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German Pages 325 [328] Year 2001
literarische Zusammenarbeit
I iterarische Zusammenarbeit Herausgegeben von Bodo Plachta
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2001
Die Deutsche Bibliothek - ClP-Einheitsaufnahme Literarische Zusammenarbeit / hrsg. von Bodo Plachta. - Tübingen: Niemeyer, 2001 ISBN 3 - 4 8 4 - 1 0 8 2 5 - 8 © M a x Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2001 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Guide-Druck GmbH,Tübingen Buchbinder: Geiger, Ammerbuch
Inhalt
Vorwort Thomas Bein Parzival zu zweit. Zu Formen und Typen literarischer Teamarbeit im deutschsprachigen Mittelalter Helga Brandes Frühe Diskurse der Aufklärung. Über Bodmer und Breitinger Hans-Gert Roloff »Wir, Moses und ich« oder »Der Buchhändler und der Jude« Beobachtungen zur Freundschaft zwischen Moses Mendelssohn und Friedrich Nicolai Ulrich Joost Jünglinge im (unedlen) Wettstreit, oder: Der Mythos von den Phantasien in dreipriapischen Oden. Eine Ermittlung Magdalene Heuser Georg und Therese Forster Aspekte einer gescheiterten Zusammenarbeit Jochen Golz Der Publikumsfreund Schiller und sein Autor Goethe. Ein Blick in die Werkstatt der Venezianischen Epigramme Heinz Rölleke »Wie die Dioskuren« - Art und Ergebnisse literarischen Zusammenwirkens in der Romantik Richard Speri Die Marx-Engels-Gesamtausgabe: Editorische Konsequenzen literarischer Zusammenarbeit zweier Autoren
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Inhalt
Rosmarie Zeller Betsy Meyer, Sekretärin, Kopistin, Mitarbeiterin. Ihre Selbstdarstellung im Briefwechsel mit dem Verleger
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Hans Zeller Betsy Meyers Mitautorschaft an C. F. Meyers Werk
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Jens Stiiben »Ich warte sehnsüchtig [...] auf den >Stoff,< den Du mir schenken solltest« Arno Holz' Produktionsgemeinschaft mit Oskar Jerschke
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Rüdiger Nutt-Kofoth Dichtungskonzeption als Differenz. Vom notwendigen Scheitern einer Zusammenarbeit zwischen George und Hofmannsthal
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Hans-Gerd Koch Kafkas Max und Brods Franz: Vexierbild einer Freundschaft
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Walter Delabar Brechts Factory. Zur literarischen Produktion im Zeitalter der industriellen Arbeitsteilung
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Thomas F. Schneider »The Shortest Acting Career in History« - Erich Maria Remarque als Filmmitarbeiter. Die Geschichte eines Scheiterns
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Bodo Plachta Ingeborg Bachmann und Hans Werner Henze. Das >Ineinanderarbeiten< von Librettistin und Komponist
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Paola Barbon Die Wahrheit über den Fall »&«. Das italienische Autorenduo Carlo Frutterò & Franco Lucentini
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Vorwort
Die Beiträge dieses Bandes gehen auf Vorträge einer Tagung zurück, die Ende April 1999 aus Anlaß des 60. Geburtstages von Winfried Woesler an der Universität Osnabrück stattgefunden hat. Das Tagungsthema korrespondierte in hervorragender Weise mit dem wissenschaftlichen Anliegen und den persönlichen Einstellungen des Jubilars, durch vielfaltige Kooperationen immer wieder tragund ausbaufähige Plattformen für den wissenschaftlichen Dialog geschaffen zu haben, sei es auf editorischem Gebiet, sei es in Fragen der internationalen und interdisziplinären Zusammenarbeit oder sei es durch die Zusammenfuhrung und Moderation von Nachwuchswissenschaftlern. Diesem langjährigen und erfolgreichen Wirken Winfried Woeslers ist dieser Band gewidmet. Untersuchungen zu Geschichte und Wandlungen des Autorbegriffs oder zur Autorexistenz sind zahlreich. Die Diskussion hat sich dabei hauptsächlich auf die unterschiedlichen Autortypen vor dem sozialgeschichtlichen Hintergrund einer sich verändernden Situation der Literaturproduktion und der sie begleitenden medialen Entwicklung sowie sich wandelnder Distributionsmöglichkeiten konzentriert. Es wurde aber gerade in den letzten Jahren auch verstärkt über theoretische Konzepte von Autorschaft nachgedacht. Die Auswirkungen auf das schriftstellerische Selbstverständnis, die Ablösung von Bindungen an einen Mäzen und damit zusammenhängende Phänomene eines Existenzkampfes als >freier< Schriftsteller, das Verhältnis zu Wissenschaft und Publizistik, die geschlechtsspezifischen Schwierigkeiten schreibender Frauen und der immer wieder zur Disposition stehende >Literaturbegriff< bildeten die zentralen Aspekte des wissenschaftlichen Diskurses. Auch zu Arbeitsweisen von Autoren und zu deren Einfluß auf die Genese literarischer Texte liegen systematische und autorspezifische Beiträge vor, die oftmals die gängigen Vorstellungen, die sich die Leserschaft, aber auch die Forschung von schriftstellerischer Arbeit gemacht haben, korrigieren halfen. Die von zahlreichen Autoren betriebene Legendenbildung, hinsichtlich ihrer Rolle in der literarischen Öffentlichkeit oder der Entstehung ihrer Texte, konnte kritisch hinterfragt werden, wobei die so rekonstruierten entstehungs- und wirkungsgeschichtlichen Kontexte auch Einblicke in poetologische Positionen und intentionale Vorstellungen des jeweiligen Autors zu vermitteln in der Lage sind. Eine historische und biographische Kontextuierung von Datengerüsten gilt nach wie vor als wichtiges literaturwissenschaftliches Anliegen, um die Entstehung von Texten transparent zu machen.
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Vorwort
Dagegen ist Fragen der literarischen Zusammenarbeit noch nie systematisch und historisch übergreifend nachgegangen worden. Dies ist umso erstaunlicher, als heutzutage der Zusammenarbeit in allen Bereichen des gesellschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellen Handelns ein besonders hoher Stellenwert eingeräumt wird. Das soll nun nicht heißen, daß Untersuchungen zur Gruppenbildung von Autoren die Frage nach den historischen Bedingungen und Rückwirkungen des unmittelbaren literarischen Austausches oder des kollektiven Engagements auf die Produktion oder auf das autorspezifische Selbstbild ausgeklammert hätten. Aber die Behandlung literarischer Kooperationen orientierte sich doch weitgehend am Einzelfall, wobei die Prominenz der beteiligten Partner - das Paradigma bilden natürlich Goethe und Schiller - häufig auch die Untersuchungsperspektive bestimmte. Welche Kontroversen aber solche enggefaßten Untersuchungen auslösen können, zeigen die scharfen Reaktionen der wissenschaftlichen und feuilletonistischen Öffentlichkeit auf das Buch von John Fuegi zur Zusammenarbeit zwischen Brecht und seinen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen (1994), wobei die Provokation im Sinne einer Demontage des Autorbildes offenbar von vornherein zur Strategie des Verfassers gehörte. Vergleichbar erfolgreich, aber unspektakulär blieb dagegen das Buch Schreibende Paare von Gerda Marko (1995), das sich allerdings - häufig nur die bekannten >Anekdoten< oder skandalträchtigen Affären nacherzählend - nicht den eigentlichen Schreibgemeinschaften zuwendet, sondern nur solche biographischen Koordinaten einer Interessengemeinschaft vermißt, in der jeder Partner seine eigenen literarischen Texte verfaßt hat. Ein Verdienst dieses Buches liegt aber darin, daß nicht nur deutschsprachige Paare Berücksichtigung finden, sondern daß der Horizont - zumindest ansatzweise - auf die europäische Literatur ausgeweitet wird. Die im vorliegenden Band dokumentierte Tagung Literarische Zusammenarbeit versuchte vor dem hier skizzierten Hintergrund der Forschung eine Bestandsaufnahme zunächst fur die deutschsprachige Literatur vorzunehmen und dabei den historischen Horizont von Formen der Kooperation abzustecken. Auch die Vielfalt der Arten (Theater, Musik, Film, Publizistik) wird in Augenschein genommen. Wichtiges Anliegen ist über die Vermittlung eines Überblicks hinaus die Initiierung eines Dialogs, der das Phänomen der literarischen Zusammenarbeit stärker in den Focus der wissenschaftlichen Diskussion rückt. Bei der Auswahl der Themen ist das Augenmerk darauf gerichtet worden, daß möglichst alle wichtigen Epochen der Literaturgeschichte berücksichtigt werden und daß die Auswahl der miteinander kooperierenden Autoren und -gruppen eine gewisse Exemplarität beanspruchen kann. Der Begriff der Zusammenarbeit soll auch nicht derart eng gefaßt werden, daß nicht auch Formen des Scheiterns oder der gegenseitigen Behinderung bei einer möglichen Zusammenarbeit behandelt werden. Ebenso aufschlußreich sind Kooperationen oder Freundschaften, die unmittelbar eine Beeinflussung der jeweiligen kulturellen Situation beabsichtigten, wie sie durch Bodmer und Breitinger für die Publizistik und Literaturtheorie der Frühaufklärung, durch Nicolai und Mendelssohn für die aufgeklärten Intellektuellengruppen in Berlin oder durch Schiller und Goethe in Weimar angestrebt wurden und die von
Vorwort
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entsprechenden Debatten und Kontroversen begleitet waren. Aber auch das Phänomen der Legendenbildung mit seinen oftmals extremen Konsequenzen für die Zuweisung von Texten zu dem einen oder dem anderen Autor und damit verbundene Fragen der Werkrezeption ergänzen den Horizont von Problemaufrissen. Mit diesem weitgefächerten Themenspektrum kann eine Diskussionsgrundlage geschaffen werden. Es ist aber auch darauf geachtet worden, die Konsequenzen einer Zusammenarbeit etwa für die editorische Präsentation eines gemeinsamen Werks wie im Fall der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) in die Diskussion einzubeziehen. Gerade im exponierten Fall der MEGA sind in den letzten Jahren immer wieder Bedenken erhoben worden, ob eine gemeinsame Edition der Werke von Marx und Engels nicht deshalb abzulehnen sei, weil sie allein ideologischen Erwägungen entsprang und weniger die Unterschiede als vielmehr die Gemeinsamkeiten der Autoren betont habe. Fragen der editorischen Präsentation von Texten, die aus einer Zusammenarbeit hervorgegangen sind, werden auch in anderen Beiträgen immer wieder gestellt. Die Schreibgemeinschaft des prominenten italienischen Autorenduos Carlo Frutterò und Franco Lucentini konnte während der Tagung bei einem Autorenabend in Augenschein genommen und konkret befragt werden. Die >Ergebnisse< dieser Dikussion werden in einem zusätzlich fur diesen Band verfaßten Beitrag dokumentiert. Insgesamt läßt sich die Zielvorstellung dieses Bandes vielleicht in folgenden Fragen zusammenfassen: 1. Welche Formen der literarischen Zusammenarbeit lassen sich ermitteln? 2. Welchen Stellenwert hat Zusammenarbeit für die Textproduktion? 3. Welche Auswirkungen hat die Zusammenarbeit von Autoren für die Textentstehung, für poetologische Konzeptionen und kulturpolitische Absichten? 4. Welche Konsequenzen für einen Autorbegriff oder für die editorische Präsentation von Texten sind aus der Betrachtung von Formen literarischer Zusammenarbeit zu ziehen? 5. Wie gestalten sich Kooperationen zwischen Autoren aus unterschiedlichen Disziplinen (z.B. Literatur/Musik)? Als Perspektive für die weitere Beschäftigung mit dem Thema bietet sich die Einbeziehung von solchen Kooperationen an, die andere Disziplinen (z.B. Kunst/Literatur, Musik/Literatur, Film/Literatur, Philosophie/Literatur) berücksichtigen und die deutschsprachigen Grenzen überschreiten. Erste Ansätze in diese Richtung versuchte die hier dokumentierte Tagung zu entwickeln. Der Universität Osnabrück und dem Literaturbüro Westniedersachsen ist an dieser Stelle ausdrücklich für die finanzielle Förderung der Tagung zu danken. Konrad Hutzelmann und Rüdiger Nutt-Kofoth haben dankenswerterweise Redaktion und Herstellung dieses Bandes unterstützt. Amsterdam, im September 2000
Bodo Plachta
Thomas
Bein
Parzival zu zweit Z u Formen und T y p e n literarischer Teamarbeit i m deutschsprachigen Mittelalter
1. Fast ist man - zumal als germanistischer Mediävist - geneigt zu sagen: Ja, dieses Kolloquium, das literarischer Zusammenarbeit, kollektiver Autorschaft, Autorenduos, -terzetten oder gar -quartetten gewidmet ist, perpetuiert konsequent den im letzten Dezennium geführten literaturwissenschaftlichen Diskurs um den »Autor«, 1 fuhrt ihn zu einem Höhepunkt, vielleicht gar zu einem Endpunkt. Kürzlich erschienen ist ein weiterer wichtiger Autorschaftssammelband, programmatisch betitelt mit Rückkehr des Autors.2 Und 1998 hat Erich Kleinschmidt »Konzepte« einer Autorschaftstheorie vorgelegt. 3 Nach dem »Tod des Autors«, nach seinem postmodemen Verschwinden, kommt diese literaturwissenschaftlich augenscheinlich hochproblematische Instanz nun nicht nur zu einem neuen Leben, sondern auch zu neuen Ehren. Seit dem 19. Jahrhundert jedoch steht im Mittelpunkt aller praktischen und theoretischen Überlegungen und Betrachtungen immer nur ein Autor, bezogen auf je einen Text oder ein Werk. Das ist freilich gut begründet in der Tatsache, daß in aller Regel dichterisches Genie individuell ist oder gar zu sein hat. W o dem nicht 1
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Einige wichtige Arbeiten: Michel Foucault: Qu'est-ce qu'un auteur? In: Bulletin de la Société française 63,1969, S. 73-104. - Ders.: Was ist ein Autor? In: Ders.: Schriften zur Literatur. Aus dem Französischen von Karin von Hofer und Anneliese Botond. 2. Aufl. Frankfurt/Main 1993 («Un de bibliothèque»), S. 7-31. - Heinrich Bosse: Autorschaft ist Werkherrschaft. Über die Entstehung des Urheberrechts aus dem Geist der Qoethezeit. Paderborn usw. 1981. - Thomas Cramer: Solus creator est deus. Der Autor auf dem Weg zum Schöpfertum. In: Daphnis 15,1986, S. 261-276. - Michael Bülow: Buchmarkt und Autoreigentum. Die Entstehung des Urhebergedankens im 18. Jahrhundert. Wiesbaden 1990. - Jürgen Fohrmann: Ober Autor, Werk und Leser aus poststrukturalistischer Sicht. In: Diskussion Deutsch 116, 1990, S. 577-588. - Felix Philipp Ingold, Werner Wunderlich (Hrsg.): Fragen nach dem Autor. Positionen und Perspektiven. Konstanz 1992. - Joachim Bumke: Autor und Werk. Beobachtungen und Überlegungen zur höfischen Epik (ausgehend von der Donaueschinger Parzivalhandschrift G5). In: ZfdPh 116,1997, Sonderheft: Philologie als Textwissenschaft. Alte und neue Horizonte. Hrsg. von Helmut Tervooren und Horst Wenzel, S. 87-114. - Thomas Bein: »Mit fremden Pegasusen pflügen«. Untersuchungen zu Authentizitätsproblemen in mittelhochdeutscher Lyrik und Lyrikphilologie. Berlin 1998. - Autor und Autorschaft im Mittelalter. Kolloquium Meißen 1995. Hrsg. von Elizabeth Andersen, Jens Haustein, Anne Simon, Peter Strohschneider. Tübingen 1998. Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. Hrsg. von Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matías Martinez, Simone Winko. Tübingen 1999. Vgl. darin Thomas Bein: Zum >Autor< im mittelalterlichen Literaturbetrieb und im Diskurs der germanistischen Mediävistik (S. 303-320). Vgl. Erich Kleinschmidt: Autorschaft. Konzepte einer Theorie.Tübingen, Basel 1998.
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Thomas Bein
so ist, scheint eher arbeitsteiliges Handwerk zutage zu treten - das lange Zeit des literaturwissenschaftlichen Diskurses gar nicht würdig war. Dennoch kommt es nicht selten vor - die Beiträge in diesem Band zeigen das - , daß mehrere Autoren, meist sind es zwei, fur ein Werk verantwortlich zeichnen. Die meisten Beispiele für solche >Team-Autorschaft< finden sich in der jüngeren und jüngsten Phase der Literaturgeschichte. Das zweifellos exponierteste Beispiel dürfte der Roman Das Gästehaus sein, in Berlin 1965 erschienen, an dem, angeregt von Walter Höllerer, insgesamt 15 Autoren geschrieben haben, darunter Peter Bichsei, Klaus Stiller, Hubert Fichte, Wolf Simeret und Nicolas Born.4 In einem Nachwort Walter Höllerers,5 als »Antwort auf Interview-Fragen« verstanden, erfahrt man: »Jeder Autor blieb als Autor erkennbar, weil jeder sein eigenes Kapitel schrieb. Aber er arbeitete an einem gemeinschaftlichen Plan mit, den er selbst mit entwarf.«6 Am Ende sei ein »moderner Roman« daraus entstanden. Wir würden heute vielleicht eher sagen: ein postmoderner Roman. Wenn wir weiter in die Vergangenheit deutschsprachiger Literatur zurückgehen und nach literarischer Teamarbeit fahnden, begegnet man z.B. Karl Friedrich Klischnig (1766 bis um 1825), der nach eigenen Angaben Mitautor an den Fragmenten aus dem Tagebuche eines Geistersehers (Berlin 1787) von Karl Philipp Moritz war. Man begegnet weiter Albert Dulk (1819-1884), an dessen Komödie Die Wände (1848) Otto Seemann als Co-Autor fungierte. Bekannter dürfte Friedrich Wilhelm Riemers (1774-1845) Mitarbeit oder Mitautorschaft an Goethes Elpenor sein,7 der im Auftrag Goethes dessen fragmentarische »Kontamination verschiedener Mythen- und Sagenkreise in einer frei erfundenen Handlung« in jambische Verse umzuformen hatte, »dabei aber auch Eingriffe in den Text vornahm«.8
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Ich möchte nun als Vertreter der germanistischen Mediävistik noch sehr viel weiter in die Literaturgeschichte zurückgehen und ein Stückchen Grundlagenarbeit
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Das Gästehaus. Von Peter Bichsei, Walter Höllerer, Klaus Stiller, Peter Heyer, Hubert Fichte, Wolf Simeret, Elfriede Gerstl, Jan Huber, Hans Christoph Buch, Wolf D. Rogosky, Martin Doehlemann, Corinna Schnabel, Nicolas Bom, Joachim Neugröschel, Hermann Peter Piwitt. Berlin 1965. - Vgl. auch: Prosaschreiben. Eine Dokumentation des Literarischen Colloquiums Berlin. Hrsg. von Walter Hasenclever. Berlin 1964. Das Gästehaus (Anm. 4), S. 231-234. Das Gästehaus (Anm. 4), S. 231. Vgl. Ida Hakemeyer: Riemers Bearbeitung des Ur-Elpenor. Diss. Göttingen 1945. Text des Elpenor und erhellende Kommentare zur Entstehungsgeschichte in: Johann Wolfgang Goethe. Dramen 1776-1790. Unter Mitaibeit von Peter Huber hrsg. von Dieter Borchmeyer. Frankfurt/Main 1988 (Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Hrsg. von Hendrik Bims u.a. 1. Abt., Bd. 5), S. 291-317 (Prosatext), S. 1127-1147 (Kommentare).
Parzival zu zweit
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leisten, denn zu diesem Aspekt ist bislang nicht systematisch gearbeitet worden.® Ich will im folgenden skizzieren, wo sich in der alt- und mittelhochdeutschen Literaturgeschichte überhaupt das Phänomen literarischer Zusammenarbeit manifestiert und - das scheint mir wichtig zu sein - wie es zu typologisieren oder zu systematisieren ist. Als ich die ehrenvolle Einladung erhielt, an diesem Symposion teilzunehmen, verbunden mit der Frage, ob es denn so etwas wie literarische Zusammenarbeit im Mittelalter überhaupt gegeben habe, stutzte ich zunächst und war fast geneigt, spontan zu sagen: Nein, das gibt es nicht! Doch gleich daraufkam ein anderer und richtigerer Gedankenblitz: Ja, doch, da gibt es in jedem Fall etwas im späteren Mittelalter: den Parzival-Romm des Claus Wisse und Philipp Colin, und ich konnte dem Organisator des Kolloquiums etwas Positives signalisieren. Während der Vorbereitung und weiterer Recherchen zeigte sich dann, daß zwar der Fall Wisse/Colin von seiner Bedeutung her wohl der wichtigste im (deutschsprachigen) Mittelalter ist (daher gibt er auch den Titel meines Beitrags her), daß aber geteilte oder aufgeteilte Autorschaft noch in manch anderen literarischen Gefilden und Zeiträumen zu finden ist und daß dies wiederum den Literariiistoriker nötigt, sich zunächst definitorisch-systematisierend mit dem Phänomen zu befassen. Insofern werde ich erst im letzten Teil meiner Ausführungen auf »Parzival zu zweit« zu sprechen kommen.
3. Literarische Zusammenarbeit - was ist das? Geteilte Autorschaft, Autorenduo, Autorenkollektiv - die Begriffe scheinen evident und klar zu sein, sind es aber bei näherem Zusehen doch nicht, zumindest für das Mittelalter nicht. Werfen wir zum Aufriß der Probleme einen Blick über den germanistischen Gartenzaun und schlagen den Neuen Kindler, Band 7 auf Seite 41 auf. Dort lesen wir: »Le Roman de la rose. [...] Allegorischer Versroman von Guillaume de Loiris und Jean de Meung«. Doppelautorschaft also? Der Fall ist komplizierter: Der Roman de la rose ist bekanntlich eine der bedeutendsten, in mehreren Hundert Handschriften überlieferten mittelalterlichen Allegorie-Dichtungen, die bis weit in die Renaissance hinein rezipiert wurde und vielfaltigen Einfluß nahm. Dem Text werden zwei Autoren zugeordnet: Guillaume de Lorris (ca. 1200/1210 bis nach 1240) und Jean de Meung (ca. 1240 bis ca. 1305). Die Lebensdaten der beiden weisen indes bereits daraufhin, daß sie nicht zusammen und gleichzeitig an dem allegorischen Großprojekt gearbeitet haben, sondern nacheinander. Guillaume verfaßte die ersten 4.058 Verse (und damit den kleineren Teil); Jean Schloß daran
Hinzuweisen ist aber auf Manfred Günter Scholz: Zum Verhältnis von Mäzen, Autor und Publikum im 14. und 15. Jahrhundert. >Wilhelm von Österreich - >Rappoltsteiner ParzifaU - Michel Beheim. Darmstadt 1987, und Bumke 1997 (Anm. 1).
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Thomas Bein
weitere 18.000 Verse an, um das Guillaumesche Fragment zu beenden.10 Er kommentiert sein Tun, eingebettet in allegorische Gespräche und durch fingierte allegorische Wortführer, an späterer Stelle wie folgt (V. 1056Iff.): »Hier wird Guillaume aufhören, / dessen Grab voller Balsam sein möge / [...] / Und dann wird Jean Chopinel kommen, / mit heiterem Heizen, wendigem Leib, / der an der Loire in Meun geboren werden wird / [...] / Der wird den Roman so gern haben, / daß er ihn vollenden wollen wird, / falls er Zeit und Gelegenheit dazu haben kann, / denn, wenn Guillaume aufhören wird, / wird Jean ihn fortsetzen, / nach seinem Tod, daß ich nicht lüge, / mehr als vierzig Jahre später.«" «Johans le continuera» heißt es im altfranzösischen Text; die literarische Übung ist also eine der Fortsetzung, und beim Fortsetzungsphänomen möchte ich einen Augenblick verweilen und es unter der Perspektive literarischer Zusammenarbeit betrachten. Literarischen Fortsetzungen liegen unterschiedliche Motivationen zugrunde, im wesentlichen wohl die folgenden beiden, wobei die Differenzierung, die ich hier vornehme, auch als Gradation dessen dienen mag, was wir hier zu verhandeln haben: literarischer Zusammenarbeit. Motivation 1: Der (literarische) Erfolg eines Werkes weist - wenn auch nicht immer, so doch häufig - auf Publikumserwartungen und ästhetischen Zeitgeschmack zurück. Wurden Erwartungen und Geschmack gut getroffen, ruft man nach mehr. Konkret bedeutet das beispielsweise, daß aus einem bestimmten Stoffund/oder Motivbereich Formen serieller Literatur entstehen, ausgehend von einem (individuellen) Werk, das auf breite Akzeptanz oder Begeisterung stößt. Hier sei nur auf die Artusepik als ein besonders eingängiges Beispiel verwiesen. In der Regel wird hier jedoch nicht das (individuelle) Werk eines Autors durch einen anderen Autor fortgesetzt, sondern die Fortsetzung knüpft an überindividuellen narrativen Mustern, Motiven, am Personal oder der fiktiven Topographie an. Natürlich: läßt man sich auf Intertextualitätstheoreme ein, so könnte man ein literarisches Phänomen wie etwa die Artusepik als einen Text bezeichnen, dem eine Vielzahl von Autoren zugeordnet werden könnte - dies ist dann auch eine Form literarischer Zusammenarbeit. Ich will jedoch den Begriff nicht weiter in diese Richtung überstrapazieren und möchte diese Form von Fortsetzung eigentlich aus unserem Begriffskontext ausklammern. In unserem Zusammenhang bedeutender ist Motivation 2 für literarische Fortsetzungen: Ein Werk wird von - einem - Autor begonnen, dieser kann es jedoch aus äußeren Gründen nicht vollenden. Das Werk wird trotzdem rezipiert, die Rezipienten sind enttäuscht ob des fehlendes Schlusses und beauftragen einen anderen Autor mit der Vollendung. Erst im Akt einer zweiten Rezeption (nämlich 10
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Guillaume de Lorris und Jean de Meun: Der Rosenroman. Übersetzt und eingeleitet von Karl August Ott. Bd. I. München 1976; Bd. II. München 1978; Bd. III. München 1979 (jeweils mit altfranzösischem Text). Altfranzösischer Text: «Ci se reposera Guillaumes, / Li cui tombleaus seit pleins de baumes / [...] / Puis vendra Johans Chopinel / Au cueur joli, au cors inel, / Qui naistra seur Leire a Meün, / [...] / Cist avra le romanz si chier / Qu'il le voudra tout parfenir, / Se tens e leus l'en peut venir, / Car, quant Guillaumes cessera, / Johans le continuera, / Emprès sa mort, que je ne mente, / Anz trespassez plus de quarante» (s. Anm. 10, Bd. II, V. 10561-10590).
Parzival zu zweit
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des Werks von Autor 1 und des Werks des Autor 1 fortsetzenden Autors 2 zusammen) ergibt sich so etwas wie ein Werk von zwei Autoren. Man kann hier durchaus von doppelter Autorschaft sprechen, aber nur in dem Sinn, daß man diese rezepfto/isästhetisch versteht; produktions'zsihçùsch hingegen ließe sich ein solcher Fall nur für Autor 2 fassen, insofern er bewußt an das anknüpft, was Autor 1 hinterlassen hat. Autor 1 hingegen hat in der Regel nie an einen Autor 2 gedacht. Der Rosenroman hat seinen Weg in die Literaturgeschichte und Literaturgeschichtsschreibung zwar als ein Werk mit zwei Autoren genommen, aber es ist ein solches nur >im Blick zurückSingleGesellschaftNatumachahmung< wird erweitert. - 1735-1741 geben beide die Helvetische Bibliothek heraus. - 1740 Breitingers Critische Dichtkunst erscheint in zwei Bänden mit jeweils einem Vorwort von Bodmer. - 1745: Edition der Gedichte von Opitz {Martin Opitzens von Boberfeld Gedichte, Zürich 1745). - 1748/1757-59: Bodmer und Breitinger widmen sich altdeutscher Studien (mittelhochdeutscher Handschriften). Minnekodex (heute: Große Heidelberger Liederhandschrift) und das Nibelungenlied stehen im Mittelpunkt (Sammlung von Minnesingern aus dem schwaebischen Zeitpuncte, Straßburg 1758/59). (Proben der alten schwäbischen Poesie des Dreyzehnten Jahrhunderts. Aus der Manessischen Sammlung, Zürich 1748); (Chriemhilden Rache, und die Klage; zwey Helden Gedichte Aus dem schwaebischen Zeitpuncte, Straßburg 1757). Dem ist vorausgegangen: - 1757: Ausgabe von Ulrich Boners Edelstein unter dem Titel Fabeln aus den Zeiten der Minnesänger, Zürich 1757. - 1762 gründet Bodmer die Historisch-politische Gesellschaft, in der Breitinger aktiv teilnimmt.
2. Zusammenarbeit im Dienste der Aufklärung: Die Discourse der Mahlern (Zürich 1721-23) Mit dem ersten gemeinsamen Projekt, der Herausgabe der Discourse der Mahlern, betreten die beiden jungen Schweizer Neuland (Bodmer ist 23, Breitinger 20 Jahre alt): Es ist die erste Moralische Wochenschrift im deutschsprachigen Raum. Bodmer lernte die französische Übersetzung des Spectator (1711/12 und 1714) kennen,4 die ihn - wie so viele andere in Europa - inspirierte, eine Wochenschrift nach dem englischen Muster herauszugeben. Die Discourse gehörten mit einer Auflage von 200 Stück zwar nicht zu den erfolgreichsten Wochenschriften;5 das Verdienst ihrer Herausgeber liegt aber darin, in diesem Teil der Welt ein neues
Die Chronick der Gesellschaft der Mahler. Hrsg. von Theodor Vetter. Frauenfeld 1887. D.i. Justus van Effen: Le Spectateur ou le Socrate moderne. 6 Bde. Amsterdam 1714-26. Der Patriot und Die Vernünftigen Tadlerinnen wären da eher zu nennen.
Frühe Diskurse der Aufklärung
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Medium eingeführt zu haben, das im 18. Jahrhundert zu einem zentralen Forum der Aufklärung avancieren sollte.6 Die Titelgebung verweist auf den alten und später oft wiederholten Vergleich der Malerei und der Dichtkunst. Der italienische und französische Einfluß auf Bodmer war dabei nicht unwichtig.7 (1718 hielt er sich in Lugano und Lyon auf.) Im Frühjahr 1721 begann die Gesellschaffi, die sich vorwiegend aus Geistlichen, Juristen, Ärzten zusammensetzte, mit der Arbeit. Man traf sich zum Austausch und korrespondierte miteinander. Ende April 1721 wurden die ersten Diskurse (1-7 des I. Teils) der Zensur übergeben. Von diesem Zeitpunkt an bis zum Juni 1723 führte die Gesellschaffi die bereits erwähnte Chronick, die Auskunft gibt über die einzelnen Mitglieder, über deren Korrespondenz, über Querelen mit der Zensurbehörde etc. Sie enthält auch ein Verfasserverzeichnis der 94 Diskurse.' Der Chronick ist zu entnehmen, daß Bodmer 48, Breitinger 27, Bodmer und Breitinger gemeinsam 13 Stücke verfaßt haben (genannt werden noch Zellweger, Lauffer und Zollikofer, die den einen oder anderen Artikel beigesteuert haben).9 Was liegt näher, als im Hinblick auf das zu diskutierende Thema die von Bodmer und Breitinger gemeinsam verfaßten Diskurse näher zu untersuchen? In ihnen finden sich die zentralen Themen der Wochenschrift wieder (so beispielsweise die Bereiche Sitten und Moden, Frauenemanzipation und Geschlechterbeziehungen, Poetik, Literatur- und Sprachkritik).
2.1. Sitten und Moden Ein zentraler Bestandteil der Gesellschaftskritik Bodmers und Breitingers ist ihre Vorurteilskritik. Auf der Grundlage der Vernunft- und Popularphilosophie Wolffs,10 Leibniz' und Thomasius' propagiert die Wochenschrift ein neues Denken, das mit alten Vorurteilen aufräumt. Die Zeitschrift setzt sich fur eine vemunftgeleitete Beurteilung der Welt, des Menschen und der Dinge ein. In diesem Kontext stehen die Diskurse, die sich thematisch mit Sitten und Moden auseinandersetzen. So wenden sich Bodmer und Breitinger beispielsweise gegen
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Zu dieser publizistischen Gattung ausführlich Wolfgang Martens: Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der deutschen Moralischen Wochenschriften. Stuttgart 1968. Zu nennen wären: Ludovico Muratori (Della Perfetta Poesia Italiana, 1706) und Jean Baptiste Dubos (Réflexions critiques sur la poesie et sur la peinture, 1719). Die Wochenschrift erschien - wie für diese Gattung üblich - anonym. Trotz Drängen der Zensur wurden die Namen der Herausgeber und Beiträger nicht preisgegeben. Die Diskurse erschienen unter >MalerFreundschaft< ein Kult-Thema der Zeit war, belegt die instruktive Bibliographie am Schluß des Bandes. Das Ziel freilich, einen »Zusammenhang zwischen dem literarischen Diskurs der Freundschaft und der Lebensrealität der Zeit« - so das Vorwort - herzustellen, ist hier noch nicht bündig erreicht worden, so sehr einzelne Beiträge einen deutlichen Fortschritt gegenüber älteren Untersuchungen, wie etwa Wolfdietrich Raschs Freundschaftskult (1936),3 erkennen lassen. Ob es fur das Phänomen Freundschaft »ein sozialethisches Handlungsmodell«4 gibt oder sich eine Verhaltenstypologie von außerliterarischen Freundschaftsstrukturen konstituieren läßt, steht einstweilen noch dahin. Es mangelt noch an genauer >FeldforschungFreundschaft< mit Interessengemeinschaft bzw. >Zweckbündnis< verhakt ist, bleibt noch unentschieden; es scheint eher bedenklich, hierfür den Freundschaftsbegriff zu verwenden. Im Falle Goethe-Schiller spricht der Referent bezeichnenderweise von deren
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Der erste Teil des Titels ist eine Formulierung Nicolais in einem Brief an Lessing vom 8. August 1757; der zweite Teil des Titels entspricht einer ironischen Formulierung Moses Mendelssohns an Thomas Abbt vom 26. November 1765. Frauenfreundschaft - Männerfreundschaft. Literarische Diskurse im 18. Jahrhundert. Hrsg. von Wolfram Mauser und Barbara Becker-Cantarino. Tübingen 1991. Wolfdietrich Rasch: Freundschaftskult und Freundschaftsdichtung im deutschen Schrifttum des 18. Jahrhunderts. Halle/Saale 1936. Eckhardt Meyer-Krentler: Freundschaft im 18. Jahrhundert. Zur Einführung in die Forschungsdiskussion. In: Mauser/Becker-Cantarino 1991 (Anm. 1), S. 1-22, hier S. 3. Friedrich H. Tenbruck: Freundschaft. Ein Beitrag zur Soziologie der persönlichen Beziehungen. Hier zitiert nach Meyer-Krentler 1991 (Anm. 4), S. 6.
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>Verhältnis< zueinander.6 Nicht einleuchten will schließlich die Feststellung zur Relation von Brief und Wirklichkeit: »So privat sich nun die Briefschreiber geben: sie bleiben eingebunden in die literarische Kultur. [...] In [...] privaten Briefen waltet stark literarische Modellierung.«7 Und wenn wenig später die Suggestivfrage gestellt wird: »Formulieren freundschaftliche Briefe tatsächlich eine gelebte Freundschafts-Praxis, eine gelebte persönliche Beziehung, oder konstituieren sie erst eine solche, und in welchem Maße?«,8 dann möchte ich doch aus dem Befund der Kommunikation Mendelssohn-Nicolai antworten: nein, keine literarische Modellierung, aber durchaus erkennbare gelebte Freundschaftspraxis. Die Freundschaft zwischen Lessing, Mendelssohn und Nicolai - eine literaturgeschichtliche Sternstunde des 18. Jahrhunderts - bezog sich fur alle drei ganz selbstverständlich auf >gelehrte Sachem, auf die Wissenschaften und die Literatur, aber auch auf die privaten Umstände, die damit verbunden waren. Für die Betrachtung der Briefe der drei Freunde Lessing-Nicolai-Mendelssohn ist eine wesentliche Voraussetzung, daß sie bei Konzeption und Kommunikation n i c h t für die Öffentlichkeit bestimmt, also nicht fur sie freundschaftskultisch getrimmt waren. Es ging vielmehr um konkrete Sachfragen und Informationen. Daß die Schreiber sich dabei eines gewissen sprachlichen Dekorums bedienten, hat keinen Einfluß auf die Inhalte. Anrede- und Grußformen wie »theuerster Freund« (Mendelssohn an Lessing), »Liebster Freund« (Lessing an Mendelssohn), »Werthester Freund« (Mendelssohn an Lessing), »Lieber Herr Nicolai« (Lessing an Nicolai) oder »leben Sie wohl, liebster Moses, und fahren Sie fort mich zu lieben. Ich bin ganz der Ihrige. Lessing« - »Leben Sie wohl und lassen Sie unsere Freundschaft ewig seyn. Lessing« (Lessing an Mendelssohn) - »mein theuerster Freund Herr Moses Mendelssohn« (Nicolai an Moses Mendelssohn) entsprachen durchweg dem Klima der brieflichen Kommunikation. Es fragt sich überhaupt, ob diese Formulierungen leere Formeln waren oder ob sie nicht doch eine humane Geste gegenüber dem Briefempfänger enthielten. Konsequent blieb bei allen drei Freunden in ihren Korrespondenzen die Anrede »Herr« und das distanzierende »Sie«; »Herr Moses« war Standardform, selten schreiben Lessing oder Nicolai »Moses« - Mendelssohn hat sich nirgendwo zu >Gotthold< oder >Friedrich< herabgelassen... Aber das ist äußere Konvention, keineswegs »starke literarische Modellierung«. Wenn man literarische Stilisierung dem Brief an sich generell zuweist, beraubt man ihn automatisch seiner historisch wichtigen Quellenfunktion und bugsiert ihn ins Fach der minderwertigen Literatur. Der Wert von Briefen besteht für die Historie ja gerade darin, daß sie nicht literarisch fiktiv hochgestylt sind.
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Wolfgang Fahs: Zum Verhältnis Goethe-Schiller. In: Mauser/Becker-Cantarino 1991 (Anm. 2), S. 137-140. Meyer-Krentler 1991 (Anm. 4), S. 17. Meyer-Krentler 1991 (Anm. 4), S. 17.
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Damit komme ich zum Projekt, das ich mir vorgenommen habe. Das Thema Literarische Zusammenarbeit habe ich in Verbindung mit der Freundschaftsdiskussion zum 18. Jahrhundert gebracht. Ich möchte die Umrisse der Fallgeschichte einer privaten Freundschaft darstellen, wie sie sich insbesondere zwischen dem jüdischen Philosophen Moses Mendelssohn und dem Literaten, Verleger und Buchhändler Friedrich Nicolai zwischen 1755 und 1786 ereignet hat. Mich interessieren dabei nicht die literarischen Diskurse, die Auseinandersetzungen, die Publikationen und deren Problemwelten, sondern die humanen Interaktionen der beiden in ihrer aufeinander bezogenen dreißigjährigen Kommunikation, die sie selbst als Freundschaft deklariert haben. Wie war diese Freundschaft beschaffen, wie sah ihr Alltag aus, wie nahe standen sie zueinander, was war Inhalt der Beziehung, was wurde ausgegrenzt. Wie funktioniert Freundschaft über dreißig Jahre?! Zur Untersuchung liegen Briefwechsel und Schriften beider über einander vor. Die Briefwechsel-Editionen zu Lessing und Mendelssohn9 stellen auch die Nicolai-Briefe bereit, so daß der Dialog verfolgt werden konnte. Hinderlich erwies sich, daß die Briefwechsel keine dezidierten Register haben, in denen die Briefinhalte, mindestens nach Namen und Sachen, erschlossen werden, denn die Urteile von und über einander in anderen Korrespondenzen sind bei diesem Zustand meist nur Zufallsfunde. Die Ergiebigkeit des Materials für den anvisierten Aspekt ist nach meiner Einschätzung relativ hoch. Leider bestehen erhebliche Überlieferungslücken in den Korrespondenzen, so daß man manches interpolieren muß. Aus den Exzerpten schälten sich schließlich einige Kommunikationsschwerpunkte fiir die drei Jahrzehnte währende Beziehung heraus, die ununterbrochen andauerte. Ein Teil dieser Schwerpunkte ist nur zu bestimmten Zeiten belegbar, andere gehen über die Jahre hin. Sie beziehen sich auf das konfessionelle Verhalten beider Freunde - Judentum und Christentum stellten zwischen Mendelssohn und Nicolai kein Problem dar - , auf zahlreiche literarische Kooperationen, auf Verteidigung gegen Angriffe und Mißverständnisse von außen, auf gemeinsame Studien der beiden Freunde, die Autodidakten waren, auf Mitgliedschaften und Vergnügungen, auf Teilnahme an Leid und Krankheiten des Freundes; auch finanzielle Angelegenheiten werden erörtert, und beide Freunde finden sich einmütig in ihren freundschaftlichen Bekundungen gegenüber Lessing und Abbt. Ich gehe zunächst von Nicolais Nekrolog auf Mendelssohn aus. Er scheint mir besonders geeignet, die seelische und geistige Dimension der Beziehung auszuloten. Nicolai würdigte in seinem Nekrolog auf Moses Mendelssohn - verfaßt unmittelbar nach dessen Tod am 4. Januar 1786, datiert »Berlin 7. Jänner«, veröf-
Gotthold Ephraim Lessing: Sämtliche Werke. Hrsg. von Karl Lachmann. Dritte, aufs neue durchgesehene und vermehrte Aufl. besorgt durch Franz Muncker. Briefe. Bd. 17-21. Leipzig 1904-1907. - Moses Mendelssohn: Gesammelte Schriften. Briefwechsel I—III. Stuttgart 1974-1977.
