Adel und Bürgertum in Deutschland: Teil 2 Entwicklungslinien und Wendepunkte im 20. Jahrhundert [Reprint 2014 ed.] 9783050078793, 9783050035512

Die Reihe "Elitenwandel in der Moderne" publiziert die Ergebnisse eines Forschungsprojekts, das den Prozeß der

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German Pages 295 [300] Year 2001

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Table of contents :
Einleitung
Bürgerliche und adlige Krieger: Zum Verhältnis zwischen sozialer Herkunft und Berufskultur im wilhelminischen Armee-Offizierkorps
Die Flucht des Kaisers - Doppeltes Scheitern adlig-bürgerlicher Monarchiekonzepte
Der Putsch der „Prätorianer, Junker und Alldeutschen“. Adel und Bürgertum in den Anfangswirren der Weimarer Republik
Schock und Chance. Der preußische Militäradel in der Weimarer Republik zwischen Stand und Profession
„Führertum“ und „Neuer Adel“ Die Deutsche Adelsgenossenschaft und der Deutsche Herrenklub in der Weimarer Republik
Orientierungskrise und Zerfall des autoritären Konsenses: Adel und Bürgertum zwischen autoritärem Parlamentarismus, konservativer Revolution und nationalsozialistischem Führeradel 1928-1933
Jenseits des Nationalismus ? - „Europa“ als Konzept grenzübergreifender adlig-bürgerlicher Elitendiskurse zwischen den beiden Weltkriegen
Adel und Adeligkeit im Widerstand des 20. Juli 1944
Teilnehmer an den beiden Symposien “Adel und Bürgertum im 19. und 20. Jahrhundert“
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Adel und Bürgertum in Deutschland: Teil 2 Entwicklungslinien und Wendepunkte im 20. Jahrhundert [Reprint 2014 ed.]
 9783050078793, 9783050035512

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Heinz Reif (Hg.) Adel und Bürgertum in Deutschland II

ELITENWANDEL IN DER MODERNE Herausgegeben von Heinz Reif in Zusammenarbeit mit René Schiller Band 2 Band 1 Adel und Bürgertum in Deutschland I. Entwicklungslinien und Wendepunkte im 19. Jahrhundert, herausgegeben von Heinz Reif

Heinz Reif (Hg.)

A D E L UND BÜRGERTUM IN DEUTSCHLAND II Entwicklungslinien und Wendepunkte im 20. Jahrhundert

Akademie Verlag

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei Der Deutschen Bilbliothek erhältlich ISBN 3-05-003551-X © Akademie Verlag GmbH, Berlin 2001 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Einbandgestaltung: Jochen Baltzer Druck: G A M M E D I A , Berlin Bindung: Norbert Klotz, Jettingen-Scheppach Printed in the Federal Republic of Germany

Inhaltsverzeichnis

HEINZ REIF

Einleitung

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M A R K R . STONEMAN

Bürgerliche und adlige Krieger: Zum Verhältnis zwischen sozialer Herkunft und Berufskultur im wilhelminischen Armee-Offizierkorps

25

MARTIN KOHLRAUSCH

Die Flucht des Kaisers Doppeltes Scheitern adlig-bürgerlicher Monarchiekonzepte

65

A X E L SCHILDT

Der Putsch der „Prätorianer, Junker und Alldeutschen". Adel und Bürgertum in den Anfangswirren der Weimarer Republik

103

M A R C U S FUNCK

Schock und Chance. Der preußische Militäradel in der Weimarer Republik zwischen Stand und Profession

127

STEPHAN MALINOWSKI

„Führertum" und „Neuer Adel" Die Deutsche Adelsgenossenschaft und der Deutsche Herrenklub in der Weimarer Republik

173

WOLFGANG ZOLLITSCH

Orientierungskrise und Zerfall des autoritären Konsenses: Adel und Bürgertum zwischen autoritärem Parlamentarismus, konservativer Revolution und nationalsozialistischem Führeradel 1928-1933

213

GUIDO MÜLLER

Jenseits des Nationalismus ? - „Europa" als Konzept grenzübergreifender adlig-bürgerlicher Elitendiskurse zwischen den beiden Weltkriegen 235

ECKART CONZE

Adel und Adeligkeit im Widerstand des 20. Juli 1944

269

Teilnehmer an den beiden Symposien "Adel und Bürgertum im 19. und 20. Jahrhundert"

,297

HEINZ REIF

Einleitung*

„Die preußischen Junker können, wenn sie von der Bildfläche abtreten sollten, ruhig abwarten, ob Elemente, die jetzt zur Regierung berufen werden, es besser können als sie. " (Elard von Oldenburg-Januschau, 1936)

I.

Adel wie Bürgertum verstanden den Prozeß der Elitenbildung im 19. wie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Bildung eines „neuen Adels", das heißt: Adel und Adelskultur gehörten in Deutschland bis in die Zeit des Nationalsozialismus hinein zu den offenbar unverzichtbaren Ressourcen neuer Elitenbildung. Am Anfang des Forschungsprojekts „Elitenwandel in der gesellschaftlichen Modernisierung" standen zwei Konferenzen, die einen Überblick über die Beziehungsgeschichte der beiden Protagonisten im Prozeß der Elitenbildung, Adel und Bürgertum, erarbeiteten. Im ersten Band dieser Reihe, der sich auf den Elitenwandel im langen 19. Jahrhundert konzentrierte, wurden drei *

Die mit diesen Bänden I und II beginnende Buchreihe präsentiert Ergebnisse des Forschungsprojekts „Elitenwandel in der gesellschaftlichen Modernisierung. Adel und Bürgertum im 19. und 20. Jahrhundert", das in Durchfuhrung wie Drucklegung von der Deutschen Forschungsgemeinschaft in großzügiger Weise gefordert wurde. Alle Mitarbeiter dieses Forschungsprojekts sind der DFG zu Dank verpflichtet. Die beiden Tagungen zur Geschichte von Adel und Bürgertum in Deutschland, deren Beiträge in den ersten zwei Bänden dieser Reihe veröffentlicht werden, sind durch die Unterstützung der Werner-Reimers-Stiftung ermöglicht worden und fanden in deren Haus in Bad Homburg statt. Auch dieser bewährten Einrichtung der Forschungsforderung gilt unser herzlicher Dank.

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Heinz Reif

Perioden dieser Beziehungsgeschichte herausgearbeitet:** In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts schien noch vieles denkbar und machbar. Die Begegnungen zwischen Adel und Bürgertum im staatlichen, beruflichen und gesellschaftlichen Bereich nahmen an Zahl wie an Intensität rasch zu. Die Imaginationen über das künftige Verhältnis zueinander reichten von der Bildung einer adlig-bürgerlichen composite élite bis zur völligen Einschmelzung des Adels in die aufkommende bürgerliche Gesellschaft. Die siegreiche Gegenrevolution, vor allem aber die Einrichtung des Herrenhauses 1854 in Preußen brachten dann eine langfristig folgenreiche Wende: Der preußische Adel, und auf längere Sicht auch der Adel des kleindeutschen Reiches gewann die Vision eines vom preußischen Königtum und dessen Militär gestützten eigenen Weges durch das weitere Jahrhundert. Von dieser Vision neu motiviert sammelte er in ständischer Reorganisation seine Kräfte und richtete sich noch entschiedener als bisher auf den Dienst für Monarchie und Staat aus. Der Adel blieb stark, zu stark für einen schrittweisen Rückzug aus der Geschichte, zu stark und zu „eigensinnig" selbst für die Idee der Bildung einer composite élite. Die bürgerlichen Angebote, gemeinsam eine neue Aristokratie und politische Klasse zu bilden, gingen ins Leere, obwohl angesichts fortschreitender proletarischer und kleinbürgerlicher Radikalisierung und damit einhergehenden Drucks von unten vieles dafür sprach. Adligbürgerliche Elitenbildung konnte damit im Grunde nur dort voranschreiten, wo sich der Adel aus eigener Entscheidung konzentrierte, in Militär- und Staatsdienst. Eine Erweiterung dieses engen Begegnungsfeldes konnte nach 1848/54 letztlich nur noch durch Lenkung von oben, durch Wegweisungen des Monarchen und seiner Regierung erfolgen. Und diese Aufforderung zu einer offenen Elitenbildung blieb aus. Erst in den 1890er Jahren eröffnete der Wilhelminismus neuen Raum für eine solche Aristokratiebildung von oben. Der bürgerliche Reichtum, in den 1870er Jahren noch als schnöder Materialismus stigmatisiert, hatte sich inzwischen veredelt, ließ sich an Kultur, Militärbegeisterung und Monarchiebindung vom Adel nur noch schwer übertreffen. Adlige Exklusivitätsbereiche wurden nun wieder stärker abgebaut, neue Felder gesellschaftlicher Begegnung und gemeinsamer Aktivität erschlossen. Zugleich aber wurde das inzwischen erreichte Ausmaß an Heterogenisierung und Desintegration auf beiden Seiten sichtbar: Ein schillerndes Spektrum bürgerfeindlicher Bürger und **

Vgl. Heinz REIF (Hg.), Adel und Bürgertum in Deutschland I. Entwicklungslinien und Wendepunkte im 19. Jahrhundert, Berlin 2000.

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Einleitung

unadliger Adliger. Die Suchbewegung nach einem „neuen Adel" dissoziierte, wurde hektisch, nicht zuletzt auch deshalb, weil die Integrationsprobleme, die nun offensichtlich und sofort heiß diskutiert wurden, über eine Klärung des Verhältnisses von Adel, Bürgertum und Monarchie weit hinaus gingen. Der hier vorliegende Band konzentriert sich auf diese neue Welle von Suchbewegungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, auf ihre weiterhin wachsende Vielfalt und ihre Radikalisierung unter den Bedingungen eines schwachen Kaisertums, von Kriegsniederlage und Revolution, vor allem aber der Suche nach einem angemessenen Weg zur Integration der aufkommenden Massengesellschaft. II. Zur Zeit der Jahrhundertwende war die Elitenbildung aus Adel und höherem Bürgertum zweifellos im Offizierkorps des Reiches am weitesten fortgeschritten, allerdings - so die noch immer vorherrschende Forschungsmeinung - unter dem prägenden, Identität stiftenden Einfluß adlig-altpreußischer, „feudaler" Orientierungen und Verhaltensweisen. Mark Stoneman entwickelt am Fallbeispiel des bürgerlichen Generals Wilhelm Groener auf der Grundlage neuer analytischer Kategorien und Konzepte einen Erklärungsansatz, der sich weitgehend von dieser Sicht löst: Entscheidend für die Prägung des Offizierkorps war der Prozeß militärischer Professionalisierung, der adlige und bürgerliche Offiziere gleichermaßen erfaßte und prägte. Die stark feudale Außenhaut des Offizierkorps war in seiner Sicht Teil des Prozesses beruflicher Modernisierung. Traditionsbildung, die sich aus adligen, altpreußischen und aristokratischen Bedeutungsarsenalen munitionierte, und deren Ort die Vielzahl der „Regimentskulturen" war, erfüllte überaus moderne Funktionen: Die Heterogenität, die sich aus der Professionalisierungsdynamik, der schnell fortschreitenden sozialen und funktionalen Differenzierung des Offizierkorps ergab, wurde durch kulturelle Praxis, durch Herstellung von Gedächtnis und gemeinsamer Identität gekontert und letztlich sogar wieder aufgehoben. Der Adel lieferte die Kulturbedeutungen und Verhaltensmuster, die Profis des Militärs kreierten nach innen die neue Identität, nach außen die Selbstrepräsentation der neuen Elite. Herkunftsbeziehungen räumt Stoneman demgegenüber nur noch relativ geringes Gewicht ein. Sie „spielten hinein" in vielfaltige tagtägliche Karriereentscheidungen, aber selbst hier besaß das gemeinsame adlig-bürgerliche Bemühen um Absetzung nach unten, zum Klein-

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bürgertum, eine größere Bedeutung für Orientierung und Verhaltensprägung als die Fragen nach adliger vs. bürgerlicher Herkunft. Die Begriffe Adel und Bürgertum verlieren in Stonemans elitengeschichtlichem Ansatz rasant an analytischer Kraft. Allerdings bleiben zwei kulturgeschichtlich bedeutsame Fragen undiskutiert: Warum wurden in diesem Professionalisierungsprozeß nicht modernere, eigene, stärker bürgerliche Angebote traditioneller Identitätsstiftung, Repräsentation militärischer Leistung und Darstellung gesellschaftlicher Bedeutung erarbeitet? Und: Welche gesellschaftlichen Folgen ergaben sich, z.B. für den so zahlreichen preußischen Kleinadel, aus der Tatsache, daß das gesamte moderne Offizierkorps aus Adligen und Bürgerlichen sich in Formen und Bildern repräsentierte, die aus den Arsenalen des Adels stammten oder zumindest zu stammen schienen? Im Militär ebnete seit dem Ende des 19. Jahrhunderts - folgt man der Deutung Mark Stonemans - der Professionalisierungsprozeß die Unterschiede zwischen adliger und bürgerlicher Herkunft sukzessiv ein. Martin Kohlrauschs Studie zur Flucht Wilhelms II. nach Holland 1918 erschließt einen ähnlichen Angleichungsprozeß auf einem ganz anderem Gebiet. Wilhelm II. wurde aufgrund seines neuen, neoabsolutistischen Herrschaftsstils zum Fixpunkt überzogener Hoffnungen des Adels wie des höheren Bürgertums auf Ausgleich der schnell wachsenden Interessengegensätze in der Gesellschaft des Reiches. Adlig-bürgerliche Integrationserwartungen fanden ihre Bestätigung im Führungsversprechen des wilhelminischen Stils. Daneben etablierte sich aber, zumindest vom Kaiser unbemerkt, ein neues Kriterium monarchischer Legitimität: Die Forderung nach Leistungsbeweis und erfolgreicher Leistungsprobe. Die Welle der Kaiserkritik, die schon lange vor 1914 einsetzte, wird in dieser Sicht zum Signal einer schleichenden Legitimitätskrise der Monarchie, und zwar im Adel wie im höheren Bürgertum: Die Erwartung effektiver Führung und die Erfahrung, daß monarchische Integrationsleistungen auf der Ebene der Reichselite wie des Reichsvolks ausblieben, strebten zunehmend auseinander. Die Führungserwartung löste sich in der Folge von der Person des Kaisers und nach 1918 auch erstaunlich leicht von der Institution der Monarchie. Die schmähliche Flucht Wilhelms II. nach Holland beschleunigte, als gescheiterte Leistungsprobe interpretiert, diesen Ablösungsprozeß. Der extrem flüssig werdende Diskurs über Funktion und Bedeutung der Monarchie verhüllte nur begrenzt die im Hintergrund ablaufende Transformation der gescheiterten Kaiserkonzepte in das Modell echten,

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Leistung erbringenden Fiihrertums, mit der Figur Hindenburg als Zwischenstation. Die Enttäuschung über das Scheitern ihrer überzogenen Kaiserkonstrukte führte Adel und Bürgertum, jenseits aller Interessenunterschiede und Ungleichzeitigkeiten, in ihrer Verlusterfahrung, in gemeinsamer Generations-Desillusionierung, zusammen. Der Kaiser und, so wäre zu ergänzen, die eigenen „Väter" in den staats- und kaisernahen Elitenpositionen hatten weder gesellschaftliche Stabilität noch militärische Effektivität gesichert. In einer schon vor 1914 einsetzenden, gemeinsamen neukonservativen, rechten Wende verlagerte eine adlig-bürgerliche Generation während der Weimarer Republik ihre Loyalität auf das, was wirkliche Stabilität, Effektivität und Elitenkontinuität im Wandel versprach: auf die Nation, den gemeinsamen völkischen Urgrund und den kommenden, neue Einheit und neue Elite stiftenden Führer. Daß Axel Schildt in seiner Studie zur Genese und zu den Trägern des Kapp-Putsches nur einige Indikatoren für die Handlungsrelevanz adliger vs. bürgerlicher Herkunftstraditionen identifizieren kann, liegt an der Vernachlässigung dieser Perspektive in der bisherigen Forschung, an der episodischen Kürze und Verworrenheit des von ihm untersuchten Geschehens, aber auch zu einem erheblichen Teil daran, daß Krieg und Revolution die Schnittmenge gemeinsamer konservativer, antibürgerlicher und rechtsextremer Uberzeugungen des Adels und eines Teils des Bürgertums in erheblichem Maße vergrößert hat. Die aggressiv aufgeladene Sammlungspolitik der Vaterlandspartei, die Ablehnung des „westlichen", angeblich von einer kraß materialistischen Bourgeoisie dominierten liberalen Parteiensystems, die Furcht vor der bolschewistischen Revolution, aber auch die Kritik am Versagen der alten, adligen wie bürgerlichen Machteliten begründeten eine neue, rechte adlig-bürgerliche Gemeinsamkeit. Schildt betont, daß den beträchtlichen Reserven, mit denen viele altkonservative und rechte Adlige wie Bürgerliche dem Kapp-Putsch begegneten, weit eher strategische als inhaltliche Differenzen zugrunde lagen. Dies lenkt den Blick auf weitere adlig-bürgerliche Übereinstimmungen schon in dieser frühen Phase der Bekämpfung der Republik: Man präferierte die langfristige Auflösung der Republik von rechts, mit der Zwischenstufe einer Präsidentschaft Hindenburgs, gegenüber einer schnellen Zerstörungsaktion, die ohnehin nur wenig Aussichten auf Erfolg hatte. Dies war, bei aller adlig-bürgerlichen Sympathie für die Putschisten, die realistischere Strategie, weil eine Rückkehr zur Monarchie, wie der Beitrag von Kohlrausch zeigt, für die

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Lenkung und Integration der aufkommenden Massengesellschaft keine Lösung mehr war, weil der leistungsfähige Führer (noch) nicht in Sicht, vor allem aber eine effektive neue politische Aristokratie, die diesen Führer unterstützte, erst noch zu bilden war, und zwar - nun allen Beteiligten an diesem rechten Diskurs selbstverständlich - aus Adligen und Angehörigen des höheren Bürgertums. In beiden Strategiegruppen, der kurzfristig orientierten des Putsches und der langfristig ausgerichteten der rechten Transformation der Republik, wirkten Adlige und Bürgerliche in engem Verbund nebeneinander. Aber Schildt identifiziert darüber hinaus einen weiteren wichtigen, äußerst folgenreichen Trend: Der Putsch war gerade unter adligen Offizieren attraktiv; und es darf wohl - unter Vorbehalt künftiger Forschung - begründet vermutet werden, daß diese Offiziere überwiegend aus Adelsfamilien stammten, die zum Kleinadel gehörten, dessen Konturen Marcus Funck und Stephan Malinowski in den anschließenden Studien herausarbeiten, einem militärisch ausgerichteten Kleinadel, der durch die gravierende Heeresreduzierung im Kern seiner Existenz getroffen wurde, wodurch die schon in der Kaiserzeit latent vorhandene Tendenz zur Radikalisierung eine neue Dynamik gewann. Marcus Funcks Aufsatz über den Militäradel in der Weimarer Republik belegt klarer als der Beitrag Schiidts und in gewisser Distanz zu den Befunden Stonemans die bleibende analytische Bedeutung der Herkunftskategorie Adel. Indem er die Forderung nach Klärung der Binnengrenzen des Adels ernst und die gravierenden Auswirkungen der Heeresreduzierung konkret ins Visier nimmt, fordert er ein ganzes Geflecht von hochdynamischen, geschichtlich relevanten Entwicklungen in Adels- wie Militärgesellschaft zutage. Als Sonde in diese Gesellschaften dient ihm der Militäradel, eine Teilgruppe des kleinen Adels, eine Adelsformation aus der Kaiserzeit, zusammengesetzt aus (nachgeborenen) Söhnen des Gutsadels, der Adelsfamilien ohne Landbesitz und der nobilitierten Offiziersfamilien. Solche Militäradligen machten das Gros der über 9000 adligen Offiziere aus, die durch die Heeresreduzierung zum „Adelsproletariat", zu Doppelexistenzen mit günstigstenfalls - bürgerlichem Beruf, zugleich aber bleibendem Anspruch auf militärische Führungskompetenz herabsanken. An Zahl überwogen die entlassenen, aber keineswegs inaktiven Militäradligen ihre glücklicheren, in der Reichswehr aktiven Standesgenossen um ein Vielfaches. Die Forschung hat dieser großen Verlierergruppe bisher eher beiläufig Beachtung geschenkt. Funck holt sie in die Geschichte der Weimarer Republik zurück, indem er ihre hohe Bedeutung für den

