, wie er zum Äußerungsinhalt steht, ob er ihn für wahr hält, glaubt, weiß, hofft, fürchtet, ironisiert, jemand anderem diese Einstellungen zuschreibt usw. - Die Wahl der Einstellung zum Äußerungsinhalt ist oft eng verknüpft mit der Einstellung zum Gesprächspartner oder zu den im Äußerungsinhalt erwähnten Personen, d . h . dem Beziehungsaspekt (vgl. 3 9 . ) MV. Wird die Einstellung nicht explizit ausgesprochen (durch Markierungen wie: Karl hofft / ich glaube / dies ist gelogen / dies meine ich ironisch / dies soll dir schmeicheln / dies möchtest du hören u s w . ) , ist es dem Hörer überlassen, eine Einstellung zuzuordnen. Dabei kann er Mißverständnissen unterliegen. ÜB. Hier gilt wie in 35., daß ein Teil der Einstellungen verschwiegen werden müssen. Andere lassen Explizitheit zu. ZB. siehe oben bei BE. MOD. Einstellungsausdrücke können aufgefaßt werden als Anweisungen an den Hörer für die Interpretation der Äußerung; sie zeigen an, auf welchen hypothetischen Kommunikanten und welche seiner Einstellungen ein Sprecher den Inhalt der Äußerung bezogen wissen möchte. Damit dienen sie in zentraler Weise zur Vermeidung von Mißverständnissen bzgl. des ganzen Äußerungsinhaltes. Bleiben sie implizit, hat das Modell aufzuzeigen, welchen Entscheidungsspielraum dem Hörer an jeder Stelle der Äußerung zur Verfügung steht. Je nach Entscheidung ergibt sich ein Mißverständnis oder nicht. Eine exemplarische Behandlung der Glaubens- und Wissenseinstellung unter den angesprochenen epistemistischen Randbedingungen (ohne Beziehungsaspekt) findet sich in Mudersbach (1984). 37. Werturteile und Sollensäußerungen. BE. Die Äußerung eines Werturteils zu einer Sachinformation ist ein spezieller Fall sowohl des Ausdrucks einer Einstellung (36) als auch ein spezieller Fall der kontextabhängigen Präzisierung ( 3 2 . ) . Beim Werturteil wird ein Wert auf einer meist implizit bleibenden Bewertungsskala zugeordnet. Wenn stattdessen nur ein Sollensanspruch erhoben wird ( u n d die Wertzuweisung implizit bleibt), dann kommt zusätzlich die Offenheit hinzu, welches das

Kommunizieren als Ü.Probl.

Sollensziel ist und wie der aktuale Zustand und der auf der Wertskala beurteilt (bewertet) werden.

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Soll-Zustand

MV. Welchen Stellenwert diese Wertzuweisung gegenüber alternativen Wertangaben hat, wo das Wertmaximum und -minimum liegt und wie fein die Skala differenziert ist, das bleibt meist offen. Daher muß der Hörer beim Verstehen der Äußerungen eine Reihe von Entscheidungen für sich t r e f f e n , die jeweils mit der Möglichkeit des Mißverständnisses einhergehen. ( z . B . daß derselbe Wertausdruck beim Sprecher zu einer differenzierteren Wertskala gehört als beim Hörer b z w . in der Wertskala des einen einen unterschiedlichen Stellenwert relativ zum maximalen Wert einnimmt u s w . - ) . ÜB. Um Mißverständnisse bei Werturteilen zu vermeiden, muß der Sprecher statt eines Werturteils vom Typ "Das ist schön" eigentlich folgendes EXPLIZITE WERTURTEIL äußern: Auf meiner Skala "ästhetischer Wertung" - mit der Unterteilung (- hier folgt eine Folge von linear geordneten Werten, ausgedrückt durch Zahlen, oder eigensprachlichen Ausdrücken (darunter auch "schön"), die das Wertefeld aufspannen - ) - mit dem Minimum Wmin und - dem Maximum Wmax und - wird von mir ( b z w . jemand ändern) X) dem Sachverhalt SV* irgendeines realen oder hypothetischen Kommunikanten X die Bewertung Bew(SV^) = schön zugeordnet. Bei einer Sollensäußerung kommt noch der Anspruch hinzu, daß ein anzustrebender Sachverhalt angegeben wird mit einem höheren Wert als die aktuale Bewertung des Sachverhaltes ergibt (in Richtung auf das Wertmaximum). Anm.: zu den bewertbaren Sachverhalten gehören auch die selbst und deren Aspekte.

Äußerung

MOD. Aus der expliziten Formulierung eines Werturteils ist schon ersichtlich, welche Parameter in ein semantisches Modell der Werturteile Eingang finden müssen.

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K. Mudersbach

38. Interpretation von Sprechhandlungen. BE. Sprechhandlungen, die explizit geäußert werden, unterliegen den Vagheitsmöglichkeiten, die in 32. und in 37. angesprochen wurden. Bei indirekten Sprechhandlungen kommt noch hinzu, daß der Hörer die Entscheidung zu treffen hat, in welche direkte Sprechhandlung er die Äußerung übersetzen möchte. MV. Unterschiedlich verstehbare Äußerungsabsichten und Sprechhandlungstypen führen zu Mißverständnissen (siehe Beispiele in Z B ) . ÜB. Abhilfe bietet hier die Übersetzung in eine direkte Sprechhandlung, wieder unter dem Vorbehalt, der schon in 35. angesprochen wurde: d.h. sofern dies überhaupt möglich ist. ZB. Mißverstehen des Sprechhandlungsaspekts bei: "Wissen Sie, wieviel Uhr es ist?" (oder: "Haben Sie vielleicht eine Uhr?") - "Ja." Oder: "Was gibt es heute zu essen?" - "Du mußt leider noch etwas warten, ich habe noch nicht mit dem Kochen angefangen." MOD. Auch direktive Sprechhandlungsausdrücke sind u.a. auffaßbar als Wertausdrücke auf Wertskalen, die explizit und vollständig zu formulieren sind. ( Z . B . bitten, auffordern, befehlen). - Bei der indirekten Sprechhandlung muß das Modell zusätzlich berücksichtigen, wie das Gesetzesartige Wissen in Verbindung mit der Beschreibung des Kontextes zu einer informationsleeren oder -armen Äußerung bzw. Antwort führen würde, die durch eine geeignete Umdeutung in Verbindung mit kulturellem und spezifischem Wissen über den Ändern zu vermeiden ist (siehe Beispiel in Z B ) . 39. Intentionaler Beziehungsaspekt. BE. Neben einem bestimmten Inhalt bringt ein Sprecher durch die Form seiner Äußerung und durch sein nicht-verbales Verhalten eine bestimmte Einstellung zum Hörer zum Ausdruck. Dieser Ausdruck ist teilweise nicht intentional, teilweise vom Sprecher GEWOLLT (und fällt dann auch unter 3 6 . ) . MV. Der Hörer muß bei impliziten Beziehungs-"Zeichen" eine Entscheidung treffen, in welcher Richtung er diese Zeichen bzw. Anzeichen interpretieren will. Wählt er eine Interpretation, die

Kommunizieren als Ü.Probl.

vom Sprecher aus gesehen nicht zutrifft, die er selbst zutreffend ansieht, ergibt sich ein Mißverständnis.

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aber

als

ÜB. Abhilfe bringt hier ein Gespräch auf der Beziehungsebene, sofern dies nicht tabuisiert ist und von beiden auch gemeistert werden kann. ZB. Die Frage einer Hausfrau an die Nachbarin (mit einem bestimmten Tonfall und Blick): "Sind das etwa echte Perlen?" (leicht verändertes Beispiel aus Watzlawick (1969), 54). Vgl. auch das Hunger-Beispiel in 38. und das in 4. MOD. Die Aufteilung in Inhalts- und Beziehungsaspekt wird in verschiedenen Werken Watzlawicks ( z . B . 1969, 1980) behandelt. Einige abschließende Bemerkungen zu diesem Teil:

Bl. Sicher sind hier nicht alle Mißverständnismöglichkeiten erfaßt. Oft treten verschiedene Mißverständnisarten auch ineinandergeflochten a u f . B2. Das hier gegebene Bild möglicher Mißverständnisse sollte nicht zu dem Mißverständnis Anlaß geben, daß in diesem Ansatz kaum Platz für Verständigung sei. Die Voraussetzung für Mißverstehen (vgl. 30. MV) ist, daß Sprecher und Hörer eine Spracheinheit in unterschiedlicher Weise zur Verfügung haben. Je größer der Bereich gemeinsamen Wissens bei Sprecher und Hörer tatsächlich ist (und nicht nur von ihnen so geglaubt w i r d ) , um so weniger anfällig ist die Kommunikation gegenüber Mißverständnissen (Klare Definitionen fachsprachlicher Termini z . B . sollen Mißverständnisse in der wissenschaftlichen Kommunikation einschränken). B3. Bei der hier durchgeführten systematischen Betrachtung ist die Häufigkeit des Auftretens eines Mißverständnistyps (und damit die kommunikative Wichtigkeit des Typs) natürlich nicht erfaßbar.

4. Beispiel für Mißverständnisse. Zum Abschluß soll noch an einem Beispiel ein Teil der hier vorgestellten Mißverstehensmöglichkeiten aufgezeigt werden. (Das Beispiel enthält nicht den Gesetzesaspekt.)

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K. Mudersbach

S sagt zu H (mit einer Geste der Entrüstung): "Der Dozent glaubt doch tatsächlich, daß die Dissertation dünn ist!" ( u ( S ) ) Kommentar: Das Beispiel stammt aus Aspekten aus 3. ist zu sagen:

Naess (1975). Zu den einzelnen

K31. Eiqensprache-Lexikon; "dünn" kann sich auf die Seitenzahl beziehen (dünnl =° wenig Seiten) oder auf die inhaltliche Qualität (dünnZ =° qualitativ schlecht). K32. Kontext-Bedeutung; "dünn" ist in beiden Bedeutungen kontextabhängig: einmal von der Person des Dozenten und seinen Vorgaben (an Seitenanzahl bzw. an inhaltlicher Qualität) und vom Kontext: daß es sich hier um eine Dissertation im Fach F handelt. Daraus ergeben sich z . B . folgende Bedeutungsgesetze: Z.B. dünnl für eine Dissertation im Fach F heißt: weniger als 100 Seiten, dünnZ für eine Dissertation im Fach F heißt: ohne eigene neue Resultate nur bekanntes aufgearbeitet haben. Ein Beispiel für ein mögliches Mißverständnis: Wenn S dünn2 gemeint hat, H aber dünnl versteht. K33.

Der Referent zu "der Dozent" und "die Dissertation" muß in Situation spezifizierbar sein.

dieser

K34. Thema-Rhema; Angenommen, es sei vorausgegangen die Frage: "Was hat der Dozent zu deiner Dissertation gesagt?". In diesem Fall kann man "die Dissertation" als den Thema-Ausdruck ansehen und "dünn ist" als Rhema-Ausdruck. Die Glaubenseinstellung könnte mit zum Thema hinzugenommen werden, oder als eigenständiger Indikator der Einstellung des Sprechers zu der Äußerung des Dozenten: "Ihre Dissertation ist zu dünn" (denn: der Dozent wird nicht gesagt haben: "Ich glaube doch tatsächlich, daß ..."). Oder: "Gehst du auch bald ins Rigorosum?" Hier wäre die Antwort über die Anwendung der Gesetze (Ohne akzeptierte Dissertation kann man sich nicht zum Rigorosum anmelden, und: Wenn der Doktorvater sagt, daß die Diss. zu dünn ist, dann hat er sie so nicht angenommen) zu gewinnen: ich kann noch nicht zum Rigorosum gehen. Die ganze Äußerung wäre also rhematisch zu verstehen.

Kommunizieren als Ü.Probl.

63

K35. Gesetze: vgl. K32. und K35.

K36.

Einstellungen; 5 drückt mit (1) aus, welche Einstellung der Dozent zu seiner Dissertation hat, gleichzeitig bewertet er diese Einstellung durch 'glaubt doch tatsächlich' als von S nicht geteilte Meinung, die (nach M. des S) überraschend und ungerechtfertigt ist. Der Hörer muß dies seinerseits aus der Äußerung entnehmen, die Einstellung "glauben" auf einer entsprechenden Einstellungsskala (oder -feld) lokalisieren und zusätzlich die Bewertung in den Partikeln "doch tatsächlich" durch eine weitere Bewertungsskala interpretieren. K37.

Werturteil; Zu bewertendes Objekt ist die Dissertation (Diss.) des Sprechers S. Der Dozent K bewerte Diss. mit dünn2. Dieser Wert ist anzusetzen auf einer Skala DB der Dissertationsbewertung (jedoch unterschiedlich beim Dozenten K bzw. Kandidaten S b z w . beim Hörer H der Äußerung) mit; WERT (Diss., K/S) = (Skala DB(K/S): = (ausgezeichnet, ..., gut, ..., akzeptabel, ..., dürftig, dünn2, ..., ungenügend), Max: ausgezeichnet, Min: ungenügend, Bew.(Diss, K/S): dünn2 K / s ) Der Hörer H hört bei einem Mißverständnis diese Bewertung und ordnet sie eventuell auf einer davon verschiedenen Akala DB(K/H) oder DB(K/S/H) ein, die zusätzlich noch verschieden sein kann von den eigenen Skalen DB(H) bzw. D B ( K / H ) . Möglicherweise versteht H sogar unter "dünn" dünnl statt dünn2 und fragt nach der Seitenzahl. K38.

Sprechhandlunq; Die indirekte Aufforderung hinter der Bewertung ist: Sie sollen die Arbeit umschreiben und qualitativ verbessern (Wertänderung auf der Skala in Richtung auf 'ausgezeichnet' cf. letzte Komponente in SOLL(Diss., K / S ) ) . Dies führt zu der expliziten Sollens-Beschreibung: SOLUDiss., K/S) = ( W E R T ( D i s s . , K / S ) , Soll(Bew(Diss., K / S ) , ausgezeichnet)

64

K. Mudersbach

K39.

Beziehunqsaspekt: Hier ist die Beziehung zwischen S und H und die zwischen dem Dozenten K und S angesprochen: S bringt zum Ausdruck, was er vom Dozenten und dessen Urteil hält, und zum ändern appelliert er vertrauensvoll an den Hörer, ihn in seiner Meinung zu bestätigen. Der Hörer kann dies jedoch in anderer Weise aufnehmen und somit mißverstehen: Z . B . kann der Hörer glauben, nach einem unparteiischen Urteil gefragt zu sein, und dem Dozenten recht geben. Um die Entscheidungen (besser: die Entscheidungspunkte) explizit zu machen, die der Sprecher S vor der Äußerung gefällt haben kann, wird u(S) in indizierter Form 4.(1) dargestellt und danach ebenso die Entscheidungspunkte, die der Hörer bei der Interpretation der Äußerungen zu fällen hätte in 4 . ( 2 ) (siehe TAFEL S. f . )

Aus diesen beiden Indizierungen ist nun ersichtlich, daß Mißverständnis a u f t r i t t , wenn der Hörer nicht denselben Index I wie S (aber als I/H) wählt und/oder die indizierten Einheiten bei S bzw. H verschieden interpretiert sind. Das besagt genauer die folgende Definition des Verstehens in 5.

5. Definition den.

des Verstehens aus der Sicht eines Außenstehen-

Zum Schluß wird aus den angegebenen Möglichkeiten, den ändern mißzuverstehen, eine Bedingung entwickelt, unter der ein Außenstehender T einem Hörer H das T-Verstehen der Äußerung des S zuschreiben kann: Aus der Sicht des T gilt: H T-VERSTEHT die Äußerung u(S) des Sprechers S

genau dann, wenn 1. die Indexwahl des H der Indexwahl des S bis auf . . . / H entspricht ( d . h . (2) = (1)/H nach Wahl eines konstanten Indexes für VI, . . . , W6),

K o m m u n i z i e r e n als O.Probl.

2.

65

die Hypothesen bzgl. der der Äußerung zuordenbaren Einheiten E für beide (H und H/S, bzw. S und S/H) gleich sind ( d . h . E H = E H / S und Es = E S / H ).

SONST liegt entweder ein (für die Beteiligten latentes) Mißverständnis vor oder (falls die entsprechende Einheit für einen der Kommunikanten-Indizes nicht existiert) ein (sofort klärbares) Nicht-Verstehen. An dieser Definition ist folgendes ablesbar:

1. 2.

Je mehr Möglichkeiten für V und W und damit für die Wahl der Indizes gegeben sind, um so leichter ist es, den Partner mißzuverstehen. Die Möglichkeit des Verstehens hängt nicht nur von der Indexwahl des Hörers ab, sondern auch von dem tatsächlichen Überlapp in den verschiedenen Bereichen. Dieser Überlapp ist nur aus der Sicht des T beurteilbar, die Beteiligten haben nur fallible Hypothesen darüber, aber sie benutzen sie.

Bleibt nur noch zu hoffen, daß Sie als Leser Ihre Indizes so geschickt gewählt haben, daß Sie keinem latenten Mißverständnis unterlegen sind...

K. Mudersbach

66

TAFEL ZUR INDIZIERÜNG VON SICHTWEISEN 4. ( l )

Indizierung in Sprechersicht ( / S ) : ("Dozent" aus L(V1), der Vl-Sprache, wird in L ( V 2 ) (V2-Sprache) übersetzt. Dem Referenzterm /.../ wird dann ein Objekt für V3 zugeordnet

(D

Jder ( D o z e n t ) v l ) V 2 ] v 3 x N

^

/

= K/V3

(glaubt doch tatsächlich^) V 5

V

^

> v

Glaubenseinstellung

-

i "

-f*

WERT(y,V6)s

"gl.d.tats." aus L ( V 4 ) wird in L ( V 5 ) übersetzt wobei: y = glaubt doch tatsächlich

(daß [die

(Dissertation w l ) W 2 ] W 3

(dünn ist W 4 - z ) W 5 ) s , Modus(S) H / s ), l " WEHT(z, K/S)/W6 SOLL(z, K/S)/W6

(Obersetzung wie oben) Beziehungsaspekt(S)

wobei z = dünnl oder dünn2

Anmerkungen: Die Indizes VI, . . . , V6, und Wl, . . . , W6 sind als Elemente aus den dazugehörigen Indexmengen zu wählen (und zwar im Prinzip unabhängig voneinander) : VI, . . . . V6 aus der Menge (S, H/S) Wl W6 aus der Menge (S,H/S, K/S, K/H/S) (K ist der Index für die Person des Dozenten.) außerdem gilt für die sprachl. Einheit in der Sicht von X W E R T ( x , X ) = (Skala, M i n , Max, B e w ( x , X ) ) SOLL(x.X) = (Skala, Min, Max, Soll(Bew(x,X),Max))

Bew(x.X),

bei Modus (S) ist die intendierte Sprechhandlung aus der Sicht des S einzusetzen, die dann in der H/S-Sicht evtl. als eine andere Sprechhandlung realisiert wird beim Beziehungsaspekt ( S ) ist die Beziehung zwischen S und ten K/S bzw. zwischen S und H/S anzugeben.

dem Dozen-

Kommunizieren als Ü.Probl.

4.(2).

67

Indizierung in der Hörersicht ( / H ) : die Äußerung wird in allen Indizes auf H bezogen:

(2)

[der (Dozent* 1 )' 2 ] V3 £ R e f = K/V3

e

r

(glaubt /N doch tatsächlich^) V5 | 4 GlaubensWERT(y,V6) S / H einstellung

e

n

("Dozent" aus L ( V 1 ) , der Vl-Sprache, wird in L ( V 2 ) V2-Sprache übersetzt. Dem z t e r m /.../ wird dann ein Objekt für V3 zugeordnet. "gl.d.tats." aus L ( V 4 ) wird i n L ( V 5 ) übersetzt wobei: y = glaubt doch tatsächlich

(daß

[die (Dissertation* 1 )* 2 ]^

(Übersetzung wie oben)

4 W5 H S/H (dünn ist* > ^ ,z), ) s / H , Modus (S/H) / ).Beziehungsaspekt (S/H)

WERT(z, K/S/H)/W6 SOLL(z, K/S/H)W6

wobei z = dünnl oder dünn2

Anmerkungen: Die Indizes VI, ..., V6, und Wl, . . . , W6, sind als Elemente aus den dazugehörigen Indexmengen zu wählen ( u n d zwar im Prinzip unabhängig voneinander): VI, ..., V6 aus der Menge (H, S/H, H/S/H) Wl, ..., W6 aus der Menge (H, S/H, H/S/H, K/S/H, K/H/S/H) (K ist der Index für die Person des Dozenten) Die Definitionen für WERT, SOLL, Modus und Beziehungsaspekt bleiben wie oben, wobei X und jetzt in der Sicht des H anzusetzen ist, d . h . von der Form . . . / H sind.

68

K. Mudersbach

Literatur. Betti, E . , 1967. Allgemeine Auslegungslehre als Methodik der Geisteswissenschaften. Tübingen. Dascal, M . , 1985. The Relevance of Misunderstanding. Nach-Chomskysche Linguistik, hg. von T. T. Ballmer, R. Posner. 194-210. Berlin, New York. Gadamer, H . - G . , 1960. Wahrheit und Methode. Tübingen. Mudersbach, K . , 1981. Ein neues Rhema zum Thema: Thema-Rhema. Habilitationsvortrag. (Wird veröffentlicht in: Germanistische Linguistik.) -

1982. Dividuensemantik. Language and Ontology: Proceedings of the 6th International Wittgenstein Symposium (Kirchberg am Wechsel/Austria 1981), hg. von W. Leinfellner, E. Kraemer, 3. Schaenk. 270-273. Wien.

-

1983. Leksemantik - eine hol-atomistische Conceptus X V I I . M r . 40/41. 139-151.

-

1984. Kommunikation über Glaubensinhalte. Grundlagen der stemistischen Linguistik. Berlin, New York.

Bedeutungstheorie. epi-

Naess, A . , 1975. Kommunikation und Argumentation. Kronberg/Ts. Reiß, K . , 1980. Verstehen - Mißverstenen - Nichtverstehen im Blick auf Übersetzung. Sprache und Verstehen: Bd. 2, hg. von W. Kühlwein, A. Raasch. 35-43. Tübingen. Watzlawick, P., Wien.

1969. Menschliche Kommunikation. Bern, Stuttgart,

Watzlawick, P . , J. Beavin, 1980. Einige formale Aspekte der Kommunikation. Interaktion, hg. von P. Watzlawick, 3. H. Weakland. 95-110. Bern, Stuttgart, Wien. Weizsäcker, C. F. von, 1979. Interview am 12.6.1979 im 3. Fernsehprogramm des Südfunks. Zaefferer, D . , 1977. Understanding misunderstanding: a proposal for an explanation of reading choices. Journal of Pragmatics 1. 329-346.

Kommunizieren als Ü.Probl.

69

"Es war ein Mißverständnis" C. F. von Weizsäcker zur Tatsache, daß Niels Bohr den Hinweis Heisenbergs, daß man im Reich an einem Atombrennstoff arbeite, falsch verstanden und daraufhin die Amerikaner zum Bau der Atombombe angespornt hat. Niels Bohr hatte "verstanden": AtomSPRENGstoff.

Fritz Hermanns

Handeln ohne Zweck

73

HANDELN OHNE ZWECK

Zur Definition linguistischer Handlungsbegriffe

1

Sinn statt Zweck

2 2.1 2.2 2.3 2.4

Mehrfunktionales Handeln Umsicht und Klugheit Mehrfunktionales Sprechen "Ein" Zweck als "der" Zweck Für einen ökologischen Handlungsbegriff

3 3.1 3.2 3.3 3.4

Zweckfreies Handeln Phatisch und kathartisch Sprache als Spiel Literatur als Provokation Für einen sinnhaften Handlungsbegriff

4 Sinnloses Handeln 4.1 Zweierlei Sinnlosigkeit 4.2 Handlungszuschreibungen 4.3 Für einen sinnbezogenen Handlungsbegriff 5

Definieren als Handeln

74

l

F. Hermanns

Sinn statt Zweck

Dieser Beitrag ist vor allem ein Plädoyer für eine Pluralität von Handlungsbegriffen in der Linguistik. In seinem letzten Teil (Kap. 5) führt er aus, daß jede Definition von "Handeln" den Charakter eines Kompromisses haben muß, der je nach den spezifischen Zwecken, die jemand mit seiner Definition verfolgt, verschieden ausfallen wird; so daß Toleranz gegenüber den Handlungsbegriffen anderer, die auf andere Zwecke abgestellt sind, in jedem Fall angebracht scheint. Doch bezieht der Beitrag in einem Punkt Position. Wenn, so ist seine These, ein allgemeiner Handlungsbegriff definiert werden soll, der also als Oberbegriff alle spezifischen, für einzelne theoretische Zwecke definierten Handlungsbegriffe umfassen soll, dann kann Handeln nicht als zweckhaftes, dann kann es nur - nach Max Weber - als sinnvolles, ja sogar nur - über Weber hinaus - als sinnbezogenes Verhalten verstanden werden. Der Zweckbegriff engt als Definitionsstück den Handlungsbegriff so sehr ein, daß er dadurch in einen Widerspruch zu dem gerät, was wir herkömmlicher- und auch sinnvollerweise - sei es gemein-, sei es fachsprachlich - unter Handeln verstehen; in einen Widerspruch er Der Beitrag reiht sich damit ein in die Folge von Aufsätzen, die in Antwort auf Holly/Kühn/Püschel (1984) erschienen sind (Burkhardt/Henne 1984, Harras 1985, Ossner 1986; vgl., auch Holly/Kühn/Püschel 1985), die "Für einen 'sinnvollen' Handlungsbegriff in der linguistischen Pragmatik" argumentieren. Soweit ich sehe, kommt ihrem Aufsatz vor allem das Verdienst zu, daß in ihm zum ersten Mal die Frage aufgeworfen wird, wie die Linguistik mit dem nicht beabsichtigten Handeln umgehen soll - statt es, wie bisher, per Definition aus der Welt zu schaffen. Da ich mit ihrer Antwort auf diese Frage nicht einverstanden bin, möchte ich hier betonen, daß ich ihnen die Frage selbst verdanke. Im übrigen geht dieser Beitrag aus von dem Handlungsbegriff von Max Weber (1921), der durch Henne (1975) und Heeschen (1976) in die linguistische Diskussion gebracht wurde. Weber bestimmt "Handeln" statt durch "Zweck" durch "Sinn", Sinn wiederum hat nach Weber (1921, 12) ein Verhalten, wenn es entweder "zweckrational" oder "wertrational" oder "affektuell" oder "traditional" oder mehreres von diesen zugleich ist. Damit ist der Webersche Handlungsbegriff ungleich umfassender als die in der Linguistik zur Zeit vorherrschenden Handlungsbegriffe, die Handeln als zweckhaftes Verhalten definieren, so etwa Rehbein (1977) und Harras (1983), ferner Holly/Kühn/Püschel (1984 und 1985), die aber dem Begriff "Zweck" eine neue Bedeutung geben. Aus Platzgründen kann ich darauf nicht, wie ursprünglich vorgesehen, eingehen.

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stens, der so scharf ist, daß wir ihn schon deshalb nicht wollen können, in einen Widerspruch zweitens, der alles das zunichte macht, was wir uns als Erkenntnisvorteil von einer Subsumption von Sprechen unter Handeln erhoffen. Auf dem Weg zu dieser Schlußfolgerung behandelt der Beitrag nacheinander drei Klassen von Handlungen, die sich einem monofunktionalen, zweckrationalen Handlungsbegriff nicht fügen, die wir jedoch gleichwohl, so wird hier behauptet, nicht gut per Definition aus dem Interessenbereich einer linguistischen Handlungstheorie ausscheiden können. Sie sind in der Art einer Klimax so arrangiert, daß sie in aufsteigender Reihe eine jeweils noch etwas größere Zumutung für einen zweckbezogenen Handlungsbegriff darstellen. Eine solche Zumutung bildet schon die Klasse der polyfunktionalen Handlungen ( K a p . 2 ) ; eine zweite, größere, die Klasse der nurmehr sinnvollen Handlungen (Kap. 3); eine dritte, die größte, die Klasse der schlechterdings sinnlosen, wenn auch sinnbezogenen, Handlungen (Kap. 4). Speziell wenn sprachliches Handeln als kooperatives Handeln betrachtet wird, erweist sich ein durch "Zweck" definierter Handlungsbegriff als unbrauchbar und erweist sich die Unterscheidung der drei genannten Handlungsklassen, die sich dem zweckhaften Handlungsbegriff nicht fügen, als nötig. Denn erstens ist kooperatives Handeln notwendigerweise mehrfunktional, da bei ihm immer schon das Kooperieren selbst und sein Gelingen ein Ziel ist, ohne das weitere Ziele nicht erreichbar sind. Beim Sprechen reagieren wir sensibel (manchmal auch empfindlich) auf einander, in dem Bewußtsein, daß die Aufrechterhaltung der Kooperation die conditio sine qua non ist der Erlangung aller Zwecke, um derentwillen wir etwa kooperieren. Doch ist dies - darauf weist Dieckmann (mündlich) hin - nicht einmal typisch für menschliches Kooperieren. Als die sozialen Tiere, die wir sind, kooperieren wir oft oder meistens so, daß wir die Zwecke der Kooperation erst nachträglich kooperativ gemeinsam finden, denen die Kooperation dann dienen kann; oder gar nicht. Denn zweitens hat gerade das kooperierende Handeln - etwa das Gespräch - gar nicht immer den Charakter der Zweckhaftigkeit, sondern oft auch den Charakter eines Spiels, d.h. der schönen Zwecklosigkeit. Und drittens werden gerade auch zur Beschreibung kooperativen Handelns Gegenbegriffe benötigt, in denen gerade die Verletzung - auch wenn sie nicht gewollt ist - kooperativer Prinzipien thematisiert wird. Es wäre zwar bequem, wenn wir jedesmal, wenn wir unkooperativ sind, ohne es zu wollen, sagen könnten: "Das war jetzt aber keine Handlung von mir, das zählt nicht", wenn es also, linguistisch gesehen, sinnloses und sinnwidriges Handeln gar nicht gäbe. Der sonst, außerhalb der Linguistik,

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etablierte Sprachgebrauch duldet das aber nicht, und auch der Linguistik wird es auf Dauer nicht gelingen, sich gegen diesen Sprachgebrauch abzuschotten. "Handeln", so kann man vielleicht behaupten, ist das bildungssprachliche Äquivalent für "Tun", und "tun" wiederum ist ein ProVerb für viele, wenn nicht alle Verben der deutschen Sprache, die man auf Menschen anwenden kann. "Was hast du um die Zeit getan?" "Geschlafen"; ein solcher Dialog ist im Deutschen semantisch nicht anomal. "'Doing an action'", schreibt Austin (1961, 178), "as used in philosophy, is a highly abstract expression - it is a stand-in used in the place of any (or almost any?) verb with a personal subject ...". Wenn das so ist, dann ist es zumindest mißlich, wenn die Linguistik nur einen, und zwar einen sehr engen, Handlungsbegriff hat.

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Mehrfunktionales Handeln

Zweckhaftes Handeln gilt in unserer Gesellschaft und in unseren Wissenschaften als das typische und das - nach Max Weber - idealtypische. Nun liegt es offenbar im Begriff des Zwecks und in der Metapher des Ziels, daß es immer ein Zweck, ein Ziel ist, was man jeweils verfolgt. Der Pfeil kann überhaupt nur auf ein einziges Ziel gezielt sein, und so ist ursprünglich auch ein Zweck (etymologisch die Zwecke, die das Schwarze der Zielscheibe ist) immer nur einer. "Eine Handlung, ein Zweck" - nach dieser Regel scheinen wir, wenn auch zum Glück nicht ausnahmslos, zu denken, unser Denken ist, mit Wittgenstein zu reden, verhext von der Vorstellung, daß Handeln etwas so Gradliniges sei wie ein Schuß auf eine Scheibe. Diese Vorstellung gilt es aber zu überwinden. Nicht nur ist das monofunktionale Handeln ein für menschliches Handeln überhaupt durchaus untypisches Handeln, ein bloßer Grenzfall des Handelns. Sondern es ist auch, wie wir heute erkennen können, dies sogenannte zweckrationale Handeln, insofern es auf einen und nur einen Zweck abzielt, gerade ein irrationales Handeln, von dem man also nicht wollen kann, daß es als Modell für alles Handeln gelte. 2.1 Umsicht und Klugheit "Dat helpt for de Mus, sä de Buur; do steek he dat Huus an", so heißt (Mensing 1931, s . v . "Muus") ein norddeutsches Sprichwort. Es erinnert uns daran, daß menschliches Handeln typischerweise umsichtig ist. Nur im Extremfall haben wir beim Handeln nur ein ein-

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ziges Ziel, nur ganz ausnahmsweise handeln wir "ohne Rücksicht auf Verluste" und "auf Teufel komm raus". In der Regel sind wir beim Handeln einer Vielzahl von Faktoren eingedenk, auf die wir achten, wir verfolgen beim Handeln eine Vielzahl von Zielen. Selbst noch ein grob utilitaristisches Handeln, dem es nach seinem Selbstverständnis nur um den Nutzen einer Handlung geht, folgt selbstverständlich doch auch der Maxime, daß dabei Schaden zu vermeiden ist. Auch noch wer zynisch meint, daß alles erlaubt ist, fügt doch hinzu: "Man darf sich nur nicht erwischen lassen". Nicht blindlings stürmt menschliches Handeln typischerweise auf ein Ziel hin, sondern wir versuchen, klug zu handeln: nicht nur zweckmäßig in Bezug auf nur einen bestimmten Zweck, vielmehr sinnvoll mit Rücksicht auf viele Zwecke. Wir schütten das Kind nicht mit dem Bade aus, wir schießen nicht mit Kanonen auf Spatzen, wir eilen mit Weile, weil wir nie nur einen Zweck im Auge haben. Vernünftiges Handeln ist grundsätzlich mehrfunktional. Handlungstheoretisch ergibt sich das schon aus der Überlegung, daß jedes Handeln zugleich ein Unterlassen ist. Jede Entscheidung für ein Handeln - das liegt im Begriff der Entscheidung - bedeutet ja, aus einer Reihe möglicher Verhaltensformen eine auszuwählen; man kann von einem Paradigma der - in Bezug auf einen Zweck - möglichen Handlungsweisen sprechen. Schon wenn, wie im Grenzfall, das Paradigma aus nur zwei Elementen (dem Tun und dem Nicht-Tun) besteht, bestimmt sich die Entscheidung typischerweise nicht allein nach der erwarteten Effektivität des Handelns in Bezug auf "das" Ziel. Wir betrachten bei der Entscheidung für eine Handlung h nicht allein die erwartete Folge f, die "den" Zweck der Handlung darstellt, um derentwillen wir sie also erwägen und die sie als eine Handlung des Typs H definiert, sondern zugleich auch andere, vielleicht unerwünschte Folgen f ' , f ' ' usw., die diese selbe Handlung als eine solche des Typs H ' , H ' ' usw. definieren würden. Die Forderung nach "Angemessenheit der Mittel", die wir an eine Handlung stellen, bedeutet gerade, daß unser Handeln keine solchen unerwünschten Folgen haben soll, durch die es zugleich ein anderes Handeln wäre, als wir wollen. Also schon wenn ich als Handelnder zwischen dem Tun und dem Unterlassen einer konkreten Handlung h entscheide, denke ich nicht nur an den Zweck f, der die erwünschte und erwartete Folge meiner Handlung ist, sondern auch an andere Folgen - negative Zwecke könnte man sie nennen - die ich vermeiden will. Erst recht, wenn das Paradigma der konkret gegebenen Handlungsmöglichkeiten reicher ist und nicht nur die zwei Handlungsmöglichkeiten h und non-h, sondern etwa auch i, j, k usw. umfaßt, ist es eine Mehrzahl von Zwecken, die beim Handeln eine Rolle spielt. Ent-

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scheide ich mich für eine dieser Handlungsmöglichkeiten, so zugleich und eo ipso für n - l (wenn das Paradigma n Möglichkeiten enthält) Unterlassungen, ich handle -fach im Sinn der Handlungstheorie, wo ich scheinbar nur eine Handlung vollziehe. Ich denke bei dieser Entscheidung wiederum an die Folgen, die jede der möglichen Handlungen mit sich bringen würde und deren Eintreten oder Nicht-Eintreten mir wichtig sein m u ß , oft wichtiger, als das Erreichen "des" Zwecks es sein kann. Weiß könnte jetzt die schwarze Dame schlagen, doch droht dann mit Turm hl das Matt, er läßt es also bleiben. Stattdessen zieht er g5-g6. Zug und Nicht-Zug sind nur eine einzige konkrete Handlung, die aber durch das, was sie nicht ist ( d . h . als Unterlassung) ebenso wesentlich, ja noch entscheidender charakterisiert ist als durch das, was sie ist. Im Schachspiel ist es nicht gut möglich, daß sich ein Spieler einfach nur "zweckmäßig" verhält, es muß schon "sinnvoll" sein, was er t u t . 2.2 Mehrfunktionales Sprechen So auch in der Sprache; und allmählich stellt sich in der Sprachwissenschaft ein Bewußtsein dafür ein, daß dies so ist. Bühlers "Sprachtheorie" (1934) mit der epochemachenden Entdeckung der grundsätzlichen Dreifunktionalität von Sprache stellt hier wohl den entscheidenden Anfang dar. Ein Rückschlag ist paradoxerweise gerade die Sprechakttheorie gewesen, weil sich mit ihrem Aufkommen in der Sprachwissenschaft die Ausbreitung eines monofunktionalen Handlungsbegriffs verbunden hat . "Sprechen ist Handeln", das hatte auch Bühler schon gesagt. N u n , da die Sprechakttheorie es ohne Bezug auf Bühler sagte, ergab sich als stillschweigende Konsequenz: "und hat also jeweils einen Zweck". Dagegen hat sich im Rahmen der sprechakttheoretischen Diskussion etwa Keller (1977) gewandt, dem es in seinem Aufsatz "Kollokutionäre Akte" darum geht, den "emotionale(n) Aspekt der Kommunikation ... in ein handlungstheoretisch orientiertes Modell der Betrachtung menschlichen Kommunizierens einzubringen" (Keller 1977, 5), indem er die Gedanken und die Begrifflichkeit von Watzlawick/ Beavin/Jackson (1969), die vom "analogen Aspekt" und der "Beziehungsebene" bei der Kommunikation reden, in die Sprache einer sprechakttheoretischen Linguistik übersetzt. "Was wir nach Austin tun, indem wir etwas sagen" (Keller 1977, 6) ist nicht alles, was wir dabei tun. "Was wir dabei außerdem noch tun" (Keller 1977, 7), und zwar immer , wenn wir sprechen, ist, daß wir "eine Haltung zum Ausdruck bringen". Dies ist für Keller eine Handlung sui generis,

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eben sie nennt er "kollokutionären Akt" (Keller 1977, 7). Insofern mit einem lokutionären (il-, perlokutionären) Akt immer auch ein solcher kollokutionärer Akt einhergeht, sind also in einem konkreten Sprechakt auch stets (zumindest) zwei Intentionen gegeben. Keller betont (1977, 17), daß mit dem Terminus "kollokutionär" nichts über die relative Wichtigkeit der beiden simultanen Akte gesagt sein soll, vielmehr steht sogar "die Illokution bisweilen ausschließlich im Dienste der Kollokution". Man kann also, diese Konsequenz ist hier zu ziehen, nicht gut die Illokution als "den" Zweck, die Kollokution als etwa einen "Nebenzweck" des konkreten Sprechakts charakterisieren. In einem späteren Aufsatz hat Keller (1984) seinen Gedanken genereller gefaßt und ihn in Opposition zu einem "Grundirrtum" gestellt, der ( u . a . ) in der Sprachwissenschaft "Tradition" hat: "dem Grundirrtum nämlich, daß die Sprache vornehmlich oder gar ausschließlich dazu da ist, Gedanken auszudrücken" (Keller 1984, 6 7 ) , der einhergehe mit der Annahme, "daß die Wahl sprachlicher Mittel vornehmlich oder ausschließlich von dem Bestreben geleitet sei, Verständnis zu erreichen" (Keller 1984, 6 7 ) . Es gibt zwar nach Keller (1984, 69) eine "Hypermaxime" unseres Kommunizierens", sie heißt: "Sei sozial erfolgreich!". Aber aus dieser Hypermaxime leiten sich viele "Untermaximen" ab, in denen mögliche "Teilziele" des Kommunizierens formuliert sind. In der konkreten Kommunikationshandlung sind dann jeweils mehrere, immer wieder andere solche Teilziele handlungsleitend. Keller gibt dafür zahlreiche Beispiele an. Besonders evident ist die Mehrfunktionalität des Sprechens in dem, was Dieckmann (1981, 265 f f . ) als "trialogische" Kommunikation beschrieben hat. Sie ist gekennzeichnet dadurch, daß in ihr "der Sprecher oder Schreiber, wenn er sprachlich handelt, mit zwei Hörern oder Lesern ( b z w . Gruppen von Hörern oder Lesern) in unterschiedliche Beziehungen tritt", so daß "die Äußerungsprodukte für die verschiedenen Adressaten verschiedene sprachliche Handlungen sind" (Dieckmann 1981, 266), die also auch verschiedene Funktionen haben. Man kann dem Verweis auf diese Beobachtungen und Feststellungen die Überlegung beifügen, daß sprachliches Handeln überhaupt immer so etwas wie ein Balanceakt ist: der Versuch, verschiedenen und widersprüchlichen Forderungen gerecht zu werden. So etwa sprechen wir laut und deutlich - aber nicht zu sehr, weil es sonst unseren Zuhörern auf die Nerven geht. Wir müssen beim Reden und Schreiben redundant sein, um verstanden werden zu können - aber zu redundant dürfen wir auch nicht sein, sonst langweilt sich der Hörer oder

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Leser und folgt gar nicht mehr. Auch die Griceschen Konversationsmaximen sind im konkreten Fall widersprüchlich, so schon die ersten zwei ("Make your contribution as informative as required ..."; "Do not make your contribution more informative than is required" (Grice 1975, 45)), denn man weiß beim Sprechen und Schreiben eben oft nicht genau, wieviel Information gewünscht oder nötig ist. Typischerweise will man beim sprachlichen Kommunizieren, wie bei anderem Handeln auch, vielerlei erreichen und deshalb mancherlei vermeiden, sprachliches Handeln ist vielfältiges Handeln und Unterlassen zugleich. Es wäre deshalb gut, wenn ein linguistischer Handlungsbegriff darauf abheben würde. Bis jetzt ist die Lage so, daß man die typische Mehrfunktionalität des Sprechens in der Sprechhandlungstheorie so zum Ausdruck bringen muß, daß man jeweils von einer Sprechhandlung sagt, sie sei im gründe nicht eine, sondern zwei oder drei. "Sprache verwenden ist immer das, was in der alten deutschen Psychologie eine Mehrfachhandlung genannt worden ist", schreibt Hörmann (1978, 504; zit. bei Polenz 1985, 91). Das ist ein hübsches und treffendes Bonmot, das in seiner paradoxen Formulierung deutlich macht, daß mit dem monofunktionalen Handlungsbegriff etwas nicht stimmt. Denn wenn das typische oder sogar jedes Sprechen mehrfunktional ist, dann sollte ein linguistisch adäquater Begriff des sprachlichen Handelns nicht suggerieren, dies sei eine Absonderlichkeit und etwas Ungewöhnliches, wie wenn man zwei Fliegen mit einer Klappe schlägt. Von der "Komplexität, die Sprechakte im allgemeinen haben", spricht - nach Ballmer (1979) - Harras (1983, 211): ein Glückwunsch etwa kann zugleich auch eine Mitteilung sein (Harras 1983, 213). Dieser funktionalen Komplexität also wird man mit einem monofunktionalen Handlungsbegriff nicht gerecht. 2.3 "Ein" Zweck als "der" Zweck Gewiß, es ist auch bei mehrfunktionalem Handeln oft sinnvoll, von einem der Zwecke einer Handlung als "dem" Zweck dieser Handlung zu reden und ihn so hervorzuheben. Dies ist besonders im Alltag unproblematisch, wo und soweit es klar ist, daß Handeln auf jeden Fall rücksichtsvoll und umsichtig sein soll. Oft hat Handeln ja auch die Zielstruktur, daß es darum geht, daß in einer Situation ein Faktor verändert werden soll, während alle anderen gleich bleiben sollen, so daß in Bezug auf diese ändern Faktoren die Kunst des Handelns eben darin besteht, daß man es unterläßt, sie zu ändern. Die eine Funktion des Handelns, die in der intendierten Veränderung besteht, wird dann durch den Ausdruck "'der' Zweck" markiert und explizit gemacht, die anderen Funktionen (Unterlas-