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fentlicht in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek in Band 65 (1786) - l 0 Bedeutung und Leistung des gerade verstorbenen Freundes: »Die gelehrte Welt hat einen unersetzlichen Verlust erlitten, durch den Tod des berühmten Philosophen Moses Mendelssohn.« In bemerkenswert unpathetischer, klarer Sprachgebung setzt er die Akzente von Leben und Werk, soweit sie Literatur und Wissenschaft verpflichtet waren; die alltäglichen Werktätigkeiten werden mit keinem Wort erwähnt: Moses Mendelssohn war seit 1750 Erzieher, dann von den fünfziger Jahren an in der Seidenfabrik Isaak Bernhards in Berlin als Sekretär und später ab 1761 als deren Manager höchst erfolgreich tätig und sorgte ftir deren Expansion in Berlin und in Brandenburg. Die Seidenindustrie war in Preußen wichtig und beliebt. Der Broterwerb, dem beide Freunde - der eine als Fabrikant, der andere als Verleger und Buchhändler - nachgingen, ist kaum thematisiert worden, weder von ihnen in ihren schriftlichen Kommunikationen noch in der Forschung zum Freundschaftsthema, soweit ich sehe. Gleichwohl scheint das nicht unwichtig zu sein, denn ihr pekuniärer Status gewährte ihnen ihre materielle Unabhängigkeit und damit ihre geistige Freiheit. Interessant ist, daß in den erhaltenen Briefen beider gelegentlich auch gewisse Informationen über finanzielle Transaktionen ausgetauscht wurden. Sie standen beide mit beiden Beinen im aktiven Unternehmertum. Sie hatten weder auf höfische, klerikale, administrative oder universitäre Obrigkeiten Rücksicht zu nehmen, sondern nur die mögliche wirtschaftliche Prosperität ihrer Unternehmen zu beachten. Darin hatten sie ihrem gemeinsamen Freund Lessing einiges voraus! Nicolai formulierte das in seiner kleinen Schrift Christ. Fr. Nicolai's Bildniss und Selbstbiographie (Berlin 1806) folgendermaßen: Diese drey eng verbundene Freunde, welche wöchentlich wenigstens zwey - oder dreymal zusammenkamen, waren sich darin gleich, daß sie in der gelehrten Welt gar keinen Stand, keine Absichten, keine Verbindungen, keine Aussichten auf Beförderung hatten oder suchten, und selbst in der bürgerlichen Welt ohne alle Verbindung oder Bedeutung waren, auch keine verlangten. Moses und .Nicolai waren junge Kaufleute, beide noch nicht in eigner Haushaltung. Lessing hatte zwar auf Universitäten studirt, aber gar nicht auf die gewöhnliche Art, oder zu einer von den gewöhnlichen Zwecken und hatte auch in Berlin keine andere Absicht als seine Wissbegierde zu befriedigen. Ihre Studien und ihre Unterhaltungen hatten nichts als bloß die Erweiterung ihrer Kenntnisse und die Schärfung ihrer Beurtheilungskraft zum Zwecke.
Nicolai erinnert aus der Jugendzeit des Moses nur an Kriterien, die dessen geistiges Wesen geprägt haben: der Vater Mendel unterweist den Sohn »in der hebräischen Sprache und in den ersten Gründen der jüdischen Gelehrsamkeit«; Moses lernte »sehr früh die Werke des ehemaligen großen Reformators der jüdischen Philosophie und Religion Maimonides kennen, durch welche in ihm [Moses] der erste Grund zur Untersuchung der Wahrheit und zu freymüthiger Denkungsart gelegt ward« - beides, die »Untersuchung der Wahrheit«, die 10
Friedrich Nicolai: Nekrolog auf Moses Mendelssohn. In: Friedrich Nicolai: Sämtliche Werke. Bd. 6,1: Text. Gedächtnisschriften und philosophische Abhandlungen. Bearb. von Alexander KoSenina. Bern 1995 (Berliner Ausgaben), S. 36-45. - Im folgenden SW zitiert.
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»freymüthige Denkungsart«, sind Grundbegriffe der gemeinsamen geistigen Lebenshaltung; sie ziehen sich wie ein roter Faden durch die Diskurse der Freunde. Für Nicolai dürfte es wichtig und entscheidend gewesen sein, Moses von Anfang an in diese jüdisch-geistige Tradition zu stellen, um die Besonderheit von Mendelssohns geistiger Existenz den vornehmlich protestantischorthodoxen Kritikern als die ursprünglichere Geisteshaltung gegenüberzustellen. Nicolai weist auf Situationen in der Jugend Mendelssohns hin, die fast typisch für die Jugendperiode bedeutender Intellektueller sind: »früh anhaltender Fleiß«, »Nervenkrankheit«, die zu Rückgradverkrümmung führte, Armut des Elternhauses, Verlassen des Elternhauses mit 14 Jahren, große Lernbegierde, die den Mangel und die äußere Dürftigkeit überwinden hilft, Unterstützung und Förderung durch jüdische Gelehrte, die Moses zu seiner autodidaktischen Bildung verhelfen. Den persönlich schweren Bildungsgang des jungen Moses prägt Nicolai ins Exemplarische um: Es ist unglaublich, welchen Fleiß mehrere junge jüdische Gelehrte anwenden, und welche unbeschreibliche Hindemisse sie beherzt zu übersteigen wissen, um in den Wissenschaften weiter zu kommen. Es ist aber auch unglaublich, welchen Vortheil die Obersteigerung dieser Hindernisse in der Folge bringe, welches sich einige der neuem Jugendlehrer, die gem alles so gar leicht machen wollen, wohl möchten gesagt lassen.
Das Schicksalsjahr für Moses und Nicolai zugleich war das Jahr 1754, die Begegnung mit Lessing, der gleichaltrig wie Mendelssohn war; Nicolai war vier Jahre jünger. Es entstand in Berlin das für die geistige Situation in der Mitte des 18. Jahrhunderts so bedeutende und gewichtige Intellektuellen-Triumvirat Lessing-Mendelssohn-Nicolai. Dadurch, daß Lessing meist außerhalb Berlins lebte, sind wir besser über die Kommunikation der beiden, beständig in Berlin anwesenden Freunde mit Lessing orientiert als über den direkten Austausch von Mendelssohn und Nicolai. Daß es sich um eine lebenslange Bindung aneinander auf der Basis tiefer, gleichgestimmter menschlicher und intellektueller Partnerschaft handelte, bezeugen uns die Korrespondenzen. Es ist sehr bedauerlich, daß sich nicht alles, was zwischen den dreien verhandelt wurde, lückenlos erhalten hat. Keiner von ihnen hat ein Tagebuch geführt! Aber es gibt da und dort verstreut Bemerkungen, Bekundungen und selbstverständliche Gesten, die uns erlauben, die freundschaftlich-menschlichen Bindungen aneinander zu verdeutlichen und zu einem Umriß ihrer wahren Freundschaft zu skizzieren. Und das dürfte tiefer bedingt sein als nur durch modisch-omative Couleur. Welchen Wert die Freundschaft mit beiden Männern für Nicolai hatte, läßt sich zwei Passagen seines Nekrologs entnehmen: Was ich diesen beyden Männern von so seltenen Talenten, welche die ungeschminkteste Wahrheitsliebe besaßen, und beyde den edelsten Charakter hatten, verdanke, empfinde ich im innersten meines Herzens, und kann es niemand deutlich darstellen, am wenigsten in dieser Stunde, wo meinem Herzen der Schmerz der Trennung von einem dreißigjährigen vertrauten Freunde, noch so neu ist. Unser Umgang war verschiedene Jahre lang, so
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Hans-Gert Rolqff innig, so lehrreich! Wir waren in unsem Hauptprinzipien über metaphysische, über ästhetische, über sittliche Gegenstände im Grunde so innig einstimmend, und dennoch war bey jedem von uns der nähere Augenpunkt so divergierend, daB jede unserer Betrachtungen jedem von uns so neue Aussichten öffnete, so fruchtbar fur das Nachdenken war, und so befriedigende Resultate herbey brachte, selbst wenn wir, wie es gemeiniglich geschah, am Ende in manchen Nebendingen verschiedener Meynung blieben. Diese innige Übereinstimmung im Ganzen, diese UnÜbereinstimmung in vielen Nebenideen, bey aller scharfen Untersuchung, ist mir noch der sicherste Probierstein unserer Offenherzigkeit und unserer Wahrheitsliebe; indem jeder seinem eigenthümlichen Charakter und ohne alle Heucheley und Prätension, seiner eigenthümlichen Denkungsart getreu blieb. Dieser hat unser beständiges, zuweilen sehr lebhaftes mündliches und schriftliches Disputiren über wichtige Gegenstände in mehr als zwanzig Jahren doch nicht ein einzigesmal zwischen uns das geringste Misverständniß oder Zänkerey verursacht. [...] Soll ich etwas von dem großen Werthe sagen, den dieser große Gelehrte als Mensch hatte! Ich habe ihn seit dreyßig Jahren in so vielen Vorfällen des menschlichen Lebens thätig gesehen. Ich habe die außerordentlichsten Beyspiele seines Edelmuths, seiner unerschütterlichen Redlichkeit, seiner Wohlthätigkeit, seiner Uneigennützigkeit, seiner Menschenliebe, seiner Bereitwilligkeit Feinden zu vergeben, seiner Sanftmuth, seiner Freundschaft gesehen. Ach! das Herz bricht mir. Ich könnte jetzt, wenn es nöthig wäre, von seinen gelehrten Verdiensten eher noch mehr sagen; aber über diese Gegenstände, welche auf die Empfindung so unmittelbar wirken, kann ich jetzt nichts mehr schreiben. Mein Herz ist noch allzusehr zerrissen und mein Schmerz noch allzuneu!
Es mag sich unserem heurigen Geschmack und historischen Verständnis möglicherweise aufdrängen, daß dies zwar >schön< >empfindsam< formuliert ist, aber doch nur literarischer Stil des Freundschaftsornats der Zeit sein könnte. Ich meine, daß wir das Nicolai, dem von der Historie weithin Geschmähten und Verkannten, keineswegs unterstellen dürfen, sondern dieses Gedenken als echten Ausdruck tiefer menschlicher Trauer anzusehen haben. Denn Nicolai nunmehr von beiden Freunden, Lessing und Mendelssohn, verlassen - zieht hier die Summe einer dreißigjährigen Freundschaft, und was er hier rückblickend erinnert, läßt sich annähernd an den erhaltenen Lebenszeugnissen ablesen und bestätigen. Damit dürfte dem real-biographischen Element der Freundschaft Genüge getan und sie der Vordergründigkeit modischen Kultgehabes enthoben sein. Einer, der Nicolais - man müßte fast sagen: »klassische« - Würdigung zutiefst verstanden hatte, war Georg Christoph Lichtenberg, der bereits am 21. April den Nekrolog in der ADB gelesen hatte und an Nicolai schrieb: »Das Denkmal, welches Sie Moses Mendelssohn in Ihrer Bibliothek errichtet haben, ist vortrefflich und hat mich bis zu Tränen gerührt. Ich lese es täglich wieder.«" Lichtenberg hatte Nicolais wahre Intention erkannt; er ermahnte ihn geradezu, eine Mendelssohn-Biographie zu schreiben, denn das Leben Mendelssohns müßte unter Ihren Händen ein Fundamentalwerk für die Menschheit werden. [...] Es wird sobald kein Mendelssohn wieder sterben, und geschieht es in 100 Jahren etwa einmal wieder - wird da auch ein Nicolai wieder da sein, der der Welt mit der Kenntnis und Überzeugungskraft für die Stärkeren und mit dem Kredit und Autorität für die Schwächeren [...] sagen können wird, das haben wir verloren, so sieht es um unser Vaterland aus und das müssen wir tun [...]. u
Georg Christoph Lichtenberg: Briefwechsel. Hrsg. von Ulrich Joost und Albrecht Schöne. Bd. III. 1785-1792. München 1990, S. 201: Lichtenberg an Nicolai vom 21.4. 1786.
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Ich möchte im folgenden anhand ausgewählter konkreter Belege aus den dreißig Jahren zeigen, wie die Freundschaft beschaffen war, wie sie sich im Verlaufe der Alltagsgeschäfte vollzogen hat. Zum Bezugspunkt >Konfessionelles Verhalten< läßt sich sagen, daß >Judentum< und >Christentum< zwischen Mendelssohn und Nicolai kein Problem darstellen. Man darf hier Nicolais Brief (26. 3. 1759) an Peter Uz anfuhren: »Herr Moses hält sich zur Synagoge und warum sollte er dieses nicht thun? - Er ist eines der grösten Genies die Deutschland ie gehabt [...]. Er hat das beste Herz, wie glücklich wäre ich, wenn ich immer um ihn sein könnte, ich habe nie einen innigeren Freund gehabt.« Moses Mendelssohn stammte, vor allem von mütterlicher Seite her, aus altem, hoch angesehenem rabbinischen Geschlecht. Er hatte eine traditionell jüdische Ausbildung genossen und mußte sich erst in Berlin die neueren und die klassischen Sprachen erarbeiten. Er war seiner jüdischen Gemeinde in Berlin und ihren Bräuchen eng verbunden. Aber sein Standpunkt war eben ein aufgeklärter, vielleicht am besten von ihm selbst in einem Brief an Herder ausgedrückt, den er begann: »Moses, der Mensch, schreibt an Herder, den Menschen; nicht der Jude an den Superintendenten« (Mendelssohn an Herder 18. 5. 1781). Nicolai wie auch Lessing haben Mendelssohns konfessionelle Einbindung in - wie Lessing sagte - »seine Nation« für etwas ganz Selbstverständliches gehalten und aus Moses' Wissen um die gelehrte jüdische Tradition Kenntnisse und reiche Belehrung gezogen. Der Nathan ist Beweis genug für diese Haltung. Aber es zeigten sich - außerhalb des Freundeskreises - bei Mendelssohn gewisse Empfindlichkeiten. So nehmen die Braut- und Familienbriefe keinen Bezug auf die Berliner Freunde, erwähnt werden nur die jüdischen Bekannten und Verwandten. Der Braut Fromet Guggenheim teilt er mit: »Ich würde Ihnen etwas vorlügen, wenn ich Ihnen von den Hiesigen [das meint die Berliner] einen allzu vorteilhaften Begriff beybringen wollte. Es ist die Art der Hiesigen, einmahl so, die Guten sind recht gut, aber die Bösen sind desto schlimmer« (11. 9. 1761). Es gibt ein Billet von Mendelssohn an Nicolai (März 1772), in dem er eine Einladung zu einer Lesung Ramlers von Lessings Emilia Galotti ablehnt - mit der Begründung: »Wer bin ich, dass ich mir ein solches Vergnügen unbestraft sollte erlauben können? Mir bleibet, wie heißt es im N.T.? Das Draußenstehen und Zähneklapfern.« Bei Nicolai haben nicht die leisesten Vorurteile gegenüber der Konfession des Freundes bestanden, er hat auch nirgendwo den beschämenden Versuch unternommen, Mendelssohn etwa zur Konversion zu bewegen. Aus einem Bericht über den Theologen Johann August Eberhard, Prediger in Berlin und bald Vertrauter von Nicolai und Mendelssohn,12 geht hervor, wie
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»Nicht lange nach seiner Ankunft [1768] erwarb ich [Nicolai] seine Bekanntschaft, welche bald in enge Freundschaft überging. Durch mich ward er mit dem edlen Moses Mendelssohn bekannt und gleichfalls bald sehr enge verbunden, und so ward er, während seines ganzen folgenden Aufenthalts in Berlin, gewöhnlich der dritte Mann bey unseren
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intolerant gewisse Kreise in Berlin gegenüber den Juden waren. Als solche Leute Mendelssohn und Eberhard zusammen im Gespräch auf der Straße sahen, nahmen sie lauthals daran Anstoß, daß sich ein evangelischer Prediger mit einem Juden einlasse! Eberhard hat sich davon nicht beeindrucken lassen, aber Nicolai kommentierte die berichtete Szene mit tiefster Scham über das intolerante Verhalten gewisser Berliner Kreise.13 Das Beispiel macht deutlich, wie hier Ideale der Aufklärung zur Richtschnur praktizierter Freundschaft dienten. Bei dem kontinuierlichen Gespräch der Freunde über literarische Kooperationen hat man gewiß zu berücksichtigen, daß Mendelssohn wie Nicolai täglich ihre volle Werktätigkeit zu leisten hatten und daß die literarische Tätigkeit vor allem für Moses ein Hobby war, dem er unter Aufbietung aller, ja letzter Kräfte frönte. Insofern ist es kaum vorstellbar, daß er die beschwerliche Kooperation auf sich genommen hätte, wenn ihn nicht freundschaftliche Gefühle an Nicolai gebunden hätten und wenn Nicolai als Mensch dieses Engagements nicht würdig gewesen wäre. Mendelssohn war keinesfalls der Sklave des Buchhändlers, wenn er sich gelegentlich auch scherzhaft als dessen >Sekretär< vorstellte. Für Außenstehende waren Nicolai und Mendelssohn ein IntellektuellenDuo, das gemeinsam Entscheidungen traf, fast immer den gleichen Geschmack hatte und bei dem einer statt des anderen korrespondierte und kritisierte. Die Korrespondenz strotzt von solchen Floskeln wie: »Ihr Schreiben hat mir und Moses sehr viel Freude erweckt« - »Moses und ich halten Lessing und saumselig für zwei unzertrennliche Begriffe« - »Mir und Moses hat er [John Bunde] sehr gefallen, anderen aber nicht«. Die tiefe menschliche und geistige Verbundenheit zwischen Mendelssohn und Nicolai kann nicht besser bezeugt werden als durch die Briefwechsel mit Lessing und Abbt: Die Briefe meinen immer Moses und Nicolai und werden von einem oder beiden oder gemeinsam beantwortet. (Nebenbei: ein editorisches Problem, das der Herausgeber des Mendelssohn-Briefwechsels, Bruno Strauß, 1974 so gelöst hat, daß er im Mendelssohn-Briefwechsel auch die entsprechenden Korrespondenzen zwischen Lessing und Nicolai und zwischen Abbt und Nicolai edierte.)
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wöchentlichen Zusammenkünften, philosophischem Gedankenwechsel und geistiger Unterhaltung geweihet« (SW, Bd. 6,1, S. 152). Nicolai hierzu: »Ich schäme mich fast, es zu sagen, und es ist nichts destoweniger wahr, daß auch eine von den Ursachen, warum vermeint ward, Eberhard schicke sich nicht recht zu einem Prediger, in seinem beynahe täglichen Umgang mit Moses Mendelssohn gesucht ward, und besonders ward es anstößig gefunden, daß er oft mit dem jadischen Philosophen über die Straße ging. Es war ihm sogar mündlich zu verstehen gegeben, daß er dieses nicht thun möchte, aber er war freylich so verstockt gewesen, über eine solche Zumuthung nur bloß zu lächeln. Man wird sich vielleicht auch jetzt wundem, daß je aufgeklärte Geistlichen es können anstößig gefunden haben, daß Eberhard mit einem Manne von Moses Mendelssohn's gelehrten Verdiensten und unbescholtenem Rufe öffentlich zu erscheinen kein Bedenken trug. Dieß ist ein Beispiel unter vielen andern, daß in jedem Zeitalter Vonirtheile regieren, von welchen man in folgender Zeit, nachdem sie durch bessere Einsichten verdrängt worden, sich kaum vorstellen kann, daß verständige Leute sich dadurch an irgend etwas hätten irre machen lassen« (SW, Bd. 6,1, S. 159).
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Ein Musterbeispiel ist natürlich der Briefwechsel um Nicolais Abhandlung von dem Trauerspiel, auf den ich hier aber nicht eingehen möchte, da die damit verbundenen Fragen literarische Probleme und nicht die hier interessierenden zwischenmenschlichen Beziehungen betreffen. Der Korrespondenz Lessings mit Nicolai und Mendelssohn läßt sich an unzähligen Stellen entnehmen, wie sehr die Berliner Freunde aus ihrer Gemeinsamkeit mit Lessing kommunizierten, und zwar nicht nur in hohen erhabenen Angelegenheiten, sondern, was viel bezeichnender sein dürfte, im alltäglichen, sozusagen »gewöhnlichem Verkehr. Beide verwenden häufig den Plural amicitiae, so z.B. Mendelssohn an Lessing: »Wir [Mendelssohn und Nicolai] haben [...]« (1. 7. 1757), so Nicolai an Lessing (23. 8. 1757): Es ist nun einmal schon so eingeführt, daß Herr Moses Ihre Briefe an mich beantwortet, ich aber Ihre Briefe an Herrn Moses; und so mag es auch jetzt seyn. Herr Moses hat viel zu tun, und ich nichts; denn seit acht Tagen hat mich ein Flußfieber an allem verhindert. [...] Ihren Brief also vom 18."° haben wir beyde mit vielem Vergnügen gelesen, - wir lesen ja alles, was von Ihnen kommt, mit Vergnügen - aber wir haben aus den vielen vortrefflichen Anmerkungen, die er enthält, auch viel Nutzen geschöpft. [...] Warum haben Sie sich aber durch Heim Moses Gedanken abschrecken lassen, u n s die Ihrigen ganz mitzutheilen? [...] W i r hoffen immer noch, daß Berlin von einem feindlichen Besuche verschont bleiben wird und dann bleiben w i r hier. Kommen Sie ζ u u n s .
Für Lessing waren die Freunde ihrerseits ein kritisches Beraterduo, dem er sich offenbarte und auch unterwarf; so Lessing an Nicolai (23. 8. 1757): »Es ist mir lieb, daß Ihnen verschiedenes von meinen Gedanken gefallen hat. Alles was Sie davon brauchen können, ist zu Ihren Diensten. Überdenken Sie es aber vorher fein mit unserem lieben Moses.« Und an anderer Stelle: »Ich bin sehr begierig, Ihre mit dem Hrn. Nicolai gemeinschaftliche Kritik des >Codros< und des >Freigeistes< zu sehen«, worauf Mendelssohn (17. 2. 1758) erwiderte: »Ich wollte unserem lieben Nicolai eine unvermutete Freude damit machen, und sie mit ihm durchlesen. Allein ich ward verhindert [...].« Das beständige Gespräch zwischen Mendelssohn und Nicolai hatte schon sehr früh eingesetzt; eine Mitteilung Mendelssohns an Lessing vom Dezember 1756 bezeugt das: »Ich kann mich hierin nicht weiter einlassen, solange Hr. Nicolai noch nicht Zeit hat, die versprochenen Gedanken von der theatralischen Illusion mit mir zu entwickeln.« Die literarischen Kooperationen beider Freunde bezogen sich, wie sich zeigt, nicht nur auf gemeinsame Kritik und Stellungnahmen, sondern auch ganz konkret auf die Abfassung von Abhandlungen, was bekanntermaßen immer eine etwas heikle Angelegenheit ist. So teilte Mendelssohn Lessing (29. 4. 1757) mit: »Ich habe alle die Punkte aufgesetzt, darüber wir uns bereits verglichen, und auch diejenigen, da noch sub judice Iis est. Diesen Aufsatz hat Hr. Nicolai zu sich genommen: er will einige Zusätze dabei machen. [...] Mit meinem Urtheile über den >Freygeist< muß es schon noch einigen Anstand haben. Herr Nicolai will dieses Trauerspiel mit mir gemeinschaftlich durchgehen. Wer weiß indessen, ob er Wort hält?« Und im Hinblick auf seine Abhandlung Von den Quellen und Verbindungen der schönen Künste teilt Mendelssohn Lessing am
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1. Juli 1757 mit: »Hr. Nicolai hat mir gute Dienste dabei gethan. Sie werden eine ganze Seite finden, die er dem Meinigen hinzugefügt hat.« Wie sehr andererseits Lessing an einem einmütigen Urteil der beiden Freunde lag, kann man seinem Brief an Mendelssohn (Dezember 1757) entnehmen: »Ich höre es nicht gern, daß sie mit dem Hrn. Nicolai nicht eins werden können. Eher muß nichts gedruckt werden, als bis sie zusammen eins sind. Und worüber streiten sie denn eigentlich?« Es gibt sicherlich kein besseres Indiz für die grundfeste freundschaftliche Beziehung als deren Bewährung in kritischer Konfrontation. Nicolai und Mendelssohn waren durchaus nicht immer einer Meinung, aber der Respekt vor der Kritik des anderen hat in ihrem Fall nie zur Verstimmung oder gar zu einem Bruch geführt. Nur zwei Beispiele dafür: Mendelssohn übte brieflich deutlich Kritik an Nicolais Roman Sebaldus Nothanker, und zwar am Manuskript des zweiten Bandes (an Nicolai 3. 10. 1774): Liebster Freund! Sie erhalten anbei ihr Manuscript zurück. Die erste Hälfte, muß ich gestehen, hat mir etwas trocken geschienen. Abbt würde sagen: Sie zeigen uns Berlin, wie Ihre Bibliothek die Literatur, bloß von der theologischen Seite. Vielleicht bin ich des Streitens über die symbolischen Bücher schon überdrüssig, das für viele andere Leser noch frischen Reiz haben kann. Jedoch bilde ich mir ein, auch diese wollen dergleichen Materien in einer unterhaltenden Leetüre nicht so umständlich ausgeführt wissen. Die Geschichte des Hm. F., die einige Mannigfaltigkeit hätte hineinbringen können, ist zum Verdrusse abermals die Geschichte eines unsymbolischen Predigers. Gibt es denn keine andere Stände in Berlin? Sogar unter den Linden, auf der 6ten Bank, wird von nichts als symbolischen Büchern gesprochen. - In dieser ersten Hälfte hat mir nichts so gut gefallen, als die Unterredung mit dem Herrenhuter. Aber die zweite Hälfte hält vollkommen schadlos. Da ist Handlung, da sind Charaktere; und an guten Vemunftgründen fehlt es auch nicht. Der Major auf dem Sterbebette ist sehr gut geschildert. Schade, daß keine weibliche Figur an dieser rührenden Szene theilnimmt! Diese würde eine angenehme Wärme darauf hauchen, und die Farben gleichsam verschmelzen. Aber ich merke wohl, die Tochter des Schulmeisters konnten Sie in keine honette Gesellschaft mehr bringen; und die Mutter ist eine Seidenwicklerinn, von denen mein Neben-Buchhalter glaubt, sie müßten keine Empfindungen, kein warmes Blut haben, wenn sie die Seide gehörig aus der Wirre bringen sollen. - Genug hiervon! spricht mein warmes Blut.
Mendelssohns literarische Forderungen an einen Roman - Handlung, Charaktere, gute Vernunftgründe, rührende Szenen - deuten eine gewisse literaturästhetische Distanz zu Nicolais Roman an. Sie dürften ihren Anlaß in seiner Kenntnis der englischen Literatur haben. Nicht ohne Grund hatte er schon 1764 Nicolai geraten, den Monthly Review zu beschaffen: »Wenn wir nicht wissen, was in England vorgehet, so glauben wir immer, wir spielen auf der Bühne der Literatur eine wichtige Rolle« (an Nicolai 15. 5. 1764). Wir wissen nicht, wie Nicolai auf die Kritik reagiert hat bzw. seine Intentionen gegenüber dem Freunde rechtfertigte. Verdruß hat es aber nicht gegeben. Wohl auch sehr viel später nicht, als Mendelssohn seinem Freund die deutsche Übersetzung der Psalmen zur Verlegung anbot (Mendelssohn an Nicolai 27. 5. 1782), dieser die Publikation aber wegen der happigen Honorarerwartungen Mendelssohns ablehnte. Die Ausgabe erschien bei Friedrich Maurer, der Mendelssohn dafür 100 Louis d'or zahlte. Mendelssohn machte dem Freund sehr feinfühlend das Angebot:
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Littera non erubescit, sagt Cicero. Ich kan Ihnen also schriftlich ein Geständnis machen, zu welchem ich mündlich nicht Kekheit genug habe. Ich finde daß es Zeit sey, meine Uebers. der Psalmen herauszugeben. Ich erdreiste mich aber dem Verleger derselben Bedingungen vorzuschreiben, die weder Sie, mein Freund! noch ein anderer von den mir bekanten Buchhändlern so leicht eingehen werden. Sie insbesonder haben der Verlagswerke so viele, und so kostbare, daß Sie mir meine Bedingungen sicherlich nicht einräumen können. Ich bestehe nehmlich auf ein Format, wie Rammlers Blumenlese, mit denselben Lettern und auf demselben Papiere. Das Werk soll aus 2 Bändchen, jedes etwa von 20 Bogen bestehen. Das erste wird die blosse Uebers. enthalten, und also in Versen bestehen. Das 2te soll Abhandl. und Anmerkungen enthalten, welches aber erst künftiges Jahr wird nachfolgen können; weil das Mst. dazu noch nicht fertig ist. Nur ist dieses noch nicht alles. Der eigene Verlag der 6 B. Mosis in hebr. Sprache macht eine Lücke in meiner Verlagskasse, die ich gem zum Theil durch die Psalmen ausfüllen möchte. Ich verspreche mir also für jeden Bogen Verse 5 Louis d'or und fur die Prosa die Hälfte; also für das ganze Werk etwa 150 St. Louis d'or. Unverschämt, werden Sie sagen, oder wenigstens denken, und ich kan Ihnen nicht Unrecht geben. Allein ich möchte doch gern versuchen, ob die deutsche Sprache das ersetzen kann, was die hebräische geschadet hat. Wie gesagt, ich sehe gar wohl ein, daß dieses fur Sie gar keine Proposition seyn kan, und schreibe es Ihnen blos, um Ihren freundschaftl. Rath darüber mir auszubitten. Sie sind aufrichtig genug, mir solchen auch in diesem Falle nicht zu verweigern.
Wie sehr letztlich das persönliche Einvernehmen und die gemeinsame geistige Aktivität in der Zusammenarbeit zwischen den Freunden über die Jahrzehnte hin Bestand hatten, zeigt ihr Schreiben an den Herzog von Braunschweig nach Lessings Tod, des Freundes »hinterlassene sämtliche Manuscripte« an die Berliner Freunde ausliefern zu lassen. Nicolai, der das Konzept entworfen hatte, stellte es Mendelssohn anheim, es in eigenem Namen auszufertigen und Nicolai nur zu erwähnen, war aber auch bereit, das Schreiben mit zu unterzeichnen: »Finden Sie es aber schicklicher daß wir beide unterschreiben, so ändern Sie mit einiger Mühe i c h in w i r wo es gehört - und senden mir den Brief auch zur Unterschrift« (Nicolai an Mendelssohn 20. 2. 1781). Der Brief war dann von Mendelssohn, Nicolai und Ramler unterzeichnet worden. Schließlich sei noch auf den Briefverkehr zwischen dem geistreichen Thomas Abbt und den Berliner Freunden eingegangen. Er verrät neben Heiterkeit und Witz auf beiden Seiten doch die gemeinsame unerbittliche literarische Strenge bei Mendelssohn und Nicolai. Abbt, ein kauziger Spaßvogel, adressierte seine Briefe an Nicolai, schrieb aber darin an Mendelssohn: »Ich wollte wohl wetten, daß Herr Nicolai bey Eröffnung des Briefes gedacht hat, daß wenigstens einer an Ihn mit eingeschlossen sey und ich schreibe doch nur an Sie. Sie sollen lesen, und er soll bezahlen. Wer das beszere Loos erhalten hat, ist gottbekannt. Wenigstens kommt es seiner Bequemlichkeit zustatten, weil er sich von Ihnen nur den Inhalt des Briefes darf erzählen oder vorlesen lassen« (13. 10. 1761). Mendelssohn erwiderte darauf drei Wochen später (3. 11. 1761): »Hr. Nicolai ist, wie sie wissen, eben nicht der rüstigste Briefschreiber, und ich sein wohlbestallter Secretar, ich habe Abhaltungen gehabt, die mich zu allem freundschaftlichen und gelehrten Umgange untüchtig gemacht haben« (das bezieht sich auf Mendelssohns Hochzeitsvorbereitungen).
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Ein Kabinettstück ist die gemeinsame Redaktionskritik der Freunde an Abbts Schrift Vom Verdienste - sie zeigt, daß sich beide auch in der Kritik einig waren und den gleichen Stilprinzipien huldigten. So schreibt u.a. Mendelssohn (Ende August 1764) an Abbt: Und nunmehr machen Sie sich gefasst, mein Freund! sehr unangenehme Wahrheiten zu hören. Ihr Werk vom Verdienste enthält sehr gute Sachen, in einer sehr guten Ordnung, aber in der unerträglichsten Schreibart von der Welt. Ich habe es zweymal mit wahrem Vergnügen über den Inhalt und den Vortrag, aber mit so viel Verdruß über die seltsame Affectation der Schreibart durchgelesen, dass ich sehr oft mit Unwillen die Bogen aus der Hand werfen, und mich zerstreuen muBte. Um des Himmels willen! Verunzieren Sie das schöne Werk nicht durch den eiteln Kützel, alles selbst zu schaffen, nichts einem anderen schuldig zu sein, auch nicht einmal Worte und Redensarten. Ich habe das Werk nicht mehr zur Hand, denn nachdem ich es mit Aufmerksamkeit, wie gesagt, zweymal durchgelesen, und meine Zeichen auf den Rand gesetzt, habe ich es unserem N. gegeben, der seine Anmerkungen hinzuthun wird. Ich kann Ihnen also heute nur wenige Beispiele anführen, so viel ich mich nemlich, ohne das Buch da zu haben, erinnern kann. Fürs erste wagen sie allzu viel neue Wörter, die kein Mensch vor Ihnen gesagt hat, A u s g e b o h ren, ankindern, Vernämlichung, g l e i c h a l t e r i g u.a.m. Die noch dazu zum Teil der Analogie zum Trotze erfunden sind. Ein neues Wort erfinden, heißt über Mangel klagen, und wer so oft über Mangel klagt, macht sich verdächtig, wenn er nicht beweiset, daß er das V e r m ö g e η gut gebraucht hat. Der Prosaist kann bei Erfindung neuer Wörter nicht behutsam genug seyn. Der Sinn muß ohne ein erfundenes Wort nicht anders als durch eine etwas lange Umschreibung gegeben werden können. Wenn sie kurz ist, so ziehe ich sie dem neuen Worte vor. Ich höre lieber K n a b e n s e i n e s A l t e r s , als g l e i c h a l t e r i g e K n a b e n ; lieber a n Kindes s t a t t a n n e h m e n , als a n k i n d e r n . Um gedrängt zu schreiben, muß die Sprache nicht verstümmelt werden. Hingegen für respondere, e n t s p r e c h e n , allenfalls V e r v o l l k o m m n u n g für die Action des Vollkommenmachens ließe ich gelten. Femer muß die Analogie den Sinn so deutlich anzeigen, daß der Leser das Wort verstehet, sobald er es siehet. Ist dieses nicht; so muß er dazu vorbereitet werden. Der Schriftsteller muß ihm die Sache so lange vorhalten, von so verschiedenen Seiten zeigen, bis er selbst sich nach einem Wort umsiehet, und wenn er keines finden kann, froh ist, daß ihm der Schriftsteller eines von seiner Erfindung anbietet. - Jedoch bin ich nicht ein Thor, daß ich Ihnen Regeln herschreibe? Die Theorie ist Ihnen bekannt, aber Sie begehen praktische Sünden. [...] Femer lieben Sie allzu sehr Metaphern, und je ungewöhnlicher sie sind, desto willkommener scheinen sie Ihnen zu seyn. Das Schlimmste ist, daß Sie die gewöhnlichsten Dinge mit ungewöhnlichen Metaphern sagen. D i e E r f a h r u n g stemp e l t e i n e n S a t z z u r W a h r h e i t , einen gewissen Punkt in der Rechnung d u r c h f a l l e n lassen, die Grade des Verdienstes a u f s c h w e l l e n u n d v e r d ü n n e n , sehr oft sogar niedrige Metaphern, u n t e r d i e N a s e r e i b e n ; Gott, der bis auf die Nieren h e r u n t e r g r e i f t und die Z o l l b e d i e n t e n der Seele, die die geheimen K ü s t e n der Religion aufschlagen. - Doch diese gehört zu den ausgeführten Metaphern, oder Allegorien, wenn davon viele in Ihrem Werke ganz unerträglich sind. Z.B. der Landrath, der einen Proceß auszumachen hat. Und Ihre Gleichnisse? Wozu in einer prosaischen Schrift so viele, die doch fast alle nichts erläutern? Einige schleppen hinter sehr nachdrücklichen Stellen her, und benehmen ihnen die Kraft, andere sind fast poßierlich, und noch andere scheinen nur da zu stehen, um den Verf. der Mühe zu überheben, sich deutlich zu erklären. Ich bin so kühn, so verwegen möchte ich fast sagen, gewesen, viele derselben durchzustreichen, andere durch einen kleineren Pinselstrich etwas zu veredeln. [...] Sie haben mir die Erlaubniß zu solchen Veränderungen gegeben, und ich weis, daß Sie mit Ihrem Freunde keine Komplimente machen. Allein die Wesentlichsten, diejenigen, welche die Stelle deutlicher Erklärungen vertreten sollen, kann niemand als der Urheber umbilden. Sie müssen alle zum zweitenmale durch seine Hand gehen. Ihre Schrift soll die Ehre der deutschen Prosa retten, soll großen Herrn beweisen, daß auch Deutsche, die gründlich denken, mit Geschmack schreiben können, und sie kann dieses
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alles, wenn sie noch einmal poliert wird. Ein Vierteljahr, um das sie später erscheinet, verlängert ihr Leben um 100 Jahre. Wir haben also beschlossen, Ihnen die Schrift samt unseren Anmerkungen wieder zuzuschicken. Vor der Ostermesse kann sie ohnehin nicht bekannt werden, und unterdessen können Sie sich wohl Zeit nehmen, mit der Feile in der Hand, unsere Vorschläge in Erwegung zu ziehen, und Ihrem Werke die letzte Vollkommenheit zu geben. [...] Ich mache keine Entschuldigung für die Art, mit welcher ich Ihnen diese verdrießlichen Wahrheiten sagte. Wenn Sie nicht mein Freund; nicht Abbt wären; so hätte ich Ihnen dergleichen Wahrheiten - vielleicht auch sagen können, nur hätte ich schmeichelhaftere, kriechendere Wendungen suchen müssen.
Diesem Brief fügte Nicolai eine »Nachschrift« bei: Ich glaube, Sie sind zu sehr unser Freund, mein allerbester Abbt, als daß Sie unsere freye Beurtheilung Ihres Werkes mißbilligen könnten. Wir gebrauchen das Recht, daß uns unsere Freundschaft giebt, und daß Sie uns in diesem Falle noch ganz besonders gegeben haben. Inzwischen lassen Sie sich durch unsere Einwändungen nicht abschrecken, und denken etwa Ihr Werk gar zu unterdrücken; hieraus würden wir schließen müssen, daß Sie sich durch unsere Kritik beleidiget hielten. Aber hiezu weiß ich, sind Sie nicht fähig. Ändern Sie Ihr Werk vielmehr, und untersuchen Sie selbst, wieweit Sie unsere Kritiken annehmen wollen. Ich glaubte erst, daß wir das Werk so weit ändern könnten, daß es zum Drucke fertig würde, aber Herr M. brachte es am Sonnabend zu mir, wir liefen es gegeneinander durch, und wurden beyder der Meinung, daß es nicht möglich seyn würde, so viel zu ändern, ohne das ganze Werk umzuschmelzen. Wir wurden also eins, daß ich das ganze Werk noch einmal durchlesen und theils meine Anmerkungen noch beysetzen, theils bey den Stellen, die Herr M. nur angestrichen, dessen Urteil, so er mir mündlich gesagt, noch beyschreiben sollte. Hiemach werde ich es Ihnen zusenden, und Sie als eigenthümlicher Herr, können in Ihrem Werke die Veränderungen machen, die Sie gut finden [...].