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Wandel des damaligen Militär- und Gesellschaftsgefüges aufzeigt. Vier Adelsgruppen werden sichtbar: Erstens: Die „alten" Offiziere aristokratisch-altpreußischer Prägung, die das Vertrauen der jungen Adelsgeneration verloren und zu Fossilien erstarrten. Zweitens: Die alten und jungen „Bürosoldaten" in der Modernisierungstradition des Generalstabs, die eine neue Akzeptanz als Wertelite, als Wahrer von Staat, Nation und Volk (gleichsam oberhalb der Republik) anstrebten, von einer neuen Prägung und Lenkung der Massen träumten, zugleich aber die Entwicklung des Offizierkorps der Reichswehr hin zu einer offenen Profession forcierten, nicht zuletzt durch die gezielte Aussiebung des soldatesken, anti-bürgerlichen, brutalisierten Putsch-Typus des Frontoffiziers. Drittens: Innerhalb des professionellen ReichswehrOffzierkorps eine Gruppe von adligen Offizieren, die die relativ autonome Lebenswelt des Regiments, den Auftrag zur Traditionspflege und die den Regimentern zugehörigen Regimentsvereine zum Aufbau von Nischen, Inseln und Bastionen des Militäradels (nicht zuletzt in den Reiterregimentern) und damit zur Ausbildung eines traditionalistisch-professionellen Mischtypus des Offiziers nutzte, der - gestützt auf die glänzenden adligen Formen der Repräsentation - das Professionalisierungs- und Öffnungskonzept der Reichswehrführung von der Truppe her, mit eigenen, adelsgemäßen Offiziersorientierungen, wirksam konterte. In der Modernisierungsbewegung von oben, so Funcks These, verloren Herkunftskriterien wie Adel und Bürgertum ihre Bedeutung; in der Gegenbewegung von der Truppe her wurde parallel dazu die Herkunft aus dem Adel wieder aufgewertet. Schließlich viertens und nicht zuletzt: Die adligen ehemaligen Offiziere jenseits der Reichswehr, teils Militärfossilien, teils aggressive, deklassierte Doppelexistenzen oder schlicht Gestrandete, die in den zahllosen Wehrund Veteranenverbänden ein Surrogat militärischer Führung entdeckten, ein rassistisches Konzept von Führung ausarbeiteten, ihre Verbände in eine militaristische „nationale Opposition" lenkten, und weit darüber hinaus zur Militarisierung und politischen Radikalisierung der Adelsgesellschaft, der Reichswehr, der bürgerlichen Rechten und der Weimarer Gesellschaft insgesamt beitrugen. Funcks Bilanz der Geschichte des Militäradels in der Weimarer Republik ist ernüchternd und stellt die Forschung, in der ein Trend zur Relativierung der Adelsherkunft der Reichswehroffiziere unverkennbar ist, vor neue Aufgaben: Zwei der aufgezeigten Entwicklungen im Militäradel blockierten, ja destruierten die in Gang gekommene Modernisierung der Reichswehr. Und die größte Gruppe des Militäradels, die deklassierten would be-Militärs in den militärischen und zivilen Mas-

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senverbänden, kumulierte ein Radikalisierungspotential von hoher Sprengkraft, das anscheinend wesentlich stärker zur Zerstörung der Weimarer Republik beitrug als die Aggressivität der adligen Agrarier im Umkreis Hindenburgs und in der DNVP. Stephan Malinowski geht bei seiner Suche nach den Ursachen der ideologischen und politischen Radikalisierung des Adels in der Weimarer Republik ebenfalls von der Gesamtheit des Adels aus, untersucht die alte und die neu sich ausbildende Binnendifferenzierung dieses Adels und erschließt damit Adelsrealitäten, die bisher noch kaum in den Blick der Forschung geraten sind. Der Erklärungszusammenhang Adel und Nationalsozialismus gewinnt so neue Dimensionen hinzu: Nicht nur der relativ erfolgreiche, gutsituierte Land-, Beamten-, Militär- und Diplomatenadel, der als Teil der traditionellen Machtelite die Erosion seiner Führungsstellung zu stoppen versuchte, driftete in den Nationalsozialismus ab. Weitaus dynamischer als die anhaltende (relative) Erfolgserfahrung dieses Adels drängte die massive Verlusterfahrung im breiten Strom des deklassierten Kleinadels zur Radikalisierung, welche die Weimarer Republik, aber auch den Adel und den stark vom Adel geprägten Konservativismus dissoziierte und letztlich zerstörte. Beharrungs- wie Verlustgeschichte des Adels mündeten, vermittelt über relativ genau bestimmbare adlige Teilgruppen, in den Nationalsozialismus. Ein sanftes, nostalgisches Abdanken kam für den weitaus größten Teil des Adels in Deutschland, zumal für den preußischen Adel, auch nach 1918 nicht in Frage. In seiner Sicht stand seine Teilnahme auch an der künftigen Elitenbildung nie zur Disposition. Die gutsituierten Adligen waren gefordert, ihr weiteres Obenbleiben zu sichern. Die extrem anwachsende Zahl der deklassierten Kleinadligen, bestenfalls mittelständische Existenzen, hatte sich wieder emporzuarbeiten. Dazu waren beide Gruppen auf Brückenschläge zu Teilen des Bürgertums angewiesen; und für beide fanden sich entsprechende Optionen und Organisationen. Malinowski untersucht anhand der beiden wichtigsten „Laboratorien" adliger Neuorientierung in der Weimarer Republik, der Deutschen Adelsgenossenschaft und dem Deutschen Herrenklub, zwei Varianten adlig-bürgerlichen Zusammenrückens im Nebel neuer, hochideologisierter Elitenkonzeptionen. Der deklassierte Kleinadel in der Deutschen Adelsgenossenschaft stilisierte und organisierte auf seinem vermeintlichen Weg zurück nach oben die einzige ihm noch verbliebene Ressource der Führung, das „reine Blut". Dies setzte radikalen Aktivismus frei, schreckte das höhere Bürgertum ab und zer-

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störte den alten aristokratischen Adelsbegriff, weil diese Option letztlich zu einem rassischen Konzept der aus dem Volk hervorgehenden adligen Massenfiihrer tendierte, die ihren Vorranganspruch mit vielen anderen - bürgerlichen, bäuerlichen, ja selbst proletarischen - Reinblütigen zu teilen hatten. Der Deutsche Herrenklub suchte eine alternative Option zu verwirklichen: Die kontrollierte Auslese und Vereinigung von Angehörigen vorwiegend traditional legitimierter Eliten zu einer neuen Führungsschicht von „Herren", einer - nun allerdings geschulten - politischen Elite des künftigen, autoritär umgeformten Staates, welche lenkend über den Massen stehend den autoritären Führer aus einer inneren und äußeren Unabhängigkeit heraus unterstützen sollten. Diese Konzeption führte letztlich zum „Zähmungskonzept" v. Papens und nach dessen Scheitern zumeist in einen matten NS-Opportunismus, während der in der DAG dominierende deklassierte Kleinadel - allerdings weitaus eher der protestantische als der katholische - mehr oder weniger früh in SA oder SS vor Anker ging. Malinowskis Studie, die den Adel in seiner Gesamtheit und seiner konkreten Differenzierung in die NS-Forschung zurückholt, regt zur Suche nach weiteren adligen Optionen und adlig-bürgerlichen Brückenschlägen an. Sie stellt zugleich zwei Eigenarten der deutschen Entwicklung heraus: Auch in der Weimarer Republik behielt der deutsche Adel in seiner Gesamtheit seinen ungebrochenen Führungswillen und Führungsanspruch, jenseits aller internen Differenzierungen. Und es gab ein breites Spektrum an undemokratischen, politisch autoritären und sozial elitären, auf Ungleichheit beharrenden Bewegungen und Gruppenbildungen im Bürgertum, die sich als politisch gleichgestimmte Partner von Brückenschlägen anboten. Die Studie von Wolfgang Zollitsch, die in ihrem Kern der bisherigen, eher politikgeschichtlich ausgerichteten, den relativ beharrungskräftigen Adel akzentuierenden Forschung zum Zusammenhang von Adel und Nationalsozialismus verpflichtet ist, ergänzt das von Malinowski in den Blick genommene Geschehen um eine Reihe weiterer adliger Handlungsfelder. Denn zweifellos erfuhren der Nationalsozialismus und die Bewegungen, die ihm langfristig gewollt oder ungewollt zuarbeiteten, auch im etablierten, noch immer wohlsituierten Landadel erhebliche Zustimmung, zumindest aber wohlwollende Duldung. Zollitschs Leitfrage, warum die aus dem 19. Jahrhundert stammende Formation der „alten Machteliten" am Ende der Weimarer Republik zu keinem Konsens mehr fand, der ihren Interessen entsprach, lenkt den Blick ebenfalls auf Schwächen des Adels und auf ein doppeltes Defizit

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adlig-bürgerlicher Elitenbildung: Das adlig-konservative Lager zerfiel in mehrere unvereinbare politische Richtungen. Und der Brückenschlag zum höheren Bürgertum scheiterte letztlich, trotz einer bis dahin unerreicht großen Schnittmenge gemeinsamer politischer und gesellschaftlicher Grundorientierungen, an den sich verschärfenden Interessengegensätzen zwischen Landwirtschaft und Industrie. So fand man weder auf die Wirtschaftskrisen noch auf die vielfältigen Modernisierungskonflikte eine gemeinsame, eigenständige, autoritäre Antwort, die man dem Aufstieg des Nationalsozialismus entgegenstellen konnte. Da als Folge dieser Entwicklung der Verlust loyaler Wählermassen nicht ausblieb, kam es nach 1930 auch im relativ gutsituierten Landadel (wie im industriellen Bürgertum) zu Panikreaktionen, zu schnellen, unüberlegten Anschlüssen an die neuen nationalrevolutionären, völkischen und nationalsozialistischen Optionen. Die verzweifelten Versuche, die wachsende Kluft zwischen dem nie in Frage gestellten Führungsanspruch und der real schwindenden Macht zu überbrücken, fraktionierten die adligen Machteliten massiv, trieben Adel und Bürgertum in diesen Machteliten zunehmend wieder auseinander. Dies erklärt, warum - wie von Malinowski beobachtet - große Teile des etablierten Landadels den Weg des völkischen Kleinadels stützten, zumindest aber guthießen. Zugleich werden aber doch erhebliche Unterschiede zwischen Klein- und Landadel erkennbar: Der Weg des Kleinadels in den politischen Radikalismus, in völkische Bewegung und Nationalsozialismus, scheint als Suchbewegung langfristiger angelegt und - bei aller geistigen Armut dieses Adelsrassismus ideologisch konsequenter durchdacht gewesen zu sein. Die unüberlegten Panikreaktionen und Ausbruchsversuche des wohlsituierten, landbesitzenden altkonservativen Adels, dessen Wunschträume von einem aus den Völkischen und dem Nationalsozialismus hervorgehendem neuen, massenwirksamen Konservativismus, kamen dagegen gleichsam aus dem Nichts und zerplatzten an der Realität nationalsozialistischer Herrschaft wie Seifenblasen. Zollitsch erklärt den scheiternden Brückenschlag zwischen Adel und höherem Bürgertum, das Ende des Projekts einer neuen, den Konservativismus modernisierenden adlig-bürgerlichen Elitenkultur, letztlich mit der unausräumbaren Fremdheit, der bleibenden großen Distanz zwischen Adels- und Bürgermilieu. Dies mag für die Kerngruppen seiner Studie und seines Arguments, die großen adligen Landbesitzer vor allem des agrarischen Nordostdeutschland und die mächtigen Industriellen, zutreffen. Für den Adel und das höhere Bürgertum in seiner Gesamtheit gilt dies - wie viele Studien dieses Bandes zeigen - aber

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nicht. In den professionalisierten Handlungsfeldern, in denen Adel und Bürgertum zusammentrafen, war die Angleichung der Milieus inzwischen weit fortgeschritten. Für die Weimarer Republik scheint deshalb gerade die nicht mehr kontrollierte und integrierbare Vielfalt adligbürgerlicher Brückenschläge charakteristisch gewesen zu sein. Wenn der Deutsche Herrenklub im Interessenkonflikt zwischen Landwirtschaft und Industrie 1932 auch unverkennbar zahlreiche Mitglieder verlor, so bleibt doch festzuhalten, daß viele seiner bürgerlichen Mitglieder nicht austraten, weil sie das vom Herrenklub vertretene adligbürgerliche Elitenkonzept trotz des Konflikts weiterhin, auch politisch, für plausibel hielten. Genauso wichtig wie die von Zollitsch herausgearbeitete Distanzierungsbewegung zwischen zwei Teilgruppen des Adels und Bürgertums scheint mir, daß sich jenseits dieses am weitesten fortentwickelten Machtelitenmodells - aus der sich auflösenden bürgerlichen Gesellschaft heraus - andere bürgerliche Teilmilieus als Partner für eine scheinbar weniger kostenreiche Erneuerung der Führungsstellung des Adels anboten, auf der Grundlage anderer, Adel wie Bürgertum verfügbarer Ressourcen. Doch auch die Wege, die sich hiermit eröffneten, waren ohne Aufgabe eines großen Teils der traditionellen adligen Denkmuster, ohne flexible Anpassungsleistungen nicht zu gehen, es sei denn, man reihte sich, was allerdings nur ein Teil dieses Adels tat, während des Nationalsozialismus „lernunfahig" in den Kreis der Entmutigten und Resignierten ein. Guido Müllers Darstellung der Elitendiskurse in den Europabewegungen der Weimarer Republik erweitert in mehrfacher Hinsicht die bisherigen Forschungsperspektiven: Er erschließt erstmals das weite Feld der nicht unmittelbar politischen, zahlenmäßig weniger gewichtigen Versuche adlig-bürgerlichen Brückenschlags im Rahmen von Elitendiskursen, die allerdings auch jetzt noch Diskurse über „neuen Adel" blieben. Damit werden andere Traditionen und inhaltliche Topoi, vor allem aber auch andere Akteure des adlig-bürgerlichen Elitendiskurses in den Blick gerückt: Süddeutscher und habsburgischer katholischer Adel; hochgebildete, europäisch orientierte und agierende Angehörige des Hochadels und der Diplomatie; Schriftsteller und Intellektuelle, nicht zuletzt auch die kultivierten, sozial-paternalistischen, nicht mehr materialistisch-deformierten Führungsgruppen der Technik, der Industrie und des Finanzwesens. Es waren durchweg eher städtisch-weltmännisch-intellektuell als ländlich-militärisch-beamtenmäßig geprägte Existenzen, ebenfalls in der bisher von ihnen beanspruchten gesellschaftlichen Führungsstellung gefährdet, aber zumeist doch eher

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(noch) in angesehenen Stellungen und auskömmlichen Lebenslagen. Einig waren sie sich in dem Ziel eines einheitlichen Mittel- und Westeuropa mit starker deutscher Führungsstellung und einer Wiederherstellung von „Gemeinschaft", von organischer Harmonie in den von Partei- und Klassenkämpfen zerfurchten Industrie- und Massengesellschaften Europas. Weitgehend einig waren sie sich auch über die Grundvoraussetzung des Weges dort hin: Die Erhaltung von Qualität und Hierarchie in Gesellschaftsordnung und Herrschaftsbildung, Abwehr der Massen, der blanken Zahlen, der reinen Quantität, kurz: der westlich-liberalen und östlich-rätedemokratischen Fiktion der Gleichheit. Basis dieser neuer Eliten, Kern der notwendig gewordenen neuen Führungsauslese, sollte die Kultur werden, ein die nationalen Eigenarten übergreifendes europäisch-abendländisches Kulturkonzept. Dies schuf Raum für weitere adlig-bürgerliche Brückenschläge. Der alte Land- und Dienstadel der Geburt war in der Sicht der daran beteiligten Gruppen spätestens 1917/18 untergegangen. Aber es gab noch eine andere Adelstradition, die man für die neue Elitenbildung nutzen konnte: die geistesaristokratische. Seit Rationalismus und Aufklärung hatte sich ein Teil des Adels stets den neuen, modernen Kulturbewegungen angeschlossen. Die traditionelle Aufgeschlossenheit für neuere Entwicklungen im Bereich der Kultur legitimierte diesen Adel zur Teilnahme an der nun anstehenden Bildung einer wertesetzenden und wertesichernden, die Massen führenden, tendenziell gegenüber allen sozialen wie nationalen Herkunftsgruppen offenen, aber stark bürgerlich dominierten sozialen Aristokratie des Geistes. Dieses Konzept einer politisch relevanten Kulturelite vermochte offenbar traditional und modern orientierte, neoromantisch, neusachlich-funktional und technokratisch-patemalistisch geprägte Persönlichkeiten mit „natürlicher Autorität" zusammenzuführen, allerdings nur in der lockeren Kommunikationsstruktur von europäischen Bünden, mondänen Hauptstadtsalons und internationalen Zeitschriften. Die Verbindung zu zahllosen ähnlichen Zirkeln, vor allem aber zum Deutschen Herrenklub (nicht zuletzt durch die von Malinowski identifizierten „Amphibien" wie z.B. der katholische v. Papen) ist offensichtlich und zeigt erneut, daß in dieser wie vermutlich in vielen weiteren Bewegungen Studien zu Adel und Bürgertum in den Politischen Hochschulen der frühen Weimarer Republik und in den zahlreichen esoterischen Kreisen, insbesondere in der „Schule der Weisheit" des Grafen Keyserlingk, wurden leider nicht fertiggestellt - der Interessengegensatz von Landwirtschaft und Industrie von vielfaltigen anderen, konsensstiftenden Motiven überlagert wurde.

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Der in den Europabewegungen agierende kultivierte Adel, der sich zumeist schon mit ähnlichen Konzepten in der Lebens- und Kunstreformbewegung der Kaiserzeit nachhaltig engagiert hatte, war anscheinend bereit, in der anvisierten Geistesaristokratie aufzugehen. Aber Müllers Darstellung zeigt auch, daß der süddeutsche und österreichische Adel in dieser „neuen Geistigkeit", neben bürgerlich-reformerischen Motivarsenalen wie Jugend, Kriegserlebnis, Reinheit und Wahrhaftigkeit auch beträchtliche Bestände an Adelstradition wiederfand: Den übernationalen Reichsgedanken, katholisches und neuständisches Hierarchiedenken, die Forderung einer dienenden Bindung an ein überindividuelles Ideal, Opferbereitschaft bis hin zum Blutopfer, Heroenkult und einen ausgeprägten Sinn für „bedeutende Formen". Das Konzept „neuer Adel", das am Ende des 18. Jahrhunderts in zahlreichen Adelsreformdiskussionen entwickelt und vom aufklärerischen deutschen Bürgertum mitgetragen wurde, zeigte in diesen Europabünden noch einmal seine extrem hohe Halbwertzeit. Die Elitenkonzepte auch dieser Bewegungen waren deshalb letztlich nicht demokratisierbar, aber - bei aller Faszination für den italienischen Faschismus und den deutschen „Führet' Adolf Hitler - gemessen an der völkischen Adelstradition des Kleinadels doch sehr viel weniger radikal und kostenreich. Angesichts all dieser beeindruckenden zeitlichen Widerständigkeit adliger Traditionen in den Elitendiskussionen des 19. und 20. Jahrhunderts ist es nicht allzu erstaunlich, daß Eckart Conze im deutschen Widerstand, insbesondere in den stark von Adelsangehörigen mitgeprägten Kreisen des 20. Juli, immer noch erhebliche „Überhänge" an Adelskultur wie an vormodernem adligem Eliten-, Gesellschafts- und Politikverständnis findet. Noch einmal erhob der Adel, gleichsam auf der Rückseite seiner Unterstützung des Nationalsozialismus, den Anspruch auf selbstverständliche Teilhabe an einer Zukunftsgestaltung, die sich am Elitenkonzept orientierte. Aber das Konzept einer „neuen Aristokratie", ein Begriff der seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in der Adelsreformdiskussion langsam den „neuen Adel" zu ersetzen begann, signalisiert zugleich das wachsende bürgerliche Übergewicht im adligbürgerlichen Diskurs. Conze zeigt die Schwierigkeiten und Aporien der Widerständler des 20. Juli beim Versuch, Qualitätskriterien für die Auslese und Herrschaftsetablierung der Besten zu finden, welche Adel und Bürgertum übergriffen; er zeigt auch, in welch hohem Maße dabei - neben modernen Tendenzen - weiterhin adlige, eher rückwärts gerichtete Denk- und Verhaltenstraditionen ins Spiel kamen. Allerdings

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gehörten nicht wenige der hier identifizierten Werthaltungen und Herrschaftsvorstellungen inzwischen schon lange zur Schnittmenge adliger und bürgerlicher Grundorientierungen. Conzes Studie weist selbst auf die große Zahl bürgerlicher Ehen im Adel des 20. Juli hin. Die entscheidende Aporie der Elitenkonzepte des 20. Juli war dagegen, wie das im Text angeführte Beispiel Theodor Heuss zeigt, eine Einstellung, die adligen und bürgerlichen Widerständlern in erheblichem Maße gemeinsam war: Das Beharren auf Qualität, auf edler, autonomer „Persönlichkeit" als Voraussetzung der Elitenzugehörigkeit, das Festhalten an personaler Integration einer Gesellschaft durch Monarchen oder Führer, die Unwilligkeit, ja Unfähigkeit, Elite als Funktionselite ausdifferenzierter gesellschaftlicher Teilbereiche, Qualität als Qualität in der Funktionserfullung und gesellschaftliche Integration weitgehend abstrakt, als Ineinandergreifen von gesellschaftlichen Funktionen und Funktionseliten (ohne Voraussetzung umfassender Personqualitäten) zu begreifen, kurz: das Allgemeinwohl als Ergebnis des Zusammenwirkens von Partikularinteressen aufzufassen. Stattdessen beharrte man auf einem von der Gesellschaft abgehobenen „Staat", der das Allgemeinwohl in sich barg, und auf einem allgemeinen Stand, der dieses Allgemeinwohl zu erkennen und ihm zu dienen vermochte, und dessen Zugangskriterium - eine Personqualität, welche letztlich Führungsanspruch in der Massengesellschaft begründete - weder inhaltlich noch formal verfahrensmäßig zu bestimmen war. III. Resümiert man die Ergebnisse der beiden Tagungen, so kommt man im Kern auf das folgende Entwicklungsmuster: Strukturell war entscheidend, daß der Adel in Deutschland relativ stark und wohlorganisiert ins 19. Jahrhundert eintrat. Das geburtsaristokratisch gegründete Vorrangdenken blieb enorm stark, gerade auch bei den deklassierten Kleinadligen, deren Zahl schon im Kaiserreich, vor allem dann aber in der Weimarer Republik extrem anwuchs. Bis 1933 und darüber hinaus verstand sich der Adel in Deutschland ganz selbstverständlich als wichtigstes Rekrutierungsreservoir jeglichen Versuchs neuer Elitenbildung. Diese wurde in der adlig-bürgerlichen Diskussion dieses Zeitraums durchweg als Bildung „neuen Adels", „neuer Aristokratie" verkündet, was die Ansprüche des Adels stärkte und - im Gegensatz zum Begriff „Elite" - den gesellschaftlichen Mechanismus neuer Auswahl eher verschleierte. Erst die dichte Folge von Verlusterfahrungen seit dem 20. Juli 1944 und der Kriegsniederlage 1945 - Verfolgung, Ver-