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sung von unerwünschten sonstigen Veränderungen) bleiben als selbstverständliche unerwähnt. Das Reden von "dem" Zweck einer Handlung ist also im Alltag ein Mittel der Sprachökonomie, eine abkürzende Redeweise, deren man sich bedient, um unter den Funktionen einer mehrfunktionalen Handlung eine besondere als die wichtigste, der die Aufmerksamkeit besonders (aber nicht ausschließlich) gilt, hervorzuheben. Problematisch wird das Sprechen von "dem" Zweck einer Handlung erst, wenn die Sprache, wie wieder Wittgenstein sagt, feiert, d.h. wenn Philosophen oder etwa Linguisten daran gehen, die Redeweise beim Wort zu nehmen. Dies geschieht vor allem in Definitionen des Begriffs des Handelns, wenn dort, wie in der Alltagsrede, von "einem" oder "dem" Ziel des Handelns gesprochen wird; da muß man dann, da doch in einer Definition jedes Wort genau überlegt sein sollte, denken, daß "ein" und "das" ( Z i e l ) , "ein" und "der" (Zweck) in der Tat etwas numerisch Singulares meinen. Solchen Definitionen gibt dann der (eigentlich harmlose) Sprachgebrauch des Alltags eine falsche Selbstverständlichkeit, so daß man nicht stutzt und daran Anstoß nimmt - zumal auch unsere philosophische und wissenschaftliche Tradition das Ihre tut und uns in der Sicherheit wiegt, es sei nichts weiter als natürlich und richtig, wenn man eine Handlung jeweils durch ein Telos, eine Finalität, eine Funktion, einen Zweck, ein Ziel bestimmt sein lasse. Eine Ausnahme ist hier Max Weber (1921) mit seinem allgemeinen Handlungsbegriff. Doch zeichnet auch Weber unter seinen speziellen Handlungsbegriffen einen - nämlich den des "zweckrationalen" Handelns - aus, der monofunktional gedacht ist und der als "idealtypisch" gesetzt wird für Handeln überhaupt. Problematisch am Weberschen Begriff des zweckrationalen Handelns, insofern er idealtypisches Handeln bezeichnet, ist nun zwar nicht, daß dieses Handeln zweck - rational ist. Für Weber ist das zweckrationale Handeln der Prototyp des Handelns in der Tat nur in einem methodologischen Sinn. "Das r e a l e Handeln", so schreibt er ausdrücklich (1921, 10), "verläuft in der großen Masse seiner Fälle in dumpfer Halbbewußtheit oder Unbewußtheit seines 'gemeinten Sinns'. Der Handelnde ' f ü h l t ' ihn mehr unbestimmt, als daß er ihn wüßte oder 'sich klar machte', handelt in der Mehrzahl der Fälle triebhaft oder gewohnheitsmäßig. ... Wirklich effektiv, d . h . voll bewußt und klar, sinnhaftes Handeln ist in der Realität stets nur ein Grenzfall." An anderer Stelle (Weber 1921, 12) heißt es gerade über das traditionale , d . h . über das "durch eingelebte Gewohnheit" bestimmte Handeln, das "sehr oft nur ein dumpfes, in der Richtung der einmal eingelebten Einstellung ablaufendes Rea-

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gieren auf gewohnte Reize" ist: "Die Masse alles eingelebten Alltagshandelns nähert sich diesem Typus ...". Gerade nicht typisch (i.S. von "durchschnittstypisch" (vgl. Weber 1921, 10)), sondern eben idealtypisch ist für Weber das zweckrationale, aber ebenso auch das wertrationale, affektuelle und traditionale Handeln (wenn die Soziologie "von 'typischen' Fällen spricht, meint sie im Zweifel stets den I d e a l typus, der seinerseits rational oder irrational sein k a n n , zumeist . . . (zwar; ) rational ist, stets aber s i n n adäquat konstruiert wird" (Weber 1921, 10)). So ist denn für Weber, er hebt es noch einmal hervor (Weber 1921, 13), die reine ("absolute") Zweckrationalität (ohne Beimischung anderer Sinnmomente) "nur ein im wesentlichen konstruktiver Grenzfall". Nicht darin also liegt das Problematische im Begriff des zweckrationalen Handelns, daß es, als zweck - rationales , mit Handeln überhaupt in-eins-gesetzt würde, dies eben tut jedenfalls Weber keineswegs; sondern darin, daß es, als zweck - rationales, mit rationalem Handeln überhaupt in-eins-gesetzt werden kann. Und dies geschieht bei Weber allerdings, insofern in seiner Typologie der Handlungsarten (zweckrational, wertrational, affektuell, traditional) allein das zweckrationale, und nicht etwa auch, wie man denken könnte, das wert'rationale' Handeln rational ist. Wertrationales Handeln ist für die Webersche Soziologie geradezu und expressis verbis "irrational"; wenn man es nämlich, was die Soziologie, deren Leitbegriff der des zweckrationalen Handelns sein soll (Weber 1921, 2) allerdings m u ß , "vom Standpunkt der Zweckrationalität aus" betrachtet. "Vom Standpunkt der Zweckrationalität aus", so Weber (1921, 13), "... ist Wertrationalität immer ...: irrat i o n a l ..." (Hervorhebung v o n W e b e r ) . Meint nun Weber, wenn er von zweckrationalem Handeln spricht, ein Handeln immer nur nach einem Zweck? Das nicht; wohl aber steht ihm doch offenbar dieser Fall als Grundmodell vor Augen, so daß beim flüchtigen Leser der Eindruck entstehen kann, zweckrationales, also rationales Handeln sei für Weber stets ein Handeln nach einem Zweck. Daß für ihn zweckrationales Handeln nicht monofunktional sein muß, geht eindeutig etwa aus dem folgenden Zitat hervor, wo Weber von den Begriffen und "Gesetzen" der "reinen Theorie der Volkswirtschaftslehre" spricht (Weber 1921, 4): "Sie stellen dar, wie ein ... Handeln ablaufen würde, wenn es streng zweckrational ... und wenn es ferner ganz eindeutig nur an einem Zweck (Wirtschaft) orientiert wäre." Also zweckrational und monofunktional ist für Weber zweierlei. Aber er redet zumeist doch nur von "dem" Zweck einer Handlung, z . B . in seiner Definition des zweckrationalen Handelns selbst (Weber 1921, 13): "Zweckrational handelt, wer

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sein Handeln nach Zweck (Singular!; F H ) , Mitteln und Nebenfolgen (zweimal Plural; FH) orientiert und dabei sowohl die Mittel gegen die Zwecke, wie die Zwecke gegen die Nebenfolgen, wie endlich auch die verschiedenen möglichen Zwecke gegeneinander rational abwägt." Hier ist zwar auch von Zwecken im Plural die Rede, aber es handelt sich dabei gerade nicht um verschiedene Zwecke einer Handlung, sondern um, wie es im Kontext weiter heißt, "konkurrierende und kollidierende" (Weber 1921, 13) Zwecke (und Folgen), die also verschiedene Handlungen konstituieren würden. 2.4 Für einen ökologischen Handlungsbegriff

Der Ausdruck "Nebenfolgen" in Webers Definition des zweckrationalen Handelns erinnert noch einmal daran, wie die Mittel-Zweck-Begrifflichkeit das Denken - und damit das Handeln - in charakteristischer Weise vereinfacht. Aus den vielerlei "Orientierungen" (so sagt Weber recht glücklich 1921, 12 f. und öfter) des Handelns wird eine als die wichtigste herausgegriffen und als "der" Zweck dieses Handelns ausgezeichnet, fortan wird von den anderen Orientierungen abgesehen (abstrahiert). Der Zweck ist offenbar die erwünschte Hauptfolge des Handelns. Dann erscheinen konsequenterweise alle sonstigen Folgen des Handelns, so schwerwiegend sie auch sein mögen, nurmehr als Nebenfolgen dieses Handelns. Weber weist immerhin, und zwar nachdrücklich, darauf hin, daß es zum rationalen Handeln gehört, daß man diese Nebenfolgen vorab bedenkt, ehe man sich zum Handeln entschließt. Es macht aber der Wortteil "Neben-" doch deutlich, was vor allem die Leistung, was der Sinn eines Handlungsbegriffs ist, der per Definition an "den" Zweck des Handelns gebunden ist: er gewichtet. Durch die Brille dieses Begriffs betrachtet, erscheint die Welt des Handelns jeweils klar beleuchtet, nach Licht und Schatten geschieden in das, worauf es ankommt, die Hauptsache, auf die man achten muß, und dann das Nebensächliche, an das man nicht so sehr zu denken braucht. So stellt sich der monofunktional-zweckrationale Handlungsbegriff selbst als ein eminent praktischer heraus, als ein Begriff, der seinen Sinn nicht sowohl darin hat, daß er Handeln darstellt, wie es geschieht, als vielmehr darin, daß er Handeln anleitet, wie es sich vollziehen kann; oder soll. Es liegt in der Tat auf der Hand, daß der Handelnde sich leichter tut, sich für eine bestimmte Handlungsweise zu entscheiden, der über einen solchen Handlungsbegriff verfügt, der ihm als Schema des Entscheidungsprozesses die Fragen, die er sich stellen muß, präsent hält: Was will ich? (Zweck) Wel-

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ehe Mittel bieten sich an? (Methode, Weg, Strategie) Was sind dabei jeweils die Nebenfolgen? Welche davon ziehe ich vor? (Präferenzen) Nach Beantwortung dieser Fragen kann das Handeln unverzüglich beginnen. Der monofunktionale Handlungsbegriff entlastet offenbar den Handelnden, indem er ihm hilft, seine Aufmerksamkeit auf "die" Hauptsache - "den" Zweck - zu konzentrieren. Ein Suchbegriff zur Entscheidungserleichterung, so etwa kann man den monofunktionalen, zweckrationalen Handlungsbegriff von seiner Funktion her charakterisieren, als einen Begriff, der eine Entscheidung und ein Handeln in einer Situation begünstigt und erleichtert, wo nicht lange gefackelt werden soll. In dem Maß jedoch, wie dieser Begriff - durch sein Abstrahieren von einer Vielzahl möglicher Zwecke, nämlich von den Werten einer Gesellschaft und des handelnden Individuums ("wertrational"); von der inneren Befindlichkeit des Handelnden ("affektuell"); vom Üblichen und Gewohnten ("traditional") - das praktische Handeln von sonst nötiger Rücksichtnahme befreit und es damit "effizient" macht, in eben diesem Maß ist dieser Begriff auch, als theoretischer, ungeeignet, ein Bild vom Handeln, wie es typischerweise geschieht, zu geben. Max Weber wird nicht müde, dies zu betonen ( s . o . ) : das zweckrationale Handeln ist nur ein Grenzfall menschlichen Handelns; erst recht, so kann man hinzufügen, das monofunktional zweckrationale Handeln. Um dem realen Handeln in seiner komplexen Motiviertheit theoretisch gerecht werden zu können, brauchen wir einen Handlungsbegriff, der von eben dieser Komplexität gerade nicht abstrahiert, der vielmehr unser Augenmerk darauf lenkt - wie der Webersche allgemeine Handlungsbegriff es t u t , in dessen Definition statt "Zweck" denn auch "Sinn" erscheint. Auch nicht zur Definition des Begriffs des Rationalen Handelns ist der Zweckbegriff als Definiens geeignet, da er, wie anfangs gesagt, den Gedanken immer nahe legt, es gehe um nur einen Zweck, und da er weiterhin, nach den Weberschen terminologischen Festlegungen, zu der Konsequenz f ü h r t , daß ein wertrationales Handeln als solches schon immer irrational sei. Weber hat für diese Festlegungen gewiß seine guten, nämlich methodologischen Gründe gehabt. Außerhalb des Rahmens und Programms einer Weberschen Verstehenden Soziologie entfaltet aber sein Begriff des Rationalen Handelns eine unerwünschte normative Suggestivität dergestalt, daß, da jeder rational sein will, das bloß und konsequent auf einen Zweck gerichtete Handeln als das ideale (statt nur idealtypische) Handeln erscheint; so daß sein Begriff dann einem Machertum Vorschub leistet, das in der rücksichtslosen Effizienz auf einen Zweck hin den Inbegriff der Rationalität erblickt. Will man das nicht, so muß man sich begrifflich gegen Weber entscheiden und

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vorab den Begriff des Rationalen Handelns so festlegen, daß er eine Wertorientierung gerade nicht aus-, sondern einschließt. Dann aber kann ein rationales Handeln nicht mehr nur zweckorientiert sein, ja ein bloß zweckrationales Handeln, das nicht mehr auf Werte reflektiert, muß dann gerade als irrationales bezeichnet werden, in Übereinstimmung damit, daß Zwecke letztlich von Werten her bestimmt und zu rechtfertigen sind. An die Stelle des Begriffs des zweckrationalen Handelns ist deshalb der Begriff eines funktionalen Handelns zu setzen, zu dem dann der Webersche Begriff des zweckrationalen Handelns ein Unterbegriff sein würde, ein Unterbegriff für besondere Fälle (Grenzfälle) des Handelns. Als funktionales Handeln wäre dann ein menschliches Verhalten zu definieren, das sich, in Rücksicht auf eine komplexe Situation, so gestaltet, daß eine (in der Regel) Mehrzahl von unerwünschten Folgen vermieden, von erwünschten Folgen herbeigeführt wird. Im Unterschied zur Definition des zweckrationalen Handelns würde also in dieser Definition nicht eine einzige, bestimmte der erwünschten Folgen als "der" Zweck des Handelns ausgezeichnet und würden also auch die übrigen Folgen nicht als "Nebenfolgen" in ihrer Bedeutung von vornherein bagatellisiert. Einen solchen Handlungsbegriff, der die Polyfunktionalität des Handelns hervorhebt, kann man vielleicht "ökologisch" nennen, in Abgrenzung gegen den zweckrationalen Handlungsbegriff, der dann als "ökonomisch" zu charakterisieren wäre. In der Tat hat ja wohl das monofunktionale zweckrationale Denken und Handeln in ökonomischer Theorie und Praxis seine schärfste, oft brutale Ausprägung erfahren; auch ist es kein Z u f a l l , daß Max Weber seine Definition des zweckrationalen Handelns in einem Buch mit dem Titel "Wirtschaft und Gesellschaft" formuliert. Im ökonomischen Denken des 19. Jahrhunderts war, worauf Weber hinweist ( s . o . ) , die Idealisierung zum Prinzip gemacht, daß der wirtschaftlich Handelnde nur einen Zweck verfolgt. Das (im Extremfall: allein) auf Profit gerichtete privatwirtschaftliche Handeln ist also im Begriff des zweckrationalen Handelns zum Modell für Handeln überhaupt erhoben wenn man, wie dies Weber nicht tut, das Handeln überhaupt durch einen Zweck von sonstigem Verhalten unterschieden sein läßt. Wahrscheinlich ist, daß das eindimensionale Mittel-Zweck-Denken auch durch das ihm parallele Ursache-Wirkung-Denken gestützt wurde, das durch dieselbe bestechende Gradlinigkeit gekennzeichnet ist: das "Mittel" in der Theorie des Handelns ist eben die hinreichende "Ursache" zur Herbeiführung jener "Wirkung", die als "Zweck" der Handlung erstrebt wird. Heute, da wir - wenn auch langsam und mühsam - lernen, in Zusammenhängen zu denken, die komlexer sind als

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eine lineare Kette, wird mit tel-Zweck-Denken obsolet.

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dem Ursache-Wirkung- auch das Mit-

Zweckfreies Handeln

Wenn schon das polyfunktionale Handeln unter den Begriff des zweckhaften Verhaltens nicht mehr ganz passen will, so gilt dies erst recht und vollends für die Spielarten des Handelns, um das es im folgenden Abschnitt geht. Es heißt hier "zweckfreies" Handeln. Nicht, weil behauptet werden soll, man könne für dieses Handeln nicht doch, wenn man sich Mühe gibt und die Phantasie walten läßt, irgendwelche möglichen Zwecke namhaft machen; dies hat man vielmehr in Geschichte und Gegenwart immer wieder versucht und getan. Nur haftet all diesen Versuchen etwas Beliebiges und etwas Künstliches an. Das Beschreibungsmodell eines teleologischen Handelns, eines zweckgerichteten Verhaltens, ist für dieses Handeln ein Prokustesbett nicht bloß, weil es polyfunktional ist, was dem Begriff des Zwecks im strengen Sinn widerspricht, sondern schon deshalb, weil dem Handeln, von dem hier die Rede ist, der Charakter der Zielstrebigkeit überhaupt abgeht. Besser, als mit Gewalt doch nach möglichen Zwecken dafür zu suchen, ist es daher, bei der Bestimmung dieses Handelns auf den Zweckbegriff zu verzichten und stattdessen gleich den Sinnbegriff zu nehmen. 3.1 Phatisch und kathartisch "Welchen Einfluß will ich aber", fragt Harras (1983, 170 f . ) , "auf meinen Adressaten ausüben, wenn ich z . B . meine letzten Urlaubserlebnisse erzähle, Bemerkungen über das unwirtliche Klima Mitteleuropas mache oder über die Wirtschaftspolitik der gegenwärtigen Bundesregierung schimpfe?" Das ist eine gute und im Rahmen der Sprechhandlungstheorie nur allzu berechtigte Frage, die Harras da im Gegensatz zu ändern Sprechakttheoretikern - stellt. Sie f ü h r t , nimmt man sie ernst, zur Frage nach ihrer Präsupposition: ob ich denn überhaupt, wenn ich irgend ein Erlebnis erzähle oder irgend eine Bemerkung mache, damit "einen Einfluß ausüben" will auf meinen Adressaten. Und zu der noch allgemeineren Frage, ob ich, wenn ich spreche, stets einen Einfluß, und sogar einen bestimmten Einfluß, auf meinen Adressaten ausüben will. Diese Frage wird von Sprechhandlungstheoretikern unterschiedlich beantwortet, so von Harras selbst positiv (1983, 171), von Schlieben-Lange etwa (1983, 28) negativ: "Was die andere Möglichkeit an-

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geht, nämlich daß die Texte gerade die Funktion haben, die alltagspraktischen Zwecksetzungen zu suspendieren, so sind Kunst und Wissenschaft ... zwei ausgezeichnete Textuniversen dieser Art. ... Auch im Bereich der Alltagswelt gibt es Texttypen, die 'zwecklos' sind und von der stetigen Funktionsbezogenheit entbinden: Erzählungen, Klatsch, Rätsel, Anekdoten, Witze usw." Doch schon in der Frühgeschichte der Sprechhandlungstheorie wurde sprachliches Verhalten beschrieben, das nicht zweckhaft ist. So bei zwei Arten des sprachlichen Verhaltens, die Malinowski (1922; 1923) unterschieden und auf die im Rahmen der germanistischen Linguistik Heeschen (1976; 1980) hingewiesen hat. Deren eine ist die "phatische Kommunion", die nun zwar von Malinowski gerade mit dem Begriff "Ziel" charakterisiert wird, denn für sie gilt: "Each utterance is an act serving the direct aim of binding hearer and speaker by a tie of some social sentiment or other" (Malinowski 1923, 315; zit. bei Heeschen 1976, 2 7 7 ) . Doch ist der Begriff des Ziels hier offensichtlich ein Interpretationsbegriff des Sozialwissenschaftlers (Malinowski sagt sonst auch "function"), der sich eine Antwort auf die Frage gibt, welche soziale Relevanz das bloße Erzählen und Schwätzen nach getaner Arbeit, also außerhalb eines Handlungszusammengangs, haben kann. An Zweck im Sinne des Handlungs- und damit Sinnbegriffs von Max Weber ist hier kaum gedacht, nämlich i.S. eines "von dem oder den ... Handelnden subjektiv g e m e i n t e (n) Sinn(es)" (Weber 1921, 1 ) . M a n kann sich kaum vorstellen, daß ein Tobriander oder sonst jemand selber sagen würde: "Ich erzähle, um soziale Gefühle zwischen meinem Zuhörer und mir zu erzeugen." Das gilt mutatis mutandis auch für die zweite von Malinowski unterschiedene nicht-pragmatische Sprachfunktion, die von Heeschen (1976, 276) so genannte "kathartische" Funktion, vermöge derer sich ein Sprecher "von heftigen Gefühlen oder Leidenschaften ... befreien" kann (1976, 275 f . ) . Bei einem Ausruf in expressiver Funktion, etwa einem Fluch oder einem Entzückensruf, scheint es in der Tat nicht angemessen zu behaupten, ein solcher Ausruf habe einen Zweck, der Sprecher tue i h n , um damit etwas zjj erreichen. Viel besser als durch den Zweckbegriff ist doch wohl ein Sprechen in phatischer und kathartischer Funktion mittels der Weberschen Begriffe des traditionalen und des affektuellen Handelns (so bei Heeschen (1976, 298)) als sinnvolles Handeln beschrieben. Folgt man der Unterscheidung von Schütz (1932), so ist jedenfalls ein sprachliches Handeln mit diesen Funktionen nicht durch ein Um-zuMotiv, sondern nur durch ein Weil-Motiv (Schütz 1932, 115 f f . ) zu erklären. Es gibt hier kein Künftiges, das zeitlich nach der Hand-

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lung läge, um dessentwillen die Handlung geschähe. Eine solche sprachliche Handlung ist nicht Mittel zu einem von ihr verschiedenen Zweck (den Schütz eben als jenes Künftige bestimmt, auf das zu der Handelnde handelt). Sie ist nicht "Agentereignisverursachung" (Brennenstuhl 1975), weil es dabei gar kein Ereignis gibt und auch keines geben soll, das von der Handlung selbst, als dessen Verursachung, verschieden wäre. "Affektuelle und wertrationale Orientierung des Handelns ... haben ... gemeinsam: daß für sie der Sinn des Handelns nicht in dem jenseits seiner liegenden Erfolg, sondern in dem bestimmt gearteten Handeln als solchen liegt", schreibt Weber (1921, 12) und hat damit vorgezeichnet, wie man solches sprachliches Verhalten sehr wohl als Handeln verstehen kann, ohne daß man, indem man dem Begriff des Zwecks Gewalt antut, um jeden Preis einen Zweck, den es doch nun einmal nicht hat, dafür erfindet. 3.2 Sprache als Spiel

Das Erzählen ist, so könnte man sagen, ein sprachliches Verhalten, das typischerweise gerade keine Folgen haben soll. Nicht einmal etwas behauptet wird beim typischen Erzählen, der andere muß mir oft gar nicht glauben, was ich ihm sage, ja ich warne ihn als Erzähler sogar davor, indem ich meine Erzählung als "Roman" oder als "Märchen" bezeichne. Ausdrücklich wird mit einem solchen Etikett dem Erzählen der Ernstcharakter des Handelns abgesprochen, es erzeugt nur unverbindliche "fiction", nicht "fact". Es ist also nicht, was es nach der gängigen Sprechaktsystematik noch am ehesten wäre, "assertiv". Und da das typische Erzählen nicht den Ernstcharakter hat, daß es Folgen haben soll, hat es auch keinen Zweck Wenn das so ist, dann stellt das Phänomen des Erzählens die Sprechhandlungstheorie vor ein Dilemma. Entweder, so heißt dessen eine Alternative, die Sprechhandlungstheorie bleibt dabei, Handeln als ein solches Verhalten zu definieren, das gewisse ganz bestimmte Folgen haben soll: Wirkungen, zu denen es selbst das Mittel ist. Dann muß sie ihren Anspruch aufgeben - der allerdings in ihr bis jetzt auch nur mehr im- als explizit ist - alles Sprechen als Handeln erklären zu wollen. Oder, so die andere Möglichkeit, die Sprechhandlungstheorie gibt den in ihr vorherrschenden, gesamtwissenschaftlich als idiosynkratisch zu bezeichnenden Handlungsbegriff a u f , wonach Handeln als zweckhaftes Verhalten definiert ist. Dann kann der Satz "Sprechen ist Handeln" aufrecht erhalten werden, verliert aber, so hat es zuerst den Anschein, seine Pointe.

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Denn die Pointe dieses Satzes bestand ja, bei Austin, darin, daß Sprechen, entgegen aller Tradition, als Handeln im vollen Sinn des Wortes beschrieben werden konnte, als ein in der Tat zielgerichtetes Verhalten, das, wie es Handeln nur irgend sein kann, folgenschwer (Weinrich 1976, 33) ist. Die Entdeckung und der Nachweis am unmittelbar überzeugenden Beispiel, daß dies wirklich der Fall ist - darin geht Austin über Malinowski, Gardiner, Bühler, Bloomfield und Pike hinaus und darin liegt das Sensationelle bei Austin - ist der Ausgangspunkt der Sprechhandlungstheorie nicht nur historisch, sondern auch als fortwirkender Unruheherd des Denkens, auf den sich alle Reflexion in der Sprechhandlungstheorie auch heute noch bezieht. Läßt man diese Bedingung fahren - daß Sprechen Handeln sein soll in dem Sinn, daß es Folgen hat - dann wird, so scheint es zunächst, die ganze Sprechhandlungstheorie fade. Wenn nicht wenigstens der Wille mehr da ist, die Folgen sprachlichen Handelns nachzuweisen, dann scheint es, als ob - so Heeschen (1976, 287) tatsächlich "mit dem begriff 'sprachliches Handeln' nichts als eine blasse generalmetapher gewonnen ist". Lieber auf einen solchen flauen Handlungsbegriff verzichten - das scheint auch die Konsequenz einer anderen, ernüchternden Überlegung zu sein. Daß, so kann man sich sagen, Austin bzw. die Sprechakttheorie mit der Formel "Sprechen als Handeln" als Sensation gewirkt hat, beruht auf dem paradoxen Charakter dieser Formel; und Austin (wenn auch vielleicht nicht alle seine Nachfolger) ist sich der Paradoxie seines Gedankens auch ganz bewußt, er spielt damit, so im Titel seiner Vorlesung "Words and Deeds", so in dem berühmt gewordenen Buchtitel "How to Do Things with Words". Tun und Sagen sind ja für das Alltagsverständnis Gegensätze. Nun haben sich zwar manche Sprechakttheoretiker nach Austin so gebärdet, als wäre mit der Entdeckung "Sprechen ist Handeln" ein menschheitsgeschichtlicher Irrtum endlich überwunden. Bei ruhigerer Betrachtung ergibt sich jedoch die Wahrscheinlichkeit, daß irgendetwas doch daran sein muß, wenn man in offenbar sehr vielen Sprachen und in vielen Sprichwörtern und Redensarten das Sprechen und das Handeln als Gegensätze betrachtet; so gänzlich verfehlt, so völlig falsch kann eine solche Volkswahrheit gar nicht sein. Und auch "der kluge Austin" (so nennt ihn deshalb Weinrich (1976, 32), der das Folgende zitiert und der auch auf den sprichwörtlichen Gegensatz von Reden und Handeln (1976, 21) hinweist) analysiert ja nur "some cases and senses (only some, Heaven help u s ! ) in which to say something is to do something" (Austin 1962, 12). Wenn es also stimmen sollte, daß Sprechen oft besser als das Gegenteil von Handeln denn als Handeln beschrieben wird - sollte man den Versuch dann nicht a u f geben, die Linguistik als Handlungswissenschaft zu begründen?

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Dies wäre wohl in der Tat ratsam, wenn nicht das Handeln selbst, nach unser aller Alltagsverständnis von "Handeln", auch außerhalb des Bereichs der Sprache in einer Form begegnen würde, die man redensartlicherweise als Gegenteil von Handeln versteht, ich meine das Spiel. Daß jemand, der spielt, nicht handelt, das ist uns ebenso selbstverständlich wie die Negation davon, daß nämlich jemand, der spielt, z.B. Schach oder Fußball, dabei handelt, etwa taktisch geschickt oder mit vollem Einsatz oder konsequent und zielbewußt oder auch ungeschickt usw. Spielen ist zwar kein Handeln im vollen Sinne des Wortes, Spiel kann das Gegenteil von Handeln sein; aber andererseits macht es uns keine Mühe, den Begriff des Spiels unter den Handlungsbegriff zu subsumieren. 3.3 Literatur als Provokation Bei erzählender Rede - so wurde oben gesagt - macht es, wenn diese nicht in den Dienst z . B . eines Tatsachenbeweises genommen ist, d . h . typischerweise, nicht viel Sinn zu sagen, daß ich damit etwas von dir will. Ich erzähle dir eine Begebenheit von heute morgen; und dieses Erzählen ist gerade entlastet von allem etwaigen Dichüberzeugen-Wollen, es zielt gerade nicht über sich hinaus, es steht gerade nicht in der zweckrationalen Kette der Zwecke um wiederum anderer Zwecke um wiederum anderer Zwecke willen. Ich möchte nur, daß du mir zuhörst und an meiner Geschichte Anteil nimmst, mehr habe ich damit nicht vor. So überhaupt bei Literatur ( i . e . S . ) , die typischerweise gerade keine engagierte Literatur ist und die deshalb für die Sprechhandlungstheorie so lange ein Ärgernis sein muß, wie diese Handeln durch Zweck (statt durch Sinn) definiert. Literatur als (frei nach Jauß) Provokation der Sprachwissenschaft - es ist nicht anzunehmen, daß die Linguistik mit dieser Provokation fertig wird, wenn sie an der generellen Zweckbestimmtheit sprachlichen Handelns festhält. Seit über zweitausend Jahren sucht das abendländische Denken immer wieder vergebens eine Antwort auf die Frage, was denn die Finalität von Literatur (und Kunst überhaupt) sein könnte. "Aut prodesse volunt aut delectare poetae", eine solche Formel ist durch noch so vieles ehrfürchtiges Zitieren über die Jahrhunderte nicht besser geworden. "L'art pour l'art" ist da die passende Antwort, die das 19. Jahrhundert gab. Weder für Literatur überhaupt noch auch für ein einzelnes literarisches Werk ist es bisher gelungen anzugeben, was sein Zweck sei. Nicht einmal "der" Sinn (geschweige denn, "der Zweck") eines literarischen Werkes ist zu ermitteln, immer nur "ein" Sinn, den eine

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Interpretation darin findet. Trotzdem werden wir nicht sagen wollen, das Schreiben literarischer Texte sei gar kein sprachliches Handeln. Die Tasten der Schreibmaschine verheddern sich und klemmen, wenn man den Satz formulieren will, es sei ein bloßes sprachliches Verhalten. Wir wissen doch alle aus unserer Erfahrung als Leser, die uns diesen Gemeinplatz als wahr bestätigt, daß es gerade die höchste Form, wie man wohl zu sagen pflegt, des sprachlichen Handelns sein kann. 3.4 Für einen sinnhaften Handlungsbegriff "Der Mensch", sagt Schiller (1801, 359) in seinem berühmten Diktum, "... ist nur da ganz Mensch, wo er spielt". Kunst, und also auch Literatur, kann als Spiel verstanden werden, ohne daß sie dadurch von ihrem Ernst und ihrer Würde etwas verlöre, im Gegenteil. Dies ist für uns in unseren terminologischen Nöten ein Fingerzeig, wie man Sprechen als Handeln begreifen kann auch dort, wo es einen Zweckcharakter nicht hat und nicht folgenschwer ist, sondern, wie wiederum Schiller sagt, "heiter", was Ernst nicht ausschließt. Es ist der entscheidende Hinweis, durch den das Reden vom Sprechen als Handeln in seiner ganzen Tragweite und in seiner ganzen Fruchtbarkeit sichtbar wird. Denn in ihrer Fixiertheit auf den paradigmatischen Fall des sprach- und nichtsprachlichen Handelns - wo Handeln hochbewußt, absichtsvoll und folgenschwer ist - hat die Linguistik, so scheint es, die Formen des Handelns vergessen, wo dieses sich dem Spielerischen nähert, wo es Spiel ist. Wenn denn Sprechen wirklich Handeln sein soll, dann muß es aber - sonst macht es tatsächlich keinen Sinn, es so zu subsumieren - an allen Modalitäten des Handelns teilhaben können, es darf gerade nicht überall und immer Handeln im vollen, paradigmatischen Sinn des Wortes sein; denn alles andere, nicht-sprachliche Handeln ist auch nicht immer Handeln im vollen Sinn des Wortes. Ein linguistisch sinnvoller allgemeiner Handlungsbegriff muß gerade jene Eigenschaft auch haben, die der allgemeine Handlungsbegriff bei Max Weber hat, daß in seiner Definition und in seiner Erläuterung deutlich wird, daß er umfassend und daß er offen ist. "Die Grenze sinnhaften Handelns", schreibt Weber (1921, 2) gleich zu Anfang seines Werkes, "gegen ein bloß (wie wir hier sagen wollen:) reaktives, mit einem subjektiv gemeinten Sinn nicht verbundenes, Sichverhalten ist durchaus flüssig." Und als schriebe er nicht bloß für Soziologen der zwanziger, sondern auch für Linguisten der achtziger Jahre, fügt er hinzu: "Ein sehr bedeuten-

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der Teil alles soziologisch (lies: und linguistisch; FH) relevanten Sichverhaltens, insbesondere das rein traditionale Handeln ... steht auf der Grenze beider" (Weber 1921, 2 ) . Also schon nach außen sind die Grenzen, die Weber mit seinem Handlungsbegriff zum Verhalten zieht, nicht scharf gemeint. Erst recht aber sind dies nicht die Grenzen zwischen den Typen des Handelns, die Weber dann bildet, er betont erstens, daß "hier im übrigen nicht eine irgendwie erschöpfende Klassifikation der Typen des Handelns zu geben versucht wird" (Weber 1921, 13), zweitens, daß "sehr selten ... Handeln, insbesondere soziales Handeln, n u r in der einen o d e r der andren Art orientiert" ist (Weber 1921, 13), ferner, daß "diese Arten der Orientierung (die, er wiederholt es, "natürlich in gar keiner Weise erschöpfende Klassifikationen der Arten der Orientierung" sind; FH) ... für soziologische Zwecke geschaffene, begrifflich reine Typen" sind, "denen sich das reale Handeln mehr oder minder annähert oder aus denen es - noch häufiger - gemischt ist" (Weber 1921, 13). Angesichts der von Weber - doch wohl zu recht - derart als komplex und uneindeutig beschriebenen Sinnhaftigkeit menschlichen Handelns, durch die es aber gleichwohl zum Handeln wird, scheint es nicht angebracht, sprachliches Handeln per Definition so einzugrenzen, daß nur eindeutig zweckhaftes sprachliches Verhalten unter den Begriff des sprachlichen Handelns fällt. Zumindest ein Desinteresse an sonstiger Art der Orientierung und damit Sinnhaftigkeit sprachlichen Handelns würde eine Linguistik, in der sich ein solcher, enger Handlungsbegriff durchsetzte, festschreiben. Demgegenüber eröffnet ein weiterer, auf Sinn statt auf Zweck abgestellter Handlungsbegriff a la Weber die Chance, srachliches Handeln in seiner vielfältigen Motiviertheit zu erkennen und darzustellen. Er eröffnet - und nur ein so weit gefaßter Handlungsbegriff tut dies - die Möglichkeit, ohne unserem gewohnten Verständnis von "Handeln" und von "Zweck" Gewalt anzutun, alles sprachliche Verhalten als Handeln aufzufassen und es so im Licht einer allgemeinen Theorie menschlichen Handelns zu verstehen. Insbesondere der scheinbare Gegensatz zwischen dem Sprechen, das ein Gegenteil von Handeln ist, und dem Sprechen als Handeln kann so seine Auflösung erfahren, sie ergibt sich wie von selbst, wenn man sich nicht auf einen einzigen Handlungsbegriff beschränkt und wenn man nicht als einzigen Typ des Handelns nur das zielstrebigzweckbezogene gelten läßt. Sprechen und Schreiben können einerseits - und das ist vielleicht ein non-plus-ultra ihrer Handlungshaftigkeit - Arbeit sein. (Auch dies ist wohl, obwohl es alle Linguisten als professionell Redende und Schreibende sehr wohl wissen, noch nicht zum Gegenstand linguistischer Betrachtung gemacht

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worden.) Sie können andererseits - und haben also an der ganzen Breite des Spektrums der Möglichkeiten menschlichen Handelns teil - Spiel sein. Gerade die linguistische Pragmatik m u ß , sofern sie die Frage nach den pragmatischen Funktionen des Sprechens systematisch stellt, zu dem Ergebnis kommen, daß gerade auch sprachliches Handeln entpragmatisiert sein kann und oft ist. Sprachliches Handeln kann, so hat es Heeschen (1976, 296) formuliert, "die negation des handelns" sein. Zu diesem Ergebnis kommt Heeschen durch die Reflexion auf die kognitive Funktion und auf die Kreativität menschlichen Sprechens. "Der schöpferische Gebrauch (von Sprache; FH)", so Heeschen in einem späteren Beitrag (1980, 2 6 2 ) , "ist nur in einem handlungsentlasteten Raum möglich. Die sprachlichen Schemata beginnen dort als Zeichen zu funktionieren, wo der Sprechende aus dem unmittelbaren Handlungszusammenhang zurücktritt . . . , wo er, gleichsam spielend , von Trieb und Handlung abrückt, versucht, erprobt, die Realität lediglich abtastet." Daß Spiel Sinn hat, ist in der Tat ebenso evident wie, daß es keinen Zweck h a t . Nimmt man, wie Weber, das gegenüber "Zweck" sehr viel weitere Kriterium "Sinn" zum Definiens eines Handlungsbegriffes, dann kann man Sprechen als Handeln auch da verstehen, wo es, wenn Handeln als zweckgerichtetes Verhalten definiert ist, als Negation des Handelns erscheint.

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Sinnloses Handeln

Die stärkste Zumutung für einen zweckbezogenen Handlungsbegriff stellt gewiß ein Handeln dar, das nicht nur nicht zweckhaft, sondern schlechterdings sinnlos ist. Auch das gibt es, nach gemeinwie nach fachsprachlichem Sprachgebrauch. Es gibt sogar ein sinnwidriges Handeln, wenn nämlich jemand etwas t u t , das für ihn nicht nur keine erkennbare oder auch nur denkbare Funktion h a t , sondern für ihn geradezu und offensichtlich dysfunktional ist. Wenn also Sprechen Handeln sein soll, dann kommt man offenbar auch in der Linguistik ohne einen Handlungsbegriff nicht aus, der auch sinnloses und sinnwidriges Handeln mit einbegreift; es sei denn, man wollte die terminologische Konsequenz, daß zwar alles nichtsprachliche Handeln menschlicherweise und nach allgemeinem Verständnis auch sinnlos und sinnwidrig sein kann, sprachliches Handeln aber per Definition immer sinnvoll ist.

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4.1 Zweierlei Sinnlosigkeit Da "sinnlos" die Negation von "sinnvoll" ist, gibt es offenbar zwei Arten des sinnlosen Handelns: erstens ein Handeln, das Folgen, die der Handelnde wollte, nicht hat, und zweitens ein Handeln, das Folgen hat, die der Handelnde nicht wollte. Das sinnlose Handeln der ersten Art ist ein "Schlag ins Wasser" oder ein "Schuß ins Leere" ("misfire" nach Austin 1962, 16 f f . ) , es ist ein Handeln, das nach der Unterscheidung von Keller (1977a, 10) entweder "nicht gelungen" oder "nicht erfolgreich" ist. Das sinnlose Handeln der zweiten Art ist sinnlos in einem radikaleren Sinn von "sinnlos", hier kann von nicht "gelungen" und nicht "erfolgreich" gar nicht erst gesprochen werden, weil es bei diesem Handeln nichts gibt, worauf der Handelnde abzielt. Nachträglich erst stellt er bei diesem Handeln fest, daß sein Verhalten eine nicht gewollte Folge gehabt hat, durch die es dann zu dem nicht gewollten, sinnlosen Handeln geworden ist, das es ist. Mit beiden Arten sinnlosen Handelns hat sich Austin beschäftigt, mit der ersten Art - in Einschränkung auf Sprechakte - in "How to Do Things with Words" in seiner Lehre von den "infelicities" (1962, Ch. II f f . ) bei performativen Äußerungen. Da kann eine Handlung mißlingen und ungültig sein, weil entweder die Voraussetzungen für ein Gelingen nicht gegeben waren ("misinvocations"; es gab keine "accepted conventional procedure having a certain conventional effect", oder "persons and circumstances" waren nicht "appropriate" (Austin 1962, 14 f . ) ) oder weil die Handlung falsch oder unvollständig ausgeführt wurde ("misexecutions" (Austin 1962, 17)); ferner kann eine Handlung mißbräuchlich sein ("abuses" (Austin 1962, 16)). Dies gilt nach Austin für alle rituellen und zeremoniellen, konventionellen Handlungen (Austin 1962, 19). (Möglich, daß die deutsche Sprechhandlungstheorie aus Austins erster Gelingensregel - es muß eine "conventional procedure" geben durch Verallgemeinerung auf Handeln überhaupt zu der Feststellung oder Festlegung gekommen ist, daß .jedes Handeln "nach sozialen Regeln" erfolge, daß Handlungen immer "Realisierungen von kulturell geprägten Handlungsmustern" seien, so etwa Holly/Kühn/Püschel 1984, 291.) Sodann macht Austin noch darauf aufmerksam (1962, 21), daß Sprechhandlungen schon als Handlungen weiteren Mängeln ("whole dimensions of unsatisfactoriness" (1962, 21)) unterliegen können. Seine Beispiele - die Wette nach gelaufenem Rennen, die Schiffstaufe durch den Unbefugten, die Heirat mit dem Esel, die Taufe der Pinguine - zeigen, inwiefern mißlingendes Handeln in der Tat in einem Alltagsverständnis des Wortes "sinnlos" sein kann, obwohl bei diesen Beispielen vorausgesetzt ist, daß es immerhin im Augen-

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blick des Handelns für den Handelnden sinnvoll schien (cf. "purported act" (Austin 1962, 16 f f . ) ) . Dies ist bei der zweiten Art sinnloser Handlungen nicht der Fall, die also nicht bloß objektiv, sondern auch subjektiv sinnlos sind, und von denen Austin in seinem Aufsatz "A Plea for Excuses" (1961) spricht, ohne allerdings eine Systematik der Entschuldigungen und damit der sinnlosen und sinnwidrigen Handlungen zu geben. "Zufällig", "unabsichtlich", "ein Ausrutscher" ("slip"), "unfreiwillig", "ungeschickt", "gedankenlos", "taktlos" - so heißt eine kleine Auswahl der Wörter, mit denen wir solches Handeln kennzeichnen. Es fällt auf, daß sie ein Handeln immer negativ charakterisieren: als einer Eigenschaft ermangelnd, die es eigentlich haben sollte. Wichtig in unserem Zusammenhang ist, daß dieses Fehlen einer sonst wesentlichen Eigenschaft das Handeln für Austin nicht zum Nicht-Handeln macht. Wie ein kaputtes Auto, das also funktionsuntüchtig ist, immer noch ein Auto ist, so kann auch eine Handlung fehlerhaft sein und trotzdem eine Handlung bleiben. 4.2 Handlungszuschreibungen Der Einbeziehung des sinnlosen und des sinnwidrigen Handelns in die Geltung eines linguistischen Handlungsbegriffs ist der bereits zitierte Aufsatz von Holly, Kühn und Püschel (1984, bes. 300 f f . ) gewidmet, in dem sie insbesondere mit der Feststellung (1984, 288) argumentieren, es sei eine Handlung immer ein "Interpretationskonstrukt". Dem muß man zustimmen, aber auch entgegenhalten, daß dies nicht spezifisch etwas mit Handlungen und Handlungsbegriffen zu tun hat. Was etwas "ist", was als was "gilt", das ist immer eine Frage der Zuschreibung und der Interpretation. Wenn in der handlungstheoretischen Literatur trotzdem so hartnäkkig davon geredet wird, daß gerade Handlungen erst durch Interpretation als Handlungen erkannt werden, so offenbar deshalb, weil dabei an eine ganz bestimmte Interpretation gedacht ist, nämlich jene, mit der wir auf die Intentionalität eines Verhaltens schließen. Das ist klar etwa bei Keller (1977a, 8), dessen paradox formulierter Satz "Eine Handlung ist eine als Handlung interpretierte Aktivität" seinen Sinn bekommt durch den Satz, der ihm vorausgeht: "Wir müssen seinem (des Tuenden; FH) Tun Intentionalität unterstellen, um es als Handlung auffassen zu können." Oder etwa bei Harras (1976, 201): "Die Zuordnung einer reihe von tätigkeiten zu einer (zunächst hypothetischen) intention ist ... die bestimmung des tuns als handlung." Immer ist dabei, dies ist mit Blick auf