Abbt akzeptierte die Kritik ebenso freundschaftlich, wie sie gemeint war. Abbts Schrift Vom Verdienste erschien 1765 bei Nicolai. Diese redaktionelle Stil-Korrespondenz spricht für sich. Sie bezeugt nicht nur beispielhaft das geistige Klima der Kooperation der Freunde Nicolai und Mendelssohn, sondern auch deren uns meist verdeckte Bemühungen, einen deutschen Sprachstil in Nicolais Verlagsproduktion durchzuhalten, der von hohem Niveau ist und auf seine Weise vorbildlich gewirkt haben dürfte. Was die beiden Berliner Freunde hier gegen Abbts Schreibweise propagieren, ist im Grunde genommen die Überwindung eines barockisch latinisierten Deutsch zugunsten eines nüchternen, klaren, rational-reflektierten deutschen Ausdrucks, dessen Prinzipien und Intentionen in anderen Zusammenhängen zu ergründen sind. Welche literatur- und stilhistorischen Perspektiven sich aus diesen Diskussionen verfolgen ließen, steht noch dahin, hier ist nur das Moment wesentlich, daß die Kooperation der Freunde Mendelssohn und Nicolai gerade an solchen Fällen ihre gemeinsame Tiefe erkennen läßt. So ist es denn auch gar nicht überraschend, daß Lessing, Abbt und andere auf den kritischen Sachverstand und die Urteilskraft der Berliner Freunde Wert legten. Das bekannte auch Lessing gegenüber Nicolai (14. 8. 1767): »[...] habe ich ganz eigene Grillen über die Prosodie gefangen. Ich will sie ehstens zu Papier bringen und Ihrer und Moses Beurteilung unterwerfen. Grüßen Sie mir ihn tausendmal, und gedenken Sie meiner miteinander wenigstens alle Mittwo-
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che und Sonnabende.« Und als Lessing seine Schrift gegen Klotz den Freunden vorlegte, erwiderte Nicolai kritisch: »Ich habe die Briefe alle mit Vergnügen gelesen; auch Herr Moses. Dieser ist nebst mir der Meinung, daß Sie [Lessing] zu heftig werden [...].« Daß Nicolai neidlos Mendelssohns geistige Leistung anerkannte, geht aus häufigen Hinweisen hervor; ich nenne hier nur eine Bemerkung gegenüber Lessing (24. 10. 1769): »Moses grüßt Sie. Wir sind jetzt beschäftigt, unsere Correspondenz mit Abbten zum Drucke in Ordnung zu bringen; es sind sonderlich von Moses vortreffliche Briefe darunter.« Die hier nur in Auswahl vorgelegten Textzeugnisse bestätigen, daß die literarischen Kooperationen zwischen Mendelssohn und Nicolai ein wesentlicher Bestandteil ihrer freundschaftlichen Beziehungen waren. Daß sie letztlich ihre Entscheidungen immer d'accord trafen, ist die beste Bestätigung für ihre respektvolle Haltung gegeneinander. Wir haben kaum ein ähnliches Zeugnis, das über 30 Jahre ein solches Verhältnis zu erkennen gibt. Wahre Freundschaft bewährt sich bekanntlich im Alltagsgeschäft und ganz besonders darin, daß der eine für den anderen bei Angriffen oder Mißverständnissen, die von außen kommen, eintritt. Die erhaltenen Briefe der Freunde lassen erkennen, daß beide häufig Gelegenheit hatten, sich vor oder hinter den Freund zu stellen. Ich führe nur ein paar Beispiele an. Nicolai tadelte öffentlich das Verhalten von Charles Bonnet gegenüber Mendelssohn: »Ganz aufrichtig und gerade hatte Bonnet gegen Moses nicht gehandelt. Er mochte gedacht haben, gegen einen Juden könne man sich schon etwas erlauben. - Bonnets Betragen machte ihm auf keine Weise Ehre.« Nicolai verwahrte sich auch gegen die Verunglimpfungen Mendelssohns durch Lavater in dessen Reisebericht für das Züricher Konsistorium: »Es kann nichts ungereimter seyn, als dieser Bericht, der ein Beweis war, wie schlecht sich, damals, wenigstens, Lafater zum Beobachter qualifizierte. Er hatte in Moses alles gesehen, was er in ihm sehen wollte; sogar, daß dieser einen geistigen Messias erwartete: welches denen, die Moses Gesinnungen und Art zu denken nur einigermaßen kannten, lächerlich seyn mußte.« - Energisch verteidigte Nicolai auch Mendelssohns Phaidon gegen Gerstenbergs Kritik; sie sei ungerecht; außerdem gebe es gute Gründe, so zu schreiben, wie es Mendelssohn getan habe. Den sonst großen Beifall für die Schrift bezeuge die gerade im Erscheinen begriffene zweite Auflage (an Gerstenberg 6.9. 1767). Im Streit Nicolais und Herders über Tempelherren und Freimaurer fungierte Mendelssohn als Vermittler. Mendelssohn hatte Herders »Billet« (4. 5. 1784) mit dessen leicht grollendem Versöhnungsangebot dem Freunde Nicolai zugeschickt und bekam erst am 28. Juli darauf eine ebenso untergründig knurrende Antwort des Freundes, die dieser aus Freienwalde, wo er zum Badeaufenthalt weilte, sandte. Der Ton gegenüber Mendelssohn ist freundschaftlich und vertraulich, gegenüber Herders Haltung zwar nicht ohne Vorbehalte, mündet aber in die Geste der Versöhnlichkeit: Herr Herder verlangt Sie zum Mittler zwischen uns; daß alles v e r g e s s e n werde, im Falle ich dessen e m p f ä n g l i c h wäre. Ob ich es bin, mein theuerster Freund, wissen Sie am besten, der sie mich so lange und so genau kennen. Ich habe nie in einem Gelehr-
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ten Streite die S a c h e mit der Ρ e r s ο η meines Gegners vermischt. Nie habe ich gegen diese Zorn oder Groll zurückbehalten. Im gegenwärtigen Fall war alles, was mir von dieser unangenehmen Streitigkeit zurückblieb, die traurige Erinnerung, daß ein Mann von Talenten so sehr hatte vergessen können, was er sich selbst und dem Publikum schuldig ist. Zu sehen, daß er sich selbst dessen erinnert, ist eine so lebhafte angenehme Empfindung, daß sie ihrer Natur nach alle vorige Unannehmlichkeit zugleich ins Vergessen bringt. Ich vergesse auch wirklich alles mit Vergnügen [...]. Ich biete Hrn. H. von ganzem Herzen die Hand, und bin gegen Ihn so wie gegen jeden Gegner, den ich kann gehabt haben, von aller Feindseligkeit weit entfernt.
Das Vertrauen gegen Mendelssohn bezeugt der Schlußabsatz, in dem Nicolai es dem Freund anheimstellt, Herder die vertrauliche Stellungnahme zugänglich zu machen: »Sie selbst, mein theuerster Freund, wissen dieß schon lange. Finden Sie aber für gut, daß es auch Hr. H. mehr wüßte, glauben Sie, daß es auf irgendeine Weise zur Beförderung der Ehren der Gelehrsamkeit etwas beytragen könne, so können Sie von diesem meinem Billete allen Gebrauch machen, den Sie selbst wollen. Ich umarme Sie von Herzen.« Mendelssohn sandte Nicolais Brief an Herder weiter - mit dem Versuch, den Streit nicht beizulegen, sondern ihn zu ent-emotionalisieren. Als Vermittler war Mendelssohn mit beiden Kontrahenten nicht ganz einverstanden - Herder habe nicht ohne »eine Art von Bedrohung« die »Hand zur Güte« ausgestreckt, Nicolai zwar »willig [...] zur Sühne«, aber »nicht so frei von aller Nachempfindung« - ; er suchte den Ausgleich in einer humorvoll-menschlichen Feststellung, die ihm alle Ehre macht: »Die Liebe zu unseren Schriften verkleidet sich sehr oft in Liebe zur Wahrheit; und wäre es auch eine Wahrheit, daran keinem Sterblichen weiter etwas gelegen, so nehmen wir uns derselben gleichwohl mit solcher Wärme an, als hinge das Wohl des menschlichen Geschlechts davon ab« (an Herder 3. 8. 1784). Mendelssohn empfahl Herder: »Lieben Sie Nicolai in mir!« - ein aufschlußreiches Zeugnis innerer Bindung zwischen den Freunden! Sowohl Mendelssohn als auch Nicolai hatten keine akademische Ausbildung genossen. Sie waren beide lern- und wißbegierige Autodidakten, die sich ihren Lebensunterhalt schon in frühester Zeit selbst schaffen mußten. Nicolai konnte gerade einmal eineinhalb Jahre seinen literarischen Studien leben, dann gegen Ende des Jahres 1758 mußte er nach dem Tode seines Bruders die Buchhandlung übernehmen. Die beruflichen Verpflichtungen schränkten die Zeit für seine Studien beträchtlich ein. Und Mendelssohn war seit 1750 Erzieher der Kinder des Seidenfabrikanten Isaak Bernhard, seit 1754 dessen Sekretär; er arbeitete hart und erwirkte nach und nach eine beachtliche Expansion der Fabrik für die in Preußen wichtige Seidenindustrie. 1761 wurde er der Manager des Unternehmens. Auch er verfügte nicht über viel Zeit und Kraft für geistige Tätigkeit. In seinen Anmerkungen zu Mendelssohns Briefen an Lessing berichtete Nicolai über den schweren Weg des Freundes: er habe sich in den Jahren 1744/48 intensiv »sowohl in der deutschen als in der lateinischen Sprache« geübt, »weil er in beiden damals noch ein Anfänger war«: »dem vortrefflichen Moses ward es anfänglich sehr schwer, sich in deutscher Sprache geschmeidig auszudrücken. Er arbeitete unglaublich, um die Natur dieser Sprache, die ihm gar nicht Muttersprache war, nach und nach recht zu fassen. Umso viel bewun-
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dernswürdiger ist es, da er alles durch eigenen Fleiß finden mußte, daß er bei einiger Übung so starke Fortschritte machte.« Die Freunde waren sich ja zu Beginn des Jahres 1755 bei Lessing begegnet und entdeckten sehr bald über die gemeinsamen Ansichten und geistigen Interessen ihre Zuneigung füreinander. Beide verband die Liebe zur Philosophie Wolffs und zur neuen Literatur ihrer Zeit, die sie nicht ohne Kritik gemeinsam verfolgten. So berichtet Nicolai an Lessing (8. 8. 1757) von ihren kritischen Studien an Klopstocks Messias, den Nicolai negativ rezensiert hatte und an dessen Versen beide erheblichen Anstoß nahmen: »Wir, Moses und ich, haben lange darüber gesonnen, sind aber nicht auf die natürlichste Erklärung gefallen. Ich könnte den Dichter also mit Recht beschuldigen, daß die Wortführung verwirrt sei, denn eine versteckte Ordnung ist so gut, wie gar keine [...]. Wir mögen freilich unrecht haben [...].« Dem Brief an Lessing läßt sich mindestens so viel entnehmen, daß die Freunde in engem Kontakt stehen und daß sie ihre Urteile gemeinsam zu finden suchen. Trotz aller Anforderungen des täglichen Broterwerbes scheinen die Jahre 1756 und 1757 besonders intensiv gewesen zu sein. Schon im Mai 1756 hatte Mendelssohn an Lessing geschrieben: »Von allen Bekanntschaften will ich mich, so gut es sich thun läßt, loszumachen suchen. Ich nehme den Hm. Prof. Sulzer und den Hm. Nicolai aus. Mit dem letzteren habe ich mehr als Bekanntschaft gemacht, ich glaube, daß es mit uns schon bis zur Freundschaft gekommen ist, und der erste verdient es wirklich, daß man seinen Umgang suche« (an Lessing Mai 1756). Schon am 2. August desselben Jahres teilt Mendelssohn Lessing mit, wie eng sich die Freundschaft mit Nicolai gestaltet hat. Die Zeilen lassen nicht nur erkennen, wie sich der »Verkehr« der Freunde gestaltete, sondern welche humanen Empfindungen er in Mendelssohn hervorrief: Ich bin der grübelnden Metaphysik auf einige Zeit ungetreu worden. Ich besuche Hm. Nikolai sehr oft in seinem Garten. (Ich liebe ihn wirklich, theuerster Freund! und ich glaube, daß unsre Freundschaft noch dabey gewinnen muß, weil ich in ihm Ihren wahren Freund liebe.) Wir lesen Gedichte, Herr Nicolai liest mir seine eigenen Ausarbeitungen vor, ich sitze auf meinem kritischen Richterstuhl, bewundere, lache, billige, tadele, bis der Abend hereinbricht. Dann denken wir noch einmahl an Sie und gehen, mit unserer heutigen Verrichtung zufrieden, voneinander. Ich bekomme einen ziemlichen Ansatz zu einem belesprit. Wer weiß, ob ich nicht gar einst Verse mache? Madame Metaphysik mag es mir verzeihen. Sie behauptet, die Freundschaft gründe sich auf eine Gleichheit der Neigungen, und ich finde, daß sich, umgekehrt, die Gleichheit der Neigungen auch auf die Freundschaft gründen könne. Ihre und Nicolais Freundschaft hat es dahin gebracht, daß ich dieser ehrwürdigen Matrone ein Theil meiner Liebe entzogen, und ihn den schönen Wissenschaften geschenkt habe. Unser Freund hat mich sogar zum Mitarbeiter an seiner Bibliothek gewählt, aber ich fürchte, er wird unglücklich gewählt haben.
Wie sehr auch Nicolai die gleichen Empfindungen gegenüber Mendelssohn bestimmten, läßt sich seinem Brief an Lessing nach Amsterdam (21. 8. 1756) entnehmen: Herr Moses, der mir Ihre Abwesenheit etwas erträglicher macht, würdigt mich seiner Freundschaft. Ich habe ihm die vergnügtesten Stunden des vergangenen Winters und
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Sommers zu danken, und bin, so oft wir auch zusammen gewesen sind, niemals von ihm gegangen, ohne entweder besser oder gelehrter zu werden. Er hat die Gefälligkeit für mich gehabt, ein Mitarbeiter an der Bibliothek seyn zu wollen: eine Gefälligkeit, von der ich immer mehr einsehe, wie nützlich sie mir und dem Publikum seyn wird.
Sicherlich haben Nicolais Einfluß und Verhalten gegenüber Mendelssohn bewirkt, daß der Freund den Weg zu den schönen Wissenschaften fand, zur Literatur vor allem, aber auch zur Musik - durch Nicolais Vermittlung nahm Moses Klavierunterricht bei Johann Philipp Kirnberger, dem Hofmusicus der Prinzessin Anna Amalia von Preußen. Über die gemeinsamen philosophischen Studien der Freunde berichtet Nicolai auch später noch in seiner Schrift Über meine gelehrte Bildung (1799) u.a., daß sie »ein Jahr lang« eine fortdauernde Unterhaltung über Newton's Principia philosophiae naturalis mathematica führten, »welche wohl Lehrstunden gleich geschätzt, ja vorgezogen zu werden verdienten« (SW, Bd. 6,1, S. 457). Noch aus der Erinnerung bricht deutlich hervor, welche Bedeutung für ihn der Freund beim gemeinsamen Geschäft philosophischer Analysen gehabt hat: »Ich konnte durch meinen Freund alles, was mir dunkel war, sogleich erläutert, meine Zweifel sogleich aufgelöst sehen« (ebd.). Und er bedauert im nachhinein sehr, daß er wegen der Buchhandlung und der ADB diese Lehrstunden nicht weiter aufrecht erhalten konnte. Mendelssohn berichtete schon am 23. 3. 1757 an Lessing, daß der Freund durch die Geschäfte zu sehr eingespannt wäre, wie übrigens er auch: »Unser Hr. Nicolai wird bald, wie wir hoffen, die Handlung verlassen. (Wenn ich doch hoffen könnte, ihm jemals zu folgen!). Hingegen ist der itzt zu guter Letzt so sehr beschäftigt, daß er an nichts denken kann« (an Lessing 23. 3. 1757). In seiner kleinen, wohl formulierten und sehr stimmungsvollen Gedenkschrift an den Berliner Rektor Christian Tobias Damm (1699-1798), im Mai 1800 in der Neuen Berlinischen Monatsschrift veröffentlicht, erinnert sich Nicolai der gemeinsamen Griechisch-Studien mit Mendelssohn, der damals, etwa um 1757, das Griechische noch nicht beherrschte. Die Freunde engagierten sich den Rektor Damm und erarbeiteten mit ihm die griechische Sprache und einige Autoren, so den Homer, Xenophon, Plato u.a. Diese Studien, »mittwochs und sonnabends jedes Mal zwei bis drei Stunden«, dauerten über einige Jahre an, obwohl Nicolai, der Ende 1758 nach dem Tode des Bruders die Buchhandlung übernehmen mußte, zu seinem Bedauern immer weniger Zeit für »diese Unterhaltung« erübrigen konnte. Mendelssohn setzte aber den Unterricht mit Damm intensiv fort. Nicolai zollt auch hier dem Freunde, der bereits 14 Jahre tot war, in der Erinnerung volle Anerkennung und Bewunderung ob seiner Leistungsfähigkeit: Man kann hier sehen, was Fleiß und Aufmerksamkeit zu bewirken vermögen; denn als wir anfingen, verstand Moses kein Wort griechisch, aber er ging darin mit starken Schritten weiter. Er studierte nachher alle Werke des Plato mehrere Jahre für sich in der Grundsprache, wobei seine Bemerkungen auch nachher sehr oft der Gegenstand unserer Unterredungen waren. Wie gut er den Homer kannte, und wie sehr er ihn liebte, davon zeugt u.a. seine Rezension der ersten Ausgabe von Bitaube's Französ. Übersetzung desselben, in der Allg. D. Bibliothek Bd 1, St. 2, S. 1.
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Auch diese Stelle bezeugt, wie sich durch Nicolais Leben die Erinnerung an Mendelssohn als schöne herzliche Verklärung des Freundes zog. Sie bestätigt abermals die Echtheit der Empfindungen und Gefühle der Freunde füreinander. Über den persönlichen Verkehr der Freunde in Berlin fließen die brieflichen Quellen natürlich spärlich. Aber die Kontakte scheinen - je nach der Freizeit, die jedem von ihnen zur Verfügung stand - recht intensiv gewesen zu sein, wie wir aus gelegentlichen Andeutungen und Briefen an auswärtige Freunde erschließen können. Während Verlag, Buchhandlung und Redaktionstätigkeiten Nicolai zu aufreibendem Betriebsengagement nötigten, beklagte Mendelssohn gegenüber Abbt die Öde Berlins: »Denn glauben Sie mir, daß mir Berlin gewissermaßen so öde ist, als Ihnen Rinteln immer seyn kann. Meine Zeit ist zu eingeschränkt, lebendige Gesellschaft zu suchen. Nicolai kann ich nicht immer sehen« (Mendelssohn an Abbt 4. 7. 1762). Nicolais Garten (Spandauer Straße 68) scheint jedoch für beide eine Art locus amoenus gewesen zu sein. Thomas Abbt schwärmte davon: »Desiderum Amicorum! werde ich diese Worte immer mit nagender Empfindung hinsetzen müssen? Nicolais Garten, sonnabends um 2 Uhr der kleine Mann in der Entfernung; dann einmal umarmt, satt gesprochen, vergnügt und besser von ihm weggegangen [...].« Nicolai bestätigte es ihm auch noch drei Jahre später: »Oh! wenn werden die lieben Stunden, die wir mit Moses auf der runden Rasenbank, an dem kühlen Brunnen im Frischichen Garten verschwatzt haben, wiederkommen [...]« (Nicolai an Abbt 12. 10. 1765). So versuchten auch die Freunde gemeinsam, Lessing von Leipzig nach Berlin zu locken und verhießen ihm im Garten Ruhe und Gemach: »Warum fliehen Sie diesen Ort der Unruhe, der Betrübniß und der allgemeinen Verzweiflung nicht? Kommen Sie zu uns, wir wollen in unserem einsamen Gartenhause vergessen, daß die Leidenschaften der Menschen den Erdball verwüsten« (Mendelssohn und Nicolai an Lessing Januar 1757). Beide, Mendelssohn und Nicolai, waren seit 1755 Mitglieder einer geschlossenen Gesellschaft, die in einem Kaffeehaus tagte, bei der man sich gegenseitig Abhandlungen vorlas. Mendelssohn trug hier seine Schrift Über die Wahrscheinlichkeit vor. Die Gesellschaft ging zu Beginn des Siebenjährigen Krieges allerdings auseinander. Aus den Briefen geht auch hervor, daß die Freunde gemeinsam gelegentlich Besuche bei Bekannten machten, Theater, Konzerte und Lesungen aufsuchten und darüber in kritische Diskurse verfielen. Auch an Ehrungen und Erfolgen des einen und des anderen nahmen sie aufrichtigen Anteil; so schreibt Nicolai mit Freude an Lessing, daß Mendelssohn in die Akademie berufen wurde: »Unser Freund Moses ist vorigen Donnerstag zum ordentlichen Mitglied der Academie (doch ohne Gehalt) erwählet worden. Die Confirmation des Königs ist zwar noch nicht aus Potsdam zurück. Dieser Vorfall freuet mich: nicht Moses wegen, sondern anderer Leute wegen« (Nicolai an Lessing 12. 2. 1771). Und ein paar Wochen später bemerkt er gegenüber Lessing: »Moses Wahl [...] ist mir deswegen erfreulich, weil sie die Vorurtheile vieler Leute gerade ins Gesicht schlägt« (Nicolai an Lessing 8. 3.1771). Wie sehr sich die Freunde auch in Nöten des Lebens, im Leid beistanden und stützten, kann man einigen Zeugnissen entnehmen, so dem Brief, den Men-
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delssohn dem Freund nach Leipzig auf die Messe schickte, nachdem Nicolai in der Nacht vor seiner geschäftlich bedingten Abreise den Tod seines Bruders erlebte: Liebster Freund! Ich habe Sie von Herzen bedauert, als ich vernommen, daß Sie noch Ihren Bruder haben sterben sehen müssen. Wie unruhig müssen Sie nicht die Nacht hindurch gewesen seyn! Sich aus einer solchen Nacht zu einer Reise zu entschließen, ist mehr als Standhaftigkeit, und die Wahrheit zu gestehen, ich habe Ihnen eine sehr mäßige Standhaftigkeit zugetraut. Ich wünsche, daß Sie sich Wohlbefinden, und von dem Schrekken wieder erholt haben mögen, und bin sehr begierig, solches von Ihnen zu vernehmen. Lassen Sie sich von keiner Beschäftigung der Welt abhalten, mich dieses wissen zu lassen, wenn Sie wollen, daß ich nicht unruhig seyn soll (Mendelssohn an Nicolai 6. 10. 1758).
Nicolai seinerseits teilte 1766 dem gemeinsamen Freund Abbt mit, daß Mendelssohn großes Leid erfahren habe - er verlor seinen alten Vater, ein gerade geborenes Kind starb und die Frau befand sich in höchster gesundheitlicher Gefahr - und daß der Freund sehr bedrückt und niedergeschlagen sei. Nicht schwer vorstellbar, wie Nicolai dem Freunde beigestanden haben wird, ohne daß uns darüber etwas überliefert ist. Das Vertrauen der Freunde ineinander scheint mit den Jahren immer mehr gewachsen zu sein, nicht nur im Hinblick auf gemeinsame Arbeiten, sondern auch auf die persönlichen Lebensumstände. Man kann auch das einigen Briefen entnehmen, die Mendelssohn Nicolai sandte, wenn dieser auf Reisen auswärts von Berlin war. Leider sind Nicolais Antworten nicht erhalten. Ein Beispiel hierfür ist der Brief Mendelssohns an Nicolai (1. 10. 1770), in dem er seine Midlife-Crisis dem Freunde offenbart. Die Schlußzeilen sind besonders innig und stehen jeglicher rhetorisch-formalistischen Konvention entgegen: »Wenn ich mein vergangenes Leben bedenke, so habe ich vielleicht Unrecht, wenigstens zu zaghaft gehandelt, daß ich meiner Neigung zu den Wissenschaften nicht mehr aufgeopfert habe. Entschlossenheit, Entschlossenheit! Die hat mir zu allen Zeiten gefehlt. Ich bin immer mit den Zeiten sofort geschildert, ohne zu wissen, wohin. Nunmehr ist es zu spät, sich einen Plan zu machen, was bis zum 40ten Jahre nicht geschihet, mein Freund! das kan immer unversucht bleiben! [...] Leben Sie wohl mein bester Freund! Ich bin unaufhörlich der Ihrige.« Verständlich, daß Nicolai an Mendelssohns schwerer Erkrankung im Jahre 1772 großen Anteil nahm; noch später, 14 Jahre nach Mendelssohns Tod, erinnerte er sich ziemlich genau des Leides des Freundes und schrieb darüber in seinem Essay Beyspiel einer Erscheinung mehrerer Phantasmen (Neue Berlinische Monatsschrift, Mai 1799): Mein verewigter Freund Moses Mendelssohn hatte sich im J. 1772 durch allzu starke Anstrengungen des Geistes eine Krankheit zugezogen, welche auch sonderbare psychologische Erscheinungen darbot. Über zwei Jahre lang durfte er gar nichts arbeiten, gar nichts lesen, über gar nichts nachdenken, keine laute Töne hören. Wenn jemand im geringsten lebhaft mit ihm redete, oder er selbst nur ein wenig lebhaft ward, so fiel er abends in eine höchstbeschwerliche Art von Katalepsie, worin er alles sah und hörte, was um ihn vorging, ohne ein Glied bewegen zu können. Hatte er dann am Tage lebhafte Reden gehört, so rief ihm, während des Anfalls, eine Stentorstimme die einzelnen mit einem hohen Ac-
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Hans-Gert Roloff cente ausgesprochenen oder sonst laut geredeten Worte und Silben wieder einzeln zu, so daß ihm auf eine sehr unangenehme Art die Ohren davon gellten (SW, Bd. 6,1, S. 216).
Mit großer Erleichterung meldete er Lessing Mendelssohns fortschreitende Genesung: »Ich kann Ihnen wenigstens so viel sagen, daß Moses sich wieder wohl befindet und zu meiner großen Freude an Kräften, obgleich langsam, zunimmt, sodaß ich immer noch hoffe, er werde ganz wieder hergestellt werden und seine ganze Denkkraft brauchen können« (Nicolai an Lessing 24.4.1772). Als Nicolai 1778 schwer erkrankt war und sich zur Genesung und stillen Arbeit an seiner Residenzbeschreibung in seinen Garten zurückgezogen hatte, beunruhigte das Mendelssohn sehr; er griff zur Feder und ließ Nicolai wissen: Liebster Freund! Sagen Sie mir doch, wie ich es anfangen muß, um Sie wieder einmal zu sehen. In Ihrem Hause findet man Sie niemals. Zu mir kommen Sie nicht, und das Wetter ist zu elend, als daß ich zu Ihnen in den Garten kommen könnte. Gleichwohl habe ich Ihnen tausend Dinge zu sagen, deren ich mich geme entledigen möchte. Morgen vormittag bin ich bey dem Maler Frisch, wo ich in carneo gemalt werde. Wo findet man Sie nachmittags etwa um 3 Uhr? (Mendelssohn an Nicolai 3. 9.1778).
Nicolai erwiderte postwendend: Mein theuerster Freund, Ich sitze im Garten, wo ich, nachdem ich von einer gewiß schweren Krankheit genesen bin, wieder einige Kräfte suchen soll. Weil aber das Wetter so gar schlecht ist, daß ich kaum aus dem Haus kann, so verschwende ich noch einige Klüfte mehr an die Beschreibung von Berlin, zumahl da sie, wenn ich nicht gar alle Gemüthsruhe verlieren soll, vor dem 11. Sept. ehe ich aus dem Garten ziehe im Mste. fertig sein muß [...]. Da Sie es wollen, mein liebster Freund, so sollen Sie morgen Nachmittag um 3 Uhr im Garten willkommen seyn. Ich will fur keinen Menschen zu Hause seyn als für Sie, selbst wenn Albrecht der Bär käme. Sie bedauern mich vielleicht, mein lieber Freund, daß ich mit Albrecht dem Bären und seinem ganzen diplomatischen Anhange so viel zu schaffen habe. Aber es gibt noch viel schlimmere Dinge als die Diplomatik. Weil man mir einredet, ich wäre wieder gesund, so muß und soll ich heute nachmittag mich fein zierlich anziehen, und bey, ich weiß nicht wieviel Leuten, welche mich während meiner Krankheit haben besuchen wollen, wieder Besuche machen. Großer Gott! wie viel glücklicher ist doch ein Mensch, der ruhig über seinem Codice Dipl. sitzt, als einer, der zwischen Wind und Regen herumfahren muß, Karten abzugeben (Nicolai an Mendelssohn 4. 9. 1778).
Diese >Momentaufnahmen< aus einem Freundschaftsverhältnis, das bereits mehr als zwanzig Jahre andauerte, bezeugen uns die unveränderte Beständigkeit der menschlichen Verbindung beider Männer und sie sichern den Eindruck ab, daß Nicolais spätere Freundschaftsreminiszenzen nicht dem Kulturgehabe der Zeit, sondern der persönlichen Betroffenheit und Bindung entsprechen. Nicht uninteressant dürften vor diesem Hintergrund der persönlichen Freundschaft Anzeichen sein, daß zwischen Mendelssohn und Nicolai auch in finanziellen Angelegenheiten Vertrauen bestand und gegenseitige Beratungen und Hilfeleistungen stattfanden. Die Korrespondenzen geben darüber einige wenige Fingerzeige her. Seit den frühen sechziger Jahren scheint Mendelssohn Nicolai in Geldangelegenheiten beraten zu haben. In seinem Brief vom 10. 8. 1763 berichtet er dem Freunde, daß nach dem Siebenjährigen Krieg ein gefährliches Wechsel-Fieber
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in Preußen, Holland, Hamburg usw. entstanden sei. Die Einlösung der Wechsel wäre wegen der Münzknappheit nicht mehr möglich. Er empfiehlt Nicolai, der geschäftlich nach Danzig reisen mußte, nur Bargeld mitzunehmen und auch dort von Geschäftsfreunden keine Wechsel zu akzeptieren. Aus dem Januar 1765 findet sich im Briefwechsel eine Finanzabrechnung Mendelssohns, aus der hervorgeht, daß er für Nicolai Geldgeschäfte - hier Börsen- oder Maklergeschäfte - tätigte und Rechnungen beglich. Kurze Berichte über weitere Transaktionen Mendelssohns fur Nicolai gehen aus Andeutungen in den Briefen hervor. Mendelssohn hat freimütige Entscheidungen zugunsten des Freundes Nicolai getroffen; es heißt da z.B.: »Ich habe die vorteilhafte Gelegenheit nicht wollen vorbeilassen.« Auch bei drohendem Kursverfall informiert Mendelssohn Nicolai sofort und stimmt sich mit ihm ab. Aus Briefen aus dem Herbst 1767 geht hervor, daß Mendelssohn für Nicolai Börsengeschäfte unternommen hat. So quittiert er am 29. September 1767, daß er »Drey Hundert siebenzig [...] Dukaten in einem versiegelten Paket [...] richtig erhalten« habe: »Ich werde solche umsetzen.« Und kurz darauf meldet er Nicolai, daß er einen Wechsel für diesen verkauft habe und daß das Geld bereit stehe. Es scheint, daß dieser Verkehr beständig war. Zeugnisse finden sich bis in den April 1771 hinein. Mendelssohn hat aber auch Nicolai gelegentlich Gelder geliehen, sofern Nicolai in finanzielle Engpässe geriet. Gewisse Regreßbriefe, z.B. vom 13. Juni 1766, bezeugen, daß Nicolai geliehenes Geld an den Freund zurückzahlte. Unter dem 13. Oktober 1772 schreibt Mendelssohn an Nicolai: »Sich aus der Verlegenheit zu ziehen, in welcher Sie sich zu seyn einbilden, empfangen Sie hierbey einen Wechsel auf Hamburg von 500 Mark Banco [...].« - So hat der eine Freund dem anderen bei einem finanziellen Engpaß unter die Arme gegriffen. Daß der Buchhändler gelegentlich nicht besonders solvent gewesen zu sein scheint, geht aus einigen Briefen aus den siebziger Jahren hervor. So brauchte Mendelssohn etwas Geld zurück, das er Nicolai gepumpt hatte (»800-1000 ß«), um einen Schuldner zu bezahlen. Dies war Dr. Bloch, Mendelssohns Arzt, der einen Schuldschein von seinem Patienten auf Nicolai in Höhe von 1.400 Reichstalern erhalten hatte und der nun bei Nicolai sein Geld einforderte. Nicolai scheint aber nicht zahlungsfähig gewesen zu sein, denn im Januar 1775 bittet Mendelssohn, den Wechsel für Bloch wenigstens mit 800 Talern einzulösen, »den Überrest will ich zuschießen und den Wechsel bezahlen. Ihr treuer Freund Mendelssohn«. Aber Freund Nicolai muß ziemlich in der Klemme gewesen sein, denn Mendelssohn muß Daumenschrauben ansetzen: Am 24. Januar 1775 trifft er eine schriftliche Einforderung des Geldes durch Boten, da der Wechsel am 24. Januar fällig geworden wäre. Der kleine Geldverkehr zwischen beiden Freunden ging aber hin und her. Denn schon im April 1775 bittet Mendelssohn Nicolai, »mit etwas Münze auszuhelfen«. Nicolai gab ihm dreißig Louis d'or. Eine Quittung Mendelssohns an Nicolai vom 7. März 1776 gibt an: »Vier Hundert Reichsthaler in Courant [...] von Hr. F. Nicolai richtig erhalten.« Auch in den achtziger Jahren hat Mendelssohn sich um Nicolais finanzielle Transaktionen gekümmert. So teilt er dem Freunde am 29. April 1781 mit, daß er einen Wechsel Nicolais der besseren Sicherheit halber nach Amsterdam gesandt habe,
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Hans-Gert Roloff
statt ihn nach Hamburg zu geben. Die Informationen über Wechselgeschäfte in den Briefen durchziehen das Jahr 1781, und im Mai 1782 verkündet Mendelssohn dem Freund: »Die Anweisungen auf den Haag sind eingegangen«, Nicolai solle das Geld abholen. Finanzielle Kontakte bilden in einer Freundschaft häufig neuralgische Punkte - bei Mendelssohn und Nicolai scheint das nicht der Fall gewesen zu sein. Das darf man als ein weiteres Indiz dafür ansetzen, wie eng verbunden beide miteinander gewesen sind, schließlich waren sie beide auch erfolgreiche Kaufleute. Daß derartige Kooperationen in besonderem Maße zwischen Mendelssohn und Nicolai bestanden, unterscheidet ihrer beider Bindung an den dritten Freund, an Lessing. Hier bestanden die freundschaftlichen Beziehungen zwischen den drei Männern auf geistiger Ebene. Nicolai hat das 1797 aus der Erinnerung heraus noch einmal sehr deutlich und schön formuliert: Zwischen mir und meinen verewigten Freunden Lessing und Moses Mendelssohn war von der ersten Zeit unserer Freundschaft das stillschweigende und hemach das ausdrückliche Übereinkommen, daB wir jeder in seinen Principien dogmatisch, in der Untersuchung aber skeptisch seyn wollten. Über Dinge, von welchen wir wußten, daß wir in Principien nicht einig waren, disputierten wir nicht leicht; es wäre denn, daß wir in der Folge unsers beständigen Gedankenwechsels übereingekommen wären, einer des anderen Grundsätze ausdrücklich zu prüfen. Sonst war es uns gewöhnlich, über Gegenstände, womit wir entweder noch nicht ganz ins Reine zu seyn glaubten, oder die wir zur nähern Prüfung von mehrem Seiten betrachten wollten, Gründe und Zeifel für und wider alle Meinungen unparteyisch aufzusuchen, und oft lebhaft einer gegen den andern auseinander zu setzen; bloß der Untersuchung wegen, ohne Rücksicht auf eines jeden sonstige Überzeugung (SW, Bd. 6,1, S. 69).
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Lieber Freund Winfried Woesler, empfange diesen hastig gezupften Strauß alltäglicher freundschaftlicher Kommunikation zwischen zwei für die geistige Entwicklung des aufgeklärten Berlin bedeutenden Männern als Florilegium, das uns in den unscheinbarsten sprachlichen Gesten grundsätzliche humane Gesinnung zwischen >dem Juden< und >dem Buchhändler< ahnen läßt. Hier war nicht der Ort, die zweifellos dahinterliegenden geistesgeschichtlichen Positionen, die beide Freunde gemeinsam in ihrer Zeit und gegen einen Teil ihrer Zeitgenossen behaupteten und für die wir erst nach und nach unser wissenschaftliches Bewußtsein schärfen, zu entfalten, sondern es schien reizvoll, gerade Belege für die zwischenmenschliche Grundbeziehung beider aufzuspüren, von der aus sich die weiteren Schritte in die >Welt des Geistes< vollzogen haben. Diese Zeugnisse einer lebenslangen ungetrübten Freundschaft dürften für den Historiker Bedeutung und Wert haben, sie auch in die Historie gemäß ihren Intentionen zu integrieren. Ich meine, wir können solchen Quisquillen aufschlußreiche Informationen über das Humanum einer Zeit entlocken. Die Freundschaftsbekundungen beider Männer sind echt und weit entfernt jeder literarischen Konstituierung, dazu sind sie zu ephemer und zu verstreut, aber ihre Summe macht deutlich, wie hier Leben und Werk in Einklang standen. In welcher Weise Ni-
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veau und Würde dieser Freundschaft die Grundlage für das umfassende geistige Schaffen beider Freunde war, bleibt einer anderen Untersuchung vorbehalten.
Ulrich Joost
Jünglinge im (unedlen) Wettstreit, oder: Der Mythos von den Phantasien in drei priapischen Oden Eine Ermittlung 1
Poetische Wettkämpfe sind vermutlich so alt wie die Dichtung selbst; das agonale Element ist dem Menschen (und offenbar nicht nur den Männern) nun einmal eigentümlich. Solch literarischer Streit ist heute gut kanalisiert und wird nicht mehr nach Art eines Sportwettkampfes ausgetragen. Die sagenhaften Zeiten, da der Unterlegene etwa im Fürstenlob wohl auch den Kopf verlieren konnte, sind vorbei - sonst hätte ich schwerlich gewagt, mich hier einzufinden. Nein solcher Wettstreit funktioniert in unsern zivilisierten Zeiten eher indirekt, durch Juroren von Literaturpreisen oder gar im elektronischen Medium (wie im Fall des Intemet-Literaturwettbewerbs). Aber ob es früher wirklich so unmittelbar zugegangen ist? Der vergleichsweise gut erforschte »Sängerkrieg auf der Wartburg« hat sich ganz gewiß nicht so zugetragen, wie er uns aus mehr oder weniger monumentalen Gemälden des Historismus vorgespielt wird und wie die Romantiker, die selber die letzten großen literarischen Kompetitoren gewesen sind, ihn gern gehabt hätten: dann schon lieber so, wie Robert Gemhardt und seine Freunde es wollten.2 Und ob man sich die Nürnberger Meistersinger gerade so vorstellen sollte, wie Richard Wagner es suggeriert, läßt sich fuglich bezweifeln. Wer mehr über Sängerwettstreite wissen möchte, kann sich trefflich in Kanzogs Bearbeitung des MerkerStammlerschen Reallexikons unterrichten, wo Gustav Bebermeyer3 alles Wichtige zusammengetragen hat; gerade für die älteren Zeiten werden wir da bestens informiert, und von den jüngeren Epochen wissen wir ohnehin mehr. Freilich, Bebermeyer hat sehr recht mit seiner Bemerkung: »Der Gesamtkomplex des Streitgedichts [darunter firmiert seine Abhandlung], des literar. wie des außer-
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Vorliegender Beitrag, dessen Grunderwägungen ich schon in dem Aufsatz Bürger und Voß, in: Johann Heinrich Voß (1751-1826). Beiträge zum Eutiner Symposium im Oktober 1994. Hrsg. von Frank Baudach und Günter Häntzschel. Eutin 1997 (Eutiner Forschungen. Bd. 5), S. 39-57, sehr knapp bekannt gemacht und im Lichtenberg-Jahrbuch 1997, S. 241, Anm., in einer Richtung präzisiert habe, war zunächst gar nicht zur Publikation vorgesehen; ich habe den Vortragston daher absichtlich nicht angetastet, jedoch die Darstellung jetzt um die Nachweise erweitert, einige Anregungen aus der Diskussion aufgenommen und vor allem das Literatur- und Motivgeschichtliche, das ich dort aus Zeitgründen nur andeuten konnte, hier breiter ausgeführt. Zu danken habe ich für oft kontroverse Diskussion der Argumente und wichtige Hinweise Walter Müller, Dirk Sangmeister, Helmut Scherer, Jochen Schriever, Heinrich Tuitje, Christian Wagenknecht. Der Sängerkrieg auf der Wartburg. In: Die Wahrheit über Arnold Hau (1981); hier nach: Robert Gemhardt: F. W. Bernstein und Friedrich Karl Wächter: Die Drei. Zürich 1995, S. 52-57. Bd. 4,1984, S. 278-245.
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liter., bedarf eingehender, intensiver Erforschung. Erforderlich ist eine breit angelegte Gesamtschau [...]«. Bebermeyers Darstellung aber läßt in ihrem Prozedere von oben nach unten erkennen, daß er allzu sehr befangen ist in einer Vorstellung des Absinkens; denn vielleicht ist der Gang dieses Gelegenheitsdichtens gerade anders herum gewesen, von der Situation heiterer Geselligkeit, vom Volks- und Kinderlied über den Kuckuck und den Esel gar, könnte sie ebenso wohl aufgestiegen sein zur großen Dichtung. Ich denke jetzt weniger an die Schnaderhüpferl der oberdeutschen und österreichischen Volkspoesie oder den jedenfalls noch zu meinen Studentenzeiten sehr beliebten Party-Scherz, um die Wette dichten zu lassen (seine Sonette, behauptete ein Freund, wären vor allem deshalb so schlecht, weil er immer schon nach dem zweiten Quartett fertig sei). Auch meine ich nicht solche vielleicht erfundenen, aber charakteristischen Anekdoten wie von dem Bonner Seminarkarneval, da Benno von Wiese sein Gedicht beendete, ehe Richard Alewyn nur die erste Zeile geschrieben hatte, was dieser maliziös mit dem Bonmot quittierte: »So war das schon immer mit uns, Benno: Du schreibst und ich denke«. Vielmehr sollten einem Literaturhistoriker die poetischen Gesellschaftsspiele früherer Jahrhunderte einfallen. Ich denke da etwa an die Leberreimdichtung des 17. Jahrhunderts: Der die Hechtleber bei Tisch bekam, mußte reimensweis einen Vers auf die ihm vorgegebene erste Zeile, etwa als Alexandriner zu Ende fuhren, also wohl: Die Leber ist vom Hecht, und nicht vom [Oktopus] [Wer Woeslem loben will, besteig den Pegasus.]