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treibung, Enteignung und Einbuße fast aller staatlichen Führungspositionen - brachte diesen Adel zur Anerkennung der pluralen Gesellschaft, zur (bescheiden machenden) Erkenntnis eigener Partikularität, zum endgültigen Verzicht auf Vor-Rang, zum Rückzug in die Gesellschaft und zu weitgehend privaten Strategien ständischer Selbstorganisation und Überlebenssicherung. Der Abschied des Adels von seinem Vorrangdenken war in Deutschland unendlich lang, mühsam und zunehmend von Aggressivität geprägt. Beispiele der Mäßigung, des eher stillen, entspannten, selbstbewußt-resignierenden Ausstiegs aus der Geschichte findet man dagegen selten. Die Gründe für diese Entwicklung sind vielfältig und letztlich nur im internationalen Vergleich aufzuklären. Doch war für die erfolgreiche Selbstbehauptung des preußisch-deutschen Adels in Staat und Gesellschaft - jenseits seiner eigenen Anpassungsleistungen und der Unterstützung durch Monarchen wie Fürsten - zweifellos die Konstellation, in welcher er im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts zum Bürgertum stand, von mitentscheidender Bedeutung. Bis in den Nationalsozialismus hinein haben in Deutschland immer wieder bürgerliche Gruppen mit ihren Angeboten zur Bildung „neuen Adels", mit ihren Zugriffen auf Werte, Kulturbedeutungen und Handlungsmuster der Adelstradition, den Adel aufgewertet, zu Re-Inventionen eigener „Adligkeit" angeregt und damit von härteren, kostenreicheren Alternativen der Anpassung an die Moderne abgelenkt. Richtet man den Fokus der Forschung auf diese Beziehung, genauer auf die Vielzahl adlig-bürgerlicher Versuche des Brückenschlags mit dem Ziel neuer Elitenbildung, so wird eine charakteristische Verlaufsform sichtbar. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für die Bildung einer neuen, adlig-bürgerlichen, durch Leistung legitimierten, innerlich gefestigten Elite relativ günstig. Die Leitbilder des starken Staates und (noch) der vorindustriellen Bürgergesellschaft stützten die Vorstellung einer Verschmelzung von Adel und Bürgertum zur staatsnahen wie auch parlamentarischen Elite. Aber der Adel fühlte sich noch zu stark, darauf einzugehen, und die Mehrzahl der Monarchen und Fürsten stützte diese Einschätzung, zumal nach der erfolgreichen Gegenrevolution 1848/49. So blieben - bei aller Offenheit der Diskussionen über einen „neuen Adel" - die Felder realer adlig-bürgerlicher Begegnung eng begrenzt und Eingriffe „von oben", zur Öffnung des Adels in Richtung Bürgertum, weitgehend aus. Seit den 1890er Jahren wird dann in ersten Konturen eine fast umgekehrte Konstellation erkennbar: In den wenigen gemeinsamen Be-

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rufsfeldern wurden die „einschmelzenden" Wirkungen des Professionalisierungsprozesses unübersehbar. Die gemeinsame Bindung an die Monarchie stiftete im Positiven wie (später) im Negativen neue Gemeinsamkeit. Auf Öffnung zielende (wenn auch inkonsequent bleibende) Lenkung von oben zeigte Wirkung. Die Zahl adlig-bürgerlicher Brückenschläge wuchs. In den Diskursen zahlreicher neuer adlig-bürgerlicher Suchbewegungen hatten adlige Werte - z.B. Führung, Autorität, Charakter, Persönlichkeit, Wille, Haltung, Härte und Heldentum - große Konjunktur. Eine Welle mythologischen Denkens lieferte dem Adel eine Fülle neuer Anregungen für die eigene Re -Invention, z.B. als Stand der Tradition, der festen Werte, des Allgemeinwohls, des unverdorbenen „Landes", der Naturnähe, der „Tat", des „Opfers", der „Treue", des „Reiches", des „Abendlandes", des „reinen Blutes", des unverfälschten Kerns des „Volks", und vieles andere mehr. Es bleibt noch sehr viel zu erforschen an dieser Fülle von Suchbewegungen und Brückenschlägen von Gobineau bis George und Rohan, an den hier erarbeiteten Schnittmengen gemeinsamer, adlig-bürgerlicher Deutung der modernen Gesellschaftsentwicklung, an den zunehmend flexiblen „Vermittlungsbegriffen", die auf der Suche nach „neuem Adel" ausgearbeitet wurden. (z.B. Gesinnung, Kultur, Bildung und Intelligenz, nicht zuletzt aber „Rasse"). Wichtiger ist in unserem Forschungszusammenhang allerdings der Verweis auf die völlig veränderten Rahmenbedingungen für das Elitenprojekt „neuen Adels" aus Adel und Bürgertum: Das Bürgertum hatte seine Einheit stiftende humanistische, zivilgesellschaftliche Vision verloren. Der Adel war, trotz allen ständischen Sammlungsbemühens, durch die schnell wachsende Zahl der landfern lebenden, vermögenslosen und deklassierten Familien in eine Vielzahl von Fraktionen auseinandergedriftet. Beiden potentiellen Partnern des Projekts „neuer Adel" fehlte somit das nötige Minimum innerer Homogenität, das zur Vermittlung oder gar zur Verschmelzung beider Lebenswelten und Kulturen nötig gewesen wäre. Diese Konstellation steigerte zwar die Zahl der Brückenschläge; aber deren Ergebnisse wiesen offenkundig, je später desto mehr, in völlig unterschiedliche Richtungen. Treibende Kräfte dieser Bewegung, „Fermente der Radikalisierung" (Th. Nipperdey) waren vor allem die Deprivierten und Deklassierten in beiden Gruppen, Kleinadlige und gebildete, tendenziell eher vermögenslose Bürgerliche, genauer: neukonservative bürgerliche Intellektuelle. Für den Adel bedeutete diese intensivierte gemeinsame Suche nach Stabilität, Bindung und Führung, das neue Interesse der bürgerlichen Meisterdenker und Sinnkonstrukteure - auf der Suche nach Stoff für neue Entwürfe - für adlige Traditionen und

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Lebensformen, kurz- und mittelfristig eine trügerische Aufwertung seines Standes. Langfristig gerieten die Kleinadligen, die an diesen Suchbewegungen teilnahmen, über diese hinaus aber auch weitere Kreise des Adels in eine Dynamik, einen circulus vitiosus zunehmender diskursiver Verflüssigung und Verflüchtigung des Adelskonzepts, der letztlich nicht mehr kontrollierbar war. Schon im Ersten Weltkrieg, erst recht in der Weimarer Republik wurden die einstigen altkonservativen Hochburgen, Großgrundbesitz und Militärdienst, durch die entfesselten Neuadelsdiskurse zu Inseln in einem aufgewühlten Meer, dessen Wellen der Diskussion die Kernsubstanz bisheriger „Adligkeit" gierig und schnell abtrugen. Was in der ersten Jahrhunderthälfte, unter den Bedingungen von starkem Staat und vorindustrieller Bürgergesellschaft noch vorstellbar war und wohl auch möglich gewesen wäre, die Bildung einer neuen, adlig-bürgerlichen, Integration fordernden und Orientierung leistenden Wertelite, geriet unter den Bedingungen der industriellen Klassen- und Massengesellschaft mit ihren völlig neuen, extrem verschärften Integrationsproblemen, aber auch unter den Bedingungen fortschreitender Heterogenisierung von Adel wie Bürgertum zum hoffnungslosen Unternehmen. Es gab unter diesen Bedingungen, je später desto sicherer, keine Lösung mehr für das Problem der Selbsterhaltung als Stand des Vor-Rangs, weder für den Adel noch für das neukonservative, rechte Bürgertum. Es gab nur noch Hoffnungen, die immer vager wurden. In der Radikalisierung zweier sich vielfach verknüpfender Suchbewegungen verlor der Adel, wie auch große Teile des Bürgertums, schließlich fast jegliche Bodenhaftung. Neue, Adel und Bürgertum verbindende Leitbilder jenseits der bloßen Negation wurden nicht mehr erarbeitet. An die Stelle der angestrebten kulturellen Konzepte neuer, adlig-bürgerlicher „Adligkeit", mit welchen beide Partner ihre Kraft zur Zukunftsgestaltung aufs neue beweisen wollten, konnte so, mit einem makabren letzten Höhepunkt im Nationalsozialismus, das „Satyrspiel des Adelsmodells" (H. Mommsen) treten, in welchem die Adligen, soweit sie mitspielten, ein letztes Mal den Verlust ihrer vielhundertjährigen Tradition, kurz: den Verlust ihrer Identität demonstrierten. Die ältere Adels-, insbesondere die Junkerforschung im Gefolge Hans Rosenbergs hat zurecht betont, daß nur in Preußen-Deutschland eine massive Gegenbewegung des Adels gegen die moderne Gesellschaft stattgefunden hat. Die wichtigsten Prämissen dieser Forschungsrichtung, welche die Beharrungserfolge, die bleibende Stärke des Adels innerhalb der dominierenden adlig-bürgerlichen Machteliten

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akzentuierte, können inzwischen als weitgehend widerlegt gelten.*** Der hier, in den beiden Tagungsbänden vorgestellte Zugang, der dasselbe Phänomen aus der Perspektive des historisch fassbaren Projekts adlig-bürgerlicher Elitenbildung betrachtet, legt eine andere Deutung nahe: Nicht die innere Homogenität und Stärke, sondern die innere Zersplitterung und Schwäche des Adels, nicht sein langfristiger Beharrungserfolg, sondern die sehr spezifische zeitliche Abfolge von erstaunlich lang anhaltendem Beharrungserfolg einerseits, beschleunigter Verlustgeschichte andererseits, nicht die Radikalisierung des Adels, zumal des altkonservativen Adels allein, sondern sich gegenseitig vorantreibende Suchimpulse, im dissoziierten Adel wie im desorganisierten, nach rechts driftenden Bürgertum, haben in beiden Elitenreservoiren die Tradition der Mäßigung zerstört, eine politische Radikalisierung völlig neuen Ausmaßes entbunden, welche - neben anderen Entwicklungen - gravierend zum Versagen der Eliten in der Weimarer Republik und zur Machtübergabe an den Nationalsozialismus beigetragen haben.

*** Vgl. Heinz REIF, Adel im 19. und 20. Jahrhundert, München 1999, S. 58-118.

MARK Κ. STONEMAN

Bürgerliche und adlige Krieger: Zum Verhältnis von sozialer Herkunft und Berufskultur im wilhelminischen Armee-Offizierkorps

Vor dem Weltkrieg bildete das über 30.000 Offiziere umfassende aktive Armee-Offizierkorps eine gesellschaftliche Elite im wilhelminischen Deutschland. 1 Mit wenigen Ausnahmen ist der heutige wissenschaftliche Diskurs von zwei, sich widersprechenden Interpretationen geprägt, die j e w e i l s nur einen Aspekt des Offizierkorps beleuchten. Einerseits wird die soziale Herkunft der Offiziere, andererseits der Offiziersberuf an sich als wesentlicher Kern der Militärelite bewertet. Historiker betrachten oft das Offizierkorps, das sie als „adlig", „aristokratisch" bzw. „feudal" charakterisieren, als eine der Hauptursachen für die unglückliche innenpolitische Entwicklung des Kaiserreichs sowie für den Ausbruch und den Verlauf des Ersten Weltkrieges. D i e zahlreichen bürgerlichen Offiziere seien von den adligen assimiliert bzw. „feudalisiert" worden, woraus nicht nur reak-

Der höchste Friedensstand aktiver Offiziere in Deutschland betrug etwa 30.450 Mann, just bevor es 1914 in den Krieg zog. Vgl. Ludwig RODT V. COLLENBERG, Die deutsche Armee von 1871 bis 1914, Berlin 1922. Hinzu kamen die Offiziere der kaiserlichen Marine, nicht zu vergessen diejenigen, die vom aktiven Dienst ihren Abschied genommen hatten, aber immer noch in der Gesellschaft als Offiziere galten. Weiter gab es die Offiziersangehörigen, v. a. die Offiziersfrauen, die inoffiziell, aber faktisch zu den Regimentern ihrer Männer gehörten. Die Reserveoffiziere, die ich aus Platzgründen völlig außer Betracht lasse, waren noch zahlreicher als die aktiven. Eine knappe Einführung zum Militär im gesellschaftlichen Kontext des Kaiserreichs mit kommentierter Bibliographie bietet Stig FÖRSTER, The Armed Forces and Military Planning, in: Roger CHICKERING (Hg ), Imperial Germany. A Historiographical Companion, Westport 1996, S. 454-488. Für das Marine-Offizierkorps siehe Holger H. HERWIG, The German Naval Officer Corps: A Social and Political History 1890-1918, Oxford 1973.

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tionäre politische Rückständigkeit, sondern auch Innovationsfeindlichkeit entstanden seien. Diese Interpretation des Offizierkorps herrscht in der Historiographie noch heute vor. 2 Den Gegenpol dazu bildet eine funktionale Interpretation der amerikanischen Soziologie. Infolge des Zweiten Weltkrieges und des angehenden Kalten Krieges sahen die USA sich einer im eigenen Land politisch einflußreich gewordenen Armee gegenüber, worauf Soziologen mit dem vermeintlich universalen Modell des professionellen Offiziers reagierten, das bewußt vom preußischen Offizierkorps und den Reformen während der napoleonischen Kriege ausging. 3 Auf dem Papier - wenn auch noch nicht umfassend in der Realität - sei das adlige Monopol gebrochen, die militärische Fachausbildung verbessert bzw. standardisiert und die allgemeine Bildung als Voraussetzung für die Offizierslaufbahn aufgewertet worden. Darüber hinaus förderte die allgemeine Wehrpflicht einen veränderten Umgangston mit den Soldaten. Das Paradebeispiel Außer den betreffenden Titeln in der Bibliographie von FÖRSTER, Armed Forces (wie Anm. 1) vgl. ζ. B. Martin KITCHEN, The German Officer Corps, 1890-1914, Oxford 1968; Hans Hubert HOFMANN (Hg.), Das deutsche Offizierkorps 18601960, Boppard a. R. 1980; Daniel J. HUGHES, The King's Finest. A Social and Bureaucratic Profile of Prussia's General Officers, 1871-1914, New York 1987. Für einen anderen Ansatz siehe Stig FÖRSTER, Der doppelte Militarismus. Die deutsche Heeresrüstungspolitik zwischen Status-Quo-Sicherung und Aggression 1890-1914, Stuttgart 1985, in dem er zwar auch von einem Primat der sozialen Herkunft ausgeht, aber die Interpretation eines „feudalen" Offizierkorps wesentlich auflockert, indem er in ihm zwei verschiedene militärpolitische Positionen identifiziert, die er auf die unterschiedlichen sozialen Herkünfte der betroffenen Offiziere zurückfuhren möchte. Eine Interpretation, die anstatt der adligbürgerlichen Dichotomie die gesellschaftlich integrative Wirkung der Armee betont: Dennis E. SHOW ALTER, Army, State and Society in Germany, 1870-1914: An Interpretation, in: Jack R. DUKES and Joachim REMAK (Hg.), Another Germany: A Reconsideration of the Imperial Era, Boulder 1988, S. 1-18, zum Offizierkorps: S. 7 f. Der amerikanischen Soziologie und dem Alltagssprachgebrauch folgend, werden das Wort,,profession" und seine Ableitungen in diesem Aufsatz folgendermaßen benutzt: „1. an occupation, especially one that involves knowledge and training in a branch of advanced learning, the dental profession. 2. the people engaged in an occupation of this kind", aus: Oxford American Dictionary, hrsg. v. Eugene EHRLICH u. a., New York 1980, S. 714. Andere Professionelle wären ζ. Β. Ärzte, Rechtsanwälte, Ingenieure und Universitätsprofessoren. Historisch gesehen hatte „Profession" eine andere Bedeutung in Deutschland: „im allgemeinen jeder Beruf, zu dem man ,sich bekennt', [...] vorzugsweise aber ein Gewerbe oder Handwerk, daher Professionist, soviel wie Handwerker", aus: Meyers Großes KonversationsLexikon. Ein Nachschlagwerk des allgemeinen Wissens, 6. Aufl., Bd. 16, Leipzig 1907, S. 367. Siehe auch Konrad H. JARAUSCH, The Unfree Professions. German Lawyers, Teachers, and Engineers, 1900-1950, New York 1990, S. 4-8.

B ü r g e r l i c h e und a d l i g e Krieger

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des preußischen militärischen Professionalismus war der Generalstab. Nach Samuel Huntington war die Professionalisierung des preußischen Offizierkorps eine unvermeidliche Folge der gesellschaftlichen Modernisierung. Eben dieses Korps habe sich dann in den Einigungskriegen militärisch bewiesen, wodurch Prestige und Vorbildcharakter international enorm stiegen. 4 Spitzen wir ein wenig zu: Die erste Interpretation geht zwar vom Primat der sozialen Herkunft adliger Offiziere aus, dennoch mißt sie der Kultur primäre Bewegungskraft zu, seien doch adlige Offiziere in „feudalen" kulturellen Orientierungen haften geblieben, die so stark wirksam gewesen seien, daß sie eine Hegemonie über jegliche „bürgerlichen" kulturellen Orientierungen ausgeübt hätten. Vertreter dieser Interpretation bemängeln das Offizierkorps wegen dieser „reaktionären" Entwicklung, war Deutschland j a sonst in vielerlei Hinsicht ein modernes, industrialisiertes Land. Die Offiziere hätten sich der materiellen Entwicklung des Kaiserreichs fügen sollen, was sie aber nicht taten. Dagegen mißt die zweite Interpretation den materiellen Faktoren größere Bedeutung bei, insofern sie Modernisierungsprozesse und die daraus resultierenden funktionalen Zwänge betont, an die das Offizierkorps sich durch Professionalisierung gut angepaßt habe. Wir haben also die alte Frage: Bestimmte die Kultur oder die Materie das historische Resultat? Doch die Ursache ist weniger interessant als das umstrittene Resultat selbst, d. h. die kulturellen Orientierungen und Praxen des Offizierkorps, womit beide Interpretationen sich zu Recht befassen, allerdings noch ohne sich der Sprache und Methoden der Kulturgeschichte zu bedienen. Aber erst in einer kulturgeschichtlichen Perspektive lassen sich die bürgerlichen und adligen Offiziere als soziale Akteure überhaupt erfassen. Es geht nicht nur darum zu erfahren, ob, in welchem Maß und wie sie im Offizierkorps vertreten wurden, sondern auch was ihre Handlungen ihnen und anderen im jeweiligen

S a m u e l P. HUNTINGTON, T h e S o l d i e r and the State. T h e T h e o r y o f P o l i t i c s and C i v i l - M i l i t a r y R e l a t i o n s , N e w Y o r k 1 9 5 7 ; M o r r i s JANOWITZ, T h e P r o f e s s i o n a l S o l d i e r . A S o c i a l and Political Portrait, G l e n c o e I 9 6 0 . V o n Historikern k o m m e n z w e i n e u e r e A r b e i t e n , d i e v o n e i n e m f u n k t i o n a l e n A n s a t z geprägt sind, aber w e s e n t l i c h darüber h i n a u s g e h e n : M i c h a e l GEYER, T h e Past as Future. T h e G e r m a n O f f i c e r C o r p s as P r o f e s s i o n , in: G e o f f r e y COCKS und Konrad H. JARAUSCH ( H g . ) , G e r m a n P r o f e s s i o n s , 1 8 0 0 - 1 9 5 0 , N e w York 1 9 9 0 . S. 1 8 3 - 2 1 2 , in d e m d i e f u n k t i o n a l e R o l l e der s o g . „ f e u d a l e n " Kultur d e s O f f i z i e r k o r p s h e r v o r g e h o b e n wird, und A r d e n BUCHOLZ, M o l t k e , S c h l i e f f e n , and Prussian War P l a n n i n g , N e w Y o r k 1 9 9 1 , d a s sich mit d e m G e n e r a l s t a b als bürokratische, p l a n e n d e und l e h r e n d e Org a n i s a t i o n befaßt.

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beruflichen und sozialen Kontext bedeuteten, d. h. was für einen sozialen Sinn ihre Praxen hatten. 5 In den folgenden Ausfuhrungen hinterfrage ich die obigen zwei Interpretationen des Offizierkorps und stelle Ansätze fur eine alternative, kulturgeschichtliche Erklärung des gemischten historischen Befunds auf, die sowohl die soziale Herkunft der Offiziere wie auch ihren beruflichen Kontext berücksichtigen. Methodisch-empirisch gehe ich auf zweierlei Art vor: Einerseits untersuche ich die kulturellen Orientierungen und Praxen des bürgerlichen Generals Wilhelm Groener (1867-1939), den ich heuristisch als Gegenbeispiel zur gängigen Vorstellung eines „feudalen" Offizierkorps nehme. Daß er „Generalstäbler" war und somit nicht als typisch für das gesamte Offizierkorps gelten kann, zumal er aus kleinen Verhältnissen in Württemberg stammte, sei hier nicht in Frage gestellt. Dennoch sollten meine Ausfuhrungen Relevanz für das gesamte Offizierkorps besitzen, weil Groener in Bezug auf sein soziales und kulturelles Umfeld betrachtet wird. Meine Anlehnung an die Biographie Groeners hat den Vorteil, daß man bei relativ quellennaher, anschaulicher Beschreibung die vielfältigen Perspektiven von Klasse, Kultur und Beruf zusammenbringen und auf konkrete Handlungen und ihre soziale Bedeutung beziehen kann. Die Skizzen zu Groener bilden das Herz des folgenden Aufsatzes (II. und V.). Andererseits stelle ich das Offizierkorps als eine „Profession" dar, was ich mit seinen Ähnlichkeiten zu den zivilen Professionen in Deutschland begründe. Um Aufschluß über die Laufbahnen, Selbstdarstellungen und Berufsverständnisse eines breiteren Spektrums wilhelminischer Offiziere zu gewinnen, ziehe ich einen kleinen Teil der sehr umfangreichen Eigenliteratur der wilhelminischen Armee heran, v. a. die militärischen Ranglisten und das MilitärWochenblatt, die gewissermaßen die Konturen des Berufsfelds umris-

D i e Literatur z u m m e t h o d i s c h v i e l f ä l t i g e n , in sich t e i l w e i s e

widersprüchlichen

F e l d der K u l t u r g e s c h i c h t e w ä c h s t mit b e a c h t l i c h e m T e m p o . E i n l e i t e n d s i e h e ζ. B. L y n n HUNT ( H g . ) , T h e N e w Cultural History, B e r k e l e y 1 9 8 9 ; W o l f g a n g HARDTWIG u n d H a n s - U l r i c h WEHLER ( H g . ) , K u l t u r g e s c h i c h t e H e u t e , G ö t t i n g e n W i c h t i g für m e i n e i g e n e s D e n k e n ist d i e relationale, p r a x i s b e z o g e n e

1996.

