Parteipolitische Konflikte: Geschichte, Struktur und Dynamik einer Spielart der politischen Kommunikation [Reprint 2017 ed.] 9783110965032

This book inquires into what party politicians do to be successful in competing with their rivals. First, they must comm

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German Pages 321 [324] Year 2017

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
I. Parteipolitische Konflikte im Spiegel linguistischer Forschung
II. Rahmenbedingungen politischer Kommunikation in geschichtlicher Perspektive
III. Parteipolitische Konflikte - Dramaturgie und Inszenierungen im Bundestagswahlkampf 1994
Zusammenfassung
Anhang: Ausgewählte Quellen und Materialien
Abbildungsverzeichnis
Literaturverzeichnis
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Parteipolitische Konflikte: Geschichte, Struktur und Dynamik einer Spielart der politischen Kommunikation [Reprint 2017 ed.]
 9783110965032

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Beiträge zur Dialogforschung

Band 18

Herausgegeben von Franz Hundsnurscher und Edda Weigand

Georg Wolf

Parteipolitische Konflikte Geschichte, Struktur und Dynamik einer Spielart der politischen Kommunikation

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1998

Für Carla und Heike

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Wolf, Georg: Parteipolitische Konflikte : Geschichte, Struktur und Dynamik einer Spielart der politischen Kommunikation / Georg Wolf. - Tübingen : Niemeyer, 1998 (Beiträge zur Dialogforschung ; Bd. 18) ISBN 3-484-75018-9

ISSN 0940-5992

D6 © Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1998 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Guide-Druck GmbH, Tübingen Buchbinder: Industriebuchbinderei Hugo Nadele, Nehren

Inhaltsverzeichnis Einleitung

1

I.

Parteipolitische Konflikte im Spiegel linguistischer Forschung

9

1.

Voriiberlegungen zu Gegenstand und Methode

9

2.

Beschreibung von Konfliktereignissen - inhaltliche Phasenstruktur und formale Gesprächsorganisation 13 Konflikterklärung - Sprecherziele, Strategien und kommunikative Bedingungen . . 22 Konfliktsituierung in politischen und medialen Kontexten 33 Analysemethode - Sprachspiele als linguistische Vergleichsobjekte 43

3. 4. 5.

II. Rahmenbedingungen politischer Kommunikation in geschichtlicher Perspektive 1. 2. 3. 4.

5.

Politische Macht - eine schillernde Zentralkategorie Die Sprachspielgeschichte der Deutschen Demokratischen Republik ,Interessenidentität' in einer funktional entdifferenzierten Gesellschaft Die Sprachspielgeschichte der Bundesrepublik Deutschland Interessenpluralität in einer Konkurrenzgesellschaft Die Sprachspielfamilie .Wahlkampf zentrale Arena der politischen Meinungs- und Willensbildung der Gegenwart . . . 4.1 Der ,Witz' repräsentativ-demokratischer Wahlen - multilaterale Verhandlungen über politische .Angebote' und Mandate 4.2 Die Eröffnung des Wahlkampfes - unilateral festlegende Vorverhandlungen über .Wahlofferten' der Parteien 4.3 Der Verlauf des Wahlkampfes - Parteienwerbung durch Akzeptanzstützung 4.4 Kommunikative Wahlkampfbausteine - Funktionen, Struktur und Konfliktträchtigkeit Parteipolitische Konflikte im Wahlkampf

57 58 70 104 121 121 139 147 161 168

VI III. Parteipolitische Konflikte - Dramaturgie und Inszenierungen im Bundestagswahlkampf 1994 Wie das Spiel geplant wurde Spieleinsatz, Gewinnaussichten und Risiko-Kalkulation 2. Womit zu rechnen war (!) - politische Strategiekonstellationen 2.1 SPD 2.2 Bündnis 90/Die Grünen 2.3 PDS 2.4 FDP 2.5 CDU/CSU 3. Womit zu rechnen war (Π) - mediale Strategiekonstellationen 3.1 Parteienwerbung 3.2 Politischer Journalismus 4. Wie das Spiel gespielt wurde - funktionale Konfliktphasen und Zugsequenzen am Beispiel der ,Linksfront'-Kampagne 5. Eine Skizze kommunikativer Konfliktkompetenzen im Wahlkampf am Beispiel ausgewählter Wahlkampfakteure 5.1 Wolfgang Thierse - der Nachzügler 5.2 Helmut Kohl - der Themenmanager 5.3 Joschka Fischer - der mit den Spielregeln spielt

179

1.

188 193 194 199 203 206 208 213 213 222 231 248 251 254 257

Zusammenfassung

263

Anhang: Ausgewählte Quellen und Materialien

271

Auszüge aus den Wahlprogrammen zur Bundestagswahl 1994 271 Transkripte ausgewählter Fernsehsendungen zur Bundestagswahl 1994 (Auszüge) 283 André Brie: Ideenpapier für eine Kommunikationsstrategie der PDS (unveröffentlicht, August 1995) 297 Interviewpartner im Sommer 1995 299 Abbildungsverzeichnis Literaturverzeichnis

301 303

Einleitung In dieser Untersuchung geht es darum, linguistisch zu beschreiben und zu bewerten, was politische Parteien tun, um in konfliktären Auseinandersetzungen mit ihren Konkurrenten erfolgreich zu sein. Daß parteipolitische Konflikte in der Politikgeschichte moderner Demokratien und der Bundesrepublik Deutschland eine außerordentliche Bedeutung haben, liegt ebenso auf der Hand wie die Auffassung, daß die Austragung dieser Konflikte besonderen, politikspezifischen Regularitäten folgt. Nun ist die Beschreibung solcher Regularitäten die genuine Aufgabe der Politikwissenschaft und anderer gesellschaftswissenschaftlicher Disziplinen, so daß zu klären ist, welchen Beitrag die Linguistik zur politischen Konfliktforschung leisten kann. Es erübrigen sich detaillierte Ausführungen über die Komplexität der politischen Kommunikation; stattdessen gilt es, das Untersuchungsgebiet mittels einer vorläufigen Begriffsbestimmung nach linguistischen Kriterien einzuschränken. Politik ist demnach ein komplexes System von Kommunikationsprozessen, die der Entscheidung über Angelegenheiten öffentlichen Interesses und - eine dafür notwendige Voraussetzung - der Austarierung von Macht und Einfluß politischer Gruppen dienen. Politische Kommunikation vollzieht sich unter bestimmten sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen, die für die politische Wirklichkeit konstitutiv und daher auch in eine linguistische Beschreibung einzubeziehen sind. Unter den Bedingungen einer parlamentarisch-demokratischen Staatsform sind an der Politik politische Akteure (Politiker, Parteien, Verbände, Interessengruppen etc.), politische Berichterstatter (Medien) und eine nicht näher umgrenzte, politisch interessierte Öffentlichkeit beteiligt. Politische Akteure, Berichterstatter und Öffentlichkeit bilden allerdings keineswegs homogene Gruppen, denen konsistente kommunikative Verhaltensweisen zugeschrieben werden könnten. So ist in der politischen Praxis zu beobachten, daß Politiker auf die Medien Einfluß nehmen, Journalisten als politische Akteure auftreten und sich die Öffentlichkeit verdrossen aus der Politik verabschiedet. Die Konsequenz aus solchen Beobachtungen besteht darin, daß politische Gruppierungen hier immer konstellativ beschrieben werden, d.h. in ihren jeweils aktuellen Beziehungen zu konkurrierenden Gruppen. Solche „mehr oder weniger kalkulierbaren Konstellationen" (Sarchielli 1990, 35) bilden den linguistischen Beobachtungsgegenstand im Bereich der politischen Interaktanten. Was für die Politik generell gilt, gilt in besonderem Maße für politische Konflikte. Konfliktinitiativen, Konfliktaustragungs- und -beilegungsformen sind in repräsentativen Demokratien nicht auf bestimmte politische Gruppen abonniert, sondern grundsätzlich gruppenunspezifisch. Allerdings lassen sich konfliktträchtige politische Konstellationen beobachten, die regelmäßig - und damit vorhersehbar - zu besonderem Konfliktverhalten der Kontrahenten

2 führen. Zum grundsätzlichen Status von Konflikten in der politischen Praxis wird noch viel zu sagen sein. Hier nur so viel: Ob und in welchem Umfang Konflikte oder aber konsensuelle Kommunikationsformen das politische Geschehen bestimmen sollten, kann nicht der Gegenstand eines linguistischen Beschreibungsunternehmens sein, wie es hier intendiert ist. In Auseinandersetzung mit Georg Sixnmels Frage, „ob nicht der Kampf selbst schon, ohne Rücksicht auf seine Folge- oder Begleiterscheinungen, eine Vergesellschaftungsform ist" (1908/92, 284), ist mit Blick auf die politische Gegenwart schlicht zu konstatieren, daß der Konflikt, das Gerangel, der Streit, die Schlammschlacht, der Kleinkrieg zwischen den Interaktanten einen wesentlichen Bestandteil des politischen Tagesgeschäfts und der politischen Kommunikationspraxis ausmachen. Wichtiger in diesem Zusammenhang ist, daß politische Konflikte in der Regel nicht singular auftretende .Ereignisse' oder ,Unglücksfälle' darstellen, sondern als mögliche und legitime Spielarten politischer Interessendurchsetzung wahrgenommen werden (vgl. Eroms 1995, 5). Politische Konflikte werden stets von zwei oder mehreren Konfliktparteien ,um etwas' geführt; die konfliktären Ausgangslagen sind deswegen in Termini von Interessenkonstellationen zu beschreiben. Die in politischen Konflikten verfolgten Interessen, deren sprachliche Darstellung und kommunikative Durchsetzung sind Hauptaspekte der linguistischen Beschreibung politischer Konfliktkommunikation· Im Mittelpunkt eines in diesem Sinne adäquaten Beschreibungskonzeptes stehen parteipolitische Kommunikationsstrategien. Strategien sind zielgerichtete Handlungspläne, nach denen die Akteure ihr kommunikatives Handeln organisieren; ein solcher Organisationsbedarf besteht, weil ihnen in komplexen sozialen Interaktionen stets mehrere Handlungsoptionen offenstehen (vgl. Heringer 1974, 186). Strategien bilden gewissermaßen eine Brücke zwischen den jeweils verfolgten Interessen bzw. Zielen einer Konfliktpartei und den schließlich unter Erfolgskalkül ausgewählten sprachlichen Handlungsmitteln. Eine Konfliktpartei konzipiert ihre Strategie a) nach Maßgabe ihrer kommunikativen Interessen bzw. Ziele, b) in Einschätzung der kontextuellen Bedingungen und c) gemäß ihren Annahmen über mögliche Reaktionen des Gegners.1 Sprachliche Äußerungseinheiten wie Texte oder Gesprächsbeiträge, die als konfliktär interpretiert werden können, sind hier entsprechend als Repräsentationen von Konfliktstrategien aufzufassen, in denen sich a) parteipolitische Interessenkonstellationen, b) allgemeine institutionelle und mediale Rahmenbedingungen sowie c) gegnerorientierte Erfolgskalküle niederschlagen. Es versteht sich dabei fast von selbst, daß linguistische Strategiezuschreibungen den Status von ,Interpretationskonstrukten' im Sinne Hans Lenks (1978 und 1995) besitzen. Dieser Hinweis ist deshalb wichtig, weil in der Kommunikationspraxis aller politischen Parteien strategische Anleitungen und ,Regelbüchlein' (z.B. Pätzold 1993 für die

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Vgl. zu verschiedenen Aspekten des Strategie-Begriffs Heringer (1974, 185-192), Fritz (1982, 58), Zimmermann (1984, 141), König (1989, 281) und Heinemann/Viehweger (1991, 214).

3 PDS) kursieren, die zwar Authentizität gewährleisten - vielleicht auch vorgaukeln - , aus linguistischer Sicht aber wenig ergiebig sind. Interessant ist nämlich nicht nur, was ParteiStrategen und Konfliktakteure preisgeben, sondern interessant ist vor allem das, was Habermas (1981, I 445) „verdeckt strategisches Handeln" nennt, die Fälle also, in denen die Akteure sprachlich „nicht-deklarierte Ziele verfolgen" (1981, I 410). Die Identifizierung verdecktstrategischen Handelns setzt aber voraus, daß unter Berücksichtigung der o.a. Beschreibungskriterien die politische Wirklichkeit mit ihren spezifischen Funktionsmechanismen rekonstruiert wird. Die linguistische Rekonstruktion parteipolitischer Konfliktstrategien dient letztlich dem Ziel, spezifische Komponenten einer kommunikativen Konfliktkompetenz von politischen Akteuren und deren Adressaten zu beschreiben, um vor diesem Hintergrund Entwicklung und Qualität des politischen Diskurses der Gegenwart bewerten zu können. Diese Untersuchung ist also ein Beitrag zu einer pragmatischen Kompetenzlinguistik, deren Programm darin besteht, Ausschnittstypologien für besonderes Kommunikationsverhalten in ausgewählten kommunikativen Praxisbereichen zu gewinnen.2 Bereits an diese Stelle gehört allerdings der Hinweis, daß politische Akteure nicht, wie dies manchmal behauptet wird, eine eigene politische Sprache' sprechen - auch außerhalb der politischen Kommunikation wird manipuliert, suggeriert und gelogen, geht es um Image, Profil oder Macht (vgl. Heringer 1982, 19-23). Stattdessen ist hier von einer bereichsspezifischen Kommunikationskompetenz die Rede, deren intrinsisch politische Qualitäten durch die empirische Beschreibung der politischen Rahmenbedingungen und empirische Analysen parteipolitischen Konfliktverhaltens herauszuarbeiten sind. Genuiner Beschreibungsgegenstand der pragmatischen Linguistik sind Texte und Dialogbeiträge, die in einem abgrenzbaren kommunikativen Praxisbereich auf eine spezifische Art und Weise verwendet werden. Das gemeinsame Merkmal solcher Gebrauchstexte und Beitragssequenzen ist, daß sie ,Texte-in-Funktion' darstellen und als solche nicht isoliert zu betrachten sind, sondern im Zusammenhang mit anderen sprachlichen und nichtsprachlichen Handlungen. Sie sind also eingebettet in Kommunikationszusammenhänge. Die Frage ist nun, wie die strukturellen Rahmenbedingungen politischer Systeme (etwa demokratisches Parteiensystem, Volkssouveränität, Meinungsfreiheit etc.) und die konkreten Textverwendungen in politischen Konfliktsituationen in einen homogenen Beschreibungszusammenhang zu bringen sind.3 Ein theoretisches Kommunikationsmodell, das sowohl die institutionelle Verfaßtheit als auch die kommunikative Dynamik der politischen Kommunikation integrieren kann, ist die

Zum heuristischen Verfahren der ,Ausschnittstypologie' vgl. z.B. Kallmeyer (1986, 335f.) und Hundsnurscher (1984, 93 und 1994, 226f.). Mit dieser Gegenüberstellung wird keineswegs eine Opposition aufgebaut. Auf legislatorische Setzungen des Grundgesetzes etwa trifft zu, was Luhmann (1984, 192) generell über soziale Systeme sagt: „Der basale Prozeß sozialer Systeme, der die Elemente produziert, aus denen diese Systeme bestehen, kann [...] nur Kommunikation sein. "

4 Sprachspiel-Konzeption Ludwig Wittgensteins.4 Bei Wittgenstein ist ein ,Sprachspiel' ein bereichsspezifisches Gesamt von sprachlichen und sonstigen Tätigkeiten (PU § 7), die im Rahmen sozialer .Lebensformen' stattfinden (PU § 23). Solche Lebensformen werden nicht als statische Entitäten aufgefaßt, sondern als dynamisch konzipierte ,Vergleichsobjekte' (PU § 130) für kommunikative Prozesse, die durch ein „kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten" (PU § 68) miteinander verknüpft sind. Die Relationen zwischen diesen Prozessen bzw. Sprachspielen bezeichnet Wittgenstein als ,Familienähnlichkeiten' (PU § 67), ohne sich im einzelnen darauf festzulegen, worin genau diese Ähnlichkeiten bestehen: Wie würden wir denn jemandem erklären, was ein Spiel ist? Ich glaube, wir werden ihm Spiele beschreiben, und wir könnten der Beschreibung hinzufügen: das, und Ähnliches, nennt man ,Spiele'. Und wissen wir selbst denn mehr? Können wir etwa nur dem Andern nicht genau sagen, was ein Spiel ist? - Aber das ist nicht Unwissenheit. Wir kennen die Grenzen nicht, weil keine gezogen sind. Wie gesagt, wir können - für einen besondern Zweck - eine Grenze ziehen. (PU §69)

Für einen besonderen Zweck sollen hier nicht Grenzen gezogen, sondern bestehende Grenzen sichtbar gemacht werden. Es geht darum, am Beispiel parteipolitischer Konflikte Einblicke in die grundlegenden Funktionsmechanismen der politischen Kommunikation zu gewinnen und deren unterschiedliche Ausprägungen als strategische Sprachspiele zu beschreiben. Die Thesen lauten: Politische Kommunikation kann als eine hochkomplexe Sprachspielfamilie aufgefaßt werden, die als ein Ensemble von Lebensformen weit in die heutige gesellschaftspolitische Wirklichkeit hineinreicht. Es lassen sich Basis-Sprachspiele der politischen Kommunikation isolieren, um die sich verwandte Sprachspiele herumgruppieren. Deren Familienähnlichkeiten bestehen darin, daß zwischen ihnen regelhafte - und damit systematisch beschreibbare strategisch-kommunikative Sequenzzusammenhänge existieren.5 Mit der Darstellung solcher Sequenzzusammenhänge, das soll betont werden, wird nicht behauptet, daß es so und so ist, sondern daß dynamische Kommunikationsprozesse und ihre Strukturen mit Hilfe des Vergleichsobjektes ,Sprachspiel' so und so interpretiert werden können - und zwar mit einem hohen Plausibilitätsanspruch. Für die linguistische Analyse von sprachlichen Äußerungseinheiten, also Texten und Dialogbeiträgen in ihren spezifischen Verwendungszusammenhängen, hat dieser kommunikationstheoretische Rahmen weitreichende methodologische Konsequenzen. Die Ausgangsfrage

Die folgenden Wittgenstein-Zitate stammen aus den .Philosophischen Untersuchungen' (Werkausgabe Bd. 1, 6. Aufl., Frankfurt/M. 1952/89, S. 225-580); sie werden abgekürzt: PU §. Sprachliche Handlungen werden hier also von ihrem sozialen und situativen Handlungsumfeld her bestimmt und in der Analyse als ,Spielzüge' in einem Sprachspiel gedeutet. Das vertretene sprachspielanalytische Modell stützt sich nicht auf formale Spieltheorien (vgl. etwa Schelling 1960, Rapoport 1960/79, Carlson 1983, Fritz 1994), sondern auf linguistische Adaptionen des Wittgensteinschen Sprachspielkonzeptes (vgl. z.B. Heringer 1974, Fritz 1982 und 1994a).

5 nach den an der Sprachspielfamilie politische Kommunikation' beteiligten Sprechergruppen impliziert ein Analysemodell, das nicht nach Chomskys Vorbild „a description of the ideal speakers-hearer's intrinsic competence" (1965, 4) ins Auge faßt6, sondern der praktischkommunikativen Feldforschung oder .Kommunikationsanalyse'7 verpflichtet ist. Sprachliche Äußenmgseinheiten werden dabei als Instrumente betrachtet, durch deren Gebrauch beispielsweise Politiker, Journalisten oder Verfasser von politischen Leserbriefen in konkreten Sprachspielen außersprachliche, und zwar dezidiert politische Ziele zu erreichen suchen.8 Der Beobachtungsgegenstand ist also zunächst nicht das universelle Sprachverhalten eines idealtypischen Sprecher,-Sprecher2-Paares, sondern das in der politischen Praxis beobachtbare Kommunikationsverhalten von politikspezifischen .Ensembles von Interaktantenpaaren' (Adamzik 1993, 175). Gegenüber universalpragmatischen Untersuchungen, in denen Klassen von Texten nach theoretisch-deduktiven Funktionstypologien zu Textsorten oder Dialogtypen zusammengefaßt werden9, stehen hier kommunikationsdynamische Aspekte der politischen Verwendung von Äußerungseinheiten im Vordergrund. Als ,dynamisch' sind Kommunikationsprozesse auf zweierlei Weise zu interpretieren, „je nachdem, ob eher der Verlauf konkreter Kommunikationen [...] analysiert weiden soll oder ob eine systematische Analyse von Typen von Kommunikationsverläufen beabsichtigt ist" (Fritz 1989, 19). Beide genannten Analyseschritte werden am Beispiel parteipolitischer Konflikte in Form einer Sprachspielgeschichte und exemplarischer Strukturbeschreibungen authentischer Sprachspielverläufe durchgeführt werden. Die kommunikationsdynamische Analyse parteipolitischer Konflikte sieht vor, empirisch vorfindbaren Konfliktformen a) eine Position innerhalb der Sprachspielfamilie politische i' zuzuweisen und b) ihre Position und strategisch-kommunikative Funktion in authentischen Sprachspielsequenzen zu bestimmen.10 Die Annahme regelhafter Sequenzzusammenhänge innerhalb bestimmter Funktionsbereiche der politischen Kommunikation gründet auf der Beobachtung, daß zwischen Texten und Dialogbeiträgen, die etwa im politischen Gesetzgebungsverfahren oder im Wahlkampf verwendet werden, mannigfaltige Kohärenzbeziehungen bestehen, die sowohl diachrone als auch synchrone Aspekte der politischen Kommunikation umfassen (vgl. Klein 1991). Ein Beispiel: Wenn Helmut Kohl zu Beginn der

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Zum Programm einer an Chomskys Kompetenzbegriff angelehnten .Dialoggrammatik' vgl. Hundsnurscher (1980 und 1994). Vgl. etwa zur Pressekommunikation Bucher (1986), zu politischen Fernsehdiskussionen Lucas (1992) und zur Kommunikation im Rechtswesen Frilling (1995). Nach Davidson (1982/84, 272) gilt generell, „that linguistic utterances always have an ulterior purpose". Vgl. z.B. Tillmann (1989), Franke (1990), Rolf (1993). Ganz ähnlich geht Bucher (1986, 63f.) im Bereich der Textlinguistik vor: „Die für eine Klasse von Texten typische Funktion angeben heißt, ihre (möglichen) Stellung(en) innerhalb der Grundstruktur von Textsequenzen angeben. "

6 heißen Phase des Bundestagswahlkampfes 1994 in Brandenburg PDS-Politiker als .rotlackierte Faschisten' bezeichnet, so ist dies in synchroner Betrachtungsweise als eine strategische Verschärfung der vom CDU-Generalsekretär Hintze lancierten ,Rote-Socken'-Kampagne zu interpretieren. Eine weitergehende Adressierungsabsicht und ein implizites Provokationspotential dieser Äußerung entfalten sich aber erst vor dem Hintergrund diachroner Zusammenhänge, wenn nämlich Helmut Kohl in den Medien den ehemaligen sozialdemokratischen Parteivorsitzenden Kurt Schuhmacher als Quelle für dieses .historische Zitat' bemüht. Damit ist nicht nur die PDS, sondern auch die SPD umittelbar in den Konflikt involviert. Dieses Beispiel deutet an, daß eine wesentliche Kompetenz politischer Akteure darin besteht, ihre Äußerungen in einen sequentiellen Kontext einzubetten (vgl. Dieckmann 1985, 59-65) bzw. strategisches ,Kohärenzmanagement' zu betreiben. Entsprechende Kohärenzbeziehungen lassen sich nicht aufdecken, wenn man sich mit isolierten Textsorten oder Dialogtypen befaßt und deren kontextuelle Verzahnung als nachgeordnetes Beschreibungskriterium behandelt.11 Das Programm zur Beobachtung, Beschreibung und Analyse parteipolitischer Konflikte umfaßt nach diesen theoretisch-methodologischen Erwägungen die folgenden konkreten Schritte: a) In Auseinandersetzung mit einschlägigen Arbeiten zu den Themenkomplexen ,Politik und Sprache' und .verbale Konfliktaustragung' ist ein Analyse-Instrumentarium zu entwickeln, das sowohl der institutionellen und medialen Verfaßtheit als auch der Dynamik des Handlungsfeldes .politische Kommunikation' gerecht wird-. Das ,Sprachspiel' als linguistisches Vergleichsobjekt für komplexe politische Kommunikationsprozesse wird in diesem Zusammenhang von zentraler theoretisch-methodologischer Bedeutung sein. b) Ein Ausflug in die Sprachspielgeschichte wird Aufschluß darüber geben, durch welche soziokulturellen Rahmenbedingungen das Kommunikationsverhalten der poütischen Akteure in der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland vor und nach der Vereinigung beeinflußt wurde. Um den besonderen Status konfliktärer Auseinandersetzungen im Konkurrenzkampf der Parteien angemessen einordnen zu können, ist es erforderlich, die Verwandtschaftsverhältnisse in der komplexen Sprachspielfamilie ,Wahlkampf' - der zentralen Arena politischer Kommunikation in der Gegenwart - nachzuzeichnen und die strategischen ,Einsatzorte' parteipolitischer Konflikte darin zu lokalisieren. Die funktionale Spezifik der Sprachspiele innerhalb dieser Familie hat maßgeblichen Einfluß auf die strategische Auswahl und sprachliche Realisierung der in parteipolitischen Konflikten eingesetzten Handlungsmuster.

11

Tillmaim (1989) beispielsweise rechnet .publizistische Textsorten' nicht zu den .originär politischen Textsorten', „weil die Gruppe potentieller Absender/Verfasser nicht allein auf politisch Handelnde beschränkt ist. Die publizistischen Textsorten [...] werden hier nur deshalb erwähnt, weil sie im Zusammenhang parteilich-politischen Handelns eine nicht unbedeutende Rolle spielen" (1989, 57).

7 c) Der Bundestagswahlkampf 1994 dient als Materialbasis für die kommunikationsdynamische Analyse authentischer Konfliktverläufe. Es geht darum zu zeigen, daß kommunikative Konfliktstrategien das Handeln der politischer Akteure auf den unterschiedlichsten Ebenen prägen: Dramaturgie, Medienauswahl, Timing, Konfliktgegner, Konfliktthema, Konfliktform, sprachliche Konfliktstile - die wichtigsten Bereiche der Wahlkampfplanung und -durchführung unterliegen besonderen strategischen Kalkülen, die es sprachspielanalytisch zu rekonstruieren gilt. In Fallstudien zu ausgewählten Wahlkampfakteuren ist zu zeigen, daß die Qualität authentischer Konfliktstrategien sehr unterschiedlich zu bewerten ist. Obwohl es in ,Wahlnächten' bekanntlich keine Verlierer gibt, kann auf der Grundlage kompetenzlinguistischer Kriterien skizziert werden, welche spezifischen Konfliktkompetenzen im Bundestagswahlkamf 1994 aktiviert wurden warum die einen besser in das kommunikative Bedingungsgefüge der damaligen politischen Landschaft paßten als die anderen. Theoretisch-methodologisch ist das vorgeschlagene Beschreibungskonzept so offen angelegt, daß eine Fortschreibung der Geschichte politischer Sprachspiele erfolgen kann und erfolgen sollte. Die empirische Materialbasis, auf die sowohl im Rahmen der Sprachspielgeschichte als auch bei der Analyse authentischer Konfliktverläufe rekurriert wird, umfaßt: - alle Textexemplare, die von den sechs im Bundestag vertretenen Parteien (CDU, CSU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen, FDP, PDS) im Bundestagswahlkampf 1994 als Wahlkampfmittel publiziert wurden, - Transkripte von ausgewählten Fernsehsendungen zum Wahlkampf und zur Wahl, - einen Pressespiegel ausgewählter regionaler und überregionaler Print-Medien von Januar 1994 bis Januar 1995, - parteiinterne Strategiepapiere und Wahlkampfleitfaden zur zentralen Kandidatenbetreuung aller oben aufgeführten Parteien vor der Wahl, - parteiinterne Wahlkampfanalysen aller oben aufgeführten Parteien nach der Wahl sowie - Transkripte von problemzentrierten Interviews12, die im Sommer 1995 in Bonn, Berlin und München mit Mitgliedern des Bundestages sowie Leitern und Mitgliedern der seinerzeit verantwortlichen Wahlkampfteams geführt wurden. Die zitierten Quellen und Materiahen werden im Anhang ausgewiesen oder - in Auswahl - im Wortlaut wiedergegeben. Bezüglich der Interview-Äußerungen wurden in einzelnen Fällen Angaben zur Person auf ausdrücklichen Wunsch hin anonymisiert; in Text und Anhang erscheinen dann lediglich die Parteizugehörigkeit und eine globale Funktionsbezeichnung.

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Das .problemzentrierte Interview', das sich an einem Interview-Leitfaden orientiert, entspricht den zentralen Maximen interpretativer Sozialforschung: Offenheit, Kommunikativität, Flexibilität und Reflexivität von Gegenstand und Analyse (vgl. Lamnek 1993, 61ff.).

8 Besonders erfreulich ist, daß das Textkorpus, das mir zur Verfügung gestellt wurde, nicht ausschließlich solche Exemplare enthält, die explizit für die Veröffentlichung bestimmt waren, sondern auch Konzepte und Strategiepapiere, die - wenn auch sicherlich nicht als ,geheim' einzuschätzen - doch einen tieferen Einblick in die internen Organisations- und Funktionsstrukturen politischer Parteien erlauben. Die in der linguistischen Literatur häufig geforderte empirische Validität darf vor diesem Hintergrund als hinreichend gesichert gelten.

I. Parteipolitische Konflikte im Spiegel linguistischer Forschung Meines Wissens existiert derzeit keine pragmalinguistische Arbeit, die sich dezidiert mit konfliktären Auseinandersetzungen zwischen politischen Parteien, deren kommunikationsgeschichtlichen Hintergründen sowie den sprachlichen Ausprägungen authentischer Konfliktverläufe beschäftigt. Auf der anderen Seite ist die Literatur zu allgemeineren Themen wie .Politikund Sprache', .Konflikte in Gesprächen', .Politik und Medien' etc. sehr umfangreich. Dies scheint die Konsequenz einer forschungsstrategischen Neigung zu sein, das Verhältnis zwischen Sprache und Politik, Politik und Medien sowie Medien und Öffentlichkeit immer wieder neu zu gewichten und dabei die Bedeutung einzelner Komponenten der politischen Kommunikation zu verabsolutieren.1 Entsprechende Kontroversen um die grundsätzlichen Relationen von Sprache und Politik können hier nicht weiter verfolgt werden. Für meine Zwecke mag es genügen, sich in dieser Frage auf Max Weber zu berufen, dessen Diagnose nichts an Aktualität und Treffsicherheit eingebüßt hat: Der politische Betrieb durch Parteien bedeutet eben Interessentenbetrieb [...]. Und eine Sache für Interessenten wirkungsvoll zu fähren ist das Handwerk des geschulten Advokaten. [...] Denn die heutige Politik wird nun einmal in hervorragendem Maße in der Öffentlichkeit mit den Mitteln des gesprochenen oder geschriebenen Wortes geführt. (Weber 1919/92, 31)

1. Vorüberlegungen zu Gegenstand und Methode

Da sich eine linguistische Beschreibung des politischen .Interessentenbetriebes' weder dem Verdacht der politischen Distanzlosigkeit noch dem Vorwurf der ethisch-moralischen Beckmesserei aussetzen sollte, bewegt sich diese Untersuchung auf der Grundlage einer pragmatischen Sprachauffassung. Sprachliche Äußerungseinheiten, die in einem politischen Kontext als Texte oder Dialogbeiträge realisiert werden, gelten daher als kommunikative Instrumente zur Durchsetzung politischer Interessen bzw. entsprechender Handlungsziele. Dies bedeutet keineswegs, daß einer machiavellistischen Politikauffassung das Wort geredet würde, sondern repräsentiert stattdessen die seit der .pragmatischen Wende' in der Linguistik etablierte

Je nach wissenschaftlicher Provenienz und Stoßrichtung wird beispielsweise entweder ein Primat des Sprachlichen (etwa Dieckmann 2 1975, 29) oder des Politischen (etwa Januschek 1985, 3) gefordert; Holly (1990, 19-29) bezeichnet übersteigerte Verabsolutierungen dieser Art als .Panlinguismus' bzw. .Panpolitismus'.

10 Vorstellung, nach der jeglicher kommunikativer Sprachgebrauch Handlungscharakter besitzt und sprachliche Äußerungen als Handlungen nach konventionellen Mustern beschrieben werden können und müssen. Interessen und Handlungsziele gehören danach zu den wichtigsten Kriterien der Beschreibung sprachlicher Handlungsmuster.2 Hinsichtlich seines prinzipiellen Instrumentalcharakters unterscheidet sich der Sprachgebrauch in der Politik nicht vom Sprachgebrauch in beliebigen anderen kommunikativen Praxisbereichen. Was sich allerdings tatsächlich - beispielsweise von der Alltagskommunikation - unterscheidet, sind die politikspezifischen Handlungsmuster, Strategien und Prinzipien, nach denen sprachliche Äußerungen in der politischen Praxis verwendet werden. Vor diesem Hintergrund ist jedoch auch darauf hinzuweisen, daß sich in der Sprachpraxis vielfältige Überschneidungen zwischen politischen, medialen und alltagssprachlichen Verwendungsweisen entwickelt haben. Von besonderem Interesse dürfte in diesem Zusammenhang sein, warum und auf welche Weise politische Akteure etwa alltagssprachliche Handlungsmuster adaptieren.3 Konflikte zwischen politischen Parteien bzw. deren Repräsentanten werden in der Literatur nur selten als autonomer Gegenstand reflektiert. Der parteipolitische Konflikt erscheint stattdessen etwa als Ausdruck bestimmter politischer ,Sprachstile' oder aber als poütische excellence.4 In beiden Varianten wird der jeweilige Konfliktbegriff mehr oder weniger sichtbar vom Politikverständnis der Autoren geprägt, ohne daß immer deutlich würde, ob es ihnen - nach der üblichen angelsächsischen Differenzierung des politischen Handlungsfeldes - um polities' oder .polity' geht, also „um das Spannungsverhältnis zwischen den streitigen, durch Interessenkonkurrenz geprägten politischen Prozessen auf der einen Seite und unserer politischen Wertordnimg, dem Normengefüge und dem politischinstitutionellen Regelungsinstrumentarium unserer Demokratie auf der anderen Seite" (Sarcinelli 1990, 31). In dieser Untersuchung geht es in erster Linie um polities'.

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Diese Ansicht ist nicht unumstritten. Vgl. Rolf (1993, 78f.): „Searle läßt ein vergleichsweise enges Verständnis von diesem Phänomen [.Kommunikation'; G.W.] erkennen, wenn er sagt: ,the intention to communicate is the intention to produce understanding in the hearer. ' (Searle 1991, 84) Für den Fall, daß es sich mit der Intention, etwas Bestimmtes zu kommunizieren, wirklich so verhält, für diesen Fall müßte darauf hingewiesen werden, daß von solch einer Kommunikationsintention mitsamt ihrem spezifischen Ziel unbedingt noch etwas anderes unterschieden werden muß: die Handlungsintention mitsamt dem Handlungsziel. Den letzteren aber ist zu entnehmen, warum kommuniziert wird, aus welchem Grund kommunikative Handlungen vollzogen werden (vgl. dazu Meggle 1981, 12f.)." Nicht behandelt wird „die sehr lohnende und bisher kaum beachtete Frage, ob nicht die AUtagskommunikation auch umgekehrt sehr stark von kommunikativen Formen und Praktiken institutioneller Herkunft beeinflußt wird" (Dieckmann 1981, 212). Die Theorie politischer ,Sprachstile' ist wesentlich von Dieckmann (21975 und 1981) und Bergsdorf (1983 und 1986) beeinflußt, die sich beide auf Edelman (1976) beziehen. Zur zweiten Auffassung vgl. Eroms (1995, 5): „Zu den Grundlinien der sprachlichen Konstellation im politischen Raum rechne ich den Kontroverscharakter politischer Sprache."

11 Vor allem wegen der hier nur angedeuteten Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen Politikund Sprachanalyse kristallisiert sich in der neueren Forschung ein Trend heraus, Konflikte im allgemeinen und parteipolitische Konflikte im besonderen in einer Art linguistischer Konfliktphänomenologie zu beschreiben. Die deskriptive Frage nach dem Wie konfliktärer Auseinandersetzungen in der politischen Praxis scheint die sprachkritisch deutbare Frage nach dem Warum oder Wozu in den Hintergrund zu drängen.5 Thimm beispielsweise pointiert ein entsprechendes Programm folgendermaßen: „Wie streiten sie denn überhaupt, unsere Politiker und Politikerinnen?" (1995, 73). Ihre empirische Analyse wirft allerdings die Frage auf, ob es tatsächlich ausreicht, an Einzelbeispielen etwa die Organisation des Rederechts, diverse Austragungsstrategien (Ausweichen, Diskreditieren, Durchsetzen etc.) oder differierende Referenzbereiche (private ,Person' vs. politischer .Inhalt') nachzuzeichnen. Denn was ist das spezifisch Politische an einer .Diskreditierungsstrategie', deren sprachliche Realisierung durch Handlungen nach den Mustern .Beschuldigen', .Beschimpfen', .Bespötteln', ,Beleidigen', .Lächerlich Machen', .Untergraben' oder .Patronisieren' erfolgt (1995, 78)? Alle genannten Handlungsmuster - deren Charakteristik im übrigen noch herauszuarbeiten wäre - lassen sich vermutlich in jedem Beziehungsstreit nachweisen (vgl. Schulze-Eckel 1994). Thimms „erstaunliches Ergebnis: Nicht Dispute oder konfliktäre Verhandlungen stehen im Mittelpunkt, sondern Beziehungskonflikte" (1995, 90), kann nur diejenigen überraschen, die der Meinung sind, politische Kommunikation müsse immer und überall ein Aushandeln von Sachkompromissen zum Ziel haben. Stattdessen ist davon auszugehen, daß politische Kommunikation durch ein gleichermaßen weitgespanntes wie engmaschiges Netz von Äußerungssequenzen konstituiert wird. Ein solches Konglomerat mag aus dem Blickwinkel einer deskriptiven Oberflächenanalyse in der Tat funktional heterogen wirken.6 Unter sprachspielstrategischen Gesichtspunkten aber ist es nicht weiter verwunderlich, wenn Politiker während politischer Sachauseinandersetzungen einen Beziehungskonflikt vom Zaun brechen: sie verfolgen in diesem Fall gewöhnlich das Ziel, politische Handlungsressourcen (etwa das Image der Durchsetzungsstärke) an sich zu ziehen, die sie in Nachfolgeinteraktionen im Bedarfsfall einsetzen können. Beziehungskonflikte stehen damit sehr wohl in einem engen strategischen Kohärenzverhältnis zu ,sachorientierten' Interaktionstypen wie Disputen oder Verhandlungsgesprächen. Eine Beschreibung der strategischen Einbettung bestimmter sprachlicher Handlungen im Verlauf parteipolitischer Konfliktsequenzen geht über die rein deskriptiven Fragen nach dem ,Wie' und ,Womit' politischer Kommunikation, also nach Formen der Gesprächsführung und generellen Verwendungsweisen typischer sprachlicher Handlungsmuster, hinaus. Die Fragen nach dem .Warum' und .Wozu' müssen gestellt werden, und zwar nicht nur, um einen

5 6

Vgl. etwa Schänk (1987, 18), Holly (1990, 40f.) und Lucas (1992, 27f.). Frilling (1995, 68ff.) bezeichnet - Harweg (1979, 143) modifizierend - solche Sequenzkonglomerate als .polyfunktionale Textkosmen'.

12 explikativen Anspruch der Linguistik im Bereich des politischen Sprachhandelns zu rechtfertigen, sondern auch aufgrund grundsätzlicher Erwägungen zu einer Theorie des Wissens und Verstehens: Um die sprachlichen Handlungen eines Kommunikationsteilnehmers im Zusammenhang besser zu verstehen, ist es oft notwendig zu wissen, welche Ziele er in der betreffenden Kommunikation verfolgt. Wenn man seine Ziele kennt, kann einsichtig werden, warum er an bestimmten Punkten die eine Handlung macht und nicht die andere; unter einem solchen weitergehenden Verständnis kann auch die Verträglichkeit oder Unverträglichkeit seiner Handlungen in anderem Licht erscheinen. An dieser Stelle ist der Zusammenhang von strategischen Fragen und Fragen der Kohärenz und des Verstehens besonders offensichtlich. (Fritz 1982, 56)

Ein Politiker - darin sind sich Politologen, Linguisten und politische Praktiker einig7 - muß über ein spezifisches Kommunikationswissen und ein spezifisches Strategie-Repertoire verfugen, das ihm in der politischen Praxis als Orientierungsrahmen dient und sowohl seinen Adressaten wie ihm selbst die Frage beantworten kann, ,warum er an bestimmten Punkten die eine Handlung macht und nicht die andere' (s.o.). Politische Kommunikation zu verstehen, setzt daher voraus, die politische ,Wirklichkeit' als dynamisches und zudem ,hochaggregiertes kommunikatives Handlungsspiel' (Sarchielli 1987, 69.244) zu begreifen, in dem nicht nur von Interesse ist, was sich nach deskriptiven Kriterien in authentischen Spielverläufen ereignet hat, sondern vor allem, was sich vor dem Hintergrund institutioneller Spielregeln und allgemeiner Spielroutinen alternativ hätte ereignen können. Kaum ein erwachsener Staatsbürger und Medienrezipient ist ein vollkommener politischer Laie. Vorausgesetzt, es wird „Sinnverdacht statt Unsinn" (Heringer 1982, 32) unterstellt, sollte es möglich sein, die kommunikative Phänomenologie und strategische Motivierung parteipolitischer Konflikte in einen plausiblen Beschreibungszusammenhang zu bringen. Dabei wird es weniger darauf ankommen, politisches Spezialwissen auszubreiten, als vielmehr darauf, Anknüpfungspunkte für ein allgemeines Verständnis des politischen Sprachgebrauchs herauszuarbeiten. In diesem Sinne geht es hier um Sprachkritik, denn der Sprachkritiker „soll Auge und Ohr schärfen für solche Vorgänge im politischen Leben, und er soll die Sprecher gerade darauf vorbereiten, daß verschiedene Leute Wörter verschieden verwenden, aus lebensgeschichtlichen Gründen, aus Interesse etc." (Heringer 1982, 23).

Allgemein zur politischen Kompetenzspezifik vgl. etwa Holly (1990, 45-48), zur politischen Medienkompetenz Sarchielli (1990, 48), Lucas (1992, 165f.) und Holly (1992a), zu Kompetenzunterschieden in den neuen und alten Bundesländern Lerchner (1992, 314-317) und Bresgen (1995, 293). Als politischer Praktiker schreibt Radunski (1980, 10): „Die Kenntnis der Kommunikationstechnologien und der gekonnte Umgang mit ihnen ist praktisches poütisches Tun, die Anwendung von wichtigem Handwerkszeug [...]."

13 2.

Beschreibung von Konfliktereignissen - inhaltliche Phasenstruktur und formale Gesprächsorganisation

In einer zurückliegenden linguistischen Kontroverse zwischen .Pragmatikern' und .Grammatikern' meinte ein Vertreter der letztgenannten Richtung - so referiert es Techtmeier (1996, 121) - , „daß sich die Forschungen zur Pragmatik [...] in einem Zustand befanden, der der Periode der Sammler und Jäger entspräche, während die Grammatikforschung inzwischen doch zumindest das Niveau einer höfischen Kultur erreicht habe". Dieses Urteil wird hier hingenommen, zugleich jedoch als Ansporn aufgefaßt, höfisches Licht ins pragmatische Dickicht zu bringen. Wie also, fragt sich der Sammler und Jäger, betrachtet der Fürst die Welt? Es geht in dieser Arbeit um bestimmte Segmente sprachlicher Kompetenz, und daher bietet es sich an, die heuristischen Adäquatheitskriterien von Chomsky ^ Ι θ ό ΐ ) bzw. deren Weiterentwicklung von Grewendorf/Hamm/Sternefeld ( ^ δ δ ) in Betracht zu ziehen. Chomsky geht davon aus, daß der Kompetenz von Sprechern einer Einzelsprache die Beherrschimg eines Systems von Regeln zugrundeliegt, die es in einer .korrekten Theorie' zu erfassen gelte (2l%2,49).8

Die Kriterien für eine Entscheidung über die Korrektheit bzw. Adäquatheit einer

(grammatischen) Theorie im Verhältnis zu beobachtbarem Äußerungsverhalten sind sehr streng. Man unterscheidet in Anlehnung an Chomsky allgemein: 1. Beobachtungsadäquatheit 2. Beschreibungsadäquatheit 3. Erklärungsadäquatheit Eine Grammtik ist beobachtungsadäquat, wenn ihre Regeln alle grammatischen Sätze einer Sprache und nur diese zu bilden erlauben. Eine Grammatik ist beschreibungsadäquat, wenn sie beobachtungsadäquat ist und wenn ihre Regeln den Sätzen dieser Sprache intuitiv korrekte Strukturbeschreibungen zuordnen. Eine Grammatik ist erklärungsadäquat, wenn sie beschreibungsadäquat ist und wenn sie im Einklang mit einer Theorie der Grammatik steht, die eine korrekte Hypothese über die menschliche Sprachausstattung darstellt. (Grewendorf/Hamm/Sternefeld 2 1988, 40) Nim darf man mit Searle davon ausgehen, „daß eine Sprache sprechen eine regelgeleitete Form des Verhaltens darstellt" (1969/88, 38) und daß eine pragmatische Sprachtheorie - in Abgrenzung zu grammatischen Theorien - auf .Handlungen', also letzlich soziale Phänomene abzuzielen hat (1969/88, 31). Obwohl soziale Regeln weder bezüglich ihrer Stabilität noch hinsichtlich ihrer Reichweite mit grammatischen Regeln vergleichbar sind, von einer .Gram-

Vgl. Chomsky (21962, 49): „A grammar of the language L is essentially a theory of L." Chomsky geht es dabei natürlich um die theoretische Erfassung syntaktischer Regeln für .grammatisch wohlgeformte Sätze'.

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matik' sozialer Regeln also nur unter Vorbehalten die Rede sein kann9, sollten die o.a. Adäquatheitskriterien auch an das hier vorgeschlagene Analyseverfahren angelegt werden. Allerdings sind die Kriterien angesichts des eingeschränkten Geltungsbereiches und der mangelnden Rigidität so zu reformulieren, daß die Unterschiede zwischen i.e.S. .grammatischen' und pragmatischen' Beschreibungsansprüchen nicht verwischt werden.10 Der Geltungsbereich der Analyse erstreckt sich auf das soziale und situative Handlungsumfeld der politischen Kommunikation, Universalitätsansprüche werden nicht erhoben. Eine Sprachspielanalyse erfaßt also Sätze in ihren konkreten Àußerungskonttxtcn und rekonstruiert deren Struktur vor dem Hintergrund ihrer sozialen Formengebundenheit. Daher tritt an die Stelle des Begriffes .grammatischer Satz' die den sozial-situativen Kontext berücksichtigende Bezeichnimg .Äußerungseinheit'11, anstatt von .einer Sprache' ist von ,einem kommunikativen Praxisbereich' die Rede, und .Grammatik' wird durch .kommunikatives Regelsystem' ersetzt. Diese Reformulierung dient zwei Zielen: erstens soll transparent werden, welche heuristischen Kriterien für die Beobachtung, Beschreibung und Erklärung von parteipolitischen Konflikten gelten sollen, und zweitens geht es darum, die zum Teil sehr heterogenen Ansätze der bisherigen Forschung in einen systematischen Zusammenhang zu bringen.12 Ich schlage daher folgende Adäquatheitskriterien für die kommunikative Analyse politischer Äußerungseinheiten vor: - Eine Analyse politischer Äußerungseinheiten ist beobachtungsadäquat, wenn ihre Regeln alle korrekten Äußerungseinheiten innerhalb des kommunikativen Praxisbereiches und nur diese zu bilden erlauben. - Eine Analyse politischer Äußerungseinheiten ist beschreibungsadäquat, wenn sie beobachtungsadäquat ist und wenn ihre Regeln den Äußerungseinheiten intuitiv korrekte Strukturbeschreibungen zuordnen.

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11 12

Um die Etablierung einer .Dialoggrammatik' oder .kommunikativen Grammatik' geht es z.B. Hundsnurscher (1980, 1984 und 1994), Strecker (1987) und Weigand (1989). Sehr anschaulich werden Unterschiede und Zusammenhänge sozialer und grammatischer Regeln von Grewendorf (1995, 89) am Beispiel von Wittgenstein und Chomsky dargestellt: „Chomsky geht es darum zu erklären, worauf unsere sprachlichen Fähigkeiten basieren, Wittgenstein darum zu klären, was es heißt, daß wir sie besitzen. Der vermeintlich inhaltliche Dissens zwischen zwei verschiedenen Beantwortungen derselben Frage erweist sich letztlich als ein Streit darüber, welche von zwei verschiedenen Fragen zu beantworten wichtiger und interessanter sei." Zum Begriff .Äußerungseinheit' vgl. Rolf (1993, 25). Vgl. die Bemerkung Burkhardts (1996, 83) zum .state of the art': „Der Untersuchung des Gegenstandes .politische Sprache' fehlt sowohl ein theoretischer Rahmen als auch ein umfassendes Forschungskonzept. Folglich wurde größtenteils theorielos oder mit recht unterschiedlichen Theorieansätzen gearbeitet und bei der Analyse [...] nicht systematisch genug vorgegangen. "

15 - Eine Analyse politischer Äußerungseinheiten ist erklärungsadäquat, wenn sie beschreibungsadäquat ist und wenn sie im Einklang mit der Theorie eines kommunikativen Regelsystems steht, die eine korrekte Hypothese über die Sprachkompetenz deijenigen ist, die an diesem kommunikativen Praxisbereich teilhaben. In der Zusammenfassung: Eine adäquate Analyse politischer Äußerungseinheiten umfaßt potentiell alle, nicht nur ausgewählte Sprachformen im Bereich ,des Politischen'. Der Beobachtungsrahmen ist so anzusetzen, daß der Ausschluß von ,irrelevanten' politischen Erscheinungsformen theoretisch begründet werden kann. Die Beschreibung von politischen Äußerungseinheiten muß deren Relationen und wechselseitigen Einflüsse aufzeigen, und zwar so, daß dabei sichtbar werdende Strukturen sowohl intuitiv akzeptabel als auch theoretisch homogen erscheinen. Die Erklärung der ermittelten strukturellen Zusammenhänge ist - wie auch schon zuvor die Beobachtung und Beschreibung - theorieabhängig. Eine korrekte Theorie über das im Beobachtungsfeld geltende kommunikative Regelsystem ist zumindest anzustreben, die theoretischen Vorannahmen sind offenzulegen. Programmatisch ,theoriefreie' Zugänge können nicht einmal das Kriterium der Beobachtungsadäquatheit für sich in Anspruch nehmen. Unter diesen Voraussetzungen ist zu hoffen, daß die ,grammatisch-höfische Kultur' Eingang in die Sippe der .pragmatischen Sammler und Jäger' findet. Die Beobachtung, Beschreibung und Erklärung von parteipolitischen Konflikten muß sich auf zwei linguistische Bereiche stützen, die bislang nur wenige Berührungspunkte erkennen lassen, nämlich auf die Konfliktforschung und die Erforschung der politischen Sprache' 13 . Da .Konflikte' das allgemeinere Phänomen darstellen und ,politische bzw. parteipolitische Konflikte' bereichsspezifische Charakteristika aufweisen, orientiert sich der folgende Forschungsüberblick zunächst an den Entwicklungen der neueren linguistischen Konfliktforschung. Hier ist vor allem Gruber (1996) zu nennen, an dessen Arbeit sich die Problemfelder der linguistischen Auseinandersetzung mit Konflikt- und Streitphänomenen vortrefflich aufzeigen lassen. Daher nimmt die Auseinandersetzung mit ihm in diesem Abschnitt einen erheblichen Raum ein; auf forschungsgeschichtliche Zusammenhänge wird an gegebener Stelle hingewiesen. Grubers Beobachtungsfeld ist nicht durch Kontextmerkmale bestimmter kommunikativer Praxisbereiche eingeschränkt; er geht aus heuristischen Gründen so vor, „als ob die kommunikative Struktur von Konfliktkommunikation unabhängig von den Situationsvariablen beschreibbar wäre" (1996,46), obwohl er selbstverständlich einräumt, daß .extralinguistische' Kontextfaktoren auf die Struktur von ,dissenten Sequenzen' (DS), d.h. konfliktären Gesprächs-

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Burkhardt (1996, 81) ist der Ansicht, daß diese Richtung wiederum in die Gegenstandsbereiche .Sprechen über Politik', .Politische Mediensprache' und .Politiksprache' zerfallt.

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verlaufen, gewisse Einflüsse ausüben können (ebd.). Dennoch geht er von der Hypothese aus, „daß die grundlegende DS- Struktur (Anlaß - Formulierung der konträren Standpunkte Aushandlung) prinzipiell settingunabhängig ist, da sie für die Interaktionsaufgabe ,verbale Konfliktaustragung' unbedingt notwendig ist [...]. Settingfaktoren können deshalb m.E. nur relativ geringfügige Variationen bedingen, die v.a. die Verwendung und Realisierung von Sprechhandlungen betreffen" (1996, 248f.). Tatsächlich kommt er nach der Untersuchung von drei Konfliktsituationen zum abschließenden Ergebnis, daß die inhaltliche und formale Gesprächsstrukfur gegenüber dem sozial-situativen Kontext Vorrang besitze (1996, 321); die von ihm herausgearbeiteten kontextunabhängigen Strukturtypen hätten daher generelle Geltung für Konfliktverläufe aller Art (1996, 319). Grubers Beobachtungsfeld ist abgesteckt durch die den Austragungsmodus betonende Unterscheidung zwischen dem Gesamtbereich der z.B. auch physisch austragbaren ,Konflikte'14 und dem Teilbereich der kommunikativ ausgetragenen ,dissenten Sequenzen': Ich will deshalb die sprachliche Austragung von Konflikten auch terminologisch von anderen Möglichkeiten abgrenzen und dann von dissenten Sequenzen [...] sprechen, wenn interpersonelle Konflikte kommunikativ ausgetragen werden und die Kontrahenten zumindest ihre unterschiedlichen Standpunkte dargestellt haben, so daß für sie (und eventuelle andere) ihre Position zu einem Thema klar wird. Für die kommunikative Bearbeitung solcher Sequenzen stehen zwei prinzipielle Möglichkeiten offen, nämlich die idealtypischen Pole .Argumentation' vs. ,Streit'. (1996, 56)

Diese Einschränkung auf .interpersonelle' Konflikte ist legitim, doch es soll nicht unerwähnt bleiben, daß Sozialpsychologie und Soziologie mit gutem Grund zwischen mehreren Konfliktszenarien unterscheiden: - intrapersonale Konflikte, in denen heterogene Selbsterwartungen zu einer angespannten innerpsychischen Situation führen, die nach außen hin sichtbar werden kann, aber nicht sichtbar werden muß (vgl. Mummendey, Hrsg. 1984); - interpersonale Konflikte, in denen Einzelpersonen divergierende Erwartungshaltungen zur Geltung bringen und wechselseitig durchzusetzen versuchen (vgl. Kelley 1987, Piontkowski 1988); - intra- und intergruppale Konflikte, in denen die Konfliktgegner als Einzelpersonen und als Repräsentanten ihrer Gruppe interne oder externe Geltungsansprüche vertreten und damit vorhandene Beziehungsgefüge verschieben (vgl. Turner 1987, Hardin 1995); - Konflikte in und zwischen Organsationen, in denen die Kontrahenten ausschließlich als Repräsentanten fungieren und nur solche Ansprüche geltend machen, zu denen sie durch ihre Organisation autorisiert sind (vgl. Bühl 21973, Glasl 1994, Coleman 1995 Π, Bonacker 1996).

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Der Terminus .Konflikt' wird hier verstanden im Sinne von Deutsch (1976, 18): „Ein Konflikt existiert dann, wenn nicht zu vereinbarende Handlungstendenzen aufeinanderstoßen [...]."

17 Es versteht sich, daß diese Konfliktszenarien Idealisierungen darstellen und daß in der Praxis vielfältige Übergänge und Überschneidungen existieren. Dennoch ist diese Typologie hilfreich, um hervorzuheben, daß eine Konzentration auf interpersonale Konflikte dazu führt, daß von wichtigen Konfliktaspekten wie etwa .Frustration' oder .Aggression' (intrapersonal) und ,Macht' oder ,Einfluß' (Gruppen, Organisationen) abstrahiert werden muß. Nun weist Gruber mit Recht auf das Problem hin, daß in der Sozialpsychologie, Soziologie und Linguistik eine Dichotomie motiv- und prozeßorientierter Konfliktdefinitionen erkennbar ist, je nachdem, ob es darum geht, die Ursachen oder Ausgangslagen von Konflikten zu untersuchen, oder ob der Prozeß der Konfliktaustragung selbst im Mittelpunkt steht (1996, 20). Die Gründe, weshalb seine Aufmerksamkeit weniger den Konfliktmotiven als vielmehr den Prozeßstrukturen gilt, sind gewichtig: Das Problem derartiger, rein motiv-orientierter Konfliktdefmitionen für eine linguistische Untersuchung liegt m.E. darin, daß damit jedes sprachliche Phänomen, das in irgendeiner Weise als typisch für Konfliktsequenzen gefunden wird, mit den zugrundeliegenden Motiven in Zusammenhang gebracht werden muß. Dabei kann es entweder zu banalen Lösungen kommen (d.h. jedes Phänomen wird einfach als Ausdruck einer ,konfliktären Handlungstendenz' des jeweiligen Interaktanten interpretiert), oder der Untersuchende ist mit all jenen methodischen und theoretischen Problemen konfrontiert, die bei der Zuordnung von konkreten Sprechhandlungen und zugrundeliegenden Zielen und Strategien auftreten [...]. (Gruber 1996, 20)

Es ist jedoch zu fragen, ob sich der Untersuchende von diesen Schwierigkeiten schrecken lassen darf, wenn er für seine Analyse Erklärungsadäquatheit postuliert. Denn bei einer Ausweitung des Beobachtungsfeldes erscheinen die genannten Probleme durchaus nicht unlösbar. So darf man feststellen, daß Gruber die kommunikative Vorgeschichte von Konflikten und deren kommunikatives Nachspiel nicht hinreichend berücksichtigt. Sein ,generelles Strukturmodell für dissente Sequenzen (DS)' beschränkt sich auf die Strukturen von singulären Konfliktereignissen, d.h. akuten und manifesten Konflikten: - Beginn (Anlaßphase der inhaltlichen wie der strukturellen DS, .Manifestwerden' des Konflikts) [-] - Differenzierung der Positionen (Formulierung der konträren Standpunkte bzw. Imperativ- und Appellphasen) - Konvergenz der Positionen (Aushandlungsphase) (1996, 319)

Gruber erwähnt zwar die Unterscheidung zwischen manifesten oder .ausgebrochenen' Konflikten und latenten oder ,schwelenden' Konfliktlagen (1996, 49ff.), zieht jedoch daraus keine methodologischen Konsequenzen für die Erklärung von Konfliktursachen bzw. -motiven.15 Denn eine adäquate Erklärung von Konfliktkommunikationen läßt sich nicht auf das unmittelbare Ereignis beschränken, also darauf, ereignisrelevante Informationen über das

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Vgl. dazu Apeltauer (1977, 36): „Streit entsteht entweder aus einem manifesten oder latenten Konflikt oder aufgrund eines [intrapersonalen; G.W.] kumulativen Effekts."

18 situative Setting zu sammeln (1996, 249) oder im Ereignisprotokoll sprachliche Indizien für das Vorliegen von Sprecherstrategien zu suchen (1996, 298), sondern muß darüber hinaus berücksichtigen, daß Konflikte gewöhnlich in ereignisübergreifende Interaktionsstrukturen eingebettet sind. Solche Strukturen ins Auge zu fassen bedeutet nichts anderes, als die Grenzen des singulären Konfliktereignisses zu überschreiten und dessen Vorgeschichte, Austragung und Nachspiel als kommunikationsMstorisc/ten Prozeß zu behandeln.16 Bucher (1994a, 473f.) spricht in diesem Zusammenhang von einer ,mikrostrukturellen' Betrachtungsweise, die sich auf Ereignistranskripte, also Textexemplare stützt, und einer ,makrostrakturellen' Betrachtungsweise, die sich die Rekonstruktion von bereichsspezifischen Kontexten zum Ziel setzt. Eine zusammenhängende Erklärungstheorie für Konfliktkommunikationen sollte die Dichotomie zwischen mikro- und makrostrukturellen Ansätzen überwinden und sich um Text-Kontext-Relationen kümmern. In vielen kommunikativen Praxisbereichen, und besonders im Bereich des Politischen, ist zu beobachten, daß Kontextbedingungen ihrerseits textuell fixiert sind (etwa in Geschäftsordnungen, Verfahrensvorschriften, ,story boards' etc.). In diesen Fällen lassen sich Text-Kontext-Relationen als diachrone Text-Sequenzen interpretieren, deren Kohärenzstrukturen adäquate Erklärungshypothesen für das eigentliche' Konfliktereignis liefern können. Obwohl Gruber (1996) die Grenzen seines Beobachtungsfeldes also zu eng zieht, ist sein Strukturmodell - sofern man es auf singulare Konfliktereignisse anwendet - geeignet, um den jeweils sichtbaren Ereignisverlauf so zu parzellieren, daß in dem durcheinander' authentischer Konflikte strukturelle Einheiten erkennbar werden; Gruber unterscheidet nach inhaltlichen Kriterien drei generelle Konfliktphasen: - eine Anlaßphase, in der die Interaktanten Verstöße gegen Verhaltensnormen monieren (etwa durch Vorwürfe) und sich damit gegenseitig in , Alarmbereitschaft' versetzen; diese Phase weist eine dreigliedrige Struktur auf: (unterstellter) Normenverstoß - Kritisieren des Verstoßes - Zurückweisen der Kritik. Der monierte Verstoß kann weit vor dem Konfliktereignis stattgefunden haben (1996, 87). - eine Phase der Formulierung der konträren Standpunkte, in der die Art der verwendeten Sprechhandlungen und deren Sequenzierung beispielsweise darüber entscheidet, ob der Konflikt eine eskalierende oder deeskalierende Entwicklung nimmt, eine lineare oder zirkuläre Tendenz aufweist, zu Gesprächsabbruch oder zu (partiellem) Entgegenkommen führt (1996, 327).

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Grubers diesbezüglicher Hinweis, daß man „die interaktioneile .Vorgeschichte' der Kontrahenten und die .Konfliktverarbeitung' als von der .Konfliktbearbeitung' getrennte Gesprächsaktivitäten" auffassen müsse (1996, 82 Anm. 59), kann nicht überzeugen.

19 -

eine (fakultative) Aushandlungsphase, in der der akute Konflikt formal beendet (etwa durch Themenwechsel) oder gelöst wird (durch Einigung); eine Konfliktlösung berücksichtigt nicht notwendigerweise die Standpunkte beider Parteien, sondern kann bedeuten, daß eine Partei ihren Standpunkt durchgesetzt, also gewissermaßen .gesiegt' hat. Konfliktbeendigungen schaffen einen Konflikt nicht aus der Welt, sondern ermöglichen es, ihn in unveränderter Kontrahentenkonstellation jederzeit wieder aufzunehmen (1996, 323f.) und auf diese Weise einen Dauerkonflikt zu etablieren. (Diese Beobachtung stützt die Auffassung, daß mögliche Nachfolgeinteraktionen zu einer Strukturbeschreibung dissenter Sequenzen dazugehören.)

Eine Differenzierung von zwei unterschiedlichen Verlaufstypen akuter Konflikte ergibt sich aus dem Umstand, daß sie sich in der Anlaßphase entweder an inhaltlichen oder aber an gesprächsstrukturellen Diskrepanzen zwischen den Kontrahenten entzünden können. Im ersten Fall geht es um die konträren Positionen der Gegner zum aufgeworfenen Konfliktthema (z.B. Sachfragen, Rollenbeziehungen, Gesprächsregeln), im zweiten Fall steht ein bestimmtes formales Gesprächsverhalten zur Disposition, ohne daß inhaltlich ein Dissens bestehen muß (z.B. fortdauerndes Unterbrechen oder Monologisieren). Der Verlauf inhaltlicher Konflikte wird durch Varianten des o.a. Stmkturmodells geprägt, während in gesprächsstrukturellen Konflikten die Anlaßphase und die Phase der Formulierung konträrer Standpunkte zusammenfallen. Der Grund dafür besteht darin, „daß derjenige Kontrahent, der die Gesprächsregeln nicht befolgt, durch sein Verhalten andauernd seinen Standpunkt zum Ausdruck bringt (nämlich sich nicht an die Regeln zu halten), damit gleichzeitig aber immer wieder einen Anlaß für eine neue DS liefert" (1996, 121). Die Übergänge zwischen den beiden Verlaufstypen sind fließend: Sobald ein Sprecher, der sich z.B. mit fortwährenden Unterbrechungen konfrontiert sieht, diese Regelverletzung metakommunikativ problematisiert, wird aus dem gesprächsstrukturellen ein inhaltlicher Konflikt, der dann in die Phasen der Standpunktklärung und Aushandlung eintreten kann. Umgekehrt kann ein Typenwechsel von inhaltlichem zu gesprächsstrukturellem Konflikt stattfinden, wenn sich die Kontrahenten bei der Formulierung ihrer Standpunkte - nicht selten sogar parallel zueinander - in weitschweifigen Monologen verlieren. In authentischen Konfliktverläufen ist also stets damit zu rechnen, daß Typenwechsel stattfinden, Rekurse ablaufen oder Phasen konfundiert werden. Wichtig für den Interpreten ist daher, strukturell zusammengehörige Äußerungseinheiten als solche zu erkennen und sich durch den Variationsreichtum authentischen Konfliktverhaltens nicht verwirren zu lassen. Man darf festhalten: ein kommunikativ ausgetragener Konflikt weist mindestens zwei obligatorische und damit beschreibungsrelevante Verlaufsphasen auf. Der Konfliktgegenstand muß auf dem Tisch liegen (Anlaßphase), und die Kontrahenten müssen in ihren Beiträgen erkennen lassen, daß sie gewillt sind, den eigenen Standpunkt gegen den gegnerischen durch-

20 zusetzen (Phase der Formulierung der konträren Standpunkte). Die Annahme einer potentiellen Problemlösung bzw. Konfliktbeendigung (Aushandlungsphase) ist, bezogen auf das Vorliegen eines Konfliktereignisses, lediglich fakultativ; sie dient vornehmlich heuristischen Zwecken. Wenn es etwa in .heißen' Konflikten zum Kommunikationsabbruch kommt, läßt sich vor dem Hintergrund möglicher Problemlösungen im nachhinein erklären, woran das Gespräch gescheitert ist. Selbstverständlich sind aber auch erhitzt geführte Streitgespräche, die im Abbruch enden, als Konflikte zu klassifizieren. Die Auffassung, daß jeder Konflikt in der Anlaßphase eine mindestens dreizügige Sequenzstruktur aufweist, ist nicht neu und darf als etabliert gelten. So schreiben beispielsweise Apeltauer und Rehbock (trotz unterschiedlicher theoretischer Zugänge), daß ein Konflikt - unabhängig vom Vorliegen eines konkreten Konfliktgegenstandes - von den Kontrahenten in mindestens drei Schritten konstituiert werden muß: Auf der Suche nach situativen Voraussetzungen zeigte sich, daß es zwar notwendige Bedingungen [...] gibt, aber keine hinreichenden. Auslösende Bedingungen werden offenbar immer erst durch die drei bzw. vier Anfangszüge produziert. Man kann hier mit Recht sagen, daß eine Streitsituation durch die ersten Züge erzeugt wird. (Apeltauer 1977, 35) Konflikte werden demnach konstituiert durch mindestens dreischrittige Sequenzen gegeneinander gerichteter (,konfliktärer l ) Handlungen [...]; sie sind dagegen in ihrem weiteren Verlauf nicht notwendig an konfliktäre Handlungen gebunden. (Rehbock 1987, 177 Anm. 1)

Daß die Konfliktkonstitution eine mindestens dreizügige Grundstruktur aufweist, bedeutet für den Interpreten, daß „die Analyse der Daten auch über die in der Konversationsanalyse übliche Beschränkung auf kleinste Sequenzen (Adjazenzpaare) erweitert werden muß" (Gruber 1996, 69). Diese richtige Erkenntnis scheint sich jedoch noch nicht allgemein durchgesetzt zu haben.17 Die Beschreibung von Konfliktereignissen auf der Grundlage von Sequenz- und Phasenmodellen stützt sich auf die theoretische Annahme bestimmter struktureller Zusammenhänge zwischen den kommunikativen Beiträgen der Konfliktgegner. Gruber ist der Meinung, daß neben den o.a. inhaltlichen Merkmalen die formale Gesprächsorganisation das Hauptcharakteristikum konfliktärer Gespräche sei. Durch die folgenden formalen Merkmale unterscheide sich eine dissente Sequenz von ,konsensuellen' Gesprächsverläufen (vgl. 1996, 60.328-331):

17

Bei Spiegel (1995) beispielsweise sind deutliche Relikte der Annahme von ,Adjazenz-Paaren' erkennbar: „Eine Ursache für die Entstehung von Streit hegt [...] in der Verwobenheit des Gegenüber mit der zu behandelnden Problematik. Dies hat in der Regel Sprechhandlungen wie Kritik, Vorwürfe, Schuldzuweisungen zur Folge, welche wiederum die Emotionalität der Beteiligten steigern [...]. Wird diese vom Interaktionspartner ratifiziert und gleichfalls vollzogen, so ist der Umschwung auf ein streitintensives Modalitätsniveau gesichert." (1995, 278; Hervorh. G.W.)

21 - Es findet ein Wechsel in der ,Präferenzstruktur' statt: Nicht-Übereinstimmung mit den Kontrahentenäußerungen wird zur strukturell unmarkierten und damit bevorzugten Entgegnungsoption. Die Kontrahenten nehmen gewissermaßen ,kein Blatt mehr vor den Mund'. - Es findet ein Wechsel in der ,Turn-Organisation' statt: Unterbrechungen und Simultansequenzen werden häufiger, da die Turns nicht mehr an .transition relevance places' begonnen werden, sondern sofort dann, wenn der Gegner etwas Mißliebiges äußert (.disagreement relevance places'). Die Turn-Vergaberegeln von Sacks/Schegloff/Jefferson (1974) werden systematisch verschoben. - Es tritt ein erhöhtes Ausmaß an ,formaler Kohäsion' zwischen aufeinanderfolgenden Äußerungen auf: Inhaltliche Anschlüsse an die gegnerischen und die eigenen Äußerungen werden von den Kontrahenten sprachlich besonders markiert. Obwohl es in Konflikten darum geht, unter zum Teil hoher emotionaler Beteiligung einen (maximalen) Kontrast zur gegnerischen Position herzustellen, wird dennoch von den Kontrahenten ,die Form gewahrt'. (Dies mag daran liegen, daß das Verschulden eines Gesprächsabbruches vom Gegner - oder von einem Publikum - als Eingeständnis der Niederlage gewertet werden kann.) Es ist nun zu fragen, ob der strukturelle Zusammenhalt der Äußerungseinheiten in dissenten Sequenzen tatsächlich primär durch inhaltliche und formale Bezüge gewährleistet wird. Denn sowohl in der Textlinguistik als auch in der Gesprächsanalyse darf als common sense gelten, daß sich die pragmatische .Kohärenz'18 von monologischen wie dialogischen Äußerungseinheiten in erster Linie durch die kommunikative Zielorientierung der Sprecherhandlungen bzw. den akzeptierten kommunikativen Sinn der Interaktion konstituiert.19 Grubers Beobachtung, Sprecherziele seien häufig „empirisch nicht nachweisbar" (1996, 296), spricht eher für dessen empiristisch eingeschränkten Handlungs- und Strategiebegriff als gegen das Vorhaben, Sprecherziele und Kommunikationsstrategien in eine pragmatische Analyse von Äußerungsein-

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Zum Unterschied von .Kohäsion' und .Kohärenz' vgl. Fritz (1982, 51): „Entscheidend für das Verständnis des Zusammenhangs ist also nicht das Vorhandensein von Kohäsionsmitteln, sondern die Möglichkeit, die Satzfolge nach einem bestimmten Sequenzmuster zu verstehen. Dafür spielt das gemeinsame Wissen eine grundlegende Rolle. Daß man beim Handeln nach bestimmten Sequenzmustern oft Sätze verwendet, die Kohäsionsmittel [...] enthalten, ist selbstverständlich. " Im Bereich der Textlinguistik wäre die Textdefinition von Rolf (1993, 25) zu nennen, nach der ein Text als „eine (zu Kommunikationszwecken) intentional konstituierte Folge kohärenter Außerungseinheiten" aufzufassen ist. Auch im Bereich der konversationsanalytisch ausgerichteten Gesprächsforschung wird etwa von Brinker/Sager ( 2 1996, 112) die Frage aufgeworfen, „ob beim Aufbau einer adäquaten Gesprächstypologie nicht von e i n e m übergeordneten Kriterium ausgegangen werden sollte [...]. Als Basiskriterium würde sich die soziale Funktion, der gesellschaftliche Zweck von Gesprächen anbieten".

22 heiten mileinzubeziehen. Dies gilt umso mehr, als in einer solchen Analyse angestrebt werden sollte, die Kriterien der Erklämngsadäquatheit zu erfüllen, d.h. eine korrekte Hypothese über die Sprachkompetenz deqenigen zu bilden, die an Konfliktkommunikationen teilhaben. Und eine Komponente der Sprachkompetenz von Konfliktgegnern besteht zweifellos darin, die eigenen Handlungsziele fest im Auge zu behalten und sie mit geeigneten sprachlichen Mitteln konsequent zu verfolgen.

3.

Konflikterklärung - Sprecherziele, Strategien und kommunikative Bedingungen

Der strukturelle Zusammenhalt von Konfliktkommunikationen unter dem (pragmatischen) Gesichtspunkt der Zielorientierung hängt nicht allein und nicht entscheidend von den konkreten sozialen und situativen ,Kontextbedingungen' ab, unter denen Konfliktereignisse stattfinden. Bereits die Anerkennung der doch plausiblen Annahme, daß Konflikte spezifische Formen kommunikativen Handelns' darstellen, rechtfertigt die Aufnahme der Beschreibungskategorie ,Sprecherziele' in den Instrumentenkoffer des Konfliktanalytikers. Denn obwohl Konfliktgegner „nicht zu vereinbarende Handlungstendenzen" (Deutsch 1976, 18) zum Ausdruck bringen, ist auch das Handeln in sprachlich ausgetragenen Konfliktsituationen doch stets kommunikatives Handeln, und um dessen Charakteristik zu erfassen, müssen die beiden Konzepte von sprecherorientiertem Individualhandeln einerseits und partnerorientiertem Gemeinschaftshandeln andererseits integriert werden. Der Grundgedanke ist recht einfach: Konflikte bestehen, wie andere Gespräche auch, aus Handlungssequenzen, in denen die Sprecher „gemeinsam handelnd individuelle Ziele verfolgen" (Hundsnurscher 1994, 217). Dies schließt weder aus, daß Konflikte auch konsensuell gelöst werden können (die Sprecher gelangen zu einer Zielkonvergenz), noch bleibt unberücksichtigt, daß - etwa bei einem Gesprächsabbruch oder gewaltsamen Eskalationen - die Gemeinsamkeiten jäh erlöschen können (die ursprünglichen Sprecherziele werden fürs erste aufgegeben). Doch zuvor besteht auch im heftigsten Streit noch ein Konnex zwischen den Beiträgen der Gegner - es ist die allgemein ,akzeptierte Richtung' des Gesprächs (Grice 1989, 26), die in diesem Fall schlicht darin besteht, daß man sich momentan eben streitet und daher damit zu rechnen ist, daß die Kontrahenten .persönlich werden'20: „Die Tatsache, daß ein Gespräch in jeder seiner Phasen

20

Vgl. Schulze-Eckel (1994, 156): .„Persönlich Werden / Nehmen' sind also m.E. keine Bezeichnungen für eine streitspezifische Taktik (vgl. Apeltauer 1977, 224ff.), sondern eine Umschreibung für das Streiten überhaupt. "

23 einen akzeptierten Zweck bzw. eine akzeptierte Richtung hat, hängt mit dem Umstand zusammen, daß bei den Gesprächspartnern gemeinsames Wissen darüber besteht, worauf sie sich jeweils miteinander eingelassen haben." (Rolf 1993 , 34) Unbeschadet davon werden aber in Gesprächen „zumeist verschiedene Sprecherinteressen verfolgt, zumindest aber mehrere Sprecherperspektiven zum Ausdruck gebracht" (Brinker/Sager 2 1996, 12). Die integrierte Konzeptualisierung von individuellem Handeln einerseits und Gemeinschaftshandeln andererseits spiegelt sich hier in den Beschreibungstermini kommunikative Handlung', ,Sequenz' und ,Strategie' wider; diese Begriffe werden - mit König (1989a) - in folgender Weise verwendet: H a n d l u n g e n werden allgemein als zielgerichtet, als absichtsvoll, als intentional charakterisiert (was freilich nicht mit Zweckrationalität im Sinne Webers gleichgesetzt werden darf). Als s o z i a l e s Handeln bezeichnet Weber (1964) [hier: (51976); G.W.] zielgerichtetes menschliches Verhalten, das auf andere Personen bezogen und im Ablauf an deren Verhalten orientiert ist. Handlungen, deren Erfolg vom Verhalten des Kommunikationspartners abhängt und zu deren Vollzug der Aktant an den Einsatz kommunikativer Mittel gebunden ist, bilden innerhalb der Klasse sozialen die Teilklasse k o m m u n i k a t i v e n Handelns. Von s t r a t e g i s c h e m Handeln kann gesprochen werden, wenn sich der Aktant in Verfolgung seines Ziels in einer Entscheidungssituation befindet, wenn sich ihm - wie Kohl (1986, 235) - schreibt ein .Problem der Auswahl und der Kombination von Mitteln' stellt, d.h. wenn ein problemloser Weg zur Erreichung seines Ziels nicht offensichtlich ist. (1989a, 477f.) Abb. 1: Soziales, kommunikatives und strategisches Handeln (König 1989a, 478)

Handeln soziales Handeln

kommunikatives Handeln

strategisches Handeln

24 Es gibt nach diesen Ausführungen drei beschreibungsrelevante Eigenschaften kommunikativen Handelns, die man ruhigen Gewissens als kategorial bezeichnen darf21: 1. Kommunikatives Handeln ist zielgerichtet, d.h. mit bestimmten Sprecherzielen und Erfolgserwartungen22 verbunden. 2. Kommunikatives Handeln ist adressatenorientiert, d.h. der Kommunikationserfolg hängt im Ablauf von den Folgereaktionen des oder der Adressaten ab. Dies bedeutet, daß der kommunikativ Handelnde seinem Adressaten bestimmte Erwartungsorientierungen bezüglich seines Verhaltens geben muß; er muß sich im Sinne Max Webers .sinnvoll' verhalten.23 3. Kommunikatives Handeln ist an den Einsatz kommunikativer, d.h. sprachlicher oder sonstiger semiotischer Mittel gebunden. ,Kommunikativ' werden solche Mittel dadurch, daß sie - und das ist nur scheinbar banal - verstanden werden können. Ein erfolgversprechender Einsatz sprachlicher Mittel ist aus diesem Grunde an ihren regelgerechten Gebrauch geknüpft. Mit dem Terminus Sequenz werden hier komplexe Folgen kommunikativer Handlungen bezeichnet. Man spricht von monologischen Sequenzen, wenn ein individueller Aktant in Verfolgung seines Zieles bzw. seiner Ziele mehrere kommunikative Handlungen vollzieht, die unter dem Aspekt seiner Erfolgserwartungen kohärent sind (vgl. Eigenschaft l) 24 , während von dialogischen Sequenzen die Rede ist, wenn mindestens zwei Interaktanten gegenseitig jeweils individuelle kommunikative Handlungen austauschen, und zwar unter Beachtung der

21

22

23

24

Vgl. auch Motsch/Pasch (1987, 16f.), Holly (1990, 73-80) und die Kontroverse, die nach dem Beitrag von H oily/Kühn/Püschel (1984) in der .Zeitschrift für germanistische Linguistik' entbrannte (z.B. Rolf 1987). Meggle (1981, 76f.) unterscheidet zwei Typen kommunikativer Erwartungen: „Die Erwartung von S, daß H die von S mit seinem Tun verfolgte primäre Absicht (und auch noch weitere für Kommunikationsversuche konstitutive Absichten) erkennen wird - wir nennen dies [...] die Verstehens-Erwartung von S bezüglich H. Und die Erwartung, daß H dann, wenn er die primäre Absicht von S (wie auch eventuell weitere kommunikative Absichten von diesem) erkannt hat, daraufhin auch tatsächlich das tun wird, was er (H) noch tun muß, damit der Kommunikationsversuch von S auch erfolgreich in dem Sinne ist, als H tatsächlich das tut, was er der primären Absicht von S zufolge tun soll. Wir nennen dies die Erfolgs-Erwartung von S bezüglich H." Vgl. Weber (51972, 1): „.Soziales' Handeln aber soll ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten a n d e r e r bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist. " Vgl. auch Rolf (1987, 90): „Der jeweils Handelnde muß wissen und berücksichtigen, worauf sein Handeln in den Augen seines Adressaten hinausläuft. Deshalb muß er auch damit rechnen, daß das seiner Handlung zugrundeliegende Verhalten [...] als ein (im Sinne von Max Weber) .sinnvolles' Verhalten angesehen wird, also so, als ob der Handelnde ein entsprechendes Ziel gehabt hätte." Rolf (1993, 22) spricht in diesem Zusammenhang von „pragmatischer Kohärenz" (in Abgrenzung zu Formen grammatischer und semantischer Kohärenz).

25 sozialen Gepflogenheiten,sinnvollen', d.h. verständlichen und regelgerechten Verhaltens (vgl. Eigenschaften 2 und 3).25 Daß dies auch für Konflikte gilt, verdeutlicht Heringer (1994) an einem geläufigen Beispiel: „Wenn etwa zwei miteinander argumentieren, möchte vielleicht jeder Recht behalten. Das sind entgegengesetzte Ziele. Jeder kann aber nur recht behalten, wenn er auf einer höheren Ebene kooperiert: Jeder muß verständlich reden, jeder muß beim Thema bleiben, muß auf die Argumente des anderen eingehen. Sonst kann er nie in einem echten Sinne Recht behalten, also sein eigenes Ziel gar nicht realisieren." (1994, 43) Strategien werden von Aktanten entwickelt, wenn ihre Erfolgserwartungen mutmaßlich nicht problemlos erfüllt weiden können, sondern Widerstände auf Seiten der Adressaten zu erwarten sind. Unter Rückgriff auf Annahmen über mögliche Adressatenreaktionen organisiert der Aktant in Entscheidimgssituationen den Einsatz erfolgversprechender kommunikativer Mittel. Der Terminus .Strategie' wird hier also gebraucht, wenn es um die analytische Rekonstruktion von ,Handlungsplänen' einzelner Aktanten geht, nach denen diese ihre sprachlichen Handlungen organisieren.26 Die Annahme, daß Sprecher Strategien folgen, um ihre Ziele zu erreichen, ist ein ,Interpretationskonstrukt' im Sinne Lenks (1978 und 1995), was jedoch keineswegs bedeutet, daß, wie Gruber glaubt, eine Strategieinterpretation nur „ex post und aus der Außenperspektive" (19%, 294) geschehen könne. Wie aus metakommunikativen Äußerungen von Sprechern (z.B. ,ich provoziere jetzt mal') oder etwa redecharakterisierenden Adverbialen (z.B. .offen gesagt'; vgl. Hindelang 1975, Niehüser 1987) hervorgeht, existieren im Bewußtsein authentischer Sprecher sehr wohl Alltagsmodelle von Handlungsstrategien, die bereits im Verlauf eines Gesprächs aktualisiert werden. Auch wenn es sich im Fall solcher Strategieinterpretationen weniger um langfristig konzipierte zweckrationale Kalküle, sondern eher um .Blitzinterpretationen'27 handelt, ist doch die strategische Perspektive unerläßlich, um das Funktionieren kommunikativen Handelns in der Praxis zu erklären. Dagegen spricht auch nicht, daß sich den Strategien zugrundehegende Sprecherziele im Verlauf eines Gespräches ändern können oder daß Sprecher ihre Ziele nur selten sprachlich deklarieren (vgl. König 1993). Denn auch wenn Strategien keine manifesten Spuren auf der Äußerungsebene hinterlassen, ist es unbestreitbar, daß Sprecher, um auf den Gesprächsverlauf Einfluß zu nehmen, hinsichtlich der zu verfolgenden Ziele, der Art ihrer Beiträge und der dazu verwendbaren kommunikativen Mittel Auswahlentscheidungen treffen (vgl. Heringer 1974, 185f.). Um nichts anderes aber geht es in einer spieltheoretisch fundierten Strategiebeschreibung:

25

26 27

Vgl. Wittgenstein PU § 199: „Einer Regel folgen, eine Mitteilung machen, einen Befehl geben, eine Schachpartie spielen sind Gepflogenheiten (Gebräuche, Institutionen)." Vgl. König (1989, 281), Heinemann/Viehweger (1991, 214). Diesen (mündlichen) Hinweis verdanke ich Hans Jürgen Heringer.

26 Die Beschreibung einer Strategie besteht darin, daß man angibt, welche Alternative ein Spieler in Abhängigkeit von der Wahl des anderen Spielers an jedem Entscheidungspunkt wählt. Eine mögliche Strategie von A [...] könnte man formulieren als ,a und dann, wenn c, dann f' (Fritz 1982, 58).

Ein dergestalt dynamisches Strategiekonzept berücksichtigt selbstverständlich auch die Fälle, in denen Strategien im Verlauf des Gesprächs an den jeweiligen .Spielstand' angepaßt werden (vgl. Fritz 1989); durch solche strategischen Anpassungsleistungen der Sprecher wird der anfängliche Charakter von Gesprächen u.U. fundamental verändert. Es kommt also vor, daß einzelne Strategien lediglich für bestimmte Phasen bzw. Teilsequenzen eines Gesprächs charakteristisch sind (vgl. Fritz 1982, 77).28 Kommunikatives Handeln ist, wie oben dargelegt, durch zwei Merkmale von anderen Formen sozialen Handelns unterscheidbar, nämlich daß erstens der Erfolg des Sprechers vom Verhalten anderer abhängig ist und daß zweitens der Erfolg an den Einsatz kommunikativer Mittel gebunden ist. Die kommunikatioastheoretischen Implikationen dieser Festlegung sind weitreichend. Denn aus der Perspektive des Einzelsprechers sind die notwendigen Bedingungen für erfolgreiche Kommunikation29, daß er seinen Gesprächspartner über die von ihm gehegten Erwartungen orientiert und regelgerechte sprachliche Handlungen vollzieht. Er muß davon ausgehen, daß auch der Partner seinen individuellen Erwartungen Geltung verschaffen wird und daß entsprechend ein komplexes System gegenseitiger Erwartungen entsteht, das man als sozial-situativen Kontext bezeichnen kann. Salopp formuliert: Wer von anderen etwas will, muß damit rechnen, daß er unter Bezugnahme auf seinen Kommunikationsversuch selbst auf die Erfüllung bestimmter Erwartungshaltungen festgelegt werden kann. Aus sozial-situativen Kontextbedingungen dieser Art erwachsen spezifische kommunikative 3

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82 Entsprechend den generellen Bedingungen des Gebrauchs konventioneller Kommunikationsmittel mußte die SED dafiir sorgen, daß die ideologisch fundierten Direktiven von allen Adressaten verstanden, auf eine bestimmte Weise akzeptiert und in ihrem Sinne erfolgreich ausgeführt werden konnten. Zur Verständlichkeit gehört an erster Stelle, daß der Adressat erfaßt, was eigentlich von ihm erwartet wird, was also der spezielle kommunikative Sinn der Sprachspielinitiative sein soll. ,Bindend direktiv' war eine ,Parteidirektive' der SED insofern, als erstens damit versucht wurde, die Adressaten zu veranlassen, in Zukunft bestimmte Handlungen nach dem Willen der Partei auszuführen (Bed. 1), und zweitens den Adressaten nicht freigestellt war, ob sie der Direktive Folge leisteten oder nicht (Bed. 5).34 An diese Stelle gehört ein kurzer Einschub. Denn daß hier eine Beschreibungsterminologie, die ursprünglich in Auseinandersetzung mit der sogenannten ,orthodoxen Sprechakttheorie' Searles entwickelt und dort zur Charakterisierung von Sprechakttypen gebraucht wurde, auf dialogisch konzipierte Sprachspiele übertragen wird, bedarf der Rechtfertigung: Erstens geht es in der Analyse der Sprachspielbedingungen tatsächlich um einzelne Typen von Sprechhandlungen, allerdings, und dies ist der Unterschied zu rein sprechakttheoretisch fundierten Arbeiten, werden sie im Hinblick auf ihren dialogdynamischen Zusammenhalt untersucht. Einfache und komplexe Sprechhandlungen bestimmten Typs werden von den Sprechern für die Realisierung von Zügen im Sprachspiel verwendet (vgl. S. 45f.); sie sind gewissermaßen .Figuren' im Spiel.35 Zweitens sind in einschlägigen Untersuchungen zu den Searleschen Sprechhandhingstypenbereits entsprechende Vorarbeiten geleistet worden: Zillig (1982), Rolf (1983) und Graffe (1990) etwa berücksichtigen systematisch sequentielle Aspekte der von ihnen klassifizierten Sprechhandlungsmuster und Untermuster, wodurch die pragmalinguistische Beschreibungssprache sowohl an Trennschärfe als auch an Explikationsumfang gewonnen hat. Drittens hat sich in bezug auf die methodische Behandlung auch einzelner Sprechhandlungen mittlerweile ein grundsätzlicher Perspektivenwechsel vollzogen: Der Sprechakt

34

Zur pragmatischen Charakteristik von .bindenden' und ,nicht-bindenden' direktiven Sprechhandlungen vgl. Hindelang (1978 und 2 1994). In Abbildung 6 werden in der Position des 1. Zuges parteipolitische Aufforderungs-, nicht aber V¿r¿o?íhandlungen erfaßt, die natürlich auch zu dem direktiven Sprechhandlungstypus gehören (Aufforderung, eine Handlung zu unterlassen). Eine Analyse dessen, was in der DDR verboten war, würde eine eigene Abhandlung erforderlich machen. Um zu verstehen, warum die SED so handelte, wie sie handelte, werden hier die Kommunikationsbedingungen einer in die Zukunft gerichteten, von der Partei gewollten ideologischen .Wirklichkeit' rekonstruiert. Verbote hingegen hatten in der DDR (und nicht nur dort) den Zweck, Handlungen zu sanktionieren und zukünftig zu unterbinden, die die Adressaten gegen den Willen der Verbotsinstanz in der sozialen Wirklichkeit bereits vollzogen hatten oder von sich aus vollziehen wollten (vgl. Abb. 6, Bed. 3). Das Ausreiseverbot beispielsweise wurde erlassen, weil tatsächlich Bürger ausreisten, ausreisen wollten und immer wieder entsprechende Versuche unternahmen.