Oder ich denke an das (schon ein bißchen verfeinerte) Gesellschaftsspiel, das im 18. und frühen 19. Jahrhundert sich außerordentlicher Beliebtheit erfreut hat: die «bouts-rimés».4 In Frankreich aufgekommen (so bekundet es der Name, so behauptet schon 1711 Joseph Addison im Spectator),5 wurde >das Dichten nach vorgegebenen Endreimem, als deren Erfinder Gilles Menage (1613-1692) gilt, in England, Schottland und Deutschland rasch heimisch, ja die Mode. Beispiele solcher Casualpoesie hält die höhere und niedrigere Literatur dafür bereit von Ramler bis hin zu Mörike und Eichendorff, der freilich ganz beträchtlich gemogelt hat, wie man inzwischen weiß.6 Und den eingefleischten Verehrern der Höhenkammliteratur bleibt doch immer noch Goethes Tagebuch von der
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Oder «bouts-rimez». Nr. 60. Vgl. z.B. Wilpert (7. Aufl. 1989, S. 112). Wie Mohr im Reallexikon (2. Aufl., Bd. 3, Berlin 1977, S. 577) zu der Behauptung kommt, das »liter. Gesellschaftsspiel der Preziösen in Frankreich mit bouts rimés, vorgegebenen Reimen, die nach einem gestellten Thema zum Sonett ausgedichtet wurden, blieb uns erspart«, ist mir rätselhaft. In das Stammbuch der M [adame] //.[ahmann]. Akrostichon mit aufgegebenen Endreimen. - (Seit man das Originalblatt kennt, weiß man, daß er es sich bei der ursprünglichen Fassung beträchtlich leichter gemacht hat); Eichendorff, Gedichte, HKA Bd. 1,2, Tübingen 1994, S. 132, 236f. - Ja selbst noch Mörikes Sonett für seine Nichten Zwei dichterischen Schwestern von Ihrem Oheim (Sämtliche Werke, Bd. 1, München 1985, S. 840) spielt mit dieser Möglichkeit, da hier die Reime nach ihrem Schema gesucht werden müssen.
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Schweizerreise am 15. Juni 1775. Die Seite ist faksimiliert zugänglich,7 auf der Goethe, unmittelbar bevor er an seiner Nabelschnur sog, der Reisegesellschaft eine solche Aufgabe stellte. Der haben sich erst Lavater, dann die beiden Stolbergs, Schinz, Kayser, Haugwitz, Heß und Passavant unterworfen.8 Einen Dichterwettstreit von eben dieser Art hatte auch der Dichter Gottfried August Bürger einst zu schlichten: Dem Juraprofessor Johann Heinrich Christian Erxleben waren von zwei Freunden Glückwunschgedichte nach gleichen bouts-rimés dargebracht worden. In einer parodistischen Eingabe wird Bürger zur Entscheidung aufgefordert; er urteilt und erhält nun nach denselben Endreimen vom Sieger ein Huldigungsgedicht, vom Unterlegenen eine Rezension des Preisgedichts. Es läßt sich denken, wie durch die Auswahl der semantisch möglichst unpassenden Reimwörter komische Effekte (wie auch in dem ErxlebenFall geschehen) sich herstellen lassen. Noch zu Bürgers Lebzeiten, 1793, wurden jene Actenstiicke über einen poetischen Wettstreit 1791 unter diesem Titel denn auch gedruckt.9 Als Richter berufen hatte man ihn wohl, weil er in den Gedichten 1789 selber eine Aufgegebene Liebeserklärung an Sophien [Becker], nach vorgeschriebenen Endreimen publiziert hatte.10 Noch wenige Monate vor seinem Tod ist von Bürger ein weiteres Muster in dieser Technik fiir die junge, von ihm lebhaft geförderte Dichterin Philippine Gatterer-Engelhardt überliefert." Was haben solche Gesellschaftsspiele mit dem Thema unseres Symposiums, mit »Literarischer Zusammenarbeit« zu tun? Nun, Der Hügel, und der Hain, jene große Ode Klopstocks von 1767, nach der sich der »Bund« in Göttingen benennen sollte, beschwört gerade ein »sympoiein«, wie man in Anlehnung an »symphilosophein« es nennen könnte, in der Wechselrede von Poet, Barde und Dichter. Und im Thema dieses Gedichts, den Helden von einst und ihrem Kampf, erscheint schon der Wettstreit, wäre nicht das gemeinsame Dichten allemal auch schon ein Dichten um die Wette. So trafen sich denn die Mitglieder des Hain in ihrem großen Jahr vom Herbst 1772 bis Ende 1773 regelmäßig, trugen einander ihre Gedichte vor, und wenn eins approbiert worden war, so
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Jetzt leicht zugänglich in Jochen Meyer (Hrsg.): Dichterhandschriften. Von Martin Luther bis Sarah Kirsch. Stuttgart 1999, S. 38f.; das ganze Heft bietet Karl-Heinz Hahn (Hrsg.): Von Zürich nach Weimar. Goethes Tagebuch 1775. Weimar 1985. WA, Abt. III, Bd. 1, S. 1-3. Der junge Goethe. Hrsg. von Max Morris. Bd. 5. Leipzig 1912, S. 257; Bd. 6, S. 483f. - In der Ausgabe von Hanna Fischer-Lamberg, Berlin 1973, S. 235, 447f. Separat nach der Handschrift gedruckt als: Eine humoristische Sängerfehde. Berlin 1874; leicht zugänglich in Briefe von und an G. A. Bürger. Hrsg. von Adolf Strodtmann. Berlin 1874, hier Bd. 4, Nr. 841, S. 90-112. »am 21. November 1784« (Briefe, Anm. 9, Bd. 2, S. 276ff.). Zur Entstehung dieser Verse vgl. Erich Ebstein: Bürger und Elise von der Recke. In: Beilage zur Allgemeinen Zeitung Nr. 204 vom 6. 9. 1902, S. 461 f. Zuerst Göttinger Musen Almanach 1800, S. 102f.; auch in Briefe (Anm. 9), Bd. 4,1874, S. 235, Anm.
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wurde es (wohl meistens eigenhändig) von den Dichtern nach einiger Zeit in das legendäre Bundesbuch eingetragen.12 Gottfried August Bürger hat dem Hain, dessen Mitglieder um eine Studentengeneration jünger waren als er, im strengen Sinne nie angehört. Der »Condor«, wie er sich in den Scherzbriefen an den »Bund« gern nannte, dessen »Adler« ihm bloß die Würde eines »Sperbers« zuerkennen wollten,13 wurde aber von den »Eülen, Rohrdommeln, Wiedehopfen und Rohrsperlingen in dem alten Gemaüer und Dorn- und Schilfgesträuche der Moräste zu Göttingen« eingeladen, und so ist auch er (jedoch nicht eigenhändig!) im Bundesbuch vertreten. Die poetische Überlegenheit des älteren, bereits arrivierten und (scheinbar) immer übermütigen Dichters spürten die jüngeren durchaus, traten aber gern in freundschaftliche Konkurrenz mit ihm. Mehr Konkurrenz (wie tatsächlich dann gegenüber Voß und Stolberg) denn eine dauerhaft ungetrübte Freundschaft verband Bürger doch nur mit dem in dieser Hinsicht genialen Heinrich Christian Boie. Von einer solchen literarischen Zusammenarbeit in Konkurrenz - damit bin ich endlich beim Thema unserer Zusammenkunft - soll hier die Rede sein, die mit ihren Produkten seit 100 Jahren durch die Bürger-Literatur und Bürger-Edition geistert. Freilich geht es dabei nicht eben mädchenpensionatsmäßig zu. Ich habe Ihnen den ältesten mir erreichbaren Druck (vielleicht nicht den ältesten überhaupt) von diesem poetischen Concours mitgebracht (Faksimile im Anhang) und brauche Ihnen im Verlauf meiner Überlegungen höchstens ganz vereinzelte Stellen daraus zu zitieren.14 Denn ein Rest von Schamhaftigkeit hindert mich hier daran, völlig rücksichtslos der Gelehrsamkeit nachzugeben. Es soll um einen poetischen Wettstreit zwischen Bürger, Voß und Stolberg gehen; das Rarissimum, das ihn uns überliefert, trägt den Titel: Phantasien; in drei priapischen Oden dargestellt, und im Wettstreit verfertiget, von Β. V. und St. Letzterer erhielt die Dichterkrone. Berlin. In allen guten Buchhandlungen. (Preis 12 gGr.).15
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Übrigens später, als gemeinhin angenommen wird, wie mir Annette Lüchow versichert. Die Bücher sind in den letzten Jahren wiederholt in Ausstellungskatalogen beschrieben worden (so Annette Lüchow: Lichtenberg: Wagnis der Aufklärung. München 1992, S. 191: Nr. 356; oder Pablo Kahl: Goethe, Göttingen und die Wissenschaft. Göttingen 1999, S. 202f.: J.2-4). - Zum sogenannten Vossischen Stammbuch, Seitenstück des Bundesbuchs, zuletzt noch Pablo Kahl (in: Jahresschriften der Claudius-Gesellschaft 8, 1999, S. 27-42) mit Referat und Nachweis der älteren Diskussion Ober Zuweisung der Bezeichnungen und Rekonstruktion der Vorgänge. Briefe (Anm. 9), Bd. 1,1874, Nr. 98-100, S. 135-138; femer die Briefe, die Erich Ebstein in der Zeitschrift für deutsche Philologie 35,1903, S. 541-543 mitteilte. Obgleich sich herausstellen wird, daß der Text dieser Sammlung erheblich korrumpiert ist, beziehe ich mich auf sie als den Textus receptus und teile die Besserungen nur exemplarisch und anmerkungsweise mit. Sach- und Spracherläuterung - ich kann mich hier auf das allemötigste beschränken - im Anhang.
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Die drei Gedichte darin sind mit Verlaub so schweinisch, daß höchstens graubärtige Prokuristen oder geheimrätliche Literarhistoriker mit längst erstorbenen Trieben sie völlig, ohne rote Ohren zu bekommen oder ein (meist ablehnendes) Geschmacksurteil abzugeben, zur Kenntnis nehmen möchten, und zugleich werden (oft verbunden mit dieser ästhetischen und moralischen Ablehnung) wiederholt Zweifel an der Echtheit geäußert - Zweifel freilich, die außer im Moralischen so wenig begründet würden und überzeugend sind wie die gleichfalls gelegentlich artikulierte Zustimmung16 zur Annahme der durch ihre Initialen suggerierten Verfasser Bürger, Voß und Stolberg. Karl Julius Weber in seinem Demokritos (1840) ist da noch sehr gelassen: Zur Geschichte deutscher Zoten gehört der berüchtigte Wettstreit zwischen drei unserer berühmtesten Dichter [...] in den drei bekannten priapäischen Oden, wo Stollberg [!] die Dichterkrone errang, und sich weit über die Lucinde [von Friedrich Schlegel] hinaus schweinigelt; Bürger und Voß waren nicht in der Lage, üppig zu genießen wie ein deutscher Herr Graf.17
Georg Gottfried Gervinus kann es gar nicht glauben, findet es Sonderbar, daß eine ganz unbegründete Volkssage, die bis heute dauert, gerade diesen Klopstockianem, den Verfechtern der Tugend, den schmutzigsten Wetteifer in unzüchtigen Gesängen schuld gibt, dessen angebliche Früchte noch in Kasernen und Wachstuben umlaufen sollen!18
Heinrich Pröhle pustete 1856 die Backen auf; »das uns vorliegende scheusliche Denkmal« wollte er aber doch zuerst nicht als Fälschung deklarieren, schließt die Möglichkeit, daß diese »Gemeinheit«, die »in einer gewissen Großartigkeit abscheuliche Dinge« enthalte, echt sein könnte, da noch nicht aus. Doch im Jahr darauf brandmarkt er die >Zuschreibung< des »ekelhaften Wettstreit[s]« in eigenen Zusätze[n] und Berichtigungen als »alberne Studentensage«, in deren Folge »die Gedichte in handschriftlichen Sammlungen von dergleichen Unrath mit diesen Autoren bezeichnet« seien.19 Auch Eduard Fuchs, der Sammler und Erforscher der Karikatur und der erotischen Kunst, dem solches Menschliche doch nicht fremd gewesen sein dürfte, nennt den Wettstreit als Beispiel für »phallische Ungeheuerlichkeit, für die es kein Bürgerrecht in der Kunst geben darf«. Daß es der fromme Graf war, der hernach »in den Schoß der alleinseligmachenden Kirche fand«, scheint ihm geradezu logische Voraussetzung für
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»wofür sich gewichtige Gründe anführen lassen«, meint Georg Schaaffs gar in Modem Language Review 5,1910, S. 132ff. 12. Bd., 17. Kap. Ich zitiere nach der 10. Stereotyp-Aufl., die der 8., Leipzig 1884, entspricht (hier S. 205). Geschichte der Deutschen Dichtung, 5. Bd., 4. Aufl. 1853, S. 25f.; schon in der 1. Aufl. 1842, S. 27 (»coursieren«); 2. Aufl. 1844, S. 27; 3. Aufl. 1852, S. 26. G. A. Bürger, Leipzig 1856, S. 5f. u.ö.; die Ergänzungen im Archiv für das Studium der neueren Sprachen 12, 1857, H. 21, S. 173. - Pröhle fuhrt 1856 an, daß »noch vor wenigen Jahren die Blfätter] f[ür] literarische] Unterhaltung] aus der Litteraiy Gazette den Scandal als etwas ganz außer Zweifel Liegendes« angesehen hätten - beide Blätter sind mir noch nicht zu Gesicht gekommen.
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»den Gipfel an phallischer Unanständigkeit« zu sein.20 Für Carl Christian Redlich dagegen war es wieder nur eine »plumpe Fälschung«, sonst keiner Erwähnung (und auch gar keiner Begründung seiner Annahme), erst recht keines ästhetischen Urteils wert.21 Selbst hartgesottene Sammler staunen vor der »witzund geistlose[n] Schmiererei«, an der »keiner der oben genannten Dichter Antheil« habe,22 und Paul Englisch, der auch genug Erfahrung im Umgang mit Sotadika gehabt haben dürfte, befand, »diese schreiende Profanierung des Geschlechtlichen« sei »ein Machwerk, das an grauenerregender Gemeinheit des Ausdrucks nicht mehr übertroffen werden kann [...] wohl das unflätigste Stück, das in deutscher Sprache erschienen ist. [...] Das Scheußlichste ist die dritte Ode«. »Daß die dargestellten Wünsche ernst gemeint sind«, räumt er immerhin noch ein, »kann man fuglich bezweifeln«. 23 Fast wäre es still geworden um die Oden, hätte Heinz Ludwig Arnold sie nicht mit anderen zusammen in die Welt geschickt.24 Das wiederum veranlaßte Alfons Höger, sie in seiner Untersuchung Galanterie und Sinnlichkeit so oberflächlich wie ausfuhrlich zu behandeln25 - er scheint nicht im mindesten an der Echtheit zu zweifeln. Mindestens zwei alte Binsenweisheiten der Literaturgeschichte rückt dieser äußerst verknappte, wie ich aber hoffe doch nicht ungerechte Abriß einer Wirkungsgeschichte wieder ins Bewußtsein: Erstens, wie schnell doch (nämlich nach 80 bis 150 Jahren) selbst grundsätzliches Wissen über literarische Selbstverständlichkeiten, Literaturbetriebliches (hier zum Beispiel die Verbreitung von Texten und die Anfertigung von Drucken) und Geschmackliches (hier etwa Barocktraditionen und Werturteile) verlorengeht. Zweitens, wie die Autorzu20
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Geschichte der erotischen Kunst in Einzeldarstellungen. I: Das zeitgeschichtliche Problem. München 1908, S. 339f. Versuch eines Chiffemlexikons (Schulprogramm Hamburg). 1875, S. 4. Eine handschriftliche Notiz des Carl Wallstein zitieren Hugo Hayn und Alfred N. Gotendorf in ihrer Bibliotheca Germanorum erotica et curiosa. Verzeichnis der gesamten deutschen erotischen Literatur mit Einschluß der Übersetzungen nebst Beifügung der Originale. Hier Bd. 6, München 1914, S. 168. Geschichte der erotischen Literatur. Berlin 1927, S. 206f. Englisch, der es überhaupt nicht immer so genau nimmt, behauptet aber: »Die Oden kursierten bereits 1788 in Abschriften [nur die angeblich Stolbergische! siehe Anm. 112, 120] und fanden sich in Bürgers Nachlaß. Es besteht daher kein Zweifel an der Autorschaft der drei Dichter«, was auf einem Mißverständnis von Grisebachs Annotation im Weltlitteratur-Katalog eines Bibliophilen. Berlin 1898 (Anm. 73, S. 249) beruht, der nur den von mir bei Anm. 30 mitgeteilten Text (richtig) im Nachlaß sich finden läßt. Hinreißend auch Englischs metrisch nicht sonderlich geglückter Versuch, (im Zitat!) »mein steifer Schwanz« mit »méntula mea erecta« >einzudeutschenKlageAntwort< auf die Antiqua konzipierten Unger-Fraktur gedruckt, die zu Anfang der neunziger Jahre des 18. Jahrhunderts in Berlin entstand - nach einem ersten Entwurf waren Moritzens Die Neue Cäcilie (1794), die Zweite Probe neu veränderter deutscher Druckschrift, dann Goethes Wilhelm Meister (1795) die ersten bekannteren damit gedruckten Werke - sie fand jedoch nicht zuletzt wegen der geschäftlichen Schwierigkeiten der Firma im folgenden Jahrzehnt nur wenig Verbreitung.84 Damit ergibt sich zwar ein Terminus ante quem non, aber doch wohl ein viel zu früher: Schwerlich hätte ein Drucker es gewagt, für klandestine Literatur eine so auffällige Type vor einer Phase größerer Verbreitung zu verwenden, zu leicht hätte ihn die Zensurbehörde überführen können. Berlin als Druckort anzunehmen, weil das auf dem Titel steht und die Unger-Fraktur außerhalb kaum benutzt wurde, wäre trotzdem voreilig: Bei solcher Literatur wird aus Angst vor der Zensur und Strafverfolgung, die in Preußen nach dem Wöllnerschen Edikt besonders moralisch und streng war, eben gerade nicht der wahre Verlagsort eingesetzt, sondern wie bei den anderen Abdrucken unseres Wettstreits etwa Paris, London oder Neapel - also weit entfernte Orte. Es scheint eher so, als ob jemand gerade den Verdacht dahin lenken wollte. (Darauf könnte auch die Verwendung des Stichs von Bolt deuten, der viel für Himburg gearbeitet hatte.) Nur geringes Gewicht für die Datierung hat hingegen das Fehlen der Kustoden, die zwar in konservativen Druckereien erst gegen Ende der 90er Jahre, oft sogar (etwa bei Nicolai) erst zu Anfang des 19. Jahrhunderts verschwinden was nur dann auf einen späteren Zeitpunkt deuten würde: Verleger wie Ettinger, Unger und Goeschen nämlich lassen sie bereits um 1790 fallen. Hans von Mül82
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Bei Büchern wurden damals gelegentlich einzelne Belegstücke für den Autor auf >feines Schreibpapier gedruckt; das meint dann aber im allgemeinen besonders dünnes Velin, nicht solches starkes Papier für Akten und konventionelle Geschäftsbriefe. Vgl. Henk Voom: De papiermolens in de provincie Noord-Holland. Haarlem 1960. Reproduktion des Wasserzeichens S. 177 (Nr. 114), Legende dazu S. 135 mit Jahresangabe 1772. - Ober Rogge und seine Papiermühle S. 289ff. Vgl. G. A. E. Bogeng: Die Unger-Fraktur. Heidelberg 1922 (Berühmte Druckschriften I), ferner G. K. Schauer in E. L. Hauswedell und C. Voigt (Hrsg.): Buchkunst und Literatur in Deutschland 1750-1850. Hamburg 1977 (Drucke der Maximilian-Gesellschaft). Textband S. 25-29, Tafelband S. 22f., 30,46. Ich danke Walter Wilkes für manchen guten Wink bei der typographischen Bestimmung.
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1er hat noch auf die Münzsorte als Datierungsanhalt hingewiesen: Im Preis, der - wie bei Kolportageliteratur nicht unüblich - dem Titel aufgedruckt ist, sind »gute Groschen« genannt.85 Diese Sorte ist 1820 in Preußen durch den Silbergroschen ersetzt worden. Nähme man die Angaben ernst, so wäre ein Zeitpunkt für den Druck zwischen 1795 und 1820 wahrscheinlich. Dieser Aufdruck kann übrigens unmöglich ernstgemeint sein: Was sollte bei einem öffentlich schlechterdings unverkäuflichen Sotadikum ein Preis? Ich halte ihn ebenso wie die eben schon genannten anderen Ungereimtheiten (schwankende Orthographie, Alternatiwarianten) für einen Bestandteil der Mystifikation: Der Druck suggeriert ein früheres Entstehungsdatum, um 1794 (gleich nach Bürgers Tod) oder früher, und damit wäre doch die Zeitgrenze aus dem Münzsortenwechsel wieder zu beachten. Ein gewisserer Terminus post quem non ergibt sich aus einer handschriftlichen Aufzeichnung August von Hennings', die er sich 1820 über Stolberg und Voß machte: »Dabey war Stolberg oft ein Spiel der Sinnenlust. [...] Sein Priapisches Gedicht mit Bürger und Voss (bekanntlich ganz apokryph) ist mir nie zu Gesicht gekommen«.86 Den meines Erachtens wichtigsten Hinweis für einen Terminus ante quem non gibt aber die Zierleiste, weil sie als Modebestandteil im allgemeinen zuerst aus dem Setzerkasten verschwindet. Die Zierleisten hier sind freilich teils typisch, teils ganz ungewöhnlich für den Buchdruck um 1800: sie sind nämlich willkürlich zusammengesetzt aus unterschiedlichstem Schriftmaterial, vermutlich für Kalender oder Akzidenzien: Man vergleiche die von S. 3 mit der auf S. 12 (unter dem Motto). Die Kopfleiste ist zudem gar keine echte Zierleiste, sondern eine pungiate Linie, die an anderen Stellen in einem Buch, nicht aber an dieser Verwendung finden würde. Übrigens wäre es mit solchen typographischen Finessen am ehesten möglich, irgendwann die Druckerei namhaft zu machen, die das produziert hat. Allerdings kann sie ebensogut ein mittelgroßes renommiertes Haus gewesen sein - wie eben auch eine Akzidenzdruckerei. »Echt« und Anhalt gebend ist am ehesten jene Schlangenlinie (hier nur auf dem Titelblatt), wie wir sie aus den Drucken der Jenaer und Heidelberger Romantik genugsam kennen; August Wilhelm Schlegel hatte die Schlangenlinie mit Blick auf Hogarth ja sogar für das Ideal erklärt: Sie ist typisch zwischen 1797 (Wakkenroders Herzensergießungen-, vorher habe ich sie, von Vorläufern im RokokoBuchschmuck um 1770 abgesehen, nie bemerkt) und 1815 für Dichtungen, Almanache (etwa Tiecks Musen-Almanach fiir das Jahr 1802) und Zeitschriften (Friedrich Schlegels Deutsches Museum um 1813); etwa 1825 verschwindet sie dann wieder rasch. Zu den angeführten ortho- und typographischen Befunden passen chronologisch mehrere literaturgeschichtliche Fakten und Daten, auf die ich schon hin85
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Anmerkungen [zu den Priapischen Oden], in: Der Amethyst (Anm. 48) 1, 1906, H. 11, S. 396. Wilhelm Herbst: Johann Heinrich Voß. Bd. 2,1. Leipzig 1874, S. 320f. Laut Herbst, in dessen Besitz sie sich damals befanden, entstanden diese Aufzeichnungen 1820, nach Ausbruch des Streits mit Voß (S. 294).
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gewiesen habe: 1819 erinnerte Carl Nicolai in der Mitwelt an den Göttinger Wettstreit (ohne Nennung der Texte selbst, also anscheinend ohne den Druck der Phantasien zu kennen) und nahm dabei zu Bürgers von Althof 1797 publizierter Zurückweisung seiner Verfasserschaft Stellung,87 und während also die Erinnerung an den poetischen Wettstreit noch ganz in der privaten Erinnerung lebte und jetzt wieder ins Bewußtsein einer an den dreien interessierten Öffentlichkeit gehoben wurde, so traf sie genau in eine andere literarische Auseinandersetzung (Diskurs würde man heutzutage sagen): den Streit zwischen Voß und Stolberg über dessen Konversion zum Katholizismus, der 1819 auf seinem Höhepunkt ist. 1820 dann weiß August von Hennings in seinen Aufzeichnungen schon vom Ergebnis des Wettstreits. Erinnern wir uns noch einmal der äußeren Umstände bei der Entstehung, wie sie den Verfassern unterstellt werden. Sie waren zu der Zeit, in der der muntere Wettkampf sich hätte abspielen sollen und sich genau so auch hätte abspielen können, also zwischen Herbst 1772 und Sommer 1773, als Studenten inmitten einer Männergesellschaft doch in einer durchaus fremdbestimmten Situation, nicht nur in einigem sexuellen Notstand, sondern vor allem den Ritualen einer intern pennalistisch organisierten Gruppe unterworfen. Zum Dichten, auch um die Wette, und zur poetischen Nachahmung waren sie in der Lage - schwerlich zu simplem und zumal verschlechterndem Plagiat, wie es hier zumindest beim ersten Gedicht der Fall ist: Denn da kennen wir die viel ältere und bessere, vielleicht sogar volkstümliche und jedenfalls bis auf weiteres anonyme Vorlage: Der Text des angeblichen Burgerianums findet sich nämlich in der Crailsheimischen Liederhandschrift, einer Sammlung von Gesellschaftsliedern aus der Mitte des 18. Jahrhunderts88 - und ist zudem eine Nachdichtung nach dem Französischen. Beim zweiten, dem angeblich Vossischen, wird ein in solchen Texten bewanderter Forscher vielleicht auch noch fündig werden. Schon Pröhle hatte es 1857, woran Heinrich Tuitje mich erinnert, als eine Nachdichtung der Ode à Priape (genauer: der 1.-5. und 9., 11. und 12. Strophe) des französischen Dramatikers und >galanten< Dichters Alexis Piron identifiziert.89 Beim dritten (dem Stolberg zugeschriebenen) wurde vor 1924 eine Handschrift angeboten, betitelt Non plus ultra. Weibliche Schönheit, mit Stolbergs Namen am Schluß.90 87 88
89 90
Die Mitwelt 3,1819 (Bandtitel: 2,1820), S. llOf. Zuerst auszugsweise (unter Übergehung des obszönen Anteils) mitgeteilt von Arthur Kopp: Deutsches Volks- und Studenten-Lied in votklassischer Zeit. Im Anschluß an die bisher ungedruckte von-Crailsheimsche Liederhandschrift der Königlichen Bibliothek zu Berlin quellenmäßig dargestellt. Berlin 1899; das Fehlende dann von Emil Karl Blümml: Aus den Liederhandschriften des Studenten Clodius (1669) und des Fräuleins von Crailsheim (1747-49). Wien 1908 (Futilitates. 3). Eine knappe Beschreibung nach den Genannten bei Englisch (Anm. 23, S. 167). Vgl. Anm. 19. Im Katalog XI des Antiquariats V.A. Heck in Wien (1924, Nr. 703), wie Trelde 1924 (Anm. 49), S. 21 nachweist, der sie glücklicherweise komplett abdruckt. Sie enthält, wie der Vergleich mit dem Erstdruck (s. Anm. 91) zeigt, eine Reihe von Fehlern des Abschreibers oder Entzifferers: vgl. unten Anm. 108ff. Ich nenne sie nachstehend immer h, den Erstdruck ED.
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Schon mit ihr war größter Zweifel an der Zuverlässigkeit der Textfassung in unserem Sammeldruck (dem Wettstreit) angebracht. Denn sie ist mit größter Wahrscheinlichkeit älter als dieser, hat Plustext und ein paar bessere Lesarten. Sie ist aber nicht besser (und vielleicht auch nicht älter) als der erste Druck, mit dem sie die größere Strophenzahl gemeinsam hat - in dem extrem seltenen Sotadicum Priapische Dichterlaune. Macédonien [d.i. Wien] 1788. 91 Darüber hinaus gibt es eine Reihe von motivischen Vorbildern und Verwandtschaften. Aber der Reihe nach im einzelnen. Was hat Consentius sich doch gespreizt, um wenigstens die Möglichkeit der Verfasserschaft Bürgers für die Feinde Priaps zu sichern: Die bisher angenommene Datierung der Crailsheim-Handschrift mußte umgestürzt werden, um das Ergebnis des Sängerkriegs (1772/73) dann flugs vom nicht mehr ganz jungen Crailsheim (1727-1794) oder seiner Tochter (1761-1796) nachtragen zu lassen. 92 Wie die beiden Crailsheim in Franken an ein klandestines Bürger-Gedicht hätten gekommen sein können, wird gar nicht erst spekuliert. Nun ist die Crailsheim·Version teils umfangreicher, teils kondensierter, vor allem aber metrisch und sprachlich korrekter als die in dem Druck des Wettstreits,93 Noch eine philologische Verrenkung, eine Lectio difficilior jünger zu machen als die Lectio facilior. 1. Der Umfang: Crailsheim hat nämlich dreizehn Strophen, unsere Version davon elf, und zwar in der Reihenfolge Crailsheims Strophe 1, 11 (1. Hälfte plus 3 neue Zeilen), 11 (2. Hälfte plus 3 Z.), 2, 5, dann eine bei Crailsheim 91
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Hier S. 193-200. Ich habe aus diesem Druck, der fast zur Hälfte aus Büschels Kanthariden (Anm. 42) geplündert ist und den Hayn/Gotendorf (Anm. 22, Bd. 6, 1914, S. 297f.) hinlänglich genau beschreiben, dankenswerter Weise von der Wiener Stadtbibliothek eine Kopie des dort anonymen Gedichts bekommen. Es ist ein Besonderer Anhang mit neuer Bogensignatur (Aa), aber fortlaufender Seitenzählung ([193J-201). Der Titel lautet (S. 195): Das Non plus ultra der weiblichen Häßlichkeit. Hayn/Gotendorf fugen die Verfasserangabe hinzu - nicht ohne die Rücknahme: »untergeschoben«. Das Motto fehlt. Consentius 1914 (Anm. 26), S. 402; dem folgte Trelde 1924 (Anm. 49), S. 21, Anm. 6 obgleich diesem doch der Abdruck und die Einleitungen von Kopp und Blümml hätten zugänglich sein können und jener (Bibliothekar an der Berliner Staatsbibliothek), der die genannten Einleitungen schon nicht gründlich gelesen hat, darüber hinaus sogar die Handschrift im Original griffbereit hatte, sie Hegt noch heute dort (er gibt selber die Signatur: Ms. Germ. Quart 722; sie stammt aus der Sammlung Meusebach. Ich habe mich davon überzeugt, daß Blümmls Druck und Angaben korrekt sind). Tatsache ist vielmehr, daß der wunderliche Crailsheim 1774 die da bereits fertig geschriebene und gebundene Sammlung seiner damals übrigens erst 13jährigen, offenbar etwas frühreifen Tochter schenkte - und unser Gedicht steht S. 459-463 der Sammlung, also über 115 Seiten vor ihrem Schluß, beginnt und endet zumal mitten auf einer Seite, so daß eine nachträgliche Einfügung völlig unmöglich ist. Kopps und Blümmls Vermutung femer, daß die Sammlung wenigstens teilweise auf Crailsheims Studententage zurückgeht (selbst wenn er die uns heute vorliegende Reinschrift auch viel später, nämlich nach 1747 ausgeführt hat), halte ich für viel wahrscheinlicher als Consentius' (Anm. 26) vage Möglichkeitsannahme einer sukzessiven Fortfuhrung des Buchs über Jahrzehnte: Es ist zwar mit unterschiedlichen Tinten, doch einer gleichförmigen Handschrift sozusagen in einem Zuge entstanden. Consentius 1914 (Anm. 26) referiert S. 401, was mit ähnlichen Worten schon Müller bei Blei im Amethyst (1906, S. 396) schrieb, »daß die bekannte gedruckte Überlieferung teilweise entstellt ist und die handschriftliche Fassung [...] hier und da eine Korrektur möglich macht.«
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fehlende, schließlich 7, 4, 10, 12, 13. Das heißt, die animalerotischen Strophen (würde Robert Gernhardt wohl sagen)94 sind an den Anfang vorgerückt und um Hengst, Boll (= Bulle) und Bär erweitert, bei den Götterstrophen ist Merkur hinzugekommen, Apollo, Mars, Neptun und Pan95 fehlen. Nun muß man angesichts der schlichten Verse, die wie etwa jene über die Wirtin an der Lahn leicht nachzubilden sind, keine unbekannte Quelle mutmaßen, die beide Texte gespeist hätte (auszuschließen wäre das freilich auch nicht). Um nun die Hypothese von Consentius und Trelde zu bestätigen, müßte erst ein Paradox erklärt werden: Wie bekommt ein angeblich authentischer Wortlaut typische Zersingungsfehler? Denn der Text des ganzen Wettstreits hätte ja zur Drucklegung gemäß der Logik der Überlieferung schriftlich vorgelegen haben müssen - bei diesem einen Gedicht aber wären solche Überlieferungs- oder Übermittlungsfehler (allein schon quantitativ so beträchtliche wie die vorstehend charakterisierten) aufgetreten. Und mithin wäre unbedingt eine gar nicht schriftliche, sondern jedenfalls mündliche Weitergabe anzunehmen - was wiederum entschieden gegen die Übernahme der Crailsheims von Bürger spricht. 2. Die »schwierigere Lesart«: Die gedruckte Fassung enthält mehrfach Verstöße gegen die Betonungen antiker Namen, wonach die Aufzeichner, die vielleicht aus dem Gedächtnis zitierten, schwerlich eine strenge klassische Ausbildung hätten erfahren haben können (Cupido, Charón, Plutó)96 - ganz zu schweigen von der insgesamt lizenzenreichen97 Metrik, die man freilich mit der 94 95
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Besternte Ernte (1981). In: Die Drei 1995 (Anm. 2), S. 240-242. Nach der Handschrift, weil Blümml leicht modernisiert hat: »3. Apollo will Minerven / Das gränzgen nicht verwerffen, / Er thut ihrs durch den Flor; / Mit seinem EßelsSchwanze / Fuchst er ì la Cadance / Das ganze Musen Chor. [...] 6. Mars wenn er sich erhitzet, / Mit Feur und Blut bespritzet, / Schiert er Bellonen doch. / Ja mitten untern Stücken / Legt er sie auf den Rücken / Und stopfet ihr das Loch. / 8. Neptuno in den Wellen / Greift Venus an die Schellen; / Saturn voll Häßlichkeit / spricht last man mich versauern, / mit lauter kalten Bauern / vertreiben meine zeit! / 9. Pan der sonst rauch von Haaren, Hat kein Amour erfahren, / Als die nur viehisch heist / Doch fuchst er seine Faunen / Und bläst die Votzposaunen, / Biß sich der Saame weist.« - Demnach würde Hoenigs (Anm. 43) Charakteristik (»Götterparodie«) viel besser auf Crailsheim passen denn auf den Text im Wettstreit. Es wäre gewiß nötig, weitere Oberlieferungen und Seitenstücke in der Volksliedtradition zu suchen. (Das Volkslied-Archiv Freiburg kennt leider nur das, was Blümml weiß, wie mir Otto Holzapfel freundlicherweise mitteilt.) Das hat schon Hans von Müller gesehen. - Otto Crusius (Zeitschrift für deutsche Wortforschung 15, 1914, S. 274) weist im Zusammenhang mit Marpurgs Anleitung zur Singcomposition 1758 aus Anlaß von dessen Kritik an der offensichtlich Mitte des 18. Jahrhunderts weitverbreiteten falschen Betonung von Cupido auf diese in der Rokoko-Poesie geläufige Ambivalenz der Betonung: »Cupido der lose Knabe« - »Wie sich Cupido regt und hin und wieder springt« hin. (Ich kann indessen das erste Beispiel nicht als metrisch vollgültig ansehen - will sagen: der betreffende Dichter hatte einen schlechten Tag - , da sich sonst der Wortfuß von Cùpido als Creticus lesen lassen müßte.) - Man darf übrigens um 1800 keine so sichere Kenntnis des Griechischen unterstellen, wie sie in der Folge von Humboldts Reformen und großflächiger Einführung des klassischen Griechisch als Schulfach im folgenden Jahrhundert anzunehmen ist. In der Poesie wird vielmehr die Betonung antiker mythologischer Namen durch das Lateinische und die romanischen Dichtungen bestimmt - da interferiert hier vielleicht französisch >Carón< und >PlutónBurgerianumStolbergianum< unter dem Titel Die Schöpfung des Weibes ist dagegen ein österreichisches >Schamperlied< aus der Mitte oder dem Anfang des 19. Jahrhunderts.107 Der Heckschen Abschrift, die Trelde mitteilt, und dem Erstdruck fehlen das Motto (der Vorspruch), und sie haben ein paar Lesarten, die sich als >faciliores< oder sogar Korruptelen auffassen ließen:108 Sie würden (nur danach bestimmt) im Stemma nachgeordnet sein. Sie weisen aber - außer der konsequent älteren Orthographie - mehrere eigene Strophen auf,109 haben einen Vers korrekt, der in den Phantasien vielleicht infolge eines Druckfehlers fehlerhaft, nämlich nur funfhebig ist,110 darüber hinaus zahlreiche Lesarten, die überwiegend difficiliores oder klanglich und gedanklich >bessere< sind.1" Demnach dürften beide, Abschrift wie Erstdruck, im Stemma vorrangig sein, selbst wenn die Abschrift vielleicht nicht älter als der Sammeldruck wäre. Für unseren Wettstreit ergibt das den Befund, daß beide Überlieferungsstränge direkt oder indirekt auf eine gemeinsame verlorene Urfassung zurückgehen - denn wir wissen aus einer ziemlich zuverlässigen Quel107
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E. K. Blümml hat in seinen Futilitates I (Schamperlieder - Deutsche Volkslieder des 1 6 19. Jahrhunderts), Wien 1908, S. 13-16 aus zwei Handschriften aus Graz und Wien eine ziemlich ähnliche Fassung wie die Sterns kontaminiert. Vgl. Anm. 90. - Z.B. Str. 3,4 Pettig] Scheißhaus ED Schäußhaus h. -Str. 5,3: Pettig] Eiter h. - Str. 10,1 zweien spitzen Hüften] 4 spitzgen Hüften (nur h, ganz unsinnig). - Str. 11,3 kalter Bauer] garst(i)ger Unflath. - Str. 15,3 Tambaur] Kuppler. - Bis auf die in der übernächsten Anm. notierten metrischen Versehen und den Druckfehler in Str. 5,1 voll] lies: von würde man wohl dem Erstdruck den Vorzug geben - auch ohne die vorstehenden, erkennbar gesuchten und, wie mir scheint, nicht norddeutschen Varianten der WettstreitVersion zu berücksichtigen. Str. 1-10 stimmen in der Reihenfolge überein, lediglich 7f. sind vertauscht, 11-13, 14-17 sind in ED und h Str. 12-14,16-19, deren Str. 11 und 15 hier nach ED folgen: »Der Arsch sey knochendürr, wie Bretter anzufühlen, / In dessen Kerbe stets ein Heer von Maden wühlen; / Der Mastdarm immer roh [h: roth], von Buserieren wund, / Und so ein jeder Theil durchgehende ungesund.« und: »Die Zähen [h irrig: »Zähne«] bogenrund mit Warzen dicht besäet / An die sich Schmutz und Dreck in grossen Haufen blähet, / Auch die Gelenke alt, mit Krätz' und Gicht geschmückt / Und Eiterbeule dran, zur Zierde aufgedrückt.« Str. 6,1; h (mit einem andern Abschreiberversehen): »mit breiten, glatten Lippen« (statt »mit platten Lippen«, wie es im Sammeldruck und in ED richtig heißt). - Metrisch vollkommen sicher ist keiner der Textzeugen; so hätte im Sammeldruck Str. 1 wegen des Altemationsprinzips der Kadenzen der Reim frisiret - ausgezieret (statt -irt) heißen müssen; ebenso in Str. 5 (beide Stellen richtig nur in ED). In h ist die Alternation aber auch viermal verkorkst - In Str. 4 haben alle Zeugen bis auf h den Druckfehler im Reim übersäet - Lazareth. Str. 4,2 stumpf und unpolirt, schon] stumpf, wie Poliphen's, ganz ED [Druckfehler, in h sogar: Polipheus; gemeint ist: Poliphems]. - Str. 5,1 von Unrath] von [ED: voll, Druckfehler] Unflath. - Str. 6,2 An ... her] Um ... her (ED, h); großer Klippen] voller Klippen (ED; h: toller - doch wohl Druckfehler), Z. 4: Und trotz des Höllenpfuhls hoch prangend sich erhöhn (ED, h). - Str. 7 3 Geiser (wohl Druckfehler)] Geifer (ED, h). - Str. 10,1 [s]chlaffer] schlapper; 3 Puckel] Buckel. - Str. 11,1 Votze] F***. 2 Zerschrumpft] Verschnimpft. - 13,lf. »Ein krummes Knie, mit schiefen Säbelbeinen, / Die wie ein Römisch X sich zu durchkreuzen scheinen,« (ED, h) hat der Sammeldruck offenbar verschlimmbessert.