Betrach-

t u n g s w e i s e v o n Pierre BOURDIEU; s i e h e u. a.: D i e f e i n e n U n t e r s c h i e d e . Kritik der gesellschaftlichen Frankfurt a. M .

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Urteilskraft,

übers,

v.

Bernd

Schwibs

und A c h i m

Russer,

1 9 9 8 ; ders., S o z i a l e r Sinn. Kritik der t h e o r e t i s c h e n V e r n u n f t ,

übers, v. Günter Sieb, Frankfurt a. M. 1 9 8 7 . A n r e g e n d : Marshall SAHUNS, Islands o f History, C h i c a g o 1 9 8 5 .

Bürgerliche und adlige Krieger

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sen. 6 Diese Überlegungen bilden den inhaltlichen Kern des folgenden Aufsatzes (I., III. und IV.). I. Die heterogene Zusammensetzung des „feudalen" Offizierkorps Zuerst einige bekannte Zahlen, welche die Folgen der vielen Heeresvermehrungen in der wilhelminischen Ära für das A r m e e Offizierkorps verdeutlichen: 1860 waren 35% der Offiziere im preußischen Offizierkorps bürgerlich. Bis 1913 stieg diese Zahl auf 70%. In den höheren Rängen ist eine ähnliche, aber für den Adel etwas günstigere Tendenz festzustellen. 1860 waren 86% der Oberste und Generäle adlig, 1900 61% und 1913 52%. Im elitären Großen Generalstab waren 1906 60% der Offiziere adlig, 1913 noch 50%. Eine noch stärkere Tendenz zur „Verbürgerlichung" zeichnete sich außerhalb des preußischen Kontingents ab. Bürgerlich waren z. B. 1910 81,5% der Offiziere im württembergischen Kontingent und 1898 bzw. 1908 80,6% bzw. 85,2% der Offiziere im sächsischen Kontingent. Im bayerischen Kontingent sank der Adelsanteil von 30% im Jahre 1866 auf 15% im Jahre 1914, als nur noch 9% der Anwärter adlig waren. Wie kontinuierlich der Abstieg des Adels im Offizierkorps aber auch war, sein Beharrungsvermögen ist unverkennbar, zumal die absolute Zahl der adligen Offiziere in Preußen von 3 250 im Jahre 1860 auf 6 630 im Jahre 1913 stieg. Eine ähnliche Tendenz zeichnete sich im sächsischen Kontingent ab, in dem die absolute Zahl adliger Offiziere 1888 450, 1898 600 und 1908 571 betrug. 7 Die bürgerlichen Offiziere wurden sorgfältig ausgewählt, um das exklusive, „aristokratische" Erscheinungsbild und die zuverlässige Monarchentreue des Offizierkorps möglichst nicht zu beeinträchtigen, Die Bedeutung der Ranglisten und des Militär-Wochenblattes für den Offiziersberuf behandele ich unten, aber man kann ihren Stellenwert bereits in folgender Anekdote erblicken: Eine Offiziersfrau beschrieb eine andere so: „Scherzweise ging ihr der Ruf voraus, militärisch so beschlagen zu sein, daß sie die Rangliste und das Militär-Wochenblatt ständig vor ihrem Bette liegen hatte"; Mathilde Freifrau v. GREGORY, Dreißig Jahre preußische Soldatenfrau, Brünn [ca. 1933], S. 65. DEMETER, O f f i z i e r k o r p s ( w i e A n m . 1), S. 2 6 - 2 7 , 3 0 ; J o a c h i m FISCHER, D a s w ü r t -

tembergische Offizierkorps 1866-1918, in: Hofmann (Hg.), Offizierkorps (wie Anm. 2), S. 103; Hans-Ulrich WEHLER, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, München 1995, S. 819; Hermann RUMSCHÖTTEL, Das bayerische Offizierkorps 1866-1914, Berlin 1973, S. 91. Offiziere, die erst während ihrer Laufbahn geadelt wurden, zählt Demeter als bürgerlich, Fischer aber zum Adel, so daß hier die Zahl des Adels in württembergischen Kontingent vergleichsweise größer erscheint, als sie von der Herkunft her war.

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da es auf Grund seiner Repräsentationsfunktion, seines Gewaltpotentials und seiner verfassungspolitischen Stellung eine Hauptstütze der deutschen Monarchien bildete. Die Hauptauswahlkriterien sind einem Befehl Wilhelms II. vom 29. März 1890 zu entnehmen: „Der gesteigerte Bildungsgrad unseres Volkes bietet die Möglichkeit, die Kreise zu erweitern, welche für die Ergänzung des Offizierkorps in Betracht kommen. Nicht der Adel der Geburt allein kann heutzutage wie vordem das Vorrecht für sich in Anspruch nehmen, der Armee ihre Offiziere zu stellen. Aber der Adel der Gesinnung, der das Offizierkorps zu allen Zeiten beseelt hat, soll und muß demselben unverändert erhalten bleiben. [...] Neben den Sprossen der adligen Geschlechter des Landes, neben den Söhnen meiner braven Offiziere und Beamten, die nach alter Tradition die Grundpfeiler des Offizierkorps bilden, erblicke ich die Träger der Zukunft meiner Armee auch in den Söhnen solcher ehrenwerten bürgerlichen Häuser, in denen die Liebe zu König und Vaterland, ein warmes Herz für den Soldatenstand und christliche Gesittung gepflegt und anerzogen werden. "s Christlich hieß in der Regel protestantisch, völlig ausgeschlossen blieben Juden. Der Kaiser rechtfertigte die Erweiterung der in Frage kommenden Kreise, mit den bei o. g. sozialen Kreisen vorhandenen wünschenswerten kulturellen Attributen. Implizit wurden auch ausreichende ökonomische Mittel verlangt, einmal wegen der schlechten Besoldung der unteren Ränge bei gleichzeitig teuerem Lebensstil, v. a. aber weil die militärische Führung glaubte, daß das passende kulturelle Kapital bei j u n g e n Männern der unteren Schichten überhaupt nicht vorhanden sein könnte. Als besonders wünschenswert galt der altpreußische Offizierersatz: Söhne von Offizieren, hohen Beamten und Gutsbesitzern. Als vertrauenswürdig galten auch die Söhne von Akademikern, Rechtsanwälten, Ärzten und an der Universität ausgebildeten Lehrern, 9 d. h. die professionellen, akademischen Gruppen, w o f ü r das preußische Beamtentum gewissermaßen als kulturelles Vorbild diente. 1 0 Des weiteren wurden die Söhne von Kaufleuten und Fabrikanten in zunehmendem M a ß e genommen. Zwar überwog der altpreußische Offizierersatz in der preußischen Generalität, aber Offiziere aus dem Wirtschaftsbürgertum waren auch dort mehr und mehr zu finden:

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Zit. n. Hans Meier-WEi.CKER (Hg ), Offiziere im Bild von Dokumenten aus drei Jahrhunderten, Stuttgart 1964, S. 197.

9

DEMETER, Ofïizierkorps (wie Anm. 1), S. 18-21. Charles MCCLELLAND, The German Experience of Professionalization. Modern Learned Professions and Their Organizations from the Early Nineteenth Century to the Hitler Era, Cambridge 1991, S. 109-110.

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1882-1892 entstammten nur 9 (2,09%) der preußischen Generäle dem Wirtschaftsbürgertum; diese Zahl stieg auf 12 (2,25%) in den Jahren 1893-1903 und 57 (7,98%) in den Jahren 1904-1914. 11 In Süddeutschland entstammten Offiziere auch kleinbürgerlichen Kreisen, aber mit abnehmender Tendenz. In Württemberg kamen ζ. B. 1872 45% der bürgerlichen Fähnriche aus dem Kleinbürgertum, 1912 lag diese Zahl nur noch bei 9%. Diese Tendenz lag ζ. T. an der zunehmenden Integration des württembergischen Kontingents in das preußische und die damit verbundene Übernahme preußischer, militärischer Leitbilder.' 2 Hinzu kam das steigende Prestige des Offizierkorps in der wilhelminischen Gesellschaft, so daß der Offiziersberuf zunehmend auch die höheren süddeutschen Schichten anzog. 1 3 Außerdem wurden die Söhne von Offizieren mit kleinbürgerlichem Familienhintergrund schon nicht mehr zum Kleinbürgertum gerechnet, wenn sie ebenfalls den Weg ins Offizierkorps einschlugen. Des Kaisers Rede von einem „Adel der Gesinnung" zum Trotz spielte die soziale Herkunft des einzelnen Offiziers eine gewichtige Rolle in seiner Laufbahn. Adlige wurden manchmal bei Beförderungen und der Besetzung von Kommandostellen bevorzugt. Technische Positionen, die vergleichsweise geringen militärischen Prestigewert besaßen, ζ. B. in einem Eisenbahn-Bataillon oder in einem ArtillerieRegiment, wurden überwiegend mit Bürgerlichen besetzt. Die soziale Herkunft beeinflußte auch, wo ein Offizier diente und wohnte, beispielsweise in der Metropole Berlin oder im unbeliebten Elsaß, in einer attraktiven Residenzstadt oder weit weg an der russischen Grenze, in der eigenen vertrauten Region oder woanders im Reich, wo Sprache, soziale Struktur, Konfession und die Sitten fremd sein konnten. Weil jedes Regimentsoffizierkorps seinen Nachwuchs auswählte, tendierten Adlige dazu, sich in elitären Regimentern zu konzentrieren, wie in der Garde oder der Kavallerie, während Bürgerliche in den weniger angesehenen Regimentern vorherrschten. Dabei spielten der Lebensstil des jeweiligen Regiments und die dafür nötigen Mittel der Aspiranten die entscheidende Rolle. Die militärischen Personalbehörden scheinen sich dieser Tendenz wenig oder gar nicht entgegengesetzt zu haben. Das Ergebnis war ein heterogenes Offizierkorps: Sogar

11 12

HUGHES, K i n g ' s Finest (wie Anm. 2), S. 22. FISCHER, Württembergisches Offizierkorps, in: Hofmann (wie Anm. 2), S. 104105. Zu einer ähnlichen Tendenz in Bayern, wo das Offizierkorps vor 1871 kein gutes Ansehen genoß, siehe RUMSCHÖTTEL, Bayerisches Offizierkorps (wie Anm. 7), S. 82-94.

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das vermeintlich „adlige" preußische Kontingent wies große Unterschiede zwischen seinen Einheiten auf. 14 Tabelle 1 : Verhältnis zwischen Adel und Bürgertum in den Offizierkorps ausgewählter preußischer Einheiten, 1912 1 5 Regiment [Standort] 1. Garde-Regiment zu Fuß [Potsdam] Oldenburgisches Infanterie-Regiment Nr. 91 [Oldenburg] Grenadier-Regiment Prinz Carl v. Preußen (2. Brandenburgisches) Nr. 12 [Frankfurt a.O.] Infanterie-Regiment Hamburg (2. Hanseatisches) Nr. 76 [Hamburg] Grenadier-Regiment Graf Kleist v. Nollendorf (1. Westpreußisches) Nr. 6 [Posen] Infanterie-Regiment Prinz Moritz v. Anhalt-Dessau (5. Pommersches) Nr. 42 [Stralsund & Greifswald] Infanterie-Regiment v. Horn (3. Rheinisches) Nr. 29 [Trier] Infanterie-Regiment v. Boyen (5. Ostpreußisches) Nr. 41 [Tilsit & Memel] 4. Badisches Infanterie-Regiment Prinz Wilhelm Nr. 112 [Mühlhausen (Elsaß)] 3. Garde-Ulanen-Regiment [Potsdam] 2. Rheinisches Husaren Regiment Nr. 9 [Straßburg] 1. Großherzoglich Hessisches Feldartillerie-Regiment Nr. 25 [Darmstadt] I. Thüringisches Feldartillerie-Regiment Nr. 19 [Erfurt] Garde Pionier-Bataillon [Berlin] Eisenbahn-Regiment Nr. 1 [Berlin] Telegraphen-Bataillon Nr. 3 [Koblenz]

Verhältnis Adel / Bürgertum 86:0 43:7 26:30 24:21 19:37 11:44 8:46 3:47 3:52 32:0 6:21 25:4 0:29 7:16 5:41 0:27

Dennoch betont die Forschung die Homogenität des Offizierkorps derart, daß selbst die ansonsten sehr unterschiedlichen Synthesen Hans-Ulrich Wehlers und Thomas Nipperdeys eine wichtige Gemeinsamkeit aufweisen: Der Adel, allen voran der preußische, ostelbische Adel, gab den Ton im gesellschaftlich so bedeutenden Offizierkorps an. Wehler schreibt: „In einer Langzeitperspektive ist der Rückgang des Adels in den Leitungspositionen der Streitkräfte eine sozialhistorische Tatsache. Da er aber im Hegemonialstaat seine Vorherrschaft im oberen Offizierkorps dennoch behaupten konnte, reichte sein Einfluß 14

15

Max VAN DEN BERGH, Das deutsche Heer vor dem Weltkriege. Eine Darstellung und Würdigung, Berlin 1934, S. 103-107; HUGHES, King' Finest (wie Anm. 2), S. 56-57, 70, 74-76, 79; Jena oder Sedan? [kritische Rezension des gleichnamigen Romans, M.S.], in: Deutsches Offizierblatt, Bd. 7, Nr. 20 (19.5.03), S. 4. Rangliste der Königlich Preußischen Armee und des XIII. (Königlich Württembergischen) Armeekorps für 1912 [...], Berlin 1912.

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im größten [d. h. Preußens] Militärverband, damit auch im Reichsheer, immer noch erstaunlich weit". 1 6 Nipperdey zufolge „[wurden] die bürgerlichen Offiziere in die tradierten Verhaltensnormen integriert, sie wurden Teilhaber der Exklusivität und des homogenen Korpsgeistes. Insofern hat die zunehmend bürgerliche Herkunft an Geist und Stil des Offizierkorps wenig geändert - allenfalls die schulische Vorund die technisch-intellektuelle Fortbildung gewannen an Gewicht". 1 7 Wie verträgt sich diese Interpretation mit der Vielfältigkeit des europäischen bzw. deutschen Adels? 1 8 Was ist mit den Erkenntnissen der neueren Bürgertumsforschung, wonach die wilhelminischen Eliten nicht nur aus Adel und einem dominierten bzw. „feudalisierten" Bürgertum, sondern auch aus vielfältigen und selbstbewußten bürgerlichen Elementen bestand? 1 9 Die breite historiographische Übereinstimmung, die Wehlers und Nipperdeys Schlüsse widerspiegeln, wirft drei Probleme auf. Erstens: Der deutsche Adel wird häufig als etwas Monolithisches gesehen, eine Tendenz, die sich bei Nipperdeys Synthese dadurch auszeichnet, daß dort wenig Sozialgeschichtliches zum Adel überhaupt zu finden ist. Auch Wehler, der sonst differenziert über den Adel schreibt, tendiert dazu, „Offizier" mit „Adel" bzw. „ostelbischem Adel" gleichzusetzen. Zweitens: Hieraus könnte man folgern, daß nur der Adel das Offizierkorps prägte, jedoch umgekehrt nicht das Offizierkorps den Adel, was sich schwer glauben läßt. Die wechselseitige Beziehung von adliger und militärischer Kultur müßte anhand konkreter Beispiele einzelner Offiziere untersucht werden, um die unterschiedlichen Einflüsse von Erziehung, Bildung, Beruf und sozialem Milieu auf den Habitus (im bourdieuschen Sinn) und das Handeln individueller, sozialer Akteure festzustellen. Drittens: Dies gilt auch für den kulturellen Beitrag der bürgerlichen Offiziere, die wichtige Positionen innehatten und deren bürgerlicher Habitus trotz berufsbedingter Sozialisierung nicht einfach wegzudenken ist. Im nächsten Abschnitt gehe ich an das dritte Problem heran, weil bürgerliche Offiziere so gut wie nicht erforscht sind. In der Literatur gelten sie eben kaum noch als bürgerlich. 16

WEHLER, Gesellschaftsgeschichte (wie Anm. 2), S. 821.

17

Thomas NIPPERDEY, Deutsche Geschichte 1866-1918, 2 Bde., München 1990/92, Bd. 2, S. 222.

18

S. Jonathan DEWALD, The European Nobility, 1400-1800, Cambridge 1996; Dominic LIEVEN, The Aristocracy in Europe, 1815-1914, N e w York 1992 und neuerdings Heinz REIF, Adel im 19. und 20. Jahrhundert, München 2000. Siehe Jonathan SPERBER, Bürger, Bürgertum, Bürgerlichkeit, Bürgerliche Gesellschaft. Studies of the German (Upper) Middle Class and Its Sociocultural World, in: Journal of Modern History 69 (1997), S. 271-297.

34

II.

Mark R. Stoneman

Die kulturellen Orientierungen des bürgerlichen Generals Wilhelm Groener

Der Habitus eines jeden Offiziers war durch Erziehung, Bildung und berufliche Sozialisation bedingt. Demzufolge beeinflußte die soziale Herkunft sehr wohl die kulturellen Orientierungen des einzelnen bürgerlichen Offiziers, auch wenn sie von beruflichen - einschließlich scheinbar „adligen", preußisch-militärischen - Vorstellungen modifiziert oder ergänzt wurden. Um dieses soziologische Argument empirisch zu untermauern, werde ich die kulturellen Orientierungen Wilhelm Groeners, welche die Grundzüge seines Habitus sichtbar machen, anhand eines Bürgerlichkeit-Katalogs aus der neueren Bürgertumsforschung kurz erläutern. Stichpunkte dieses Katalogs sind individuelle Leistung, Erfolg und Fleiß, die sich in der männlichen bürgerlichen Karriere verkörperten. Bildung war dafür Voraussetzung, aber auch wichtig als Wert an sich - unabdingbar für die Entwicklung der Persönlichkeit wie für die soziale Anerkennung des Individuums. Hinzu kamen rationale Lebensführung, Mißtrauen gegenüber Traditionen und unabhängiges Denken. Schließlich wurde die Kleinfamilie in affektiven Worten hochgepriesen. Sie stellte den emotionalen Rahmen dar, innerhalb dessen das Individuum seine Persönlichkeit entwickelte, und sie bildete ein wichtiges Gegenstück zum öffentlichen, männlichen, beruflichen Leben. 20 Fangen wir mit dem Familienideal an, wie es Groeners Feder wiedergab. Am 21. November 1914 schrieb er seiner Frau Helene einen Brief, in dem er über seine dreißigjährige Dienstzeit nachdachte: „Dankbar bin ich der Vorsehung, die mir in meinem Beruf ein gutes Los beschieden hat, vor allem aber muß ich Dir danken, weil Du mir eine treue, feste Stütze warst. Du darfst mir glauben, daß ich nie das erreicht hätte in meinem Beruf, wenn Du nicht mein treuer Begleiter auf allen Wegen gewesen wärest seit meiner Leutnantszeit." 21 In seinen Lebenserinnerungen kommentierte er seiner Meinung nach zu 20

Vgl. Jürgen KOCKA, Bürgertum und Bürgerlichkeit als Problem der deutschen Geschichte vom späten 18. zum frühen 20 Jahrhundert, in: Ders. (Hg.), Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Göttingen 1987, S. 43 f.; David BLACKBOURN, The German Bourgeoisie. An Introduction, in: Ders. und Richard EVANS (Hg.), The German Bourgeoisie. Essays on the Social History of the German Middle Class from the Late Eighteenth to the Early Twentieth Century, 2. Aufl., London 1993, S. 9; NIPPERDEY, Deutsche Geschichte (wie Anm. 17), Bd. 1, S. 4345, 382-395.

21

Zit. n. Dorothea GROENER-GEYER, General Groener. Soldat und Staatsmann, Frankfurt a. M. 1955, S. 30.