35

Vgl. Wittgenstein PU § 108: „Die Frage: .Was ist eigentlich ein Wort?' ist analog der .Was ist eine Schachfigur?'"

83 wird nicht mehr als autonom zu untersuchende Individualhandlung, sondern als kommunikativer Beitrag in komplexen Interaktionzusammenhängen betrachtet.36 Und schließlich mag als Legitimation gelten, was bereits Austin erkannt hat, daß nämlich Sprechhandlungen immer in einen konkreten sozial-situativen Kontext eingebettet sind und daher keinesfalls unabhängig davon beschrieben werden können: „The total speech act in the total speech situation is the only actual phenomenon which, in the last resort, we are engaged inlucidating." (1962/72, 146) Doch zurück zur Analyse der kommunikativen Bedingungen in der DDR. Das Bedingungsschema der Parteidirektive, des wichtigsten sprachspieleröffnenden Zuges der SED, ist entscheidend dadurch geprägt, daß die Partei nicht davon ausgehen konnte, daß die Bürger von sich aus so handeln würden, wie es in der Direktive vorgesehen war (Bed. 3). Die parteipolitischen Erlasse und Verfügungen hatten einen unbedingt direktiven' Charakter.37 Dafür gab es ideologisch-machtpolitische und ,empirische' Gründe: Die SED durfte nicht allen Bürgern unterstellen, das ideologische Ziel von sich aus erreichen zu wollen, da sie auf diese Weise ihr ,verfassungsgemäß' fundiertes Wahrheits- und Machtmonopol gefährdet und letztlich ihre eigene Existenz aufs Spiel gesetzt hätte. Die Machthaber mußten schon aus Eigeninteresse von der Prämisse ausgehen, daß die Bevölkerung ohne sie kopflos und politisch handlungsunfähig sei. Zweitens gab es dafür auch handfeste empirische .Belege': Die Fünfjahrespläne, die Gesetzescharakter hatten, wurden so gut wie nie vollständig erfüllt, also mußte es weitere Anstrengungen und Anweisungen geben. Die Bürger wanderten in private Nischen ab, also mußten sie von der Partei mobilisiert werden. Und schließlich erhöhte sich in den achtziger Jahren sukzessive die Zahl der Ausreisewilligen und ,Republikflüchtlinge'. Also mußten die Machthaber an die .Menschen guten Willens' appellieren. Die politische Entmündigung der Bürger war systemimmanent und erforderte eine Massenproduktion parteipolitischer Direktiven, die mit einem unglaublichen bürokratischen Aufwand auch betrieben wurde. Die Verständlichkeitsbedingungen (Bed. 1-4) versuchte das Regime durch gebetsmühlenartige Wiederholungen zu erfüllen. SED-Kreisleiter, Brigademeister, Verbandsfijnktionäre etc. mußten in,Berichten' oder .Auswertungen' stellvertretend ,einräumen' (Handlungsoption des

36

37

Vgl. Hundsnurscher (1994): „Um der Spezifik sprachlichen Handelns in Gesprächen gerecht zu werden, kommt man nicht umhin, Dialogizität als konstitutives Moment von Sprache anzuerkennen (vgl. Weigand 1989)." .Bedingte' und .unbedingte' Direktiva unterscheiden sich folgendermaßen: Im ersten Fall will der Adressat von sich aus eine Handlung durchführen, wird jedoch durch die Direktive entweder daran gehindert (durch ein Verbot) oder angewiesen, dies in einer bestimmten Weise zu tun (durch eine Verordnung, Richtlinie, Anordnung etc.). Im zweiten Fall ist nicht anzunehmen, daß der Adressat die Handlung, zu der er veranlaßt werden soll, von sich aus reaüsieren wird. Die notwendige Voraussetzung für eine problemlose Umsetzung der angestrebten Handlung ist nicht gegeben, die Direktive ist .unbedingt'. Vgl. dazu Rolf (1993, 239).

84 2. Zuges), daß die Partei zu Recht davon ausgehe, daß die Bürger Direktiven benötigten, um im Alltag aktiv zu werden (Bed. 3; s.o.). Es verging daher kein Tag, an dem der Partei- und Staatsapparat nicht auf euphemistische Art und Weise das Bewußtsein der Bürger dafür schärfte, daß zwar schon viel geschehen sei, aber in Zukunft ,noch entschlossener' gehandelt werden müsse (vgl. Barz 1992). Diese über die Medien und die diversen ,Transmissionsriemen' der Partei verbreiteten Parolen kann man insofern als .deontische Problemdarstellung bzw. -Vertiefung' bezeichnen, als programmatische Aussagen häufig mit Hilfe deontischer Modalformen realisiert wurden (.Unsere Reisezüge müssen noch sauberer werden'; vgl. Fix 1992, 31). Einen Sonderfall stellt die sicher gezeigte, in den historischen Quellen aber kaum nachweisbare Reaktionsform des .vorauseilenden Gehorsams' dar.38 Diese Verhaltensweise mag nahelegen, daß einzelne Bürger und untergeordnete Funktionsträger des Regimes sehr wohl von sich aus systemkonform handelten. Allerdings kann darin kaum der Versuch gesehen werden, die Entscheidungsgremien der Partei an ideologischer .Korrektheit' zu übertrumpfen und gewissermaßen ,päpstlicher zu sein als der Papst'. Es ist wohl eher davon auszugehen, daß vorauseilender Gehorsam Ergebnis eines Sozialisationsprozesses war, an dessen Anfang die ,Einsicht' stand, daß die Partei tatsächlich im Besitz der .Wahrheit' sei. Diese ,Einsicht' wurde von den Machthabern intensivst gepflegt und vertieft durch eine „Ausdrucksweise der Unfehlbarkeit" (Gärtner 1992, 215). 39 Die Reaktionsformen der .Verständnis'- und .Voraussetzungsfrage' wurden in Abbildung 6 deswegen in Klammern gesetzt, weil sie offenbar in der öffentlichen Kommunikation praktisch nicht vorkamen und von den Machthabern auch nicht erwartet wurden. Fix veranschaulicht dies am Beispiel des bereits oben erwähnten Appells des ehemaligen DDRVerkehrsministers vom Januar 1988 (.Unsere Reisezüge müssen noch sauberer werden'): Meine telefonische Anfrage an den Minister, wieso eine Situation behauptet werde, die es in Wirklichkeit gar nicht gibt - jeder wußte, daß sich die Züge in einem Zustand schlimmer Verschmutzung befanden - , wurde telefonisch und schriftlich mit der Erklärung beantwortet, wieviele Anstrengungen zur Sauberkeit unternommen würden und wie schwierig das sei. Meine auf die sprachliche Demagogie zielende, mehrfach verdeutlichte Frage wurde umgangen. Es ist

38

Meuschel (1993, 13) spricht - ohne es jedoch an Quellenmaterial zu belegen - von einer „erstaunlich großen Zahl nicht nur erpreßter, sondern auch überzeugter Kollaborateure". Dieser Sachverhalt ist ein häufig behandeltes Thema in Romanen über die Stasi. Vgl. etwa Wolfgang Hilbig (,Ich\ Frankfurt/M. 1993. S. 80): „es war ein Lieblingsausdruck in der Firma: er hatte gespurt, er war gut gewesen in der Spur, ein guter Spürhund! - Wenn er seine Katastrophe also kennenlernen wollte, so mußte er künftig links und rechts von der Spur schnüffeln, nicht immer nur blind und geil in Richtung Ziel stürzen, das wollten sie sowieso nicht, sie schwatzten doch ununterbrochen von Wachsamkeit... "

39

Gärtner (1992, 215) nennt typische Beispiele dafür (i.O. kursiv): „im Vollbesitz dieser Wahrheit werden wir / so war, so ist und bleibt es / es bleibt historische Wahrheit / erneut bestätigte sich die Richtigkeit / es gibt keine Alternative..."

85 überhaupt meine Erfahrung, daß auch insistierende Nachfragen zu sprachlich unlauterem Verhalten niemals beantwortet wurden. (1992, 31f.)

Obwohl dieser subjektive Einzelbericht natürlich nicht als repräsentativ gelten kann, vermittelt er doch einen Eindruck von den gegenseitigen Erwartungshaltungen, mit denen sich politische Funktionsträger und Bürger begegneten. Die Autoritäten setzten offenbar voraus, daß Problemlagen und entsprechende Appelle verständlich seien, und die Bürger sahen keinen Sinn darin, dies durch Nachfragen in Zweifel zu ziehen. Der Grund für diese unausgesprochene Übereinkunft ist natürlich nicht allein im Sprachlichen, also der Verständlichkeit oder NichtVerständlichkeit sprachlicher Mittel, zu suchen, sondern vor allen Dingen in der Art der sozialen Beziehungen, auf denen die Parteidirektiven basierten und deren Charakter sie beeinflußten.40 Die Akzeptanzbedingungen (Bed. 5-7), die mit Sprachspielinitiativen verknüpft sind, rekurrieren generell auf die Art der sozialen Beziehungen, die Sprachspieler jeweils miteinander eingehen. Die Wirksamkeit von Parteidirektiven der SED basierte zum einen auf der Autorität, die der Partei- und Staatsapparat aus ideologischen Gründen für sich beanspruchte, und zum anderen auf der sehr realen Verfügungsgewalt über Sanktionsmittel, mit denen die Herrschaftspartei ihre Direktiven auch gegen Widerstand durchsetzen konnte (Bed. 5). Den Adressaten standen in dieser Hinsicht - neben automatischem Gehorsam - nur zwei Reaktionsformen offen, die politisch erwünscht und gestattet waren: die affirmative Bestätigung der SED-Führungsautorität und die Unterlassung aller Handlungen, die negative Sanktionen nach sich ziehen konnten. Bereits das Anzweifeln der Führungsautorität der Partei galt als strafwürdiger Taftestand, und eine offene Ablehnung der Gefolgschaft zog härteste Repressionen und Verfolgung nach sich. In jeder Hinsicht sind daher die Direktiven der SED als .bindende Aufforderungen' zu .Loyalität' und systemkonformem Verhalten zu verstehen.41 Den Adressaten einer dergestalt asymmetrischen Kommunikationsform erwuchs aus Bedingung 5 ein permanenter Zwang zur Anpassung ihres kommunikativen Verhaltens an die Partei und die Pflicht zur affirmativen .Zustimmung', fortwährenden .Bestätigung' und rituellen ,Bekräftigung' 42 der Parteiautorität: Das in jeder Gesellschaft vorhandene Bedürfiiis nach sozialem Anpassen und nach Gewinn von Sozialprestige auch durch sprachliches Anpassen [...] wurde zum Zwang, zu ständiger - auch

40

41

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Dies gilt wohl auch für Walter Ulbrichts seltsame Parole „Überholen, ohne einzuholen", die während der sechziger Jahre auf den ,Wettstreit der Systeme' gemünzt war. Vgl. Hindelang (1978, 123): „Die wesentüche Eigenschaft bindender Aufforderungen ist somit in der Tatsache zu suchen, daß Sp2 im Falle einer Nichtbefolgung zur Rechenschaft gezogen wird oder einer unmittelbaren Sanktionshandlung von Sp, ausgesetzt ist." Vgl. auch Pörn (1970, 31; Hervorh. G.W.): „Central to this theory is the idea that normative relations can be explicated in terms of exercise of power of the kind which is involved in making actions punishable. " Zur Handlungscharakteristik dieser Sprechhandlungsmuster vgl. Rolf (1983).

86 sprachlicher Demonstration der Tatsache, daß man sich als dem System Zugehöriger zu erkennen geben, daß man nicht als Abtrünniger gelten wollte. Angepaßtes sprachliches Verhalten war ein geforderter und von der Mehrheit akzeptierter und erbrachter Nachtweis für Integration in das System und für Bestätigung des Systems durch den einzelnen. [...] Ein Ausbrechen aus den vorgegebenen kommunikativen Mustern in der DDR bedeutete [...] ein Sich-Versagen im Bereich des Ideologischen. Nicht-Anpassen war gleichbedeutend damit, Abtrünniger zu sein. (Fix 1992,

9) Der strikte Akklamationszwang, der sowohl für .normale' Bürger als auch für Parteifunktionäre und Abgeordnete der Volkskammer galt (vgl. Burkhardt 1992), weist eine kommunikative Besonderheit auf: Obwohl negative Adressatenreaktionen wie Zweifel oder offener Widerspruch nicht vorgesehen waren und auch nur selten vorkamen (weshalb sie in Abb. 6 in Klammern gesetzt sind), glaubte die SED in den achtziger Jahren (aufgrund berechtigten Selbstzweifels?) vermutetem Widerspruch begegnen zu müssen, indem sie permanent ihre eigene Autorität bekräftigte und gleichzeitig durch Repressionen ein Klima der Angst schuf (3. Zug; vgl. Meuschel 1992, 19). Da die Paxteispitzen offenbar davon ausgingen - zu Recht, wie sich herausstellen sollte -, daß die Bestätigung ihrer Herrschaft durch die Bürger nicht auf der freiwilligen Zuschreibung von personalem Charisma, Sach- oder Organisationsautorität beruhe, setzte sie ganz auf die selbstreferentielle Bekräftigung ihrer Amts- und Funktionsautorität (zur Charakteristik dieser fünf Autoritätstypen vgl. S. 65f.). In Verbindung mit willkürlich scheinenden Demonstrationen ihrer Sanktionsgewalt in Form von Repressionen und Verfolgung leistete die SED damit dem entscheidenden sozialen Konflikt innerhalb der DDR der achtziger Jahre Vorschub, nämlich der Trennung zwischen der herrschenden Klasse und der beherrschten Masse: Der entscheidende Strukturkonflikt entstand - jedenfalls in der DDR - nicht zwischen Technokraten und Ideologen, obwohl erstere gerade in den Reformen der sechziger Jahre große Erwartungen setzten und in den achtzigern angesichts des Immobilismus der SED schier verzweifeln mochten. Vielmehr brachen soziale Konflikte schließlich entlang einer [...] Linie sozialer Ungleichheit auf: entlang der Linie des Antagonismus zwischen Herrschenden und Beherrschten. Sie nahmen - wie in allen Gesellschaften sowjetischen Typs - die Gestalt der Dichotomie zwischen .Gesellschaft' und .Staat', zwischen ,Sie' und .Wir' an. (Meuschel 1992, 13f.)

Es gab zwar unbestrittene ,Sach-' und .Organisationsautoritäten' wie etwa den staatlichen Devisenbeschaffer Schalck-Golodkowski, doch dessen Kompetenzen, die er während seiner ausgedehnten konspirativen Aktivitäten entfaltete, eigneten sich nicht, bei den eigenen Bürgern einefreiwilligeAnerkennung dieser hochwertigen' Autoritätsformen zu erzielen.43 Stattdessen mußten sich die Parteifunktionäre darauf beschränken, eine bieder wirkende Funktionsautorität (Honecker: „Den Sozialismus in seinem Lauf halten weder Ochs noch Esel auf") und ihre schiere Amtsautorität zu beschwören. Charismatiker gab es nur im sozialistischen (z.B. Lech

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Dies gelang Schalck-Golodkowski schon eher bei seinen westdeutschen .Verhandlungspartnern'.

87 Walesa, Andrej Sacharow, Michael Gorbatschow) oder - schlimmer noch - kapitalistischen ,Ausland' (z.B. Alexander Solschenizyn). Seit 1986 hatte die Staatssicherheit große Mühe, verbotene Sprechchöre, die vor allem von Jugendlichen während offizieller Massenkundgebungen angestimmt wurden (,Gorbi, Gorbi!'), gewaltsam zu unterdrücken. Der Staatsapparat verfolgte jedoch bei diesen allgegenwärtigen Kontrollen keine einheitliche Linie, sondern versuchte, durch Willkürakte Verwirrung zu stiften und auf diese Weise die ohnehin marginalisierten Protest- und Alternativbewegungen, die sich am Ende der siebziger und zu Beginn der achtziger Jahre gebildet hatten44, zu spalten und gegeneinander auszuspielen. Manfred Jäger (1994) gibt seinem Kapitel über den Umgang des Parteiregimes mit kritischen Kulturschaffenden in den achtziger Jahren die bezeichnende Überschrift Chaotische Kulturpolitik ohne strategisches Konzept': Es war aussichtslos, die künstlerischen Bereiche wieder ideologisch stimmig auszurichten, folglich mußte die interne Kontrolle allumfassend sein. Von Fall zu Fall konnte dann willkürlich so oder so entschieden werden, wobei die Vermeidung des öffentlichen Skandals von großer Bedeutung war. Äußerste Härte und erstaunliche Nachgiebigkeit kamen folglich zeitgleich vor, und diese Unberechenbarkeit betrachtete der Machtapparat, der immer stärker auf die Organe der Staatssicherheit angewiesen war, gerade als eine politische Stärke. Willkür, nicht Argumentation, war die Antwort auf die kulturelle Unübersichtlichkeit, auf das Chaos, dessen politische Folgen allenfalls begrenzt werden konnten. Das Arsenal wurde reich bestückt: Schweigegebote, Kontaktverbote, Zugeständnisse, die einen Preis hatten, Drohung, Verfolgung, Ausgrenzung, Entlassung aus der Staatsbürgerschaft usw. (Jäger, M. 1994, 197)

Eines muß dennoch festgehalten werden: Es herrschten nicht nur Zwang und Unterdrückung, wenn etwa die Partei die Bevölkerung zu großangelegten ,Huldigungsveranstaltungen' (Gärtner 1992, 211) mobilisierte. In kleinen biographischen Skizzen, die heute oft vorschnell als ,Ostalgie' abgetan werden, wird nicht selten eine zweite, .private' Motivebene angesprochen, die in der DDR immer jenseits von Ideologie und Repression existierte. Christoph Dieckmann, dem man keine rückwärtsgewandten Verklärungsabsichten nachsagen kann, schildert seine Ambitionen bei Massenkundgebungen folgendermaßen: Wir hatten nicht dauernd Angst. Wir feierten wirklich. Die deutsche Vereinsmeierei schuf sich ihre Anlässe: Schützenfest, Feuerwehrbälle, natürlich Fasching. Vieles war einfach menschlich, jenseits aller ideologischen Eingriffe. Auch dort, wo die Ideologie uns FDJ-Treffen und DrushbaFeste abverlangte, folgten dem offiziellen Teil fröhliche Konsequenzen. Gern verließ man die Provinz für ein Wochenende, das den Alltag unterbrach. Man schwenkte eben Fahnen und Fackeln in der Nacht und skandierte: ,D-D-R, unser Vaterland! ' Und ,Hoch - die - internationale - Solidarität!' Ach, dieser Rhythmus, diese Synkopen! (,Gorbi, Gorbi!' wurde nicht offiziell

44

Vgl. Meuschel (1992, 309): „Die Friedens-, Ökologie- und Menschenrechtsgruppen blieben bis zum Sommer 1989 weitgehend marginal, was nicht nur daran lag, daß sie sich vergleichsweise spät ausdrücklich als Opposition verstanden und der Öffentlichkeit als politische Alternative anboten. Vielmehr waren sie Teil und agierten in einer Gesellschaft, die sich ihrer kulturellen Tradition gemäß eher unpolitisch begriff und in der inneren Emigration überwinterte."

88 einstudiert.) Nach absolvierter Folgsamkeit lauschte man Rockbands, schlürfte unübüch gute Biere und kuckte nach Bräuten. (Dieckmann/Schorlemmer 2 1993, 124)

Man wird beides, erzwungene und freiwillige Anpassung, berücksichtigen müssen, um zu einem umfassenden Bild des Kommunikationsalltages in der DDR zu gelangen. Abschließende Urteile, die jeweils nur einen der genannten Aspekte verabsolutieren, sollten unter dem Vorbehalt behandelt werden, daß sie ihrerseits ideologischen Zwecken dienen könnten. Dies gilt vor allem für den Sonderfall der Kommunikation zwischen dem programmatisch säkularen Einparteienstaat und den Kirchen. Um überhaupt mit staatlichen Stellen ins Gespräch zu kommen, mußten die Kirchen die politischen Realitäten anerkennen und einräumen, daß die staatliche Autorität und Macht in den Händen der SED lag. Nur unter dieser Voraussetzung hatten die Kirchen einen gewissen Verhandlungssç>it\i2xan (vgl. Abb. 6, Bed. 5). ,Einräumen' ist eine Handlungsoption des zweiten Zuges: Man räumt etwas ein, wenn man akzeptiert oder akzeptieren muß, daß ein zuvor behaupteter oder prognostizierter Sachverhalt möglich ist und es dafür auch starke Anhaltspunkte gibt (vgl. Rolf 1983, 185f.). Etwas einzuräumen bedeutet keine Zustimmung, aber auch keine Ablehnung. Es handelt sich um ein Spiel mit Möglichkeiten, das immer dann gespielt wird, wenn klare Festlegungen einen Erfolg gefährden könnten. Dadurch, daß man dieses Risiko vermeidet, wird das Spiel zwar in die Länge gezogen, reißt aber auch nicht ab. Dieses Spiel mit den Möglichkeiten ist mühselig und wild in der Regel nur deswegen durchgehalten, weil auf beiden Seiten ein starkes Interesse an einer Fortsetzung besteht. Und dies läßt sich sowohl von den Kirchen in der DDR als auch vom SED-Regime behaupten. Die Kirchen waren die einzigen Institutionen in der DDR, die dem unmittelbaren Einfluß der Partei - wenn auch nie vollständig - entzogen und nominell autonom waren. Daher haftete ihnen „einerseits ganz überwiegend der Charakter der Stellvertretung an; andererseits bewegten sie sich, ihrer Herkunft gemäß, im religiösen Kontext" (Meuschel 1992, 310f.). Im Interesse der Kirchen lag es, beide Funktionen miteinander zu verbinden, d.h. zum einen den staatlicherseits zugestandenen Freiraum für die Religionsausübung, theologische Ausbildung und seelsorgerische Tätigkeit zu bewahren und zum anderen Alternativbewegungen und Verfolgten, die ihre Nähe suchten, Schutz zu bieten und ihnen in der innergesellschaftlichen Kommunikation eine Stimme zu geben. Diese prekäre Doppelaufgabe ließ sich allerdings nur lösen, wenn die bestehende Machtarithmetik nicht grundsätzlich in Frage gestellt wurde. Staat und Partei wiederum hatten ein Interesse daran, die Vermittlungsdienste der Kirchen nach dem do-ut-des-Prinzip für ihre eigenen Zwecke zu funktionalisieren. Ob es darum ging, die informellen Kontakte zwischen ost- und westdeutschen Kirchen zu kontrollieren, über die Auslösimg von Dissidenten durch die Bundesrepublik oder den Grenzverkehr zu verhandeln, die aktuelle Entwicklung der Friedens-, Frauen-, Umwelt- und Dritte-Welt-Bewegungen zu überwachen oder Einblicke in die internen Strukturen der kirchennahen Subkulturen zu

89 bekommen - der Staat beabsichtigte, auf Tuchfühlung bei denjenigen Gesellschaftsgruppen zu bleiben, die sich seinem Einfluß zu entziehen versuchten. Wenn von Verhandlungen' der Kirchen mit den staatlichen Organen die Rede ist, darf nicht vergessen weiden, daß sie stets ,im Zwielicht des Informellen' stattfanden und nicht etwa auf der formellen Anerkennung als gleichberechtigte Verhandlungspartner basierten, sondern von seiten der Kirchenvertreter .Beziehungsspürsinn' erforderten (Jessen 1995, 106; vgl. S. 76). Wie die heftigen Auseinandersetzungen um die Tätigkeit hoher Kirchenftinktionäre (z.B. Manfred Stolpe) nach der ,Wende' zeigen, gab es - ähnlich wie im Fall rechtsanwaltschaftlicher Vertretung gegenüber dem Staat - eine heikle Grauzone zwischen verantwortlicher Stellvertretung und schlichter Denunziation. In diesen Fällen ein eindeutiges Urteil abzugeben, fallt nicht leicht. Die Akzeptanzbedingungen 6 und 7 (vgl. Abb. 6) zielen nicht auf die soeben behandelten .schwierigen' Adressatengruppen (den Kirchen konnte die Vorstellung eines wissenschaftlichen' Wahrheitsmonopols unmöglich einleuchten), sondern auf die wissenschaftliche Intelligenz und die breite Bevölkerung. Der marxistisch-leninistisch fundierten Wissenschaft fiel die Aufgabe zu, die Agenda der weiteren gesellschaftlichen Entwicklung festzulegen und den stagnierenden gesellschaftlichen Zustand zu überwinden. Sie verstand sich zwar als politisch, aber war faktisch nicht den Beherrschten, sondern den Herrschenden verbunden, die ihren Anspruch auf Linientreue durch Mittel- und Reiseeinschränkungen, Relegation, Berufsverbote etc. gegebenenfalls durchzusetzen wußten. Meuschels (1992, 309) Einschätzung lautet entsprechend: „Die Wissenschaften fielen als analytisches Instrument und rationale Kritik des Bestehenden weitgehend aus, weil sie dessen Konstitutionsbedingungen nicht hinterfragten. " Dem Parteiregime fiel es jedoch genau aus diesem Grunde nicht schwer, vor allem seit den sechziger Jahren immer wieder die ,wissenschaftlich-technische Revolution' und die .Produktivkraft Wissenschaft' zu proklamieren sowie den .Schulterschluß' zwischen Arbeiterklasse und wissenschaftlicher Intelligenz zu demonstrieren. Interessanter ist jedoch in diesem Zusammenhang, daß die Partei zu ignorieren pflegte, daß zwischen wissenschaftlicher Beschreibung und sozialer wie ökonomischer Realität unüberbrückbare Widersprüche auftraten. Es konnte nicht sein, was aus ideologischen Gründen nicht sein durfte: Nicht ohne Ironie bezog man den Marx'sehen Satz, nach dem die Dynamik der Produktivkraftentwicklung zum Sprengsatz der überholten Produktionsverhältnisse werde, auf die staatssozialistischen Systeme. Das diktatorische Zentralplanungssystem, dessen Fortschrittsidee von der Tonnenideologie der sowjetischen Zwangsindustrialisierung geprägt war, mußte spätestens dann scheitern, als das erstrebte Weltniveau durch die postindustrielle Dienstleistungsgesellschaft definiert wurde. (Jessen 1995, 103)

Da sich der Wirtschaftszentralismus wissenschaftlich nicht überzeugend belegen ließ, verwundert es nicht, daß das Regime versuchte, zumindest den Glauben an die Leistungsfähigkeit des Systems aufrechtzuerhalten (Bed. 7). Seit ihrer Entstehung gab es in der DDR ein umfangrei-

90 ches Repertoire zur Würdigung erbrachter Leistungen und demonstrierter Leistungsbereitschaft. Orden, Geldzuweisungen, öffentliche Erwähnungen, Aufnahme in die Schautafel ,Straße der Besten' etc. sollten dafür sorgen, das .seelische Gleichgewicht' der zunehmend frustrierten Bevölkerung zu stabilisieren. Umgekehrt herrschte augenfällig allzu viel .Seelenruhe' im Arbeiter- und Bauernstaat, so daß gleichzeitig eine Destabilisierung deijenigen Bevölkerungsgruppen angestrebt wurde, die nur noch privatisierten und den rechten sozialistischen Elan vermissen ließen. Entsprechend wurden diejenigen, die ihre Planvorgaben nicht erfüllten und eine schwache Arbeitsmoral aufwiesen45, intern - aber formell - getadelt und relegiert. Formell Lob oder Tadel auszusprechen, um stabilisierend oder destabilisierend auf die psychosoziale .Gemütslage' einer Gesellschaft einzuwirken und so die allgemeine Leistungsbereitschaft zu erhöhen, sind politische Spielarten expressiver Sprachspiele (vgl. Rolf 1993, 277-288). Mit der Initiierung solcher Sprachspiele verfolgen politische Machthaber zum einen das Ziel, bestehende Problemlagen zu reduzieren, beruhigend auf die Bevölkerung einzuwirken sowie prophylaktisch Beunruhigungen vorzubeugen, und zum anderen, ansonsten unzugängliche oder apathische Gesellschaftsteile zu mehr Anteilnahme und Leistung anzustacheln. Würdigungen und Tadel von staatlicher Seite repräsentieren die emotionale Dimension der Durchsetzung von Parteidirektiven. Sie werden eingesetzt, wenn die Machthaber zur Auffassung gelangen, daß ihre Adressaten auf nur kognitiv-rationale Weise nicht mehr zum Handeln bewegt werden können. Es ist daher nicht erstaunlich, daß das Herrschaftsregime der DDR massiv auf diese expressiven Handlungsoptionen zurückgriff. In engem Zusammenhang mit dieser letzten Akzeptanzbedingung stehen die Erfolgsbedingungen für Parteidirektiven (Abb. 6, Bed. 8-9). Die zentrale Voraussetzung für Aufforderungshandlungen aller Art ist, daß der Aufgeforderte in der Lage sein muß, die geforderte Leistung auch tatsächlich zu erbringen. Zur Leistungsbereitschaft (Bed. 7) muß die Leistungsfähigkeit (Bed. 8) treten. Doch Leistungsfähigkeit läßt sich nicht dekretieren, wie sich etwa die Zustimmung für Autoritätsansprüche dekretieren läßt. Da der Parteistaat nicht in der Lage war, die ökonomischen und sozialen Rahmenbedingungen so zu gestalten, daß eine effiziente Leistungsentfaltung mögüch wurde, beschränkte er sich darauf, trotzdem erbrachte Leistungen (Bed. 9) in expressiven Sprachspielen zu würdigen und darauf zu hoffen, daß dies

45

Vgl. Meuschel (1992, 307): „Die parteipolitische Prärogative in den sozialen Subsystemen unterminierte zusammen mit deren spezifischem Sachverstand auch das Arbeitsethos der eher formal als wirksam arbeitsteilig organisierten Gesellschaft. Wer sich die in Deutschland kulturell tradierte Orientierung an sinnvoller Arbeit, an effizienter Produktivität und wissenschaftlichtechnischem Fortschritt nicht nehmen lassen wollte, stellte Ausreiseanträge, wanderte in Nischen ab, optimierte Effizienz in der Freizeit oder schlug sich mit dem Chaos der geplanten Wirtschaft engagiert herum - in der irrigen Meinung, über hinreichende Kompetenzen zu verfügen, um das System zu reformieren, sobald sich dafür eine Chance präsentierte."

91 bei Arbeitskollegen, Nachbarn, Bekannten etc. motivierend wirke. 46 Christoph Dieckmann schildert eines der bekanntesten Beispiele für die parteistaatliche Inszenierung sozialistischer Leistungsfähigkeit, den Bergmann Adolf Hennecke: Auf meinem Film war nur noch ein Bild, und das sollte Adolf Hennecke gehören. Der Bergmann Hennecke hatte es am 13. Oktober 1948 im Karl-Liebknecht-Schacht in Oelsnitz fertiggebracht, seine tägliche Norm als Steinkohle-Häuer mit 387 Prozent zu erfüllen, mit kräftiger Vorbereitung und Zuarbeit, aber immerhin. Die Propaganda machte ihn zum Vater der Aktivisten-Bewegung, die der sowjetischen Stachanow-Bewegung der dreißiger Jahre nachgebildet wurde. Ich weiß nicht, ob Hennecke nach seiner vaterländischen Tat noch übermäßig arbeiten mußte. ,Hennecke, Hennecke, schnell, schnell, schnell!' wurde jedenfalls zum geflügelten Wort. [...] Ich schlüpfte durch die Sicherheit und forschte von unten die Tribüne ab, bis ich einen kleinen, dünnen Greis in schwarzer Bergmannsuniform fand. Er lehnte weit über der Brüstung, denn vor lauter Orden war er schwer buglastig. .Sind Sie Herr Hennecke?' fragte ich scheu hinauf. Er neigte sich erfreut: .Herr? Herr? Denn Herrn habe ich 1945 im Kleiderschrank gelassen, als wir die Herren davongejagt haben. Jawohl, ich bin der Genösse Hennecke.' (Dieckmann/Schorlemmer 21993, 23)

Destabilisierende Spielarten expressiver Spiele wie Spott über die produzierten Wirtschaftsgüter oder Schimpfreden über mangelnde Kompetenzen wurden vom Parteiregime nicht verwendet47; sie hätten nicht nur der Ideologie des Arbeiter- und Bauernstaates widersprochen, sondern wären auch auf die Machthaber selbst zurückgefallen und hätten ihren Führungsanspruch unterminiert. Diejenigen, auf deren Rücken man eine Herrschaft aufbaut, sollte man nicht über einen längeren Zeitraum beschimpfen. Es galt auch in der DDR, was oben (S. 63f.) als basale Voraussetzung für die Anerkennung von Autorität behandelt wurde: ,Wir wollen von denen, die wir besonders anerkennen, besonders anerkannt werden.' Und schließlich: Gab es für die Bürger die Möglichkeit, das Sprachspiel,Parteidirektive' schlichtweg zu .übergehen' (vgl. Abb. 6), also gewissermaßen ihre Parteiverdrossenheit zu demonstrieren? Solche (Nicht-)Reaktionen - etwa in Form von Flucht oder Abtauchen in jugendliche Subkulturen (ab Mitte der achtziger Jahre traten auf dem Prenzlauer Berg Punker in Erscheinung) - wurden vom Regime strenger geahndet als partieller Widerspruch aus den eigenen Reihen oder aus offiziellen Kirchenkreisen. Diejenigen, die selbst Ausreiseanträge stellten oder auch nur mit .Republikflüchtlingen' verwandt oder befreundet waren, wurden sozial ausgegrenzt, schikaniert oder inhaftiert. Sie galten als staatsgefährdende .Provokateure'

46

Vgl. Lerchner (1992, 313): „Liest man heute z.B. die routinemäßig in regelmäßigen Abständen abgeforderten .Beurteilungen' jedes Werktätigen (etwa zum Zwecke der Gewährung von Prämien oder Sozialleistungen), so waren die also .Eingeschätzten' nahezu ausnahmslos nationalpreisverdächtig und die glühendsten Soziaüsten - die situativen Spielregeln wollten es so, und keiner, auch keiner der .Oberen', hat dergleichen wörtlich als Faktum genommen."

47

Dies besorgten schließlich - wenn auch manchmal mit wehmütigem Unterton - bereits die .Republikflüchtlinge' im Westen.

92 (später - aus Not in milderem Ton - als ,Opfer einer großangelegten Provokation').48 Doch auch die mit der Bildung von , Jugendszenen' und alternativen Milieus verbundende Phiralisierung der Lebensstile bedeutete für den Zentralstaat eine existentielle Gefahr. Denn von den Jugendlichen, die sich aus dem sozialistischen Alltag verabschiedeten, ging eine „Konfliktkultur des öffentlichen Debattierens, Streitens und Demonstrierens aus, mit der sie sich sowohl gegen die systemfügsame politische Anpassungskultur der herrschenden Aulbaugeneration als auch gegen die Rückzüge in politische Passivität, Nörgelei und kompensatorischen Konsum wandten" (Rytlewski 1992, 7). Nichts anderes aber taten ihre Altersgenossen im Westen auch. Als dementsprechend gefahrlich beurteilten die Machthaber z.B. das Bedürfnis der Jugend, die Musik des ,Klassenfeindes' zu hören: Die Massenkultur, besonders Rock und Pop, im Griff zu behalten, kostete größere Anstrengungen. Als zu Pfingsten 1987 mehrere tausend Jugendliche von Ost-Berlin aus (in der Nähe des Brandenburger Tor stehend) einem vor dem Reichstag jenseits der Mauer stattfindenden mehrtägigen Open-Air-Rockfestival zuhören wollten, griff die Polizei ein und nahm .auffällige Personen' fest, nachdem die Sicherheitsorgane sich an den ersten beiden Abenden aufs Beobachten beschränkt hatten. Vermutlich fühlten sie sich durch Rufe wie ,Die Mauer muß weg' und .Gorbatschow, Gorbatschow' besonders herausgefordert. (Jäger, M. 1994, 245) Wie schwer sich die Partei- und Staatsführung tat, mit der durch die West-Medien einsickernden Massenkultur umzugehen, und wie unbeholfen die ,Jugendexperten' der Nomenklatur diese Bewegung zu kanalisieren versuchten, dokumentieren Auszüge aus einem Brief, den Egon Krenz, der ,berufsjugendliche' Erste Sekretär der FDJ, am 12. Oktober 1987 an Erich Honecker schrieb, nachdem Udo Lindenberg versucht hatte, eine Erlaubnis für Rockkonzerte in der DDR zu bekommen (zit. nach Deutz-Schroeder/Staadt, Hrsg. 1994, 96f.): Lieber Genösse Erich Honecker! Zu dem mir von Dir übergebenen Brief von Udo Lindenberg möchte ich folgende Gedanken vortragen: 1. Was spricht für einen Auftritt von Udo Lindenberg in Berlin und Dresden? [...] - Mit dem Konzert würde unterstrichen, was Du in einem Brief an Lindenberg geschrieben hast: ,Die DDR ist nicht nur ein jugendfreundliches, sondern auch ein rockfreundliches Land.' Es könnte ein Schlußpunkt unter die ewigen Bemühungen Lindenbergs gesetzt werden, auszuprobieren, ob er in der DDR ein Freiluftkonzert bekommt oder nicht. 2. Was spricht gegen Freiluftkonzerte Udo Lindenbergs in der DDR? [...] - Ein Konzert unter dem Motto .Gitarren statt Knarren - für eine atomwaffenfreie Welt im Jahre 2000' würde im FDJ-Aktiv und vor allem auch unter jungen Soldaten viele Fragen auslösen. Auch kann man die inhaltliche Nähe zu dem Motto .Schwerter zu Pflugscharen' nicht übersehen. Selbst bei bester ideologischer Vorbereitung erhielte die FDJ viele Fragen von nicht mehr jungen Bürgern, wozu eine solche Veranstaltung notwendig ist.

48

Vgl. die Erklärung des Politbüros der SED zum Flüchtlingsproblem in .Neues Deutschland' vom 12. Oktober 1989: „Viele von denen, die unserer Republik in den letzten Monaten den Rücken gekehrt haben, wurden Opfer einer großangelegten Provokation. Wiederum bestätigt sich, daß sich der Imperialismus der BRD mit einem soziaüstischen Staat auf deutschem Boden niemals abfinden wird, Verträge bricht und das Völkerrecht mißachtet."

93 - Das Lindenberg-Repertoire ist politisch sehr widersprüchlich. Selbst wenn wir über die pazifistischen Aussagen hinwegsehen würden und kompromißbereit wären, ist nicht auszuschließen, daß er auch Lieder singt, die sich gegen die DDR richten und die .gesamtdeutsche Tendenzen' haben, z.B. ,Rock "n Roll-Arena in Jena' und .Mädchen in Ostberlin'. In zwei Liedern kommen auch Zeilen über die Mauer vor, ,die auch noch weg muß'. Auch wird von .Minenfeldern' geredet, die man überwinden muß, wenn man in die DDR will. Selbst wenn man sich mit Lindenberg einigen kann, daß er diese Lieder nicht singt, ist dies aufgrund seiner Unberechenbarkeit keine Garantie. Hinzu kommt, daß bei 100 000 und mehr Zuschauern nicht ausgeschlossen werden kann, daß kleine Gruppen nach Titeln rufen, die er dann singt. - Die jetzt vorgeschlagenen Termine sind für die FDJ äußerst ungünstig. Am 31. Oktober 1987 findet in Berlin am Leninplatz die zentrale Manifestation der FDJ zum 70. Jahrestag der Oktoberrevolution statt. [...]" Ob die breite Bevölkerung die Möglichkeit besaß, die Direktiven des Regimes zu .umgehen', läßt sich nicht klar mit ja oder nein beantworten. Als gesichert darf aber gelten, daß diejenigen, die sich durch Flucht oder den Rückzug in alternative Milieus den Sprachspielen des Partei- und Staatsapparates entzogen, entscheidend dazu beitragen, daß die Führungsautorität der Parteispitze und mit ihr die Durchsetzbarkeit ideologischer Direktiven allmählich erodierten. Im Sommer 1989 wurde „Emigration erstmals als Zeichen der Auflehnung begriffen, ein Verständnis, das den Oppositionsgruppen jahrelang verweigert wurde" (Meuschel 1992, 309). Als Massenemigration und Massendemonstrationen eine revolutionäre Dynamik bekamen, zeigte sich zwar, daß das Regime dem Widerspruch der Bevölkerung kommunikativ in keiner Hinsicht gewachsen war (Mielke am 13. November vor der Volkskammer: „Ich liebe doch alle Menschen..."), es offenbarte sich aber auch, daß Widerspruch und Verweigerung allein noch keine eigene politische Perspektive und - zumindest auf der Straße - keine neuen Sprachspielformen entstehen ließen: Unter den Trägern der Massenbewegung [...], unter den Bürgern selbst, verloren viele die Überzeugung, ihre Gesellschaft aus eigener Kraft aus der Krise führen zu können, als die Öffnung der Mauer die Diskrepanz zwischen DDR und Bundesrepublik drastisch vor Augen führte. Zu dem selbstbewußten ,Wir sind das Volk' kam der Appell ,Wir sind ein Volk', der schließlich dominant wurde. Das vermeintlich einige Volk der Deutschen offenbarte sich bereits auf dem Boden der DDR verfeindet. Die Gegner der Einheit und jene, die zögerten, wurden niedergeschrien; die zuvor friedlichen Kundgebungen nahmen einen äußerst aggressiven Charakter an. (Meuschel 1992, 321) Gibt es standardisierte Handlungsmuster, an denen sich die Spieler zur Lösung dieser Probleme orientieren können? Gibt es strategische Varianten? Wie werden die Muster sprachlich realisiert? Bislang ging es ausschließlich um die Rekonstruktion der kommunikativen,Makrostrukturen des zentralen Sprachspiels in der DDR, der autoritären Durchsetzung von Parteidirektiven. Die Analyse der kommunikativen Bedingungen des Haupteröffnungszuges der SED hat gezeigt, daß zur Erfüllung der einzelnen Verständlichkeits-, Akzeptanz- und Erfolgsbedingun-

94 gen eine Reihe von verwandten oder ,familienähnlichen' Sprachspielen49 gespielt wurden. Die Einzelspiele dieser komplexen ,Sprachspielfamilie' waren insofern miteinander .verwandt', als sie in bezug auf den Witz des zentralen Sprachspiels, nämlich die ideologische Gesellschaftsutopie durch autoritätsgestützte Parteidirektiven an die Bürger in systemkonformes Handeln umzusetzen, jeweils eine dienende Funktion erfüllten. Wie herausgearbeitet wurde, hatten die Spiele durchaus eine unterschiedliche funktionale Charakteristik. Auf ,direktive' Spielzüge der Partei (1. Zug) folgten .affirmative' Reaktionen der Bevölkerung (2. Zug) und gegebenenfalls ,expressive' Stützhandlungen der Partei (3. Zug). Alle genannten Zugoptionen expandierten in der Kommunikationspraxis der DDR zu eigenständigen Sprachspielformen (etwa das umfassende System parteistaatlicher ,Würdigungen'). Doch trotz ihrer scheinbaren funktionalen Heterogenität existierten zwischen diesen Sprachspielen strukturelle Zusammenhänge; eine kommunikative Bedingungsanalyse ermöglichte es, diese Zusammenhänge offenzulegen und die Spiele hinsichtlich ihres ,Verwandtheitsgrades' zu klassifizieren. Nun müßte eine umfassende Analyse derjenigen Handlungsoptionen folgen, die jeweils einem Akteur bzw. einer Gruppe von Akteuren in den Sprachspielen der öffentlich-politischen Kommunikation in der DDR zur Verfügung standen. Vor dem Hintergrund einer .Familien'Typologie verwandter Sprachspielformen wäre anzustreben, die Spielzüge der Akteure, die Dialogaufgaben, die sie mit ihren Zügen zu lösen beabsichtigten, sowie die kommunikativen Handlungsmuster, die sie in der öffentlich-politischen Kommunikationspraxis als ,Standardlösungen' gebrauchten, hinsichtlich ihrer Realisierungsmöglichkeiten und Gebrauchsregularitäten im Sprachspielverlauf systematisch zu beschreiben. Eine solche mikrostrukturelle Textanalyse (vgl. S. 52fif.) aus der Perspektive einer einzelnen Gruppe von Akteuren kann hier aus einem einfachen Grund nicht umfassend durchgeführt werden: Die Kommunikationsgeschichte der DDR ist nicht das Hauptthema dieser Studie, sondern es sollen diejenigen soziokulturellen Rahmenbedingungen der politischen Kommunikation beleuchtet werden, die den öffentlich-politischen Sprachgebrauch der DDR-Bürger beeinflußt haben und mutmaßlich den Sprachgebrauch ostdeutscher Politiker noch heute beeinflussen. Um dennoch zu demonstrieren, wie eine sprachspieltheoretisch fundierte Textanalyse funktioniert, werden im folgenden .Losungen' und ,Demo-Sprüche' vor und während der Ereignisse im Herbst 1989 betrachtet. Dies geschieht nicht, weil diese Textformen noch nicht Gegenstand linguistischer Untersuchungen gewesen wären (vgl. Fix 1990 und 1994, Reiher 1992, Fraas/Steyer 1992),

49

Vgl. Wittgenstein PU § 66f.: „Wir sehen ein kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten, die einander übergreifen und kreuzen. Ähnlichkeiten im Großen und Kleinen. [...] Ich kann diese Ähnlichkeiten nicht besser charakterisieren als durch das Wort .Familienähnlichkeiten'; denn so übergreifen und kreuzen sich die verschiedenen Ähnlichkeiten, die zwischen den Gliedern einer Familie bestehen: Wuchs, Gesichtszüge, Augenfarbe, Gang, Temperament etc. etc. - Und ich werde sagen: die .Spiele' bilden eine Familie."

95 sondern deswegen, weil deren Einbettung in sequentiell organisierte Kommunikationszusammenhänge bislang nicht hinreichend berücksichtigt wurde. Es war bereits davon die Rede, daß die SED alle Sprachspiele innerhalb der öffentlichpolitischen Kommunikation der DDR eröffnete und kontrollierte. Fix (1992, 7) formuliert diesen Sachverhalt folgendermaßen: Hauptmerkmal des Sprachzustandes der DDR in ihrer letzten Phase ist nach meinen Beobachtungen die ausgedehnte Schabionisierung und Ritualisierung des Sprachgebrauchs und des kommunikativen Verhaltens in der Öffentlichkeit. Das ist eingebettet (sie!) in eine streng asymmetrisch fixierte Kommunikationssituation, wie man sie in der DDR vorfand. Da alles - Politik, Wirtschaft, Bildung, Kultur - von oben geregelt war, war zwangsläufig auch der Ablauf offizieller kommunikativer Prozesse von oben bestimmt [...]. Wie dies konkret aussah, läßt sich besonders gut an ,Losungen' demonstrieren, die offenbar die bevorzugte Ausdmcksform für parteistaatliche Direktiven darstellten, und zwar sowohl im Rahmen parteistaatlich organisierter Massenkundgebungen als auch in sonstigen öffentlichen Verlautbarungen des Regimes.50 Das in der DDR einschlägige .Handwörterbuch der deutschen Gegenwartssprache' (HWDG) beschreibt die Textform ,Losung' als einen „kurz und einprägsam formulierten, mobilisierenden (politischen) Leitsatz, Aufruf, in dem ein aktuelles gesellschaftliches Anliegen ausgedrückt wird" (HWDG 1984, 746; Hervorh. G.W.). Wenn also z.B. am 1. Mai - im Arbeiter- und Bauernstaat traditionell ein Anlaß für eine umfassende Mobilisierung der Massen'51 - Textexemplare wie: Durch die Verwirklichung der ökonomischen Strategie zu hoher Arbeitsproduktivität und Qualität! (Spruchband, 1. Mai 1989) Dynamisches Wirtschaftswachstum durch breite Anwendung und effektive Nutzung der Schlüsseltechnologien! (Spruchband, 1. Mai 1989) per Transparent, Plakat oder Spruchband verbreitet wurden, dann gab es in der Bevölkerung über deren funktionalen Charakter keinerlei Zweifel: trotz ihres vagen Inhalts und ihrer elliptischen Form wurden solche Losungen eindeutig als ,Direktiven' verstanden: In der Kommunikationsgeschichte der DDR sind Losungen öffentliche Aufrufe mit der dominierenden Sprachhandlung AUFFORDERN. Ihr Inhalt ist politischer Art. Es handelt sich in der Regel um Ein-Satz-Texte, in wenigen Fällen auch um kurze Mehr-Satz-Texte, oft elliptisch realisiert. Satzzeichen wie Gedankenstriche, Ausrufezeichen spielen eine wichtige Rohe für die .Spruchband-Syntax' dieser Texte [...]. Der Wortschatz enthält Schlagwörter und [...] .traditionell hochaggregieite Symbole'. Der Wortschatz ist üblicherweise hochsprachlich. (Fix 1990, 336)

50

51

Vgl. Fix (1992, 180): „Die Losungen verkörpern in konzentrierter Form ganz typische Struktureigenschaften von DDR-Pohtikerreden. Diese teils ritualisierten Muster prägten fast alle öffentlichen Äußerungen der Regierenden in der DDR vor der Wende." Vgl. Fraas/Steyer (1992, 178): „So kann man die Mai-Losungen vor der Wende als Prototyp einer spezifischen Art sprachlicher Präsentation der politischen Macht in der DDR ansehen. "

96 Die Entstehungsgeschichte solcher Losungen ermöglicht Einblicke in die Prinzipien und Funktionsmechanismen, nach denen öffentlich-politische Sprachspiele in der DDR gespielt wurde. Losungen wurden im Vorfeld von Massenkundgebungen in der Abteilung .Agitation' des Zentralkomitees der SED konzipiert und Wochen vor dem Ereignis in den Presseorganen der Partei als offizielle .Losungen des Zentralkomitees der SED zum 1. Mai' publiziert (hier: .Neues Deutschland' vom 6. April 1989). Anschließend wurden entsprechende Fahnen, Transparente und Spruchbänder von der .Deutschen Werbeagentur' (DEWAG) verfertigt und in den Kollektiven verteilt. Die Verwendimg nicht-offizieller Losungen war strikt untersagt und wurde strafrechtlich geahndet, wie etwa die gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen .einer kleinen Gruppe bestellter Provokateure' und den .Staatsorganen' während der offiziellen Gedenkfeier für Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg im Januar 1988 belegen.52 Das .Trägerpersonal' für die vorgefertigten SED-Losungen wurde von den Kollektiven und staatlichen Organisationen gestellt: Das Erscheinen zu solchen Massenkundgebungen war .freiwillige Pflicht'. (Auch das gehörte zu den Sprachschrauben dieses Landes.) Am Stellplatz gesehen werden war alles. ,Ja nicht negativ auffallen', hieß die allgemeine Lebensmaxime. (Dieckmann/Schorlemmer 1993, 162)

Aufgrund der herrschenden autoritären Machtverhältnisse hatte die alljährliche Folge von Massenkundgebungen die Struktur einer kommunikativen Endlos-Spirale, die sich um zwei Typen von Losungen drehte. Auf der Grundlage der oben herausgearbeiteten sequentiellen Positionen im Sprachspiel (vgl. Abb. 6) muß nämlich zwischen solchen Losungen unterschieden werden, die den .direktiven' Charakter von Parteierlassen trugen (1. Zug), und solchen, mit denen die ,affirmativen' Reaktionen der Bevölkerung zum Ausdruck gebracht wurden (2. Zug). Beispiele für ,direktive Losungen' sind etwa: Sportlerinnen und Sportler! Strebt nach hohen Leistungen in der , Sportstafette DDR 40 '! (Spruchband, 1. Mai 1989) Jugendliche! Mit hohen Leistungen im ,FDJ-Aufgebot DDR 40' - Vorwärts zum ,Pfingsttreffen der FDJ'! (Spruchband, 1. Mai 1989)

Die angesprochenen Gruppen interpretierten diese Losungen nicht etwa nur als Ermunterung oder Einladung von Seiten der Partei, sondern verstanden sie so, wie sie auch gemeint waren, nämlich als bindende Verpflichtung, den Direktiven nachzukommen. Vorwärts zum ,Pfingst-

52

Doit wurden ungenehmigte Transparente getragen, auf denen u.a. Rosa Luxemburg selbst zitiert wurde: Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden. Manfred Philipp vom VEB Emaillierwerk Geithain schreibt dazu am 2. Februar 1988 in einem Leserbrief an das ,Neue Deutschland' (zit. nach Dieckmann/Schorlemmer 1993, 162): „Nie werden wir es gestatten und ungestraft dulden, daß durch solche Elemente unser gutes Haus, die DDR, auf die wir stolz sind, besudelt wird. Wir stehen hinter den Maßnahmen unserer Staatsorgane. Unsere Antwort darauf ist: erfüllte und übererfüllte Pläne. "

97 treffen der FDJ'l hieß, daß die Mitglieder der FDJ sich dort auch tatsächlich einzufinden hatten. Neben direktiven Losungen wurden auf Massenkundgebungen stets auch .affirmative Losungen' präsentiert, deren Kommunikationsrichtung ,νοη unten nach oben' verlief. Beispiele fur Formulierungen, die die Perspektive der Bevölkerung markieren, sind etwa: Mein Arbeitsplatz - mein Kampfplatz flir den Frieden (Einzeltransparent, 1. Mai 1989) DDR - Meine Heimstatt för Freiheit, Demokratie und Menschenrechte! (Spruchband, 1. Mai 1988) Meinem Friedensstaat - meine Friedenstat! (Einzeltransparent, 1. Mai 1987)

Für Losungen dieses Typs ließen sich unzählige weitere Beispiele anfuhren. Ihre kommunikative Funktion war aus sprachspielanalytischem Bückwinkel stets die gleiche: Es ging darum, daß die Bevölkerung öffentlich demonstrierte, daß sie die Akzeptanz- und Erfolgsbedingungen für das planerische und direktive Handeln der Partei als erfüllt ansah. Die dazu verwendeten Handlungsmuster .Zustimmen', .Bestätigen' und .Bekräftigen' (vgl. Abb. 6; Bed. 5-9, 2. Zug) waren allesamt affirmativ, d.h. es handelte sich um Reaktionsformen auf zuvor von der Partei ausgegebene Losungen, mit denen die Bevölkerung ihre diesbezüglichen .epistemisch-doxastische Haltungen' wie Überzeugung, Glauben oder Gewißheit zum Ausdruck bringen sollte (vgl. Rolf 1983, 176-180.205-207). Besonders signifikantes Beispiel für die Bekräftigung der ideologischen Führungsanspruch der Partei (vgl. Abb. 6, Bed. 6): Die Lehre von Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist (1. Mai 1989). In der Medienberichterstattung, die - von der SED vollkommen kontrolliert - im Anschluß an solche Großkundgebungen einsetzte, waren dann wieder die Machthaber am Zuge: Die medial aufbereitete Wiederholung direktiver und affirmativer Losungen, die selbstreferentielle Bekräftigung eigener Autorität, Kompetenz und Entschlossenheit und schließlich die expressive Würdigung der von der Bevölkerung bewiesenen Loyalität' (Bed. 5-9; 3. Zug) rundeten die propagandistische Inszenierung ab. Die Partei sah sich bestätigt, die Bürger hatten wieder ihre Ruhe, und die kommunikative Endlos-Spirale hatte sich eine Windung weiter geschraubt. Der Einparteienstaat erwartete von seinen Bürgern also nicht nur Gehorsam, sondern die Bevölkerung sollte auch demonstrieren, daß sie bereit war, „die Behauptung der Parteispitze zu akzeptieren, daß der Sozialismus in der DDR zu seiner Höchstform gefunden habe [...] und daher Kontinuität zu walten habe" (Meuschel 1992, 304). Daß Kontinuität waltete, dafür sorgten die Machthaber selbst, und zwar in erster Linie dadurch, daß sie den öffentlichpolitischen Sprachgebrauch vollkommen reglementierten.53 Alle ,Losungen' wurden von der

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Die hier besprochenen .Losungen' sind dafür nur ein besonders prominentes Beispiel. Vgl. etwa Thierse (1992) zur Sprachregelung in den DDR-Medien; Thierse zitiert einige .Presseanweisungen' (PA) des .Presseamts des Ministerrats der DDR', an die sich alle

98 Partei konzipiert, textualisiert und audio-visuell aufgemacht, d.h. die SED artikulierte durch den Gebrauch ,direktiver' Losungen ihren politischen Willen und spendete sich selbst dafür Beifall, indem sie von der Bevölkerung .affirmative' Losungen umhertragen ließ. Bis zum Sommer 1989, als sich die Bürger dieser Entmündigung massenhaft durch Flucht entzogen und sich eine Gegenöffentlichkeit zu formieren begann, war in der DDR faktisch außer Kraft gesetzt, was Luhmann für ein ehernes Gesetz in organisierten Machtbeziehungen hält, nämlich daß Macht Gegenmacht erzeugt ^1988, 108). Eine strategische Variante dieser kommunikativen Handlungssequenz .Direktive - Affirmation' bestand darin, daß die Parteispitzen das ,direktive' Sprachspiel zu einem .expressiven' umdeklarierten: Den Bürgern war darin die Rolle von Bittstellern zugedacht, die der politischen Führung für die Erfüllung unterstellter Bitten berechtigten Dank' aussprachen. So konnte man 1985 im Berliner Neubaugebiet ,Thälmannpark' folgendes Spruchband lesen (Photodokument in Dieckmann/Schorlemmer 1993 , 72): Dank dem ZK der SED und seinem Generalsekretär fiir die gute, auf das Wohl des Volkes und den Frieden gerichtete Politik!

Eine kleine autobiographische Skizze von Christoph Dieckmann legt nahe, daß die Mächtigen großen Wert darauf legten, daß expressive Handlungsmuster wie ,Dank' oder ,Lob' der Bevölkerung bereits früh erlernt und in den staatlichen Erziehungsinstitutionen systematisch eingeübt wurden: Am frühen Vormittag des 1. Mai 1989 schaltete meine kleine Tochter den Fernseher ein. Augenblickliche Begeisterung: ,Mein liebster Erich Honecker!' Ja richtig, Maiumzug. ,Der Erich Honecker', erfuhr ich, ,ist der beste Mann, den ich kenne'. Das kam vom Kindergarten. (Dieckmann/Schorlemmer 1993, 124)

Die SED präsupponierte offenbar, daß die Bevölkerung in ihrer politischen Unmündigkeit (vgl. Abb. 6, Bed. 3) unausgesprochene .asymmetrische Bitten'54 an sie richte, daß die Partei diese Bitten durch eine ,gute, auf das Wohl des Volkes gerichtete Politik' (s.o.) erfülle und daß sie deswegen auch erwarten dürfe, dafür den verdienten Dank der Bevölkerung entgegenzunehmen. Also wurden die Bürger von der Partei mit Spruchbändern ausgestattet, die ihnen ermöglichten, der Partei auf angemessene Art und Weise zu danken. Diese patriarchale Attitüde hatte den Sinn, der Parteiherrschaft durch die Verwendung entsprechender sprachlicher Mittel .menschlichere Züge' zu verleihen, ohne jedoch dabei die Befehlsautorität der

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Zeitungsredaktionen strikt zu halten hatten (1992, 303): „PA 6.12.1984: Bei Formulierungen wie .Wir danken der Partei und Erich Honecker' ist generell das Wort .persönlich' zu meiden. [...] PA 28.2.1985: Nicht vom .Staatszirkus der DDR' sprechen, den Namen umschreiben." Vgl. Hindelang ( 2 1994, 65): „Als ASYMMETRISCH sollen Bitten um Handlungen bezeichnet werden, zu denen nur Sp2 statusmäßig berechtigt ist und die außerhalb der Handlungsmöglichkeiten von SP, liegen."

99 Partei und den Gehorsamszwang für die Bürger aufzuweichen. Das expressive Handlungsmuster ,Dank' bot sich dafür an, weil es als konstitutiver Bestandteil eines ,elementaren Rituals' zur Bestätigung und Stabilisierung sozialer Beziehungen gelten kann.55 Deijenige spricht seinen Dank aus, der sich darüber im klaren ist, daß sein Gegenüber ,ihm zuliebe' handelt, wenn er die Bitte erfüllt.56 Auch das eingeübte ,Lob' - etwa für ,meinen liebsten Erich Honecker' (s.o.) - hatte eine solche beziehungsbestätigende und -stabilisierende Funktion. Die würdigende Anerkennung einzelner .Leistungen' oder - häufiger noch - einer Gesamtheit von .Leistungen' hatte den Effekt, daß die Machtverhältnisse zementiert wurden und selbst der Gedanke an möglichen Widerspruch in die Ferne rückte: Es gehört sozusagen zum Verständnis des Sprachspiels, daß die Benennung der jeweiligen Leistungen, die als erbracht hingestellt werden, so [...] auch hingenommen, also nicht als etwas behandelt wird, was in Abrede gestellt oder angezweifelt werden könnte. Die würdigende Anerkennung ist der übergeordnete Gesichtspunkt [...]. (Rolf 1993, 284) Auch für die strategisch umdeklarierte Variante des Sprachspiels wählte die Partei also nur solche kommunikativen Handlungsmuster aus, die die systemimmanente Rollenasymmetrie zwischen Herrschern und Beherrschten nicht gefährdeten. Es stellt sich bei diesem nur perfide zu nennenden Spiel natürlich die Frage, wie sich diese sprachliche Indoktrination auf die Bürger auswirkte. Einige Details der sprachlichen Realisierung von .Losungen' mögen Anhaltspunkte für eine Antwort bieten. Gärtner (1992) etwa bestätigt die vollkommene Kontrolle des Regimes über die öffentlich-politische Kommunikation und demonstriert deren Auswirkungen an einer besonderen, gesellschaftlichen Konsens suggerierenden Form der Referenz in offiziellen Textexemplaren.· Sie [die öffentlich-politische Kommunikation; G.W.] verlief einseitig, ohne deutliche Zeichen von Rückkopplung, und realisierte sich vorzugsweise auf der Basis von Erklärungen, Aufrufen, Direktiven und Appellen. Die strategische Orientierung auf Indoktrination (und nicht auf wirkliche Kooperation) wurde sprachlich zu verschleiern versucht. Dabei spielte z.B. das scheindemokratische und partnervereinnahmende Wir bzw. Unser eine führende Rolle. [...] Wer sich über die Arroganz und Anmaßung einer solchen Sprache entrüstet, sollte nicht versäumen, darüber nachzudenken, wie oft er sich selbst und wie oft wir einander ,belogen und betrogen' haben, z.B. durch die unbedachte Verwendung dieses Wir/Unser. Diese Pronomen halfen nicht nur dabei, demokratische Verhältnisse vorzugaukeln, sie dienten ihrer Unverbindlichkeit wegen allzu oft auch als Unterschlupf und sollten jeden von der Verantwortung für das entbinden, wovon er gerade redete. Diese Scheu vor Verantwortung zeigt sich auch in der auffallig hohen Frequenz

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Vgl. Goffman (1974a, 99): „Konzentrieren wir uns auf elementare Rituale, die zwischen Personen zur Anwendung kommen, die füreinander präsent sind, so gilt offenbar, daß dem Akt des Gebens in der Regel unmittelbar ein Dankbarkeitsbeweis folgt. Beide Schritte zusammengenommen bilden eine kleine Zeremonie - einen .bestätigenden Austausch'." Vgl. Hindelang (21994, 64): „Als Motive für die Befolgung einer BITTE kommen [...] Einstellungen und Gefühle wie Höflichkeit, Solidarität, Freundschaft, Liebe oder Mitleid gegenüber Sp, in Betracht. "

100 sprachlicher Rückversicherungshandlungen: Berufungen und Verweise auf Aussagen politischer Führer bzw. verantwortlicher Gremien [...], Rückgriffe auf Klassikerzitate zur Absicherung und Aufwertung der .eigenen' Worte [...]. (1992, 221f.)

Die Zahl der ,Losungen', in denen die emphatische Verwendung von Wir/Unser eine Identität zwischen Textverfasser und ,Textträger' suggerierte, war während der Massenkundgebungen Legion. Beispiele vom 1. Mai 1989: Mit dem Blick auf den XII. Parteitag der SED lösen wir die Aufgaben der Gegenwart! Unsere Tat in der Bürgerinitiative: Schöner unsere Städte und Gemeinden - Mach mit! Unsere antiimperialistische Solidarität den Völkern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas in ihrem Kampf für Frieden, nationale Unabhängigkeit und sozialen Fortschritt!

Es liegt eine besondere Ironie darin, daß angesichts der oben dargestellten Entstehungsweise von Losungsexemplaren (vgl. S. 96) die Referenz auf einen kollektiven politischen Akteur in der ersten Person (Wir/Unser) gar nicht einmal falsch war, doch war damit natürlich nicht die Abteilung .Agitation' des Zentralkomitees der SED gemeint, sondern ,das Bündnis aller Kräfte des Volkes' als solidarische Einheit von Bevölkerung und Regierung. Schließlich trugen auf den Massenkundgebungen nicht die Agitationsexperten ihre Transparente, sondern die Bürger, und spätestens in der Medienberichterstattung, auf den Bildschirmen in Ost und West (!), mußte es so aussehen, als seien die DDR-Bürger nicht nur ,Textträger', sondern als trügen sie auch die Verantwortung für die Textinhalte, also etwa für die .Bestätigung' der Parteiautorität und den ,Dank' an deren Funktionäre. Wie Gärtner (1992; s.o.) hervorhebt, blieb dieser semantische Trick der referentiellen Umwidmung57 nicht ohne Folgen: Von den ,Wandlitzer' Spitzenfunktionären ist bekannt, daß sie der Autosuggestion erlagen und selbst im Herbst 1989 noch glaubten, das Vertrauen der Bevölkerung zu besitzen. Was jedoch die Bevölkerung betrifft, die .unbedachte Verwendung dieses Wir/Unser' und die darin erkennbare Tendenz, einen ,Unterschlupf vor individuell verantwortetem Sprechen zu finden (1992, 222; s.o.), so ist zu berücksichtigen, daß die Durchdringungsintensität der parteistaatlichen Sprachregelung immens und eine Grenze zwischen öffentlich-politischem und privatem Sprechen kaum auszumachen war: Immer war nämlich „die gewünschte .staatsbürgerliche Einstellung' eines DDR-Bürgers an der Einhaltung dieser Sprachregelung" (Thierse 1992a, 303) erkennbar, und immer konnte eine Nicht-Einhaltung gravierende Konsequenzen haben. Man muß daher das

57

Der Trick als solcher ist übrigens nicht nur in autoritären Staaten beliebt, sondern auch in wirtschaftlichen Organisationen. Vgl. Luhmann ( 2 1988, 109): „Mit Hilfe von Schlagworten wie Partizipation oder Mitbestimmung wird gegenwärtig diese Idee verkauft - unter Mitsuggestion falschen Bewußtseins. So wird .Emanzipation' zum letzten Trick des Managements: den Unterschied von Vorgesetzten und Untergebenen zu leugnen und damit dem Untergebenen seine Machtbasis zu entziehen. Unter Vorgabe eines Machtausgleichs wird aber nur die Macht reorganisiert, die die Untergebenen im großen und ganzen schon haben."

101 umfassende Sprachspielmonopol der SED als zentrale Entstehungsbedingung für den andersartigen Sprachgebrauch in der DDR' (1992a, 301) auffassen. Wie wirkungsmächtig die eingeübte Verwendung bestimmter Textformen und Handlungsmuster auch nach dem Zusammenbruch dieses Monopols war, zeigt sich beispielsweise darin, daß auch während der Demonstrationen im Herbst 1989 .Losungen' bzw. ,Demo-Sprüche' eine außerordentlich wichtige Rolle für die Willensbekundungen der breiten Bevölkerung spielten. Im Vergleich zu den offiziellen Partei-Losungen der vergangenen Jahre und Monate hatten die Demo-Sprüche des Herbstes natürlich eine entgegengesetzte, die Losungen konterkarierende kommunikative Funktion: Der Führung und den .Staatsorganen' wurde nicht mehr affirmativ gehuldigt, sondern sie wurden aufgefordert, aus den Machtzentralen zu verschwinden und mit der Bevölkerung die Rollen zu tauschen. Beispiele dafür sind: Wir sind das Volk! Vorschlag flir den 1. Mai - Die Führung zieht am Volk vorbei58 Vorwärts Genossen, die Avantgarde ist hinter Euch her!59 Wenn die SED nicht geht, gehen wir. Stasi in die Volkwirtschaft!

Dennoch gibt es zwischen den alten .Losungen' und einem Teil der neuen ,Demo-Sprüche' sprachspielgeschichtliche .Familienähnlichkeiten'. Denn die Bürger griffen während der ersten .Wende'-Phase, als sich eine politische Ausrichtung auf die Bundesrepublik noch nicht abzeichnete, auf kommunikative Handlungsmuster zurück, die sich noch ganz im Bedingungsrahmen des alten Basis-Sprachspiels der DDR bewegten, der Durchsetzung von Parteidirektiven (vgl. Abb. 6).60 Die .frühen' Demo-Sprüche61, also diejenigen, die die innenpolitische .Wende' einleiteten und stützten, sind als Indizien dafür zu werten, daß die Bevölkerung ihr gesamtes Reaktionspotential auf die Zumutungen des zuvor zentralen Sprachspiels in der DDR zurückerobert hatte, und zwar inklusive der zuvor undenkbaren abschlägigen Reaktionen wie

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59 60

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Dieser Demo-Spruch veranlaßte Christa Wolf am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz von .literarischem Volksvermögen' zu sprechen. Vgl. dazu Gärtners (1992, 222) lakonischen Kommentar: „Literarisch-Ästhetisches ist in den offiziellen Reden der führenden DDR-Politik kaum aufzufinden [...]." Die SED hatte sich stets als .Avantgarde der Arbeiterklasse' verstanden. Der politische Sinn dieser Handlungsmuster erschließt sich also nur unter der Voraussetzung, daß sie als Komponenten von Zugsequenzen in politischen Sprachspielen aufgefaßt werden. Eine funktionale Charakterisierung nach universalistischen Sprechhandlungsmustern (etwa .Fragen', .moralisches Appellieren', .Grüßen' .Feststellen', .Fordern' etc.; vgl. Fix 1990, 338f. oder Fraas/Steyer 1992, 179) führt in dieser Hinsicht nicht weiter. Zitiert nach Fix (1990 und 1994), Fraas/Steyer (1992), Reiher (1992) und Dieckmann/Schorlemmer (1993).

102 ,Zweifel', ,Bestreiten' oder .Zurückweisen' (vgl. Abb. 6, 2. Zug)62. Bevor etwas politisch Neues ins Auge gefaßt werden konnte, wollte die Bevölkerung ihren alten Machthabern einige selbstverfaßte Antworten nicht schuldig bleiben. Alle zentralen Bedingungen, deren Vorhegen die Bürger in den Jahren zuvor bestätigt hatten, wurden nun abschlägig beschieden, und damit brach das Macht- und Fühnmgsmonopol der SED in sich zusammen: Bed. 2 (Verständlichkeit) Luft entschwefeln, Politik entschwafeln! Bed. 3 (politische Selbstbestimmung und Handlungsfreiheit) Wir sind das Volk! Alle Macht dem Volke! Alle Macht geht vom Volke aus! So wie wir heute demonstrieren, werden wir morgen leben. (früher: So wie wir heute arbeiten, werden wir morgen leben.) Bed. 5 (Parteiautorität und Durchsetzungsmacht) Das Volk sind wir, gehen sollt ihr. Das Volk sind wir - und wir sind Millionen. SED, was war das? Das ZK ins Altersheim, Gysi soll der Pßrtner sein. Vergiß die sieben Geißlein nicht, wenn Egon von Reformen spricht. Lügen haben kurze Beine, Gysi zeig uns doch mal deine! Stasi in die Volkwirtschaft! Weg mit Militärparaden und Betonköpfen Todeszaun und Minenfelder = Symbol der DDR-Freiheit Bed. 6 (politische Agenda) Für Presse- und Demonstrationsfreiheit Reisefreiheit für die ganze Familie Meinungs-, Medien- und Versammlungsfreiheit Neue Parteien ~ freie Wahlen Für eine Grüne Partei Rechtsicherheit ist die beste Staatssicherheit. Bed. 7 (Gefolgsbereitschaft) Geduld hat ihre Grenzen - Wir lassen uns nicht länger verarschen! Keine Stimme der SED! Auf Wiedersehen, ihr roten Brüder, so bald wählen wir euch nicht wieder. Wenn die SED nicht geht, gehen wir.

62

Vgl. dazu die Rede, die Friedrich Schorlemmer am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz in Berlin gehalten hat (zit. nach Volmert 1992, 106ff.): „Es ist wahr, dumpf, geduckt, bevormundet haben wir gelebt - so viele Jahre. Heute sind wir hierhergekommen, offener, aufrechter, selbstbewußter. Wir finden zu uns selbst. Wir werden aus Objekten zu Subjekten des politischen Handelns."

103 Bed. 9 (Befolgung) Keine Macht flir niemand Nicht andere Herren, sondern keine

Soweit die nachholenden Reaktionen auf die SED-Direktiven der Vergangenheit. In der zweiten Phase der Herbstereignisse, während der .Wende in der Wende', ging es darum, aus der Ablehnung des alten Parteiregimes eine politische Alternative zu entwickeln. Diesen komplizierten politischen Prozeß, in dem sich zunächst innerhalb der DDR neue Gruppen politischer Akteure herausbildeten, dann eine Annäherung der beiden deutschen Staaten stattfand und diese schließlich vereinigt wurden, faßt die Historikerin Meuschel (1992) zusammen, indem sie die beiden - die erwähnten zwei Phasen markierenden - zentralen Parolen der Herbstereignisse aufgreift und deren machtpolitische Konsequenzen aufzeigt: Mit der Parole ,Wir sind das Volk' wiesen die Bürgerinnen und Bürger, die sich zu Hunderttausenden auf den Straßen und Plätzen versammelten, den Herrschaftsanspruch von Partei und Staat zurück. [...] Die oppositionellen Gruppen, die teils schon vor dem Herbst entstanden waren, teils zu Beginn und im Verlauf der Revolution sich bildeten, wuchsen rasch; zudem entwickelten sie neue Aktionsformen wie die Bürgerkomitees und die Runden Tische, die sich unmittelbar in die öffentlichen Belange einmischten und die politischen Themen bestimmten. [...] Die neuen Handlungs- und Organisationsformen ließen überdies eine Pluralität von Interessen und Meinungen sichtbar werden, die über kurz oder lang nach konsentierten Mechanismen der Konfliktregelungen verlangte. (Meuschel 1992, 326; Hervorh. G.W.) Der Ruf ,Wir sind ein Volk' entsprang [...] einerseits der Unmöglichkeit, die DDR aus eigener Kraft rasch und zuverlässig in eine funktionstüchtige moderne Wirtschaft, Gesellschaft und Demokratie zu transformieren. Andererseits entsprach die Orientierung auf das einige Vaterland der bundesrepublikanischen Parole, daß nun zusammenwachse, was zusammengehöre. Der zivilgesellschaftliche Tenor des Verfassungsentwurfes des Runden Tisches hatte angesichts der Politik der deutschen Einheit keine Chance. (1992, 328; Hervorh. G.W.)

Es würde hier zu weit fuhren, die bedeutsamen Einflüsse der Alltagskommunikation auf die Demo-Sprüche nachzuzeichnen - etwa den in der DDR offenbar hochproduktiven , Volkswitz' (Wir sind das Volk! Ich bin Volker!) und die nachweisbaren .Mustermischungen'63 - oder gar die Fortentwicklung der ,Demo-Sprüche' bis in die Zeit nach der Vereinigung (4. November und wieder nicht frei - Jetzt Knechte des Kapitals) zu verfolgen. Was aber nach den obigen Ausführungen festgestellt werden kann, ist dies: Die Bevölkerung hat die Herrschenden mit ihren eigenen kommunikativen Waffen von der Macht vertrieben. Per Transparent, Spruchband und Sprechchor eroberte sie ihre volle Äeafcfi'onjfahigkeit zurück, indem sie die .Reformbemühungen' alter und neuer SED-Spitzen statt mit vorgegebenen ,affirmativen Losungen' mit selbstverantworteten ,zurückweisenden' Demo-Sprüchen beantwortete (vgl. Abb. 6, Bed. 5).

63

Vgl. zum .Volkswitz' Thierse (1992, 304-307), zu .Mustermischungen' Fix (1990 und 1994).

104 Die sich fest zwangsläufig anschließende Frage lautet: Haben die .gelernten DDR-Bürger' unter den veränderten soziokulturellen und politischen Bedingungen der Gegenwart auch die Kompetenz zu politischer Initiative entwickelt? Um an einem politischen Markt' (vgl. S. 50) bestehen zu können, gehört beides dazu: Die volle Verfügungsgewalt über die kommunikativen Handlungsoptionen von Reaktions- und Eröfinungszügen in den diversen poütischen Sprachspielen. Die Aussicht, etwa politische Themen auf die Tagesordnung zu bringen und entsprechende Interessen erfolgreich durchzusetzen, steigt mit der Bandbreite verfügbarer kommunikativer Mittel und der Erfahrung, wie sie strategisch optimal einzusetzen sind. Daß auf diese Weise autoritäre Regime gestürzt werden können, lehrt die friedliche Revolution im Herbst 1989.

3. Die Sprachspielgeschichte der Bundesrepublik Deutschland Interessenpluralität in einer Konkurrenzgesellschaft

Die kommunikationshistorische Beschreibung der Bundesrepublik orientiert sich erneut an dem heuristischen Fragenkatalog, der oben im Methodenabschnitt eingeführt und erläutert wurde (vgl. S. 49f.). Im Unterschied zur soeben verwendeten Darstellungsform werden die einzelnen Fragenkomplexe a bis e nicht buchstabengetreu wiederholt, sondern durch entsprechend formulierte Überschriften auf eine bestimmte Weise gewichtet und akzentuiert. Da der Wahlkampf in der Sprachspielgeschichte der Bundesrepublik immer eine besondere Rolle spielte und vor allem unter den gegenwärtigen Verhältnissen als die entscheidende Spielart des Spiels um die politische Macht angesehen werden kann, werden die Themenkomplexe des Fragenkatalogs in zwei separaten Abschnitten untergebracht: Dieser Abschnitt befaßt sich mit der im Grundgesetz fixierten verfassungsrechtlichen Konstruktion der Bundesrepublik, mit den am politischen Prozeß beteiligten Akteuren und mit denjenigen historischen Entwicklungstendenzen, die die politischen Kommunikationsbedingungen der achtziger und neunziger Jahre hervorgebracht haben (vgl. S. 49, Fragenkomplexe a und b). In Abschnitt 4 geht es um die kommunikativen Grundstrukturen des Wahlkampfes, wobei die Analyse sowohl das institutionell geregelte Gemeinschaftshandeln der politischen Akteure umfaßt als auch ihre interessengeleiteten Soütärhandlungen (Fragenkomplexe c bis e). Es folgt ein Abschnitt 5, in dem die so ermittelten historisch-politischen Rahmenbedingungen auf den Hauptgegenstand dieser Studie, die parteipolitischen Konflikte im Wahlkampf, bezogen werden. Hier werden die Fragen behandelt, an welchen Positionen parteipolitische Konflikte im Verlauf des Wahlkampfes auftreten, welche Funktionen sie jeweils haben und inwieweit ihnen strategische Kalküle der Parteien zugrundehegen.

105 Das Grundgesetz verleiht der Bundesrepublik einen streng repräsentativ-demokratischen Charakter, d.h. ihre machtpolitische Grundkonstellation ist die politische Stellvertretung der Bürger durch frei gewählte Amts- und Mandatsträger (Art. 20 Π GG). Im Grundgesetz fehlen, wie in den meisten demokratischen Verfassungen, konkrete Regelungen des politischen Verhältnisses zwischen Staat und gesellschaftlichen Kräften. Die Funktion des Grundgesetzes besteht also nicht darin, den Prozeß der politischen Willensbildung selbst zu beeinflussen, sondern die Zugangsvoraussetzungen zu diesem Prozeß festzulegen und dessen Verfahrensabläufe zu regulieren. Es orientiert sich dabei an den übergeordneten staatsrechtlichen Prinzipien der Volkssouveränität, der staatlichen Gewaltenteilung sowie der Rechtsstaatlichkeit und leitet daraus organisationsrechliche Folgerungen ab. Wie in allen parlamentarisch-repräsentativen Demokratien sollte auch in bezug auf die Bundesrepublik zwischen der allgemeinen politischen Wertordnimg sowie deren organisatorischer Auslegung, wie sie in der Verfassung niedergelegt ist, und den konkreten politischen Prozessen, die man als Verfassungswirklichkeit umschreiben könnte, unterschieden werden. Die Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik ist als ein dynamisch angelegtes kommunikatives Handlungsspier (Sarcinelli 1987, 244) zu verstehen, in dem die Akteure verschiedener staatlicher und gesellschaftlicher Organisationen versuchen, ihren jeweiligen Interessen politische Geltung zu verschaffen. Da das Grundgesetz allein den politischen Parteien ein direktes Mitwirkungsrecht an der politischen Willensbildung einräumt (Art. 21 GG), beschränken sich die politischen Handlungsoptionen der übrigen gesellschaftlich relevanten Gruppen auf bestimmte Formen der indirekten Einflußnahme. Die daraus resultierende Notwendigkeit, interessenpolitisch mit den Parteien zusammenzuarbeiten oder sich zumindest auf sie zu beziehen, läßt ein komplexes System gegenseitiger Einflüsse und Erwartungen entstehen, das es im folgenden aufzuschlüsseln gilt (vgl. Abb. 7 auf der nächsten Seite). Auf allgemeingesellschaftlicher Ebene haben die Bürger im wesentlichen zwei verfassungsrechtlich garantierte Möglichkeiten, auf das (bundes-)politische Handeln der Staatsorgane einzuwirken: erstens mitbestimmend durch die ,Wahl' von Parlamentsabgeordneten (Art. 38 GG) und zweitens verhindernd durch die Wahrnehmung des Widerstandsrechts in Form von ,Verfassungsbeschweiden' an das Bundesverfassungsgericht (Art. 93 IVa GG). Das Petitionsrecht (Art 17 GG) ermöglicht zwar, ,Bitten' und Beschwerden' an Volkvertretungen und .zuständige Stellen' zu richten, aber diese sind nicht verpflichtet, etwaigen Bitten auch tatsächlich nachzukommen. Aus .Petitionsbescheiden' muß lediglich hervorgehen, daß die Bürgereingabe .sachlich geprüft' wurde. Plebiszitäre Elemente sind im Grundgesetz zwar vorgesehen, aber ausdrücklich auf die Ebene der Länder (Volksbegehren, Volksentscheid) beschränkt. Neuerlich diskutierte Möglichkeiten wie konsultative Volkbefragungen - etwa zu politischen .Schlüsselthemen' - schließt das Grundgesetz derzeit ausdrücklich aus. Was die unmittelbare Partizipation einzelner Bürger am politischen Geschehen angeht, sind die Möglichkeiten also eingeschränkt.

106

Abb. 7: Das politische System der Bundesrepublik Deutschland BGerichte (judikativ)

BPräs (exekutiv) f..

Bversammlung

BReg (exekutiv)

BRat (legislativ, föderativ)

Btag (legislativ, unitarisch)

Λ

Î Verfassungsbzw. Staatsorgane

A

V LReg.en (exekutiv), LTage (legislativ)

,.J>

Verwaltungsbehörden (exekutiv)

L H Grundvorgänge des Verfassungslebens

LTWahl

Staat

BTWahl

Petition, Abstimmung (nur Land)

Gesellschaft

Verfassungsbeschwerde

I— I I JÜL

wähl- und abstimmungsberechtigte Aktivbürgerschaft

= Wahl >

= Berufung, Einsetzung

Verbände Τ

Wahlwerbung

—I I I

Ausgewählte Interaktionen zwischen politischen Akteuren: I—>

ι V

Medien

J L ·

Souverän der politischen Willensbildung

Ί

Partei, Partei} Partei} Partei 4 Partei, ... (Teilnahme an Wahlen mit eigenen Wahlkandidaten, „)

verfassungsrechtliche Institutionen

—I I I

107 Das politische System der Bundesrepublik ist demnach als mittelbare Demokratie zu klassifizieren. Die einzelnen Bürger beteiligen sich an politischen Entscheidimgsprozessen vornehmlich durch Machtdelegation per Mandat, durch Mitgliedschaft in einer Partei oder Interessengruppiemng und durch öffentlich-politische Meinungsäußerungen. Der poütische Einfluß, den einzelne Bürger unmittelbar und mittelbar ausüben können, ist in folgenden Sphären anzusiedeln und umfaßt folgende Handlungsoptionen: - Einflußnahme auf die parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse und die Regierungsbildung durch das Wahlmandat für einen (von mehreren) Parteikandidaten bzw. die Wahl der Landeskandidatenliste einer Partei (von mehreren) - Einflußnahme auf die Reichweite staatlicher Machtausübimg durch Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht (beschränkt auf die Verletzung individueller Grundrechte durch die öffentliche Gewalt) - Einflußnahme auf die Programmatik und das Personal politischer Parteien durch Parteimitgliedschaft - Einflußnahme auf das gesellschaftspolitische Kräfteverhältnis konkurrierender Verbände und Gruppen durch Mitgliedschaft in Interessengruppen (z.B. Gewerkschaften, Industrieverbände, Kirchen, Bürgerinitiativen etc.) - Einflußnahme auf die .öffentliche Meinung' durch politische Meinungs- und Willensbekundung in den Medien (Leserbriefe, Beteiligung an Umfragen etc.) Neben den verfassungsrechtlich eingeräumten Möglichkeiten der politischen Einflußnahme sind hier in erster Linie die Motive von Belang, die Bürger in der sozialen Praxis dazu veranlassen, diese Optionen auch tatsächlich in Anspruch zu nehmen. Oben war davon die Rede, daß sich praktisches politisches Handeln dadurch charakterisieren läßt, daß man die sozialen und politischen Interessen der Akteure rekonstruiert (vgl. S. 41f.). Denn der elementare Prozeß der politischen Willensbildung in einer Demokratie besteht eben darin - in der Vermittlung von gesellschaftlichen Interessen in die politischen Entscheidungszentren. Obwohl damit noch wenig über das Funktionieren der Interessenvermittlung gesagt ist, muß eine Analyse politischen Handelns und Kommunizierens von den Interessen der Akteure ihren Ausgang nehmen: Als demokratisch legitimiert sich die bürgerliche Gesellschaft durch die Bindung gesamtgesellschaftlicher Entscheidungen an diese gesellschaftlichen (sprich Individual-) Interessen. Die Legitimität demokratischer Systeme basiert also auf funktionierender Interessenvermittlung. Unglücklicherweise fehlen jedoch die letztgültigen Kriterien dafür, was das .Funktionieren' ausmacht; es gibt keine a priori richtige Interessenvermittlung, ebenso wenig wie es a priori wahre (authentische, objektive) Interessen gibt. Von daher ist die Legitimität politischer Systeme wie staatlicher Entscheidungen stets brüchig. (Abromeit 1993, 7)

In der momentanen Verfassungswirklichkeit werden die Möglichkeiten einzelner Bürger, ihre individuellen Interessen in die politische Sphäre zu vermitteln, einhellig als gering einge-

108 schätzt.64 Dies hängt erstens mit der Schwierigkeit zusammen, „die Stimmenvielfalt des Volkes zur Politik zu machen. Der Widerspruch zwischen der Vereinheitlichung der Interessen einerseits und Vielheit der Stimmen andererseits bleibt somit fiir die Politik unaufhebbar" (Czerwick 1996, 60). Um die Vielzahl der individuellen Interessen zu reduzieren und zu bündeln, haben sich ,Filtersysteme' etabliert, die politische Auseinandersetzungen um Interessen und Entscheidungen darüber erst möglich machen. Weil die Kapazität der Entscheidungsinstanzen zur Sichtung und zum Vergleich aller individuellen Interessen nicht ausreicht, hat sich im politischen System - aber nicht nur dort - eine Differenzierung von ,attention rules' und ,decision rules' eingespielt: Da Aufmerksamkeit knapp ist, bilden sich zwangsläufig Regeln über die Zuwendung von Aufmerksamkeit aus, die sich von denjenigen Regeln unterscheiden, nach denen Entscheidungen angefertigt und alsrichtigbeurteilt werden. Erst im Rahmen dessen, was überhaupt mit Aufmerksamkeit bedacht wird - also gleichsam nach Vorsortierung durch die Aufmerksamkeitsregeln kann es zu rationalisierbaren Entscheidungen kommen. Der Gegenstand, der Aufmerksamkeit evoziert, ist nicht notwendig identisch mit dem Gegenstand, über den dann effektiv entschieden wird. [...] Aufmerksamkeitsregeln steuern die Konstruktion politischer Themen; Entscheidungsregeln steuern die Meinungsbildung, unter anderem in den entscheidungsbefugten Instanzen. (Luhmann 1970/79, 37f.) Der Zugang zur knappen Ressource ,Aufmerksamkeit' unterliegt - gerade weil er gesetzlich allen Bürgern offensteht (Art. 5 GG) - dem Konkurrenzprinzip, und nur dasjenige Interesse ist politisch verhandelbar, das aus der Stimmenvielfalt hervortönt. Dies mag beklagt werden, ist aber ein „demokratisches Obligo" (Sarcinelli 1996, 34). Der zweite Grund für die pessimistische Einschätzung der politischen Partizipationsmöglichkeiten für die Bürger liegt bei diesen selbst. Abromeit (1993) faßt diesen Aspekt folgendermaßen zusammen: Unabhängig von bestimmten, durch organisationsinterae Willensbildungsstrukturen o.a. bedingten Verzerrungen, unabhängig aber vor allem vom bösen oder guten Willen der entscheidenden Akteure verlaufen gesellschaftliche Interessenvermittlungs-Prozesse unvermeidlich selektiv, erfolgt Interessenvermittlung asymmetrisch. Unvermeidliche Verzerrungen ergeben sich schließlich aus dem empirischen Faktum der verbreiteten politischen Apathie der Bürger. Der typische Bürger [...] .fällt auf eine tiefere Stufe der gedanklichen Leistung, sobald er das politische Gebiet betritt'; er ist uninformiert, unengagiert, erwartet von Staat und Politik zwar Leistungen, ist aber nicht bereit, diese durch eigene poütische Partizipation zu erzwingen. [...] Von den Bürgern allein ist in puncto Interessenwahrnehmung und Interessenvertretung demnach erstaunlich wenig zu erwarten. Das heißt aber nichts anderes, als daß der eigentliche Input der Politik von spezialisierten Interessenvermittlungs-Agenturen kommt. (Abromeit 1993, 28) Spezialisierte Agenturen der Interessenvermittlung sind unter den verfassungsrechtlichen Bedingungen der Bundesrepublik in erster Linie die politischen Parteien. Sie genießen laut

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Vgl. etwa Abromeit (1993, 21), Westphalen (Hrsg.) (1993, 317), Czerwick (1996, 58f.), Sarcinelli (1996, 32ff.).