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le, daß dieses Motto schon 1784 einem Stolbergschen >SchönheitsAntipetrarkismusStolbergs< rückt zum Beispiel auch so ein dialektisches Gedicht von Georg Greilinger (1620-1677), das dann über die anonyme Sammlung Venus-Gärtlein (1656) weitere Verbreitung fand.116 Gegen-satz. An eine sehr häßliche Jungfraw. In voriger Melodey. 1. Grawes Haar voll Läuß vnd Nisse, Augen von Schablack von Flüsse, blawes Maul voll kleiner Knochen, halb verrost vnd halb zerbrochen.
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Vgl. Anm. 120. - Der Verlust des Mottos ließe sich übrigens leicht aus dem dort mitgeteilten Befund erklären: Es stand auf einem Umschlag, der beim Abschreiben nicht berücksichtigt wurde, und nicht am Kopf der Seite über dem Verstext. Etwa in Str. 12,3f., im Erstdruck: »Bis längst den Lenden fort der Strom herunterschießt, / und so mit drängem Lauf ins nahe Arschloch fließt.« Vgl. Jörg-Ulrich Fechner: Der Antipetrarkismus. Studien zur Liebessatire in barocker Literatur. Heidelberg 1966. Alexandri Adimari übersezte Schertz-Sonette oder Kling-Gedichte über die auch bey ihren Mängeln vollkommene und Lieb-würdige Schönheit des Frauenzimmers. In: Poetische Ubersetzungen und Gedichte. Leipzig, Breslau 1674, S. 177-244. Hrsg. von Max von Waldberg. Halle 1890, S. 178f. (Neudrucke deutscher Litteraturwerke des XVI. und XVII. Jahrhunderts, S. 86-89). Nach Waldbergs Nachweis im Vorwort (S. XXXIX) aus Greilinger (Waldberg schreibt Grefflinger): Seladons Weltlicher Lieder 1. Dutzend (1651), Nr. 10, S. 45.
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5. Schimpff der Jungfern vnd der Jugend, Unhuld aller lieben Tugend, Einöd aller plumpen Sitten, lästu dich zum freyen bitten.
Es hat mit seinen vierhebigen trochäischen Reimpaaren freilich ein völlig anderes Metrum, doch unser Verfasser mag es immerhin gekannt haben. Da passen die Alexandriner, die Joachim Rachels in diesem Genre gedichtet hat, schon besser; etwa Das Poetische Frauen-Zimmer oder Verkehrtes Weiber-Lob: Der Leib ist kurz und dikk, die Lippen auffgestutzt, Das Haar ist ungekämt, die Nas' ist ungeputzt. Die Brust und Hände sind mit koot und schweiß geschminkket, Das so von fernen hernach ihrer Farbe stinkket, f...]." 7
Aus diesem literaturgeschichtlichen Rückgriff ergibt sich aber nun, was den bisherigen Interpreten moralisch säuerlich aufgestoßen war und ihnen die Vorstellung unmöglich machte, eine bürgerlich anständige Person als Verfasser zu unterstellen. In Wahrheit haben wir es mit Attitüde zu tun, oder um es mit Sigmund von Birken zu sagen: man darf sich nicht allezeit an der Poeten Lieder kehren, mit denen es zuweilen heist: Das Hertz ist weit von dem, was eine Feder schreibt Wir dichten im Gedicht, daß man die Zeit vertreibt. In uns flamt keine Brunst, ob schon die Blätter brennen Von liebender Begier. Es ist ein blosses nennen." 8 -
Entgegen meiner früheren Annahme, die für unser Gedicht eine Verfasserschaft Stolbergs schlichtweg ausschloß, steht nun noch das Faktum, daß man von ihr in Göttingen im Jahr 1783/1784 fest überzeugt war. Nur ist leider bisher der Text, der aufgezeichnet gewesen sein muß, noch nicht wieder aufgefunden (s. nächste Seite), so daß wir nicht wissen, ob es der aus dem Wettstreit oder ein ähnlicher gewesen ist, den man Stolberg damals unterstellte. Ein wichtiger Hinweis findet sich bereits in einem Zyklus aus Epigrammen und Madrigalen,
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In: Satyrische Gedichte 1664/1667. In den NDL, Nr. 200-202, Halle 1903, S. 16; vgl. auch S. 144-147. Hierzu mag man noch Christian Weises Der Küster zu Plumpe stellen (leicht greifbar in Albrecht Schönes Anthologie Das Zeitalter des Barock, 3. Aufl., München 1988, S. 889-891. Auf Rachel und Weise wies mich neben anderem Jochen Schriever hin), und in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts findet sich etwa in den Kanthariden (Anm. 42; dort S. 320f.) noch in Vers communs ein Gedicht An Sacharissa - und damit hat es keineswegs sein Bewenden. Durch Hartmut Laufhüttes Freundlichkeit weiß ich endlich, wo die Verse stehen: Floridans Des Pegnitzschäfers Niedersächsische Letze [...]. Hamburg 1648, S. 17 - und kann sie korrekt bieten: Der öfter zitierte Text wird nämlich sonst immer verballhornt gegeben nach Max von Waldberg: Die Galante Lyrik. Straßbuig 1885, S. 142, der keine Quelle angibt; auch die an zwei Stellen (Ζ. 1 und 3) bessere Version in Waldbergs Deutsche RenaissanceLyrik, Berlin 1888, S. 79 ist offenkundig verderbt (damit die Kadenzen alternieren, wie es sich für den Alexandriner gehört, dürfen in Ζ. 1 und 2 keine paragogischen e stehen). Zur Sache vgl. Jürgen Stenzel: »Si vis me fiere« - »Musa iocosa mea«. Zwei poetologische Argumente in der deutschen Diskussion des 17. und 18. Jahrhunderts. In: DVjs 1974, S. 650-671.
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Die Reise nach - von 1.1. P. Schulz.119 Da weist der Verfasser in einem anderen Gedicht dieser Species gleich in der Anfangszeile wörtlich auf Stolbergs hin: Freund! Eine Schöne! - Stolberg malte eine Allein so wahr ich ehrlich bin! Die Seine Ist gegen meine Noch Grazie und Huldgöttin. Schwarz, kupferrot und fahl War die verschrumpfte Haut, und kahl Ihr wakkelnd Haupt. Die holen Augen waren Vor zwanzig Iahren Schon ihres Feuers beraubt Gewesen. Noch war sie nicht Von Zipperlein und Gicht, Von Riikkenschmerzen und Magendrükken, Von ausgefaulten Zahnlükken, Von tausend Fisteln, engbrüstigen Keuchen, Von allen Arten venerscher Seuchen Genesen. So eine Schöne im Baade zu sehn, Macht alle Lust zum Dichten vergehn.
Beweiskräftig scheint auch das Vorderblatt des in einer mir unbekannten Handschrift bezeichneten Umschlags, der einst dies Gedicht enthalten hat (wenn auch vermutlich nicht autograph) mit dem folgenden Avis au Lecteur. Friedrich Leopold Graf zu Stollberg und Bürger studirten zugleich in Göttingen. Zufolge einer Tradition soll einst ein Wettstreit unter ihnen beliebet seyn, in welchem der den Preis davon tragen sollte, welcher die meisten und stärksten Ekel und Abscheu erregenden Ideen in einem Gedichte vereinigen würde. Nach angestellter Vergleichung der Producte räumte Bürger seinem Gegner willig den Vorzug ein, und dieser Veranlassung verdankt die Nachwelt dieses reizvolle Bild von der Meisterhand des Grafen zu Stollberg. Gottingen im August 1784.120
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Vermischte Gedichte (gedruckt in Antiqua; bei Barmeier Göttingen 1783, hier S. 18f.). Consentius wies bereits auf diese Verse hin (Anm. 26), S. 403 und druckte den hier zur Rede stehenden Text ab. Heinrich Tuitje in Göttingen hat mir freundlicherweise eine Kopie des Originals beschafft. - Hinter den Initialen verbirgt sich der Consentius wie dann auch Goedeke in seiner 3. Aufl. 1916 ganz unbekannte Johann Julius Peter Schulz aus Friedland in Mecklenburg-Strelitz, geboren Anfang der 60er Jahre (dies nach Hamberger/Meusels Gelehrtem Teutschland. 4. Aufl. 2. Nachtrag. Lemgo 1787, S. 348), als stud. jur. in Göttingen immatrikuliert am 8. 10.1781, über dessen ferneres Ergehen ich aber sonst auch nichts beizutragen weiß. Erich Ebstein weist in den Süddeutschen Monatsheften 4, 2, 1907, S. 418 noch daraufhin, daß Schulz Mitglied einer kleinen literarischen Gesellschaft in Göttingen war, der Bürger als Ehrenmitglied angehörte. SUB Göttingen, Ms. Philos. 1992: 24. Auch diesen Hinweis verdanke ich Heinrich Tuitje. - Der Separatdruck, den Hayn/Gotendorf (Bibliotheca, Anm. 22), Bd. 8, 1914, S. 289 erwähnen, folgt gemäß der Beschreibung dort vermutlich der Version im Amethyst (Anm. 48), hat also keinerlei textkritischen oder gar argumentativen Wert. Ärgerlich, daß die Angabe von dort in Hirschbergs Taschengoedeke (dtv-Ausgabe München 1990, S. 597) geriet -jetzt sucht man nach einem Einzeldruck, o.J. (ca. 1790)!
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Auf der Rückseite steht dann das Motto (»Vivat! wer ohn allen Ekel« etc.); der eigentliche Text fehlt allerdings, und auch das Zwillingsblatt (die Rückseite des Umschlags) ist 2Vi Zentimeter vom Falz abgeschnitten. Es sind dort außer einer Marginalschrift »gehört zu dieses« nur noch ein paar Gliederungs- oder Anmerkungsbuchstaben (a.-d.) und unter »(a.)« Wortanfange (»Die / Der [über gestr. r] / g / üb /«) erkennbar, die sich jedoch nicht auf unsere Ode beziehen lassen. Im Verfasser wird man gemäß seiner Schreibung des Namens Stolberg und zumal in der Ausschmückung der Details nicht den völligen Sachkenner erblikken, auch ist der Ton unverkennbar ironisch, und Schulzens Gedicht wie dieses Blatt beweisen ebenso wenig Stolbergs Verfasserschaft, wie Bürgers Ehrenerklärung sie widerlegte - aber das Datum zeigt zweifelsfrei, gleichgültig, ob der Graf nun als Verfasser dingfest zu machen ist oder nicht, wie früh bereits die Fama von dem Wettstreit und zumindest der eine der Texte in der literarischen Öffentlichkeit wenigstens Göttingens kursierte. Wir müssen indessen doch wohl eine Stolbergische Häßlichkeitsdarstellung annehmen, da sich die Zeugnisse zeitlich und räumlich ziemlich dicht an die Begebenheit anschließen - hätte sie denn stattgefunden: Solange die nicht gefunden ist und sich als eine harmlosere Variante erweist, können wir prinzipiell nicht ausschließen, daß die im Wettstreit abgedruckte nicht doch vom keuschen Grafen stammt oder wenigstens auf eine von ihm zurückgeht. Selbst die Möglichkeit, daß einer von ihm genommenen Abschrift aus Ignoranz seine Autorschaft unterstellt wurde, läßt sich nicht völlig verwerfen.121 Ich will trotzdem mit den wenigen verbliebenen sicheren Daten und härteren Fakten den Vorgang vermutungsweise folgendermaßen rekonstruierend zusammenfassen: Es dürfte tatsächlich einmal einen poetischen Wettstreit in Göttingen gegeben haben; wer von den dreien wirklich dabei war oder ob es etwa mehrere Wetten waren, wissen wir nicht, auch nicht, welche Gedichte dabei herauskamen. Daß Bürger ein paar Priapeia verfaßt hat, von denen wir wenigstens eins (und ein paar Zeilen in anderen) kennen, ist sicher, aber dieses hier war nicht von ihm und ist zudem noch eine Nachdichtung; daß Stolberg ein Häßlichkeitsgedicht geschrieben oder wenigstens abgeschrieben hat, ist ebenfalls wahrscheinlich, seine Verfasserschaft bleibt höchst fraglich; Voß schließlich, wenn er denn mit von der Partie war, hat anscheinend alle Spuren verwischen können, und das ihm zugeschriebene ist eine Nachdichtung. Daß der hier zur Rede stehende Druck, der wohl zwischen 1797 und 1820 erfolgte, keinesfalls authentisch und vielleicht sogar eine Mystifikation ist, ergibt sich aus der Überlieferung und vor allem im Licht der wirklich etwas plump falschenden Zuschreibung des Burgerianums. Wir müssen annehmen, daß die spätere Berühmtheit der drei Dichter hierzu Anlaß gegeben hat. Wer in Wahrheit hinter diesem Druck der Phantasien steckt: Wer nämlich die Texte 121
Wie mir Jürgen Behrens mitteilt, müssen wir den gesamten nur von dem reichlich tendenziösen Johannes Janssen verwendeten und damit de facto ungenutzten Nachlaß der Brüder als endgültig verloren (im Krieg verbrannt) betrachten.
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gedichtet und übersetzt, dann vielleicht umgedichtet beziehungsweise gesammelt und den Druck überwacht hat, muß leider vorläufig noch unbekannt bleiben. Genauer Sachkenntnis erfreute der Anonymus sich, vielleicht wußte er ja sogar, daß Bürger jenes Beispiel aus der Götter- und Animalerotik (»Der Elephant von hinten« etc.) gekannt hat. Man darf den Urhebern des Drucks die Kenntnis der gedruckten Actenstücke über einen poetischen Wettstreit 1791 (1793) unterstellen; die von Bürgers postum gedruckter Abwehr der Stolbergschen Verfasserschaft und vielleicht von Stolbergs Schönen (zumindest doch von dem Wissen nach Hörensagen über sie) scheint mir unabweisbar; schon die Veränderung des Gedichttitels (von >Non plus ultra< zwar nicht zu Bürgers zukünftiger Geliebtem, aber doch zur zukünftigen Gattinbeschädigt< wird, nicht nur die Stoibergs, können wir eine bestimmte literarische Partei(ung) im Streit nicht einmal vermuten. Ein unwürdiger Gegenstand für so viel Aufwand? Sie sahen, diese an sich volkstümlich-trivialen, teilweise sogar mediokren Texte haben doch schon beträchtliche Mengen Staubes aufgewirbelt, gaben vor allem deutlich mehr her, als man auf den ersten Blick hätte vermuten können: editorisch, wertungs- und geschmacksgeschichtlich, literatursoziologisch natürlich, motiv- und kulturgeschichtlich und sogar komparatistisch. Immerhin wissen wir jetzt, daß zwei dieser ohnehin auf schematische Varianz angelegten und damit leicht erweiterungsfähigen Texte Übersetzungen bzw. Nachdichtungen nach dem Französischen sind, der dritte in einer bestimmenden Tradition steht. Meine Erwägungen sollen auch nicht zuerst und vor allem Verfasserschaftszuordnungen vornehmen oder bestreiten, auch wenn da größte Zweifel angebracht sind. Seien Sie gerade in diesem Punkt zum guten Ende ganz unbesorgt: Meine Überlegungen werden sicher nicht dazu fuhren, daß die drei wenigstens bemerkenswerten und eben für das Methodische überaus interessanten Texte aus den Anthologien verschwinden werden. Und da es nun einmal viel spannender ist, an solche Eskapaden unserer Dichter zu glauben als an eine Mystifikation, so wird den Dreien auch weiterhin die Verfasserschaft ohne Fragezeichen angeheftet bleiben. Bürger
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hen 20. Jahrhunderts um Franz Blei, Erich Ebstein, Carl Georg von Maaßen, Eduard Grisebach, Hans von Müller sind derlei Mystifikationen mehrfach vorgekommen (man denke an die Sammlung von Briefen aus dem späten 18. Jahrhundert oder die berühmten angeblich Schlegelschen obszönen Sonette). Vgl. Anm. 46. Vgl. Lichtenberg, Briefwechsel (Anm. 33), Bd. 2, München 1985, Nr. 924 und EiTata dazu in Bd 5.
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spreche ich sie dagegen glatt ab (weil seine Ode allerspätestens bereits 1765/70 aufgezeichnet wurde), bei Voß (nichts sicher bekannt) und Stolberg (Ode aufgezeichnet spätestens 1784, gedruckt erstmals 1788) sollte man doch wohl nach dem in unserem Rechtssystem gültigen Prinzip der Unschuldsvermutung den positiven Beweis abwarten und nicht umgekehrt von den Beklagten einen negativen Nachweis fordern - Gründe für den Zweifel an der Autorschaft zumindest in der vorliegenden Form habe ich wohl genug angeführt. Nachtrag: Otto Holzapfel (Deutsches Volksliedarchiv Freiburg) teilt mir freundlicherweise noch einen weiteren Nachweis für das angebliche StolbergGedicht (samt Kopie) mit: in einer undatierten Liederflugschrift Drey schöne neue Lieder. Das Erste. Wahl meiner künftigen Gattin und ihrer Eigenschaften (SuUB Hamburg, Serin A 56, Nr. 57). Aus der Hamburger Druckerei (richtig wohl: Altonaer, zumal da das dritte Lied darin den Titel trägt: In unsrer Königl. Residenz zu Kopenhagen) des Johann Michael Brauer und damit zwischen 1751 und 1829 gedruckt. Dieser Druck hat typische Fraktur des 18. Jahrhunderts und vor allem Kustoden, ist also wahrscheinlich vor 1800, vielleicht vor 1790 zu datieren. Er weist nun nicht nur denselben Strophenbestand und identische Überschrift auf, sondern auch sämtliche charakteristische Leitfehler des Wettstreit-Drucks (s.o. Anm. 108-113; insbesondere Str. 6,1 mit dem fehlenden Versfuß, Str. 4,3 »übersäet« usf. - nur das Motto und der Druckfehler »Geiser«, Str. 7,3, unterscheidet ihn): so daß ich unbedingt ihn und nicht den Erstdruck (s.o. Anm. 91) für dessen Druckvorlage halten würde, wenn das Motto nicht schon in der Handschrift von 1784 stünde. - Meine stratische Mutmaßung: Norddeutschland wird durch diesen Hinweis jedenfalls noch etwas erhärtet. Erst jetzt sehe ich, daß Gerd Rosen im Katalog XXXII (11.-15. 5. 1959), S. 1517 einen ungedruckten Aufsatz von Johannes Prinz mitteilte, der auch schon ein paar meiner Argumente enthielt, von Rosen aber wieder in Zweifel gezogen wird. Nur den Hinweis von Prinz auf Parallelen zwischen Stolberg und Swift (also die antipetrakistische Tradition) habe ich noch nicht.
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Anhang: Erläuterungen zu den Texten Ein paar sprachgeschichtliche Fingerzeige und literarische Querverweise werden vielleicht willkommen sein. Die mythologischen Namen bedürfen mit Ausnahme der Korruptele 11,1,1 und zur Begründung ihrer Emendation wohl größtenteils (noch) keiner Erklärung, gewiß aber verdient der Wortschatz, vor allem der vulgäre und sexuelle, historischer Überprüfung und literaturhistorischer Bezugnahme (DWb meint, wenn nicht anders angegeben, Grimms Deutsches Wörterbuch, dessen Vorurteilsfreiheit man nur immer bewundern kann; Bw ist Lichtenbergs Briefwechsel 1983-92 (vgl. Anm. 33); SB: desselben Schriften und Briefe, hrsg. von W. Promies 1967-1992), Bürgers Briefe an Dieterich zitiere ich nach meiner Ausgabe 1988, DjG ist Der junge Goethe (hrsg. von H. Fischer-Lamberg: wie Anm. 8). Ich gebe diese Erläuterungen, zu denen ich auch Hans von Müller (Der Amethyst 1906) und Jochen Schriever (Examensarbeit 1990) geplündert habe, möglichst nur an der jeweils ersten Stelle: Motto: nach Luthers Übersetzung, mit folgenden geringen Abweichungen gegenüber dessen Wortlaut: lieblich] wie lieblich; Geruch] Ruch. - Welche Fassung beziehungsweise was für eine Ausgabe unser(e) Herausgeber zugrunde legte(n), ist mir nicht bekannt; auch Anne Bohnenkamp, die sich z.Zt. intensiv mit //oAe/ierf-Übersetzungen befaßt, konnte mir nicht helfen.
/. 1.1 knallet] DWb 5, 1336; gemeindeutsch, spätestens seit dem 18. Jhdt. verbürgt, aber anscheinend nie so recht schriftsprachlich geworden; in den letzten Jahrzehnten (wieder oder immer noch?) vulgär beliebt. Der schauderhaft unkritische Ernest Bornemann (Sex im Volksmund. Reinbek bei Hamburg 1971 u.ö.) hat es auch. 1.4 zwölf Jahren] also noch vor der damals üblichen Heiratsfahigkeitsgrenze (Konfirmation, 14 Jahre). Der frühe Verlust der Jungfernschaft ist ein uralter Topos (12 J. etwa auch in Amors Reise nach Deutschland in den Kanthariden S. 62). 1,6 Fuchsschwanz] hier jedenfalls in keiner der 13 Bedeutungen (davon 8 Pflanzennamen), die DWb 4,1, 351-354 hat, sondern natürlich Penis; streiten kann man sich, ob die Amphibolie aus Fuchs (Student der ersten Semester; s.o. bei Anm. 98, wo Bürger durch die Unterstreichung sicherlich auch auf einen solchen Nebensinn zielt) und fuchsen (s.u. 9,2) intendiert war. 2.2 Kaninen] so, nicht >Kaninchen< ist wegen des Reims zu lesen; zur Form ohne Diminutiv gibt das DWb 5, 161 Nachweise aus Rollenhagen bis Werder; Opitz, ganz unobszön: »die samenreiche Zucht der flüchtigen Caninen« (3, 174). (Höger - s.o. Anm. 2 5 - 1981, 267, will den Reim durch »Mienchen« in der folgenden Zeile heilen, das ist Unsinn). 2.5 Boll] Bulle. 3,5 Rauh] auch Rauch: Pelz (DWb 14,1893, 264); hier natürlich metaphorisch: Vulva. Vgl. Goethe, Hanswursts Hochzeit: »Rauch Else« (DjG 5, 1973, 188, Z.
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31); in der Crailsheim-Handschrift p. 211, Nr. I l l (Α. Kopp, Deutsches Volksund Studentenlied 1899, 106): »offt ist ein schönes Kind / verlezt an ihrem Bauche, / nicht weit von ihrer Rauche / von ohngefehr verlezt / das ist, was uns ergözt«. 4,6 Rosenstrauch] Über die volkstümlich verbreitete Symbolik der Rose, hier vermutlich vor allem der wilden Rose (Hecken-, Buschwindrose, Hagebutte) vgl. eingehend Dr. Aigremont: Volkserotik und Pflanzenwelt. Leipzig 1910, 1, 110-119 (ein Zusammenhang zu Juno wird dort nicht erwähnt). 5,6 Lanze ... beschlagen] Lanze ist wie Speer und Messer eine ziemlich typische Metapher in dieser Art Literatur; fragt sich, ob aus Wunschdenken, Selbstüberschätzung oder bloß ungenauem Hinsehen entstanden. Vgl. (z.B.!) Lina's aufrichtige Bekenntnisse oder die Freuden der Wollust. Padua, bey Pietro Tarone O.J. [d.i. Berlin bei Himburg, um 1795] Neudruck, hrsg. von Matthias Luserke und Reiner Marx. Bodenheim 1995, 12 (Spieß. 33, Speer). - Hinweis auf den Hochzeitsbrauch: Das Bett beschlagen (DWb 1,1573). 6,2 von solchem Schrote] redensartlich >von gleichem Schrot und Korn sein< (aus dem Münzwesen: korrekte Menge und Edelmetallgehalt in der Münze haben). 6,6 Büchse] vgl. Spritzbüchse (DWb 10,2,1, 126 und Goethe, Hanswursts Hochzeit). 8,6 fiinf und zwanzig] >jeder Zoll ein InchZwölfzöllernficken< und wegen des Fuchsschwanzes (s.o. 1,6) in diese Bedeutung geraten. 10,5 reiten] vgl. zu dem hier vorliegenden metaphorischen Gebrauch zum Beispiel Büiger an Dietench 2. 3. 1778; Lichtenberg an Schernhagen 1. 10. 1778 (Bw Nr. 536). 11,4 sammtnen Dinger] künstliche Penisse, Dildos, Godemichés (gaude mihi). W. Heinse erinnert in seiner Petronius-Adaption Begebenheiten des Enkolp (Sämtliche Werke hrsg. von C. Schüddekopf 2, Leipzig 1903, 53, Anm.), daß sie die »deutschen vornehmen Damen Sammthanß [fehlt im DWb] zu benennen pflegten«; Schillers »Sammetglieder«, die »ein Mädchen [...] schwang« sind hiermit jedoch nicht zu identifizieren. - Vgl. auch Lina 's aufrichtige Bekenntnisse (s.o. zu 5,6) 1995, 8 (dort aus Fell verfertigt). 37; ferner findet sich eine detaillierte Beschreibung in Honoré Gabriel Riquetti Comte de Mirabeau, Der gelüftete Vorhang oder Lauras Erziehung [franz.: Le Rideau levé, ou l'Education de Laure, 1786]. Dt. von Eva Moldenhauer. Frankfurt 1971, 169— 172. S. auch Bilderlexikon der Kulturgeschichte. Hrsg. vom Institut für Sexualforschung 1930 (Neudruck 1961): 1,418-420.
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II. 1,1 Votzen] vgl. Bürger an Dieterich 7. 10. 1779 und 10. 8. 1780 (»Vozen«, »V...«); bei Lichtenberg: » F + + Z + + « (BW Nr. 50). Goethe stellt es mit drei Auslassungspunkten in den Reim auf »Trotze«, aber aus den Personenverzeichnissen zu Hanswursts Hochzeit wissen wir doch, wie er es geschrieben hat (»Schnuckfötzgen«; »Fozzenhut«: DjG 5, 1973, 187, Z. 10; 189, Z. 2). Bei Grimm jedenfalls zu suchen unter >F< (DWb 4,1,42ff.). 1.1 neun Pindus-Luder] so, nicht »Pindars-L.« ist zu lesen, hier liegt ein Übersetzungs- oder Druckfehler vor: Die neun Musen. Sie haben seit römischer Zeit ihren Sitz zwar vor allem auf dem Parnass in Mittelgriechenland, seit Virgils Eklogen ist ihnen und ihrem Führer Apoll aber auch das Pindos-Gebirge »gewiedmet« (Hederichs Gründliches Mythologisches Lexicon). 1,3 Bruder] Eigentlich hat Apollo keine Brüder; aber der »ferntreffende« (Ilias) Bogenschütze hat eine gewisse Verwandtschaft mit dem kleinen >verbuhlten< und Pfeile verschießenden Liebesgott Cupido - und stammt aus Kleinasien wie der mit diesem gern fürs Körperliche in Verbindung gebrachte Priap. 1.2 geigt] vgl. DWb 4,1,2, 2573; 2578; weitere Beispiele auch in Bw 3, Nr. 1354 (S. 40,45). 1.7 Klöth] Kloß, metaph. Hoden (DWb 5,1247 s.v. Kloß); ist noch heute (meist nicht umgelautet) vulgär gebräuchlich (metaph. >Bullenklot< = Frikadelle). Thomas Manns Klöteijahn ist aber ausdrücklich nicht, wie van Rinsum (Lexikon literarischer Gestalten 1988, 257) glaubt, hierauf zu beziehen (müßte dann Klötenjahn heißen!). 1.8 Röhren] vgl. Lichtenberg im Sudelbuch E 8 (SB 1,349). 2,7 kaltem Bauer] Ejakulat, onaniertem Sperma (DWb 1, 1175); noch heute vulgär lebendig. 2,10 Lenden] Unterleib, insbesondere Scham und Keimdrüsen. 3.5 Tempel] wie die folgenden paganen Sakralisierungen in der erotischen Dichtung; Günther: »Ich schencke dir der Wollust Most / Zum Opfer in der Keuschheit Tempel« (Sämtliche Werke, hrsg. von Wilhelm Krämer 1, Stuttgart 1930, 52, Z. 19f.). Offenbar ein uralter Topos (antik?) - bis hin zur Polemik der Hainbündler gegen Wieland ^schlachtet die Unschuld auf dem Altar der Wollustopferten beide< u.ä.). 3.6 vögle] wohl unsere älteste noch lebendige Vokabel für kopulieren, schon mittelhochdeutsch verbürgt (vgl. DWb 12,2, 432); Goethe: »Und hinten drein komm ich bei Nacht / Und vögle sie, daß alles kracht« (Hanswursts Hochzeit: DjG 5, 1973,193, Z. 25f.). 3.7 Zwölfmal] wohl hyperbolisch und eher an die kultische Zwölfzahl (DWb 16, 1448; SB 3, 411) angelehnt (Dodekathlon des Herakles, 12 Stämme Israel, dito Apostel). In der Dichtung und zu unserem Motivkreis hier vgl. Rufinos, der in der Anthologia Graeca Buch 5 Nr. 61 (1, 291) den Liebhaber zu seinem Mädchen sagen läßt: »Zwölfmal hab ich getroffen. Komm morgen nur wieder, ich treffe / Wiederum zwölfmal ins Ziel oder noch öfter. Ich kann's.« etc.
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4,3 Sperling] dem wird seit alters enorme Zeugungsgier nachgesagt (vgl. auch Bw 1354 S. 41; für Johann Heinrich Zedlers Universal Lexicon ist der Sperling ein »verachteter, schädlicher, geiler und listiger Vogel« (38,1743,1509f.) 4,10 Bürger ... Edelmann] höchstens ein Verrückter oder ein Dekonstruktivist (was auf dasselbe hinausliefe) käme auf die Idee, diese Zeile auf die Streitenden, B. und Stolberg, zu beziehen: Im Exemplar des Hamburger Antiquariats hat jemand sich das am Rand notiert. 6.2 Cynicker] Diogenes von Sinope, der, »wenn ihm was ankam, er sich nicht scheuete, es auf öffentlichem Marktplatz zu thun« (Zedier 7, 1734, 977) - so soll er einst onanierend den staunenden Mitbürgern zugerufen haben: »Was wollt ihr? Ich wollte, ich könnte die Gelüste meines knurrenden Magens auf ähnlich einfache Art stillen!« (Honoré Gabriel Riquetti Comte de Mirabeau, Erotische Schriften übersetzt von Johanna Fürstauer. Wiesbaden [1978], 198— 201).
III. Motto, 2 Gassen-Reckel] Gassen-Flegel; >R.< seit dem 17. Jhdt. belegt (DWb 8, 444f.); s.a. Lichtenberg D 667 (SB 1, 338). 1.3 ruprigt] grindig. Für das Adjektiv habe ich zwar keinen lexikalischen Nachweis gefunden, aber >Rupp< ist Grind, Schorf (vgl. Mitzka, Schles. Wb 2, 1964,1151); wohl kaum mit >ruppig< (von rupfen) verwandt. 3.4 Pettig] nicht bei Grimm; möglicherweise verballhornt Petesche (= Petechie): flohstichähnlicher Flecken ohne Punkt in der Haut, namentlich beim Fleckfieber. (Sanders' DWb 2, 518; 519), daher Petetschen (= Pocken, Beulen, Blattern), s. Mitzka, Schles. Wb 2,1964,981 (mit vielen Belegen). 4,3 Finnen] Blattern (DWb 3,1665 mit Belegen aus Wieland). 8.3 Scharbock] Mundfäule (Skorbut); vgl. DWb 14,2177f. 9.4 Fistel] damals noch maskulin: eiterndes Geschwür (DWb 3,1691). 10.2 Filzläuse weiden] vgl. Bürger, Die Wunderwerke im Brief an Dieterich 20. 7. 1780 (s.o. bei Anm. 40): »Wer weidet um den Zebedeus [= Penis] / Zahlloser Morpions Geschmeis? / Der große Schäfer hats gethan, / Der Millionen weiden kan;« etc. 10.3 Puckel] Buckel; nicht notwendig oberdeutsch. 10.4 Rad... Galgen] Hinrichtungsgerätschaften für Schwerverbrecher. 11,4 Chanker] auf dem Übergang von >chancre · Β
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Georg und Therese Forster Aspekte einer gescheiterten Zusammenarbeit
1. Vorbemerkung Wenn zwei Persönlichkeiten über ihre Werke oder aber im Hinblick auf die gemeinschaftliche Gestaltung eines Werkes und in dem Zusammenhang über Fragen der Ästhetik miteinander auf einer literarisch dokumentierten Ebene kommuniziert haben, so läßt sich eine solche Kooperation als literarische Zusammenarbeit beschreiben und abhandeln. Die bekannten Beispiele sind aufgrund der sozialgeschichtlichen Bedingungen von Produktion und Überlieferung überwiegend solche des literarischen Kanons. So wird in diesem Band erst für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts mit Ingeborg Bachmann auch eine Autorin als gleichberechtigte Partnerin einer künstlerischen Zusammenarbeit (wie es vielleicht genauer heißen sollte) präsentiert.1 Für Frauen des ausgehenden 18. und des 19. Jahrhunderts wie Therese Forster-Huber und Betsy Meyer boten sich solche Möglichkeiten, selbst produktiv (und nicht nur mithelfend und unterstützend) schriftstellerisch-künstlerisch tätig werden und damit im Sinne der genannten Definition eine literarische Kooperation mitgestalten zu können, jedoch noch nicht oder nur selten oder auf andere Weise.2 Will man den Anteil von Frauen an künstlerischer Zusammenarbeit für die Zeit vor dem 20. Jahrhundert sichtbar machen, so müssen Fragestellungen und Analysespektren erweitert werden. Man wird bei dieser Spurensuche nach Ansätzen zu einer Kooperation und nach Gründen für das Nicht-zustande-kommen oder Scheitern fragen müssen. Die in solchem Kontext gem angeführte Zusammenarbeit des Schriftstellerehepaares Johann Christoph und Louise Adelgunde Victorie Gottsched diente in erster Linie der Unterstützung seiner Projekte und wurde von den Beteiligten auch als solche legitimiert.3
1 2
3
Vgl. den Beitrag von Bodo Plachta in diesem Band, S. 285-302. Vgl. die Beiträge von Rosmarie Zeller und Hans Zeller in diesem Band, S. 157-166, 167195. Magdalene Heuser: Das Musenchor mit neuer Ehre zieren. Schriftstellerinnen zur Zeit der Friihaufklärung. In: Deutsche Literatur von Frauen. 2 Bde. Hrsg. von Gisela BrinkerGabler. München 1988, Bd. 1, S. 293-313, hier S. 302-307. Zur Zusammenarbeit des Ehepaars Johann Jacob und Emestine Christine Reiske vgl. Anke Bennholdt-Thomsen, Alfredo Guzzoni: Gelehrsamkeit und Leidenschaft. Das Leben der Emestine Christine Reiske 1735-1798. München 1992.
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Magdalene Heuser
Therese Huber ist erst nach dem Scheitern ihrer Ehe mit Georg Forster Schriftstellerin (Romane, Erzählungen, Essays, Reisebeschreibungen, Briefe) und Redakteurin (Cottas Morgenblatt für gebildete Stände) und als solche berühmt geworden. Schon ihre Jugendbriefe dokumentieren neben der kommunikativen eine selbsterzieherische Funktion in Richtung auf die Entwicklung einer literarischen Kompetenz.4 Das beinahe tägliche Schreiben an andere diente der Erprobung und Übung ihres kritischen Urteilsvermögens, wie im Brief vom 27. Oktober 1782 über den Autor Rousseau und seine Werke,5 und ihrer literarischen Ausdrucksfähigkeit, wenn sie diese wie zum Beispiel im Gartenbrief vom 10. Juni 1782 spielerisch vorführt und kommentiert.6 Zwar bemühte sie sich während der ersten Jahre ihrer Ehe mit Forster bereits von Wilna aus um Aufträge für Zeitschriftenbeiträge und Übersetzungsarbeiten; eine eigenständige schriftstellerische Tätigkeit hat Therese Huber aber erst nach dem Ende der Forster-Ehe begonnen.7 Das Scheitern einer zwar immer wieder angestrebten, jedoch allenfalls in Ansätzen realisierten literarischen Zusammenarbeit steht - so ist zu vermuten - in einem Zusammenhang mit dem Scheitern dieser Ehe. Auf welchen Ebenen und mit welchen zeitlichen Verschiebungen im Falle von Therese und Georg Forster ein eher rezeptionsorientiertes Zusammenwirken als eine produktionsorientierte Zusammenarbeit stattgefunden hat, soll im Folgenden untersucht werden. Ich stütze mich dabei auf Werke und Briefe beider Autoren.8 Dabei unterscheide ich zwischen Ansätzen und Formen der Zusammenarbeit zu Lebzeiten Georg Forsters einerseits, die den ersten Teil meiner Ausführungen ausmachen werden, und Therese Hubers erinnerter Vergegenwärtigung ihres Zusammenlebens mit Forster, seiner Persönlichkeit und seines Werks in ihren Briefen und durch die Veröffentlichung seiner Biographie (1829), die ich im zweiten Teil vorstellen werde. Eine Revision des einseitig verzerrten Bildes des Forster-Paares ist längst überfallig. Sie soll hier zum ersten Mal auf der Grundlage des bis in die jüngste Zeit im wesentlichen unberücksichtigten, inzwischen aber weitgehend erschlossenen Brief-Werks von Therese Huber versucht werden, und zwar unter dem thematischen Aspekt dieses Bandes. Deutlich machen möchte ich, daß es hier nicht in erster Linie um Scheitern und gegenseitige Behinderung - das bisherige Bild der Forster-Ehe und insbesondere der
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Vgl. Therese Huber: Briefe. Hrsg. von Magdalene Heuser. Bd. 1: 1774-1803. Tübingen 1999 (Zitiertitel: BTH). An Luise Mejer, BTH (Anm. 4), Bd. 1, Nr. 22. An Luise Mejer, BTH (Anm. 4), Bd. 1, Nr. 10. Ab 1793/1794, s. Anm. 33. Zur Korrespondenz von Georg und Therese Forster bis 1794 vgl. Georg Forsters Werke. Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe. Hrsg. von der Akademie der Wissenschaften der DDR. Bd. 14-17. Berlin 1978ff. (Zitiertitel: AA); Th. Huber, Briefe (Anm. 4).
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Rolle Therese Forsters - , 9 sondern vor allem um Gedächtnis und Überlieferung geht. 1 0
2. Z u s a m m e n l e b e n und -arbeiten Georg Forster, als Weltumsegler und Verfasser der Beschreibung dieser Reise um die Welt bereits berühmt und nach seiner Rückkehr nach Deutschland vor allem in den Universitätsstädten mit Aufmerksamkeit begrüßt," machte kurz nach seiner Ankunft in Kassel bereits Ende Dezember 1778/Anfang Januar 1779 einen Besuch in Göttingen, bei dem er auch Therese Heyne zum ersten Mal begegnete. 1 2 Aber erst bei Forsters Abschiedsbesuch in Göttingen vor seiner Abreise nach Wilna kam es am 18. April 1784 zur Verlobung »ohne eine abgeschlossene Verabredung« mit Therese Heyne, die Anfang Mai noch durch einen Brief von Georgine Heyne bestätigt werden mußte. 1 3 Die Verlobten lernten sich durch ihren Briefwechsel zwischen Frühjahr 1784 und
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Zum Bild von Therese Huber als »Meisterin der Verstellung und der Pose«, die alles zu ihren Gunsten arrangiert, inszeniert und reflektiert habe, vgl. Paul Zincke: Georg Forster nach seinen Originalbriefen. 2 Tie. Dortmund 1915, T. 1: Textkritischer Teil. Grundriß zu einer hist. krit. Ausg. von G. Forsters gesammelten Briefen mit besonderer Berücksichtigung der Fälschungen Ludwig Ferdinand und Therese Hubers, T. 2: Biogr.-hist Teil. Georg Forsters Ehetragödie; Detlef Rasmussen (Hrsg.): Goethe und Forster. Studien zum gegenständlichen Denken. Bonn 1985, darin folgende Beiträge: Detlef Rasmussen: Georg Forster und Goethes Hermann und Dorothea. Ein Versuch über gegenständliche Dichtung, S. 5479; Ders.: Georg Forsters Mainzer Zirkel und Goethes Wahlverwandtschaften. Ehe, Liebe und Scheidungsverweigerung als Themen gegenständlicher Dichtung, S. 80-149; Manfred Osten: »Mit dem Gewissen verheiratet«. Ein Versuch über die Gestalt der Ottilie in Goethes Wahlverwandtschaften, S. 10-163; zur positiven Würdigung von Leben und Werk Therese Hubers vgl. Wulf Köpke: Immer noch im Schatten der Männer? Therese Huber als Schriftstellerin. In: Detlef Rasmussen (Hrsg.): Der Weltumsegler und seine Freunde. Georg Forster als gesellschaftlicher Schriftsteller der Goethezeit. Tübingen 1988, S. 116-132. Vgl. Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1999, T. 1: Theoretische Grundlagen, S. 15-160. Georg Forster: A Voyage round the World, in His Britannic Majesty's Sloop, Resolution, commanded by Capt James Cook, during the Years 1772, 3,4 and 5. 2 Bde. London 1777 (dt.: G. Forster [Ubers.]: Johann Reinhold Forster's Reise um die Welt, während den Jahren 1772 bis 1775 [...]. 2 Bde. Berlin 1784). Zum ersten Aufenthalt Georg Forsters in Göttingen vom 21. Dezember 1778 bis 4. Januar 1779 und zum Kennenlemen vgl. BTH (Anm. 4), Bd. 1, Nr. 63, Anm. 35; Therese Heyne an Luise Mejer, 5. Januar 1783: »denken Sie sich daß schwärmerische 16jährige Mädchen die nach so viehler Mühe sich endlich treuherzig überredet hat sie nehme gar züchtiglich großen Antheil an den Weltenfahrer den Otaheiten! Luiße, lachen Sie doch mit! Ich mit einen Philosofen hinter den Spinnrocken, einen Alchimisten, einen Roßenkreuzbruder [...]« (BTH [Anm. 4], Bd. 1, Nr. 33° [Jena TULB]). Therese Huber: Johann Georg Forster's Briefwechsel. Nebst einigen Nachrichten von seinem Leben. Hrsg. von Th. H., geb. H. 2 Tie. Leipzig: F. A. Brockhaus 1829, T. 1, S. 36; vgl. AA (Anm. 8), Bd. 14, Nr. 20; 21 ; 24.