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35

streng erzogene Jugendfreunde, die trotzdem „alle gute Menschen geworden [waren], warmherzige Frauen und in ihrem Beruf tüchtige Männer." 22 Dieses häuslich-partnerschaftliche Ideal setzte ein festes Frauenbild voraus, das er bei der Erziehung seiner Tochter Dorothea (geb. 1900) konsequent durchsetzte. Viele Jahre später klagte die Betroffene darüber: „Als ich 14 und 15 Jahre alt war, habe ich meinen Vater zweimal gebeten, mir den Übergang in eine weiterfuhrende Schule zu ermöglichen; ich wolle Abitur machen und Geschichte studieren - ich erntete nur Hohn und Spott. ,Lern du kochen, dann kommst du immer durchs Leben' war die Antwort. [...] Er war so felsenfest überzeugt, daß ich eines Tages heiraten würde." 23 Was Groeners Karrierevorstellung betraf, schrieb er: „Der Offiziersberuf bot [...] die Möglichkeit zu rascher Selbständigkeit". Er meinte damit nicht nur finanzielle Selbständigkeit. Ein Mann mußte sein Potential in seinem Beruf verwirklichen: „Mein Vater", ein württembergischer Zahlmeister (ein militärischer Beamter), „war in seinem Beruf nicht glücklich; seine Fähigkeiten lagen brach, und es drückte ihn, daß er aus den engen pekuniären Verhältnissen nicht herauskommen konnte". 24 Der Weg zur Selbstverwirklichung und zur aufwärtsgerichteten sozialen Mobilität begann für Groener im Gymnasium. Viele Jahre später entsann er sich eines Deutschlehrers, der einmal den Schülern eine Hausaufgabe zu jenem Goethewort erteilte: „Es bildet ein Talent sich in der Stille, sich ein Charakter in dem Strom der Zeit". Groener: „Es war der erste Aufsatz aus bewußtem eigenem Nachdenken, der deshalb auch dauernd in mir nachgewirkt hat." Mit dieser Erinnerung bestätigte er seine Hochschätzung der gebildeten, vollendeten Persönlichkeit. In der Metropole Berlin konnte der junge Groener sich frei von den kleinstädtischen Beschränkungen entwickeln. Gerne folgte er dem Rat des Generalleutnants von Brauchitsch, Direktor der Kriegakademie, der „uns bei unserem Eintritt [riet], neben unseren wissenschaftlichen Studien auch die Genüsse der Großstadt nicht zu vernachlässigen." Was Groener an Berlin besonders gefiel, war „die unabhängige Lebensform. Man war frank und frei und

22

Wilhelm GROENER, Lebenserinnerungen. Jugend - Generalstab - Weltkrieg, hrsg. v. Friedrich Frhr. Hiller von Gaertringen, Göttingen 1957, S. 34.

23

Dorothea GROENER-GEYER, Kurt von Schleicher privat, unvollendetes Manuskript, 1984, S. 13-14, in: B A - M A Freiburg, N46, unsortierter Teilnachlass von Dorothea Groener-Geyer (2 Kartons).

24

GROENER, Lebenserinnerungen (wie Anm. 22), S. 32 u. 37; [ders ], Kommandierung wiirtt. Offiziere nach Preußen, in: Schwäbischer Merkur vom 24.8.1911, Abendblatt, in: B A - M A Freiburg, N46/78, Bl. 1-2.

36

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brauchte auf keine der kleinstädtischen Bindungen Rücksicht nehmen; gefiel es einem in seiner Wohnung nicht mehr, so fand man leicht eine andere: Auswahl war genügend da." 25 Diese Trivialität exemplifiziert einen Lebensstil, der Groener gut bekam. Besonders stolz war er auf seine Ausbildung an der Kriegsakademie, die ihm den Weg in den Generalstab eröffnete. Er schätzte „Wissenschaft" sehr hoch ein, aber sie durfte nicht zu einseitig sein; eine gute Allgemeinbildung war ebenfalls nötig. Groener zufolge fehlte eben diese dem General Erich Ludendorff. 26 Schließlich war Groener stolz auf seinen eigenen Fleiß. Als alter Mann beschrieb er seine frühen Tage in der Eisenbahnabteilung als lang und voll. Er und seine Kollegen waren „Arbeitstiere". Wenn er und seine Frau mit Freunden einmal ausgingen, nannten sie die seltene Gelegenheit einen „heiligen Abend". 27 Diese Skizze legt nahe, daß Groener an der wilhelminischen bürgerlichen Kultur, so wie sie von der Bürgertumsforschung beschrieben wird, teilnahm. Dies reicht zwar nicht, um die Vorstellung von einem homogen „feudalen" Offizierkorps zu verwerfen, aber sie scheint jetzt noch weniger sinnvoll zu sein. Allerdings bedarf die Analyse eines historischen Kontextes, bevor es als erwiesen gelten kann, daß diese kulturellen Orientierungen nur dem Bürgertum und nicht etwa einer gemeinsamen Elitenkultur zuzurechnen sind. Es bleibt eben ein Forschungsdefizit, daß die meisten Bürgertumsstudien, aus denen der obige Bürgerlichkeitskatalog entstanden ist, nicht explizit in Bezug auf andere sozialen Schichten erarbeitet wurde. 28 Wie schon Ε. P. Thompson festgestellt hatte, ist „Klasse" eine „historische Beziehung", die „in echten Menschen und in einem echten Kontext verkörpert werden muß." 29 In den Worten Pierre Bourdieus: „das Reale ist relational". 30 Handlung, Geschmack, Wert oder Leitbild erlangen soziale Bedeutung nur in Bezug auf andere Handlungen, Geschmäcker, Werte oder Leitbilder, und zwar in einem spezifischen sozialen und temporalen Kontext, zumal Bürgertum und Adel jeweils heterogene soziale Gruppen darstellten. Der Bürger Groener entstammte dem württembergischen Kleinbürgertum und 2 5

26

GROENER, L e b e n s e r i n n e r u n g e n ( w i e A n m . 2 2 ) , S. 3 4 , 5 5 .

Ebd., S. 59-61; ders., Brief an Fritz Kern, [1936], in: B A - M A Freiburg, N46/63, Bl. 195.

27

DERS., Lebenserinnerungen (wie Anm. 22), S. 56.

2 8

SPERBER, B ü r g e r ( w i e A n m . 1 9 ) , S. 2 8 4 .

29

E. P. THOMPSON, The Making o f the English Working Class, N e w York 1966, S. 9.

30

Pierre BOURDIEU, Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, übers, v. Hella Beister, Frankfurt a. M. 1998, S. 15.

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37

besuchte das Gymnasium bis zur Primareife; der Vater des Bürgers Ludendorff hingegen war ostelbischer Gutsbesitzer bzw. -pächter und Ludendorff wuchs in einer Kadettenanstalt heran. 31 Genauso unterschieden sich viele Adlige untereinander. Wie ähnlich waren wohl die familiären Erfahrungen und der Habitus eines Hauptmanns von Schmid und eines Hauptmanns von Bismarck? 3 2 Zu den erfahrungsbedingenden Unterschieden der Region, des Bildungswegs und gegebenenfalls des Zeitpunkts der Erhebung der Familie in den Adelsstand kamen auch Unterschiede zwischen den Konfessionen und Generationen - eine Vielfalt von Faktoren, die im Rahmen dieses Aufsatzes nur wenig, wenn überhaupt berücksichtigt werden können. III. Das wilhelminische Offizierkorps als Profession Der historische Kontext adlig-bürgerlicher Beziehungen, um den es hier geht, das Offizierkorps, war ein Feld, das die allgemeinen sozialen Verhältnisse innerhalb seiner Reichweite auf besondere Art und Weise prägte. Natürlich galt auch der umgekehrte Fall, daß Klassenbeziehungen das Offizierkorps prägten. Doch überwiegt dieser Sachverhalt in der Historiographie so sehr, daß der erste leicht übersehen wird. Bevor ich also das komplexe Zusammenspiel von Klassenbeziehungen und Berufskultur anhand des Beispiels Groener näher untersuche, stelle ich den Versuch an, die Konturen und die innere Logik des Berufsfeldes der Offiziere möglichst unabhängig vom Einfluß der Klassenbeziehungen zu skizzieren. Den Offiziersberuf und das Offizierkorps kennzeichne ich als Profession, weil dieses Fremdwort den rhetorisch-heuristischen Gegenpol zu den vermeintlichen Charakteristiken des wilhelminischen Offizierkorps bezeichnet, die man mit „feudal", „adlig" und „vormodern" umreißt, wobei in folgenden Ausfuhrungen noch gezeigt werden wird, daß eine Verwendung in diesem Sinne angebracht ist. Darüber hinaus gibt es bereits eine wissenschaftliche Literatur zu den Professionen und der Professionalisierung, die unserem Verständnis des wilhelminischen Offizierkorps dienlich sein kann. Eine Implikation dieser Literatur, die hier jedoch nicht übernommen werden soll, ist die wenig hilf-

3

'

GROENER, Lebenserinnerungen (wie Anm. 22), S. 3 2 - 3 7 ; Erich LUDENDORFF, Mein militärischer Werdegang. Blätter der Erinnerung an unser stolzes Heer, München 1933, S. 4 - 8 .

32

Die vielen „feinen Unterschiede" unter Preußens Adligen verschiedenen

Ur-

sprungs werden deutlich im letzten Roman des zeitgenössischen Kenners, Theodor FONTANE, Der Stechlin ( 1899).

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reiche Vorstellung von einer richtigen Entwicklung einer jeweiligen Gesellschaft, in der die Professionen bestimmte Formen aufzuweisen bzw. Rollen zu spielen haben. Problematisch an der wissenschaftlichen Erfassung der Professionen ist eben, daß die betreffenden Definitionen und Theorien in der Regel normativen aufgeladen sind und keine Allgemeingültigkeit besitzen. 33 Indes kann aber gerade der fast unvermeidbar normative Inhalt des Professionsbegriffs ihn für die Interpretation des Offizierkorps nützlich machen: Wenn das anzuwendende Professionsbild empirisch den deutschen zivilen Professionen entstammt, wird dieses Bild uns erlauben, das Offizierkorps in Verbindung mit diesen in einen gemeinsamen, historischen Kontext zu stellen. Wenn schließlich bedeutende Ähnlichkeiten nachweisbar wären, hätten wir einen Grund mehr, die gängige Interpretation eines archaischen Offizierkorps anzuzweifeln. Aber noch wichtiger: Es läge dann nahe, die für unsere Augen dennoch sonderbare Erscheinung des wilhelminischen Offizierkorps auf ihre zeitgenössische, professionelle Bedeutung hin zu untersuchen - anstatt diese Erscheinung zu verdinglichen und einem Stereotyp des Adels gleichzusetzen. In seiner Studie über die deutschen Professionen stellt Charles McClelland fest, daß folgende Faktoren ihre „Modernität" ausmachte: erstens der gründliche, höhere Bildungsweg fur einen für das ganze Leben auszuübenden Beruf; zweitens deutliche Karrierestufen mit regelmäßigen Laufbahnen; drittens eine der jeweiligen Profession zugrundeliegende Wissenschaft; und schließlich, viertens leisteten die deutschen Professionen der inneren Nationsbildung Vorschub, weil viele sich auf nationaler Ebene organisierten und somit die Horizonte ihrer Mitglieder - ζ. T. schon vor 1870 - auf die ganze Nation erweiterten. 3 4 Schließlich sei angemerkt, daß für McClelland die Professionen und das Bürgertum eng verknüpft sind. 35 Angesichts letzterem überrascht nicht, daß er dem aristokratischen wilhelminischen Offi-

3 3

MCCLELLAND, Professionalization (wie Anm. 10), S. 1 1 - 2 7 , bietet eine hilfreiche Diskussion der verschiedenen Professionalisierungstheorien; dabei weist er auf das korrekturbedürftige Defizit hin, daß die meisten sich a u f den außergewöhnlichen anglo-amerikanischen Fall beziehen. Pierre Bourdieu verwirft „Profession" als wissenschaftliches Konzept ganz; an ihre Stelle soll der wertneutrale, dynamische B e g r i f f des Feldes treten: Pierre BOURDIEU, The Practice o f Reflexive S o c i o logy (The Paris Workshop), in: ders., An Invitation to Reflexive Sociology, Chic a g o 1 9 9 2 , S. 2 4 1 - 2 4 4 .

Siehe auch folgende historiographischen Beiträge zur

Professionalisierung in Deutschland: JARAUSCH, Unfree Professions (wie ANM. 3); COCKS und JARAUSCH, German Professions (wie Anm. 4). 3 4

MCCLELLAND, Professionalization (wie Anm. 10), S. 2 3 1 f.

3 5

Ebd., S. 8.

Bürgerliche und adlige Krieger

39

zierkorps die „Modernität" dieser Professionen abspricht. 36 Doch in der Tendenz wies das Offizierkorps ähnliche Merkmale auf, was aber nicht heißen muß, daß dessen Professionalismus bürgerlich (oder adlig) war. Erstens: Gewiß ließ die schulische Vorbildung vieler Offiziere zu wünschen übrig. 37 Noch wichtiger aber scheint mir folgender Sachverhalt: Ob sie eine Kadettenanstalt, ein Gymnasium oder ein Realgymnasium besuchten, ob sie ein Abitur erwarben oder nicht. Eine zunehmend große Zahl von Offizieren besaß das Abiturzeugnis, die meisten zukünftigen Offiziere besuchten eine höhere Schule fur Jungen. 38 Deswegen nahmen die zuständigen Militärs an den preußischen Schulkonferenzen 1890 und 1900 teil. 39 Nun blieben alle Knaben in Deutschland, die überhaupt eine höhere Schule (einschließlich einer Kadettenschule) besuchten, eine sehr kleine Minderheit unter den schulpflichtigen Kindern. 40 Das heißt, obwohl es unter den höheren Schulen soziale und inhaltliche Unterschiede gab, war die Zahl ihrer Schüler in Bezug auf sämtliche wilhelminischen Kinder so klein, daß diese Schüler, die später u. a. Offiziere und zivile Professionelle wurden, eine klar abgegrenzte soziale Elite gegenüber den anderen Kindern und Jugendlichen des wilhelminischen Deutschlands bildeten. Ihr Status drückte sich nicht zuletzt in der Berechtigung aus, ihren Militärdienst als Einjähriger abzulegen - mit der Aussicht, Reserveoffizier zu werden, vorausgesetzt, daß sie die Mittel dazu hatten und sowohl ihre soziale Herkunft wie auch ihre politischen Einstellungen stimmten. Die soziale Bedeutung des Einjährigen-Privilegs läßt sich ζ. B. im

36

Ebd., S. 47, 75-76, 106.

37

Siehe ζ. B. Major v. BUSSE, Was und wie soll der junge Offizier lesen, in: Deutsches Offizierblatt, Bd. 7, Nr. 50 (8.12.03), S. 2; Jena (wie Anm. 14).

38

Mit wenigen Ausnahmen mußten alle Offizierbewerber in Bayern das Abitur haben. 44% der im Jahre 1900 in die preußischen, sächsischen und württembergischen Kontingente eingetretenen Fahnenjunker waren Abiturienten. Diese Zahl wuchs auf fast 52% im Jahre 1906 und etwa 65% im Jahre 1912. Fahnenjunker ohne Primareife waren 43 von 968 im Jahre 1900, 83 von 949 im Jahre 1905 und 54 von 1449 im Jahre 1912. Fahnenjunker, die auf Gnade Wilhelms II. ohne bestandene Fähnrichsprüfung in das Offizierkorps eintraten, waren wesentlich weniger als 1% in den Jahren 1903-12; s. die Tabelle in DEMETER, Offizierkorps (wie Anm. 1), S. 89.

39

Heinz STÜBIG, Der Einfluß des Militärs auf Schule und Lehrerschaft, in: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. IV, hg. v. Christa BERG, München 1991, S . 517.

40

Nach NIPPERDEY, Deutsche Geschichte (wie Anm. 17), Bd. 1, S. 555, betrug diese Zahl 5% im Jahre 1911, wobei unklar ist, ob sie die Kadetten einschloß, die jedoch im Verhältnis zu den übrigen Gymnasiasten usw. nicht viele waren.

40

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Bestreben der wenig angesehenen Volksschullehrer erkennen, dieses auch für sich zu eröffnen. 4 1 Dabei lag dem Status der Einjährigen eine gemeinsame Bildungskultur zu Grunde: „Das Gymnasium", schreibt Nipperdey, „vermittelte die gemeinsame Sprache und Denkweise der meinungsbildenden Gesellschaft, der politischen Öffentlichkeit. Die gesamte bürokratische, parlamentarische, ökonomische, gebildete, freiberufliche, verbandliche Führungsschicht war davon geprägt." So gesehen entstammten viele Offiziere dem gleichen prägenden Boden, aus dem die zivilen Professionellen hervorgingen. Nipperdey schreibt weiter: „Das Gymnasium war nicht nur das Fundament der herrschenden Ordnung, sondern auch Boden und Waffenarsenal jeder Opposition. Es integrierte den Staat und alles Weitertreiben; Reform und Kritik wuchsen aus seinem Boden." 4 2 Diese Reform und Kritik führte u. a. zu dem an dieser Kultur teilnehmenden Realgymnasium, das auch zukünftigen Offizieren Bildung vermittelte. Lediglich die Kadettenanstalten waren insofern verschieden, als in ihnen Knaben ab dem zehnten Lebensjahr einer strengen militärischen Regie unterworfen waren. Bei den preußischen Anstalten konstatiert Klaus Schmitz eine „Dominanz der militärischen Erziehung gegenüber der schulischen Allgemeinbildung" 4 3 . Doch auch hier mußten die Kadetten das zunehmend erwünschte Abitur, das dem eines Realgymnasiums glich, durch schulische Leistungen verdienen. Darüber hinaus fanden die Reformdiskussionen und -versuche - so unvollkommen sie gewesen sein mögen - explizit in Bezug auf die breiteren wilhelminischen Bildungsdiskussionen und -reformen statt. 44 Die Andersartigkeit

41

Einfuhrend zu den höheren Schulen, den historiographischen Kontroversen über sie und mit weiterführender Literatur: James ALBISETTI, Education, in: CHICKERING, Germany (wie Anm. 1), S. 2 5 3 - 2 5 5 , 2 6 4 - 2 7 1 . Zur Bedeutung des Einjährig e n - P r i v i l e g s im wilhelminischen Bildungskontext: STÜBIG, Einfluß (wie A n m . 3 9 ) , S. 5 1 9 - 5 2 3 ; Lothar MERTENS, Das Privileg des Einjährig-Freiwilligen Militärdienstes im Kaiserreich und seine gesellschaftliche Bedeutung. Z u m Stand der Forschung, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 39/1 ( 1 9 8 6 ) , S. 5 9 - 6 6 ; DERS., Bildungsprivileg und Militärdienst im Kaiserreich. Die gesellschaftliche B e d e u tung des Einjährig-Freiwilligen Militärdienstes fur das deutsche Bürgertum, in: Bildung und Erziehung 4 3 ( 1 9 9 0 ) , S. 2 1 7 - 2 2 8 .

4 2

4 3

NIPPERDEY ( w i e A n m . 1 6 ) , B d . 1, S. 5 4 8 .

Klaus SCHMITZ, Militärische Jugenderziehung. Preußische Kadettenhäuser und Nationalpolitische Erziehungsanstalten zwischen 1 8 0 7 und 1 9 3 6 , Frankfurt a. M. 1 9 9 7 , S. 155.

4 4

Ebd., S. 7 9 - 1 6 4 , wo der Autor zu einem negativen Urteil über die Bildungsleistungen der Kadettenanstalten kommt. Dagegen John MONCURE, Forging the K i n g ' s Sword: Military Education between Tradition and Modernization. The C a s e o f the Royal Prussian Cadet Corps, 1 8 7 1 - 1 9 1 8 , N e w Y o r k 1 9 9 3 .

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der Kadettenanstalten war echt, aber sie sollte nicht überbewertet werden, zumal Kadetten eine Minderheit des Offiziersnachwuchs stellten. 45 Die Tatsache, daß Offiziere kein Universitätsstudium ablegten, unterschied sie von den anderen deutschen Professionellen. Sogar den begabtesten Offizieren, die mit einem dreijährigen Studium an der prestigeträchtigen Kriegsakademie eine für ehrgeizige Offiziere attraktive Generalstabslaufbahn einschlagen konnten, fehlte diese wichtige Erfahrung. Dieser Sachverhalt wird aber dadurch relativiert, daß ein Großteil der Bildungsaufgaben der Universitäten in der beruflichen Ausbildung - d. h. in der Vermittlung von Fachwissen, nicht von Bildung im idealen Sinne - bestand, deren Ziel der Erwerb einer formellen Zugangsberechtigung zu einer bestimmten Profession war. 46 Offiziere hätten solches Fachwissen an einer Universität nie finden können, sie hätten es nicht einmal dort gesucht, weil das Offizierkorps das Monopol darüber für sich, v. a. für den Generalstab, erfolgreich beanspruchte, wie die ablehnende Haltung sowohl des Militärs als auch der Historikerzunft gegenüber Hans Delbrücks militärgeschichtlichem Projekt demonstrierte. 47 Das dennoch vergleichbare symbolische Kapital 48 des Offiziers und des Historikers, das ihrer jeweiligen Ausbildung und der professionellen Fachkompetenz entstammte, erkennt man ζ. B. in einem großen patriotischen Folioband, in dem die deutsche Geschichte von den Germanen bis zu Wilhelm II. dargestellt

45

Nach STÜBIG, Einfluß (wie Anm. 3 9 ) , S . 5 1 7 , stellten die Kadettenanstalten etwa 1 5 % der Offizierbewerber 1 8 7 8 / 9 0 . Es ist anzunehmen, daß im 2 0 . Jahrhundert angesichts der Heeresvermehrungen trotz einer Zunahme der Kadetten dieser Anteil weiter sank.

46

Konrad H. JARAUSCH, Universität und Hochschule, in: Handbuch (wie Anm. 39), S. 329-332.

47

Siehe Arden BUCHOLZ, Hans Delbrück and the German Military Establishment: War Images in Conflict, Iowa City 1985. Dieser Terminus kommt von Pierre Bourdieu. Hier verstehe ich unter symbolischem Kapital z. B. eine Offiziersuniform, einen Doktortitel, ein Adelsprädikat usw. samt der gesellschaftlichen Anerkennung und (meist informellen, aber realen) Macht, die daraus folgten. Das symbolische Kapital konnte mit materiellem Kapital verbunden sein, aber auch mit kulturellem Kapital (Wissen, Geschmack, Kultiviertheit usw., die man „besaß") und sozialem Kapital (soziale Netzwerke familiärer oder beruflicher Natur). Siehe Hans-Ulrich WEHLER, Pierre Bourdieu. Das Zentrum seines Werks, in: Ders.. Die Herausforderung der Kulturgeschichte. München 1 9 9 8 , S. 2 7 - 2 8 .