109 Grundgesetz als einzige gesellschaftliche Organisationsform den Status verfassungsrechtlicher Institutionen, d.h. sie sind zwar keine Staatsorgane, haben aber eine zentrale Position im Funktionssystem politischer Willensbildung und staatlicher Machtausübung inne.65 Ihr konstitutiver Zweck ist die .Vertretung des Volkes', und dies setzt die Teilnahme an parlamentarischen Wahlen voraus, und zwar - im Unterschied zu Interessenverbänden aller Art - die Teilnahme mit eigenen Wahlvorschlägen (§ 2 Π PartG). Aufgrund der in Art. 20 Π GG fixierten Verbindung der verfassungsrechtlichen Grundsätze der Volkssouveränität und der staatlichen Gewaltenteilung ist die ,allgemeine, unmittelbare, freie, gleiche und geheime Wahl' (Art. 38 GG) „der Grundvorgang des Verfassungslebens, auf dem grundsätzlich alle andere Staatsgewalt aufbaut" (Seifert/Hömig, Hrsg. 31988, 247). Gemäß der bundesrepublikanischen Demokratiekonzeption ist dieser Typus von Interaktionen zwischen der Bevölkerung und den politischen Parteien, deren konstitutiver Zweck und elementare Legitimation eben in der .Vertretung des Volkes' besteht, als die basale Form politischer Interessenvermittlung zwischen Gesellschaft und Staat anzusehen. Aus diesem Grunde sind Wahlen und die Sprachspiele, die sich um Wahlen herumgruppieren, die vorrangigen Beobachtungsgegenstände dieser Studie. In der Verfassungswirklichkeit unterliegt die politische Basisinteraktion ,Wahl' freilich besonderen Bedingungen, die daraus erwachsen, daß es für die Parteivertreter eine Sache ist, ein politisches Wahlmandat von Teilen der Gesellschaft zu erlangen, aber eine andere, dieses Mandat im Parlament auszuüben, d.h. etwa als Mitglied des Bundestages auch die Belange des Staates zu vertreten. Denn wie in jeder ,Stellvertretungsfiguration' tut sich auch in der Politik ein unhintergehbares strukturelles Dilemma auf: Die Spiele um die politische Macht finden in unterschiedlichen ,Handlungszonen' statt, und dort gelten jeweils andere Regeln und Verkehrsformen, die nicht ohne weiteres miteinander harmonisierbar sind (etwa das Stammtischgespräch an der Basis und die parlamentarische Abstimmung; vgl. Luhmann 1970/79, 54). Wenn der Delegierte aber sein Mandat behalten will, muß er dennoch versuchen, diese disparaten Handlungszonen zu überbrücken (vgl. S. 66ff.). Die Lage verkompliziert sich weiter durch die Annahme, daß es nicht nur eine Form politischer Macht gibt (die Regierungsmacht), sondern daß in wechselnden Machtfigurationen mit jeweils anderen Rollenbesetzungen auch unterschiedliche Typen der Macht zur Disposition stehen. Als Sprachrohr der Basis in seinem Wahlkreis muß es dem Parteipolitiker nämlich um die Erlangung und Aufrechterhaltung seiner ,Autorität' gehen, aufgrund derer er überhaupt erst in

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Vgl. Seifert/Hömig (Hrsg.) ( 3 1988, 193f.): „Obwohl Parteien rechtsbegrifflich Vereine sind, ist Art. 21 uneingeschränkt lex specialis zu Art. 9. [...] Art. 21 gliedert die Parteien in das verfassungsrechtlich geordnete polit. Leben ein, macht sie zu Bestandteilen des Verfassungsaufbaues und hebt sie in den Rang einer verfassungsrechtlichen Institution [...], läßt sie jedoch nicht zu Teilen der Staatsorganisation, zu Staatsorganen oder Körperschaften öffentlichen Rechts werden [...]."

110 die exponierte Stellung eines Stellvertreters gelangen kann. In dieser Handlungszone wird er mit massiven Erwartungen und Forderungen seiner Klientel konfrontiert, deren Meinungen und Partikularinteressen er zu politischen Themen erheben und in die politischen Entscheidungsinstanzen vermitteln soll.66 Als Fürsprecher im Parlament hat er es mit seinen Kollegen zu tun, die ihrerseits angetreten sind, um die Interessen ihrer Klienten durchzusetzen. Der Prozeß der parlamentarischen Auseinandersetzung über - in der Regel divergierende - gesellschaftliche Interessen erfolgt aus nahehegenden Gründen nach diversen .Geschäftsordnungen', die die Kommunikationsprozesse innerhalb von Fraktions-, Gremien- und Ausschußsitzungen, Plenardebatten, Regierungsrunden etc. formell wie informell regeln.67 Die vertretenen Bürger bleiben in dieser Handlungszone vor der Tür und schauen von außen zu, sofern die Fürsprecher dies zulassen. Im Parlamentsalltag spielen andere Formen der Macht eine Rolle als im heimischen Wahlkreis: Fürsprecher brauchen beispielsweise die .Akkreditierung' ihrer politischen Gegner. Werden sie nicht als ernstzunehmende Konfliktgegner akkreditiert, büßen sie über kurz oder lang nicht nur die Anerkennung ihrer Fürsprecherkollegen, sondern auch ihre Autorität bei der Basis ein. Darin liegt die „heimliche Definitionsmacht des Dritten" (Sofsky/Paris 1994, 161). Die Akkreditierung im Parlament folgt anderen Mechanismen als die Erlangung von Autorität im Wahlkreis, und sie erfordert andere Kompetenzen: Der akkreditierte Parlamentarier vermag politische Handlungsressourcen zu erschließen und im richtigen Moment für seine Anliegen zu aktivieren, und zwar durch die Mobilisierung einer Hintermannschaft (personelle Ressourcen), die Akkumulation und den Einsatz finanzieller Mittel (materielle Ressourcen), den freien Zugang zur sogenannten .öffentlichen Meinung' (mediale Ressourcen) sowie durch die Besetzung und Bündelung öffentlicbkeitswirksamer .Themen' (ideelle Ressourcen). Außerdem beherrscht er sowohl die .attention rules' als auch die .decision rules' der politischen Entscheidungsinstanzen (vgl. S. 108) und versteht es, sie für seine Zwecke nutzen. Es ist ganz klar, daß hier nicht von den ,Hinterbänklern', sondern von den ,Parlamentsstars' wie Regierungsmitgliedern, Fraktionsvorsitzenden oder den Mitgliedern der Parteipräsidien die Rede ist68, und selbst diese verfügen kaum jemals allein über alle genannten Befugnisse und

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Die Beanspruchung von Parlamentariern in ihrem Wahlkreis ist enorm; vgl. Holly (1990, 244f.): „Besonders die .Allzuständigkeit' eines Abgeordneten im Wahlkreis [...], von der die Bevölkerung auszugehen scheint, führt immer wieder zu Überforderungen. " Diese Regeln muß man gewöhnlich erst mühsam lernen; vgl. Holly (1990, 63): „Cleveren Parlamentsneulingen [...] billigt man mindestens zwei Jahre der .Einarbeitung' zu." So kommt Holly (1990, 269) in seiner empirischen Untersuchung zum Ergebnis, „daß ein einzelner .Hinterbänkler* an den formell geregelten Funktionen, bei denen Fraktionen und andere Gremien die eigentlichen Handlungseinheiten sind, sprachlich kaum Anteil hat; auch was das informelle Handeln angeht, haben hierbei Parlamentsstars und Fußvolk wenig gemein. "

Ill

Fertigkeiten.69 Doch es geht hier nicht um konkrete Personen, sondern um potentielle Machtkompetenzen, und daher sollten sie vollständig genannt werden. Wieder anders sieht es aus, wenn Politiker als Koalitionäre auftreten (vgl. S. 67f.). Unter politischen Koalitionen versteht man gemeinhin Zweckbündnisse zwischen zwei oder mehreren Parteien, die durch die Abstimmung ihres Vorgehens und die Kombination ihrer Ressourcen die Regieningsmacht zu erreichen versuchen, die sie allein gegen ihre politischen Gegner nicht zu erringen in der Lage wären.70 Da Koalitionen einen in diesem Sinne instrumentellen Charakter besitzen, kommen nicht alle politischen Akteure für (potentielle) Regierungsbündnisse in Frage. Auch hier spielt die ,Akkreditierung' durch die zukünftigen Bündnispartner eine entscheidende Rolle. Aber anders als die Akkreditierung von Parlamentsneulingen hängt die wechselseitige Akkreditierung von Koalitionären davon ab, ob sie die Fähigkeit zur Kooperation mit den Koalitionspartnern und prinzipielle Kompromißbereitschaft erkennen lassen, ohne dabei ihre (relative) Selbständigkeit als Fürsprecher ihrer Klientel aufs Spiel zu setzen.71 Im Unterschied zu reinen Konfliktspielen zwischen Fürsprechern ist in Koalitionen „nichts zu gewinnen, ohne daß der Gegner etwas verliert und der Sieger seinem Partner etwas von der Beute abgibt" (Sofsky/Paris 1994, 249). Die Machtspiele, die in Koalitionen gespielt werden, drehen sich demnach nicht nur um geeignete Kooperationsformen im Kampf gegen den politischen Gegner, sondern auch um die Selbstbehauptung der einzelnen Bündnispartner und die daraus erwachsende - vor allem parteiintern zu legitimierende - Aufrechterhaltung der prinzipiellen Kompromißfähigkeit. Wenn nun - zu Recht - gesagt wird, daß die Sprache von Parteipolitikern „eingesetzt wird als Instrument des Machtgewinns, der Machtausübung, der Machtsicherung, der Machtkontrolle" (Grünert 1974, 2), dann ist nach diesen Darlegungen hinzuzufügen, daß bei der Beschreibung dieses Instruments stets angegeben werden muß, von welchem Typus der politischen Macht gerade die Rede ist, d.h. in welcher Rollenkonfiguration das Spiel stattfindet und welche politischen Handlungszonen davon berührt werden. In der Linguistik werden bislang im wesentlichen drei Methoden angewandt, um verschiedene politische Handlungszonen voneinander abzugrenzen und die entsprechenden kommunikativen Rollen der Parteipolitiker zu bestimmen: Entweder man rekurriert auf sprach- oder zeichentheoretisch fundierte Modelle, die dann auf die Politik übertragen werden (zur ,Persuasion' vgl. Grünert 1974, 8f.

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Vgl. etwa Apel (1972, 25): „Wie falsch doch die Machtstrukturen in unserem Lande eingeschätzt werden. Selbst als stellvertretender Fraktionsvorsitzender reicht mein Einfluß nicht allzu weit. Kann ich das den Leuten in aller Deutlichkeit sagen? Sicherlich nicht." Von kurzfristigen Koalitionen - etwa um in einer politischen Grundsatzfrage (z.B. § 218, Asyl) eine Entscheidungsmehrheit zu bekommen - wird hier abgesehen. Abromeit (1993, 88) beschreibt in diesem Zusammenhang ein typisches strategisches Dilemma, das sich daraus ergibt, „daß Parteien mit geringer ideologischer Distanz zueinander - die damit ideale Koalitionspartner füreinander wären - zumeist eine relativ ähnliche Wählerbasis haben, also zugleich erbitterte Konkurrenten sind".

112 und Dieckmann 1981, 138ff.), oder man geht von den traditionellen Funktionskatalogen der Parlamentarismusforschung aus und fragt nach deren sprachlichen Implikationen (vgl. Holly 1990, 115-127) oder aber man isoliert ein politisches Handlungsfeld, erstellt eine Handlungstypologie für diesen Bereich und verortet darin das gezeigte Kommunikationsverhalten (zur parteilichen Auseinandersetzung um die Wählergunst' vgl. Tillmann 1989, 118-130). Diese drei Methoden haben jedoch eine gemeinsame Schwäche: Sie alle basieren auf der Annahme, daß politische Macht etwas Gegebenes sei, was Politiker durch die kommunikative Abarbeitung linear konstruierter Verfahrensschritte erlangen könnten, d.h. durch geschickte ,Persuasion', durch eine überzeugende Erfüllung der .parlamentarischen Grundfunktionen' oder durch den Kampf um die Wählersympathie mittels kommunikativer Verfahren wie integrierender ,Imagepflege' bzw. abgrenzender Diskreditierung des politischen Gegners'. Demgegenüber wird hier gerade die schillernde Formenvielfalt und Fragilität poütischer Macht betont. Um zu Einsichten in die Funktionen und Regeln poütischer Machtspiele zu gelangen, ist es zwingend erforderlich, das „Zerrbild einer stabilen Machtordnung" (Sofsky/Paris 1994, 15) und linearer Verfahrensschritte aufzugeben und sich stattdessen mit prinzipiell offenen Interessenkonstellationen und Machtfigurationen zu befassen.72 Abhängig davon, wer jeweils am Spiel beteiligt ist und welches gesellschaftspolitische ,Klima' gerade herrscht, verändern sich die Formen der Interessenvermittlung und die Zugänge zur politischen Macht. So wird niemand am politischen Einfluß der Interessenverbände (Gewerkschaften, Industrieveibände, organisierte Bürgerinitiativen etc.) zweifeln, obwohl diese verfassungsrechtlich keinen anderen Status besitzen als etwa Sport- oder Tierzüchtervereine. Die einzigen inhaltlichen Kriterien des Grundrechts der Vereinigungsfreiheit (Art. 9 GG) bestehen nämlich darin, daß die Satzungen und Tätigkeiten der Interessengruppen der Rechtsordnung nicht zuwiderlaufen dürfen (Abs. 2) und „daß sich die Mitglieder einem irgendwie zum Ausdruck kommenden Gesamtwillen unterordnen, der ihre Tätigkeiten lenkt und leitet" (Seifert/Hömig, Hrsg. 3 1988, 105). In der Verfassungswirklichkeit besitzen Interessenverbände dennoch einen erheblichen politischen Einfluß. Dies läßt sich damit erklären, daß Verbände einerseits ebenso wie die politischen Parteien als ,intermediäre Instanzen' zwischen gesellschaftlichen Interessen und staatlichen Entscheidungsprozeduren fungieren (Westphalen, Hrsg. 1993, 319), andererseits aber nicht deren strukturellen Dilemmata unterworfen sind: Die Erteilung von Mandaten zur Ausübung politischen .Drucks' erfolgt nicht durch alle Bürger, sondern ausschließlich durch die Mitglieder des Verbandes, was die interne Interessenhomogenisierung erleichtert. Außerdem müssen Verbandsrepräsentanten anders als Parteipolitiker nicht um ihre Ak-

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Habermas (1996, 289) spricht in diesem Zusammenhang von veränderbaren .Aggregatzuständen' politischer Macht.

113 kreditierung als parlamentarische Fürsprecher oder Koalitionäre fürchten und sind insofern relativ frei in der Wahl ihrer Einflußbereiche und Beeinflussungsmethoden: Wahrend Parteien Interessen (wenn überhaupt) unmittelbar durch eigenen Machterwerb realisieren, benutzen die Verbände gewissermaßen einen Umweg, nämlich die Beeinflussung derer, die die Macht haben. Sie sind insofern eher ubiquitär als die Parteien, deren Existenz an die von Volksvertretungen und damit ein Mindestmaß an repräsentativer Demokratie gebunden sind. [...] Die größere Allgemeinheit dieser Organisationsform ist von den .Interessierten' durchaus als Vorteil zu verbuchen. Ein weiterer Vorteil liegt darin, daß Verbände - die ja nur beeinflussen, nicht (gesamtgesellschaftliche) Macht ausüben wollen - die egoistischen Interessen ihrer Klientel offen vertreten können; da sie keine Mehrheiten erstreben, stehen sie nicht unter dem permanenten Zwang, die Vertretung von Partikularinteressen am Allgemeinwohl zu legitimieren. (Abromeit 1993, 36)

Die Repräsentanten der unzähligen Interessenverbände in der Bundesrepublik73 besitzen zwei prinzipielle Möglichkeiten, politischen Einfuß zu ihren Gunsten auszuüben. Die erste Beeinflussungsmethode ist seit Urzeiten erprobt (vgl. Althoff 1997, 292ff.): In vor-demokratischen Systemen wurde sie als , Antichambrieren' bezeichnet (Abromeit 1993, 23), in der Gegenwart ist vom ,Lobbying' die Rede (vgl. Strauch, Hrsg. 1993). Die Funktionsweise dieser Form der Beeinflussung derer, die die politische Macht besitzen, ist jedoch die gleiche geblieben: Vertreter von individuellen oder verbandskonstituierenden Partikularinteressen harren in den Vorzimmern fürstlicher Kabinette oder der Lobby von Parlamentsgebäuden in der Hoffnung aus, irgendwann zu den Mächtigen vorgelassen zu werden und ihnen ihr Anliegen vortragen zu können. Die Chancen zur Erfüllung solcher Anliegen steigen, wenn die Lobbyisten etwas anzubieten haben, das den Interessen des Politikers entgegenkommt, also etwa materielle (Parteispenden) oder ideelle Ressourcen (Expertenwissen, Wohlwollen bei brisanten politischen Entscheidungen), die der Akkreditierung des Parlamentariers dienlich sein könnten (s.o.), oder aber private Vergünstigungen aller Art, die man entgegen dem bei Politikern und Lobbyisten üblichen Sprachgebrauch74 schlicht als Bestechung bezeichnen darf. Die Interessenverflechtungen zwischen Verbänden und politischen Parteien können hier nicht im Detail erörtert werden. Es ist jedoch wichtig festzustellen, daß sich historische Affinitäten zwischen den wichtigsten Unternehmerverbänden (v.a. BDI, BDA) und der Regierungskoalition aus Union und FDP sowie zwischen den meisten Gewerkschaften und der SPD herausgebildet

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Nach Westphalen (Hrsg.) (1993, 334) wies im Jahr 1991 die ,Lobbyliste', d.h. die offizielle Liste deijenigen Verbände, die bei öffentlichen Parlamentshearings angehört werden wollten, 1.512 Einträge auf. Wilfried Guth, seinerzeit Aufsichtsratsvorsitzender der Deutschen Bank, schrieb unter dem Titel .Macht und Verantwortung' in der F A Z vom 19. Juli 1986: „Kein Zweifel, Unternehmer können, zumal wenn es starke Persönlichkeiten sind, Einfluß auf die Wirtschaftspolitik wie auch auf die allgemeine politische Meinungsbildung ausüben. Hier liegt nicht nur legitim, sondern in verantwortungsbewußtem Sinne wahrgenommen, ein Teil der unternehmerischen Aufgaben. "

114 haben (vgl. Römmele 1995). Diese informelle Lagerbildung hat u.a. besondere Auswirkungen auf die Finanzsituation der Parteien: Am deutlichsten schlägt die Parteilichkeit sich in der Spendenpraxis nieder; die SPD wird auch auf Länderebene eher stiefmütterlich bedacht. Nur kurzfristig - während der ersten Amtsperiode des Kanzlers Helmut Schmidt - sah es so aus, als würden die Unternehmer und ihre Organisationen zu einer eher pluralistischen Einflußpolitik übergehen. (Abromeit 1993, 79)

Die zweite Beeinflussungsmethode der Interessenverbände besteht darin, als eigenständige politische Akteure in den Prozeß der öffentlichen Meinungs- und Willensbildung einzugreifen. Verfassungsrechtlich basiert die Anerkennung von Verbandsaktivitäten als politisches Handeln auf zwei gesetzlichen Grundlagen: Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts verbürgt das Vereinigungsrecht für Berufsgruppen (Art. 9 ΠΙ GG) die Tarifautonomie der .Sozialpartner', womit in diesem mittlerweile eminent wichtigen Politikfeld die Verbandstätigkeit von Unternehmerverbänden und Gewerkschaften und nicht etwa die Parteipolitik die Geschicke bestimmt. Weil der Zustand der Tarifvertragssysteme unmittelbare Auswirkungen auf die wirtschafts-, finanz- und sozialpolitischen Handlungsspielräume der Parlamentarier hat, sind in diesem Sektor gegenseitige Interessenverflechtungen zwischen Parteien und Verbänden traditionell virulent. Die zweite Möglichkeit der Verbände, als politische Akteure in Erscheinung zu treten, steht verfassungsrechtlich jedem Bürger offen und unterliegt daher grundsätzlich dem .freien Spiel der Kräfte', das aber so frei eben doch nicht ist. Die Rede ist vom Recht der freien Meinungsäußerung in den Massenmedien (Art. 5 GG). Die Spitzenverbände erfreuen sich, vor allem wenn sich ihr Einfluß im Handeln der Parlamentarier deutlich sichtbar abzeichnet (im Guten wie im Schlechten), gemeinhin eines regen Interesses der politischen Berichterstatter. Die Geschlossenheit und Kontinuität ihrer Interessen, ihr hoher Organisationsgrad und ihre finanziellen Ressourcen machen große Verbände für Massenmedien attraktiv, sofern deren Aufsichtsgremien nicht ohnehin von Verbandsvertretern mitkontrolliert werden. Weil große Verbände ihre Öffentlichkeitsarbeit' in erster Linie via Massenmedien betreiben und diese wiederum auf Informations-Input und das Anzeigengeschäft angewiesen sind, sind auch in diesem, politisch hochrelevanten Bereich massive Interessenverflechtungen zu konstatieren. Oben war gesagt worden, daß der elementare Prozeß der politischen Meinungs- und Willensbildung in der Vermittlung von gesellschaftlichen Interessen in die politischen Entscheidungszentren besteht (vgl. 135). Die Hauptorgane dieser Vermittlungsleistung sind die Print- und Rundfunkmedien. In Art. 5 I GG heißt es: Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.

115 Dadurch, daß das zentrale demokratische Grundrecht der freien Meinungsäußerung unmittelbar mit der Informationsfreiheit sowie der Presse-, Rundfunk- und Filmfreiheit verknüpft ist, haben die Medien unabhängig von ihrem juristischen Status (öffentlich-rechtliche oder private Anbieter) einen gemeinsamen, verfassungsrechtlich vorgeschriebenen Auftrag: die Bildung einer .öffentlichen Meinung' nach den Prinzipien der Staatsfreiheit (Zensurverbot) und der gleichgewichtigen Meinungsvielfalt.75 Im Prozeß der öffentlich-politischen Kommunikation haben Pressehäuser und Fernseh- und Rundfunksender eine „Medium- und Faktorfunktion, denn sie spiegeln nicht nur, sondern schaffen und verändern Wirklichkeit" (Sarchielli 1996, 34). Indem die Medienvertreter ihre Erzeugnisse als instrumentelle Kommunikationsmittel zur Verfügung stellen, gewährleisten sie, daß die Bürger ihre individuellen Meinungen überhaupt erst publik machen können (sofern Publizität als eine Größe jenseits des Privatsektors betrachtet wird). Als Faktor der politischen Meinungsbildung treten die Medien dadurch in Erscheinung, daß sie die Funktionen gesellschaftspolitischer .gatekeeper' und ,opinion leader' wahrnehmen. Sie gewähren (oder verwehren) den Zugang zur ,knappen Ressource Aufmerksamkeit', sind maßgeblich an der Entwicklung des Systems der .attention rules' beteiligt (etwa durch in-out-Raster) und üben so einen entscheidenden Einfluß auf die Konstruktion und die Karriere politischer .Themen' aus (vgl. S. 108). Insofern also die Medien die Vielfalt der individuellen Interessen und Meinungen innerhalb einer Gesellschaft filtern und sie als politische Themen vorstrukturieren, werden die politischen Entscheidungsprozesse von ihnen nicht nur beeinflußt76, sondern sogar erst ermöglicht. Denn die Medien fungieren unter den Vorzeichen eines beschleunigten Komplexitäts- und Wissenszuwaches - gewissermaßen als soziales ,Gedächtnis' der Gesellschaft, d.h. sie sorgen einerseits für eine gesellschaftsweit bekannte und weitestgehend akzeptierte ,Hintergrundrealität', auf die die Politik rekurrieren kann (Luhmann 21996, 120f.), und erbringen andererseits vorstrukturierende Selektionsleistungen, indem sie komplexe gesellschaftliche Sachverhalte zu politischen Themen bündeln: Themen dienen [...] der strukturellen Kopplung der Massenmedien mit anderen Gesellschaftsbereichen; und sie sind dabei so elastisch und so diversifizierbar, daß die Massenmedien über ihre Themen alle Gesellschaftsbereiche erreichen können, während [...] etwa die Politik, die Wissenschaft, das Recht oft Mühe haben, ihre Themen den Massenmedien anzubieten und die

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Vgl. § 20 Π des Abschnittes .Vorschriften für den privaten Rundfunk' im ,Staatsvertrag über den Rundfunk im vereinten Deutschland' vom 1. Januar 1992 (in der Fassung vom 1. August 1994, zitiert nach: Zweites Deutsches Femsehen 1995, 18): „Im privaten Rundfunk ist inhaltlich die Vielfalt der Meinungen im wesentlichen zum Ausdruck zu bringen. Die bedeutsamen poütischen, weltanschaulichen und gesellschaftlichen Kräfte und Gruppen müssen in den Vollprogrammen angemessen zu Wort kommen; Auffassungen von Minderheiten sind zu berücksichtigen." Hermann/Chomsky (1988, 289) sehen die Gefahr, daß dieses .Filtersystem' dem Zweck diene, „to inculcate and defend the economic, social, and political agenda of privileged groups that dominate the domestic society and the state".

116 sachgemäße Aufnahme des Themas zu erreichen. Der gesellschaftsweite Erfolg der Massenmedien beruht auf der Durchsetzung der Akzeptanz von Themen, und diese ist unabhängig davon, ob zu Informationen, Sinnvorschlägen, erkennbaren Weitungen positiv oder negativ Stellung genommen wird. Oft geht das Interesse am Thema gerade davon aus, daß beides möglich ist. Nach ihrer Publikation können Themen als bekannt behandelt werden. (Luhmann 21996, 29)

Dies ist die eine, im Grundgesetz vorgesehene Seite der Medaille. Sie findet unter anderem darin ihren Ausdruck, daß im öffentlich-rechtlichen Sektor die Einhaltung des Prinzips der gleichgewichtigen Meinungsvielfalt (s.o.) von ,Fernsehräten' kontrolliert wird, die sich aus Vertretern der Bundes- und Länderregierungen, der Parteien und der wichtigsten Interessenverbände zusammensetzen (Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbände, Kirchen, Wohlfahrtsverbände etc.)77, und daß im Privatsektor die Landesmedienanstalten regelmäßig darüber zu befinden haben, ob privatwirtschaftliche Konzentrationstendenzen (etwa durch die KirchGruppe) diesem Prinzip nicht zuwiderlaufen.78 Die andere Seite der Medaille wird dadurch geprägt, daß die Medien eben nicht nur die o.a. strukturellen und dienenden Funktionen im Prozeß der öffentlich-politischen Kommunikation wahrnehmen, sondern diesen auch entscheidend mitgestalten. Medien „schaffen und verändern Wirklichkeit" (Sarchielli 1996, 34) nicht ausschließlich unter dem Gesichtspunkt ihres Verfassungsauftrages, sondern verfolgen dabei - hierin den Interessenverbänden ähnlich - in der Regel eine eigene Interessenpolitik. In diesem Zusammenhang können sowohl materielle Belange wie die Orientierung an Einschaltquoten und Anzeigenkunden als auch ideologische Präferenzen für bestimmte poütische Grundrichtungen handlungsleitend sein (vgl. Bucher 1991). Die bereits oben angedeuteten Verflechtungen zu politischen Parteien und Interessenverbänden basieren also auf Gegenseitigkeit, und dies dürfte auch die rasante Dynamik erklären, mit der sie sich etwa seit Mitte der achtziger Jahre entwickeln: Kein Zweifel: Information und Kommunikation sind d i e politisch-strategische Ressource, die Informations- und Kommunikationstechnologie [ist] d i e Schlüssel- und Querschnittstechnologie der modernen Gesellschaft, die längst in praktisch alle Lebensbereiche vorgedrungen ist; eine Ressource, die sich in quantitativer wie qualitativer Hinsicht sowie einer nie zuvor in der Geschichte gekannten Rasanz verändert. (Sarchielli 1996, 34f.)

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Vgl. etwa § 20 I des ,ZDF-Staatsvertrages' vom 1. August 1994 (Zweites Deutsches Fernsehen 1995, 38): „Der Fernsehrat hat die Aufgabe, für die Sendungen des Z D F Richtlinien aufzustellen und den Intendanten in Programmfragen zu beraten. Er überwacht die Einhaltung der Richtlinien [...]·"

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Vgl. § 21 V I des .StaatsVertrages über den Rundfunk im vereinten Deutschland' vom 1. Januar 1992 (in der Fassung vom 1. August 1994 zitiert nach Zweites Deutsches Fernsehen 1995, 20): „Der

Bericht

soll

[...]

zu erforderlichen Regelungen zur Verhinderung

multimedialer

Meinungsmacht Stellung nehmen." Solche .Regelungen' betreffen in erster Linie die Vergabe bzw. Verlängerung von Sendelizenzen.

117 Die Frage, wie es unter diesen Bedingungen um die Interessenkonstellationen zwischen den Massenmedien und ihren wie auch immer politisch interessierten Zuschauern bestellt ist, läßt sich nicht leicht beantworten. Die neuere Medienrezeptionsforschung linguistischer Provenienz legt nahe, daß es den prototyptischen Fernsehzuschauer mit spezifischen politischen Interessen nicht gibt: Der Rezipient ist nicht das passive Opfer oder hilflose Objekt der Medien und seiner Manipulateure, der Rezipient ist aktiv, lebt in instabilen primären Gruppen und wechselnden Situationen, die seine Wirklichkeitskonstruktionen mitformen und ihn zu einem höchst unberechenbaren Gegenspieler in den komplexen Abläufen politischer Kommunikation machen. (Holly 1996, 105)

Diese Ansicht ist jedoch nur bedingt richtig. Daß Rezipienten den Medien nicht ausgeliefert sind, ist unstrittig, kann aber auch kaum überraschen, da die Aussage auf der allgemeinen hermeneutischen Erkenntnis basiert, daß den Adressaten sprachlicher Äußerungen bei ihrer Interpretation immer Deutungsspielräume offenstehen, die Äußerungen selbst also prinzipiell mehrdeutig sind und alternative Lesarten zulassen (Holly 1996, 106-1 11).79 Wie also erwartbar war, findet Holly bei der Analyse authentischer fernsehbegleitender Rezipientengespräche, daß die Zuschauer (politischen) Sendebeiträgen mit wechselnder Aufmerksamkeit folgen (oder umschalten), daß häufig mangelhaftes oder fehlendes (politisches) Hintergrundwissen die Wahrnehmung verzerrt, daß (politische) Sendebeiträge zu eigenen Deutungen oder Umdeutungen Anlaß geben und daß schließlich sowohl Inhalt als auch Machart der Beiträge oft metakommunikative Bewertungen nach sich ziehen. Doch dies gilt prinzipiell fur alle Sendebeiträge der Massenmedien, nicht nur für Beiträge, die als politisch' deklariert werden können. Daß also Medienrezipienten ,unberechenbare Gegenspieler in den komplexen Abläufen politischer Kommunikation' seien (s.o.), wird durch diese Befunde nicht nachgewiesen. Überhaupt liegt die Vermutung nahe, daß Hollys Untertitel ,Ein neuer methodischer Ansatz in der sprachwissenschaftlichen Erforschung politischer Fernsehkommunikation' in die Irre führt. Denn bemerkenswerterweise wird im gesamten Aufsatz keine einzige (!) Äußerung eines Politikers auf seine Wirkungen hin untersucht; die Demonstrationsbeispiele entstammen aus der Fernsehberichterstattung über den Sport (Tennis), die Wirtschaft (Lopéz), das Militär (Freiwillige in Somalia), Gewerkschaftsaktivitäten (Demonstration von Stahlarbeitern) und aus einer Talkshow, an der nominell private Gäste teilgenommen haben (Angehörige von Tätern und Opfern des Terrorismus).80 Doch selbst wenn man darüber hinwegsieht, bleibt dennoch

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Vgl. auch Holly/Püschel (1993). Die Berichterstattung zu diesen Themenkomplexen kann zwar politisch relevant werden, aber zur Kennzeichnung solcher Beiträge als .politische Texte' gehört mehr: sie müssen längerfristig die Aufmerksamkeitsschwelle überschreiten und von Vermittlungsinstanzen oder politischen Akteuren zum Gegenstand der öffentlich-politischen Meinungsbildung erhoben werden. Dies gilt für das folgende Beispiel sicher nicht: „Bei der Nachrichtenberichterstattung (, RTL-Aktuell') über ein Tennisspiel mit André Agassi äußert eine Zuschauerin: .Jetzt will ich doch wirklich mal

118 die Frage offen, ob die oben skizzierten Spontanreaktionen von Fernsehzuschauern tatsächlich eine politische Dimension besitzen und daher in einen Zusammenhang mit der Politikdarstellung durch Medien und Parteien gebracht werden sollten, wie Holly (1996, 118) andeutet. Ich meine: Nein. Wenn eine Zuschauerin während einer Talkshow zum Thema ,Terrorismus' sagt: „Ei, da hinten den Typen, den kenn ich. (2 sec) Oh, den fand ich mal so süß." (Holly 1996, 115), dann kann man unter dem politikkonstituierenden Aspekt der,Interessenvermittlung (vgl. S. 108f.) feststellen, daß eine solche ,Fokusverschiebung' politisch vollkommen irrelevant ist. Außerdem ist man geneigt zu sagen, daß unter diesen Umständen die .attention rules', die für die Medien und die Politik gelten, ihre volle Berechtigung haben. ,Hier spricht der Zuschauer', heißt Hollys vielversprechender Titel, aber die Beispiele, die er anführt, liegen so offensichtlich unterhalb der Schwelle öffentlicher Aufmerksamkeit, daß man hinzufugen möchte: ,Hier spricht der Zuschauer belanglos.' Die Frage nach den Interessenkonstellationen zwischen Massenmedien und ihren Zuschauem im Bereich des Politischen ist damit natürlich noch nicht beantwortet. Soviel scheint aber klar zu sein: Weder dürfen die vielfältig verflochtenen Darstellungsinteressen der Medien dabei unter den Tisch fallen81, noch dürfen die realiter begrenzten politischen Einflußmöglichkeiten der Zuschauer künstlich überhöht werden. Ein ,höchst unberechenbarer Gegenspieler in den komplexen Abläufen politischer Kommunikation' (Holly 1996, 105) ist ein gewöhnlicher Medienrezipient der Gegenwart schon deswegen nicht, weil er erstens gar nicht mitspielt und zweitens offenbar auch kein Interesse daran hat.82 Stattdessen müssen die politischen Einflußsphären der Bürger und die sozialen Rollen, die sie jeweils einnehmen können, analytisch klar getrennt werden: Als Wähler dürfen die Bürger erwarten, daß die politische Medienberichterstattung ihrem Programmauftrag nachkommt und die komplexe politische Materie thematisch so vorstrukturiert, daß eine Wahlentscheidung erleichtert wird. Partei- oder Verbandsmitgtieder erwarten, daß die Berichterstattung dem Prinzip der gleichgewichtigen Meinungsvielfalt entspricht und auf diese Weise die Chancengleichheit im Interessenwettbewerb gewährleistet ist (Art. 3 ΠΙ i.V.m. Art. 38 IGG). Leser-

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sehen, ob er wirklich am Bauch rasiert is.' Solche Fokusverschiebungen machen aus mehr oder weniger ,politisch produzierten' Texten ,unpolitisch rezipierte' Texte." (Holly 1996, 116; Hervorh. G.W.) Holly (1996, 110) interessieren „die Konstruktionen der [politischen; G.W.] Akteure und Medien nur insoweit, wie sie die letztlich ausschlaggebenden Konstruktionen der Rezipienten beeinflussen, die sogar .geschlossene Texte' noch in ihrem Sinn .aufbrechen' können." Diese apolitische Auffassung gewinnt auch dadurch nicht an Plausibilität, daß ihre Integration in ein .Mehrebenendesign' gefordert wird (1996, 105). Die Frage, ob die demoskopisch nachweisbare .Politikverdrossenheit' (vgl. etwa Feist 1994, Birke 1995) als Indiz für eine politische .Systemkrise' oder als eine in modernen Gesellschaften .selbstverständliche Normalsituation' zu interpretieren ist, wird in der Politologie rege diskutiert (vgl. Czerwick 1996, 68ff.).

119 briefschreiber haben zwar prinzipiell die Möglichkeit, ihre politische Meinung zu bekunden und damit Einfluß zu nehmen, müssen aber mit den .attention rules' und Selektionsmechanismen der Medien rechnen (vgl. Bucher 1986, 142-147; Luhmann 21996, 70f.). Als bloße, hinsichtlich ihrer Interessen und Erwartungen disperse Medienrezipienten nehmen die Bürger an neuen Spielen teil, in denen weitere Spielpartner die Bühne betreten und die Rollen vollkommen anders verteilt werden: Werbungstreibende interessieren sich für sie als Konsumenten, Unterhalter begrüßen sie als Spielfilm- oder Showgäste, die Produzenten von Ratgebersendungen richten sich an sie als Ratsuchende etc. Mit Luhmann (21996, 128) gesprochen: „Die Produktion der Massenmedien beruht [...] auf einer Rollenkomplementarität von Arrangeuren und sektoral interessierten Mitgliedern des Publikums." Als ob dies nicht bereits verwirrend genug wäre, wächst gleichzeitig die Zahl der Anbieter (z.B. Pay-TV, Multi-Media-Server) und die Angebotsvielfalt auf dem Medienmarkt (z.B. Spartenprogramme, Computernetze, interaktives Femsehen), was eine Spaltung der politisch interessierten Öffentlichkeit in beliebig viele Teilpublika, in ein „unübersichtliches Konglomerat von Nutzergrüppchen" mehr als wahrscheinlich macht (Sarcinelli 1996, 37). Für die Rollenkonfigurationen zwischen Medienproduzenten und -rezipienten hat dies bislang noch unüberschaubare Konsequenzen; die elementaren Fragen lauten für den Analytiker: „Gibt es dann überhaupt noch gemeinsame Themen politischer Auseinandersetzung und Verständigung, ein poütisches ,Konversationswissen' also? Wer führt dann mit wem welchen Dialog, wenn theoretisch jeder mit jedem jederzeit in ,Dialog' treten kann?" (ebd.) Im Augenblick können Linguisten angesichts dieser offenen Fragen m.E. nur passen und sich auf die .klassischen' Felder der politischen Medienrezeptionsforschung konzentrieren, d.h. auf die Wirkungen der politischen Berichterstattung auf die Bürger als Wähler und Parteianhänger sowie deren Möglichkeiten, auf die - hier einmal als existent vorausgesetzte - öffentliche Meinung' durch Leserbriefe, die Teilnahme an Umfragen etc. Einfluß zu nehmen. Die Rolle der Verfassungs- und Staatsorgane (legislativ, exekutiv und judikativ) im Prozeß der politischen Meinungs- und Willensbildung wird später noch zu erörtern sein. Hier nur soviel: Die Kommunikationsprozesse, die in Parlamenten, Regierungen und Gerichten ablaufen, besitzen Grundstrukturen, die mit jenen der Alltagskommunikation wenig gemein haben. Es erscheint daher gerechtfertigt, sie besonderen ,Handlungszonen' oder ,Interaktionrahmen' zuzurechnen, fiir die spezielle Sprachspieltypen und bestimmte Sequenzierungsregeln (formell wie informell) charakteristisch sind.83 Welche Sprachspiele nach welchen Regeln gespielt werden, hängt wesentlich davon ab, um welche Formen politischer Macht es jeweils geht. Die Kommunikation innerhalb der staatlichen Institutionen der Bundesrepublik ist, da ihre Akteure

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Beide Aspekte, die funktionale Einbindung von sprachlichen Handlungen in Interaktionsrahmen und ihre Sequentialität, betont beispielsweise auch Klein (1991) in seiner Untersuchung über politische Textsorten in Gesetzgebungsverfahren und Wahlkämpfen.

120 ein demokratisches Mandat besitzen müssen, in erster Linie eine Angelegenheit von Stellvertretern' und ,Koalitionären'. Daß sich aus diesen Rollen bestimmte kommunikative Aufgaben ergeben, ist bereits oben angedeutet worden (S. 109ff.), und wird in Kapitel ΠΙ an konkreten Beispielen weiter ausgeführt. Ein kurzes Fazit: Die Verfassung der Bundesrepublik und die Verfassungswirklichkeit, die sich in der öffentlich-politischen Kommunikation widerspiegelt, verhalten sich - metaphorisch gesprochen - ähnlich zueinander wie die Anleitungen einer Spielesammlung zu den unzähligen Partien, die auf den verschiedenen Spielfeldern der Sammlung mit dazu passenden Figuren durchgespielt werden können. Im Grundgesetz ist fur die einzelnen Spiele weder der Ausgang noch das strategische Spielerverhalten vorgeschrieben; festgesetzt ist dort lediglich, welchen gesellschaftspolitischen Zwecken die Spiele jeweils dienen, welcher Figuren bzw. Mittel sich die Spieler bedienen dürfen und welche Züge damit erlaubt sind. Welche Ergebnisse die Spieler in den Partien oder während ganzer Turniere erzielen können, hängt in erster Linie davon ab, wie gut sie die Spielregeln beherrschen, ob sie über erfolgversprechende Strategien und Taktiken verfügen, welche Mittel ihnen zu Gebote stehen und vor allem - daß sie lange genug mitspielen dürfen. Wie alle Vergleiche hinkt natürlich auch dieser. Der wichtigste Unterschied zur Spielesammlung besteht darin, daß die in der Verfassung vorgesehenen politischen Sprachspiele vielfältige Interdependenzen aufweisen und gewissermaßen in einem organischen Zusammenhang miteinander stehen. Während etwa das Dame- und Mühlespiel einer Sammlung jeweils für sich stehen, sind z.B. parlamentarische Sprachspiele oft aufs engste mit dem öffentlichen Meinungsklima oder der Rechtsprechung der Verfassungsgerichte oder der Lobby-Arbeit der Verbände oder der Politikdarstellung der Medien verknüpft. Oder mit allem zusammen. Klarheit kann man in diesem Konglomerat nur gewinnen, wenn erstens bestehende Sprachspielgrenzen deutlich umrissen werden und zweitens authentische Verläufe der öffentlichpolitischen Kommunikation nicht als data bruta, sondern als exempia behandelt werden. Es scheint nämlich, daß ein rein empirischer Zugang zu allen Einflußfaktoren einer nur mittelgewichtigen politischen Entscheidung über gesellschaftliche Belange unmöglich (geworden) ist. Entsprechend den Kriterien der Beobachtungs-, Beschreibungs- und Erklärungsadäquatheit (vgl. S. 14f.) sind die Zwecke der politischen Sprachspiele, deren funktionale Interdependenzen und das tatsächlich gezeigte kommunikative Spielverhalten der politischen Akteure in einem analytischen Zusammenhang zu betrachten. Wie im Rahmen der politischen Kommunikationsgeschichte der DDR bereits angedeutet wurde (vgl. S. 93f.), bietet sich dazu das Konzept der ,Sprachspielfamilie' an, das im folgenden auf den Grundvorgang des bundesrepublikanischen Verfassungslebens angewandt werden soll - die Wahl parlamentarischer Volksvertreter durch die Bevölkerung.

121 4. Die Sprachspielfamilie ,Wahlkampf - zentrale Arena der politischen Meinungs- und Willensbildung der Gegenwart

Im Bewußtsein von Wählern und Politikern sind Parlamentswahlen untrennbar mit den vorausgehenden Wahlkämpfen verbunden. Dieser intuitiven Verknüpfung entspricht die hier vertretene Auffassung, daß die Kommunikationsereignisse während eines Wahlkampfes und die Wahl selbst eine Sequenz von Sprachspielen darstellen, die in einem verwandtschaftlichen' Verhältnis zueinander stehen. Vereinfachend spreche ich von der , Sprachspielfamilie Wahlkampf. Die ,Wahl' selbst gehört zur Sprachspielfamilie dazu, da sie den gewissermaßen .natürlichen' (wenn auch immer nur vorläufigen)84 Abschluß der Kommunikationsequenz markiert. Wahlen werden mithin als Sprachspielt interpretiert, gleich ob sie ,mit den Füßen', mittels Handzeichen oder per Kreuz auf einem Stimmzettel durchgeführt werden. Um Handlungen dieser Art als Spielzüge zu deuten, ist es wichtig, daß ihnen eine erkennbare kommunikative Funktion im Sprachspiel zukommt, nicht aber, daß sie sprachlich realisiert werden.85 Indem die kommunikativen Strukturen der Parlamentswahl und damit das Gemeinschaftshandeln des Interaktionspaares ,Wahlkandidat - Wähler' an den Anfang der Sprachspielanalyse gestellt weiden, wird das Pferd gewissermaßen von hinten aufgezäumt. Angesichts der elementaren Bedeutung der Wahl im politischen System der Bundesrepublik erscheint es jedoch legitim, mit dem Endpunkt der Wahlkampfsequenz zu beginnen. Denn erstens verfahrt das Grundgesetz genauso: Nach den Grundrechten (Art. 1-19 GG) und den allgemeinen Grundlagen der staatlichen Ordnung in Bund und Ländern (Art. 20-37 GG) beginnt die Reglementierung der politischen Praxis mit Bestimmungen zur Parlamentswahl (Art. 38). Und zweitens trägt diese Blickrichtung dazu bei, daß man über dem mittlerweile üblichen Wahlkampfgetöse nicht aus dem Auge verliert, worum es eigentlich geht: das Stimmkreuz des Wählers für einen von mehreren Wahlkandidaten.

4.1 Der ,Witz' repräsentativ-demokratischer Wahlen - multilaterale Verhandlungen über politische .Angebote' und Mandate Doch was bedeutet es im Gesamtkontext der Wahlkampfsequenz, wenn der Wähler ein Stimmkreuz macht? Welchen funktionalen Charakter hat diese Handlung und welche Konse-

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Vgl. Radunski (1980, 9): „Sofort nach der Wahl muß die Wiederwahl vorbereitet werden - diese Maxime jeder politischen Strategie zwingt den Politiker zur intensiven Beachtung politischer Kommunikation. " Vgl. den weiten Sprachspiel-Begriff Wittgensteins: „Ich werde auch das Ganze: der Sprache und der Tätigkeiten, mit denen sie verwoben ist, das .Sprachspiel' nennen. " (PU § 7)

122 quenzen? Aufgrund welcher kommunikativer Einflüsse kommt sie zustande und welche Auswirkungen hat sie auf den weiteren Verlauf der poütischen Kommunikation? Die Beantwortung solcher und ähnlicher Fragen hängt von dem Modell ab, das sich politische Akteure, politische Berichterstatter, die Öffentlichkeit und die Wissenschaft von den Grundstrukturen politischer Kommunikation machen. Deutungsmodelle aber sind historischen Konjunkturen unterworfen und müssen der Entwicklung ihres Gegenstandes, die - wie oben angedeutet (S. 116) - eine rasante Dynamik angenommen hat, angepaßt werden können. Genau diese Ausbau- und Fortschreibungsfahigkeit wird hier für die Konzeptualisierung der Wahl als ,Sprachspiel' und des Wahlkampfes als ,Sprachspielfamilie' in Anspruch genommen. Worum geht es also den Beteiligten in den .verwandten' Sprachspielen, und worin hegt deren ,Witz'? Allgemein gesprochen geht es in Parlamentswahlen darum, daß die Bürger jeweils einem aus einer Anzahl konkurrierender Parteikandidaten politische Macht zuschreiben, die diesen als Parlamentarier zu Entscheidungen über Angelegenheiten öffentlichen Interesses befähigt. So sieht es das Grundgesetz vor. 86 Wie jedoch dieser Austarienmgsprozeß von Wahl zu Wahl praktisch ausgestaltet wurde und vor allem nach welchem Modell die Wähler und Parteikandidaten diese Praxis deuteten, ist keine Frage des Verfassungsrechtes87, sondern eine Frage der historischen Verfassungswirklichkeit und mithin der politischen Kommunikationsgeschichte. So läßt sich beobachten, daß sich die bundesrepublikanischen Bürger nach 1945 - offenbar als Reflex auf den totalitären nationalsozialistischen Staat und unter den Vorzeichen des heraufziehenden ,Wirtschaftswunders' - den „Luxus leisteten, auf Politik mit Apathie zu reagieren" (Czerwick 1996, 50). Diese Haltung begünstigte die Etablierung eines ,restaurativen' politischen Systems, in dem von der Mehrheit der Bürger akzeptiert wurde, daß die Politik eine Sache der Parteien sei und sie selbst ,nur' durch Wahlen Einfluß ausüben könnten (vgl. Narr/Thränhardt, Hrsg. 1984, 2f.). Vielleicht ist in dieser Apathie gegenüber ,der' Politik als solcher ein Grund dafür zu suchen, daß zu Wahlzeiten die Bindimg der Bürger an

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Vgl. Seifert/Hömig (31988, 247f.) zu Art. 38 I GG: „Wahl ist eine Abstimmung, durch die eine oder mehrere Personen aus einem größeren Personenkreis ausgelesen werden (BVerfGE 47, 276). Bei jeder Wahl muß also eine Auslesemöglichkeit vorhanden sein. Zu wählen sind nach Satz 1 die Abgeordneten des BTags, also Personen, nicht Parteien; auch bei der Listenwahl können nur Bewerbermehrheiten gewählt werden, nicht Listen als solche. Alle Abg. bedürfen der Legitimation durch Volkswahl." Die in dieser Hinsicht zentralen Artikel 20 und 38 des Grundgesetzes blieben auch im Zuge der Verfassungsreform nach der Vereinigung unangetastet. Obwohl ihr von der .Gemeinsamen Verfassungskommission' Änderungsvorschläge zur Prüfung vorgelegt wurden, nahm die Legislative weder zusätzliche Staatsziele (Schutz natürlicher Lebensgrundlagen, Minderheitenschutz) noch plebiszitäre Elemente in das Grundgesetz auf. Eine nach Art. 146 GG mögliche Volksabstimmung über die neue Verfassung fand bekanntlich ebenfalls nicht statt.

123 ,ihre' Partei umso emphatischer war. Klein (1996) bezeichnet das Deutungskonzept für diese Rollenkonfiguration als ¿inhängerschafismodeW: In den ersten 20 bis 30 Jahren der Bundesrepublik dominierte das Anhängerschaftsmodell in der politischen Kommunikation. Parteien fungierten als Weltanschauungs- und Milieuparteien. Treue Anhänger betrachteten ,ihre' Partei als .politische Heimat'. Die Spitzenpolitiker waren für sie beides: Repräsentanten und Autoritäten. [...] Typisch für treue Anhänger sind Formulierungen wie ,meine politische Heimat', ,Ich bin CDU', ,Wir waren immer schon SPD' u.ä. - Formulierungen, die oft kontrastieren mit Beschimpfungen der gegnerischen Partei: .Schwarze Lumpen', ,rote Verbrecher' o.a., kennt jeder reichlich, der 50er-, 60er- oder 70er-Jahre-Wahlkämpfe an der Basis mitgemacht hat. (1996, 5)

Der Witz des Sprachspiels ,Wahl' war in der Lesart des Anhängerschaftsmodells von einer asymmetrischen Autoritätsbeziehung zwischen Wählern und Parteikandidaten geprägt: Dem direktiven Mobilisierungsaufruf des Kandidaten wurde von seiten seiner Anhänger- oder Stammwählerschaft traditionell entsprochen, weil weder dessen Repräsentantenstatus noch dessen Autorität grundsätzlich in Frage gestellt wurden. Es handelte sich um eine Form der politischen Macht, die sich in den Kategorien Max Webers beschreiben ließe (vgl. S. 59f.) und auf die gleiche „weit zurückreichende Tradition eines illiberalen Autoritätsglaubens" zurückweisen könnte, von der Jessen (1995, 102) mutmaßt, sie könnte für die politische Haltung der breiten DDR-Bevölkerung in dieser Zeit verantwortlich sein. Der entscheidende Unterschied bestand freilich darin, daß die Bürger der Bundesrepublik ihre Parteienanhängerschaft freiwillig artikulierten und sie jederzeit widerrufen konnten, um Alternativen zu wählen. Seitdem hat sich die Gesellschaft weiterentwickelt, und die Politik versucht, darauf zu reagieren. Unter dem Stichwort der ,Politikverdrossenheit, die etwa seit Anfang der achtziger Jahre Politologen und Soziologen beschäftigt, lassen sich zwei Tendenzen zusammenfassen, die einen grundlegenden Wandel in den Rollenbeziehungen zwischen Wählern und Parteikandidaten markieren: Erstens hat sich bei den Bürgern die Bereitschaft verstärkt, „sich durch Formen zivilen Ungehorsams und durch die Gründung von Bürgerinitiativen und Selbsthilfegruppen selbst um die Politik zu kümmern und sie nicht allein den sich selbst rekrutierenden Akteuren zu überlassen" (Czerwick 1996, 51). Diese Entwicklung betrifft die systemkritische Frage, ob überhaupt Repräsentanten fiir die Anliegen der Bürger gebraucht werden, und äußert sich beispielsweise in der eigentümlichen Verbindung von hohem Politisierungsgrad und grundsätzlicher Wahlenthaltung (vgl. Eilfort 1994, Kleinhenz 1995). Zweitens ist die Bereitschaft der Bürger geschwunden, den Parteien gewissermaßen automatisch Autorität und Kompetenz zur Lösung gesellschaftlicher Problemlagen zuzuschreiben. Diese Entwicklung betrifft die parféíkritische Frage, ob der Auftrag zur Problemlösung nicht anderen Repräsentanten (aus der Wirtschaft, den Gewerkschaften, ökologischen Gruppen etc.) übertragen werden sollte oder aber ob die politischen Repräsentanten ihre Handlungspielräume nicht in diese Bereiche ausdehnen sollten (freilich erst nach einer ,reflexiven Modernisierung'; vgl. Beck 1993). Wie auch immer man in dieser Frage denkt, ist die Konsequenz dieser Er-

124 scheinungsformen der Politikverdrossenheit, daß das Wahlverhalten der Bürger für die Parteien unkalkulierbar wird (Denkzettel-Enthaltungen, Stimmensplitting, Wechselwahlen etc.) und offenbar zunehmend deren parteipolitisches Pendant evoziert, nämlich die ,VoIksverdrossenheit' (vgl. Kort-Krieger 1994; Czerwick 1996, 64). Auf jeden Fall ist unter diesen historisch-politischen Umständen zu konstatieren, daß die sozialen Beziehungen zwischen Wählern und Parteikandidaten zum Problem geworden sind, und zwar zu einem Problem, das nur auf kommunikativem Wege zu bewältigen ist.88 Das Modell zur Deutung der Wahlkampfpraxis hat sich bei den politischen Akteuren, den journalistischen und wissenschaftlichen Beobachtern und sukzessive auch in der Öffentlichkeit verändert: Das emphatische Ajohängerschaftsmodell der Nachkriegszeit rückt etwa seit Beginn der achtziger Jahre in den Hintergrund und wird durch ein von ökonomischen Rationalitätskriterien geprägtes ,MarktmodeU' überlagert.89 Die Bürger werden nach diesem Modell als Marktteilnehmer aufgefaßt, die nach markwirtschaftlichen Grundsätzen über die politischen ,Angebote' der Parteikandidaten bzw. Parteien entscheiden: Falls überhaupt ein Interesse besteht, wird das Angebot geprüft, mit anderen Angeboten verglichen und unter Umständen Gegenstand angebotsmodifizierender Verhandlungen. Wenn es schließlich gelallt, wird im Gegenzug dem Parteikandidaten per Wahlmandat der zeitlich begrenzte Auftrag erteilt, die Inhalte des Angebotes in die Tat umzusetzen. Für die Bürger existiert zwar (häufig zu deren Bedauern) kein ,Umtauschrecht', aber schon bei dem Verdacht der Nicht-Erfüllung des Auftrages gibt es Reklamationen und drohende Hinweise auf die Möglichkeit, den Auftrag wieder zu entziehen. Wenn das Angebot nicht (mehr) gefallt, geht man zu anderen Anbietern oder läßt es ganz bleiben. Auf den Märkten der Wirtschaft sind die kommunikativen Probleme, die sich aus einer solchen Sicht ergeben, seit jeher bekannt und traditioneller Ausgangs-

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Fragte etwa Sarchielli (1990) noch vorsichtig: ,Auf dem Weg in eine kommunikative Demokratie?', so ist für Habermas (1996, 285) die Sache heutzutage entschieden: „Es kommt also alles auf die Kommunikationsbedingungen und Verfahren an, die der institutionalisierten Meinungs- und Willensbildung ihre legitimierende Kraft verleiht." Habermas entwickelt aus dieser Bestandsaufnahme das diskurstheoretisch fundierte Modell einer .deliberativen' Politik, in deren Mittelpunkt die Transformation .kommunikativ erzeugter Macht' in .administrativ verwendbare Macht' steht (1996, 288). Vgl. etwa Dahrendorf (1989), Abromeit (1993, 11), Glabus (1994) und Klein (1996, 5). Zur Hereinnahme von Elementen der ökonomischen Theorie in eine Theorie sozialen Handelns vgl. Coleman, der sich intensiv mit Max Webers .rationalistischem' Handlungs- und Zielbegriff auseinandersetzt (1995, I 16 Anm. 8): „Die Handlungen eines Individuums sind nicht nur abhängig von Präferenzen und Weiten, sondern auch von Möglichkeiten und Anreizen, die das soziale Umfeld bietet. " Um den Begriff des sozialen Handelns unter Marktbedingungen präziser zu fassen, geht man davon aus, „daß verschiedene Handlungen (oder in einigen Fällen verschiedene Waren) für den Akteur von bestimmtem Nutzen sind, und verbindet dies mit einem Handlungsprinzip, wonach der Akteur diejenige Handlung auswählt, die den Nutzen maximiert. " (1995, I 17)

125 punkt umfassender kommiinikationsstrategischer Planungen (vgl. etwa Franke/Hundsnurscher, Hrsg. 1985). Doch wie steht es in dieser Hinsicht mit dem politischen Markt? In der Lesart des ,Marktmodells' ist der Witz des Sprachspiels ,Wahl', daß eine Reihe ,multilateraler Verhandlungen' zum Abschluß gebracht wird, in denen die politischen Angebote miteinander konkurrierender Parteikandidaten auf der einen Seite und die politischen Mandate der Wähler auf der anderen Seite zur Disposition stehen. ,Multilateral' sind die im Vorfeld von Wahlen stattfindenden Verhandlungen insofern, als immer mehrere poütische Anbieter vertreten sein müssen, aus denen das Wählerpublikum auszuwählen hat. Angesichts dieser verfassungsrechtlich vorgeschriebenen Anbietervielfalt besteht die vordringliche Aufgabe des Einzelanbieters darin, mit möglichst vielen Wählern in bilaterale Verhandlungen einzutreten, an denen nur noch er selbst und die am Angebot Interessierten unmittelbar beteiligt sind. Die Transformation komplexer multilateraler Bezüge in einfache bilaterale Beziehungen verheißt sowohl dem Anbieter als auch dem Wähler eine überschaubarere Situation: Es geht dann nur um ein Angebot bzw. Angebotspaket und darum, ob im Gegenzug das Mandat erteilt wird oder nicht. In dieser Reduktion von Komplexität mag ein wichtiger Grund für die frühere Attraktivität des .Anhängerschaftsmodells' hegen. Doch wie gesagt, dies ist nicht mehr der Normalfall. Viele Wähler nehmen heute die Mühe auf sich, mehrere politische Angebote miteinander zu vergleichen (vgl. Zelle 1995). Hat sich der einzelne Wähler für einen Anbieter entschieden und goutiert er dessen Angebot, schließt er durch die Wahlhandlung mit seinem Wahlkandidaten eine Art,Kontrakt' ab, der für beide Seiten bestimmte Festlegungen und Gewinnaussichten beinhaltet90: Der Wähler darf erwarten, daß seine Interessen vom frischgebackenen Parlamentarier entsprechend dessen Angebot in den politischen Entscheidungszentren erfolgreich vertreten werden. Als Gegenleistung delegiert er an den Politiker verschiedene Privilegien und Machtkompetenzen, von denen die folgenreichste das sogenannte ,freie Mandat'91 ist: Ausgestattet mit der Legitimation, demokratisch gewählter Vertreter zu sein, steht es dem Politiker im Verlauf der Legislaturperiode frei, die parlamentarische Interessenvertretung nach eigenem Ermessen durchzuführen, also u.U. auch gegen die ursprünglichen .Vereinbarungen' im .Wahlkontrakt'. Die Frage, welche Verbindlichkeit die beiderseitigen Festlegungen nach der Wahl besitzen bzw. besitzen können, ist für die Beziehungsgestaltung zwischen Bürgern und Politikern absolut zentral.

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Vgl. Searle/Vanderveken (1985, 197): „A contract is a mutual pair of commitments made by two contracting parties. Party A promises to do something for party Β in return for which party Β promises to do something for party A. The two commitments are not independent; in a genuine contract one is made in return for the making of the other. And this gives rise to the standard doctrine of the quid pro quo element of contracts. " Art. 38 I Satz 2 GG: „Sie [die Bundestagsabgeordneten; G.W.] sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen. "

126 Die elementare Gewinnaussicht des Wahlkandidaten besteht im Erwerb eines Mandates zur politischen Interessenvertretung. Da allerdings das parlamentarische Geschäft „ein starkes langsames Bohren von harten Brettern" (Weber 1919/92, 82) bedeutet (und außerdem attraktive Privilegien bietet), hegt es gewöhnlich im Interesse eines Parlamentariers, sein Mandat auch zukünftig zu behalten. Dies ist der Grund, weshalb er stets an die Erfolgserwartungen seiner Wählerschaft gebunden bleibt (die er schließlich mit seinem ursprünglichen Angebot selbst hervorgerufen hat) und weshalb er seinerseits auf die Einhaltung bestimmter Festlegungen zu achten hat. Das System der gegenseitigen Erwartungen und Festlegungen, über die Wahlkandidaten und Wähler verhandeln und die die Wähler mit ihrem Mandat schließlich .vertraglich' ratifizieren, ist der Kernpunkt jeder parlamentarischen Wahl. Eine kommunikative Bedingungsanalyse des Sprachspiels ,Wahl* mag illustrieren, worauf sich Kandidaten und Wähler einlassen, wenn sie miteinander in Verhandlungen treten (vgl. Abbildung 8 auf der nächsten Seite).92 Das Sprachspiel ,Wahl' ist eine Gemeinschaftshandlung zwischen politischen Anbietern und der wahlberechtigten Bevölkerung. Die Initiative zu diesem Sprachspiel geht traditionellerweise und verfassungsrechtlich unterstützt von den Parteien bzw. den Parteikandidaten aus (vgl. S. 109). Diese Rollenzuschreibung ist allgemein so etabliert, daß in juristischen Grundgesetzkommentaren wie selbstverständlich von einer ,Parteiendemokratie' die Rede ist (etwa Seifert/Hömig, Hrsg. 31988, 195). Die politischen Parteien und die Kandidaten als ihre Akteure dürfen demnach als die Initiatoren des Sprachspiels gelten. Mit parteipolitischen Verhandlungsangeboten' eröffnen sie das Spiel um die Mandate der Bürger.93 Unter den Voraussetzungen des poütischen .Marktes' (Anbietervielfalt, Angebotskonkurrenz, Kosten-Nutzen-Analysen etc.) ist das ,'Verhandlungsangebot' einer einzelnen politischen Partei als Versuch zu verstehen, in bilaterale Verhandlungen mit den Wählern einzutreten, die diese mit ihrem Mandat zum Abschluß bringen sollen. Anders als die während des Wahlkampfes unterbreiteten unilateral festlegenden Wahlofferten' (dazu im nächsten Abschnitt) besitzt das ,Verhandlungsangebot' unmittelbar vor der Wahl gewissermaßen ,Vertragsreife': Es ist die Letztfassung des Leistungskataloges, aufgrund dessen der Bürger an der Wahl teilnehmen und in der Wahlkabine das .richtige' Stimmkreuz machen soll.

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Diese Abbildung ist eine detailliertere Version von Abbildung 3. Es geht hier darum, die funktionale Charakteristik der Spielzüge und ihre sequentiellen Zusammenhänge näher zu bestimmen, um auf diese Weise die kommunikativen Grundstrukturen der Wahlinteraktion herauszuarbeiten. Wie bereits oben erwähnt (S. 121), steht aus analytischen Gründen die ,Wahl' am Anfang der Betrachtung. Es handelt sich hier also gewissermaßen um den ersten Zug im letzten Spiel der Wahlkampfsequenz. Wie die Parteien die Geiamisequenz .Wahlkampf' eröffnen (nämlich mit .unilateral festlegenden Wahlofferten'), ist Thema des folgenden Abschnittes.

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166 Rein theoretisch verfugen also politische Parteien über 50 kommunikative Wahlkampfbausteine, die sie vom Auftakt bis zum Finale eines Wahlkampfes nach strategischen Gesichtspunkten zusammenfügen und zum Einsatz bringen könnten.139 Das primäre Kriterium für die Konfliktträchtigkeit der Wahlkampfbausteine einer Partei (vgl. Abb. 14) ist eine analytisch begründbare Entscheidung darüber, ob durch die Realisierung akzeptanzstützender Maßnahmen auch die Interessen Dritter, und hier besonders die Interessen der politischen Gegner, berührt werden oder nicht. Nicht konfliktträchtig sind allein dokumentarische Selbstdarstellungen, da hier gegenüber dem Wählerpublikum ausschließlich vom eigenen Angebot und von den eigenen Anbieterqualitäten die Rede ist. Doch nicht alle selbstreferentiellen Akzeptanzstützungsformen sind frei von Konfliktpotentialen. Denn eine demonstrativ und in acta präsentierte Selbstdarstellung geht in der Regel auf Kosten des anwesenden Gegners. Auch wenn etwa im Rahmen einer Kompetenzdemonstration die Aktivitäten des Gegners mit keinem Wort erwähnt, also auch nicht herabgewürdigt werden, so stellt dieses Vorgehen für den Gegner dennoch eine unmittelbare Bedrohung dar. In der Kommunikationsarena einer politischen Fernsehdiskussion unmittelbar vor der Wahl etwa geht es allen Beteiligten darum, beim Fernsehpublikum ,Punkte zu machen' (Goffman 1967/78, 24): Da dies, bezieht man die Zuschauer ein, in einem ,Nullsummenspiel' geschieht, geht eine Erreichung des eigenen Handlungsziels mit dem Nicht-Erreichen des Handlungsziels seitens des politischen Gegners einher. (Lucas 1992, 132)

Wenn also ein Diskutant aufgrund einer gelungenen Kompetenzdemonstration beim Publikum .punktet', geschieht dies gegen die Interessen und zu Lasten seiner Kontrahenten, da sie im unmittelbaren Vergleich entsprechend schlechter abschneiden. Mit anderen Worten: Eine brillante Leistungsdemonstration vor Publikum wird von den Konkurrenten gewöhnlich als Provokation aufgefaßt und meistens mit diskreditierenden Maßnahmen beantwortet. Die Konfliktträchtigkeit diskreditierender Wahlkampfbausteine dürfte außer Zweifel stehen. Wer öffentlich behauptet, der pohtische Gegner unterbreite ein inadäquates Angebot, sei im gesellschaftlichen Kontext nicht legitimiert, außerdem inkompetent und hinsichtlich seiner wahren Absichten fragwürdig, muß damit rechnen, daß der Gegner davon Kenntnis erlangt und sich zur Wehr setzt. Von den ermittelten assertiven Wahlkampfbausteinen sind nach dem Kriterium der Interessengefahrdung Dritter 75 % potentiell konfliktträchtig (36 von 48). Auf derselben Grundlage läßt sich auch im Bereich der kommissiven Angebotsformen eine konfliktträchtige Realisierungsvariante identifizieren, und zwar die öffentliche Forderung an den politischen Gegner. Es handelt sich hier um eine strategische Variante, die bevorzugt (aber nicht ausschließlich) von Oppositionsparteien eingesetzt wird. Auf den ersten Bück mag

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Hinzu kommen - vor allem in der heißen Wahlkampfphase - noch diverse Begleitmaßnahmen wie Fahrdienste (für gebrechliche Wähler) und Online-Dienste, die allerdings in keinem unmittelbaren Zusammenhang zum politischen Leistungsangebot der Partei stehen.

167 es überraschen, direktive .Forderungen' an den politischen Gegner in einen strategischen Zusammenhang mit kommissiven Wahlofferten oder Verhandlungsangeboten zu stellen. Doch wenn man die machtpolitischen Figurationen betrachtet, unter denen solche politische Forderungen gewöhnlich erhoben werden, dann wird deutlich, daß sie funktional zwischen der Diskreditierung der gegnerischen (Regierungs-)Partei und der Unterbreitung eines eigenen Angebotes anzusiedeln sind. Der implikaäve140 machtpolitische Zusammenhang ist folgender: Erhebt eine (Oppositions-) Partei öffentlich eine .politische Forderung' an eine gegnerische (Regienmgs-) Partei, dann wird die dyadische Ausgangsfiguration des Wahlkampfes (Oppositionspartei - Bürger) in eine triadische Figuration transformiert (Bürger - Opposition - Regierung; vgl. S. 62). Ahnlich wie bei assertiven Diskreditierungsversuchen .reagiert' die Oppositionspartei als selbsternanntes Sprachrohr der Bürger ablehnend auf die Regierungstätigkeit. Denn wer die Regierung dazu auffordert, zukünftig eine bestimmte Handlung zu vollziehen, der impliziert damit erstens, daß diese Handlung notwendig ist, und zweitens, daß sich die Regierung bislang einer Unterlassung schuldig gemacht hat. Dies wäre der diskreditierende Part poütischer Forderungen. Doch zusätzlich wird impliziert, daß die Oppositionspartei selbst sehr wohl erkannt hat, wie notwendig die Handlung ist, und daß sie deswegen auch in das eigene Leistungsangebot gehört. Wenn ein Regierungswechsel stattfindet, so soll gefolgert werden, dann wird sich die neue Regierung keine Unterlassungen zuschulden kommen lassen. Dies wäre der selbstverpflichtende, kommissive Part einer politischen Forderung. Da politische Forderungen sowohl zur Ausübung poütischen Drucks auf die Regierung als auch zur Profilierung des eigenen Leistungsangebotes verwendet werden können (und zwar ohne daß man zwangsläufig beim Wort genommen werden könnte), sind sie im Kreis der Oppositionsparteien - aber nicht nur dort - sehr beliebte Handlungsmittel. Dennoch wurden sie nicht in Abbildung 14 aufgenommen, und zwar deswegen, weil sie aufgrund ihres implikativen Charakters bedeutend voraussetzungsreicher sind als die oben vorgestellten Basiselemente des Wahlkampfes. Politische Forderungen sind für eine Partei nur dann erfolgversprechend, wenn eine ganz spezifische Machtkonstellation vorhegt. Man kann festhalten: Die kommunikativen Bausteine, die eine Partei im Wahlkampf verwenden kann, sind in ihrer Mehrzahl konfliktträchtig. Damit ist zwar heuristisch schon ziemlich viel gewonnen, aber es muß nun darum gehen, deren kommunikationspraktische Verwendbarkeit in parteipolitischen Konflikten ins Auge zu fassen. Doch was ist eigentlich ein

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Politische .Forderungen' von Oppositionsparteien verstoßen - da in der Regel kein manifester Durchsetzungsanspruch an sie geknüpft werden kann - offenkundig (blatantly; Grice 1989, 30) gegen die zweite Gricesche Qualitätsmaxime: „Do not say that for which you lack adequate evidence." (1989, 27) Politische Forderungen haben mithin den Status konversationaler Implikaturen: Mit ihnen wird mehr zu verstehen gegeben, als explizit gesagt wird (vgl. Rolf 1994, 105f.).

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parteipolitischer Konflikt? Wo tritt er auf, wer ist beteiligt, und vor welche Probleme stellt er die Konfliktakteure?

5. Parteipolitische Konflikte im Wahlkampf

Wenn allgemein von politischen Konflikten die Rede ist, dann gerät manchmal aus dem Blick, daß es keineswegs immer nur Politiker sind, die auf öffentlicher Bühne über politische Angelegenheiten in Streit geraten können. In Abschnitt 3 dieses Kapitels wurde deswegen darauf hingewiesen, daß in der Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik zahlreiche Akteure an konfliktträchtigen Meinungs- und Willensbildungsprozessen teilnehmen (Bürger, Parteien, Interessenverbände, Print- und Rundfunkmedien, Verfassungs- und Staatsorgane) und daß die innerhalb dieser Prozesse situierten Interaktionen, obwohl in hohem Maße interdependent, sehr heterogene Stnjkturmerkmale aufweisen können. Um nun dieser Unübersichtlichkeit zu entgehen, muß das linguistische Beobachtungsfeld so eingegrenzt werden, daß zumindest die wichtigsten Strukturlinien sichtbar werden. Daher bleibt die Untersuchung auf diejenigen Ensembles von Interaktantenpaaren beschränkt, die die politische Streitkultur141 der Gegenwart auf eine besondere Weise prägen. Das Interaktantenpaar ,Partei - Bürger' bzw. ,Parteikandidat - Wähler' ist bereits im Zusammenhang mit der Sprachspielfamilie Wahlkampf' ausfuhrlich besprochen worden. Geht es um konfliktäre Auseinandersetzungsformen innerhalb dieser dyadischen Konfiguration (z.B. um die Ausprägungen der Politikverdrossenheit bei den Bürgern und der Volksverdrossenheit bei den Politikern; vgl. S. 123), dann kann man diese Interaktionen als .gesellschaftspolitische Konflikte' bezeichnen. Geht es jedoch darum, daß Politiker unterschiedlicher Parteien miteinander in Konflikt geraten, und zwar coram publico, dann werden diese Interaktionen hier als parteipolitische Konflikte bezeichnet. Durch den Zusatz coram publico werden alle Parlaments- und parteiinternen Auseinandersetzungen ausgeblendet, Auseinandersetzungen also, die nicht durch eine Initiative beteiligter Parteipolitiker publik gemacht werden.142

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Politologische Erläuterungen zu dem hier alltagssprachlich verwendeten Begriff gibt Sarcinelli (1990). Gemeint sind auch solche Auseinandersetzungen, die trotzdem, und zwar aufgrund journalistischer Recherchen, publik werden. Nicht ausgeblendet werden dagegen Fälle, in denen Parteipolitiker etwas Bestimmtes damit bezwecken, daß sie interne Informationen in die Öffentlichkeit lancieren. Ansonsten vgl. zu parlamentsinternen Konflikten (etwa in Ausschüssen) Holly (1990, 209-242) und zu parteiinternen Konflikten Raschke (1977) und Klein (1981, 1-6).

169

Parteipolitische Konflikte unterliegen kommunikativen Rahmenbedingungen, die an die triadische Machtfiguration der Stellvertretung' geknüpft sind. Politische Stellvertreter agieren in mindestens zwei Handlungszonen: Gegenüber den Vertretenen, die als Publikum in Erscheinung treten, müssen sie sich um politische Autorität und Profil bemühen, im Kontakt mit anderen Stellvertretern haben sie parlamentarische Aufgaben zu erfüllen. Die triadische Ausgangslage manifestiert sich in der Art der sozialen Rollen, in denen Parteipolitiker während einer Konfliktepisode agieren und nach denen sie auch ihr Publikum wahrnehmen (vgl. S. 123f.); sie manifestiert sich nicht in der Ausrichtung ihrer kommunikativen Handlungen. In welcher sozialen Rolle sie in einem Konflikt vor Publikum auch auftreten mögen, sind ihre kommunikativen Beiträge doch primär an das öffentliche Publikum adressiert und mithin in Termini monologischer (und nicht etwa ,trialogischer') Kommunikation darzustellen (vgl. S. 35f.).143 Für diese Perspektivenwahl gibt es einen ganz einfachen Grund: Um etwaige Zwistigkeiten in einem tatsächlichen Dialog miteinander auszutragen, gibt es für Politiker unterschiedlicher Couleur weit angenehmere und vor allem ungefährlichere Orte als ein Fernsehstudio oder eine Podiumsdiskussion. Informelle Zirkel wie die Bonner ,Pizza-Connection', eine parteienübergreifende Runde junger CDU- und Grünen-Parlamentarier, haben genau diese Funktion, nämlich ohne öffentlichen Darstellungszwang mit- und nicht übereinander reden zu können (vgl. Sarcinelli 1996, 40f.). Das kommunikative Setting eines parteipolitischen Konfliktes im Wahlkampf sieht demnach folgendermaßen aus: Ein Parteipolitiker unternimmt vor einem öffentlichen Publikum den Versuch, auf Kosten seiner Gegner für sich und sein politisches Angebot zu werben (Handlungszone I; vgl. S. 66). Er verwendet dazu kommunikative Bausteine, die die gleichgearteten Weibeinteressen seiner Gegner tangieren und deswegen von diesen als Provokation aufgefaßt weiden müssen. Doch auch wenn es in der Folge zur öffentlichen Austragung eines Konfliktes kommt, fungieren die jeweiligen Gegner lediglich als Staffage fur die eigene Parteienwerbung. Weil es parteiübergreifend eine stille Übereinkunft über diese Rollenverteilung gibt144, sind parteipolitische Konflikte zu keinem Zeitpunkt mit einem ,Streit' in alltäglichen Kontexten zu verwechseln: Während hier charakteristisch ist, daß die Streitenden persönlich werden und

143

144

Daß parteipolitische Konflikte auch die sozialen Beziehungen der Kontrahenten untereinander beeinflussen (z.B. in parlamentarischen Gremien oder Koalitionsgesprächen), wird selbstverständlich nicht bestritten. Solche Interaktionen finden dann aber - unter Ausschluß der Öffentlichkeit - in einer anderen Handlungszone (II oder III) statt und sind entsprechend anders zu typologisieren (vgl. S. 66ff.). Dies wird besonders deutlich an dem umgekehrten Fall, daß eigentlich streitwürdige Themen nicht thematisiert werden, weil zu befürchten ist, daß niemand einen Werbenutzen daraus ziehen kann; vgl. Czerwick (1990, 190): „Man verspricht sich vielmehr größere Vorteile davon, die Themen möglichst .geräuschlos', in einem internen Kreis zu erörtern."

170 entsprechende psychosoziale Effekte auftreten145, ist in parteipolitischen Konflikten entscheidend, daß sich beim Publikum die intendierte Werbewirkung entfaltet. Das Setting parteipolitischer Konflikte wird durch das rationale Werbekalkül der Akteure, nicht aber durch deren Emotionalität geprägt. Um also die Dynamik parteipolitischer Konflikte und die strategischen Erwägungen der Kontrahenten nach intrinsisch politischen (und nicht etwa konfundierten) Kriterien zu rekonstruieren, steht im folgenden die politische Zweckrationalität des Konfliktverhaltens im Vordergrund. Was darunter zu verstehen ist, wird in einem Vergleich allgemeiner und parteipolitischer Konfliktmerkmale deutlich. Allgemein kann von einem kommunikativ ausgetragenen Konflikt die Rede sein, wenn (vgl. Kapitel 12): -

eine konfliktträchtige Ausgangslage vorhegt (latenter Konflikt) oder geschaffen wird (manifester Konflikt),

- in einer mindestens dreizügigen Sequenz gegeneinander gerichteter kommunikativer Handlungen eine Interessendivergenz der Akteure zutage tritt (Konfliktkonstituierung), -

im Prozeß der Konfliktaustragung deutlich wird, daß die Akteure gewillt sind, ihre Interessen gegen die Interessen der Gegner durchzusetzen (Kompetetivität).

Diese heuristischen Merkmale ,kontextuelle Konfliktträchtigkeit', ,dreizügige Konfliktkonstituierung', ,Interessendivergenz' und ,kompetetive Durchsetzungsansprüche'146 sind natürlich auch in parteipolitischen Konflikten nachweisbar. Die spezifischen Ausprägungen dieser Eigenschaften ergeben sich naheliegenderweise aus dem Umstand, daß parteipolitische Konflikte in die Makrostrukturen des Wahlkampfes eingebettet sind. Folgende Besonderheiten kennzeichnen parteipolitische Konflikte: - Während des Wahlkampfes ist durchgängig von einer latent konfliktträchtigen Ausgangslage auszugehen, da die herrschende Machtfiguration von allen Parteien (auch von der Regierung)147 in Frage gestellt wird. Die Konfliktträchtigkeit einer dergestalt instabilen Machtfiguration manifestiert sich in der vergleichenden und konkurrierenden Parteienwerbung.

145

Vgl. Schulze-Eckel (1994, 151): „Auseinandersetzungen mit stark emotionaler Komponente werden nicht durch den strittigen Gegenstand, sondern durch die Heftigkeit der Emotionalität gekennzeichnet. "

146

Der Terminus

.Durchsetzungsanspruch'

bezeichnet den Fall, daß ein Konfliktakteur im

Interaktionsverlauf sein strategisches Kommunikationsziel trotz Widerstand konstant verfolgt. Der Begriff ist weder mit dem .Durchsetzungsmodus' einer Sprechhandlung (vgl. Rolf 1997, 32f.) noch mit dem .Geltungs-' bzw. .Machtanspruch' innerhalb der diskurstheoretischen Argumentationslogik (vgl. Habermas 1981, I 64f.) zu verwechseln. 147

Schließlich sind alle Parteien bestrebt, ihre Stimmenanteile zu vergrößern; Regierungsparteien versuchen etwa, die absolute Mehrheit zu erreichen und ohne Koalitionspartner auszukommen.

171 -

Eine Interessendivergenz der Parteien liegt auf der Hand: Sie konkurrieren in einem Nullsummenspiel um eine begrenzte Anzahl von Wählerstimmen; Stimmgewinne für die eine Partei sind zwangsläufig mit Stimmverlusten für die anderen verbunden. Diese Motivlage sorgt dafür, daß nahezu jede Konfliktinitiative auch tatsächlich einen Konflikt konstituiert: Unternimmt eine Partei Diskreditierungsversuche gegen eine zweite, muß diese - um nicht Verluste hinzunehmen - sich dagegen verwahren. Da aber abgeschmetterte Diskreditierungsversuche einen besonders schlechten Eindruck beim Wähleipublikum hinterlassen, muß die provozierende Partei in einem dritten Zug nachsetzen.

-

Parteipolitische Konflikte werden gewöhnlich ,mit langem Atem' ausgetragen. Die Befürchtung, daß die Wähler ihre Entscheidung erst in der heißen Phase des Wahlkampfes treffen könnten, ist der maßgebliche Impuls für die Parteien, gegenüber ihren Gegnern langfristige Durchsetzungsansprüche geltend zu machen.

Was nun die Beschreibung allgemeiner Konfliktlagen von der Beschreibung parteipolitischer Konflikte fundamental unterscheidet, ist nicht nur der Umstand, daß parteipolitische Konflikte institutionell eingebettet sind, sondern vor allem, daß sie vor einem öffentlichen Publikum stattfinden. Die Urteile des Publikums über die Kontrahenten entscheiden über den Konfliktausgang, d.h. über Erfolg oder Niederlage der Beteiligten, und beeinflussen dadurch maßgeblich die Konfliktdynamik. Aus diesem Grunde ist die Art und Weise, wie die Kontrahenten ihr Konfliktveihalten am Publikum ausrichten, das vordringliche Analysandum in der Auseinandersetzung mit parteipolitischen Konflikten. Diese analytische Prioritätensetzung hat unmittelbare Auswirkungen auf die Beschreibung der Kohärenzverhältnisse in parteipolitischen Konfliktsequenzen. Die Kohärenz zwischen den konfliktären Äußerungen wird weniger durch dialoginterne Verknüpfungsmittel wie inhaltliche Bezugnahme oder gesprächsorganisatorische Maßnahmen der Kontrahenten gewährleistet, als vielmehr durch die strategische Konsistenz der monologischen ,Redeprogramme', mit denen die Kontrahenten jeweüs beim Publikum zu punkten beabsichtigen (vgl. S. 31f.). Das heißt: Parteipolitische Konfliktsequenzen vor einem öffentlichen Publikum folgen nur scheinbar dialogischen Sequenzmustern wie etwa dem ,Programmdisput' oder dem ,Beziehungsstreit'. Stattdessen handelt es sich bei den konfliktären .Gesprächsbeiträgen' um eme Aneinanderreihung monologischer Wahlkampfbausteine, die dem langfristigen strategischen Ziel dienen, sich selbst vor den Wählern werbewirksam darzustellen und den Gegner zu diskreditieren. Der Eindruck der Dialogizität entsteht dadurch, daß die Kontrahenten in Verfolgung ihrer wahlkampfstrategischen Ziele fortwährend die kommunikativen Rollen wechseln: Um den Gegner beim Publikum in Mißkredit zu bringen, fungiert der Parteipolitiker als Sprachrohr der Zuschauer und artikuliert in dieser Rolle alle möglichen Negativreaktionen gegen die Parteienwerbung des Kontrahenten. Im Zuge demonstrativer Selbstdarstellungen degradiert er als Hauptdarsteller in eigener Sache die Kontrahenten zu Statisten oder Stichwortgebern. Wird er

172 selbst vom Gegner attackiert, faßt er dies als kritischen Wählereinwand auf und ergreift als Fürsprecher der gerechten Sache akzeptanzstützende Maßnahmen. Auf diese Weise entsteht ein szenisches Tableau, das in der Tat Ähnlichkeiten zu konfliktären Dialogsequenzen aufweist. Doch für die Abfolge der kommunikativen Züge sind nicht dialogische, sondern monologische Muster verantwortlich: Die Kontrahenten nehmen nicht wirklich reziprok aufeinander Bezug, sondern erwecken durch oszillierende Rollenwechsel den Anschein, es gebe nur sie selbst und das Publikum. Die Kontrahenten bilden währenddessen lediglich den szenischen Hintergrund. In diesem Sinne kann davon die Rede sein, daß monologische Parteienwerbung als dialogischer Konflikt .inszeniert' wird. Die Inszenierung besteht aber nicht darin, daß etwa die Kontrahenten sich verbünden, um den Zuschauern eine .Diskussion' vorzugaukeln und so zu Unrecht „vom Hochwert einer Gesprächsform" zu profitieren (Holly/Kühn/Püschel 1986, 204)148, sondern die Inszenierung besteht darin, daß die Parteipolitiker so tun, als beantworteten sie allein alle nur denkbaren kritischen Fragen des Publikums und als betätigten sich die Kontrahenten derweil als nützliche Souffleure. Die Vielfalt der kommunikativen Rollen, der häufige Rollenwechsel und der inszenatorische Charakter parteipolitischer Konflikte hinterläßt ein diffuses Bild. Um hier den Überblick nicht zu verlieren, gilt es, eine analytische Grundsatzfrage zu beantworten: Unter welchen Bedingungen sind parteipolitische Konflikte überhaupt möglich?149 Die sehr unspektakuläre, aber analytisch folgenreiche Antwort lautet: Die Bedingung, daß parteipolitische Konflikte möglich sind, besteht nicht darin, daß singuläre Konfliktanlässe auftreten, aufgrund derer Parteipolitiker punktuell aneinandergeraten, sondern die Bedingung ist, daß sie Wahlkampfkonkurrenten sind. Die kommunikativen Makrostrukturen des Wahlkampfes bilden den interpretatorischen Hintergrund für jedwedes tatsächlich gezeigte Konfliktverhalten. Für die Konfliktanalyse bedeutet dies: Parteipolitische Konflikte sind als Subsequenzen einer übergeordneten Wahlkampfsequenz zu betrachten. Es gilt, in der Perspektive einer einzelnen Partei, d.h. in diesem Falle: eines einzelnen Konfliktakteurs, zu rekonstruieren, wann und aus

148

149

Vgl. auch Lucas (1992, 244): „Die Verabsolutierung frommen Wunschdenkens, die Sehnsucht nach Harmonie und Ausgleich oder die Beschwörung kommunikativ-kooperativer Idyllen sollten aber nicht auf politische Fernsehdiskussionen bezogen werden. Die sich [...] permanent vollziehende Auseinandersetzung ist nicht der vorgeblich demonstrierte und zwangsläufig gescheiterte Versuch, den Konflikt als solchen hier und jetzt aus der Welt zu schaffen, sondern sie ist der Zweck. Sie dient [...] der politischen Beeinflussung Dritter." In dieser Grundsatzfrage sieht Habermas (1996, 360) die einzige Möglichkeit, das von Derrida aufgeworfene Problem des „Okkasionellen, Flüchtigen und Diffusen von Alltagskommunikationen" zu handhaben: „Aber den Ausgangspunkt der Analyse bildet das Faktum, daß sich über dieses trübe Medium die zahllosen kontingenten Handlungspläne neinsagender Aktoren zu einem dichten Gewebe von mehr oder weniger konfliktfreien Interaktionen vernetzen. lede transzendental ansetzende Analyse will die Bedingungen der Möglichkeit eines Faktums aufklären, das sie voraussetzt. [...] Daß Verständigung gelingt, wird also vorausgesetzt in einer Analyse, die erklären soll, wie dies möglich ist."