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Sommer 1785 etwas näher kennen,14 bevor sie am 4. September 1785 in Göttingen heirateten. Das Paar lebte in Wilna/Polen (8. 11. 1785-Ende August 1787), für eine Übergangszeit in Göttingen (16. 9. 1787-24. 9. 1788) und danach in Mainz (2. 10. 1788-7. 12. 1792) bis zu Therese Försters Flucht mit den Kindern nach Straßburg und in die Schweiz. Damit wurde praktisch die Trennung der Forster-Ehe eingeleitet, die zur Scheidung fuhren sollte. Das letzte Treffen in Travers (3.-5.11.1793) mit Georg Forster, der aus Paris anreiste, und Therese Forster mit den Kindern Therese und Ciaire Forster sowie dem Freund Ludwig Ferdinand Huber, die aus Neuchâtel kamen, erfüllte nicht zuletzt eine der nach französischem Recht, dem Code du Divorce von 1792, vorgeschriebenen Voraussetzungen für die Scheidung.15 Sie wurde nicht mehr durchgeführt, da Georg Forster am 10. Januar 1794 vor Ablauf der juristisch für die Scheidung festgelegten Frist in Paris starb. Welche Bedingungen und Formen einer literarischen Zusammenarbeit beziehungsweise eines Zusammenwirkens hat es in dieser Ehe zweier - so wird man aufgrund der Werke und insbesondere der Briefe von Therese Huber wohl sagen dürfen - intellektuell ebenbürtiger Personen gegeben, von denen der eine zum Zeitpunkt dieses Zusammenlebens sich bereits einen anerkannten Namen als Naturforscher und Schriftsteller gemacht hatte, die andere aber alle eigenen Interessen und Begabungen dem Wunsch unterordnete, in Zukunft nur noch für das Wohlbefinden und die Arbeitsfähigkeit ihres Mannes (und später auch ihrer Kinder) zu leben? Sie richtete das Haus in Wilna ein, sorgte für eine bescheidene, sparsame und zurückgezogene Lebensführung - »Mein einziges Bestreben ist Forstern Bequemlichkeit zu verschaffen und seinen Haushalt so wenig kostbar wie möglich einzurichten«16 - und gab sich damit zufrieden, die Gegenwart ihres Mannes nur selten und dann häufig in stummer Zurückhaltung genießen zu dürfen: »Eine Stunde beim Frühstück, wo ich auch polnisch leße, und zwei kleine Stündchen beim Mittag ist alles was er mir giebt«.17 Sie bemühte sich darum, »auch immer Ideen im Kopf [zu] haben, um meinen guten Mann zu unterhalten«,18 und versuchte, sich »mit Forster's Wissenschaft mehr bekannt zu machen«.19 Dies sind Aspekte der Oberfläche des Alltags in Wilna, wie ihn Georg und Therese Forster gesehen und in ihren Briefen geschildert haben. Die Korrespondenzen - mit der Familie Heyne in Göttingen; mit Samuel Thomas Soemmerring, Georg Forsters Freund aus Kasseler Tagen und Adressat zahlreicher Briefe Therese Heynes während ihrer Verlobungszeit; mit Friedrich Wilhelm Ludwig Meyer, als »Assad« Freund beider Eheleute und 1787/1788 Aus14
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Zu den 15 überlieferten Briefen Georg Forsters aus der Verlobungszeit vgl. AA (Anm. 8), Bd. 14; hierzu BTH (Anm. 4), Bd. 1, Nr. 68 und Nr. 75 die nur zwei Fragmente von Brautbriefen Therese Heynes an Forster, durch Zitate in dessen Briefen überliefert. Code du Divorce et de L'État-Civil des Citoyens. 2. Aufl. Paris 1793, §§ 1-2, S. 127-134; vgl. hierzu BTH (Anm. 4), Bd. 1, Nr. 160, Anm. 11-15. BTH (Anm. 4), Bd. 1, Nr. 98, Z. 36-38. BTH (Anm. 4), Bd. 1, Nr. 98, Z. 27f. BTH (Anm. 4), Bd. l,Nr. 112, Z. 108f. BTH (Anm. 4), Bd. 1, Nr. 106, Ζ. 152f.
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löser der ersten großen Krise der Forster-Ehe; und schließlich mit Kollegen Georg Forsters - bildeten das Lebenselixier für beide Forsters, die sich in Wilna im polnischen Exil, »auf unserer wüsten Insel«, und abgeschnitten von dem gewohnten geistigen Leben und den damit verbundenen Austauschmöglichkeiten fühlten. Sie hatten zwar sich selbst - eine von beiden wiederholt gebrauchte Formulierung - , aber sie hatten auch nur sich selbst.20 In diesen Wilnaer Jahren unterstützte Therese Huber ihren Mann jedoch nicht nur durch die gewissenhafte Wahrnehmung ihrer Aufgaben auf den Ebenen, die ihr als Ehefrau (intelligente Gesprächspartnerin), Hausfrau (Ökonomie der Haushaltsführung) und Mutter (die erste Tochter Therese Forster wurde am 10. 8. 1786 in Wilna geboren) bestimmt waren, sondern nahm ihm auch untergeordnete Arbeiten seiner beruflichen Tätigkeit ab. So führte sie zeitweilig Georg Forsters Korrespondenz mit dem Verlagsbuchhändler Carl Spener und versuchte, wenn es wieder zu Spannungen gekommen war, zwischen den beiden zu vermitteln: Da muß ich wohl wirklich gleich einer verständigen Person zwischen Euch Beide treten und muß Euch beschwichtigen. Stille also, Carl Spener! Du hast Recht, Du bist ein gutherziger gutmeinender Junge. Stille, George Forster! Du hast auch Recht, Du bist ein kleiner empfindlicher, herzensguter Patron. Nun kommt her und gebt Euch die Hände. >Ja, aber der Spener da, der will immer klOger sein als ich, und wenn ich denn einmal vergnügt bin, so sagt er mir gleich was, das mich traurig macht.< - >Ne, das ist nicht wahr! Ich habe nur so in der Eile gespaßt und meint' es recht gut, warum bist Du gleich so kribbelich?< - Kommt, kommt liebe Kinderchen - da, Carl Spener, hast Du von der alten Therese einen Kuß, weil Du so herzensgut bist - da George Forster hast Du hunderttausend Küsse, weil ich dich trösten muß, dem armen Spener weh gethan zu haben. Ein andermal, Jungchens, schreibt lieber gar nicht, wenn Ihr nicht Zeit habt zu bedenken, was Ihr schreibt.21
Den Mainzer Kabinettssekretär Johannes (von) Müller mußte sie zweimal um Nachsicht bitten, als Forster »unverfaßungsmäßig (VOILA UN MOT ALLEMAND) gehandelt hat«: Er war 1788 ohne Urlaub zu einem Besuch des Prinzen Augustus von Großbritannien und Irland nach Frankfurt gefahren und 1790 kehrte er zu spät von seiner ausdrücklich nur für drei Monate genehmigten Reise mit Alexander von Humboldt durch die Niederlande, England und Frankreich nach Mainz zurück.22 In den Briefen aus Wilna an Spener und Bertuch, die Therese Forster in erster Linie im Auftrag und zur Entlastung ihres Mannes für diesen schrieb, ließ sie jedoch nebenher auch einen eigenen Berufswunsch einfließen. So richtet sie an Spener die Bitte (16.7.1786):
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BTH (Anm. 4), Bd. 1, Nr. 106, Z. 70f. Im einzigen aus diesen Jahren überlieferten Brief von Therese Forster an ihren Mann (zwischen 8. November 1785 und Ende August 1787) schreibt sie: »Von ihnen [den Menschen] kein einziger fühlt was du bist, und wenn du ein Herz suchtest, so fändest du keines unter ihnen allen daß dich verstünde. Niemand als dein armes Weib versteht daß du George bist! So arm, und so reich!« (BTH [Anm. 4], Bd. 1, Nr. 117a [Jena TULB]). BTH (Anm. 4), Bd. l,Nr. 116, Z. 2-14; s. auch Nr. 112; 123. BTH (Anm. 4), Bd. 1, Nr. 125, Z. 5f.; Nr. 136.
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Nach meinem Wochenbett werd' ich fur meinen Kopf mehr Muße haben, sollte sich einmal ein Geschäft für ihn finden, lieber Spener, das Sie mir auftragen wollten, so biet' ich mich gem dazu an. Möcht es freie Uebersetzung aus dem Französischen sein, wobei es mehr darauf ankäme, Originalität des Styls, Anstand und Leichtigkeit, als Wörtlichkeit zu beobachten, so würd' ich vielleicht Muth genug zu einem Versuch haben, und da mütterliche und häusliche Geschäfte es mir erlauben, den Kopf zu beschäftigen, der Forsters einzige Gesellschaft ist, so halt' ich's für meine Pflicht, einen Theil meiner Zeit zu diesem Vergnügen anzuwenden. Doch sollte sich einmal eine solche Gelegenheit finden, so müssen wir Beide die Sache allein ausmachen.23
Offensichtlich wird hier, daß Therese Forster sich nicht allein mit der Rolle der intelligenten Ehefrau und Gesprächspartnerin ihres Mannes zufrieden geben wollte, auch wenn sie bezeichnenderweise im Schutz dieser Begründung argumentierte, sondern bestrebt war, ein entsprechendes eigenes Tätigkeitsfeld für sich zu entwickeln. Das hätte die Fortsetzung der in ihrer Jugend entwickelten und ausgeübten Interessen und Begabungen bedeutet und ihr eine von Georg Forster unabhängige, eigenständige Position als Übersetzerin und Schriftstellerin erlaubt. Dazu sollte ihr jedoch erst die Huber-Ehe die Möglichkeit bieten. Während sie Spener gegenüber noch auf Geheimhaltung ihres Begehrens drängte, bezog sie bei einer nächsten Gelegenheit Georg Forsters Zustimmung mit ein; am gleichen Tag, an dem Forster seinem Verleger mitteilte, daß seine Frau ihm bei der Übersetzung helfen werde, richtete diese ihre Bitte um einen Übersetzungsauftrag an den Verleger und Redakteur Friedrich Justin Bertuch (21. 1. 1787): »Wann einmal Forsters Frau solte der Einfall und der Mut einkommen so ein treuherzig Wörtchen von meinen sarmatischen Landsleuten zu sagen, und Forster fand die Art wie sies sagte, ungefehr schicklich furs Publicum, - was meinen Sie dazu?«24 Zwar ist es zu den hier erbetenen Aufträgen nicht gekommen, wohl aber zu folgenden Ansätzen einer Zusammenarbeit mit Georg Forster. Ab Juni 1786 arbeitete Forster intensiv an der Übersetzung des zweiten Bandes von Des Capitain Jacob Cook's dritte Entdeckungs-Reise und war am 18. September damit fertig.25 Bei der Übersendung der ersten Lieferung an Spener (31. 7. 1786) erwähnt er: »Von der Uebersetzung hat meine Frau jede Zeile durchgesehen.«26 Als Forster mit der Übersetzung des dritten Bandes in Terminschwierigkeiten geriet, übernahm Therese Forster diese Aufgabe selbst. Forster informierte am 21. Januar 1787 seinen Verleger über die geplante Zusammenarbeit: »Um das Schif nicht auf den Grund sitzen zu laßen, hat mir meine gute Therese versprochen, einen Versuch im übersetzen zu wagen.«27 Skepsis gegenüber dem Ungewohnten und Gewagten dieser Tätigkeit seiner Frau spricht allerdings aus jeder Äußerung Forsters in dem Kontext. Aber bereits am 15. März konnte er an
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BTH (Anm. 4), Bd. 1, Nr. 112, Z. 90-99. BTH (Anm. 4), Bd. l,Nr. 115, Z. 16-19. Georg Forster (Ubers.): Des Capitain Jacob Cook's dritte Entdeckungs-Reise [...]. Aus dem Engl. 2 Bde. Berlin 1787-1788. AA (Anm. 8), Bd. 14, S. 520, Z. 9. AA (Anm. 8), Bd. 14, S. 627, Z. 19-23.
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Spener melden: »Meine liebe Therese hat sich glück/i'cA durch den ganzen S"" Band durchgearbeitet.«28 Dennoch kostete ihn - das diente Forster als eine weitere Entschuldigung gegenüber Spener - die erforderliche Überarbeitung erneut viel Zeit: »Mein liebes Weibchen ist freylich das Uebersetzen nicht gewohnt folglich giebt es Rasuras und Correduras ohne Zahl.«29 Therese Huber stellte ihre Beteiligung und Zusammenarbeit mit Forster im Brief an den Sohn Victor Aimé Huber vom 9. Januar 1817 rückblickend folgendermaßen dar: So schrieb ich vom 18 bis 28 Jahr nie etwas als Briefe und Ubersezungen aus dem Englischen, die aber weder corri girt noch gedrukt wurden, sondern Forster benuzte sie zu seinen Ubersezungen. Ich habe nie gefragt: wie? so übersezte ich die ganze Cooks dritte Reise.30
Ihr Anteil an der Übersetzung ging auf und unter in seiner Arbeitsleistung und unter seinem Namen, und so lapidar und kritisch benennt sie das hier auch. Ohne Ressentiment und in Anspielung auf die biblische Formel, hier im Sinne von ein Geist werden,31 legitimierte Therese Huber dagegen später, warum ihre literarischen Werke bis 1811/1819 anonym beziehungsweise unter Ludwig Ferdinand Hubers Namen erschienen waren: Zehn Jahre lang ahneten selbst unsre vertrautesten Freunde nicht meinen Antheil an meines Gatten Geistes-Erzeugnissen, und während dieser zehn Jahre wußte ich es selbst gar nicht klar, daß manches schmeichelhafte Lob, was ehrenwerthe Urtheile erfreuter Leser über die von Huber herausgegebnen Erzählungen äußerten, zum Theil mir angehöre. Ich war zu innig mit ihm verbunden, war zu sehr in meinen häuslichen Beruf vertieft, um etwas mein zu nennen. Sein war a l l e s - mein Wohl und mein Weh, und deshalb hatte ich so zahlreiche Interessen, weil ich die seinen alle hatte und die meinen dazu, ohne das Eigenthum je zu unterscheiden.32
Ihre eigenständige Tätigkeit als Übersetzerin, insbesondere aus dem Französischen, und als Schriftstellerin begann Therese Forster-Huber erst nach dem Scheitern der Forster-Ehe etwa 1793. Ihr erstes Prosawerk, Abentheuer auf einer Reise nach Neu-Holland, erschien 1793/94 anonym.33 Ein anderes Feld der Kooperation, nämlich die politische Zusammenarbeit zwischen Therese und Georg Forster im Kontext der Französischen Revolution und Mainzer Republikgründung, kann aufgrund der lückenhaften brieflichen Überlieferung für diese Jahre nicht belegt, sondern allenfalls indirekt erschlossen werden. Es gibt nur meist rückblickende Stellungnahmen und Reflexionen 28 29 30 31 32
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AA (Anm. 8), Bd. 14, S. 649, Z. 18-22. AA (Anm. 8), Bd. 14, S. 668, Z. 13-15. Th. Huber an Victor Aimé Huber, 9. Januar 1817 (Göttingen SUB). Vgl. Ì.Mose2,24. Therese Huber (Hrsg.): L. F. Huber's sämtliche Werke seit dem Jahre 1802, nebst seiner Biographie. 4 Bde. Tübingen 1806-1819. Bd. 3: Hubers gesammelte Erzählungen, fortgesetzt von Therese Huber, geb. Heyne. Tübingen 1819, S. Illf. Einen ersten Schritt in Richtung Aufgabe ihrer Anonymität als Schriftstellerin tat Therese Huber mit der Veröffentlichung von Bemerkungen über Holland aus dem Reisejournal einer deutschen Frau von Therese H. (Tübingen 1811). In: Flora, Bd. 4, 1793, S. 241-274; Bd. 1, 1794, S. 7-43 und 209-275; vgl. BTH (Anm. 4), Bd. 1, Nr. 163, Anm. 58.
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Therese Hubers zur und über die Französische Revolution und Mainzer Republikgründung sowie die eigene und Forsters Position in diesem Zusammenhang. Anders als zu Forster fallt die Einschätzung ihrer eigenen Haltung in dem Fall zwiespältig-widersprüchlich aus. Diese Ambivalenz ist, stärker als im Feld der angestrebten Berufstätigkeit, der Rücksichtnahme auf die zeittypischen Vorstellungen von weiblich angemessenem Verhalten geschuldet, die nicht zuletzt ihr Vater Christian Gottlob Heyne immer wieder ihr gegenüber geltend machte.34 Daß Therese Forster die Ideen und politischen Ideale Georg Försters geteilt hat, bezeugen Äußerungen in Situationen und Personen gegenüber, in denen sie sich frei fühlte von solcher pragmatischen Rücksichtnahme auf Anschuldigungen politischen Handelns oder unweiblichen Verhaltens. So hebt sie am 22. Februar 1793 dem Basler Freund Jacob Sarasin gegenüber Jugendmut als Kennzeichen dieser epochalen Auf- und Umbruchssituation hervor: »Aber lieber Freund Sie haben mehr Erfahrungen wie ich - sagen Sie mir ob Sie in Ihren Leben eine Epoche gekannt haben, die den Geist und das Herz des Menschen mehr zur Entwickelung brachte als die jezige?«35 Im Brief vom 16. November 1793 an die Freundin Regula Hottinger in Zürich, der sowohl der Rechtfertigung für ihre Entscheidungen als auch der Kontaktaufnahme mit den Freunden aus den Tagen der Schweizer Reise dienen sollte,36 betont sie einerseits die Gleichheit der republikanischen Ideale, die sie mit Forster teile, und andererseits den - nicht zuletzt geschlechtsspezifisch bedingten - Unterschied zwischen Handeln und Wünschen: Ich darf euch sagen daß ich die Freyheit der fränkischen Nation eben so glühend wünsche wie ich jede dafür begangne Gräuelthat beweine - ich ging leicht in Försters Ideen, und wünschte die Vereinigung von Mainz mit der fränkischen Republik. Aber nur w ü n s c h t e i c h - man beschuldigt mich in Deutschland g e h a n d e l t zu haben ich verachte diese Beschuldigung den sie ist falsch. Wär ich in Mainz geblieben, so hätte ich als Forsters Weib, und innige Theilnehmerinn an seinen Schicksal, jede seiner Entwürfe getheilt, so bald seine Parthie einmal genommen war [...].37
In den Verdacht einer Verbindung zu den Mainzer Jakobinern ist Therese Forster-Huber schon bei ihren Zeitgenossen mehrfach geraten.38 Zu verweisen ist hier auf das Pamphlet Die Mainzer Klubbisten zu Königstein, ein »tragi34
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Zu Christian Gottlob Heynes wiederholt geäußerter Sorge um politische Abstinenz seiner Tochter und seiner Hoffnung auf einen entsprechend mäßigenden Einfluß des neuen Schwiegersohns auf seine Frau vgl. die Briefe von Christian Gottlob Heyne an Ludwig Ferdinand Huber von 1794 (Berlin BBAW); L. F. Huber an Ch. G. Heyne, 18. November 1795 (Marbach DLA). BTH (Anm. 4), Bd. 1, Nr. 149, Z. 13-15; zur Begeisterung durch »Jugendmuth« im Kontext der Französischen Revolution vgl. Huber 1829 (Anm. 13), T. 1, S. 86. Zur Freundschaft mit Regula und Johann Jacob Hottinger während Therese Heynes Schweizer Reise im Sommer 1783 vgl. die Briefe aus/über Zürich, BTH (Anm. 4), Bd. 1, Nr. 56-58. BTH (Anm. 4), Bd. 1, Nr. 162, Z. 62-69. Christian Gottlob Heyne erwähnt im Brief an Therese und Ludwig Ferdinand Huber vom 27. April 1794, er habe auf seine Nachfrage erfahren, »daß Th. allerdings als Clubbistin angegeben worden ist« (Berlin BBAW).
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komisches Schauspiel«, das 1793 anonym erschienen ist. Im Zusammenhang der langjährigen Nachlaßsicherung von Forsters Mainzer Hinterlassenschaften vor allem durch Christian Gottlob Heyne und Samuel Thomas Soemmerring stießen die Vermittler immer wieder auf solche Vorwürfe als Hinderungsgrund für die Klärung und den Abschluß dieser Angelegenheit. Die Protokolle der ersten Sitzungen des Mainzer Klubs, in denen vielleicht die Teilnahme von Frauen geregelt wurde, sind nicht überliefert. Weder die Straßburger Statuten, an die sich die Vorarbeiten fur eine Mainzer Statutensammlung anlehnten, noch die Rekonstruktionen der ersten Sitzungen des Mainzer Jakobinerklubs erwähnen die (Nicht-)Aufnahme von Frauen als Mitglieder. Ein Antrag einer Frau auf Mitgliedschaft im Mainzer Klub ist nicht bekannt.39 Wohl aber ist ein Besuch Therese Forsters im Jakobinerklub in Straßburg belegt,40 den sie erst sehr viel später in der Forster-Biographie schildern und durch Hinweise auf spezifisch weibliche Tätigkeiten und politische Naivität gleichzeitig wieder entschärfen sollte: Frau * * nahm sie mit in den Jacobinerklub, wo sehr einfache Weiber in einer getrennten Gallerie still mit ihrem Strickzeug saßen und zuhörten - und was damals verhandelt wurde, gab ihr nur den belebenden Anblick einer Versammlung von Menschen, die für das allgemeine Beste thätig seyn wollten. Mehr verstand sie nicht davon, denn mehr suchte sie nicht darin.41
Da Therese Huber ihre Briefe an Forster aus den politisch entscheidenden Jahren, insofern sie Dokumente ihrer privaten Beziehung und der Ehekrise in dieser Zeit waren, wahrscheinlich wie die übrige Korrespondenz mit Forster vernichtet hat, fehlt eine entsprechende Überlieferung zu der im politischen wie persönlichen Bereich revolutionären Epoche und einer denkbaren Zusammenarbeit im politischen Feld. Denkbar ist diese jedoch einmal in den zwar kaum belegten Formen aktuellen Gedankenaustausche und konkreter Unterstützungen, fur die aber Therese Hubers lebenslang wiederholte und bestätigte Sympathiebekundungen für die Sache der Französischen Revolution und ihre Verteidigung von Forsters politischer Entwicklung sprechen.42 Zum anderen hat Therese Huber durch ihre kontinuierliche Erinnerungs- und Überlieferungsarbeit im Rahmen ihrer privaten Korrespondenz mit Familie und Freunden sowie durch ihre öffentliche Darstellung von Forsters Biographie entscheidend zu einer gerechten Würdigung der Forsterschen Lebensleistung und seines politischen Wegs, auch als Jakobiner, beigetragen.43 Nicht haltbar dagegen sind die von Zincke erhobe-
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Vgl. BTH (Anm. 4), Bd. 1, Nr. 170, Anm. 13-15. Zwischen 7. Dezember 1792 (Abreise aus Mainz) und 5. Januar 1793 (Weiterreise nach Basel). Huber 1829 (Anm. 13), T. 1, S. 109. Vgl. Magdalene Heuser: Jakobinerin, Demokratin und Revolutionär. Therese Hubers »kleiner winziger Standpunkt als Weib« um 1800. In: Sklavin oder Bürgerin? Französische Revolution und Neue Weiblichkeit 1760-1830. Hrsg. von Viktoria Schmidt-Linsenhoff. Maiburg 1989 (Kleine Schriften des Historischen Museums. Bd. 44), S. 143-157. Vgl.S. 112ff.
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nen und von Rasmussen und anderen noch 1985/86 als Vorwürfe wiederholten Behauptungen, Therese und Ludwig Ferdinand Huber mit Caroline Böhmer hätten Georg Forster in sein jakobinisches Engagement für die Sache der Französischen Revolution getrieben.44 Auch nach der Trennung von Georg Forster und dem Entschluß zur Scheidung ihrer Ehe zugunsten der neuen Familiengründung mit Ludwig Ferdinand Huber blieb der gedankliche Austausch von Therese und Georg Forster weiterhin ungewöhnlich intensiv. Davon zeugen die Briefe, die Forster zwischen Anfang Dezember 1792 und Anfang Januar 1794 an seine Frau schrieb und die er zuletzt an sie und Huber richtete. Man kann diese vermutlich, wie die Briefe von der Reise nach den Niederlanden, England und Frankreich aus dem Jahre 1790 Vorarbeiten für die Ansichten vom Niederrhein (1791) darstellten, als Vorstufen geplanter historisch-politischer Schriften lesen. Wie produktiv-geeignet Therese Forster-Huber als kritisch-anregende Gesprächspartnerin und Korrespondentin wirken konnte, läßt sich zwar nicht mehr an ihren Briefen an Forster nachvollziehen, wohl aber indirekt aus ihren vergleichbar intensiv geführten Briefwechseln mit anderen Männern schließen; zu denken ist hier vor allem an die Briefe an Emil von Herder, ihren zukünftigen Schwiegersohn.45 Die bisher dargestellten Formen und das Scheitern einer literarischen Zusammenarbeit zwischen Therese und Georg Forster stehen, wie gezeigt werden sollte, in einem Zusammenhang mit den zeitgenössischen Vorstellungen von Weiblichkeit und Ehe. Therese Heyne-Forster folgte bei ihrer Eheschließung und in den Wilnaer Jahren zunächst mit Eifer, später in Göttingen und Mainz eher leidend dem Konzept der Vernunft-Ehe, das sie aber in Konflikt mit ihren bis dahin ausgebildeten Fähigkeiten und Interessen bringen mußte. Bereits in den Briefen an die Jugendfreundin Luise Mejer aus der Zeit unmittelbar vor und nach der Schweizer Reise 1783 wird deutlich, daß eine Heirat nun überfällig war, weil Therese Heyne sich dazu verpflichtet fühlte. Sie wollte ihren Vater um die Sorge für eines der vielen Kinder aus den zwei Ehen entlasten: Zeigte sich jezt eine Partie für mich, wärs ein Mann der gesunde Vernunft und Liebe fur mich hätte ich nähm sie an, und gäb ihm meine Hand obschon mein Herz nicht ihm wär, ich bin dies meinem guten Vater und meinen Geschwister schuldig, und könt es mit Ruhe thun, denn Pflicht und Zeit würde den Eindruck außlöschen. Aber zuerst wiird es mich fürchterlich kosten, und die Idee allein kann mir bis weilen Schaudern machen. Auf großes Glük in einer solchen Verbindung rechne ich doch nicht f...].46
In den Reflexionen über die Forster-Ehe tauchte dieses Argument als einer der Gründe für das Scheitern dann regelmäßig wieder auf. Am Ende ihres Lebens, nach der Entwicklung von und Erfahrung mit anderen Erziehungsprinzipien und
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Vgl. Zincke 1915, Rasmussen 1985, Osten 1985 (Anm. 9). Hierzu in Vorb. Petra Wulbusch: Der Briefwechsel Therese Hubers mit Emil von Herder [Arbeitstitel]; BTH (Anm. 4), Bd. 2ff. [in Voib.]. BTH (Anm. 4), Bd. 1, Nr. 36, Z. 26-32.
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nach dem Abschluß der Arbeiten an Johann Georg Forster's Briefwechsel. Nebst einigen Nachrichten von seinem Leben nahm sie im Brief an die Cousine Adele Blumenbach vom 1. und 2. März 1829 noch einmal dazu Stellung.47 An die Stelle der Selbstvorwürfe ist nun eine unmißverständlich geäußerte Kritik an den Erziehungsmaximen des geliebten und verehrten Vaters getreten: Ich heirathete aus dem besorglichen Gefühl dem Vater zur Last zu seyn, der den großen Fehler beging uns zu wiederholen daß wir nach seinem Todt blut arm seyn würden, ohne uns durch Erziehung einen Begrif erweckt zu haben, womit wir E r w e r b e n könnten. Der Wunsch dem Vater a u s d e m B r o d z u kommen (da hat mein Vater sehr gefehlt!) die Eitelkeit einen berühmten Mann zu heirathen, in so ein femes Land zu ziehen (LA BAS!) und herzliche Achtung für Forster, bewogen mich. Recht nachdenken, thut wohl ein lebhaftes, bewundertes, unschuldiges, Mädchen mit ziemlich harmonischen Anlagen doch nicht. Das Nachdenken ist fragmentarisch, und der Entschluß mehr durch Empfindung als Contemplation herbeigeführt. 4 '
Therese Heyne folgte, als sie die Ehe mit Georg Forster einging, »romanenhaften« Vorstellungen über Liebe und Ehe,49 wie sie sie aus ihrer reichen Lektüre kennengelernt hatte, und legte sich ein Pflichtkonzept - die Erfüllung der traditionellen Rolle als Ehefrau, Hausfrau und Mutter - fur das Gelingen einer guten Vernunftehe zurecht. An die Freundin Regula Hottinger schrieb sie noch einmal nach Forsters Tod, indem sie sich, mit deutlicher Rücksichtnahme auf zeittypische Vorstellungen von geschlechtsspezifisch angemessenem Verhalten, von weiblicher Gelehrsamkeit abgrenzte: Ich ehre mich mehr weil ich schnell einen guten Strumpf stricke als weil Göthe bey meinen unbefangnen Geschwäz gerührt nachdachte u meinen Geist prieß. Dieser Geist machte meines edeln Forster Unglück mein weiches Herz, mein häuslicher Fleiß, mein Leben als Haus weib wog acht Jahr lang sein Elend auf.30
Bei einer so intelligenten, wachen und aktiven Persönlichkeit wie Therese Heyne-Forster-Huber konnte ein solches Konzept jedoch nicht funktionieren. Georg Forster hat das - vielleicht zu spät - eingesehen. An seine inzwischen von ihm getrennt lebende Frau schrieb er im September 1793 aus Arras: »Dich hüten vor literarischem und politischem Enthusiasmus, heißt doch nur wollen, was die Natur anders will.«51
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Zu den auf Broterwerb und Autonomie gerichteten Erziehungsprinzipien Therese Hubers insbesondere für die älteste Forster-Tochter Therese vgl. Magdalene Heuser: »Therese ist der Contrast meines Wesens«. Therese Hubers Briefe an ihre Tochter Therese Forster 1797-1828. In: Mutter und Mütterlichkeit. Wandel und Wirksamkeit einer Phantasie in der deutschen Literatur. Hrsg. von Irmgard Roebling und Wolfram Mauser. Würzburg 1996, S. 131-146. Göttingen SUB. Vgl. BTH (Anm. 4), Bd. 1, Nr. 121, Anm. 38-39. BTH (Anm. 4), Bd. 1, Nr. 167, Z. 41-45. Therese Huber lernte Goethe 1783 auf ihrer Schweizer Reise in Weimar kennen, traf ihn im September 1785 auf der Reise nach Wilna dort wieder und empfing ihn im August 1792 als Gast in ihrem Haus in Mainz. AA (Anm. 8), Bd. 17, S. 450, Z. 6f.
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3. »Zusammenwirken«: Erinnern - Erzählen - Überliefern Therese Huber hat sich mit der Persönlichkeit Georg Forsters, seinem Werk und seiner Wirkung lebenslang auseinandergesetzt: in Briefen, in literarisierten Darstellungen, die hier nicht mehr berücksichtigt werden können, und in ihrem biographischen Alterswerk, Johann Georg Forster's Briefwechsel. Nebst einigen Nachrichten von seinem LebenΡ Der Grundtenor aller Ausführungen ist und bleibt der von freundschaftlicher Liebe und Respekt, von Verständnis für die Schwierigkeiten seines Charakters und des von ihm schließlich gewählten politischen Wegs, und von Trauer über das Scheitern ihrer Ehe. Dabei hat sich Therese Huber im Rückblick verhältnismäßig offen über die Motive ihrer Eheschließung und die Gründe geäußert, warum das Zusammenleben mit Forster, den sie liebte und ehrte, dennoch scheitern mußte: Sie habe ihn kaum gekannt und sich ein schwärmerisches Bild von ihm und der Ehe gemacht; sie seien dazu bestimmt gewesen, wie Geschwister und Freunde, aber nicht wie Liebende miteinander zu leben; er habe nicht gewollt, daß sie um Brot arbeite; er habe leichtsinnig ihre Freundschaften zu dritt zunächst mit Friedrich Ludwig Wilhelm Meyer (1785-1788) und später mit Ludwig Ferdinand Huber (ab 1788) gefordert, die zu den zwei schweren Krisen und schließlich zur Trennung ihrer Ehe geführt hätten.53 Der Prozeß des Erinnems und der Sinnstiftung ist umfassend dokumentiert durch das überlieferte Briefwerk von Therese Huber. Sowohl in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu den Krisen und Ereignissen als auch erneut aus großem zeitlichen Abstand gab sie unterschiedlich ausführliche zusammenhängende Darstellungen und Reflexionen oder machte Bemerkungen zu Georg Forster und ihrem Zusammenleben.54 Innerhalb der Familie vermittelte Therese Huber das Andenken Georg Forsters zunächst insbesondere an dessen älteste und Lieblingstochter Therese, die ihm bei der Scheidung zugesprochen werden sollte. Sie verließ im Alter von knapp 16 Jahren das Elternhaus - für einen mehij ährigen Erziehungsaufenthalt bei der Familie der niederländisch-französischen Schriftstellerin Isabelle de Chamère in Colombier/Schweiz (1801-1806), dann für ihre Erziehungstätigkeiten in dem Fellenbergschen Erziehungsinstitut in Hofwil bei Bern und bei verschiedenen Familien in Linschoten/Holland, Berlin und Arnstadt - und kehrte erst im August 1826 zu ihrer Mutter zurück, mit der sie bis zu deren Tod (1829) in Augsburg lebte. In den gut 25 Jahren der Abwesenheit von der Familie führten Mutter und Tochter kontinuierlich einen regelmäßigen Briefwechsel
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Huber 1829 (Anm. 13). Th. Huber an Johann Gotthard (von) Reinhold, 24. und 25. Februar 1806 (Göttingen SUB); 20. Januar bis 1. Februar 1807 (Göttingen SUB). Hierzu in Vorb. Magdalene Heuser: Aspekte einer erinnerten Paarbeziehung [Arbeitstitel].
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mit festgelegten Schreibrhythmen von anfänglich 14 Tagen, später von vier Wochen und am Schluß auch von acht Tagen.55 Unmittelbar nach der Ankunft in Colombier stellte die Tochter Therese ihrer Mutter Fragen nach der Förster-Familie (und wohl auch nach Caroline BöhmerMichaelis),56 die Therese Huber in mehreren Briefen vom Herbst und Winter 1801 beantwortete. Sie dokumentieren den allmählichen Aufbau von Informationen zur Familiengeschichte, zur Französischen Revolution und zum Scheitern der Forster-Ehe, zur Persönlichkeit Georg Forsters, zu dem Kapital, das sein berühmter und respektierter Name für die Tochter bedeute, zu den Problemen der Forster-Ehe und den Aufgaben der Überlieferung und Nachlaßverwaltung. In gebündelter Form tauchen alle genannten Aspekte in einem der ersten Briefe nach Colombier, dem zweiten dieser Sequenz, auf: Je commence a soupçonner que tu veux composer ton STAMMBAUM, parceque tu est si avide de renseignements sur notre illustre Famille, eh bien donc, pour te satisfaire: la tante mariée a Londre s'appelle Schräder, et son reverend époux ne laisse pas d'avoir la qualité caractéristique de tous les saints hommes de son espece, c'est a dire: il est pere d'une nombreuse famille donc je n'ai pas l'honneur de savoir un mot. tu sais peut être, ou du moin est tu asses formé pour que je t'explique que ton cher pere et moi nous étions depuis la revolution brouillé avec toute la famille. Ces gens qui me connoissoient très mal, m'accussoient d'avoir entraîné ton pere dans le parti qu'il a embrassé, c'etoit precicement le contraire, mais son parti une fois pris, j'etois toute devouée a une causé qui sera toujours sacrée pour moi, et qui ne m'a jamais donné des regrets car je n'ai jamais dépassé pour elle les bornes de mon sexe, et j'ai toujours taché d'adoucir les esprits par ma manière de penser, qui, assurément a tant d'équité que de courage. Enfin les Forsters me soupçonnoient d'avoir embrassé le parti revolutionäre pour trouver les moyens de me séparer de ton pere - et en cela ils jugoient encore comme des gens qui ne nous connoissoient pas, car ton respectable pére resistoit a tous les efforts que papa Huber, Brand et moi faisoient pour l'empecher de se devouer a la caliere dans laquelle il a fini sa vie, et dans toutes nos relations la plus parfaite confiance de mon coté et l'amitié la plus généreuse du sien, n'ont jamais été intérompue. Un jour après ma mort tu trouvera toutes les lettres et autres papiers relatifs a notre mariage qui etoit malheureux parceque nous ne nous convenions pas, mais qui restoit respectable parceque nous nous étions attaché par tous les liens de l'estime et de l'amitié. Si ton cher pere eut vécu nous serions auprès de lui tu aurais deux papa, et j'en aurais aussi un en lui. C'etoit un homme très rare pour ses talens et son caractère, et meme ceux qui souffraient de ses défauts ne les lui reprocheront jamais, parcequ'ils le rendoient tout aussi malheureux qu'il fasoit les autrés. Tu ne peus jamais assez le respecter ce papa. Non parcequ'il etoit un g r a n d h o m m e , mais parceque, comme individu de son espece, c'etoit un des êtres le plus intéressant, et queje suis persuadé que dans la progression d'existances que j'admets, il doit se perfectioner avec une vitesse supérieure a celle de tous les hommes que je connois. tu dois te sentir honnoré que je te dis tant sur ce sujet, tu n'est pas encore asses avancé en age pour le saisir entièrement, mais tu gardera la lettre, et plus tard tu la lira avec intérêt, j'exige cependant qu'elle reste entre nous deux.57
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Von Therese Huber an ihre Tochter sind etwa 400 Briefe überliefert, von denen die meisten in französischer Sprache geschrieben sind; die Briefe Therese Forsters an ihre Mutter sind bis auf etwa zwölf Briefe bzw. Nachschriften unbekannt; vgl. BTH (Anm. 4), Bd. 1, Nr. 177, Sammelanm. zu Th. Forster; hierzu Heuser 1996 (Anm. 47). BTH (Anm. 4), Bd. 1, Nr. 257; 260; 261. BTH (Anm. 4), Bd. 1, Nr. 205, Z. 1-34.