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Holly/Kühn/Püschel (1984, 1985) zu betonen, gemeint, daß dem Handelnden eine Intention - deutsch: Absicht - unterstellt bzw. zugeordnet bzw. zugeschrieben wird. Also ob ein Verhalten eine Handlung ist, das hängt etwa nach Keller und Harras, aber auch vielen anderen, davon ab, ob wir dem Handelnden eine Intention unterstellen. Aber auch welches Handeln jeweils vorliegt, ist eine Frage der Interpretation, die wir mit unseren je spezifischen Handlungsbegriffen vornehmen. Von diesen speziellen Handlungsbegriffen gilt, wie von anderen Begriffen auch, daß sie dem Gegenstand, von dem sie prädiziert werden, gewisse Eigenschaften explizit zuschreiben; andere Eigenschaften bei diesem Gegenstand als gegeben voraussetzen (präsupponieren); und von wieder anderen Eigenschaften des Gegenstandes, die er im übrigen haben mag oder nicht, abstrahieren. So gibt es Handlungsbegriffe (wie etwa die von Burkhardt/Henne (1984, 343) analysierten Begriffe "streichen", "taufen", "versprechen"), in denen sowohl die Art und Weise als auch die Absichtlichkeit (der Zweck) als auch der Erfolg der Handlung ausgesagt wird (Ich habe gestrichen, getauft, versprochen: dann ist gestrichen, getauft, versprochen). In anderen Begriffen wird nur über das Ergebnis, z . T . auch über die Absicht etwas ausgesagt, so etwa bei den sog. "faktitiven" Verben, nichts aber über die Art und Weise ("fällen" etwa heißt: bewirken, daß ein Baum fällt, ob mit Axt, Säge, Bulldozer und Zugseil oder Dynamit ist ganz egal; "töten": bewirken, daß jemand oder ein Tier stirbt, wobei die Art und Weise dieses Bewirkens wieder gleichgültig ist; im Beispiel "fällen" ist wohl Absicht impliziert, im Beispiel "töten" nicht). Bei solchen Handlungsbegriffen, die über die Art und Weise des Handelns überhaupt nichts beinhalten, ist es dann nicht mehr gut möglich zu sagen, daß sie ein "Handlungsmuster" darstellen. In wieder anderen Begriffen wird nur über die Absicht, nicht aber über den Erfolg etwas gesagt, es sind alle die Begriffe, die ein "Versuchen" zum Ausdruck bringen ( z . B . "bestürmen": versuchen zu erobern; "suchen": versuchen zu finden; "kämpfen": versuchen zu siegen). Diese Klasse von Handlungsbegriffen ist besonders in der Linguistik wohlbekannt, wo man sich ja besonders mit illokutionären Sprechakten beschäftigt hat, jenen Sprechakten also, in deren Begriff zwar über die Absicht, nicht aber über den Erfolg des Aktes etwas ausgesagt ist. In unserem Zusammenhang nun interessieren besonders die Handlungsbegriffe, in denen entweder nur die Folge eines Handelns und nicht die Absicht thematisiert ist, wo also über die Absichtlichkeit der Herbeiführung dieser Folge nichts ausgesagt wird; oder in denen zwar die Absicht neben der Folge thematisiert ist, aber negativ,

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insofern der Begriff besagt, daß es gerade gegen die Absicht des Handelnden war, die Folge herbeizuführen. Im ersten Fall bleibt es also, was die Aussagekraft des jeweiligen Begriffs betrifft, offen, ob die jeweilige Handlung für den Handelnden sinnvoll, sinnlos oder sinnwidrig war. Im zweiten Fall ist Sinnwidrigkeit impliziert. 4.3 Für einen sinnbezogenen Handlungsbegriff

Ob solche Handlungsbegriffe wirklich Handlungsbegriffe und nicht bloß Verhaltensbegriffe sind, das ist allerdings die Frage. Und wo, in welchem Sprachbereich, sie es "sind". Für die Gemeinsprache wie für die juristische Fachsprache etwa steht es fest, daß auch ein in Bezug auf die eingetretene Folge nicht-intentionales Verhalten als Handeln gilt, so insbesondere das "fahrlässige" Handeln des Strafgesetzbuches. Für die Linguistik hingegen stellt sich nicht diese Frage - ob es Handlungsbegriffe sind - sondern, da eine Wissenschaft ihre Begriffe nicht vorfindet, sondern macht, die Frage, ob sie Handlungsbegriffe sein sollen . Zur Zeit werden beide Positionen vertreten. Nach Keller und Harras z . B . (s.o.) können solche Begriffe keine Handlungsbegriffe sein, da sie "Handlung" durch "Intention" (des handelnden Subjekts) definieren. Für Holly/Kühn/Püschel ( s . o . ) ist auch ein unabsichtliches Handeln ein Handeln, sie schließen sich dem juristischen Sprachgebrauch an (nur daß sie dessen Zweckbegriff ändern). Hier nun soll dafür plädiert werden, daß unter den linguistischen Handlungsbegriffen zumindest einer ist, der Zweckhaftigkeit des Handelns nicht impliziert, ja nicht einmal Sinnhaftigkeit des Handelns. Dies wäre dann der allgemeinste der linguistischen Handlungsbegriffe. Ein Argument dafür wäre, daß die Linguistik sich so nicht in Gegensatz stellt zu der gerade in der Jurisprudenz etablierten Terminologie, die wegen ihrer praktischen Wichtigkeit auch die Gemeinsprache mitgeprägt hat und weiter prägt; dies, daß sie das nicht t u t , ist wünschbar im Interesse der wechselseitigen Verständlichkeit zwischen den Disziplinen. Ein weiteres Argument wäre, daß es recht umständlich ist, bei (ergebnisthematisierenden) Vollzugsbegriffen - nehmen wir als Beispiel das Sprechaktverb "beleidigen" - zur handlungstheoretischen Charakterisierung gegebenenfalls etwa formulieren zu müssen: "Indem X den - unabsichtlich - beleidigt hat, hat er zwar, indem er das-und-das zu ihm gesagt hat und auch hat sagen wollen, gehandelt; doch, insofern er ihn beleidigt hat, nicht gehandelt, sondern sich nur verhalten." Einfacher ist es doch, wenn die Ausdrucksmöglichkeit zur Verfügung steht, daß X hier unabsichtlich gehandelt h a t . Was ja nicht aus-

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schließt, daß man als Linguist dann weiß: Nach einem anderen, engeren (auch linguistischen) Handlungsbegriff ist ein solches unabsichtliches Handeln kein Handeln. Das Hauptargument scheint mir aber zu sein, daß es wünschenswert ist, daß man in der Linguistik ohne Einschränkung soll sagen können, daß Sprechen Handeln ist. Gewiß hat Keller recht, wenn er (1977a, 15 f.) für die Linguistik einen eng definierten Handlungsbegriff will, der u . a . den Vorteil h a t , daß "Grenzfälle des kommunikativen Handelns, wovon es", betont Keller, "sehr viele gibt", als Grenzfälle i.S. dieses Handlungsbegriffs deutlich werden. Nur wäre es wohl auch gut, wenn wir außerdem auch einen Handlungsbegriff hätten, demgemäß solche Fälle als Normalfälle sprachlichen Handelns, was sie ja auch sind, erscheinen. Ein solcher weiter Handlungsbegriff wäre für die Linguistik ein Memento, daß Sprechen nicht nur Handeln ist, insofern es bewußt, gezielt und folgenschwer sein kann, daß es mit dem sonst als "Handeln" bezeichneten Verhalten nicht nur dies gemeinsam hat; sondern auch: daß es gleichfalls, wie anderes Handeln, oft mehrfunktional ist, oft auch nur ein "Probehandeln" oder ein Spiel ist, oft auch kontrafunktional ist. Ein ganzes Forschungsprogramm wäre mit einem solchen weiten Handlungsbegriff gegeben, der aus der Enge der in der Tradition der Nach-Austin-Searleschen Sprechakttheorie kanonisch gewordenen Fragestellungen herausführt. Insbesondere das "unabsichtliche", das sogar "gegenabsichtliche" Handeln - das eben haben Holly/Kühn/Püschel gesehen - ist dabei der Stein des Anstoßes, der (allerdings) die Entscheidung nötig macht, "Handlung" ohne Bezug auf "Intention" und "Zweck" (es sei denn, man änderte deren Bedeutung) zu definieren, wenn man den weiten Handlungsbegriff will. Unabsichtliche Handlungen können nach dem Weberschen Handlungsbegriff durchaus "sinnvoll" (und also "Handlungen") sein, wenn sie "wertrational", "affektuell" und/oder "traditional" sind. Nehmen wir jedoch an, daß in einem bestimmten Fall alles dies nicht z u t r i f f t - wenn etwa ein Chirurg bei einer Operation einen "Kunstfehler" macht oder ich mich in einem nichtfreudschen Sinn "verspreche"; dann ist mein Verhalten auch nach Weber kein Handeln mehr, denn es ist (für das handelnde Subjekt) nicht mehr sinnvoll. Es bleibt aber - so kann man vielleicht das Wesentliche des Weberschen Handlungsbegriffes in einem noch weiteren Begriff als dem seinen aufheben - sinnbezogen. Denn wenn wir ein solches Verhalten als "sinnlos" oder als "sinnwidrig" qualifizieren, dann stellen wir damit gerade darauf ab, daß es eigentlich sinnvoll sein sollte. Wir betrachten es nach wie vor in der Perspektive seiner Sinn-

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haftigkeit. Wir betrachten es unter dem Gesichtspunkt seiner Relevanz. Mit diesem letzten Wort ist ein Hinweis aufgegriffen, den Holly/ Kühn/Püschel (1984, 295) geben, indem sie den Strafrechtstheoretiker Wessels (1981, 21) zitieren, für den eine Handlung ein "sozialerhebliches menschliches Verhalten" ist. Es ist klar, daß sich das Recht, insbesondere das Strafrecht, nur für die soziale Relevanz eines Verhaltens interessiert. Demgegenüber wird die Linguistik die Frage allgemeiner stellen, welche - sei es soziale, sei es nur individuelle - Relevanz ein insbesondere sprachliches Verhalten hat oder, gegen die Erwartung, nicht hat. Dies nicht n u r , aber unter anderem auch deshalb, weil in den Bereich der Linguistik die Probleme einer "Kommunikativen Ethik" (Heringer 1982, 27) fallen. (Speziell auch daran, daß dies erkennbar wird, ja auf einmal evident ist, kann die Fruchtbarkeit des Gedankens vom "Sprechen als Handeln" abgelesen werden.) Nun haben vielleicht zwar Burkhardt/ Henne (1984, 348) recht, wenn sie schreiben, Verantwortlichkeit sei kein Handlungskriterium; sie gehöre also nicht in eine Definition von "Handlung" hinein. Sicher aber kann die Frage, ob ein Handlungsbegriff geeignet ist, eine angemessene Erörterung der Probleme einer Kommunikativen Ethik überhaupt zuzulassen, uns bei der Definition von Handlungsbegriffen leiten. Aus dieser Überlegung ergibt sich ein zusätzliches Argument für einen weiten Handlungsbegriff, der Zweckhaftigkeit nicht als Merkmal enthält. Denn die Ethik betrachtet menschliches Verhalten in der Tat nicht n u r , wenn und insofern es beabsichtigt und zweckgerichtet ist. "Aus Versehen" oder auch "fahrlässig" handelt jemand, der etwas t u t , was er hätte unterlassen sollen; der also eine Unterlassung unterläßt. Es sollte vielleicht einer der Handlungsbegriffe der Linguistik weit genug sein, Verhaltensstrukturen eines solchen bescheidenen Grades von Komplexheit noch enthalten zu können.

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Definieren als Handeln

Den "richtigen" Handlungsbegriff, den also die Linguistik nur zu finden brauchte, gibt es nicht, das vesteht sich von selbst. Doch auch "den" sinnvollen Handlungsbegriff gibt es nicht. Denn wie anderes Handeln auch geschieht das Definitionshandeln von Linguisten im Widerstreit verschiedenster Wünschbarkeiten. Sein Ergebnis hat daher immer den Charakter eines Kompromisses. Sinnvoll - und das heißt zunächst n u r : nicht einfach sinnlos - werden viele, ja sogar alle linguistischen Handlungsbegriffe sein, wenn man nicht unterstellt, daß es Linguisten gibt, die einfach drauf los definieren,

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ohne an eine Brauchbarkeit ihrer Begriffe zu denken. Zielten alle Linguisten auf den selben Zweck ab, so könnte es allenfalls einen optimalen Handlungsbegriff geben, der dann graduell sinnvoller als andere wäre, die also gleichfalls sinnvoll blieben; dies ist aber nicht der Fall. Wir werden also weiterhin damit leben müssen, daß es in der Linguistik nicht einen, sondern viele Handlungsbegriffe gibt, die allesamt, bezüglich verschiedener Zwecke allerdings, sinnvoll sind. Unsere Auseinandersetzung um diese Begriffe wird daher nicht die besonders einfache Form haben können, daß jeder von uns behauptet: Mein Handlungsbegriff ist sinnvoll, deiner nicht. Vielmehr werden, wenn die Diskussion über das Sinnvolle eines Handlungsbegriffs selber sinnvoll sein soll, die Zwecke zur Sprache kommen müssen, in Bezug auf die der so oder so definierte Begriff brauchbar sein soll; ferner aber auch die Zwänge, denen eine Definition jeweils unterliegt. Da eine Definition selbst eine Handlung ist und als solche Entscheidungen verlangt, sollten in der Diskussion darüber - damit nicht der Eindruck entsteht, man glaube, die Entscheidung werde von der Natur der Sache selbst diktiert - die Entscheidungsalternativen in ihrem Für und Wider vorgestellt und erörtert werden. Was sind es für Wünschbarkeiten, an denen sich die Definition eines Handlungsbegriffs für die Linguistik sinnvollerweise orientiert? Daß eine Definition originell, daß sie kurz, griffig, einprägsam, elegant sein soll, daß sie mit anderen Definitionen zusammen ein System ergibt - dies alles, und gewiß noch manches andre, kann man von einer Definition wünschen. Doch scheint (bei einem Wort wie "Handlung", das aus der Gemeinsprache genommen ist, aber auch in der Philosophie und in den Sozialwissenschaften eine Geschichte hat; das also kein Kunstwort ist) zweierlei besonders wichtig: Zweckmäßigkeit (das wurde schon gesagt) in Bezug auf die speziellen Zwecke, denen der Begriff dienen soll, einerseits; Rücksichtnahme auf die Zwänge der begrifflichen Tradition, die der Terminus hat, andrerseits. Zwecke also und Zwänge sind zu beachten. Was zuerst die Zwecke b e t r i f f t , so läßt sich, wie es scheint, die Frage nach dem Zweck eines Handlungsbegriffs in einem ersten Schritt als die Frage fassen, was man mit ihm will sagen können . Will man alles sprachliche Verhalten als sprachliches Handeln bezeichnen? Dann braucht man einen weiten Begriff, der, so wurde oben argumentiert, ein nicht-zweckhaftes, ja sogar ein nicht-sinnvolles Verhalten mit einbegreift; "Zweck" als Definitionsstück scheidet dann auf jeden Fall aus. Oder will man einen Handlungsbe-

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g r i f f , kraft dessen sich Handeln von bloßem Verhalten maximal unterscheidet, um das Spezifische hervorzuheben, das menschliches Verhalten gegenüber tierischem haben kann? Will man sich durch seine Definition den wiederholten Hinweis darauf ersparen, daß man etwa ein bewußtes, zweckhaftes und/oder konventionelles Handeln meint, wenn man kurz von Handeln redet? Dann sind entsprechend enge Bestimmungen zu treffen. Was die Zwänge betrifft, so bestehen sie in einer gebotenen Rücksichtnahme auf die Tradition, die ein Begriff hat, soweit es die eigenen Zwecke irgend erlauben. Man ist gehalten, sich mit seinen Definitionen in keinen unnötigen Gegensatz zu Nachbarwissenschaften zu bringen und auch den gemeinsprachlichen Sprachgebrauch möglichst zu beachten. Dies schon zum Zweck der Verständlichkeit über Fächergrenzen hinweg, u.a. aus der Überlegung heraus, daß es nicht im Interesse einer Wissenschaft - wie der Linguistik - ist, sich mit idiosynkratischen Begriffsbildungen selbst ins Abseits der inter- und außerwissenschaftlichen Diskussion zu stellen. Im Interesse einer wechselseitigen Erhellung der Handlungswissenschaften liegt es, wenn die Linguistik fortfährt (vgl. die Überblicke bei Weinrich 1976, Rehbein 1979), die Handlungstheorien und -begriffe anderer Disziplinen zu beachten, die allerdings in ihrer Begrifflichkeit nicht einheitlich sind, so daß eine solche Beachtung wiederum bedeutet, daß man Kompromisse schließen m u ß . Dies gilt auch für die Beachtung der gemeinsprachlichen Bedeutung solcher Wörter wie "Handlung", "Absicht", "Zweck" u s w . , deren Explikation im Rahmen einer Theoriebildung durch Definitionen geleistet werden soll. Wenn eine Theorie, so etwa kann man diese Forderung formulieren, für ihre Termini schon keine Kunstwörter nimmt, dann sollte sie der gemeinsprachlichen Bedeutung der Wörter, die sie stattdessen benutzt, so weit wie möglich gerecht werden. Holly/Kühn/Püschel (1984) - um sie ein letztes Mal zu zitieren scheinen das bei ihrer Definition eines Handlungsbegriffs zunächst gewollt zu haben, kommen jedoch nach einer Übersicht über eine Reihe von Wörterbuchartikeln zu einem Ergebnis (Holly/Kühn/Püschel 1984, 288), das eine Explikation der gemeinsprachlichen Wörter "Handlung", "Zweck", "Ziel" usw. als kaum mehr möglich erscheinen laßt: "daß ungenaues, schludriges Sprechen für viele alltägliche Situationen ausreicht". Sie schelten dann (1984,288) die deutsche Alltagssprache, wie sie jedenfalls in unseren Wörterbüchern gespiegelt ist, noch einmal und reden von den "Widersprüche(n) eines verbreiteten Handlungsbegriffs", offenbar ist der alltagssprachliche gemeint. Einen widersprüchlichen Begriff wird man in der Tat nicht explizieren können.

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Wie aber, wenn - was sich in den Wörterbüchern allerdings wirklich nicht ausreichend zeigt - die deutsche Sprache gar nicht nur über einen - der dann in der Tat widersprüchlich wäre - sondern über mehrere verschiedene Handlungsbegriffe verfügte, die wir als Sprecher oder Hörer in der Regel im konkreten Ko- und Kontext sehr wohl auseinander zu halten wissen? Dann brauchten wir einerseits nicht mehr, was zu unserer Rolle als Sprachwissenschaftler doch so recht nicht paßt, über die deutsche Sprache und ihre Widersprüchlichkeiten schimpfen. Wir könnten andrerseits in vernünftiger Rücksichtnahme auf die verschiedenen Handlungsbegriffe der Alltagssprache unsere speziellen, fachsprachlichen Handlungsbegriffe so definieren, daß sie als Explikationen (statt als Negationen) der umgangssprachlichen Begriffe gelten können. Und es scheint doch auch wirklich so zu sein, daß, wenn wir das Wort "Handlung" oder das Wort "handeln" umgangssprachlich ohne Zusatz verwenden, wir damit je nach Zusammenhang Verschiedenes meinen, das wir aber nach Bedarf auch explizit machen können: ein hochbewußtes, überlegtes, also vorbedachtes, "vorsätzliches", nach Ziel(en), Mitteln und Konsequenzen reflektiertes Handeln im einen Extremfall, ein unabsichtliches, nicht zweckhaftes, nicht bewußtes Verhalten (dessen man sich etwa erst nachträglich bewußt wird) im ändern Extremfall. Gerade die mögliche und sprachübliche Explizierung durch qualifizierende Adjektive beweist das. Wenn ich im Deutschen ohne weiteres von einem "absichtlichen" Handeln sprechen kann, so ist damit klar, daß "Handeln" alleine den Vorsatz nicht streng impliziert, wenn ich dagegen von "unabsichtlichem" Handeln spreche, so ist klar, daß "Handeln" alleine die Vermutung doch nahelegen kann, es werde Absicht impliziert. Es ist wie bei ändern Wörtern auch. Wir reden in der Bundesrepublik, in Österreich und der Schweiz kurz von Demokratie und meinen damit in der Regel eine parlamentarische Demokratie nach westlichem Muster. Wir wissen zugleich, daß man unter "Demokratie" auch etwas ganz anderes verstehen kann, etwa eine "Volksdemokratie" nach östlichem Muster. Das macht aber den Begriff und das Wort "Demokratie" nicht widersprüchlich. Heeschen (1976, 286 und 298) hat wohl als erster die Ansicht vertreten (Burkhardt/Henne 1984, 339 weisen darauf hin), daß es nur einen einzigen Handlungsbegriff der Linguistik nicht gut geben kann. Man kann das bedauern, aber auch begrüßen. Jeder einzelne Handlungsbegriff hat als guter Kompromiß, der er bestenfalls ist, neben seinen Vorteilen auch seine Nachteile und führt, wird er generalisiert, zu Aporien. In Anlehnung an die gemeinsprachliche Polysemie (die doch kaum je störend ist) von "Handlung" sollte auch die Linguistik mehrere Handlungsbegriffe benutzen und bewußt un-

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Instrument und als Reflexionsob-

Frank Liedtke

Kooperation, Bedeutung, Rationalität

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KOOPERATION, BEDEUTUNG, RATIONALITAT

1. 3. L. Austins Einsicht, daß derjenige, der etwas sagt, im vollen Sinne des Wortes etwas tut (Austin 1972, 110), hat es ermöglicht, die Beziehung zwischen einer Äußerung und dem, was der Sprecher mit ihr meint, zu k l ä r e n , und zwar dadurch, daß man die Beziehung einer Handlung zu dem, was ein Handelnder mit ihr bezweckt, näher untersucht. Daß man - k u r z gesagt - Äußerungsbedeutung und Handlungsziel in dieser Weise aufeinander bezieht, so daß eine Beschäftigung mit der zweiten der beiden Kategorien von N u t zen ist für die Explikation der ersten, setzt unter anderem voraus, daß das mit einer Äußerung Gemeinte als Ziel einer sprachlichen Handlung aufgefaßt werden kann. H. P. Grice macht in seinem Aufsatz "Meaning" auf die Voraussetzungen einer solchen Strategie aufmerksam: "Hat man erst einmal gezeigt, daß die Kriterien zur Beurteilung sprachlicher Intentionen den K r i t e r i e n zur Beurteilung nicht-sprachlicher Intentionen sehr ähnlich sind, so ist damit sicherlich auch gezeigt, daß sprachliche Intentionen nicht-sprachlichen Intentionen sehr ähnlich sind." (Grice 1979a, 14 f.) Ungleich direkter äußert sich J. R. Searle zu diesem Punkt. Er ist der Auffassung, "... daß eine Sprachtheorie Teil einer Handlungstheorie ist, und zwar einfach deshalb, weil Sprechen eine regelgeleitete Form des Verhaltens ist." (1971, 31) Üblicherweise faßt man sprachliche Handlungen als Teilklasse von Handlungen a u f , woraus folgt, daß allgemeine Aussagen über Handlungen auch für die spezielle Klasse der sprachlichen Handlungen gelten. Zu diesen allgemeinen Aussagen gehört, daß Handelnde Ziele verfolgen und daß sie ihre Handlungen als Mittel einsetzen, um zu diesen Zielen zu gelangen. Diese Beziehung von Handlung und Handlungsziel ist

"that to say something is in the full normal sense to do something" (Austin 1976, 94) d t . : "Handlung, Intention, Bedeutung", in: Meggle 1979, 2-15 O> Handlungen als Mittel-zu-etwas aufzufassen birgt die Gefahr der Verdinglichung des Handlungsbegriffs in sich. Ihr ist mit der nötigen Aufmerksamkeit zu begegnen.

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beim Übergang von einer Handlungstheorie zu einer Sprachtheorie abzubilden auf das Verhältnis von Äußerung und Äußerungsbedeutung. Wenn eine solche Abbildung gelingt, verfügt man über eines von vielen Kriterien - vermutlich das wichtigste - anhand dessen man sprachliche wie nicht-sprachliche Intentionen beurteilen kann. Und da die Intention, mit der eine Handlung ausgeführt wird, ein wichtiges Kriterium für die Identifikation der Handlung selbst ist, verfügt man damit auch über ein Kriterium, anhand dessen man sprachliche wie nicht-sprachliche Handlungen beurteilen kann. Ein Kriterium, anhand dessen Handlungen weniger beurteilt als vielmehr bewertet werden, bezieht sich auf ihre Eignung als Mittel für einen verfolgten Zweck. Anhand dieses Kriteriums kann entschieden werden, ob eine Handlung rational ist oder nicht. Ist man der Meinung, daß sie für einen verfolgten Zweck geeignet ist, dann kann man von ihr sagen, daß sie rational ist, oder besser: daß eine Person rational handelt. Ist man der Meinung, daß eine Handlung ein ungeeignetes Mittel für einen verfolgten Zweck ist, dann kann man entweder überlegen, ob der Handelnde einen ganz anderen, dem Beobachter unbekannten Zweck verfolgen wollte, oder man schreibt ihr einen geringeren Grad an Rationalität zu. Das Kriterium der Geeignetheit für einen verfolgten Zweck kann man auf sprachliche wie auf nicht-sprachliche Handlungen anwenden, sofern man über die dafür nötige Beurteilungsgrundlage verfügt. So wie man sagen kann, daß eine Person rational handelt, kann man auch sagen, daß sie rational sprachlich handelt. Man behauptet dann, daß die Sprechhandlung, die die Person ausführt, ein geeignetes Mittel zur Realisierung eines Zwecks ist. Wenn man den Rationalitätsbegriff weiter faßt, kann man auch sagen, daß jemand, der einer Person rationales Handeln zuschreibt, behauptet, daß sie ihre (Sprech-)Handlung für ein geeignetes Mittel zur Realisierung eines Zweckes hält . Bei einem solchen subjektiven Rationalitätskriterium ist die Bewertung einer Handlung als rational oder nicht-rational stärker mit der Beurteilung der Person selbst verbunden als bei einem objektiven Rationalitätskriterium. H. P. Grice hat in dem Aufsatz "Logik und Konversation" (in Meggle 1979c, 243-265) Überlegungen zum Zusammenhang von Rationalität und sprachlichem Handeln in Gesprächen angestellt, die für die Untersuchung von Kooperation, Bedeutung und Rationalität und ihres Ver-

Dies ist eine verkürzte Wiedergabe des Rationalitätsbegriffs, wie er in der Entscheidungs- und Spieltheorie verwendet wird. S. hierzu Hempel 1977, der sich stark an Luce/Raiffa 1957 anlehnt.

Kooperation, Bedeutung, Rationalität

hältnisses zueinander wichtig sind. von Gesprächsteilnehmern:

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Er

schreibt über das Handeln

Unsere Gespräche bestehen normalerweise nicht aus einer Abfolge unzusammenhängender Bemerkungen, und wären so auch nicht rational. Sie sind kennzeichnenderweise, wenigstens bis zu einem gewissen Maß, kooperative Bemühungen; und jeder Teilnehmer erkennt bis zu einem gewissen Grad in ihnen einen gemeinsamen Zweck ( b z w . mehrere davon) oder zumindest eine wechselseitig akzeptierte Richtung an. . . . Wir könnten demnach ganz grob ein allgemeines Prinzip formulieren, dessen Beachtung (ceteris paribus) von allen Teilnehmern erwartet w i r d , und zwar: Mache deinen Gesprächsbeitrag jeweils so, wie es von dem akzeptierten Zweck oder der akzeptierten Richtung des Gesprächs, an dem du teilnimmst, gerade verlangt wird. Dies könnte man mit dem Etikett Kooperationsprinzip versehen." (248) Indem er sich freimütig zum Rationalisten erklärt, formuliert Grice es als sein Ziel, zeigen zu können, "daß Beachtung des KP (Kooperationsprinzips; d . V e r f . ) und der Maximen ... vernünftig (rational) ist" (1979c, 253). Die Teilnahme an einer Konversation ist relativ zu den Zielen, die die Gesprächspartner verfolgen, nur dann von Gewinn, wenn sie in Übereinstimmung mit dem Kooperationsprinzip und den damit verbundenen Maximen verläuft. Es ist also für Gesprächspartner rational, sich an das Kooperationsprinzip zu halten, weil dadurch die Chance größer ist, Handlungsziele wie 'jemanden zu einem Glauben veranlassen' oder 'jemanden zu einer Handlung veranlassen' zu realisieren, als im Falle der Nichtbeachtung des KP im Gespräch. Kooperativität ist etwas, was Gesprächspartner nicht aus Sorge um den Verlauf des Gesprächs selbst an den Tag legen müssen, sondern etwas, was sie in Hinblick auf die Realisierung ihrer Sprechhandlungsziele anstreben. So ist auch in diesem Zusammenhang rationales Handeln charakterisiert im Rückgriff auf das Zweck-Mittel-Schema. Kooperatives Handeln im Gespräch ist ein geeignetes Mittel, um den Zweck oder die Zwecke, den/die man mit Sprache üblicherweise verfolgt, zu realisieren. Ob Kooperativität im Gespräch ein hinreichendes Mittel ist, um die Handlungsziele oder -zwecke der Teilnehmer zu realisieren, ist eine weitere Frage, die durch den Verweis auf das Kooperationsprinzip nicht beantwortet ist. Hier geht es um notwendige Bedingungen, d . h . um das, was mindestens gewährleistet sein m u ß , damit die Teilhnehmer mit Aussicht auf Erfolg ihre Sprechhandlungsziele ver-

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folgen können. Läßt man einmal die Redeweise zu, daß rationales Handeln im Gespräch kooperatives Handeln im Griceschen Sinne ist wobei dem Rationalitätsbegriff möglicherweise stärkeres Gewicht gegeben wird als von Grice ursprünglich beabsichtigt -, dann kann man eine interessante Verbindung zwischen rationalem Handeln und Äußerungsbedeutung herstellen. In Grices Ansatz ist die Frage der Befolgung oder Nichtbefolgung des Kooperationsprinzips mit der Frage, was was ein Sprecher mit einer Äußerung meint, in systematischer Weise verknüpft. Im genannten Aufsatz ist diese Verknüpfung ausführlich dargelegt, so daß hier nur verkürzt darauf eingegangen werden soll. Es geht Grice vor allem um den Fall, daß jemand in einer Konversation Dinge sagt, die nicht als ein Beitrag gelten können, der an der betreffenden Stelle in Übereinstimmung mit dem akzeptierten Zweck oder der akzeptierten Richtung des Gesprächs stehen würde. In einigen dieser Fälle wird der Angesprochene durch eine spezielle Form des praktischen Schlusses zu der Annahme geführt, daß der Sprecher das, was er gesagt hat, nicht wörtlich gemeint hat. Er kommt zu dieser Annahme, weil er eine Interpretation der Äußerung sucht, die in Übereinstimmung mit seiner generellen Annahme steht, daß der Sprecher das Kooperationsprinzip einhält. Das, was der Sprecher gemeint hat ( d . h . gemeint haben muß, wenn seine Äußerung als KP-Befolgung gelten soll), ist identisch mit der Interpretation oder Menge von Interpretationen seiner Äußerung, die es erlaubt, die KP-Befolgungsannahme a u f rechtzuerhalten. Der Zusammenhang zwischen der Annahme, daß Gesprächsteilnehmer rational handeln, und der Interpretation ihrer Äußerungen ist somit der, daß die Rationalitätsannahme als eine Prämisse in einem praktischen Schluß auftritt, den der Angesprochene durchführt bei seiner Suche nach einer Interpretation einer Äußerung, deren konventionelle, "wörtliche" Interpretation mit ebendieser Rationalitätsannahme nicht übereinstimmt. Es soll in diesem Beitrag versucht werden, den Einfluß von Rationalitätsannahmen der angegebenen Art auf die Interpretation von Äußerungen generell, das heißt nicht nur für den Fall von offen Die Ausdrücke 'Ziel' und 'Zweck* werden hier durchweg austauschbar verwendet. Darüberhinaus wird dem Umstand Rechnung getragen, daß man dem allgemeinen Sprachgebrauch folgend sagen sollte, daß Personen Ziele und Handlungen Zwecke haben. vor allem auf den Seiten 246-254 zum Schema des praktischen Schlusses s. Wunderlich 1976, 259 f f . ; v. Wright 1971.

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kundigen KP-Verletzungen zu untersuchen. Spielt die Rationalitätsannahme im Falle von konversationeilen Implikaturen eine Rolle bei dem Versuch, herauszubekommen, was der Sprecher gemeint haben kann, so liegt die Vermutung nahe, daß sie diese Rolle auch bei nicht-implizierenden Äußerungen spielt. Die Annahme, daß eine Person zur Verfolgung eines Zwecks das Mittel (sprich: Handlung) wählt, das sie für geeignet hält, um diesen Zweck zu verwirklichen, kann einem Beobachter dabei helfen, zu entscheiden, welchen Zweck eine bestimmte Person mit einer bestimmten Handlung verfolgt. Es wird der Zweck sein, für den die beobachtete Handlung das geeignete Mittel ist, vorausgesetzt, diese Person handelt rational. Das können natürlich mehrere Zwecke sein. Gelingt es, diesen Zusammenhang auf sprachliche Äußerungen zu übertragen, dann hätte man ein mögliches Modell für die Interpretation von Äußerungen auf der Grundlage des mit ihnen verfolgten Zwecks. Für den Fall, daß diese Operation gelingt, verfügt man damit über ein Modell d a f ü r , wie Rationalität, Kooperation und Bedeutung zusammenhängen, wobei unter Bedeutung zunächst die Situationsbedeutung eines Äußerungstyps zu verstehen ist (s. Grice 1979b, 86). Eine Gef a h r , die man beim Übergang von konversationeilen Implikaturen zu nicht implikativen Äußerungen unter Beibehaltung des gleichen oder eines abgewandelten Erklärungsschemas eingeht, ist die, daß man versucht sein könnte, Verstehen von Äußerungen in jedem Fall als Schlußprozeß aufzufassen, auch wenn nichts implikatiert wurde. Dies wäre ein verfehlter, intellektualistischer Ansatz. Das Vorhaben, den Zusammenhang zwischen Rationalitätsannahmen und der Situationsbedeutung von Äußerungen theoretisch zu entwickeln, muß über folgende Stufen laufen: Es muß spezifiziert werden, was unter dem Handlungsziel von sprachlichen Handlungen allgemein zu verstehen ist. Weiter muß festgelegt werden, was es heißt, wenn man sagt, sprachliche Handlungen oder ihre Ausführung sei(en) rational. Hier sind über das Kooperationsprinzip hinaus weitere Angaben zu machen. Schließlich ist zu spezifizieren, wie ein Gesprächspartner vom "Vorliegen" einer sprachlichen Handlung und der Rationalitätsannahme zu Hypothesen darüber gelangt, was der Sprecher mit seiner Äußerung bezweckt und welcher von den so angenommenen Zwecken der entscheidende für das Verständnis der Äußerung ist. Dies sind längst nicht alle Punkte, die in einem solchen Programm zu klären sind. Aber es sind die wichtigsten. In diesem Beitrag soll nicht das gesamte Programm durchgeführt und ausformuliert werden. Ein Ziel wäre schon erreicht, wenn deutlich würde, daß ein solches Programm erklärungskräftige Aussagen darüber machen kann, auf welche Weise Personen zu Hypothesen über den Sinn von Äußerun-

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gen ihrer Gesprächspartner kommen und welche Rolle dabei die Annahme spielt, daß die Gesprächspartner rational handelnde Menschen sind. Um diesem Ziel etwas näher zu kommen, soll im folgenden erläutert werden, was es heißt zu sagen, eine Person handele rational.

2. Was es heißt, einer Person rationales Handeln zuzuschreiben, soll zunächst an materiellen Handlungen wie 'die Türe schließen', 'das Licht anknipsen' etc. exemplifiziert werden, d.h. an solchen Handlungen, von denen man nicht ohne weiteres sagen würde, daß jemand mit ihnen etwas meint. Für solche einfachen, materiellen Handlungen läßt sich ein Rationalitätskriterium angeben, das mit den Ausdrücken 'Mittel' und 'Zweck' operiert. Akzeptiert man die heuristische Redeweise, daß Handlungen Mittel zu etwas sind, und daß man Mittel wählt , indem man handelt, um einen Zweck zu realisieren, dann kann man formulieren: Eine Person handelt rational gdw. sie zur Verfolgung eines Zwecks ein Mittel wählt, das sie für geeignet hält, um diesen Zweck zu realisieren. Angenommen, eine Person P befindet sich in einem Raum, in dem es zieht, und P hält das Schließen der Tür für ein geeignetes Mittel, um zu verhindern, daß es zieht, dann kann man von ihr prädizieren, daß sie rational handelt, wenn sie die Türe schließt. In dieser Formulierung des Beispiels kommt eine Komponente nicht zum Tragen, die entscheidendes Gewicht hat: Es ist vorausgesetzt, daß die Person die Präferenz hat, daß es nicht zieht. Hat sie diese Präferenz nicht, dann kann man ihre Handlung, das Fenster zu öffnen, für rational halten, auch wenn sie das Türeschließen für ein geeignetes Mittel hält, den Durchzug zu unterbinden. Man kann ihr in diesem Falle einen anderen Zweck unterstellen, nämlich den, kräftig den Raum zu durchlüften. Auch diesen Handlungszweck unterstellt man ihr auf der Basis der Rationalitätsannahme, daß sie das jeweils geeignete Mittel für den verfolgten Zweck wählt. Man unterstellt ihr in diesem Falle, daß sie das Fensteröffnen für ein geeignetes Mittel hält, um den Zweck, daß der Raum durchlüftet ist, zu realisieren, und man unterstellt ihr außerdem, daß sie diesen Zweck realisieren will.

Zum Begriff der materiellen Handlung s. Wunderlich. Zu diesem Punkt s. Hermanns 1987, dieser Band.

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Es gibt natürlich auch den Fall, daß man einer Person nicht-rationales Verhalten zuschreiben m u ß . Entscheidet man sich für ein subjektives Rationalitätskriterium, dann passiert dies sehr viel seltener als bei einem objektiven Kriterium. Handelt eine Person nach einem objektiven Kriterium irrational, wenn sie für die Verfolgung eines Zwecks ein Mittel wählt, das sie für geeignet hält, das aber nicht dafür geeignet ist, so muß man ihr nach einem subjektiven Rationalitätskriterium rationales Verhalten zubilligen - sofern sie das Mittel wirklich für geeignet hält. Erst wenn das nicht der Fall ist, muß man ihr irrationales Handeln attestieren. So gesehen läßt das subjektive Rationalitätskriterium mehr Fälle als rationales Handeln gelten als das objektive. Die Wahl eines subjektiven Kriteriums hat aber auch eine andere Konsequenz: Man ist gezwungen, einer Person irrationales Handeln zuzuschreiben, wenn sie zur Verfolgung eines Zwecks ein Mittel wählt, das sie nicht für geeignet hält, das es "in Wirklichkeit" aber ist. Das subjektive Rationalitätskriterium ist also nicht in jeder Hinsicht weiter als das objektive; es ist nur weiter für den Fall, daß der Handelnde zu optimistisch ist hinsichtlich der Geeignetheit der gewählten Mittel für einen verfolgten Zweck. Es ist enger für den Fall, daß der Handelnde zu pessimistisch ist hinsichtlich der Geeignetheit der gewählten Mittel. Für unser Beispiel hat die Annahme eines subjektiven Rationalitätskriteriutns folgende Konsequenz: Öffnet P das Fenster und unterläßt er es gleichzeitig, die Tür zu schließen, in der Annahme, beides sei geeignet, um den Durchzug zu unterbinden, so muß man ihm rationales Handeln zuschreiben. Denn er hat für einen von ihm präferierten Zweck das Mittel gewählt, das er für geeignet hält, um diesen Zweck zu realisieren, nämlich: das Fenster zu öffnen. Man kann ihm erst dann irrationales Handeln zuschreiben, wenn P das Fenster öffnet und denkt, das sei ein geeignetes Mittel, um den Raum zu durchlüften, gleichzeitig aber präferiert, daß es aufhört zu ziehen und - eine weitere Bedingung - diese Präferenz stärker ist als die Präferenz, sich in einem gelüfteten Raum zu befinden. Es ist dann der Fall eingetreten, daß P ein Mittel wählt für die Realisierung eines verfolgten Zwecks, das er für diesen Zweck gar nicht als geeignet einschätzt (sondern für einen ganz anderen Zweck). Wenn der Unterschied zwischen den subjektiven Annahmen des Handelnden über die Geeignetheit von Mitteln für Zwecke und der tatsächlichen Geeignetheit besonders kraß ist (wie im Fall des Fensteröffnens), dann ist das vertretene subjektive Rationalitätskriterium kontraintuitiv. Man ist gezwungen, Handlungsweisen für rational zu erklären, die man nicht als rational anerkennen will. Um dies zu vermeiden, kann man einschränkende Bedingungen formulieren, die den Informationsstand des Handelnden über seine Umwelt

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betreffen und seine Ausrichtung an diesen Informationen beim Handeln. Ein solches objektives Element im subjektiven Rationalitätsk r i t e r i u m könnte lauten: ein Handelnder kennt die erwartbaren kausalen, konventionellen u . a . Folgen seiner Handlungen und richtet seine Handlungen danach aus. Eine solche Einschränkung würde davor bewahren, das Fensteröffnen in der beschriebenen Szene als rationale Handlung zu bewerten; sie weckt gleichzeitig das Bedürfnis, zu erfahren, was erwartbare Folgen von Handlungen sind, ein Bedürfnis, das in diesem Rahmen nicht befriedigt werden kann. Der Unterschied zu einem objektiven Rationalitätskriterium bleibt trotzdem gewahrt. Müßte man nach einem objektiven K r i t e r i u m die Handlung des Fensteröffnens in jedem Fall als irrational deklarieren, so wäre es nach einem subjektiven Kriterium erlaubt, diese Handlung für rational zu halten. Man kann das dann tun, wenn es für den Handelnden oder seine Gruppe/Schicht/Ethnie zu den erwartbaren Folgen zählt, daß der Zweck realisiert w i r d , der nach den Erwartungen des Beobachters niemals eintreten dürfte. Der Begriff des rationalen Handelns wie auch die Unterscheidung zwischen subjektiven und objektiven Rationalitätskriterien gehen zurück auf Max Webers Handlungstheorie. In seinem grundlegenden Aufsatz "Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie" (1973; zuerst 1913) entwickelt er seine Auffassungen zum rationalen Sichverhalten als Idealtyp soziologischer Theorie. Er schreibt: "Zweckrationales Sichverhalten soll ein solches heißen, welches ausschließlich orientiert ist an ( subjektiv ) als adäquat vorgestellten Mitteln für ( s u b j e k t i v ) eindeutig erfaßte Zwecke." (1973, 97) Nach dieser Definition ist es offengelassen, ob die Handlungen einer Person selbst als Mittel für Zwecke aufgefaßt werden oder die Mittel etwas von den Handlungen Verschiedenes sind, an denen die Handlungen orientiert sind. Die zweite Lesart scheint die der Definition adäquate zu sein; da jedoch bei sehr vielen Typen von Handlungen nur diese selbst als Mittel angenommen werden können, weil es keine weitere Entität gibt, die man als davon unabhängiges Mittel identifizieren k ö n n t e , so sollte man auch die erste Lesart nicht ausschließen. Neben subjektiver Zweckrationalität gibt es in Webers Kategoriensystem ein zweites K r i t e r i u m rationalen Handelns, das die Bedingung enthält, daß die gewählten Mittel, an denen die eigenen Handlungen orientiert sind, für den verfolgten Zweck real die adäquaten sind. Es ist das der objektiven Richtigkeitsrationalität. Sie kann solchen Arten des Handelns zugesprochen werden, das an Erwartungen über das Verhalten der Handlungsobjekte orien-

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tiert ist, wobei diese Erwartungen "nach gültigen Erfahrungen gehegt werden durften" (1973, 102). Max Weber betont: "Subjektiv zweckrational orientiertes und am objektiv Gültigen "richtig" orientiertes ("richtigkeitsrationales") Handeln sind an sich gänzlich zweierlei." (1973, 103) Der Beobachter kann also ein bestimmtes Handeln als zweckrational interpretieren, das dem richtigkeitsrationalen Typus des Handelns nicht entspricht. (Max Weber führt als Beispiel "an magischen Vorstellungen orientiertes Handeln" an (1973, 103).) Der richtigkeitsrationale Handlungstypus genießt nun folgenden Vorzug gegenüber dem subjektiv Zweckrationalen: "Koinzidenz mit dem "Richtigkeitstypus" ist der "verständlichste", weil "sinnhaft adäquateste" Kausalzusammenhang." (Weber 1973, 104) Dies ist faktisch einsichtig, weil objektiv richtigkeitsrationales Handeln leichter nachvollziehbar ist als subjektiv zweckrationales; außerdem ist Webers Position methodisch begründet, denn in der Abgrenzung des zweckrationalen vom richtigkeitsrationalen Handlungstypus sieht Max Weber auch eine Abgrenzung der Disziplinen 'Psychologie' und 'Soziologie'. Die Soziologie hat sich - anders als die Psychologie - mit Phänomenen zu befassen, die darin bestehen, "daß scheinbar direkt zweckrational bedingte Erscheinungen in Wahrheit durch ganz irrationale Motive historisch ins Leben gerufen waren und nachher, weil veränderte Lebensbedingungen ihnen ein hohes Maß von technischer "Richtigkeits - rationalität" zuwachsen ließen, als "angepaßt" überlebten und sich zuweilen universell verbreiteten." (Weber 1973, 105) Solche Phänomene sind mit dem Instrument des Kriteriums für subjektiv zweckrationales Handeln nicht zu erfassen. Zweckrationales wie richtigkeitsrationales Handeln haben ihre zentrale Stellung in Max Webers System nicht in Form von empirisch vorkommenden Handlungstypen, sondern als Maßstab zur Beurteilung empirisch vorkommender Handlungstypen. Wenn es um das Verstehen von Handlungen geht, dann besitzt die rationale Deutung des Handelns den höchsten Grad an Evidenz. Rationales Handeln als Idealtyp ist ein Instrument der Soziologie, sofern sie Handlungen beurteilen und in einen Zusammenhang zu anderen Handlungen stellen will. Das Konstrukt des rationalen Handelns dient der Soziologie "als Typus ("Idealtypus"), um das reale, durch Irrationalitäten aller Art ( A f f e k t e , Irrtümer) beeinflußte Handeln als "Abweichung" von dem bei rein rationalem Verhalten zu gewärtigenden Verlaufe zu verstehen." (1978, 12) Diese Bemerkung macht deutlich, welchen Status das Konstrukt des rationalen Handelns in Max Webers System nicht hat: es wird weder behauptet, daß dieser Typus der am häufigsten vorkommende ist, noch wird gefordert, daß alles Handeln sich an diesem Typus ausrichten müsse. Was behauptet wird ist, daß dieses Konstrukt ein geeigneter, weil evidenter Maßstab zur Beurteilung von Handlungen ist. Ob es dabei für Max Weber einen systematischen Unterschied

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macht, ob der Beurteilende ein betroffener Zeitgenosse ein Soziologe, vermag ich nicht zu entscheiden.

ist

oder

Auf ein Rationalitätskriterium, das die Relation einer Handlung zum verfolgten Ziel und ihre Geeignetheit, das Ziel zu erreichen, zum Gegenstand hat, stützt sich Carl G. Hempel. Er schreibt: "Eine Handlung wird m a n , ganz allgemein gesagt, als rational einstufen können, wenn sie, auf der Grundlage bestimmter Informationen, eine optimale Aussicht auf die Erlangung ihrer Ziele bietet." (1977, 389) Hempel scheint dabei eher an eine subjektive als an eine objektive Lesart des Ausdrucks Optimale Aussicht' zu denken. So ist er der Ansicht, daß eine Person rational handelt, die wohlüberlegt um eine Leiter herumgeht, weil sie glaubt, daß sie vom Pech verfolgt würde, wenn sie unter ihr hindurchginge. "Denn um eine Handlung durch die Gründe des Handelnden zu erklären, müssen wir wissen, was der Handelnde für Überzeugungen hatte, aber nicht unbedingt, aus welchen Gründen er sie hatte." (Hempel 1977, 390) Von einer Person, die in Übereinstimmung mit ihrem Aberglauben handelt, könne man - so Hempel - getrost sagen, sie handele rational, (vgl. 1977, 390) Es wird "die Rationalität einer Handlung ... in einem streng relativen Sinne verstanden, nämlich als ihre Eigenschaft, angesichts der vorliegenden Informationen dazu geeignet zu sein, das anvisierte Ziel zu erreichen." (1977, 391) Die Informationen, über die der Handelnde v e r f ü g t , können - verglichen mit denen des Beobachters - unvollständig sein oder auf anderen Überzeugungen beruhen, und relativ zu diesen Informationen können seine Handlungen als rational eingestuft werden. Eine Konsequenz eines solchen subjektiven b z w . relativen Rationalitätskriteriums ist die, daß der Beobachter, Interpret, Betroffene - oder wie man ihn nennen mag - bei der Entscheidung über die Rationalität der beobachteten Handlung Annahmen über die Art von Informationen machen m u ß , die der Handelnde zur Verfügung hat und bei seiner Handlung berücksichtigt. Für den Fall, daß die Informationen des Handelnden von seinen eigenen abweichen, muß er bei einem relativen Kriterium komplexere Annahmen machen als bei einem nicht-relativen. Bei Anwendung eines nicht-relativen Rationalitätskriteriums muß er sich nur Gedanken machen über die Geeignetheit der Handlung bezüglich der Realisierung bestimmter Ziele auf der Basis seines eigenen Informationsstandes und seiner eigenen Überzeugungen. Er muß den Zur Max-Weber-Rezeption in der Linguistik s. Heeschen 1976, Holly/Kühn/Püschel 1984, Burkhardt/Henne 1984.