173 welchen strategischen Gründen bestimmte kommunikative Wahlkampfbausteine ausgewählt und im Wahlkampfgeschehen plaziert werden. In Anerkennung der politologischen und soziologischen Beobachtung, daß die Politik von Bürgern und Politikern zunehmend als politischer ,Markt' betrachtet wird, kann der Wahlkampf als eine Folge von Verhandlungen' um politische Angebote und Mandate beschrieben werden. In der funktionalen Charakteristik derjenigen kommunikativen Handlungsoptionen, die von Parteipolitikem in solchen Verhandlungen eingesetzt werden können, ist die kommunikative Grundstruktur einer idealtypischen Wahlkampfsequenz vorgezeichnet (vgl. S. 149). Abbildung 15 gibt wieder, wie ein Wahlkampf aus Sicht einer einzelnen Partei optimal verlaufen könnte. Abb. 15: Idealtypisches Phasenstrukturmodell des Wahlkampfes - Parteienwerbung unter Umgehung aktiver Konkurrentenbeteiligung (vorbehaltloses) Wahlmandat für Ρ VeihandlungsEintria in bilaterale Verhandlungen Adressatenreaktionen Wahlkampfbausteine Spieltyp

Wahlofferte Aufmerksamkeit Wahlbewerbung

Phase

(juristisch)

formaler Zugang

; freiwillige Akzeptanz- i Diskreditierung ; der Gegner stützung (z.B. Kompetenzbegründung)

Rahmen Auftaktphase

angebot

(z.B. Abstreiten der Legitimation)

unilateral festlegende

bilaterale

Vorverhandlungen

Verhandlungen

Kemphase

heiße Phase

Freilich beruht ein solchermaßen optimaler Wahlkampfverlauf auf idealtypischen Prämissen, die in der politischen Wirklichkeit der Gegenwart so gut wie nie anzutreffen sind. Doch vor dem Hintergrund eines idealtypischen Modells fällt es leichter, die Abweichungen in der heutigen Wahlkamfpraxis zu erkennen und analytisch einzuordnen. Die wichtigste (und gleichzeitig verwegenste) Prämisse des Modells ist die Annahme, daß die poütische Konkurrenz nicht eigeninitiativ in Erscheinung tritt. Auf diese Weise entsteht ein nahezu irritaüonsfreies Setting, in dem der Parteikandidat und sein Wählerpublikum ungestört miteinander verhandeln können. Auch die Spezifik der angenommenen Adressatenreaktionen ist sehr optimistisch: Wenn bereits die offizielle Wahlbewerbung des Kandidaten vom Publikum mit Aufmerksamkeit quittiert wird, dann steht der Wabkampfauftakt mittels , Wahlofferten' unter guten Vorzeichen. Das relativ breite Plateau, das hier den Sprachspielen des Typs ,unilateral festlegende Vorverhandlung' eingeräumt wird, soll andeuten, daß in einem Wahlkampf ohne aktive Konkurrentenbeteiligung mit größeren Zuspitzungen nicht zu rechnen ist. Eine derart

174 begünstigte Partei könnte in der Kernphase - gewissermaßen als Fingerübung - freiwillig akzeptanzstützende Maßnahmen präsentieren (um die eigene Anhängerschaft zu integrieren) oder diskreditierende Attacken gegen die passiven Gegner unternehmen (um gegenüber der Anhängerschaft Kampfbereitschaft zu demonstrieren). Das Ziel, das durch den Gebrauch dieser kommunikativen Wahlkampfbausteine erreicht werden soll, nämlich das Publikum in bilaterale Verhandlungen zu involvieren, ist unter solchen Vorzeichen ebenso problemlos zu erreichen wie der erfolgreiche Abschluß derselben. Als Gegenleistung für derartige kommunikative Bemühungen ein vorbehaltloses Mandat vom Wähler zu erhalten, dürfte die Wunschvorstellung jedes Parteikandidaten sein. Doch wie gesagt, die politische Wirklichkeit der Gegenwart sieht anders aus. Realistisch ist, daß alle oben genannten Prämissen mit einem für den Parteikandidaten negativen Vorzeichen versehen werden: Die Konkurrenz drängt, die Adressaten sind desinteressiert bis feindlich gesinnt, und jeder Versuch, eine positive Selbstdarstellung und Diskreditierung der Konkurrenten zu erwirken, bringt neue Schwierigkeiten mit sich, so daß die Akzeptanzschwelle der Bürger gegenüber allen politischen Anbietern stetig steigt. Die Auswirkungen dieser Vorzeichen auf einen exemplarischen Wahlkampfverlauf werden in Abbildung 16 (auf der nächsten Seite) veranschaulicht. Der Hauptunterschied zwischen dem idealtypischen und den tatsächlichen Wahlkampfverläufen besteht darin, daß oftmals die gewissermaßen .natürliche' Reihenfolge von Aufitaktund Kenphase des Wahlkampfes durchbrochen wird: Die Parteien eröffnen ihren Wahlkampf häufig nicht mit Wahlofferten, sondern mit gezielten Diskreditierungsmaßnahmen gegen die gefährlichsten' Konkurrenten, um ihnen auf diese Weise von vorneherein ,den Schneid abzukaufen'. In dem in Abbildung 16 exemplarisch vorgestellten Fall, der allerdings als phänotypisch für ,marktorientierte' Wahlkämpfe gelten darf, bilden parteipolitische Konflikte den Wahlkampfauftakt. In einer Art .kommunikativer Vorne-Verteidigung' werden die Ambitionen - da nicht damit zu rechnen ist, daß die Partei um ihrer selbst willen gewählt wird - darauf gelegt, beim Wähler zumindest Mißtrauen gegen die Konkurrenzanbieter zu schüren (vgl. S. 162f.). Da die Erfahrung mit politikverdrossenen Bürgern die Parteien lehrt, daß etwa Partei- und Wahlkampfprogramme , in denen u.a. die Wahlofferten zusammengefaßt sind, eigentlich nur von den Kollegen bei der Konkurrenz - dort allerdings aufmerksam - zur Kenntnis genommen werden150, überlagern Diskreditierungsversuche und prophylaktische Akzeptanzstützungsmaß-

150

Vgl. Klein (1996a, 202): „Parteiprogramme werden primär durch Kommissionen von Fachleuten formuliert, die wissen, daß es vor allem Fachleute in den eigenen Reihen, beim politischen Gegner, in Interessenverbänden und Massenmedien sind, die die Texte lesen [...]. Dazu muß man auf der Sachebene wissen, wo die innerparteilichen Konfliktlinien, Prioritäten und Empfindlichkeiten liegen und welche Bedeutung für die Formu-lierung eines Parteiprogramms der politische Gegner hat - als .böswilliger Leser' (Hermanns 1989, 118) wie als Programmkonkurrent."

175 nahmen die Präsentation politischer Leistungsangebote. Die Wahl eines solchen strategischen Vorgehens ist ebenso nachvollziehbar wie kontraproduktiv: Um wenigstens einen Teil der .knappen Ressource Aufmerksamkeit' (vgl. S. 108) zu erhäschen, erscheint ein parteipolitischer Konflikt allemal geeigneter als die Unterbreitung von Wahlofferten, für die sich niemand wirklich interessiert. Abb. 16: Wahlkampfpraktisches Phasenstrukturmodell des Wahlkampfes Parteienwerbung mit aktiver Konkurrentenbeteiligung (exemplarisch) Wahlmandat für Ρ (unter Vorbehalt) insistierende kontradikt.

Akzeptanz-

Skepsis

stützung

Verhand-

(z.B.

kontradikt.

lungs-

Dramatisieren

Skepsis

angebot

der Aktualität)

kontradikt.

modifizierte

Skepsis

Wahlofferte

Wahlofferte kontradikt. Verdrossenheit Adressatenreaktionen

Apathie,

Diskredi- ;

bausteine

; erzwungene

Desinteresse tierung der ; schlag der : AkzeptanzGegner

Wahlkampf-

Gegen-

Skepsis

Gegner

Stützung

Wahl-

(z.B.

bewerbung

Adäquatheitsbegründung)

Spieltyp

(juristisch)

parteipolitischer Konflikt

Rahmen Phase

formaler

Auftaktphase

unilateral festlegende

bilaterale

Vorverhandlungen

Verhandlungen

Kemphase

heiße Phase

Zugang

Gleichzeitig jedoch wird so das Stereotyp des Wählers bestätigt, daß substantielle Leistungsangebote der Parteien, die ja eigentlich den Kern unilateral festlegender Vorverhandlungen darstellen sollten, gegenüber .überzogener Polemik' ins Hintertreffen geraten seien. Die Hoffnung, daß sich durch Diskreditierungsmaßnahmen zum Wahlkampfauftakt das Feld der Konkurrenzanbieter lichten möge und dadurch die Aufnahme eigener bilateraler Verhandlungen mit den Wählern befördert werde, ist also trügerisch. Hier wird von den Parteien

176 verkannt, daß ihnen längst Konkurrenz aus nicht-politischen Bereichen zugewachsen ist und daß längst die gesamtgesellschaftliche Legitimation aller Parteien auf dem Prüfstand steht. Der Tenor der Adressatenreaktionen auf parteipolitische Konflikte ist zumeist ,kontradiktorischskeptischer' Art: In den Augen der meisten Wähler sind diskreditierende Behauptungen der einen Partei und akzeptanzstützende Gegenbehauptungen der anderen Partei zusammen weder wahr noch falsch (vgl. Rolf 1997, 155) - sie werden einfach als überflüssig empfunden und mit Verdruß quittiert. Daß aufgrund des skizzierten Aufbaeiksamkeitsdilemmas die Parteien dennoch dazu neigen, zum Wahlkampfauftakt parteipolitische Konflikte zu initiieren, hat zur Konsequenz, daß ein Vergleich zwischen den Leistungsangeboten der Parteien erst relativ spät erfolgen kann, und zwar sogar häufig erst dann, wenn der Wahlkampf in die heiße Phase eintritt. Da aber zu diesem Zeitpunkt die Möglichkeit, durch insistierende Akzeptanzstützung zuvor verlorenes Wählervertrauen wettzumachen, nur gering ist, ist das Äußerste, worauf die Parteien derzeit hoffen dürfen, ein Wahlmandat,unter Vorbehalt*. Bei der nächsten Wahl kann das Wählerurteil anders ausfallen. Parteipolitische Konflikte können bekanntermaßen nicht nur zum Auftakt, sondern zu jedem Zeitpunkt eines Wahlkampfes auftreten. Entscheidend ist, daß sich eine Partei bzw. deren Kandidat etwas davon versprechen kann, durch Diskreditierungsversuche oder demonstrative Selbstdarstellungen einen manifesten Konfliktanlaß zu schaffen. Hinter diesem Erfolgskalkül steht der Zwang, angemessen auf eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung zu reagieren, die nicht nur die politische Kommunikation, sondern die öffentliche Kommunikation an sich betrifft: Was bedeutet es, wenn die Leistungsfähigkeit von Politik noch mehr als bisher davon abhängt, inwieweit diese in der Lage ist, sich als Kommunikationssystem in einer sich ausdifferenzierenden medialen Umwelt durch Aufmerksamkeit, Glaubwürdigkeit und Zustimmung - man kann auch sagen: durch die Fähigkeit zur Thematisierung, Inszenierung und Dramatisierung, durch Kommunikationsmanagement - zu behaupten? (Sarchielli 1996, 37)

Was von Sarchielli hier als politisches .Kommunikationsmanagement' bezeichnet wird, wird hier unter sprachspieltheoretischen Vorzeichen als die Fähigkeit von Parteipolitikern interpretiert, a) nach Maßgabe ihrer parteipolitischen Interessen, b) in richtiger Einschätzung der kontextuellen Bedingungen und c) auf der Grundlage zutreffender Annahmen über mögliche Reaktionen des Gegners und des Publikums eine adäquate Kommunikationsstrategie zu konzipieren und diese mit verständlichen, akzeptablen und erfolgversprechenden sprachlichen Mitteln umzusetzen. Diese sprachlichen Mittel werden nicht in jedem Wahlkampf neu erfunden, sondern liegen zu einem Großteil in Form kommunikationsgeschichtlich entstandener

177 Wahlkampfbausteine bereits vor. Es ist nun eine Frage der strategischen Maximen151 einer Partei, welche dieser Bausteine ausgewählt werden, in welcher Reihenfolge sie verwendet werden können und in welcher sprachlichen Form sie zu präsentieren sind. Eine kommunikative Konfliktstrategie könnte - als Beispiel diene einmal die .klassische' Eröffhimgsstrategie einer Oppositionspartei - etwa nach folgenden Maximen konzipiert werden (vgl. Abb. 14): - Die Diskreditierung der gegnerischen Regierungsparteien hat zunächst Vorrang gegenüber der Selbstdarstellung (gemäß dem politischen Erfahrungssatz, daß nicht Oppositionsparteien an die Macht gewählt, sondern daß Regieningen abgewählt werden; vgl. Radunski 1980, 10); die kommunikative Rolle, die übernommen wird, ist die des Wählersprachrohrs. - Die Diskreditierung des gegnerischen Leistungsangebotes (Π) oder der Kompetenz des Gegners (TV) hat zunächst Vorrang gegenüber der Diskreditierung seiner Legitimation (III); die Auswahl der Themen konzentriert sich auf die Bereiche, in denen der Gegner keine Positionsvorteile (z.B. einen Amtsbonus) besitzt. - Unnachgiebig formulierte Kritik hat zunächst Vorrang gegenüber problematisierenden Äußeiungsformen (die dem Gegner Möglichkeiten zur Stellungnahme offenhalten und u.U. spätere Koalitionsverhandlungen erleichtern); die strategische Auswahl sprachlicher Handhaigsnuister orientiert sich an der Frage, in welcher machtpolitischen Handlungszone man sich gerade bewegt. Solche strategischen Maximen können einer Partei das Suchen, Vergleichen und Bewerten von alternativen Wahlkampfbausteinen erleichtern; es wird hier nicht behauptet, daß die strategische Planung in der Wahlkampfpraxis so ablaufen muß. Da jedoch das hier vertretene Strategiekonzept offen genug ist, um auch Strategieanpassungen an den jeweiligen Spielstand zu erfassen und zu beschreiben, sind nunmehr Längs- und Querschnittsanalysen parteipolitischer Konflikte im Wahlkampf möglich. Ich fasse zusammen: Durch die systematische Abarbeitung eines heuristischen Fragenkataloges zur politischen Kommunikationsgeschichte der DDR und Bundesrepublik (vgl. S. 49) wurde deutlich, welche Spuren die sozio-kulturellen Rahmenbedingungen des jeweiligen politischen Systems im Kommunikationsverhalten der politischen Akteure hinterlassen haben. Es ist festzustellen, daß nach der Vereinigung die Trends fortgeschrieben wurden, die in der ,alten' Bundesrepublik bereits vor 1989 zu erkennen waren. Das traditionelle Anhänger-

151

Zu diesem Begriff vgl. Fritz (1982, 69): „Ich möchte aber den Gebrauch des Ausdrucks strategische Maxime so offen halten, daß darunter Bewertungen aus allen möglichen Wertbereichen fallen. Strategisches Denken in diesem Sinne ist das Suchen, Vergleichen und Bewerten von alternativen Zugmöglichkeiten, orientiert am Witz der jeweiligen Interaktionsform. "

178 schaftsmodell, nach dem ein Großteil der Bürger eine enge Bindung an ,ihre' Partei aufwies, ist durch die Vorstellung eines politischen Marktes abgelöst worden, auf dem poütische Anbieter um die Mandate kritischer Abnehmer konkurrieren müssen. Diese mittlerweile etablierte Sicht auf die politische Wirklichkeit konfrontiert die Parteien mit massiven kommunikativen Problemen: Zu der Notwendigkeit, einem kritischen Publikum adäquate Leistungsangebote zu unterbreiten, hat sich zum einen die Aufgabe gesellt, bei den Bürgern verlorenes Vertrauen in die Politik wiederzugewinnen. Zum anderen zwingt eine sich rapide verändernde Medienlandschaft die Politiker dazu, sich durch zugespitzte Thematisierungen, Dramatisierungen und Inzenienmgen in dem vielstimmigen Chor der Marktanbieter Gehör zu verschaffen. Um diese vielschichtigen und zum Teil konträren Aufgaben zu bewältigen, steht Politikern ein Repertoire unterschiedlichster kommunikativer Handlungsoptionen zu Gebote, aus dem sie nach strategischen Gesichtspunkten diejenigen auswählen, die in ihren Augen den größten Erfolg versprechen. Besonders heikel ist dieses Unterfangen zu Wahlkampfzeiten. Denn der Wahlkampf ist die zentrale Arena politischer Machtverteilungprozesse und daher die bevorzugte Bühne gewiefter Parteistrategen. Man darf behaupten, daß in Konflikten, die während des Wahlkampfes austragen werden, sowohl die kommunikativen Probleme der Parteien als auch die inteipretatorischen Probleme des Analytikers kulminieren. Dennoch wird im folgenden die Frage gestellt: Was tun politische Parteien, um in Konflikten mit ihren Wahlkampfkonkurrenten erfolgreich zu sein?

III. Parteipolitische Konflikte - Dramaturgie und Inszenierungen im Bundestagswahlkampf 1994 Wahlkämpfe werden von langer Hand geplant. Bevor sich ein Politiker als Wahlkandidat der Öffentlichkeit präsentiert, bemüht sich eine umfangreiche Hintermannschaft darum, möglichst günstige Rahmenbedingungen fur den Auftritt zu arrangieren. Den Wahlkampf einer Partei kann man als Mannschaftsspiel auflassen. Um ein solches Spiel adäquat zu beschreiben, reicht es nicht aus, das öffentlich sichtbare Spielverhalten der .Stars' zu erfassen. Das hieße, den Einzelaktivitäten eines sehr kleinen Mannschaftsteils ein zu großes Gewicht beizumessen. Stattdessen geht es hier um die Frage, welche Positionen von den unterschiedlichen Mannschaftsteilen der Parteien besetzt werden und wie deren Zusammenspiel funktioniert.1 Mit dieser Feinjustierung des analytischen Fokus' wird angestrebt, die Tücken einer in der Politik und den Gesellschaftswissenschaften gängigen Bezeichnungspraxis zu umgehen; es hat sich eingebürgert, für politische Kommunikationsprozesse Metaphern aus der Theaterwelt zu gebrauchen. So ist etwa davon die Rede, daß ein Kandidat gleichzeitig .Regisseur' und .Hauptdarsteller' des Wahlkampfes sein müsse (Radunski 1980, 11), daß ein dynamisches political spectacle' konstruiert werde (Edelman 1988, 106) oder daß in politischen .Inszenierungen' unterschiedliche Realitätsebenen berührt würden (Holly 1990, 57). Diese Metaphorik hat den Vorteil, daß komplexe Kommunikationsprozesse, die zudem nur schwierig zu dokumentieren sind, auf eine anschauliche Art und Weise dargestellt werden können; daher wird sie hier in ausgewählten Fällen auch beibehalten. Sie hat aber den Nachteil, daß die Vorstellungswelt des Theaters Probleme aufwirft, die wohl weniger auf den politischen Gegenstand als vielmehr auf die Begrifflichkeit zurückzuführen sind. So gibt es eine bisweilen ontologisch geführte Diskussion über die Frage, wie .wirklich' das politische Schauspiel sei.2 Diese von ideologiekritischen Obertönen begleitete Diskussion geht davon aus, daß Politiker im Wahlkampf in einem Punkt heimliche Verbündete seien, nämlich in dem Bestreben, den Bürgern neben der einen .realen' Welt eine zweite .inszenierte'

2

Auch Bucher (1991, 38) benutzt diese Metapher, um das kommunikative Zusammenspiel in Presse-Redaktionen zu veranschaulichen: „Das Spiel einer Mannschaft als .spontane Ordnung' besteht zwar aus individuellen Einzelhandlungen, erschöpft sich aber weder darin, noch ist es Ergebnis einer übergeordneten, individuellen Planung (beispielsweise des .Spielmachers' oder des Trainers). Entscheidend ist die Koordination der Einzelaktionen im Hinblick auf ein gemeinsames Ziel, auch unabhängig von individuellen Absichten der Einzelakteure. " Vgl. etwa Edelman (1976 und 1988), Dieckmann (1981, 255-279), Strauß (1984/85, 14-27), Holly (1990, 54-59) und die Sammelbände von Grewening (Hrsg.) (1993) und Armingeon/Blum (Hrsg.) (1995).

180 Welt vorzugaukeln.3 Als Beispiel für die inszenatorische .Doppelung der Realität des Politischen' (Edelman 1976) wird oft die Kommunikationsform .Diskussion' angeführt, die in der .realen' Welt „der Klärung einer These zur Meinungsbildung und Entscheidungsfindung [diene], nicht aber unmittelbar der Legitimation des Vorgehens auf dem Hintergrund eines größeren Zusammenhangs" (Holly 1990, 57). Es sei aber die Frage erlaubt, ob Fernsehzuschauer angesichts politischer Fernsehdiskussionen jemals die Erwartung hegten, einer idealtypischen .Diskussion' statt einer Wahlwerbeveranstaltung zu folgen (vgl. S. 38f.). Für die Gegenwart ist zu konstatieren, daß mediale Inszenierungen der Politik zur Alltagserfahrung der Bürger gehören: Sie werden von den Medien in Hintergrundreportagen als solche thematisiert und mittels reflexiver Transparenzmaßnahmen verständlich gemacht (Bucher 1994a, 482f.). Sie bilden den Erwartungshorizont einer Fernsehgesellschaft, die politische Inszenierungen nicht etwa rundheraus ablehnt, sondern mittels der Fernbedienung kritisch an den Inszenierungsqualitäten der Unterhaltungsindustrie mißt (Holly 1996, 109f.). Außerdem: Mit der ,Inszenierung des Scheins' (Meyer 1992) kann man sehr reale Politik betreiben, wie etwa am Zusammenbruch der DDR abzulesen ist.4 Unter diesen veränderten Bedingungen zielt der ideologiekritische Impetus, durch den die These von der Doppelung der Realität getragen wird, ins Leere. Die Doppelung der Realität ist die Realität der Massenmedien in der einen realen Welt: Die gesellschaftliche Funktion der Massenmedien findet man deshalb nicht in der Gesamtheit der jeweils aktualisierten Informationen [...], sondern in dem dadurch erzeugten Gedächtnis. Für das Gesellschaftssystem besteht das Gedächtnis darin, daß man bei jeder Kommunikation bestimmte Realitätsannahmen als bekannt voraussetzen kann, ohne sie eigens in die Kommunikation einführen und begründen zu müssen. [...] Die jeweüs behandelten Realitätsausschnitte (Themen) werden so durch eine zweite, nicht konsenspflichtige Realität überlagert. (Luhmann 2 1996, 120f.)

Ein zweites Problem, das mit der Theatermetaphorik verknüpft zu sein scheint, betrifft die Frage, ob man einem Wahlkandidaten, der ja eine Partei repräsentiert und insofern deren Funktionsträger ist, individuelle Intentionen, Aufrichtigkeit oder Verantwortung zuschreiben könne und ob in diesem Zusammenhang überhaupt von ,,kommunikativen Handlungen' die Rede sein dürfe (vgl. Dieckmann 1981, 230-240; Holly 1990, 71-80). Mit anderen Worten:

3

4

Vgl. stellvertretend Edelman (1988, 115): „Language, subjectivity, and realities define one another; and this performative function of language is all the more potent in politics when it is masked, presenting itself as a tool for objective description. Ideological argument through a dramaturgy of objective description may be the most common gambit in political language usage." Vgl. Sarchielli (1996, 35): „Die aufgeregte Darstellung der Westmedien lahmte einerseits die Anhänger des Systems. Andererseits erzeugte die Selbstbeobachtung der Regimegegner und der von ihr Mitgerissenen einen lawinenartigen Verstärkungseffekt. " Man kann dieses Phänomen als weiteren Beleg für die Gültigkeit des .Thomas-Prinzips' betrachten: .Wenn die Menschen Situationen als real definieren, dann sind diese in ihren Folgen real.' (Vgl. Thomas 1931, 175)

181 Sind die linguistischen Kriterien zur Beschreibung kommunikativen Handelns auch auf die .Schausteller der Politik' (Sarcinelli 1987, 244) anwendbar? Eine Antwort auf diese Frage ist erst möglich, wenn man sich darauf verständigt, welcher Gegenstand beobachtet werden soll. Konzentriert man sich, wie es etwa Habermas (1981,1 135-143) bei seiner Bestimmung des .dramaturgischen Handelns' tut, auf die einzelne Vorführung (.encounter', .performance'), d.h. die vor den Augen der Zuschauer ablaufende Bühnenpräsentation, dann erscheint es plausibel, die Aktivitäten der Bühnenakteure als bloße Expression eines subjektiven Selbsterlebens und damit als ,Grenzfall kommunikativen Handelns' zu betrachten (1142f.). Doch erscheint diese Perspektive verkürzt. Wenn man nämlich auch das prozessuale Zustandekommen politischer Inszenierungen, d.h vor allem die komplexen kommunikativen Aktivitäten hinter der Bühne ins Auge faßt, dann lassen sich sehr wohl kommunikative Grundstrukturen erkennen, die den linguistischen Kriterien für Sequenzen .kommunikativer Handlungen' (Zielgerichtetheit, Adressatenorientierung, Instrumentality; vgl. S. 24) voll und ganz entsprechen. In diesem Blickwinkel ist allerdings das subjektive Selbsterleben der Bühnenakteure analytisch irrelevant. Wer in einer politischen Kommunikationsarena steht, ist ein Repräsentant seiner Partei und als solcher in das koordinierte Zusammenspiel seiner hinterszenisch postierten Mannschaft eingebunden.5 Die Frage der Zuschreibung von Kommunikationsintentionen, Aufrichtigkeit oder Verantwortung stellt sich im Bereich der politischen Kommunikation nicht auf der Ebene von Individuen, die ihrer Subjektivität Ausdruck verleihen wollen, sondern auf der Ebene von Kollektiven, deren Mitglieder in einem umgrenzten Kontext ein gemeinsames Ziel verfolgen und auf dem Weg dorthin ihre Einzelhandlungen koordinieren.6 Die Aktivitäten, die parteipolitische Akteure im Verlauf eines Wahlkampfes vor Publikum entfalten, lassen sich daher auch dann als .kommunikative Handlungen' beschreiben, wenn sie offenkundig nicht spontan, authentisch oder wahrhaftig im Sinne Habermas'scher Kommunikationskriterien sein sollten. Sie sind kommunikative Handlungen mit einer komplexen Vorgeschichte: Im Zusammenspiel der Mannschaftsteile eines Wahlkampfteams werden kommunikative Wahlkampfbausteine nach strategischen Maximen ausgewählt und kombiniert, zu komplexen Sequenzen kommunikativer Handlungen ausgestaltet, nach stilistisch-ästhetischen

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Dies gilt auch für Personality-Kampagnen, die im Wahlkampf für die Spitzenkandidaten der Parteien konzipiert werden. Vgl. bereits Dittmann (1979, 214): „Wenn der Handelnde seine Handlungen als Rollenträger in einer Institution ausfuhrt, ist die Annahme eines grundlegenden subjektiven Moments in seinem Handeln entweder überflüssig oder vielleicht sogar falsch. Wesentlich für das Verständnis seiner Handlung durch den Partner ist die korrekte Rolleneinschätzung, und insofern wir .Handlung' weiterhin mittels des Intentionsbegriffs definieren wollen, [...] benötigen wir einen nicht-subjektivistischen Intentionsbegriff". Vgl. dazu auch Dieckmann (1981, 230-240).

182 Kriterien aufgemacht und schließlich dem Wählerpublikum präsentiert.7 Was das Publikum als individuelle Äußerung eines Parteipolitikers wahrnehmen mag, ist in aller Regel das Produkt einer parteiintern koordinierten Mannschaftsleistung. In der Wahlkampfpraxis kann der Mannschaftsgedanke betont oder heruntergespielt werden: Während etwa die SPD-Führung im Bundestagswahlkampf 1994 Rudolf Scharping ein Schattenkabinett, ein Beraterteam (u.a. Helmut Schmidt, Edzard Reuter, Jens Reich, Britta Steilmann) und schließlich die Troika (Scharping, Lafontaine, Schröder) an die Seite stellte, um gegen Ende des Wahlkampfes den Mannschaftsgedanken stärker zu akzentuieren,8 setzte die Wahlkampfleitung der CDU ganz auf ihren Hauptakteur Helmut Kohl und hielt sich selbst im Hintergrund.9 Subjektivistische Lesarten der Handlungskategorien .Intention', Aufrichtigkeit' und .Verantwortung' sind unter solchen Voraussetzungen nicht sinnvoll. Stattdessen geht es im institutionellen Bedingungsrahmen der politischen Kommunikation um die strategische Konsistenz des Mannschaftsverhaltens, d.h. zum einen um die Prinzipien der mannschaftsinternen Handlungskoordinierung und zum anderen um die Grundsätze einer publikumsorientierten Außendarstellung (vgl. Holly 1990, 76-80; Sofsky/Paris 1994, 198-202). Unter den Prämissen, daß parteipolitische Konflikte erstens auf öffentlicher Bühne eine politische Realität darstellen, daß sie zweitens eine kommunikative Vorgeschichte besitzen und daß drittens diese Vorgeschichte als parteipolitisches Mannschaftsspiel beschrieben werden kann, ist unter der Wahlkampfdramaturgie einer Partei das in der Mannschaft abgestimmte

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Habermas führt als Beispiele für dramaturgisches Handeln die Selbstinszenierungen von Einzelpersonen an (Preisboxer, Chirurgen, Violinisten, Polizisten); für ihn ist die „Vorführung eines Teams vor den Augen Dritter lediglich ein spezieller Fall" (1981, I 136). Auf diese Weise wird jedoch unterschlagen, daß etwa ein Preisboxer wie Muhammad AH ohne seine Promoter mutmaßlich in einer Boxbude gelandet wäre, statt zur Legende zu werden. König (1993, 60f.) weist darauf hin, daß Habermas auch bei seiner Unterscheidung zwischen .strategischem' und .kommunikativem' Handeln Beispiele anführt, „deren Erhebung zum Paradigma keineswegs selbstverständlich ist". Allerdings zu spät, wie Peter Radunski (CDU) in der „Woche" vom 1. September 1994 meinte: „Mit einem Schattenkabinett wird nun der Mannschaftsgedanke eingeführt - ein typisches und richtiges Konzept. Allerdings kommt der Schritt zu spät, denn einzelne bedeutende Politiker und Politikerinnen im Sommer herauszustellen, wäre wirksamer gewesen. So bleibt beim Wähler nach wie vor der Eindruck eines Zweikampfes Kohl/Scharping." Das Beraterteam glänzte nicht gerade durch mannschaftsdienliches Verhalten: Reuter kritisierte Scharpings Technologiefeindlichkeit (FAZ vom 2. September 1994), Reich bekundete seine Absicht, Bündnis 90/Die Grünen zu wählen, und die Jungunternehmerin Steilmann erwies sich als Kohl-Fan („Die Woche" vom 15. September 1994). Vgl. den .Bericht der Bundesgeschäftsstelle, Anlage zum Bericht des Generalsekretärs, 6. Parteitag der CDU Deutschlands, 28. November 1994, Bonn', S. 13: „.Vor allem aber muß im Wahlkampf die Person des Bundeskanzlers entsprechend herausgestellt werden', vermerkt das Wahlkampf-Regiebuch der CDU-Bundesgeschäftsstelle im Oktober 1993. [...] Die Person selbst war die Botschaft, die keiner weiteren Erklärung bedurfte - die im übrigen zugleich für eine klare programmatische Ausrichtung stand."

183 System strategischer Maximen zu verstehen, nach denen die Auswahl, Kombination, Textualisierung und audio-visuelle Präsentation kommunikativer Wahlkampfbausteine organisiert wird. Das interne Zusammenspiel der Mannschaftsteile, die an der Festlegung der Dramaturgie beteiligt sind,findetauf unterschiedlichen, in der Regel hierarchisch gegliederten Ebenen statt und unterliegt einer besonderen funktionalen Rollenverteilung. So kann in der Regel unterschieden weiden zwischen einer Richtlinienebene (Parteivorstand, Generalsekretär, Geschäftsführung), einer strategischen Planungsebene (Wahlkampfteam), einer personalen Repräsentationsebene (Kandidaten), einer kollektiven Repräsentationsebene (Wahlhelfer, Parteibasis) und einer Präsentationsebene (professionelle Werbeagentur). Allerdings gibt es im Vergleich der Parteien unterschiedliche Organisations- und Hierarchisierungsgrade.10 Als Inszenierung wird hier jeder öffentliche Auftritt eines Parteipolitikers bezeichnet, dessen Rollenverhalten und Kommunikationspart erkennbar dramaturgischen Vorgaben folgt. Dies ist nur scheinbar ein Widerspruch: Natürlich liegt der Witz einer gelungenen Dramaturgie darin, daß sie während des Politikerauftrittes nicht erkannt wird. Doch punktuelle Kommunikationsereignisse sind hier nicht gemeint. Gemeint ist eine Serie von Auftritten, wie sie Parteikandidaten im Verlauf eines Wahlkampfes zu absolvieren haben. Dennrichtetman seine Aufmerksamkeit auf ,Wahlkampftourneen', werden die dramaturgischen Vorgaben schnell augenfällig: Die Akteure wiederholen sich, zitieren sich selbst und legen sich einen routinierten Gestus zu. Ihr Kommunikationsverhalten bekommt erkennbar musterhafte Züge.11 Die Funktion solcher inszenierter Verhaltensweisen ist orientiert am Witz der zugrundeliegenden Verhandlungsspiele; sie besteht darin, beim Wählerpublikum kontrollierbare Werbeeffekte zugunsten der eigenen Partei zu erzielen (vgl. S. 161f.). Obwohl ein Politiker bei öffentlichen Auftritten gewöhnlich „nicht-deklarierte Ziele verfolgt, zu denen der Hörer überhaupt nicht Stellung nehmen kann" (Habermas 1981,1410), und somit ein Musterfäll,verdeckt strategischen Handelns' vorliegt, kann von einer systematisch verzerrten Kommunikation' oder von ,Manipulation' (1981, I 445) keine Rede sein. Denn als Voraussetzung für einen erfolgreichen Manipulationsversuch wird gemeinhin angeführt, daß die weitergehenden Absichten des Manipulators im Dunkeln bleiben.12 Es mag

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12

So entschied sich die Parteibasis von Bündnis 90/Die Grünen kurz vor der heißen Phase des Bundestagswahlkampfes 1994 gegen die Plakatentwürfe der Frankfurter Werbeagentur .trust', die der Paiteivorstand nach langen Verhandlungen bereits gebilligt hatte. Stattdessen entwickelte die Basis eigene Plakatmotive. In der Überzeichnung dieser dramaturgisch motivierten Musterhaftigkeit besteht u.a. das Geschäft politischer Karikaturisten. Politische Karikaturen kann man in diesem Sinne als .Kommentare' zu parteipolitischen Inszenierungsbemühungen beschreiben (vgl. Bucher 1986, 68). Vgl. etwa Harré (1985, 127): „The concept of manipulation can be applied only to those cases of interpersonal influence in which the persons influenced are unaware of the influence." Fachleute der Werbeindustrie wie Kroeber-Riel ( 4 1990, 614) sprechen unbekümmert von Sozialtechniken zur „gezielten Beeinträchtigung der menschlichen Entscheidungsfreiheit und Konditionierung des Menschen im Dienste des Marketing". Was hier so mephistophelisch

184 sein, daß selbst ein medienerfahrenes Publikum nicht jedes Inszenierungsrequisit funktional zu interpretieren vermag, aber es dürfte unstrittig sein, daß jeder politisch halbwegs informierte Bürger weiß, worum es in Wahlkampfinszenierungen letztlich geht, nämlich um seine Stimme am Wahltag. Daß die öffentlichen Auftritte der Parteikandidaten dramaturgisch vorbereitet werden, ist also weder ein Geheimnis noch ein hinreichendes Motiv für kulturkritische Aufgeregtheiten.13 Wie dies jedoch im einzelnen vonstatten geht, ist eine Frage von elementarer Bedeutung. Um diese Frage zu beantworten, wird nun an ausgewählten empirischen Beispielen aus dem Bundestagswahlkampf 1994 gewissermaßen in actu vorgeführt, wie das Zusammenspiel der Mannschaftsteile einer Partei im Wahlkampf typischerweise funktioniert. Das methodische Verfahren, das zu diesem Zweck verwendet wird, ist bereits als kommunikationsdynamische Textanatyse eingeführt worden (vgl. S. 52ff.). Dieses Analyseschema beschränkt sich nicht auf die Interpretation einzelner Textexemplare, sondern umfaßt den gesamten Prozeß der strategischen Auswahl, sequentiellen Kombination, Textualisierung und audio-visuellen Aufmachung von kommunikativen Wahlkampfbausteinen zu komplexen monologischen Äußerungssequenzen.14 Die herangezogenen Textexemplare sind demnach nicht als solche von Belang, sondern als Produkte und Repräsentationen (vgl. Rolf 1993, 36ff.) komplexer strategischer Mannschaftsaktivitäten. Die kommunikationsdynamische Textanalyse erfolgt nicht kontextfrei. Auf die in der obigen Sprachspielgeschichte eruierten historisch-politischen Rahmenbedingungen werde ich im folgenden immer wieder zurückkommen. Es geht nun also gleichermaßen um den Entstehungsprozeß wie den konkreten Verwendungszusammenhang des kommunikativen Handelns politischer Parteien im Bundestagswahlkampf 1994. Um sich die äußeren Umstände zu vergegenwärtigen, die vor der Bundestagswahl am 16. Oktober 1994 eine Rolle spielten, mag eine Kurzchronik der relevanten Ereignisse hilfreich sein (vgl. zum folgenden Jung/Roth 1994).

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anmutet, wird zwar in Werbebeiträgen nicht offen gesagt, ist aber auch nicht sonderlich verdeckt: Wer wirbt, verfolgt das Ziel, sein Produkt zu verkaufen. Hier wie in der politischen Werbung wird oft ein Geheimnisschleier über eine Branche geworfen, die vom Nimbus des Geheimnisvollen lebt. Vgl. etwa Gunter Hofmann in der „Zeit" vom 23. September 1994: „Im Wahljahr scheint es bloß darum zu gehen, wie die Politik sich in Szene setzt und wer sich dabei durchsetzt." Dem Terminus ,Text' liegen die Beschreibungskriterien der Unidirektionalität und Monologizität zugrunde. Er umfaßt daher nicht nur die schriftlich fixierten Äußerungen politischer Akteure, sondern auch deren Gesprächsbeiträge. Vgl. dazu Rolf (1993, 27-35).

185 Abb. 17:

Das ,Superwahljahr' 1994 - Wahltermine und Wahlkampfverlauf

Wahltermine (Wahlsieger)

So,

13. März

Niedersachsen (Schröder, SPD)

Mo,

23. Mai

Bundespräsident (Herzog, CDU)

So,

12. Juni

Europa (CDU/CSU)

So,

26. Juni

Sachsen-Anhalt (Höppner, SPD)

Fr,

15. Juli

Wahlkampfverlauf

CDU: .Linksfront*- bzw. ,Rote Socken'-Kampagne

Sommerpause So,

28. August

offizieller Wahlkampfauftakt CDU (.rotlackierte Faschisten')

Do,

Ol. September

SPD: Präsentation .Troika'

So,

04. September

offizieller Wahlkampfauftakt SPD, CSU, FDP

Di, Mi,

06. September 07. September

zweitägige Haushaltsdebatte, letzte Parlamentssitzung vor der Wahl

So,

11. September

Sachsen (Biedenkopf, CDU) Brandenburg (Stolpe, SPD)

So,

25. September

Bayern (Stoiber, CSU)

Mo,

26. September

Beginn des Fernsehwahlkampfes (Werbespots der Parteien, Wahlberichterstattung)

Fr,

14. Oktober

Ende des Fernsehwahlkampfes

So,

16. Oktober

Bundestag (Kohl, CDU)

Bereits weit im Vorfeld der Wahl war das Jahr 1994 in den Medien und der Politik als ,Superwahljahr' apostrophiert worden. Dies lag nicht nur an der ungewöhnlichen Zusammenballung von Wahlterminen, sondern auch an daran, daß es sich um die erste gesamtdeutsche Wahl nach einheitlichem Wahlrecht handelte. Außerdem befanden sich die Herausforderer der

186 Regierung, die Oppositionsparteien des 12. Bundestages, seit 1990 in einem eigentümlichen Schwebezustand: Bündnis 90/Die Grünen waren lediglich durch acht ostdeutsche BündnisDeligierte vertreten, die PDS hatte nur aufgrund einer Sonderregelung (separate 5 %-Hürde für das ,Wahlgebiet Ost') den Einzug ins Bundesparlament geschafft, und die SPD übte sich darin, ihre Parteivorsitzenden zu verschleißen. Auf den Brandt-Nachfolger Hans-Jochen Vogel (1987-1991) folgte Björn Engholm (1991-1993) und auf diesen Rudolf Scharping.15 Die Übernahme des £PD-Parteivorsitzes und die Anwartschaft auf die Kanzlerkandidatur stand für Scharping unter ungünstigen Vorzeichen. Am 3. Mai 1993 hatte Engholm wegen einer Falschaussage zur Kieler Barschel-Affäre (vgl. zu dieser Affäre etwa Heringer 1990) zurücktreten müssen, und die SPD dümpelte in einem Stimmungstief bei 33 Prozent. Nach einer Mitgliederbefragung am 13. Juni 1993 wurde Scharping Parteivorsitzender, nach dem Essener Parteitag am 20. Juni Kanzlerkandidat. Die Stimmungskurve der SPD wies bemerkenswerte Schwankungen auf: Nach der Wahl in Hamburg im Herbst 1993 führte die SPD bundesweit deutlich vor der Union. Ab Februar 1994 kehrte sich die Entwicklung um: Die Union befand sich nun in einem deutlichen Aufwärtstrend, während die SPD nach einem kurzen Zwischenhoch (absolute Mehrheit für Gerhard Schröder in Niedersachsen) bei der Europawahl am 12. Juni erneut einen Tiefpunkt erreichte (32,2 Prozent). Erst nach der Sommerpause gelang es der SPD, wieder zur Union aufzuschließen. Der Spitzenkandidat der CDU/CSU und amtierende Bundeskanzler Helmut Kohl bestritt 1994 seinen fünften Bundestagswahlkampf.16 Im Jahr 1990 als .Kanzler der Einheit' erneut im Amt bestätigt geriet Kohl aufgrund einer weitverbreiteten Enttäuschung über die sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Vereinigung (,Steuerlüge' statt .blühender Landschaften') vom Frühjahr 1991 an in ein Dauertief. Noch im Januar 1994 lagen die Prognosen für die Union bei 33 Prozent. Der Stimmungsaufschwung für die CDU/CSU, der sich im Februar 1994 abzeichnete und bis zum Mai weiter konsolidierte, korrespondierte mit einem steigenden Optimismus der Bürger, daß es mit der bundesdeutschen Wirtschaft wieder aufwärts gehe. Dieser Stimmungstrend verstärkte sich, als im April positive Gutachten unabhängiger Wirtschaftsinstitute und im Mai die statistischen Wirtschaftsdaten des 1. Quartals präsentiert wurden und der Bundesbankvorsitzende Tietmeyer dies zum Anlaß nahm, die Leitzinsen zu senken. Ab Mai 1994 konnte Kohl in Umfragen alle wichtigen Führungskompetenzen eines Politikers (Führungsstärke, Tatkraft, Verantwortungsbewußtsein), die er 1993 an Scharping hatte abtreten müssen, wieder an sich ziehen. Dazu nutzte Kohl vor allem seinen Amtsbonus; er suchte und fand tatkräftige Unterstützung bei außenpolitischen Verbündeten. Im Sommer

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Und auf diesen wiederum Oskar Lafontaine (Parteitag in Mannheim am 16. November 1995). Zu den Zwistigkeiten der .Enkel' Scharping, Lafontaine und Schröder im Frühjahr 1993 vgl. Leif/Raschke (1994, 14-23).

16

Seine SPD-Gegner waren Helmut Schmidt (1976), Hans-Jochen Vogel (1983), Johannes Rau (1987), Oskar Lafontaine (1990) und Rudolf Scharping (1994).

187 1994 traten an: Felipe Gonzáles in Rostock und Schwerin, François Mitterand in Heidelberg und Bill Clinton in Berlin. Weitere inszenatorische Großereignisse waren die Beteiligung bundesdeutscher Soldaten an der Militärparade auf dem Champs-Elysées (14. Juni), der Abzug der russischen Truppen aus Deutschland in Anwesenheit Boris Jelzins in Berlin (31. August) und schließlich der Abzug der West-Alliierten aus Berlin unter Beteiligung von Warren Christopher, John Major und François Mitterand (8. September).17 Zwei Themenkomplexe waren es, die im wesentlichen die politische Agenda im ,Superwahljahr' 1994 beherrschten. Nachdem im Sommer 1993 die Ausländer- und Asyldebatte, die zuvor im Westen höchste Priorität besaß, weitgehend abgeebbt war18, wurde die öffentliche Diskussion in Ost- und Westdeutschland von den sozialökonomischen Themen .Bekämpfung der Arbeitslosigkeit', ,Wirtschaftsaufschwung' und ,soziale Gerechtigkeit' dominiert. Nach der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt am 26. Juni 1994 eröffnete sich jedoch unerwartet ein zweiter thematisch umgrenzter Wahlkampfschauplatz. Die Entscheidung des Wahlgewinners Reinhard Höppner (SPD), statt einer großen Koalition mit der CDU eine PDS-tolerierte Minderheitsregierung mit den Bündnisgrünen zu bilden, nahm die CDU nur knapp drei Wochen später zum Anlaß, eine Richtungskampagne mit den Requisiten eines seit Adenauer bewährten Antikommunismus zu initiieren (.Zukunft statt Linksfront'; ,Auf in die Zukunft... aber nicht auf roten Socken').19 Nach Meinung unabhängiger politischer Beobachter war dies jedoch letztlich nicht wahlentscheidend: Wahlentscheidend war [...] der sich abzeichnende ökonomische Aufschwung, der als Erfolg der Regierung gewertet wurde und insbesondere der Union zugute kam. Die Regierung konnte also erneut, wie in den Wahlkämpfen 1983 und 1987, die ökonomische Karte spielen, und sie gewann. 1990 mußte sie diese Karte nicht zücken, die Einheit war ausreichend, um die Wahl zu gewinnen. (Jung/Roth 1994, 7)

17

18

Im Kommentar der „Herald Tribune" vom 9. September hieß es, die Veranstaltung sei ein .schamloser Kult der Persönlichkeit' gewesen. Am 1. Juli 1993 trat der zwischen CDU/CSU, FDP und SPD ausgehandelte .Asylkompromiß' in Kraft. Vgl. den „Spiegel" vom 25. Juli 1994: „Eingedenk der Sprechchöre während der friedlichen DDR-Revolution (,Wir sind das Volk') wechselte Hintze seinen martialischen Slogan, der an Adenauer (.Keine Experimente') und Strauß (.Freiheit statt Sozialismus') erinnert, immerhin von .Volksfront' zu ,Linksfront'. Dafür wütete die CSU, die [...] keine Rücksicht auf Ostgefühle nehmen muß, munter weiter: .Freiheit oder Volksfront'." Die PDS war übrigens ,hochgradig entzückt' über Hintzes Rote-Socken-Poster (Woderich 1995, 156). Zur Geschichte antikommunistischer Slogans vgl. Gruner (1990, 47-97).

188

1. Wie das Spiel geplant wurde - Spieleinsatz, Gewinnaussichten und Risiko-Kalkulation Wie kommt die Wahlkampfdramaturgie einer Partei zustande? Welche Kalküle veranlassen eine Wahlkampfmannschaft, sich auf ein bestimmtes System strategischer Maximen festzulegen und dieses System zur planerischen Grundlage von parteipolitischen Inszenierungen zu machen? In der politischen Praxis gibt es offenbar zeitliche Fahrpläne und eingespielte Interaktionsroutinen, nach denen die Parteidrehbücher für bevorstehende Wahlkämpfe geschrieben werden. In einem Interview, das im August 1995 geführt wurde, gewährte der Bonner Leiter der Abteilung ,Kommunikation und Wahlen' der SPD Einblicke in die Mannschaftsaufteilung und Arbeitsroutinen auf der Richtlinien- und Planungsebene (vgl. S. 183). Die Rahmenpunkte der Dramaturgie für den Bundestagswahlkampf 1994 wurden in der SPD etwa eineinhalb Jahre vor der Wahl von einer Mannschaft konzipiert, die sich aus ParteiStrategen und externen Experten zusammensetzte. In einer einwöchigen Klausurtagung wurden folgende Punkte verhandelt: 1. Festlegung des Terminkalenders (Ferien, Fernsehgroßereignisse etc.) 2. Wählerszenario: Forschungsberichte über Wählerprofile, Themenpräferenzen etc. 3. Gegnerszenario: Worst-Case-Analyse (aus CDU-Perspektive) 4. ,Philosophie' des Wahlkampfs (kondensiert im zentralen Wahlkampfslogan) 5. Festlegung der Themenschwerpunkte (vorläufig) 6. Festlegung der Personalien (vorläufig) 7. Auswahl der Wahlkampfinstrumente und Einsatzorte (Medien, Timing etc.) 8. Beauftragung einer professionellen Werbeagentur Die Punkte 2 und 3 dieser praxisorientierten Agenda - Wählerszenario, Gegnerszenario und Worst-Case-Analyse - deuten an, daß mögliche Konfliktanlässe weit im Vorfeld der direkten Wahlkampfkonfrontation mit dem politischen Gegner eruiert und hinsichtlich ihres Risikopotentials ausgelotet werden. Dabei handelt es sich in der Regel um ,klassische' KonfliktSzenarien, die erfahrungsgemäß etwa zwischen Regierungs- und Oppositionsvertretern vorausgesetzt werden können. Betrachtet man dieses Vorgehen aus sprachspielanalytischer Perspektive, sind bei der Festlegung einer Wahlkampfdramaturgie zwei kalkulatorische Größen von Belang: erstens die Gewinnaussichten, die unter gegebenen machtpolitischen Umständen ins Auge gefaßt weiden können, und zweitens die Spieleinsätze, die eine Partei auf einzelnen Politikfeldern plazieren zu können glaubt. In beiden Fällen handelt es sich um Mutmaßungen über Wählerurteile. Der Spieleinsatz einer Partei besteht in der Annahme, daß ihr die Bürger momentan ein machtpolitisches Guthaben auf bestimmten Politikfeldern attestieren (etwa wirtschaftspolitische

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Autorität), das bei positivem Ausgang des Konfliktes ausgebaut, bei negativem Verlauf aber auch verloren gehen kann. Die Gewinnaussichten bestehen in der Annahme, daß die Wähler das Guthaben nicht nur bestätigen, sondern darüber hinaus zu dem Schluß kommen, die Partei qualifiziere sich dadurch für höhere Aufgaben in der Zukunft. Wird kein Spieleinsatz entrichtet, sind die Gewinnaussichten gleich Null; er ist gewissermaßen die Teilnahmegebühr für diejenigen Spiele, in denen politische Macht zu gewinnen ist. Ein Spieleinsatz ist jedoch kein Garant für die politische Macht. Siegt der Gegner im Konflikt, verfallt in aller Regel auch der Einsatz, und das Guthaben ist fürs erste verloren. Weil der Spieleinsatz und die Gewinnaussichten einer Partei im Wahlkampf eng korrelieren (etwa: hohe Einsätze eröffnen hohe Gewinnaussichten), erscheint es notwendig, zwischen diesen beiden Facetten des pay off m unterscheiden. Eine Kausalbeziehung wird damit freilich nicht unterstellt, und zwar deswegen, weil Bürger bekanntlich wankelmütige Wesen sind und Wahlkämpfe daher eine eigene Dynamik entwickeln können.20 Die Risiko-Kalkulation einer Partei, die sich anschickt, einen parteipolitischen Konflikt zu initiieren, kreist demnach um mutmaßliche Wählerurteile, die folgerichtig bereits weit im Vorfeld von Wahlen demoskopisch erhoben werden (s.o. Punkt 2). Wohlwollende Wählerurteile zu diesem Zeitpunkt werden von der Richtlinien- und Planungsebene einer Partei gemeinhin als Ermunterung zu hohen Spieleinsätzen und Indizien fiir gute Gewinnaussichten interpretiert. Dem steht aber das Risiko gegenüber, sich hinsichtlich der Wählerurteile zu verschätzen und gewissermaßen mit ungedeckten Einsätzen in den Konflikt zu ziehen. In diesem Fall steht nicht nur der avisierte Gewinn auf dem Spiel, sondern auch die allgemeine politische Wertschätzung. Konkret: Wenn eine Partei auf wirtschaftspolitischem Gebiet diskreditierende Maßnahmen gegen einen Konkurrenten ergreift, und die Annahme, die Wähler billigten ihr hier Kompetenzen zu, stellt sich als falsch heraus, dann macht sie es nicht nur ihrem Gegner leicht, den Konflikt für sich zu entscheiden, sondern büßt in der Regel auch auf anderen Gebieten ihre Gewinnaussichten ein. Aus diesem Grund ist man während der dramaturgischen Konzeption bei der Auswahl der Wahlkampfthemen und in Personalfiragen vorsichtig; sie haben zu diesem Zeitpunkt vorläufigen Charakter und harren der Erprobung im öffentlichen Urteil (s.o. Punkte 5 und 6). Die Risiko-Kalkulation der Parteien ist also dynamisch angelegt; sie orientiert sich am Stand des Erprobungsprozesses und ist bis zu einem bestimmten Zeitpunkt offen für Korrekturen.

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Carlson (1983, xvi) übergeht diesen Unterschied und subsumiert die genannten pay-off-Facctctn der Zielkategorie: „The aim of the game determines the player's preferences over different turns the game might take, which preferences may be numerically represented by a payoff function. " Allerdings geht Carlson von einem vergleichbar einfachen Sprachspieltyp aus (cooperative activities of information exchange; 1983, xviii); ihr Gegenstand sind weder kompetetive Spiele noch Spiele vor Publikum.

190 Was gibt es in parteipolitischen Konflikten zu gewinnen, und welche Einsätze sind zu entrichten? Der Maßstab für die Gewinnaussichten der Parteien sind unter den heutigen gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen diejenigen Urteilskriterien, die die Bürger an die politischen Angebote und Angebotsrepräsentanten der Parteien anlegen. Die Bürger begreifen Wahlkämpfe zunehmend als eine Serie von multilateralen Verhandlungsspielen auf einem politischen Markt und sind geneigt, in bilateralen Verhandlungen mit einer Partei ihrerseits eine Kosten-Nutzen-Kalkulation (quidpro quo) aufzustellen (vgl. S. 129). Eine Wählerkalkulation unter den Vorzeichen bilateraler Verhandlungen konzentriert sich auf die Verständlichkeit, die Akzeptabilität und die Erfolgsaussichten des jeweiligen politischen Angebotes. Diese Urteilsektoren wurden oben in Form von Schlüsselfragen umrissen, die sich anhand der spezifischen kommunikativen Bedingungen von politischen Verhandlungsspielen rekonstruieren ließen (vgl. S. 132-135). Von besonderem Interesse sind hier die Urteile der Bürger bezüglich der Akzeptabilität, d.h. der Adäquatheit des Angebotes, der Rolle des parteipolitischen Anbieters im gesamtgesellschaftlichen Kontext, seiner Prädestination gegenüber den Konkurrenten und schließlich seiner ,wahren Absichten'. Diese Urteilskriterien spiegeln unmittelbar die veränderten Beziehungen zwischen Wählern und Gewählten wider, die nicht mehr von gegenseitigem Vertrauen, sondern im Gegenteil von Mißtrauen und dem Zwang zur Bewährung geprägt sind (vgl. S. 147f.). Für die Risiko-Kalkulation der Parteien im Vorfeld von Wahlkämpfen bedeutet dies: Wenn sie Mutmaßungen über ihren Spieleinsatz und ihre Gewinnaussichten anstellen, dann sind dies im wesentlichen Mutmaßungen über die Kosten-Nutzen-Kalkulationen der Bürger. Ein wirkliches Worst-Case-Szenario sähe dann folgendermaßen aus: Den Parteien wird von den Bürgern kein Guthaben attestiert, das sie gegen ihre Gegner einsetzen könnten, und sie legen nicht den Schluß nahe, sie seien für höhere Aufgaben qualifiziert, die sich als Gewinn verbuchen ließen. Dies scheint eine aus Parteiensicht zwar düstere, aber dennoch realistische Ausgangslage zu sein, und zwar sowohl für das Jahr 1994 als auch für die Gegenwart. Die kalkulatorischen und dramaturgischen Probleme, die sich den Parteien vor diesem Hintergrund stellen, sind Grundsatzprobleme in jeder sozialen Machtfiguration (vgl. Sofsky/Paris 1994): Wie kann man bewirken, daß man vom Publikum als profilierte Autorität anerkannt wird, der Gegner jedoch nicht? Wie kann man bewirken, sich als würdiger Stellvertreter des Publikums, d.h. als dessen Sprachrohr und Fürsprecher, zu etablieren? Wie kann man bewirken, in den Koaätiortsspielzn der Mächtigen eine tragende Rolle zu spielen? Um die hier angesprochenen Machtqualitäten, die als charakteristisch fiir jedwede soziale Machtfiguration gelten können, gegenstandsadäquat zu akzentuieren, wird fortan eine Begrifflichkeit verwendet, die auf die Beobachtungen von Sofsky/Paris (1994) zwar zurückgreift (vgl. S. 64, Abb. 4), die aber die politischen Kontextbedingungen stärker hervorhebt.

191 Die Spieleinsätze und Gewinnaussichten politischer Parteien im Wahlkampf entstammen folgenden politischen Machtquellen: - Personales Prestige: Diese Form der Autorität umfaßt die individuelle Fähigkeit eines Politikers, die meist disparaten Erwartungen der Bürger zu bündeln, zu gewichten und in personifizierter Form nach außen hin zu repräsentieren. Die Zuschreibung von personalem Prestige erfüllt wichtige soziale Ordnungsfunktionen: Indem ein Politiker zum Prestigeträger erklärt wird und ein anderer nicht, wird ein geordnetes, polares Geflecht von Beziehungen definiert, das den Bürgern ermöglicht, auf einem niedrigen, ,zwischenmenschlichen' Schwellenniveau eine politische Position einzunehmen. Der Erwerb und Erhalt von personalem Prestige basiert - entsprechend seiner sozialen Funktion - auf der kontrollierten Vermittlung eines Persönlichkeitsbildes, das sowohl durch Selbst- als auch durch Fremdkategorisierung (vgl. Turner 1987) konturiert wird und das Publikum zur Identifikation einlädt.21 Personales Prestige ist also keine persönliche Eigenschaft eines Politikers, sondern das von den Bürgern goutierte Produkt einer parteipolitischen Vermittlungsleistung, die auf Identifikation auf Seiten der Bürger und Abgrenzung von den Konkurrenten zielt.22 - Parteipolitische Reputation ist das kollektive Pendant zum personalen Prestige. Diese Form der Autorität bezieht sich auf die Fähigkeiten einer Gesamtpartei, als arbeitsteilige Mannschaft die Meinungen und Partikularinteressen des Publikums in den öffentlich-politischen Raum und die poütischen Entscheidungsinstanzen zu vermitteln. Parteipolitische Reputation wird zugeschrieben, wenn die Parteivertreter sich als Sprachrohr oder Wortführer des Publikums bewähren; sie ist nicht notwendig an den Erfolg parlamentarischer Initiativen geknüpft. Wichtig ist das Urteil des Publikums, die Partei sei für ein bestimmtes Interessensegment zuständig und aus diesem Grunde in der Öffentlichkeit präsent. Die Qualitäten, aufgrund derer Politikern personales Prestige und Parteien Reputation zugeschrieben werden, sind vielfältig

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Dieser Effekt gründet in dem sozialpsychologischen Phänomen, daß der Zusammenhalt sozialer Gruppen wesentlich darin besteht, daß deren Mitglieder ähnliche Vorstellungen über diejenigen Persönlichkeitsmerkmale haben, aufgrund derer jemand dazu gehört oder nicht dazu gehört. Vgl. Neisser (1987, 2): „To categorize is to treat a set of things as somehow equivalent. " Aufgrund der konkurrenzbedingten Omnipräsenz Dritter spreche ich hier nicht von ,Image'. Denn politisches Prestige ist kein „in Termini sozial anerkannter Eigenschaften umschriebenes Selbstbild - ein Bild, das die anderen übernehmen können" (Goffman 1967/86, 10), sondern ein Produkt komplexer Vermittlungsprozesse unter Konkurrenzbedingungen. Wollte man bei Goffman bleiben, könnte von .Markierungen' die Rede sein, d.h. von „Handlungen oder Arrangements, die dazu dienen, den Anspruch einer Partei auf ein Territorium deutlich zu machen und zu etablieren" (1971/82, 272).

192 und daher mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen klassifiziert worden.23 Hier mag die vorläufige Feststellung ausreichen, daß sie in ihrer jeweiligen Ausprägung das Profil von Politikern und Parteien konstituieren. - Unter parlamentarischer Akkreditierung ist zu verstehen, daß einer Partei und ihren Delegierten eine allgemeine Politikfahigkeit im parlamentarischen Kontext bescheinigt wird. Die parlamentarische Akkreditierung erfolgt keineswegs automatisch mit dem Erwerb eines Wählermandates, sondern hängt wesentlich davon ab, ob es dem Mandatsträger gelingt, Zutritt zu den parlamentarischen Gremien zu erlangen, die dort herrschenden Spielregeln (formell wie informell) zu erlernen und auf diese Weise selbst den Gegnern - die ja hier gleichzeitig Kollegen sind - Respekt abzunötigen. Im gekonnt und regelgerecht ausgetragenen Konflikt liegt die Bewährungsprobe als parlamentarischer Fürsprecher des Publikums. Gelingt diese Probe nicht (aufgrund parteiinterner Schwächen oder einer Blockadehaltung der Gegner), geraten auch das Prestige der Delegierten und die Reputation der Partei in Gefahr. - Davon zu unterscheiden ist die administrative Akkreditierung: Sie setzt die parlamentarische Akkreditierung voraus und steht als Synonym für die vom Publikum oder einem Teil der Parlamentskollegen unterstellte Regierungsfahigkeit. Unter den Bedingungen des bundesrepublikanischen Verhältniswahlrechts werden Parteien als regierungsfähig eingeschätzt, wenn sie a) alle bisher genannten Qualitäten in sich vereinigen und als mutmaßliche Mehrheitspartei gelten oder b) von der mutmaßlichen Mehrheitspartei zur Bildung einer Regierungskoalition gebraucht werden. Die Wahlkampfmannschaft einer Partei hat sich nun mit folgenden strategischen Fragen auseinanderzusetzen: Welche dieser politischen Machtquellen dürfen als bereits erschlossen gelten und stehen als Spieleinsatz zur Verfügung? Welche Quellen sind noch nicht erschlossen, aber in der erreichbaren Gewinnzone anzusiedeln? Wie kann die Partei auf kommunikativem Wege dorthin gelangen, d.h. welche Dramaturgie, welche kommunikativen Wahlkampfbausteine und welche Inszenierungsformen versprechen Gewinn?

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Luhmann ( 2 1988, 75f.) etwa spricht von Autorität als einer „Chancendifferenzierung durch vorheriges Handeln", von Reputation als „Unterstellung, daß Gründe für die Richtigkeit des beeinflußten Handelns angegeben werden können", und von Führung als einer „Verstärkung der Folgebereitschaft durch die Erfahrung, daß andere auch folgen". Sofsky/Paris (1994) stellen fünf Autoritätstypen vor (vgl. S. 65f. dieser Studie).

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2. Womit zu rechnen war (I) - politische Strategiekonstellationen

Die Antworten, die die Parteien im Vorfeld der Bundestagswahl 1994 auf solche strategischen Fragen landen, sind aus nachvollziehbaren Gründen nicht leicht zugänglich und keinesfalls in isolierten Textexemplaren zu suchen. Die den Auftritten der Kandidaten zugrundeliegenden Wahlkampfdramaturgien haben in der Regel eine kommunikative Vorgeschichte, die von Reformulierungen, Korrekturen und Kurswechseln geprägt ist.24 Der Analytiker hat aber nicht nur mit den Uneindeutigkeiten und informationellen Leerstellen solcher Textproduktionsprozesse zu kämpfen, sondern auch mit allzu großer Eindeutigkeit. Denn nicht alles, was in öffentlich zugänglichen Parteiverlautbarungen steht, findet in der tatsächlichen Wahlkampfpräsentation eine Entsprechung. Ein Beispiel: Im Wahlprogramm der FDP erscheint ein recht umfangreiches Angebotspaket zum Thema .ökologische Marktwirtschaft', das hier - aus Illustrationsgründen - einer programmatischen Aussage von Bündnis 90/Die Grünen gegenübergestellt werden soll: Die ökologische Orientierung der Marktwirtschaft setzt zusätzliche Innovationsimpulse frei. Diese müssen sowohl zur konsequenten Verbesserung des Umweltschutzes als auch zur ökonomischen Stärkung des Standortes Deutschland genutzt werden. (FDP: .Liberal denken. Leistung wählen. Das Programm der F.D.P. zur Bundestagwahl 1994', S. 33) Wir wollen den Aufbruch eines klassischen Industrielandes auf der Grundlage ökologischer Innovationen. Wir stehen für eine ökologische Offensive, ohne sie haben wir auch wirtschaftlich keine Zukunft. Die Ökologie ist eine wesentliche Voraussetzung für den zukünftigen wirtschaftlichen Erfolg. (Bündnis 90/Die Grünen: .Programm zur Bundestagswahl 94, verabschiedet auf der Bundesdelegiertenkonferenz in Mannheim im Februar 1994', S. 9)

Im Wahlkampf selbst spielten jedoch weder ökologische Fragen bei der FDP noch wirtschaftspolitische Fragen bei Bündnis 90/Die Grünen eine sonderlich hervorgehobene Rolle. Die kommunikativen Dramaturgien der Parteien zielten in vollkommen andere Richtungen. Für eine Rekonstruktion der Wahlkampfdramaturgien heißt dies, daß einzelne strategierelevante Äußerungen im Gesamt des Wahlkampfverlaufs betrachtet und durch Gegenüberstellungen hinsichtlich ihrer Validität gewichtet werden müssen. Im Rahmen einer kommunikationsdynamischen Textanalyse wird daher gegenübergestellt, was zu Beginn des Wahlkampfes geäußert wurde, wie diese Äußerungen im weiteren Wahlkampfverlauf modifiziert wurden und auf welche kommunikativen Bausteine man dabei jeweils zurückgriff. Zu diesem Zweck wurden vier Textformen ausgewählt, an denen sich die kommunikationsdynamischen Aspekte von Wahlkampfdramaturgien exemplarisch nachzeichnen lassen. Es

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Bereits Gülich/Kotschi (1987, 255) plädierten für „die Annahme einer eigenen Analyseebene, auf der Texte als Resultate von Textherstellungshandlungen beschrieben werden können".

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handelt sich dabei a) um veröffentlichte Strategiepapiere im Vorfeld des Wahlkampfes, b) um die Präambeln und Vorworte aus den Wahlprogrammen, die zum Auftakt des heißen Wahlkampfes als Werbematerial vorlagen, c) um transkribierte Ausschnitte einer ARD-Femsehsendung, die fünf Tage vor dem Wahltag ausgestrahlt wurde („Ihre Wahl '94 - Die Favoriten"), und schließlich d) um die Wahlkampfanalysen der Parteien nach der Wahl.25

2.1 SPD Die Gewinnaussichten der SPD stützten sich auf die Annahme, daß die Wähler nach zwölf Jahren christlich-liberaler Koalition einen Regierungswechsel anstreben und aus diesem Grunde die SPD mit einer .strategischen' Mandatsmehrheit ausstatten würden. Kanzlerkandidat Rudolf Scharping läßt im Titel und Vorwort des im August erschienenen .Regierungsprogramms der SPD' keinen Zweifel daran aufkommen, daß er bei den Wählern und möglichen Koalitionspartnern seine administrative Akkreditierung und in einer Regierungskoalition die Führungsrolle beanspruchte: „(2) Dafür braucht Deutschland den Regierungswechsel, eine Politik unter sozialdemokratischer Führung." (vgl. Anhang, S. 271) Ausgestattet mit diesem Selbstbewußtsein glaubten die Sozialdemokraten, keine eindeutige Koalitionsaussage treffen zu müssen; im Text des Regierungsprogramms ist von einem möglichen Koalitionspartner nicht die Rede. Allerdings nahm der damalige Bundesgeschäftsführer der SPD, Günter Verheugen, in einer Presseverlautbarung dazu Stellung: Wir wollen stärkste Partei werden. Wir wollen nach der Wahl in der Lage sein, die nächste Regierung zu führen, und mit Rudolf Scharping als Bundeskanzler die Richtlinien der Politik bestimmen. Dabei konkurrieren wir mit allen anderen Parteien und werden keine Koalitionsdebatten fuhren. Mit zwei Ausnahmen: Wir wollen keine große Koalition - und es wird sie auch nicht geben - und eine Zusammenarbeit mit der PDS ist für die SPD ausgeschlossen. (Pressemitteilung des Bundesgeschäftsführers Günter Verheugen zur Präsentation der Wahlkampagne vom 10. August 1994)

Der Spieleinsatz der SPD bestand in Zuversicht, als Mehrheitspartei mehr Koalitionsaltemativen als jede andere Konkurrenzpartei zu besitzen und daher die besten Trümpfe für eine

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Im Zentrum der Textanalyse stehen, da diese Textformen an das gesamte Wählerpublikum adressiert waren und verhältnismäßig breit rezipiert worden sein dürften, die Wahlkampfprogramme und die transkribierten Fernsehäußerungen. Die Präambeln und Vorworte wurden deswegen ausgewählt, weil sie die Hauptaussagen der Wahlprogramme in nuce enthalten. Es darf vermutet werden, daß - wenn die Programme zur Hand genommen wurden (vgl. Klein 1996a) - bevorzugt diese Kurzfassungen gelesen wurden. Die Äußerungen in diesen Texten sind nachträglich numeriert worden, um deren Identifizierung zu erleichtern (vgl. Anhang 271ff.). Die im Anhang ausgewiesenen Strategiepapiere und Wahlkampfanalysen werden ergänzend zitiert.

195 Ablösung Helmut Kohls in der Hand zu halten. Dadurch daß die SPD während des gesamten Wahlkampfes keine eindeutige Koalitionsaussage machte, lud sie zu öffentlichen Spekulationen ein, die im wesentlichen vier Konstellationen betrafen, nämlich erstens ein Regierungsbündnis mit Bündnis 90/Die Grünen (rot-grün), zweitens die Wiederaufnahme einer Koalition mit der FDP (rot-gelb), drittens die sogenannte Ampel (rot-gelb-grün) und viertens - trotz gegenteiliger Beteuerungen (s.o.) - eine große Koalition mit der Union. Diese Risiko-Kalkulation war von vorneherein überaus gewagt, da das Taktieren mit Bündnismöglichkeiten als voraussetzungsreichste Form des Spieleinsatzes gelten kann: Es muß nahezu sicher sein, daß die strategische Mandatsmehrheit auch tatsächlich erreicht werden kann, die potentiellen Koalitionspartner müssen eine hohe Frustrationstoleranz aufweisen26, und es muß vorausgesetzt werden können, daß die vorgelagerten Machtqualifikationen (personales Prestige, parteipolitische Reputation, parlamentarische Akkreditierung) von einer Mehrheit der Wähler uneingeschränkt zuerkannt wird. Gewagt war die Risiko-Kalkulation der SPD vor allem deshalb, weil offenbar auch parteiintern nicht ohne weiteres vorausgesetzt wurde, daß alle der Regierungsfahigkeit vorgelagerten Machtquellen tatsächlich als erschlossen gelten konnten. So formulierte Wolf-Michael Catenhusen, der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Bundestagsftaktion, 1993 in einem internen Strategiepapier noch vorsichtig: Die SPD wird bundesweit einen Wahlkampf führen, in dem die Kompetenz des Kanzlerkandidaten mit einem neuen Führungsstil verbunden wird und die Regierungsfähigkeit der SPD auch durch ein Führungsteam, an seiner Spitze Oskar Lafontaine, personalisiert werden soll. [...] Es bleibt abzuwarten, ob Rudolf Scharping ähnlich wie Bill Clinton auch zur charismatischen Personifizierung des ,It's time for a change' aufgebaut werden soll/aufgebaut werden kann. (Konzept für die Wahlkämpfe zur Kommunalwahl und Bundestagswahl im Oktober 1994 Entwurf. Münster o.J. S. 2)

Das personale Prestige Rudolf Scharpings, seine Fähigkeit, die heterogenen Wählererwartungen zu bündeln und nach außen hin zu repräsentieren, war denn auch das Hauptarbeitsfeld der SPD-Wahlkampfinannschaft. Es ging darum, Scharping erstens als Wortführer deijenigen aufzubauen, die eine Ablösung der Regierung Kohl erwarteten, und ihn zweitens den Bürgern in der sogenannten politischen Mitte, für die traditionell „die ökonomische Statusverbesserung, zumindest aber die Statussicherung, eine der wichtigsten individuellen Zielsetzungen

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Die Frustrationstoleranz von Bündnis 90/Die Grünen wurde von Rudolf Scharping systematisch ausgelotet: „Noch nie haben sich die Grünen so klar zu einer Koalition mit der SPD bekannt. Aber Scharping blockt ab. Er behandelt die Bündnis-Alternativen abschätzig, wie unreife Kinder. Wenn überhaupt, sei er, Scharping, der Koch und Fischer der Kellner." (Peter Pragal, Franz Sommerfeld in der „Berliner Zeitung" vom 15. Oktober 1994)

196 darstellt" (Jung/Roth 1994, 5 27 ; vgl. S. 187) als besseren parlamentarischen Fürsprecher zu präsentieren. Das ,Regierungsprogramm der SPD' wird daher nicht, wie die Wahlprogramme der anderen Parteien, durch eine der /wieipolitischen Reputation dienliche ,Präambel' eingeleitet - ein Guthaben auf diesem Gebiet schienen die Sozialdemokraten vorauszusetzen - , sondern durch ein persönlich gehaltenes ,Vorwort' des Kanzlerkandidaten. Mit einer Häufung von ,obligationsvorbereitenden Bereitschaftserklärungen' (vgl. Graffe 1990, 169-173) akzentuiert Scharping die sozial-situative Passung (vgl. S. 133) der mit seiner Person verknüpften Wahlofferten. Die Formel,Ich will' durchzieht motivisch den gesamten Text des Vorwortes.28 Zum einen signalisiert sie der Wählerschaft, aber vor allem der eigenen Parteibasis, daß Scharping der alten SPD-Schwäche, die Möglichkeit zum Regierungswechsel durch interne Querelen zu verspielen, seine Entschlossenheit zur Übernahme politischer Verantwortung entgegensetzt.29 Zum anderen enthalten die mit der voluntativen Formel verknüpften Propositionen ohne Ausnahme positiv konnotierte ,Hochwertbegriffe' (vgl. etwa Kuhn 1991), deren Zweck es ist, Scharpings Anliegen nicht nur als möglich, sondern auch als allgemein wünschenswert erscheinen zu lassen: (3) Ich will, daß sich die Kräfte der Freiheit und der gegenseitigen Verantwortung und Rücksichtnahme entfalten können. (4) Ich will eine Regierung, die Menschen ernst nimmt, statt mit ihren Hoffnungen parteipolitisch zu spielen. (5) Eine neue Politik für Chancengleichheit, um auf dieser Grundlage die Einheit wirtschaftlich, sozial und kulturell zu verwirklichen. (SPD: ,Das Regierungsprogramm der SPD. Reformen für Deutschland'; vgl. Anhang)

Entsprechend der damaligen Themenkonjunktur (vgl. S. 187) wurde das inhaltliche Hauptgewicht des SPD-Wahlkampfes auf die sozialökonomischen „Brot- und Butterfragen" (Leif/ Raschke 1994, 218) Wachstum, Beschäftigung und soziale Gerechtigkeit gelegt, wodurch die Konfliktlinie zur Union weniger programmatisch als vielmehr personell definiert wurde. Diese Richtlinienentscheidung spiegelte sich in der Wahlkampfdramaturgie der SPD wider: Bei der Auswahl der kommunikativen Wahlkampfbausteine verfolgte man nicht die klassische Eröffnungsstrategie einer Oppositionspartei, nach der die Diskreditierung der Regierung im Vorder-

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Vgl. ebd.: „Über die Hälfte der Wähler geht davon aus, daß ihre persönliche wirtschaftliche Situation davon beeinflußt ist, wer in Bonn regiert. Zumindest die Rahmenbedingungen wirtschaftlichen Handelns sind durch politische Entscheidungen beeinflußbar, und die geschilderte poütische Agenda macht deutüch, daß ökonomische Probleme und deren Lösungen mehr denn je im Vordergrund stehen. " Vgl. den Text im Anhang, S. 271: 3, 4, 14, 23, 39, 45, 51. Leif/Raschke (1994, 216) schrieben im März 1994: „Abgeordnete und Funktionäre der Partei werden nicht mehr der Frage von Mitgliedern ausgesetzt sein: ,Du kennst den Engholm - will der denn eigentlich?' Daß Scharping .will', ist seine Hauptbotschaft, und es sieht so aus, als könnte er die Partei auf diesen Macht- und Regierungskurs einschwören - damit ließe sich auch viel an Selbstzweifeln, Unsicherheit, Uneinigkeit überdecken. "

197 grund steht (vgl. S. 177), sondern Scharpings Wahlkampftnannschaft setzte - offenbar nicht ohne Selbstzweifel - auf die Formen positiver Selbstdarstellung (vgl. S. 165, Abb. 14): Angesichts einer Stimmungslage in der Bevölkerung, die man als .labile Zufriedenheit' bezeichnen kann, gerät eine Opposition, die für den Wechsel werben will, in ein strategisches Dilemma: Eine Kampagne, die sich auf das Aufzeigen gesellschaftlicher und politischer Fehlentwicklungen beschränkt und den politischen Gegner dafür verantwortlich macht, geht an der psychologischen Befindlichkeit der Bevölkerungsmehrheit vorbei. Eine Strategie dagegen, die den Wechsel eher positiv mit den eigenen Zielen begründet, läuft Gefahr, von Teilen der eigenen Partei und den Medien als zu ,soft' abqualifiziert zu werden. Nicht zuletzt aufgrund der Erfahrungen des Europawahlkampfes (bei dem vor allem kritisiert wurde, wir hätten der veränderten Stimmungslage in Richtung mehr Optimismus nicht genügend Rechnung getragen) haben wir uns schwerpunktmäßig für eine Positivlinie entschieden, die vor allem zwei inhaltliche Stoßrichtungen hatte: den Leuten deutlich zu machen, was der Wechsel für ihre konkrete Lebenswirklichkeit bedeutet. - in Richtung Wähler(innen) das Profil der SPD zu transportieren: Wir wissen, was Eure Alltagsprobleme sind. Wir kümmern uns darum. Die anderen haben inzwischen so abgehoben, daß sie den Kontakt zum Alltag der Menschen verloren haben und nicht mehr wissen, was diese beschäftigt. (SPD: Analyse zur Bundestagswahl, 24. November 1994. S. Iff.; Hervorh. G.W.) Diese dramaturgischen Eckpunkte wurden vor allem in der großangelegten PersonalityKampagne .Mensch Scharping' umgesetzt, mit der die traditionelle SPD-Reputation, die „Schutzmacht der kleinen Leute" zu sein (Fuhr 1994, 9), auf das personale Prestige Scharpings übertragen werden sollte. Die Kampagne trug jedoch ausgesprochen privatistische Züge, weshalb nicht recht einsichtig wurde, warum Scharping eine polare politische Alternative zu Kohl sein könnte.30 Zugunsten personaler Legitimitätsdarstellungen („Wir wissen, was Eure Alltagsprobleme sind. Wir kümmern uns darum."; s.o.) rückten diejenigen Wahlkampfbausteine in den Hintergrund, die die Adäquatheit des politischen Angebotes, die Kompetenzhoheit und den Tranparenzvorsprang der SPD hätten begründen können. Um diese strategische Einseitigkeit wettzumachen und den Mannschaftsgedanken stärker zu betonen, wurden später, während der heißen Wahlkampfphase, die beiden anderen ,Troikaner', die Schattenminister Gerhard Schröder und Oskar Lafontaine, aufgeboten. Letzterer war

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Der „Spiegel" vom 25. Juli 1994 höhnte unter dem Titel .Socken und Menschen': „.Mensch Scharping' lautet die Schlagzeile mehrseitiger, reichbebilderter Zeitschriften-Anzeigen, in denen der SPD-Chef Markantes aus seinem Privatleben (,Mein erstes Auto') erzählt und seine politischen Ziele überaus gemessen ausbreitet." Parteiintern war diese Kampagne so umstritten, daß das Wahlkampfteam sich später rechtfertigen mußte: „Aus unseren Zielgruppenuntersuchungen wußten wir, daß viele Klischees über Rudolf Scharping am besten dadurch durchbrochen werden konnten, daß die Menschen mehr über Rudolf Scharpings biographischen Hintergrund erfuhren. Das interessierte sie auch. Und das hat ihre Einstellung zu Rudolf Scharping mehr beeinflußt als viele inhaltlichen politischen Aussagen. Dies an die Adresse derjenigen, die das alles als unpolitisch abtun." (SPD: Analyse zur Bundestagswahl, 24. November 1994. S. 5)

198 der Repräsentant der SPD in der wichtigen ARD-Wahlsendung „Ihre Wahl '94 - Die Favoriten", die am 11. Oktober, also fünf Tage vor dem Wahltag, zur besten Sendezeit (20.15 h) ausgestrahlt wurde. Lafontaine hielt sich in seinem Eingangs- und Abschlußstatement31 zwar weitgehend an den dramaturgisch vorgebenen Diskreditierungsverzicht gegenüber der Union (s.o.), legte aber statt auf die Person Scharpings - den er im übrigen unerwähnt ließ seinen Akzent auf die Adäquatheit der politischen Angebote der SPD, um deren parteipolitische Reputation zu stärken. Das arbeitsmarkt- und steuerpolitische Angebot der SPD (s.u.: 24, 4') wird nicht etwa mit legitimatorischen Bausteinen unterstützt, sondern mit adäquatheitsbezogenen Aussagen zur Notwendigkeit des politischen Angebotes und zu dessen ,PreisLeistungs-Verhältnis' (5, 5'; vgl. S. 129): (1) Wir haben eine zu hohe Arbeitslosigkeit und zu wenig soziale Gerechtigkeit. (2) Um die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, werden wir die Investitionen unverzüglich steuerlich präferieren, noch stärker präferieren als bisher. (3) Wir werden die Mittel des Arbeitsmarktes aufstocken auf das 92er Niveau, was eine deutliche Verbesserung auf dem Arbeitsmarkt unmittelbar zur Folge hat. (4) Wir wollen mehr soziale Gerechtigkeit, das heißt zunächst einmal Steuergerechtigkeit. (5) Ein Durchschnittsverdiener hat bei uns im Jahr 2.000 Mark mehr als bei der Koalition. (Γ) Regierungen sollen nach dem beurteilt werden, was sie vor Wahlen angekündigt haben und nach Wahlen getan haben. (2') Es hieß: keine Steuererhöhungen, keine Kürzung sozialer Leistungen. (3') Nach den Wahlen wurden mehr Steuererhöhungen auf den Weg gebracht als jemals nach dem Kriege in Gesamteuropa. (4') Wir bedauern den Rückgang der Realeinkommen aufgrund dieser Steuer- und Abgabenerhöhungen und ziehen ein Programm vor zur Stärkung der Massenkaufkraft. (5') Der Durchschnittsverdiener steht sich bei uns um 2.000 Mark besser. (6') Das ist ein Wort. (vgl. Anhang)

Man kann festhalten: Die kommunikative Wahlkampfdramaturgie der SPD folgte nicht den Maximen einer .klassischen' Oppositionsstrategie. Die SPD agierte über weite Strecken so, als sei sie, und nicht die Union, in der Position der Mehrheitspartei. Da das Wahlkampfteam unter den Bürger eine ,Stimmungslage in Richtung mehr Optimismus' ausmachte, verzichtete man weitgehend auf scharfe Diskreditierungsmaßnahmen gegen die Regierung und verlegte sich stattdessen auf demonstrative und dokumentarische Selbstdarstellungen, wobei die Bausteine ,Legitimations-' und ,Adäquatheitsbegründung' im Vordergrund standen (vgl. S.165, Abb. 14). Die Chancen einer solchen, die selbstreferentiellen Elemente betonenden Dramaturgie bestanden darin, politische Selbständigkeit zu demonstrieren und die beanspruchte Regierungsfahigkeit auf selbstgewählten Politikfeldern beweisen zu können. In dem Augenblick allerdings, in dem die Union ihre ,Linksfront-Kampagne' auflegte und gezielt die von der

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Zu Beginn und zum Abschluß der Sendung erhielten die teilnehmenden Politiker Joschka Fischer, Gregor Gysi, Klaus Kinkel, Oskar Lafontaine, Wolfgang Schäuble und Theo Waigel die Gelegenheit, sich 30 Sekunden lang frei zu äußern. In den nachfolgenden Transkripten werden die Anfangsbeiträge der genannten Politiker gewöhnlich numeriert (z.B. 1) und die Abschlußbeiträge mit einer Markierung (z.B. 1') versehen.