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Im kommunikativen Prozeß des Briefwechsels wird die Tochter Therese zur Adressatin von Erinnerungen Therese Hubers an Georg Forster gemacht. Es ist die Ebene der Familiengeschichte und des individuellen Gedächtnisses. Das hier Erzählte wird in variierter Form und zu verschiedenen Zeitpunkten auch anderen Adressaten gegenüber wiederholt und verfestigt sich allmählich zu einer Geschichte und einem Bild von Georg Forster.58 Der an dieser Stelle bereits ausdrücklich formulierte Appell, die Briefe aufzubewahren, um sie neu und anders lesen zu können, bestimmt die Tochter zur Nachlaßverwalterin ihres Vaters. Die (später vernichteten) Ehe-Briefe und -Papiere existierten zu diesem Zeitpunkt also offensichtlich noch. 1843 gab die Tochter Therese Forster mit Georg Gottfried Gervinus Georg Forster's sämmtliche Schriften heraus und leistete dadurch, wie ihre Mutter durch Johann Georg Forster's Briefivechsel. Nebst Nachrichten von seinem Leben, einen entscheidenden Beitrag dazu, daß Georg Forster als eine der wichtigsten Persönlichkeiten einer entscheidenden Epoche Bestandteil unseres kulturellen Gedächtnisses geblieben ist.39 Späte Beispiele des Erinnerns und der Reflexion der Forster-Ehe finden sich noch einmal in den Briefen der Jahre 1827-1829, in denen Therese Huber ihre Arbeit an der Herausgabe der Briefe Forsters und der Darstellung seines Lebens zum Abschluß brachte und nach dem Erscheinen des Werks dessen Rezeption kommentierend begleitete. So ging sie im April 1829 im Brief an Carl August Böttiger noch einmal auf ihre Ehe mit Forster ein: Ihre Anzeige von Forsters Briefen, mein geehrter Freund, ist zu gütig, aber mit vollkommen richtiger Seelenkunde gefällt. Sie faßten die Herausgeberinn und den Gegenstand ihrer Bemühung so richtig auf wie möglich, allein weder Sie noch ein Mensch der da lebt, erräth den Grund unsrer unglücklichen Ehe - Man glaubt und muß glauben, mich habe eine fremde Neigung Forster abwendig gemacht - das war nie der Fall. Ich bat ihm vergeblich mich oder den Mann der mir lieb war, zu entfernen - er bestand darauf daß er in engsten gesellschaftlichen Verhältnis mit uns bleibe - das konnte die Welt nicht errathen, und ich hatte nie einen Vertrauten - Ich bat oft und flehend vergebens. - Aber auch ohne die Dazwischenkunft eines dritten wäre meine Ehe für mich unselig gewesen, weil bei mir Gefühl und Geist allein herrschte, und ihn das harte Geschick mit einer thierisch heftigen Sinnlichkeit begabt hatte. Deshalb konnte ich seine Ehefrau nicht bleiben, denn die Zeit verstärkte in uns beiden diese Ehezerstörende Differenz. Diesen Umstand vertraue ich Ihnen, damit Sie mich, die Sie so gütig behandeln, beurtheilen können. Ich wäre Forster in jeden Augenblick seines Lebens in Not und Armuth gefolgt - aber als Ehefrau - elend. Wie die Revolution für uns Exaltirte die bürgerlichen Rücksichten aufhob, befolgte ich die große Moral auf Kosten der kleinen - trennte ein unwürdiges Verhältniß und setzte mich im
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Ähnlich ausführliche Darstellungen und Reflexionen ihrer Ehe mit Forster finden sich in Briefen Therese Hubers an weitere Adressaten: an ihren Vater Christian Gottlob Heyne, der sich in die erste Krise der Forster-Ehe eingemischt hatte (1788); an die Freundinnen Caroline Böhmer und Regula Hottinger nach dem Scheitern der Ehe und Forsters Tod (1792/1794); an die Geschwister Friederike und Johann Gotthard (von) Reinhold mit zunehmender Intensivierung ihres Briefwechsels (ab 180S); im Zusammenhang mit dem Erscheinen der Forster-Biographie (1829) an die Cousine Adele Blumenbach, den Freund Paul Usteri und den Publizisten und Zeitungsherausgeber Carl August Böttiger.
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Hrsg. von dessen Tochter und begleitet mit einer Charakteristik Forster's von G. G. Gervinus. 9 Bde. Leipzig 1843.
Georg und Therese Forster
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Stand, meine Kinder zu erziehen, mein Daseyn zu retten. - Wenn Sie fähig sind, dieses Anvertrauniß zu miBbrauchen, mißverstand ich Sie f...].60
Böttiger wird hier erneut, wie bereits in den Briefen vom Sommer 1812 nach Christian Gottlob Heynes Tod durch die ausfuhrlichen Darstellungen von dessen Ehe- und Familiengeschichte, zum Adressaten eines intimen Erinnerungsprozesses gemacht. Ludwig Geigers Vermutung, »daß sie ihn fur einzelnes gradezu als Sprachrohr benutzte«, ist vermutlich auch für diesen wie fur die übrigen Korrespondenzpartner nicht ganz auszuschließen.6' Therese Hubers warnender Vorbehalt macht deutlich, daß Briefwechsel nicht nur Medien des individuellen Erinnerns, sondern auch der Stiftung von Gedächtnis sind und als solche von späteren Generationen gelesen werden. Daß sie sich über diese Zusammenhänge und die daraus erwachsende Verantwortung im Klaren war, zeigen Bemerkungen zu der Arbeit an den Forster- und Huber-Biographien: »[...] v i e l l e i c h t habe ich die - G r ö ß e in Forsters Briefen A l l e s drucken zu laßen - eine Geschichte voll unendlichen Wehes - voll ehrwürdigen Irrthums, voll erhabener Güte - [...] mir däucht mit Briefen hat man keine Wahl - es muß alles, oder nichts gedruckt werden.«62 In dem Alterswerk, der Forster-Biographie, findet Erinnern auf einer anderen Ebene statt: Sie wurde gegen restaurative Tendenzen der Zeit und für die Öffentlichkeit geschrieben,63 indem sie, im Sinne eines Vermächtnisses für nachfolgende Generationen verfaßt, eine Einweisung in kulturelles Gedächtnis vornahm, dieses vorbereitete. Der Plan, Forsters Werke und Briefe zu veröffentlichen, tauchte bereits im Brief vom 25. Februar 1794 an Caroline Böhmer auf: »Forsters sämtliche Werke sollen in der Folge herausgegeben werden, jezt sein Nachlaß, und wahrscheinlich so bald wie möglich seine Korrespondenz zum besten der Kinder.«64 Schon am 14. April 1800 hatte Ludwig Ferdinand Huber seinem Schwiegervater Heyne mitgeteilt, daß er wegen Georg Forsters Korrespondenz an Samuel Thomas Soemmerring und an die Erben von Petrus Camper und Johann Georg Schlosser schreiben wolle; die Briefe von Friedrich Heinrich Jacobi und von Georg Christoph Lichtenberg an Forster lägen ihm vor, er bitte aber Heyne um Erwirkung der Druckerlaubnis und Vermittlung von Forsters Gegenbriefen. Forsters Briefe an Lichtenberg erhielten Hubers im September/Oktober 1800.65
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Th. Huber an Carl August Böttiger, 6. bis 8. April 1829 (Dresden SLB). Ludwig Geiger: Therese Huber 1764-1829. Leben und Briefe einer deutschen Frau. Stuttgart 1901, S. 160. Th. Huber an Friederike und Johann Gotthard (von) Reinhold, 20. Januar bis 1. Februar 1807 (Göttingen SUB). Vgl. hierzu auch Jeannine Blackwell: Therese Huber. In: German Writers in the Age of Goethe, 1789-1832. Ed. by James Hardin and Christoph E. Schweitzer. Detroit, New York, Fort Lauderdale, London 1989 (Dictionary of Literary Biography. 90), S. 187-192. BTH (Anm. 4), Bd. 1, Nr. 166, Ζ. 96-98. Allgemein zu den Korrespondenzen vgl. AA (Anm. 8), Bd. 13-18; BTH (Anm. 4), Bd. 1, Nr. 232, Anm. 49-56; zu den langwierigen Auseinandersetzungen um den Jacobi-
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Die Sammeltätigkeit wurde dann ab der zweiten Hälfte 1802 auch von Therese Huber betrieben und in der Folgezeit in Abständen immer wieder aufgegriffen und erneut unterbrochen, so vor allem in den Jahren 1805/1806 durch die Arbeit an Hubers Biographie.66 Im Januar 1811 berichtete sie, »ein großes Pack gleichgültiger Briefe an Forster« habe ihr im Weg gelegen, »und da size ich seit ein paar Tagen während des Thes, und lese oder laß auch die Kinder die alten CHIFFONS lesen. Eine sonderbare Revüe! Die Bildung eines Karakters in Wirkung und Rückwirkung!«67 Im Januar 1816 äußerte sie Böttiger gegenüber den Wunsch, »mein eignes Leben und Forsters was ich noch immer vorhabe aber nie Zeit und Ruhe« zu schreiben.68 Die abschließende Ausarbeitung und Fertigstellung von Johann Georg Forster's Briefwechsel. Nebst einigen Nachrichten von seinem Leben fand in den Jahren 1827 und 1828 statt. Therese Huber gab ihrem Verleger Cotta Anfang 1827 folgende Charakteristik des Werks, an dem sie arbeitete: Diese lezten [sc. die Forsterschen Briefe] werden neben andern Intereßen auch ein reiches TABLEAU von den Ansichten liefern welche eine bedeutende MenschenklaBe in den Jahren 1789-1792 von der Revolution hatten. Ich finde viel mehr wie ich mich erinnerte und muß immer wieder abschneiden wo es zuwächst. Nach meiner Ansicht werden diese Briefe mit angeñlgten persönlichen Notizen eine vollständige Biographie liefern.6®
Doch wechselte Therese Huber noch im gleichen Jahr für dieses Projekt vom Cotta-Verlag zu Brockhaus in Leipzig.70 Sie schrieb über weitere und letzte Versuche, Briefe von und an Forster zu erhalten, zum Beispiel von Alexander und Wilhelm von Humboldt.71 Aber was fur mich von großen Werth sein mußte, sind Forster's Briefe an euch Dioskuren. Habt Ihr diese aufbewahrt? Er muß sich doch interessant geäußert haben, um euch solche Antwortschreiben abzugewinnen. Habt Ihr diese Briefe noch?72
In den Briefen an die Brüder von Humboldt wird deutlich, daß sie diesen Teil der Korrespondenz als Gegengewicht zu der Rosenkreuzer-Erfahrung und für die Beleuchtung eines anderen, die Rationalität betonenden Aspekts der Persönlichkeit Försters in die Briefsammlung aufnehmen wollte: Nach Euem Briefen - vor allen nach Wilhelms zu urtheilen maßten Forsters Briefe sehr erörternd, raisonnirend gewesen sein. - Diese Art Briefe gehören zur Entwicklung von
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Briefwechsel s. BTH (Anm. 4), Bd. 1, Nr. 233, Sammelanm. zu Friechrich Heinrich Jacobi und Anm. 1. Huber 1806-1819 (Anm. 32); Huber 1829 (Anm. 13). Th. Huber an Emil von Herder, 21. Januar 1811 (Göttingen SUB). Vgl. auch Th. Huber an Paul Usteri, 29. Dezember 1818 (Zürich ZB). Th. Huber an Johann Friedrich Cotta, 10. Februar 1827 (Maibach DLA). Th. Huber an Johann Friedrich Cotta, 23. September 1827 (Marbach DLA). Vgl. Briefe von und an Wilhelm v. Humboldt. Mitgetheilt von Ludwig Geiger. Neue Freie Presse, Nr. 11788, 1897, S. 23-25; Th. Huber an Wilhelm von Humboldt, 25. September 1827. Briefe von und an Wilhelm von Humboldt 1897 (Anm. 71), S. 23: Th. Huber an Wilhelm von Humboldt, 5. September 1827.
Georg und Therese Forster
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Forsters Individualität - diese seltsame Trennung des spekulativen vom handelnden Menschen, die beide nur einmal, in der Ergreifung seiner politischen Rolle, sich zu seinem Unglück vereinigten.73
Als sie dann Anfang 1829 Exemplare der inzwischen abgeschlossenen und erschienenen Teile von Johann Georg Forster's Briefwechsel. Nebst einigen Nachrichten von seinem Leben an Freunde und Rezensenten schickte, wies sie vor allem die Letzteren auf die Konzeption hin, die ihrer Forster-Biographie zugrundelag, nämlich »Seelen Kunde und Zeitgeschichte« darzustellen.74 In den Briefen an die Familie und auch Freunde kamen dagegen Mühen - »ich arbeitete daran mit tief bewegten Gemüth, und angestrengten Verstand« ~75 und Inhalte von Erinnerungen zur Sprache, die mit der Arbeit an der ForsterBiographie verbunden und durch diese erneut ausgelöst worden waren. Als Ziel der Forster-Biographie nennt Therese Huber im Vorwort, »Forster's Andenken« nach Jahren gewaltsamer Begebenheiten, die die Haltungen gegenüber Forster zwischen »Beifall« oder »Hass« polarisierten, und des Schweigens über ihn zurückzurufen.76 Sie will eine andere, nicht in jene Auseinandersetzungen verwickelte Generation mit Forsters Persönlichkeit und kultureller Leistung bekannt machen. Das geschieht in erster Linie in einer apologetischen Absicht, die eine Haltung des Verstehens statt Urteilens beim Publikum anstrebt.77 Sie fragt nach den Bedingungen des jeweiligen politischen und persönlichen Umfelds, die Forster in einer bestimmten Situation auf seine Weise haben handeln und denken lassen. Sie nennt ihr Verfahren »eine biographische, besonders psychologische Darstellung«, für die der »seelenforschende Leser« den idealen Rezipienten darstelle.78 So geht sie sehr ausfuhrlich auf das Elternhaus ein, in dem die Grundlagen von Forsters Charakterstruktur sich entwickelt haben. Ausführlich wird Forsters Rosenkreuzer-Zeit in Kassel als ein »Verstandesirrtum« - unter Rückgriff auf Prägungen durch den Vater Reinhold Forster - erörtert und verstehbar gemacht.79 Das gilt in anderer Weise - hier nämlich durch den Kontext der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse des Ancien Regime - auch für Forsters Positionen im Zusammenhang der Französischen Revolution und Mainzer Republikgründung.80 Es sind in erster Linie die Krisenund Angriffspunkte der Forsterschen Biographie, die ausführlich dargestellt werden, und zwar hier in erster Linie, insofern sie Forster als eine Persönlich73
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Briefe von und an Wilhelm v. Humboldt 1897 (Anm. 71), S. 24: Th. Huber an Alexander von Humboldt, 6. November 1827. Th. Huber an Paul Usteri, 6. März 1829 (Zürich ZB). Th. Huber an Simon Heinrich Gondela, 5. März 1829 (Göttingen SUB). Huber 1829 (Anm. 13), S. V. Vgl. hierzu Huber 1829 (Anm. 13), S. 147, die Schlußworte der Biographie: »Ob engherziger Tadel über seinem Grabe erschallte, weiß ich nicht, und wenn ichs wüßte, sollte es hier nicht erzählt werden. Jetzt nach drei und dreißig Jahren werde er durch diese Blätter wieder, was er sein Leben lang war, der Lehrer, Warner, Freund Aller, die ihn kennen lernten, und - Wer reiner ist als er, hebe den ersten Stein auf.« Huber 1829 (Anm. 13), S. 27 und S. 88. Huber 1829 (Anm. 13), S. 25ff., S. 30. Huber 1829 (Anm. 13), S. 68ff.
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keit von öffentlichem Interesse betreffen. Dazu gehören zwar seine Kindheitserfahrungen und die Bedingungen seines Elternhauses, weil sie die Bildung des Charakters verständlich machen sollen, nicht aber die seiner Ehe. Therese Huber stellt sich im Rahmen der Forster-Biographie in den Hintergrund und ausschließlich »als Forster's Gefährtin, als Hausfrau, und im zweiten Jahr ihres wilnaischen Aufenthalts als Mutter« dar.81 Sie begleitete und unterstützte sein Leben und Wirken gemäß der ihr von der Gesellschaft zugedachten Rolle. Nur im Kontext der Legitimation ihrer Flucht aus Mainz rückt sie sich selbst kurzfristig in den Mittelpunkt der Darstellung. Ihre kritischen Äußerungen zu Forster richteten sich in erster Linie auf dessen mangelhafte Fähigkeit, sich seinen ökonomischen Verhältnissen entsprechend einzurichten und zu verhalten. Die Auswirkungen tangierten einen ihrer zentralen Aufgabenbereiche - die Ökonomie des Haushalts - und standen im Gegensatz zu den Prinzipien von Sparsamkeit, die sie von frühester Jugend an gelernt hatte und auf die sie lebenslang stolz war.82 Nicht zur Sprache kommen dagegen die geistigen Interessen und Tätigkeitsbereiche Therese Hubers, die sie ebenfalls von frühester Jugend an entwickelt und geschult hatte und die Ansatzpunkte und Voraussetzungen einer literarischen Zusammenarbeit mit Forster geboten hätten. Mit einem Nebensatz streift sie, daß seine »Frau zur Theilnehmerin [...] seiner literarischen Interessen wurde.«83 Daß sie den Aspekt eigener literarischer Interessen in der ForsterBiographie völlig aussparte, hing in diesem Fall vermutlich nicht in erster Linie mit Weiblichkeitsvorstellungen und Ehekonzeption zusammen, sondern mit der Textsorte und der Aufgabe, die sie sich in diesem Rahmen gestellt hatte. Sie hatte gleichzeitig mit dem Entschluß, die Arbeit an der Forster-Biographie wieder aufzugreifen und zu Ende zu fuhren, auch den Wunsch geäußert, ihr eigenes Leben zu schreiben: »Ich will Forsters Leben schreiben und mein eignes im Bezug auf mein Geschlecht und auf meine Zeit -«, 84 Zur Ausführung ihrer Autobiographie reichten ihre Lebenszeit und -kraft jedoch nicht mehr aus.85
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Huber 1829 (Anm. 13), S. 39. Vgl. BTH (Anm. 4), Bd. 1, Nr. 21, Z. 13-16: Ihr Verhalten, mit ihrem Geld immer auszukommen, nie Schulden zu haben und sogar etwas übrigzubehalten, wurde von den Eltern durch Belohnung verstärkt: »Mein Vater der von der Haushältigkeit bei Mädchens mit Recht viehl hält, lobte mich gütig, und da er stillschweigend die Hand in die Tasche gestekt, so driikte er mir die meinige, und - der gute Vater! hatte mir einen Dukaten in die Hand gegeben.« Hierzu auch Nr. 32, Z. 28-30. Huber 1829 (Anm. 13), S. 40. Th. Huber an Paul Usteri, 19. und 20. März 1820 (Zürich ZB). Hierzu Magdalene Heuser: Fragmentierung einer Autobiographie - Therese Huber. In: Das schwierige 19. Jahrhundert. Festschrift für Eda Sagarra zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Jürgen Barkhoff, Gilbert CaiT, Wolfgang Frühwald, Roger Paulin. Tübingen 2000, S. 403416.
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4. Fazit Im Fall von Georg und Therese Forster, die sich beide durch eigenständige schriftstellerische Leistungen dauerhaft in die deutsche Literatur- und Kulturgeschichte eingeschrieben und damit gute Voraussetzungen für eine literarische Zusammenarbeit gehabt haben, hat es dennoch nur Ansätze hierzu gegeben: die Entlastung des Mannes von Aufgaben des Alltags durch die zeittypische Wahrnehmung der »Pflichten des Weibes« und die mit diesen Vorstellungen vereinbare Unterstützung der Arbeiten des Mannes durch Übernahme von Korrespondenz; anregende Teilnahme an den literarischen Ideen und politischen Idealen Forsters; die Übersetzung des dritten Bandes von Des Capitain Jacob Cook's dritte Entdeckungs-Reise, die jedoch als Mithilfe Therese Forsters in Georg Forsters Namen auf- und untergegangen ist. Wichtiger als diese Ansätze einer Kooperation, die unter der Perspektive von Therese Forsters beruflichen Fähigkeiten und Wünschen doch wohl eher als Scheitern zu bezeichnen wären, sind jedoch Therese Hubers Beiträge - durch die Briefe an Familie, Freunde und Kollegen und Georg Forster's Briefwechsel. Nebst einigen Nachrichten von seinem Leben - zur Einweisung Georg Forsters und seiner kulturhistorischen Leistungen in den Kontext unseres kulturellen Gedächtnisses. Wir haben hier also ein Beispiel literarischer Zusammenarbeit als rezeptionsorientiertes Zusammenwirken vorliegen.
Jochen Golz
Der Publikumsfreund Schiller und sein Autor Goethe Ein Blick in die Werkstatt der Venezianischen Epigramme
Wenn von exemplarischen Fällen literarischer Zusammenarbeit in der deutschen Literatur die Rede ist, muß das Arbeitsbündnis zwischen Schiller und Goethe als eines der ältesten und wichtigsten genannt werden. Mustert man daraufhin die germanistische Fachliteratur auch nur oberflächlich durch, könnte man leicht zu dem Schluß gelangen, daß das Thema weitgehend aufgearbeitet worden sei, wie man so gern sagt, und auch die nicht selten zu lesende Wendung »das ist bisher nicht bemerkt worden«, mit der Interpreten ihre Erkenntnisse zuweilen anzukündigen pflegen, will sich in diesem Falle nicht auf die Lippen drängen. Gleichwohl besteht zu radikaler Enthaltsamkeit kein Anlaß, denn es lassen sich immer noch scheinbar etwas abliegende Beispiele literarischen Zusammenwirkens der Klassiker ausfindig machen, an denen Differentia specifica dieses Bündnisses aufgezeigt werden können. Zu sprechen ist hier von Goethes Sammlung der Venezianischen Epigramme. Zu großen Teilen schon im Frühjahr 1790 in Venedig entstanden, wurden diese Epigramme im weiteren Verlauf des Jahres 1790 in zwei Arbeitshandschriften zusammengefaßt. Die erste, vor der Reise des Dichters nach Schlesien im Juli 1790 entstanden und 106 Epigramme umfassend, stellt eine erste Zusammenordnung der bis dahin verstreut überlieferten Gedichte dar und weist zahlreiche eigenhändige Korrekturen auf; Versuche, durch Bezifferung eine neue Abfolge herzustellen, sind ebenfalls darunter. An diese durch Bezifferung festgelegte Ordnung knüpft die zweite Arbeitshandschrift an, die, 138 Epigramme enthaltend, im Herbst und Winter 1790 entstand und vermutlich zum Jahresende abgeschlossen vorlag. Auch sie weist eigenhändige Korrekturen auf, sowohl Veränderungen am Text als auch neue Ordnungsversuche. Die wichtigste Änderung gegenüber dem früheren Arbeitsmanuskript besteht in der Einteilung in zwei Bücher, wobei das zweite Buch keinesfalls als in sich gerundet und abgeschlossen anzusehen ist. Nicht weniger als die erste Sammelhandschrift ist auch die zweite als >work in progress< anzusehen, als ein Medium der Selbstverständigung, kaum aber als eine für die Öffentlichkeit bestimmte Kundgabe.1
Zur Bewertung der Handschriften im einzelnen vgl. Gerhard Schmid: Die Handschriften zu Goethes Venezianischen Epigrammen. Prolegomena zur Analyse und Auswertung einer unausgeschöpften Quelle. In: Im Vorfeld der Literatur. Vom Wert archivalischer Überlieferung für das Verständnis von Literatur und ihrer Geschichte. Studien. Hrsg. von Karl-Heinz Hahn. Weimar 1991, S. 35-43.
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Gleichwohl läßt sich nicht übersehen, daß die Einteilung des Manuskripts in zwei Bücher nicht ohne eine gewisse Publikationsabsicht geschehen sein kann. Zunächst aber erprobte Goethe die Wirkung seiner Texte im kleinen. Der Herzogin Anna Amalia ließ er 1791 zu ihrem Geburtstag am 24. Oktober auf kleinen goldgeränderten Karten eine erste Auswahl von 74 Epigrammen in zierlichem Schreiberduktus überreichen. Man darf annehmen, daß Anna Amalia auch Mitglieder ihres intellektuellen Zirkels an der Lektüre teilhaben ließ. Eine eingeschränkte Öffentlichkeit war damit hergestellt. Ein Publikum im landläufigen Sinne konnte dann von einer schmalen Epigrammauswahl in der Deutschen Monatsschrift Kenntnis nehmen - im Juni- und Oktoberheft 1791 erschienen insgesamt 24 Texte - , zu der Karl Philipp Moritz, der Freund in Berlin aus römischen Tagen, den Dichter veranlaßt hatte. Diese Auswahl weist Parallelen zu der fur Anna Amalia getroffenen auf. Dann aber band Goethe den Epigrammsack zu. Warum er dies tat, läßt sich nicht mit einem Satz beantworten. Eine nicht unwesentliche Rolle spielte dabei Goethes Verhältnis zur literarischen Öffentlichkeit, das stets ambivalent geblieben war. Natürlich war auch dem jungen Dichter bewußt gewesen, daß Gattungen wie der Roman und das Drama erst im öffentlichen Raum ihre wirkliche Existenz als Kunstwerk erlangen, die Rezeption durch ein Publikum sie erst konstituieren konnten. Gleichwohl blieb Goethe vor Enttäuschungen nicht bewahrt, und die größte wurde ihm paradoxerweise durch die zeitgenössische WiertAer-Rezeption bereitet, die er noch in Dichtung und Wahrheit als Symptom eines ihn tief verstörenden Mißverständnisses gedeutet hat. In gewisser Weise war damit die Einsamkeit des Autors Goethe vorgezeichnet. Zwar konnte auch einen Goethe öffentlicher Beifall versöhnlich stimmen - so hat ihn der Erfolg von Hermann und Dorothea etwa durchaus befriedigt, und ein sehr gutes Honorar hatte er obendrein erhalten - , doch eine grundsätzliche Skepsis war auch durch solche Bekundungen aus dem Publikum nicht aufzuheben. Nicht zuletzt solcher Skepsis wegen - ich kürze hier sehr ab - hat der greise Autor das Manuskript von Faust II vor den Zeitgenossen versiegelt. Wiederum anders stellte sich das Publikumsverhältnis fur den Lyriker Goethe dar. Dieser sah Gedichte als Teil seiner selbst an, und es widerstrebte ihm von vornherein, Gedichte zu publizieren, Gefühle gegen Geld einzutauschen. Unmutig hatte Goethe stets reagiert, wenn Jugendfreunde ohne sein Einverständnis Gedichte von ihm veröffentlichten, und relativ spät erst entschloß er sich zur Herausgabe seiner Gedichte, als Göschen von 1788 an die erste Werkausgabe herausbrachte. Stets hatte auch für die Gedichte eine Maxime gegolten, die Goethe expressis verbis bereits in Italien formuliert hat: »Man muß schreiben wie man lebt, erst um sein selbst willen, und dann existirt man auch für verwandte Wesen.«2 Im Falle der Venezianischen Epigramme kamen noch andere Aspekte hinzu. Hatte Goethe seine Gedichte zumeist so gebaut, daß Persönlichstes dem ¿eserblick verborgen geblieben wäre, so hatte er in den Texten aus Venedig, souverän über 1
Johann Wolfgang Goethe: Werke. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. Weimar 1887-1919, Abt. I, Bd. 32, S. 106 (im folgenden zitiert als WA).
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die Tradition der römischen Epigrammatik - die des Martial vor allem - verfugend, derb und frei gesprochen. Das Mißverständnis hätte nahegelegen, solche Rollengedichte für des Dichters subjektive Bekundungen zu nehmen, Werk und Leben in einem vordergründigen Sinne zu identifizieren - was dann schließlich im negativen Sinne auch eingetroffen ist - , das Spiel mit literarischen Formen und Traditionen also nicht als Spiel wahrzunehmen. Solchen Mißverständnissen aber wollte Goethe sich zunächst grundsätzlich nicht aussetzen. Erst Schillers Auftreten sollte hier eine Wendung herbeifuhren. In dessen wirkungsstrategischem Konzept hatte das Publikum von vornherein ungleich größere Bedeutung beansprucht. »Das Publikum ist mir jetzt alles, mein Studium, mein Souverain, mein Vertrauter«,3 so hatte schon der junge rebellische Dramatiker in der Vorrede zur Rheinischen Thalia die Öffentlichkeit umworben. Für den Theaterautor Schiller hatte der Bühnenerfolg buchstäblich existentielle Bedeutung, und auch der Zeitschriftenherausgeber und Prosaautor sah stets darauf, den Markt zu erobern und das Publikum auf seine Seite zu bringen. Daß solche Intentionen aber keineswegs nur wirtschaftlichen Überlegungen entsprangen, erweist sich an Schillers Gedichten. Ihnen ist zumeist ein rhetorischer Gestus eigen, ein wirkungsstrategischer Impetus, stets darauf abzielend, eine literarische Öffentlichkeit wirksam zu beeindrucken, sie auf dem Wege ästhetischer Erziehung zu gewinnen und an sich zu binden. Ein >Publikumsfreund< darf Schiller mit gutem Grund genannt werden, und als Zeitschriftenherausgeber hat es Schiller in der Kunst der Publikumsbehandlung zu hoher Meisterschaft gebracht. Auch in seiner Annäherung an Goethe erwies sich Schiller als gewiefter Taktiker. Nach Jahren philosophischer Einkehr wollte sich Schiller von neuem auf dem literarischen Markt behaupten; mit Cotta hatte er die Gründung der Hören, mit dem Neustrelitzer Verleger Michaelis den Musen-Almanach verabredet, und Goethes Bekanntschaft hatte er nicht zuletzt deshalb gesucht, um ihn als Beiträger für beide Periodica zu gewinnen. Goethe sagte zu und bot dem Freunde im Herbst 1794 auch die Venezianischen Epigramme zur Veröffentlichung an. In seinem Brief an Schiller vom 26. Oktober 1794 heißt es: Wegen des Almanachs werde ich Ihnen den Vorschlag thun: ein Büchelchen Epigrammen ein oder anzurücken. Getrennt bedeuten sie nichts, wir würden aber wohl aus einigen Hunderten, die mit unter nicht producibel sind, doch eine Anzahl auswählen können die sich auf einander beziehen und ein Ganzes bilden. Das nächstemal daß wir zusammenkommen, sollen Sie die leichtfertige Brut im Neste beysammen sehen.4
Über die angedeuteten Auswahlprinzipien legte der Autor dann im Brief an Schiller vom 17. August 1795 Rechenschaft ab, der die Sendung der Druckvorlage begleitete; es heißt dort: Hier schicke ich Ihnen endlich die Sammlung Epigrammen, auf einzelnen Blättern, nummerirt, und der bessern Ordnung willen noch ein Register dabey, meinen Nahmen wünschte ich aus mehreren Ursachen nicht auf den Titel. Mit den Motto's halte ich vor rathsam auf die 3
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Friedrich Schiller: Werke. Nationalausgabe. Bd. 22: Vermischte Schriften. Hrsg. von Herbert Meyer. Weimar 1958, S. 94. WA, Abt. IV, Bd. 10, S. 204.
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Antiquität hinzudeuten. - Bey der Zusammenstellung habe ich zwar die zusammengehörigen hintereinander rangiert, auch eine gewisse Gradation und Mannigfaltigkeit zu bewürken gesucht, dabey aber um alle Steifheit zu vermeiden vorn herein, unter das venetianische Lokal, Vorläufer der übrigen Arten gemischt. Einige die Sie durchstrichen hatten habe ich durch Modification annehmlich zu machen gesucht. [...] Haben Sie sonst noch ein Bedenken, so theilen Sie mir es mit, wenn es die Zeit erlaubt, wo nicht; so helfen Sie ihm selbst ohne Anstand ab. - Ich wünschte einige Exemplare von diesem Büchlein besonders zu erhalten, um sie zum Gebrauch bey einer künftigen neuen Ausgabe bey Seite zu legen. 5
In der Tat repräsentiert die für den Musen-Almanach auf das Jahr 1796 zustande gekommene Auswahl von 103 Gedichten, veröffentlicht unter dem Titel Epigramme. Venedig 1790, den Textkanon bis hin zur Ausgabe letzter Hand. Versuchen wir aufgrund der brieflichen Aussagen Goethes die Rahmenbedingungen der Zusammenarbeit zu rekonstruieren, so ergibt sich etwa folgendes Bild: Wenige Tage nach dem 26. Oktober 1794 wird Goethe dem Freunde bei dessen nächstem Weimarer Aufenthalt das vorhandene Manuskript gezeigt haben; mit einiger Wahrscheinlichkeit hat es sich um das jüngere Arbeitsmanuskript aus dem Jahre 1790 gehandelt. Leicht vorstellbar, daß damals auch bereits über Auswahl und Komposition der Sammlung gesprochen worden ist. Die eigentliche Arbeit am Text hat dann zwischen November 1794 und August 1795 stattgefunden. Da die Druckvorlage, jene im Brief vom 17. August 1795 erwähnte Sammlung von Einzelblättem, nicht überliefert ist, können über Schillers Anteil an der Komposition der Sammlung im einzelnen keine verbindlichen Aussagen getroffen werden. Vieles wird zwischen ihnen mündlich verhandelt worden sein. Goethe wird auch deshalb die Druckvorlage als Einzelblattsammlung eingerichtet haben, um dem Redakteur Schiller die Möglichkeit von Umstellungen und Textänderungen einzuräumen. Hier bleiben wir auf Vermutungen angewiesen. Hingegen erscheint es nicht abwegig, das Manuskript von 1790 auf Spuren Schillerscher Redaktionstätigkeit hin durchzusehen; denn anzunehmen ist, daß Goethe die Druckvorlage aus dem redigierten Manuskript von 1790 herstellen ließ. Einen direkten Hinweis hat Goethe im Brief vom 17. August 1795 selbst gegeben: »Einige die Sie durchstrichen hatten habe ich durch Modification annehmlich zu machen gesucht.« Daß Schiller Streichungen vorgenommen hat, ist damit zweifelsfrei bezeugt. Gleichwohl bleiben Fragen offen. Das jüngere Manuskript enthält insgesamt 138 Epigramme, von denen nur 103 im Musen-Almanach publiziert worden sind. Zu vermuten ist, daß die reduzierte Auswahl unter erheblicher Mitwirkung Schillers zustande gekommen ist. Eine Entscheidung darüber, welche Streichungen im Manuskript eventuell von Schiller herrühren, ist jedoch nicht zu erlangen, weil Streichungen auch von Goethe selbst vorgenommen sein können in der Absicht, eine ältere Fassung aufzuheben und sie durch eine neue zu ersetzen. Überdies deutet der Umstand, daß Goethes eigene, durch Bezifferung markierte Auswahl >nur< 83 Epigramme umfaßte, daraufhin, daß eine verbindliche Auslese erst unmittelbar vor Drucklegung zustande gekommen ist. Hinzu tritt noch, daß einige im Manuskript gestrichene Epigramme dennoch im Musen-Almanach
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WA, Abt. IV, Bd. 10, S. 284f.
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veröffentlicht worden sind. Genauere Aufschlüsse könnte also nur ein Vergleich mit der Druckvorlage gewähren. Was sich mit einiger Wahrscheinlichkeit als Eingriff Schillers im Manuskript nachweisen läßt, sind gelegentliche »NB« am Rande sowie damit korrespondierende Anstreichungen im Text; an einigen Stellen finden sich auch Alternatiwarianten am Rande, alles jeweils mit Bleistift geschrieben. Sind Schillers Streichungen als radikalste Form der Kritik anzusehen, so repräsentieren Hinweise im Text mildere Formen des kritischen Eingriffs. Im folgenden möchte ich die einzelnen Stellen durchmustern und am Ende den Versuch unternehmen, die sich dahinter verbergende Intention näherungsweise zu beschreiben. »NB«-Zeichen stehen am Anfang und am Ende des folgenden Epigramms: Viele folgten dir gläubig und haben des irdischen Lebens Rechte Wege verfehlt wie es dir selber erging. Folgen mag ich dir nicht ich möchte dem Ende der Tage Als ein vernünftiger Mann als ein vergnügter mich nahn. Heute gehorch ich dir noch und wähle den Pfad ins Gebirge Dießmal schwärmst du wohl nicht, König der Juden leb wohl.®
Mit Bleistift unterstrichen sind außerdem »gläubig«, »irdischen«, »wie es dir selber erging« und »König der Juden leb wohl«. Die Wendung »Ende der Tage« ist ebenfalls unterstrichen, »Tage« in Klammern gesetzt und für »Tage« am Rand »Reise« vorgeschlagen. Schiller, so wollen wir annehmen, artikuliert hier seine Vorbehalte gegenüber Goethes radikaler Kritik am christlichen Dogma von der Doppelexistenz Jesu als Mensch und Gott, die dieser auch andernorts ausgesprochen hat. Bei Goethe liegt der Akzent auf Jesu irdischer Existenz, und diese sei durch ihn verfehlt worden. Wer ihm darum folge, verfalle einem Schwarmgeist, werde den rechten Lebenssinn verfehlen, werde weder Vernunft noch Vergnügtsein erlangen, in Goethes Sinne erstrebenswerte, von ihm selbst ersehnte Lebensqualitäten. Ein Plädoyer also für Lebenserfullung im irdischen Dasein, eine Absage an asketisches Schwärmertum. Ob die Variante »Reise« für »Tage« von Schiller oder von Goethe niedergeschrieben wurde, ist schwer zu entscheiden. Nicht auszuschließen ist die Annahme einer Goetheschen SpätkoiTektur unmittelbar vor Anfertigung der Druckvorlage. Offenbar akzeptierte der Dichter aber letztlich die Bedenken des Freundes, denn das Epigramm blieb zu Lebzeiten Goethes ungedruckt und wurde erst aus dem Nachlaß veröffentlicht.7 Macht man sich einmal die Schillersche Perspektive zu eigen, dann ist ein »NB« am Ende des folgenden Epigramms fast mit Notwendigkeit zu erwarten: Feyerlich sehn wir neben dem Doge den Nuncius gehen, Sie begraben den Herrn, dieser versiegelt den Stein. Ob der Doge der Schelm ist? ich weiß es nicht, aber der andre, Nuncius, Evangelist, Lügner, Betrüger sind eins.
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Johann Wolfgang Goethe. Venezianische Epigramme. Eigenhändige Niederschriften, Transkription und Kommentar. Hrsg. von Jochen Golz und Rosalinde Gothe. Frankfurt/Main, Leipzig 1999, S. 25. WA, Abt. I, Bd. 1, S. 441.
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Schillers kräftiges Bleistiftsignal bewog Goethe zum Einlenken, und so änderte er, ebenfalls im Zusammenhang mit der Vorbereitung des Druckmanuskripts, die beiden letzten Zeilen wie folgt: Was der Doge sich denkt? ich weiß es nicht, aber der andre Lächelt über den Emst dieses Gedränges gewiß.8
Die Karfreitagsprozession nach San Marco, bei der zum Abschluß ein hölzernes Bild des Gekreuzigten begraben und das Grab dann vom Dogen versiegelt wurde, gab Goethe Anlaß, nicht nur den Ritus der katholischen Kirche als leeres, betrügerisches Gepränge darzustellen, sondern, rigoroser noch, den Gekreuzigten selbst des Betrugs zu zeihen. Die zweite Version variiert das Thema im Ton aufgeklärter Geistigkeit: Während die Menge die rituelle Handlung gläubig akzeptieren soll, darf sich der geistliche Würdenträger (der weltliche, so muß man annehmen, ohnehin) über die unaufgeklärte Volksfrömmigkeit schon einmal erheitern. In dieser Fassung konnte Schiller das Gedicht für den Musen-Almanach akzeptieren. »Gedränge« ersetzte Goethe später durch »Gepränge«.9 »NB«-Zeichen finden sich auch an Anfang und Ende des folgenden Gedichts: Was auch Helden gethan, was Kluge gelehrt es verachtete Wähnender christlicher Stolz neben den Wundern des Herrn. Und doch schmückt er sich selbst und seinen nackten Erlöser Mit dem besten heraus was uns der Heide verlies. So versammelt der Pfaffe die edlen leuchtenden Kerzen Um das gestempelte Brod das er zum Gott sich geweiht.10
Zusätzlich unterstrich Schiller noch das Wort »Erlöser« in Zeile 3 und markierte damit einen besonders heiklen Punkt in Goethes antiklerikaler Argumentation. Mochte Schiller fur die Öffentlichkeit noch Goethes Überlegung, die christliche Kirche leugne offiziell das kulturelle Erbe der Antike, nehme aber in ihren rituellen Gebräuchen dieses Erbe auf, tolerieren können, so fürchtete er Ungemach bei den Orthodoxen, wenn die Existenz Jesu so radikal auf das Physische reduziert und sein »Schmuck« als heidnisch überfuhrt werde. Kryptisch spielen vielleicht auch Schillers Erinnerungen an die eigenen Jugendgedichte hinein, bei denen der Zensor gerade solche theologisch heiklen Stellen beanstandet hatte. Noch eine weitere Eigentümlichkeit muß uns beschäftigen. Neben dem unteren »NB« steht, mit Bleistift geschrieben, »verwandelt«. Nehmen wir einmal hypothetisch an, daß dieses Wort von Schiller stammt, dann läge hier der Fall eines direkten Alternativangebots vor, der Austausch von »gestempelt« durch das (theologisch korrektere) »verwandelt«. Weiteres Abwägen ist müßig, denn wahrscheinlich haben nicht zuletzt Schillers Bedenken Goethe dazu gebracht, das Gedicht nicht im MusenAlmanach zu veröffentlichen; es trat erst aus dem Nachlaß ans Licht."
8 9 10 11
Venezianische Epigramme (Anm. 6), S. 144. Vgl. WA, Abt. I, Bd. 1, S. 309. Venezianische Epigramme (Anm. 6), S. 180. Vgl. WA, Abt. I, Bd. 1, S. 452.