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wurde: Offiziere schrieben die operativen und Historiker die politischen Beiträge. 49 Folgendes Stellenangebot sagt auch viel aus: „ Gesucht wird ein rüstiger, gewandter Ingenieur oder Offizier a. D. der Artillerie, Pioniere, der Eisenbahn-Brigade oder der Marine, welchem es bei einem großen Rheinisch-Westfälischen Hüttenwerk obliegen würde, geschäftliche Besuche zu empfangen, vorbereitend mit ihnen zu verhandeln und sich ihrer anzunehmen. Gute gesellschaftliche Formen und etwas technische Kenntnisse unerläßlich. Es handelt sich um eine angenehme, dauernde und gut salarirte Stellung. "50 Hier waren Offiziere aus den technischen Branchen des Militärs den zivilen Ingenieuren ebenbürtig, zumindest wenn es um die öffentliche Repräsentation der Firma ging. Dies sowohl wegen des symbolischen Kapitals ihres Titels als Offiziere a. D. als auch wegen der gefragten Fachausbildung, die sie bei der täglichen Ausübung ihres militärischen Berufs und in einer militärischen Fachschule erworben hatten.51 Diese Erörterungen sollen die Bildungsunterschiede zwischen den Offizieren und den zivilen Professionellen nicht leugnen, zumal sich bei den Generälen dieser Bildungstrend noch nicht durchgesetzt hatte,

Deutsche Gedenkhalle. Bilder aus der vaterländischen Geschichte, Schriftleitung von Julius v. PFLUGK-HARTTUNG, Leitung des Illustrativen Teils von Hugo v. TSCHUDI, v e r a n s t a l t e t v o n M a x HERZIG, B e r l i n [ c a . 1 9 0 7 ] . B e i s p i e l e v o n B e i t r ä -

gen zur neuesten Geschichte: August KEIM, „Aspern und Wagram (1809)"; Ders., „Der deutsch-dänische Krieg"; Otto HINTZE, „Die Stein-Hardenbergischen Reformen"; Friedrich MEINECKE, „Das Zeitalter der Restauration"; Ders., „Friedrich Wilhelm IV. und Deutschland"; Colmar FREIHERR V. D. GOLTZ, „Der Krieg gegen d a s f r a n z ö s i s c h e K a i s e r r e i c h 1 8 7 0 " . V g l . SHOWALTER, A r m y ( w i e A n m . 2 ) , S. 7 ,

der das Aktiv- und Reserveoffizierpatent als ein „generally-negotiable social currency" in der bunten sozialen Landschaft des Kaiserreichs bezeichnet. 50

Allgemeiner Anzeiger zum Militär-Wochenblatt, Nr. 3 (10.1.1900), S. 19. Siehe auch den beruflichen Vorschlag und Kommentar dazu in: Ein Fingerzeig fur verabschiedete Offiziere, in: Deutsches Offizierblatt, Bd. 14, Nr. 49 (8.12.1910), S. 1033; Zu „Ein Fingerzeig für verabschiedete Offiziere", in: Deutsches Offiz i e r b l a t t , B d . 14, N r . 5 1 ( 2 2 . 1 2 . 1 9 1 0 ) , S. 1 0 8 5 f.

Siehe Briefkasten, Frage 2813: Welche Vorteile erwachsen einem Offizier aus dem Besuch der Militärtechnischen Akademie usw.?, in: Deutsches Offizierblatt, B d . 13, N r . 4 7 ( 2 5 . 1 1 . 1 9 0 9 ) , S. 9 3 4 ; E r n s t M . ROLOFF ( H g . ) , L e x i k o n d e r P ä d -

agogik, Bd. 3, Freiburg i. Br. 1914, S. 686 f. Das Standardwerk der militärischen Ausbildung ist immer noch Bernhard POTEN, Geschichte des Militär-Erziehungsund Bildungswesens in den Landen der deutschen Zunge, 5 Bde. [Berlin 18891897], Neudruck, Osnabrück 1982. Siehe auch Heiger OSTERTAG, Ausbildung und Erziehung des Offizierkorps im deutschen Kaiserreich 1871 bis 1918, Frankfurt a. M. 1990, dessen negatives Urteil sich zu sehr von heutigen Maßstäben ableitet.

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als sie in die Armee eingetreten waren 5 2 . Dennoch wird deutlich, daß die wilhelminischen Offiziere keine exotischen „feudalen" Überbleibsel einer längst überholten Zeit bildeten. Vielmehr waren sie in den aktuellen Bildungs-, Ausbildungs- und Berufskontext der zivilen Professionellen ihrer Zeit integriert, in dem sie sich mit ihrem symbolischen Kapital gut behaupten konnten. In diesem Sinne ist vom Bildungsstandpunkt aus die Anwendung des Professionsbegriffs auf das wilhelminische Armee-Offizierkorps sinnvoll. Zweitens: Deutliche Karrierestufen und regelmäßige Laufbahnen waren im Offizierkorps vorhanden. Vorausgesetzt der Offizier eignete sich für eine Beförderung, galt das Prinzip der Anciennität - andernfalls mußte er früher oder später seinen Abschied einreichen. Das Dienstalter wurde bis zum Hauptmann hinauf innerhalb des jeweiligen Regiments festgestellt, während die höheren Ränge in den Dienstalterslisten der jeweiligen Waffengattung geführt wurden. Durch schriftliche Beurteilungen, Vorpatentierungen, Versetzungen in ungünstige Regimenter sowie das Bitten um den Abschied konnten die Vorgesetzten eines Offiziers das Anciennitätsprinzip unterlaufen. 5 3 Doch trotz mancher Unzufriedenheit war das Beförderungswesen keinesfalls willkürlich. Zum einen sind uns Ranglisten und Dienstalterslisten überliefert, denen man den ziemlich regelmäßigen Verlauf von Offizierslaufbahnen entnehmen kann. Zum anderen wurden solche Listen wohl von den meisten Offizieren regelmäßig gelesen, was bedeutet, daß sie einen Sinn darin sahen. 5 4 Jährlich veröffentlichte die königliche Hofbuchhandlung, Mittler und Sohn, die offiziellen Ranglisten des preußischen A r m e e Offizierkorps und der zu ihm gehörenden Einheiten (u. a. der kolonialen Schutztruppe und des württembergischen Offizierkorps). Eine Liste führte sämtliche Offiziere, eine andere nur die aktiven. Beide Listen zeigten die Zugehörigkeit zu einem Regiment, das Datum des Offizierspatents, der letzten Beförderung, Versetzungen oder Kom-

52

HUGHES, King's Finest (wie Anm. 2), S. 63.

53

Ebd., S. 75, 80-82.

54

Siehe Alfred SCHWARZ, Wie entsteht die Rangliste unserer Armee?, in: Deutsches Offizierblatt, Bd. 7, Nr. 21 (26.5.1903), S. 5; Die Dienstalters-Liste 1912/13, in: Militär-Wochenblatt, 97. Jg., Nr. 146 (14.11.1912), Sp. 3341 f. Generell zur Beförderungspraxis: Edgar GRAF MATUSCHKA, Die Beförderungen in der Praxis, in: Gerhard Papke u.a., Untersuchungen zur Geschichte des Offizierkorps. Ancienntität und Beförderung nach Leistung, hg. v. Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Stuttgart 1962, S. 163-172.

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mandierungen an. 55 Vor dem Ersten Weltkrieg war der Markt für solche Informationen derart groß, daß auch der Privatverlag des Deutschen Offizierblattes eine nationale Rangliste herausgab, die Bayern und Sachsen einschloß. 56 Außerdem konnte man bei Mittler und Sohn eine Dienstalterliste erwerben, welche der Verlag 1900 in einem Inserat folgendermaßen beschrieb: „ Dieselbe gewährt nicht nur einen genauen Aufschluß über die Stellungsbesetzung, die Dienstalters- und Beförderungsverhältnisse innerhalb eines jeden Truppentheils undjeder Kommandobehörde, sondern bietet insbesondere auch einen leichten Überblick über die Avancements-Verhältnisse innerhalb jeder einzelnen Waffengattung sowie der gesammten Armee. [...] Die „Dienstalters-Liste" wird in vorliegender Anordnung jedem Offizier, jeder Dienststelle willkommen sein. "57 Darüber hinaus war die Nachfrage groß genug, eine langjährig konkurrierende Liste zu tragen. 58 Neben den Rang- und Dienstalterslisten informierte das vom Großen Generalstab herausgegebenen MilitärWochenblatt, das regelmäßig derartige Nachrichten aus dem ganzen Reich enthielt, die Offiziere über die aktuellsten Beförderungen, Versetzungen und Abschiede. 59 Alle diese Listen zeigen, daß das wilhelminische Offizierkorps regelmäßige, professionelle Laufbahnen mit deutlichen Karrierestufen anbot. 55

56

57 58

59

Zwei Beispiele: Rang- und Quartierliste der Königlich Preußischen Armee und des XIII. (Königlich Württembergischen) Armeekorps für 1900 [...] (Redaktion: die Königliche Geheime Kriegs-Kanzlei), Berlin; Rang- und Quartierliste der Königlich Preußischen Armee für den aktiven Dienststand, Berlin 1893. Deutsche Rangliste umfassend das gesamte aktive Offizierkorps [...] der deutschen Armee und Marine und seinen Nachwuchs, Oldenburg i. Gr. 1911. Natürlich veröffentlichten Bayern, Sachsen und Württemberg auch ihre eigenen offiziellen Listen. Zum Beispiel: Ranglisten der aktiven Offiziere der Königlich Bayerischen Armee, München 1904 (Druck: Kriegsministerium); MilitärHandbuch des Königreichs Bayern, hrsg. v. Kriegsministerium, München 1914; Rangliste der Königlich Sächsischen Armee für das Jahr 1914, hrsg. v. Kriegsministerium, Dresden; Militär-Handbuch des Königreichs Württemberg, hrsg. v. Kriegsministerium, Stuttgart 1908. Allgemeiner Anzeiger zum Militär-Wochenblatt, Nr. 3 ( 10.1.1900), S. 20. Vom Verlag Hopfer in Burg erschien seit 1858 jährlich folgende Liste: Vollständige Dienstaltersliste (Anciennitätsliste) der Offiziere der Königlich Preußischen Armee, des XIII. (Königl. Württemb.) Armeekorps und der Kaiserlichen Schutztruppen. Eine adlige Offiziersfrau, deren Mann Karriere machte, erwähnte dieses Blatt an mindestens vier Stellen in ihren Erinnerungen: GREGORY, Soldatenfrau (wie Anm. 6) 65, 78, 104, 172. Eine breite Leserschaft leite ich auch aus dem Inseratenteil ab.

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Tabelle 2: Auszug aus einer Dienstalterliste 1912: Majore der Infanterie 6 0 Name Wermelskirch Vogel v. Schwemler Graup Alefeld Renner (W) v. Brauchitsch Gröner [sic!] (W) v. Derschau Friedrich Wilhelm Prinz v. Preußen Rentel v. Leyser Frhr. v. Humboldt-Dachroeden Glück (W) Schott v. Pflummern (W) v. der Osten v. Passow Frhr. v. Schleinitz Johannes v. Bauer v. Wurmb Kotze v. Wodtke v. Walther v. Jena v. Roques Bering Frhr. v. Graß v. Cramer v. Estorff Wohlgemuth Oesterreich v. Funcke Billig Stud

Major 27.1.06 27.1.06 27.1.06 27.1.06 27.1.06 27.1.06 27.1.06 27.1.06 27.1.06 27.1.06 11.2.06 13.2.06 13.2.06 25.2.06 25.2.06 20.3.06 20.3.06 10.4.06 10.4.06 10.4.06 10.4.06 21.5.06 21.5.06 31.5.06 31.5.06 14.6.06 14.6.06 28.6.06 18.8.06 18.8.06 13.9.06 13.9.06 13.9.06 13.9.06 13.9.06

Datum des Patents als Hauptmann Oberleutnant 1.9.96 15.12.90 12.9.96 29.3.92 27.1.97 16.2.92 17.4.97 19.9.91 17.11.92 27.1.98 25.3.99 14.9.93 25.3.99 14.9.93 25.3.99 14.9.93 25.3.99 14.9.93 11.4.02 19.4.98 15.12.94 16.1.90 18.11.97 28.7.92 27.1.98 29.3.92 15.12.94 23.2.91 18.4.95 31.3.91 21.3.98 14.9.93 22.3.98 27.1.93 24.7.94 22.5.89 25.7.94 18.6.92 22.3.97 16.5.91 21.12.97 16.2.92 12.9.96 19.9.91 24.5.98 27.1.93 27.1.95 24.3.90 27.1.95 12.8.90 15.6.98 15.8.93 14.9.93 18.3.99 24.5.97 27.1.93 19.8.94 20.9.90 20.8.94 24.11.91 1.9.94 16.1.90 12.9.94 17.6.89 12.9.94 2.9.89 12.9.94 18.12.89 13.9.94 15.12.90

Leutnant 13.9.82 13.8.83 11.9.83 13.2.83 14.4.84 6.2.86 14.8.86 9.9.86 18.9.86 12.7.90 11.12.80 12.2.84 12.2.84 8.11.80 8.10.81 14.4.85 14.4.84 14.10.80 13.9.84 13.2.83 11.9.83 13.2.83 13.9.84 16.9.81 16.9.81 14.2.85 14.2.85 13.9.84 16.9.81 14.4.83 12.2.81 14.10.80 14.10.80 11.2.82 11.2.82

(W) = Württembergisches Kontingent

60

Vollständige Dienstalterliste (Anciennetätsliste) der Offiziere der Königlich Preußischen Armee, des XIII. (Königl. Württemb.) Armeekorps und der Kaiserlichen Schutztruppen [...], Burg 1912, S. 20.

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Drittens: Dem Offiziersberuf lag eine fachspezifische Wissenschaft zu Grunde. So lautete der Untertitel eines 1901 erschienenen Fachlexikons „Handwörterbuch der Militärwissenschaften". Das Handwörterbuch erklärte den Begriff unter einem synonymen Stichwort folgendermaßen: „Kriegswissenschaften, d[ie] einzelnen Zweige der Kriegskunst in wissenschaftlicher] Behandlung, werden gewöhnlich geschieden in: Haupt-K[riegswissenschaften] : die Schwesterwissenschaften Strategie ufndj Taktik, welche die Kriegskunst didaktisch, u[nd] dfiej Kriegsgeschichte, welche sie empirisch lehrt; Hülfs-K[riegswissenschaften] : Waffen-, Befestigungs-, Geländelehre in erster, Mil[itär]-Verwaltungs-, Rechts-, Gesundheitslehre, Mil[it är]-Geographie in zweiter Linie. "61

Ohne weiter darauf einzugehen, verweise ich auf das informative Buch von Arden Bucholz 6 2 , in dem er die organisatorischen Bemühungen des Großen Generalstabs beschreibt, Fachwissen zu produzieren besonders im Bereich der Kriegsgeschichte - und dieses Wissen in einer sich rasch ändernden technischen Umwelt 6 3 für die Vorbereitung eines zukünftigen Krieges zu nutzen, der vom Vernichtungsgedanken und von Angriffsgeist geprägt sein sollte. Ein wesentlicher Grund, warum der Generalstab am politisch und militärisch so verhängnisvollen Schlieffenplan festhielt, war m. E. die Verwissenschaftlichung seiner Planungsarbeit, die von einem nachhaltigen Paradigma geprägt wurde, dessen Gültigkeit für manche Generalstäbler - darunter auch Groener - nicht einmal durch den Ersten Weltkrieg erschüttert wurde. 6 4 61

H . FROBENIUS

62

BUCHOLZ, M o l t k e ( w i e A n m . 4).

63

In seinem Vorwort schrieb FROBENIUS, Militär-Lexikon (wie Anm. 59): „das Lexikon [musste] mit äusserster Beschleunigung gearbeitet werden", damit es „nicht bereits vor dem Erscheinen veraltet" sein würde. Zu Paradigmen siehe Thomas S. KUHN, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, übers, v. Hermann Vetter, Frankfurt a. M. 2 1976. Für das paradigmatische Verständnis der wilhelminischen militärischen Fachwelt von Strategie siehe z. B. den betreffenden Eintrag in FROBENIUS, Militär-Lexikon (wie Anm. 59), S. 824, 826, der den Kern der Dinge traf: „Der Kriegszweck ist stets in erster Linie d[ie] Vernichtung der feindlichen] Armee, diese das Ziel der Operationen [...]. Für d[ie] gesuchte Entscheidung ist d[ie] Vereinigung einer möglichsten Anzahl von Streitern am entscheidenden Punkte" (S. 826). Und im Vorwort des Lexikons findet sich das paradigmatische Verständnis von der militärischen Nutzbarmachung

64

(Hg.), Militär-Lexikon. Handwörterbuch der Militärwissenschaften, Berlin 1901. Vgl. Kriegswissenschaften, in: MEYERS (wie Anm. 3), Bd. 11, 1907, S. 681; vgl. Wissenschaft, in: Ebd., Bd. 20, 1908, S. 695.

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Ein wesentlicher Bestandteil der Generalstabsarbeit war auch die Verbreitung von dort erarbeiteten Erkenntnissen im Offizierkorps durch die Postierung von Generalstabsoffizieren in den Stäben der Feldarmee sowie durch Fachbücher und -Zeitschriften. Das MilitärWochenblatt veröffentlichte Aufsätze und Rezensionen, die eine breite Palette fachspezifischer Themen aus dem In- und Ausland abdeckten. Gewiß, im Offizierkorps gab es auch Diskrepanzen zwischen wissenschaftlichem Anspruch und alltäglicher Wirklichkeit, aber dies änderte nichts an der zentralen Bedeutung der Militär-Wissenschaften fur die Offiziersprofession. Viertens: Wie viele andere Professionen im wilhelminischen Deutschland war das Armee-Offizierkorps, mit der bedingten Ausnahme des bayerischen, auf nationaler Ebene organisiert, was den Blick der Offiziere auf den neuen Nationalstaat erweiterte, ihren kleindeutschen Nationalismus fütterte und mithin die innere Nationsbildung forderte. Zwar wurden ein sächsisches und ein württembergisches Kontingent mit entsprechenden Offizierkorps beibehalten, doch waren sie als XII. und XIII. Armeekorps Glieder der preußischen Armee. Auch das Offizierkorps der eigenständigen bayerischen Armee orientierte sich früh am preußischen Vorbild und spielte eine bedeutende Vorreiterrolle bei der Entwicklung eines kleindeutschen Nationalismus in Bayern, was mit dem bayerischen Patriotismus durchaus vereinbar war. 65 Die kulturelle Wirkung der militärischen Versetzungs- und Kommandierungspraxis im wilhelminischem Deutschland schlug sich in folgender Parodie eines Leserbriefs für das MilitärWochenblatt nieder, die 1910 in Rahmen einer württembergischen Generalstabsreise gedruckt wurde: „Ich bin in Sachsen geboren, wohne in Preußen und bin kommandiert nach Württemberg. Welcher Staat ist zur Zahlung eines Reisevorschusses verpflichtet?" 66 Dieser Witz sollte wohl als Ausdruck der Neuartigkeit nationaler Erfahrungen für viele junge Offiziere verstanden werden, die oft erst durch das Offi-

vergangener Kriege: „Das Lexikon soll nur das gegenwärtig Wichtige angeben, deshalb geht es - mit wenigen Ausnahmen - geschichtlich nur bis zum Beginn des dreißigjährigen Krieges zurück" (Hervorhebung im Original). Diese Vorstellungen kamen auch in Meyers Großem Konversations-Lexikon (wie Anm. 3) zum Ausdruck, Bd. 11, 1907, S. 681 („Kriegswissenschaften"), S. 668 („Kriegsgeschichte"), S. 669-670 („Kriegskunst und Kriegführung"). Zur Einführung in die Historiographie zum strategischen Denken des Großen Generalstabs siehe FÖRSTER, Armed Forces (wie Anm. 1). 65

66

Zum bayerischen Offizierkorps: RUMSCHÖTTEL, Das bayerische Offizierkorps (wie Anm. 7), S. 224-226. B A - M A Freiburg, N46/83, Bl. 43.

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zierkorps die Nation über den Rahmen ihrer jeweiligen Ursprungsregion hinaus kennen lernten. Eine andere Deutungsmöglichkeit, daß der Witz eine satirische Bemerkung zum etwas chaotischen föderalistischen System des deutschen Nationalstaats sei, würde ebenfalls die These unterstützen, daß das Offizierkorps der inneren Nationsbildung förderlich war. Ein Lied aus der gleichen württembergischen Redaktion machte diese Wirkung noch deutlicher: Fünf Stabsoffiziere aus Württemberg, Preußen und Sachsen hoben die Vorteile ihrer jeweiligen Region hervor, bis ihr Chef ihnen sagte: „Schön ist's überall im Reiche / Jedes Land hat seinen Wert!" Mag man dort die Weine preisen, Dorfen mehr auch den Kaffee, Wir sind doch in einem einig: In der Liebe zur Armee! Worauf die anderen ihm antworteten: „Deutschlands Heer, Ihr habt's getroffen, / Ist des Reiches Edelstein!" 67 Über die Tatsache hinaus, daß das Offizierkorps seinen Offizieren Zugang zum kleindeutschen Nationalstaat ermöglichte, könnte man mit Showalter auch eine Reihe anderer integrativer Wirkungen der Armee konstatieren. 68 Im Kontext der Frage nach der Professionalität des Offizierkorps sind die selbständigen Züge, die das Offizierkorps trotz seines nie in Frage stehenden Treueverhältnisses zu seinem obersten Kriegsherrn aufwies, eher von Belang. Dabei meine ich nicht die Meldungen von Offizieren, die anonym aus dem Glied traten, um ihre Kritik mittels der Presse oder eines Reichstagabgeordneten an die Öffentlichkeit zu bringen. Interessanter sind die linientreuen Offiziere, die anonym ihre professionellen und monarchischen Ideen der Öffentlichkeit vortrugen. Was aber wirklich überrascht sind die privaten, aber offiziell sanktionierten Vereinsgründungen von Offizieren, verabschiedeten Offizieren und ihren Angehörigen. Über diese Vereine wissen wir noch wenig, doch seien hier einige erwähnt: Der Deutsche Offizierverein wurde 1884 gegründet. Er war 1907 60 000 Mann stark. Sein Zweck war, „die wirtschaftlichen und kameradschaftlichen Interessen der Angehörigen der deutschen Armee und Marine durch billige Beschaffung von Ausrüstungs-, Bekleidungs- und sonstigen Verbrauchsgegenständen sowie durch die Vermittlung von Vorzugspreisen in Gasthäusern, Theatern etc. zu fördern." Der Umsatz seines Berliner Warenhauses für Armee und Marine, das von einem Hauptmann 67

Ebd., Bl. 49; Hervorhebung im Original.