199 SPD gepflegte Legitimationskampagne attackierte, geriet die SPD kommunikationsstrategisch in die Defensive: Die oppositionelle .Konflikthoheit' lag bereits bei Bündnis 90/Die Grünen und der PDS, während sich auf dem Terrain der Regierungsfahigkeit - in kurioser Umkehrung der parlamentarischen Machtverhältnisse - die Union in der Rolle des Angreifers einrichtete. Trotz forcierter Gegenangriffe gelang es der SPD im weiteren Wahlkampfverlauf nicht, diese für eine Oppositionspartei unglückliche Rollenverteilung wieder rückgängig zu machen. 32

2.2 Bündnis 90/Die Grünen Die Risiko-Kalkulation und kommunikative Dramaturgie von Bündnis 90/Die Grünen waren im Vergleich zu den vorherigen, von internen Querelen33 geprägten Bundestagswahlkämpfen ausgesprochen klar konturiert. Ihre Gewinnaussichten nach dem Debakel von 1990 konzentrierten sich darauf, als ökologische und soziale Reformpartei parlamentarisch wieder akkreditiert zu werden und in einer Koalition mit der SPD die amtierende christlich-liberale Regierung abzulösen. (1) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN treten zu den Wahlen zum 13. Deutschen Bundestag an und wollen Mitverantwortung für die Zukunft übernehmen. (2) Unser wichtigstes Ziel ist es, die Regierung Kohl abzulösen, um eine soziale und ökologische Kurskorrektur in der Bundesrepublik einzuleiten. [...] (80) Wir sind bereit, uns mit aller Kraft in ein Regierungsbündnis einzubringen, wenn damit eine seriöse Reformpolitik in Aussicht steht. (81) Eine Möglichkeit sehen wir in einer Koalition mit der SPD. (82) Deshalb gilt: Wer rot-grün will, muß grün wählen. (Bündnis 90/Die Grünen: .Programm zur Bundestagswahl 94, verabschiedet auf der Bundesdelegiertenkonferenz in Mannheim im Februar 1994'; vgl. Anhang)

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Lafontaine und Scharping versuchten dies während der letzten Parlamentssitzung vor der Wahl, in der an zwei Tagen (6./7. September 1994) der Haushaltsentwurf 1995 debattiert wurde. Lafontaine löste am ersten Tag Tumulte aus, als er der CDU und FDP vorwarf, sie hätten sich „in schamloser Weise die alten kommunistischen Kader der DDR-Blockparteien einverleibt" („Süddeutsche Zeitung" vom 7. September). Scharping attackierte Kohl am zweiten Tag mit dem Vorwurf, dieser „mißachte konsequent die sozial Schwächeren im Lande, nehme Menschen nur noch ,ameisenhaft' wahr und verweigere jegliche Antwort auf die Lösung anstehender Probleme. Kohl wiederholte den Vorwurf, sein Herausforderer versuche, mit Hilfe der PDS in Bonn an die Macht zu gelangen und zeichne ein völlig verzerrtes Bild Deutschlands. Die Koalition habe sehr erfolgreich gearbeitet" (SZ vom 8. September). Vgl. Raschke (1993, 882): „Die Grünen haben auf Länderebene einen langen Weg hinter sich: von der außerparlamentarischen Fundamentalopposition zur intransigenten parlamentarischen Oppositionspartei, von dort über Tolerierung zur Koalition, diese erst als Konflikt-, dann als Erfolgsbündnis. Soweit gegangen stellte man fest, daß die Probleme überhaupt erst beginnen. Mit dieser Genese [...] läßt sich erklären, daß Fragen des Regierungsverhaltens bei den Grünen immer noch ideologisiert sind. "

200 Die Bündnisgrünen waren der Auffassung, vor allem zwei Guthaben bei den Bürgern zu besitzen, die sie als Einsatz im Spiel um die Regierungsmacht betrachteten: Erstens ihre parteipolitische Reputation als ökologische, soziale und pazifistische Reformpartei, der zudem als einziger gelungen war, „worin alle anderen Parteien gründlich versagt haben: Sie wurden mit Anstand gesamtdeutsch" (Bruns 1994, 28). Zweitens das personale Prestige einiger ,Vorzeige-Grüner', denen man in der Auseinandersetzung mit der Regierungskoalition Polarisierungseffekte zutraute und die gleichzeitig als ministrabel gelten konnten. Dem seinerzeit amtierenden hessischen Umweltminister Joschka Fischer etwa gelang es während des gesamten Wahlkampfes, sowohl als Identifikationsgestalt für die eigene Klientel als auch in der Rolle des Kohl-Antipoden öffentlich präsent zu sein. Was auf der Ebene der parteipolitischen Reputation als Guthaben interpretiert werden konnte, gereichte den Bündnisgrünen auf der parlamentarischen Bühne zum Nachteil. Da ihr thematisches Hauptgewicht unverändert auf dem Gebiet der Ökologie lag, sich aber die allgemeine Themenkonjunktur seit der Vereinigung in Richtung Ökonomie verlagerte, tat sich die SPD aus machtpolitischen Gründen schwer damit, Bündnis 90/Die Grünen als ernstzunehmende politische Kraft und möglicher Koalitionspartner zu akkreditieren: Die spannungsgeladene Vision einer rot-grünen Bundesrepublik ist in mancher Hinsicht schal geworden. Erwiesenermaßen wird rot-grün in den Ländern genauso gut oder schlecht regiert wie christ- oder sozialliberal. Wahlarithmetisch schein Rot-Grün kein Ausbaumodell, sondern ein Nullsummenspiel zu sein. [...] Der neue SPD-Vorsitzende [Scharping; G.W.] hält sich mit Koalitionsaussagen Richtung Grün nicht nur aus wahltaktischen Gründen zurück. Die Wahlergebnisse spiegeln nämlich wider, daß die Konjunktur für das Reformprojekt des ökologischen Umbaus schlecht geworden ist. (Bruns 1994, 30)

Statt ihrerseits eine Koalitionsaussage zu treffen, durchforstete die SPD mit eklektizistischem Eifer, darin unterstützt von den Regierungsparteien und politischen Journalisten, das Wahlprogramm der Bündnisgrünen und wurde auf der Suche nach Trennendem rasch fündig: Die bündnisgrünen Forderungen nach einem Benzinpreis von fünf Mark sowie nach einer Auflösung der NATO und Abschaffung der Bundeswehr - und einige andere mehr - waren alles andere als angetan, um die SPD unter Scharping auf ihrem „langen Marsch in die Mitte" (Leif/Raschke 1994, 44) zu begleiten.34 Dies war jedoch auch nicht das strategische Ziel der Bündnisgrünen. Da sie in der vorausgegangenen Legislaturperiode größtenteils außerhalb des Bundesparlamentes agieren mußten, ging es ihnen in allererster Linie um die Rückgewinnung und Stärkung ihrer parteipolitischen Reputation, und zwar möglichst auf Kosten aller anderen

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Als etwa Günter Verheugen, der Schattenaußenminister der SPD, in der SAT.l-Sendung „Wer soll regieren? Streitfragen an Günter Verheugen und Klaus Kinkel" (12. Oktober 1994) auf die außen- und sicherheitspolitischen Vorstellungen von Bündnis 90/Die Grünen angesprochen wurde, antwortete er: „Die Grünen sind außenpolitisch unreif. [...] Da müssen die noch was lernen. "

201 im Parlament vertretenen Parteien. Bereits ein Wiedereinzug ins Parlament konnte als Erfolg betrachtet werden, und daher zögerten die Bündnisgrünen nicht, in der Rolle kritischer Bürger die gesellschaftspolitische Legitimation der anderen Parteien in zu Zweifel ziehen (s.u.: 3, 4) und ihre rot-grüne Koalitionsaussage an reputierliche Bedingungen zu knüpfen (83, 84): (3) Parteien und Politiker haben in den vergangenen Jahren viel Ansehen verloren. (4) Wir möchten dazu beitragen, daß Bürgerinnen und Bürger sich durch die, die sie gewählt haben, wieder vertreten fühlen. [...] (83) Als bloße Mehrheitsbeschaffer allerdings stehen wir nicht zur Verfügung. (84) Aber ob wir in der Regierung oder in der Opposition arbeiten: Wir werden die Vision einer sozialen und ökologischen, solidarischen und demokratischen Gesellschaft in unsere politische Arbeit einbringen. (85) Doch wir haben Geduld und wissen, daß große Hoffnungen meist sehr kleine Schritte machen, (vgl. Anhang)

Das Fundament für die kommunikative Dramaturgie von Bündnis 90/Die Grünen bildete ie gesamte Palette diskreditierender Wahlkampfbausteine (vgl. S. 165) gegen die sogenannten .Altparteien' nebst einer dazu komplementären Selbstdarstellung. Dem Nutzen dieser schon als klassisch zu bezeichnenden bündnisgrünen Oppositionsstrategie, nämlich auf Kosten ,der Etablierten' das eigene Reputationsguthaben zu mehren, stand allerdings das Risiko gegenüber, daß dieselben Etablierten ihnen dafür auf parlamentarischer Ebene das Prädikat der Politik- und Regierungsfahigkeit verweigern würden. Daher wählte man für die Bundeskampagne eine kommunikative Doppelstrategie, die sich sowohl in der Art und Aufmachung der verwendeten Wahlkampfbausteine als auch in einer spezifischen dramaturgischen Rollenverteilung niederschlug: Innerparteiliche Integrationsfiguren wie die Bundessprecherin Marianne Birthler (Ost) und ihr Kollege Ludger Volmer (West) übernahmen die Aufgabe, das hohe Identitätsbedürfais der bündnisgrünen Stammklientel (vgl. Raschke 1993, 882) zu befriedigen. In gemessen-dokumentarischem (Birthler) bzw. kämpferisch-demonstrativem Präsentationsstil (Volmer) sorgten die beiden mit Selbstdarstellungsmaßnahmen für Basisnähe, und zwar primär in den Fragen der Angebotsadäquatheit (Ökologie, Soziales), gesellschaftlichen Legitimation (Reformpartei, Ostdeutschland) und politischen Transparenz (Basisdemokratie). Demgegenüber kam es vor allem dem bundesweit bekannten Prestigeträger Joschka Fischer zu, die taktisch extrem flexible latente Wählerschaft der Bündnisgrünen von der Politik- und Regierungsfahigkeit der Bündnisgrünen zu überzeugen, denn: An zwei unverrückbaren, untereinander verbundenen Parametern orientieren sich grüne Wählerinnen immer: Geht meine Stimme verloren oder ist damit zu rechnen, daß die Grünen die 5%Hürde überspringen? Wie beeinflußt meine Stimmabgabe die Chancen der parlamentarischen Gesamtlinken (Grüne und SPD)? (Raschke 1993, 680)

Für eine kleine Oppositionspartei liegt im gekonnt ausgetragenen Konflikt mit den Regierungsparteien die größte Chance, vom Wählerpublikum und den Parlamentskollegen als geeigneter Fürsprecher und respektabler Gegner akkreditiert zu werden. Der „Spontifex Maximus " Fischer (FAZ) ließ daher vor allem im Fernsehwahlkampf keine Gelegenheit aus, Regierungspolitiker - insbesondere seinen Amtskollegen im bündnisgrünen Schlüsselressort, den damali-

202 gen Bundesumweltminister Klaus Töpfer - mit Diskreditierungsmaßnahmen zu überziehen und durch eigene Leistungsdemonstrationen deren Kompetenz und Sachautorität in Frage zu stellen. In der bereits erwähnten ARD-Wahlsendung „Ihre Wahl '94 - Die Favoriten" vom 11. Oktober bettet Fischer in seinem Eingangsstatement das politische Angebot der Bündnisgrünen (s.u.: 3, 4, 5) in eine dramatisierende Problemdarstellung (1, 2) und eine die Regierung diskreditierende Negativ-Bilanz ein (6, 7): (1) Guten Abend. (2) Unser Land befindet sich in einer schweren Wirtschaftskrise und in einer doppelten Krise, nämlich der Einheitskrise. (3) Wenn wir die notwendigen Arbeitsplätze schaffen wollen, dann müssen wir jetzt dringend mit dem ökologischen Umbau ernst machen. (4) Das heißt für uns: Energiewende, Verkehrswende, eine ökologische Steuerreform. (5) Wir müssen aber auch Schluß machen mit dem Abbau innerer Freiheitsrechte wie der Diskriminierung von Minderheiten. (6) Die jetzige Regierung hat abgewirtschaftet. (7) Sie hat den Höchststand von Arbeitslosen, explodierende Staatsverschuldung, sie hat eine Krise des Sozialstaats und Mieten zu verantworten, die nicht mehr bezahlbar sind. (8) Deswegen muß sie abgelöst werden, (vgl. Anhang)

Im Abschhißstatement setzt Fischer mit einer Attacke gegen die Problemlösungskompetenz der Regierung ( Γ , 2') nach, um vor diesem Hintergrund die angestrebten machtpolitischen Bedingungen für einen Regierungswechsel präzisieren (3'-6', 8') und deren Adäquatheit durch Ausschluß alternativer Koalitionsoptionen begründen (7') zu können: (Γ) Dieses Land braucht die ökologische und soziale Erneuerung, und das wird diese Regierung Kohl nicht mehr hinbekommen. (21) Sie wird die Kraft zur inneren Reform nicht mehr haben. (31) Das kann nur mit einer rot-grünen Reformkoalition gehen. (4') Ich halte überhaupt nichts von einer Position, die sich zur Opposition freiwillig erklärt, und damit die Verlängerung von Kohl bedeutet. (51) Genau das wollen wir nicht. (6') Das heißt aber: Rot-grün braucht eine deutliche Mehrheit, eine klare Mehrheit. (7') Minderheitsregierungen wird's nicht geben, Tolerierungen auch nicht. (8') Das ist die Entscheidung, die jetzt ansteht, und das heißt, den Reformfaktor Bündnis 90/Grüne möglichst stark zu machen, damit wir wieder in den Bundestag zurückkommen. (vgl. Anhang)

Festzuhalten bleibt, daß die kommunikativen Dramaturgien der beiden aussichtsreichsten Oppositionsparteien in hohem Maße inkompatibel waren: Die Bündnisgrünen setzten primär auf konfliktträchtige Wahlkampfbausteine und gedachten, ihr Profil durch Abgrenzung zu allen anderen Parteien zu schärfen. Die Werbeagentur ,Trust' leitete entsprechend ihre ,Basisüberlegungen' zur Wahlkampfkampagne mit den Worten ein: „Die Existenz von Bündnis 90/Die Grünen basiert auf dem Anderssein."35 Demgegenüber versuchte die SPD, sich vor allem durch angebotspolitische und legitimatorische Selbstdarstellungen als bessere Regierungspartei in Szene zu setzen; sie fürchtete, mit einer aggressiven Diskreditierungsstrategie die Kontinuitätserwartungen der Wähler in der politischen Mitte' zu enttäuschen. Als symptomatisch für die Auffassung, die Wähler verlangten von der SPD „nicht visionäre Gegen-

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Zitiert nach Bruns (1994, 31).

203 entwürfe, sondern das glaubwürdige Versprechen, ,es besser zu machen'" (Fuhr 1994, 8), kann ein Plakatmotiv gelten, auf dem eine ältere Dame dem Wählerpublikum mitteilt: „Kohl? - Ich bin für was Jüngeres!"

2.3 PDS Die Gewinnaussichten der PDS waren weit bescheidener als die aller anderen untersuchten Parteien: Die PDS strebte keine (direkte) Regierungsbeteiligung an, sondern wollte schlicht erneut in den Bundestag einziehen, was ihnen 1990 nur aufgrund eines besonderen Wahlrechts (separate 5%-Hürde für das ,Wahlgebiet Ost') gelungen war. Hinsichtlich der Chancen, die gesamtdeutsche 5% -Grenze zu überspringen, gab man sich keinen Illusionen hin: Die Kommunualwahlen36 werden sehr wahrscheinlich zum öffentlichen Gradmesser für die Wählbarkeit und Politikfähigkeit der PDS im gesamten Wahljahr 1994 werden. [...] Die Aussichten für die PDS, erneut in den Bundestag einzuziehen, ergeben sich vor allem aus der Möglichkeit, drei Direktmandate bei den Bundestagswahlen zu erringen, mit denen die 5 %-Hürde hinfällig würde. Der Kampf um diese Direktmandate wird einen herausragenden und besonderen Teil des PDS-Wahlkampfes ausmachen. (PDS Pressedienst: Strategie der PDS zu den Wahlen 1994, 8. April 1994. S. 8f.)

Die Nachfolgepartei der SED kann als milieuverhaftete Regionalpartei in Ostdeutschland bezeichnet werden; in Westdeutschland spielt sie auf Kommunal-, Länder- und Bundesebene praktisch keine Rolle (vgl. Neugebauer/Stöss 1995). Als Wählerpotential für die Bundestagswahl 1994 betrachtete das Wahlbüro der PDS daher vier Gruppen: Mitglieder des ehemaligen Staats- und Parteiapparats der DDR sowie Teile der DDR-Intelligenz, Einheitsverlierer, DDRNostalgiker und ,orthodoxe' Linke in Gesamtdeutschland (PDS Pressedienst: Strategie der PDS zu den Wahlen 1994, 8. April 1994. S. 12). Bezüglich möglicher Spieleinsätze mußte sich die Partei zunächst mit der Frage auseinandersetzen, welche Guthaben ihr nicht eingeräumt wurden, nämlich eine bundesweite parteipolitische Reputation sowie die parlamentarische oder gar administrative Akkreditierung durch die anderen Parteien. Zur Disposition stand also die bundesweite .Wählbarkeit und Politikfahigkeit der PDS' (s.o.). Was jedoch nach Ansicht des Wahlbüroleiters André Brie37 für die PDS zu Buche schlug, war das auf die oben genannten Wählersegmente zugeschnittene personale Prestige der Kandidaten.

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Ostdeutsche Kommunalwahlen im Jahr 1994: Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, SachsenAnhalt, Thüringen (alle am 12. Juni 1994). André Brie gab mir im August 1995 ein Interview.

204 Die PDS-Dramaturgie sah nach Brie folgende Rollenverteilung vor: - Gregor Gysi agierte als .Politiker neuen Typs'; geistreich, witzig und unangepaßt sollte er den ,Dialog' mit denjenigen jungen Leuten pflegen, die sich von ,der Politik' allgemein und von Bündnis 90/Die Grünen im besondern nicht mehr vertreten fühlten. -

Lothar Bisky vertrat eine ,paternalistische Seriosität', in der sich die DDR-Eliten und die Einheitsverlierer wiederfinden sollten. - Hans Modrow, der letzte von der SED gestellte DDR-Ministerpräsident, verbreitete ein leicht angestaubtes ,DDR-Flair', von dem sich die Nostalgiker angesprochen fühlen sollten. - Angela Marquardt, junge Vize-Vorsitzende der Partei, zielte als ,Anti-Politikerin' mit buntem Haarschopf auf die linken Szenen in den Großstädten. - Stefan Heym schließlich, der als parteiloser Kandidat in einer .offenen PDS-Liste' im wichtigen Wahlbezirk Berlin Mitte/Prenzlauer Berg gegen Wolfgang Thierse antrat, wurde ebenfalls als ,Anti-Politiker' präsentiert, der nicht nur den ,Stallgeruch' der DDR-Intelligenz mitbrachte, sondern auch als „die andere Stimme" (Kandidatenplakat) für Politikenttäuschte agieren sollte.38 „Gysis bunte Truppe" (Kandidatenplakat) stand eindeutig im Mittelpunkt der PDS-Kampagne, die Programmatik spielte - abgesehen vom Bekenntnis zum ,demokratischen Sozialismus'39 keine besondere Rolle. Der Forderungskatalog der PDS (vgl. Anhang) ist ein Sammelsurium von - wie Klein (1996a, 203) es nennt - ,deontischen Selbstverständlichkeiten' (9: „für menschwürdiges Wohnen und bezahlbare Mieten") und wunderlichen Problemdarstellungen (19: „für die Beendigung des Kalten Krieges in der BRD"). Wichtig erscheint in dem hier untersuchten Kontext allein, daß die PDS als Wortführerin des Ostens und - aufgrund ihrer machtpolitischen ,Anspruchslosigkeit' - als konsequenteste Oppositionspartei erneut in den

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Der Leiter des Berliner Büros von Wolfgang Thierse berichtete in einem Interview, das im August 1995 geführt wurde, daß der Erfolg Heyms auf zwei (berechtigten) Kalkülen der PDS basierte: daß die SPD sich scheuen würde, Heym zu diskreditieren, und daß Thierse aufgrund seines sicheren Listenplatzes ohnehin in den Bundestag einziehen würde. Die von der PDS gestreute Parole: „Thierse ist doch auf der Liste" sollte die Wähler im Bezirk veranlassen, ihre Stimmen zu splitten (.Nehmen wir doch beide'), und Heym als polare Alternative zum .angepaßten' Thierse darstellen (,Heym braucht keine Liste'). Der Begriff .Liste' ist in Ostdeutschland bis heute extrem negativ konnotiert. Vgl. Anhang: „(21) Die PDS ist eine soziaüstische Partei und nimmt in den sozialen und politischen Auseinandersetzungen der BRD rakikaldemokratische und antikapitalistische Positionen ein. (22) Menschliches Überleben, eine soziale, ökologische und kulturelle Perspektive verlangen gebieterisch weitreichenden gesellschaftlichen Wandel. (23) Er wird unmöglich bleiben, solange Profit- und Kapitalverwertung die gesellschaftliche Entwicklung dominieren. (24) Unser Ziel bleibt der demokratische Soziaüsmus!"

205 Bundestag einziehen wollte: „Die PDS ist Opposition [...]. Demgegenüber wollen - in dieser Situation - alle anderen regieren.a40 Gregor Gysi hält sich in seinen Statements zu Beginn und am Schluß der ARD-Wahlsendung „Ihre Wahl '94 - Die Favoriten" folgerichtig nicht damit auf, programmatisch fundierte Angebote zu unterbreiten, sondern spielt ohne Umschweife das doppelte Funktionsargument der Fundamentalopposition (1, 2, 5, 5'-7') und Ost-Repräsentanz (3, 4, 2', 3') aus: (1) Also ich denke, daß die Stimme für die PDS die konsequenteste Stimme gegen die gegenwärtige Regierung ist. (2) Bei uns ist ganz eindeutig, daß der gegenwärtige Kanzler von uns mit Sicherheit nicht gewählt wird. (3) Ich glaube, daß es außerdem nach der Vereinigung dringend erforderlich ist, daß auch eine Partei, die ihre stärkeren Strukturen im Osten Deutschlands hat, in diesen Bundestag einzieht, um die dortige Situation und Lage originär artikulieren zu können. (4) Das genügt nicht, daß es einige Abgeordnete in anderen Fraktionen gibt, es muß dafür eine spezielle Fraktion geben. (5) Und dann denke ich, daß wir bundesweit eine linke Oppositionspolitik machen, die ganz wichtig ist für die Bundesrepublik insgesamt. (Γ) Also ich denke, wir müssen in erster Linie den Schutz des geborenen Lebens und weniger des ungeborenen organisieren.41 (2') Und mein Eindruck ist, in den letzten vier Jahren - und das ist nicht nur ein Eindruck, sondern eine Tatsache - sind die Reichen - das stimmt einfach immer reicher geworden und die Armen deutüch ärmer geworden. (3') Die Zahl der Armen hat auch deutlich zugenommen. (41) Deswegen brauchen wir eine Wende in der Politik. (5') Und ich sage mal, selbst auf den Fall hin, daß SPD und Bündnis 90/Grüne regieren sollten, wäre es auch ganz wichtig, daß sie da nicht nur von rechts unter Druck stehen, sondern auch von links, und das heißt: auch sozial unter Druck stehen. (6') Und diesen Druck wollen wir ausüben. (7') Weil: es geht darum, immer wieder deutlich zu machen, daß es in der Politik auch Alternativen gibt, (vgl. Anhang) Die Wahlkampfdramaturgie der PDS war entscheidend davon geprägt, daß die Regierungsparteien Union und FDP spätestens seit der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt am 26. Juni 1994 massive Diskrediemngsversuche bezüglich der gesellschaftspolitischen Legitimation der PDS unternahmen, auch wenn es dabei nicht primär um PDS ging, sondern darum, die SPD zu treffen. Die PDS profitierte von dieser Diskreditierungskampagne. Die von Unionsseite als „linksradikale Verfassungsfeinde" und „rotlackierte Faschisten"42 Bezeichneten sahen sich in die Lage versetzt, das Legitimationsargument umzudeklarieren: Sie versuchten nun ihrerseits, die Anwürfe der ,Altparteien' als „Arroganz der Macht" gegenüber den Ostdeutschen zu delegitimieren und sich aus Gründen der Kontinuität (!) als einzig berufene Wortführer der Opfer des SED-Regimes (!!) darzustellen:

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PDS Pressedienst: Strategie der PDS zu den Wahlen 1994, 8. April 1993. S. 11. Zuvor war zwischen Joschka Fischer und Theo Waigel ein Streit über den Paragraphen 218 entbrannt. Dazu später mehr (vgl. S.260f.). Das erste Zitat stammt aus einer Pressemitteilung der Bonner CSU-Landesgruppe (Nr. 1/1994 vom 8. Januar, S. 3), das zweite von Helmut Kohl, der die Bezeichnung Anfang August zum ersten Mal auf einer Wahlkampfveranstaltung in Brandenburg gebrauchte und dann medienwirksam zum offiziellen Wahlkampfauftakt der CDU in Dortmund am 28. August wiederholte.

206 Liebe Bürgerin, lieber Bürger, [...] In den letzten Wochen war meine Partei, die PDS, oft in den Schlagzeilen. Selbst haben wir herzlich wenig dazu beigetragen - die sogenannten .Altparteien' überschütteten einander mit Verdächtigungen, den antisozialistischen Tugendpfad verlassen zu haben. Mit ihrer Rote-Socken-Kampagne haben sie sich ziemlich albern aufgeführt und wenig Gegenliebe bei den Wählerinnen und Wählern gefunden, wie die Meinungsumfragen beweisen. [...] Aber was soils - die PDS war im Gespräch! So stark, wie die etablierten Parteien immer tun, sind wir aber gar nicht - leider. In den fünf neuen Ländern und Ostberlin hat die PDS zwar viele Mitglieder und erfreulich viele Wähler und Wählerinnen. Sie quittieren positiv den manchmal schmerzlichen Erneuerungsprozeß der Partei, die ihre Herkunft nicht verleugnet. Im Gegenteil: Wer die SED durchgemacht hat, ist besonders unduldsam gegen die Arroganz der Macht und empfindlich, wenn er erneut Ausgrenzung Andersdenkender erleben muß. (Wählerbrief von Gregor Gysi, der im September 1994 in Nordrhein-Westfalen verschickt wurde)43

2.4 FDP Die Gewinnaussicht der EDP ist seit Gründung der Bundesrepublik stets die gleiche geblieben, nämlich zusammen mit der jeweiligen Mehrheitspartei eine Regierungskoalition zu bilden und sich doit als politische Kraft zu behaupten. Mit zwei Ausnahmen (1957-1961 und 1966-1969) ist ihr dies auch gelungen, und zwar mit einer Generalstrategie, die nach parteiinternen Flügelkämpfen bereits im Jahr 1953 konzipiert wurde und seitdem Bestand hat: Die FDP hatte erheblich an den wirtschaftlichen und politischen Erfolgen der bundesdeutschen Aufbaujahre mitgewirkt. Die Prämie dafür aber kassierten allein Konrad Adenauer und seine Union. [...] In der FDP ging infolgedessen die Angst um, von der allmächtigen Gestalt Adenauers vereinnahmt und schließlich übermannt zu werden. Die Eigenständigkeit und die Existenz der Freien Demokraten stand auf dem Spiel. Die Lösung, die die FDP fand, um ihr Überleben zu sichern, wurde zum Rezept für die folgenden Jahrzehnte und gilt bis heute: begrenzter Konflikt in der Regierungskoalition oder, schärfer formuliert, die Freien Demokraten spielten fortan und auch in wechselnden Konstellationen Opposition innerhalb der Regierung, um sich von der jeweiligen Kanzlerpartei abzuheben und den Wählern als politisches Korrektiv anzubieten. (Lösche/Walter 1996, 37; Hervorh. G.W.) Im .Superwahljahr' 1994 schien sich die Geschichte zu wiederholen. Die Spieleinsätze der FDP waren als äußerst bescheiden einzuschätzen: Vor der Bundestagswahl konnte sie bei sieben Landtagswahlen in Folge die 5% -Hürde nicht überwinden, das persönliche Ansehen der Parteiführung unter Klaus Kinkel lag nach der Ära Hans-Dietrich Genschers am Boden und in der Regierungskoalition gab die Union unter dem .Einheitskanzler' Helmut Kohl den Ton an, und zwar gerade auf den freiliberalen .Stammgebieten' der Außen-, Wirtschafts- und Rechts-

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André Brie bekräftigt in seinem „Ideenpapier für eine Kommunikationsstrategie der PDS" (August 1995) das Kommunikationsziel, die PDS müsse sich „als Garant für eine ehrliche und schonungslose Aufarbeitung des politischen Systems des realen Sozialismus" etablieren (vgl. Anhang).

207 politik. Was einzig blieb, war die Akkreditierung der FDP als ,ewige Regierungspartei', die seit 1969 ununterbrochen für Regierungsmehrheiten gesorgt hatte: Betrachtet man die Wähler der FDP genauer, dann stellt man fest, daß die Mehrheit dieser Wähler (63 Prozent) der CDU/CSU politisch näher stand als der FDP und die Hälfte sich sogar mit den Unionsparteien identifizierte. [...] Man mag diese Wähler Koalitionswähler nennen, wirkliche FDP-Wähler sind es nicht. Die FDP konnte ihnen gegenüber zwar ihre Funktion als Mehrheitsbringer klarmachen, und sie wurde deswegen gewählt. Das Urteil der Wähler über die FDP wurde dadurch aber nicht besser. So kommt es zu der kuriosen Situation, daß die FDPWähler die Arbeit der Union in der Regierung deutlich besser beurteilen (1,4 auf einer Skala von + 5 bis -5) als die Arbeit der Liberalen in der Regierung (0,9). (Jung/Roth 1994, 14)

Für die FDP hieß es daher wieder einmal: „Diesmal geht's um alles." (zentraler Wahlkampfslogan)44 Die Wahlkampfdramaturgie war aufgrund mangelnder machtpolitischer Alternativen (keine Koalitionsaussage der SPD) von zwei strategischen Maximen geprägt: Die FDP muiite sich erstens als unentbehrlich für die Fortsetzung der bisherigen Regierungskoalition darstellen (Kontinuitätsargument) und zweitens ihren parteipolitischen Einfluß auf die Regierungsarbeit akzentuieren (Korrektivargument). Die bevorzugten Wahlkampfbausteine waren entsprechend: Das politsche Angebot beschränkte sich im wesentlichen auf die Koalitionsaussage zugunsten der Union. Kontinuitätsbezogene Legitimations- und Kompetenzdarstellungen sowie dazu komplementäre Diskreditierungsversuche gegenüber den Oppositionsparteien hatten den Charakter flankierender Maßnahmen. Entsprechend ihrer Rolle als .Opposition innerhalb der Regierung' (s.o.) wählte die FDP in der Präambel ihres Wahlprogramms (vgl. Anhang) bevorzugt die konfliktträchtigen Realisierungsvarianten der politischen Selbstdarstellung, nämlich implikative .Forderungen' (vgl. S. 167) an den Koalitionspartner CDU/CSU. Thematisch sind diese .Forderungen' ganz auf die FDP-gefiihrten Kernministerien zugeschnitten: Die Forderung nach „mehr Marktwirtschaft" (26) fiel in das Ressort von Günter Rexrodt (Wirtschaft), das Verlangen nach „Mitteln des liberalen Rechtsstaates" zur Kriminalitätsbekämpfung (74) und „Förderung der Gleichberechtigung" (78, 79) betraf Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Justiz) und der Ruf nach der „internationalen Verantwortung" (81) sollte dem Prestige des Außenministers Klaus Kinkel zugute kommen. Fünf Tage vor der Wahl jedoch .ging's um alles', und deswegen beschränkte sich Kinkel in seinen Fernsehstatements im wesentlichen darauf, die Kontinuität der Koalitionsarbeit zu beschwören (1, 1', 2', 6') und die Legitimitätsansprüche der ambitionierten Oppositionsparteien zu bestreiten (3, 4, 5'). Das politische Leistungsangebot der FDP fiel demgegenüber ein wenig dünn aus (5-7):

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Vor der Bundestagswahl 1980, als die sozialliberale Regierung unter Helmut Schmidt zur Wahl stand und es gegen den FDP-Intimfeind Franz-Josef Strauß ging, lautete der Slogan: „Diesmals geht's ums Ganze - diesmal FDP, die Liberalen." Im Jahr 1965 war die FDP ledigüch „nötiger denn je".

208 (1) Die FDP möchte gern die erfolgreiche FDP-CDU/CSU-Koalition fortsetzen. (2) Wir wollen dafür sorgen, daß keine linke Mehrheit in diesem Land am 17.10. kommt. (3) Das wäre nämlich eine andere Republik. (4) Es wäre vor allem eine andere Republik, wenn die FDP nicht mehr im Bundestag vertreten wäre. (5) Die FDP steht für soziale Marktwirtschaft, für Weltoffenheit, für Wahrung der Bürgerrechte, Toleranz. (6) Wir sorgen dafür, daß Frieden weiter in unserem Land und draußen herrscht. (7) Frieden braucht Freiheit, Freiheit braucht Frieden. (Γ) Nochmal: Der 16.10. ist eine Richtungswahl. (2') Kommt ein Linksbündnis in der Bundesrepublik, eine linke Mehrheit, oder kann die bürgerliche Regierung aus FDP, CDU/CSU ihre Arbeit fortsetzen. (3') Wir haben gute Arbeit geleistet. (4') Wir haben noch nicht alles erledigt. (5') Deutschland ist nach dem Krieg gut damit gefahren, daß es aus der Mitte heraus regiert wurde, mit Hilfe der FDP und nicht von den Rändern her. (6') Dabei sollte es auch bleiben, und deshalb werben wir für die Fortsetzung dieser Koalition. (ARD-Wahlsendung „Ihre Wahl '94 Die Favoriten"; vgl. Anhang)

2.5 CDU/CSU Im Gegensatz zu den Oppositionsparteien und dem Koalitionspartner FDP war die CDU/CSU die einzige politische Gruppierung, deren Risiko-Kalkulation es erlaubte, einen „Wahlkampf aus einem Guß"45 zu fuhren. Es bestand - vor dem Hintergrund der demoskopischen Entwicklungen im Frühjahr 1994 (vgl. S.186f.) - vollkommene Klarheit über die Gewinnaussichten (Fortführung der christlich-liberalen Koalition), den politischen Gegner (SPD), konjunkturelle Themenschwerpunkte (wirtschaftlicher Aufschwung) und die mutmaßlichen Guthabenkonten, aus dem die Spieleinsätze geschöpft werden konnten (Regierungsbilanz, personales Prestige Helmut Kohls). Ebenso offen lag zutage, daß die Herausforderer versuchen würden, diese Guthabenkonten zu überflügeln (SPD)46 oder zu destruieren (Bündnis 90/Die Grünen, PDS). Nach der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt am 26. Juni 1994 eröffnete sich für die Union jedoch unvermutet ein weiteres Guthaben: Die Magdeburger rot-grüne Minderheitsregierung unter Tolerierung der PDS bot die Gelegenheit, die eigenen Kandidaten als Gralshüter einer „Solidarität der Demokraten" (s.u.) gegen die PDS zu präsentieren und die gesellschaftspolitische Legitimität der SPD mit dem Vorwurf zu bestreiten, sie sei verantwortlich für einen

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Bericht der Bundesgeschäftsstelle. Anlage zum Bericht des Generalsekretärs. 6. Parteitag der CDU Deutschlands. 28. November 1994. Bonn. S. 7. Vgl. den Bericht der Bundesgeschäftsstelle, Anlage zum Bericht des Generalsekretärs, 6. Parteitag der CDU Deutschlands, 28. November 1994, Bonn, S. 11: „Die SPD-Strategie war zumindest in der ersten Hälfte des Wahljahres - eindeutig darauf abgestellt, sich in die politische Mitte zu schleichen: Alle Widersprüche, Gegensätze und Linkstrends in der SPD sollten hinter der Fassade einer moderaten und seriösen Mitte-Partei verschwinden. Diese Strategie wurde zunächst mit beachtlicher Konsequenz durchgehalten. Umgekehrt mußte die CDU mit ihrer Angriffsstrategie darauf setzen, diesen Versuch als Täuschungsmanöver zu entlarven [...]. Als geeigneter Ansatzpunkt bot sich die Steuer- und Finanzpolitik der SPD an. "

209 „Komplott zu Lasten der Demokratie zwischen SPD und PDS" (Wolfgang Schäuble in der „Woche" vom 15. September 1994). Wie hoch dieses Wahlkampfthema eingeschätzt wurde, geht nicht nur aus dem Pathos des Wahlkampfprogramms hervor, sondern klingt auch noch in der späteren Wahlkampfanalyse nach: Seit Sachsen-Anhalt wissen wir: Die SPD scheut nicht davor zurück, um der Macht willen auch den Kommunisten der PDS Einfluß auf die deutsche Politik einzuräumen. Das darf nicht sein! Die SED, auch wenn sie sich zur Wählertäuschung unter dem Taranamen PDS verbirgt, hat im Kreis demokratischer Parteien nichts zu suchen. CDU und CSU bekämpfen Rechtsextremismus und Linksextremismus gleichermaßen. Indem die SPD sich dieser Solidarität der Demokraten verweigert, lädt sie historische Schuld auf sich. Unser Vaterland steht vor einer historischen Richtungsentscheidung. [...] CDU und CSU sind bereit, unter Führung von Helmut Kohl und Theo Waigel die Verantwortung für unser Land auch in Zunkunft in einer Koalition der Mitte zu tragen. (Regierungsprogramm von CDU und CSU, August 1994, S. 58; vgl. auch Anhang) Die Entwicklung in Sachsen-Anhalt veränderte die strategische Situation. Die SPD hatte durch diese Entscheidung ihre Mitte-Strategie in gleichem Maß decouvriert und konterkariert. Die politischen Lager waren wieder klar unterscheidbar. Die Bundestagwahl wurde von der CDU fortan als Richtungsentscheidung zwischen der Koaütion der Mitte einerseits und einer Linksfront aus SPD, Grünen und PDS andererseits verstanden und dargestellt. (Bericht der Bundesgeschäftsstelle. Anlage zum Bericht des Generalsekretärs. 6. Parteitag der CDU Deutschlands, 28. November 1994. Bonn. S. 12) Die Dramaturgie der Union konzentrierte sich seit Juli 1994 auf zwei Kommunikationsarenen: Auf dem .Nebenkriegsschauplatz' der ,Linksfront'-Debatte beschäftigte man durch fortwährende Angriffe die SPD. Auf diese Weise entstanden Freiräume für Selbstdarstellungskampagnen, in denen durch Regierungsbilanzen die parteipolitische Reputation und durch demonstrative Auftritte Helmut Kohls das personale Prestige des Kanzlers gepflegt werden konnten. Die Oppositionsparteien hatten derweil über weite Strecken mit sich selbst zu tun, was sich auf die Konzeptionen einer ,Aufschwung'- und ,Kanzler'-Kampagne47 der Union insofern auswirkte, als die politischen Angebote der Konkurrenzparteien weitgehend ignoriert werden konnten. Ein solcher, als .präsidial' zu bezeichnender Wahlkampfstil48 hätte unter anderen Umständen Angriffsflächen für die Opposition geboten, und tatsächlich versuchte Rudolf Scharping hier anzusetzen, indem er Kohl vorwarf, dieser nehme die Bürger nur noch

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Vgl. den Bericht der Bundesgeschäftsstelle, Anlage zum Bericht des Generalsekretärs, 6. Parteitag der CDU Deutschlands, 28. November 1994, Bonn, S. 9: „Der Wahlkampf der CDU ruhte im wesentlichen auf drei Säulen: auf der inhaltlichen Säule, die sich in die .Aufschwung'und die ,Bilanz-Kampagne' unterteilen läßt; auf der Angriffssäule, die in der .LinksfrontKampagne' ihre wirkungsvollste Ausprägung fand; schließlich auf der personalen Säule, der zentralen .Kanzler-Kampagne'." Vgl. Peter Radunski (CDU) in der „Woche" vom 1. September 1994: „Offensichtlich hat die SPD jetzt gemeikt, daß sie mit dieser personellen Zuspitzung - Kohl oder Scharping - der CDU auf den Leim gegangen ist, daß sie mit einer präsidialen Kampagne aus der Opposition heraus kaum gewinnen kann. "

210 ,ameisenhaft' wahr (vgl. S. 199). Doch aufgrund der flankierenden ,Linksfront'-Initiative durch die Union stand Scharping selbst unter Legitimationszwang. Umso ungestörter entfaltete die Union ihre dokumentarische und demonstrative Selbstdarstellung als Partei des Aufschwungs, der Kontinuität und des .Einheitskanzlers'. Dabei wagte das Wahlkampfteam der Union gar eine Novität in der Präsentationspraxis bundesdeutscher Wahlkämpfe - ein Großflächenplakat mit Helmut Kohl in einer Menschenmenge, aber ohne jeden weiteren Text und das CDU-Logo. Die „Wirtschaftswoche" vom 9. September kommentierte mit Blick auf die professionelle Werbeagentur der CDU: CDU-Werber Coordt von Mannstein preist die Christdemokraten konsequent wie ein Marktführer sein blendend eingeführtes Produkt. [...] Von Mannstein wuchert mit dem Bekanntheitsgrad des Kanzlers so sehr, daß er ihn aufs Plakat hebt wie ein Markenzeichen, ,das man nicht mehr zu erklären braucht'.

In den selbstproduzierten Fernsehspots der CDU traten neben Kohl - untermalt von dem TinaTurner-Song „simply the best" - nur seine .außenpolitischen Freunde' Bill Clinton („Ich stimme Helmut zu!"), Boris Jelzin und François Mitterand, ansonsten aber kein anderer CDUPolitiker auf. Auf diese Weise demonstrierte Kohl nicht nur gegenüber der SPD außenpolitische Kompetenz, sondern auch gegenüber seinem Koalitionspartner, dem Außenminister Klaus Kinkel. In der ARD-Wahlsendung „Ihre Wahl '94 - Die Favoriten" kamen die Kernelemente der Unionsdramaturgie, auch wenn sie diesmal von Wolfgang Schäuble und Theo Waigel im Unionsdoppel präsentiert wurden, noch einmal deutlich zum Tragen. Schäuble war dafür zuständig, die politische Problemlage darzustellen (1-5), den Kompetenzanspruch Kohls zu begründen (6), mit einer an Ignoranz grenzenden Nebenbemerkung die Konkurrenten zu desavouieren (7) und schließlich eine kontinuitätsbezogene Erfolgsbilanz der Regierung auszubreiten (1 '-6'): (1) Für eine sichere Zukunft brauchen wir Stabilität und Fortschritt. (2) Stabilität nicht nur der Preise, sondern auch unserer FreiheitsOrdnung, die wir nach innen und nach außen schützen müssen. (3) Und Fortschritt, weil wir sonst angesichts globaler Herausforderungen versagen. (4) Dazu gehört Konzentration auf moderne Wissenschaft und Technik, weniger Bürokratie, mehr Eigeninitiative und freiwillige Solidarität. (5) Andernfalls verspielen wir die Grundlagen für Wohlstand, soziale Sicherheit und lebenswerte Umwelt. (6) Dafür steht die Union mit Helmut Kohl. (7) Rot-grün hegt daneben. (Γ) Wir sind auch mit außergewöhnlich schwierigen Aufgaben auf wirtschaftlichem Gebiet nach der Wiedervereinigung, für die es ja kein Vorbild gibt, gut fertig geworden. (2') Wir haben Preisstabilität, es geht wirtschaftlich bergauf. (3') Wir haben ein höheres Maß an sozialer Sicherheit in Deutschland als in den meisten anderen vergleichbaren Ländern. (4') Auch unser Wohlstand ist höher als in den meisten anderen Ländern. (5') Es gibt kaum eine Generation, der es besser gegangen ist. (6') Wir haben noch Aufgaben vor uns, aber wir sind auf einem guten Weg, und deswegen sollten wir uns darauf konzentrieren, daß wir auf diesem guten Weg bergauf in eine sichere Zukunft weitergehen, (vgl. Anhang)

211 Konzentrierte sich Schäubles Bilanzierung auf innenpolitische Themen (l'-4') und die Zukunftsentwicklung (1, 6': „sichere Zukunft"), übernahm Finanzminister Waigel (CSU) den außenpolitischen und historisierenden Part der Regierungsbilanz (2-7, l'-5'). Obwohl er kurz zuvor von Joschka Fischer noch massiv attackiert wurde, erwähnt Waigel in seinem Abschlußstatement die politische Konkurrenz (auch die FDP) mit keinem Wort, sondern betont stattdessen den reputationsdienlichen Eigenanteil der CSU in der Regierungskoalition (1, 6'): (1) Die CSU hat entscheidend zu den Erfolgen der letzten vier Jahre beigetragen. (2) Wir haben schwierigste Finanzlasten geschultert, dabei ist die D-Mark stabil geblieben. (3) Wir werden am Ende des Jahres als einziges Land in Europa neben Luxemburg die Kriterien von Maastricht, die Stabilitätskriterien erfüllen. (4) Wir werden am Ende des Jahres fünf Milliarden weniger Schulden machen, als ursprünglich geplant. (5) Wir geben im nächsten Jahr mehr für Soziales aus als je zuvor seit 1959 [sie], (6) Wir haben in Europa Frieden, und wir haben Partner um uns. (7) Deutschland steht auf der Seite der Gewinner der Geschichte. (Γ) Wir haben in den letzten vier Jahren mehr auf den Weg gebracht als je zuvor seit 1949. (2') In Deutschland, in Europa: der Aufschwung ist erreicht worden. (3') Die D-Mark ist stabil. (4') Wir haben in Europa und weltweit eine hohe Achtung erreicht. (5') Der letzte russische Soldat hat deutschen Boden verlassen. (61) Und das, meine ich, sind Erfolge, wo man sagt: Jawoll, CSU und CDU müssen weiterregieren, (vgl. Anhang)

Betrachtet man die machtpolitischen Konstellationen im Wahljahr 1994 und die Dramaturgien der Parteien im Überblick, so ist festzustellen, daß es allein der Wahlkampfmannschaft der Union gelungen ist, sich kommunikationsstrategisch konsistent zu verhalten (vgl. S. 182): Die mannschaftsintern einmal vereinbarte Auswahl und Sequenzierung von Wahlkampfbausteinen (Selbstdarstellungsprimat, Delegitimation der SPD) war handlungsleitend für die Außendarstellung gegenüber dem Publikum. Die Präsentation der Bausteine profitierte von der Rollendisziplin der Bühnenakteure, Reibungsverluste aufgrund dramaturgieferner Improvisationen waren nicht erkennbar. Der Koalitionspartner der Union, die FDP, fiel kommunikationsstrategisch nicht weiter auf. Sie sprang auf den Zug der ,Linksfront'-Kampage auf und begnügte sich ansonsten damit, die traditionell bewährte Funktionskarte (Mehrheitsbeschaffer) und ihren korrektiven Einfluß im Regienmgskabinett (v.a. Außenpolitik, Wirtschaft, Recht) auszuspielen. Da sie sich dabei vollkommen im Windschatten der Union bewegte, kann nicht entschieden werden, ob eine Dramaturgie vorlag und ob diese eingehalten wurde.49 Das, was der Union gelungen war, nämlich einen Wahlkampf ohne erkennbare Reibungsverluste zu führen, war das dramaturgische Problem der SPD: Es war vereinbart worden, auf

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Peter Schröder, ein freiberuflicher Wahlkampfberater der FDP, erhebt im „Focus" vom 21. November 1994 den Vorwurf, die Parteiführung habe im Vorfeld „keine konsequente und einheitliche Strategie gewollt". Schröders Fazit: „Die Politik der Partei ist unberechenbar und strategisch nicht kongruent."

212 Diskreditierungsversuche gegenüber der Regierung weitgehend zu verzichten, die Selbstdarstellung auf sozialökonomischem Gebiet voranzutreiben und den Kanzlerkandidaten Rudolf Scharping als .besseren' Fürsprecher der politischen ,Mitte' zu präsentieren. Stattdessen sah sich die SPD gezwungen, aus einer Defensivposition heraus auf die ,Linksfront'-Provokation der CDU zu reagieren und sich auf eine direkte Konfrontation mit der Union einzulassen (,Blockflöten'-Debatte). Ein ungestörter Prestigeaufbau für Scharping war nun nicht mehr möglich. 50 Deswegen wurde die ,Troika' aufgelegt, was aber das erzwungene Selbstdarstellungsdefizit nicht etwa schmälerte, sondern eher steigerte. Schließlich mußten die durchaus eigenwilligen Lafontaine und Schröder in die Dramaturgie integriert und eine Antwort auf die nicht nur von Kohl gestellte Frage gefunden werden, warum man nur zu Dritt gegen ihn antreten könne. Zu diesem Zeitpunkt hatten die kleineren Oppositionsparteien längst ihre Konfliktlinien gegenüber den Regierungsparteien aufgebaut: Bündnis 90/Die Grünen hatte der Koalition ein Thema (ökologische Reform) und die PDS ein Funktionsargument (Fundamentalopposition) entgegenzusetzen. Selbst eine .Konflikthoheit' war für die SPD unter diesen Umständen nicht mehr zu erreichen. Doch auch die Bündnisgrünen konnten aufgrund der mangelnden strategischen Konsistenz auf Seiten der SPD ihre Dramaturgie nicht so homogen präsentieren, wie sie - eigentlich untypisch - mannschaftsintern angelegt war. Die Koalitionsaussage zugunsten der SPD Üef ins Leere, so daß es im Wahlkampfverlauf eher darauf ankam, Selbständigkeit zu demonstrieren, als darauf, zusammen mit der SPD die Regierungstätigkeit zu attackieren. Die PDS schließlich profitierte von der Aufmerksamkeit, die ihr als Gegenstand der Auseinandersetzung zwischen Union und SPD zuwuchs, und sie wußte dieses Geschenk geschickt zu nutzen. Da ihre Dramaturgie ohnehin darauf zielte, im Osten Deutschlands zu punkten, war es nun leichter, die Stigmatisiertenrolle einzunehmen und die Protestpotentiale in der ostdeutschen Bevölkerung zu mobilisieren. Wie es sich auswirken würde, wenn die PDS im Wahlkampf auf sich allein gestellt wäre, ist eine Frage von bleibendem Interesse.

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Vgl. die .Analyse zur Bundestagswahl 1994' der SPD vom 24. November 1994, wo es im Abschnitt .Stimmungsentwicklung der letzten zwei Jahre' heißt (S. 3): „Unsere Untersuchungen haben ergeben, daß die Kampagne selber auf breite Ablehnung stieß [...], daß aber dennoch durch die Kampagne Verunsicherung über die Absichten der SPD entstand und diese ständig unter Druck gesetzt wurde, deutlich zu machen, was sie nicht wollte. Damit hatte die Union zwei Ziele erreicht: Zum einen war die SPD während der Sommermonate in die Defensive geraten. Zum anderen verdrängte die Diskussion über die PDS jede Debatte über inhaltliche Themen. "

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3. Womit zu rechnen war (II) - mediale Strategiekonstellationen

Jede Dramaturgie braucht, um publikumsgerechi realisiert werden zu können, ein Medium, und jeder Wahlkampfakteur braucht eine öffentliche Arena. Der Weg in die Öffentlichkeit verläuft - für politische Parteien ebenso wie für jede andere Organisation oder auch Privatpersonen - auf genau zwei Pfaden: Entweder gelingt es, das eigene Anliegen durch ein Geflecht von .attention rules' hindurch in den Redaktionen der Massenmedien zu piazieren und dort als berichtenswertes ,Thema' zu etablieren (vgl. S. 115f.), oder man ist gezwungen, buchstäblich auf eigene Rechnung sowohl die erforderlichen Medien selbst zu produzieren und öffentlich zu vertreiben als auch eigene Kommunikationsarenen zu schaffen. Beide Pfade zum Ohr des Wählers sind jedoch in sich wieder außerordentlich verschlungen, so daß es sinnvoll erscheint, zunächst die vielfältigen Instrumente der Parteienwerbung auszudifferenzieren und erst vor diesem Hintergrund zu erörtern, auf welche Präsentationsstrategien die Wahlkampfakteure im Bundestagswahlkampf 1994 zurückgriffen.

3.1 Parteienwerbung Als ,Paiteienweibung' werden hier, um einen komplexen Sachverhalt auf eine griffige Formel zu bringen, alle kommunikativen Aktivitäten einer Wahlkampfmannschaft bezeichnet, die a) direkt oder indirekt auf ein öffentliches Publikum zielen und b) die Parteien Geld kosten. Das erste Charakteristikum unterscheidet die Parteienweibung etwa von inoffiziellen Drohungen einer Partei gegenüber renitenten Presseredaktionen51, das zweite von einer politischen Presseberichterstattung, die von der Partei ganz und gar ,unbegleitet' bleibt und daher gratis erfolgt. Sieht man von den dramaturgischen Vorgaben der Richtlinienebene und von den zu vermittelnden politischen Inhalten zunächst einmal ab, ist es die Hauptaufgabe eines Wahlkampfteams, der Partei und den Kandidaten kommunikative Kanäle zu relevanten Teilpublika und möglichst zu einem medialen Massenpublikum zu öffnen. Anhand der Kriterien der

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Im Journalist" (2/94, S. 19) berichtet Paul-Josef Raue: „.Wenn die Redaktion diesen Text nicht oder nur in verkürzter Form und nicht im gesamten Kreisteil veröffentlichen sollte, werden wir, und dies können Sie sicher sein, einen tausendfachen Boykottaufruf verteilen. Unsere Mitglieder und Sympathisanten, die von wenigen Ausnahmen abgesehen Ihre Zeitung beziehen, werden diese sofort abbestellen. [...]' Diese .Drohung' erhielt die Redaktion der .Oberhessischen Presse' in Marburg wenige Tage vor der Kommunalwahl 1993: Sie [...] war einer Presse-Erklärung der .Republikaner' angefügt."

214 Direktionalität (vgl. S. 35ff.) und der Interessenkonstellation (s.u.) lassen sich drei Formen der Parteienwerbung unterscheiden (vgl. Abb. 18 auf der nächsten Seite). Ein Beispiel für eine monologische Parteienwerbung liegt vor, wenn etwa mittelständische Unternehmer morgens einen ,Zielgruppenbrief der FDP in ihrem Briefkasten vorfinden. Die Adressaten besitzen keine Möglichkeit, dem Textproduzenten, d.h. der Parteizentrale, ein unmittelbares Feedback zu geben. Die Kommunikation verläuft ausschließlich in eine Richtung. Ebenso verhält es sich mit allen anderen Textträgern, die von den Partei eigenverantwortlich produziert und dem Publikum gewissermaßen en passant dargeboten werden. In Abhängigkeit von ihren infrastrukturellen (Wahlhelfer) und finanziellen Ressourcen (Weibeetats) stehen einer Partei zwei Vertriebswege offen, um Werbetextträger in die Öffentlichkeit zu streuen: Die Möglichkeiten des Eigenvertriebs werden genutzt, wenn die Parteibasis Werbeplakate klebt, im sogenannten Canvassing Broschüren, Luftballons und Buttons verteilt oder am Wahltag Türanhänger mit einem Wahlaufruf piaziert. Mit Textträgern dieser Art wendet sich die Partei an ein politisch mehr oder weniger interessiertes Laufpublikum; aus der Tatsache, daß die Werbemittel wahr- oder entgegengenommen werden, kann nicht auf eine besondere Parteiverbundenheit geschlossen werden, denn zu Werbezwecken vertriebene Schriften, audio-visuelle Träger und vor allem die sogenannten Sympathie-Werbemittel sind in einem hohen Maße disponibel. Mit einem Radiergummi, auf dem ein Parteilogo prangt, läßt sich eben auch unpolitisch radieren.52 Weil die bei einem Laufpublikum vorauszusetzende Interessenlage bezüglich der Partei nicht zu kalkulieren ist, kann man sie als als dispers bis indifferent bezeichnen. Diese graduelle Unterscheidung wird deswegen getroffen, weil bestimmte Werbeträger (z.B. Videos oder Computerspiele) vom Publikum eine gewisse Eigenaktivität und damit ein gewisses, wenn eben auch ,indifferentes' Involvement erfordern. Was die Adressaten letztlich mit diesen Werbemitteln anfangen (Videos und Disketten kann man überspielen bzw. überschreiben), ist für die Parteien jedoch nicht eruierbar. Es liegt der Verdacht nahe, daß etwa das Canvassing im wesentlichen die soziale Funktion hat, die eigene Anhängerschaft in ihrer Entschlossenheit zu bestärken und der Parteibasis das Gefühl zu vermitteln, aktiv am Wahlkampfgeschehen (und gegebenenfalls am Wahlerfolg) beteiligt zu sein.

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Dieser Werbesektor treibt die erstaunlichsten Blüten. In einer dpa-Meldung vom 4. August 1994 kolportiert Anne-Beatrice Ciasmann den „Schnickschnack für den Wahlkampf: Grüne Kondome und rote Socken': „Ein auf den ersten Blick eher rätselhaftes Geschenk bietet die ChristlichSoziale Union in München feü: Den CSU-,Quellschwamm'. Das Objekt, das im Urzustand die Größe eines Kaugummistreifens hat, quillt beim Kontakt mit Wasser auf und entfaltet erst dann seine einfarbig aufgedruckte Werbebotschaft. .Damit kann man auch prima putzen', weiß man bei der CSU." Klein (1991, 267) bezeichnet diese Gegenstände als ,Wirte' für ,Parasiten'-Texte.

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216 Textformen, die über kommerzielle Vertriebssysteme verbreitet werden (Fernsehspots, Radiojingles, Zeitungsanzeigen etc.), richten sich an ein ungleich größeres Publikum und weisen eine bedeutend größere Streubreite und Kontakthäufigkeit auf als die an Parteiständen verteilten Werbemittel. Die bei einem medialen Massenpublikum oder bei verteilerspezifischen Teilpublika (z.B. Internet-Surfer) vorauszusetzende Interessenlage entspricht jedoch der eines anonymen Laufpublikums: Wird etwa eine Zeitungsanzeige geschaltet, kann im Vorfeld durch Medienanalysen zwar das Leserprofil und die Informationspolitik der betreffenden Zeitungen ermittelt werden (vgl. Bucher 1991), aber ob Zeitungsleser aus der Werbeanzeige einer Partei einen unmittelbaren Impuls zur Parteinahme ableiten, ist bislang noch nicht nachgewiesen worden. Die Interessenlage eines Masseipublikums, von dem eigentlich nur bekannt ist, daß es eine bestimmte Tageszeitung abonniert oder einen bestimmten Fernsehsender präferiert, darf getrost als dispers bezeichnet werden.53 Da Massenmedien außerdem prinzipiell disponibel sind, die Werbeadressaten also in der Regel einer „selbstbestimmten Zeitungslektüre" (Bucher 1986, 13) nachgehen und über eine Fernbedienung gebieten, können die werbenden Parteien zu keinem Zeitpunkt voraussetzen, daß beim Publikum überhaupt eine Rezeptionsbereitschaft vorhanden ist. Die Vorteile eines Werbemitteleinsatzes in den Massenmedien (hohe Streubreite, hohe Kontakthäufigkeit) werden darüber hinaus durch die dort herrschenden Konkurrenzverhältnisse empfindlich eingeschränkt. Eine Partei, die eine Zeitungsanzeige oder einen TV-Spot produziert, muß sowohl die /«te/mediale Konkurrenz zwischen den verschiedenen Zeitungen und Fernsehkanälen berücksichtigen als auch die ¿níramediale Konkurrenz zwischen der Fülle von Anbietern, die ihre Werbebeiträge ebenfalls im Anzeigenteil einer Zeitung oder im Werbeblock eines Fernsehsenders schalten.54 Die Qualitätsmaßstäbe des Medienpublikums hinsichtlich der stilistisch-ästhetischen Aufmachimg von Anzeigen oder Spots orientieren sich an dem Niveau der kommerziellen Konsumgüterwerbimg und sind daher für die Parteien - trotz Unterstützung durch professionelle Werbeagenturen - nur außerordentlich schwer zu erreichen. In schöner Regelmäßigkeit belegen denn auch Vertreter der Film- und Werbeindustrie

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Vgl. Franke (1993, 126): „Massenmedien wenden sich an eine disperse, anonyme Menge von Rezipienten, die, anders als Kommunikatoren in face-to-face-Situationen, nicht die Möglichkeit haben, ihre je spezifischen Präferenzen und Bedürfnisse in den Dialog einzubringen. " Zu diesen makrostrukturellen Sequenzzusammenhängen vgl. Haseloff (?\.9Ί\, 166f.) und Bucher (1989, 288).

217 die Werbespots der Parteien mit Hohn und Spott.55 Massenmedial verbreitete Werbebeiträge können, da sie sich an ein Publikum mit niedrig einzuschätzendem Involvement aber hohen Qualitätsansprüchen wenden, als die voraussetzungsreichste, teuerste und - hinsichtlich der Erfolgsaussichten - vagste Form der monologischen Parteienwerbung gelten. Der finanzielle und organisatorische Aufwand, der hier betrieben wird, steht häufig in keiner Relation zum tatsächlichen kommunikativen Erfolg. 56 Kohl, Scharping, Fischer, Gysi, Waigel - alle Spitzenkandidaten der Parteien unternahmen während des Sommers Reisen in die Provinz, um an den Wohnorten der Wähler für sich und ihre Parteien zu weiben. Diese Formen der dialogischen Parteiwerbung (vgl. Abb. 18) werden in den Parteizentralen offenbar außerordentlich hoch eingeschätzt, und dies mit gutem Grund: Denn im Gegensatz zur monologischen Parteienwerbung bieten selbstorganisierte Kommunikationsarenen wie Parteitage oder Kundgebungen den Vorteil, daß zumindest der Majorität des anwesenden Publikums eine konvergente Interessenlage unterstellt werden kann. Diese Präsupposition ist deswegen möglich, weil dem jeweiligen Kommunikationsereignis stets ,Vorfeld-maßnahmen' vorausgehen (z.B. Einladung, Veranstaltungshinweis), deren kommunikative Funktion darin besteht, die Interessenkonstellation zwischen werbender Partei und Werbungspublikum nicht nur zu klären, sondern auch positiv zu beeinflussen.57 Wenn etwa jemand einer per Plakat ausgesprochenen Einladung zum Besuch einer Kundgebung folgt, dann kann ihm mit Bestimmtheit unterstellt werden, daß er ein spezifisches Interesse an der Veranstaltung hat, und mit einiger Wahrscheinlichkeit, daß er mit den Interessen des veranstaltenden Partei konform geht. Anders als im Fall der monologischen Werbeformen ist zu Beginn einer Großveranstaltung die Aufmerksamkeit des anwesenden Publikums - in einer Mediengesellschaft ein knappes und umkämpftes Gut - bereits gesichert. Wie auch immer sich

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Der Filmregisseur Detlev Buck, der im Auftrag der „Woche" (9. Juni 1994) die Werbespots vor der Europawahl 1994 begutachtete, schrieb: „Da ich seit langem den Verdacht hege, daß die Werbespots kaum Wähler fangen, wundert mich, wie unsouverän die Parteien an diese Pflichtübung herangehen. Ein bißchen mehr Risiko, ein gelegentliches Augen-zwinkern: Dann werden die Spots nicht länger nur von Zeitgenossen mit einem Faible für unfreiwillige Komik geschätzt." Holly (1991, 272), der die Werbespots der SPD vor der Europawahl 1989 untersucht hat, hält dem entgegen: „Der Wurm muß dem Fisch schmecken, nicht dem Angler." Es sei denn, man legt eine so pragmatische Haltung an den Tag wie der damalige SPDGeneralsekretär Günter Verheugen, der in einer WDR-Fernsehdokumentation (,Ohne Bart und ohne Brille. Über die Macht der Imageberater'; ausgestrahlt am 4. Oktober 1994) über die Plakatwerbung sagte: „Wenn man eine Wahl gewonnen hat oder einigermaßen erfolgreich abgeschnitten hat, dann waren die Plakate gut, und wenn man eine Wahl nicht gewonnen hat, dann waren die Plakate schlecht. So einfach ist das." Vgl. Franke (1990, 110): „Als zum kommunikativen Vorfeld eines Dialogs [...] gehörig erachten wir jene Äußerungen der beteiligten Sprecher, die - nach der Etablierung des sozialen settings und der Abklärung oder stillschweigenden Voraussetzung prinzipieller Kooperationsbereitschaft des Partners - zur Sicherung der spezifischen Voraussetzungen für die erfolgreiche Realisierung eines Dialogs gemacht werden. "

218 die Beziehung zwischen Wahlkampfakre.nr und Publikum im Verlauf der Veranstaltung entwickelt, sind bei einem direkten Publikumskontakt die inszenatorischen Möglichkeiten der Akteure ungleich vielfältiger als etwa bei einem anonymen Medienpublikum.58 Als Beispiel für eine flexible Präsentationsstrategie, die neben herkömmlichen rhetorischen Mitteln auch Theaterelemente umfaßt, kann ein Wahlkampfauftritt Joschka Fischers dienen, der im „Spiegel" vom 19. September 1994 dokumentiert ist: Und manchmal, wenn Joschka Fischer besonders gut in Form ist, dann flüstert er seinen Zuhörern schon mal was, ganz unter uns vierhundert, sozusagen, einfach mal so von Mann zu Mann. ,Wenn jetzt nämlich der Töpfer von den Schwarzen hier wäre und Sie nicht', haucht er dann mit seiner Reibeisenstimme ins Mikrofon, ,dann würde der sagen: Fischer, im Grunde ist das natürlich vernünftig, was ihr Grünen wollt. Und deshalb mache ich das auch.' Da staunt man natürlich. ,Töpfer', fragt dann Fischer, erzählt Fischer, .Töpfer - mit wem willst du das denn machen? Mit dem Kohl?' Aua. Fischer stöhnt als Töpfer auf, verzieht schmerzhaft das Gesicht. Gelächter im Publikum. ,Mit wem, Töpfer? Mit Waigel?' Aua. Lange Pause. Und dann läßt Fischer Töpfer fragen: ,Und mit wem, Fischer, willst du deine schönen ökologischen Reformen durchbringen?' Pause. Fischer führt vor, wie Fischer sich windet. ,Mit den Sozis etwa?' Auch aua. Noch längere Pause. Aus dem Publikum dringt Stöhnen und Gelächter. Und dann legt Joseph Fischer staatsmännisch seine Stirn in geordnete Falten, schwenkt den Zeigefinger ins Auditorium und sagt bedeutungsschwer: ,Ja. ' Daß dieser Auftritt im „Spiegel" dokumentiert ist, führt zu einem weiteren Grund, weshalb Wahlkampfteams den Rednereinsätzen ihrer Kandidaten einen so hohen Stellenwert beimessen. Ist der Kandidat attraktiv, der Anlaß bedeutsam oder die Zahl der angekündigten Zuschauer hoch, steigt die Chance, daß eine nach eigenen dramaturgischen Vorgaben gestaltete Werbeveranstaltung zum Gegenstand der politischen Medienberichterstattung avanciert. Weil auf diese Weise das Wählerpublikum vervielfacht wird, ohne daß Werbegelder gezahlt werden müssen oder unmittelbare Reaktanzphänomene (vgl. S. 155) auf Seiten des Medienpublikums zu befürchten sind, existiert in allen Parteizentralen der Ehrgeiz, die eigenen Veranstaltungen und Kandidaten in die redaktionellen Beiträge von Presse, Rundfunk und Fernsehen zu lancieren. Freilich verändert sich dann der kommunikative Charakter der Parteienwerbung. Kandidatenstatements, die ursprünglich vielleicht in face-to-face-Situationen abgegeben wurden,

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Vgl. bereits Haseloff (21971, 157), der zur politischen Rede im Rahmen von Kundgebungen schreibt: „Hier handelt es sich um einen wechselseitigen Kommunikationsprozeß, der jedoch im Regelfall .asymmetrisch' verläuft; der Redner übermittelt verbal, aber auch durch sein Ausdrucksverhalten und durch seine gesamte Selbstdarstellung mehr Information, als er seinerseits durch die Reaktionen seiner Zuhörer erhält. [...] Auf jeden Fall aber hat der poütische Redner die Chance, durch laufende Erfassung der Zuhörerreaktionen eine mehr oder weniger flexible Kommunikationstaktik anzuwenden und damit die Resonanz zu erhöhen. [...] Der rhetorische Erfolg wird weitgehend von der Sensitivität dieser Rückkopplung bestimmt. "

219 werden in der Folge zum Gegenstand redaktioneller Bearbeitung und als Elemente monologischer Medienbeiträge behandelt. Denn unabhängig vom Inhalt und der Art des Dargestellten sind politische Zeitungsartikel oder Sendebeiträge unidirektional an ein Medienpublikum adressiert und primär Ausdruck einer Darstellungs- und Vermittlungsabsicht auf seiten der Medien (vgl. S. 36f.). Da aber beispielsweise Interviews oder Pressegespräche, die von Parteien zu Werbezwecken lanciert werden, häufig noch gewisse Spuren von Dialogizität an sich tragen (vgl. S. 171f.), werden diese Formen der versuchten Parteienwerbung hier als scheindialogisch charakterisiert (vgl. Abb. 18). Aus Sicht der Parteien kann festgestellt werden, daß die Bemühungen, die eigenen Kandidaten in die Medien zu vermitteln, nicht ohne Risiko sind. Denn die Funktion der Kandidaten ist es, Parteiwerbimg zu betreiben, die Funktion der Medienvertreter aber ist es, über Politik zu berichten und eine hohe Auflage oder Quote zu erzielen. Die Interessenkonstellation zwischen beiden Gruppen ist somit als divergent zu bezeichnen, und zwar unabhängig davon, ob die Informationspolitik einer Zeitung oder eines Senders auf parteipolitische Affinitäten hindeutet oder nicht. Ob und wie es einem Kandidaten gelingt, sich und die Partei etwa in einer Talkshow ,rüberzubringen' ist von vielfaltigen Einflüssen abhängig. Der wichtigste Einfluß aber ist sicherüch, nach welchen Prinzipien die Medienvertreter ihre Kommunikationsarena organisiert haben und wieviel Darstellungsraum sie dem Kandidaten darin zubilligen. Dies wiederum ist davon abhängig, inwieweit es dem Kandidaten gelingt, journalistischen Qualitätskriterien wie Relevanz, Informativität, Verständlichkeit und Wahrheit zu genügen und den Prinzipien der Meinungsvielfalt und Aktualität zu entsprechen.59 Es muß ihm dabei klar sein, daß sein parteipolitisches Redeprogramm in der politischen Berichterstattung lediglich einen .parasitären' Status besitzt und von journalistischer Seite jederzeit bedroht werden kann (vgl. S. 38). Die Mediendistribution der Parteien unterliegt im wesentlichen zwei Determinanten, nämlich erstens der Wahlkampfdramaturgie und zweitens dem zur Verfugung stehenden Werbebudget. Im Bundestagswahlkampf 1994 gaben die Parteien über 150 Millionen Mark für die Werbung aus, wovon etwa sechzig bis siebzig Millionen jeweils auf die CDU und die SPD entfielen, acht Millionen auf die CSU, elf Millionen auf die FDP, achteinhalb Millionen auf die PDS und fünf Millionen auf Bündnis 90/Die Grünen.60 Die mit diesen disponiblen Ressourcen finanzierten Werbemittel wurden ergänzt durch die unentgeltlichen Werbezeiten, für die die öffentlich-rechtlichen Sender ARD und ZDF laut,Staatsvertrag über den Rundfunk im vereinten Deutschland' (§ 11) allen zur Wahl zugelassenen Parteien Sendeplätze zur Verfügung stellen müssen.

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Vgl. Bucher (1989 und 1991). Es handelt hier um die Recherche-Ergebnisse der „Zeit", die Gunhild Freese am 14. Oktober 1994 unter dem Titel .Wellenreiter statt Wellenmacher' veröffentlichte.

220 Davon profitierten 1994 in erster Linie die großen Parteien CDU/CSU und SPD mit jeweils 16 zweieinhalb-minütigen Sendeplätzen, während alle kleineren Parteien jeweils mit weniger als der Hälfte auskommen mußten.61 Zum Vergleich: 1994 kostete die Schaltung eines Dreißig-Sekunden-Spots beim Privatsender RTL zur besten Sendezeit über 40.000 Mark. Ansonsten hofften natürlich alle Parteien, ohne Finanzaufwendungen in die einschlägigen Wahlsendungen der Fernsehsender eingeladen zu werden. Die SPD bot, um den Regierungswechsel herbeizufuhren, nahezu die gesamte Palette der oben skizzierten Formen der Parteienwerbung auf (vgl. Abb. 18). Entsprechend der dramaturgischen Vorgabe, das personale Prestige Scharpings, später zusätzlich das der Troika zu fördern, setzte die SPD neben der obligatorischen Plakatkampagne vor allem auf die auflagenbzw. quotenstärksten Vertreter der kommerziellen Massenvertriebssysteme Presse, Rundfunk und Fernsehen. Zu dem Zeitpunkt, als die Wahlberichterstattung einsetzte, waren die SPDSpitzenkandidaten bereits so präsent in den Medien, daß es gelang, eine Reihe von Schattenministern (z.B. Lafontaine, Schröder, Thierse, Verheugen, Dreßler, Voscherau) sowie natürlich den Kanzlerkandidaten in redaktionell betreuten Wahlsendungen zu piazieren. Bündnis 90/Die Grünen führten, wie gewohnt, einen ausgesprochen basisnahen Wahlkampf. Weil der Parteibasis die auf Originalität hin angelegten Plakatmotive der beauftragten Werbeagentur mißfielen, verschickte die Parteizentrale per Diskette formal festgelegte Plakatentwürfe in die Wahlkreise, die inhaltlich nach den Vorstellungen der Basis gefüllt werden konnten. Bemerkenswert war vor allem, daß die Bündnisgrünen starke Vorbehalte gegen die Gratis-Sendeplätzen bei den Öffentlich-Rechtlichen äußerten („Werbeplattform für rechtsextreme Parteien") und keine eigenen Spots schalteten. Stattdessen veranstalteten sie in allen Universitäten einen Video-Wettbewerb gegen Ausländerfeindlichkeit (auch dies eine Form der Werbung!) und stellten den vier Siegerbeiträgen ihre Sendeplätze zu Verfugung. Im Medienwahlkampf vertrauten die Bündisgrünen - ebenfalls eine Neuerung - auf das personale Prestige ihrer ,Vorzeigekandidaten' Birthler, Volmer und Fischer und deren mediale Attraktivität. Die PDS hob sich von der bunten Materialschlacht der Konkurrenzparteien insofern ab, als sie für ihre bundesweit vertriebenen Plakate eine schlichte Aufmachung wählte: Vor dem

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Zur Reaktion der Sender und Fernsehzuschauer auf diese Praxis bemerkt Gunhild Freese („Zeit" vom 14. Oktober 1994): „Obendrein stößt Werbung, ganz besonders Fernsehwerbung, derzeit auf den Unwillen des Publikums. Die öffentlich-rechtlichen Anstalten sind es längst leid, in ihren Nachrichten über ausländerfeindliche Aktionen zu berichten und - im Anschluß daran -die Werbespots der Hintermänner solcher Anschläge zeigen zu müssen. Es könnte also sein, daß die TV-Werbekampagne 1994 die letzte ihrer Art ist. Wenn künftig auch die Parteien für die Schaltung ihrer Werbespots zahlen müssen, können die Anstalten rassistische Machwerke ablehnen. Das Publikum jedenfalls wird nichts vermissen: Als einziger der ARD-Sender ist Radio Bremen nicht zur Ausstrahlung von Politspots verpflichtet. .Nicht ein einziger Zuschauer', so teilt der Stadtsender mit, habe sich darüber beschwert."

221 Hintergrund eines Photomotìvs und eines kurzen pointierten Werbespruchs in Schwarz-Weiß62 wurde jeweils nur das Parteilogo rot abgesetzt. In denjenigen Wahlkreisen, die Direktmandate versprachen und einen starken Mitgliederanteil aufwiesen, forcierte die PDS die Mund-zuMund-Propaganda und baute - nach einer Interviewaussage (August 1995) des leidgeprüften Thierse-Wahlkampfleiters - vollkommen auf die „Manpower hochmotivierter Rentner mit Zeit". Im Medienwahlkampf profitierte die PDS eindeutig von den fortwährenden Diskreditieiungsmaßnahmen der Union. Ohne eigenes Zutun waren die PDS-Kandidaten, an ihrer Spitze der telegene Gregor Gysi, in Talkshows und Wahlsendungen durchgängig präsent.63 Die FDP hatte aufgrund ihrer schon traditionellen „Finanzierungsklemme" (Lösche/Walter 1996, 127) die Wahl zwischen einer Plakat- und einer Fernsehkampagne und entschied sich für die Plakate.64 Im Schlußspurt der Parteien warb Kinkel auf 25.000 Großflächenplakaten „Für eine stabile Regierung Kohl/Kinkel" und um die Zweistimmen der Unionswähler. In den Wahlsendungen präsentierte die FDP vor allem Leutheusser-Schnarrenberger und Kinkel, die als Regierungsmitglieder auf einen Amtsbonus hoffen durften. Günter Rexrodt, der Dritte im Bunde der besonders reputationsträchtigen liberalen Minister, blieb dagegen medial unterrepräsentiert. Die CDU/CSU stand der SPD in bezug auf die Vielfalt der eingesetzten Werbemittel in nichts nach. Allerdings erreichte die Union in einem Punkt eine nahezu optimale ZweckMittel-Relation: Das zunächst in Kleinstauflage produzierte Rote-Socken-Plakat, das Peter Hintze am 15. Juli 1994 in einer Pressekonferenz präsentierte, wurde von Journalisten photographiert und abgefilmt und gelangte auf diese Weise, obwohl es nicht flächendeckend plakatiert war, in die die breite Öffentlichkeit. Der ganz auf Kohl und Waigel zugeschnittene Fernsehwahlkampf der Union profitierte von dem Amtsbonus der beiden: So lieferten etwa offizielle Staatsakte (z.B. der Abzug der russischen Truppen am 31. August), über die in den

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Ein Motiv, das ausschließlich im Westen plakatiert wurde und einige Aufmerksamkeit erregte, zeigte ein junges Szene-Paar und trug den Text: „Das erste Mal. Beim Küssen Augen zu, beim Wählen Augen auf! " Heribert Seifert bemerkt dazu in der „Neuen Zürcher Zeitung" vom 22. September 1994: „Die PDS als politisches Schmuddelkind ist für den engagierten TV-Journalismus ein faszinierendes Objekt, an dem er seine Wahraehmungs- und Inszenierungsrituale voll enfalten kann. Zuverlässig reagiert das Medium auf die einschlägigen Signale: Als Organisation einer Minderheit auf verlorenem Posten (Immer-noch-Sozialisten) verdient sich die PDS die Sympathie, die David gegen Goliath findet. Ausgegrenzt vom bürgerlichen Konsens, hat sie Ansprach auf den frei flottierenden Randgruppenbonus. Als Anwalt der Modernisierangsverlierer mobilisiert sie im TV-Redaktor seinen alten Traum von Zorro, dem Rächer der Enterbten. Weil sie ostdeutsche Interessen zu vertreten vorgibt, deren Authentizität das westlich dominierte Medium nicht bezweifeln darf, geniesst sie jene Unantastbarkeit, die Ethnologen achten, wenn sie sich archaisch lebenden Stammeskulturen nähern. " Mit einer Ausnahme: Zu äußerst günstigen Tarifen (zwischen 700 und 1.000 Mark je 30Sekunden-Spot) schaltete sie Spots beim Privatsender η-tv, und zwar bis zu zehnmal am Tag.

222 Medien ohnehin berichtet wurde, zusätzlichen Rohstoff für eigenproduzierte Werbespots. In der Wahlberichterstattung kaprizierten sich sowohl die öffentlich-rechtlichen als auch die privaten Sender auf einen Zweikampf .Scharping gegen Kohl'.65 Dies fuhrt zu der Frage, in welchem Verhältnis Parteienwerbung und politische Medienberichterstattung zueinander stehen und wie Journalisten auf die Versuche der Parteien reagieren, redaktionelle Beiträge für parteipolitische Werbezwecke zu nutzen.

3.2 Politischer Journalismus Der Journalismus - zumal dessen .investigative' Variante - wird gerne als .vierte Gewalt' im Staate bezeichnet (vgl. etwa Avenarius 1995, 104f.). Seine Auftraggeber, die Massenmedien, gelten als die Hauptorgane zur Vermittlung politischer Interessen in die breite Öffentlichkeit. Sie stellen politischen Akteuren ihre Kommunikationsarenen zur Verfügung, treten selbst als , opinion leader' und ,gatekeeper' für politische Themen in Erscheinung und fungieren auf diese Weise als das ,soziale Gedächtnis' der Gesellschaft (vgl. S. 115). Medienvertreter verleihen und repräsentieren politische Macht. Umso wichtiger ist die Frage, welche Rolle der politische Journalismus im Wahlkampf spielt und nach welchen Prinzipien er mit den Selbstdarstellungs- und Diskreditierungsabsichten der konkurrierenden Parteien umgeht. Journalisten nehmen in dem politischen Basisspiel der Bundesrepublik, der multilateralen Verhandlung zwischen Parteikandidaten und Wählern (vgl. S. 127, Abb. 8), eine eigentümliche Doppelrolle ein: Zum einen agieren sie auf der Seite ihres Publikums, indem sie Politiker mit denjenigen Schlüsselftagen konfrontieren, die selbst zu stellen eine Mehrheit der Zuschauer und Wähler keine Gelegenheit hat.66 Zum anderen handeln sie als eigenständige politische Akteure, indem sie etwa politische Problemdefinitionen vornehmen, Themenkarrieren fördern oder manifeste politische Forderungen stellen. Die kommunikative Rolle als Sprachrohr der Bürger ergibt sich indirekt aus dem verfassungsrechtlichen Auftrag etwa der Rundfunkmedien, unter Wahrung der Prinzipien der Staatsfreiheit (Zensurverbot) und gleichgewichtigen Meinungsvielfalt einen „objektiven Überblick über das Weltgeschehen, insbesondere ein umfassendes Bild der deutschen Wirklichkeit" zu vermitteln sowie „eine freie individuelle und

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SAT.l brachte am 3. Oktober 1994, dem ,Tag der deutschen Einheit', eine Wahlsendung mit dem .Einheitskanzler' Kohl („Wer soll regieren? Streitfragen an Helmut Kohl"), und ließ tags darauf „Wer soll regieren? Streitfragen an Rudolf Scharping" folgen. Die ARD wählte die umgekehrte Reihenfolge: „Ihre Wahl '94: Der Kandidat" wurde am 12. Oktober ausgestrahlt, „Ihre Wahl '94: Der Bundeskanzler" am darauf folgenden Tag. Vgl. S. 132-135; zum Beispiel: Ist die Leistung geeignet, um das Problem zu lösen? Ist das Verhältnis von Leistung und Gegenleistung ausgewogen? Was prädestiniert den Parteikandidaten vor anderen dazu, das Problem zufriedenstellend zu lösen? Kann der Kandidat seine Kompetenzen hinreichend begründen?

223 öffentliche Meinungsbildung" zu fördern.67 Als politische Akteure können sich Journalisten auf das jedem Bürger zustehende Recht der freien Meinungsäußerung (Art. 5 GG) berufen. Doch welche kommunikativen Optionen eröffnen sich auf der Grundlage einer solchen Lizenz zur politischen Einflußnahme? Unabhängig vom jeweiligen Ressort verfügen Journalisten, wie Bucher (1986, 64ff.) am Beispiel der Pressekommunikation darlegt, über ein begrenztes Repertoire von .Grundbausteinen der Presseberichterstattung' (vgl. Abb. 19 auf der nächsten Seite). Die vor dem Hintergrund einer dialogisch-kommunikativen Perspektive68 eruierten Spielarten des ,Berichten', ,Kommentierens' und ,Dokumentierens'69 leisten pressespezifische Beiträge zur Konstitution öffentlicher Kommunikationsnetze. Ein öffentliches Kommunikationsnetz der besonderen Art ist das Geflecht zwischen politischer Parteienweibung, politischem Journalismus und den Erwartungen des Publikums im Kontext der Wahlkampfberichterstattung. Der politische Journalismus wird in diesem Spiel mit einer höchst prekären, in wesentlichen Teilen kompetetiven Interessenkonstellation konfrontiert: Parteipolitiker erwarten, daß ihnen Gelegenheit gegeben wird, nach eigenen dramaturgischen Vorgaben ihre Selbstdarstellung zu verfolgen. Das Publikum erwartet - je nach Couleur - differenzierte politische Entscheidungshilfen, eine ,freundliche' Darstellung der favorisierten Partei, die Gelegenheit, sich selbst öffentlich zu äußern, oder auch, daß es von politischer Berichterstattung verschont bleibt (vgl. S. 118f.).

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Artikel 3 § 5 I des .Staatsvertrages über den Rundfunk im vereinten Deutschland vom 1. Januar 1992 in der Fassung vom 1. August 1994'; zitiert nach: Zweites Deutsches Fernsehen 1995, 30f. Vgl. Bucher (1986, 65): „Die Zusammenhänge zwischen verschiedenen Pressetexten sind hier zurückgefühlt auf einen möglichen Dialogverlauf [...]. Natürlich werden die Β zugeschriebenen Handlungen in der Zeitungsberichterstattung nur in den seltensten Fällen - z.B. in Leserbriefen - realisiert. Wir können sie uns aber als vom Autor antizipierte Entgegnungen denken und diese dialogische Sichtweise methodisch nutzen, um kommunikative Zusammenhänge im Aufbau der Zeitungsberichterstattung sichtbar zu machen. " Diese Grundbausteine lassen sich funktional und formal weiter ausdifferenzieren; vgl. Bucher (1986, 68): „Wie die Textsorten .Bericht', .Meldung' und .Reportage' als Spielarten des Berichtens aufgefaßt werden können, so lassen sich .Kommentar', .Glosse' und .Leitartikel' als Spielarten des Kommentierens beschreiben. Auch die Karikatur kann verstanden werden als Stellungnahme zu einem berichteten Ereignis."

224 Abb. 19: Grundbausteine der Presseberichterstattung (Bucher 1986, 64)

Solche geäußerten oder antizipierten Erwartungen ihres Publikums nehmen politische Journalisten zum Anlaß, in der Rolle kritischer Bürger auf die Wahlwerbung der Parteien zu reagieren und den Verhandlungsprozeß zwischen Kandidaten und Bürgern gewissermaßen als Unterhändler der Bürger zu begleiten.70 Fast alle kommunikativen Handlungsoptionen, die sich im Anschluß an parteipolitische Werbe-Initiativen eröffnen (vgl. Abb. 8-13), gehören zum gemeinsamen Handlungsrepertoire von Bürgern und Journalisten. Der Unterschied ist lediglich, daß von professionellen Journalisten erwartet werden kann, daß sie um die Existenz dieses beträchtlichen Handlungsspielraums wissen und ihn - eingeschränkt nur durch die Gebote der Überparteilichkeit und der journalistischen Fairneß71 - vollständig zu nutzen trachten. Es handelt sich um reaktive kommunikative Handlungmuster (2. Zug), wenn politische Journalisten als Unterhändler der Bürger zu Wahlofferten (S. 144, Abb. 9), Verhandlungsangeboten (S. 127, Abb. 8) und Akzeptanzstützungsversuchen der Parteien (S. 151-154, Abb. 10-13) Stellung nehmen. Deren Funktionen in den multilateralen Verhandlungsspielen

70

71

Dem liegen freilich nicht nur edle demokratische Motive zugrunde, sondern auch handfeste ökonomische Eigeninteressen: Die von der Parteienwerbung avisierten Publika (vgl. S. 215, Abb. 18) sind weitgehend mit denen der Medien identisch. Vgl. beispielsweise die .Richtlinien für die Sendungen des Zweiten Deutschen Fernsehens vom 11. Juli 1963 in der Fassung vom 24. März 1995' IV (5-6): „Die Anstalt ist zur Überparteilichkeit verpflichtet. [...] Es ist darauf zu achten, daß gegensätzliche Standpunkte möglichst gleichwertig behandelt werden. Werturteile über Personen und Tatbestände müssen als persönliche oder redaktionelle Meinung zu erkennen sein. Sie haben dem Gebot j ournalistischer Fairneß zu entsprechen." (zitiert nach: Zweites Deutsches Fernsehen 1995, 80)

225 ergeben sich zum einen aus der Bezugnahme auf die kommunikativen Bedingungen der parteipolitischen Werbe-Initiativen (1. Zug) und zum anderen aus den möglichen Anschlußhandlungen der Politiker (3. Zug). Der politische Journalismus verlugt im Verlauf der Wahlkampfberichterstattung über folgende kommunikativen Handlungsmuster: 1) Verständnis- und Voraussetzungsfragen 2) Formen der Problematisierung parteipolitischer Akzeptanzstützungsversuche (Einwenden, Anzweifeln, Bemängeln etc.) 3) Formen des Übergehens und der Nicht-Thematisierung 4) Initiativformen (Problemdefinitionen, Verhandlungsvorschläge, politische Forderungen etc.) ad 1) Verständnis- und Voraussetzungsfragen: Sobald eine Partei in Form von ,Wahlofferten' oder konkreten .Angeboten' ihr Leistungspaket in die öffentliche Diskussion bringt, besteht die Aufgabe des politischen Journalismus darin, durch Nachfragen ,verständnissichernde Subdialoge' (Hindelang 1995, 192f.) in Gang zu setzen. In deren Verlauf geht es darum, den Lesern, Zuschauern oder Zuhörern den kommunikativen Sinn der parteipolitischen Äußerungen zu erschließen, deren Präsentationsform zu erklären sowie die sozial-situative Passung, d.h. die Realisierungsmöglichkeit und Wünschbarkeit der angebotenen Leistungen zu hinterfragen. Indem Journalisten in den Mandatsverhandlungen zwischen Kandidaten und Bürgern zur Verständnissicherung und Klärung der politischen Voraussetzungen beizutragen versuchen, nehmen sie gleichzeitig Einfluß auf die kommunikativen Festlegungskonten72 der Politiker und gefährden auf diese Weise eine problemlose Umsetzung der parteipolitischen Dramaturgien. Ein Beispiel: Daß die SPD 1994 keine Koalitionsaussage traf, ließ die Journalisten nicht ruhen. Immer wieder wurde versucht, diese fundamentale Voraussetzung für eine Realisierung des SPD-Angebots in Form von ,Checking-Fragen' (vgl. Bucher 1994, 247) zu thematisieren und die SPD-Kandidaten, vor allem aber den Kanzlerkandidaten zu einem Neueintrag auf seinem Festlegungskonto zu bewegen. Wie das folgende Beispiel zeigt, blieb Scharping der Parteidramaturgie treu; er weist eine entsprechende Präsupposition, die Markwort insistierend auf Scharpings Festlegungskonto unterzubringen versucht, auf metakommunikative Weise zurück und verschiebt den Fokus der Frage:

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Zu kommunikativen Festlegungssystemen vgl. Fritz (1994a, 187): „In den Festlegungen einer bestimmten Handlung spiegelt sich der spezifische Beitrag dieser Handlung zum Dialogstand. Man könnte auch sagen, jede Handlung verändert den Dialogkontext auf charakteristische Ait. [...] So ergibt sich für jeden Sprecher als Produkt seiner gesammelten Dialogbeiträge ein ganzes Netz von Festlegungen. "

226 SAT.l Wahlhearing „Wer soll regieren? Streitfragen an Rudolf Scharping", 4. Oktober 1994 Journalisten: Heinz Klaus Mertes, Helmut Markwort („Focus"), Kai Diekmann („Bild") Markwort: Können Sie sich vorstellen oder haben Sie schon darüber nachgedacht, mit Joschka Fischer in einem Kabinettsraum über Deutschland zu entscheiden? Scharping: Sie wollen mich immer auf dasselbe Gleis führen. Ich komme mit dem Joschka Fischer ganz gut zu Rande.

ad 2) Formen der Problematisierung parteipolitischer Akzeptanzstützungsversuche (Einwenden, Anzweifeln, Bemängeln etc.): Dieses Segment im Handlungsrepertoire des politischen Journalismus ist seit jeher hochumstritten, weil hier zwei journalistische Prinzipienbereiche in Konkurrenz zueinander treten können (vgl. zum folgenden Bucher 1991, 10-17). Die Anwendung von journalistischen Prinzipien im engeren Sinne (wie z.B. das Wahrheits-, Informativitäts-, Relevanz-, Verständlichkeits- oder Aktualitätsprinzip) wäre ein denkbares Motiv, um einen Journalisten zu veranlassen, etwa in einem Wahlhearing die Kompetenzdarstellung eines Parteikandidaten massiv zu ,bestreiten' oder gänzlich .abzustreiten' (vgl. S. 136), wenn dessen Aussagen - nach Meinung des Journalisten - nicht der .Wahrheit' entsprechen. Die Anwendung von weiterreichenden sozialen Prinzipien, die der Verankerung des politischen Journalismus im öffentlichen Leben Rechnung tragen und eine politische Neutralitätspflicht vorschreiben, spricht jedoch gegen die Wahl solcher kontradiktorischer Handlungsformen. ,Bestreiten' und .Abstreiten' sind die ,scharfen' Varianten der Zurückweisung parteipolitischer Selbstdarstellungen; sie werden gemeinhin als Schützenhilfe fiir die Konkurrenzparteien und damit als Verstoß gegen die journalistische Neutralitätspflicht interpretiert. Aus diesem Grunde beschränken sich politische Journalisten in der Regel (zumindet formal) auf die weniger rigiden Formen des Problematisierens (Einwenden, Anzweifeln, Bemängeln etc.), wenn sie Zweifel an den Aussagen der Kandidaten hegen. Denn das Charakteristikum problematisierender Handlungsmuster ist es, daß die darin zum Ausdruck gebrauchten Bedenken von den Politikern in einem 3. Zug prinzipiell noch ausgeräumt werden können; sie eröffnen Subsequenzen, in deren Verlauf Journalisten und Politiker die Gelegenheit haben, ihre eigenen Kommunikationsziele weiter zu verfolgen, ohne daß ein Kommunikationsabbruch droht. Problematisierungen werden primär in Form .geladener Fragen' 73 realisiert, wobei die ,Ladung' positiv (bevorzugt beim ,Verlautbarungsjournalismus')74 oder negativ für den

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74

Vgl. Bucher (1993, 100): „Fragehandlungen sind hervorragende Mittel für Eingriffe in den Festlegungshaushalt der Dialogpartner. [...] Eine Frage ist dann geladen, wenn mit ihr versucht wird, im Bereich der Festlegungen einen Dialogstand herzustellen, der de facto noch nicht erreicht ist. Die Ladung besteht in Präsuppositionen und Voraussetzungen, die der Fragende auf dem Festlegungskonto des Befragten unterzubringen versucht, ohne daß dieser die Buchung bereits ratifiziert hat. Ob eine Frage geladen ist, läßt sich dementsprechend nur relativ zum jeweils erreichten Dialogstand entscheiden." Bucher (1993, 103) weist allerdings darauf hin, daß positive Ladungen auch als „Köder für erwünschte Antworten" und damit zu kritischen Zwecken genutzt werden können.