Der Publikumsfreund Schiller und sein Autor Goethe
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Als nächstes soll uns eines von den Bettine-Epigrammen beschäftigen. Da dieses Gedicht (Nr. 41 in der Ausgabe letzter Hand)12 wohl vor allem aus rhythmisch-metrischen Gründen nach der Miisen-Almanach-VxibXikaiion weiter bearbeitet worden ist, soll uns hier nur die eine Veränderung interessieren, die durch Schillers Monitum veranlaßt worden ist. In Zeile 3/4 »So zerrüttet auch Dürer mit Apocalyptischem Wahnsinn / Menschen und Grillen zugleich unser gesundes Gehirn« unterstrich Schiller »Wahnsinn«. Goethe änderte zu: »mit Apocalyptischen Bildern«. Das folgende Gedicht veranlaßte Schiller zu einem markanten »NB« am Anfang: Dich betrügt der Regente, der Pfaffe, der Lehrer der Sitten Und dieß Kleeblatt wie tief betest du Pöbel es an, Leider läßt sich noch kaum was rechtes denken und sagen Das nicht grimmig den Staat, Götter und Sitten verletzt.13
Ob sich Schillers »NB« auf das gesamte Epigramm bezieht, muß offenbleiben; vorstellbar ist durchaus, daß ihm Goethes Argumentation aus dem Geiste einer an Voltaire geschulten Aufklärung akzeptabel erschien, sofern man sie nicht als Anspielung auf konkrete politische Verhältnisse verstand. Ebendiese Gefahr aber lag für Schiller wohl in dem Wort »Regente« verborgen, und so markierte er es mit Bleistift. Goethe änderte »Regente« zu »Staatsmann«, ohne zu berücksichtigen, daß das nunmehr zweisilbige Wort eigentlich eine weitere Veränderung hätte nach sich ziehen müssen, etwa »betrügt« zu »betrüget«. Möglicherweise war ihm auch Schillers Hinweis Anlaß genug, erst gar nicht eine weitergehende Bearbeitung in Angriff zu nehmen und den Text in den Sack mit den »Inkommunikabilien« zu verbannen. Ein weiteres Epigramm (in der Ausgabe letzter Hand Nr. 72)14 fand Aufnahme in den Musen-Almanach, nachdem es in Schillers Sinne leicht verändert worden war: »Wir ich ein häusliches Weib und hätte was ich bedürfte, Treu und froh wollt ich seyn, herzen und küssen den Mann.« So sang unter andern gemeinen Liedern ein HOrchen Mir in Venedig und nie hört ich ein frömmer Gebet.15
Schiller monierte »Hürchen«, und Goethe strich das inkriminierte Wort durch und setzte »Dirnchen« daneben - sprachgeschichtlich ist dies insofern aufschlußreich, als »Dirne« damals allgemein noch die Bedeutung »junges Mädchen« hatte, eine pejorative Sinnfarbung aber offensichtlich schon existierte. In der Ausgabe letzter Hand hat Zeile 2 noch eine metrische Korrektur erfahren; sie beginnt: »Treu sein wollt ich und froh«.
12 13 14 15
Vgl. WA, Abt. I, Bd. 1, S. 317f. Venezianische Epigramme (Anm. 6), S. 207. Vgl. WA, Abt. I, Bd. 1, S. 324. Venezianische Epigramme (Anm. 6), S. 227.
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Der interessanteste Kasus liegt uns im folgenden Gedicht vor, weil hier Schillers Bedenken und die postum statthabende Zensur der Großherzogin Sophie zusammentreffen.16 Schiller ließ es bei einem »NB« bewenden, Sophie hingegen beauftragte eine ihrer Hofdamen, den Text mit einem Federmesser wegzuschaben, und diese besorgte ihre Arbeit gründlich, aber doch nicht gründlich genug. Denn die Herausgeber der Weimarer Ausgabe konnten den Text gerade noch entziffern, und da ihnen die vollständige handschriftliche Überlieferung zur Verfugung stand, entdeckten sie im Notizbuch aus Venedig auf Bl. 57 die ursprüngliche (wohl identische) Textversion: Wundem kann es mich nicht daß unser Herr Christus mit [...] Gem und mit Sündern gelebt, gehts mir doch eben auch so.17
Das letzte Wort in der ersten Zeile, im Arbeitsmanuskript besonders gründlich weggeschabt und darum absolut unleserlich, ist dank der Überlieferung im Notizbuch mit ziemlicher Sicherheit zu interpolieren. Dort ist als erster Buchstabe ein deutliches h auszumachen, so daß die auch metrisch zwingende Deutung »Huren« naheliegt. Ebenso naheliegend ist auch, daß die streng religiöse Großherzogin Goethes Verse als Blasphemie empfand und sie für alle Zeiten zum Verschwinden bringen wollte, weil das Bild des Olympiers Goethe in ihren Augen nicht befleckt werden durfte. Bibelfestigkeit war möglicherweise Sophiens Sache nicht, denn die vermeintlich anstößige Formulierung ist im Neuen Testament sinngemäß mehrfach belegt (Matth. 21,31-32 und Mark. 2,15-17). Erst lange nach Sophies Tod (1897) wurde die sekretierte Fassung in Band 53 der Weimarer Ausgabe öffentlich zugänglich. Schillers »NB«, das glücklicherweise vom Federmesser der Hofdame verschont blieb, hat aber auch Goethe zum Nachdenken veranlaßt. Denn im Musen-Almanach für das Jahr 1796 findet sich (auf S. 244) eine nahezu vollständige Neufassung des Gedichts: Weise Leute, sagt man, sie wollten besonders dem Sünder Und der Sünderin wohl, geht mirs doch eben auch so.
Im zweiten Band der Venezianischen Epigramme ist nur einmal die Spur von Schillers redaktioneller Durchsicht aufzufinden, und zwar in dem Verspaar: Kreuzigen sollte man ieden Propheten im dreysigsten Jahre, Kennt er nur einmal die Welt wird der Betrogne der Schelm.18
Schiller unterstrich »Propheten« mit Bleistift - sein mutmaßliches »NB« am Rande ist nur eben wahrzunehmen - , und Goethe änderte »ieden Propheten« in »jeglichen Schwärmer«, nahm also den direkten Jesus-Bezug heraus und gab dem Vers eine allgemeinere Bedeutung. Schwarmgeisterei, sie war ihm in vielfacher Form begegnet: in Gestalt des religiösen Eiferers Lavater, im Hochstaplertypus vom Schlage Cagliostros wie in den Schreckensmännern der Französischen Revolution. 16 17 18
Vgl. Venezianische Epigramme (Anm. 6), S. 229. WA, Abt. I, Bd. 53, S. 9. Venezianische Epigramme (Anm. 6), S. 270.
Der Publikumsfreund Schiller und sein Autor Goethe
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Zieht man eine Bilanz der Schillerschen Mónita, soweit sie sich in der Handschrift materialisiert haben, so fallt das Ergebnis eher bescheiden aus. Es sind im wesentlichen Rücksichten auf die religiösen und moralischen Prinzipien seines Publikums, in einem Falle auch einmal direkt politische Bedenken, die Schiller die Feder (hier: den Bleistift) fuhren ließen. Falsch wäre sicher der Schluß, daß Schiller selbst sich hier engherzig zu Wort gemeldet hätte. Wer wie er Goethes Römische Elegien in den Hören publiziert und sie stets auch gegenüber mißwollenden Kritikern verteidigt hat, ist von dem Vorwurf religiös-moralischer Befangenheit freizusprechen. Für den Herausgeber Schiller mußte es darum gehen, einen moderaten Weg zu finden zwischen den Leseerwartungen des Publikums und den Intentionen seines Autors Goethe. So zielten seine Vorschläge darauf ab, allzu radikale Kritik an christlichen Konfessionen und ihren Religionsübungen sowie an moralischen Konventionen abzumildern, das Publikum nicht vor den Kopf zu stoßen, insgesamt den »Unmut« in Goethes Versen zu dämpfen. Vergessen werden darf auch nicht, daß Schiller vermutlich zahlreiche andere Bedenken gesprächsweise vorgebracht und sie überdies als Streichungen fixiert hat. Denn zieht man ins Kalkül, daß die Publikation im Musen-Almanach sich auf etwa zwei Drittel aller entstandenen Epigramme beschränkt, dann wird eine solche reduzierte Auswahl auch auf Schillers kritischen Einspruch zurückzuführen sein, ohne daß wir dafür direkte Zeugnisse beibringen können. Offen bleiben muß auch, ob Schiller das Arbeitsmanuskript schon im Herbst 1794 oder erst im Frühsommer 1795 vorgelegen hat. Einiges spricht für das spätere Datum, denn es ließe sich auf diese Weise leichter die geringe Zahl von Schillers Einwendungen erklären; sie könnte als letzte Durchsicht angesehen werden, nachdem Goethe selbst im Arbeitsmanuskript gestrichen und auch Schillersche Streichungen bereits übernommen, weiteren Hinweisen durch Überarbeitung Rechnung getragen hatte. Es fällt auf, daß Schiller auf sprachlich-rhythmische Probleme überhaupt nicht eingeht. Möglicherweise war sein Respekt vor Goethes poetischer Autonomie allzu groß, vielleicht aber fühlte er sich auf dem Felde des deutschen Epigramms selbst nicht recht zu Hause. Daß die Weimarer Klassiker mit ihren Epigrammen in den Augen klassisch gebildeter und metrisch versierter Zeitgenossen ohnehin vor einem strengen Richter nicht bestehen konnten, bezeugen schon die Reaktionen auf die Xenien. Als Goethe daranging, seine Epigramme in die Werkausgaben aufzunehmen, versicherte er sich der metrischen Autorität von August Wilhelm Schlegel. Dieser erhielt Anfang 1800 eine Abschrift der Epigramme aus dem Musen-Almanach mit der Bitte um Korrekturvorschläge. Schlegel hat eine Liste von Veränderungen vorgelegt und diese mit ausführlichen Kommentaren versehen; die entsprechende Handschrift liegt noch unausgewertet im Goethe- und Schiller-Archiv. Friedrich Wilhelm Riemer, Goethes Helfer, war es dann, der die Änderungen prüfte und sie, sofern gebilligt, ins Druckmanuskript eintrug. In dieser Fassung, zusätzlich um einige Texte erweitert, wurden die Epigramme dann in allen zu Goethes Lebzeiten erschienenen Ausgaben gedruckt. Kommen wir noch einmal auf einen Satz im Brief Goethes an Schiller vom 17. August 1795 zurück: »Haben Sie sonst noch ein Bedenken, so theilen Sie mir es
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mit, wenn es die Zeit erlaubt, wo nicht; so helfen Sie ihm selbst ohne Anstand ab.« Tempo war auch damals bei Schlußredaktionen gefragt; der Musen-Almanach mußte Ende August in Satz gehen. Gleichwohl ist die poetische Lizenz, die Goethe hier dem Freunde Schiller erteilt, ungewöhnlich zu nennen. Inwieweit Schiller davon Gebrauch gemacht hat, entzieht sich im einzelnen leider unserer Kenntnis. Daß Goethe überhaupt Eingriffe von fremder Hand zugestand, ist durchaus nicht die Regel, bezeugt einerseits das Vertrauen, das er dem erfahrenen Redakteur Schiller entgegenbrachte, bezeugt zudem die Offenheit und spielerische Freiheit bei der Komposition der Sammlung insgesamt, bezeugt andererseits auch eine gewisse Gleichgültigkeit, möglicherweise auch Unsicherheit der eigenen Epigrammatik gegenüber. Soviel ist wohl wahr, daß Goethe seine Epigramme einerseits als Medium einer unbeschönigten Selbstkundgabe ansah, die vor der Welt verborgen zu halten war, andererseits als eine leichter zu handhabende satirische Gebrauchsform in der Tradition des Martial. Nahm Goethe die Welt sonst eher distanziert wahr, gab er im Gedicht dem eigenen Unmut kaum Ausdruck, so waren hier welthaltige und radikale weltkritische Gedichte entstanden, die, einmal dem Publikum überantwortet, notwendigerweise öffentliches, und das heißt in der Regel: kritisches Echo hervorrufen würden. Hier aber mußte ihm der Rat des Publikumsfreundes Schiller willkommen sein. Schiller hat, klug seine Spielräume erkennend und wahrnehmend, die Rolle des Vermittlers zwischen Autor und Publikum gespielt. Ein moderater Umgang mit der öffentlichen Meinung, wie ihn der Ratgeber in Jena nahelegte, wird Goethe in diesem Falle willkommen gewesen sein. Wie immer man im einzelnen Schillers hier detailliert rekonstruierte Bedenken bewertet: Blickt man auf die Zusammenarbeit insgesamt, so scheint die Behauptung nicht übertrieben, daß Goethes Venezianische Epigramme ihre beinahe schon definitive Gestalt wesentlich durch Schillers Mitwirkung erfahren haben.
Heinz Rölleke
»Wie die Dioskuren« - Art und Ergebnisse literarischen Zusammenwirkens in der Romantik
Die Romantik ist die hohe Zeit literarischer Gemeinschaftsleistungen. Allgemein bekannt ist die Neigung der Romantiker zu produktiver Adaption älterer Dichtungen: Zum Beispiel Ludwig Tiecks Bearbeitung der mittelalterlichen Versdichtung des Ulrich von Lichtenstein, Clemens Brentanos Erneuerung des Wickramschen Romans Der Goldfaden aus dem 16. Jahrhundert, Friedrich Schlegels und Brentanos Modernisierungen der barocken Lyrik des Friedrich von Spee, Achim von Arnims Bearbeitungen von Prosa- und Bühnendichtungen des 16. bis 18. Jahrhunderts in seiner Novellensammlung Der Wintergarten beziehungsweise in seinen Schauspielen Halle und Jerusalem oder Päpstin Johanna. Davon zu unterscheiden, wenn auch durchaus vergleichbaren Tendenzen folgend, ist die aktive Zusammenarbeit zweier oder mehrerer Literaten an einem Werk, beginnend mit Tieck/Wackenroders Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders von 1797 über Sophie Mereaus und Clemens Brentanos Spanische und Italienische Novellen aus dem Jahr 1804, hin zu Clemens Brentanos und Joseph Görres' Satire Entweder wunderbare Geschichte von BOGS dem Uhrmacher von 1807, die zwar anonym erschien, ihre Verfasser aber durch die vier Versalien des Namens BOGS (die Anfangs- und Endbuchstaben der jeweiligen Verfasser, nämlich Brentano und GörreS) zu erkennen gibt, deren Autorschaft auch durch entsprechende Repliken Johann Heinrich Voßens an beider Adresse gesichert scheint. Ähnlich verfuhr Achim von Arnim, als er am 7. Mai 1808 eine modernisierende Bearbeitung eines Kapitels aus dem Barockroman Frontalbo des Veriphantor in seiner Zeitung für Einsiedler veröffentlichte und mit »G - A« unterzeichnete: Jacob Grimm hatte im Auftrag Clemens Brentanos die überarbeitende Abschrift des Kapitels aus dem Veriphantor-Exemplar Brentanos erstellt, und Arnim hatte auf Anregung Brentanos die barocke Liedeinlage durch eigene Verse ersetzt. So bezeichnet »G« die produktive Mitarbeit Jacob Grimms, »A« weist auf Arnims Gedicht hin - wenn man will, darf man in dem zwischen »G« und »A« stehenden Gedankenstrich eine Andeutung des ebenfalls in Rechnung zu stellenden Anteils Brentanos sehen. In diesem Fall treten also Tendenzen der zuerst genannten poetisch-romantischen Rezeptionen älterer Literatur mit dem Hang zu gemeinschaftlicher literarischer Produktion zusammen. Der Hinweis auf zwei weitere Beispiele soll diese kleine Aufzählung romantischer Gemeinschaftsarbeiten beschließen. Noch in demselben Jahr 1808 kam in Berlin anonym heraus Die Versuche und Hindernisse Karls. Eine deutsche Geschichte aus neuerer Zeit - man weiß u.a.
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Heinz Rölleke
durch des Hauptverantwortlichen sprichwörtliche Redseligkeit, daß an diesem Roman eben der damals 23jährige Karl August Varnhagen von Ense (dessen Vorname ja auch den Romantitel bestimmte), Wilhelm Neumann, August Ferdinand Bemhardi und kein geringerer als Friedrich Baron de la Motte Fouqué gemeinsam geschrieben haben. »Geselligkeitstheoretisch« (was immer das meint), schreibt neuerlich Konrad Feilchenfeldt, »steht dieses romantische Gemeinschaftswerk zwischen Friedrich Schlegels >Lucinde< und Goethes >WahlverwandtschaftenJenatsch< nicht abkommen kann, auch seine Schwester nicht weglassen kann so viel sie auch leise und lauter zu uns seufze!« (Zitiert in: C. F. Meyers Briefwechsel. Historisch kritische Ausgabe, hrsg. von Hans Zeller. Bern 1999, Bd. 2, S. 327.)
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Hans Zeller
Herrn von Tremouille.10 Die erste Schicht bilden die dünnen Striche von Betsys Hand, eine Reinschrift. Darüber, einmal darunter stehen die starken Striche von Meyers eingreifender Überarbeitung. Die Reinschrift wird zum Entwurf. Das ist bei den langen Entstehungszeiten von Meyers Gedichten die Regel. Betsys Niederschrift geschah offenbar nach dem Diktat des Bruders. Typisch dafür ist die flüchtige Interpunktion. So in den interpunktionslosen Versen 9-11 : »Ich bringe die Büchsen zur Höhe hinan / Nicht Roß und nicht Farre / Bezwingen die [Starre-*] starre«. Die Korrektur im letzten Wort zeugt ebenfalls für das Diktat. Betsy verstand das Wort am Vers- und Satzschluß zunächst als Substantiv und merkte dann, daß es sich als Adjektiv auf v. 9 »Höhe« bezieht. Die Handschrift ist ein sprechendes Beispiel für das, was Betsy selbst als ihre Hilfe bei der Arbeit des Bruders zu bezeichnen pflegte. Den historischen Hintergrund des Gedichts Nr. 206 Die Seitenwunde (Abb. 2-4) bildet einer der Geschlechterkämpfe in den oberitalienischen Städten der Renaissance. Die Heldin und ihr durch einen Lanzenstoß in die Seite gefällter Sohn werden parallelisiert mit Maria und dem Gekreuzigten. Abb. 2 zeigt wiederum die erste Seite der frühesten erhaltenen Fassung des Gedichts,11 diesmal eines Entwurfs von Meyers Hand. Die Eintragungen mit dünnem, schwachem Bleistift sind von Betsys Hand, Kritik und Verbesserungsvorschläge. In Spalte 2 unterstreicht sie zwei Stellen in Meyers Niederschrift. In der Mitte: »Seht dort den (wunderkühnen Ritter)«; sie schlägt dafür vor: »Hier ficht ein (wunderkühner Ritter)«. Weiter unten unterstreicht sie die Stelle »Seht hier das Haupt ihr überhangen?«, die Meyer geändert hat zu: »Und wieder seht das Haupt ihr überhangen«. Dazu notiert Betsy am untern Rand eine Vorschlagsvariante: »Dort sinkt von Locken überhangen / ein junges Haupt «. Offensichtlich richtet sich Betsys Kritik beidemal gegen die aktualisierende Anrede eines imaginären Publikums oder des Lesers. Meyer hat beide Stellen in der folgenden Handschrift stark geändert und dabei eine der Anreden gestrichen (HKA 5, 76-79). Abb. 3 zeigt von derselben die zwei Innenseiten des Bogens. In Spalte 1 wieder drei kritische Unterstreichungen, die erste und die dritte mit Änderungsvorschlägen (»hohes?« für »rasend« bzw. »herrlich«, »Sturmes Dröhnen« für »einen Sturmwind«), die zweite mit der Aufforderung: »bestimmter!«. Meyer hat in der darauf folgenden Handschrift geändert und ging dabei noch weiter. Zu Spalte 2 von Seite 2 stehen Betsys Notizen auf der sonst freien Seite 3 der Handschrift. Meyers Ausdruck »Bis das Gericht vollendet sei« (Z. 4 in Spalte 2) bezeichnet Betsy als »schwächl«, klammert den reimbedingten Konjunktiv ein und schlägt vor: »Damit sich das Gericht erfüllt!« Das impliziert weitere Änderungen. Meyer hat diese Verse in der nächsten Fassung fallen lassen (HKA 5, 78).
10 11
Wiedergabe in HKA 5,59-61. Wiedergabe in HKA 5,71-75, S. 73 eine gute Reproduktion dieser Seite.
Betsy Meyers Mitautorschaft an C. F. Meyers Werk
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Drei Verse weiter unten, in der Mitte der Spalte, hatte Meyer geschrieben: »Gemahnt hat sie die Seitenwunde / Des Jünglings an der Reinsten Sohn«; Betsys Formulierung » der Schmerzenreichen Sohn« hat Meyer darauf an zwei Stellen der nächsten Fassung versuchsweise eingesetzt und an einer dritten beibehalten (HKA 5, 78 ν. 44α, 45a, 47γ). In Spalte 2 unten kritisiert Betsy den für das Verständnis wichtigen Schluß des Gedichts: »nicht klar genug! / Die Sühne stärker hervorzuheben«. Auch das hat Meyer befolgt. Das Gedicht wurde ständig noch weiter bearbeitet. Zwei Jahre später liegt die siebte uns erhaltene Handschrift vor, wieder mit Änderungen Betsys in Meyers Text. Abb. 5 zeigt eine Stelle aus der kritischen Ausgabe, hier in vereinfachter Wiedergabe.12 In der dritten Schreibschicht (MB7 3 ) sind Meyers Reaktionen auf Betsys Änderungen direkt abzulesen. An den in der Abb. 5 unterstrichenen Stellen liegen Ersetzungen der Adjektive im Wortfeld »Zorn« vor. In Vers 25 hat Meyer »zorngen« durch »finstern« ersetzt, weil er das Wort für v. 26 benötigte. In diesem Vers ist es nun Betsy, die das Wort wieder beseitigt, weil sie in v. 33 den Affekt der Mutter nicht als »trotzig«, sondern als »zornig« bezeichnen will. Meyer übernimmt in der dritten Schicht diese Änderung und ändert das Verb. In v. 26 hat Betsy »zornig« durch »verzweifelnd« ersetzt. Dieser Ausdruck wird von Meyer später für die Druckfassung zweifach übernommen, als Partizip und als Substantiv in der Überarbeitung für die Romanzen und Bilder (D8, v. 25 und 27). An dem Gedicht Nr. 5, das später den Titel Liederseelen erhielt (HKA 2, 123-135), haben die Geschwister während des Jahrzehnts von 1869-1879 intensiv gearbeitet. Erhalten sind davon zwei von Meyer allein und drei von Betsy allein geschriebene Handschriften. Zeitlich dazwischen steht die in Abb. 6 wiedergegebene Handschrift,13 an der Meyers Hand mit nur wenigen Änderungen beteiligt ist: ein Wort beim zweiten Pfeil und eine ganze Strophe rechts unten, und doch ist es eine der komplizierteren Handschriften des Nachlasses überhaupt. Sollte ein so wirres, schwer zu entzifferndes Schreibgebilde das Ergebnis eines Diktats sein? Ich halte das für ausgeschlossen. Da ist auf dem Papier gedichtet worden, als Schreibprozeß, nicht bloß im Kopf, zur mündlichen Formulierung. Wie kompliziert die Verhältnisse, das Ergebnis der Entzifferung tatsächlich sind, davon gibt ein Blick auf die vereinfachte Darstellung in der Ausgabe einen ersten Eindruck (Abb. 7).14 Die Handschrift weist an mindestens zwei Stellen nachweisbar eine Sofortänderung auf.15 Das ist eine Änderung, die eintrat, bevor das ersetzte Segment eine Fortführung bekommen hatte. So in der in verkehrter Schreibrichtung schräg geschriebenen Strophe im oberen freien Randbereich der Seite in Abb. 6. Die Niederschrift begann in der mit einem Pfeil markierten zweiten Zeile mit 12 13 14 15
Die ausflihrliche Wiedergabe in HKA 5,84. In HKA 2 nach S. 144 eine gute Reproduktion der Handschrift auf Photopapier. HKA 2,129 und 131. Die ausführliche Darstellung der Handschrift in HKA 2,128-132. Die Sofortändemng wird in der HKA mit zweimal gebrochener Linie bezeichnet (in Abb. 7 z.B. in Vers I [14]), in den für diesen Beitrag hergestellten Darstellungen mit dem Zeichen —I.
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Hans Zeller
großem »I«: »In dieser Nacht-i«. Der Versanfang wird abgebrochen bzw. er wird zum Ende des zweiten Verses: »Mit ihren trunknen Düften / Erschloß in [In] dieser Nacht« (in Abb. 7 die Stelle I ló'-ló1"). Eine andere nachweisliche Sofortänderung findet sich bei dem Abbruchzeichen nach Vers I [14]: »Die stillen Gartenräume / Sind mondenhell ge-ι«. Betsy klammert den nicht zu Ende geführten Satz ein und schreibt den neuen Strophenanfang darunter (II 13-14). Wollte man bei einer Niederschrift mit solchen Sofortänderungen annehmen, es liege ein Diktat vor, so würde man voraussetzen, Meyer habe beim Diktieren auch bloße Wortansätze gesprochen oder der Schwester über die Schulter gesehen, um diktierend auch unvermittelt im Satz auftretende Änderungen auf dem Papier festhalten zu lassen. Aber wozu dies? Daß es sich hier nicht um ein Diktat Meyers, sondern um eine Bearbeitung durch Betsy handelt, davon zeugt auch die für Betsys Handschriften typische Klammer um das (eventuell) zu Ersetzende, z.B. um die Verse I [13-14], Sie bedeutet, daß der Text nicht definitiv verworfen, sondern in Suspens gehalten wird: vielleicht kehrt der Text dahin zurück. Bei einem Diktat müßte man annehmen, Meyer selbst habe diese Möglichkeit diktierend in Betracht gezogen und entsprechende Anweisung erteilt. Das ist auch darum ganz unwahrscheinlich, weil ich mich nicht erinnere, diese suspendierenden Klammern in Handschriften Meyers gesehen zu haben. Die Sofortänderung als Hinweis oder Kriterium für eine Niederschrift nicht nach Diktat scheint mir um so mehr Gewicht zu haben, als diese Deutung die Umkehrprobe besteht. Die in Abb. 1 teilweise reproduzierte Handschrift ist eine typische Diktatniederschrift. Sie weist deshalb in ihren 60 Versen keine Sofortänderungen auf, sondern nur diktatbedingte Änderungen bei winzigen Verschreibungen eines einzelnen, nicht mehr lesbaren Buchstabens (HKA 5, 5761). Ebenso verhält es sich z.B. bei der hier nicht reproduzierbaren Handschrift des Gedichts Nr. 173 BM2 Die Söhne Haruns in ihrem Umfang von 80 Versen.16 Ich muß annehmen, der Text der Handschrift BM4 von Liederseelen (Abb. 6) sei in seiner ersten Schicht (BM41) eine Bearbeitung durch Betsy Meyer. Interessanterweise bildet der Text die Bearbeitung einer vorhergehenden Diktatniederschrift durch Betsy (Β3). Der Bearbeitung Betsys (BM41) folgen in derselben Handschrift zwei leichte Überarbeitungen durch Meyer, die eine mit breiterer Feder (BM4 2), die andre mit Bleistift (BM4 3). Auf sie folgt Betsys Reinschrift (B5) des in BM4 letztgültigen Textes (HKA 2,123f.). Abb. 8 zeigt die erste Doppelseite eines merkwürdigen Dokuments, eines Taschenbüchleins mit dem Titel Preußischer Schreib-Kalender fiir Damen. 1871. [...] Berlin, Verlag der Königlichen Geheimen Ober-Hofbuchdruckerei, ein Geschenk der Gräfin Caroline Plater an Betsy Meyer. Betsy benützte den kleinen Kalender beim Bergaufenthalt mit dem Bruder in Davos im Sommer und Herbst 1871 zu Entwürfen für Gedichte, Hutten und Engelberg und für ein 16
Eine hochwertige Reproduktion auf Photopapier in HKA 4, nach S. 416. Diktattypisch ist dort auch der bei apokopierten Präteritalformen fehlende Apostroph: »Hat ich noch im aufgedrungen« statt »Hatt'« (HKA 4,408, v. 76).
Betsy Meyers Mitautorschaft an C. F. Meyers Werk
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paar andere Notizen, zusammen 48 Einträge, fast alle mit Bleistift in winziger Schrift. Von Meyers Hand stammen nur ein paar nachträgliche Änderungen.17 Rechts in Abb. 8 die erste Kalenderseite mit 4Ά Versen zu Engelberg, darunter der Vorschlag zu einer Wortänderung auf Seite 45 des Hutten, am untern Rand der Seite der Schluß der Verse auf der Seite links, ein Entwurf ohne Überschrift zum Gedicht Nr. 223 B3 Die Karyatide, die Bearbeitung zweier vorangehender Handschriften B1 und B2 ebenfalls von Betsys Hand. Das Gedicht bezieht das Massaker der Pariser Kommune im Mai 1871 auf das der Bartholomäusnacht. Alles mit spitzem Bleistift. Das Blattformat beträgt knapp TA cm, der freie Raum zwischen den Zierleisten des Kalendariums 2 cm weniger. Das Format des Büchleins ist geeignet für das Handtäschchen - Betsy teilte mit, die Entwürfe stammten »aus dem Walde in Davos-Wolfgang« (HKA 2, 58), - ist aber ganz ungeeignet für Diktatniederschriften. Die Korrekturenknäuel dieser Niederschrift als solche deuten ebenfalls auf spontane Niederschrift. Der zweite Knäuel gilt allein dem Vers 12. Die Stelle wird hier in vereinfachter Weise wiedergegeben.18
11 Da regte langsam sich die Marmorfrau, 12 Die [junge] [Stime hell] durchströmt von Blut jungen Glieder /wie ] [ 7 [hell] wie Blut, Es über[strömt] sie hell [ steigt ] athmet warm in ihr [Als] [ ] [Hell stei]-, Da [strömt][es] warmauf ihre [Stirn] [v] [strömte] [ ][ ] []/Stime/Blut [ strömt' u lebt ] Da lebt ihr Antlitz, strömt ihr Blut. Das Kriterium der Sofortänderung (z.B. in den Zeilen 4 und 5 von unten, ebenso in Z. 1 in Abb. 8) bestätigt die Deutung, daß kein Diktat vorliegt. Eine solche 17 18
Beschreibung und Inventar des Kalenders in HKA 2,58-65. Ausführliche Wiedergabe in HKA 5, 311 f., dort S. 315 eine gute Reproduktion der beiden Kalenderseiten. - Die Tilgungsklammer [ ] hat, wenn ihr nicht das Zeichen -i für Sofortändening folgt, futurische Bedeutung, d.h. sie wird erst im Übergang auf die darunterstehende Zeile der Darstellung wirksam. Ein so eingeklammertes Textsegment ist also erst auf der Folgezeile für den geltenden Textzusammenhang nicht mehr mitzulesen. Dasselbe gilt bei der Klammer [ ] für eine von der Schreiberin (versehentlich) unterlassene Streichung. Z. 3 von unten ist also zu lesen: »Da strömte warm auf ihre Stime Blut«, Z. 2 von unten: »Da strömt' u lebt ihr Blut«.
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Änderung ist zu beobachten in der fiinftletzten Darstellungszeile: »[Hell stei]-.« und in Zeile 1 der Handschrift (Abb. 8): »/Es steht hoch an/-.«. Beidemale ist der Vers oder sogar das Wort nicht zu Ende geschrieben, der neue Ansatz steht darunter: »Am Louvre steht hoch an der Säulenwand« bzw. »Da strömt es warm auf ihre Stirn«. Ebenso auf der untersten Zeile der beiden Seiten: »[Sie staunte]-!«, dahinter: »Erwachend starrt sie in den Brand u sann, Es ist Paris, sie morden sich - « . Für mich ist auch bei diesem Zeugen der Indizienbeweis für eine spontane Aufzeichnung Betsy Meyers schlüssig. Interessanterweise sind alle vier von diesem Gedicht erhaltenen Handschriften von Betsy geschrieben, und keine scheint eine Diktatniederschrift zu sein. Es handelt sich hier um ein 1871 entstandenes Gedicht zur Zeitgeschichte mit politisch-ideologischer Färbung. Politisch-ideologisch in weit höherem Maß sind die folgenden Gedichte aus derselben Zeit. Sie thematisieren den Deutsch-Französischen Krieg und die Reichsgründung. Sie stehen auf einem großen, betrachtens- und nachdenkenswürdigen Blatt. Wegen seiner Beschaffenheit (grobes graues Konzeptpapier, starke blaugrüne Papierfaser, Betsys Hand mit Bleistift) ist es mit den zur Verfügung stehenden Mitteln schwierig zu reproduzieren. Daß Betsy fur die Entwürfe zu den drei Gedichten den Bleistift benützt hat, ist bereits, wie beim Gedicht Die Karyatide, ein Indiz für spontane Niederschrift. Diktate schrieb sie mit der Feder. Daß Betsy fur ihre Verse nicht auf Schreibpapier, sondern auf einen vom Bruder bereits für einen Briefentwurf benützten geringwertigen Textträger schrieb, deutet wiederum darauf, daß sie ihre Arbeit, ihr Werk wirklich so gering achtete, wie es ihre Zeugnisse zum Ausdruck bringen. Ich führe die verschiedenen Eintragungen ungefähr in der Reihenfolge ihrer Niederschrift vor. Die Abbildungen 9 und 10 zeigen die erste und zweite Seite des Blattes, das durch eine nachträgliche Faltung jetzt zwei Innen- und zwei Außenseiten aufweist. In der Mitte der Innenseiten (Abb. 9) steht ein vor der Faltung geschriebener Briefentwurf Meyers in der Schrift frühestens vom Sommer 1870. Die Schwester hat das Blatt gefaltet, kopfüber gewendet und in die vier Ecken der Vorderseite des Blattes bzw. nun der Innenseiten vor Ende des Jahres 1870 Verse zu zwei verschiedenen Gedichten geschrieben: rechts oben die erste fragmentarische Fassung eines längern Gedichts, gestrichen zugunsten der zweiten Fassung auf der Rückseite. Auf der Vorderseite steht in der Ecke rechts unten der Schluß dieser zweiten Fassung. Die dritte Fassung, auf einem andern Blatt, trägt den Titel Germanias Sieg (Gedicht Nr. 602, HKA 7,199-201 und 600-607). Im linken Teil der Innenseiten hat Betsy die Bearbeitung eines Gedichts eingetragen, das 1860 bereits in Meyers frühester, zu seinen Lebzeiten ungedruckten Gedichtsammlung Bilder und Balladen gestanden hatte, das nun eine ta-
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gespolitische Wendung erhielt und mit dem Titel Kindliche Sorge Mitte Januar 1871 in einer Stuttgarter Zeitung erschien.19 Abb. 10 zeigt die Außenseiten des Bogens, Abb. 11 die linke Hälfte davon. Hier hat Betsy in zwei Spalten den noch überschriftlosen Entwurf des Gedichts Nr. 602 Germanias Sieg eingetragen, 81 Verse, zunächst fast ohne Korrekturen, jedoch mit mindestens drei Sofortänderungen.20 Dann hat Betsy die Verse mit weicherem, dunklerem Bleistift überarbeitet. Das sich bietende Bild bezeugt die spontane Niederschrift. Meyer hat von dem Gedicht eine Reinschrift mit einigen Änderungen hergestellt. Eine zur Publikation bestimmte Reinschrift davon sandte Betsy im Dezember 1870 zusammen mit den zwei anderen politischen Gedichten Nr. 504 Kindliche Sorge und 503 Der deutsche Schmied, die auf dem Bogen entworfen sind, an Mathilde Wesendonck. Die zwei kleineren Gedichte erschienen anfangs 1871 in mehreren deutschen Zeitungen und Zeitschriften. Der Entwurf zum Gedicht Nr. 503 Der deutsche Schmied (Abb. 12), rechts von dem langen Gedicht, ist von besonderem Interesse. Das Gewirr der Änderungen ist in Abb. 13 aufgelöst. (Dabei fallen die allein mit M2 bezeichneten Textelemente vorläufig außer Betracht.) Der stark korrigierte Entwurf ist selbstverständlich kein Diktat. Die Abfolge von Schreibansätzen wie in Vers 5 wäre in einer Diktatniederschrift nicht denkbar.21 Auch der Anfang von Vers 12 ven-ät die spontane Niederschrift: Betsy schreibt zuerst »Der soll«, bricht ab, die Feder geht zum Zeilenanfang und überschreibt ihn mit »Er«, geht ans Ende des bisher Geschriebenen und wiederholt versehentlich »soll«. Das eigenartigste ist nun aber, daß wir in dieser Handschrift nicht nur den ältesten erhaltenen Zeugen, sondern »den allerersten Bleistiftentwurf des deutschen Schmids u. zwei anderer Gedichte aus jener 70ger Zeit« (d.i. der Gedichte Nr. 504 und 602) vor uns haben, wie Betsy gegenüber Adolf Frey betonte, als sie ihm das Blatt zur Auswertung für die Biographie Meyers übersandte.22 Von den fünf Handschriften des Gedichts Nr. 503 Der deutsche Schmied ist nur die zweite (M2) von Meyers Hand. Was Meyer an Betsys Text geändert hat, also die Abweichungen von M2 gegen B1, findet der Leser in der Synopse der beiden Handschriften in Abb. 13 auf den Zeilen, wo die Sigle M2 am Zeilenanfang steht: Im Titel ändert Meyer Interpunktion und Orthographie, v. 3: Meyer entscheidet sich für die erste von Betsys Alternatiwarianten. v. 6 und 12: Meyer ändert die Interpunktion. Darauf also beschränkte sich Meyers Revision. Von ihm selbst stammt kein Wort. Die Ausführung, der Text Wort für Wort, Versmaß, Strophe, Reim, viel-
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Gedicht Nr. 329 Das Bild des Vaters, HKA 6, 28 und 537-544, bzw. Nr. 504 Kindliche Sorge, HKA 7,22 und 395-398. Verse 52,69,75. HKA 7,602-606. Die drei gleichlautenden Anfänge darf man sich so erklären, daß Betsy den Ansatz auf Zeile 1 strich, weil sie ihn durch einen andern ersetzen wollte, aber vor Beginn seiner Niederschrift zum bereits gestrichenen Wortlaut zurückkehrte und ilm auf Zeile 2 wiederholte. Der Vorgang wiederholte sich im folgenden. 24.11.1892, zitiert HKA 7,606. Freys Biographie: s. Anm. 8.
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leicht auch die Idee dazu stammen von Betsy. In überarbeiteter Fassung stand das Gedicht seit der dritten Auflage (1880) auch in Huttens letzte Tage?3 Die hier handschriftlich vorgelegte Fassung ließ Meyer im Dezember 1870 durch seinen »Sekretär« Betsy kopieren und an Haessel, Mathilde Wesendonck und weitere Personen senden zur Publikation in deutschen Organen (HKA 8, 388391). Das Gedicht wurde vertont und später auch in mindestens vier Anthologien aufgenommen. In einer von diesen erschien es anonym. Meyer reklamierte es beim Herausgeber: Es »ist von mir. [...] ich bin versichert, daß Sie in Ihrer nächsten Auflage den Autor [...] nennen werden« (HKA 8, 388391). Mindestens in diesem Werk zeigt sich Betsy Meyer nicht nur als Mitautorin, sondern als die Autorin eines von »Meyers« Werken. Bisher sind ausschließlich Texte in Versen vorgeführt worden. Als einleitendes Beispiel wurde jedoch die Erzählung Der Heilige erwähnt, weil Betsy dafür nach Meyers Tod Mitautorrecht nachdrücklich geltend machte. In den vom Mitherausgeber A. Zäch besorgten Bänden mit dem Hutten, Engelberg und der Prosa wird freilich das Problem ihrer Mitautorschaft nicht angesprochen, die Frage nach der Bedeutung der von der Schwester geschriebenen oder korrigierten Handschriften nicht gestellt, obwohl z.B. der Entwurf von Abb. 12 in HKA 8, 521-522 beschrieben und reproduziert, der Bogen, auf dem dieser Zeuge und Betsys andere Entwürfe der Zeitgedichte stehen, dort erwähnt wird. Da Der Heilige in diesem Zusammenhang von besonderem Interesse ist, lohnt es sich, die älteste erhaltene Handschrift der Novelle vorzunehmen, die der Herausgeber sogar für die erste Niederschrift überhaupt hält (HKA 13, 396). Sie steht auf den Seiten 1-17 von fünf großen, ineinander gelegten Bogen, S. 1 13 von Betsys Hand mit wenigen Änderungen Meyers, S. 14-17 von Meyers Hand.24 Nach Meyers Schrift ist die Handschrift auf etwa 1875 zu datieren. Wie in den Buchfassungen seit 1880 beginnt das erste Kapitel mit dem Ritt des Armbrusters, des Rahmenerzählers, nach Zürich. Abb. 14 und 15 geben drei Stellen aus diesen Kapiteln in der Handschrift und in ihrer genetischen Transkription wieder. Auf der ersten Seite finden sich auf wenigen Zeilen bei der Stelle A nebst drei anderen fünf Sofortänderungen (-i). Ein Diktat erscheint also unwahrscheinlich. An der Stelle Β zeigt die Handschrift ein unübersichtliches Bild, so wie es entsteht, wenn der Schreibende das Geschriebene sinnend überblickt und da und dort Änderungen vornimmt, ein Bild, wie es sich bei einem Diktat nicht ergibt. In höherem Grad gilt das von der wenige Zeilen darüber stehenden Stelle C, die in der Darstellung des Herausgebers A. Zäch (HKA 13, 314) wiedergegeben wird, in welcher aber die Sofortänderungen nicht erkennbar sind. Schon bevor die in der Wiedergabe zwischen + gestellten zusätzlichen
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HKA 8,75 und 526-531, als Nr. XXXIX bzw. XXXVII unter dem Titel Die Schmiede, Der geheimnißvolle Schmied bzw. Der Schmied. Entwurf zu den drei ersten Kapiteln, überschrieben Der neue Heilige, beschrieben HKA 13, 305f., abgedruckt S. 306-322. Von Meyers Hand stammen weniger Änderungen, als diese Transkription angibt.
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Varianten von Meyers Hand dazutraten, bot die Handschrift ein so unübersichtliches Bild, wie man es sich als Ergebnis eines Diktats kaum vorstellen kann. Diese unübersichtliche Handschrift kann nicht das Manuskript des Heiligen gewesen sein, aus dem Meyer vor Ende Juni 1875 bei den am Mittwoch üblichen Zusammenkünften mit Wille auf »Mariafeld« vorgelesen hat.25 Wenn es aber, wovon der Herausgeber der Prosa überzeugt ist, »die erste, im Sommer 1875 niedergeschriebene Fassung des >Heiligenverballhomt« » £ " ~ -¿Γ " .
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