Kooperation, B e d e u t u n g , R a t i o n a l i t ä t

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möglicherweise abweichenden - Informationsstand des Handelnden dabei nicht in Betracht ziehen und macht infolgedessen weniger komplexe Annahmen als bei einem relativen Rationalitätskriterium. Ein Rationalitätskriterium, wie es C. G. Hempel vorgeschlagen h a t , ist bei der Erklärung von Handlungen ein wichtiges Instrument. Als allgemeine Annahme über den Handelnden spielt es eine Rolle bei der Beantwortung der Frage, welche Ziele dieser mit seiner Handlung oder seinen Handlungen verfolgt. Wenn jemand Hypothesen über die Ziele macht, die jemand anderes mit seinen Handlungen verfolgt, dann können diese Handlungen als "empirischer Beleg" für die Hypothesen gelten, vorausgesetzt, der Beobachter kennt die Überzeugungen und die Informationsgrundlage des Handelnden. Um die Hypothesen über die verfolgten Ziele eines Handelnden zu verfestigen, bedarf es aber noch einer weiteren Annahme; nämlich d e r , daß Handlung und Handlungsziel in einer erkennbaren Weise aufeinander bezogen sind, hier: daß der Handelnde rational handelt. Eine solche Annahme könnte lauten: "Wenn H wirklich Z erreichen will, dann wird er in einer Weise handeln, die ihm angesichts seiner Überzeugungen die größten Erfolgschancen bietet." (Hempel 1977, 405) Nur diese Zusatzannahme gewährleistet es für denjenigen, der Hypothesen über die Ziele macht, die ein Handelnder mit seinen Handlungen verfolgt, daß diese Hypothesen berechtigt oder z u t r e f f e n d sind. Das bedeutet also, "daß in die A r t , in der wir jemandes Handlungen als empirischen Beleg für die Feststellung seiner Ziele nehmen, die Rationalität als Voraussetzung eingebaut ist." (Hempel 1977, 405) Wenn man sich an diese idealtypische Rekonstruktion der Handlungserklärung durch einen Beobachter anlehnt oder aus ihr wesentliche Elemente entnimmt, um eine eigene Rekonstruktion aufzustellen, dann verfügt man über ein Modell, wie Hypothesen über Handlungsziele von Personen unter anderem durch R ü c k g r i f f auf allgemeine Rationalitätsannahmen überprüft oder bestätigt werden können. Und wenn es gelingt, Rationalitätskriterien für kommunikatives und sprachliches Handeln zu formulieren, Kriterien, die sich an das von Grice aufgestellte Kooperationsprinzip anlehnen und es weiter ausformulieren, dann würde man damit gleichzeitig über ein Modell verfügen, das wiedergibt, auf welche Weise kommunikativen und sprachlichen Handlungen Handlungsziele zugeordnet werden und wie Ziel-Hypothesen bestätigt oder widerlegt werden. Doch um zu solch einem Modell zu kommen, müssen die speziellen Eigenschaften von kommunikativen/sprachlichen Handlungen berücksichtigt werden. Eine wesentliche Eigenschaft schlug sich schon in der verwendeten Terminologie nieder. Anders als bei Handlungen wie 'die Türe schließen' ist es für kommunikative und sprachliche Handlungen charakte-

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ristisch, daß sie im Normalfall an einen Adressaten gerichtet sind. Dieser Umstand hat für die Kategorie des Handlungsziels zur Konsequenz, daß in der Zielformulierung im allgemeinen der Adressat oder die "Zuhörerschaft" vorkommt. Dieser und weitere Unterschiede von kommunikativen/sprachlichen Handlungen gegenüber anderen Typen von Handlungen sollen später diskutiert werden. Hier soll noch ein allgemeiner Gesichtspunkt angesprochen werden, der die Hypothesen betrifft, die man über Handlungsziele auf der Basis von Annahmen über den Informationsstand des Handelnden und auf der Basis der Rationalitätsannahme macht. In sehr vielen Fällen kommt man zu keinen eindeutigen Schlüssen über die verfolgten Ziele des Handelnden. Nehmen wir an, daß jemand sich in einem Raum befindet und die Türe schließt. Man kann ihm dann aus der Rationalitätsannahme und Annahmen über das Weltwissen des Handelnden mehrere intendierte Konsequenzen hypothetisch unterstellen, die alle eine gewisse Berechtigung haben (daß es aufhört zu ziehen; daß es leiser wird; daß kein Unbefugter ein Gespräch mithört). Natürlich kann man annehmen, daß der Handelnde alle Konsequenzen intendiert hat. Wenn man jedoch daran interessiert ist, den Bereich der möglichen Handlungsziele einzuschränken, dann kann man dies unter Zuhilfenahme von Zusatzinformationen t u n ; wenn es vorher stark gezogen hat und nach dem Türeschließen zu ziehen aufhört, dann liegt der Schluß nahe, daß dies die oder eine intendierte Konsequenz war. Es bleibt allerdings immer eine gewisse Vagheit im Spiel bei der Entscheidung, welche Konsequenz die intendierte war. Diese Vagheit ist für eine solche Art von Interpretation offensichtlich charakteristisch, sofern es um eine positive Entscheidung zugunsten der einen oder anderen Hypothese geht. Man kann auf dem angegebenen Wege relativ sicher einige Hypothesen über die Ziele des Handelnden ausschließen, weil sie nicht mit der Rationalitätsannahme oder mit den Annahmen über seinen Informationsstand übereinstimmen (' relativ sicher', weil dieser Ausschluß auch nur auf der Basis von Annahmen erfolgt). Dies reicht allerdings in vielen Situationen auch aus aufgrund der Routineprozesse, die bei der Interpretation von Handlungen das Aufstellen von Hypothesen erübrigen, sofern es sich um eingefahrene Handlungsmuster "handelt". Kann man einer Bewegung oder anderen Aktivität einer Person, von der man annimmt, daß sie eine Handlung ist, nicht routinemäßig ein Handlungsziel zuordnen, dann durchläuft man ein möglicherweise mehrstufiges Verfahren, das darin besteht, Hypothesen über das Handlungsziel zu entwerfen und zu verwerfen, bis man an einem relativ befriedigenden Punkt angelangt ist. Dieser Punkt ist dann erreicht, wenn man eine Zielhypothese soweit erhärtet hat, wie es in der jeweiligen Situation erforderlich ist. Der Grad der Genauigkeit kann von Situation zu Situation schwanken; das hängt ganz

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davon ab, welches Interesse der Beobachter hinsichtlich der Genauigkeit seiner Zielhypothesen hat. Ein Profiboxer hat in der Hinsicht ganz andere Ansprüche als jemand, der seinem Nachbarn beiläufig bei der Gartenarbeit zusieht. Auch der Zeitpunkt der Verfestigung von Zielhypothesen kann variieren - oftmals wird einem Beobachter erst im Zusammenhang mit anderen, komplexen Handlungen des Handelnden das verfolgte Ziel der ersten Handlung klar. Die Fälle, in denen man sagen kann, daß die Zielhypothesen einen befriedigenden Grad an Genauigkeit hätten, unterscheiden sich also voneinander je nach dem Bedürfnis, das der Beobachter bei der Interpretation der Handlung hat. Dieses Bedürfnis kann mit einem Begriff von Alfred Schütz "pragmatische Motivierung" genannt werden. Gemeint ist damit, daß es von unseren aktuellen oder generellen Interesselagen abhängt, welchen Ausschnitt der Umgebung wir jeweils interpretieren und bis zu welchem Grad der Genauigkeit wir dies t u n . Da die Handlungen einer Person, die wir beobachten, ebenfalls zu unserer Umgebung gehören, unterliegt ihre Interpretation ebenfalls dem pragmatischen Motiv des Beobachters oder Betroffenen. Das heißt, daß der jeweilige Genauigkeitsgrad von Zielhypothesen pragmatisch motiviert ist. Dies wird unmittelbar einsichtig, wenn man die genannten extremen Beispiele (Boxer/Nachbar) sich vor Augen f ü h r t , (s. Schütz 19 2, 31) Doch wie gesagt: oft ist der Fall klar, ohne daß der Beobachter von sich sagen könnte oder wollte, er entwerfe Zielhypothesen. Dies gilt zum Beispiel für den Fall, den Grice beschreibt: "Relevanz für ein offensichtlich verfolgtes Ziel ist ein Kriterium, mit dem sich entscheiden läßt, warum jemand vor einem Stier davonrennt." (1979a, 14)

3. Als ein Charakteristikum von kommunikativen und sprachlichen Handlungen wurde ihre Adressatenbezogenheit erwähnt. Es sind also Handlungen, mit denen sich Personen an andere Personen richten oder auf sie beziehen. Man kann sie als eine Teilklasse von Handlungen kennzeichnen, die in der sozialwissenschaftlichen Diskussion des Handlungsbegriffs "soziale Handlungen" genannt werden. Max Weber definiert soziales Handeln als eines, "welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist." (1978, 9) Im folgenden seien einige spezifische Eigenschaften von S. hierzu F011esdal 1981.

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sozialen Handlungen erörtert, sofern sind.

sie für unser Thema relevant

Ein Charakteristikum von sozialen Handlungen ist, daß man sich mit ihnen auf andere Handelnde bezieht, die sich wiederum handelnd auf den ersten Handelnden beziehen können. Diese Art von Wechselseitigkeit wird deutlich an einem Beispiel Max Webers, durch das er soziales Handeln abgrenzt von anderen Formen von Handlungen und Ereignissen. "Ein Zusammenprall zweier Radfahrer z.B. ist ein bloßes Ereignis wie ein Naturgeschehen. Wohl aber wären ihr Versuch, dem anderen auszuweichen, und die auf den Zusammenprall folgende Schimpferei, Prügelei oder friedliche Erörterung "soziales Handeln"." (1978, 31) Die Ausweichversuche zweier aufeinander zufahrender Radfahrer sind ein instruktives Beispiel für soziales Handeln. Das Handlungsziel des einen wie des anderen Radfahrers - der Übersichtlichkeit halber seien sie Rl und R2 genannt - besteht darin, nicht in die Richtung zu lenken, in die der andere gerade lenkt. Dieses Handlungsziel leitet sich aus der Präferenz ab, die wiederum beiden Radfahrern, Rl wie R2, zugeschrieben werden kann, nämlich nicht mit dem jeweils anderen zusammenzuprallen. Welche Handlung Rl ausf ü h r t , um sein Handlungsziel zu realisieren, hängt davon ab, welche Handlung R2 ausführt, um sein Handlungsziel zu realisieren. Welche Handlung R2 ausführt, um sein Handlungsziel zu erreichen, hängt wiederum davon ab, welche Handlung Rl ausführt. Diese hochgradig wechselseitige Abhängigkeit der Wahl der Handlung bei formal identischem Handlungsziel macht die Komplexität der ganzen Situation aus. Typisch für solche Situationen ist die große Unsicherheit der Handelnden hinsichtlich der Geeignetheit ihrer Handlungen. Winzige Andeutungen der Fahrtrichtungsänderung des einen Fahrers können Reaktionen des anderen Fahrers zur Folge haben, die wiederum Reaktionen des ersten Fahrers zur Folge haben können. Die Bereitschaft zur Korrektur der eigenen Handlung ist sehr groß, und daraus kann eine neue Unsicherheit entstehen; eine zu frühe Korrektur der Ausweichhandlung von Rl kann zeitlich mit der Reaktion von R2 auf diese erste Ausweichhandlung zusammenfallen und so eine Korrektur von R2 hinsichtlich seiner Reaktion provozieren.

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Wenn man in einer solchen Situation bestimmen will, was rationales Handeln ist, dann muß man die angesprochene Reziprozität der Handlungsziele berücksichtigen. Rl handelt rational, wenn er seine Entscheidung nach dem größten erwarteten Nutzen ausrichtet unter Berücksichtigung der Tatsache, daß R2 auf die Handlungen von Rl reagieren wird. R2 kann seine Entscheidung ebenfalls nach dem größten erwarteten Nutzen ausrichten unter Berücksichtigung der Tatsache, daß Rl auf die Handlungen von R2 reagieren w i r d . Genau dies muß Rl berücksichtigen, will er rational handeln. Das heißt: Jemand handelt rational, wenn er die rationalen oder irrationalen Reaktionen des Gegenübers bei seinen Entscheidungen in Rechnung stellt. Ein Handeln, das von der Annahme der Irrationalität des Partners geleitet ist, ist weitaus anspruchsvoller als eines, das sich an der Rationalitätsunterstellung orientiert. Man muß den Anderen recht gut kennen, wenn man seine eigenen sozialen Handlungen an ihm orientieren will und nicht annimmt, daß er rational handelt. Für Formen von Sozialkontakt, die nicht auf genauer Kenntnis des Interaktanten aufbauen können, gehört die Rationalitätsunterstellung mit zu einer Reihe von Typisierungen, die man vom jeweils Anderen macht und an denen man seine Handlungen orientiert. Je anonymer die Interaktion ist, desto stärker sind die Interaktanten auf diese Art von Typisierung angewiesen und deso stärkeres Gewicht bekommt damit auch die wechselseitige Rationalitätsunterstellung. Nimmt man diese Art von Interaktion als Idealtyp an, dann findet der Rationalitätsbegriff nicht mehr nur in der Außenperspektive des (wissenschaftlichen) Beobachters Anwendung, sondern taucht in den wechselseitigen Annahmen a u f , die sozial Handelnde voneinander machen. Er hat dort einen ganz besonderen Stellenwert insofern, als zutreffende Rationalitätsannahmen vom jeweils Anderen verantwortlich sind für das Gelingen der Handlungen. Nimmt z . B . Rl an, daß R2 rational handelt in dem beschriebenen Sinne, so scheitert sein Ausweichversuch, sobald diese Annahme falsch ist, d . h . sobald R2 gar nicht rational handelt. Das gleiche gilt vice versa. Rationalität ist hier nicht mehr nur ein Kriteri Entscheidungstheoretisch formuliert ist dies eine Situation, in der die Handelnden Entscheidungen unter Unsicherheit t r e f f e n . Sie können sich die möglichen Folgen ihrer Handlungen und ihre Nützlichkeiten ausrechnen, wissen aber nichts über die Wahrscheinlichkeiten für das Eintreten der möglichen Folgen, (s. Hempel 1977, 393; Meggle 1977, 417) Zum Begriff der Typisierung s. Schütz/Luckmann 1979, 103 f f . : "Der Zeitgenosse als Typus und die Ihr-Einstellung".)

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um, das den Sinn von Handlungen für den teilnehmenden oder teilnahmslosen Beobachter entschlüsseln hilft, sondern sie ist eine Annahme, die sozial Handelnde voneinander machen, und die ihnen dabei hilft, die Handlungen des Anderen zu interpretieren und die eigenen Handlungen auf einigermaßen berechenbarer Grundlage - rational - auszuführen. Zutreffende Rationalitätsannahmen gehören zu den Gelingensbedingungen für soziale Handlungen. Situationen wie die von Max Weber beschriebene können mit einem Ausdruck von David Lewis 'Koordinationsprobleme' genannt werden. Situationen, die Koordinationsprobleme sind, zeichnen sich dadurch aus, daß die Resultate der Handlungen der Teilnehmer durch die Gesamtheit der Handlungen aller Teilnehmer determiniert werden. Lewis schreibt: "So hängt das Resultat jeder Handlung, für die sich ein Teilnehmer entscheidet, von den Handlungen ab, für die die anderen Teilnehmer sich entscheiden. Deshalb muß sich ... jeder bei seiner Entscheidung nach den Entscheidungen richten, die er von den anderen erwartet." (Lewis 1975, 8) Trifft jeder Teilnehmer an einer Situation die richtige Entscheidung, weil seine Erwartungen über die Entscheidungen der anderen richtig waren, so entsteht ein koordinatives Gleichgewicht. Dies ist ein "Gleichgewicht, bei dem kein Teilnehmer besser abgeschnitten hätte, wenn irgendein Teilnehmer allein anders gehandelt hätte, entweder er selbst oder ein anderer. ... Jedes reine Koordinationsspiel hat mindestens ein koordinatives Gleichgewicht, da es mindestens ein Ergebnis hat, das für alle optimal ist." (Lewis 1975, 14) Für die Menge von Situationen, in denen es koordinative Gleichgewichte geben kann, ("Nullsummenspiele"), läßt sich ein Kriterium für rationales Handeln angeben, das Teil der Erwartungen von Teilnehmern über Teilnehmer sein kann. In Koordinationsspielen handelt derjenige rational, der die Handlungen ausführt, die dazu geeignet sind, ein koordinatives Gleichgewicht herzustellen. Da das koordinative Gleichgewicht als Ergebnis eines Spiels definiert ist, das für alle Teilnehmer optimal ist, ist es auch für den Handelnden selbst optimal. Das genannte Rationalitätskriterium für soziales Handeln kann wie bei materiellen Handlungen - ein Instrument für die Aufstellung von Hypothesen über die Handlungsziele der an einer Situation beteiligten Personen sein. Kennt ein Teilnehmer die Überzeugungen und die Informationsgrundlage seines Gegenübers und unterstellt er ihm, daß er im beschriebenen Sinne rational handelt, dann kann er Hypothesen über die Handlungsziele seines Gegenübers machen und

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die Handlungen als Bestätigung dieser Hypothesen auffassen. Diese Hypothesen haben für den Fall sozialen Handelns - wie gesagt - eine wichtige Funktion; ihre Richtigkeit ist Voraussetzung für das Gelingen der Handlung. Dabei hat die Rationalitätsannahme besonderes Gewicht, denn sie ist ja eine Grundlage für die Ausbildung der betreffenden Hypothesen über die Handlungsziele des Anderen. Ihm Rationalität zu unterstellen heißt, eine mehr oder weniger konstante Grundvoraussetzung für die Wahl der eigenen Handlungsziele zu schaffen, mit der man "rechnen" kann. Daß diese Rationalitätsunterstellung von vitaler Wichtigkeit sein kann, ist am Radfahrerbeispiel eindrucksvoll zu belegen. Einer Person, die in einer sozialen Interaktion handelt, Rationalität zu unterstellen, heißt unterstellen, daß sie ihre Handlung(en) als adäquates Mittel zur Erreichung ihrer Ziele a u f f a ß t , wobei in ihre "Kalkulation" Annahmen über die Reaktionen der Anderen auf ihre eigenen Handlungen eingehen. Man unterstellt ihr weiterhin, daß sie auf der Basis bestimmter Informationen und Überzeugungen handelt und daß diese Einfluß haben auf die Ausbildung ihrer Handlungsziele und die Wahl der Mittel; Bestandteil dieser Informationen und Überzeugungen kann sein, daß sie denkt, ihre Interaktanten seien rational handelnde Personen. In diesem Falle unterstellt man der Person also, daß sie auf der Basis der Rationalitätsunterstellung bezüglich ihrer Interaktanten handelt. Hypothesen über die Handlungsziele einer Person, die in einer sozialen Interaktion handelt, werden aufgrund von Annahmen über ihre Informationen und Überzeugungen und aufgrund der genannten Rationalitätsunterstellung gemacht. Schließlich ist anzunehmen, daß die handelnde Person dies weiß und daß sie in Situationen, in denen das nötig ist, ihre Handlungen auf der Basis von Hypothesen auswählt, die sie über die Hypothesen macht, die ihre Interaktanten von ihren Handlungszielen aufstellen. Dieser Fall ist für den Typus der kommunikativen Handlungen relevant, denn der Witz kommunikativer Handlungen besteht in der Zielerkenntnis durch den oder die Adressaten. Will ein kommunikativ Handelnder Einfluß nehmen auf die Hypothesen, die seine Adressaten über sein(e) Handlungsziel(e) machen, dann muß er selbst möglichst zutreffende Hypothesen über die diesbezüglichen Neigungen seiner Adressaten machen. Eine Möglichkeit, mit relativer Sicherheit Hypothesen von Adressaten über die eigenen Handlungsziele zu prognostizieren und zu provozieren, besteht darin, daß sich der kommunikativ Handelnde eines Zeichensystems bedient, das beide Parteien beherrschen.

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Bevor die Argumentation hier weitergeht, soll zunächst ein geordneter Übergang von der Klasse der sozialen Handlungen zur Klasse der kommunikativen und sprachlichen Handlungen vollzogen werden. Die Besonderheiten kommunikativer und sprachlicher Handlungen sowohl in Abgrenzung gegenüber dritten Handlungstypen als auch untereinander sollen herausgestellt werden und die notwendigen Modifikationen an der für soziale Handlungen verbindlichen Rationalitätsannahme sollen geleistet werden.

4. Zunächst möchte ich charakteristische Eigenschaften von kommunikativen Handlungen herausstellen und im Zusammenhang damit die Frage nach spezifischen Rationalitätskriterien stellen und möglichst beantworten. Außerdem soll die Rolle von Rationalitätskriterien bei der Interpretation von kommunikativen Handlungen näher bestimmt werden. In Max Webers Fallbeispiel sind zwei Typen sozialer Handlungen aufgeführt, die in dieser Systematik den kommunikativen und sprachlichen Handlungen zugeordnet werden sollen: 'Schimpferei' und 'friedliche E r ö r t e r u n g ' . Schimpfereien und friedliche Erörterungen sind jeweils Bündel von kommunikativen und sprachlichen Handlungen, zu denen Gesten, mimisches Ausdrucksverhalten, verbale Äußerungen und Anderes gehören. Ich möchte kommunikative Handlungen und sprachliche Äußerungen in Anlehnung an Grice als Äußerungen definieren, von denen man sagen kann, daß jemand etwas mit ihnen meint. Ist 'x' eine Äußerung und '5' ein kommunikativ Handelnder oder Sprecher, dann kann man den Ausdruck "5 meinte mit etwas" explizieren als: "S äußerte mit der Absicht, eine Überzeugung mittels der Erkenntnis dieser Absicht hervorzurufen." (Grice 1979a, 10) Äußerungen im Griceschen Sinn sind zum Beispiel das 'dreimalige Läuten der Klingel im Bus', 'ein Bild von Herrn zeichnen, das diesen in einer eindeutigen Situation mit Frau X zeigt', 'das Handzeichen eines Polizisten', 'auf die Tür zeigen'. Außerdem zählen alle sprachlichen Äußerungen dazu, sofern sie mit der Absicht, eine Überzeugung (oder eine andere propositionale Einstellung) mittels der Erkenntnis dieser Absicht hervorzurufen, vollzogen werden. Weiterhin legt Grice fest, daß 'etwas mit einer Äußerung meinen' ein Fall von 'nicht-natürlicher Bedeutung' ist. Zu dieser vermutlich geläufigen Terminologie möchte ich nur folgende Bemerkung machen: Ich ersetze in diesem Beitrag den Ausdruck "Äußerung" durch "kommunikative Handlung und sprachliche Handlung". Eine solche Differenzierung hat nach meinem Dafürhalten zwei Vorteile. Sie wird der Kritik von Richard A. Wright gerecht, der - wohl zu recht - den Ausdruck "Äußerung" nur auf sprachliche

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Handlungen angewendet sehen will (s. Wright 1979, 373). Er ist der Meinung, daß nicht-sprachliche kommunikative Handlungen nicht zu der Klasse von Dingen gehören, "auf die man sich mit dem Wort "Äußerung" üblicherweise bezieht." (1979, 373) Aus diesem Grund verwende ich für Entitäten, die das Gricesche Explikat erfüllen, entweder den Ausdruck "kommunikative Handlung" oder "sprachliche Handlung", je nachdem, ob das Mittel, mit dem jemand etwas meint, ein nicht-sprachliches (Gesten) oder ein sprachliches (Ausdrücke einer natürlichen Sprache) Mittel ist. Eine solche differenzierte Verwendung von Ausdrücken für Bedeutungs n n -Träger hat noch einen zweiten Vorteil, der zwar für den vorliegenden Beitrag nicht mehr zur Geltung kommt, der aber aus systematischen Gründen nicht zu unterschätzen ist. Es ist möglich, bei einer Differenzierung sprachlicher Handlungen von kommunikativen Handlungen die besonderen Systemeigenschaften des Mittels "Sprache" zu berücksichtigen, Eigenschaften, die nur in beschränktem Maße oder überhaupt nicht für kommunikative Handlungen gelten. Kommunizieren zwei Personen mittels der Äußerung von Sätzen, so sind für die Beschreibung dieses Sachverhalts ganz andere Begriffe und theoretische Vorannahmen nötig als für den Fall, daß zwei Personen mittels eines Systems von Ausdrucksbewegungen miteinander kommunizieren. Es kann hier nicht ausgeführt werden, welche besonderen, über Eigenschaften wie Arbitrarität, Dualität und Produktivität hinausgehenden Systemeigenschaften des Mittels "Sprache" zu berücksichtigen sind. Es muß allerdings klar sein, daß es spezifische Eigenschaften der angegebenen Art gibt, und daß sie zu einer differenzierenden Terminologie Anlaß geben, so wie es vorgeschlagen wurde. Um nicht in eine unübersichtliche Darstellung zu geraten, sollen die folgenden Bemerkungen für beide Arten von Handlungen gelten - kommunikative wie sprachliche -, es soll damit aber nicht der Anschein erweckt werden, als sei es damit schon getan. Vermutlich geht es damit erst los, wenn man sich auf die angegebene Differenzierung einmal einläßt. Es gibt ein hervorstechendes Merkmal, das kommunikative und sprachliche Handlungen von sozialen wie von materiellen Handlungen unterscheidet. Es besteht darin, daß für kommunikative wie sprachliche Handlungen nicht immer eine Korrelation zwischen der Erfüllung des Handlungsziels und der Gelingensbedingung einer Handlung angenommen werden kann. Nehmen wir an, ein Polizist steht auf einer Kreuzung und hebt einem herannahenden K r a f t f a h r z e u g "gegenüber" die Hand. In der hier favorisierten Redeweise muß man die Handlung des Polizisten qua kommunikativer Handlung gelungen heißen, auch wenn der Kraftfahrer das Zeichen aus Daffke nicht beachtet. Entsprechend muß man die Handlung als mißlungen ansehen, wenn der Kraftfahrer nicht weiß, was der Polizist mit der Geste meint

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und anhält, um sich bei ihm nach der Bedeutung seiner Geste zu erkundigen. Zu diesem auf den ersten Blick überraschenden Ergebnis kommt man, wenn man kommunikative Handlungen dann als gelungen ansieht, wenn ihr Adressat das Handlungsziel des kommunikativ Handelnden erkennt, das heißt: erkennt, was der kommunikativ Handelnde meint. Besagter Kraftfahrer kann das Handzeichen des Polizisten durchaus verstanden haben, also erkannt haben, welches Handlungsziel der Polizist verfolgt, ohne sich an die Aufforderung, anzuhalten, zu halten. Die Intention des Polizisten, den Autofahrer zum Anhalten zu bewegen dadurch, daß der Autofahrer diese Intention erkennt, hat sich zwar nicht erfüllt. Doch das ist zum Gelingen einer kommunikativen Handlung auch nicht erforderlich; es ist lediglich notwendig, daß der Autofahrer die Intention des Polizisten erkennt, und das wurde im ersten Fall angenommen. Deshalb kann man hier von einem Gelingen der kommunikativen Handlung reden. Auch im zweiten Fall hat sich die Intention des Polizisten, den Autofahrer zum Anhalten zu bewegen dadurch, daß der Autofahrer diese Intention erkennt, nicht e r f ü l l t . Der Autofahrer hat zwar angehalten, doch nicht deswegen, weil er die Intention des Polizisten erkannt hätte, sondern gerade deswegen, weil er sie nicht erkannt hat und Schritte unternimmt, um dieses Unwissen zu beseitigen. Die hier vorgenommene D i f f e r e n z i e r u n g mag unnötig fein erscheinen. Tatsächlich ist sie unentbehrlich, wenn man daran interessiert ist, das Verstehen einer Behauptung oder eines Befehls von der Zustimmung oder der Befolgung analytisch zu trennen. Ungläubigkeit und Befehlsverweigerung sind erst dann möglich, wenn die betreffende Behauptung oder der spezielle Befehl geäußert und verstanden worden sind, das heißt als Sprechhandlungen gelungen sind. Erst auf dieser Basis kann man sich von den zum Ausdruck gebrachten Intentionen des Sprechers absetzen oder sie akzeptieren. Die Erkenntnis des Ziels kommunikativer und sprachlicher Handlungen durch den oder die Adressaten ist notwendige und hinreichende Bedingung für ihr Gelingen. Das Handzeichen des Polizisten ist eine gelungene Handlung, wenn der Autofahrer erkennt, daß er anhalten soll. Die Äußerung "Es regnet" ist gelungen, wenn der Angesprochene erkennt, daß der Sprecher ihn zu dieser Überzeugung bringen will. Von diesen Fällen ist der Typ von Situation zu unterscheiden, der eintritt, wenn der Autofahrer tatsächlich aufgrund der Zielerkenntnis anhält oder der Zuhörer dem Sprecher glaubt. Hier kann man davon reden, daß das Ziel der kommunikativen oder der sprachlichen Handlung nicht nur erkannt, sondern auch erIch synonym.

verwende

die

Ausdrücke 'Handlungsziel' und 'Intention'

Kooperation, Bedeutung, Rationalität

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füllt ist. In Wunderlichs Terminologie ist in dem Fall die kommunikative Handlung nicht nur gelungen, sondern auch erfolgreich (s. Wunderlich 1976, 110 f f . ) . In der hier vertretenen Lesart der Begriffe schließt das Erfolgreichsein das Gelingen von kommunikativen und sprachlichen Handlungen mit ein. Ein Sprechakt kann nicht erfolgreich sein, ohne daß er gelungen ist. Es soll nun versucht werden, ein Kriterium rationalen Handelns zu formulieren, das auf kommunikative und sprachliche Handlungen Anwendung findet, und von dem angenommen wird, daß es zur Interpretation dieser Handlungen durch den/die Adressaten angewendet wird. Auch für kommunikative und sprachliche Handlungen gilt: Sie sind rational, wenn der Handelnde ein Mittel wählt, das er für geeignet hält, um das Ziel seiner Handlung zu realisieren. Wie bezüglich des Rationalitätskriteriums für soziale Handlungen gehen auch in dieses Kriterium Ansprüche an den Handelnden mit ein, die sich auf seine Antizipation der Handlungen und Fähigkeiten seiner Interaktanten beziehen. Im Falle kommunikativer und sprachlicher Handlungen muß er antizipieren können, wie der Adressat auf seine Äußerungen reagieren wird, aber auch: welche Gesten der Adressat entschlüsseln kann, welche Ausdrücke er versteht, welche Sprache er spricht und welche Varietät er beherrscht. Die Annahmen der ersten Art sind für den Erfolg der kommunikativen/sprachlichen Handlung wichtig, die Annahmen der zweiten Art sind für das Gelingen wichtig. Wie geeignet das Mittel, das der Kommunizierende bzw. Sprecher wählt, tatsächlich ist, hängt natürlich von seiner Informationsgrundlage und den Überzeugungen ab, die er hinsichtlich des Adressaten hat. Sind die Kenntnisse über den Adressaten sehr allgemein, so wird die Wahl der kommunikativen oder sprachlichen Mittel auch nur nach Maßgabe dieser allgemeinen Kenntnis vorgenommen werden können. Sie kann z . B . dazu führen, daß der Sprecher davon ausgeht, der Adressat verstehe ihn, wenn er in der hochsprachlichen Varietät der Nationalsprache des Landes, in dem er sich gerade befindet, zu ihm spricht. Je genauere Kenntnis der Sprecher von der kommunikativen und sprachlichen Kompetenz des Adressaten h a t , desto besser kann er die verwendeten Mittel auf sein Gegenüber abstimmen und Besonderheiten lexikalischer oder syntaktischer Art berücksichtigen. Kommunikative und sprachliche Handlungen sind darauf angelegt, daß Adressaten Hypothesen über das oder die verfolgte(n) Handlungsziel(e) des Handelnden ausbilden. Andernfalls sind sie witzlos. Zur Unterscheidung von Erkenntnis und Erfüllung von Äußerungsintentionen s. Liedtke 1984.

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F. Liedtke

Die Adressaten bilden diese Hypothesen auf der Basis der Rationalitätsannahme aus. Sie unterstellen dem 'Kommunikator', daß er das Mittel wählt, das er für sein Handlungsziel als geeignet einschätzt. Ausgehend von dieser Unterstellung nehmen die Adressaten Zuordnungen von Zielen zu Handlungen vor und bilden eine Hierarchie dieser Zuordnungen nach der Maßgabe der Geeignetheit letzterer für erstere. Diejenigen Handlungsziele, die in dieser Hierarchie am besten abschneiden, werden als Kandidaten für die dem Handelnden zu unterstellenden Ziele ausgezeichnet. Je nach Bedarf wird die Menge der Zielhypothesen eingeschränkt nach Maßgabe weiterer Kriterien (Kontext u . a . ) , bis sich möglicherweise eine Zielhypothese soweit verfestigt, daß sie dem Handelnden mit mehr oder weniger großer Sicherheit unterstellt werden kann. Ist eine solche Zielhypothese vom Adressaten gemacht worden, und kann sie über einen angemessenen Zeitraum aufrechterhalten werden, dann kann man davon reden, daß der Adressat den Handelnden verstanden hat. Der Sprecher oder Kommunizierende nimmt an, daß seine Adressaten diesen Prozeß der Hypothesenbildung auf der Basis der Rationalitätsannahme durchlaufen, wenn sie versuchen, ihn zu verstehen. Indem er mit ihnen kommuniziert/spricht, sofern er am Gelingen seiner kommunikativen/sprachlichen Handlung interessiert ist, versucht er, die Hypothesenbildung seiner Adressaten so zu beeinflussen, daß sie eine bestimmte Hypothese über das verfolgte Handlungsziel ausbilden. Er muß also selbst Hypothesen ausbilden über die Tendenz seiner Adressaten, spezifische Zielhypothesen auszubilden, sofern er sie zu bestimmten Zielhypothesen veranlassen will. Diese Hypothesen über Hypothesen sind Teil der "Informationsgrundlage", die der Sprecher/Kommunizierende bei der Wahl seiner Mittel berücksichtigt, sofern er rational handelt. Die beste Methode, möglichst zutreffende Hypothesen über Zielhypothesen von Adressaten zu machen, liegt darin, sich eines ZeichenSystems zu bedienen, das der Sprecher/Kommunizierende beherrscht und von dem er denkt, daß der/die Adressat(en) es auch beherrscht/beherrschen. Von einem Zeichensystem in einer Gruppe G soll dann gesprochen werden, wenn es in der Gruppe G eine feste, wechselseitig anerkannte Korrelation von kommunikativer/sprachlicher Handlung und Handlungsziel gibt derart, daß ein Adressat aufgrund seiner Kenntnis dieser Korrelation von einer ausgeführten Handlung auf das Handlungsziel schließen kann. Eine Handlung kann so als Zeichen und das System von Korrelationen als Zeichensystem aufgefaßt werden. Ist man der Meinung, daß Kommunizieren ein Koordinationsproblem ist und feste Korrelationen der genannten Art als Regularitäten bezeichnet werden können, dann kann man mit Lewis davon reden,

Kooperation, Bedeutung, Rationalität

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daß Kommunizierender und Adressat auf der Basis von Konventionen miteinander kommunizieren, (s. Lewis 1975; zu "Konvention und Kommunikation" s. insbesondere 125-162) Gibt es kein solches Zeichensystem, oder weiß der Sprecher/Kommunizierende nicht, ob der Adressat das gleiche Zeichensystem beherrscht wie er selbst, dann muß er sich nach anderen, relativ zuverlässigen Korrelationsmodi umsehen, um sicherzustellen, daß der Adressat von der kommunikativen/sprachlichen Handlung auf das Handlungsziel im Sinne des Handelnden schließt. In diesem Fall bildet der Sprecher ad-hoc-Hypothesen über Korrelations-Präferenzen des Adressaten aus, wobei er auf frühere Erfahrungen mit in relevanter Hinsicht ähnlichen Situationen oder mit demselben Adressaten zurückgreifen wird. Bei einem solchen probabilistischen Verfahren ist der Sprecher/Kommunizierende auf Erfolgskontrolle angewiesen. Man kann diese Situation leicht nachvollziehen, wenn man sich in die Lage versetzt, in einem fremdsprachigen Kontext kommunizieren zu müssen. In einem solchen Fall ist man im allgemeinen sehr daran interessiert, die intendierten oder auch nicht-intendierten Konsequenzen der kommunikativen Handlungen oder Sprechakte zu verfolgen und sie mit den eigenen Hypothesen über die Zielhypothesen der Einheimischen zu vergleichen. Hat man den Eindruck, daß die eigenen Hypothesen zutreffend waren, so wächst die Neigung, das so gelungenermaßen eingesetzte Mittel zur Verfolgung von dieser Art von Zweck wiederholt einzusetzen. Kehren wir zu der Griceschen Analyse des Weinens z u r ü c k . Nach Grice kann man sagen, daß 'S' mit 'x' etwas meint, wenn 'S' ' x * mit der Absicht äußert, eine Überzeugung mittels der Erkenntnis dieser Absicht h e r v o r z u r u f e n . Wenn es bezüglich des Griceschen Grundmodells ein Desiderat gibt, dann ist es das, zu erfahren, wie die Erkenntnis der S-Absicht vorzustellen ist, vermittels derer eine Überzeugung oder eine andere propositionale Einstellung bei einem Adressaten hervorgerufen werden soll. Das hier Gesagte bietet möglicherweise einen Anhaltspunkt d a f ü r , auf welchem Wege eine solche Erkenntnis - oder: eine bis auf weiteres als gültig angenommene Hypothese - von Adressaten gesucht wird. Man kann die Suche nach der Erkenntnis der S-Intention als Prozeß der Hypothesenbildung unter Zuhilfenahme der Rationalitätsannahme beschreiben. Der Adressat stellt Hypothesen darüber a u f , welche Intention der Sprecher/Kommunizierende hat in der Annahme, daß die kommunikative Handlung/der Sprechakt als geeignetes Mittel für die Realisierung (genau) dieser Intention gelten soll. Der Adressat nimmt dabei im besonderen an, daß bei der Wahl des Mittels Überlegungen über seine eigene Fähigkeit, mithilfe dieses Mittels die Intention des Sprechers/Kommunizierenden zu erkennen, eine entscheidende Rolle gespielt haben. Daß 'S' intendiert, den Adressaten zur Erkenntnis

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F. Liedtke

seiner Intention zu bringen, heißt in dieser Terminologie, daß 'S' den Adressaten zu einer bestimmten Hypothese zum Handlung-Handlungsziel-Verhältnis zu veranlassen intendiert. Dieser Versuch eines ' S ' , einen Adressaten zu einer spezifischen Zielhypothese zu veranlassen, kann als ein Teil dessen angesehen werden, was ein 'S' t u t , wenn er etwas meint. In dem Maße, in dem man von Feststellungen über das, was ein Sprecher oder kommunikativ Handelnder meint, zu Feststellungen über die Bedeutung von sprachlichen Äußerungen oder kommunikativen Handlungen übergehen kann, sind die hier gemachten Überlegungen als Überlegungen zur Bedeutung von kommunikativen Handlungen und sprachlichen Äußerungen anzusehen. Ein solcher Übergang ist möglich, wenn man sich zunächst auf die von Grice so genannte Sprecher-Situations-Bedeutung bezieht. Grice nimmt an, "daß der Begriff der Sprecher-Situations-Bedeutung sich in einer gewissen Weise durch Rekurs auf Sprecher-Intentionen explizieren läßt" (Grice 1979b, 19). Aufbauend auf einer befriedigenden Explikation der Sprecher-Situations-Bedeutung kann man übergehen zu Bestimmungen über die zeitunabhängige Bedeutung eines Äußerungstyps, wobei diese Übergänge innerhalb ein und desselben theoretischen Rahmens gemacht werden können. Das heißt aber, daß die hier gemachten Bemerkungen über den Entwurf von Zielhypothesen auf der Grundlage von Rationalitätsannahmen auch für die Explikation der Bedeutung von Äußerungstypen relevant sind.

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D.,

1976. Studien zur

Sprechakttheorie.

Frankfurt/

Werner Holly

Sprachhandeln ohne Kooperation?

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SPRACHHANDELN OHNE KOOPERATION?

Über den "kooperativen" Balanceakt beim Manipulieren*

1

Sprache und Kooperation

2 2.1 2.2 2.3 2.4

Kommunikation und Manipulation Kooperation durch Verständigung über Intentionen Kooperation durch Konventionen Zur Komplexität von Handlungen und Bedeutungen Verständlichkeit und Verantwortlichkeit, Verstehen und Durchschauen 2.5 "Trittbrettfahrer-" und "Phantombedeutungen" 3

Manipulation und Persuasion

4

Kooperation und Reziprozität

l

Sprache und Kooperation "In dem gleichsam nur vegetativen Daseyn des Menschen auf dem Erdboden treibt die Hilfsbedürftigkeit des Einzelnen zur Verbindung mit Anderen und fordert zur Möglichkeit gemeinschaftlicher Unternehmungen das Verständniss durch Sprache. Ebenso aber ist die geistige Ausbildung, auch in der einsamsten Abgeschlossenheit des Gemüths, nur durch diese letztere möglich, und die Sprache verlangt, an ein äusseres, sie verstehendes Wesen gerichtet zu werden. Der articulirte Laut reisst sich aus der Brust los, um in einem andren Individuum einen zum Ohre zurückkehrenden Anklang zu wecken." (Humboldt, nach Flitner/Giel 1963, 408)

* Ich danke den Teilnehmern der Arbeitsgemeinschaft "Kooperatives Handeln" der DGfS-Jahrestagung 1986 für Kritik und Hinweise. Unter dem Aspekt der Glaubwürdigkeit wird die vorliegende Thematik in Holly 1987 behandelt.