227 Politiker sein kann (bevorzugt beim .kritischen Journalismus')· Im folgenden Beispiel problematisiert Nikolaus Brender die Sozialpolitik der Regierung Kohl und stellt in seiner Frageeinleitung die gesamigesellschaftliche Legitimation des Bundeskanzlers in Frage. Kohl versucht, die negative Ladung der Frage zu entschärfen, indem er erstens die Fragevoraussetzungen uminterpretiert bzw. zurückweist und zweitens einen Themenwechsel in Richtung SPD („die These") initiiert, um Brender in die Nähe der poütischen Parteinahme zu rücken. ARD „Ihre Wahl '94: Der Bundeskanzler", 13. Oktober 1994 Journalisten: Gerhard Fuchs, Nikolaus Brender Brender: Herr Bundeskanzler, Sie sind der Kanzler aller Deutschen. Ich möchte Ihnen mal zwei Zahlen nennen, die in diesen Tagen rausgekommen sind. Einmal: Das Wirtschaftsmagazin „Forbes" schreibt, daß 1993 unter den 100 Reichsten der Welt 25 Deutsche waren. [...] Die 10 reichsten Deutschen hatten '92 ein Vermögen von knapp 80 Milliarden Mark. Gleichzeitig in Deutschland 1,5 Millionen Kinder in Armut. Ist das nicht eine Zahl, die sie nicht mehr schlafen lassen könnte? Kohl: Also, zunächst einmal muß ich sagen, ist das natürlich eine beachtliche Zahl, wieviel reiche Leute es bei uns gibt. [...] Aber das mit der Armut wird ja zum Teil in einer Weise dargestellt - das müßte man jetzt wiederum im Detail untersuchen - , die so einfach ja nicht stimmt. Wir haben ja jetzt die These, daß der Sozialstaat abgebaut werden soll. Das ist schlicht eine Lüge. Wir sind dabei, den Sozialstaat umzubauen.

ad 3) Formen des Übergehens und der Nicht-Thematisierung: Offenbar können Politiker damit leben, daß ihre Wahlwerbung von einem Teil der Bevölkerung ignoriert wird (vgl. S.122f.). Womit Sie allerdings nicht leben können, ist eine in ihren Augen unzureichende Berücksichtigung in den Medien. Diese verfügen nämlich über vielfältige informationspolitische Möglichkeiten, um etwa durch besondere Formen der Themenbehandlung (etwa .Kumulation' politischer Sichtweisen in Beitragsserien oder .Synchronisation' von parteipolitischen Presseverlautbarungen und redaktionellen Beiträgen; vgl. Bucher 1991, 40) die Anliegen der Politiker zu unterstützen oder aber zu beeinträchtigen. Doch auch das stillschweigende Übergehen von Politikeräußerungen kann zu informationspolitischen Zwecken eingesetzt werden. Das folgende Beispiel zeigt die Bemühungen Gregor Gysis, eine .Thematisierungschwelle'75 zu überwinden, die Kenntemich - ohne Unterstützung seiner Kollegin Jochimsen - durch Zwischenrufe aufzurichten versucht:

75

Vgl. Czerwick (1990, 193): „Solche Thematisierungsschwellen entziehen [...] bestimmte Themen ganz bewußt einer öffentlichen Diskussion, weil befürchtet wird, daß sie die Grundlagen des gesellschaftlichen und poütischen Systems in Frage stellen könnten. "

228 ARD „Ihre Wahl '94: Die Favoriten", 11. Oktober 1994 Journalisten: Luc Jochimsen, Wolfgang Kenntemich Gysi: Herr Schäuble denkt darüber nach, die Sozialhilfe zu kürzen, weil er meint, der Abstand zum Lohn reicht nicht aus. Er denkt aber nicht darüber nach, dann die unteren Löhne etwa zu erhöhen. Das ist ja schon fast weniger als das Existenzminimum... Kenntem. : Jetzt sind wir aber bei den Steuern. Jochimsen: Trotzdem, ich finde schon, er hat... Gysi: Nein, nein. Ich will noch eine Bemerkung dazu machen, und deshalb wiederhole ich, was ich vorhin gesagt habe... Kenntem. : Aber die Zeit! Gysi: Ich sehe schon meine Zeit. Bloß mich fragen Sie dann immer was ganz anderes. Mich fragen Sie nach Eigentum, in den Steuerfragen unterbrechen Sie mich. So.

ad 4) Initiativformen (Problemdefinitionen, Verhandlungsvorschläge, politische Forderungen etc.): Die vorausgegangenen Typen kommunikativer Handlungen sind im Zugschema der multilateralen Mandatsverhandlungen allesamt in der zweiten Zugposition zu lokalisieren (vgl. S. 127, Abb. 8). Mit ihrer Realisierung erfüllen Journalisten ihre kommunikativen Aufgaben als Unterhändler der Bürger. Damit ist der Einfluß des politischen Journalismus aber noch keineswegs erschöpft. Denn ohne daß sie mit einem anderen Mandat als der Mediennachfrage durch die Bürger ausgestattet wären, beeinflussen Journalisten massiv die politische Agenda: Der ,investigative Journalismus' etwa versteht sich als Hüter von ,Gegenwahrheiten' (Saxer 1994, 6) und stellt den parteipolitischen Problem- und Selbstdarstellungen eigene Entwürfe von der politischen Wirklichkeit entgegen. Obwohl es verfehlt wäre, von politischen .Angeboten' im hier explizierten Sinne zu sprechen (vgl. S. 128f.) - Zeitungs- oder Fernsehredaktionen kann man nicht in das Parlament wählen - , haben journalistische ,Problemdefinitionen' oder Forderungen' doch einen ähnlichen sequentiellen Status wie ihre parteipolitischen Pendants (vgl. S. 167): Sie besitzen das initiative Potential, festgefahrene Mandatsverhandlungen zwischen Politikern und Wählern neu zu beleben und neue Verhandlungsfelder zu öffnen. Zwei Beispiele, die zugleich die ausgeprägten intermedialen Bezüge des politischen Journalismus illustrieren mögen: Unmittelbar vor der Wahl äußert sich Theo Sommer in einem Leitartikel mit dem Titel ,So wenig Aufbruch war nie' („Zeit" vom 14. Oktober 1994) zum abgelaufenen Wahlkampf, zu den ungelösten Problemen und zu den Schwierigkeiten, guten Gewissens die unterbreiteten Leistungsangebote der Parteien per Mandat zu ratifizieren. Sein nach den Regeln der rhetorischen amplificatio mustergültig vorbereitetes Fazit: Die implizite Forderung nach einer großen Koalition. Katastrophen dräuen nicht am Horizont. Wohl uns, daß wir keine Heroen brauchen! Die Wirklichkeit ist komplizierter. Gewiß kommen wir heute halbwegs zurecht. Zugleich jedoch türmen sich im wiedervereinten Deutschland gewaltige Probleme vor uns auf. Der Zustand unserer Staatsfinanzen - Schuldenstand 2000 Milliarden Mark! - ist bedrohlich. [...] Unser System der sozialen Sicherung nähert sich der Grenze seiner Belastbarkeit. [...] Dann gibt es heute in Deutschland de facto sechs Millionen Arbeitslose. [...] Die materielle und mentale Wiedervereinigung der Deutschen harrt der Vollendung. Europa braucht Anschub auf seinem

229 Weg zu einer immer engeren Union. Und ein neuer gesellschaftlicher Konsens muß geschmiedet werden: über die Rolle Deutschlands auf der Weltbühne. [...] Die neue Agenda erfordert einen neuen Ansatz. Am Sonntag entscheidet der Wähler darüber wer ihn verwirklichen soll. Vielen wird die Entscheidung schwerfallen. [...] Bleibt die Frage, welche Koalition eigentlich die größten Handlungsmöglichkeiten hätte. Die verlängerte christlich-liberale Koalition mit ihrem überlebten Erbhof-Prinzip bei der Ressortverteilung, den bevorstehenden Kämpfen und Krämpfen um die Kohl-Nachfolge? Eine rotgrüne Koalition, in der leicht die Romantiker beider Parteien den Realpolitikern über den Kopf wachsen könnten? Eine rotgelbgrüne Ampelkoalition, wo Wirtschaftsüberale und Ökologiebewegte einander in den Haaren lägen. Oder eine große Koalition, die sich nach Jahren notgedrungenem Zusammenwirkens von Bundesratsmehrheit und Bundestagsmehrheit zu dem Zwecke ehrlich machte, den Sozialstaat zu sanieren? (Theo Sommer in der „Zeit" vom 14. Oktober 1994; Hervorh. G.W.) Sommers Femsehkollege Brender schlug in dieselbe Kerbe und konfrontierte Helmut Kohl mit dem Verhandhingsvorschlag, eine große Koalition ins Auge zu fassen; wie das Beispiel zeigt, lassen Politiker bei solchen journalistischen Initiativen in der Regel nicht einmal die einleitenden Fragevoraussetzungen gelten. ARD „Ihre Wahl '94: Der Bundeskanzler", 13. Oktober 1994 Journalisten: Gerhard Fuchs, Nikolaus Brender Brender: Herr Bundeskanzler, manche bezeichnen die jetzige Zeit als die große Zeitenwende, nicht nur außenpolitisch, sondern auch innenpolitisch. Große Aufgaben stehen uns bevor: Die Zukunft der Jugend, Staatsverschuldung, Massenarbeitslosigkeit. Ist es da nicht vernünftig, eine große Koalition aller vernünftigen Ideen, aber auch der Parteien zusammenzuführen? Kohl: Also, zunächst einmal: das mit der Zeitenwende, das muß man dann definieren. Denn Sie haben ja sofort wieder Thesen eingebracht, die ich alle nicht akzeptiere. Denn die große Koalition wird nicht weniger und nicht mehr tun können zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit wie die jetzige Bundesregierung. Entschuldigung! [...] Also, da brauche ich keine große Koaütion, um eine erfolgreiche soziale Marktwirtschaft zu tun. Meine These ist ja genau umgekehrt: daß die Zahl der Abgeordneten, die eine Regierung unterstützen [...], nicht automatisch bedeutet, daß die Politik deswegen effektiver und dynamischer wird. Sowohl bei der Realisierung reaktiver als auch eigeninitiativer Handlungsmuster ist der politische Journalismus stets der Gefahr ausgeliefert, von den konkurrierenden Parteipolitikern für dramaturgische Zwecke vereinnahmt zu werden. Denn wenn Journalisten als Unterhändler der Bürger oder gewissermaßen als Revisoren der parteipolitischen Festlegungskonten (s.o.) agieren, geraten sie - in der Regel unbeabsichtigt - in die Nähe der Parteinahme für Politiker, die eine Diskreditierung ihrer Kontrahenten beabsichtigen. Schließlich fassen auch diese sich als Revisoren der gegnerischen Konten, und zwar der Negativkonten, auf und überziehen ihre Konkurrenz mit kontradiktorischen Problematisierungsformen (vgl. S. 163f.). Entsprechende journalistische Vorleistungen' werden dankbar aufgenommen und in Zitatform zu Diskreditie-

230 rungsmaßnahmen umfunktioniert.76 In dieser Rollenüberschneidung zwischen Journalisten und parteipolitischen Angreifern liegt einer der Hauptgründe dafür, daß die Attackierten den Medienvertretern informationspolitische Tendenzen unterstellen (z.B. ,Rotfunk' WDR). Parteipolitische Vereinnahmung droht ebenfalls bei journalistischen Initiativen, die seit McCombs/Shaw (1972) allgemein als ,Agenda Setting' bezeichnet werden.77 Kein Politiker wird jemals zugeben, daß nicht er, sondern der Leitartikler seiner Zeitung die Idee zu einem politischen Vorstoß hatte. Die konkurrierenden Parteien werden jedoch auch dies als Verstoß gegen die journalistische Neutralitätspflicht werten. Um diesen Universalvorwurf der Politik gegen die Medien zu entkräften, haben sich Spielregeln der Politikdarstellung etabliert, die in direkten Konfrontationen zwischen Journalisten und konkurrierenden Politikern (z.B. in Fernsehdiskussionen, Hearings, Interviews) eine zumindest formale Gleichbehandlung der Politiker gewährleisten sollen. Man kann hier unterscheiden zwischen gesprächsorganisatorischen und formulierungstechnischen Spielregeln. Den Journalisten steht es als Gastgebern und Moderatoren im Fernsehstudio oder in der Redaktion zu, die Leitung der Gesprächsorganisation zu übernehmen, d.h. die Eröffnung und Beendigung des Gesprächs, die thematische Steuerung und die Verteilung des Rederechts (Bucher 1994a, 485f.). Als Spielregeln für den Sprecherwechsel haben sich das ,Proporz-' und das ,Provokationsprinzip' etabliert. Kurz gesagt sehen diese beiden Prinzipien vor, daß (zumindest) formal allen beteiligten Politikern dieselbe Redezeit zusteht, daß aber in der Beitragsabfolge die Stärke der jeweils vertretenen Fraktion bzw. die ressortpolitische Zuständigkeit zählt (Proporz), daß aber von diesem Prinzip kurzfristig abgesehen werden kann, wenn einem angegriffenen Politiker ein massiver Gesichtsverlust droht (Provokation); diesem wird dann die Gelegenheit eingeräumt, die Provokation im unmittelbaren Anschluß abzuarbeiten (vgl. Holly/Kühn/Püschel 1986, 65; Lucas 1992, 54-57). Um das Selbstdarstellungsbedürfnis der Politiker zu kanalisieren, hat sich mittlerweile eingebürgert, am Anfang und am Ende einer Sendung Statement-Runden zu piazieren, die man als ,Selbstdarstellungsfenster' bezeichnen könnte.78 Um dem Verdacht der einseitigen Parteinahme vorzubeugen, haben Journalisten außerdem Forrmüierungstechniken entwickelt, die von Bucher (1993) als ,neutralitätssichernde Maßnahmen' beschrieben werden. Dem Journalisten stehen dazu folgende Formulierungsoptionen zur Verfugung:

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Mittlerweile werden ganze Sequenzen in politischen Fernsehdiskussionen dadurch ausgefüllt, daß sich die Kontrahenten gegenseitig aus Zeitungen vorlesen. Allerdings ist Brosius (1994, 285) darin zuzustimmen, daß das mediale .Agenda Setting' hinsichtlich seiner Wirkungsmacht häufig überschätzt wird: „Zu vielfältig sind die Verknüpfungen zu anderen Theorien und Wirkungsformen. Wahrscheinlich ist daher, daß sich Agenda Setting als Wirkungs/orm etabliert und als solche in allgemeinere Medienwirkungstheorien eingebaut wird. " Lucas (1992, 62f.) spricht hier von einem „zeitlichen Paritätsprinzip". In den Printmedien haben ,Gast-Kolumnen' eine ähnliche Funktion wie die o.a. ,Selbstdarstellungsfenster'.

231 Er kann die in der Frageeinleitung aufgestellte Behauptung zitieren, sie aus früheren Äußerungen des Interviewten ableiten oder sie als als allgemein akzeptiert ausgeben (,Es ist ja bekannt...'). Dadurch erscheint der Interviewer nicht als Autor dieser Auffassung, sondern er bleibt immer Animateur, der sich dieser Auffassungen bedient, um den Interviewten aus der Reserve zu locken. Tritt er dagegen selbst als Autor der Frageeinleitung auf, kann er die Ladung durch Abschwächungsverfahren entschärfen. Er kann seine Behauptung als subjektiv einstufen oder er kann der Tendenzfrage die Spitze nehmen, indem er sie als solche ankündigt. (1993, 106)

Man kann festhalten: Politische Journalisten agieren im Grenzbereich zwischen zwei gesellschaftlichen Funktionssystemen, die trotz ihrer jeweiligen Eigengesetzlichkeiten vielfältige und für alle Beteiligten prekäre Überschneidungen aufweisen. Zunächst sind Journalisten Repräsentanten ihrer Institutionen, die sie mit weitreichenden kommunikativen Privilegien ausstattet. Als Interviewer oder Moderatoren, um deren Aufmerksamkeit sich die Wahlkampfteams der Parteien bemühen, haben sie das Recht, die Gesprächsorganisation und -Steuerung zu übernehmen. Diese Ausstattung ermöglicht ihnen, den Politikern diejenigen Fragen zu stellen, von denen sie annehmen, daß die Bürger sie stellen würden, wären sie ebenso privilegiert. Journalisten agieren hier als Unterhändler der Bürger; indem sie die .blinden Flecken' in den Selbstdarstellungen der Parteien beleuchten, erleichtern sie ihren Lesern, Zuschauern oder Zuhörern eine fundierte Entscheidung in den multilateralen Verhandlungsspielen um die politischen Angebote und Mandate. Schließlich treten Journalisten selbst als politische Akteure auf, insofern sie von Politikern aufgeworfene Themen befördern oder behindern, auf der Grundlage aktueller Problembeschreibungen eigene politische Vorschläge unterbreiten oder manifeste politische Forderungen erheben. Jede dieser Kompetenzen spielt in die Domäne der Parteipolitiker hinein und kann im Kampf um die politische Macht spielentscheidend sein. In der nun folgenden Untersuchimg eines authentischen Konfliktsverlaufes ist daher der Einfluß des politischen Journalismus stets zu berücksichtigen.

4. Wie das Spiel gespielt wurde - funktionale Konfliktphasen und Zugsequenzen am Beispiel der , Linksfront'-Kampagne

Wenn latente parteipolitische Konflikt/üge«, wie sie im Wahlkampf vorauszusetzen sind, in manifeste Konflikteragnráe umschlagen, ist man häufig geneigt, von ,invisible-hand'-Phänomenen zu sprechen (vgl. Holly 1990, 71-73). Zu diffus sind die Anlässe, zu zahlreich die Akteure auf und hinter der politischen Bühne, zu komplex die dort stattfindenen Handlungsprozesse und zu heterogen die mutmaßlichen Handlungsintentionen, als daß man die kommunikative Vorgeschichte eines Konfliktereignisses und das Konfliktereignis selbst in einen direkten Inteipretationszusammenhang stellen könnte. Dies in Rechnung gestellt, ereignen sich

232 jedoch bisweilen auch solche Konflikte, deren Anlaß, Akteure und Kommunikationsgeschichte relativ klar zu identifizieren sind. Einer dieser Konflikte, an denen sich die Geschichte, Struktur und Dynamik parteipolitischer Auseinandersetzungen im Wahlkampf besonders gut demonstrieren läßt, begann am 26. Juni 1994 in Sachsen-Anhalt, bestimmte über weite Teile den Bundestagswahlkampf 1994 und wird aller Voraussicht nach auch im Bundestagwahlkampf 1998 eine Rolle spielen. Die Rede ist von dem Konflikt um den politischen Umgang mit der SED-Nachfolgepartei PDS, der 1994 unter den Titeln ,Links front'- oder ,Rote-Socken'Kampagne gefuhrt worden ist. Unter den Vorzeichen einer sprachspieltheoretisch fundierten Textanalyse (vgl. S. 52ff.) geht es im folgenden darum, diesen Konflikt aus zwei Perspektiven zu beleuchten: Die konkreten kommunikativen Textbeiträge der Kontrahenten zum Konfliktverlauf werden bestimmten funktionalen Konfliktphasen79 und sequentiellen Zugpositionen zugeordnet. Auf diese Weise wird die kommunikative Sequenzstruktur des Konfliktereignisses sichtbar. Parteipolitische Konflikte ereignen sich allerdings nicht in einem sozial-situativen Vakuum. Parallel zu der Ereignisbeschreibung erfolgt daher eine sprachspielanalytische Einordung der kommunikativen Beiträge in ihren übergeordneten Verwendungszusammenhang , Wahlkampf, der in Abschnitt Π 4 als .multilaterales Verhandlungsspiel' charakterisiert worden ist. Auf diese Weise ist es möglich, den makrostrukturellen Kontext der Konfliktbeiträge nachzuzeichnen und die strategischen Gründe zu rekonstruieren, aus denen die Konfliktakteure so und nicht anders gehandelt haben. Diese integrierte Vorgehensweise erlaubt es, die kommunikative Phänomenologie und strategische Motivierung parteipolitischer Konflikte in einen homogenen Beschreibungszusammenhang zu bringen (vgl. dazu Abb. 20 auf der übernächsten Seite). Der .Linksfront'-Konflikt wurde dadurch ausgelöst, daß Peter Hintze, der Generalsekretär der CDU, in einer Pressekonferenz am 15. Juli 1994 derbreiten Öffentlichkeit zwei Plakate präsentierte (,Auf in die Zukunft... aber nicht auf roten Socken'; .Zukunft statt Linksftont'). Deren Text- und Bildanteile (rote Socke an Wäscheleine bzw. Bundesflagge) von der Öffentlichkeit hätten fehl- oder uminterpretiert werden können, machten sich Hintze und weitere Unionspolitiker daran, die Plakate in der Folge zu „monosemieren" (Burger 21990, 301): Das kommunikative Ziel der CDU-Initiative bestand darin, die Bundes-SPD mit dem , Vorwurf zu konfrontieren, sie habe durch ihre Entscheidung, nach der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt (26. Juni) eine rot-grüne Minderheitsregierung unter Tolerierung der PDS zuzulassen, einen

79

Die Unterteilung in funktionale Konfliktphasen orientiert sich an den oben eingeführten Kriterien ,kontextuelle Konfliktträchtigkeit', .dreizügige Konfliktkonstituierung', .Interessendivergenz' und .kompetetive Durchsetzungsansprüche' (vgl. S. 170f.). Phasenmodelle mit anderen Schwerpunktsetzungen finden sich beispielsweise bei Rehbock (1987), Linneweber (1991), Glasl (1994) oder Gruber (1996).

233 „Schwur deutscher Demokraten" (Kohl), nicht mit Kommunisten' zusammenzuarbeiten, gebrochen und handele insofern höchst illegitim. Die Kommunikationsstruktur der sich anschließenden Konfliktsequenz entwickelte sich gemäß der Handlungscharakteristik dieses initialen Zuges. Denn die CDU steckte damit einen intentionalen Rahmen ab, mit dem sich die SPD, da sie diesen Vorwurf,nicht auf sich sitzen lassen' konnte, in der Folge auseinanderzusetzen hatte. ,Vorwürfe' und die daran anschließbaren Kommunikationssequenzen können als „Konflikt-Schema par excellence" betrachtet weiden (Fritz/Hundsnurscher 1975, 82). Denn Vorwürfe etablieren ein System kommunikativer Erwartungen, das sich eo ipso durch eine aggressive Komponente auszeichnet. Dem Attackierten wird schließlich unterstellt, er habe etwas getan, was er nicht hätte tun dürfen (.inkriminierte Handlung'), und er sei für die negativen Folgen dieser Handlung verantwortlich. In der damit verbundenen ,Imagegefahrdung' (vgl. Goffman 1967/86) hegt die spezifische Sequenzprägekraft von Vorwürfen·. Deijenige, der einen Vorwurf zu hören bekommt, wird sein Gesicht wahren wollen, indem er a) seine Schuld eingesteht und sich entschuldigt (um mit einem .blauen Auge' davonzukommen), b) den Vorwurf durch Rechtfertigungen zu entkräften versucht, c) den Vorwurf mit dem Hinweis auf mangelnde Vorwurfsberechtigung als inakzeptabel zurückweist oder e) den Vorwurf einfach übergeht.80 Dies sind die allgemeinen kommunikativen Anschlußmöglichkeiten an Vorwürfe in initialer Zugposition. Im Kontext parteipolitischer Konflikte im Wahlkampf unterliegen Vorwürfe und daran angeschlossene Entgegnungszüge jedoch spezifischen Zusatzbedingungen. Die wichtigste dieser Bedingungen ist: Parteipolitische Konflikte finden vor Publikum statt. Öffentliche Publika, d.h. die potentiellen Wähler der Parteien sind die primären Adressaten, wenn eine Partei der anderen etwas vorwirft und diese darauf entgegnet. Das Urteil der Wähler entscheidet darüber, fiir wen der Vorwurf einen Gesichtsverlust bedeutet - für die attackierende oder die attackierte Partei. Dabei zählt in der Regel weniger die Evidenz des Vorwurfes (die oft nur schwer zu durchschauen ist), als vielmehr die subjektive Einschätzung, daß der eine Kontrahent das Sequenzmuster routinierter beherrscht als der andere.

80

Vgl. die kommunikative Bedingungsanalyse des ,Vorwurfes' von Frilling/König (1991, 27), die in Abbildung 2 (S. 30) wiedergegeben ist, und die Ausführungen Hundsnurschers (1993a) zu .streitspezifischen Sprechakten'.

234 Abb. 20: Parteipolitische Konflikte - funktionale Phasen und exemplarische Zugsequenzen am Beispiel der ,Links front'-Kampagne Konfliktereignis (kommunikative Sequenzstruktur) Konfliktphase

Züge Initiator (Union)

Vorfeld

1. Konstituierung

Züge Kontrahent (SPD)

konfliktdynamische Funktion

(inkriminierte Handlung: Rot-Grün unter Tolerierung der PDS in Magdeburg)

Konfliktanlaß

initialer Vorwurf: Linksfront, Rote Socken

2. Latenz

Manifestation einer Interessendivergenz ironisierende Zurückweisung, impliziter Gegenvorwurf: Jetzt sind wir aber von den Socken, Herr Kohl!

3. Aktualisierung

Insistieren und semiotische Aufladung: , abgehackte Heinde ' (Schwerin); Marx (München)

4. Austragung

Insistieren und semantische Aufladung: Rotlackierte Faschisten

Anmeldung kompetetiver Durchsetzungsansprüche

Zurückweisung: Schlammschlacht Gegenvorwurf I: CDU-Blockflöten Gegenvorwurf Π (Fokusverschiebung) ameisenhafte Wahrnehmung Rechtfertigung: Magdeburg ist kein Modell für Bonn 5. Ritualisierung

Marginalisierung der Interessendivergenz

Manifestation kompetetiver Durchsetzungsansprüche

inszenatorische Rollenfestlegung

Insistieren und historisierende Einbettung: Kurt Schumacher würde sich im Grab umdrehen Rechtfertigung (s.o.) Zurückweisung: bewußte Verleumdung Insistieren auf Gegenvorwürfen I und Π (s.o.)

6. Aussetzung

7. Beilegung

Themenwechsel wenn die chemistry stimmt...

Themenwechsel wenn er einen guten Rotwein hat...

-

-

formaler Abbruch

Wiederaufnahmeoption

235

Wahlkampfsequenz (makrostruktureller Kontext) Wahlkampfphase

Bausteinvariante Union

Auftaktphase

(Sommerpause)

Diskreditierung (Legitimation)

Kernphase

Diskreditierung (Legitimation)

neuer Auftakt

Selbstdarstellung (Legitimation)

Stärkung des personalen Prestiges (Kanzlerkandidat Scharping) Beschädigung der admin. Akkred. des Kontrahenten (Themenpräsentation)

Selbstdarstellung (Legitimation)

(Sommerpause)

Wahlkampfauswertung

wahlkampf-dramaturgische Funktion

Diskreditierung (Legitimation)

(Sommerpause)

heiße Phase: Fernsehwahlkampf

Bausteinvariante SPD

Stärkung des personalen Prestiges (Kanzlerkandidat Scharping)

nachhaltige Beschädigung der administrativen Akkreditierung des Kontrahenten (Themenetablierung)

Diskreditierung (Legitimation)

wechselseitige Beschädigung der parteipolitischen Reputation und des personalen Prestiges (Personalisierung des Themas)

Selbstdarstellung (Transparenz)

Stärkung der eigenen parteipolitischen Reputation (Mannschaftsgedanke: Troika) Rehabilitation medientaugliche Rollenüberahme: Wahrer der (demokratischen) Kontinuität

Diskreditierung (Legitimation, Transparenz) Selbstdarstellung (Transparenz) Diskreditierung (Transparenz)

medientaugliche Rollenübemahme: Opfer einer Verleumdungskampagne

Selbstdarstellung (Kooperationsbereitschaft)

Selbstdarstellung (Kooperationsbereitschaft)

Transformation des Spiels (parlamentarische Bühne)

-

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Aktualisierungsoption

236 Die Kommunikationsstruktur eines konkreten Konfliktereignisses etwa nach dem Sequenzmuster ,Vorwurf-Vorwurfsentgegnung' zu beschreiben, ist vor dem Hintergrund subjektiver Publikumserwartungen ein notwendiger, aber nicht hinreichender Schritt auf dem Weg zu einer erklärungsadäquaten Analyse. Um den parteipolitischen Sinn der einzelnen Konfliktbeiträge zu ermitteln, muß die Grenze des konkreten Konfliktereignisses überschritten werden. Von Belang ist dann, wie sich die Konfliktbeiträge in die übergeordneten Wahlkampfdramaturgien der Parteien einfügen und welchen spezifischen Beitrag sie zur Werbung um die Wählerstimmen leisten. Mit anderen Worten: Das konkrete kommunikative Konfliktverhalten des Interaktantenpaares ,Partei - Partei2' ist hier insofern von Interesse, als dadurch die Verhältnisse zwischen .Partei! und Wählern' bzw. ,Partei2 und Wählern' beeinflußt werden können. Diese Relationen sind oben - aufgrund der Unidirektionalitat der Kommunikation - nicht als dialogisch, sondern als monologisch beschrieben worden (vgl. S. 171f.). Die Ausgangsfrage lautet dann nicht: Wie handeln die Parteien, wenn ein Vorwurf laut geworden ist? Sondern: Welchen Gewinn verspricht sich die vorwerfende Partei, und welchen Gewinn verspricht sich die entgegnende Partei bei den Wählern? Diese Verschränkung von Konfliktereignis und dessen makrostrukturellen Kontextbezügen mag deutüch werden, wenn man sich vergegenwärtigt, daß, bevor sich der Konfliktanlaß ,Magdeburg' ergab, die Wahlkampfdramaturgien beider großen Parteien vorsahen, das personale Prestige der beiden Kanzlerkandidaten Scharping und Kohl in den Mittelpunkt der jeweiligen Kampagne zu stellen. Die Selbstdarstellungen Scharpings, die auf eine Legitimation als besserer Wortführer der politischen Mitte bedachten waren, wurden von der Union als Gefahrdung ihrer gleichgerichteten eigenen Selbstdarstellungsabsichten betrachtet: Die SPD-Strategie war - zumindest in der ersten Hälfte des Wahljahres - eindeutig darauf abgestellt, sich in die politische Mitte zu schleichen: Alle Widersprüche, Gegensätze und Linkstrends in der SPD sollten hinter der Fassade einer moderaten und seriösen Mitte-Partei verschwinden. Diese Strategie wurde zunächst mit beachtlicher Konsequenz durchgehalten. Umgekehrt mußte die CDU mit ihrer Angriffs Strategie darauf setzen, diesen Versuch als Täuschungsmanöver zu entlarven [...]. (Bericht der Bundesgeschäftsstelle, Anlage zum Bericht des Generalsekretärs, 6. Parteitag der CDU Deutschlands, 28. November 1994, Bonn, S. 11)

Magdeburg bot einen trefflichen Anlaß für den Versuch, Scharpings Legitimationsabsichten gegenüber den Wählern zu diskreditieren. Mit dem Vorwurf, die SPD wolle mit Hilfe der PDS in Bonn an die Macht gelangen, sollte die administrative Akkreditierung Scharpings unterminiert und zugleich ein Freiraum für die eigene , Aufschwung'- und ,Kanzlerkampagne' geschaffen werden.

237 Die CDU stieg zunächst verhalten in die Phase der Konfliktkonstituierung ein, um Reaktanzphänomenen auf Seiten der Bürger vorzubeugen.81 Die SPD begnügte sich mit einer ironisierenden Zurückweisung' des Vorwurfs: Auf Plakaten und Postkarten setzte man Helmut Kohl eine ,rote Socke' als Zipfelmütze auf und zeigte ihn u.a. zusammen mit Erich Honecker während seines Staatsbesuches im Jahr 1987. Die rote Zipfelmütze diente dabei als Kohärenzmaiker und kennzeichnete die Aktion als regulären Entgegnungszug. Das dargestellte Figurenarrangement hingegen fungiert als impliziter .Gegenvorwurf', mit dem der CDU die Berechtigung zu diesbezüglichen Vorwürfen abgesprochen wurde. Das konfliktstrategische Ziel dieses „partiellen Nichteingehens" (Fritz/Hundsnurscher 1975, 85) bestand darin, einen Konfliktausbruch zu vermeiden und den Konfliktanlaß zu marginalisieren. Die SPD mußte zwar reagieren, aber sie hütete sich davor, die zutage getretene Interessendivergenz zur CDU hochzuspielen, und zwar in der Hoffnung, der Vorwurf werde berits in der Latenzphase folgenlos verhallen. Parallel dazu trieb die SPD in der Sommerpause die prestigeträchtige Selbstdarstellungskampagne ihres Kanzlerkandidaten weiter voran. Doch noch während der Sommerpause (am 1./2. August 1994) setzte die Union in einem dritten Zug nach und machte durch zwei insistierende Vorwurfswiederholungen82 explizit, daß sie mit dem .Linksfront'-Vorwurf kompetetive Durchsetzungsansprüche verband und gewillt war, die SPD weiter unter Druck zu setzen (Aktualisierungsphase). In einer konzertierten Aktion präsentierten die CDU Mecklenburg-Vorpommerns und die CSU zwei Plakate, die semiotisch bedeutend stärker aufgeladen waren als die Motive in der Konstituierungsphase (s.o.). Unterschrieben mit einem „Nein", zeigte das CDU-Plakat in stilisierter Form den Handschlag zwischen dem Sozialdemokraten Otto Grotewohl und dem Kommunisten Wilhelm Pieck, der 1946 die Zwangsvereinigung der KPD und der SPD zur SED besiegelte und später als Emblem das Parteiabzeichen der SED zierte. Nicht nur .gelernten DDR-Bürgern', die bereits vor der Wende dieses Emblem als .abgehackte Hände' tituliert hatten, war die diskreditierende Funktion dieser Symbolik klar. Angela Merkel, Bundesministerin und CDULandesvorsitzende in Mecklenburg-Vorpommern, erläuterte vor der Presse („Welt" vom 3. August): „Das Schweriner Plakat ist differenzierter als die Bonner ,Rote Socken'-Kampagne, weil es die PDS nicht verniedlicht und zusätzlich die SPD kritisiert."83 Noch deutlicher wurde die CSU, auf deren Plakat Karl Marx und - rot-grün unterlegt - der Text zu sehen war: „Ich komme wieder! Über Sachsen-Anhalt. Dank SPD & PDS." Es kann hier nicht eingehend

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Vgl. den „Spiegel" vom 25. Juli 1994: „Vorsichtig testen alle Parteien Werbung mit .Schmunzeleffekt', so Kanzler-Berater Peter Boenisch. .Die Rote-Socken-Witzeleien hätten wir früher höchstens bei der Jungen Union durchgehen lassen. ' " Zur konfliktdynamisierenden Funktion insistierender Sprechhandlungen vgl. Hundsnurscher (1993a, 147f.). Günter Verheugen wird an derselben Stelle mit den Worten zitiert: „Anders als mit der Hitzewelle sei dieser .Griff in die Propaganda-Arsenale des Kalten Krieges' nicht zu erklären."

238 erörtert werden, ob und wie diese Plakate in der breiten Öffentlichkeit aufgenommen wurden.84 Immerhin wurden sie in der Presse kolportiert (z.B. in FAZ und FR vom 3. August), und der Ausgangsvorwurf begann, sich als aufmerksam beobachtetes Wahlkampfthema zu etablieren. Als die CDU (am 28. August) und die SPD (am 4. September) mit Großveranstaltungen in Dortmund die Kernphase des Wahlkampfes einläuteten, trat der Konflikt in die Austragungsphase. Nachdem Kohl erneut insistiert und den ,Linksfront'-Vorwurf zusätzlich semantisch aufgeladen hatte („rotlackierte Faschisten"), gab die SPD, mittlerweile repräsentiert durch die ,Troika' (seit dem 1. September), ihre Übergehungsversuche auf und ging zum Gegenangriff über. Auf beiden Seiten manifestierten sich nun kompetetive Durchsetzungsansprüche, der Konflikt weitete sich zu einem Ereignis von allgemeinem öffentlichen Interesse aus. Während der zweitägigen Haushaltsdebatte im Bundestag wählten Oskar Lafontaine (6. September) und Rudolf Scharping (7. September) als Reaktion auf die erhobenen Vorwürfe zwei konfrontative Entgegnungsvarianten: Erstens rekurrierten beide, indem sie die Unionskampagne als ,völlig entartet' und als ,Schlammschlacht' charakterisierten, auf die übergeordnete Norm der Wahlkampf-Faimeß, was als .metakommunikative Zurückweisungsvariante' zu interpretieren ist. Zweitens erhoben beide ,Gegenvorwürfe', die allerdings aufgrund ihrer spezifischen sequentiellen Qualitäten unterschiedlich einzuordnen sind. Denn in Anlehnung an Frilling/König (1991, 27f.) lassen sich mehrere Typen von Gegenvorwürfen unterscheiden, wobei als Differenzierungskriterium die Art der Bezugnahme auf den initialen Vorwurf herangezogen wird: Im Vorwurf Lafontaines, CDU und FDP hätten sich „in schamloser Weise die alten kommunistischen Kader der DDR-Blockparteien einverleibt" („Süddeutsche Zeitung" vom 7. September), blieb der sequentielle Zusammenhang zum initialen ,Linksfront'Vorwurf prinzipiell gewahrt; aber dadurch, daß Lafontaine die von den Regierungsparteien aufgestellte Norm (keine Zusammenarbeit mit .Kommunisten') gegen diese selbst richtete, aktivierte er die übergeordnete normative Maxime: ,Wer selbst im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen werfen'. Diese Art des Gegenvorwurfs wendet sich gegen die Vorwurfsberechtigung der Angreifer und ist funktional äquivalent zur expliziten Zurückweisung. Allerdings hat diese Realisierungsvariante eine entscheidende Schwäche: Der initiale Vorwurf bleibt in der

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Eine Reaktion sei hier aber exemplarisch angeführt. Heinz Verführt kommentierte die Aktion in der „Mitteldeutschen Zeitung" vom 6. August folgendermaßen: „Von 1994 auf die Situation von 1946 zurückzugreifen, ist historisch falsch und damit politisch anrüchig. Gysis PDS und Scharpings SPD zusammenzubringen, wie es in der Kombination ,SPDS' geschieht, dazu gehört schon ein Stück Unverfrorenheit. Und wenn Hintze nun ständig von der .kommunistischen' PDS spricht, dann äußert sich darin eine schreckliche Vereinfachung, um das gewünschte Feindbild möglichst kantig zu schnitzen. [...] Doch solche Überlegungen sind politischer Zynismus. Der psychologische Flurschaden wirkt weit länger als bis zum Tage danach, dem 17. Oktober."

239 Schwebe. Er kann weiterverfolgt werden, wenn die Verhandlung um den Gegenvorwurf zu keinem Ergebnis führt. Eine andere Variante des Gegenvorwurfs wählte Scharping, als er Kohl unterstellte, dieser „mißachte konsequent die sozial Schwächeren im Lande, nehme Menschen nur noch ,ameisenhaft' wahr und verweigere jegliche Antwort auf die Lösung anstehender Probleme" („Süddeutsche Zeitung" vom 7. September). Mit dieser Fokusverschiebung verfolgte Scharping das Ziel, von der Defensive auf Offensive umzuschalten. Er versuchte, den engen Reaktionsrahmen der ihm aufgenötigten Vorwurf-Vorwurfentgegnungs-Sequenz aufzubrechen und seinerseits eine neue Sequenz zu initiieren, in der nicht er, sondern Kohl entgegnungspflichtig sein sollte. Gegenvorwürfe, die in keiner Weise an die vorgängigen Vorwürfe anknüpfen und stattdessen dem Zweck dienen, eine neue Sequenz einzuleiten, sind als Varianten des .Übergehens' zu klassifizieren (vgl. Frilling/König 1991, 28). Diese Entgegnungsoption wirft allerdings die gleichen kommunikationsstrategischen Probleme auf wie das ,Zurückweisen': Der ursprüngliche Vorwurf bleibt im Raum stehen und kann, wenn die Folgesequenz abgearbeitet worden ist, jederzeit neu aufgerollt werden. Um dem vorzubeugen, flankierte Scharping seinen Gegenvorwurf mit legitimatorischen Selbstdarstellungmaßnahmen, in denen er der Kohl unterstellten .ameisenhaften Wahrnehmung' den Mannschaftsgedanken der Troika und seinen persönlichen Teamgeist gegenüberstellte. Weil er aber im weiteren Konfliktverlauf zunehmend von Seiten Dritter (Journalisten, Vertreter von Interessenverbänden, Anhänger) gedrängt wurde, zu den Vorwürfen der Union Stellung zu beziehen, und aus wahltaktischen Gründen weder ein ,Schuldeingeständis' noch eine .Entschuldigung' in Frage kamen, sah er sich schließlich genötigt, die ,inkriminierte Handlung', das Einverständnis mit dem Vorgehen des Magdeburger Ministerpräsidenten Höppner, zu .rechtfertigen'. Dabei versuchte er, alle inhaltlichen Aspekte des initialen Vorwurfes durch .Umdeutungen' zu entkräften (vgl. Fritz/Hundsnurscher 1975, 90): Den Unterstellungen, er habe etwas getan, was er nicht hätte tun dürfen, und sei für die negativen Folgen dieser Handlung verantwortlich, begegnete Scharping mit den Gegenbehauptungen, in Sachsen-Anhalt gebe es gar keine Zusammenarbeit zwischen SPD und PDS, die Koalitionäre SPD und Bündnis 90/Die Grünen seien die einzigen unbelasteten Parteien in Ostdeutschland und befänden sich in einer machtpolitischen Sondersituation (keine Koalitionsmehrheit). Außerdem sei Magdeburg nicht als Modell anzusehen, so daß für Bonn keine negativen Folgen zu befürchten seien: „Für die SPD ist die PDS kein Partner und wird es auch nie werden." (dpa-Gespräch am 2. Oktober) Unter wahlkampfdramaturgischen Gesichtspunkten ist diese Selbstfestlegung als .Transparenzbegründung' zu interpretieren. Der kommunikative Zweck dieses Wahlkampfbausteines ist es, freiwillig ,Insider-Wissen' und die eigenen .wahren Absichten' preiszugeben, um auf diese Weise ein gefährdetes personales Prestige oder eine gefährdete parteipolitische Reputation zu rehabilitieren (vgl. S. 191f.). Der Preis, der dafür gezahlt weiden muß, ist freilich hoch: Freiwillige Selbstfestlegungen können zwar als Befrei-

240 ungsscblag die Situation für eine Weile klären, werden aber von politischen Gegnern, Journalisten und Bürgern fortan als unverrückbare und unantastbare Einträge auf dem Festlegungskonto des fraglichen Politikers verbucht. Werden in der Folge dennoch Zweifel an der Aufrichtigkeit einer solchen Selbstfestlegung laut, ist das personale Prestige des betreffenden Politikers aufs äußerste gefährdet. Als der Konflikt in die ,heiße Phase' des Fernsehwahlkampfes ging (26. September - 14. Oktober), hatten Pressejournalisten die von der SPD in die Öffentlichkeit lancierten Entgegnungsvarianten (Zurückweisen85, Übergehen86, Rechtfertigen87) hinsichtlich ihrer wahlkampfstralegischen Bedeutung durchgespielt und ihre Kommentare abgegeben. Bei niemandem bestand allerdings ein Zweifel darüber, daß die Union auf dem noch ,schwebenden' initialen Vorwurf insistieren und den Konflikt für ihre Inszenierungsabsichten funktionalisieren würde: Vor allem aber haben die Sozialdemokraten das Problem PDS am Hals. [...] Und Kohl kündigt an: .Natürlich bleiben wir bei dem Thema.' Damit läßt sich die eigene Anhängerschaft mobilisieren und vorzüglich von Sachfragen ablenken, mit denen die Opposition punkten könnte. ,Wir können machen, was wir wollen, wir kommen mit keinem eigenen Thema gegen die PDSDiskussion an', jammert ein SPD-Funktionär. (Andreas Borchers unter dem Titel .Strategien für den Endspurt' in der „Woche" vom 15. September)

Beim Übergang zum Fernsehwahlkampf tendierte das Konfliktverhalten der Kontrahenten zur Ritualisierung,

d.h. die Akteure wiederholten sich, zitierten sich selbst und folgten dabei

erkennbar den dramaturgischen Vorgaben ihrer Hintermannschaften. Da die ,Linksfront'Debatte in Presse, Rundfunk und Fernsehen als Wahlkampfthema fest etabliert und nach den Gegenangriffen von Lafontaine und Scharping medienfreundlich personalisiert war, versuchten die Kontrahenten, sowohl den eigenen Inszenierungsabsichten als auch den Anforderungen des politischen Journalismus dadurch gerecht zu werden, daß sie die zuvor erprobten kommunikativen Handlungsmuster zu relativ festgelegten Redeprogrammen kondensierten. Die darin erkennbare Rollenübernahme hat gewöhnlich zwei Effekte: Auf der einen Seite bewirkt sie eine gewisse Berechenbarkeit und ermöglicht den an der Konfliktdarstellung Beteiligten Journalisten und Politikern - die Vorbereitung eigener medialer Präsentationsstrategien. Auf der anderen Seite aber schränkt die Festlegung kommunikativer Rollen den Handlungs-

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Vgl. Mathias Zschaler im „Tagesspiegel" vom 5. September: „Was die Republik erlebt, sind hysterisierte Scheingefechte, die von den [...] Problemen, die die Bürger drücken, ablenken. Das krasseste Beispiel bietet die Geisterdebatte um die PDS - als stünde die Eroberung Deutschlands durch die Kommunisten bzw. ihre Verhinderung auf der Tagesordnung." Vgl. Peter Gräfe im „Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt" vom 25. September: „Zu Beginn der heißen Phase 1994 erleben Radio-, Fernsehfreunde und Leser [...] die Regierung in der Vorhand. Die SPD hat mit der Nummer ,Drei gegen Kohl' aber den Anschlußtreffer erzielt." Vgl. Joachim Raschkes Gastkommentar in der „taz" vom 13. September: „Man ,killt' den Überbringer schlechter Nachrichten, aber es stimmt: Eine Reformregierung in Bonn ist nicht ohne die PDS zu denken. "

241 Spielraum der Akteure erheblich ein. Die Komplexität des vorherigen Ereignisverlaufes, vor allem aber die Komplexität des makrostrukturellen Kontextes werden unter Umständen in einem solchen Umfang nivelliert, daß die Informativität der medialen Darstellung rapide sinkt und eine „mediale Umkehrung der Wichtigkeiten" (Sarchielli 1996, 44) eintritt. Am Beispiel zweier medialer .Fernduelle' zwischen Kohl und Scharping, die am 3./4. Oktober von SAT.l und am 11./12. Oktober in der ARD ausgestrahlt wurden, läßt sich demonstrieren, daß die vermeintliche Dynamik der Spielzüge keineswegs spontan entsteht, sondern durch parteipolitische und mediale Handlungsdramaturgien induziert wird. Die Ritualisierung ist vor allem daran ablesbar, daß die Themenstruktur der Wahlsendungen in weiten Teilen auf den bisherigen Konfliktverlauf rekurriert. Die Journalisten übernehmen dabei den Part von Revisoren des jeweiligen Spielstandes, während die Kontrahenten ihre gegeneinander gerichteten Redeprogramme abarbeiten. Es beginnt mit Kohl (vgl. das ausfiihrlichere Transkript im Anhang, S. 284): SAT.l „Wer soll regieren? Streitfragen an Helmut Kohl", 3. Oktober 1994 aus Mödlareuth Journalisten: Heinz Klaus Mertes, Georgia Tornow („Berliner Zeitung"), Hans-Hermann Tiedje („Tango")88 Tornow: Die PDS ist das Ding, um das es hier geht. Das ist eine kleine Partei. [...] Ist das wirklich der Gegner? Ist das nicht vielleicht eine Gruppierung, die eher aufhält,... Kohl: Nein. Nein. Tornow: .. .wenn man sich daran festhält? Kohl: Also, ich muß Ihnen sagen, das halte ich für intellektuell nicht durchhaltbar, was sie hier als Position vertreten. Es ist zwar in Deutschland weit vertreten, ist aber trotzdem falsch. [...] Und wenn ich nun die Partei vor mir sehe, da muß ich nun sagen, das ist eine Schande, daß nicht mehr darüber gesprochen wird, daß das die direkte kommunistische Nachfolgegruppierung ist. [Applaus] [...] Und jetzt kommt mein Hauptpunkt, den haben Sie am Anfang gestreift: Warum bin ich so radikal in dieser Frage? Weil eben Herr Scharping und die SPD einen Schwur deutscher Demokraten gebrochen haben. Ich war siebzehn, als ich '47 zur Union kam und anfing, mich politisch zu betätigen. Ich habe damals von Adenauer, von Heuß und vor allem von Schumacher gelernt, daß es mit Radikalen von rechts und links, mit Neonazis - um Schumacher zu zitieren - und mit Kommunisten nie Gemeinsamkeiten geben kann. [...] Und ich war ja bis Sachsen-Anhalt der Meinung, der Schwur gilt. Wir haben das ja auch nie gemacht in 40 Jahren. [...] Und wir haben das ja durchgesetzt. Wir haben die Kommunisten überall herausgedrängt. [...] Und jetzt macht diese SPD des Herrn Scharping einen Kontrakt in Sachsen-Anhalt. [...] Und was er jetzt behauptet, ist einfach unwahr: Wenn am Abend der Bundestagswahl SPD, Grüne und PDS eine Stimme Mehrheit haben, werden sie zusammengehen. Was Herr Scharping jetzt behauptet, wird dann vergessen sein. [...] Mertes: Hier hätte ich eine Nachfrage, wenn Sie erlauben und ganz schnell, eines Zuschauers. [...] Er fragt: Nach Ihrer Aussage, Kommunisten seien rotlackierte Faschisten - ob Sie das nicht zurücknehmen wollen... Kohl: Nein.

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Einrückungen im Transkript markieren simultanes Sprechen; Kursivdruck steht für intonatorische Hervorhebungen.

242 Mertes:

Kohl:

.. .dean es habe doch ziemlich viele Freiheitskämpfer gegeben, die früher von Faschisten umgebracht wurden [...]. Somit sei Ihre Äußerung für Sozialisten eine schwere Beleidigung. Also, zunächst einmal will ich darauf hinweisen, daß das ein berühmtes Zitat des wohl berühmtesten deutschen Sozialdemokraten in diesem Jahrhundert ist: Das ist immer noch Kurt Schumacher. [...] Ich zitiere hier nur den Wiederbegründer der deutschen Sozialdemokratie. Und ich muß Ihnen nun sagen: Der Kurt Schumacher würde sich im Grab rumdrehen, wenn er sehen würde, mit welchen Leuten die jetzt gemeinsame Sache machen. [...] Und das ist doch nun jetzt wirklich keine Beleidigung von Freiheitskämpfern. Entschuldigung!

Tornow und Mertes verwenden für ihre Textbeiträge ,problematisierende' Fragen, die keine besondere .Ladung' aufweisen (vgl. S. 225f.). Indem Tornow die gesellschaftspolitische Relevanz der ursprünglichen Vorwurfinitiative hinterfragt („Ist das wirklich der Gegner?") und Mertes in Form eines Zuschauerzitats die semantische Aufladung des Konfliktes problematisiert („rotlackierte Faschisten"), zeichnen sie zum Verständnis des Publikums die wichtigsten Konfliktstadien noch einmal nach, ohne allerdings die Entgegnungshandlungen der anderen Seite, der SPD, zu berücksichtigen. Dadurch entsteht ein Freiraum für Kohl, den Vorwurf insistierend zu wiederholen („Schwur der Demokraten") sowie dessen diskreditierenden Inhalt in eigener Perspektive darzustellen. Die Art und Weise, in der er dabei vorgeht, ist typisch für den Kohlschen Präsentationsstü und läßt sich vielleicht am treffendsten als historisierendes Themenrmmagement charakterisieren: Kohl verwendet zu Selbstdarstellungs- wie auch zu Diskreditieiungszwecken bevorzugt solche Wahlkampfbausteine, die in bezug auf das semantische Kriteriums der ,Kontinuität' variierbar sind. Bei der Verwendung solcher Bausteine kommt es darauf an, daß für das Wählerpublikum ein ununterbrochener und damit vertrauensbildender konzeptioneller Zusammenhang erkennbar wird (vgl. S.159). Wie in dem obigen Beispiel erfolgt die sequentielle Einbettung und sprachliche Umsetzung dieser Bausteine bevorzugt in Form narrativer Digressionen, die aufgrund ihres autobiographischen Inhalts („Ich war siebzehn...") den taktischen Vorteil bieten, daß Interventionen von journalistischer Seite nur äußerst schwierig zu reaüsieren sind, da diese fast immer als grobe Verstöße gegen das Prinzip der Höflichkeit (vgl. Brown/Levinson 1987) interpretiert werden können. Die Funktion solcher erzählender Passagen besteht darin, eine .asymmetrische Wissenskonstellation' (vgl. Fritz 1994a, 188) zu etablieren, die den autobiographischen .Erzähler' in den Stand versetzt, die Themenprogression des Mediengesprächs zu beeinflussen oder sie gar völlig zu dominieren. So übergeht Kohl die Frage, ob er das Wort von den „rotlackierten Faschisten" nicht zurücknehmen wolle, mit dem schlichten Hinweis auf die historische Autorität Kurt Schumachers („Ich zitiere hier nur den Wiederbegründer der deutschen Sozialdemokratie."), den er zuvor selbst thematisch eingeführt hatte. Ob diese Autorität von dem - mutmaßlich ostdeutschen - Fragesteller aus dem Zuschauerpublikum akzeptiert wird, bleibt von seiten der Journalisten unhinterfragt.

243 Ein historisierendes Themenmanagement, wie Kohl es betreibt, funktioniert nach ,InkIusions- und Exklusionsmechanismen' (vgl. Turner 1987). Im konkreten Fall entfaltet Kohl auf narrativem Wege ein historisches Szenario, in dem Scharping, seinerzeit 46 Jahre alt, keinen Platz hat. Die Exklusionsabsicht Kohls ist unverkennbar: Die angeführte Ahnengalerie („Ich habe damals von Adenauer, von Heuß und vor allem von Schumacher gelernt...") und die wiederholte Verwendung des pronominalen Wir („Wir haben das ja auch nie gemacht in 40 Jahren.") lassen „den Herrn Scharping" wie einen Schuljungen erscheinen, der seine Lektion nicht gelernt und sich tadelnswert verhalten hat. Daß Kohl diesen Tadel quasi stellvertretend erteilt („Der Kurt Schumacher würde sich im Grab rumdrehen, wenn er sehen würde, mit welchen Leuten die jetzt gemeinsame Sache machen."), ist für Scharping umso diskreditierender, als ausgerechnet die eigene Parteigeschichte gegen ihn gerichtet wird. Noch schwerer wiegt, daß Kohl im gleichen Atemzug auch Scharpings Rechtfertigungversuche im Vorfeld des Fernsehwahlkampfes als Unwahrheit zurückweist („Und was er jetzt behauptet, ist einfach unwahr."). Damit steht nicht nur - wie im bisherigen Verlauf der Vorwurf-Vorwurfentgegnungs-Sequenz - Scharpings gesellschaftspolitische Legitimation zur Disposition, sondern auch seine persönliche Glaubwürdigkeit, die er noch kurz zuvor in Form einer .Transparenzbegründung' in die Waagschale geworfen hatte. Einen Tag später reagiert Scharping auf diese neuerliche Provokation Kohls (vgl. das ausfuhrlichere Transkript im Anhang): SAT.l „Wer soll regieren? Streitfragen an Rudolf Scharping", 4. Oktober 1994 Journalisten: Heinz Klaus Mertes, Helmut Markwort („Focus"), Kai Diekmann („Bild") Diekm.: Herr Scharping, noch vor knapp einem Jahr lag die SPD in allen Umfragen weit vor der Union, Sie bei vierzig Prozent, die Union bei dreißig. Das Verhältnis hat sich jetzt umgedreht. Was ist in diesen Monaten des Wahlkampfes aus Ihrer Sicht falsch gelaufen? Was haben Sie, was hat die SPD falsch gemacht? Scharp.: Wenn wir im Sommer zusammensäßen, Herr Diekmann, würde ich Ihnen recht geben. Und wir hatten keine gute Zeit zwischen März, also dem Erfolg in Niedersachsen, und der Europawahl. Vorher waren wir überschätzt, danach wurden wir unterschätzt, jetzt hat sich das Bild normalisiert, und die SPD ist sichtbar im Aufwind. Und das finde ich sehr gut so. Diekm.: .Keine gute Zeit' - was für Fehler haben Sie denn gemacht aus Ihrer Sicht? Scharp.: Na ja, es hat manche Fahrlässigkeit gegeben, auch persönliche. Aber das ist ja vorbei, nicht? Wir haben jetzt die SPD stabil. Und das ist für mich das Wichtigere. Diekm.: Trotzdem liegt die Union noch vorne. [...] Diekm.: Mitten in diese Zeit des Bundestagswahlkampfes ist die Büdung der rot-grünen Minderheitsregierung in Sachsen-Anhalt gefallen. Seitdem werden Sie das Thema PDS nicht mehr los. War das im nachhinein nicht doch ein Fehler? Scharp.: Nein, ich finde in Sachsen-Anhalt gab es gar keine andere Möglichkeit, Politik für die Mehrheit der Menschen und zugleich reformerische Politik zu machen. Die CDU verweigert sich ja dort und macht eine Obstruktionspolitik, von der ich behaupte: Das wird sie nach dem 16. Oktober nicht durchhalten. Im übrigen: Der Bundeskanzler reist durchs Land und verleumdet die SPD. Wir werden mit der PDS nicht zusammenarbeiten und tun das ja übrigens auch in Sachsen-Anhalt nicht. [...]

244 Es kommt nicht auf die PDS an. Wenn es aber auf sie nicht ankommt, dann muß man fragen: Wer hat beim verbleibenden Rest die Mehrheit? Und die hat ganz eindeutig Reinhard Höppner und nicht die CDU. Diekm.: Sie versichern landauf, landab, daß Sie für eine Zusammenarbeit in Bonn, für ein Magdeburger Modell in Bonn nicht zur Verfügung stehen. Etliche Parteifreunde sehen das anders. Ihr Parteifreund Egon Bahr beispielsweise sagt: Der Kanzler wird geheim gewählt, und da dürfen die Stimmen der PDS nicht extra gezählt werden. Scharp.: Da hat er erstens etwas Selbstverständliches formuliert und zweitens etwas Unpolitisches. Denn es wird keinen Sozialdemokraten geben, der für das Amt des Bundeskanzlers kandidiert - ich sage ausdrücklich: keinen Sozialdemokraten, der für dieses Amt kandidiert - , wenn es dafür keine klare demokratische Mehrheit gibt. Es wird niemand Bundeskanzler in Deutschland, der in irgendeiner Weise mit der PDS zusammenarbeitet oder gar von ihr abhängig ist.

Anders als tags zuvor sind die journalistischen Fragen an Scharping mit Präsuppositionen aufgeladen, die dieser zunächst abarbeiten muß, um sein Festlegungskonto nicht mit zusätzlichen Negativeinträgen zu belasten. Weil Scharping dem aber nur ausweichende Antworten („keine gute Zeit", „Fahrlässigkeiten") entgegenzusetzen hat, ist es Diekmann möglich, auf der Anfangsunterstellung, Scharping habe Fehler gemacht, zu insistieren; dadurch wirft er ein schlechtes Licht auf Scharpings Leistungen als Wahlkämpfer und damit implizit auf seine Eignung als potentieller Regierungschef.89 Da Scharping auf diese Weise in die Defensive gedrängt wird und es ihm nicht gelingt, eine Selbstdarstellungsinitiative zu ergreifen, bleibt die Thematisierunghoheit bei Diekmann. Auf das Reizthema PDS und den impliziten, von Diekmann immerhin mit Modalpartikeln abgeschwächten Vorwurf („War das im nachhinein nicht doch ein Fehler?") entgegnet Scharping zunächst mit der bereits bekannten Rechtfertigung' („gar keine andere Möglichkeit"). Dann aber kommt er zum eigentlichen Punkt: Die neuerliche Attacke Kohls sei eine .Verleumdung*. Gegenvorwürfe, in denen ein vorausgehender Vorwurf als ,Verleumdung' bezeichnet wird, haben in einer Vorwurf-Vorwurfentgegnungs-Sequenz ähnlich dynamisierende Auswirkungen wie explizite Zurückweisungen. Ein Vorwurf, dessen Inhalt bekanntermaßen nicht den Tatsachen entspricht, der aber ungeachtet dieses Wissens geäußert wird, kann mit Recht als nicht akzeptabel zurückgewiesen werden (vgl. Frilling/König 1991, 27f.). Bei ,Verleumdungsvorwürfen' kommt aber noch etwas hinzu, was aus der aktuellen Kommunikationssequenz hinausweist: Sie können sinnvoll nur in Kommunikationsspielen vor Publikum erhoben werden. Ohne die Anwesenheit Dritter ist es weder möglich, jemanden zu verleumden, noch ist es möglich, einen Verleumdungsvorwurf zu erheben. Das Publikum - und nicht

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Vgl. Radunski (1980,10f.): „Wer Wahlkampf machen kann, kann auch regieren. Wenn es schon nicht ausdrücklich geschrieben wird, so steht es doch oft zwischen den Zeilen vieler Wahlkampfberichte der Massenmedien. Meist wird der Vergleich sogar in verkürzter Form gemacht. Wer als Kandidat eine gute Figur macht, wird das sicher auch als Präsident oder Bundeskanzler tun. "

245 der Kontrahent - entscheidet also darüber, ob ein Vorwurf als verleumderisch zu betrachten ist und auf dessen Urheber zurückfallt oder ob er als akzeptabel einzuschätzen ist und , trifft'. Scharping spielt demnach ein voraussetzungsreiches und außerdem widersprüchlich anmutendes Spiel: Er gebt auf den initialen Vorwurf ein, rechtfertigt die von Kohl inkriminierte Handlung, streitet die Handlung als solche auch keineswegs ab, legt aber dann dem Publikum nahe, der Vorwurf sei Kohl als verleumderische Falschaussage anzukreiden. Bei näherem Hinsehen kann der Verleumdungsvorwurf allerdings nur auf einen einzigen Inhaltsaspekt des initialen Vorwurfs bezogen werden: Daß Scharping für etwaige negative Konsequenzen der Ereignisse in Sachsen-Anhalt verantwortlich gemacht werden könne (vgl. S. 233). Diesem Vorwurfsaspekt tritt er mit der insistierenden Beteuerungen entgegen, seine ,wahren Absichten' zielten in eine andere Richtung („Es wird niemand Bundeskanzler in Deutschland, der in irgendeiner Weise mit der PDS zusammenarbeitet oder gar von ihr abhängig ist."). Der Verleumdungsvorwurf hat dann etwa folgende Stoßrichtung: ,Kohl unterstellt wider besseren Wissens - ich habe es schließlich öffentlich beteuert - , daß ich nicht die wahre Absicht habe, jede Zusammenarbeit mit der PDS zu unterlassen. Kohl verfolgt damit böswillige Absichten, die vom Publikum als Verleumdung zu ahnden sind. Mit seinem Angriff auf meine Glaubwürdigkeit beschädigt Kohl seine eigene Glaubwürdigkeit.' Mit anderen Worten: Scharping wirft Kohl im wesentlichen vor, daß dieser seinen Beteuerungen keinen Glauben schenkt und dies auch öffentlich äußert. Es fallt schwer, diese Entgegnung anders als ,mißglückt' zu bezeichnen. Kohl fallt es denn in der Folge auch nicht schwer, diesen „ziemlich seltsamen Vorwurf" (s.u.) ohne viel Aufhebens abzutun, um sich stattdessen auf den anderen Inhaltsaspekt seiner Vorwurfinitiative (das Vorliegen einer normverletzenden Handlung) zu konzentrieren. Zehn Tage später fand dann erneut, diesmal von der ARD ausgestrahlt, ein Fernduell zwischen Scharping und Kohl statt. Wie die Textausschnitte zeigen, haben beide Kontrahenten ihren Handlungsrepertoires keine neuen Optionen hinzugefügt, so daß der Ritualisierungscharakter deutlich zutage tritt. ARD „Ihre Wahl '94: Der Kandidat", 12. Oktober 1994 Journalisten: Gerhard Fuchs, Nikolaus Brender Fuchs: Herr Scharping, Konfliktthema PDS, Stichwort ,Volksfront/Linksfront'. Sie sagen, im Bund wird es keine Zusammenarbeit mit der PDS geben, und Sie sagten gestern: In Sachsen-Anhalt gibt es auch keine Zusammenarbeit mit der PDS. Kann man sich also doch Magdeburg in Bonn vorstellen? Scharp.: Nein. Überhaupt nicht. Was hier betrieben wird, namentlich von Herrn Kohl, ist eine bewußte Verleumdung. Und das geschieht von einer Partei, die sich die Gefängniswärter - um es mal grob und deutlich zu sagen - selbst einverleibt hat. Da gibt es Leute, die haben dreiundzwanzig Jahre in der Volkskammer der DDR gesessen, die haben für Honecker, Mauer, Stacheldraht und Schießbefehl gestimmt. Und die sichern jetzt der CDU die Mehrheit. Und ich lasse mir von solchen Herrschaften nicht sagen, was Demokratie wert ist, und was Freiheit bedeutet oder Anstand. Von diesen Herrschaften nicht. [...] Brender: Herr Scharping, Sie haben einmal gesagt, unter vierzig Prozent kann man nicht regieren. Warum soll Reinhard Höppner in Sachsen-Anhalt nicht regieren können?

246 Scharp.: Weil im Osten Deutschlands, wie Sie ja alle wissen, die Verhältnisse etwas schwieriger sind. Ich würde sie lieber so wünschen wie in Brandenburg, aber nun ist das nun mal so in Sachsen-Anhalt, und das ist kein Modell. Und ich sage es noch einmal: Ich wehre mich gegen diese bewußte Verleumdung. Es gibt keine Zusammenarbeit mit der PDS, es wird auch keine Zusammenarbeit mit diesen SED-Nachfolgern geben, aus ganz prinzipiellen Gründen. Das weiß Herr Kohl ganz genau. Bemerkenswert an den Textbeiträgen Scharpings ist allerdings, daß er zusätzlich zu den bereits bekannten Rechtfertigungen, Beteuerungen und Verleumdungsvorwürfen erneut auf die Austragungsphase rekurriert, indem er den Lafontaineschen ,Blockflöten'-Vorwurf wiederholt (vgl. S. 238). Damit erweitert er zwar den Adressatenkreis seiner Gegenvorwürfe und hebt sich in den (für einen Herausforderer zweifelhaften) Rang des ,Opfers einer Verleumdungskaxnpagne', aber das grundsätzliche Dilemma bleibt: Kohls Vorwurf wird nicht ausgeräumt, sondern bleibt in der Schwebe. Kohl bleibt in seinem letzten öffentlich-rechtlichen Fernsehauftritt vor der Wahl denn auch nichts anderes zu tun, als Scharpings Glaubwürdigkeit in Sachen PDS nach bereits bekanntem Muster weiter zu unterminieren. Die Journalisten Fuchs und Brender konfrontieren Kohl zwar - anders als zuvor die Kollegen von SAT.l - mit den Entgegnungshandlungen Scharpings, aber die argumentative Schwäche des referierten Verleumdungsvorwurfes macht es ihnen schwer, Kohl andere als die bekannten Äußerungen zu entlocken. Fuchs müht sich redlich („Sie glauben ihm das einfach nicht?"), aber was läßt sich schon dagegen einwenden, wenn Kohl entgegnet: „Nein, ich glaub's nicht."? ARD „Ihre Wahl '94: Der Bundeskanzler", 13. Oktober 1994 Journalisten: Gerhard Fuchs, Nikolaus Brender Fuchs: Herr Bundeskanzler, Stichwort ,PDS'. Die Union strapaziert: .Achtung Volksfront, Achtung Linksfront!' Wie Ihr Herausforderer, Herr Scharping, sagt: Es wird keinen Sozialdemokraten geben, der sich mit den Stimmen der PDS zum Bundeskanzler wählen läßt. Er wirft Ihnen vor, daß Sie ihn und die Sozialdemokraten verleumdet hätten. Kohl: Ja, das ist ein ziemlich seltsamer Vorwurf. Ich bin doch nicht der Erfinder der Sache. Wenn der Herr Scharping bei dem geblieben wäre, was er am Mittwoch vor der Wahl in Sachsen-Anhalt im Juni gesagt hat, gab's doch dieses Thema gar nicht. Ich war einer der wenigen in Bonn, der bis Montagabend nach der Wahl nicht geglaubt hat, daß Herr Scharping eine solche Entscheidung treffen würde. Ich hab's für unmöglich gehalten. Daß jemand Parteivorsitzender der SPD ist, in der Nachfolge von Kurt Schumacher, und geht mit Kommunisten zusammen. Ich empfinde das als völlig inakzeptabel. Und er hat es doch getan. [...] Fuchs: Scharping hat sich wiederholt erklärt, auf wiederholtes Befragen hat er immer gesagt: Mit mir nicht, mit führenden Sozialdemokraten nicht. Sie glauben ihm das einfach nicht? Kohl: Nein, ich glaub's nicht. Und ich bin auch ganz sicher, wenn die Wähler es zulassen würden, daß wir schon in ein paar Tagen das Gegenteil erfahren werden. Als am 16. Oktober die Schlacht schließlich geschlagen war und sich die Kontrahenten zur „Bonner Runde" versammelten, lief das komplexe Handlungsspiel ,Wahlkampf allmählich aus und wurde auf die parlamentarische Bühne transformiert. Nach dem rituellen ,Nachkarten'

247 des WahlkampfVerlaufes ging es ebenso rituell um die neue Machtfiguration und die daraus erwachsenden Bündniskonstellationen. Union und FDP hatten im Bund die Regierangsmehrheit im Bundestag erobert, die SPD in den Ländern die Mehrheit im Bundesrat. Nach dem stark personalisiert gefiihrten .Linksfront'-Konflikt interagierten Kohl und Scharping nun in ihren parlamentarischen Rollen; dabei wurde der Konflikt aber nicht etwa beigelegt und damit zu seinem ,natürlichen' Abschluß gebracht, sondern lediglich ausgesetzt. Die Kontrahenten bewegten sich nun in einem anderen Spiel und schalteten entsprechend auf konsensuelle Kommunikationsformen um, wobei Kohl in bestem Anglo-Pfalzisch („chemistry") erneut die Thematisieningsinitiative ergriff, so daß Scharping wiederum nur ,nachziehen' konnte. ARD/ZDF „Bonner Runde", 16. Oktober 1994 Journalisten: Hartmann von der Tann, Klaus Bresser Bresser: Und wie können Sie mit Rudolf Scharping? Kohl: Er ist jetzt Oppositionsführer. Ich werde das mit Sicherheit nicht so machen, wie, als ich 1976 auch als Ministerpräsident von Mainz hierherkam, mein damaliger Gegenpart, der damalige Bundeskanzler mich als ein quantité negligable betrachtet hat. Ich habe das nie so empfunden, daß man mit einem Oppositionsführer so umgeht. Ich habe ja auch mit den bisherigen Oppositionsführern [...] einen ganz vernünftigen und intensiven Kontakt gehabt. [...] Tann: Bei solchen persönlichen Verhältnissen, hilft da irgendwas, daß Sie sich landsmannschaftlich relativ nahe sind? Kohl: Das kann sein, das braucht nicht zu sein. Die Amerikaner haben ja einen Begriff, der nicht übersetzbar ist ins Deutsche: die chemistry stimmt. [...] Und ich bin auch ganz sicher [...], daß die parlamentarische Schlacht eine Sache ist, und daß man sich zusammensetzt und miteinander vernünftig redet und vielleicht auch mal einen Schluck trinkt, und das halte ich auch für eine denkbare Möglichkeit. Bresser: Werden Sie einen trinken mit dem Bundeskanzler, Herr Scharping, und wie ist die chemistry von Ihrer Seite aus? Scharp.: Wenn er einen guten Rotwein hat, warum sollte ich den ausschlagen. [...] Aber im übrigen wird sich das aus der Sache ergeben, denn die muß im Vordergrund stehen. Ich will nicht den Eindruck erwecken, als würde man gewissermaßen im Bundestag die Schlachten fürs Publikum schlagen und dann hinter der Kulisse die wirklichen Entscheidungen treffen. Daß der ,LinksfTont'-Konflikt bis in die Gegenwart keineswegs beigelegt ist, wird vielleicht am deutlichsten an einer Auseinandersetzung, die im Jahr 1996 geführt wurde, und zwar diesmal innerhalb der Union. „Die schwarzen Socken" - diese Überschrift trug ein Dossier der „Zeit" vom 23. Februar 1996, in dem über ein politisches Strategiekonzept des ostdeutschen CDU-Politikers Eckhardt Rehberg und die Reaktionen Helmut Kohls berichtet wurde: ,Identitätsgewinn im Aufbau Ost*. Auf dem Papier steht viel Hehres über große Werte wie Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit und allerlei Praktisches, das geeignet wäre, die Alltagsarbeit einer jeden politischen Partei zu verbessern. Nichts, was jemanden veranlassen könnte, zum Telephon zu greifen und hineinzubrüllen. Der Parteivorsitzende Helmut Kohl tat es dennoch. Er mißverstand Rehbergs Elaborat als Gefahr aus dem Osten für die Christenunion. Dem Kanzler der Einheit und seinem Generalsekretär Peter Hintze muß die schlichte Erwähnung der Wörter .Identität' und ,Ost' in einer Zeüe wie ein Akt der Sezession vorgekommen sein. Dabei

248 wollte Rehberg gar nicht aufmucken, sondern lediglich dem bösen Feind PDS, der die Ostidentität zum Parteiprogramm erklärt hat und damit nachhaltige Stimmerfolge feiert, ein paar Wähler abspenstig machen. („Zeit" vom 23. Februar 1996)

Daß in der Union nicht der leiseste Zweifel daran aufkommen darf, es könne auf Länder- oder Bundesebene zu einer Annäherung zwischen Union und PDS kommen, deutet darauf hin, daß dieses Wahlkampfpulver nicht naß werden soll. Kohl will offenbar seine Berechtigung, der SPD entsprechende Vorwürfe zu machen, unter keinen Umständen gefährden. Dies aber bedeutet wohl: Der ,Linksfront'-Konflikt harrt 1998 einer Neuauflage.

5. Eine Skizze kommunikativer Konfliktkompetenzen im Wahlkampf am Beispiel ausgewählter Wahlkampfakteure

Was muß ein Politiker können, um im politischen Geschäft kommunikativ erfolgreich zu sein? Richard von Weizsäcker hat das, worauf es in der politischen Praxis ankomme, einmal folgendermaßen pointiert: „Bei uns ist ein Berufspolitiker im allgemeinen weder ein Fachmann noch ein Dilettant, sondern ein Generalist mit dem Spezialwissen, wie man politische Gegner bekämpft." (1992, 150) Dieses Spezialwissen ist allerdings nur schwer zu lokalisieren. Im Wahlkampf, der zentralen Arena parteipolitischer Konflikte, sind es nämlich niemals Einzelpersonen, bei denen alle Komponenten einer kommunikativen Konfliktkompetenz anzutreffen wären. Der Wahlkampf einer Partei ist ein komplexes Mannschaftsspiel, in dem es auf unterschiedliche Mannschaftsteile mit bestimmten Spezialkompetenzen, vor allem aber auf deren reibungslose Koordination ankommt. Da ein gelungenes Zusammenspiel zwischen der Hintermannschaft und den ,Stars' einer Partei ein unhintergehbarer und zudem fortlaufender rekursiver Prozeß ist, kann als übergeordnetes Kriterium für die Zuschreibung kollektiver Konfliktkompetenzen die strategische Konsistenz des Mannschaftsverhaltens angenommen weiden (vgl. S. 182). Dies betrifft sowohl die parteiinternen Abstimmungsleistungen als auch die publikumsorientierte Außendarstellung der Partei, wobei selbstverständlich in Rechnung gestellt wird, daß unter bestimmten Umständen strategische Anpassungen an einen neuen Spielstand erforderlich sind. Dessen ungeachtet ist es ein Indiz für die ausgeprägte Konfliktkompetenz einer Partei, wenn sie in der internen wie in der externen Kommunikation strategische Konsistenz erkennen läßt. Die Grundlage für den hier verwendeten Kompetenzbegriff ist das analytische Konzept der Kommunikationsstrategie. Dieses Konzept besagt, daß die Konfliktakteure ihr kommunikatives Handeln nach Handlungsplänen organisieren, die gewissermaßen eine Brücke zwischen den Interessen der jeweiligen Partei und den schließlich unter Erfolgskalkül ausgewählten sprachli-

249 chen Handlungsmitteln darstellen. Das Konfliktverhalten einer Partei und ihrer Akteure ist insofern als strategisch zu bezeichnen, als sie - empirisch nachweisbar - ihre kommunikativen Einzelhandlungen in Entscheidungssituationen a) nach Maßgabe ihrer politischen Interessen, b) in Einschätzung der kontextuellen Bedingungen und c) gemäß den Annahmen über mögliche Reaktionen des Gegners planen, aufeinander abstimmen und schließlich der Öffentlichkeit präsentieren. Die Kommunikationsstrategien einer Partei im Wahlkampf sind demnach Organisationsmuster zur Planung, Abstimmung und Durchführung langfristiger Kommunikationsvoihaben; als Handlungsmuster höherer Ordnung konstituieren sie die kollektive Konfliktkompetenz einer Partei. Eine Kommunikationsstrategie kann natürlich auch dann, wenn sie von der gesamten Mannschaft einer Partei konsequent verfolgt wird, dennoch eine schlechte Strategie sein. Eine gute Strategie läßt sich danach bemessen, „ob sie in Abhängigkeit von der Strategiewahl des Partners einen als gut bewerteten Ausgang erbringt" (Fritz 1982, 59). Im Wahlkampf sind die .Berechnungsgrundlagen' dafür, was als guter Ausgang und somit als eigenes Interesse zu gelten hat (a), vollkommen klar; es geht darum, eine möglichst hohe Anzahl von Wählerstimmen zu erlangen. Weniger klar ist schon, wie die kontextuellen Bedingungen, z.B. die Politikdarstellung in den Medien, einzuschätzen sind (b). Und ziemlich unklar ist schließlich, welche Strategien die Konkurrenten wohl auswählen und wie sie auf das eigene kommunikative Handeln reagieren werden (c). Ungeachtet dieser Unwägbarkeiten, die mit jeder neuen politischen Entwicklung variieren können, gibt es dennoch eine konstante und notwendige Voraussetzung für kompetentes strategisches Handeln: In der Partei muß ein zumindest rudimentäres Bewußtsein darüber existieren, daß die Kommunikationsspiele im Wahlkampf eine Fülle von alternativen Handlungsoptionen eröffnen. In einer extensiven Form lassen sich diese Handlungsoptionen oder ,Wahlkampfbausteine' als Zweige in einem Spielbaum darstellen. Je nachdem, wie weit das einzelne (interne oder externe) Kommunikationsspiel fortgeschritten ist, welcher Entscheidungspunkt im Spielbaum bereits erreicht ist und welche Form des Umgangs mit diesen Wahlkampfbausteinen beschrieben werden soll, können unterschiedliche Strategie-Ebenen und Kompetenzsegmente unterschieden werden: - Auf der Dramaturgie-Ebene steht die Auswahl und makrosequentielle Kombination der Wahlkampfbausteine zur Disposition. In Abhängigkeit von den jeweils aktuellen politischen Strategiekonstellationen legen sich die Planungsteams der Parteien bereits weit im Vorfeld der Wahl auf die strategischen .Grundlinien' des bevorstehenden Wahlkampfes fest. Grundsätzlich kann dabei zwischen Selbstdarstellungs- und Diskreditierungsstrategien unterschieden werden, wobei,reine' Formen eher die Ausnahme, Mischkonzepte dagegen eher die Regel sind. Kriterien für analytische Urteile über die dramaturgischen Kompetenzen einer Partei sind erstens eine situationsadäquate Risiko-Kalkulation bezüglich des

250 mutmaßlichen Wählerverhaltens, zweitens die Aktualisierung entsprechender Erfahrungswerte, wie sie sich in .strategischen Maximen' niederschlagen, und drittens eine wählerorientierte Rollenbesetzung. In Konfliktsituationen ist unter den Vorzeichen einer auf ,Gewinnertypen' bedachten Mediendemokratie von Belang, ob es im Kommunikationsverlauf gelingt, die Rolle des Angreifers zu übernehmen. - Auf der Textualisierungsebene geht es darum, die ausgewählten Wahlkampfbausteine entsprechend den dramaturgischen Vorgaben und dem aktuellen Wahlkampfstand sprachlich so aufzubereiten, daß sie den Wählern verständlich sind, d.h. von diesen als regelgerechte Handlungen in einem konventionellen Sequenzmuster (etwa ,Vorwurf-Vorwurfsentgegnung') interpretiert werden können. Beim Urteil der Wähler darüber, welcher der Kontrahenten in einem konkreten Konfliktereignis letztlich einen Punktgewinn davonträgt, zählt gewöhnlich weniger, wer ,im Recht' ist, als vielmehr die subjektive Einschätzung, wer das Sequenzmuster routinierter beherrscht.90 Dabei können stilistische Kriterien auf syntaktischer, semantischer und pragmatischer Ebene (nicht selten auch auf allen Ebenen gleichzeitig; vgl. Sandig 1989) den Ausschlag geben. -

Auf der Inszenierungsebene werden parteipolitische Entscheidungen hinsichtlich der audiovisuellen Präsentation und Aufmachung der Wahlkampfbausteine gefällt. Diese Entscheidungen umfassen u.a. die Auswahl der Darstellungsmedien und Veranstaltungsformen, die Vorbereitung der Wahlkampfakteure entsprechend ihrer individuellen Präsentationsstile und die äußerlichen Requisiten eines homogenen öffentlichen Erscheinungsbildes. Kompetenzurteile auf der Inszenierungsebene sind bedeutend stärker als diejenigen auf der Dramaturgie- und der Textualisierungsebene - von höchst wechselhaften ästhetischen Geschmackskonjunkturen abhängig, die überdies nicht primär im politischen Raum, sondern vorwiegend in der Unterhaltungsindustrie verankert sind. Trotzdem prägen sie maßgeblich die öffentliche Politikwahrnehmung und werden daher von den Parteien in ihre strategischen Erwägungen mit einbezogen.

Die Unterscheidung dieser Ebenen ist - da Strategiezuschreibungen per se den Status von ,Interpretationskonstrukten' im Sinne Lenks (1978 und 1995) haben - rein analytischer Natur; in der Praxis der politischen Kommunikation sind mannigfaltige Überschneidungen zu beobachten. Dennoch: Die vorgeschlagene Differenzierung ermöglicht es, intuitiv wahrgenommene Konsistenzen oder Inkonsistenzen in der Außendarstellung der Parteien auf intern

90

Vgl. Fritz (1982, 65): „Die entscheidenden strategischen Fähigkeiten bestehen [...] nicht darin, daß man passende Maximen kennt und bei Bedarf aufsagen kann [...], sondern darin, daß man im Ernstfall die besten Züge kennt und machen kann. Und das ist vor allem auch eine Frage der Routine. "

251 getroffene Strategieentscheidungen zurückzuführen und insofern zu einer erklärungsadäcpmttn Analyse der parteipolitischen Konfliktkommunikation beizutragen. Wie die Strategie-Ebenen in der Wahlkampfpraxis gewichtet werden können, und welche Interdependenzen sie aufweisen können, soll abschließend am Konfliktverhalten ausgewählter Akteure im Fernsehwahlkampf, der heißen Phase des Wahlkampfes, demonstriert werden. Wolfgang Thierse, Helmut Kohl und Joschka Fischer sind deshalb ausgewählt worden, weil ihr Kommunikationsverhalten jeweils als stilprägend bezeichnet werden kann. Daß diese Stile auch theoretisch kaum heterogener konstruiert werden könnten, ist ein Beleg dafür, wie dynamisch der „Wirklichkeitsgenerator sui generis" (Merten/Schmidt/Weischenberg, Hrsg. 1994, 1) des politischen Medienmarktes verfaßt ist und welche vielfaltigen strategischen Verhaltensweisen er hervorbringt. Doch nota bene: Hinter den politischen Akteuren auf der Fernsehbühne stehen Wahlkampfmannschaften, die Auftritte der .Stars' haben eine kommunikative Vorgeschichte, und der sichtbare Kommunikationsausschnitt ist lediglich eine von den Scheinwerfern der Öffentlichkeit beleuchtete Momentaufnahme.

5.1 Wolfgang Thierse - der Nachzügler Wolfgang Thierse ist Kulturwissenschaftler, stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion, stellvertretender Vorsitzender der Gesamtpartei und Ostdeutscher. An ihm sind aus machtpolitischer Perspektive zwei Dinge bemerkenswert: Erstens ist er der einzige Ostdeutsche, der seit der Vereinigung durchgängig bundespolitische Spitzenämter bekleidete. Und zweitens ist er wohl der einzige deutsche Politiker, der sich in diesen Positionen unwohl fühlt: Es hilft nichts, ich habe mir einzugestehen, daß ich die Rolle gewechselt habe. Vom problematisierenden Beobachter bin ich zum problematischen Akteur geworden. Ich gehöre zur politischen Kaste, ohne mich bisher daran gewöhnen zu können und zu wollen. (Thierse 1992, 236f.)