6 8

S i e h e SHOW ALTER, A r m y ( w i e A n m . 2 ) , S . 3 - 1 2 .

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von Wedel gegründet wurde, betrug 1907 ca. 4 Millionen Mark. 69 Es gab auch den 1895 gegründeten Verein inaktiver Offiziere der Deutschen Armee und Marine mit Ortsgruppen in Berlin, München, Köln, Breslau und Dresden. Laut Militär-Wochenblatt war „seine Hauptaufgabe, den Geist und die Gesinnungen, welche die Grundlagen des aktiven Offizierkorps bilden, unter seinen Mitgliedern weiterzupflegen." Darüber hinaus: „Die Erfüllung dieser ersten Aufgabe ist gleichzeitig eine patriotische Pflicht", weil sie die inaktiven Offiziere kriegsbereit hielt. Schließlich sollten wirtschaftliche Interessen gefördert werden; erwähnt wurden Arbeitsvermittlung sowie Hilfe in Verbindung mit anderen Vereinen in den Fällen, in denen die Staatshilfe nicht ausreichend war. 70 Hinzu kam eine Reihe von Wohltätigkeitsvereinen, die sich ausschließlich oder teilweise mit der Unterstützung von Offiziersangehörigen beschäftigten: der Bund Deutscher Frauen zur Unterstützung von Offizier-Witwen und -Waisen, der Verein zur Versorgung Deutscher Offiziertöchter, der Militär-Hilfsverein zu Berlin, der Central-Hilfsverein der Deutschen Adelsgenossenschaft, der Verein zur Errichtung adliger Damenheime, der Kaiserin Augusta-Verein für Deutsche Töchter, die Charlotten-Stiftung. Ein Berichterstatter im Militär-Wochenblatt wünschte sich eine bessere Koordinierung zwischen diesen Vereinen und forderte deshalb die Gründung eines übergeordneten „Militär-Hülfsverein". 71 Der Verlag des Deutschen Offizierblattes bemühte sich seit etwa 1897 durch eine Reihe von Veröffentlichungen, seine eigenständige professionelle Vorstellung für das gesamte wilhelminische Offizierkorps zu verbreiten. Der Inhalt dieser wöchentlich erscheinenden Zeitung war dem des Militär-Wochenblattes ähnlich, insofern er auch aktuellen militärwissenschaftlichen Entwicklungen folgte und Personaländerungen nachdruckte. Neuartig waren hingegen die Beiträge zur autodidaktischen Vorbereitung auf die Zulassungsprüfung für die Kriegsakademie sowie Übungen in anderen europäischen Sprachen. Auch die wirtschaftliche Lage der Offiziere und Technikfragen wurden behandelt. Für die Offiziersfrauen, von deren häuslichen und gastgeberischen Bemühungen die Karrieren ihrer Männer abhängen konn-

69

Warenhaus für A r m e e und Marine, in: MEYERS ( w i e A n m . 3), Bd. 6, 1908, S. 3 7 4 f.. Informationen zu den Offiziervereinen im europäischen Kontext: O f f i z i e r Vereine, in: M i l i t ä r - W o c h e n b l a t t , 86. Jg., Nr. 5 9 ( 6 . 7 . 1 9 0 1 ) , Sp. 1 5 7 0 - 1 5 7 3 .

70

Verein

inaktiver

O f f i z i e r e der

Deutschen

Armee

und

Marine,

in:

Militär-

Wochenblatt, 86. Jg., Nr. 4 5 ( 2 2 . 5 . 1 9 0 1 ) , Sp. 1 2 2 2 - 1 2 2 4 . 71

M i l i t ä r - W o c h e n b l a t t , 86. Jg., Nr. 4 0 ( 8 . 5 . 1 9 0 1 ) , Sp. 1 0 7 1 - 1 0 7 4 . V g l . auch ebd. 97. Jg., Nr. 162 ( 2 1 . 1 2 . 1 9 1 2 ) , Sp. 3 7 6 0 - 3 7 6 2 .

50

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ten 72 , erschien alle zwei Wochen die von einer Johanna von Sydow herausgegebene Beilage Die praktische Offizierfrau, in der ζ. B. richtige Formen der Repräsentation sowie Menüvorschläge verbreitet wurden, 73 was für ein statisches, homogenes Offizierkorps wohl kaum nötig gewesen wäre. Im Deutschen Offizierblatt gab es manchmal sogar Beiträge, die politische Implikationen besaßen, die sich ζ. B. mit Fragen der Heeresgröße, der Wehrfinanzierung befaßten. 74 1900 empfingen bis zu 10 000 aktive und 1 000 inaktive Offiziere das Deutsche Offizierblatt, das auch als offizielles Organ für nationale Vereine fungierte, deren Bekanntmachungen, Berichte usw. es veröffentlichte. 75 Die betont nationale Ausrichtung des Verlages fand seit 1908 auch Ausdruck in der Herausgabe einer Deutschen Rangliste, die sogar Bayern einschloß. Im Vorwort der Ausgabe 1914 wurde die Heeresvermehrung von 1913 gepriesen und eine weitere gefordert, während die Ablehnung dieser Forderung als „vaterlandsfeindlich" bezeichnet wurde. 76 Dies war eine Anklage, die sowohl der politischen Linken als auch den Konservativen galt, die sich über die soziale Zusammensetzung des Offizierkorps Sorgen machten.77 Hierzu schrieb die Redaktion stolz weiter:

72

Vgl. ζ. B. GREGORY, Soldatenfrau (wie Anm. 6).

73

Ζ. B.: Das Belegte Brot, Nr. 1 (14.1.1903), S. 11; Die immer korrekt ist, Nr. 2 (28.1.1903), S. 11 f.; Das liebe Federvieh, Nr. 5 (11.3.1903), S. 11; es gab auch die regelmäßige Rubrik „Täglicher Küchenzettel".

74

Ζ. B.: Zu dem Militäretat 1903, Bd. 7, Nr. 8 (25.2.1903), S. 3 und Bd. 7, Nr. 9 (4.3.1903), S. 5; Zur Wehrsteuerfrage in Deutschland, Bd. 7, Nr. 15 (15.4.03), S. 2-4; Zum weiteren Ausbau unseres Heeres, Bd. 17, Nr. 3 (16.1.1913), S. 53 f..

75

S. ζ. B. das Inserat des „Deutschen Offizierblatts" in: Allgemeiner Anzeiger zum Militär-Wochenblatt, Nr. 23 (21.3.1900), S. 183.

76

Deutsche Rangliste umfassend das gesamte aktive Offizierkorps [,..]der deutschen Armee und Marine und seinen Nachwuchs [...], Oldenburg i. Gr. 1914, Vorwort.

77

Zur politischen Auseinandersetzung über die Heeresaufrüstung siehe FÖRSTER, Militarismus (wie Anm. 2).

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51

,,[...] so ist für jeden Vaterlandsfreund unsere „Deutsche Rangliste" kein blutloses Namensverzeichnis von Truppenteilen, Behörden und Persönlichkeiten; nein uns bedeutet das aus warmem nationalen Empfinden geborene Werk diejenige Gruppe unserer Volksgemeinschaft, welche in erster Linie die Ehre und die Machtstellung unseres Volkstums, unseres großen, ganzen Vaterlandes verbürgt. In dieser Eigenschaft unseres Werkes liegt für alle Zeit seine werbende Kraft, seine Bedeutung, seine Daseinsberechtigung.78

Es handelte sich hierbei um einen radikalen, völkischen Nationalismus, der von der offiziellen Regierungspolitik abwich, obwohl das Offizierkorps staatstragend war. 7 9 Showalter bezeichnet die wilhelminische Armee als „interest group". Wilhelm Deist konstatiert beim preußischen Offizierkorps ein wachsendes „Bewußtsein der Eigenständigkeit", das ζ. T. auf das für höhere Offiziere befremdende Verhalten Wilhelms II. zurückzuführen ist, auch wenn ihre Treue dem Kaiser gegenüber nie in Frage stand. 8 0 An anderer Stelle schreibt Deist von „einer zunehmenden Verselbständigung des Korps": Das preußische Offizierkorps unterstand keiner politischen Autorität außer dem preußischen Monarchen, dessen persönliche Beteiligung an Personalentscheidungen seit den unter Wilhelm I. geschaffenen Richtlinien nur bedingt wirksam war. 8 1 Auch in diesem Sinne ist es angebracht, das Offizierkorps als eine selbständige Profession zu betrachten, trotz seiner erst am Ende des Weltkriegs gebrochenen persönlichen Beziehung zu den deutschen Monarchen. IV. Tradition Wie paßt aber die schwülstige Erscheinung des Offizierkorps mit seiner starken Betonung der Vergangenheit und der individuellen Regimentstraditionen ins Bild? Eine Teillösung dieses Rätsels bieten Geoff Eley und Michael Geyer mit der These, daß die „feudale" Erscheinung des Offizierkorps eine kreative Antwort auf seine wachsende soziale und funktionale Heterogenität war. Das Offizierkorps be78

80

81

Deutsche Rangliste (wie Anm. 73), Vorwort. Siehe FÖRSTER, Militarismus (wie Anm. 2), in dem allerdings diese Denkweise dem Bürgertum zugeschrieben wird, was bisher noch nicht bewiesen ist. Im Deutschen Offizierblatt waren jedenfalls auch adlige Namen vertreten. SHOWALTER, Army (wie Anm. 2), S. 12. Wilhelm DEIST, Militär, Staat und Gesellschaft. Studien zur preußisch-deutschen Militärgeschichte, München 1991, S. 29, 45. Ebd., S. 46.

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durfte eines kulturellen Bindestoffs, um seine internen Unterschiede mit einem starken Korpsgeist zu überbrücken. Dafür habe man auf bereits bekannte kulturelle Vorbilder zurückgegriffen, die im neuen Kontext neue Bedeutungen gewannen. 82 Dieser Interpretation, die auch Licht auf den besonderen Ehrenkodex im Offizierkorps wirft, 83 ist zuzustimmen und sie ist auszubauen. Insbesondere muß die militärisch-professionelle Funktion von Tradition sowie die Rolle der Tradition in der Sicherstellung der sozialen und politischen Stabilität des Kaiserreichs berücksichtigt werden. Die Traditionspflege ist noch heute eine wichtige Aufgabe in der deutschen Armee. Natürlich werden in der Bundeswehr andere militärische Traditionen betont, weil Soldaten, wie die Menschen überhaupt, einen großen Teil ihrer Identität durch ihre Interpretation der Vergangenheit gewinnen und die Identität der Soldaten und Offiziere ihrem Staat nicht gleichgültig sein kann. 84 In diesem Sinne sind die Traditionen, welche die Bürger bzw. Untertanen eines Staats sich zu eigen machen, maßgebend für seine Stabilität. Nun existierte das Kaiserreich zu einer Zeit, in der die Betonung alles Geschichtlichen und Traditionalen in Europa auf Grund rapider sozialer und politischer Transformationen besonders intensiv gepflegt wurde. Tradition sollte bestehende oder neu geschaffene politische Verhältnisse und Machtbeziehungen anderer Art legitimieren bzw. affektive Loyalität für sie gewinnen. Die Identifizierung und Deutung von Traditionen war eine besonders dringende Notwendigkeit für das junge Kaiserreich, das sich auf kein eindeutiges historisches Vorbild berufen konnte, es sei denn, man behauptete und wiederholte oft genug, es gäbe eine zwingende Kontinuität zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. So wurden, um mit Eric Hobsbawm zu reden, Traditionen erfunden. 85 Auch in der wilhelminischen Armee, die vor 1866 bzw.

82

GEYER, Past as Future (wie Anm. 4), S. 192-195; G e o f f ELEY, Army, State and Civil Society: Revisiting the Problem o f German Militarism, in: ders., From Unification to Nazism. Reinterpreting the German Past, Boston 1986, S.96-99.

83

Zu dieser wichtigen Komponente der wilhelminischen militärischen Profession, siehe Ute FREVERT, Ehrenmänner. Das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft, München 1995, S. 109-162.

84

Vgl. Donald ABENHEIM, Bundeswehr und Tradition. Die Suche nach dem gültigen Erbe des deutschen Soldaten, München 1989; David GLASSBERG, American Historical Pagentry. The Uses of Tradition in the Early Twentieth Century, Chapel Hill 1990, S. 1-3, w o nützliche Gedanken zur kulturellen Funktion von historischer Bildersymbolik zu finden sind.

85

Eric HOBSBAWM, Introduction: Inventing Traditions, in: ders. und Terence Ranger (Hg.), The Invention o f Tradition, Cambridge 1983, S. 1-14; Eric HOBSBAWM,

Bürgerliche und adlige Krieger

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1870/71 mehrere Armeen mit unterschiedlichen Vergangenheiten gewesen war und erst danach trotz des föderalen Systems allmählich zu einer nationalen Armee sich entwickelte, wurden Traditionen erfunden, um den Korpsgeist der Offiziere und der Truppe zu fördern, wovon die Effektivität der Armee als Gewaltmittel abhing - ob für die Innen- oder die Außenpolitik. Angesichts regionaler Spannungen konnten wilhelminische Traditionen nicht auf einer rein preußischen, hohenzollernschen Symbolik aufgebaut werden. Effektive Traditionen mußten Deutschlands vielfaltige Regionen und Vergangenheiten umfassen, die als bereichernde Teile des Nationalstaats zu deuten waren. Durch die Betonung der regionalen Wurzeln der Armee konnte auch der Zusammenhalt zwischen Militär und Gesellschaft auf regionaler Ebene gefestigt werden. 86 Wilhelm II. sagte 1890 in einer Rede vor Offizieren: „im monarchischen Staatswesen" sei „des Staats größte Stütze die Tradition", dessen Hauptträger das Offizierkorps sei. 87 Seine Instrumentalisierung von Tradition sieht man im Erlaß vom 29. März 1890, in dem er einen neuen Begriff schuf, den er mit vermeintlichen historischen Kontinuitäten begründete: So sollte „der Adel der Gesinnung, der das Offizierkorps zu allen Zeiten beseelt hat," anstelle des „Adels der Geburt" den Offiziernachwuchs stellen. Der Kaiser schuf Traditionen im Offizierkorps durch Uniformänderungen, die Vergabe oder Weihe von Regimentsfahnen, die Umbenennung von Truppenteilen und die „Verleihung" von Traditionen älterer Einheiten an diese Truppenteile, wobei er Deutschlands regionaler Vielfalt große Aufmerksamkeit widmete. 88 Ein anschauliches Beispiel für die Legitimierung und Festigung von Neuem durch die Berufung auf Altes lieferte ein Beitrag aus dem Militär-Wochenblatt von 1900:

Mass-Producing Traditions: Europe, 1870-1914, in: ebd., S. 2 6 3 - 3 0 8 , speziell zum Kaiserreich: S. 273-279. 86

Einfuhrend zum Thema Regionalismus: Dan S. WHITE, Regionalism and Particularism, in: CHICKERING, Germany (wie Anm. 1), S. 131-155, bes. S. 132. Zur national-integrativen Wirkung der Armee auf der Ebene der Regionen: Showalter (wie Anm. 2), 4-6; Jakob VOGEL, Nationen im Gleichschritt. Der Kult der „Nation in Waffen" in Deutschland und Frankreich, 1870-1914, Göttingen 1997, S. 168170.

87 88

Zit. n. Ebd., S. 177. ABENHEIM, Bundeswehr (wie Anm. 84), S. 16-18, der allerdings fälschlicherweise behauptet, daß die Traditionspflege im Kaiserreich eher „natürlich", nicht bewußt gepflegt wurde; VOGEL, Nationen (wie Anm. 86), S. 168 f.

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„Die Tradition zu erhalten, ruhmvolle Erinnerungen neu zu beleben, welche mit der im Jahre 1866 erfolgten Auflösung der Königlich Hannoverschen Armee ihre Hauptpflegestätte eingebüßt hatten, war das Ziel, welches Kaiser Wilhelm II. verfolgte, als er am 24. Januar 1899 die Preußischen Truppentheile, in deren Reihen damals die alten Hannoverschen Krieger übergetreten waren, zu Trägern der Ueberlieferungen ihrer Altvorderen einsetzte undjenen eine neue Heimath im Kreise ihrer jüngeren Kameraden anwies. Die jungen Regimenter sollten die Erben des Ruhmes derer sein, zu deren Nachfolgern sie erklärt worden [waren], und sollten die diesen verliehenfenj [...] Auszeichnungen weiterführen. "

Mit dieser Begründung erhielt das Königs-Ulanenregiment (1. Hannoversches) Nr. 13 das exklusive Recht, die alten Präsentier- und Parademärsche der ehemaligen hannoverschen Garde du Corps bei besonderen Anlässen auszuführen. „Die Verleihung war ein weiteres Mittel zur Belebung der Erinnerung und zur Verschmelzung der Vergangenheit mit der Gegenwart." 89 Dieses Beispiel weist auf die starke Betonung des einzelnen Regiments hin, das eine kameradschaftliche Einheit seiner jetzigen und früheren, auch verstorbenen Offiziere bildete. Das Regiment war eine Familie mit einem langen Gedächtnis, das sich neue Offiziere durch Regimentsfeiern, -geschichten und -stammlisten als Teil ihrer militärischen Sozialisation zu eigen machten. 90 Wie das obige Zitat aber andeutete, sollten die individuellen Traditionen eines Regiments keinem Partikularismus, sondern der Stärke der nationalen Armee dienen. In einem Befehl am 28.1.1902 zu seinem Geburtstag bemerkte Wilhelm II., daß es noch viele Regimenter gebe, die keine „selbständige Unterscheidung" hatten:

®9

Β. V. POTEN, Die Hannoverschen Präsentir- und Parademarsche, in: MilitärWochenblatt, 85. Jg., Nr. 21 (3.3.1900), Sp. 523-526, Zit. Sp. 523; vgl. Die Pflege der Überlieferungen der alten Armee, in: Militär-Wochenblatt, 85. Jg., Nr. 32 (7.4.1900), Sp. 811-814.

90

Erstens wurden Regimentsfeiern regelmäßig im Allgemeinen Anzeiger zum Militär-Wochenblatt bekannt gegeben. Zweitens nahm die Veröffentlichung von Regimentsgeschichten im Kaiserreich rasant zu. Siehe Paul HIRSCH, Bibliographie der deutschen Regiments- und Bataillonsgeschichten, Berlin 1905. Schließlich schlössen die zahlreichen gedruckten Regimentsstammlisten alle zu ihm gehörender Offiziere aus der Vergangenheit und Gegenwart ein.

Bürgerliche und adlige Krieger

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„Aber je größer eine Heeresorganisation sich gestaltet, um so notwendiger ist die individuelle Entwicklung ihrer einzelnen Theile; nur im Wetteifer derselben werden die Eigenschaften und Kräfte lebendig, welche das Ganze auf eine höhere Stufe der Leistung zu bringen sind, [sie!] In meiner Armee vereinigen sich die Traditionen vieler Deutscher Stämme und Landestheile; diese Ueberliefer ungen zu pflegen, ist Mein Streben und Meine Pflicht. Heer und Volk sind bei Uns eins; im Heere verkörpert sich die Geschichte Meines Landes. Mögen die neuen Namen, die Ich hiermit verleihe, das Bewusstsein lebendig erhalten, daß Unser Deutsches Reich geschaffen ist durch die Tüchtigkeit der einzelnen Glieder seines Volks, und daß es die Pflicht jedes Angehörigen Meines Heeres ist, seinen Stamm, seine Heimath im Wetteifer mit den anderen zu Ehren zu bringen. Möge den Truppentheilen hieraus ein neuer Ansporn erwachsen zur Pflege des Geistes, der allein ein Heer groß und siegreich macht. " So wurden aus den Infanterieregimentern Nr. 97, 98, 128 und 129 folgende Einheiten: 1. Oberrheinisches Infanterieregiment Nr. 97, Metzer Infanterieregiment Nr. 98, Danziger Infanterieregiment Nr. 128, 3. Westpreußisches Infanterieregiment Nr. 129. Insgesamt waren etwa neunzig Einheiten von diesem Befehl betroffen. 91 Schließlich: Bei aller starken Betonung der Tradition im einzelnen Regiment muß hervorgehoben werden, daß Offiziere während ihrer Laufbahnen mehreren Regimentern angehörten und mithin in den Stammlisten all dieser Regimenter geführt wurden. 92 Daß Offiziere in der Lage waren, sich in anderen Regimentern einzuleben, deutet auf die Verbreitung gemeinsamer professioneller Werte im wilhelminischen Armee-Offizierkorps hin - einschließlich des hohen Stellenwerts der Traditionspflege.

91

A r m e e - B e f e h l , in: M i l i t ä r - W o c h e n b l a t t , 8 7 Jg., N r . 9, 2 8 . 1 . 1 9 0 2 , Sp. 2 2 1 - 2 2 6 ,

92

Zum Beispiel: v. REDEN, Offizier-Stammliste des Grenadier-Regiments Prinz Karl von Preußen (2. Brandenburgisches) Nr. 12, Oldenburg 1912; FUNCK und v. FELDMANN, Offizier-Stammliste des vormaligen Königlich Hannoverschen 3. Infanterie-Regiments und des 1. Hannoverschen Infanterie-Regiments Nr. 74, 1813-1913, Hannover 1913; BADENSTEIN, Offizier-Stammliste des 2. Badischen Grenadier-Regiments Kaiser Wilhelm I. Nr. 110, Berlin 1902; DIETRICHS, Offizierstammliste des vormals Kurhessischen 2. Inf. Regts. „Landgraf Wilhelm von Hessen" 1813-1866 jetzt 2. Kurhess. Inf. Regt. Nr. 82, Göttingen 1913; GRABMANN, Offizier-Stammliste des 6. Rheinischen Infanterie-Regiments Nr. 68,

Zit. Sp. 2 2 1 - 2 2 2 .