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W. Holly

Das Humboldt-Zitat ist nur e i n Beispiel für eine kooperative Auffassung von Sprache. Daß Sprache ein Werkzeug zur Verständigung ist und damit eine Voraussetzung für "gemeinschaftliche Unternehmungen", daß sie darüber hinaus so gemacht ist, daß sie Wechselseitigkeit und sozial konstituierte Bedeutungen einschließt, ist uns sofort einsichtig. Auch der Terminus Kommunikation deutet mit seiner lateinischen Wurzel darauf hin, daß es darum geht, etwas "gemeinsam"(communis) zu machen. Verblüffend sollte dagegen sein, daß Sprache auch nicht-kooperativ gebraucht werden kann, als Waffe, zum Kämpfen, Streiten, Lügen, Betrügen, Täuschen, Heucheln, Anspielen, Andeuten, Insinuieren, zum Manipulieren. Von einem moralischen Standpunkt aus könnte man zumindest die nicht-offenen Arten von Sprachverwendung als "Mißbrauch" bezeichnen, aber in bestimmten Situationen ließen sich dennoch Rechtfertigungen finden: Notlügen für einen guten Zweck, taktvolle Andeutungen in heiklen Angelegenheiten. Außerdem kann man argumentieren, daß man auch zum Erreichen nicht-kooperativer Ziele irgendwie kooperieren m u ß . Auch der Lügner, Betrüger und Manipulateur muß verstanden werden. Also weder die moralische Verwerflichkeit noch die Nicht-Kooperativität sind durchgängig. Man könnte nun sagen: das Kooperative und das Nicht- Kooperative betreffen hier ganz Verschiedenes. Einmal geht es um die kommunikative Basis, die rein sprachliche Verständigungl, die unabdingbar kooperativ sein m u ß , zum ändern um die Interessen und Einstellungen der Beteiligten, die nicht-kooperativ sein können und die Verständigung2 betreffen. Ganz deutlich ist das in Fällen von "offenem Streit" bei offenen Interessendivergenzen; gerade wenn wir uns verstehenl, wird klarer, wie wir uns nicht verstehen2. Auch der Lügner weiß, daß die Voraussetzung für das Gelingen seines Coups die kooperative Verständigungl ist. Der Unterschied ist lediglich, daß bei der Lüge die wahre Einstellung nicht offengelegt werden darf; wird die Lüge aufgedeckt, braucht sich am sprachlichen Verständnis nichts zu ändern; das Nicht-Kooperative betrifft nur das Verbergen einer Einstellung, die anders ist als vorgegeben wird. Es gibt hier aber auch Fälle - und von diesen soll im weiteren die Rede sein -, wo ein Sprecher nicht unbedingt absichtlich etwas Die christliche Tradition hat Augustinus (De mendacio) geprägt. S. auch Weinrich 1966, Falkenberg 1982. Keller (1977, 16) spricht von einem "Grenzfall des kommunikativen Handelns", der "systematisch verzerrt" ist. S. auch Harras 1983, 149.

Sprachhandeln ohne Kooperation?

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Falsches sagt und wo er doch Wert darauf legt, daß seine Intentionen nicht durchschaut werden. In diesen Fällen, die sicherlich zahlreich im Alltag, systematisch aber in der Werbung und besonders in der Politik vorkommen, will ich von "Manipulation" sprechen und danach fragen, wie Kooperatives und Nicht-Kooperatives zusammenhängen. Wie wird beides ausbalanciert, damit einerseits der Hörer den gewünschten Effekt zeigt, was voraussetzt, daß er etwas verstehtl, aber andererseits den Sprecher nicht durchschaut, was voraussetzt, daß er nicht alles verstehtl. Es geht also durchweg um das "sprachliche" Verstehenl; Verständigung2 wird beim Manipulieren ohnehin nicht angestrebt. Wie ist Manipulation überhaupt möglich? "Sermo hominum mores et celat et indicat idem" heißt es in der antiken Formulierung des Dionysius Cato. Wie ist das Paradox zu erklären, daß Sprache gleichzeitig Verständigungswerkzeug und Verschleierungsmittel ist? Zur Beantwortung dieser Fragen werde ich von Grice's Modell der Kommunikation ausgehen und die Begriffe 'Intention', 'Konvention', 'Handlung', 'Bedeutung', 'Verstehen' und 'Verantwortung' heranziehen. Damit soll die These verdeutlicht werden, daß Manipulation als ein kooperativ/nicht-kooperativer Balanceakt bewerkstelligt wird.

2

Kommunikation und Manipulation

2.1 Kooperation durch Verständigung über Intentionen Um den Bedeutungsbegriff zu klären, hat Herbert P.Grice (1957, 1969) ein Modell der Kommunikation entwickelt, das sich auf den Begriff der 'Intention' stützt. Er geht davon aus, daß ein Sprecher S mit einer Äußerung intendiert, bei einem Hörer H eine bestimmte Reaktion r zu bewirken, und zwar so, daß der Hörer diese Intention erkennt und die Reaktion tatsächlich aufgrund dieser Erkenntnis zeigt. Eine kurze Formulierung dieses Modells der Kommunikation umfaßt also mindestens drei Bedingungen:

"Die Sprache verbirgt und offenbart zugleich die Sitten der Menschen." (Disticha Catonis IV, 20; zit. nach Weinrich 1966, 10) Zur ausführlichen Diskussion s. Meggle 1979 und Harras 1983.

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W. Holly

(i) (ii) (iii)

S intendiert, daß H r zeigt, S intendiert, daß H erkennt, daß ( i ) , S intendiert, daß H r zeigt auf der Grundlage seiner Erkenntnis von (i).

Die Bedingungen (ii) und (iii) sollen gewährleisten, daß Kommunikation "offen" abläuft, d.h. die Intentionen des Sprechers nach dessen eigenem Wunsch erkannt werden und erst diese Erkenntnis, nicht irgendein ohnehin ablaufendes oder sonstwie hervorgebrachtes Geschehen die Reaktion bewirken soll. Es ist klar, daß Grice damit eine Reihe von Fällen sprachlicher Interaktion ausschließt, denn wir wissen aus zahlreichen Situationen, daß Sprecher - durchaus mit Erfolg - auf Wirkungen zielen können, ohne daß sie ihre Intentionen offenlegen. Da sie dabei natürlich nicht auf den Griceschen Mechanismus zurückgreifen können, um sich verständlich zu machen, ist noch offen, wie sie die Bedeutung einer Äußerung übermitteln, wenn nicht als Intention. Grice jedenfalls liefert ein Modell "normaler" (oder "idealer") Kommunikation, bei der Bedeutungen verstanden werden, indem Intentionen offengelegt und erkannt werden. Dieses Modell ist kooperativ, d.h. Sprecher und Hörer kooperieren, insofern als sie sich über die Intentionen des Sprechers verständigen. Man könnte also davon sprechen, daß Sprecher und Hörer nach Grice den "Weg der Intentionen" gehen. 2.2 Kooperation durch Konventionen Es ist vielfach darauf hingewiesen worden, daß für das Übermitteln und Verstehen einer Äußerung die Sprecherintentionen nicht immer eine solche Rolle spielen müssen (s. Strawson 1964, Searle 1969, Lewis 1969, Schiffer 1972). Wir fragen in der Tat nicht bei jeder Äußerung: "Was hat der Sprecher damit intendiert?". Vieles ist schon verstanden, bevor wir uns überhaupt mit den Intentionen des Sprechers beschäftigen. Dies gilt nicht nur für die unkontrollierten "Symptome" wie Erröten oder eine unfreiwillige Dialektfärbung, die nicht zur intentionalen Bedeutung einer Äußerung gezählt werden darf, obwohl sie uns etwas "sagt". Betroffen sind nicht nur "natürliche" Bedeutungen wie 'tot' als Bedeutung eines abgeschlagenen Kopfes, was unabhängig von irgendwelchen Intentionen gilt. Auch ganz und gar gezielte Bedeutungskomponenten einer Äußerung werden häufig ohne gesonderte Berücksichtigung der Intentionen

Sprachhandeln ohne Kooperation?

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verstanden, und zwar weil sie konventionell sind. Es ist ja gerade so, daß uns die Intentionen eines Sprechers nicht ohne weiteres zugänglich sind. Wenn der Sprecher nicht selbst sagt, was er intendiert, sind wir auf Schlußfolgerungen aus seinem sonstigen Verhalten oder eben auf die Bedeutungen (konventionelle und natürliche) seiner Äußerungen angewiesen. Wir erfahren also in der Regel die Bedeutungen nicht über Intentionen, sondern umgekehrt. Die Bedeutungen entnehmen wir Konventionen über sprachliche Zeichen und über ihre Verwendung in bestimmten Situationen (bzw. aus natürlichen Zusammenhängen). Sind die Bedeutungskonventionen sehr stark (bzw. die natürlichen Zusammenhänge sehr auffällig), dann spielt es kaum noch eine Rolle, ob der Sprecher die zugehörige Intention bestreitet. Wer in einer Hochzeitszeremonie an der richtigen Stelle "Ja" sagt, hat geheiratet, gleichgültig ob er die entsprechende Intention hatte oder nicht. Will er sich später auf seine fehlende Intention berufen, um "seine" Bedeutung der Äußerung durchzusetzen, wird man ihm vorhalten, daß er eben falsch gehandelt hat, aber vielleicht nicht einräumen, daß seine Äußerung tatsächlich eine andere Bedeutung hatte. Meist sind die Konventionen über die Bedeutung von Äußerungen in bestimmten Situationen allerdings nicht so strikt und auch nicht so eindeutig, daß es uns möglich ist, von den Intentionen des Sprechers prinzipiell abzusehen. In der Regel werden wir in Zweifelsfällen auch danach fragen: "Was hat der Sprecher gemeint?" was so viel heißt, wie nach seinen Intentionen zu fragen. In alltäglichen Situationen erscheint diese Frage aber eher sekundär, eben weil es einen anderen kooperativen Aspekt sprachlicher Interaktion gibt als den von Grice thematisierten. Sprecher und Hörer kooperieren, indem sie beim Äußern und Verstehen auf Konventionen zurückgreifen (bzw. natürliche Bedeutungen benutzen): man könnte vom "Weg der Konventionen" sprechen.

"Natürliche" Bedeutungen (Grice 1957) können auch gezielt eingesetzt werden, sie haben dann eine ähnliche Funktion wie Konventionen, sind aber in gewisser Weise "stärker" und, was ihre Intentionalität angeht, undurchsichtiger. Im übrigen sehe ich aber meist vom Unterschied zwischen "konventionellen" und "natürlichen" gezielten Bedeutungen ab, weil beide für den Nachweis entsprechender Intentionen ähnliche Schwierigkeiten bereiten. Dabei darf beim Sprachhandeln prinzipiell Zielgerichtetheit unterstellt werden; es gibt also keinen Bereich (etwa Stimmfärbung), der immer nur ungezielte natürliche Bedeutungen enthält.

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Gäbe es nur die im Griceschen Modell vorgesehene Möglichkeit, sich verständlich zu machen, wäre Manipulation ausgeschlossen. Das Verstehen von Bedeutungen und damit die Erzielung von Effekten liefe nur über die Offenlegung von Intentionen. Abgesehen davon, daß es schwer sein dürfte, Intentionen ohne Rückgriff auf Konventionen offenzulegen, haben Konventionen also einen Vorteil; sie ersparen die umständliche Frage nach Intentionen. Außerdem haben sie eine Eigenschaft, die Vorteile und Nachteile bringt; sie sind meist vage. Dies bedeutet, daß sie sehr flexibel verwendet werden können. Es bedeutet auch, daß sie benutzt werden können, ohne daß man zugeben m u ß , sie benutzt zu haben. Wie dies möglich ist, soll im weiteren beschrieben werden. 2.3 Zur Komplexität von Handlungen und Bedeutungen Der entscheidende Unterschied zwischen 'Manipulation* und 'Kommunikation im Griceschen Sinne' ist also der Umgang mit Intentionen, die man beim Sprachhandeln hat. Während der Kommunikator sein Ziel gerade auf der Grundlage des Erkennens seiner Intentionen verfolgt, verfährt der Manipulator anders: er verläßt sich auf die Macht der Konventionen und hofft so, daß seine Intentionen aus dem Spiel bleiben. Dies ist allerdings nicht ohne weiteres denkbar, denn normalerweise heißt, die Bedeutung einer Äußerung auf der Basis von Konventionen zu verstehen, zugleich auch, dem Sprecher die entsprechende Intention zuzuschreiben. Der Unterschied zwischen dem Weg der Intentionen und dem Weg der Konventionen erscheint angesichts des Zusammengehens der beiden nur von analytischem Interesse. Wir verstehen Intentionen im allgemeinen über Konventionen, und Konventionen Verstehen bedeutet im allgemeinen zugehörige Intentionen Unterstellen. Dennoch spielt der Unterschied zwischen den beiden dann eine wichtige Rolle und ermöglicht manipulative Äußerungen, wenn es gelingt, beide Wege ein Stück weit zu trennen. Voraussetzung für diese Trennung ist die Tatsache, daß Sprachhandlungen und damit Bedeutungen grundsätzlich komplex sind. Sprachliche Handlungen sind nämlich keine empirischen Phänomene, sondern Interpretationskonstrukte (Lenk 1978; zum Handlungsbegriff in der Pragmatik s. Holly/Kühn/Püschel 1984 und 1985), die man unter verschiedenen Aspekten verschieden beschreiben kann. Nehmen wir ein gewöhnliches Beispiel, eine Politikeräußerung aus einem Zeitungsinterview: Bsp. 1:

"Ich habe in entscheidenden Punkten die Ziele, die wir uns 1982 vorgenommen haben, verwirklichen können."

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Es handelt sich um einen Satz des Bundesfinanzministers Stoltenberg ( S t ) , veröffentlicht im "Spiegel" vom 15. September 1986, also vier Monate, vor einer Bundestagswahl. Als sprachliche Handlungsmuster, nach denen St hier handelt, könnte man a n f ü h r e n : (1) (2) (3) (4) (5) (6) (7)

St BEHAUPTET, daß e r . . . St FESTSTELLT, daß e r . . . St BEWERTET POSITIV, daß e r . . . St LOBT, daß e r . . . St BRÜSTET SICH damit, daß e r . . . St RENOMMIERT damit, daß e r . . . St WIRBT für sich/seine Regierung/ seine Partei damit, daß e r . . . (8) St MACHT WAHLKAMPFPROPAGANDA damit, daß er ... Keine dieser Beschreibungen kann man von vorneherein ausschließen, aber nur (1) und (2) sind - wenn man abweichend vom vagen Alltagsgebrauch behaupten und feststellen streng unterscheidet - strikte Alternativen. (1) und (3) - (8) b z w . (2) - (8) lassen sich jeweils alle miteinander vereinbaren, und zwar so, daß zwischen den Mustern Instrumentalrelationen ( ' indem' -Relationen) angenommen werden können : (8) indem (7) indem (6) indem (5) indem (4) indem (3) indem J oder L( Man könnte nun noch zwischen (3) und (4) bzw. (5) und (6) als bloßen Formulierungsvarianten auswählen; man könnte darüber diskutieren, ob negativ konnotierte Ausdrücke wie in (5) oder (6) und (8) für Beschreibungen problematisch sind. Worauf es hier ankommt, ist die prinzipielle Möglichkeit, eine sprachliche Äußerung durch Einbeziehung von mehr Kontext und von damit zusammenhängenden hintergründigen Zielen als Realisierung eines Handlungsmusterkomplexes aufzufassen, den man sich wie einen schwimmenden Eisberg vorzustellen hat. Mit etwas Wissen und Erfahrung muß man davon ausgehen, daß sich ein Großteil seiner Masse unter der Wasseroberfläche befindet, aber sichtbar vor Augen hat man nur einen geringen Teil, der vielleicht auch noch ziemlich harmlos aussieht. Dazu Goldman 1970, Heringer 1974. Damit ist natürlich nur ein geringer Teil des gesamten Handlungskomplexes erfaßt, dessen Vielschichtigkeit hier nur anhand einiger 'indem'-Verknüpfungen illustriert werden soll.

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Dieser Handlungsmusterkomplex ist zugleich ein Komplex von Bedeutungskomponenten, den wir verstehen, indem wir verschiedene Arten von Wissen anwenden. Am Beispiel: W a s St BEHAUPTET oder FESTSTELLT, verstehen wir zu einem Teil aus usuellen oder wörtlichen Bedeutungen von Ausdrücken wie Punkt , Ziel , 1982 , sich vornehmen usw., die zu unserem Sprachwissen gehören. Dabei muß auch schon einiges aufgrund von Sprachwissen gefolgert werden, durch "semantische" Folgerungen, z . B . daß wir hier ich einschließt. Aufgrund von Sprachwissenen können wir auch aus der Bedeutung von Ziel , sich vornehmen und verwirklichen und deren syntaktischer Fügung auf (3) und (4) schließen. Aus der Tatsache, daß im daß -Satz von (3) und (4) der Handelnde als der Sprecher zu gelten hat, schließen wir ohne weiteres rein sprachlich auf (5) und (6) (wobei ich hier die negative Konnotation von sich brüsten und renommieren vernachlässige) . Um aber vom Bisherigen auf (7) und (8) zu schließen, muß ich aus meinem pragmatischen Wissen über den Sprecher, seine Rolle, die Situation, die Adressaten, die Vorgeschichte, die erwartbare Nachgeschichte usw., kurz: aus dem gesamten Handlungskontext "pragmatische" Folgerungen ziehen. Auch die Entscheidung zwischen (1) und (2) erfordert Weltwissen, vielleicht sogar unerreichbares, wenn wir nicht zu einem Konsens darüber kommen können, was entscheidend hier bedeuten soll, denn davon hängt ab, ob das Prädikat 'verwirklichen' hier strittig (1) oder unstrittig (2) verwendet ist. Aus diesen wenigen Andeutungen und Exemplifizierungen läßt sich schon ersehen, daß Bedeutungskomponenten von Äußerungen auf verschiedene Weisen übermittelt werden. Dabei gibt es solche Weisen der Bedeutungsübermittlung, die eher "fest" und unproblematisch sind, meist usuelle "wörtliche" Bedeutungen und gewisse semantische Implikationen und Präsuppositionen; es gibt aber auch weniger "greifbare", schwieriger zu explizierende Fälle, meist solche, die pragmatisch impliziert oder präsupponiert sind. Wir können nun unterscheiden zwischen dem Teil des Handlungsmuster-/Bedeutungskomplexes, den ein Sprecher im Griceschen Sinne kommuniziert, wobei er anstrebt, daß der Hörer seine diesbezüglichen Intentionen erkennt, und einem anderen Teil, der verdeckt übermittelt wird, aber gleichfalls wirken soll, ohne daß der Hörer die Sprecherintentionen durchschaut. Die Grenze ist fließend, und vielleicht wird der Sprecher selbst nicht genau wissen, welche seiner Intentionen er eigentlich offenlegen wollte und welche nicht. Im übrigen sind wir auf die Ehrlichkeit des Sprechers und Zum folgenden v. Polenz 1985, 298 ff.

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seinen eigenen Bewußtheitsgrad Aussagen machen wollen.

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angewiesen,

wenn wir gesicherte

2.4 Verständlichkeit und Verantwortlichkeit, Verstehen und Durchschauen Ein Sprecher kann also mehr an Bedeutung vermitteln,als er bereit ist zuzugeben, und wir können mehr verstehen, als wir durchschauen. 'Verstehen' soll hier lediglich heißen, daß wir die Äußerung aufgenommen haben und ihr Bedeutungen derartig zugeordnet haben, daß wir in der Lage wären, die vom Sprecher intendierte Wirkung zu zeigen, unabhängig davon, ob wir dem Sprecher die Intentionen tatsächlich zuschreiben oder nicht. Es gibt also Grade des Verstehens einer Äußerung, die vom bloßen Aufnehmen und adäquaten Verarbeiten der Bedeutungen bis zum 'Durchschauen' reichen. Im letzteren Fall haben wir dem Sprecher auch die Intention unterstellt, die unserem Reaktionspotential entspricht, ja vielleicht haben wir sie sogar kritisch reflektiert. Erst wenn wir die Äußerung durchschaut haben, können wir den Sprecher für die Muster, die er realisiert hat, verantwortlich machen. Die Verständlichkeit einer Äußerung kann also über die Verantwortung, die der Sprecher zu tragen hat, hinausgehen. Verständlichkeit und Verantwortlichkeit gehen nicht unbedingt zusammen. Dies liegt zum einen daran, daß Verstehen kein beliebig zu steuernder Vorgang und schon gar nicht eine kontrollierbare Handlung ist. Haben wir uns einmal darauf eingelassen, jemandem zuzuhören (engl. to listen )- ja mitunter genügt, daß man jemanden hört (engl. to hear ) -, dann kann sich das Verstehen einstellen, vorausgesetzt der Sprecher hält sich an Konventionen, die wir teilen, und wir sind nicht gerade begriffsstutzig, müde oder unkonzentriert. Verstehen ist also das (manchmal blitzschnelle) Erreichen des Endpunkts eines Prozesses, dessen Beginn wir kontrollieren können, dessen weiterem Verlauf wir aber ausgesetzt sind. Verstehen kann also unter Umständen sehr schnell sein. Das heißt aber nicht schon, daß wir ebenso schnell durchschauen müssen, was wir verstehen. Denn zum zweiten ist das Durchschauen als Voraussetzung, jemanden verantwortlich machen zu können, an Bewußtheit geknüpft. Das meiste beim Sprachhandeln und Verstehen läuft aber routiniert, gewissermaßen automatisch, quasi-reflex Zu unterschiedlichen "Tiefen" ler 1986.

der Interpretation s. auch Kel-

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W. Holly

haft, durch jahrelange Sozialisation eingespielt, nach Mustern, die wir zwar beherrschen, aber selten explizieren können, wie Radfahren oder Bremsen. Trotz prinzipieller Kontrollierbarkeit ist die tatsächliche Kontrolliertheit im Sinne bewußter Abläufe beim Sprachhandeln und Verstehen in sehr vielen Fällen reduziert. Drittens ist nicht nur unser Verständnis gewissermaßen selbsttätig und automatisiert. Sogar unsere Reaktionen auf Sprachhandlungen, also Einstellungen, Gefühle und eigene Handlungen, sind weitgehend durch sozialisierte Muster geprägt. Natürlich hängen die "perlokutiven Effekte"(s. Holly 1979a), um die es hier geht, immer von der Mitwirkung des Hörers ab. Sie werden nicht kausal vom Sprecher allein erzeugt; man muß nicht glauben, was jemand behauptet, man muß sich nicht ärgern, wenn man beschimpft wird, und man muß Aufforderungen nicht Folge leisten. Tut man es doch, kann der Sprecher auf die Eigenverantwortlichkeit des Hörers verweisen. Aber in vielen Fällen ist die Reaktion "getan fast eh gedacht", und der Sprecher kann sie "quasi-kausal" provozieren. Nicht nur das Verstehen, auch das Reagieren kann also schneller sein als das Durchschauen. Wenn man nachträglich seine Reaktion korrigieren möchte, kann es zu spät sein. Und: "Es bleibt immer etwas hängen". Auch wenn der Hörer z . B . durchschaut, daß eine Verdächtigung verleumderisch war, die Unbefangenheit ist dahin. Viertens kann der Sprecher die Verantwortlichkeit, d . h . die Möglichkeit des Durchschautwerdens, für gewisse Muster reduzieren, indem er sie im Handlungsmusterkomplex gut verpackt, gleichzeitig aber darauf achtet, daß sie noch verstanden werden können. Dabei kann er verschieden vorgehen. Zwei Techniken sollen im nächsten Abschnitt beschrieben werden. 2.5 "Trittbrettfahrer-" und "Phantombedeutungen" Auch wenn das Verstehen und sogar das Reagieren schnell ablaufen können, muß der Sprecher doch damit rechnen, daß der Hörer bewußt Intentionen zuschreibt, d . h . die Äußerung durchschaut . Deshalb sollten an der sichtbaren Oberfläche der Äußerung, wo explizit übermittelte Muster dargeboten werden, nur unproblematische Intentionen erscheinen. Der Manipulator wird die heikleren Muster dennoch übermitteln, aber eher nebenbei, an unauffälligen Stellen. Bedeutungskomponenten, die unerkannt wirken sollen, erscheinen dann häufig nur als Begleiter der offiziell vorgezeigten Mu-

Sprachhandeln ohne Kooperation?

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ster. Sie sind wie "Trittbrettfahrer", die unerlaubt ans Ziel kommen, aber immer bereit sind abzuspringen, wenn sie erwischt werden sollten. Sie sind schwer zu fassen, weil sie nicht explizit sind, und der Sprecher kann sich immer darauf herausreden, daß er doch eigentlich "nur" gesagt habe, was tatsächlich harmlos erscheint. Andererseits müssen die verwendeten Konventionen so stark sein, daß die heiklen Muster verstanden (möglichst nicht durchschaut) werden können, aber auf keinen Fall so stark, daß es zur Einklagbarkeit der zugehörigen Intentionen reicht. Darin eben besteht der kooperative Balanceakt beim Manipulieren: die Kooperation muß Verständlichkeit gewährleisten, darf aber Verantwortlichkeit nicht einschließen. Zu unserem Beispiel: Was Stoltenberg vordergründig tut, nämlich BEHAUPTEN oder FESTSTELLEN, ist unproblematisch. Der Politiker kann diese Muster offenlegen; selbst wenn man nicht seiner Meinung ist, wird man ihm nicht verübeln, daß er so handelt. Die Muster sind im übrigen mit einer solchen Proposition versehen, daß man sich als Hörer damit aufhalten kann. Die daran geknüpfte BEWERTUNG bleibt schon mehr im Hintergrund, sie ist nur in den Konnotationen der verwendeten Lexeme impliziert. Außerdem fällt die Äußerung kaum auf im Gesamttext des Interviews, in dem es ziemlich sachlich um Fragen einer eventuellen Steuerreform nach amerikanischem Vorbild geht; insofern ist die BEWERTUNG im Text gut getarnt. Aber abgesehen davon wird jeder halbwegs geübte Leser die Äußerung ohne Mühe als typische Unterstreichung der eigenen Leistung durchschauen. Dergleichen ist man von Politikern, zumal vor Wahlen, einfach gewohnt. Man wird kaum davon sprechen können, daß Stoltenberg hier die Muster BEWERTUNG, EIGENLOB, RENOMMIEREN, WERBEN, WAHLKAMPFPROPAGANDA sonderlich kaschiert, wiewohl das generelle Werbeprinzip "Unübersehbar, aber nicht plump" auch nicht verletzt wird. Stoltenberg würde auch sicherlich die WERBEintention nicht abstreiten, und wenn, würde man es ihm nicht glauben. Manipulativ an der WERBUNG ist hier bestenfalls die relative Zurückhaltung, mit der sie betrieben wird. Wie aber ist es mit dem merkwürdigen Wechsel von ich zu wir ? Zwar ist der Gebrauch von ich durch die vorangegangenen Äußerungen, die seine eigenen Erfahrungen als Finanzminister betreffen, gewisser s. auch Harras 1983, 159 f f . , die aber offene und verdeckte Muster mit Illokutionen b z w . Perlokutionen identifiziert, was der Komplexität nicht entspricht. Zur Suggestivität politischer und ökonomischer Werbung s. Abromeit 1972, 16 ff.

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W. Holly

maßen induziert (vgl. dazu Sandig 1978). Aber der Wechsel zu wir hätte schon im ersten Teil der Antwort, spätestens aber zu Beginn dieser Äußerung vollzogen werden können. Bedenkt man zusätzlich, daß es sich bei solchen Texten um redigierte Fassungen handelt, die von den Politikern autorisiert sind, dann liegt die Interpretation nicht fern, daß hier nebenbei eine gezielte DISTANZIERUNG der eigenen Person von Regierung und Partei betrieben wird, ohne daß dies jemals zugegeben werden müßte; so kann Stoltenberg die eigene Leistung noch deutlicher HERVORHEBEN und gegen eventuelle Negativbilanzen der Regierungsarbeit im gesamten KONTRASTIEREN. Stoltenberg würde dies natürlich als Überinterpretation abtun können, aber immerhin paßt es doch zu seinen überdurchschnittlich positiven Imagewerten in Umfragen, daß er sich diese Gelegenheit nicht entgehen läßt, sich auch verbal von der eigenen Gruppe, einschließlich dem Kanzler, abzuheben. Propaganda-Profis betonen immer wieder, daß es fast unmöglich ist, gegen eine Strömumg allein durch Worte etwas durchzusetzen. Die Kunst liege vielmehr darin, Strömungen zu erkennen und zu nutzen. Zwei Einwände gegen diese Interpretation müssen behandelt werden: Erstens könnte man das verwendete Mittel (Wechsel in der Personaldeixis) für zu schwach halten, das Muster überhaupt verständlich zu machen. Aber die Subtilität spricht nicht gegen die Verständlichkeit; diese soll ja gerade begrenzt bleiben auf einen vagen Eindruck, der wirkt, ohne daß man genau sagen könnte, wie. Natürlich wird es Leser geben, bei denen allein dadurch kein Effekt erzielt wird. Es geht aber nicht um ein isoliertes Element in der Spracharbeit, sondern um einen Baustein, der zusammen mit mehrfachen Anstrengungen in dieselbe Richtung zählt. Wiederholung und Variation der Muster werden schon ihre Wirkung zeigen. Der zweite gängige Einwand gegen sehr subtile Interpretationen geht dahin, das Vorliegen eines solchen Musters zu bestreiten, indem man darauf hinweist, daß man solche Schritte nicht bewußt auf "SPIEGEL: ...Der Finanzminister, so Schmidt, sei der undankbarste Posten, egal in welcher Regierung. STOLTENBERG: Er ist sicher einer der schwierigsten Posten, der in der Bundesrepublik Deutschland zu vergeben ist. Aber meine Gesamterfahrungen in diesen vier Jahren sind positiv. Ich habe in entscheidenden Punkten die Ziele, die wir uns 1982 vorgenommen haben, verwirklichen können. Das politische Leben besteht nicht nur aus Erfolgserlebnissen. Einige meiner Vorschläge wie zum Abbau von Steuervergünstigungen in Verbindung mit der jetzigen Steuersenkung sind nicht durchgekommen." (Der Spiegel, Nr. 38, 15. September 1986, 28)

Sprachhandeln ohne Kooperation?

151

solche Weise machen könne. Dabei unterschätzt man bei weitem das sprachliche Bewußtsein politischer Akteure, die sich mit Referenten und Ghostwritern, mit "semantischen Arbeitsgruppen" und mit "Informationsabteilungen, in Seminaren und Trainings äußerst professionell sprachlich perfektionieren. Da kommt es auf aktuelle Bewußtheit beim manipulativen Einsatz sprachlicher Muster nicht mehr an. Talent, jahrelange Sozialisation und gezielte Übung haben aus den meisten Spitzenpolitikern routinierte Propagandisten gemacht, ob sie dabei eloquent wirken oder nicht. Im Zweifelsfall kann man wohl davon ausgehen, daß die wirkungsvollere Variante, wenn schon nicht bewußt, so doch auch nicht zufällig gewählt wurde. Die Verwendung einer manipulativen "Trittbrettfahrer"-Bedeutung mag für unseren ersten Beispielsatz bezweifelt werden; aber zwei Sätze weiter im Text folgt ein recht typischer Beleg: Bsp.

2:

"Einige meiner Vorschläge wie zum Abbau von Steuervergünstigungen in Verbindung mit der jetzigen Steuersenkung sind nicht durchgekommen."

Während man als Leser versteht, daß Stoltenberg hier Mißerfolge ( einige ) ZUGIBT, und man damit eine erstaunliche, geradezu sympathische Abweichung vom Erfolgsklischee registriert, ist man genau da, wo der Politiker den Leser haben will: man hat die Einstellung, Stoltenberg sei realistisch, ehrlich, bescheiden, selbstkritisch, ausgewogen usw., ohne realisiert zu haben, daß Stoltenberg mit seinem ZUGEBEN zugleich die Intention SYPATHIEWERBUNG verfolgt hat, und zwar um seine politische WERBUNG zu VERSTÄRKEN und zu IMMUNISIEREN. Diese Intention ist ihm auch nicht nachzuweisen, denn er hat sie auf eine Weise verfolgt, die ihre offene Übermittlung vermeidet; die entsprechende Bedeutungskomponente wird nur "zwischen den Zeilen" verständlich, auf dem "Trittbrett" des offiziellen Musters ZUGEBEN. Aber aufgrund ausreichend wirkungsvoller Konventionen und "natürlicher" Bedeutungen (Selbstkritik ist sympathisch) gelangt sie sicher ans Ziel. In anderen Fällen wird das offizielle, vordergründige Muster nicht a u c h , sondern nur zum Schein realisiert, um als Rückzugslinie bei eventuellen Beschuldigungen zu dienen. Es handelt sich also nicht um eine echte Bedeutungskomponente, sondern nur um eine "Phantom"- Bedeutung, die gleichsam wieder verschwindet, hat man die eigentliche Intention nicht nur verstanden, sondern auch durchschaut. Allerdings genügt das Phantom meist den Anforderungen formaler oder juristischer Rechtfertigung, so daß die Beweisführung gegen den Manipulator zwar ausreicht, um ihn von einem lin-

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guistischen Standpunkt aus als "Täter" zu überführen, aber nicht, um ihn von einem juristischen oder alltagspraktischen Standpunkt aus zu belangen. Ein Beispiel: Wenn der SPD-Vorsitzende Willy Brandt in einer Fernsehdiskussion den (abwesenden) CDU-Generalsekretär Heiner Geißler "den größten Hetzer seit Goebbels" nennt, hat er mit seit rein formal eine bloße Zeitangabe zur QUALIFIKATION oder EINSCHRÄNKUNG seines diskriminierenden Prädikats gemacht. Wie aber jeder sofort versteht, hat Brandt intendiert, seinen Gegner Geißler mit Goebbels zu VERGLEICHEN. Unter Berücksichtigung der Griceschen "Kooperationsmaximen" wäre der Ausdruck seit Goebbels als bloße Zeitangabe nicht relevant, so daß mithilfe einer "konversationeilen Implikatur" (Grice 1975) auf eine andere, nicht-wörtliche Bedeutung geschlossen werden kann, eben den VERGLEICH, was ja auch plausibler erscheint. Brandt könnte sich zwar auf die bloße Zeitangabe als wörtliche Bedeutung des Ausdrucks herausreden, aber das heikle Muster ist dennoch offensichtlich. Hier geht es bei der Manipulation eigentlich nicht mehr um das Verbergen, sondern nur noch um das Immunisieren der strittigen Intention. Umgekehrt kann sich ein Manipulator darauf herausreden, daß er selbstverständlich nur eine nicht-wörtliche Bedeutung intendiert habe, wo er doch insgeheim durchaus mit Profit in Kauf genommen hat, daß man ihn wörtlich verstanden hat. Dies ist systematisch der Fall bei vagen VERSPRECHUNGEN mit Generalisierungen ("Jeder bekommt eine Lehrstelle") , die später restriktiv interpretiert werden ("jeder, der bereit ist, Wohnort und Berufswunsch zu wechseln") , obwohl man zunächst oder immer wieder gelegentlich ganz gerne anders verstanden wurde. Die beschriebenen Techniken sind also Lösungsversuche für die Aufgabe des Manipulators, Verständlichkeit von Verantwortlichkeit abzukoppeln, wobei die Komplexität von Sprachhandlungen und deren Bedeutungen genutzt wird, um heikle Muster zu tarnen und zu immunisieren. Genutzt werden hierfür auch "natürliche" Bedeutungen, für die man nicht verantwortlich gemacht werden kann, vor allem aber solche Bedeutungskonventionen, die stark genug sind, Verstehen eines Muster zu ermöglichen, aber zu schwach, um Verantwortung für dieses Muster einklagbar zu machen.

Das Beispiel wird diskutiert von Keller 1986.

Sprachhandeln ohne Kooperation?

3

153

Manipulation und Persuasion

Der Begriff der 'Manipulation' wurde hier bisher so definiert, daß es sich um Fälle handelt, bei denen Muster zwar übermittelt werden, aber unter Verletzung der Griceschen Bedingung des (zumindest intendierten) Offenlegens der Intention. Diese Definition erscheint allerdings sehr weit, bedenkt man die enorme Komplexität schon sehr einfacher sprachlicher Äußerungen und bedenkt man, wie aufwendig und unerquicklich für den Hörer es wäre, wollte man pausenlos alle Intentionen offenlegen - ganz abgesehen davon, daß man sich ihrer wahrscheinlich gar nicht bewußt ist. Man darf aber hier "offenlegen" nicht im Sinn von "explizieren" verstehen, d . h . die Frage, wie man Intentionen offenlegt, ist gar nicht berührt. Es gibt ja Muster, die, ohne verwerflich zu sein, am besten implizit realisiert werden, was nicht heißt, daß sie nicht durchschaut werden sollen, z . B . aufrichtige, aber dezente KOMPLIMENTE, überhaupt Muster im Bereich taktvoller und respektvoller Beziehungsgestaltung. Ein Muster ist nicht schon dadurch manipulativ, daß ich es nicht expliziere; erst die Intention, daß die Intention des Musters nicht durchschaubar oder einklagbar sein soll, macht das Manipulative aus. Aber auch diese Definition erscheint noch zu weit. Wenn die Wirkung eines Musters dadurch gesteigert oder überhaupt erst erreicht werden kann, daß der Hörer es (zumindest aktuell) nicht durchschaut, d . h . reflektiert, dann ist zu seiner Realisierung die entsprechende Intention des Verbergens sicher notwendig, ohne daß in jedem Fall von Manipulation gesprochen werden kann. Dies gilt besonders für persuasive Muster und alle unauffälligen Muster der Beziehungsgestaltung und Organisation. Nach der bisherigen Definition wären diese Muster von vornherein manipulativ, obwohl es doch im Interesse von Sprecher u n d Hörer liegen kann, daß diese Muster nicht zu viel Beachtung erfahren, da sie sonst die Realisierung der "eigentlichen" Kommunikation behindern. Manipulation im engeren Sinne liegt erst vor, wenn die Beziehung asymmetrisch ist durch Unverträglichkeit der Interessen. Benutzt z . B . ein Hochsprachler im Kontakt mit einem Dialektsprecher - bewußt oder automatisch - eine Dialektfärbung, um diesen Kontakt und die "inhaltliche" Kommunikation im beiderseitigen Interesse oder zumindest nicht gegen das Interesse des Adressaten zu Zur Nebenrolle der Beziehungsgestaltung s. Holly 1979.

Zur Abgrenzung von Persuasion und Manipulation s. Harre 1985.

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W. Holly

verbessern, kann man durchaus von Kooperation im Sinn von 'verständigungsorientierter' Interessenbalance, im schlimmsten Fall eben von Persuasion sprechen. Manipulation liegt erst dann vor, wenn der Hochsprachler z . B . bei seinem Automechaniker auf diese Weise unbemerkt den Reparaturpreis drücken will, also rücksichtlos 'erfolgsorientiert' handelt. Heimlichkeit oder Nicht-Offenlegen von Intentionen kann nämlich durchaus kommunikativ sein, manipulativ wird dieses Vorgehen erst bei Interessegegensätzen. Die Unterscheidung von Persuasion und Manipulation kann man auch am Konsens hinsichtlich übergeordneter Zwecke festmachen. Der explizit ratifizierte gemeinsame Zweck kann manches Mittel heiligen. Wo aber schon über den Charakter der gesamten Situation, z . B . der Text- oder Gesprächssorte, einseitig irreführende Intentionen vorgegeben werden, darf Manipulation unterstellt werden: bei propagandistischen "INFORMATIONsbroschüren" oder politischen "FernsehDISKUSSIONEN" (vgl. dazu Holly/Kühn/Püschel 1986). Unauffälliges WERBEN für ein klares ARGUMENT ist persuasiv, klares ARGUMENTIEREN zum Zweck unauffälligen WERBENS kann manipulativ sein. Die Übergänge sind natürlich fließend, zumal damit gerechnet werden m u ß , daß die Einschätzung von Interessen divergiert. Was ein Sprecher für kooperative Persuasion hält, kann in den Augen eines Adressaten oder Sprachkritikers manipulativ sein. Andererseits besteht die Gefahr der Überinterpretation. Da Intentionen prinzipiell nur zugeschrieben, aber nicht zweifelsfrei festgestellt werden können (auch die Sprecher können sich selbst und andere über ihre wahren Intentionen täuschen) , kann man in der Interaktion oder als Sprachkritiker höchstens Evidenz für seine Interpretation erreichen. Wer möchte sich schon von anderen sagen lassen, was er selbst gemeint und intendiert hat? Dabei ist es auch möglich, daß andere mich besser verstehen als ich mich selbst. Es gibt ja die Möglichkeit intentional vollzogener Muster, die mir als Sprecher aber durchaus unbewußt bleiben; werden sie zusätzlich verdrängt, ist

Die Termini 'Erfolgsorientierung' bzw. 'Verständigungsorient i e r u n g ' , die Habermas 1981, 127-151 benutzt (dazu Strauß/Zifonun 1985), sind insofern irreführend, als der Kommunikator ebenso Erfolg sucht, wie der Manipulator verstanden werden muß. 'Rücksichtslosigkeit' und 'Interessenbalance' sind die hier gemeinten Grundeinstellungen.

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mir die Einsicht in ihre Realisierung zunächst versperrt. Aus diesem Grund muß man auch dem Manipulator nicht in jedem Fall die "böse" Absicht der Manipulation unterstellen. So schwierig also die zweifelsfreie Aufdeckung manipulativer Vorgehen ist, so wichtig ist die prinzipielle Möglichkeit zu symmetrischer, gleichberechtigter Verständigung, Metakommunikation und Sprachreflexion. Wo sie erst einmal ausgeschlossen ist, wie z.B. in weiten Bereichen öffentlichen Sprachhandelns, besonders in den Massenmedien, ist sprachkritische Kontrolle unerläßlich.

4

Kooperation und Reziprozität

Es ging in diesem Beitrag darum zu zeigen, wie es möglich ist, verstanden ohne durchschaut zu werden, d . h . wie man durch Rückgriff auf Konventionen und natürliche Bedeutungen unter Ausnutzung der Komplexität von Handlungen Bedeutungskomponenten so übermitteln kann, daß die zugehörigen Intentionen möglichst unerkannt oder unangreifbar bleiben. Während dabei auf sehr elementare Gemeinsamkeiten wie konventionelle und natürliche Bedeutungen aus Gründen der Verständlichkeit nicht verzichtet werden kann, wird die Kooperation im Hinblick auf Sprecherintentionen dabei aufgegeben, im Falle von Manipulation sogar umgekehrt. Es erscheint deshalb angebracht, in solchen Fällen nicht mehr von 'Kooperation' zu sprechen, auch nicht für die notwendigen Bemühungen um Verständlichkeit, weil mit diesem Terminus doch eine gemeinsame, zumindest nicht antagonistische Zielorientierung suggeriert wird. Angemessener erscheint der Begriff der 'Reziprozität', der die unerläßliche, elementare Wechselseitigkeit der Bedeutungskomponenten auch beim manipulativen Gebrauch sprachlicher Zeichen besser erfaßt.

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156

W. Holly

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Gabriel Falkenberg

•·

Ausdruck und Übernahme von

Einstellungen

161

AUSDRUCK UND ÜBERNAHME VON EINSTELLUNGEN

0. "Sprachliche Kooperation" kann offenbar mindestens zweierlei heißen: Kooperation mittels Sprache, und Sprechen als Kooperation. Zwischen beiden) sehe ich jedoch eine Verbindung. Denn auch wenn mittels Sprache nicht kooperiert, sondern etwa gestritten, gekämpft und manipuliert wird, so wird doch allein durch die Tätigkeit des Sprechens und des Zuhörens auf irgendeine minimale Weise kooperiert. Das legt die Vermutung nahe, daß diese minimale Kooperation auf Kommunikation deshalb z u t r i f f t , weil Kooperation zu den Entstehungsbedingungen von Kommunikation, und insbesondere sprachlicher Kommunikation, gehört. Sprachliche Kommunikation ist auf irgendeine Weise immer kooperativ, weil der ursprüngliche Zweck des Kommunizierens ein kooperativer war bzw. ist. Die Rede von "ursprünglichen Zwecken" meine ich nicht im Sinne transzendentaler Bedingungen für Kommunikation überhaupt, ich verstehe sie bezogen auf die Naturgeschichte von Kommunikation. In diesem Zusammenhang interessieren mich einige elementare mentale (psychische) Bedingungen von Kooperativität deshalb, weil sie für jede Form sprachlicher Kommunikation gelten, also selbst für so komplexe und antagonistische wie Streit, Manipulation, Lüge usw. Was zunächst an einem einfachen, idealisierten Modell aufgewiesen wird, soll dann genetisch bis zu dem Punkt zurückverfolgt werden, an dem die anfänglichen Idealisierungen verzichtbar sind. Ich beschränke mich auf den einzelnen Kommunikationsakt in einer Zwei-Personen-Kommunikation und versuche diesen als kooperative Anstrengung aufzufassen.* Dabei möchte ich folgendermaßen vorgehen: 1. einige ganz primitive Korrelationen zwischen sprachlichen Handlungen und Bewußtseinsphänomenen skizzieren; 2. zeigen, was Kommunikation auf dieser Stufe heißen kann: wie Einstellungen, die der Äußernde sprachlich ausdrückt, vom Rezipienten übernommen werden; 3. einige Erläuterungen zum zugrundegelegten Ausdrucksbegriff geben, und schließlich 4. einen Blick werfen auf die Vorge* Schriftliche Fassung eines Vortrags vor der 8. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Sprachwissenschaft, Arbeitsgruppe "Kooperatives Handeln", Heidelberg 27.2.1986. Die Abschnitte 3 und 4 entstammen dem Vortrag The Primacy of Expressing vor der 1st International Pragmatics Conference, Viareggio 2.9.1985.