Thierses Rolle im Fernsehwahlkampf wird hier mit dem Begriff „Nachzügler" bezeichnet. Diese Charakterisierung ist nicht abschätzig gemeint, sondern bezieht sich auf die strategische Ebene der Parteiendramaturgie. Thierse scheint parteiintern und in der medialen Außendarstellung in allererster Linie auf die Präsentation .problematisierender' und ,tranparenzbezogener' bzw. .reflexiver' Wahlkampfbausteine abonniert zu sein, auf solche Handlungsoptionen also, die im Zugschema des Basissprachspiels .multilaterale Verhandlung um politische Angebote und Mandate' an zweiter und dritter Zugposition zu lokalisieren sind (vgl. S. 127, Abb. 8). Dies ist die eine, kommunikative Lesart der Charakterisierung ,Nachzügler'. Die andere, politische Lesart soll hier nicht weiter erörtert werden. Um zu einer Beurteilung der politischen Kompetenz Thierses zu gelangen, mag es ausreichen, erneut ihn selbst zu zitieren:

252 Vielleicht ist es also das, was wir - Ossis, Neupolitiker, Altmoralisten - begreifen müssen, was ich lernen muß: das Realisierbare zu schätzen (gegen den Überhang des Utopischen, dem wir angehangen haben), die politischen Techniken von Strategie und Taktik (eine Relation, die wir in ihrer leninistischen Perversion gehaßt haben) nicht mehr zu verabscheuen, in die .Sachen' sich zu vertiefen, die Träume zu erden, bei den Eigeninteressen anzuknüpfen, überhaupt Politik als Interessenausgleich zu verstehen... - und dabei doch tatenlose Gesinnung nun nicht gegen gesinnungslose Tat auszuwechseln! (1992, 239) Hält man sich die Wahlkampfdramaturgie der SPD erneut vor Augen (vgl. S. 194-199), so fällt auf, daß Thierse, wie überhaupt die ostdeutschen Politiker, darin so gut wie keine Rolle spielt. Thierse gehört zwar zum Schattenkabinett Scharpings, aber im Fernsehwahlkampf werden bevorzugt Westdeutsche aufgeboten. So kommen etwa in den vom ZDF ausgestrahlten ,Nachtduellen' Oskar Lafontaine (Wirtschaft und Finanzen), Günter Verheugen (Außenpolitik), Rudolf Dreßler (Arbeitspolitik) und Henning Voscherau (Über den Wahlkampf hinaus) zum Zuge. Auch die Reaktionen auf die ,Linksfront'-Kampagne der Union werden nicht etwa von demjenigen vorgetragen, der sich im Wahlbezirk Berlin Mitte/Prenzlauer Berg akut mit der PDS und deren Kandidat Stefan Heym auseinanderzusetzen hatte, sondern von den ,Troikanern' Scharping und Lafontaine. Es fallt daher gar nicht leicht, Beispiele für das mediale Kommunikationsverhalten Wolfgang Thierses zu finden. Eine Ausnahme ist die ZDFSondersendung „Wahl '94: Deutschland wohin?", die am ,Tag der deutschen Einheit' ausgestrahlt wurde. Dies war die einzige Wahlsendung überhaupt, in der mehr ost- als westdeutsche Politiker auftraten (vgl. das ausführlichere Transkript im Anhang): ZDF „Wahl '94: Deutschland wohin?", 3. Oktober 1994 Politiker: Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP), Angela Merkel (CDU), Marianne Birthler (Bündnis 90/Die Grünen), Wolfgang Thierse (SPD), Gregor Gysi (PDS), Michael Glos (CSU) Journalistin: Barbara Friedrichs Friedr.: Herr Thierse, ,der Westen hat geholfen' oder ,der Westen wußte besser'? Was ist Ihre Bilanz? Thierse: Sicher gilt beides. Am Tag der deutschen Einheit muß man zunächst sagen: Der staatliche Rahmen ist da. Das ist gut so. Wir haben politische Freiheiten, die viele Ostdeutsche lange ersehnt haben. Das ist Anlaß - auch immer noch - für ein Glücksempfinden. Aber [...] die inhaltliche, die gesellschaftliche, die soziale, die emotionale Füllung, die ist sehr problematisch. Und das hat sicher mit vierzigjähriger Vorgeschichte zu tun, aber auch mit fundamentalen Fehlern der letzten vier Jahre. Ich nenne den schlimmsten: Rückgabe vor Entschädigung. Das ist ein Grundfehler gewesen, weil damit bei Investoren Unsicherheit erzeugt worden ist, bei vielen Ostdeutschen... ihre kleinen Datschen und Grundstücke... Friedr. : Aber Sie haben da mit zugestimmt, Herr Thierse... Thierse: Moment mal. Ich will ausdrücklich sagen: Dieser Grundsatz ist fatal. Wir müssen ihn ändern. Wir müssen ihn ändern überall da, wo Praxis das erlaubt in den Entscheidungen, wo Investitionen und ostdeutsche Nutzerinteressen und Nutzerrechte geschützt werden müssen, besser als bisher. Zweitens: Die Treuhandanstalt hat eine falsche Privatisierungspolitik verfolgt. Sie hat eben nicht genug Zeit und Chance genutzt für wirkliche Sanierung ostdeutscher Unternehmen. Und drittens, das muß man auch ausdrücklich noch sagen: Die Anerkennung der Ostdeutschen mit ihren Lebenserfahrungen und Lebensleistungen, beruflichen Erfahrungen - ich glaube, das ist vielleicht das, was am meisten wehtut: Die hat noch nicht geklappt. Denn schulterklopfende Ermunterung: ,Seid selbstbewußt', die

253 hilft nicht. Sondern: Die Ostdeutschen müssen die Erfahrung machen, daß ihre Interessen und ihre Rechte genau so viel zählen wie die Interessen und die Rechte der Westdeutschen. Und da hapert es vor allem, wenn ich an das Rentenproblem denke, wenn ich an die Anerkennung von Berufsabschlüssen denke, wenn ich an den Umgang mit Datschen und Grundstücken denke oder an das Problem mit den Wohnungen. Da ist in den vergangenen Jahren soviel Unsicherheit, soviel Angst produziert worden - nicht eingebildete, sondern begründete Angst. Wenn es nicht gelingt... Friedr.: Herr Thierse... Thierse: ...in den nächsten Jahren dies wirklich zu ändern, dann wird die emotionale Spaltung in Deutschland ziemlich tief bleiben. Friedr.: Herr Thierse, Sie kommen wieder dran. [...] Merkel: Ich finde es sehr gut, daß die Sozialhilfe in den neuen Bundesländern fast so hoch ist wie in den alten Bundesländern. Darf ich noch ganz kurz sagen zu den Kinderkrippen... Friedr.: Frau Merkel, wir kommen noch zu den Kinderkrippen. Merkel: .. .ein Wort... Friedr.: Wir sind gleich im sozialen Bereich. Herr Thierse wollte aber gerne dazu was sagen. Thierse: Das hört sich sehr schön an. Aber zugleich haben wir doch Pläne von den Regierungsparteien gehört, namentlich von der CDU und CSU, die Arbeitslosenunterstützung zu kürzen. Wer solche Art Vorschläge macht, muß wissen, daß er diese Gesellschaft entsolidarisiert und daß er dazu beiträgt, daß gerade wieder bei den Schwächsten, bei den Schwächsten abkassieren will und dort sparen will, und das halte ich für nicht verantwortlich. [Applaus]

Auch auf der Textualisienmgsebene wird deutlich, daß Thierse seine eigene Rolle nicht als parteipolitisch taktierender Wahlkämpfer, sondern als eine Art überparteilicher Wortführer des Ostens sieht. Die Aufwärmfrage von Friedrichs nimmt Thierse - anders als später etwa Gysi - nicht zum Anlaß, die Regierungsparteien zu diskreditieren oder Selbstdarstellung zu betreiben, sondern er bestreitet die Adäquatheit der politischen Angebote aller Parteien, inklusive seiner eigenen („fundamentale Fehler"). Friedrichs' diesbezügliche Intervention („Aber Sie haben da mit zugestimmt, Herr Thierse... ") hindert ihn nicht, in dieser g&yetoc/îû/fopolitischen Negativbilanz fortzufahren (Treuhand, Anerkennimg der Ostdeutschen). Thierses Textualisierungsstil ist als ,depersonalisiert' zu bezeichnen: Abgesehen von selbstreferentiellen Aussagen überwiegen personaldeiktisch unmarkierte Äußerungsformen wie deontische Hinweise („Wir müssen ihn ändern"), Passivkonstruktionen („Da ist Angst produziert worden") und unpersönliche Relativpronomina („Wer solche Art Vorschläge macht"). In diesem letzten Fall wäre es möglich gewesen, den Vorwurf der Verantwortungslosigkeit - „namentlich von der CDU und CSU" - direkt an die anwesenden Vertreter der genannten Parteien, Merkel und Glos, zu adressieren. Doch Thierse scheut davor zurück, persönliche Angriffe zu unternehmen, und präsentiert sich stattdessen - im Gegensatz zu seiner Selbstkategorisierung (s.o.) - eher als „problematisierender Beobachter" denn als „problematischer Akteur". So verwundert es auch nicht, daß Thierse sich bereits zu Beginn des Wahlkampfes, in einem programmatischen

254 Beitrag vom 15. April 1994, kritisch zu dem dramaturgischen und inszenatorischen Treiben aller Parteien äußert und für bestimmte Formen der Parteiverdrossenheit nicht nur Verständnis, sondern auch Sympathie aufbringt: Mir ist das etwas andere, pragmatischere Politikverständnis, das bei manchem angeblich Politikverdrossenen zum Ausdruck kommt, durchaus sympathisch: die Vorstellung nämlich, Parteien könnten doch die Propagandaschlacht um die Stimmenmaximierung ein wenig zurücknehmen zugunsten eines Wettbewerbs um die besten Ideen, eines Diskurses zwischen Regierung und Opposition im Interesse optimaler Problemlösung. Nur eines wird sich dadurch nicht ändern: der Umstand, daß wir miteinander streiten. Das muß sein. (Thierse 1994, 16)

Man darf vielleicht feststellen, daß Thierse auf dem Marktplatz der Politik nicht gerade durch Marketender-Qualitäten auflallt. Eher kommt dem Betrachter das Bild eines Wareninspekteurs in den Sinn, der, da er die Verkauftricks der Händler nicht verhindern kann, doch zumindest die Qualität der Waren garantieren möchte. Das Problem dabei ist, daß keiner der Marktgänger auf die Idee käme, beim Inspekteur um Waren nachzufragen, und nur wenige, dem Inspekteur für seine Tätigkeit im Verborgenen dankbar zu sein. Daß Thierse bei den Medieninszenierungen seiner Partei nicht in der ersten Reihe steht, dürfte eine von Thierse selbst und der SPD-Wahlkampfmannschaft akzeptierte Übereinkunft sein.

5 . 2 Helmut Kohl - der Themenmanager Ganz anders verhält es sich mit Helmut Kohl. Kohl ist der unumstrittene Medienstar der Unionsparteien. In Personalunion stellt er sowohl die ,Ware' als auch den ,Chefverkäufer' dar: Die CDU hat ihre Werbemittel stark auf die Person des Bundeskanzlers zugeschnitten. Zwei von drei zentralen Großflächenplakaten zeigten den Parteivorsitzenden, einmal sogar ohne jeden weiteren Text: Die Person selbst war die Botschaft, die keiner weiteren Erklärung bedurfte - die im übrigen zugleich für eine klare programmatische Ausrichtung stand. Ebenso konzentrierte sich ein Teil der TV-Spots ganz auf den Kanzler; erstmals wurden Spots produziert, in denen sich der Spitzenkandidat direkt an die Wählerinnen und Wähler wandte. Eine bundesweit geschaltete, großformatige Anzeige mit einem Brief des Kanzlers ergänzte in der letzten Woche des Wahlkampfes diese Maßnahme. [...] Helmut Kohl, seine Erfahrung, Tatkraft und sein internationales Ansehen wurden zum entscheidenden Vorteil in der Wahlauseinandersetzung. (Bericht der Bundesgeschäftsstelle. Anlage zum Bericht des Generalsekretärs. 6. Parteitag der CDU Deutschlands, 28. November 1994. Bonn. S. 13)

Diese (Über-)Dominanz Kohls auf der Ebene der parteipolitischen Dramaturgie setzt sich fort auf der Textualisierungs- und der Inszenierungsebene, obwohl dort - in Form von Journalisten und Kontrahenten - weitere Akteure ins Spiel kommen. Die Medienpräsentation des Wahlkampfbausteins ,Kohl' durch den Wahlkämpfer Kohl folgt offenbar seit Jahren denselben Mustern. So berichtet Holly (1993) über Kohls Interviewtechnik im Jahr 1991:

255 Kohl schafft es durch ständige Angriffe auf den Neutralitätsanspruch des Interviewers, ein Klima zu schaffen, in dem es möglich ist, auch das Organisationsmonopol des Interviewers in Frage zu stellen. [...] Wenn der Interviewer seinen Neutralitätsanspruch nicht aufrechterhalten kann, gibt es keinen Grund mehr, ihn in der Frage der Gesprächsführung zu privilegieren. Er ist eine von zwei Parteien, die nach den Regeln eines Streitgesprächs ums Wort und um die bessere Position kämpfen. (1993, 189)

Im Fernsehwahlkampf 1994 läßt Kohl in Fortsetzung dieser Tradition so gut wie keine geladene Frageeinleitung oder Frage eines Journalisten unwidersprochen stehen, sondern er unterbricht, stellt richtig, tadelt, belehrt, wird persönlich oder unwirsch. Im Wissen und im Bemühen um sein personales Prestige beherzigt Kohl uneingeschränkt die von Fritz/Hundsnurscher (1975, 96) eruierte strategische Maxime, die zum Zweck der Vermeidung von Prestigeverlust anzuwenden sei: „Dabei sind also ,gute Züge' solche, die keine (oder nur möglichst schwierige) Gegenzüge [...] zulassen." Eine überaus erfolgreiche Methode zur Umsetzung einer solchen Textualisierungsstrategie ist bereits oben als .historisierendes Themenmanagement' erwähnt worden (vgl. S. 242f.). Nach der bei Kohl obligaten gesprächsorganisierenden Einleitung „Also, zunächst einmal..." holt er mit Vorliebe zu autobiographischen Digressionen aus, die stets einen Themenwechsel initiieren und nicht selten dem Zweck dienen, den fragenden Journalisten auf ein ihm unbekanntes historisches Terrain zu locken. Da schon das Gebot der Höflichkeit Versuchen entgegensteht, Kohl in diesen Erzählpassagen zu unterbrechen, haben Journalisten nur die Möglichkeit, immer wieder auf ihrer Eingangsfrage zu insistieren. Dies birgt freilich die Gefahr, daß die Gesprächsdynamik abreißt und der Unterhaltungswert des Gespräches geschmälert wird. Dieses Risiko aber geht kaum ein Journalist ein, zumal Kohl in der Regel den längeren Atem hat. Um diesem strategischen Dilemma zu entgehen, erprobte Nikolaus Brender drei Tage vor der Wahl eine interessante Variante der Frageeinleitung. Um Kohls Vorwurfsberechtigung in Sachen PDS zu problematisieren, seiner Frage eine entsprechende Ladung zu verleihen und diese auch bei Kohl durchzubringen, begann er, Brender, mit der Historisierung: ARD „Ihre Wahl '94: Der Bundeskanzler", 13. Oktober 1994 Journalisten: Gerhard Fuchs, Nikolaus Brender Brender: Herr Bundeskanzler, diese Abscheu... Sie sind selbst Historiker und wissen, daß am Neuanfang dieser Republik 1947 einer Ihrer Vorgänger als Ministerpräsident, nämlich Peter Altmeier, in Rheinland-Pfalz zusammen mit kommunistischen Ministem eine Regierung gebildet hat. Als Neuanfang, um etwas Neues zu schaffen. Ist auch in diesem Bereich, zumindest auf Landesebene, auch mit der PDS eine ähnliche Kooperation, eine ähnliche Politik überhaupt möglich? Kohl: Also, zunächst einmal muß ich den Historiker in Ihnen berichtigen. In Rheinland-Pfalz war das eine Zusammensetzung, die die Militärregierung verfügt hat. [...] Mir geht es doch nicht darum, wenn das der Hintergrund Ihrer Frage war... Ich will doch nicht die Wähler bekämpfen oder denunzieren - um es mal härter auszudrücken - der PDS, übrigens auch nicht bei den Republikanern. Ich habe immer die Funktion einer demokratischen Partei so verstanden, daß [...] wir diese Wähler zurückholen.

256 Es war sicherlich unklug, Kohl ausgerechnet mit einem historischen Thema überraschen zu wollen, über das dieser promoviert hatte, aber es steht zu vermuten, daß diese Form historisierender Frageeinleitungen unter Journalisten Schule machen wird, um Kohls hermetisches Interviewverhalten aufzubrechen. Fraglich bleibt aber, ob dadurch der tagespolitische Informativitätsgehalt der Interviews erhöht werden kann oder ob die Interviews den Charakter privater Geschichtsstunden annehmen werden. Es ist mittlerweile hinreichend ermittelt worden, daß Kohl das „Organisationsmonopol des Interviewers in Frage stellt" (Holly 1993, 189) und „den Journalisten allerhöchstens noch als Stichwortgeber benötigt und akzeptiert" (Bucher 1993, 102). Doch es schließt sich die folgende Frage an: Wenn Kohl das journalistische Organisationsmonopol in gesprächsorganisatorischer wie thematischer Hinsicht destruiert oder übernommen hat, wohin versucht er dann das Gespräch zu lenken? Die Antwort lautet: Er lenkt es auf solche Themen, die ihm erlauben, das Kontinuitätskriterium auszuspielen, und zwar sowohl zu Zwecken der Diskreditierung von Gegnern (erstes Beispiel) als auch zu Zwecken der Eigenwerbung (zweites Beispiel). SAT.l „Wer soll regieren? Streitfragen an Helmut Kohl", 3. Oktober 1994 aus Mödlareuth Journalisten: Heinz Klaus Mettes, Georgia Tornow („Berliner Zeitung"), Hans-Hermann Tiedje („Tango") Tornow: Ist es denn wirklich nötig, daß man rechts und links in dieser Frage ,Die Radikalen von beiden Seiten'... Kohl: Ja natürlich! Tornow: ...immer so zusammennimmt? Ist das mit ein konstituierendes Merkmal dafür, daß die CDU in der Mitte steht? Kohl: Nein, das hat damit gar nichts zu tun, sondern mit der Geschichte, Entschuldigung. Das ist ja nun erwiesen: Radikale von rechts und links haben die Weimarer Republik, da gab's die CDU gar nicht, zerstört. [...] Die waren nie in der Sache positiv beisammen, aber im Zerstören, und im Zerstören sind Neonazis und Kommunisten heute genauso zusammen. Tornow: Aber die Geschichte wiederholt sich so nicht. Kohl: Aber natürlich wiederholt sich Geschichte - in diesem Punkt, weil die beiden ja auch nichts dazugelernt haben. ARD „Ihre Wahl '94: Der Bundeskanzler", 13. Oktober 1994 Journalisten: Gerhard Fuchs, Nikolaus Brender Fuchs: Herr Bundeskanzler, ,Machtmaschine', ,Bürgerking', .Bürger Bismarck': Attribute, die man Ihnen verliehen hat. Ärgern Sie die eher oder ehren Sie diese Attribute? Kohl: Die ärgern mich nicht, und die ehren mich nicht. Die sind mir ziemlich gleichgültig. Weil ich seit Jahrzehnten damit leben muß, daß irgendjemand mir Etiketten anhängt. [...] An einem Tag heißt es, ich sitz Probleme aus, am anderen Tag heißt es, ich sei ein Machtmensch und würde niemanden fragen, ich würde meine Autorität brutal ausspielen. Am einen Tag heißt es, ich verstehe nichts von Innenpolitik, am anderen Tag heißt es, ich verstehe nichts von der Außenpolitik. Wissen Sie, ich sag das ganz einfach so, wie ich's empfinde: Ich habe mich früher darüber geärgert, daß ich chronisch unterschätzt wurde, inzwischen habe ich mich daran gewöhnt, und jetzt sag ich sogar: ich bin chronisch überschätzt.

257 Weil es kaum eine Station im Werdegang eines bundesrepublikanischen Politikers gibt, die Kohl noch nicht durchlaufen hat, fallt es Journalisten außerordentlich schwer, dem Themenmanager Kohl politische Festlegungen zu entlocken, deren Tragweite er nicht überschauen kann und deren Buchung auf seinem Festlegungskonto gegen seinen Willen geschehen könnte. Da Kohl mit dem Kontinuitätsargument, wie das abschließende Beispiel zeigt, sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft verweist, dürfte sich diese für Journalisten - und seine Konkurrenten - frustrierende Situation erst dann ändern, wenn Kohl in Rente geht. ARD „Ihre Wahl '94: Der Bundeskanzler", 13. Oktober 1994 Journalisten: Gerhard Fuchs, Nikolaus Brender Brenden Hören Sie auf, weil Sie nicht ein Mann für die Zukunft sind? Joschka Fischer sagt: Ein Mann der Vergangenheit. Rudolf Scharping: Ein Mann, der keine Vorstellung von der Zukunft hat, der die Menschen nur noch .ameisenhaft' wahrnimmt. Ist das der Grund vielleicht, daß Sie sagen: Ich bin nicht mehr der Mann für die Zukunft? Kohl: Also, zunächst einmal sind, glaube ich, die beiden Zitate passend zu dem, was Ihr Kollege gerade eben gesagt hat [s.o.; G.W.], und insofern habe ich diesen Teil der Frage beantwortet. Das ist allerdings blühender Unsinn. Um es einmal knapp zu sagen: Wer hat mehr für die Zukunft getan in den letzten Jahren. Die genannten Herren sowieso nicht. Aber wer sonst? Brender: Die haben doch keine Chance gehabt. Kohl: Doch, aber sie haben doch nie eine Vision entwickelt. Sie werden doch nicht sagen können, daß diese Vision, die wir jetzt als Regierungsprogramm Rot-Grün sehen, Vision ist. Vision für mich ist, daß wir Freiheit und Frieden in Europa garantieren. Brender: Das sind erstmal Schlagworte, nicht? Kohl: Das sind gar keine Schlagworte. Das ist das Wort vom Bau des Hauses Europa. Und es gibt niemanden unter den Lebenden in Deutschland, der mehr dafür getan hat. Als ich ins Amt kam war Europa out. [...] Die Verbesserung des Standorts Deutschland, um ein innenpolitisches Thema anzusprechen, ist doch mein Thema. Ich hab's doch in diesen letzten zwei Jahren nach vorne gebracht, ja manchmal nach vorne gepeitscht. [...] Ich habe mit Sicherheit kein Problem mit Zukunftsvisionen, zumal ein Teil meiner Zukunftsvisionen ja auch in Erfüllung gegangen ist wie die deutsche Einheit.

5.3 Joschka Fischer - der mit den Spielregeln spielt Joschka Fischer hatte in der Wahlkampfdramaturgie von Bündnis 90/Die Grünen eine so exponierte Stellung, wie sie wenige Jahre zuvor noch undenkbar gewesen wäre.91 Aber - wie Heide Platen in der „taz" vom 6. Oktober 1994 schreibt: „Ein Glück, meinen auch die Ostgrünen, daß es Joschka Fischer gibt. Der hat in Thüringen parteiübergreifende Fan-Clubs. Alle lieben ihn, vom Damenkränzchen bis zum autonomen Frauenhaus." Der so Gelobte war

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Vgl. Raschke (1993, 753): „Die wenigen grünen Politiker, die ,in die Medien kamen', wurden [...] innerparteilich als ,Medienstars' oder ,Promis' stark kritisiert. [...] Die Parteibasis reagierte auf .Promis' [...] mit Mißtrauen, Neid, Kritik, Vorwürfen und Demontagen."

258 in der Tat eine Ausnahmeerscheinung in der medialen Wahlkampfdarstellung, und zwar sowohl auf der Ebene der Textualisierungstrategien als auch auf der Ebene der Inszenierungsstrategien. Anders als Thierse fühlte sich Fischer vor Fernsehkameras sichtlich wohl, und anders als Kohl versuchte er nicht, den Journalisten ihr Geschäft zu verderben. Man könnte den Präsentationsstil, den Fischer kreiert und auf der Bühne der Bundespolitik etabliert hat, als , Spiel mit den Spielregeln' bezeichnen. Mit diesem Begriff soll erstens angedeutet werden, daß Fischer die Spielregeln der Politikdarstellung (vgl. S. 230f.) vollkommen beherrscht, und zweitens, daß er diese Spielregeln systematisch durchbricht, um so die politische Konkurrenz ebenso zu frappieren wie die Journalisten. Der angestrebte Effekt dieser systematischen Regelverletzungen: Kommunikationsroutinen werden durchbrochen, und alle Beteiligten sehen sich gezwungen, „am Rande ihrer Kompetenz zu operieren" (Strecker 1987, 43), wobei dem .Abweichler' natürlich gewisse Startvorteile zugute kommen. Ein Indiz für Fischers Regelbeherrschung ist darin zu sehen, daß er die Präsentation bündnisgriiner Wahlkampfbausteine (hier: Diskreditierung der gegnerischen Glaubwürdigkeit) häufig mit metakommunikativen Kommentaren einleitet: ARD „Ihre Wahl '94: Die Favoriten", 11. Oktober 1994 Journalisten: Luc Jochimsen, Wolfgang Kenntemich Fischer: Also, ich weiß nicht, das ist hier eine sehr fromme Runde heute. Deswegen will ich mal versuchen, da 'nbißchen... etwas Leben reinzubringen, damit wir hier nicht vor Ehrfurcht erstarren. Also, ich komm deswegen drauf, weil: Sollte der Waigel dranbleiben, wird Steuerlüge Teil 2 folgen.

Fischers Methode, die Spielregeln mit metakommunikativer Untermalung zu brechen, und die stilbildenden Auswirkungen dieser Methode lassen sich an einem Gesprächsausschnitt demonstrieren, in dem Fischers Kontrahent Töpfer dagegenhält und auf die gleiche Art und Weise beim Publikum zu punkten versucht. Der Moderator Bellut hält sich angesichts dieser, für ein .reguläres' politisches ,NachtduelT höchst unkonventionellen Situation vergleichsweise wacker, indem er das Spiel mitspielt und am Rande seiner der journalistischen Seriosität verpflichteten Kompetenz operiert (vgl. das ausführlichere Transkript im Anhang): ZDF „Nachtduell: Umweltpolitik", 4. Oktober 1994 Journalist: Thomas Bellut Bellut: Herr Fischer, lassen Sie Herrn Töpfer ausreden. Töpfer: Also, glauben Sie mir, dafür habe ich schon zu häufig mit dem Kollegen Fischer gesprochen - den domestizieren Sie auch nicht. Der wird das weiter so machen. Das ist ja auch eine erfreuliche Sache. Hab ich ja nichts dagegen. [...] Bellut: Herr Fischer! Fischer: Irgendwie haben Sie ein Problem mit mir! Entweder streiten wir hier, dann streiten wir richtig, dann müssen Sie ihm auch ins Wort fallen, aber nicht nur mir! Bellut: Mach ich, mach ich. Töpfer: Also fallen Sie mir auch immer ins Wort, damit wir hier die Ausgeglichenheit des InsWort-Fallens haben.

259 Bellut: [...] Fischer: Töpfer: Bellut: Töpfer:

Gut, ich falle Ihnen jetzt ins Wort. Bitte führen Sie das jetzt zuende, und danach erläutert Herr Fischer sein Verkehrskonzept. Euer Ehren, jetzt müssen Sie aber intervenieren. Ja, ich hör schon auf. Ist schon gut. Herr Fischer hat recht. Er darf zuende reden. Euer Ehren hat interveniert, nur damit wir das festhalten.

Die erste Strategiekomponente in Fischers Spiel mit den Spielregeln besteht darin, seine eigentlichen Kommunikationsvorhaben durch eine den Gegner zermürbende Unterbrechungtaktik vorzubereiten oder, wie es hier heißen soll, .aufzumachen'. Analog zu audio-visuellen Aufmacherstrategien etwa in der Pressekommunikation (vgl. Bucher 1991, 52-55) dienen diese Unterbrechungen - natürlich neben ihrer gesprächsorganisatorischen Funktion, das Rederecht an sich zu reißen (vgl. Lucas 75-94) - der schlagzeilenähnlichen Vorabklassifizierung des .eigentlichen', später zu piazierenden politischen Statements; sie ermöglichen es, ein neues Thema buchstäblich einzuwerfen und eine bestimmte Sichtweise auf dieses Thema zu etablieren: ZDF „Nachtduell: Umweltpolitik", 4. Oktober 1994 Journalist: Thomas Bellut Töpfer: Wir haben wirklich das Tempo angegeben, wir sind vorangegangen... Fischer: Wir sind das einzige Land ohne ein flächendeckendes Tempolimit! Töpfer: Ich wollte gerade das eine sagen... Bellut: Herr Fischer, lassen Sie Herrn Töpfer ausreden. Töpfer: Also, glauben Sie mir, dafür habe ich schon zu häufig mit dem Kollegen Fischer gesprochen - den domestizieren Sie auch nicht. Der wird das weiter so machen. Das ist ja auch eine erfreuliche Sache. Hab ich ja nichts dagegen. Das einzige Thema ist das Tempolimit. In der Tat haben andere ein flächendeckendes Tempolimit. Das einzige, was wir nur ganz deutlich sagen müssen, ist, daß wir auch bei achtundneunzig Prozent aller Straßen ein Tempolimit haben, daß es prima wäre, wenn wir alle auch dieses einhalten würden, daß es hervorragend wäre, wenn wir endlich einmal auch bessere Verkehrsleitsysteme hätten. [...] Fischer: Wenn ich ihn nicht unterbreche, komme ich nicht mehr dran, wenn ich das mal sagen darf. Sobald sich Fischer die Aufmerksamkeit92 der Kontrahenten und Zuschauer sowie das Rederecht gesichert hat, kommt auf der Textualisierungsebene die zweite Strategiekomponente zum

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Lucas (1992, 73) nennt einige verbale und nonverbale Mittel zur Aufmerksamkeitssteuerung: „Es sind dies dabei konventionelle Muster wie etwa Anredeformen (Herr/Frau X), Höflichkeitswendungen (Entschuldigen Sie...; Bitte...; Wenn Sie erlauben, möchte ich...) oder .lexikalische und phraseologische Kontaktformeln' (Aufgepaßt! Schau mich mal an! (...), Hör zu!). In Verbindung mit nichtsprachlichen kommunikativen Handlungen wie visueller Kontakt, Körperund Handgestik und/oder prosodischen Variierungen (Erhöhung/Verminderung der Lautstärke) bilden sie die Mittel, die sich sozusagen in der kollektiven Kommunikationspraxis als Organisationsgrundlage der präventiven Verstehens- und Kontaktsicherung bewährt haben. "

260 Tragen: Fischer bricht unerwartet laufende Zugfolgen ab und initiiert überraschend neue, in der Regel kompetetiv angelegte Sequenzen. Häufig steigert er den Effekt dieser Überrumpelungstaktik dadurch, daß er zu Beginn des Beitrags eine scheinbar vermittelnde Position einnimmt, um dann jedoch umso abrupter auf Angriff umzuschalten. So gelingt es ihm in einer Vielzahl der Fälle, seine Gegner, die sich zunächst in Sicherheit wähnen, zu frappieren und ,aus der Haut fahren' zu lassen - eine unsouveräne Reaktion, die beim Femsehpublikum zu Punktabzügen fuhren kann. Natürlich muß der Gegner, um diesen Vorfiihreffekt zu erreichen, eine gewisse Prädisposition für ein aufbrausendes Verhalten haben. Im abschließenden Beispiel, das wegen seiner Demonstrationsqualitäten ausführlicher wiedergegeben wird, sucht sich Fischer denn auch nicht Schäuble als Gegner aus - obwohl Fischers Vorwürfe sich vornehmlich gegen die CDU richten - , sondern Waigel, von dem eher anzunehmen ist, daß er bei Attacken von links die Contenance verliert: ARD „Ihre Wahl '94 - Die Favoriten", 11. Oktober 1994 Politiker: Joschka Fischer, Gregor Gysi, Klaus Kinkel, Oskar Lafontaine, Wolfgang Schäuble, Theo Waigel Journalisten: Luc Jochimsen, Wolfgang Kenntemich Fischer: [...] Aber der entscheidende Punkt ist doch nicht... Wir reden jetzt schon wieder nur über die Arbeit. Ganz entscheidend ist doch: Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Mann und Frau. Und da sieht es in diesem Land - in einem der reichsten Länder der Welt - eben nach wie vor ziemlich düster aus. Das ist eine Frage der materiellen Gleichstellungsbedingungen. Das sind Arbeitszeitmodelle, die dem entgegenkommen, das sind Versicherungsmodelle, die dem entgegenkommen müssen. Gysi: Kindertagesstätten. Fischer: Das ist die Frage der schulischen und vorschulischen Unterbringungsmöglichkeiten, der Kindertagesstätten, Kinderbetreuungsplätze, Ganztagsschule im Grundschulbereich. Das sind alles ganz wichtige Punkte. Aber lassen Sie mich auch das noch anführen. Ich finde, die 218-Debatte, wie sie von der CDU und vor allem von der CSU geführt wird, zutiefst heuchlerisch, weil sie sich daran orientiert, im Grunde genommen die Frauen wieder vor den Kadi zerren zu wollen... Waigel: Das ist eine unglaubliche Unterstellung! Fischer: Natürlich, Herr Waigel! Natürlich! Waigel: Das ist eine Unverschämtheit. Wenn Sie uns Heuchelei unterstellen, das ist eine Unverschämtheit. Fischer: Ich muß Ihnen sagen... Das ist doch eine Position, die bei Ihnen nach wie vor hinter allem steht. Waigel: Das ist nicht wahr. Fischer: Und ich sage Ihnen, Ihre ganze Frauenpolitik ist rückwärtsgewandt. Waigel: Das ist nicht wahr. Fischer: Und gerade in diesem Sommer, wo es darum ging, wo es darum ging, sich für das geborenene Leben - angesichts der hohen Ozonwerte - wirklich etwas zu tun, da haben sie/Sie [?] sich nicht entblödet, zum Schnellerfahren aufzurufen angesichts der Situation, wo es darum ging, die Gesundheit der Kinder... Waigel: Wer hat zum Schnellerfahren aufgerufen? Fischer: CDU-Angehörige. Zum Beispiel in Hessen haben sogar demonstrativ... Waigel: Entschuldigung. Das sagen Sie aber nicht zu mir. Sie haben dazu aufgerufen!

261 Fischer: Aber ja, natürlich sage ich das zu Ihnen! Waigel: Sie sind ein reiner Polemiker, und das mit diesem Thema in Verbindung zu bringen, ist schlichtweg ein Mißbrauch dieser Debatte. Ein Mißbrauch ist das. Fischer: Nein, ich bin kein reiner Polemiker, Herr Waigel, sondern was hier gesagt werden muß... Was hier gesagt werden muß... Was hier... Schaun Sie, Sie ziehen sich doch hier hinter Ihre eigenen Position zurück. Natürlich sind Sie für die Strafbarkeit! Natürlich sind Sie für die Strafbarkeit! Waigel: Nein, ich steh zu dem, was ich gesagt habe. Ich stehe dafür. Kinkel: Ich denke, wir reden hier über Politik und Moral?! Jochim.: Ja, und zwar über die Kombination von Politik und Moral, [aufgeregtes Gemurmel] Waigel: Ich lasse mir doch nicht Heuchelei unterstellen. Fischer: Das betrifft die Hälfte der Bevölkerung direkt, und wenn ich mir anschaue, in Memmingen, wie es da zugegangen ist, bei diesem Prozeß, nicht wahr, da... Waigel: Hat die CSU den Prozeß gemacht oder unabhängige Richter? Fischer: Das haben unabhängige Richter gemacht... Waigel: Eben. Da wollen wir uns doch mal einig sein. Fischer: Aber selbstverständlich, und trotzdem sind dort Grundwerte vertreten worden von diesen unabhängigen Richtern, die völlig in die heuchlerische Position der CSU hineinpassen, Herr Waigel, das wissen Sie so gut wie ich. Waigel: Das ist eine bodenlose Gemeinheit, was Sie hier von sich geben! [aufgeregtes Gemurmel] Jochim. : Herr Waigel hat jetzt sowieso das Wort.

Hier sind die Strategiekomponien, die Fischer auf der Textualisierungs- und Inszenierungsebene präferiert, vollständig versammelt: Fischer beginnt mit einer konsensfähigen Problemdarstellungssequenz („Vereinbarkeit von Familie und Beruf"), wechselt jedoch plötzlich zu einer Vorwurfssequenz über, die er per Bückkontakt an Waigel adressiert. Dieser reagiert auf den affektiv aufgeladenen Vorwurf („heuchlerisch") wunschgemäß mit wütenden Zurückweisungen („Unverschämtheit"). Fischer heizt den damit eröffneten .Schlagabtausch' (vgl. Lucas 1992, 90) mit Evidenzindikatoren („Natürlich!") weiter an, und insistiert mit einer Vorwurfsgeneralisierung („Ihre ganze Frauenpolitik ist rückwärtsgewandt"). Die zwei Argumente, die Fischer als Beleg für die .inkriminierende' Haltung der CSU zum Paragraphen 218 anfuhrt (Ozon, Memmingen), sind dürftig und können von Waigel - einmal sogar mit Zustimmung Fischers („Das haben unabhängige Richter gemacht...") - entkräftet werden. Doch weder der normativ formulierte Ordnungsruf der Moderatorin („Kombination von Politik und Moral") noch der nachteilige Spielstand - den Vorwürfen, zumindest in der vorgetragenen Form, ist die Basis entzogen - können Fischer davon abhalten, noch einmal die von ihm eingeführte .Schlagzeile' der Attacke zu wiederholen und im Bewußtsein der Zuschauer zu verankern („Grundwerte..., die völlig in die heuchlerische Position der CSU hineinpassen"). Waigel erhält gemäß dem Provokationsprinzip zwar die Gelegenheit zur Gegendarstellung, aber gegenüber Fischer, der im offenen Schlagabtausch seine Position als Angreifer behaupten konnte, befindet er sich in der Defensive. Es ist keine reine Spekulation zu vermuten, daß Fischer beim Fernsehpublikum den Punktgewinn davongetragen hat.

262 Das Spiel mit den Spielregeln ist die hohe (wenn auch keineswegs unumstrittene) Kunst der politischen und medialen Kommunikation. Diese Kunst ist sehr voraussetzungsreich: Die konventionellen Spielregeln müssen vollkommen beherrscht werden und sowohl in der praktischen Spielerfahrung als auch durch ihren metakommunikativen Gebrauch eingeübt sein. Systematische Regelverletzungen funktionieren nämlich nur dann in der beabsichtigten Weise, wenn die Spielzüge des Gegners richtig antizipiert worden sind. Da politische Kommunikationsspiele während des Wahlkampfes vor Publikum stattfinden und das Publikum über Gewinne und Verluste entscheidet, ist außerdem die Fähigkeit unabdingbar, dessen Rezeptions- und Beurteilungsgewohnheiten richtig einzuschätzen. Dazu gehört momentan das Vertrauen in die perzeptive Flüchtigkeit des Mediums Fernsehen und die Einsicht in die „mediale Umkehning der Wichtigkeiten" (Sarcinelli 1996, 44), die sich in der Medienlandschaft durchzusetzen scheint. Doch darin hegen zugleich die Grenzen der Kunst des Spiels mit den Spielregeln. Spieler, die am Rande der Kompetenz operieren, richten sich an ein Publikum, das diese Kunst zu würdigen weiß und damit selbst demonstriert, daß es hohe Interpretationsleistungen zu erbringen vermag. Doch wenn das Publikum, wie es angesichts der rasanten Entwicklung auf dem Medienmarkt absehbar ist, in ein „unübersichtliches Konglomerat von Nutzergrüppchen" (Sarcinelli 1996, 37) zersplittert, dann zerbricht auch das politische .Konversationswissen', von dem politische Darstellungskünstler zehren. Es kommt noch etwa hinzu: Medientrends sind flüchtige Erscheinungen und von Geschmackskonjunkturen abhängig, die ihrerseits eine hohe Interdependenz zu allgemeingesellschaftlichen Entwicklungen aufweisen. Steigt etwa, wie es gegenwärtig der Fall ist, der politische Problemdruck und sinkt damit die Bereitschaft des Publikums, der Politikdarstellung einen höheren Stellenwert einzuräumen als der Politik selbst, kann es erneut zu einer ,Umkehrung der Wichtigkeiten' kommen, und zwar diesmal in Richtung Politik. Was dann zählt, ist nicht die hohe Kunst des Spiels mit den Spielregeln, sondern die höhere Kunst der politischen Entscheidimg.

Zusammenfassung Was tun politische Parteien, um in konfliktären Auseinandersetzungen mit ihren Konkurrenten erfolgreich zu sein? Eine auf Dauer gültige Antwort auf diese Frage gibt es nicht. Die Kommunikation der Parteien ist - wie die politische Kommunikation insgesamt - in diachroner wie synchroner Perspektive eine überaus komplexe und dynamische Angelegenheit. Dieser Beobachtung und Erfahrung wurde hier theoretisch-methodologisch dadurch Rechnung getragen, daß sowohl die historische als auch die sozial-situative Dynamik parteipolitischer Kommunikationsprozesse in den Mittelpunkt der Analyse gestellt wurde. Ein theoretisches Fundament, das eine an der Kommunikationsdynamik orientierte Herangehensweise erlaubt, ist die linguistische Adaption des Wittgensteinschen Sprachspielkonzepts. Deren Grundgedanke besteht darin, daß auch komplexe und wandelhafte Kommunikationsprozesse anhand einer geeigneten Beschreibungsanalogie bzw. eines adäquaten ,Vergleichsobjektes' auf relativ einfache und überschaubare soziale Grundstrukturen zurückgeführt werden können. Elemente der historischen Konfliktdynamik spiegeln sich etwa in Beschreibungstermini wie ,Sprachspielfamilie', ,Sprachspieltyp' oder ,Sprachspielregel'. Der sozial-situativen Dynamik konkreter Konfliktkommunikationen entsprechen Begriffe wie ,Spielzug', .Spielstand', ,Spielphase', ,Spielstrategie' oder ,Spielausgang'. Die linguistische Beschreibung parteipolitischen Kommunikationsverhaltens mit solchen Termini ist als heuristisch rekonstruierendes Verfahren anzusehen (vgl. Fritz 1994a); es geht dabei gewissermaßen darum, die unwegsame politische Landschaft für die analytischen Zwecke der Sprachwissenschaft zu kartographieren. Das Instrument einer kornmmïkatiowhistorischen Sprachspielanalyse (vgl. Fritz 1994b) wurde eingesetzt, um diejenigen Sprachspiele zu identifizieren und zu charakterisieren, die historisch die politische Landschaft der DDR und der Bundesrepublik geprägt und strukturiert haben. Die Analyse orientierte sich an folgenden heuristischen Fragen: a) Wer ist an dem Spiel beteiligt? Wie sind die Rollen, Beziehungen und Interessen verteilt? Wissen alle Beteiligten, worauf sie sich einlassen? b) Ist das Spiel in diachrone Kommunikationsverläufe eines bestimmten Typs eingebettet? Und in welcher Position? c) Worum geht es den Beteiligten oder: wo hegt der Witz des Spiels? Welchen Einsatz müssen die Spieler bei Spielbeginn leisten? d) Wer darf das Spiel eröffnen und mit welchen Mitteln? Welche Reaktionsmöglichkeiten besitzen die Mitspieler? Welche Probleme werfen die Spielzüge jeweils auf, welche Konsequenzen haben sie?

264 e) Gibt es standardisierte Handlungsmuster, an denen sich die Spieler zur Lösung dieser Probleme orientieren können? Gibt es strategische Varianten? f) Wie werden die Muster sprachlich realisiert? Wie sind die authentischen Äußerungen der Spieler vor dem Hintergrund der pragmatischen Kommunikationsbedingungen zu verstehen? Die Sprachspielgeschichte der Deutschen Demokratischen Republik wurde wesentlich von einer politischen Machtfiguration geprägt, die man als .Autoritätsbeziehung mit umgekehrten Vorzeichen' charakterisieren kann: Anders als in Autoritätsbeziehungen sonst üblich, wurde der SED ihre Autorität von den Bürgern nicht zugeschrieben, anerkannt und mit Forderungen belegt, sondern im Gegenteil von der Partei beansprucht, vorausgesetzt und ihrerseits mit Forderungen verbunden. Das zentrale Sprachspiel zwischen der Staatspartei und den Bürgern hatte den politischen Sinn, die Bürger dazu zu bewegen, die marxistisch-leninistische Gesellschaftsutopie in systemkonformes Handeln umzusetzen; sein kommunikativer ,Witz' bestand entsprechend in der .Durchsetzung von Parteidirektiven'. Die Reaktionsformen der Bürger in diesem Spiel waren streng reglementiert, die Abfolge der Spielzüge vorgegeben: Auf .direktive' Spielzüge der Partei (1. Zug) folgten .affirmative' Reaktionen der Bevölkerung (2. Zug) und gegebenenfalls .expressive' Stützhandlungen der Partei (3. Zug). In der Kommunikations praxis expandierten diese Zugoptionen zu eigenständigen Sprachspielformen, wie etwa das umfassende System parteistaatlicher ,Würdigungen' in der DDR belegt. Auf diese Weise bildete sich eine Sprachspielfamilie heraus, die voll und ganz dem autoritären Charakter des politischen Systems entsprach und selbst während der Wende noch bedeutsame kommunikative Trägheitsmomente erkennen ließ. Dies ist das Ergebnis der Analyse einer politischen Ausdrucksform, die für die Bürger der DDR sowohl vor als auch während des Herbstes 1989 eine wichtige Rolle spielte, nämlich die öffentliche Bekundung des jeweiligen politischen Willens per Spruchband, Transparent, Plakat oder Sprechchor. Die dort plazierten Texte, offizielle Partei-,Losungen' vor und ,Demosprüche' während der Wende, weisen in sprachspielgeschichtlicher Perspektive signifikante Familienähnlichkeiten' auf. Denn mit beiden Textformen bezogen sich die Bürger - wenn auch natürlich mit umgekehrten Vorzeichen - auf das zentrale Sprachspiel der DDR, die Durchsetzung von Parteidirektiven. Die Partei-Losungen wurden - streng nach den Abfolgeregeln des Spiels (s.o.) - entweder ,direktiv' (Sportlerinnen und Sportler! Strebt nach hohen Leistungen in der ,Sportstaffette DDR 40'!) oder aber .affirmativ' (Mein Arbeitsplatz - mein Kampfplatz für den Frieden) eingesetzt. Die Demosprüche waren dagegen ausnahmslos ,zurückweisender' Art (Das Volk sind wir, gehen sollt ihr.); mit ihnen kündigte die demonstrierende Bevölkerung ihren Machthabern die Gefolgschaft auf. Dennoch: Auch die Gehorsamsverweigerung ist als regelhafte Reaktionshandlung auf die Direktiven der Partei zu interpretieren. Der Sprachspielrahmen blieb für eine Weile noch derselbe, doch die funk-

265 donale Qualität der Reaktionshandlungen hatte sich fundamental verändert. Man kann sagen, daß die Bevölkerung der DDR während der Herbstdemonstrationen im Jahr 1989 ihre volle Reaktionsfähigkeit zurückeroberte. Sie entdeckte die Option der Zurückweisung' und brachte so eigenmächtig das autoritäre Spiel zum Abschluß. In der Sprachspielgeschichte der Bundesrepublik hat sich etwa seit Anfang der achtziger Jahre ein fundamentaler Wandel vollzogen. In der Nachkriegszeit war die Bindung an die .eigene' Partei traditionell verwurzelt und wurde kaum hinterfragt. Es hieß: ,Ich bin CDU' oder ,Wir waren immer schon SPD'. Diese Sichtweise auf die Politik kann man als Anhängerschaftsmodell bezeichnen. Zwischen Politikern und Anhängern bestand eine von beiden Seiten akzeptierte asymmetrische Beziehung: Politiker riefen mobilisierend zur Wahl auf, und die Anhängerschaft folgte dem Aufruf. Weder politische Zuständigkeit noch Autorität der Parteien wurden grundsätzlich in Frage gestellt. In der gegenwärtigen Politiklandschaft zeichnet sich allerdings ab, daß das Anhängerschaftsmodell allmählich von einem Marktmodell abgelöst wird: Die Politik wird zunehmend als Warenmarkt verstanden, auf dem die Parteien als Anbieter auftreten und die Bürger als Abnehmer (vgl. Klein 1996). Diese veränderte Politikwahrnehmung hat gravierende Auswirkungen auf den funktionalen Charakter und den Regelbestand der aktuellen politischen Sprachspiele. Denn es stellt sich die Frage, worauf sich Politiker einlassen müssen, wenn sie unter Marktbedingungen ihren potentiellen Abnehmern politische Angebote unterbreiten. Die Antwort lautet: Sie müssen sich darauf einlassen, daß die Wähler über die Angebote verhandeln wollen und sich dabei als ,harte Verhandlungspartner' entpuppen. Sie beziehen auch die Konkurrenzangebote in ihr Kalkül mit ein und scheuen sich nicht, die Verhandlungen abzubrechen, falls diese nicht akzeptabel verlaufen sollten. Die sowohl im Verfassungsrecht als auch in der Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik verankerte zentrale Arena für solche Verhandlungsspiele ist die ,Parlamentswahl'. Deren ,Witz' besteht, kurz gesagt, darin, daß die Bürger per Wahlmandat über die politischen Angebote konkurrierender Parteien entscheiden und auf diese Weise die Macht und den Einfluß politischer Gruppierungen so austarieren, daß die meistbegünstigten Parteipolitiker zu parlamentarischen Entscheidungen über die Angelegenheiten öffentlichen Interesses befähigt sind. Der Ort, wo die Vorverhandlungen und Hauptverhandlungen über die Zuschreibung politischer Macht stattfinden, ist der Wahlkampf. Unter den Rahmenbedingungen eines Marktmodells der Politik kann der Wahlkampf als .multilaterale Verhandlung' um die politischen Verhandlungsangebote der Parteien auf der einen Seite und die politischen Mandate der Wähler auf der anderen Seite charakterisiert werden. .Multilateral' sind die im Vorfeld von Wahlen stattfindenden Verhandlungen insofern, als es verfassungsrechtlich vorgeschrieben ist (Art. 38 I GG), daß die Bürger tatsächlich zwischen mehreren konkurrierenden Anbietern eine Auswahl treffen können. Daß sich das Wählerverhalten geändert hat und Wahlenthaltung, Stimmen-Splitting, Wechsel- und Denkzettelwahlen keine Ausnahmeerscheinungen mehr sind, kann als Indiz dafür gewertet werden,

266 daß sich die Bürger ihrer Handlungsspielräume in diesen Verhandlungen zunehmend bewußt werden; diese Phänomene sind also nicht pauschalierend als ,Politikverdrossenheit' zu interpretieren. Im Zentrum der Sprachspielfamilie .Wahlkampf' steht die Unterbreitung von politischen Offerten und Angeboten durch die konkurrierenden Parteien. Die politischen Parteien und die Kandidaten als ihre Akteure dürfen demnach als die Initiatoren des Sprachspiels .multilaterale Verhandlung um die Wählermandate' gelten. Dieses Basissprachspiel repräsentativer Demokratien eröffnet den Spielern eine Fülle kommunikativer Zugoptionen und ist gekennzeichnet durch ein überaus komplexes System von Spielregeln. Die Rekonstruktion dieser Zugoptionen und Spielregeln ist die notwendige Bedingung fiir eine erklärungsadäquate Beschreibung jedweder Form der parteipolitischen Außendarstellung. Die hinreichende Bedingung ist die Überprüfung der Rekonstruktionsergebnisse in der politischen Kommunikationswirklichkeit. Zur Rekonstruktion der Zugoptionen, die Parteikandidaten und Bürgern im Wahlkampf zur Verfügung stehen, wurde hier das Verfahren der kommunikativen Bedingungsanalyse' benutzt (vgl. Frilling/König 1991). Es basiert auf der Annahme, daß die Sprachspieldynamik wesentlich durch die spezifischen Eigenschaften des initialen Sprachspielzuges beeinflußt wird. Die Bedingungen, an die der kommunikative Erfolg der Sprachspielinitiative geknüpft ist, bilden den Bezugsrahmen für regelgerechte Anschlußzüge der Sprachspielpartner. Bezogen auf die Abfolge der möglichen Spielzüge entwickelt der initiale Zug eine besondere ,Sequenzprägekraft' (vgl. Hundsnurscher 1993a). Was hat man sich in der Wahlkampfkommunikation konkret darunter vorzustellen? Unter den genannten gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen unterbreitet eine Partei bzw. deren Kandidat den Bürgern ein politisches ,Verhandlungsangebot' und eröffnet damit das Spiel. Der Witz von Verhandlungspielen besteht gemeinhin darin, daß sie in Form eines Kontraktes' zum Abschluß gebracht werden sollen, in dem das quid pro quo von Leistung und Gegenleistung der Verhandlungspartner fixiert ist. Im Falle von Wahlkampfverhandlungen ist die Gegenleistung, d.h. die Leistung der Wähler, von vorneherein klar: Es geht um das politische Mandat für den Anbieter, das diesen ins Parlament bringt. Etwas anders verhält es sich mit den angebotenen Leistungspaketen der Parteien: Denn die spezifische funktionale Eigenschaft von Angeboten besteht lediglich in einer Selbstfestlegung bezüglich einer zukünftigen, noch zu erbringenden Leistung. Politische Angebote sind vergleichbar mit bedingten Versprechen (sie werden auch oft - aber nicht immer - als .Wahlversprechen' deklariert): Wenn ich gewählt werde, werde ich das und das tun. Verhandlungen über einen Wahlkontrakt basieren, ebenso wie Versprechen, auf einem Vertrauensvorschuß auf Seiten des Gegenübers. Dieser ratifiziert den Kontrakt (oder nimmt das Versprechen ab), wenn er Gründe für die Annahme hat, daß die Selbstfestlegung verbindlich ist. Doch wie man weiß, werden Kontrakte und Versprechen schon einmal gebrochen, und es entsteht Mißtrauen.

267 Dies ist der Ansatzpunkt für die erwähnte kommunikative Bedingungsanalyse. Mit ihrer Hilfe können die Bedingungen eruiert werden, unter denen ein politisches Angebot als verständlich, akzeptabel und erfolgversprechend eingeschätzt werden kann. Denn mit der Unterbreilung eines Angebotes wird gewissermaßen automatisch ein System bestimmter gegenseitiger Erwartungen aufgebaut, denen beide Sprachspielpartner gerecht werden müssen, wenn ein Kontrakt zustande kommen soll. Werden diese Erwartungen nicht erfüllt, werden aulwendige kommunikative Reparaturmaßnahmen vorgenommen oder es kommt zum Spielabbruch. Ein Angebotsadressat hat keineswegs nur zwei Reaktionsmöglichkeiten, nämlich das Angebot anzunehmen oder auszuschlagen, sondern eine Fülle von Verzögerungsoptionen, die unter Hinweis auf mangelnde Verständlichkeit, Akzeptabilität oder Erfolgsaussicht regelgerecht an eine Angebotsinitiative angeschlossen werden können. Worauf müssen sich Politiker also einlassen, wenn sie ihren potentiellen Wählern politische Angebote unterbreiten (1. Zug)? Sie müssen sich auf eine kritische bis ablehnende Haltung einstellen und darauf, daß ihre Angebote einer Prüfimg unterzogen werden, die nach dem folgenden, per kommunikativer Bedingungsanalyse ermittelten Fragenkatalog ablaufen könnte (2. Zug; in Auswahl): 1) Ist das .Verhandlungsangebot' des Parteikandidaten verständlich? Ist den sprachlichen Äußerungen der kommunikative Sinn zu entnehmen, daß der Parteikandidat für den Fall, daß er das Mandat erhält, eine Leistung erbringen will? Welchen Grad an Verbindlichkeit bringt er zum Ausdruck? Worin besteht die Leistung, d.h. auf welche politischen Problemlagen bezieht sie sich und welche Lösungswege werden angeboten? Sind die kontextuellen Rahmenbedingungen dergestalt, daß die Unterbreitung eines Verhandlungsangebotes sinnvoll erscheint? 2) Ist das,Verhandlungsangebot' des Parteikandidaten akzeptabel? Wie beurteilt der Adressat den Inhalt des Angebotes, d.h. die angebotene Leistung und die Bedingungen ihrer Realisierung? Liegt in seinen Augen überhaupt ein Problem vor, das aktuell eine Lösung erfordert? Soll er angesichts der Qualität der Angebote überhaupt an der Wahl teilnehmen? Wie beurteilt der Adressat prinzipiell die Rolle parteipolitischer Anbieter im gesamtgesellschaftlichen Kontext? Könnten nicht-politische Organisationen (Interessenverbände, Gewerkschaften, Kirchen, ökologische Gruppen etc.) die erforderlichen Leistungen nicht ebensogut oder besser erbringen? Wie beurteilt der Adressat den einzelnen Parteikandidaten im Vergleich zu dessen Konkurrenten? Was prädestiniert den Parteikandidaten vor anderen dazu, das Problem zufriedenstellend zu lösen?

268 Wie beurteilt der Adressat die ,wahren Absichten' des Parteikandidaten in bezug auf die zu erbringende Leistung? Ist dieser in seinen Aussagen glaubwürdig? Wird er seine Wahlversprechen halten? 3) Kann das ,Verhandlungsangebot' des Parteikandidaten erfolgreich sein? Verfugt der Parteikandidat über ausreichende Machtquellen, um die angebotene Leistung tatsächlich erbringen zu können? Honoriert der Adressat die kommunikativen Anstrengungen des Parteikandidaten und ratifiziert die Verhandlung mit seinem Wahlmandat? 4) Was passiert, wenn der Adressat das ,Verhandlungsangebot' schlichtweg übergeht? Zieht es irgendwelche Sanktionen oder Konsequenzen nach sich, wenn der Adressat die Wahl ignoriert oder sich der Stimme enthält? Kann der Parteikandidat, gewissermaßen im letzten Moment, den Adressaten noch in eine Verhandlung involvieren? Fragen dieser Art, die auch tatsächlich immer häufiger gestellt werden, bringen die Parteien in einen außerordentlichen Zugzwang. Weil sie nicht mehr davon ausgehen können, daß die Bürger ihnen prinzipiell einen Vertrauensvorschuß einräumen, greifen sie auf die vielfältigen Formen kommunikativer Akzeptanzstützung zurück. Diese lassen sich ebenso rekonstruieren, wie dies an den Handlungsoptionen des 2. Zuges demonstriert wurde, weil auch sie in einem systematischen Zusammenhang zu ihren Vorgängerzügen im Verhandlungsspiel stehen. Da jedoch die akzeptanzstützenden Handlungsoptionen des 3. Zuges expansive Tendenzen zeigen und zudem gewisse Eigengesetzlichkeiten entwickelt haben, ist es angebracht, sie als einen besonderen Sprachspieltyp, und zwar als .Parteienwerbung', zu beschreiben. In ihrer Wahlkampfwerbung rekurrieren die Parteien auf die kommunikativen Bedingungen, die in Wahlkampfverhandlungen mit akzeptablen Angeboten (s.o.) verknüpft werden. Im Grobüberblick beziehen sich akzeptanzstützende kommunikative Handlungen erstens auf die Adäquatheit des Angebotes im aktuellen gesellschaftlichen Problemkontext, zweitens auf die Legitimation des Anbieters im Vergleich zu alternativen Anbietern (z.B. nicht-politische Organisationen wie Greenpeace), drittens auf die Problemlösungskompetenz im Vergleich zu den Konkurrenzparteien und viertens auf die Transparenz und Verbindlichkeit der Anbieterabsichten. Mit diesbezüglichen Äußerungen versuchen die Parteien, ihre Leistungsbereitschaft und -fähigkeit zu begründen, um dadurch bei ihren potentiellen Wählern positive Werbeeffekte zu erzielen. Nun ist in der Bundesrepublik vergleichende politische Werbung nicht nur nicht verboten (wie in der Konsumweibung), sondern geradezu ein Funktionsprinzip des politischen Systems. Akzeptanzstützende Handlungsoptionen lassen sich daher nicht nur hinsichtlich ihrer Bezugnahme auf das übergeordnete Verhandlungsspiel differenzieren (Adäquatheit, Legitimation, Kompetenz, Transparenz), sondern auch hinsichtlich der Anbieterkonstellationen (Selbstdarstellung, Diskreditierung), der Präsentationsformen (Dokumentation, Demonstration) und semantischen Variationsmöglichkeiten (Suffizienz, Effizienz, Kontinuität). Das in diesem

269 Zusammenhang wichtigste Differenzierungskriterium ist die Aribieterkonstellation. Eine Partei, die im Wahlkampf antritt, hat nicht nur mit den Bürgern, sondern eben auch mit Konkurrenten zu tun: Das Werbeziel, nämlich daß die Bürger - im direkten Vergleich - das eigene politische Angebot für akzeptabel und die Angebote der Konkurrenz für inakzeptabel halten, läßt sich prinzipiell auf zwei Wegen erreichen: Wer beansprucht, um seiner selbst willen präferiert zu werden, wird versuchen, das Vertrauen der Bürger durch selbstdarstellerische Formen der Akzeptanzstützung zu erlangen. Wer aber diesen Anspruch nicht erhebt (oder erheben kann), dem bleibt die Möglichkeit, ein unterstelltes Vertrauen der Bürger in die Konkurrenzparteien durch diskreditierende Maßnahmen systematisch zu erschüttern. Auf diese Weise können im Wettbewerb um die Wählermandate Positionsnachteile gegenüber den Konkurrenten (etwa ein Amtsbonus) ausgeglichen werden. Von den insgesamt 48 ermittelten Akzeptanzstützungsformen gehen 36 potentiell auf Kosten der Konkurrenzparteien, d.h. sie berühren deren Verhandlungsinteressen und sind daher als konfliktär einzuschätzen. Dies ist die strategische Situation, in der parteipolitische Konflikte entstehen. Parteipolitische Konflikte werden hier als subordinierte Sprachspiele gedeutet, die in den übergeordneten Zusammenhang der Sprachspielfamilie ,Wahlkampf eingebettet sind. Von kommunikativ ausgetragenen Konflikten ist im allgemeinen die Rede, wenn: - eine konfliktträchtige Ausgangslage vorliegt (latenter Konflikt) oder geschaffen wird (manifester Konflikt), - in einer mindestens dreizügigen Sequenz gegeneinander gerichteter kommunikativer Handlungen eine Interessendivergenz der Akteure zutage tritt (Konfliktkonstituierung), - im Prozeß der Konfliktaustragung deutlich wird, daß die Akteure gewillt sind, ihre Interessen gegen die Interessen der Gegner durchzusetzen (Kompetetivität). Alle der genannten Kriterien sind in parteipolitischen Konflikten vorfindbar, zum Teil sogar in institutionalisierter Form: Eine durchgängig konfliktträchtige Ausgangslage manifestiert sich in der vergleichenden und konkurrierenden Parteienwerbung. Die Interessendivergenz resultiert daraus, daß die Parteien in einem Nullsummenspiel um eine begrenzte Anzahl von Wählerstimmen konkurrieren. Diese Motivlage sorgt dafür, daß nahezu jede Konfliktinitiative auch tatsächlich einen Konflikt konstituiert. Und schließlich: Die Parteien machen gegenüber ihren Gegnern schon deswegen langfristige Durchsetzungsansprüche geltend, weil die Wähler erst in letzter Sekunde, im Wahllokal, zu einer Entscheidung kommen könnten. Der entscheidende Unterschied zu anderen Konfliktformen ist allerdings darin zu sehen, daß parteipolitische Konflikte vor einem Massenpublikum stattfinden. Die Urteile des Publikums über die Kontrahenten entscheiden über den Konfliktausgang und beeinflussen dadurch maßgeblich die Konfliktdynamik. Die Art und Weise, wie die Kontrahenten ihr Konfliktverhalten am Publikum ausrichten, ist daher von außerordentlichem Interesse.

270 Die abschließende Frage lautet denn auch: Wie werden diese konfliktären Sprachspiele vor Publikum gespielt? Die scheinbar triviale Antwort lautet: Sie werden strategisch gespielt. Um eine erfolgreiche Werbung zu betreiben und die Verhandlungsspiele mit den Bürgern mit einem Wahlkontrakt erfolgreich abzuschließen, steht den Parteien ein höchst umfangreiches Repertoire alternativer Handlungsoptionen offen. Um deren hohe Fungibilität zu unterstreichen, sind diese Handlungsoptionen hier als ,Wahlkampfbausteine' bezeichnet worden. Die strategische Leistung einer Partei besteht darin, aus dem Gesamtrepertoire von Wahlkampfbausteinen die erfolgversprechenden auszuwählen, diese entsprechend dem jeweiligen Spielstand sequentiell zu kombinieren, sie unter Berücksichtigung der politischen und medialen Kontextbedingungen zu textualisieren und sie schließlich entsprechend der aktuellen Geschmackskonjunktur audio-visuell aufzumachen. Die strategischen Operationen, die mit solchen Wahlkampfbausteinen durchgeführt werden können, sind ausführlich am Beispiel der Bundestagwahl 1994 dargestellt worden. Dabei zeigte sich erstens, daß authentische Konfliktverläufe mit Hilfe der entwickelten Instrumentarien nachgespielt und erklärungsadäquat beschrieben werden können, und zweitens, daß die eruierten strategischen Konfliktstile eng mit der damaligen historisch-politischen Situation korrelieren. Weder der .Nachzügler' noch der ,Themenmanager' noch derjenige, ,der mit den Spielregeln spielt', darf darauf hoffen, daß diese Konfliktstile auf Dauer produktiv bleiben. Jede Veränderung der politischen Machtfiguration kann neue parteipolitische Konfliktstile mit sich bringen. Es bleibt also abzuwarten, welche strategischen Konfliktvarianten der politische Markt noch hervorbringen wird. Doch jenseits der politischen Tagesaktualität läßt sich eines feststellen: Die politischen Parteien haben die vorhandenen kommunikativen Handlungsoptionen noch längst nicht in ihrer vollen Bandbreite ausgelotet. Es dürfte sich für Politiker lohnen, sich intensiver damit zu befassen, welche Handlungsspielräume die Bürger, ihre Verhandlungspartner, nach und nach noch entdecken und auch nutzen werden. Denn als Politiker die Kräfte des wirtschaftlichen Marktes zu beschwören, ist eine Sache, sich selbst den Kräften des politischen Marktes zu stellen, eine andere.

Anhang: Ausgewählte Quellen und Materialien Auszüge aus den Wahlprogrammen zur Bundestagswahl 1994 (Typographische Besonderheiten wurden nicht erfaßt. Die Zahlung ist nachträglich von mir eingefügt worden.) SPD: ,Das Regierungsprogramm der SPD. Reformen für Deutschland' Vorwort von Rudolf Scharping (S. 3-5) „(1) Hoffnung statt Zukunftsangst, Gerechtigkeit statt Kleingeisterei, Mut statt Behäbigkeit, Zusammenhalt statt Ausgrenzung - das braucht unser Land ebenso wie Wirklichkeitssinn, Gestaltungskraft und eine klare Vorstellung von der Zukunft. (2) Dafür braucht Deutschland den Regierungswechsel, eine Politik unter sozialdemokratischer Führung. (3) Ich will, daß sich die Kräfte der Freiheit und der gegenseitigen Verantwortung und Rücksichtnahme entfalten können. (4) Ich will eine Regierung, die Menschen ernst nimmt, statt mit ihren Hoffnungen parteipolitisch zu spielen. (5) Eine neue Politik für Chancengleichheit, um auf dieser Grundlage die Einheit wirtschaftlich, sozial und kulturell zu verwirklichen. (6) Arbeit für alle, soziale Gerechtigkeit und der Schutz von Umwelt und Natur - das ist der Dreiklang unserer Reformpolitik für eine menschlichere Zukunft. (7) Freiheit und Verantwortung, persönliches Streben nach Glück und Gerechtigkeit, Fortschritt und Sicherheit - das gehört zusammen. (8) Nur durch Reformpolitik kann unsere Gesellschaft die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts bestehen. (9) Nur so können wir die Gräben zwischen Ost und West überwinden, die wachsende soziale Spaltung abbauen, Recht und Moral wieder versöhnen. (10) Deutschland steht vor einer dreifachen Reformaufgabe (11) 1. Arbeit für alle! (12) Nach zwölf Jahren der Regierung Kohl ist die Bilanz erschreckend: (13) Die höchste Arbeitslosigkeit, die höchste Staatsverschuldung, die höchste Steuer- und Abgabenbelastung. (14) Ich will eine Politik, die Arbeit für alle schafft. (15) Deshalb werden wir einen Sozialpakt für Beschäftigung, für Innovation, für umweltverträgliches Wachstum organisieren. (16) Sichere Arbeitsplätze entstehen nur, wenn investiert wird. (17) Sie sind morgen nur wettbewerbsfähig, wenn Forschung und Entwicklung heute verstärkt werden, sie sind nur sicher, wenn Menschen sich durch Bildung und Weiterbildung ständig qualifizieren können. (18) Unsere Gesellschaft lebt vom Engagement und den Fähigkeiten der vielen Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. (19) Sie sind die Leistungsträger unserer Gesellschaft. (20) Ebenso wie die verantwortungsbewußten Unternehmer, die durch Mut und Innovationsbereitschaft die Arbeitsplätze der Zukunft sichern. (21) Wir brauchen Brücken für die Menschen, die arbeitslos sind, Brücken in neue und sichere Beschäftigung. (22) Wir müssen die vorhandene Arbeit phantasievoller organisieren und fairer verteilen. (23) Dafür will ich die Starken zur Solidarität mit den Schwachen gewinnen - (24) Zusammenhalt ist eine Sache aller, nicht nur der Schwächeren untereinander. (25) 2. Soziale Rechte für alle! (26) Familien und Kinder brauchen Unterstützung. (27) Die Zukunftschancen der Kinder und jungen Menschen in unserem Land dürfen nicht davon abhängen, wie dick das Portemonnaie ihrer Eltern ist. (28) Deshalb sind ein einheitliches Kindergeld und die Schaffung von bezahlbaren Wohnungen wesentlich für unsere Reformpolitik.

272 (29) Frauen und Männer müssen die gleichen Chancen in Beruf und Gesellschaft haben - nicht nur in schönen Gesetzen, sondern im Alltag. (30) Frauen, deren berufliche Qualifikation rücksichtslos entwertet wird, Mütter und Väter, die Beruf und Familie nur unter großen Nachteilen miteinander vereinbaren können, das darf es in einer gleichberechtigten Gesellschaft nicht geben. (31) Lasten müssen gerechter verteilt werden. (32) Deshalb werden wir den Solidaritätszuschlag abschaffen und so mehr als 80 Prozent der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler entlasten. (33) Anders als unter der Regierung Kohl wird es mit mir keine weiteren Erhöhungen der Steuer- und Abgabenquote geben. (34) Gerechtigkeit setzt auch voraus, daß es im Arbeitsleben soziale Rechte und wirkliche Mitbestimmung gibt. (35) 3. Eine gesunde Umwelt für alle! (36) Nur wenn wir die Umwelt bewahren, werden wir unserer Verantwortung für künftige Generationen gerecht. (37) Wirtschaft, Staat und Wissenschaft müssen gemeinsam handeln. (38) Umweltpolitik ist eine Herausforderung an die technologische Phantasie. (39) Ich will, daß Umweltschutz nicht nur am ,Ende des Schorsteins' ansetzt, sondern mit Vorsorge produziert und konsumiert wird. (40) Es ist immer vernünftiger, Schäden zu verhindern, als sie teuer zu reparieren. (41) Der Solarenergie sollte die Zukunft gehören - wir werden sie massiv fördern. (42) Weil dagegen die Atomenergie Menschen und Natur gefährdet, werden wir aus dieser Technologie aussteigen. (43) Mit energiesparenden, umweltverträglichen Autos und der Verlagerung von Lasttransportern auf die Schiene schaffen wir ein modernes Verkehrssystem. (44) Der Schutz der Umwelt und Natur wird nur Erfolg haben, wenn sich auch jeder und jede einzelne im Alltag umweltbewußt verhält. (45) Private Initiative will ich fördern, sie darf nicht länger durch staatliches Handeln entmutigt werden. (46) 4. Der Staat muß Freiheit und Sicherheit gewährleisten. (47) Staat und Verwaltung müssen den Menschen dienen. (48) Nicht unbefragbare Autoritäten, sondern die souveräne Entscheidung - geprägt von Selbstbewußtsein und Rücksichtnahme - sollen das Zusammenleben unserer Gemeinschaft bestimmen. (49) Eine von mir geführte Bundesregierung will gestalten und nicht verwalten. (50) Nur ein leistungsfähiger und kostenbewußter Staat kann die öffentliche Verschuldung abbauen. (51) Ich will die politischen Gestaltungsräume auch und gerade für Bildung und Kultur erweitern. (52) Aus der kulturellen Freiheit und Vielfalt gewinnen wir die Kraft für die großen Aufgaben der Zukunft. (53) 5. Friedenspolitik beginnt im eigenen Land. (54) Nur wenn wir in Deutschland freiheitlich und friedlich zusammenleben, können wir auch international zum Frieden beitragen. (55) Wir dürfen es nicht zulassen, daß rechtsradikale Lumpen anderer Menschen Häuser anzünden, ihre Gesundheit gefährden und ihr Leben zerstören. (56) Der Staat muß konsequent gegen jede Form von Kriminalität vorgehen. (57) Aber wir brauche auch mehr Gemeinsinn und Zivilcourage. (58) Ich vertraue darauf, daß Deutschlands Identität durch soziale Verantwortung und den Respekt vor jedem einzelnen Menschen geprägt wird - und nicht durch rückwärtsgewandten Nationalismus. (59) Unser Land muß seiner Verantwortung in der Welt gerecht werden. (60) In der Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik wollen wir größere Anstrengungen unternehmen, den Hunger zu besiegen, die Umweltzerstörung zu beenden und die Bevölkerungsexplosion einzudämmen. (61) Elend und Not beginnen unmittelbar vor unserer Haustür. (62) Den Staaten Mittel- und Osteuropas müssen wir eine demokratische und partnerschaftliche Perspektive eröffnen - das gebieten Vernunft, Solidarität und Dankbarkeit. "

273 Bündnis 90/Die Grünen: .Programm zur Bundestagswahl 94, verabschiedet auf der Bundesdelegiertenkonferenz in Mannheim im Februar 1994' Präambel (S. 4-6) „(1) BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN treten zu den Wahlen zum 13. Deutschen Bundestag an und wollen Mitverantwortung für die Zukunft übernehmen. (2) Unser wichtigstes Ziel ist es, die Regierung Kohl abzulösen, um eine soziale und ökologische Kurskorrektur in der Bundesrepublik einzuleiten. (3) Parteien und Politiker haben in den vergangenen Jahren viel Ansehen verloren. (4) Wir möchten dazu beitragen, daß Bürgerinnen und Bürger sich durch die, die sie gewählt haben, wieder vertreten fühlen. (5) Wir möchten aber auch ausländische Bürgerinnen und Bürger vertreten, die, obwohl sie seit vielen Jahren in Deutschland leben, noch immer nicht wählen dürfen. (6) Zu Recht wird von Politikerinnen und Politikern erwartet, daß sie professionell und engagiert arbeiten und ihre Arbeit als einen Dienst an der Gesellschaft verstehen. (7) Aber alle Anstrengungen in Parlamenten und Regierungen haben nur Sinn, wenn sehr viele Menschen in diesem Land bereit sind, ihre Verantwortung für die Gesellschaft wahrzunehmen und die Politiker nicht sich selbst und ihrem Geschäft überlassen. (8) Über unsere Zukunft wird nicht nur an den Wahlurnen entschieden, sondern überall und an jedem Tag. (9) Viele Menschen schauen nicht zuversichtlich, sondern beunruhigt und voller Angst in die Zukunft. (10) Dafür gibt es gute Gründe. (11) Aber diese Zukunftsangst lähmt, verführt zur Resignation oder macht aggressiv. (12) Dadurch bleibt alles, wie es ist, oder wird noch schlimmer. (13) Wir möchten mit unserem Wahlprogramm Lust auf Politik machen. (14) Das klingt ziemlich gewagt in einer Zeit, in der sich immer mehr Menschen von der Politik abwenden. (15) Aber wir reden aus Erfahrung: (16) Es ist notwendig und sinnvoll, sich einzumischen. (17) Viele von uns haben es ausprobiert und erfahren, daß sich gemeinsam, mit Geduld und Courage eine Menge erreichen läßt. (18) Wir möchten Politik gemeinsam mit Wählerinnen und Wählern und nicht nur mit deren Stimmen machen. (19) Dafür brauchen wir eine öffentliche Debatte zu den wichtigsten Fragen der Zeit. (20) Dieser Meinungsaustausch und die Suche nach Problemlösungen müssen parteiübergreifend und unter Einbeziehung von Betroffenen, Interessenvertretungen und Fachleuten erfolgen. (21) Wir, die Mitglieder von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, gehören den verschiedensten Berufsgruppen an, leben in Dörfern oder Städten, sind alt oder jung, haben Kinder oder auch nicht, interessieren uns für die verschiedensten Dinge und leben in sehr unterschiedlichen Verhältnissen. (22) Auch unserer Geschichte ist verschieden. (23) Wir haben in der DDR oder in der alten Bundesrepublik gelebt, sind seit Jahren politisch aktiv oder haben uns gerade erst aufgerafft, können auf Erfolge zurückblicken und haben manchmal versagt. (24) Kurz und gut: So verschieden wir als Mitglieder von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN auch sind, verbindet uns doch eins: Wir tragen politische Verantwortung: im Alltag, in Bürgerinitiativen und Verbänden, als ehren- oder hauptamtliche Politiker und Politikerinnen, auf Oppositionsbänken und auf Regierungsstühlen. (25) Politik stand selten vor so schwierigen Problemen wie heute. (26) Wir versuchen mit unserem Programm, Wege aus der Krise unserer Gesellschaft aufzuzeigen. (27) Für viele der anstehenden Fragen gibt es keine Sofortlösungen. (28) Zur Demokratie gehört auch, mit Konflikten und Problemen leben zu lernen. (29) Wir meinen, daß gegenüber Politikern und Parteien, die die Menschen nicht ernstnehmen, sondern für alles Patentlösungen anbieten, Mißtrauen angebracht ist. (30) Der Prozeß der inneren Einheit Deutschlands, der den Wählerinnen und Wählern vor vier Jahren als schnell erreichbar und preiswert vorgegaukelt worden war, ist ins Stocken geraten. (31) Längst ist im Osten klar, daß die .blühenden Landschaften' noch lange auf sich warten lassen werden, und im Westen, daß die Einheit erhebliche finanzielle Belastungen mit sich bringt. (32) Verzögert durch die verstärkte Nachfrage auf dem ostdeutschen Markt wird inzwischen die Wachstumskrise der Industrie sichtbar. (33) Traditionelle Industriezweige schrumpfen, während die

274 Entwicklung zukunftsfähiger neuer Produkte und Technologie versäumt wurde. (34) Infolge von Massenerwerbslosigkeit und neuer Armut leben Millionen Menschen, in der Mehrheit Frauen, ohne Zukunftsperspektiven. (35) Millionenfach liegen Leistungsbereitschaft und Erfahrung gutausgebildeter Menschen brach. (36) Die Angst vor Arbeitslosigkeit und dem sozialen Abstieg schürt Mißgunst und Ellenbogenmentalität und wird zu politischem Sprengstoff. (37) Vor wenigen Jahren waren es nur kleine Gruppen und DIE GRÜNEN, die vor der zunehmenden Gefährdung unserer natürlichen Lebensgrundlagen warnten. (38) Inzwischen ist das Bewußtsein dieser Gefährdung längst zum politischen Grundwissen geworden. (39) An Tatsachen wie zunehmenden gesundheitlichen Belastungen, dem Verkehrsinfarkt, der sichtbaren Umweltzerstörung und den Müllbergen kommt nicht mehr vorbei, wer Nase und Augen hat. (40) Immer mehr Menschen dämmert es, daß an unserer Art zu leben und zu wirtschaften etwas nicht stimmt. (41) Aber anstatt Landschaft, Klima, Tierwelt und Gewässer durch einen konsequenten ökologischen Umbau zu bewahren, betreiben die sogenannten Konservativen mit unvermindertem Tempo den ökologischen Abbau. (42) Nach wie vor sind wir und unsere Nachkommen durch die Risiken und Gefahren der Atomenergie bedroht. (43) Unter dem Druck der Wirtschaftskrise wächst die Kluft zwischen ökologischen Einsichten und der Tatenlosigkeit von Politik und Industrie. (44) Aber nur die ökologische Erneuerung der Industrie, des Energie- und Verkehrssystems bietet die Chance für zahlreiche neue Arbeitsplätze. (45) In der Verbindung von .Arbeit und Umwelt' liegt die Antwort auf die Strukturkrise der Industriegesellschaft. (46) Zur ökologischen und sozialen Krise kommt die demokratische Krise hinzu. (47) Immer mehr Menschen, vor allem solche mit anderer Hautfarbe, anderer Kultur oder mit Behinderungen, müssen angesichts rechtsextremer Gewalttäter um ihre Sicherheit fürchten. (48) Die Politik der Bundesregierung fördert Ausgrenzung und Diskriminierung. (49) Die in der Bevölkerung vorhandenen Ängste werden geschürt und zum Vorwand genommen, demokratische Grundrechte abzuschaffen. (50) So ist das Asylrecht faktisch außer Kraft gesetzt worden, und so ist durch den sogenannten Lauschangriff die Unverletzlichkeit der Wohnung bedroht. (51) Die Chance, die Einheit für einen gesellschaftlichen Neubeginn zu nutzen und auf dem Wege einer Verfassungsreform demokratisch zu gestalten, ist vertan worden. (52) Statt dessen haben sich die Menschen Ostdeutschlands, verlockt durch das Versprechen raschen Wohlstands, für eine Anschlußpolitik entschieden, durch deren Vollzug sie in ihrem Selbstbewußtsein und in ihrer Würde tief verletzt worden sind. (53) Den in Westdeutschland lebenden Menschen wurde suggeriert, daß ihre Welt sich nicht verändern würde. (54) Auch das war eine Lüge, die gern angenommen wurde und jetzt zu Enttäuschen führt. (55) Die Bundesregierung hat die soziale, ökologische und demokratische Krise, in der sich dieses Land befindet, verschärft. (56) Die politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen ändern sich in einem rasanten Tempo und erfordern eine neue Politik. (57) Die noch amtierende Regierung hat darauf nur Antworten von gestern und vorgestern. (58) Die Zeit ist reif für einen politischen und gesellschaftlichen Wandel. (59) Die Bundesrepublik braucht einen Neuanfang. (60) Wir, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, werden uns nicht die Zukunft stehlen lassen. (61) Wir wollen einen politischen Kurswechsel in diesem Land. (62) Wir wollen eine Reform der Politik und eine Politik der Reformen. (63) Wir wollen eine solidarische Gesellschaft: den fairen Lastenausgleich zwischen Ost und West, die gerechte Verteilung von Arbeit und Einkommen, den Ausbau der sozialen Grundsicherung, eine Lebensperspektive für unsere Kinder, den Schutz Benachteiligter und Schwacher. (64) Wir wollen eine ökologische Gesellschaft: den ökologischen Umbau der Wirtschaft, eine Wende in der Energie- und Verkehrspolitik, einen Wertewandel zugunsten einer neuen Lebenskultur ohne Konsumwahn. (65) Wir wollen eine demokratische Gesellschaft: Beteiligungsmöglichkeiten für Bürgerinnen und Bürger an politischen Entscheidungen, den Erhalt und die Erweiterung demokratischer Grundrechte, eine gutinformierte und kritische Öffentlichkeit.

275 (66) Wir wollen eine multikulturelle und tolerante Gesellschaft: die doppelte Staatsbürgerschaft, ein liberales Einwanderungsrecht, die Aufnahme von Flüchtlingen, einen lebendigen Austausch von Kulturen, die Gleichstellung und den Schutz von Minderheiten, die Vielfalt der Gesellschaft als Bereicherung begreifen. (67) Wir wollen eine emanzipierte Gesellschaft: gleiche Chancen für Frauen und Männer, selbstbestimmt zu leben und sich an der Gestaltung der Gesellschaft zu beteiligen, Förderprogramme für Frauen, eine kinderfreundliche Steuerpolitik, die Gleichstellung aller Lebensformen. (68) Wir wollen eine friedfertige Gesellschaft: die Einbindung Deutschlands in demokratische, internationale Zusammenhänge, ein Verbot von Waffenexporten, weitere Abrüstungsschritte, eine solidarische und zivile Außenpolitik. (69) Wir wollen einen ökologisch-solidarischen Gesellschaftsvertrag: (70) Immer mehr Menschen wissen, daß es nicht so weitergehen kann wie bisher. (71) An die Stelle der Zweidrittelgesellschaft von oben muß ein Solidarzusammenhang von unten treten. (72) Wir wollen an der Gestaltung eines neuen ökologisch-solidarischen Gesellschaftsvertrages mitwirken, denn wir wissen: (73) Viele wohlhabendere Menschen wollen sich nicht auf ihrem Wohlstand ausruhen. (74) Sie sind bereit, auf Mehrung materiellen Wohlstands zu verzichten, wenn sie gewiß sein können, daß die Mittel in soziale und ökologische Programme geleitet werden. (75) Sie wissen, daß sich Lebensqualität nur durch die soziale und ökologische Umgestaltung der Gesellschaft verbessert und nur so die nachfolgenden Generationen eine Lebenschance haben. (76) Die weniger Verdienenden wiederum, die in den Genuß der Umverteilung kommen, können sich um so mehr für eine ökologische Politik engagieren, als ihre eigenen materiellen Nöte gemindert werden. (77) Dieses Bündnis kann den Druck auf die erhöhen, die der sozialen Verpflichtung, die aus dem Eigentum erwächst, nicht gerecht werden, sich mit einem wirklichen Solidarbeitrag an der Jahrhundertaufgabe der gesellschaftlichen Erneuerung zu beteiligen. (78) Diese gesellschaftliche Koalition kann die Grundlage für eine neue und tragfähige Koalition im Bundestag bilden. (79) Wir wollen den politischen und gesellschaftlichen Wandel: (80) Wir sind bereit, uns mit aller Kraft in ein Regierungsbündnis einzubringen, wenn damit eine seriöse Reformpolitik in Aussicht steht. (81) Eine Möglichkeit sehen wir in einer Koaütion mit der SPD. (82) Deshalb gilt: Wer rotgrün will, muß grün wählen. (83) Als bloße Mehrheitsbeschaffer allerdings stehen wir nicht zur Verfügung. (84) Aber ob wir in der Regierung oder in der Opposition arbeiten: Wir werden die Vision einer sozialen und ökologischen, solidarischen und demokratischen Gesellschaft in unsere politische Arbeit einbringen. (85) Doch wir haben Geduld und wissen, daß große Hoffnungen meist sehr kleine Schritte machen. " PDS:

Opposition gegen Sozialabbau und Rechtsruck. Wahlprogramm der PDS 1994'. Angenommen auf dem 3. Parteitag der Partei des Demokratischen Sozialismus. 3. Tagung, (Wahlkongreß). Berlin am 13. März 1994. Die PDS gehört in den Bundestag! (S. 3-5)

„(1) Die BRD braucht eine starke linke Opposition und Widerstand (2) Wir wollen ein anderes Deutschland, eine demokratische, soziale, zivile, ökologische und antirassistische Erneuerung der BRD. (3) Wir wollen die Überwindung der gesellschaftlichen Frauenfeindlichkeit und aller Formen der Diskriminierung in diesem Land. (4) Für diese Ziele werden wir nicht zuletzt im Bundestag wirken. (5) Die Bundesrepublik braucht eine starke linke Opposition. (6) Im Bundestag, in sechs Landtagen, in Tausenden Kommunalverwaltungen sowie in außerparlamentarischen Bewegungen haben wir uns eingesetzt und werden wir uns einsetzen.

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(7) Für das Recht auf Arbeit für alle durch eine aktive Beschäftigungspolitik, gegen Massenarbeitslosigkeit und die Zerstörungsstrategie der Bundesregierung mit ihrer Treuhandanstalt im Osten, (8) gegen die Strangulierung der ostdeutschen Landwirtschaft und der gemeinschaftlichen Wirtschaftsformen sowie für die Verteidigung der Bodenreform von 1945, (9) für menschwürdiges Wohnen und bezahlbare Mieten in Ost- und Westdeutschland, für den Schutz der Eigentum- und Nutzungsrechte der DDR-Bürgerinnen und -Bürger, (10) für eine soziale Grundsicherung für alle, für eine bedarfsdeckende, selbstbestimmte Pflegeabsicherung, gegen Deregulierung, Sozialabbau und Armut, für ein sozial gerechtes Gesundheitssystem, (11) für die gleiche Teilhabe der Frauen in allen gesellschaftlichen Bereichen, (12) für die ersatzlose Streichung des §218, (13) für mehr gewerkschaftliche Mitbestimmung und gegen die Angriffe auf die Tarifautonomie, (14) gegen den internationalen Einsatz der Bundeswehr, gegen Rüstungsproduktion und Waffenhandel, für die Abschaffung der Wehrpflicht und aller Zwangsdienste, (15) gegen Nationalismus, Großmachtpolitik, Rechtsextremismus und die Abschaffung des Asylrechts, für einen Volksentscheid über die weitere Entwicklung der Europäischen Union, (16) für eine umfassende ökologische Wende, (17) gegen die geistig und sozial reaktionäre Wende in der Kultur-, Bildungs- und Wissenschaftspolitik, (18) gegen politische Diskriminierung, gegen Rentenstrafrecht und soziale Ausgrenzung in Ostdeutschland, (19) für die Beendigung des Kalten Krieges in der BRD, (20) für eine neue Verfassung der BRD.

(21) Die PDS ist eine sozialistische Partei und nimmt in den sozialen und politischen Auseinandersetzungen der BRD rakikaldemokratische und antikapitalistische Positionen ein. (22) Menschliches Überleben, eine soziale, ökologische und kulturelle Perspektive verlangen gebieterisch weitreichenden gesellschaftlichen Wandel. (23) Er wird unmöglich bleiben, solange Profit- und Kapitalverwertung die gesellschaftliche Entwicklung dominieren. (24) Unser Ziel bleibt der demokratische Sozialismus! (25) Die Partei des Demokratischen Sozialismus ist aus dem Reformwillen Zehntausender SEDMitglieder entstanden und wird auch im Wahlkampf 1994 ihre selbstkritische Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte fortsetzen. (26) Seit Ende 1990 wirkt die PDS in der gesamten Bundesrepublik und hat Mitglieder in den alten Bundesländern und Westberlin gewonnen, die ihre Grundsätze und Ziele unterstützen. (27) Die Politik der Bundesrepublik Deutschland hat in den vergangenen Jahren eine bedrohliche Entwicklung genommen. (28) Wir verkennen nicht den Gewinn an politischen Rechten sowie Konsummöglichkeiten, den es für die Menschen aus der DDR gegeben hat. (29) Aber statt einer gleichberechtigten Vereinigung der beiden deutschen Staaten wurde die DDR lediglich der alten Bundesrepublik angeschlossen. (30) Die Folgen haben nicht nur die Ostdeutschen mit der Zerstörung von Industrie, Landwirtschaft, Wissenschaft und Kultur, grundgesetzwidriger Ungleichbehandlung, Rentenstrafrecht, ungleicher Entlohung sowie Bedrohung ihrer Eigentum- und Nutzungsrechte zu tragen. (31) Ein Drittel der arbeitsfähigen Menschen wurde aus dem Erwerbsleben ausgeschlossen. (32) Mittlerweile wird immer deutlicher, daß Ostdeutschland für die Bundesregierung und die Unternehmerverbände das Experimentierfeld für Sozial- und Demokratieabbau ist, der in zunehmendem Maße die gesamte Bundesrepublik erfaßt. (33) Die Diskriminierung von Frauen wurde vor allem von CSU und CDU in allen Bereichen der Gesellschaft verstärkt. (34) In ganz Deutschland werden jetzt demokratische, soziale und rechtsstaatliche Errungenschaften aus den letzten Jahrzehnten in Frage gestellt. (35) Auf kaltem Wege findet eine Machtverlagerung in für diese Aufgaben nicht legitimierte Institutionen wie die Treuhand-

277 anstatt, das Bundesverfassungsgericht und die Bundesbank statt. (36) Gleichzeitig werden Probleme wie die organisierte Kriminalität zum Vorwand genommen, den Überwachungsstaat zu perfektionieren. (37) Der Datenaustausch zwischen Polizeibehörden, Geheimdiensten, Krankenkassen, Arbeitsämtern und Sozialbehörden wird zu einem immer dichteren Netz verknüpft. (38) Demokratie muß sich gerade in gesellschaftlichen Krisen bewähren. (39) Autoritäre Staatsmodelle sind kein Ausweg. Die PDS setzt sich für ausschließlich demokratische Lösungen ein. (40) Auf bisher nicht dagewesene Weise werden die Gewerkschaften und ihre gesellschaftliche Rolle sowie die Tarifautonomie und die betrieblichen Mitbestimmungsrechte angegriffen. (41) Die seit einem Jahrzehnt praktizierte Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums zugunsten der Konzerne wurde durch die Bundesregierung verstärkt fortgesetzt, indem vor allem die sozial Schwächsten weiter belastet wurden. (42) Zugleich hat die Politik von CDU, CSU und FDP zu einer für die Staatsfinanzen und Kommunen ruinösen Finanzkrise geführt. (43) Großmacht- und militärische Gewaltpolitik, Nationalismus und Rechtsextremismus verstärken sich. (44) Deutschland droht erneut zur Gefahr für seine Nachbarn in Europa und auf anderen Kontinenten zu werden. (45) Die für menschliches Überleben längst überfällige radikale Veränderung der gesamten Wirtschaftspolitik hin zu solidarischer Weltwirtschaft und ökologischer Wende in der Industrie-, Energie- und Verkehrspolitik ist unterblieben. Es sind nicht nur erneut vier Jahre für die notwendigen Wandlungen verlorengegangen, es ist im Gegenteil die ökologische, soziale, kulturelle und sicherheitspolitische Krise auf dem Erdball verschärft worden. (46) Die Bundesregierung trägt dafür gemeinsam mit den anderen Großmächten entscheidende Verantwortung. Alternativen sind möglich (47) Die Politik der Bundesregierung und der oft mit ihr gemeinsam handelnden SPD ist nicht alternativlos. (48) Die PDS hat in ihrem neuen Parteiprogramm von 1993 und in konkreten Vorstellungen zu einzelnen Fragen realistische Alternativen zur Politik der etablierten Pareien entwikkelt.(49) Unsere Positionen zu schwerwiegenden sozialen und poütischen Mißständen in diesem Land und zu den globalen Problemen verdeutlichen, wofür sich die PDS im Bundestag und außerparlamentarisch 1994 bis 1998 einsetzen wird. (50) Auf allen Politikfeldern wird es dabei um eine entschiedene Demokratisierung des gesellschaftlichen und politischen Lebens in der BRD, vor allem um die Erweiterung der direkten Beteiligungs- und Entscheidungsrechte von Bürgerinnen und Bürgern sowie ihrer Bewegungen und Initiativen gehen müssen. (51) Wir verteidigen die Grundrechte und die Rechtsstaatlichkeit gegen autoritäre Angriffe und fordern ihren demokratischen Ausbau. (52) Die PDS nimmt die Verfassungsverweigerung der in Bonn regierenden Parteien nicht widerstandlos hin. (53) Als einzige Bundestagspartei hat sie einen geschlossenen Verfassungsentwurf im Bundestag eingereicht, der Vorstellungen zur Gestaltung eines demokratischen, antifaschistischen, friedlichen und sozial gerechten Gemeinwesens zum Ausdruck bringt. (54) Wir wenden uns gegen alle Tendenzen, die Gewaltenteilung faktisch aufzuheben, Gerichte zu Instrumenten der Politik zu machen, die Kommunen rechtlich und finanziell zu knebeln, die Parlamente durch die Regierungen und Verwaltungen noch weiter zu entmündigen." FDP:

.Liberal denken. Leistung wählen. Das Programm der F.D.P. zur Bundestagwahl 1994'

Präambel (S. 5-8) „(1) Deutschland braucht eine starke F.D.P. (2) Am 16. Oktober 1994 entscheiden die Wählerinnen und Wähler in unserem Land nicht nur über die Zusammensetzung des Deutschen Bundestages, sondern auch über die Zukunftschancen unseres Landes. (3) Für die F.D.P. sind die Herausforderungen der kommenden Jahre: die Sicherung des Standortes Deutschland, die Schaffung neuer, zusätzlicher Arbeitsplätze, die politische, wirtschaftli-

278 che und soziale Vollendung der deutschen Einheit, die Notwendigkeit, unser Land offen und tolerant zu halten und mehr weltpolitische Mitverantwortung für das vereinigte Deutschland. (4) Nur ein liberales Deutschland mit einer starken F.D.P. kann darauf die richtigen Antworten geben. (5) Seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland steht die F.D.P. in der Verantwortung für unser Land - in der Bundesregierung, aber auch in der parlamentarischen Opposition. (6) Die Liberalen haben maßgeblich das Grundgesetz geprägt und damit die Voraussetzungen für eine freiheitliche und demokratische Gesellschaft geschaffen. (7) Sie haben dafür gesorgt, daß die Politik in unserem Land nicht von den Rändern, sondern von der Mitte bestimmt wird. (8) Davon hat Deutschland profitiert. (9) Mit der CSU und Teilen der CDU hat die F.D.P. gegen SPD und die Mehrheit der CDU nach 1949 die Soziale Marktwirtschaft erstritten und die Integration in das westliche Bündnis eingeleitet. (10) Nach dem Wiederaufbau und der Aussöhnung mit dem Westen hat die F.D.P. zusammen mit der SPD die Entspannungspolitik durchgesetzt und mit inneren Reformen mehr Demokratie verwirklicht. (11) Zugleich haben die Liberalen als erste ein konkretes Programm zum Schutz der Umwelt vorgelegt und die erste umfassende Umweltgesetzgebung auf den Weg gebracht. (12) In der Koalition mit CDU und CSU haben die Liberalen seit 1982 durch marktwirtschaftliche Politik mehr Wohlstand und höhere Lebensqualität für die Bürger erreicht. (13) Liberale Außenpolitik hat zugleich ein Höchstmaß an internationalem Vertrauen geschaffen. (14) Beides zusammen hat erst möglich gemacht, wofür die Menschen in den neuen Bundesländern erfolgreich gekämpft haben: die Einheit in Freiheit. (15) Die F.D.P. ist auf dem Weg zu einer echten gesamtdeutschen Partei weiter vorangekommen als die anderen Parteien. (16) Wir haben einen besonders hohen Anteil von Mitgliedern und Mandatsträgern aus den neuen Bundesländern. (17) Wir Liberalen stehen für mehr Leistungsorientierung, mehr Weltoffenheit und mehr Toleranz - in den alten und in den neuen Bundesländern. (18) Unsicherheit und Orientierungslosigkeit sind zum kennzeichnenden Lebensgefühl vieler Deutscher geworden. (19) Die Politile ist daran nicht schuldlos. (20) Sie hat das Trugbild gezeichnet, daß Freiheit und Sicherheit in allen Lebenslagen vom Staat geliefert werden können, ohne daß die Menschen selbst Verantwortung übernehmen müssen. (21) Recht und Pflichten müssen in der Gesellschaft wieder zusammengeführt werden. (22) Dazu gehört auch, daß wir uns der Verantwortung für kommende Generationen bewußt sind. (23) Wir Liberale wissen: Die Schwierigkeiten unseres Landes sind nicht Folgen der deutschen Einheit. (24) Die deutsche Einheit hat aber Schwachstellen in Wirtschaft und Gesellschaft aufgedeckt. (25) Sie bietet die Chance, im Westen und im Osten unseres Landes verkrustete Strukturen aufzubrechen, Verantwortung an die Bürger zurückzugeben und mit neuen Ideen und Produkten Deutschland wieder wettbewerbsfähig zu machen. (26) Das geht nur mit mehr Marktwirtschaft. (27) Deutschland steht am Scheideweg. (28) Millionen Menschen haben keine Arbeit oder bangen um ihren Arbeitsplatz. (29) Bei Steuern und Abgaben haben wir inzwischen Rekordhöhen erreicht. (30) Wir müssen Antwort auf die Frage geben, wie der Standort Deutschland und damit unsere Arbeitsplätze, unsere sozialen Sicherungssysteme und der Schutz der Umwelt im internationalen Wettbewerb erfolgreich bestehen kann. (31) Die entscheidende Frage lautet: Nehmen wir das alles so hin? (32) Haben wir schon resigniert? (33) Oder wollen wir endlich mit liebgewonnenen Gewohnheiten aufräumen, die wir uns nicht länger erlauben können? (34) Aus unserer Sicht kann es darauf nur eine Antwort geben. (35) Wir müssen weg von Beschönigungen und Verkleisterungen. (36) Wir müssen weg von einer Politik, die den Bürgern die Wahrheit verschweigt und sie vor harten Forderungen zu schützen vorgibt. (37) Die F.D.P. macht den Wählerinnen und Wählern keine falschen Versprechungen, sondern Mut. (38) Mit unserem Programm zur Bundestagswahl am 16. Oktober sagen wir, was wir Liberale für Deutschland in den nächsten Jahren tun wollen: konkret, praxis orientiert und ehrlich. (39) 1. Es gibt keine bequemen Lösungen, auch wenn die Verteilungspolitiker von SPD und Bündnis 90/Die Grünen die Probleme von heute und morgen mit den Rezepten von gestern lösen wollen. (40) Wir wenden uns an die Mutigen im Land. (41) Wer heute die

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richtige Politik machen will, darf es nicht allen recht machen wollen. (42) Es gibt auch bei CDU und CSU noch zu viele Beharrungskräfte und zu wenig Mut, auch gegen Widerstand mächtiger Interessenverbände alle Hemmnisse auf dem Weg zur Schaffung neuer, zusätzlicher Arbeitsplätze zu beseitigen. (43) Die F.D.P. setzt als einzige Partei in Deutschland konsequent auf Marktwirtschaft und Wettbewerb. (44) Wir brauchen im internationalen Standortwettbewerb flexiblere Arbeitzeiten, mehr Teilzeitarbeit und mehr betriebsnahe Vereinbarungen. (45) Wir müssen bürokratische Überregulierungen abbauen und die Genehmigungsverfahren beschleunigen. (46) Das kommt gerade unserem leistungsfähigen Mittelstand zugute - auch in den neuen Bundesländern. (47) Nur die F.D.P. steht für neue, intelligente Lösungen. Wir wollen eine Rückbesinnung auf die zentralen Werte des Liberalismus: Freiheit und Verantwortung. (49) Während die anderen Parteien den neuen Herausforderungen mit der Forderung nach mehr Staat begegnen, setzen wir Liberalen auf Freiheit als politisches Gestaltungsprinzip. (50) Wir sagen offen: Die bisherige Politik der .Vollkaskoversicherung' gegen alle Lebensrisiken ist nicht mehr finanzierbar. (51) Wir können durch Einführung des Bürgergeldes einen Umbau der sozialen Sicherungssysteme erreichen, so daß sie finanzierbar bleiben und wirklich denen zugute kommen, die unsere Hilfe brauchen. (52) Wir brauchen marktwirtschaftliche Instrumente für mehr Umweltschutz statt immer mehr Verbote. (53) Umweltschutz darf nicht der Vorwand für immer höhere Steuern und Abgaben sein. (54) Unser Ziel ist die Soziale und Ökologische Marktwirtschaft. (55) Wir setzen auf ein offenes, kreatives Bildungssystem, das sich dem internationalen Wettbewerb stellt, statt sich in Provinzialismus und Kleingeist zurückzuziehen. (56) Wir brauchen mehr technologische Spitzenleistungen und neue wettbewerbsfähige Produkte statt Technikfeindlichkeit und Angst vor Innovation. Und wir brauchen so rasch wie möglich wieder eine Senkung der Steuern und Abgaben. (57) Die einheitsbedingten Steuer- und Abgabenerhöhungen dürfen nicht zur Dauerlösung werden. (58) Das heißt: Keine weiteren zusätzlichen Besteuerungen der Bürger und Unternehmen, aber Mut zur Fortsetzung der sparsamen Haushaltspolitik ohne Tabus. Als Partei der Freiheit und Verantwortung setzt die F.D.P. auf die Eigeninitiative, die Kreativität und die Leistungsfähigkeit der Bürger. (60) Wir ergreifen Partei für die, die zu besonderer Leistung und zur Verantwortungsübernahme in allen Lebensbereichen der Gesellschaft bereit sind. (61) Wir brauchen die Leistungsträger in unserer Gesellschaft für die Zukunftssicherung und Zukunftsgestaltung Deutschlands. (62) Dabei wollen wir die Kraft der Starken nicht nur zur Selbstverwirklichung, sondern gerade auch, um den Schwachen zu helfen. (63) Deshalb lehnen wir entschieden die Versuche von SPD und Bündnis 90/Die Grünen ab, die Leistungsträger unserer Gesellschaft zu diskriminieren und sie immer mehr zu belasten. (64) Wer Deutschlands Zukunft sichern will, muß alle, die, wo auch immer, mehr leisten wollen, ermutigen. (65) Für uns gilt weiterhin: Leistung muß sich lohnen. Eine offene und veränderungsbereite gesellschaftliche Kultur mit mehr Beteiligungsmöglichkeiten für die Bürger und eine erfolgreiche Soziale Marktwirtschaft bedingen einander. (67) Wir unterscheiden uns mit dieser Überzeugung von allen anderen Parteien. (68) Kein Mensch kann kreativ sein, wenn er durch Sozialbürokratien oder obrigkeitsstaatlichen Strukturen gegängelt wird. (69) Umgekehrt sind in einer Situation der Rechtlosigkeit und Unsicherheit Freiheitschancen bedeutungslos. (70) Deshalb ist für die F.D.P. die Innen- und Rechtspolitik von besonderer Bedeutung. (71) Liberale wollen eine offene und tolerante Gesellschaft. (72) In dieser Gesellschaft ist für Gewalt und Extremismus ebensowenig Platz wie für die organisierte Kriminalität. (73) Extremisten, Gewalttäter und Kriminelle sind Feinde der Freiheit. (74) Deshalb werden sie gerade von der F.D.P. entschieden mit den Mitteln des überalen Rechtsstaats bekämpft: nicht durch den Abbau von Bürgerrechten, wie ihn CDU/CSU und SPD fordern, sondern durch wirksame und

280 konkrete Maßnahmen. (75) Dafür steht unsere liberale Innen- und Rechtspolitik, in der Maß und Vernunft gewahrt bleiben. (76) 5. Für die F.D.P. ist eine aktive und zielorientierte Gleichstellungspolitik eine zentrale Aufgabe, der im vereinten Deutschland große Bedeutung zukommt. (77) In den neuen Ländern ist eine Situation entstanden, in der sich Frauen zunehmend als die Verliererinnen der Einheit sehen und die zwingend konkrete Maßnahmen erfordert. (78) Aus diesem Grund und auf der Grundlage der einschlägigen Erfahrungen in den alten Ländern verlangt die F.D.P. eine Ergänzung des Artikel 3 Absatz 2 GG. (79) Wir brauchen eine Handlungspflicht des Staates zur Förderung der Gleichberechtigung in allen Bereichen. (80) 6. Wir Liberalen streben eine Welt an, in der das Recht herrscht und nicht die Macht des Stärkeren. (81) Das vereinte Deutschland darf sich seiner internationalen Verantwortung nicht entziehen. (82) Es muß sich an der Durchsetzung des internationalen Rechts ebenso wie an der europäischen Einigung beteiligen. (83) Die F.D.P. sorgt dafür, daß Deutschland ein zuverlässiger internationaler Partner für Frieden, Freiheit und globale Zukunftssicherung bleibt. (84) Wir sagen Bündnis 90/Die Grünen klar: Es darf keine deutschen Sonderwege mehr geben. (85) Eine Auflösung der NATO und die Abschaffung der Bundeswehr wird die F.D.P. verhindern. (86) Konservative Kräfte, z.B. in Großbritannien und in Bayern, versuchen, die Europäische Union in eine lose Freihandelszone souveräner Nationalstaaten zu verwandeln. (87) Dem widersetzen sich die Liberalen. Die F.D.P. ist und bleibt die Europa-Partei. (88) Wir wollen nach Jahren der Spaltung die Einheit Europas in der EU schaffen, denn ohne die europäische Einigung können wir Frieden, Freiheit und Wohlstand bei uns nicht sichern. (89) Deshalb treten wir für eine demokratische, handlungsfähige poütische Union in einem bundesstaatlich verfaßten Rahmen ein. (90) Liberale setzen der Welt des Jammerns und des Mißtrauens eine Gesellschaft aktiver Bürger entgegen, die mit Mut zur Freiheit die tausend Chancen ergreift, die sich gerade in schwieriger Situation ergeben. (91) Freiheit und Wohlstand haben nur in einem weltoffenen, toleranten und leistungsorientierten Deutschland eine Chance. (92) In unserem Programm sagen wir klar, wie wir die deutsche Politik gestalten, Arbeitsplätze schaffen und eine saubere Umwelt schaffen wollen. (93) Nicht mit Platitüden und leeren Versprechungen, sondern mit realisierbaren Forderungen. (94) Wir fordern die Wählerinnen und Wähler auf: Sorgen Sie dafür, daß nicht ein rot-grüner Steuerund Abgabenstaat oder eine unbewegliche Große Koalition unsere Zukunftschancen verspielen. (95) Verschwenden Sie ihre Stimme nicht an Protestparteien. (96) Erteilen sie den Radikalen von rechts und links, Republikanern, DVU, PDS und wie sie sonst noch heißen mögen, eine klare Absage. (97) Unser Land darf nicht von den Rändern her regiert werden. (98) Unser Land braucht die Liberalen. (99) Unser Land braucht eine starke F.D.P."

CDU/CSU: ,Regierungsprogramm von CDU und CSU, August 1994' Präambel (S. lf.) „(1) Am Ende des Jahrhunderts, in dem Europa wie nie zuvor unter Kriegen und Diktaturen leiden mußte, hat das deutsche Volk die Chance, in Frieden, Freiheit und Freundschaft mit allen seinen Nachbarn die Zukunft zu gestalten. (2) Deshalb sind wir dankbar für die Deutsche Einheit. (3) Wir Deutsche wollen unsere Verantwortung als Mitglied der Völkergemeinschaft wahrnehmen und gemeinsam mit unseren Parntern das vereinte Europa schaffen. (4) Freiheitsfeindliche Ideologien von rechts und links haben großes Unglück über unser Volk, über unsere Nachbarn und die Welt gebracht. (5) Nach dem Ende des Ost-West-Gegensatzes und nach der Wiedervereinigung Deutschlands in Frieden und freier Selbstbestimmung können alle Deutschen ihre Lebenschancen frei von Bevormundung in Verantwortung für sich selbst und unser Land wahrnehmen.

281 (6) Die erste und wichtigste Aufgabe des Staates ist es, Frieden und Sicherheit im Inneren und nach außen zu garantieren. (7) Wo Menschen allein oder gemeinsam ihr Leben gestalten, legt der Staat die unerläßlichen Regeln des gedeihlichen Zusammenlebens fest. (8) Als Anwalt des Gemeinswohls und der Bürgerrechte sorgt er für den notwendigen Ausgleich zwischen den Interessen des einzelnen und denen der Gemeinschaft. (9) Wo Menschen in Not geraten, hilft er. (10) Er gibt den Schwachen, die keine Lobby haben, eine Stimme und trägt dafür Sorge, daß die Welt für jetzige und künftige Generationen lebenswert bleibt. (11) Die wichtigsten Aufgaben der kommenden Jahre sind: - (12) die innere Einheit zu vollenden; - (13) in einem modernen Deutschland Wachstum zu stärken und Arbeit für alle zu erreichen; - (14) die natürlichen Lebensgrundlagen zu bewahren; - (15) eine Gesellschaft des Gemeinsinns zu fördern, in der die Familie gestärkt wird und das Netz der sozialen Sicherheit leistungsfähig bleibt; - (16) die innere Sicherheit zu gewährleisten. (17) Mit der Ausgestaltung der Einheit machen wir ganz Deutschland moderner, indem wir veraltete Strukturen aufbrechen, Besitzstandsdenken überwinden, Solidarität und Gemeinsinn neu zur Geltung bringen. (18) Unser Ziel ist, eigenständige Entscheidungen und Gestaltungsräume zu erweitern, in denen die Bürger ihre Verantwortung für sich und das Gemeinwohl annehmen. (19) CDU und CSU haben die Herausforderungen einer sich dramatisch wandelnden Welt angenommen. (20) Die Überwindung der Rezession und die Sicherung unserer stabilen D-Mark, eine moderne Umweltpolitik, die Sicherung des Zukunftsstandorts Deutschland, der Aufbau Ost, die Konsolidierung der Staatsfinanzen, Bahn-, Post-, Renten- und Gesundheitsreform, die Pflegeversicherung, der Bau von fast 2 Mio. Wohnungen, die Reform des Asylrechts und nicht zuletzt Frieden, Freundschaft und Partnerschaft mit allen unseren Nachbarn, sind eine beispiellose Erfolgsgeschichte. (21) Deutschlands Zukunft würde aufs höchste gefährdet, wenn eine Front aus SPD, Grünen und der kommunistischen PDS an die Macht käme. (22) Unser Land sicher in die Zukunft zu führen, ist das Angebot von CDU und CSU an alle Deutschen. (23) Helmut Kohl und Theo Waigel stehen mit CDU und CSU für eine Politik mit Augenmaß und Zukunftskraft." CSU: .Programm für Bayern. 25. September 1994. Landtags wähl' (S. 2-4) (1) In Bayern hat Fortschritt Tradition. (2) Bayern ist in seiner Vergangenheit gut gefahren, weil wir uns als eigenständiges Land verstanden haben. (3) Freistaat Bayern - das ist nicht nur ein Etikett, das war und ist politisches Programm. (4) Bayern war und bleibt ein .widerspenstiger Freistaat' - im Bund und in Europa! (5) Bayerische Politik an der Wende zum 21. Jahrhundert kann sich nicht im Festklammern an Besitzständen und in der Fortschreibung von bisher Gewohntem erschöpfen. (6) Wir brauchen Mut zur Veränderung. (7) Wir sagen den Bürgern, wohin die Reise geht! (8) So wie sich jeder einzelne Lebensziele setzt, so haben wir gemeinsam große Ziele für unser Land: (9) Unsere Vision von Bayern - beginnt bei der Familie, - (10) umfaßt das Miteinander in der Gesellschaft, - (11) gründet auf sinnerfüllter Arbeit, - (12) achtet unsere Umwelt als die uns anvertraute Schöpfung, - (13) dient unser aller Gesundheit. - (14) Sie gewährt Schutz und Sicherheit durch inneren Frieden,

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(15) gewährleistet soziale Gerechtigkeit, (16) sieht in der Kultur eine Quelle der Inspiration für alle. (17) Sie betrachtet unseren Staat nicht als Vollkaskoversicherung, sondern als Friedens Ordnung mit Bürgerservice und (18) öffnet unsere Demokratie für Mitwirkung und Mitgestaltung möglichst vieler Bürger.

(19) Wir legen keinen Fahplan mit festen Ankunftszeiten vor. (20) Aber wir stellen die Weichen und geben die Richtung an, in die der Zug fahren wird. (21) Wir hängen nicht unerreichbaren Utopien nach. (22) Aber wir haben eine Vision von der Zunkunft Bayerns. (23) Nur mit großen Zielen können wir alle Kräfte mobilisieren, um einen großen Schritt vorwärts zu kommen. (24) Wir entwickeln Visionen, wir entwerfen Bilder von der Zukunft Bayerns, für unsere Kinder und Enkel. (25) Wir arbeiten nicht nur von Wahl zu Wahl. (26) Unser Blick richtet sich auch in das Bayern nach dem Jahr 2000.

283 Transkripte ausgewählter Fernsehsendungen zur Bundestagswahl 1994 (Auszüge) (Einriickungen im Transkript markieren simultanes Sprechen; Kursivdruck steht für intonatorische Hervorhebungen.) ZDF „Wahl '94: Deutschland wohin?", 3. Oktober 1994 Politiker: Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP), Angela Merkel (CDU), Marianne Birthler (Bündnis 90/Die Grünen); Wolfgang Thierse (SPD), Gregor Gysi (PDS), Michael Glos (CSU) Journalistin: Barbara Friedrichs Friedr.: Herr Thierse, ,der Westen hat geholfen' oder ,der Westen wußte besser'? Was ist Ihre • Bilanz? Thierse: Sicher gilt beides. Am Tag der deutschen Einheit muß man zunächst sagen: Der staatliche Rahmen ist da. Das ist gut so. Wir haben politische Freiheiten, die viele Ostdeutsche lange ersehnt haben. Das ist Anlaß - auch immer noch - für ein Glücksempfinden. Aber [...] die inhaltliche, die gesellschaftliche, die soziale, die emotionale Füllung, die ist sehr problematisch. Und das hat sicher mit vierzigjähriger Vorgeschichte zu tun, aber auch mit fundamentalen Fehlern der letzten vier Jahre. Ich nenne den schlimmsten: Rückgabe vor Entschädigung. Das ist ein Grundfehler gewesen, weil damit bei Investoren Unsicherheit erzeugt worden ist, bei vielen Ostdeutschen... ihre kleinen Datschen und Grundstücke... Friedr. : Aber Sie haben da mit zugestimmt, Herr Thierse... Thierse: Moment mal. Ich will ausdrücklich sagen: Dieser Grundsatz ist fatal. Wir müssen ihn ändern. Wir müssen ihn ändern überall da, wo Praxis das erlaubt in den Entscheidungen, wo Investitionen und ostdeutsche Nutzerinteressen und Nutzerrechte geschützt werden müssen, besser als bisher. Zweitens: Die Treuhandanstalt hat eine falsche Privatisierungspolitik verfolgt. Sie hat eben nicht genug Zeit und Chance genutzt für wirkliche Sanierung ostdeutscher Unternehmen. Und drittens, das muß man auch ausdrücklich noch sagen: Die Anerkennung der Ostdeutschen mit ihren Lebenserfahrungen und Lebensleistungen, beruflichen Erfahrungen - ich glaube, das ist vielleicht das, was am meisten wehtut: Die hat noch nicht geklappt. Denn schulterklopfende Ermunterung: ,Seid selbstbewußt', die hilft nicht. Sondern: Die Ostdeutschen müssen die Erfahrung machen, daß ihre Interessen und ihre Rechte genau so viel zählen wie die Interessen und die Rechte der Westdeutschen. Und da hapert es vor allem, wenn ich an das Rentenproblem denke, wenn ich an die Anerkennung von Berufsabschlüssen denke, wenn ich an den Umgang mit Datschen und Grundstücken denke oder an das Problem mit den Wohnungen. Da ist in den vergangenen Jahren soviel Unsicherheit, soviel Angst produziert worden -nicht eingebildete, sondern begründete Angst. Wenn es nicht gelingt... Friedr. : Herr Thierse... Thierse: ...in den nächsten Jahren dies wirklich zu ändern, dann wird die emotionale Spaltung in Deutschland ziemlich tief bleiben. Friedr. : Herr Thierse, Sie kommen wieder dran. [...]

Merkel:

Ich finde es sehr gut, daß die Sozialhilfe in den neuen Bundesländern fast so hoch ist wie in den alten Bundesländern. Darf ich noch ganz kurz sagen zu den Kinderkrippen... Friedr.: Frau Merkel, wir kommen noch zu den Kinderkrippen. Wir sind gleich im sozialen Bereich. Herr Thierse wollte aber gerne dazu was sagen. Thierse: Das hört sich sehr schön an. Aber zugleich haben wir doch Pläne von den Regierungsparteien gehört, namentlich von der CDU und CSU, die Arbeitslosenunterstützung zu

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[...]

kürzen. Wer solche Art Vorschläge macht, muß wissen, daß er diese Gesellschaft entsolidarisiert und daß er dazu beiträgt, daß gerade wieder bei den Schwächsten, bei den Schwächsten abkassieren will und dort sparen will, und das halte ich für nicht verantwortlich. [Applaus]

[Friedr. zur Gewalt gegen Ausländer] Thierse: Zu dem einen Thema ,Umgang mit Mitbürgern ausländischer Herkunft'. Da haben wir drei Aufgaben ganz schnell zu erledigen nach der Wahl, so schnell wie möglich. Erstens, als erster Schritt: Wir brauchen ein kommunales Wahlrecht für Ausländer, als einen ersten möglichen Schritt der wirklichen politischen Gleichberechtigung. Das kann man ganz schnell machen. Zweitens: Wir brauchen ein anderes Staatsbürgerschaftsrecht. Das deutsche ist stinkend reaktionär. [Applaus] Einschließlich der erleichterten Hinnahme der doppelten Staatsbürgerschaft. Das wäre für mich übrigens auch ein Schritt zur Normalisierung, wenn wir unsere anderen europäischen Nachbarstaaten betrachten, dann haben die das. Und drittens: Wir brauchen ein Zuwanderungsgesetz, eine rechtliche Regelung, wie Zuwanderung nach Deutschland geschehen kann, nach dem Kriterium der Bedürftigkeit und nach der Aufnahmefähigkeit.

SAT.l „Wer soll regieren? Streitfragen an Helmut Kohl", 3. Oktober 1994 aus Mödlareuth Journalisten: Heinz Klaus Mertes, Georgia Tornow („Berliner Zeitung"), Hans-Hermann Tiedje („Tango") Tornow: Jetzt gehen wir vielleicht nochmal in den Bundestagswahlkampf, der im Moment tobt. Der ja von Ihnen deutlich auch zu einem Richtungswahlkampf gemacht worden ist... Kohl: Von mir nicht! Ich hab ja nicht den Schwur der Demokraten aufgegeben. Das hat Herr Scharping und die SPD gemacht. Tornow: Sie haben dann... Wollen wir jetzt nicht überlegen, wer den Fehdehandschuh geworfen hat. Sie haben ihn auf jeden Fall aufgenommen... Ja sicher. Kohl: Tornow: Das würde ich sicher sagen. Die PDS ist das Ding, um das es hier geht. Das ist eine kleine Partei. Und wenn wir uns wirklich klarmachen, was die Motive sind vieler Menschen im Osten Deutschlands, PDS zu wählen, dann ist, glaub ich, gar nicht falsch, was Herr Baring gesagt hat: Die Leute fühlen sich heimatvertrieben und deswegen gehen sie zur PDS. So. Das wird sich ja vielleicht auch irgendwann mal legen, mit dem Gefühl der Heimatvertriebenheit... Kohl: Ja, können wir vielleicht mal über das Thema reden?! Tornow: ...Ist das wirklich der Gegner? Ist das nicht vielleicht eine Gruppierung, die eher aufhält,... Kohl: Nein, nein. Tornow: .. .wenn man sich daran festhält? Also, ich muß Ihnen sagen, das halte ich für intellektuell nicht durchhaltbar, was sie hier Kohl: als Position vertreten. Es ist zwar in Deutschland weit vertreten, ist aber trotzdem falsch. Wenn ich mich mit der PDS beschäftige und Republikaner, beschäftige ich mich immer mit beiden, beschäftige ich mich um Gottes Willen nicht mit den Wählern. Bei den Republikanern gibt's Wähler und bei der PDS, die aus Gründen, die ich zwar nicht akzeptiere, aber respektiere, eben so gewählt haben oder wählen. Das ist persönliche Verdrossenheit, Verbitterung, man hat sich nicht mir den neuen Lebensverhältnissen zurechtgefunden, man bringt einfach noch nicht die Kraft auf zu sagen: ich mache etwas völlig ande-

285 res. Demokratische Politik hat immer den Auftrag gehabt, Wähler oder Wählerinnen, die entlaufen sind - ich sag's mal so - zu radikalen Gruppen, zurückzuholen. Das ist die erste Pflicht demokratischer Parteien. Ich verurteile überhaupt nicht PDS-Wähler. Wenn ich von Radikalen rede, meine ich die Partei oder - in der alten Sprache der SED, das gilt übrigens auch für die Republikaner bei den Neonazis - die Kader der Partei. Und wenn ich nun die Partei vor mir sehe, da muß ich nun sagen, das ist eine Schande, daß nicht mehr darüber gesprochen wird, daß das die direkte kommunistische Nachfolgegruppierung ist. [Applaus] [...] Und jetzt kommt mein Hauptpunkt, den haben Sie am Anfang gestreift: Warum bin ich so radikal in dieser Frage? Weil eben Herr Scharping und die SPD einen Schwur deutscher Demokraten gebrochen haben. Ich war siebzehn, als ich '47 zur Union kam und anfing, mich politisch zu betätigen. Ich habe damals von Adenauer, von Heuß und vor allem von Schumacher gelernt, daß es mit Radikalen von rechts und links, mit Neonazis - um Schumacher zu zitieren - und mit Kommunisten nie Gemeinsamkeiten geben kann. Tornow: Kein .Bündnis'...? Kohl: Entschuldigung: .Gemeinsamkeit' geben kann. Und ich war ja bis Sachsen-Anhalt der Meinung, der Schwur gilt. Wir haben das ja auch nie gemacht in 40 Jahren. [...] Und wir haben das ja durchgesetzt. Wir haben die Kommunisten überall herausgedrängt. Und jetzt kommt die PDS, eindeutig eine kommunistische Nachfolgepartei - ich rede jetzt nicht von den Wählern, sondern von den Kadern. [...] Und jetzt macht diese SPD des Herrn Scharping einen Kontrakt in Sachsen-Anhalt. Bis ins Detail, schauen Sie sich mal die Abstimmungen im Detail an. Es wird genau abgestimmt, daß immer eine Mehrheit da ist. Und was er jetzt behauptet, ist einfach unwahr: Wenn am Abend der Bundestagswahl SPD, Grüne und PDS eine Stimme Mehrheit haben, werden sie zusammengehen. Was Herr Scharping jetzt behauptet, wird dann vergessen sein. [...] Mertes: Hier hätte ich eine Nachfrage, wenn Sie erlauben und ganz schnell, eines Zuschauers [...]: Sie haben eben darauf hingewiesen, Herr Bundeskanzler, daß man die Wähler nicht verprellen darf unbedingt. Und er fragt: Nach Ihrer Aussage, Kommunisten seien rotlakkierte Faschisten - ob Sie das nicht zurücknehmen wollen... Kohl: Nein. Mertes: ...denn es habe doch ziemlich viele Freiheitskämpfer gegeben, die früher von Faschisten umgebracht wurden [...]. Somit sei ihre Äußerung für Sozialisten eine schwere Beleidigung. Kohl: Also, zunächst einmal will ich darauf hinweisen, daß das ein berühmtes Zitat des wohl berühmtesten deutschen Sozialdemokraten in diesem Jahrhundert ist: Das ist immer noch Kuit Schumacher. [...] Er hat es 1933 in der Auseinandersetzung mit Goebbels gebraucht [...] in einer anderen Umwandlung, und er hat's nach dem Krieg wieder gebraucht. Ich zitiere hier nur den Wiederbegründer der deutschen Sozialdemokratie. Und ich muß Ihnen nun sagen: Der Kurt Schumacher würde sich im Grab rumdrehen, wenn er sehen würde, mit welchen Leuten die jetzt gemeinsame Sache machen. [...] Und das ist doch nun jetzt wirklich keine Beleidigung von Freiheitskämpfern. Entschuldigung! [...] Tornow: Ist es denn wirklich nötig, daß man Rechts und Links in dieser Frage ,Die Radikalen von beiden Seiten'... Kohl: Ja natürlich! Tornow: .. .immer so zusammennimmt? Ist das mit ein konstituierendes Merkmal dafür, daß die CDU in der Mitte steht? Kohl: Nein, das hat damit gar nichts zu tun, sondern mit der Geschichte, Entschuldigung. Das ist ja nun erwiesen: Radikale von rechts und links haben die Weimarer Republik, da gab's die CDU gar nicht, zerstört. [...] Die waren nie in der Sache positiv beisammen, aber im Zerstören, und im Zerstören sind Neonazis und Kommunisten heute genauso zusammen.

286 Tornow: Aber die Geschichte wiederholt sich so nicht. Kohl: Aber natürlich wiederholt sich Geschichte - in diesem Punkt, weil die beiden ja auch nichts dazugelernt haben. SAT.l „Wer soll regieren? Streitfragen an Rudolf Scharping", 4. Oktober 1994 Journalisten: Heinz Klaus Mertes, Helmut Markwort („Focus"), Kai Diekmann („Bild") Diekm.: Herr Scharping, noch vor knapp einem Jahr lag die SPD in allen Umfragen weit vor der Union, Sie bei vierzig Prozent, die Union bei dreißig. Das Verhältnis hat sich jetzt umgedreht. Was ist in diesen Monaten des Wahlkampfes aus Ihrer Sicht falsch gelaufen? Was haben Sie, was hat die SPD falsch gemacht? Scharp. : Wenn wir im Sommer zusammensäßen, Herr Diekmann, würde ich Ihnen recht geben. Und wir hatten keine gute Zeit zwischen März, also dem Erfolg in Niedersachsen, und der Europawahl. Vorher waren wir überschätzt, danach wurden wir unterschätzt, jetzt hat sich das Bild normalisiert, und die SPD ist sichtbar im Aufwind. Und das finde ich sehr gut so. Diekm.: .Keine gute Zeit' - was für Fehler haben Sie denn gemacht aus Ihrer Sicht? Scharp.: Na ja, es hat manche Fahrlässigkeit gegeben, auch persönliche. Aber das ist ja vorbei, nicht? Wir haben jetzt die SPD stabil. Und das ist für mich das Wichtigere. Diekm.: Trotzdem liegt die Union noch vorne. Mitten in diese Zeit des Bundestagswahlkampfes ist die Bildung der rot-grünen Minderheitsregierung in Sachsen-Anhalt gefallen. Seitdem werden Sie das Thema PDS nicht mehr los. War das im nachhinein nicht doch ein Fehler? Scharp.: Nein, ich finde in Sachsen-Anhalt gab es gar keine andere Möglichkeit, Politik für die Mehrheit der Menschen und zugleich reformerische Politik zu machen. Die CDU verweigert sich ja dort und macht eine Obstruktionspolitik, von der ich behaupte: Das wird sie nach dem 16. Oktober nicht durchhalten. Im übrigen: Der Bundeskanzler reist durchs Land und verleumdet die SPD. Wir werden mit der PDS nicht zusammenarbeiten und tun das ja übrigens auch in Sachsen-Anhalt nicht. Diekm.: Sie hätten in Sachsen-Anhalt die Möglichkeit einer großen Koalition gehabt. Sie haben das der CDU nicht mal angeboten. Scharp.: Es war völlig klar, was in Sachsen-Anhalt passiert ist: Die CDU hat fünf Prozent abgenommen, der Hilfsmotor, genannt die FDP, ist förmlich abgesoffen, den gibt es gar nicht mehr. Und dann war die Erwartung, wir sollten an der Seite der CDU den Hilfsmotor spielen. Das wollten wir nicht. Es kommt nicht auf die PDS an. Wenn es aber auf sie nicht ankommt, dann muß man fragen: Wer hat beim verbleibenden Rest die Mehrheit? Und die hat ganz eindeutig Reinhard Höppner und nicht die CDU. Diekm. : Sie versichern landauf, landab, daß Sie für eine Zusammenarbeit in Bonn, für ein Magdeburger Modell in Bonn nicht zur Verfügung stehen. Etliche Parteifreunde sehen das anders. Ihr Parteifreund Egon Bahr beispielsweise sagt: Der Kanzler wird geheim gewählt, und da dürfen die Stimmen der PDS nicht extra gezählt werden. Scharp.: Da hat er erstens etwas Selbstverständliches formuliert und zweitens etwas Unpolitisches. Denn es wird keinen Sozialdemokraten geben, der für das Amt des Bundeskanzlers kandidiert - ich sage ausdrücklich: keinen Sozialdemokraten, der für dieses Amt kandidiert - , wenn es dafür keine klare demokratische Mehrheit gibt. Es wird niemand Bundeskanzler in Deutschland, der in irgendeiner Weise mit der PDS zusammenarbeitet oder gar von ihr abhängig ist. Ich sage hinzu: Je weniger PDS, umso besser für Deutschland, übrigens auch umso besser für den Osten Deutschlands. Und deswegen habe ich ja Herrn Kohl aufgefordert, insbesondere in Ost-Berlin durch eine entsprechende Empfehlung an die Wählerinnen und Wähler dafür zu sorgen, daß die Kandidaten der SPD direkt gewählt werden und der PDS der Weg über die Direktmandate verbaut wird. Das tut Herr Kohl

287 nicht, und das entlarvt seine ganze Kampagne als eine taktisch motivierte Verleumdung. [...] Ich stelle fest, daß er sich nicht konsequent verhält. Wenn er die PDS draußen haben will - ich will das -, dann soll er sich entsprechend verhalten. Und nicht, was ich für das staatspolitisch viel größere Risiko halte, durch diese dümmliche Kampagne mit den roten Socken, die in Deutschland bekanntlich nur Kardinäle tragen. Mit dieser dümmlichen Kampagne die PDS bei bestimmten Jugendlichen zur Kultpartei machen. Und das geschieht zur Zeit. [...] Markw

,Freu' dich auf den Wechsel', heißt ihre Parole. Eigentlich eine gute Parole in schlechten Zeiten. Nun ist es aber so, daß alle Indikatoren und Umfragen ergeben, daß es einen Aufschwung gibt. Es geht sehr viel besser, vor allem im Osten, viel im Mittelstand. Stört das Ihre Kreise, wenn sie jetzt pessimistisch ein besseres Deutschland propagieren? Könnte es nicht sein, daß der Wechsel zum Risiko wird für viele? Scharp.: Nein, im Gegenteil. Und das hat auch mit Pessimismus gar nichts zu tun, sondern mit einer realistischen Beschreibung der Situation, in der wir sind. Jeder vernünftige Mensch freut sich über eine wirtschaftliche Verbesserung. Sie ist Ergebnis der gestiegenen Auslandsnachfrage und der Baukonjunktur. Aber bekanntlich läuft ein Motor auf zwei Zylindern weniger gut als auf vieren. Deswegen muß die Investitionskonjunktur besser werden und die Nachfrage. Und alles, was wir vorschlagen, dient einem stabilen Wachstum, der Stärkung der Investitionen in Deutschland und der Stärkung der Nachfrage. [...] Diekm. : Als Sie vor wenigen Wochen diese Troika benannt haben, also sich Verstärkung geholt haben mit Oskar Lafontaine und Gerhard Schröder, da hatten viele den Eindruck: Der Scharping, der schafft's nicht mehr alleine. Ist an diesem Eindruck was dran? Scharp. Also, den Starken zieren starke Leute. Den Schwachen zieren Drittklassige. Kennen Sie in der CDU noch irgendeinen zwischen vierzig und fünfzig, der politisches Gewicht hätte, ein unabhängiges Urteil? Geißler ist weg, Späth ist weg... Diekm. : Wolfgang Schäuble. Scharp. ... Biedenkopf ist weg. Mit Verlaub?! Diekm. : Warum? Scharp. Danach ist gar nichts mehr. ZDF „Nachtduell: Umweltpolitik", 4. Oktober 1994 Politiker: Klaus Töpfer, Joschka Fischer Journalist: Thomas Bellut Töpfer: Wir haben wirklich das Tempo angegeben, wir sind vorangegangen... Fischer: Wir sind das einzige Land ohne ein flächendeckendes Tempolimit. Töpfer: Ich wollte gerade das eine sagen... Bellut: Herr Fischer, lassen Sie Herrn Töpfer ausreden. Töpfer: Also, glauben Sie mir, dafür habe ich schon zu häufig mit dem Kollegen Fischer gesprochen - den domestizieren Sie auch nicht. Der wird das weiter so machen. Das ist ja auch eine erfreuliche Sache. Hab ich ja nichts dagegen. Das einzige Thema ist das Tempolimit. In der Tat haben andere ein flächendeckendes Tempolimit. Das einzige, was wir nur ganz deutlich sagen müssen, ist, daß wir auch bei achtundneunzig Prozent aller Straßen ein Tempolimit haben, daß es prima wäre, wenn wir alle auch dieses einhalten würden, daß es hervorragend wäre, wenn wir endlich einmal auch bessere Verkehrsleitsysteme hätten. [...]

288 Fischer: Wenn ich ihn nicht unterbreche, komme ich nicht mehr dran, wenn ich das mal sagen darf. Bellut: Jetzt sind Sie dran. Fischer: Also, zur Verkehrspolitik: Wenn ich das höre mit den Verkehrsleitsystemen! Wir brauchen nicht neue Verkehrsleitsysteme, wir brauchen eine neue Verkehrspolitik. Wenn Sie hier im Rhein-Main-Gebiet ein besseres Verkehrsleitsystem haben, wird ihnen dieses Verkehrsleitsystem per Satellit oder wo auch immer morgens und abends jeweils mitteilen: Stau. Es geht kaum noch etwas. Was wir brauchen, das ist der massive Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs und die Finanzierung dieses massiven Ausbaus. [..] Herr Fischer! Bellut: Fischer: Irgendwie haben Sie ein Problem mit mir! Entweder streiten wir hier, dann streiten wir richtig, dann müssen Sie ihm auch ins Wort fallen, aber nicht nur mir! Bellut: Mach ich, mach ich. Töpfer: Also fallen Sie mir auch immer ins Wort, damit wir hier die Ausgeglichenheit des InsWort-Fallens haben. Bellut: Gut, ich falle Ihnen jetzt ins Wort. Bitte führen Sie das jetzt zuende, und danach erläutert Herr Fischer sein Verkehrskonzept. [.·.] Fischer: Euer Ehren, jetzt müssen Sie aber intervenieren. Töpfer: Ja, ich hör schon auf. Ist schon gut. Bellut: Herr Fischer hat recht. Er darf zuende reden. Töpfer: Euer Ehren hat interveniert, nur damit wir das festhalten. [••·] Töpfer:

Ich bin ganz sicher, Herr Kollege Fischer, unsere Bevölkerung wird es besser verstehen, wenn wir sagen: Hier sind wir noch nicht zum Ende gekommen, hier müssen wir noch weiterarbeiten, als wenn wir so tun, als wäre überall schon Geregeltes vorhanden. Und deswegen sage ich Ihnen: Naturschutz und Bodenschutz müssen wir weitermachen... Fischer: Aber, Herr Kollege! Töpfer: .. .gar keine Frage... Fischer: Herr Kollege, Sie wären doch schon längst am Ende, wenn Ihnen der Wirtschaftsminister, wenn Ihnen der Finanzminister nicht massiv die Zähne ziehen würde. Das wissen Sie doch so gut wie ich. Sie hatten doch einen fertigen Bodenschutzgesetzentwurf auf Referentenentwurfebene und... Töpfer: Das sag ich doch. Fischer: ...dann kam das ,Njet' aus dem Wirtschaftsministerium, und Sie knickten wie so oft ein. ARD „Ihre Wahl '94 - Die Favoriten", 11. Oktober 1994 Politiker: Joschka Fischer, Gregor Gysi, Klaus Kinkel, Oskar Lafontaine, Wolfgang Schäuble, Theo Waigel Journalisten: Luc Jochimsen, Wolfgang Kenntemich Kennt.: Bitte sagen Sie ganz kurz und knapp in zwei Sätzen [...], warum man Sie und ihre Partei wählen soll. [...] Fischer: Guten Abend. Unser Land befindet sich in einer schweren Wirtschaftskrise und in einer doppelten Krise, nämlich der Einheitskrise. Wenn wir die notwendigen Arbeitsplätze schaffen wollen, dann müssen wir jetzt dringend mit dem ökologischen Umbau ernst machen. Das heißt für uns: Energiewende, Verkehrswende, eine ökologische Steuerreform. Wir müssen aber auch Schluß machen mit dem Abbau innerer Freiheitsrechte wie der Diskriminierung von Minderheiten. Die jetzige Regierung hat abgewirtschaftet. Sie hat

289 den Höchstand von Arbeitslosen, explodierende Staatsverschuldung, sie hat eine Krise des Sozialstaats und Mieten zu verantworten, die nicht mehr bezahlbar sind. Deswegen muß sie abgelöst werden. [...] Gysi:

[•••I Kinkel:

Also, ich denke, daß die Stimme für die PDS die konsequenteste Stimme gegen die gegenwärtige Regierung ist. Bei uns ist ganz eindeutig, daß der gegenwärtige Kanzler von uns mit Sicherheit nicht gewählt wird. Ich glaube, daß es außerdem nach der Vereinigung dringend erforderlich ist, daß auch eine Partei, die ihre stärkeren Strukturen im Osten Deutschlands hat, in diesen Bundestag einzieht, um die dortige Situation und Lage originär artikulieren zu können. Das genügt nicht, daß es einige Abgeordnete in anderen Fraktionen gibt, es muß dafür eine spezielle Fraktion geben. Und dann denke ich, daß wir bundesweit eine linke Oppositionspolitik machen, die ganz wichtig ist für die Bundesrepublik insgesamt. Die FDP möchte gern die erfolgreiche FDP-CDU/CSU-Koalition fortsetzen. Wir wollen dafür sorgen, daß keine linke Mehrheit in diesem Land am 17.10. kommt. Das wäre nämlich eine andere Republik. Es wäre vor allem eine andere Republik, wenn die FDP nicht mehr im Bundestag vertreten wäre. Die FDP steht für soziale Marktwirtschaft, für Weltoffenheit, für Wahrung der Bürgerrechte, Toleranz. Wir sorgen dafür, daß Frieden weiter in unserem Land und draußen herrscht. Frieden braucht Freiheit, Freiheit braucht Frieden.

Lafont. : Wir haben eine zu hohe Arbeitslosigkeit und zu wenig soziale Gerechtigkeit. Um die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, werden wir die Investitionen unverzüglich steuerlich präferieren, noch stärker präferieren als bisher. Wir werden die Mittel des Arbeitsmarktes aufstocken auf das 92er Niveau, was eine deutliche Verbesserung auf dem Arbeitsmarkt unmittelbar zur Folge hat. Wir wollen mehr soziale Gerechtigkeit, das heißt zunächst einmal Steuergerechtigkeit. Ein Durchschnittsverdiener hat bei uns im Jahr 2.000 Mark mehr als bei der Koalition.

[...]

Schäub.: Für eine sichere Zukunft brauchen wir Stabilität und Fortschritt. Stabilität nicht nur der Preise, sondern auch unserer Freiheitsordnung, die wir nach innen und nach außen schützen müssen. Und Fortschritt, weil wir sonst angesichts globaler Herausforderungen versagen. Dazu gehört Konzentration auf moderne Wissenschaft und Technik, weniger Bürokratie, mehr Eigeninitiative und freiwillige Solidarität. Andernfalls verspielen wir die Grundlagen für Wohlstand, soziale Sicherheit und lebenswerte Umwelt. Dafür steht die Union mit Helmut Kohl. Rot-grün Hegt daneben. [...] Waigel: Die CSU hat entscheidend zu den Erfolgen der letzten vier Jahre beigetragen. Wir haben schwierigste Finanzlasten geschultert, dabei ist die D-Mark stabil gebüeben. Wir werden am Ende des Jahres als einziges Land in Europa neben Luxemburg die Kriterien von Maastricht, die Stabilitätskriterien erfüllen. Wir werden am Ende des Jahres fünf Milliarden weniger Schulden machen, als ursprünglich geplant. Wir geben im nächsten Jahr mehr für Soziales aus als je zuvor seit 1959. Wir haben in Europa Frieden, und wir haben Partner um uns. Deutschland steht auf der Seite der Gewinner der Geschichte.

[...] Jochim. : Die folgende Frage, weiß ich, daß sie Männer recht ungern hören. Trotzdem möchte ich sie stellen. Herr Schäuble, warum sollen denn eigentlich Frauen in der Bundesrepublik der CDU ihre Stimme geben? [...] [Stellungnahmen Schäuble, Gysi, Lafontaine]

290 Fischer: Aber der entscheidende Punkt ist doch nicht... Wir reden jetzt schon wieder nur über die Arbeit. Ganz entscheidend ist doch: Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Mann und Frau. Und da sieht es in diesem Land - in einem der reichsten Länder der Welt eben nach wie vor ziemlich düster aus. Das ist eine Frage der materiellen Gleichstellungsbedingungen. Das sind Arbeitszeitmodelle, die dem entgegenkommen, das sind Versicherungsmodelle, die dem entgegenkommen müssen. Gysi: Kindertagesstätten. Fischer: Das ist die Frage der schulischen und vorschulischen Unterbringungsmöglichkeiten, der Kindertagesstätten, Kinderbetreuungsplätze, Ganztagsschule im Grundschulbereich. Das sind alles ganz wichtige Punkte. Aber lassen Sie mich auch das noch anführen. Ich finde, die 218-Debatte, wie sie von der CDU und vor allem von der CSU geführt wird, zutiefst heuchlerisch, weil sie sich daran orientiert, im Grunde genommen die Frauen wieder vor den Kadi zerren zu wollen... Waigel: Das ist eine unglaubliche Unterstellung! Fischer: Natürlich, Herr Waigel! Natürlich! Waigel: Das ist eine Unverschämtheit. Wenn Sie uns Heuchelei unterstellen, das ist eine Unverschämtheit. Fischer: Ich muß Ihnen sagen... Das ist doch eine Position, die bei Ihnen nach wie vor hinter allem steht. Waigel: Das ist nicht wahr. Fischer: Und ich sage Ihnen, Ihre ganze Frauenpolitik ist rückwärtsgewandt. Waigel: Das ist nicht wahr. Fischer: Und gerade in diesem Sommer, wo es darum ging, wo es darum ging, sich für das geborenene Leben - angesichts der hohen Ozonwerte - wirklich etwas zu tun, da haben sie/Sie [?] sich nicht entblödet, zum Schnellerfahren aufzurufen angesichts der Situation, wo es darum ging, die Gesundheit der Kinder... Waigel: Wer hat zum Schnellerfahren aufgerufen? Fischer: CDU-Angehörige. Zum Beispiel in Hessen haben sogar demonstrativ... Waigel: Entschuldigung. Das sagen Sie aber nicht zu mir. Sie haben dazu aufgerufen! Fischer: Aber ja, natürlich sage ich das zu Ihnen! Waigel: Sie sind ein reiner Polemiker, und das mit diesem Thema in Verbindung zu bringen, ist schlichtweg ein Mißbrauch dieser Debatte. Ein Mißbrauch ist das. Fischer: Nein, ich bin kein reiner Polemiker, Herr Waigel, sondern was hier gesagt werden muß... Was hier gesagt werden muß... Was hier... [Zwischenrufe Waigel, Schäuble] Schaun Sie, Sie ziehen sich doch hier hinter Ihre eigenen Position zurück. Natürlich sind Sie für die Strafbarkeit! Natürlich sind Sie für die Strafbarkeit! Waigel: Nein, ich steh zu dem, was ich gesagt habe. Ich stehe dafür. Kinkel: Ich denke, wir reden hier über Politik und Moral?! Jochim.: Ja, und zwar über die Kombination von Politik und Moral. [aufgeregtes Gemurmel] Waigel: Ich lasse mir doch nicht Heuchelei unterstellen. Fischer: Das betrifft die Hälfte der Bevölkerung direkt, und wenn ich mir anschaue, in Memmingen, wie es da zugegangen ist, bei diesem Prozeß, nicht wahr, da... Waigel: Hat die CSU den Prozeß gemacht oder unabhängige Richter? Fischer: Das haben unabhängige Richter gemacht... Waigel: Eben. Da wollen wir uns doch mal einig sein.

291 Fischer:

Aber selbstverständlich, und trotzdem sind dort Grundwerte vertreten worden von diesen unabhängigen Richtern, die völlig in die heuchlerische Position der CSU hineinpassen, Herr Waigel, das wissen Sie so gut wie ich. Waigel: Das ist eine bodenlose Gemeinheit, was Sie hier von sich geben! [aufgeregtes Gemurmel] Jochim. : Herr Waigel hat jetzt sowieso das Wort. Kennt. : Herr Waigel, Sie dürfen darauf antworten, kurz bitte, die Sendezeit geht zuende. Waigel: Zunächst habe ich an jeder Debatte über den Paragraphen 218, solange ich dem Deutschen Bundestag angehöre, von der ersten bis zur letzten Minute teilgenommen, [nachträglich gegen Lafontaine; G.W.] Zum zweiten bin ich für den Schutz des ungeborenen Lebens, so wie das Bundesverfassungsgericht es gefordert hat. Und zum dritten muli man hier sehr behutsam mit den Dingen umgehen und muß auf die Frauen sehr viel Rücksicht nehmen. Und das haben wir mit der Ansbacher Erklärung getan. [Zwischenrufe Fischer, Gysi; aufgeregtes Gemurmel] Jochim.: Gut, ich darf da als Frau vielleicht widersprechen, aber ich fürchte, da kommen wir keinen Schritt weiter. Wir sind... Wir sind... [Gemurmel] Wir sind in der Tat, nicht nur was die Zeitkonten individuell angeht, am Ende. Wir haben jetzt noch die Möglichkeit, daß jeder ein dreißig-sekündiges Schlußstatement abgibt, bevor wir die Sendung zuende haben... Kinkel: Wir sind nicht am Ende! Jochim.: Ja, es muß sich der Computer leider irgendwie verzählt haben. [Gysi lacht] Jochim.: Es ist... 43 müssen wir, äh...aus... Kinkel: Das ist leicht absurd, ja!? Jochim. : Äh, sonst wird Schwarzblende gezogen. Kennt.: Also, es geht los mit Herrn Waigel. Zusammenfassend vielleicht noch einmal: Warum eigentlich kein Machtwechsel? Waigel: Wir haben in den letzten vier Jahren mehr auf den Weg gebracht als je zuvor seit 1949. In Deutschland, in Europa: der Aufschwung ist erreicht worden. Die D-Mark ist stabil. Wir haben in Europa und weltweit eine hohe Achtung erreicht. Der letzte russische Soldat hat deutschen Boden verlassen. Und das, meine ich, sind Erfolge, wo man sagt: Jawoll, CSU und CDU müssen weiterregieren. [...] Schäub: Wir sind auch mit außergewöhnlich schwierigen Aufgaben auf wirtschaftlichem Gebiet nach der Wiedervereinigung, für die es ja kein Vorbild gibt, gut fertig geworden. Wir haben Preisstabilität, es geht wirtschaftlich bergauf. Wir haben ein höheres Maß an sozialer Sicherheit in Deutschland als in den meisten anderen vergleichbaren Ländern. Auch unser Wohlstand ist höher als in den meisten anderen Ländern. Es gibt kaum eine Generation, der es besser gegangen ist. Wir haben noch Aufgaben vor uns, aber wir sind auf einem guten Weg, und deswegen sollten wir uns darauf konzentrieren, daß wir auf diesem guten Weg bergauf in eine sichere Zukunft weitergehen. [...] Lafont. : Regierungen sollen nach dem beurteilt werden, was sie vor Wahlen angekündigt haben und nach Wahlen getan haben. Es hieß: keine Steuererhöhungen, keine Kürzung sozialer Leistungen. Nach den Wahlen wurden mehr Steuererhöhungen auf den Weg gebracht als jemals nach dem Kriege in Gesamteuropa. Wir bedauern den Rückgang der Realeinkommen aufgrund dieser Steuer- und Abgabenerhöhungen und ziehen ein Programm vor zur Stärkung der Massenkaufkraft. Der Durchschnittsverdiener steht sich bei uns um 2.000 Mark besser. Das ist ein Wort. [...]

292 Kinkel:

Nochmal: Der 16.10. ist eine Richtungswahl. Kommt ein Linksbündnis in der Bundesrepublik, eine linke Mehrheit, oder kann die bürgerliche Regierung aus FDP, CDU/CSU ihre Arbeit fortsetzen. Wir haben gute Arbeit geleistet. Wir haben noch nicht alles erledigt. Deutschland ist nach dem Krieg gut damit gefahren, daß es aus der Mitte heraus regiert wurde, mit Hilfe der FDP und nicht von den Rändern her. Dabei sollte es auch bleiben, und deshalb werben wir für die Fortsetzung dieser Koalition.

[...] Gysi:

Also ich denke, wir müssen in erster Linie den Schutz des geborenen Lebens und weniger des ungeborenen organisieren. Und mein Eindruck ist, in den letzten vier Jahren - und das ist nicht nur ein Eindruck, sondern eine Tatsache - sind die Reichen - das stimmt einfach - immer reicher geworden und die Armen deutlich ärmer geworden. Die Zahl der Armen hat auch deutlich zugenommen. Deswegen brauchen wir eine Wende in der Politik. Und ich sage mal, selbst auf den Fall hin, daß SPD und Bündnis 90/Grüne regieren sollten, wäre es auch ganz wichtig, daß sie da nicht nur von rechts unter Druck stehen, sondern auch von links, und das heißt: auch sozial unter Druck stehen. Und diesen Druck wollen wir ausüben. Weil: es geht darum, immer wieder deutüch zu machen, daß es in der Politik auch Alternativen gibt. [...] Fischer: Dieses Land braucht die ökologische und soziale Erneuerung, und das wird diese Regierung Kohl nicht mehr hinbekommen. Sie wird die Kraft zur inneren Reform nicht mehr haben. Das kann nur mit einer rot-grünen Reformkoalition gehen. Ich halte überhaupt nichts von einer Position, die sich zur Opposition freiwillig erklärt, und damit die Verlängerung von Kohl bedeutet. Genau das wollen wir nicht. Das heißt aber: Rot-grün braucht eine deutliche Mehrheit, eine klare Mehrheit; Minderheitsregierungen wird's nicht geben, Tolerierungen auch nicht. Das ist die Entscheidung, die jetzt ansteht, und das heißt, den Reformfaktor Bündnis 90/Grüne möglichst stark zu machen, damit wir wieder in den Bundestag zurückkommen. ARD „Ihre Wahl '94: Der Kandidat", 12. Oktober 1994 Journalisten: Gerhard Fuchs, Nikolaus Brender Brender: Gibt es denn Charaktereigenschaften, die Sie von Kohl unterscheiden? Scharp.: Ich glaube, es gibt eine zentrale Unterscheidung, die hat mit dem Verständnis von Politik zu tun, nämlich: Ich bin sehr an guten Leuten, sehr an Mannschaft, sehr an Teamarbeit interessiert. Man kann weder eine Demokratie noch ein modernes Unternehmen noch irgendetwas sonst führen, wenn man nicht möglichst viele Leute hat, die sich auf unterschiedlichen Feldern mit unterschiedlichen Begabungen sehr gut auskennen. So gesehen kamen Sie aber mit Ihrer Troika relativ spät. Fuchs: Scharp.: Wir hatten ja vorher auch schon ein gutes Regierungsteam, und mir ist besonders wichtig - neben der Troika - , daß darin gleich viele Frauen und Männer sind, damit das nicht immer nur auf dem Papier steht, was da von der Gleichbehandlung handelt. Herr Scharping, der Kanzler spricht von einer historischen Richtungsentscheidung am 16. Fuchs: Oktober. Was ist denn ihre generelle politische Richtung? Scharp.: Soziale Gerechtigkeit, gegenseitige Verantwortung. Der Gemeinsinn in Deutschland muß wieder stärker werden, der Egoismus zurückgedrängt. Die ausgestreckte Hand muß mehr zählen als der Ellenbogen. Das Prinzip ist in den letzten Jahren stark beschädigt worden. [...] Brender: Herr Scharping, ich möchte noch mal auf Ihr Verhältnis zu Kohl zurückkommen. Sie sagen, Kohl nehme die Menschen nur ameisenhaft wahr. Das ist ein böses Wort. Scharp.: Ja, es ist aber auf der anderen Seite leider auch richtig. Brender: Haben Sie da irgendwelche Erfahrungen?

293 Scharp. : Wenn Sie den einzelnen Menschen ernstnehmen, seine Würde und sein Recht gleichermaßen achten, dann dürfen Sie keinen Unterschied machen, ob jemand reicher ist oder ärmer, Arbeitsplatzbesitzer oder arbeitslos, Frau oder Mann. Das genau aber geschieht in Deutschland. Ich will Ihnen ein einziges Beispiel nennen, das mir besonders auf der Seele brennt: Wenn ich mir angucke, wie Menschen ausgegrenzt werden, jetzt z.B. durch diese kaltschnäuzige Debatte über die Sozialhilfe - das sind Millionen Betroffene in Deutschland. Und ich will nicht, daß jemand an den Rand der Gesellschaft gedrückt wird, nur weil er seinen Arbeitsplatz verliert. Brenden Da kommen wir gleich zurück. Nochmal auf die Person: .Ameisenhaft Wahrnehmen' ist sehr persönlich gemeint. Haben Sie da Erfahrungen gemacht, auch zu Ihrer Zeit, als Sie noch in Mainz waren und Kohl Ministerpräsident war? Scharp.: Ja, ziemlich eigenartige zum Teil, aber die muß man ja nicht im einzelnen schildern. Ich habe den Eindruck, dieser Mann ist so sehr mit sich selbst beschäftigt und auch so sehr von sich überzeugt, daß er sich völlig genügt. Und das halte ich in der Demokratie für ziemlich gefährlich. Brenden Und deswegen wird er von so vielen Leuten gewählt. Scharp.: Ja, das wollen wir mal abwarten. Ich glaube, es werden nicht mehr so sehr viele. [....] Fuchs: Herr Scharping, Konfliktthema PDS, Stichwort .Volksfront/Linksfront'. Sie sagen, im Bund wird es keine Zusammenarbeit mit der PDS geben, und Sie sagten gestern: In Sachs en-Anhalt gibt es auch keine Zusammenarbeit mit der PDS. Kann man sich also doch Magdeburg in Bonn vorstellen? Scharp.: Nein. Überhaupt nicht. Was hier betrieben wird, namentlich von Herrn Kohl, ist eine bewußte Verleumdung. Und das geschieht von einer Partei, die sich die Gefängniswärter - um es mal grob und deutlich zu sagen - selbst einverleibt hat. Da gibt es Leute, die haben dreiundzwanzig Jahre in der Volkskammer der DDR gesessen, die haben für Honecker, Mauer, Stacheldraht und Schießbefehl gestimmt. Und die sichern jetzt der CDU die Mehrheit. Und ich lasse mir von solchen Herrschaften nicht sagen, was Demokratie weit ist, und was Freiheit bedeutet oder Anstand. Von diesen Herrschaften nicht. Fuchs: Die PDS ist doch die Fortsetzung der SED. Also alles, was Sie hier erzählen, gilt doch auch für die PDS. [...] Brenden Herr Scharping, Sie haben einmal gesagt, unter vierzig Prozent kann man nicht regieren. Warum soll Reinhard Höppner in Sachsen-Anhalt nicht regieren können? Scharp.: Weil im Osten Deutschlands, wie Sie ja alle wissen, die Verhältnisse etwas schwieriger sind. Ich würde sie lieber so wünschen wie in Brandenburg, aber nun ist das nun mal so in Sachsen-Anhalt, und das ist kein Modell. Und ich sage es noch einmal: Ich wehre mich gegen diese bewußte Verleumdung. Es gibt keine Zusammenarbeit mit der PDS, es wird auch keine Zusammenarbeit mit diesen SED-Nachfolgern geben, aus ganz prinzipiellen Gründen. Das weiß Herr Kohl ganz genau. Ich habe ihn aufgefordert, mit mir gemeinsam im Osten Berlins die Direktmandate der PDS zu verhindern, die ja die Brücke sind, über die diese Partei in den Bundestag kommen könnte. Und Herr Kohl verweigert sich, und das entlarvt seine ganze Kampagne als eine miese, kleinkarierte parteipolitische Taktik, die offenkundig von Herrn Kohl wichtiger genommen wird als das Wohl des Staates. [...] Fuchs: Nochmals zur Frage: Mit wem wollen Sie regieren? Also, ich sag mal: Sie können sich rot-grün vorstellen. Ich sag mal: Sie können sich auch eine Ampel vorstellen. Nun sagt aber Herr Fischer: Wenn man sich das 100-Tage-Programm der SPD anschaut, dann hat das sehr viel von einem vorauseilenden großkoalitionären Kniefall. Und dann gibt's den Ludger Volmer, Vorstandssprecher von Bündnis 90/Die Grünen, der sagt: Wenn sich Gerhard Schröder benimmt wie der Laufbursche des VW-Vorstandes, dann wird es keine Koalition geben. Da werden doch schon Pflöcke gerammt, da werden doch schon Ihre

294

Scharp.:

Fuchs: Scharp. : Fuchs: Scharp.: Brenden

Programme und Ihre zentralen Figuren beschädigt, ehe Sie die erste Koalitionsvereinbarung überhaupt geführt haben. Ach ja, schauen Sie, die Grünen müssen das doch so sagen, weil: die Furcht vor der großen Koalition ist doch praktisch ihr einziges Argument, um für Stimmen zu werben, so wie bei der CDU die PDS das einzige Argument geworden ist. Wir kümmern uns um die Sachfragen. Und Sie können in einer Sache ganz sicher sein: Egal, welche Konstellationen es gibt, eines ist klar: Wird die SPD nicht stärker, gibt's keinen Wechsel. Und das Zweite ist auch ganz klar: In einer von mir gefühlten Regierung ist klar, wer Koch ist und wer Kellner. Und so kann man miteinander umgehen? Können Sie das heute schon sagen? Ja, da bin ich ganz sicher. Und da spielen die Grünen mit? Ja Entschuldigung! Eine Partei, die so deutlich stärker ist als andere, die hat einen klaren Führungsauftrag und einen Führungsanspruch. Herr Scharping, als Kellner... Als Student war ich Kellner, und ich weiß, daß Kellner Köche auflaufen lassen können, weil sie nämlich das Essen kalt werden lassen können.

[...] Scharp. : Ich warte das Ergebnis der FDP ab. Und in einem bin ich mir ganz sicher: Wenn die eine Chance sehen zu regieren, dann werden sie diese Chance nutzen, völlig unabhängig von den Personen. Sie werden diese Chance nutzen. Brenden Mit oder ohne Scharping? Scharp.: [leise] Was heißt ,mit oder ohne Scharping'? Das verstehe ich überhaupt nicht. Brenden Die Troika besteht ja, wie das Wort schon sagt, aus drei Personen. Und es ist ja kein Geheimnis, daß auch andere das Interesse haben, den Kanzlerstuhl zu besetzen. Scharp. : Das ist in der SPD völlig entschieden. Brender: Die Frage ist auch: Mit welcher SPD? Für was steht denn die SPD?

[...]

Fuchs:

Es wurden jeweils die amtierenden Ministerpräsidenten mit großer Mehrheit wiedergewählt. Also: Kontinuität statt Wechsel - ist das die Grundstimmung? Scharp.: Den Eindruck habe ich nicht. Ich würde, bei aller unterschiedlicher Einschätzung der Personen und ihrer Politik, die relative Unumstrittenheit von Manfred Stolpe oder Kurt Biedenkopf nicht auf Helmut Kohl übertragen. Man kann nicht behaupten, daß der Mann unumstritten sein. Das Gegenteil ist richtig... ne? ARD „Ihre Wahl '94: Der Bundeskanzler", 13. Oktober 1994 Journalisten: Gerhard Fuchs, Nikolaus Brender Fuchs: Herr Bundeskanzler, .Machtmaschine', ,Bürgerking', .Bürger Bismarck': Attribute, die man Ihnen verliehen hat. Ärgern Sie die eher oder ehren Sie diese Attribute? Kohl: Die ärgern mich nicht, und die ehren mich nicht. Die sind mir ziemlich gleichgültig. Weil ich seit Jahrzehnten damit leben muß, daß irgendjemand mir Etiketten anhängt. [...] An einem Tag heißt es, ich sitz Probleme aus, am anderen Tag heißt es, ich sei ein Machtmensch und würde niemanden fragen, ich würde meine Autorität brutal ausspielen. Am einen Tag heißt es, ich verstehe nichts von Innenpolitik, am anderen Tag heißt es, ich verstehe nichts von der Außenpolitik. Wissen Sie, ich sag das ganz einfach so, wie ich's empfinde: Ich habe mich früher darüber geärgert, daß ich chronisch unterschätzt wurde, inzwischen habe ich mich daran gewöhnt, und jetzt sag ich sogar: ich bin chronisch überschätzt. [...] Brender: Hören Sie auf, weil Sie nicht ein Mann für die Zukunft sind? Joschka Fischer sagt: Ein Mann der Vergangenheit. Rudolf Scharping: Ein Mann, der keine Vorstellung von der

295 Zukunft hat, der die Menschen nur noch .ameisenhaft' wahrnimmt. Ist das der Grund vielleicht, daß Sie sagen: Ich bin nicht mehr der Mann für die Zukunft? Also, zunächst einmal sind, glaube ich, die beiden Zitate passend zu dem, was Ihr Kollege Kohl: gerade eben gesagt hat, und insofern habe ich diesen Teil der Frage beantwortet. Das ist allerdings blühender Unsinn. Um es einmal knapp zu sagen: Wer hat mehr für die Zukunft getan in den letzten Jahren. Die genannten Herren sowieso nicht. Aber wer sonst? Brenden Die haben doch keine Chance gehabt. Kohl: Doch, aber sie haben doch nie eine Vision entwickelt. Sie werden doch nicht sagen können, daß diese Vision, die wir jetzt als Regierungsprogramm Rot-Grün sehen, Vision ist. Vision für mich ist, daß wir Freiheit und Frieden in Europa garantieren. Brenden Das sind erstmal Schlagworte, nicht? Kohl: Das sind gar keine Schlagworte. Das ist das Wort vom Bau des Hauses Europa. Und es gibt niemanden unter den Lebenden in Deutschland, der mehr dafür getan hat. Als ich ins Amt kam war Europa out. [...] Die Verbesserung des Standorts Deutschland, um ein innenpolitisches Thema anzusprechen, ist doch mein Thema. Ich hab's doch in diesen letzten zwei Jahren nach vorne gebracht, ja manchmal nach vorne gepeitscht. [...] Ich habe mit Sicherheit kein Problem mit Zukunftsvisionen, zumal ein Teil meiner Zukunftsvisionen ja auch in Erfüllung gegangen ist wie die deutsche Einheit. [...] Fuchs: Herr Kohl, Sie sind Kanzler einer Koalition, Sie haben einen Partner, der heißt FDP und der kämpft einen Überlebenskampf, wie führende Köpfe der FDP selber sagen. In sieben Wahlen in Folge hat die FDP verloren. [...] Wo sollen denn die Scharen von FDP-Wählern jetzt herkommen, damit diese Partei über fünf Prozent kommt und damit sich diese Koalition fortführt? Kohl: Also, die Scharen der FDP-Wähler sind doch da. Es gibt doch in diesem Augenblick keinen vernünftigen Menschen, der Einsicht in die Dinge hat, der daran zweifelt, daß am Sonntag die FDP im Bundestag ist. Darüber gibt's für mich überhaupt keinen Zweifel. Das ist alles wahr, was Sie sagen, bei den Landtagswahlen. Das hat auch seine Gründe. [...] Aber: Die FDP ist allemal, nachdem sie vorher totgesagt war, in die darauf folgende Wahl gegangen und ist in den Bundestag gewählt worden. Und sie wird auch an diesem Sonntag mit einem ordentlichen Ergebnis in den Bundestag gewählt werden. [...] Die FDP hat hier eine reelle Chance. Im übrigen weiß das auch jeder, Sie auch. Brenden Was hat denn die FDP in Ihrer Koalition geleistet? Welche Elemente der Politik der CDU hat sie korrigiert zum Besseren hin, so daß die Koalition auch Bestand haben könnte? Ich glaube, daß wir gute Arbeit in den letzten vier Jahren geleistet haben. Das ist doch Kohl: leicht ablesbar. [...] Die FDP hat wichtige Beiträge in der Außenpolitik geleistet. [..·]

Fuchs:

Kohl:

Herr Bundeskanzler, Stichwort ,PDS'. Die Union strapaziert: .Achtung Volksfront, Achtung Linksfront!' Wie Ihr Herausforderer, Herr Scharping, sagt: Es wird keinen Sozialdemokraten geben, der sich mit den Stimmen der PDS zum Bundeskanzler wählen läßt. Er wirft Ihnen vor, daß Sie ihn und die Sozialdemokraten verleumdet hätten. Ja, das ist ein ziemlich seltsamer Vorwurf. Ich bin doch nicht der Erfinder der Sache. Wenn der Herr Scharping bei dem gebüeben wäre, was er am Mittwoch vor der Wahl in Sachsen-Anhalt im Juni gesagt hat, gäb's doch dieses Thema gar nicht. Ich war einer der wenigen in Bonn, der bis Montagabend nach der Wahl nicht geglaubt hat, daß Herr Scharping eine solche Entscheidung treffen würde. Ich hab's für unmöglich gehalten. Daß jemand Parteivorsitzender der SPD ist, in der Nachfolge von Kurt Schumacher, und geht mit Kommunisten zusammen. Ich empfinde das als völlig inakzeptabel. Und er hat es doch getan. Er hat am Mittwoch vor der Wahl gesagt: Wir machen's nicht, und jetzt hat er dann - die Koaütion ist ja nur zustande gekommen mit der Dosierung der PDS-Stimmen. Und sein Landesvorsitzender in Mecklenburg-Vorpommern [Harald Ringstorff;

296

Fuchs: Kohl:

G.W.] hat's doch in diesen Tagen wieder gesagt, daß sie's wollen. Es mag ja sein, daß der Herr Scharping im Moment noch glaubt, er sei dieser Meinung. Ich glaube es ihm nicht. [...] Ich empfinde es als einen ungeheuren Skandal, daß die direkte Nachfolgepartei - sowohl in der Ideologie als auch ... bis hin zum Materiellen in vielen Bereichen, im Programmatischen -der kommunistischen SED, die so viel Elend über Deutschland gebracht hat, sich vier Jahre nach der deutschen Einheit wieder mit einer solchen Frechheit behauptet hat. Scharping hat sich wiederholt erklärt, auf wiederholtes Befragen hat er immer gesagt: Mit mir nicht, mit führenden Sozialdemokraten nicht. Sie glauben ihm das einfach nicht? Nein, ich glaub's nicht. Und ich bin auch ganz sicher, wenn die Wähler es zulassen würden, daß wir schon in ein paar Tagen das Gegenteil erfahren werden.

[...] Herr Bundeskanzler, diese Abscheu... Sie sind selbst Historiker und wissen, daß am Neuanfang dieser Republik 1947 einer Ihrer Vorgänger als Ministerpräsident, nämlich Peter Altmeier, in Rheinland-Pfalz zusammen mit kommunistischen Ministern eine Regierung gebildet hat. Als Neuanfang, um etwas Neues zu schaffen. Ist auch in diesem Brender: Bereich, zumindest auf Landesebene, auch mit der PDS eine ähnliche Kooperation, eine ähnliche Politik überhaupt möglich? Also, zunächst einmal muß ich den Historiker in Ihnen berichtigen. In Rheinland-Pfalz war das eine Zusammensetzung, die die Militärregierung verfügt hat. [...] Mir geht es doch nicht darum, wenn das der Hintergrund Ihrer Frage war... Ich will doch nicht die Wähler bekämpfen oder denunzieren - um es mal härter auszudrücken - der PDS, übrigens auch nicht bei den Republikanern. Ich habe immer die Funktion einer demokratiKohl: schen Partei so verstanden, daß [...] wir diese Wähler zurückholen. [Brender zur Ost-CDU] Kohl: Wir haben als Partei einen klaren Beschluß gefaßt: Wir haben den Kreisverbänden gesagt, vor Ort, das ist die einzige Möglichkeit, damit zurechtzukommen: Schaut euch die Leute an, die früher in der Ost-CDU waren, was sie getan haben, ob sie in irgendeiner Form eine Belastung haben und ihr habt die Entscheidung vor Ort. Und die sind überall in vernünftiger Weise getroffen worden. Ich bin nur gegen eins, und das möchte ich auch einmal sagen: Etwa pauschal zu diffamieren, weil einer in der Ost-CDU war. Oder: [...] Es gibt nicht wenige, Ältere vor allem, die damals angetreten sind und gebüeben sind, aber die aufrechte Bürger unseres Landes auch gebheben sind.

297 André Brie: Ideenpapier für eine Kommunikationsstrategie der PDS (unveröffentlicht, August 1995) Gegenstand der Strategie In einen zeitlich noch zu bestimmenden Zeitraum geht es bei der kommunikativen Arbeit der PDS darum, zwischen der eigenen Politik und Programmatik und den stark differenzierten Zielgruppen eine Brücke zu schlagen. Dabei wird die einheitliche Ebene gegenüber den Zielgruppen durch den ideengeschichtlichen Hintergrund und den daraus abgeleiteten ethischen Prinzipien der Politik der PDS bestimmt. Diese allgemeinste Ebene der Bestimmund der Inhalte der Kommunikation wird entsprechend der zeitlichen und politischen Herausforderungen und der anzusprechenden Zielgruppe ihre konkrete Ausgestaltung erhalten. Diese konkrete Ausgestaltung wird sich in Form und Inhalt niederschlagen. Damit muß Seitens der Kommunikatoren der PDS immer wieder die Ebene der Ideen auf die konkrete Zielgruppenansprache gebrochen werden. Die Kommunikation beinhaltet somit stabilisierende Momente, indem die ideengeschichtliche Bekennung unmittelbar nachvollziehbar ist, und flexible Momente, indem realpolitische Kommunikation sich nah der Interessenlage der Zielgruppe richtet und somit nur mittelbar auf den ideengeschichtlichen Kontext verweist. Diese Bewegungsform der Kommunikation verhindert eine Verfestigung und Vereinseitigung in Form und Inhalt. Gleichzeitig erfährt die Programmatik und Politik über die flexiblen Momente der Kommunikation eine inhaltliche Erneuerung. Die Kommunikation als Schnittfläche zwischen PDS und Öffentlichkeit ist befähigt, die Interessen der Öffentlichkeit zu erkennen und zu verdichten. Damit werden die Erkenntnisse der Kommunikation zu einem Regulativ der internen Politikbestimmung und -findung. Kommunikations ziele PDS ist wählbare Partei für alle, die Sozialismus mit Humanismus, individueller Freiheit, sozialer Gleichheit und menschlicher Solidarität gleichsetzen. PDS ist für andere gesellschaftsverändernde politische Kräfte ein akzeptierter Partner innerhalb eines modernen gesellschaftlichen Reformbündnisses. PDS ist der Garant für eine ehrliche und schonungslose Aufarbeitung des politischen Systems des realen Sozialismus. PDS ist der Moderator der divergierenden Interessen innerhalb der Gesellschaft. PDS ist die Stimme für eine neue politische Kultur. Kommunikationsbotschaften Reaüstisch bei der Bestimmung politischer Tagesaufgaben und strategischer Ziele Weise bei der Steuerung des notwendigen Interessenausgleichs innerhalb der bestehenden Gesellschaft Kompetent bei den Lösungsansätzen für die gesellschaftlichen Problemen Sinnlich bei der Gestaltung der politischen Praxis Pazifistisch bei der Austragung von Interessengegensätzen Modern, zeitgemäß in Form und Inhalt der Politik und Programmatik Effektiv bei der Umsetzung von gesellschaftlichen Interessen in politische Programme Konkret in der Forderung und Abrechnung politischer Ziele Ehrlich in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und den eigenen Fehlern Verläßlich als Partner der Wähler als auch der anderen Parteien und politischen Strukturen Pluralistisch in der Ableitung der Politik

298 Zielgruppen Anhänger: Mitglieder und Sympathisanten der Partei, Wähler der Partei, deren Einwirkung auf die Ambivalenten eher gering ist. Ambivalente: Personen, die durch ihre sozialen und politischen Interessen objektiv von der PDS zu erreichen sind. Wesentlicher Wachstumsfaktor für die politische Kraft der Partei. Andersdenkende: Personengruppen mit starker emotionaler und rationaler Ablehnung gegenüber der PDS und mit starker Einwirkung auf die Ambivalenten. Momentan eine Mehrheit der Gesellschaft. Kommunikationsmaßnahmen Der konkrete Maßnahmenkatalog ist in Abhängigkeit einer differenzierten Analyse der sozialen und politischen Hintergründe der jeweiligen Zielgruppe innerhalb des politischen Wirkungsfeldes der PDS abzuleiten. Sicher ist aber, daß neben der notwendigen Pflege der Anhänger verstärkt auf die Andersdenkenden zugegangen werden muß, da sich diese gegenüber den Ambivalenten nachhaltig als Meinungsbildner produzieren und die Mehrheit in der Bundesrepublik bilden. Ziel muß es sein, eine Wanderung dieser Gruppe aus der Gruppe der Andersdenkenden in die Gruppe der Ambivalenten zu erreichen. Die Ambivalenten werden in ihrer Akzeptanz gegenüber der PDS aber auch von ihren realen Lebensumständen bestimmt. Deshalb ist es für die PDS wesentlich, die Inhalte und die Form ihrer Kommunikation dieser Gruppe nachhaltig anzupassen. In dieser Gruppe befindet sich ein großes intellektuelles Potential. Kommunikations träger Als Subjekte der Kommunikation fungieren die einzelnen Personen der Partei, aber auch die Partei als politisches Subjekt. Deshalb ist die Kommunikationsfähigkeit der einzelnen Akteure als die der gesamten Partei zu entwickeln. Gleichzeitig gibt es außerhalb der Partei Meinungsbildner, die wesentüche Bedeutung bei der Kommunikation des Images und der Politik der Partei haben. Dabei können diese sowohl pro als auch anti wirken. Deshalb kommt es darauf an, neben einer kontinuierlichen Pflege der Förderer auch eine offensive Auseinandersetzung mit den Gegnern zu praktizieren.

299 Interviewpartner im Sommer 1995

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12.

SPD: Hans-Henner Becker, Wahlkampfleiter Wolfgang Thierses (Berlin) PDS: André Brie, Wahlkampfleiter (Berlin) SPD: Wolf-Michael Catenhusen, MdB, Parlamentarischer Geschäftsführer Bundesfraktion (Münster, Bonn) FDP: Horst-Günter Fick, Leiter des Referats .Grundsatz und Sozialforschung' (Bonn) CDU: Leiter der Abteilung .Grundsatzfragen/Politische Planung' (Bonn) CSU: Leiter der Abteilung ,Öffentlichkeitsabeit' (München) Bündnis 90/Die Grünen: Winni Nachtwei, MdB, Mitgl. Verteidigungsausschuß (Münster, Bonn) CDU: Ruprecht Polenz, MdB, Mitgl. Auswärtiger Ausschuß (Münster, Bonn) Bündnis 90/Die Grünen: Heide Rühl, Wahlkampfleiterin (Bonn) SPD: Leiter der Abteilung .Kommunikation und Wahlen' (Bonn) SPD: Wolfgang Thierse, (SPD), MdB, Stellvertretender Parteivorsitzender (Bonn, Berlin) SPD: Peter Wardin, Büroleiter des Bundesparteivorstandes (Berlin)

Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Abb. 2: Abb. 3: Abb. 4: Abb. 5: Abb. 6: Abb. 7: Abb. 8: Abb. 9: Abb. 10: Abb. 11: Abb. 12: Abb. 13: Abb. 14: Abb. 15: Abb. 16: Abb. Abb. Abb. Abb.

17: 18: 19: 20:

Soziales, kommunikatives und strategisches Handeln (König 1989a, 478) Die Bedingungen des einleitenden Sprechakts als Bezugspunkte für regelhafte Anschlußhandlungen (Frilling/König 1991, 27) Das zentrale Sprachspiel der gegenwärtigen politischen Kommunikation: Die Verhandlung über politische Angebote und Mandate Figurationen sozialer Macht: Autorität, Stellvertretung, Koalition (Sofsky/Paris 1994) Das politische System der DDR (1986-1989) Das zentrale Sprachspiel der politischen Kommunikation in der DDR: Die Durchsetzung von Parteidirektiven Das politische System der Bundesrepublik Deutschland Die Wahl: Abschluß multilateraler Verhandlungen über die Angebote der konkurrierenden Parteikandidaten und die Mandate der Wähler Die Parteienwerbung im Wahlkampf (I): Initiative zu unilateral festlegenden Vorverhandlungen über Wahlofferten Die Parteienwerbung im Wahlkampf (II): Akzeptanzstützende Begründungen für die Adäquatheit der Offerte (Angebots- und Themenpolitik) Die Parteienwerbung im Wahlkampf (III): Akzeptanzstützende Begründungen für die Legitimation des Anbieters im gesamtgesellschaftlichen Kontext (Gesellschaftspolitik) Die Parteienwerbung im Wahlkampf (IV): Akzeptanzstützende Begründungen für die Kompetenz des Anbieters im Vergleich zu den Konkurrenten (Personal- und Programmpolitik) Die Parteienwerbung im Wahlkampf (V): Akzeptanzstützende Begründungen für die Transparenz der Anbieterabsichten (Kommunikations- und Medienpolitik) Kommunikative Wahlkampfbausteine - Funktionen, Struktur und Konfliktträchtigkeit Idealtypisches Phasenstrukturmodell des Wahlkampfes - Parteienwerbung unter Umgehung aktiver Konkurrentenbeteiligung Wahlkampjpraktisches Phasenstrukturmodell des Wahlkampfes - Parteienwerbung mit aktiver Konkurrentenbeteiligung (exemplarisch) Das ,Superwahljahr' 1994 - Wahltermine und Wahlkampfverlauf Mediendistribution in der Parteienwerbung Grundbausteine der Presseberichterstattung (Bucher 1986, 64) Parteipolitische Konflikte - funktionale Phasen und exemplarische Zugsequenzen am Beispiel der .Linksfront'-Kampagne

23 30 51 64 73 81 106 127 144 151 152 153 154 165 173 175 185 215 224 234

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