162

G. Falkenberg

schichte dieser Kommunikationsform, und damit auf die Nahtstelle zwischen Kommunikation und ihren Vorformen.

l

Illokutionäre Grundmodi und

Bewußtseinsphänomene

Ich gehe aus von folgenden elementaren Zuordnungen zwischen sprachlichen Handlungsmustern (illokutionären Grundmodi) und Mustern von Bewußtseinsphänomenen (mentalen Grundmodi): (1)

ILL.GRUNDMODI

assertiv injunktiv exklamativ

MENT.GRUNDMODI

-

kognitiv volitiv effektiv

Wenn wir dies als eine einfache Sprache, als ein einfaches Sprachspiel im Sinne Wittgensteins, auffassen, so können wir sagen: mit einer Behauptung bringt man seine Überzeugung zum Ausdruck, mit einem Befehl, einer Frage, einem Versprechen oder einer Drohung seinen Willen, und mit einem Ausruf sein Gefühl. Der Injunktiv zerfällt dabei in die beiden Untermodi des Direktivs und des Kommissivs. Diese Sprache verfügt demnach über drei Arten "autosemantischer Sprachmittel" im Sinne Anton Martys, d.h. drei Arten von Sprachmitteln, die "für sich allein genommen der vollständige Ausdruck eines mitteilbaren psychischen Erlebnisses" sein können, wie Marty formuliert. Und er fährt fort: "Es werden also soviele Grundklassen solcher Sprachmittel zu unterscheiden sein, als es fundamentale Klassen solcher psychischen Vorgänge gibt" (Marty 1908, §43). Den von mir gewählten Termini könnten wir andere zur Seite stellen, etwa das auf Überlegungen Martys, Husserls und Gomperz' basierende Dreierschema Darstellung , Auslösung und Kundgabe ("Organonmodell"), - Begriffe, welche von Bühler einmal mit den Bereichen: Logik, Rhetorik und Lyrik assoziiert wurden (1927, §11) und die den Funktionen Symbol , Signal und Symptom entsprechen (Bühler 1934, § 2 . 2 ) . Kainz hat diesbezüglich bemerkt, daß die "Zuordnung dieser sprachlichen Funktionen zu den Hauptbereichen des seelischen Lebens" geradezu in die Augen springe (1936, 46). Die gleiche Beobachtung findet sich bereits bei Junker (1924), dem wir überdies eine frühe und prägnante Darlegung der sprachwissenschaftlichen Entwicklungslinien dieser grammatischen Trias verdanken.

Ausdruck u. Übernahme v. Einstellungen

163

Wir können auch unter dem Gesichtspunkt der Paßrichtung ("direction of fit") von sprachlichen Handlungen und korrespondierenden Bewußtseinsphänomenen sprechen, die welterfassend, welteingreifend oder aber keines von beiden sind. Oder wir können unter dem damit verwandten Gesichtspunkt des Bezugs zur Zeit von sprachlichen Handlungen und korrespondierenden Bewußtseinsphänomenen sprechen, die vergangenheitsorientiert, zukunftsorientiert oder gegenwartsorientiert sind. (Mit dem Terminus " Phänomen " bezeichne ich alles, was Zustand, Ereignis oder Vorgang sein kann. "Bewußtseinsphänomene" umfassen also Bewußtseinszustände, -ereignisse und -Vorgänge.) Die hier zugrunde gelegte Klassifikation steht in der Sprachhandlungstheorie zwischen dem Zweierschema der Intentionalen Semantik in der Fassung von Stephen Schiffer (1972, §4.2, 1982, §1.1) und dem Viererschema von Bach und Harnish (1979, §3). Die Zuordnung zwischen illokutionären und mentalen Grundmodi besteht auf derjenigen Ebene, von der ich ausgehen will, sowohl nach der Seite des Äußernden hin, sprecherseitig, als auch nach der Seite des Rezipienten hin, hörerseitig. Sprecherseitig ist es die expressive Beziehung, die Beziehung des Ausdrückens; hörerseitig ist es, wie ich der Anschaulichkeit halber sagen will, die impressive Beziehung, die Eindrucks-Beziehung bzw. die der direkten psychischen Wirkung oder Beeinflussung. Ich möchte nun drei Idealisierungen vornehmen. Zum einen gehe ich davon aus, daß vollständige Aufrichtigkeit auf Seiten des Äußernden herrscht, den ich kurz " A " nennen will: Wenn A den Satz "p" ernsthaft geäußert hat, so folgt, daß er die propositionale Einstellung hat, daß p (vgl. Falkenberg 1984). Daß die Einstellung prepositional strukturiert ist, nehme ich hier nur der Bequemlichkeit halber an; tatsächlich t r i f f t diese Annahme in erster Linie auf kognitive Einstellungen zu und ist umso gezwungener, je weiter wir uns von diesen in Richtung effektiver Einstellungen entfernen. Die betreffende Einstellung ist - je nach illokutionärem Modus in einer der genannten drei Bewußtseinsmodi (welche ich mit "0" abkürze). Es gilt dann: (2)

Aufrichtigkeit A0p « A: "p".

In diesem Falle drückt A damit, daß er "p" assertiv, injunktiv oder exklamativ äußert, also aus, daß er 0, daß p, oder kürzer: er drückt sein(e(n)) 0 aus; und die Äußerung des sprachlichen Zeichens "p" ist Ausdruck von A ' s 0. Die zweite Idealisierung betrifft den Rezipienten (kurz " B " genannt), dem ich komplementär unbegrenztes Vertrauen gegenüber dem Äußernden unterstellen

164

G. Falkenberg

will; damit meine ich, daß B auf Treu und Glauben (was nicht heißt: grundlos) die Einstellungen übernimmt, die A in ihm mittels "p" hervorzurufen beabsichtigt. Oder genauer: von denen B glaubt, daß er sie A zufolge einnehmen soll (doch dazu gleich). Wenn demnach A den Satz "p" geäußert hat, so folgt, daß B sich die propositionale Einstellung zu eigen macht, daß p: (3)

Vertrauen A:"p" » B0p.

Als dritte Idealisierung will ich den Fall ausschließen, daß B den A mißversteht, also nicht erkennt, welche Einstellung dieser in ihm h e r v o r z u r u f e n intendiert. (Ebenso will ich nichts zu dem Fall sagen, in dem A seine eigene Einstellung nicht richtig erfaßt und sprachlich verkehrt a r t i k u l i e r t . ) Alle drei Idealisierungen lassen sich zusammenfassend folgendermaßen charakterisieren: die propositionale Einstellung, die der Äußernde hat, ist diegleiche wie diejenige, die er ausdrückt ( A u f r i c h t i g k e i t ) , und diese wiederum ist diegleiche wie diejenige, die der Rezipient sich zu eigen macht (Verstehen plus Vertrauen). Man kann die vorgenommenen Idealisierungen in dem Bild der Gleichheit von Ausdruck und Eindruck zusammenziehen und so darstellen: (4)

Aufrichtigkeit Vertrauen A0p « A: "p" » B0p Ausdruck Eindruck

Der assertive Grundmodus unserer einfachen Sprache ist also der konstitutive Teil eines Sprachmittels, um Überzeugungen zum Ausdruck zu bringen und die gleichen Überzeugungen im Adressaten hervorzubringen; der injunktive Grundmodus, um den eigenen Willen zum Ausdruck zu bringen und entweder (im Falle des Direktivs) einen entsprechenden Willen, letztlich bestimmte Handlungen, beim anderen zu bewirken oder (im Falle des Kommissivs) sich selbst gegenüber dem ändern willensmäßig zu binden. Der exklamative Grundmodus schließlich ist der konstitutive Teil eines Sprachmittels, Gefühle zum Ausdruck zu bringen und korrespondierende Gefühle im Adressaten h e r v o r z u r u f e n . Die Termini "kognitiv", "volitiv" und "affektiv" beziehen sich auf Grundkomponenten von Bewußtsein, die auf analytischem Wege gewonnen sind und mit deren Hilfe komplexere Bewußtseinsphänomene beschrieben werden können ( z . B . haben Intentionen neben einem volitiven auch einen kognitiven Bestandteil, ebenso wie zahlreiche Gefühle neben ihrer effektiven Grundkomponente einen kognitiven Anteil besitzen). Ich behaupte im übrigen nicht, daß es drei sprach-

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liehe Grundmodi gibt, weil es drei grundlegende Modi des Bewußtseins gäbe; mein Verdacht ist eher der umgekehrte: daß wir geneigt sind, Bewußtsein so zu strukturieren wie die Sprache es uns nahelegt. Auf dieser elementaren und idealisierten Ebene ist sprachliche Kommunikation dann erfolgreich, wenn für jede einzelne Äußerung eines Dialogs wechselweise die propositionale Einstellung von A und diejenige Einstellung, die B als unmittelbares Resultat seines vertrauensvollen Verständnisses der Äußerung A*s gewinnt, übereinstimmen. Ebenso läßt sich auf dieser Ebene sprachliche Kooperation als Zielidentität bestimmen: Ziel ist, daß beide wissen, daß p, wollen, daß p oder fühlen, daß p. Sprachliche Kommunikation dieses Typs hat die Funktion der sozialen Diffusion von Einstellungen, oder, traditionell ausgedrückt: der Zweck dieser Sprache ist es, (in einem weiten Sinn) "Gedanken" durch das Medium ihrer Äußerung zu übertragen. Ich möchte nun nicht mit einer Aufzählung beginnen, in welchen Hinsichten diese elementare Sprache von einem komplexen Kommunikationssystem wie unserer heutigen Sprache abweicht, denn damit käme ich nicht so leicht zu Ende; allerdings bin ich der Ansicht, daß diese drei Grundmodi ausreichen, um alle illokutionären Modi des Deutschen zu erfassen. Bereits Karl Brugmann (1919) war für die indogermanischen Sprachen zu vergleichbaren Ergebnissen gelangt, deren kritische Würdigung und detaillierte Fortsetzung durch die moderne Sprachwissenschaft noch ausstehen.

2

Kooperation und die Koordination von Einstellungen

Nun ist es offenkundig eines der Charakteristika sprachlicher Kommunikation, daß durch sie propositionale Einstellungen im allgemeinen nicht so übertragen werden wie die Masern, nämlich durch Ansteckung. Es ist wesentlich, daß der Rezipient gemeinhin die Freiheit hat, die Einstellung, die er als vom Äußernden ausgedrückt wahrnimmt, zu übernehmen oder nicht. Anders formuliert: Kommunikative Handlungen liefern im allgemeinen dem Adressaten Gründe, seinerseits gewisse propositionale Einstellungen einzunehmen; sie sind nicht die Ursache, einzurasten. Auf der Ebene der einzelnen sprachlichen Handlung, des einzelnen Sprach-Akts, sehe ich die vorrangige Art der Kooperation nicht zwischen zwei Handlungen, wie im ursprünglichen, am Arbeitsbegriff orientierten Kooperationsbegriff; sondern zwischen der Handlung

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G. Falkenberg

eines Äußernden A und der Tätigkeit bzw. dem Tun eines Rezipienten B, wobei dieses Tun (ein Kunstausdruck) auch die Bildung, das Einnehmen von propositionalen Einstellungen umfaßt (Bennett 1976, §55; Lewis 1975, 11; Falkenberg 1975, 285-86). In Termini von Marx haben wir es hier nicht mit einfacher, sondern ausgebildeter Kooperation zu tun, in der die Akteure verschiedenen Handlungs- bzw. Tätigkeitsmustern folgen. Ich schlage vor, noch einen Schritt weiter zu gehen und den spieltheoretischen Begriff der Koordination an die Stelle des Kooperationsbegriffs zu setzen, dergestalt, daß durch kommunikative Handlungen wechselweise propositionale Einstellungen miteinander koordiniert werden. Nehmen wir als Beispiel bezeugendes Behaupten : der Äußernde berichtet etwa dem Rezipienten von etwas, das er gesehen hat. Wie kommt B in unserer einfachen Modellsprache dazu, sich die Einstellung des A zu eigen zu machen? Der Einfachheit halber beschreibe ich dies aus der Perspektive eines Dritten. Zunächst: Aufrichtigkeit von A, die wir ja unterstellen wollen, heißt im assertiven Fall Wahrhaftigkeit und besagt, daß A glaubt, was er behauptet. Und assertorisches Vertrauen von B zu A besagt, daß B den A für wahrhaftig wie für sachkundig (kompetent) hält. Hält er ihn für wahrhaftig, so kann er aus der Tatsache, daß A behauptet hat, daß p, schließen, daß A glaubt, daß p; hält er ihn zusätzlich noch für sachkundig, so kann er den weiteren Schritt vollziehen und übergehen zu dem eigenen Glauben, daß p. Selbstverständlich will ich nicht annehmen, daß wir als Rezipienten so zu räsonieren pflegen; daß wir immer getrennt vollziehen, was wir manchmal getrennt vollziehen können. Wenn wir jemandem glauben, so heißt dies gewöhnlich, daß wir in einem Zug das tun - in dem eben erwähnten erweiterten Sinn von "tun" -, was hier analytisch in zwei Schritte zerlegt wurde (siehe ausführlicher 1985, §2; vgl. auch Sbisa 1983). Warum machen wir Behauptungen? Was ist, in unserem einfachen Sprachspiel, der Zweck des Behauptens? Zu bewirken, daß unser Gesprächspartner glaubt, daß p. Und warum wollen wir, daß er glaubt, daß p? Wenn wir wahrhaftig sind: weil wir selbst glauben, daß p, und wollen, daß er unsere epistemische oder kognitive Einstellung teilt. Und warum wollen wir das? Eine Antwort ist sicherlich: Weil wir mit ihm kooperieren wollen. Was wir an relevantem Wissen haben, soll auch er wissen, weil wir nur gemeinsam unser Ziel erreichen werden, und es der Erreichung dieses Zieles dient, in einer Gruppe das relevante Wissen jedes Einzelnen allen anderen zugänglich zu machen. (Wenn wir z . B . Jäger in einer Horde Prähominiden sind: weil wir das Wild gemeinsam nur erlegen werden, wenn er weiß, was ich weiß, nämlich daß dort drüben ein Bison steht.)

Ausdruck u. Übernahme v. Einstellungen

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Kooperation und Vertrauen gehören zu unserem Begriff von Gesellschaft, zu unserem Begriff von Sprache. Und jedes Vertrauen ist ein Wagnis, ein nicht vollständig gesicherter Sprung: es enthält ein irreduzibles Element von Nicht-Rationalität (was nicht etwa heißt: von Irrationalität). Ein Ziel I ist, G, wenn (5)

grob gesagt, ein

kooperatives

Ziel einer Gruppe

(a) jedes G-Mitglied das Ziel Z anstrebt, (b) kein G-Mitglied allein Z erreichen kann, (c) alle Mitglieder zusammen unter gewissen Umständen (kollektive Planung, Arbeitsteilung, etc.) Z erreichen können (vgl. Ullmann-Margalit 1977, §111.6).

Eine genauere Formulierung müßte nicht nur die individuellen Präferenzen der Gruppenmitglieder graduieren, sondern auch solche Fälle umfassen, in denen Z von niemandem ohne unverhältnismäßig großen Aufwand allein erreicht werden kann, aber um vieles einfacher, schneller oder billiger gemeinsam mit anderen; also berücksichtigen, daß zwischen den beiden letzten Klauseln von (5) strenggenommen nicht die unterstellte Kluft vorliegt, sondern vielfach eine Aufwand-Nutzen-Abwägung stattfindet, und auch Zwischenlösungen möglich sind. Wenn also behauptet w i r d , daß Kommunikation eine Form der Kooperation ist, so muß das Augenmerk auf solchen Problemen und Aufgaben liegen, zu deren Bewältigung die Ausbildung kommunikativer Strukturen beitragen kann und konnte; Probleme und Aufgaben, die den Druck in Richtung Kommunikativität verstärken, und die genetisch den Druck - auch den Selektionsdruck - in Richtung Kommunikativität bereits verstärkt haben. Die Koordinierung von Handlungen und propositionalen Einstellungen ist deshalb Voraussetzung für kooperativ erreichbaren Erfolg, weil ohne sie Bedingung (c) nicht erfüllt werden kann. In der Ökonomie scheint es ebenso wie in der Biologie ein beliebtes Spiel geworden zu sein, altruistisch erscheinende Verhaltensweisen so zu erklären, daß sie zu raffinierten Formen des Egoismus werden; auch in der Linguistik gibt es ähnliche, davon beeinflußte Tendenzen. Die vorliegenden Überlegungen widersetzen sich diesem Trend (vgl. die Übersicht bei Elster 1979, §111.7 mit Lipps 1899, §1); sie laufen nicht darauf hinaus, Kooperation, Aufrichtigkeit und Vertrauen als letztlich ultra-subtile Formen von Konkurrenz und Rivalität zu erweisen, sondern als Ausprägungen elementarer Formen, die schon auf einer sehr frühen Stufe der Entwicklung vorhanden gewesen sein dürften.

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3

G. Falkenberg

Zur Logik der Ausdrucksbeziehung

Etwas ausdrücken - z . B . die eigene W u t , den Wunsch, zu gehen, oder die Überzeugung, daß der Sommer ziemlich verregnet war - scheint auf den ersten Blick ein rettungslos romantischer Begriff zu sein. In Literaturbetrachtung und ästhetischer Kritik verwurzelt, erweckt der Begriff Argwohn, wenn mit seiner Hilfe nicht nur Kunstwerke, sondern auch profane Handlungen und sprachliche Äußerungen gedeutet werden sollen, als gewissermaßen - wie Kritiker höhnen Schwitzwasser der Seele. Carnap beispielsweise betrachtet die expressive Funktion der Sprache mit deutlichem Widerwillen, wenn er schreibt: "Now many linguistic utterances are analogous to laughing in that they have only an expressive function, no representative function. Examples of this are cries like "Oh,Oh", or on a higher level, lyrical verses. ... A lyrical poem has no assertional sense, no theoretical sense, it does not contain knowledge" (Carnap 1935, §1.5; vgl. bereits seine Diatriben gegen Metaphysik als "Ausdruck des Lebensgefühls" und gegen die Metaphysiker als "Musiker ohne musikalische Fähigkeit" in 1932, §7) In einem durchaus verwandten Geist haben die Anhänger der sog. emotiven Theorie der Ethik die Auffassung vertreten, daß die einzige oder die wesentliche Funktion moralischer Äußerungen der Ausdruck von Gefühlen oder Einstellungen der Billigung und Mißbilligung sei. Sogar Austin, an einer der wenigen Stellen, an denen er "ausdrücken" erwähnt, fügt sogleich in Klammern hinzu: "scheußliches Wort" (1962, 75). Man könnte weitere Belege anführen; etwa die wegwerfende Art und Weise, in der ein Denker wie Jürgen Habermas den Ausdruck "expressiv" zu verwenden pflegt. Der Ausdrucksbegriff führt in der modernen Sprachtheorie das Leben einer residualen Kategorie, die man nur dann ins Spiel bringt, wenn es unbedingt sein muß, und ansonsten schamhaft übergeht. Die Kategorie ist in der Tat nach den Versuchen von Croce, Klages und Bühler derart in Mißkredit geraten, daß heute kaum mehr ernsthaft das Unternehmen gewagt wird, Sprachwissenschaft als Teil einer Wissenschaft vom Ausdruck systematisch zu betreiben. Immerhin ist diesen Bruchstücken eines Forschungsstranges - wie epigonal sie auch immer sein mögen - zu danken, daß das Interesse an der Tradition des Expressivismus nicht völig verschüttet ist, selbst wenn diese Tradition heute in mancher Hinsicht abseitig anmutet; daß

Ausdruck u. Übernahme v. Einstellungen

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etwa der Wissenschaftstheoretiker Karl Popper, der Kunsttheoretiker Ernst Gombrich und der Biologe Konrad Lorenz in verschiedener Weise an diese Tradition anknüpfen, ist mit ein Verdienst Bühlers, bei dem alle drei studierten (vgl. die Diskussion zwischen Popper und Lorenz in Kreuzer 1985, 136-39). Der Begriff des Ausdrückens wird in der modernen Semantik allenfalls dort verwendet, und zwar in einem nicht-personalen Sinn, wo davon gesprochen w i r d , daß Sätze Tatsachen oder Sachverhalte ausdrücken, oder Satzteile Begriffe ausdrücken. In diesem Sinne gebrauche ich den Begriff "ausdrücken" hier nicht; im letzten Abschnitt soll jedoch kurz auf die Beziehung von personalem und nicht-personalem Ausdrücken eingegangen werden. Die folgenden sechs Feststellungen dienen dem Zweck, den Begriff des Ausdrückens näher zu bestimmen und ihn für systematische Überlegungen brauchbar zu machen. Aiston (1965) verdanken wir den Nachweis, daß expressive und repräsentative oder deskriptive Funktion sich nicht so unversöhnlich gegenüberstehen, wie von Carnap und anderen, die überhaupt nur die letzte Kategorie gelten lassen wollen, behauptet wird. (Ich bin im folgenden verschiedenen Arbeiten der sprachanalytischen Ästhetik verpflichtet, insbesondere Tormey 1971, von dem ich einige Einsichten übernommen habe, den Schriften von Gombrich, etwa 1962, und Wollheim 1964, 1968; vgl. auch Sircello 1972 und Kivy 19 .) I. Um auszudrücken, muß etwas da sein, das ausgedrückt wird. Es klingt ein wenig seltsam, zu sagen, "Er drückte seine Hoffnung aus, hatte aber gar keine Hoffnung". (Ich sehe hier einmal von rituellem oder zeremoniellem Sprachverhalten ab, wie in: "Der Präsident drückte der Witwe sein Beileid aus".). K u r z , "ausdrücken" ist ein faktives Verb, so wie "wissen": Wenn A 0 ausdrückt, dann folgt, daß er 0 hat (oder in 0 ist). II. Was ist es, das ausgedrückt werden kann? Was ist der Bereich des Ausdrückbaren? Eigene Bewußtseinszustände, mentale A k t e , möglicherweise auch Dispositionen. Ich setze hier nicht eine bestimmte Theorie, sondern kaum mehr als ein intuitives Verständnis dessen voraus, was Bewußtseinszustände, -ereignisse und -Vorgänge sind, wenn ich sie (siehe Abschnitt 1) unter der allgemeinen Rubrik der Bewußtseinsphänomene subsumiere und mit "0" abkürze. I I I . Die von A ausgedrückten 0s sind analytisch, seine eigenen; sie können - logischerweise - nicht die 0s von jemand anderem sein. Wenn ich auch jedermanns Bewußtseinsphänomene im Prinzip beschreiben kann, so sind doch, was ich ausdrücke, ihrer Natur nach

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meine eigenen 0s. Ausdrücken ist also indirekt reflexiv, wie ich sagen möchte, selbstzentriert .

oder

IV. Hat ein Wesen einen Körper ( L e i b ) , so werden gewisse seiner 0s sich, ceteris paribus, in bestimmter Weise in den Bewegungen seines Körpers manifestieren . Einige dieser Manifestationen werden Ausdrücke oder (wie man traditionell sagte) Ausdrucksbewegungen sein, denn Ausdrücken macht, wie Charles Taylor sagt, "etwas in einer Verkörperung manifest" (makes something manifest in an embodiment; 1979, 73). Keine Verkörperung, keine Manifestation, kein Ausdruck. V. Jeder Ausdruck stellt eine evidentielle Beziehung zu dem her, wovon er Ausdruck ist. Folgendes ist daher eine notwendige Bedingung: (6)

Wenn A's Verhalten Ausdruck von 0 ist, dann ist der Schluß von A's Verhalten auf A's 0 gerechtfertigt, derart, daß A 0 hat (oder in 0 ist).

Da dasselbe auf Symptome ebenfalls z u t r i f f t , ist die Bedingung jedenfalls nicht hinreichend. Es gibt keine wie auch immer geartete deskriptiv unterscheidbare Klasse von Körperbewegungen, die - keinen Verhaltenstypus, der - an sich Ausdrucksbewegungen konstituiert (vgl. schon Buijtendijk und Plessner 1925, 78), - es sei denn, die Beschreibung umfaßt mehr als nur ein schlichtes Verhalten und läßt bereits in ihrer Formulierung Rückschlüsse auf entsprechende Bewußtseinsphänomene zu. Unsere Wortwahl in der Beschreibung eines Verhaltens kann in dieser Hinsicht mehr oder weniger gefärbt sein, und liefert oft einen Hinweis darauf, welche Art von Schluss auf das Vorliegen eines Bewußtseinsphänomens wir als durch unsere Beschreibung gestützt erachten. Z . B . : (7)

Er hat ein ganz rotes Gesicht. Das Blut schießt ihm ins Gesicht. Er läuft rot an. Er errötet.

Die letzten beiden Beispielsätze geben im Unterschied zu den ersten beiden deutliche Hinweise darauf, daß die betreffende Person irgendwie aus der Fassung gebracht ist. In Verbindung mit der gerade gegebenen Bedingung (6) ist jedoch ein Hinweis geboten. Es ist leicht möglich, verführt durch die dem Begriff "ausdrücken" ablesbare Etymologie (ursprünglich "herausdrücken"), dem kruden Bild zu erliegen, als werde etwas Inneres -

Ausdruck u. Übernahme v. Einstellungen

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ein Bewußtseinsinhalt - ausgewrungen, möglicherweise mit Gewalt. Das Bild eines Inhalts, der sich entleert oder herausgepreßt wird, mag auf Tomatentuben passen; es paßt nicht auf Personen und andere lebende Wesen. Das 0 ausdrückende Verhalten ist oft ein konstitutiver Teil des Gesamtphänomens 0; Dilthey, Scheler (1913, Anhang) und Wittgenstein haben darauf immer wieder aufmerksam gemacht. Nehmen wir beispielsweise Wut oder Eifersucht: Es ergibt keinen Sinn, eine vor Wut kochende Person zu beschreiben als eine, die ihre innere, uns nicht sichtbare Wut ausdrückt - vielmehr sehen wir ja die Wut in , und nicht etwa hinter, ihrem Verhalten. VI. Unterschiedliche Redeweisen über das Ausdrücken müssen sorgfältiger unterschieden werden, um Verwirrung zu vermeiden (vgl. auch Ammann 1925, 54-65 zu dem "bis zur Erschlaffung ausgeweiteten Kautschukwort Ausdruck "). Ich sehe die Notwendigkeit einer Differenzierung in dreierlei Hinsicht; die reflexive Verwendung "sich ausdrücken" betrachte ich hier nicht. a. Wenn etwas ausgedrückt w i r d , so kann dies absichtlich wie auch nicht-absichtlich geschehen. Im ersten Fall sagen wir, daß A etwas durch sein Verhalten " zum Ausdruck bringt ", im zweiten, daß in seinem Verhalten etwas " zum Ausdruck kommt ". (Dilthey 1909, §11.2; Stigen 1968). Da eine Zone des Übergangs zwischen intentionalem und nicht-intentionalem Verhalten existiert, gibt es folglich Fälle, die zwischen klarem zum-Ausdruck-Bringen ("A drückt...aus") und klarem zum-Ausdruck-Kommen ("A's Verhalten d r ü c k t . . . a u s , ohne daß A . . . a u s d r ü c k t " ) stehen. b. Wann immer wir davon sprechen können, daß etwas (0) durch ein oder in einem Verhalten A's ausgedrückt wird, können wir sagen, daß das Verhalten Ausdruck von 0 (oder von 0-heit), genauer, von A's 0 (oder A's 0-heit) ist, und umgekehrt. c. Und schließlich: wann immer etwas ein Ausdruck von 0 oder 0-heit ist, kann es derivativ oder figurativ als ein 0-Ausdruck (0-hafter Ausdruck) beschrieben werden, aber nicht umgekehrt (vgl. Goodman 1968, §11.9). Z . B . : einen Ausdruck der Trauer im Gesicht (eine "Trauermine") können wir auch einen "traurigen Ausdruck" nennen, aber nicht umgekehrt. Wenn ein trauriger Ausdruck auf dem (oder im) Gesicht einer Person erscheint, sichtbar ist, so braucht es sich nicht unbedingt um einen Ausdruck von Trauer zu handeln; es mag sein, daß die Person einfach nur traurig guckt oder dreinschaut: daß sie traurig aussieht oder w i r k t , ohne es in Wahrheit zu sein. Und damit dies der Fall ist, muß sie sich nicht im Dauerzustand der Trauer befinden. Ebenso, wenn wir von Dingen oder Vorführungen im Bereich der Kunst sprechen: eine Maske

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oder ein Musikstück mag durchaus traurig aussehen oder einen traurigen Ausdruck haben, aber dieser Ausdruck ist nicht ein Ausdruck von Trauer, weder des Dinges noch seines Urhebers. (Man denke auch an eine Bezeichnung wie etwa "ausdrucksvolles Klavierspiel".) Ein 0-Ausdruck ist sozusagen das konventionelle Bild, zu dem unzählige Ausdrücke von 0 verschmolzen sind. Beide, 0-Ausdruck und Ausdruck von 0, stehen zueinander in derselben Beziehung wie Physiognomie und Mimik . Ein mißgestaltetes Gesicht kann einen grausamen Ausdruck haben ( t r a g e n ) ; aber dies berechtigt uns nicht, seinem Besitzer Grausamkeit zuzuschreiben. Wo der Ausdruck in materiellen Gegenständen verkörpert ist - in Dingen, die Ausdruck erworben haben im Vorgang ihrer schöpferischen Erzeugung -, müssen uns diese Gegenstände eine physioqnomische Lesart bieten (wie man es mit Charles Taylor nennen könnte). Und dies heißt dann auch, daß z.B. Verben des Sagens in einem sekundären, übertragenen Sinn auf derartig geschaffene Dinge angewandt werden können ("Was sagt dieses Bild?"). In einem noch umfassenderen Sinn können dann sogar nicht-kommunikative Handlungen, ja selbst Institutionen als "Ausdruck" von etwas gedeutet werden, das oftmals nur sehr indirekt an ihrer Hervorbringung beteiligt war. So spricht man etwa von der Mode als einem Ausdruck des Lebensgefühls, und so wurde in der Romantik Sprache als Ausdruck des Volksgeistes oder von Marxisten der Staat als Ausdruck von Klassenverhältnissen bezeichnet. Diese sehr metaphorische Redeweise ist in unseren Differenzierungen V I . b und c nicht erfaßt. Bei diesen sechs Feststellungen zur Logik von "ausdrücken" wil ich es hier belassen; notwendig wären weitere methodische Untersuchungen (vgl. etwa Lang 1983), die auch Verben einbeziehen wie "zeigen", "aufweisen", "beweisen" ("unter Beweis stellen"), "demonstrieren", "verbalisieren", "artikulieren", "offenbaren", "kundgeben", "bekunden", "äußern", "eröffnen", u . a . Ich hoffe, den Begriff des Ausdrückens hier wenigstens so weit beleuchtet zu haben, daß seine Verwendung für systematische Zwecke nicht aussichtslos erscheint. Selbstverständlich habe ich ihn nicht definiert (was manche sogar für unmöglich halten, z.B. Buijtendijk und Plessner 1925, 79); ich habe ihn zu erläutern versucht durch einige notwendige Bedingungen und die Ziehung einiger Unterschiede. Vielleicht können diese Bemerkungen dazu beitragen, Widerstände gegen den Gebrauch des Begriffs abzubauen und dadurch helfen, der Ausdrucksbeziehung die ihr zustehende fundamentale Rolle in der Sprachtheorie zurückzugeben.

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Ausdruck, Eindruck, Resonanz

Ich will nun von der im ersten Abschnitt skizzierten einfachen Sprache aus einen Blick zurück auf die mögliche Vorgeschichte, auf Vorbedingungen einer solchen Sprache werfen, d . h . sehr spekulativ etwas zum Problem der Genese von Ausdruck und Eindruck sagen. Was zunächst an unseren drei Grundmodi unter (1) a u f f ä l l t , ist, daß es eine klare Richtung vom Exklamativen zum Assertiven zu geben scheint: ausdrücken hat seinen ursprünglichen Platz beim Affektiven, beim "Ausbruch" von Gefühlen und bei Ausdrucksbewegungen wie Mimik, Gestik, Tanz usf. (Neben den sonst vielfach genannten gattungsgeschichtlichen Wurzeln der Sprache ist diese sicherlich eine, die stärkere Beachtung finden sollte: das Spiel.) Gefühl und Wille sind zudem etwas, was auch von Tieren - ich meine: nichtmenschlichen Tieren - ausgedrückt werden kann. Wir finden also eine Hierarchie dergestalt, daß von den genannten Grundmodi die niedrigeren ohne die höheren, die höheren aber nicht ohne alle niedrigeren, vorzukommen scheinen. Im prähominiden Warnschrei erscheinen bereits alle drei Funktionen, wenn auch noch ungeschieden vereinigt; erst auf einer späteren Stufe werden sie in die Grundmodi des Ausrufens ("Oh!"), des Aufforderns ("Bringt euch in Sicherheit!") und des Behauptens ("Ein Feind nähert sich") differenziert. Aber wird der Begriff des Ausdrückens nicht überspannt, wenn er alles vom unstrukturierten Schrei bis zur argumentativen Behauptung umfassen soll? Mannheim hat, in Anlehnung an Scheler, diesen Zweifel artikuliert: "Nehmen wir folgenden Fall: Einen Vorposten im Wald t r i f f t eine verirrte Kugel; er wird verwundet und schreit vor Schmerz laut a u f . Dieser erste Schrei ist keine Kundgabe, kein Zeichen oder sonst dergleichen, sondern der Schrei ist die einfache Fortsetzung der psycho-physischen einheitlichen Veränderung, der an diesem Menschen durch den Schuß zustande gekommen ist: Wie das Blut aus den Adern, so quillt der Schrei aus der Kehle hervor. Aber schon im nächsten Augenblick ist es möglich, daß derselbe, akustisch sich vielleicht völlig gleichbleibende Schrei zu einem Ruf nach Hilfe, zu einer Kundgebung wird. Eine Welt trennt diese zwei Phasen desselben Lautes voneinander. Die erste Phase ist eine Naturerscheinung; in der zweiten ist das Fremdich, die Sozietät, mitgesetzt..." (Mannheim 1922, §11.9).

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Die Sachlage wird ein wenig klarer, wenn wir die Frage nach der Art der Beziehung zwischen Ausdruck und Auszudrückendem stellen. (Ich sage bewußt etwas künstlich: "Auszudrückendes", weil "das Ausgedrückte" bereits auf Bewußtseinsphänomene im Verhalten Bezug nimmt, also dasjenige plastisch zusammenzieht, was wir aus methodischen Gründen auseinanderfalten.) Ist diese Beziehung zwischen körperlichen und geistigen Phänomenen kontingent, kausal, synthetisch? Das Bemerkenswerte ist, daß die Frage so allgemein nicht beantwortet werden kann, sondern auf verschiedenen Ebenen von Bewußtseinsphänomenen b z w . Modi verschiedene Antworten erhält. Keine Auskunft deckt alle Arten des Ausdrückens ab. Es gibt freilich die alte Idee, daß das Auszudrückende immer oder jedenfalls primär die Ursache des Ausdrucks sei, also z.B. der Schmerz die Ursache des Schmerzensschreis (noch Russell 1940, Sellars 1969). Dies mag, in abgeschwächter Form, selbst auf Willensphänomene zutreffen. Spätestens aber, wenn wir die Stufe der Überzeugungen ereichen , stimmt es nicht mehr: die Ursache dafür, daß ich dir mitteile daß p, ist nicht, daß ich glaube daß p, sondern - sofern man hier überhaupt von "Ursache" reden will - meine Intention, daß dju glaubst daß p. Je höher wir also vom Affektiven zum Kognitiven aufsteigen, desto mehr scheint die kausale Komponente zurückzutreten, oder vorsichtiger formuliert, umso mehr wird sie in eine komplizierte intentionale Struktur wechselseitiger Überzeugungen eingebettet (vgl. Falkenberg 1981). Dies gilt entsprechend für die Vorstellung, daß der Ausdruck die Ursache des Eindrucks sei. Auch hier wird die Wirkung des Ausdrucks im Rezipienten stufenweise durch komplexere Mechanismen erreicht, schließlich mit durch seine Erkenntnis, daß der Äußernde bestimmte Einstellungen in ihm zu bewirken intendiert. Auf einer rudimentären Stufe stehen demnach Ausdruck und Auszudrückendes in einer kontinqenten Beziehung, sind also unabhängig voneinander beschreibbar . Nehmen wir als Beispiel Zähneklappern, das ein Ausdruck von Angst beim Menschen sein kann, genauer: ein Verhalten, in dem Angst zum Ausdruck kommen kann. In einem Fall wie diesem macht die Auffassung wenig Sinn, daß mentale Phänomene und die ihnen korrespondierenden körperlichen Manifestationen logisch oder begrifflich miteinander verbunden sind; es ist nicht schwer, sich vorzustellen, daß ein Wandel in der menschlichen Physiologie zur Folge hätte, daß es nicht länger der Fall wäre, daß Angst Zähneklappern verursachte; aber es wäre recht weit hergeholt, anzunehmen, daß das Wort "Angst" nur in einer veränderten Bedeutung auf solchermaßen andere Menschen Anwendung finden könnte (Shoemaker 1976).

Ausdruck u. Übernahme v. E i n s t e l l u n g e n

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Das Verhältnis menschlicher Überzeugung und Behauptung dagegen ist ein anderes. Auf dieser komplexen Stufe ist die Beziehung eine begriffliche : das Verhältnis von menschlicher Überzeugung und Behauptung ist nicht kontingent, und das heißt, beide sind letztlich nicht unabhängig voneinander beschreibbar. Es gibt zwar einen "natürlichen Ausdruck " vieler Gefühle und Willensphänomene, aber keinen natürlichen Ausdruck von Überzeugungen. Angst mag selbstverständlich nicht nur Zähneklappern hervorrufen, sondern auch eine Reihe anderer körperlicher Manifestationen wie etwa Schwitzen oder Zittern. Und umgekehrt mag Zähneklappern nicht nur durch Angst hervorgerufen sein, sondern z . B . durch Kälte. Der Grenzfall ist derjenige, wo beides, Ausdrückendes und Auszudrükkendes, gewissermaßen ineins fällt. Je konventioneller aber der Zusammenhang von Ausdruck und Auszudrückendem wird, umso mehr kann das Auszudrückende nur noch _in Ausdrücken manifestiert werden, nicht mehr auf irgendeine andere Weise. Wir haben schließlich die Ebene der Arbitrarität erreicht: (8)

Arbitrarität Kontingenz Identität

Je weiter wir aufsteigen in Richtung Arbitrarität, umso ausschließlicher werden propositionale Einstellungen mittels eines komplexen Mechanismus wechselseitiger Einstellungen übernommen. Konventionen ersparen uns einen Teil der psychischen Arbeit. Rationalität sprachlicher Kommunikation bedeutet in diesem Zusammenhang, daß jede im Gesprächspartner beabsichtigte Wirkung den Weg über kognitive Einstellungen zu gehen hat. Ein Verhalten wie Zähneklappern oder - mehr zur Sache gehörend - Schreien scheint deshalb am Beginn von Kommunikation zu stehen, weil (9)

(a) Kausalität ein wesentlicher Faktor ist, und es (b) dennoch die Möglichkeit gibt, das Verhalten zu kontrollieren ( d . h . zu übertreiben oder untertreiben und, oft nur mit Mühe, zu unterdrücken).

Verhaltensweisen, auf welche diese beiden Merkmale zutreffen, sind, um einen Ausdruck aus der Biologie zu übernehmen, " resonante_ Phänomene ": Gähnen, Lachen, Weinen, Erregung, Stimmungen, Panik - all dies sind elementare soziale Phänomene, die in der Tat durch "Ansteckung", durch Übertragung und Mitreißung wirken. Resonanz ist meist artspezifisch: wenn ein Herdentier wegspringt, springen alle mit; wenn aber eine Katze aufspringt, so läßt sich

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beobachten, daß alle anderen oft sitzen bleiben. Es gibt aber auch Resonanzphänomene zwischen Mensch und nicht-menschlichem Tier ( z . B . Gähnen, panische Angst). Biologen gehen von einem angeborenen Auslösemechanismus bei der Übertragungen von Stimmungen und anderen Bewußtseinsphänomenen beim Tier und teilweise beim Menschen aus (Lorenz 1951, Leyhausen 1967). Im Übergang von reiner Kausalität zur Möglichkeit der Beherrschung des Verhaltens liegt eine wesentliche Wurzel des Kommunikativen im Ausdruck: überspitzt gesagt, kann nur das ausgedrückt werden, was auch unterdrückt werden kann ( v g l . Hampshire 1961). Diese Kontrollmöglichkeit eröffnet eine weitere Entwicklung: nämlich, ein Verhalten zu zeigen, durch welches sonst 0 ausgedrückt wird, jedoch ohne in 0 zu sein (oder 0 zu haben). Auf diese Weise kann sich der Ausdruck bereits ein Stückweit ablösen von dem, wofür er Ausdruck ist; die evidentielle Komponente wirkt weiter, aber sie wird gewissermaßen lockerer. Man wird für die genetische Herausbildung solchen Als-ob-Verhaltens , und zwar sowohl für die phylogenetische wie die ontogenetische, die Fähigkeit zur Nachahmung (Imitation) heranziehen müssen. Gätschenberger nennt diesen Vorgang die "willkürliche Hervorbringung natürlicher Ausdrucksarten" und charakterisiert ihn so: "Die natürlichen Ausdrucksarten selbst sind keine Zeichen, sondern reine Glieder von Kausalbeziehungen ohne Mitwirkung von Verstand und Wille. Menschen und Tiere beobachten aber, welche Wirkung die natürliche Äußerung von psychischen Sonderzuständen auf andere ausübt. Wünschen sie diese Wirkung, ohne sich gerade in dem Sonderzustand zu befinden, so bedarf es nur eines Funkens dessen, was man Verstand nennt, um die Gebärde ohne den Sonderzustand entstehen zu lassen. Das Zeichen ist ebenso leicht verständlich wie ausgeführt. Gebraucht es ein zweiter bei ähnlicher Gelegenheit dem ersten gegenüber, so ist es konventionell eingeführt" (Gätschenberger 1920, 221). Die zweckvolle Beherrschung des Ausdrucks fächert sich in die beiden Spielarten des Über- und Untertreibens offenbar in Abhängigkeit von dem Verhältnis des Äußernden zu seinen Kommunikationspartnern a u f , denn "Lebewesen in Kompetition möchten möglichst viel über den ändern in Erfahrung bringen und dabei möglichst wenig von sich selbst zu erkennen geben, während der unbeschränkte Einblick in den Zustand der Beteiligten typisch ist für Kooperation. ... Je kompetitiver ein Verhältnis, desto größer die Tarnung, je kooperativer, desto deutlicher die Demonstration des eigenen Zustandes bis hin zur Übertreibung" (Beeh 1985, 145-46). Ko-

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operation oder, wie wir gesagt hatten, Koordination ruht aber auf einer ursprünglichen Grundlage biologischer Resonanz auf. Insofern Interessenkonflikte zwischen Artgenossen und erst recht zwischen Angehörigen verschiedener Arten bestehen, die miteinander kommunizieren, ist also auch ein Element der Tarnung und Täuschung von Beginn an in Kommunikationssystemen angelegt; die idyllische Vorstellung, daß dies erst eine später hinzukommende Zweckentfremdung des paradiesischen Urzustandes reiner, altruistischer Kooperation sei, muß wohl aufgegeben werden. Das Aufruhen von Koordination auf einer ursprünglichen Grundlage gilt nun aber nicht nur für die expressive, sondern gleichermaßen für die impressive Seite. Hier gewinnt der Gedanke der menschlichen Empathie ( E i n f ü h l u n g ) einen Sinn, sofern man sie nicht als übernatürliche Kraft mystifiziert, sondern als rezeptives Einstellungsmuster a u f f a ß t , das eine Brücke zwischen einfacher Imitation und komplexem Verstehen zu schlagen erlaubt. Theodor Lipps hat dies versucht. Zugrunde liege ein "instinktiver Trieb des Miterlebens", den er so beschreibt: "Ich sehe etwa eine Gebärde. Dann weckt . . . die Betrachtung derselben in mir denjenigen effektiven Zustand, in dessen Natur es liegt, eben diese Gebärde bei mir ins Dasein zu rufen". Über diese Ebene der "einfachen Sympathie" erhebe sich nun die reflexive Sympathie : "Gesetzt etwa, ich weiß, daß ein anderer weiß, ich verhalte mich in einer bestimmten Weise; ich weiß also, es sei in ihm die Tendenz des Miterlebens meines Verhaltens. Es kehrt also mein Verhalten zu mir z u r ü c k . Doch nicht u n v e r ä n d e r t . . . " (Lipps 1906, 200/209). Die Komplexität ausdrückbarer Propositionen hat sich mit der Genese von Kommunikation, insbesondere konventioneller sprachlicher Kommunikation, in unerhörtem Maße erweitert; und zwar betrifft dies nicht nur den propositionalen Inhalt, sondern ebenso die Struktur, wie sie sich etwa in der Wechselseitigkeit darstellt. Dennoch: das Konventionelle erweist sich als komplexes System, das etwas leistet, das bereits elementar und in sehr viel beschränkterem Maße auf natürlicher Grundlage geleistet wird. Um nicht mißverstanden zu werden: Unser Hauptaugenmerk galt hier der Gemeinsamkeit des Konventionellen und des Natürlichen oder besser, ihrer möglichen Nahtstelle; also dem, was diejenigen beiden Bereiche miteinander verbindet, welche nach Meinung Schelers und Mannheims durch eine Welt getrennt sind (siehe das Zitat zu Beginn dieses Abschnitts).

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Daß Sprache etwas ausdrückt, daß Sätze etwas ausdrücken, ist darauf zurückzuführen, daß Menschen etwas mit dem Gebrauch der Sprache ausdrücken. Daß Sätze Tatsachen oder Sachverhalte ausdrücken können, ist eine abstraktive Redeweise, eine Abstraktion daraus, daß Menschen mittels einer Äußerung dieses Satzes ihre Überzeugung oder ein anderes Bewußtseinsphänomen ausdrücken können, daß die betreffende Tatsache oder der Sachverhalt besteht. In sehr vielen Fällen können diese Einstellungen nicht vor der Existenz einer Sprache - eines Mediums, in dem sie zum Ausdruck gelangen - bestehen, und zwar sowohl historisch wie logisch gesehen. Die menschliche Sprache ist nicht der Abklatsch unabhängig von ihr zu denkenden Einstellungen, sondern ein Ausdruckssystem für Einstellungen, die sich - ausgehend von einem vorsprachlichen Kernbereich - pari passu mit der Entwicklung der Sprache entwikkelt haben und entwickeln. Die Entstehung neuer Ausdrucksmöglichkeiten ist so die Grundlage für die Herausbildung neuer, vorher nicht ausdrückbarer Einstellungen: der Ausdruck wirkt in der Zeit auf das Ausdrückbare, Sprache auf Bewußtsein, zurück. Das Konventionelle aber ruht auf dem Natürlichen, das Rationale auf dem Kausalen.

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Armin Burkhardt

Der Sprechakt als

kooperative Anstrengung

185

DER SPRECHAKT ALS KOOPERATIVE ANSTRENGUNG

Adolf Reinachs Phänomenologie der "sozialen Akte", Kritik an der Sprechakttheorie und ein hörerseitiges Schlußfolgerungsmodell

0

Einleitung

Manchmal, wir wissen es alle, geraten wichtige philosophische oder wissenschaftliche Werke unverdientermaßen in Vergessenheit, weil sich die Forschungsinteressen und -rAchtungen, die herrschenden Denksysteme und Paradigmen ändern. Die nächste Generation widmet sich anderen Themen oder versucht, sich neue methodische Zugänge zu bekannten Problemen zu verschaffen, und die übernächste Generation weiß von der Arbeit der ersten oft nur wenig. Nähern sich dann die neuen Wissenschaftsrichtungen den alten Fragestellungen und Methoden wieder an, sind die älteren Arbeiten zum Thema häufig nicht mehr bekannt, und die Forscher der übernächsten Generation, die ein Thema, eine Fragestellung, eine Denkweise für sich entdekken, begreifen ihren eigenen Ansatz als völlig n e u . Während man sich über das Ausgraben der Wurzeln des eigenen Denkens, über Anknüpfungspunkte in Antike, Mittelalter, Scholastik, Humanismus und der Zeit der Aufklärung in der Regel freut und in der älteren Historie eifrig geforscht wird, gilt nichts als so überholt, wie die Arbeiten und Ansätze der voraufgehenden Forschergeneration. So erging es auch dem Werk des im 1. Weltkrieg, nur 34jährig, gefallenen Rechtsphilosophen, Lipps- und Husserl-Schülers Adolf Reinach, dessen Hauptwerk "Zur Phänomenologie des Rechts. Die apriorischen Grundlagen des bürgerlichen Rechts" heutzutage fast völlig unbekannt ist, obwohl er - 50 Jahre vor Austin - das Phänomen Sprechakte erkannt, analysiert und beschrieben hat. Wolfgang Stegmüller hat sich z . B . in seinen "Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie" lautstark darüber beschwert, daß es eigentlich "ein beschämender Skandal" sei, "für alle, welche sich in den letzten 2500 Jahren in irgendeiner Weise mit Sprachen beschäftigten, daß sie nicht schon längst vor 3 . L . Austin dessen Entdeckung machten, deren Essenz man in einem knappen Satz ausdrücken kann: Mit Hilfe von sprachlichen Äußerungen können wir die verschiedensten Arten von Handlungen vollziehen." (1975, 64) Wenn es in diesem Zusammenhang einen Skandal gibt, dann schon eher den, daß der

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A. Burkhardt

eigentliche Entdecker sprachlichen Handelns und Begründer einer Sprechakttheorie, Adolf Reinach, bis heute keine angemessene Rezeption gefunden hat, auch wenn im nächsten Jahr, erstmalig seit 1921, die posthum von seinen Schülern herausgegebenen "Gesammelten Schriften", in einer von Karl Schuhmann besorgten textkritischen Ausgabe, wieder erscheinen sollen. Im folgenden möchte ich versuchen, einige wesentliche Aspekte von Reinachs phänomenologischem Ansatz darzustellen, auf der Basis seiner Konzeption die Umrisse einer Kritik an der bisherigen Sprechakttheorie formulieren und in einem letzten Abschnitt erläutern, wie einerseits sprachliches Handeln als ein interpretativer Prozeß, eine "kooperative Anstrengung" zwischen Sprecher und Hörer angesehen werden muß und wie andererseits modellhaft das hörerseitige Schlußverfahren - in Erweiterung und Modifikation des "Speech Act Schema" bei Bach/Harnish (1979) - rekonstruiert werden kann. Dabei wird sich zeigen, daß der wesentliche Interpretationsschritt der einer kategoriellen Einordnung einer aktuellen Äußerung in ein System von Handlungsbegriffen, d . h . die Subsumtion von Äußerungsvorkommen unter verfügbare Handlungskategorien (performative Ausdrücke) ist. Und das ist kein pragmatischer, sondern wesentlich ein semantischer Prozeß.

l

Reinachs "Theorie der sozialen Akte"

Die grundlegende Eigenschaft, die symbolische soziale Handlungen von allen anderen Aktivitäten unterscheidet, ist, daß die ersteren prinzipiell Ansprüche und Verbindlichkeiten hervorbringen. D . h . allen sozial-symbolischen Äußerungen, die immer zugleich Handlungen beinhalten, ist das Prinzip der Effizierung einer Verbindlichkeit auf der Seite des Adressanten (bzw. des Adressaten) und des dieser inhaltlich entsprechenden Anspruchs auf Adressatenseite (bzw. auf der des Adressanten) gemeinsam. Reinach zeigt dies an seinem Musterbeispiel, das auch den späteren Sprechakttheoretikern in der Regel als Grundlage ihrer Analysen gedient hat: dem Ver Eine sehr ähnliche Auffassung wurde - 60 3ahre später - von Wunderlich vertreten, der die Begriffe "Obligation" und "comitment" in die sprechakttheoretische Debatte eingeführt hat und z.B. die "illokutionäre Kraft" in seinen "Studien zur Sprechakttheorie" definiert als "etwas, das neue Interaktionsbedingungen (Obligationen oder comitmments für jede der beteiligten Seiten) einführt" (1976, 5 7 ) .

Der Sprechakt als ...

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Sprechensakt. Ihn sieht Reinach als einen "Ursprung" des Verhältnisses von "Anspruch" und "Verbindlichkeit" an. Er schreibt: "Das Versprechen schafft eine eigentümliche Verbindung zwischen zwei Personen, kraft deren, um es zunächst ganz roh auszudrücken, die eine etwas verlangen darf und die andere verpflichtet ist, es zu leisten oder zu gewähren. Diese Verbindung erscheint als Folge , als Produkt gleichsam des Versprechens." (Reinach 1921/1953, 21) Sobald ein Versprechen ausgesprochen ist, "so tritt mit ihm etwas Neues ein in die Welt. Es erwächst ein Anspruch auf der einen, eine Verbindlichkeit auf der anderen Seite." (Reinach 1921/1953, 22) Ansprüchen auf eine bestimmte Leistung ist es eigen, in dem Augenblick zu erlöschen, in dem diese Leistung geschehen ist. Dieser Satz ist, nach Reinach (vgl. 1974, 52 f f . , B 10 f f . ) , ein synthetischer Satz a priori im Sinne Kants, weil er nicht aus den bisher beobachteten Erfahrungsfällen gewonnen sein könne, sondern vielmehr ein Gesetz sei, "welches allgemein und notwendig im Wesen des Anspruchs als solchem gründet." (Reinach 1921/1953, 22) Weil die Erlebnisse des "Sich-berechtigt-oder Sich-verbindlich- Fühlens " unabhängig vom tatsächlichen Bestehen von Anspruch und Verbindlichkeit auftreten können, ist es nach Reinach ausgeschlossen, daß Ansprüche und Verbindlichkeiten etwas ihrem Wesen nach Psychisches sein können. Sie zeigen sich vielmehr in der Regel als die Resultate solcher sozialen Handlungen wie z.B. dem Versprechen. Sie "entstehen, dauern eine bestimmte Zeit lang und verschwinden dann wieder" (Reinach 1921/1953, 2 2 ) . Sie sind zeitlich und erlöschen, sobald eine bestimmte, vorgezeichnete Leistung geschehen ist. Die Unabhängigkeit solcher Ansprüche und Verbindlichkeiten von inneren Erlebnissen der Interaktanten zeigt sich vor allem ändern darin, daß ich mich berechtigt oder vebindlich fühlen kann, ohne es auch tatsächlich zu sein, und es sein kann, ohne mich so zu fühlen. Was ihren Inhalt anbetrifft, ist es allen Ansprüchen und Verbindlichkeiten gemeinsam und wesentlich, sich auf ein " künftiges Verhalten ihres Trägers (zu beziehen), gleichgültig, ob dies Verhalten in einem Tun, einem Unterlassen oder einem Dulden besteht." (Reinach 1921/1953, 26) Als Träger von Verbindlichkeiten und Ansprüchen kommen für Reinach nur Personen in Frage. Ansprüche und Verbindlichkeiten können sich auf ein bestimmtes Verhalten oder einen bestimmten Erfolg richten, bei dem der Weg, der zu diesem führt, nicht vorgeschrieben zu sein braucht. Man muß den Inhalt einer Verbindlichkeit, den Träger des entsprechenden Anspruchs und den Adressaten der Verbindlichkeit streng unterscheiden. Es ist z.B. durchaus möglich, jemandem zu versprechen, einem Dritten ge-

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A. Burkhardt

genüber eine bestimmte Leistung zu erbringen, z . B . ihm eine verabredete Geldsumme zu überlassen. Reinach schreibt daher weiter: "Die Verbindlichkeit, einem gegenüber etwas zu leisten, ist etwas anderes als die Verbindlichkeit einem gegenüber, etwas zu leisten. Wir unterscheiden also zwischen dem Inhaltsadressaten der Verbindlichkeit und dem Verbindlichkeitsadressaten selbst." (Reinach 1921/1953, 27) Die Unterscheidung zwischen dem "Inhalts-" und dem "Verbindlichkeitsadressaten" einer Äußerung, wie sie hier von Reinach getroffen wird, ist eine nicht nur rechtsphilosophisch bedeutsame Unterscheidung, weil das mögliche Auseinanderfallen der Adressierung einer sprachlichen Handlung allererst den letzten Beweis für die in der Sprechakttheorie eher ad hoc getroffene Unterscheidung zwischen dem Inhalt einer Äußerung und ihrer verbindlichen Kraft, andernorts Illokution genannt, bereitstellt. Auch wenn "Inhalts-" und "Verbindlichkeitsadressat" normalerweise identisch sein werden, ist ihre analytische Trennung doch zumindest für die adäquate Beschreibung einiger Erscheinungen des sprachlichen Handelns notwendig. Reinach faßt das sprachliche Handeln unter dem Begriff des "sozialen Akts". "Soziale Akte" sind zunächst einmal Handlungen, "in denen sich das Ich als tätig erweist ." (Reinach 1921/1953, 37) Reinach bestimmt sie als Teilklasse einer Kategorie, die er überschreibt mit dem Titel "Erlebnisse". Solche Erlebnisse des Subjekts können sich auf andere Objekte oder Personen richten, nicht im Sinne einer verfolgten Absicht, sondern im Sinne der Bezugnahme auf einen Gegenstand, dann sind sie "intentional", oder es fehlt ihnen ein bewußt zugrundeliegender Inhalt als objektiver Bezugspunkt, dann sind sie als nicht-intentional zu bestimmen. "Intentionalität" bedeutet also hier:, die Richtung der Handlung ( b z w . des "Erlebnisses") auf einen Gegenstand. Die intentionalen Erlebnisse sind weiter zu spezifizieren in passive, d . h . unwillkürliche, wie die "Betrübnis, die mich beschleicht oder plötzlich überfällt" (Reinach 1921/1953, 38), und in "aktive" Erlebnisse, wie die vom Subjekt ausgehende Empörung. Nach ihrer Kausalität unterscheidet Reinach des weiteren die aktiven Erlebnisse in "fremdkausale" und "eigenkausale" Akte. Das Fassen eines Vorsatzes z . B . oder das Aufkommen eines Wunsches sind für Reinach solche intentionalen Akte, denen die eigene Kausalität des Subjekts zugrundeliegt, im Gegensatz zu jenen, deren Urheber eine fremde Person ist. Intentionale, eigenkausale Akte von Subjekten nennt Reinach "spontane Akte", in denen das Ich im engeren Sinne (d.h. nicht im Sinne des bloßen Erlebens) tätig wird. Er schreibt:

Der Sprechakt als ...

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"... und hier erst, in dem Vorsatz- Fassen , haben wir das, was wir meinen: ein Tun des Ich und damit einen spontanen A k t . Beispiele solcher spontanen Akte stellen sich sofort in Fülle ein: das Sich-Entschließen, das Vorziehen, das Verzeihen, Loben, Tadeln, Behaupten, Fragen, Befehlen. Sieht man diese Fälle etwas näher an, so fällt sofort ein wesentlicher Unterschied a u f ; auf diesen Unterschied kommt es uns hier an." (Reinach 1921/1953, 38) Die spontanen Akte lassen sich nämlich weiter unterscheiden in wesentlich interne Akte wie das Vorziehen und das Verzeihen, die im Innern der Person bleiben und keiner Verlautbarung bedürfen, wenngleich sie durchaus auch sprachlich oder mimisch-gestisch kundgegeben werden können. Befehle oder Bitten können sich demgegenüber nicht rein innerlich vollziehen, sondern erfordern ein "fremdes Bezugssubjekt", benötigen also "neben dem vollziehenden noch ein zweites Subjekt" (Reinach 1921/1953, 39): Sie sind wesentlich " fremdpersonale Erlebnisse" und richten sich AN eine oder mehrere weitere Personen als ihre Adressaten. Aber auch dies ist für eine Charakterisierung von Bitten und Befehlen noch keineswegs zureichend. Der Befehl ist nicht bloß fremdpersonal wie das Verzeihen: "Er hat nicht nur eine notwendige Beziehung auf ein fremdes Subjekt, sondern er wendet sich auch an es ." (Reinach 1921/1953, 39) Akte wie Befehle oder Bitten können nicht "rein innerlich und ohne Kundgabe nach außen verlaufen" (Reinach 1921/1953, 39) wie etwa das Fassen von Vorsätzen oder das wesentlich fremdpersonale Verzeihen. "Der Befehl", so Reinach, "... gibt sich in seiner Wendung an den anderen kund , er dringt in den anderen ein , es ist ihm die Tendenz wesentlich, von dem anderen vernommen zu werden . ... Der Befehl ist seinem Wesen nach vernehmunqsbedürftiq ." (Reinach,1921/1953, 39) Nicht vernommene Befehle haben ihre Aufgabe verfehlt: "Sie sind wie geschleuderte Speere, welche niederfallen, ohne ihr Ziel zu erreichen." (Reinach 1921/1953, 39) Diese intentionalen, spontanen, fremdpersonalen und wesentlich vernehmungsbedürftigen Akte nennt Reinach die " sozialen Akte"; sie sind symbolische Akte, durch die man sich verbindlich macht und/oder auf Adressatenseite Ansprüche und/oder Verbindlichkeiten erzeugt.

Jedoch sind weder alle "fremdpersonalen" Akte "vernehmungsbedürftig" noch alle "vernehmungsbedürftigen" "fremdpersonal" (vgl. Reinach 1921/1953, 40).

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A. Burkhardt

Soziale Akte, wie etwa Befehle, sind weder rein äußerliche Handlungen noch rein innerliche Erlebnisse noch die Kundgabe solcher Erlebnisse. "Vielmehr ist das Befehlen ein Erlebnis eigener A r t , ein Tun des Subjektes, dem neben seiner Spontaneität , seiner Intentionalität und Fremdpersonalität die Vernehmunqsbedürftiqkeit wesentlich ist. Was hier für den Befehl ausgeführt wurde, gilt auch für das Bitten, Ermahnen, Fragen, Mitteilen, Antworten und noch vieles andere. Sie sind alle soziale Akte, welche von dem, der sie vollzieht, im Vollzüge selbst einem anderen zugeworfen werden, um sich in seine Seele einzuhaken." (Reinach 1921/1953, 40) Soziale Akte können ihre spezifische Wirkung nur erreichen, wenn sie auch äußerlich in Erscheinung treten. Reinach schreibt: "Wie alle anderen fremden Erlebnisse, so können auch die sozialen Akte nur durch Physisches hindurch erfaßt werden; sie bedürfen einer Außenseite, wenn sie vernommen werden sollen. Erlebnisse, welchen keine Wendung nach außen wesentlich ist, können ablaufen, ohne irgendwie in die Erscheinung zu treten. Die sozialen Akte dagegen haben eine innere und eine äußere Seite, gleichsam eine Seele und einen Leib. Der Leib sozialer Akte kann bei identischer Seele in weitem Ausmaße variieren. Der Befehl kann in Mienen, in Gesten, in Worten in Erscheinung treten." (Reinach, 1921/1953, 40 f . ) Soziale Akte sind nicht etwa mit der Konstatierung von Erlebnissen zu verwechseln, wie etwa im Falle von ich fürchte mich , denn hier ist das Erlebnis auch ohne die Äußerung möglich, während soziale Akte gerade durch die Äußerung realisiert werden, ja sogar ohne zugrundeliegendes Erlebnis gültig sind. Allerdings gibt es auch Berichte über soziale Akte wie ich habe soeben den Befehl erteilt. Mit Hilfe sozialer Akte, d . h . begrifflich fixierter Verhaltensund "Erlebnis"- Muster, werden Handlungen vollzogen, die zumeist sprachlich sind und in der Regel einen bestimmten Inhalt haben. Sie haben eine Außenseite, einen "Leib" oder Symbolkörper, dessen Realisierung den Vollzug des betreffenden Aktes bewirkt, und setzen bestimmte innere Erlebnisse, d . h . Intentionen und Gefühle, des

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Adressaten voraus, gelten jedoch auch ohne diese. Hauptkriterium für soziale Akte aber bleibt: "Die Wendung an ein anderes Subjekt, die Vernehmungsbedürftigkeit, ist für jeden sozialen Akt absolut wesentlich." (Reinach 1921/1953, 41) Auch nicht-"soziale" Handlungen - d.h. nicht-sprachliche Handlungen oder solche, deren Handlungstypus nur an einen sozial verfügbaren und sprachlich fixierten (Handlungs-)Begriff, nicht aber an die Existenz von Gesellschaft überhaupt gebunden oder auf diese bezogen sind, wie z.B. Essen, Spazierengehen oder Angeln - lassen sich unschwer in Reinachs "Erlebnis"-Typologie integrieren: Sie sind "eigenkausale" "spontane" Akte, die zumeist "fremdpersonal", immer nach außen gerichtet, aber nicht "vernehmungs-", sondern wahrnehmungsbedürftig sind - ohne Wahrnehmung und begriffliche Zuordnung sind Tätigkeiten von Subjekten nichts als gleichgültige Ereignisse ohne Handlungswert; Handlungen müssen,um Handlungen zu sein, als Handlungen intendiert und als Vorkommen begrifflich fixierter Typen erkannt sein. (vgl. dazu auch Burkhardt/Henne 1984, 336 f f . ) Weil innere Erlebnisse und äußere Handlungen gleichermaßen im Husserlschen Sinne "intentional", d . h . zielgerichtet (vgl. auch Weber 1972, l f f . ) sind, insofern sie Gegenstände haben, Handlungen aber Erlebnisse, d.h. psychische Akte und Zustände implizieren bzw. voraussetzen, könnte Reinach beide zur Klasse der "Erlebnisse" rechnen. Auf der Basis der um die Kategorie der nicht-sprachlichen äußeren Handlungen erweiteren Konzeption Reinachs ergibt sich danach die folgende graphische Darstellung einer "Erlebnis"-Typologie:

Sind die "wesensgesetzlich" mit dem betreffenden Akt verbundenen "Erlebnisse" - heute würde man wohl, mit Searle (1983), von "Intentionen" sprechen - beim aktuellen Aktvollzug nicht vorhanden, so sricht Reinach von einem "Scheinvollzug" dieses Akts (vgl. Reinach,1921/1953, 44).

A. Burkhardt

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σο η

Abbildung I: Erweiterte Fassung der Reinbachschen Handlungs- ("Erlebnis")Typologie (nach Burkhardt 1986, S. 28)

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Reinach, der noch viele weitere Unterscheidungen der späteren Sprechakttheorie vorwegnimmt (vgl. dazu vor allem Burkhardt 1986 und 1986a sowie Crosby 1983) und unter anderem die Grundzüge eines Ansatzes zur Sprechaktklassifikation vorlegt, geht - wenngleich nur am Rande - auch auf das Problem indirekten Sprechhandelns ein, wenn er z.B. über das Verhältnis von "Versprechensäußerung" und "mitteilender Willenäußerung" schreibt: "Es ist auch sonst so, daß verschiedene soziale Akte sich derselben Erscheinungsform bedienen können, es ist insbesondere so, wenn die begleitenden Umstände dem Adressaten keinen Zweifel über die Natur des in ihr erscheinenden sozialen Aktes lassen. Man wird im allgemeinen mit Sicherheit wissen, ob hinter jenen Worten ein Versprechen oder eine Mitteilung steckt." (Reinach,1921/1953, 50) Reinachs Ansatz ist, seiner Herkunft entsprechend, kein sprachanalytischer, sondern ein phänomenologischer, d.h. er versucht, die Wesensmerkmale des Phänomens "sozialer Akte" verschiedener Typen herauszuarbeiten, und dies auf apriorischer Ebene. Es geht Reinach um die apriorische Struktur, die apriorischen Merkmale sozialer Akte, darum, wie sie "wesensgesetzlich" als Phänomen, d . h . als solche, sein MÜSSEN. An der zitierten Stelle macht er jedoch deutlich, daß es die "begleitenden Umstände" einer Äußerung sind, die "dem Adressaten keinen Zweifel über die Natur des in ihr erscheinenden sozialen Aktes lassen", d . h . Sprechakte werden aufgrund ihres mitgeteilten "Inhalts'Vpropositionalen Gehalts und der sie "begleitenden Umstände" - zu denen auch die vom Hörer unterstellten Sprecherintentionen gehören als Vorkommen von Typen "sozialer Akte" interpretiert. Sie sind Erscheinungsformen des Phänomens eines bestimmten sozialen Akts oder, anders herum gesagt, verschiedene soziale Akt-Phänomene können sich kontextuell derselben Erscheinungsform bedienen, z . B . der eines Aussagesatzes. Es ist klar, daß hier von Austins "primär performativen Äußerungen" (1972, 50 f. und 87 f f . ) die Rede ist, die, weil sie den vom Sprecher intendierten Sprechakt nicht expressis verbis anzeigen, einer besonderen Interpretationsleistung seitens des Adressaten bedürfen. Da sich also verschiedene soziale Akte derselben syntaktischen Erscheinungsform bedienen können, kommt für das Gelingen ihrer Realisierung alles darauf an, daß der Hörer einen Weg findet, die betreffende Äußerung aufgrund ihres "Inhalts" und aufgrund ihres auch die unterstellten Sprecherintentionen umfassenden Kontextes als Vorkommen eines bestimmten, ihm bekannten sozialen Akttyps oder Akt-Phänomens zu interpretieren.

194

A. Burkhardt

Denkt man diesen Gedanken Reinachs zu Ende, so zeigt sich, daß der phänomenologische Ansatz genaugenommen spätestens an dieser Stelle in einen "semantischen" umschlagen müßte, denn die phänomenologische Analyse entpuppt sich bei näherem Hinsehen als die semantische Analyse der Bedeutung von Sprechaktverben, d . h . als die Untersuchung der Frage, welche Merkmale eine Äußerung in ihrem Kontext aufweisen muß, damit ihr eine bestimmte sozial verfügbare Handlungskategorie, ein bestimmtes, in einer Sprache vorhandenes Sprechaktverb zugeordnet werden kann. Die phäomenologische Analyse produziert daher letztlich nichts anderes als analytische Sätze, beschreibt die semantischen Regeln der betreffenden Sprache, d . h . "grammatische Sätze" im Sinne Wittgensteins (1971, § 251), die nicht wahr oder falsch sind, sondern die Regeln vernünftiger Zeichenverwendung fixieren b z w . konstatieren. Der Phänomenologe Reinach sieht diese "semantische" Konsequenz seiner Theorie jedoch nicht. Reinach untersucht die sozialen Akte als "Phänomene", und erst wenn eine Äußerung dem "Phänomen", d . h . dem apriorischen Grundmuster eines bestimmten sozialen Aktes entspricht, stellt sie den Vollzug des betreffenden Aktes dar, und die je akttypischen Ansprüche und Verbindlichkeiten treten in Kraft. So grundlegend und weiterführend Reinachs Unterscheidungen auch im einzelnen sind, so sehr muß den eigentlichen Ahnherrn der Sprechakttheorie doch ein grundsätzlicher Einwand treffen: Sein "phänomenologischer" Fehlschluß besteht darin, die von ihm eruierten konstitutiven Merkmale der einzelnen sozialen Akte für Eigenschaften des Phänomens oder apriorischen Grundmusters dieser Akte zu halten, wo seine Analysen doch letztlich nur semantische Analysen von Sprechaktbegriffen sein können. Der "phänomenologische Fehlschluß" ist die Verwechslung von Phänomenologie und Semantik.

2

Zur Kritik an der Sprechakttheorie

Der bisherigen Sprechakttheorie wäre ein anderer, aber durchaus in mancher Hinsicht ähnlicher Vorwurf zu machen: Suchte Reinach das Wesen sozialer Akte in deren apriorischem, phänomenalen Grundmuster, d . h . in einem HandlungsTYP, so liegt für die Sprechakttheoretiker die Illokution einer Äußerung IN dieser selbst. Der prinzipielle Fehler der Sprechakttheorie liegt daher darin, aus der Tatsache, daß man jeder Äußerung eine Handlungskategorie zuordnen kann, zu folgern, diese sei ihr jeweils IMMANENT, Äußerungen HÄTTEN eine Illokution, die Illokution liege gleichsam - teils offen, teils verborgen - IN der Äußerung, sei, sozusagen, das der Äuße-

Der Sprechakt als . . .

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rung ZUGRUNDELIEGENDE HandlungsWESEN. Nach dieser Konzeption wäre die illokutionäre Kraft der einer Äußerung als solcher zugrundeliegende HandlungsKERN und der illokutionäre Akt eine Tätigkeit des Sprechers in dem Sinne, daß durch ihn die der Äußerung bereits vorab innewohnende Illokution auch wirklich GEMEINT wird. Aus dieser Konzeption der Sprechhandlung als in der Äußerung verborgene, vom Hörer/Leser zu ermittelnde Potenz erklärt sich auch die Rede von der "illokutionären Kraft" einer Äußerung, die Hermanns mit Recht als einen "Fall von Sprachmagie in der Sprachwissenschaft" bezeichnet hat. Eine solche Auffassung, nach der jede Äußerung eine bestimmte Illokution HAT, findet sich in der Sprechakttheorie allenthalben. Sie ist als der "ontologische Fehlschluß" in der Sprechakttheorie zu bezeichnen, denn aus der Tatsche, daß der Hörer eine ihm gegenüber schriftlich oder mündlich "getane" Äußerung in der Regel im Sinne einer bestimmten sozialen Handlung zu verstehen vermag, folgt keineswegs, daß dieser zuvor eine bestimmte Handlung bereits ZUGRUNDE gelegen hätte. Eine Äußerung trägt keinerlei handlungsmäßige Kraft IN SICH, die es nur noch zu finden gilt, sondern ihr Handlungswert wird erst in der Interpretation durch einen oder mehrere Hörer/Leser rekonstruiert oder noch genauer: aufgrund der semantischen Implikationen der Äußerung selbst unter Einbeziehung ihres Kontextes KONSTRUIERT. Illokutionäre "Kräfte" entstehen erst durch HandlungsZUSCHREIBUNGEN durch Interpreten (wobei sich der Sprecher natürlich auch selbst interpretieren k a n n ) . Handlungszuschreibungen sind interpretative Prozesse, die auf der Kenntnis semantischer Regeln und Kriterien beruhen. Beim Verstehen von Handlungen kommt alles darauf an, ein durch ein Subjekt verursachtes Ereignis ALS Handlung zu SEHEN, es als intendiert und im Sinne durch Handlungsbegriffe verfügbarer Handlungs-

Hermanns (1985) versucht zu zeigen, wie Austins "force"-Begriff, der im Englischen auch soviel wie 'real import, precise meaning' ("Concise Oxford Dictionary") bedeuten kann, in der deutschsprachigen Literatur zur Sprechakttheorie, insbesondere bei Wunderlich, systematisch mißverstanden und zur "Kraft" hypostasiert wird. Anders als Hermanns bin ich der Meinung, daß sich diese Hyostasierung und Ontologisierung bereits bei Austin findet: Der Kraft-Begriff entspricht genau seiner Srechaktkonzeption. Im übrigen wäre Austin, hätte er etwas anderes als "Kraft'V'force" im Sinne gehabt, sicher bestrebt gewesen, die entstehende Ambivalenz zu vermeiden bzw. zu erläutern. - Das alles ändert freilich nichts daran, daß Hermanns' Kritik im Grundsatz berechtigt ist.

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KRITERIEN zu verstehen. Die Rede von "TO PERFORM A spech act'V'einen Sprechakt VOLLZIEHEN" ist einfach irreführend. Sprechakte, genauer: Illokutionen sind DEUTUNGEN der Handlungsintention des Sprechers durch die Interaktanten auf der Basis semantischer Regeln und werden dadurch zu Vorkommen eines bestimmten Handlungstyps, daß die (jeweils historische Einzel-)Sprache Handlungskategorien, Handlungsbegriffe bereitstellt, unter die die jeweiligen Deutungen aufgrund von Übereinstimmung der lexikalischbzw. propositional-semantischen und kontextuellen Eigenschaften der konkreten Äußerung mit den semantischen Merkmalen eines bestimmten Sprechaktverbs bzw. einer performativen Formel subsumiert werden können. Sie existieren in der Parole nur in der jeweiligen Klassifikation b z w . Subsumtion des Sprechers oder des/der Hör e r ( s ) . Auf der Langue-Ebene allerdings müssen ihnen einerseits konventionelle grammatische und lexikalische Vollzugsmittel und andererseits angemessene Beschreibungs- und Klassifikationskategorien bzw. -kriterien entsprechen. Soziale Akte aller Art, d . h . Zeichengebräuche, sind insofern AKTE - und damit vorfindliche Entitäten -, als sie in der Tat INTENTIONALE Handlungen des Sprechers b z w . INTERPRETATORISCH-KLASSIFIKATORISCHE Akte des Hörers sind. Sie sind KEINE Akte in dem Sinne, daß sie Äußerungen immanent wären und quasi automatisch fest umrissene und genau bestimmte soziale Beziehungen und Verhältnisse hervorbrächten. Auch wenn für jede Äußerung nur eine gewisse Anzahl von Interpretationsmöglichkeiten in Frage kommt, sollte man die Rede vom "IllokutionsPOTENTIAL" (vgl. z . B . S.ökeland 1980, 28) tunlichst vermeiden, damit ontologische Mißverständnisse gar nicht erst entstehen. Es ist nicht so, daß Äußerungen eine bestimmte Illokution HABEN, die es nur noch zu finden gilt, sondern sie erhalten sie im Grunde erst nachträglich durch die - nach konventionell-semantischen Regeln erfolgte und so objektivierbare - Hörerinterpretation (oder in der Selbstauslegung des Sprechers im Sinne von Webers "Reflexivität"). Das zeigt sich nirgendwo deutlicher als auf dem Felde der indirekten Sprechakte, wo zwischen "semantischer Kraft", d . h . der Interpretation der betreffenden Äußerung im "Nullkontext" (vgl. Katz 1977, 14 f f . ) b z w . im "neutralen Kontext" (vgl. Wunderlich 1976, 133 f f . ) , und tatsächlicher Illokution, d . h . Verständnis im aktuellen Kontext, eine erst über die Interpretation bestimmbare klare Differenz besteht, wobei z . B . dem Sprecher keineswegs notwendigerweise deutlich zu sein braucht, als welcher Sprechakt welchen Typs etwa seine Aussage hinsichtlich des eigenen zukünftigen Verhaltens gegenüber dem Adressaten einem Hörer erscheinen mußte, der die betreffende Äußerung als an ihn gerichtete Drohung versteht. Z . B . IST die Äußerung Das werden Sie noch bitter

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bereuen keine Drohung, aber sie kann so VERSTANDEN werden. Das ist etwa der Fall in einem Beitrag des Kabarettisten Dieter Hildebrandt, der am 18.11.1985 in seiner Sendung Scheibenwischer einige beschönigende Äußerungen von Bundesarbeitsminister Norbert Blüm zitierte, in denen dieser die Erfolge der Regierung im Bereich Sozialpolitik und bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit hervorgehoben hatte, und fügte dann hinzu: (1)

Er (Blüm) hat auch gesagt, er wird sich demnächst um die Alten kümmern; ich halte das für eine Drohung.

Die Äußerung ist eine Drohung, weil und wenn sie als Drohung interpretierbar ist, d.h. so verstanden werden kann, daß sie die vom Drohungsbegriff geforderten semantischen Kriterien erfüllt. Nicht einmal der Gebrauch performativer Formeln garantiert, daß der konventionell durch sie beschriebene und oft auch herbeigeführte soziale Tatbestand auch wirklich zustande kommt und nicht vielmehr ein ganz anderer Akt realisiert, weil begründet verstanden wird. Performative Äußerungen sind Feststellungen, daß der Satz X hat oe-b-t wahr ist (vgl. dazu Katz 1977, 120 f f . ; Stampe 1975, 21 f f . ; Bierwisch 1980, 12 f f . ) . Die Wahrheitsbedingungen der assertiv verstandenen performativen Äußerungen sind also gleich den Glückensbedingungen der betreffenden Illokutionen und damit identisch mit den semantischen oder Gebrauchsregeln der entsprechenden performativen Verben. Das Entscheidende bei der Interpretation explizit oder implizit performativer Äußerungen ist immer die unterstellte Sprecherintention. In dieser Weise äußert sich auch Stampe, der in seinem Aufsatz "Meaning and Truth in the Theory of Speech Acts" zum Versprechen schreibt: On the constativist view, it is the condition that MAKES TRUE that proposition - that the speaker intends therein to be making a promise - that makes it the case that the utterance has the force of a promise. Thus it may be the intention with which it is issued that makes it the case that an utterance has a given illocutionary force. This accomplishes the theoretical desire ... to hold that it is one and the same thing that determines the force of an utterance whether an ifid is employed or not." (1975, 21) Nach Stampe wäre es also die Sprecherintention, eine bestimmte Sprechhandlung vollziehen zu wollen, die letztlich über die Interpretation einer Äußerung - sei sie nun direkt oder indirekt - im Sinne eines bestimmten Handlungstyps, über die Erfülltheit der

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Wahrheitsbedingungen des entstehenden handlungsbeschreibenden Satzes und damit über den Vollzug der betreffenden Illokution entscheidet. Der Satz Ich verspreche dir, zu tun bedeutet: 'Ich, Sprecher, möchte, daß meine Äußerung als Versprechen verstanden w i r d ' , und das schließt die Versicherung ein, daß die Wahrheitsbedingungen des ein Versprechen beschreibenden Satzes erfüllt, d.h. die semantischen Kriterien für die Anwendbarkeit des Versprechensbegriffs verwirklicht sind. Der einzige Unterschied zwischen exlizit performativen Äußerungen und indirekten Sprechakten liegt darin, daß die ersteren im Gegensatz zu den letzteren selbstreflexiv sind, indem sie eben durch die Beschreibung der intendierten Handlung diese auch realisieren (vgl. dazu auch Bierwisch 1980, 14). Der Sprechakt ist ein kooperativer Prozeß, der sich zwischen Sprecher und Hörer, Schreiber und Leser abspielt: der Sprecher/Schreiber liefert dem Hörer/Leser Daten für seine Interpretation, wobei das wichtigste dieser Daten im Zu-erkennen-Geben der dominierenden Intention des Sprechers besteht. ZWISCHEN Sprecher und Hörer steht - in ontologischer Hinsicht - nichts, außer der phonetischsyntaktisch-semantischen Satzform. Illokutionen gibt es NICHT IN DER WELT, sondern NUR IN DEN KÖPFEN DER MENSCHEN. Der "ontologische Fehlschluß", wonach einer sprachlichen Formulierung eine bestimmte Handlungskraft INNEWOHNT, findet sich im Grunde bereits bei Austin, der der Auffassung ist, Sätze äußern HEIßE etwas Bestimmtes tun, eine bestimmte Handlung vollziehen (1972, 27): " im Augenblick seiner Äußerung tut der Sprecher etwas " (1972, 78). Weil Illokutionen nach seiner Ansicht "konventional" sind, bestimmt er sie als Akte, die man vollzieht, " indem man etwas sagt" (1972, 115). Das läßt sich nur so verstehen, daß Illokutionen auf konventionelle Weise mit sprachlichen Formulierungen verbunden sind, diesen bestimmte Handlungsmuster zugrunde liegen, wobei dem Hörer die Aufgabe zufällt, die an sich in der Äußerung verborgene Illokution auf der Basis seiner Sprachkompetenz aufzuspüren und zu entschlüsseln. Auf ein solches eher technisches Verständnis der Kommunikation im Sinne eines Kodierungs- und Dekodierungsprozesses deutet auch Austins Auffassung, performative Äußerungen "machten explizit", welche Handlung mit der betreffenden Äußerung vollzogen werde. Explizit gemacht werden kann aber nur, was schon vorher - implizit - vorhanden war. Performative Formeln und Illokutionsindikatoren aller Art ließen sich nach dieser Vorstellung als zusätzliche Dekodierungshilfen für den Hörer verstehen, als Auffindungshilfen für ohnedies durch die Äußerung transmittierte illokutionäre "Kräfte". Austins Sprechaktkonzeption ist durch und durch pragmatisch, insofern nach seiner Auffassung Illokutionen zwar das Merkmal der Kon-

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ventionalität aufweisen, aber dann quasi automatisch zur Realisierung kommen, wenn die durch sie geforderten situativ-pragmatischen "Glückensbedingungen" tatsächlich bestehen. Da Austin - auch nach der "illokutionären Wende" am Ende seiner siebten Vorlesung - seine zu Beginn der zweiten Vorlesung entwickelte Theorie der "felicity conditions" nicht widerruft, muß angenommen werden, daß sie auch für den zweiten Teil seines Buches gelten soll. Über den genauen Status der "Glückensbedingungen" scheint sich Austin aber nicht recht klar geworden zu sein, denn er schreibt einerseits, der illokutionäre Akt könne "be said to be conventional in the sense that at least it could be made explicit by the performative formula" (1962, 103) und deutet damit einen SEMANTISCHEN Status der Bedingungen für das Glücken der Illokution an (wie anders sollen die Illokutionen sonst "konventionell" sein können), hält aber andererseits an einer PRAGMATISCHEN Sprechaktkonzeption fest dergestalt, daß Äußerungen bestimmte Illokutionen realisieren, WENN die "Glückensbedingungen" erfüllt sind. Austins Lehre von den "Unglücksfällen" (vgl. 1972, 37 f f . ) ist eine Typologie PRAGMATISCHER Fehlschläge, weil Austin das Glücken des Vollzugs eines Sprechaktes vom Bestehen bestimmter situativer, institutionaler, sozialer und psychischer, kurz: pragmatischer Bedingungen abhängig macht und dabei zu übersehen scheint, daß seine "felicity conditions" nichts anderes sind als die Kriterien für die Anwendung des entsprechenden sprechaktbezeichnenden Ausdrucks oder, strukturalistisch ausgedrückt: als die semantischen Merkmale von Sprechaktverben. (Vgl. zu alledem auch Burkhardt 1987) Der Ansicht, daß Sätze den Vollzug bestimmter Sprechakte beinhalten, scheint Searle bereits in "Speech Acts" gewesen zu sein, wo er u . a . schreibt: "the production or issuance of a sentence token under certain conditions IS a speech act, and speech acts ... are the basic or minimal units of linguistic communication." (1974, 16; Hervorhebung von m i r ) Beide - Austin und Searle - sind also der Auffassung, daß eine Äußerung aufgrund der in ihr verwendeten "illocutionary force indicating devices" der gültige Vollzug einer Illokution eines bestimmten Typs IST, wenn ihre "Glückensbedingungen" - die Searle dann wohl doch wieder als "semantisch" ansehen würde - durch die Form der Äußerung selbst und den Kontext in der betreffenden Situation erfüllt sind. Mehr noch als Austin verwischt Searle in seiner Sprechaktkonzeption die Grenzen zwischen Semantik und Pragmatik. Begünstigt wird dies durch seine ausdrückliche Beschränkung auf explizit performative Äußerungen ( v g l . Searle 1974, 54). Searle versteht einen illokutionären Akt einerseits - im Sinne des "ontologischen Fehlschlusses" - als etwas, das vom Sprecher VOLLZOGEN wird, und

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spricht daher auch von den "rules for the use of the illocutionary force indicating device" (1974, 62 f f . ) , d.h. er versucht, die Gebrauchsregeln für Illokutionsindikatoren zu beschreiben nach dem Prinzip 'Verwende den Illokutionsindikator nur, wenn die für typischen Kontextbedingungen k(l-n) erfüllt sind'. Andererseits begreift Searle die von ihm ermittelten Regelmengen für Illokutionsindikatoren als "semantische Regeln" (1974, 22 f f . ) und beschreibt letztlich die Bedeutungen der Verben, die die von ihm thematisierten Sprechakte bezeichnen und zuweilen auch vollziehen helfen. Obwohl Searle von "semantical rules" spricht, versteht er sie im Grunde im Sinne von Austins durch und durch pragmatischen "happiness conditions": ein Sprechakt eines bestimmten Typs "glückt" genau dann, wenn die für ihn charakteristischen und durch "konstitutive Regeln" fixierten Sprecher- und hörerseitigen sowie kontextuellen Bedingungen realisiert sind und gewisse propositionale Erfordernisse beachtet werden. Gebrauchsregeln für ifids sind im wesentlichen pragmatische "Glückensbedingungen", und damit wird das im Kontext, d.h. auf der pragmatischen Seite angesiedelt, was eigentlich semantisch ist: sie sind nichts anderes als die semantischen Kriterien für die Verwendung, d . h . Zuschreibung, sprechaktbezeichnender Ausdrücke, d.h. Bestandteile von Wortbedeutungen, plus einiger pragmatischer Zugaben. Eine besondere Pointe von Searles die Grenzen von Semantik und Pragmatik verwischender Argumentation liegt daher darin, daß er dem radikal pragmatisch ausgerichteten Austin gerade die Annahme vorwirft, "that a classification of different verbs is eo ipso a classification of illocutionary acts" (1975, 351) - es hat niemand je eine Klassifikation von Sprechakten vorgelegt, die keine Klassifikation performativer Verben war. Der Grund ist klar: weil Sprechakte nur durch Handlungszuschreibungen aufgrund performativer Verbbedeutungen zustande kommen; und keine Illokution läßt sich anders als durch sprechaktbezeichnende Verben/performative Formeln beschreiben. Searle unterscheidet die "Regeln für den Gebrauch des Illokutionsindikators" in vier Regeltypen: "propositional content rule", "preparatory rules", "sincerity rule" und "essential rule" (vgl. 1974, 62 f f . ) . Der theoretische Status dieser Regeln bleibt jedoch insofern ungeklärt, als Searle auch hier semantische und pragmatische Sprechaktaspekte vermischt, wie dies bereits von Katz in seinen "Propositional Structure and Illocutionary Force" zu Recht kritisiert worden ist (vgl. 1977, 33). Weil Searle nicht sieht, daß die Analyse von Sprechakten im wesentlichen eine semantische Analyse performativer Ausdrücke ist, muß seine Theorie in semiotischer Hinsicht "hybride" bleiben. Die Regeln l, 2 und 5 bei Searle sind, nach Katz, von der Art derjenigen Informationen, die ein Wörterbuch etwa als lexikalische Bedeutung von versprechen angeben

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würde, während die Regeln 3 und 4 "provide the kind of information given in principles about how highly structured behavioral interactions are coordinated by their participants." (Katz 1977, 34) Wenn Katz auch auf der richtigen Fährte ist, so müssen doch an der von ihm vorgenommenen Zuordnung der von Searle unterschiedenen Teilregeln zu Semantik und Pragmatik einige Korrekturen vorgenommen werden. Zwar ist ihm darin zuzustimmen, daß die "propositional content rule" und die erste "preparatory rule" semantische Regeln seien und es sich bei der Aufrichtigkeitsregel um einen Spezialfall der allgemeinen sozialen Regel der Verhaltenskoordination handele, deren Einhaltung von anderen wir erwarten (1977, 34), darüber hinaus sind jedoch die Grenzlinien ein wenig anders zu ziehen: Zum einen ist die "essential rule" in Wirklichkeit überhaupt keine Regel, sondern der Akt der konventionellen Festlegung der anderen Regeln und besteht in der Forderung von deren Erfülltheit; als Akt der Einführung einer sprachlichen Konvention ist sie daher die Bedingung der Möglichkeit eines jeden Aktkonzepts und nicht dessen semantischer Bestandteil. Zum ändern ist, neben der Aufrichtigkeitsbedingung, auch Searles zweite "vorbereitende" Regel von wesentlich pragmatischer A r t , insofern sie nämlich eine Bedingung des vernünftigen und situationsadäquaten Gebrauchs der betreffenden performativen Mittel formuliert: daß ein Versprechen nur dann geäußert werden soll, wenn es nicht für Sprecher und Hörer offensichtlich ist, daß der Adressant die versprochene Handlung "im normalen Verlauf der Ereignisse" ausführen wird, ist nicht eine für das Zustandekommen von gültigen Versprechen notwendige Erfordernis, sondern eine Bedingung seiner sinnvollen, rationalen Verwendung. Darüber hinaus wird die Sprecherintention, den Versprechensinhalt zu erfüllen, durch den Versprechensbegriff lexikalisch (und damit semantisch) präsupponiert - eine Äußerung kann zwar auch dann ein Versprechen sein, wenn der Sprecher ihren Inhalt nie auszuführen beabsichtigte, aber WENN eine Äußerung ein Versprechen ausdrückt b z w . als Ausdruck eines Versprechens verstanden wird, wird - neben anderen - auch die Intention auf Erfüllung unterstellt: Sie ist für den Versprechensbegriff konstitutiv, d . h . man kann sich vorstellen, daß einige aktuelle Versprechen dieses Merkmal nicht erfüllen, aber nicht, daß alle Versprechen den Willen zu ihrer Einhaltung nicht ausdrücken. Die je aktspezifisch präsupponierten Sprecherintentionen sind also nicht Teil der allgemeinen Aufrichtigkeitsbedingung, sondern Komponenten der Bedeutung von Sprechaktverben. (Vgl. zu alledem ausführlicher Burkhardt 1986, 111 ff. insbes. 315 f f . , wo semantische Analysen von Sprechaktverben vorgenommen werden, sowie 1987, Ms. 12 f f . , wo detaillierter auf Searles Regeltypen eingegangen w i r d . )

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Der Sprechakt - eine wesentlich hörerseitige Aktivität

Sprechakte kommen dadurch zustande, daß ein Hörer eine Äußerung im Lichte der ihm verfügbaren Handlungsbegriffe versteht. Weil sprachliche Handlungen kooperative Prozesse sind, hatte bereits Henne (1975, 70 f f . ) die Erweiterung der Sprechakttheorie zu einer "Sprechakt- UND Hör(verstehens)akttheorie" gefordert. Bach und Harnish haben mit ihrem Buch "linguistic Communication and Speech Acts" den bisher einzigen Ansatz vorgelegt, der versucht, den Sprechakt als etwas zu beschreiben, das prinzipiell durch hörerseitige Erschließungsprozeduren zustande kommt: "The speaker provides, by what he says, a basis for the hearer to infer what the speaker intends to be thereby doing." (1979, 4 f . ) Die Autoren entwerfen ein "speech act schema (SAS)", ein auf der Verwendung unterschiedlicher konversationeller Annahmen, situativer Einschätzungen und auf die Sprecherintentionen bezogenen Vermutungen beruhendes Schlußverfahren zur Auffindung der gemeinten illokutionären Kraft. Ein illokutionärer Akt ist für Bach/Harnish erst dann erfolgreich, wenn die "illokutionäre Intention" des Sprechers durch den Hörer erkannt ist. Abgesehen vom "ontologischen Fehlschluß" kommt die Arbeit von Bach/Harnish dem hier versuchten semantischhörerbezogenen Ansatz am nächsten, insofern einerseits ein hörerseitiges Schlußfolgerungsmodell entwickelt, andererseits semantische, auf den unterstellten Sprecherintentionen basierende Analysen von Sprechaktkonzepten sowie eine Sprechaktverbklassifikation versucht werden. Ein solcher Ansatz kann zwar verdeutlichen, wie ein Hörer es anstellt, unterschiedliche Teilinformationen zu erhalten, um eine Äußerung als Sprechhandlung eines bestimmten Typs identifizieren bzw. klassifizieren zu können, vermag jedoch nicht zu erklären, woran jemand erkennt, daß die von ihm ermittelten semantischen und kontextuellen Teilinformationen zusammen die Merkmale geben, die für einen bestimmten Sprechakttyp, d . h . für einen bestimmten sprechaktbezeichnenden/performativen Ausdruck notwendig und konstitutiv sind. Was im Modell von Bach/Harnish also letztlich fehlt, ist der letzte, entscheidende Schritt des Hörers vom Datensammeln zum semantisch vermittelten Erkennen einer Äußerung ALS Akt eines bestimmten Typs. Bach/Harnish beschreiben zwar, welche sprachlichen und kontextuellen Daten für den Hörer von Interesse sind, und zeigen, daß Sprechakte im wesentlichen Leistungen des HÖRERS sind, der einer Äußerung über die Rekonstruktion der ihr zugrundeliegenden Sprecherintention(en) einen Handlungswert zuordnet, aber wie er es anstellt, der betreffenden Äußerung den Hand-

Der Sprechakt als ...

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lungswert zuzuordnen, den er ihr tatsächlich am Ende zuschreibt, das erklären Bach/Harnish leider nicht. Im folgenden soll versucht werden, an einigen Beispielen das Zustandekommen bestimmter Illokutionen genauer zu beschreiben und daraus ein allgemeines SchluBverfahren abzuleiten, das dann seinerseits wieder am Beispiel erläutert werden soll. Auf detaillierte Ausführungen zur Sprechaktverbsemantik muß aber an dieser Stelle verzichtet werden (vgl. dazu Burkhardt/Henne 1984, 340 ff. sowie Burkhardt 1986, 315 f f . ) . Wodurch wird z.B. ein Ultimatum zum Ultimatum oder eine Aufforderung zum Rücktritt zu einer Aufforderung zum Rücktritt? Am vorletzten Tag der Kuba-Krise, am 27. Oktober 1962, treffen sich der amerikanische Justizminister und Bruder des Präsidenten, Robert Kennedy, und der damalige sowjetische Botschafter in den USA, Dobrynin, zu einem alles entscheiden Gespräch. Kurz zuvor war über Kuba ein amerikanisches Aufklärungsflugzeug abgeschossen worden und der Pilot dabei ums Leben gekommen. Dieses Gespräch ist in Kennedys später als Buch veröffentlichten Tagebuchaufzeichnungen in indirekter Rede wiedergegeben. Kennedy referiert seine eigenen, im Auftrag seines Bruders, des Präsidenten, ausgesprochenen Worte u.a. wie folgt: "Die Sowjetunion habe heimlich Raketenbasen auf Kuba errichtet und gleichzeitig vertraulich und öffentlich erklärt, daß sie dies niemals tun werde. Wir müßten morgen die Zusicherung haben, daß diese Raketenbasen abgebaut würden. Meine Erklärung bedeute kein Ultimatum, sondern eine Feststellung der Tatsachen. Wenn die Sowjetunion diese Basen nicht entferne, würden wir sie entfernen." (Kennedy 1982, 106) Unabhängig vom Wortlaut seiner Äußerung wird Kennedys Erklärung dadurch zum Ultimatum, daß er die für die Zuordnung der Sprechaktkategorie "Ultimatum" typischen Bedingungen schafft: die Ankündigung eigener, für den Adressaten nachteiliger Handlungen, geknüpft an die Bedingung, daß der Adressat selbst nicht bis zu einem festgesetzten Termin eine bestimmte Leistung erbringt. Kennedy kann seiner Äußerung den ultimativen Status so oft absprechen, wie er will: weil sie genau den Kriterien und damit den semantischen Merkmalen des sprechaktbezeichnenden Ausdrucks Ultimatum unterliegt, ist sie auch eins.

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Am 24.2.86 sagte der Sprecher des amerikanischen Präsidenten, Larry Speakes, vor der versammelten Weltpresse: "Eine Lösung der Krise auf den Philippinen kann nur durch den friedlichen Übergang auf eine neue Regierung erreicht werden" und fügte später auf Anfrage hinzu, damit habe er den philippinischen Präsidenten Marcos keineswegs zum Rücktritt auffordern wollen. Speakes hat aber mit seiner Äußerung zu verstehen gegeben, daß ein friedlicher Regierungswechsel aus seiner Sicht für alle Beteiligten das Beste wäre. Jede Mitteilung des Wunsches, daß der Adressat einen bestimmten Sachverhalt herbeiführen möge, ist zumindest, wenn sie den Griceschen Konversationsmaximen (vgl. Grice 1975, 45 f f . ) genügen soll, als Direktiv zu interpretieren. Zwar kann sich Speakes immer noch auf die Zuschreibung der Sprechhandlungsbezeichnungen Ratschlag oder Empfehlung zurückziehen; in Anbetracht der Schwere der drohenden Auseinandersetzungen ist jedoch eher die Interpretation 'Aufforderung zum Rücktritt* anzunehmen, ohne Rücksicht auf sein späteres Dementi. Wer beschreiben will, wie in praxi Sprechakte Zustandekommen, der muß zunächst das Sprechaktverblexikon des Interpreten beschreiben, d.h. die diesem verfügbaren Sprechhandlungsbegriffe semantisch analysieren. Dazu habe ich an anderer Stelle Analysekategorien vorgeschlagen, zu denen auch und vor allem die jeweils akttypischen Intentionen und Überzeugungen zu rechnen sind. (Vgl. Burkhardt 1986, 315 f f . ) Die Zuschreibung der Kategorie Behauptung setzt z . B . die Hörerannahme voraus, daß der Sprecher vom Inhalt seiner Äußerung überzeugt ist; das Versprechen impliziert, von der Bedeutung des es bezeichnenden Wortes her, den Adressatenwillen zur Einhaltung und die Überzeugung davon, daß der im propositionalen Gehalt beschriebene Sachverhalt im Interesse des Adressaten liege; eine Entschuldigung schließt das Bedauern des Sprechers hinsichtlich einer von ihm vollzogenen Handlung zum Nachteil des Adressaten ein. Daraus folgt umgekehrt: Wer seine Überzeugtheit vom Bestehen eines Sachverhalts zum Ausdruck bringt, der behauptet ; wer eine eigene Handlung in der Zukunft ankündigt und dabei seinen Willen zur Ausführung nahelegt und seine Überzeugung, die betreffende Handlung sei im Adressateninteresse, der verspricht ; wer zu erkennen gibt, daß ihm eine eigene, für den Hörer nachteilige Handlung leid tut, der entschuldigt sich. Bevor ich zu meinem Versuch einer Rekonstruktion des interpretenseitigen Schlußverfahrens komme, ist es notwendig, drei in der Sprechakttheorie nicht sauber unterschiedene Arten von Wirkungsabsichten zu unterscheiden, die mit sprachlichen Äußerungen verbunden sind:

Der Sprechakt als .. .

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1.

die Intention, den "illokutionären Effekt" des intendierten Sprechakttyps erreichen zu wollen (Perillokution),

2.

die im Akttyp bzw. Sprechhandlungsbegriff selbst enthaltenen, präsupponierten Intentionen (Wünsche, Überzeugungen) (Obillokution), im Falle des Versprechens wären hier z.B. zu nennen: a) der Sprecher hat die Intention, sich dazu zu verpflichten, p zu tun, b) der Sprecher hat die Intention, p auszuführen, c) der Sprecher glaubt, daß p im Interesse des Adressaten läge, d) der Sprecher glaubt, daß p noch nicht besteht, d.h. ein zukünftiger Sachverhalt wäre, e) der Sprecher glaubt, daß die in seiner Äußerung angesprochenen Referenzobjekte existieren, f) der Sprecher glaubt, daß der Hörer möchte, daß der Sprecher p ausführt.

Diese ersten beiden Intentionstypen sind konventionell an die jeweiligen Handlungsbegriffe gebunden. Außerdem gibt es 3.

in der Regel darüber hinaus fakultative, spontane Intentionen, wie z.B. diejenige, den Hörer zu beruhigen, ihn in Sicherheit zu wiegen usw.

Diese Unterscheidung ist für die Erläuterung des Schlußschemas von Bedeutung. Das Entscheidende beim Zustandekommen indirekter Sprechakte ist, daß es einem Sprecher gelingen m u ß , seine Intentionen als mit seiner Basisillokution verbundene Perlokution so durchscheinen zu lassen, daß sie für den Hörer rekonstruierbar und als Obillokution eines anderen, eigentlich intendierten Sprechakts verstehbar werden, weil sie dessen semantische Kriterien erfüllen. Darüber hinaus müssen natürlich die situativen Bedingungen so sein, wie das betreffende Sprechaktkonzept vorschreibt. Wenn ich z.B. in einer institutionell höheren hierarchischen Stellung bin als mein Adressat und also gewisse Weisungsbefugnisse besitze und darüber hinaus meinen Wunsch zu verstehen gebe, daß ein bestimmter, noch nicht bestehender Sachverhalt (durch den Adressaten) realisiert werden soll, wobei (pragmatisch) anzunehmen ist, daß der Angesprochene zur Ausführung der gewünschten Handlung in der Lage wäre, dann habe ich ihm die betreffende Handlung befohlen egal, was genau ich ihm gesagt habe. Nur darum sind vordergründige Wirklich "direkt" ist ja nur eine Sprechakt-Minorität.

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Verstöße gegen die Konversationsmaximen wie das inzwischen berühmt-berüchtigte "Es zieht!" im Sinne der tatsächlich intendierten Aufforderung, das Fenster oder die Tür zu schließen, zu reinterpretieren, denn eine solche Aussage ist nur dann als Aufforderung zu verstehen, wenn der Hörer kontextuell in der Lage ist, die Perlokution dieser Äußerung als den Wunsch nach Abstellen der Zugluft zu verstehen. Sobald diese Intention erkannt ist, kann der Hörer - gleichsam - in seinem Lexikon nachschauen, welches Sprechaktverb eine Obillokution aufweist, die so beschaffen ist, daß sie das Merkmal 'Wunsch nach Ausführung einer bestimmten zukünftigen Handlung durch den Adressaten' besitzt, wobei es sich um einen Befehl handelt, wenn die Entscheidungsbefugnis über die Ausführung beim Sprecher, und um eine Bitte, wenn sie beim Hörer liegt. Das von den meisten Theoretikern der Indirektheit favorisierte Modell eines Schlußfolgerungsprozesses ist also richtig, nur handelt es sich dabei nicht um eine "SUCHE" der tatsächlich intendierten Illokution, sondern um eine kategorielle ZUORDNUNG aufgrund semantischer Kriterien. Eine um diesen letzten, entscheidenden Schritt erweiterte Konzeption des Sprechhandelns bzw. des illokutionären Schlußfolgerungsprozesses auf Hörerseite ließe sich etwa wie folgt beschreiben: Schritt 1.

Der Hörer vernimmt im Kontext K eine bestimmte Äußerung U.

Schritt 2.

H erkennt U als phonetisch/phonologisch, lexikalisch und syntaktisch möglichen Text einer von ihm beherrschten Sprache L.

Schritt 3.

H erkennt die Wortbedeutung WB der in U enthaltenen Wörter, die syntaktische Beziehungsstruktur von U und dadurch die Satzbedeutung SB mit den in ihr enthaltenen Referenzen.

Schritt 4.

H erkennt (falls halt Pl von U.

vorhanden) den propositionalen Ge-

Das "SAS"-Modell von Bach/Harnish (1979), wie es die Autoren in seiner "elaborierten" Form auf S. 76 ff. entwickeln, muß mit Hilfe von Ockhams "Rasiermesser" um einige auf den verschiedenen "presumptions" beruhende Schritte verkürzt und dafür um die alles entscheidende Phase der semantischen Zu- und Einordnung der Äußerung durch den Hörer aufgrund seines Sprechaktverblexikons erweitert werden.

Der Sprechakt als . . .

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Schritt 5.

H ordnet U aufgrund von SB, Pl, der grammatischen Form GF bzw. der Verwendung eines Sprechaktverbs SV1 die durch SV1 beschriebene Illokution I, d . h . die Bedeutung von SV1 zu.

Schritt 6.

H prüft anhand seines Lexikons, ob die Kontextmerkmale KM so sind, wie SV1 erfordert, ob bei wörtlicher Äußerung von U die Beachtung der Konversationsmaximen KV gewährleistet ist, ob die Sprecherintentionen SI mit den obillokutionären Merkmalen OM von SV1 übereinstimmen können und ob der Sprecherwille, den illokutionären Effekt von SV1 (Perillokution, PI) zu erreichen, unterstellt werden kann.

Schritt 7.

Wenn die KM und die OMvon U so sind, wie die WB von SV1 erfordert, dann hält H an der Zuordnung von SV1 fest.

Schritt 8.

H prüft, ob die allgemeine Kooperationsbereitschaft von S gewährleistet ist.

Schritt 9.

H versucht, auf der Basis von KM, seiner Kenntnis des Sprechers KS, seines allgemeinen Wissens AW sowie von SB über die OM hinausgehende SI zu ermitteln, d.h. die Perlokution PL.

Schritt 10.

Wenn die wörtliche Interpretation WI von Pl gegen die KV verstoßen würde, wird Pl im Sinne des Inhalts von PL als P2 reinterpretiert.

Schritt 11.

Wenn die KM und die OM von U anders sind, als die WB von SV1 erfordert, oder die WI der I von SB gegen die KV verstoßen würde, entschließt sich H zur Reinterpretation der I von SB.

Schritt 12.

H prüft anhand seines Lexikons, ob PL in ihrer abstrakten Formulierung ein konstitutives Merkmal der OM eines anderen SV ist und ob die KM dazu passen.

Schritt 13.

H p r ü f t , ob Pl bzw. P2 zu den von SV1 geforderten Regeln des propositionalen Gehalts RP passen bzw. ob Pl oder P2 so sind, wie es die WB eines anderen SV seines Lexikons verlangt.

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Schritt 14.

H p r ü f t , ob PI2 von SV2 auf S z u t r i f f t .

Schritt 15.

H ordnet U SV2 zu.

Die Interpretationsschritte 1-7 werden in jedem Fall durchlaufen: Sie dienen der Prüfung, ob ein direkter oder ein indirekter Sprechakt vorliegt. Sind grammatische Form bzw. performativer Ausdruck mit den für den betreffenden Sprechakt erforderlichen Bedingungen in Einklang, d.h. handelt es sich um einen direkten Sprechakt oder sogar um eine explizit performative Äußerung, endet das hörerseitige Schlußverfahren hier: Indizierte Handlungs-Xlllokutionsintention und zugeordnetes Sprechaktverb sind identisch oder doch zumindest kongruent. Falls die für die Zuordnung des die indizierte Illokution bezeichnenden Sprechaktverbs nötigen Bedingungen nicht bestehen oder die Konversationsmaximen bei einem solchen Verständnis verletzt wären, sind zusätzliche Schlußfolgerungsschritte notwendig, die sich entweder auf die Proposition oder auf die Illokution oder auf beide beziehen können. Der Hörer prüft zunächst, ob die allgemeine Kooperationsbereitschaft des Sprechers gewährleistet ist (Schritt 8) und versucht, über die Obillokution, d . h . die konventionalisierten Sprecherintentionen des indizierten Sprechakts, hinausgehende Intentionen des Sprechers zu ermitteln (Schritt 9). Danach ist eine Entscheidung zwischen der propositionalen und der illokutionären Reinterpretation erforderlich (wobei auch beide, Proposition und Illokution, reinterpretationsbedürftig sein können). Falls die wörtliche Interpretation der Proposition der gemachten Sprecheräußerung gegen eine oder mehrere Konversationsmaximen verstoßen würde, muß die Proposition im Sinne des Inhalts der vermuteten Perlokution neuinterpretiert werden (Schritt 10). Falls statt der Proposition oder über sie hinaus auch die indizierte Illokution zu reinterpretieren ist, müssen die Schritte 11-15 durchlaufen werden. Bei dieser Rekonstruktion des (idealen) hörerseitigen Interpretationsprozesses ist zu beachten, daß derart eindeutige illokutionäre Zuordnungen und für den Hörer selbst explizit gemachte propositionale Reinterpretationen im aktuellen Kommunikationsprozeß nur selten möglich sind: Man begnügt sich mit einem eher intuitiven Vorverständnis, ohne sich über die Zuordnung einzelner Sprechaktkategorien jeweils im einzelnen bewußt zu werden. In Zweifelsfällen wird in aktuellen Kommunikationssituationen nicht selten über die illokutionäre Zuordnung einer Äußerung verhandelt, wie etwa in dem folgenden Dialog aus der Fernsehserie "Serpico" (Sendung vom 3.12.1983):

Der Sprechakt als .. .

Prostituierte: Serpico: Prostituierte:

209

Die meisten Männer müssen bezahlen, nicht. Ich glaube, Sie gehören dazu.

nur manche

War das ein Angebot? Nur eine Feststellung.

Die Besonderheit in diesem Beispiel ist, daß zwar einerseits die vorgeschlagene illokutionäre Interpretation abgelehnt und an der Basisillokution festgehalten wird, daß aber andererseits die eigentlich zurückgewiesene Reinterpretation des Gesprächspartners gleichwohl weiterhin möglich bleibt: Die Prostituierte möchte sich nur nicht explizit auf ein Angebot festlegen lassen. Insofern im Beispieltext Verweisformen ("dazu", "das") verwendet werden, wird auch deutlich, daß sich Illokutionszuweisungen in Texten fast immer auf mehrere Äußerungen stützen müssen, d . h . "Ich glaube, Sie gehören dazu" kann nur auf der Basis des Vorgängerzuges in seinem Kontext eine tatsächliche Illokution zugewiesen werden. Zur Illustration des oben entworfenen Schlußfolgerungsschemas soll das folgende (empirische) Beispiel dienen: Verkäuferin in einem Darmstädter Kaufhaus kurz Ladenschluß:

nach

"Kommen Sie mal langsam zur Kasse?" Schritt 1.

Der Hörer vernimmt im Kontext einer Verkaufssituation im Kaufhaus kurz nach Ladenschluß die Äußerung ['koman

Schritt 2.

zi mal ' lanzam ZUA

Der Hörer erkennt die Äußerung ['körnen zi mal ' lanzam ZUA 'kasa] als phonetisch/phonologisch, lexikalisch und syntaktisch möglichen Text der von ihm beherrschten deutschen Sprache.

210

A. Burkhardt

Schritt 3.

Der Hörer erkennt die Wortbedeutungen der in der Äußerung enthaltenen Wörter, deren syntaktische Beziehungen und ordnet der Äußerung die Satzbedeutung 'der Angeredete soll sich zur Verkäuferin hin zu dem Ort bewegen, an dem im Kaufhaus oder im Geschäft das Geld für die verkauften Waren eingesammelt wird; es handelt sich dabei nur um eine Kleinigkeit, und die Verkäuferin möchte keinen unmittelbaren Druck auf den Adressaten ausüben'.

Schritt 4.

Der Hörer erkennt 'Sie kommen zur Kasse' als den propositionalen Gehalt der vernommenen Äußerung.

Schritt 5.

Der Hörer ordnet der vernommenen Äußerung aufgrund ihrer Satzbedeutung und ihrer Frageform auf der Basis seines Lexikons die durch das Sprechaktverb fragen ausgedrückte Bedeutung zu.

Schritt 6.

Der Hörer stellt durch Vergleich der Kontextmerkmale mit den in seinem Lexikon enthaltenen semantischen Kriterien für fragen fest, daß bei einer Interpretation der vernommenen Äußerung als Frage die Konversationsmaxime der Relation (Relevanz) verletzt würde, und erkennt, daß das Kontextmerkmal ' k u r z nach Ladenschluß* auf die Sprecherintention 'Feierabend herbeiführen, Kasse schließen, Kunden zum Bezahlen und Verlassen des Kaufhauses bewegen* hindeutet, die mit den obillokutionären Merkmalen der Frage: 'eigenes Wissensdefizit beseitigen wollen', 'glauben, daß der Hörer zum Schließen der betreffenden Informationslücke in der Lage ist' nicht vereinbar ist; ihm wird darüber hinaus deutlich, daß der Sprecher nicht die Realisierung einer bloßen Frage beabsichtigt haben kann.

Schritt 7.

Der Hörer gibt die Interpretation der vernommen Äußerung als Frage auf.

Die beiden letzten Paraphrasen beziehen sich auf die Abtönungspartikel 'mal' und auf 'langsam', über dessen abtönenden Status vielleicht gestritten werden könnte. Nach meiner Gesprächsworttypologie könnte man 'langsam' wohl auch als "illokutionstransformierende Sprechhandlungspartikel" ansehen, die eine Aufforderung in eine (dringende) Bitte spezifiziert (vgl. dazu Burkhardt 1982, 154 f f . ) .

Der Sprechakt als ...

211

Schritt 8.

Der Hörer stellt fest, daß auf Seiten der Verkäuferin nichts gegen die Annahme von Kooperationsbereitschaft spricht.

Schritt 9.

Auf der Basis der Kontextmerkmale 'im Kaufhaus', 'kurz nach Ladenschluß' und seines allgemeinen Wissens, daß im Interesse anderer arbeitende Werktätige normalerweise pünktlich (wenn nicht schon ein bißchen eher) Feierabend haben wollen, sowie der bereits gefundenen Satzbedeutung, in der vom Zahlen die Rede ist, ermittelt der Hörer als vermutliche Perlokution der vernommenen Äußerung: 'den Kunden zum Bezahlen und zum Verlassen des Kaufhauses bewegen'.

Schritt 10,

Die wörtliche Interpretation des propositionalen Gehalts als 'Sie kommen zur Kasse' verstößt gegen keine der Konversationsmaximen, ist sinnvoll und wird daher beibehalten.

Schritt 11,

Da die erkennbaren Sprecherintentionen 'Feierabend herbeiführen, Kasse schließen, Kunden zum Bezahlen und zum Verlassen des Kaufhauses bewegen' nicht mit den obillokutionären Merkmalen der Frage 'eigenes Wissensdefizit beseitigen wollen', 'glauben, daß der Hörer zum Schließen der betreffenden Informationslükke in der Lage ist' vereinbar sind, entschließt sich der Hörer zur Reinterpretation der Illokution (unter Beibehaltung der Proposition).

Schritt 12,

Der Hörer prüft anhand seines Wortschatzes, ob die erkennbare Perlokution der vernommenen Äußerung in ihrer abstrakten Formulierung: 'den Adressaten zu einer Handlung im Interesse des Adressanten bewegen wollen' ein konstitutives Merkmal der Obillokution eines anderen Sprechaktverbs ist und ob die Kontextmerkmale 'im Kaufhaus', 'kurz nach Ladenschluß' ebenfalls dazu passen.

Schritt 13.

Der Hörer stellt fest, daß der ermittelte propositionale Gehalt 'Sie kommen zur Kasse' eine zukünftige Handlung des Adressaten thematisiert und daher den semantischen Regeln für die Anwendung und Zuordnung eines anderen, in seinem Lexikon vorfindlichen Sprechaktverbs genügt, nämlich denen für auffordern .

212

A. Bupkhardt

Schritt 14.

Der Hörer erkennt, daß es die Absicht des Sprechers gewesen sein m u ß , eine Aufforderung an ihn zu richten.

Schritt 15.

Der Hörer ordnet der vernommenen Äußerung das Sprechaktverb auffordern zu und versteht sie als 'Aufforderung zur Kasse zu kommen' (mit dem Ziel zu bezahlen und das Kaufhaus zu verlassen).

Auch wenn es sich bei der vorstehenden Analyse um die Rekonstruktion eines idealen Schlußfolgerungsprozesses handelt, kann sie doch zeigen, wie wichtig gerade die letzten vier Schritte (12 bis 15) sind, in denen sich der hörerseitige, semantisch begründete Zuordnungsprozeß von Äußerungen zu Sprechhandlungskonzepten vollzieht, denn dieser findet sich ausnahmslos bei jeder auch nur halbwegs bewußten illokutionären Interpretation einer Äußerung durch ihre(n) Hörer. Ohne sie findet allenfalls ein sprachloses Reagieren statt. Es zeigt sich bei alledem noch ein weiteres: Äußerungen ohne ifid sind letzlich genauso zu interpretieren wie solche mit ifid, können also als Vollzug derselben illokutionären Akte klassifiziert werden. Aber MIT Explizitierung durch ifid sind sie - wenn sie direkt, d . h . aufrichtig sind - nicht nur eindeutig, sondern auch förmlicher, klingen offizieller - man kann sich hinter sie nicht mehr zurückziehen. Das ist der Unterschied zwischen "Ich beschwere mich (hiermit) über x" und "Ich bitte Sie, nicht wieder zu tun", die gleichwohl beide als Beschwerden interpretiert werden können. Direkte unterscheiden sich von indirekten Sprechakten also weder durch die vollzogene Handlung noch inhaltlich, sondern qualitativ: Sie E X P L I Z I T I E R E N , wo der indirekte Sprechakt nur eine Interpretation nahelegt, sie KENNZEICHNEN ALS, wo der indirekte Sprechakt nur Interpretationshinweise gibt.

4

SchluObenerkung

Am Ende dieses Beitrags muß die Feststellung stehen, daß es illokutionäre Akte im ursprünglichen Sinne nicht gibt, und daß die alte Sprechakttheorie an ihr Ende gekommen ist, wenn es stimmt, daß der einzige Unterschied zwischen direkten und indirekten Sprechakten in der expliziten b z w . fehlenden Kennzeichnung oder Beschreibung dessen besteht, als was die betreffende Äußerung ZÄHLEN, d . h . aufgefaßt werden soll und daß Sprechakte durch hörerseitige Klassifikationen von Äußerungen nach semantischen Kriterien

Der Sprechakt als .. .

213

zustande kommen. Gibt es dann überhaupt noch ein sprachliches Handeln? - Ja, das gibt es, aber es funktioniert anders, als es die Konzeption der alten Sprechakttheorie vorsah: Es werden Handlungen vollzogen, indem sie als intendiert erkannt b z w . unterstellt werden und nach semantischen Kriterien unter Handlungsbegriffe subsumiert werden. Sie "zählen als" die betreffenden A k t e , weil der Hörer sie aufgrund ihrer semantischen und situativen Eigenschaften als Vorkommen bestimmter über Handlungsbegriffe bestimmbarer Typen erkennen, d . h . klassifizieren kann. Das ist der Kern der Lösung des Rätsels von den in Äußerungen verborgenen illokutionären "Kräften". Die "Gelingens-" und "Glückensbedingungen" sind nur das pragmatische Spiegelbild semantischer Kriterien.

214

A. Burkhardt

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Frankfurt/

Günter Schmale

Reziprozität als Grundlage kooperativen Handelns in Kontaktsituationen zwischen deutschen und französischen Sprechern

219

REZIPROZITÄT ALS GRUNDLAGE KOOPERATIVEN HANDELNS IN KONTAKTSITUATIONEN ZWISCHEN DEUTSCHEN UND FRANZÖSISCHEN SPRECHERN*

l

Die Problematik kooperativen Handelns in exolingualen Kontaktsituationen

Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit kooperativem Handeln in einem Kommunikationstyp - Kontaktsituationen zwischen Sprechern des Deutschen und des Französischen, die sich der Kontakt* Ich danke Elisabeth Gülich (Bielefeld) für wichtige Anregungen bei der Entstehung meines Vertrages auf der DGfS-Tagung Heidelberg 1986, der dem vorliegenden Beitrag zugrundeliegt. Das Projekt Kontaktsituationen, in den Jahren 1984/85 unter dem Titel "Situations de contact franco-allemand" unter Leitung von Elisabeth Gülich und Ulrich Dausendschön-Gay an der Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft der Universität Bielefeld durchgeführt (die Projektgruppe existiert auch heute noch und forscht weiter), analysiert und beschreibt die kommunikativ-interaktiven Verfahren deutscher und französischer Gesprächspartner (Schüler und Studenten, die Französisch im institutionellen Kontext erlernt haben), die sich - vor allem im Zielsprachenland - in der Kontaktsprache Französisch verständigen. Als Grundlage dienen Tonaufnahmen aus authentischen Interaktionssituationen, von Schülern und Studenten bei Frankreichaufenthalten erstellt. Authentisch im Sinne des Projektes besagt, daß die Interaktanten nicht allein zu Aufnahmezwecken zusammenkommen, sondern ein "tatsächliches" Interaktionsinteresse mitbringen. Die Spezifik des Bielefelder Projektes liegt in der Konzentration auf Interaktionsprozesse, die unter Rückgriff auf linguistischethnomethodologische Prinzipien beschrieben werden. Das Projekt ist so einerseits im Kontext der empirischen Erforschung des Zweitsprachenerwerbs, andererseits aber auch im Rahmen der Anwendung und Weiterentwicklung linguistisch- konversationsanalytischer Methodologie zu sehen. Der vorliegende Beitrag bezieht sich auf eine der Grundannahmen des Projektes, daß nämlich Verständigungs- und Kooperationssicherung in Kontaktsituationen eine zentrale Rolle spielen.

220

G. Schmale

spräche Französisch bedienen -, in dem aufgrund der unterschiedlichen (Fremd-)Sprachkompetenz der Interaktanten in besonderem Maße Kooperationsanstrengungen erwartbar und auch tatsächlich beobachtbar sind. Im Zentrum des Analyseinteresses steht ein Kooperationsproblem fremdsprachlicher Kontaktsituationen, auf das Ehlich (1985, 45) hinweist: "Fremdsprachliche Kommunikation macht ... auf einen Aspekt sprachlichen Handelns aufmerksam, der sich wegen seiner Unmerklichkeit der Analyse meist entzieht. Kommunikation ist immer auch, bei kooperativen wie bei streitenden Formen, eine elementare, von allen an der Kommunikation Beteiligten geteilte Gemeinsamkeit. ... Diese steht in der fremdsprachlichen Kommunikation ... dauernd auf dem Spiel. So ist fremdsprachliche Kommunikation ein Paradox. Sie ist eine sich immer neu reproduzierende Gefährdung ihrer selbst als Verfahren und bedarf der Bearbeitung durch die an der Kommunikation Beteiligten." Das von Ehlich so bezeichnete "Paradox fremdsprachlicher Kommunikation" wird im folgenden Beispiel besonders deutlich: (1)

(I, deutsche Schülerin (16 3 . ) , versteht eine Äußerung ihrer französischen Korrespondentin V (16 J . ) nicht und fragt nach.): I V : ( ( e n chantant)) la bonne humeu:r- + 2 I: (bas, peu sure) bonne humeur- + 3 V:rtu sals'

4 I:L

mais si,

non,

. gute Laune,

Leu/ Laune,

ah,

&

((avec

5 une grosse voix, autoritaire)) tu ne paRles pas d'allemand, + B V: ( ( e n chuchotant)) parce que c'est ( i n t e r d i t ? ? ) . +

7 I:rje n'aime pas, . z u t , zet pareillE, 8 V:L (bas)(e::::::::::e,?)+ 9 (9 sec. de pause)+ (Aus: diner, IR2/S.1, N o . 2 . ) < 2 >

/pre/,

V, die Französin, versucht im vorliegenden Beispiel Is Verständnisproblem (vgl. Z. 2) durch eine durchaus gängige Methode der Be-

Reziprozität als Grundlage . . .

221

deutungserklärung in Kontaktsituationen, nämlich eine Übersetzung in die Muttersprache Is, zu bearbeiten (vgl. Z. 4). Ihre Hilfestellung wird von I jedoch brüsk abgelehnt (vgl. Z. 4-5): Du sollst kein Deutsch sprechen. Die zur Aufrechterhaltung der Kommunikation notwendige "geteilte Gemeinsamkeit" steht im vorliegenden Beispiel in mehrfacher Hinsicht auf dem Spiel: 1.

I, die Nichtmuttersprachlerin, hat Sprachprobleme, die zu Kommunikationsproblemen mit der Partnerin führen.

Ich danke den Projektleitern für die Überlassung der Aufnahmen von Kontaktsituationen. Die Transkriptionen, an denen mehrere Projektmitglieder beteiligt waren, wurden von mir nach folgendem System überarbeitet: ganz kurze, kurze, mittlere Pause (bis max. 2,5 Sek.) (x sec. de pause) längere Pause mit genauer Zeitangabe > > _ Intonation: steigend, fallend, gleichbleibend pas auffällig starke Betonung (mit Unterstreichung) pa:: :s Dehnung des mit Doppelpunkt versehenen Lautes (bas) (vite) Charakterisierung der Sprechweise ((expressif)) subjektive Charakterisierung des Transkribenten Ende einer Charakterisierung Hein PaRles Großschreibung von Lauten zeigt Abweichungen von der Standardaussprache an dixj/ artikulatorischer und/oder intonatorischer Abbruch auffällige Liaison oder Nicht-Liaison Anzeigen des Endes simultaner Äußerungen, die graphisch nicht simultan zu repräsentieren sind Simultanklammern: gleichzeitiges Sprechen von C Interaktanten Intonationssprung (T) auffällig schneller Anschluß transkribierter Wortlaut nicht absolut sicher (interdit??) (ein Fragezeichen), sehr zweifelhaft (zwei Fragezeichen) /pre/ phonemische Transkription

&

222

G. Schmale

2.

Für I ist das von V gewählte Verfahren der Bedeutungserklärung nicht akzeptabel, weil sie sich dadurch möglicherweise in ihrem Image betroffen fühlt.

3.

V, die Muttersprachlerin, befindet sich in der Zwickmühle, einerseits die Kommunikation - auf der Ebene der Bedeutungskonstitution - aufrechterhalten zu müssen, andererseits aber auf der Beziehungsebene - das Image der Partnerin nicht in Frage zu stellen.

Gelingt es den Beteiligten nicht, die in den vorstehenden Punkten angerissenen Probleme zu lösen, gerät die Fortführung des kommunikativen Kontakts in Gefahr. Bevor im dritten Abschnitt des vorliegenden Beitrages weitere Beispiele aus Kontaktsituationen diskutiert werden, die die Problematik und Bearbeitung des fremdsprachlichen Paradoxons verdeutlichen, wird in einem zweiten Abschnitt zu klären sein, was unter "geteilter Gemeinsamkeit" und "Paradox fremdsprachlicher Kommunikation" verstanden wird. Außerdem ist die Relevanz des diskutierten Phänomens im Hinblick auf "kooperatives Handeln" zu erläutern. Es wird dabei auf Theorieelemente des ethnomethodologisch-konversationsanalytischen Ansatzes (vor allem im Anschluß an die Arbeiten Werner Kalimeyers und Fritz Schützes) zurückgegriffen, der zur Beschreibung "kooperativen Handelns" im allgemeinen und "kooperativen Handelns in Kontaktsituationen" im besonderen besonders geeignet erscheint.

2

Kooperatives Handeln aus der Sicht Konversationsanalyse

der

ethnomethodologischen

In der ethnomethodologischen Konversationsanalyse (Kallmeyer/ Schütze'scher Prägung) scheinen vor allem vier Begriffe im Hinblick auf eine Beschreibung "kooperativen Handelns" relevant zu sein. Dies sind KOOPERATIVITÄT und KOOPERATIONSFORM einerseits, sowie REZIPROZITÄT und REZIPROZITÄTSKONSTITUTION andererseits. Ohne auch nur annähernd die äußerst komplexen Begriffsinhalte und die noch komplexeren Relationen der einzelnen Begriffe zueinander in ihrer Gesamtheit klären zu können, werden kurz die genannten Konzepte und ihr Verhältnis zur Bezeichnung "kooperatives Handeln" dargestellt.

Reziprozität als Grundlage . . .

223

1. REZIPROZITÄT, als theoretisches Konzept, beinhaltet die in den sogenannten Idealisierungen bezeichneten interaktionslogischen Voraussetzungen kommunikativer Interaktion. Am häufigsten werden in diesem Zusammenhang die von Alfred Schütz 1962 formulierten Sozialitätsidealisierungen der Austauschbarkeit der Standpunkte und der Kongruenz der Relevanzsysteme genannt (Cicourel 1981 spricht von der Idealisierung der "Reziprozität der Perspektiven" bei Schütz). Kallmeyer (1979, 63-64) definiert Reziprozität wie folgt: "Mit Reziprozität ist eine Struktur wechselseitiger Unterstellungen der Interaktionsbeteiligten gemeint: die Beteiligten gehen davon aus, daß ihre Partner ebenso wie sie selbst bereit und in der Lage + sind, die Verfahren der Bedeutungskonstitution und der Durchführung von Aktivitätskomplexen anzuwenden, und daß ihre Partner ihnen dasselbe unterstellen." Diese wechselseitigen Unterstellungen sind nach ethnomethodologischer Vorstellung notwendig, um die grundsätzlich unaufhebbaren Unvereinbarkeiten des Interaktionsprozesses ( i . e . die Unvergleichbarkeit der beteiligten Selbstidentitäten, die mangelnde Angleichung der wechselseitigen Interpretationen, die Vagheit der ausgetauschten Symbolgesten (vgl. Kalimeyer/Schütze 1976, 9 ) ) zu bewältigen. 2. Die Verhaltens-/Handlungsweise insgesamt, die darin besteht, sich so zu verhalten/ so zu handeln, daß die wechselseitigen Unterstellungen durchgehalten werden können, wird als KOOPERATIVITÄT bezeichnet. Kooperativität besteht nicht nur darin, das Reziprozitätsfundament zu sichern, sie beinhaltet mehr als das. Sie ist einerseits Grundlage des Aushandlungsprozesses, andererseits auch im Verlaufe des Aushandlungsprozesses, der wiederum die Interessenverwirklichung ermöglicht, notwendiges Prinzip zum Erreichen bestimmter Handlungsziele ( z . B . bei Wegauskünften oder in Beratungsgesprächen) . 3. Zentraler Begriff des ethnomethodologischen Ansatzes im Hinblick auf eine Klärung des Konzeptes "kooperatives Handeln" ist die Notion der KOOPERATION (auch als KOOPERATIONSFORM oder FORMEN DER KOOPERATION bezeichnet). In Formen der Kooperation - wie der Sprecherwechselorganisation, der Handlungskonstitution, der Verständnissicherung, etc. (vgl. Kallmeyer/Schütze 1976, 9 f f . ) - manifestiert sich die Kooperativität von Interaktionspartnern. Neben der Sicherung des Reziprozitätsfundamentes dienen diese Formen auch, um es zu wiederholen, der Erreichung bestimmter weiterreichender Handlungsziele.

224

G. Schmale

4. REZIPROZITÄTSKONSTITUTION ist der dem theoretischen Konstrukt REZIPROZITÄT entsprechende Aktivitätsbegriff, der besonders schwierig zu beschreiben ist. Die Konstitution von Reziprozität ist Grundlage aller Interaktionsvorgänge und "sichert die Grundstruktur von Interaktion als eines Austauschprozesses, in welchem die Beteiligten alle Konstitutionsvorgänge gemeinsam definieren und tragen müssen." (Kallmeyer 1982, 22-23) Im Normalfall besteht Reziprozitätskonstitution lediglich darin, die grundlegenden wechselseitigen Unterstellungen zu respektieren und Gefährdungen ihrer Gültigkeit zu vermeiden. Kallmeyer (persönliche Kommunikation) spricht davon, daß Reziprozitätskonstitution im Normalfall die Form einer unangefochtenen Voraussetzungsstruktur hat und nicht direkt beobachtbar ist. Erst wenn Gefährdungen ihrer Gültigkeit auftreten, in Konflikten beispielsweise, werden spezielle Aktivitäten der Reziprozitätskonstitution relevant, die in Kooperationsfiguren beobachtbar sind (vgl. z.B. Kallmeyer 1979 oder Selting 1985). Die folgende schematische Darstellung soll den Zusammenhang der beschriebenen Begriffe verdeutlichen:

225

Reziprozität als Grundlage ...

KOOPERATIVITÄT

U S H A N D L U N G S P R O Z E S S KONVERSATIONELLER INTERAKTION

KOOPERATIONSFORMEN REZIPROZITÄT DER PERSPEKTIVEN



«l o l h

·—

IMPLIZITE RZK

9

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REZIPROZITÄTSKONSTITUTION ( R Z K )

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EXPLIZITE RZK

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