1860-1902, C o b l e n z 1902.

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V. Die Laufbahn des Generals Wilhelm Groener Das wilhelminische Armee-Offizierkorps war eine Profession, die durchaus zeitgemäße Charakteristiken aufwies. Sogar die intensive Traditionspflege entsprach aktuellen beruflichen und gesellschaftlichen Bedürfnissen. Allerdings spielten in diese Profession die wilhelminischen Klassenbeziehungen hinein. Die Wechselwirkungen von sozialer Herkunft und Berufskultur lassen sich ansatzweise am Beispiel von Wilhelm Groener verdeutlichen.93 Am 22. November 1884 trat Groener als Fähnrich in das 3. Württembergische Infanterieregiment Nr. 121 in Ludwigsburg zum frühestmöglichen Zeitpunkt ein: an seinem siebzehnten Geburtstag. Zwölf Jahre später wurde der Oberleutnant aufgrund seiner Fähigkeiten zur Kriegsakademie in Berlin kommandiert. 1897 begann er seine Generalstabsarbeit, zuerst in der Topographischen Abteilung, dann in der Eisenbahnabteilung. Neben diesen technischen Posten besetzte er, wie alle Generalstabsoffiziere während ihrer Laufbahn, auch verschiedene Stellen in der Feldarmee: 1902/04 diente der Hauptmann als Kompaniechef im Metzer Infanterieregiment Nr. 98; 1908/10 war der Major beim Generalstab des XIII. Armeekorps in Stuttgart; 1910 in der selben Stadt Bataillonskommandeur im 7. Infanterieregiment Nr. 125, bevor er 1911 wieder in die Eisenbahnabteilung des Großen Generalstabs in Berlin zurückkehrte. Groener machte eine erfolgreiche Karriere und zielte auf noch höhere Positionen. Die Verbindung zwischen seiner militärischen Laufbahn, seinem durch die bescheidene Herkunft geprägten Ehrgeiz und seinem in nationalem Rahmen blühenden Professionalismus wird in einem Beitrag deutlich, den er 1911 anonym im Schwäbischen Merkur veröffentlichte:

E i n e gute biographische

S k i z z e bietet Johannes HÜRTER,

Wilhelm

R e i c h s w e h r m i n i s t e r am Ende der Weimarer Republik ( 1 9 2 8 - 1 9 3 2 ) ,

Groener. München

1993, S. 1-35. Außer der bei ihm zit. Literatur siehe den knappen L e b e n s l a u f in K l a u s - V o l k e r GIESSLER, N a c h l a s s Groener. Bestand N 4 6 , K o b l e n z 1986, S. VII.

VI-

Bürgerliche und adlige Krieger

57

Die Kommandierung höherer Offiziere nach Preußen ist für unser württfembergischesj Offizierkorps gar nicht mehr zu entbehren, wenn wir in der Lage sein wollen, tüchtigen Offizieren eine erfolgreiche Laufbahn zu eröffnen und ein gesundes Vorwärtsstreben zu fördern. [...] In dem Wechsel der Verhältnisse und in dem Drang veränderter Anforderungen an Geist und Gemüt, wie sie ein Beruf mit sich bringt, der den Menschen weiter in der Welt herumführt, gewinnt der Schwabe vermöge seiner Charaktereigenschaften und seines Fleißes an Kraft und Leistungsfähigkeit und verliert vor allem eine Eigenschaft, die auch dem württfembergischen] Offizier nicht selten anhaftet: eine gewisse geistige Schwerfälligkeit, die man im gewöhnlichen Leben etwas drastischer zu bezeichnen pflegt.94

Manche Offiziere aus höheren sozialen Kreisen hätten Groener zu dieser Zeit wohl als Streber abgewertet. So stellte ein Major von Busse seinen Lektüre-Ratschlägen fur junge Offiziere folgende Einschränkung voraus: „Ich bin als praktischer Frontsoldat' ausgesprochener Feind von allem Strebertum, Duckmäuserei und Blaustrumpfwesen und verlange wahrhaftig nicht, daß die Gelehrsamkeit bei uns die erste Rolle spielen soll. Gott möge uns in Gnaden davor bewahren." 95 Dieser Infanterieoffizier zog eine Trennlinie zwischen Front- und Stabsoffiziere. Darüber hinaus gehörte er zum Adel, besaß somit symbolisches und soziales Kapital, das vom Offizierkorps nicht abhing. Für Groener hingegen bedeutete die Armee und das eigene berufliche Fortkommen alles. Aus seiner militärischen Position leitete Groener sein ganzes symbolisches und etwaiges soziales Kapital ab, und erstes war durch die roten Streifen seiner Generalstabshose und die Rangzeichen eines Majors immerhin hoch genug, um aus ihm 1906 die Zielscheibe eines mißlungenen Attentats im Berliner Zoologischen Garten zu machen. 96 Durch Leistung erreichte Oberstleutnant Groener 1912 die Position des Chefs der Eisenbahnabteilung. Wegen der Vorurteile im Offizierkorps gegen technische Positionen blieb das militärische Prestige allerdings hinter der eigentlichen Bedeutung der Position zurück. Die erfolgreiche Durchfuhrung des deutschen Aufmarsches hing wesentlich von der Eisenbahnabteilung ab. Funktional gesehen war nur die Operationsabteilung noch wichtiger. Doch in der amtlichen Stellenbesetzung der höheren Führer und Generalstabsoffiziere bei Beginn des

94

B A - M A Freiburg, N46/78, Bl. 1 f.

95

v. BUSSE, Offizier (wie Anm. 37). Zum versuchten Attentat, das von einem verstimmten Veteranen ausging, der Groener nicht kannte: B A - M A Freiburg., N46/27, Bl. 114 f.

96

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Weltkrieges wurden Groener und die Eisenbahnabteilung auf die letzte Seite plaziert - hinter sämtliche Stellen der Armee außer der Generalintendantur, abgesondert von den übrigen Abteilungen des Generalstabes, die auf den ersten zwei Seiten aufgelistet wurden. Als Reichswehrminister behauptete Groener später, daß „er auf die Eisenbahnabteilung abgeschoben worden [sei]."97 Dies deutet darauf hin, daß auch im Generalstab, in dem der Professionalismus im Armee-Offizierkorps am weitesten vorangeschritten war, die soziale Herkunft dem Leistungsprinzip Grenzen setzen konnte. 1910 las Major Groener eine Parodie seiner selbst, die von einem jüngeren Kameraden während der jährlichen Generalstabsreise verfaßt worden war: Seht zum Beispiel Major Groener: Welch ein kluger Mann, ein schöner! Wie ist ihm der Geist so vive, Wie strotzt er von Initiative! Schrecklich seinen Feinden allen, Tut er nachts sie überfallen, Ehe die sich noch bedacht Hat er sie schon umgebracht! O der Grimme kennt kein Schonen Schlachtet Reiterdivisionen.9S

Diese Skizze erinnert an die Stärke des Generalstäblers," der sich die Doktrinen der Vernichtungsschlacht und des Angriffs zu eigen gemacht hat. Sie zeugt auch von seinem „strammen" militärischen Verhalten, von seinem Kriegergeist und seiner „Schneidigkeit". Groener erscheint als der typische Offizier. Jedoch existierten unterschiedliche Auffassungen im Korps über das korrekte Verhalten eines Offiziers, die z. T. auf soziale Unterschiede zurückzuführen waren. Ein Kenner, Theodor Fontane, läßt in einem Roman die Tante Woldemars von Stechlin zu diesem sagen: „Was in unserer Armee den Ausschlag gibt, ist doch immer die Schneidigkeit." Der märkische Adlige und Rittmeister des exklusiven 1. Garde-Dragoner-Regiments Königin Viktoria von Großbritannien und Irland, am Alexanderplatz in berlin statio97

Stellenbesetzung in: B A - M A Freiburg PH 1/17. Zitat in: Heinrich BRÜNING. Memoiren 1918-1934, Stuttgart 1970, S. 548. Zu Offizieren in den technischen Laufbahnen: HUGHES, King's Finest (wie Anm. 2), S. 92, zur funktionalen Bedeutung der Eisenbahnabteilung: BUCHOLZ, Moltke (wie Anm. 4).

98 99

B A - M A Freiburg, N46/83, Bl. 45. Helmut HAEUSSLER, General William Groener and the Imperial German Army, Madison 1962, S. 43.

Bürgerliche und adlige Krieger

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niert, entgegnet seiner Tante: „Liebe Tante, sprich, wovon du willst, nur nicht davon. Das ist ein Wort für kleine Garnisonen. Wir wissen, was wir zu tun haben. Dienst ist alles, und Schneidigkeit ist bloß Renommisterei. Und das ist das, was bei uns am niedrigsten steht." 100 Eine Offizierfrau, Mathilde Freifrau von Gregory, deren Mann für längere Zeit Hauptmann im überwiegend adligen Regiment des Großherzogs von Oldenburg war, bevor die Familie Gregory einige Beförderungen und Versetzungen erlebte, schrieb über ihre Zeit in der Residenzstadt Oldenburg: „Ein einziges Mal nur hatten wir ein kommißdurchsetztes Ehepaar, das sich von der Grenze hierher verflogen hatte. Aber nur Eintagsfliegen. Unsere redlichen Bemühungen, sie zu erziehen, blieben resultatlos. Das Übel saß zu tief. Der Major erhielt ein Bezirkskommando." 101 Die Karriere dieses Offiziers ging offenbar nicht weiter. Für Freifrau von Gregory bezog sich „Kommiß" auf ein einseitiges, nur von der Armee abgeleitetes Verhalten, das nichts mit den schönen gesellschaftlichen Formen zu tun hatte, an die sie sonst inner- und außerhalb des Regiments gewöhnt war. „Kommiß" bezog sich somit auch auf Offiziersfamilien, deren soziale Herkunft oder pekuniäre Mittel sehr bescheiden waren. 102 Wohl möglich, daß die Freifrau von Gregory Groener als „Kommiß" bezeichnet hätte, dem hätte ihr Mann allerdings aus ganz anderen Gründen zugestimmt. Einmal sagte ihm ein Oberst: „Nur starke, konzentrierte Einseitigkeit vermag Ganzes zu schaffen." Woraufhin er erwiderte: „Gewiß [...] aber schöne Mußestunden muß es auch geben. Wie sähe es sonst in unserer Familie aus? Wir sind, auch ohne den Willen zur schroffen Einseitigkeit, oft hervorragend unausstehliche Kommißonkels." 103 Das Militärleben nahm ebenso starken Einfluß auf diese adlige Familie von guten Namen, wie es Groeners Verhalten und sein Familienleben beeinflußte. Als Generalstabsoffizier hatte Groener eine gründliche taktische, operative und strategische Ausbildung bekommen, die sein Selbstverständnis prägte. 104 Er betrachtete sich als ein abgerundeter, professioneller Offizier und schrieb Aufsätze über Themen, die nichts mit seiner Generalstabstätigkeit zu tun hatten: „Aufklärungsdienst der Kavalleriedivision", „Lanze oder Säbel" und „Das Turnen im Heere" erschienen 1911 im Militär-Wochenblatt, als Groener Zeit dafür hatte, 100 FONTANE, Stechlin (wie Anm. 32), S. 115. 101

GREGORY, Soldatenfrau (wie Anm. 6), S. 122.

102

Ebd., S. 156-158.

103

Ebd., S. 133.

104

GROENER, Lebenserinnerungen (wie Anm. 22).

60

Mark R. Stoneman

weil er auf seine Übernahme in die Eisenbahnabteilung wartete. 105 Seine eigentliche Stabsarbeit hielt ihn im engeren technischen und bürokratischen Rahmen der Eisenbahn. Dennoch bereitete sie ihm Genugtuung: „Es war im Laufe der Zeit eine gewisse Tradition der Arbeitsmethode entstanden, die unabhängig vom Wechsel der Persönlichkeiten geworden war." Ein neuer Fahrplan, der etwa 3 000 Bahnstrecken umfaßte, wurde jedes Jahr geschrieben. „Vor der Sektion Fahrplan hatte jeder Generalstabsoffizier in der Eisenbahnabteilung ein leises Grauen; doch konnte man aus der Arbeit viel lernen und bekam gründlichen Einblick in die technische Seite des Eisenbahnbetriebs." 106 Da er unzählige Details zu berücksichtigen hatte, bemerkte er die nicht ausreichende Vorbereitung der vorhandenen militärischen und zivilen Einrichtungen auf einen Krieg nach Schlieffenschem Muster. Nachdem er Chef der Eisenbahnabteilung geworden war, begann er mit der Revision des gesamten Fahrplans. Er arbeitete mit Militär- und Zivilbehörden zusammen, um schnellere Züge sowie mehr und verbesserte Linien zu erhalten. Um eine gute Zusammenarbeit im Krieg zu ermöglichen, führte er die ersten regelmäßigen Übungen ein, in denen ziviles und militärisches Personal die Bewältigung unvorhergesehener Situationen mittels Telefon und Telegrafen übten. In seinem Fahrplan versuchte er auch, die Versorgung der Großstädte zu berücksichtigen. Weiter nahm er an Gesprächen mit zivilen Experten teil, in denen es um eventuelle (aber ausgebliebene) wirtschaftliche Vorbereitungen für den nächsten Krieg ging. 107 Diese Aktivitäten liefen darauf hinaus, daß Groener seine Position und den Stellenwert der Eisenbahnabteilung in der Armee - und in Deutschland überhaupt - ständig ausbaute und verbesserte. Im Krieg sollte sich zeigen, wie wichtig er inzwischen geworden war. Sogar der Kaiser hatte ein freundliches Wort für den Oberst übrig 108 und seit 1915 erhielt der frisch beförderte General Photographie- und Autogrammgesuche. 109 Als er 1916 die Übernahme der Leitung des 105

B A - M A Freiburg, N46/76, Bl. 68-85, 92 f., 88 f., 96, 123.

1 0 6

GROENER, L e b e n s e r i n n e r u n g e n ( w i e A n m . 2 2 ) , S. 8 1 , 1 3 2 .

107

Ebd., S. 131-135; BUCHOLZ, Moltke (wie Anm. 4), S. 231-234; Lothar BURCHARDT, Friedenswirtschaft und Kriegsvorsorge. Deutschlands wirtschaftliche Rüstungsbestrebungen vor 1914, Boppard a. Rh. 1968, S. 164 f., S. 175 f., S. 210 f., 236 f.

108

Brief Groeners an seine Frau, 3.11.1914, in: GROENER, Lebenserinnerungen (wie Anm. 22), S. 527.

109

Brief des Gymnasiumsdirektors Maspari an Groener, 30.6.1915; Brief von F. Waldeck an Groener, 9.7.1915; Brief des Geheimen Kommerzienrats Georg W.

61

Bürgerliche und adlige Krieger

Kriegsernährungsamtes akzeptierte, bestand er auf der Beibehaltung seiner Position als Chef der Eisenbahnabteilung, weil „mein persönliches Gewicht auch für jede andere Aufgabe mit diesem Amt, das so außergewöhnlich weite Befugnisse hatte, stand und fiel." 110 Jedoch hatte seine Macht Grenzen. Während des Krieges konnte er keinen Einfluß auf die Operationen nehmen, auf die ihn seine professionelle Ausbildung vorbereitet hatte und die ihn so interessierten. 111 Erster Generalquartiermeister wurde er erst nach der Entlassung Ludendorffs. Interessant waren die Reaktionen mancher hoher Truppenfuhrer auf Groeners Ernennung Ende Oktober 1918. Für Generaloberst Karl von Einem war Groener ein „aus ganz kleinen Verhältnissen hervorgegangener Mann. Sehr klug, aber die Ballonmütze im Koffer." Generalleutnant Adolf Wild von Hohenborn schrieb seiner Frau verbittert, daß Groener „insofern gut ausgesucht ist, als er Nichtpreuße und Demokrat ist, also in unsere hohen Kreise paßt." 112 Das unzutreffende demokratische Etikett bezog sich auf Groeners Bereitschaft, auch die Gewerkschaften ernst zunehmen, um die Kriegsgüterproduktion nicht zu beeinträchtigen. 113 Noch im Juni 1915 hatte Wild den „tüchtigen Groener" erwähnt 114 und etwa elf Monate später gegenüber Einem den Eisenbahnchef als „einen Organisator ersten Ranges" bezeichnet. 115 Zu dieser Zeit spielte die soziale Herkunft in ihren Überlegungen keine Rolle. Erst als Groener die höchste militärische Position nach dem Chef des Generalstabs, Paul von Hindenburg, besetzte, die vorher dem Adel, allenfalls jemandem aus altpreußischen Kreisen vorbehalten

Bürenstein, 19.7.1915, in: B A - M A Freiburg, N46, nicht nummerierter Teilnachlass des Sohnes, Ruthard Groener (1 Karton). 1 1 0

GROENER, L e b e n s e r i n n e r u n g e n

(wie Anm.

22),

S. 3 3 4 .

V g l . BUCHOLZ,

Moltke

(wie Anm. 4), S. 226, in dem die Eisenbahnabteilung als „the most important integrating vehicle" des Großen Generalstabs bezeichnet wird. 111

Zu seinen operativen Interessen, siehe ζ. B.: GROENER, Lebenserinnerungen (wie Anm. 22); ders., Das Testament des Grafen von Schlieffen. Operative Studien über den Weltkrieg, Berlin 1927; ders., Der Feldherr wider Willen. Operative Studien über den Weltkrieg, Berlin 1930; BRÜNING (wie Anm. 104), S. 548 f.

112

Zit. n. Gerhard W. RAKENIUS, Wilhelm Groener als erster Generalquartiermeister. Die Politik der Obersten Heeresleitung 1918/19, Boppard a. Rh. 1977, S. 17.

113

Siehe: Gerald D. FELDMAN, Army, Industry and Labor in Germany 1914-1918

114

Helmut REICHOLD (Hg.), Adolf Wild von Hohenborn. Briefe und Tagebuchaufzeichnungen des preußischen Generals als Kriegsminister und Truppenfiihrer im Ersten Weltkrieg, Boppard a. Rh. 1986, S. 63.

115

Junius ALTER (Hg.), Ein Armeeführer erlebt den Weltkrieg. Persönliche Aufzeichnungen des Generalobersten v. Einem, Leipzig 1938, S. 229.

[1966], Providence

1992.

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war, hatten sie etwas an seiner Herkunft auszusetzen. Dabei müssen die Beziehungen Einems und Wilds zu Groener näher erforscht werden, um festzustellen, in welchem Maße ihre Abneigungen grundsätzlichen sozialen Charakter besaßen oder ob diese auf ihren dienstlichen Verhältnissen zu Groener gründeten, und inwieweit der Zusammenbruch von Reich und Monarchie eine Rolle spielte. In den historischen Kontext eingebettet, verdeutlicht Groeners Laufbahn sowohl den zeitgemäßen Professionalismus des wilhelminischen Offizierkorps als auch die Bedeutung von Klassenunterschieden. Leistung und Können brachten Groener sehr weit in seinem B e ruf, aber seine kleinbürgerliche, süddeutsche Herkunft setzte ihm deutliche Grenzen. Offiziere altpreußischer Herkunft dominierten in den wichtigsten Positionen. Doch was heißt das? Groeners bürgerlicher Vorgänger, Ludendorff, gehörte der neuen altpreußischen Elite an, die Wilhelm II. „Adel der Gesinnung" nannte. Auch der frühere Generalquartiermeister, der kurhessische Wild von Hohenborn, der 1900 von Wilhelm II. nobilitiert worden war 1 1 6 , entstammte bürgerlichen Kreisen und gehörte nun diesem Adel an. In diesem Sinne waren die höchsten Positionen im Offizierkorps der deutschen Armee für Adlige und Bürgerliche offen, 1 1 7 solange sie über symbolisches Kapital verfugten, das fur die richtige Gesinnung bürgte. War dieses nicht vorhanden, ließ es sich in Einzelfällen durch die militärische Variante des kulturellen Kapitals, d.h. herausragende militärische Fachkenntnisse, ersetzen. Männer aus kleinen Verhältnissen erhielten manchmal auch Zugang zum Offizierkorps, aber ihre Laufbahnen glänzten weniger; sie gelangten nie ins innerste Zentrum der Macht. Kleinbürger gehörten vielmehr ins Unteroffizierkorps. Groener selbst schaffte es zwar zum Ersten Generalquartiermeister, allerdings erst als das Kaiserreich bereits am Rande des Zusammenbruchs stand. Dies alles heißt: Zu einem gewissen Grad reproduzierten Armee und Offizierkorps die vielfältigen sozialen Hierarchien des Kaiserreiches, allerdings bei bedingter Bevorzugung des Adels. Doch war die „feudale", „adlige" bzw. „aristokratische" Erscheinung des überwiegend bürgerlichen Offizierkorps kein unmittelbares Resultat dieser Bevorzugung. Vielmehr bildete sie eine kreative, pro-

1 1 6

REICHOLD ( H g . ) ( w i e A n m . 1 1 4 ) , S. 3.

117

Siehe Ulrich TRUMPENER, Junkers and Others: The Rise of Commoners in the Prussian Army, in: Canadian Journal of History 14 (1979), S. 29-47 u. Friedrich Wilhelm EULER, Die deutsche Generalität und Admiralität bis 1918, in: HOFMANN, O f f i z i e r k o r p s ( w i e A n m . 2 ) , S. 1 7 5 - 2 1 0 .

Bürgerliche und adlige Krieger

63

fessionelle Antwort des gesamten Korps auf aktuelle soziale, kulturelle und politische Bedürfnisse. Die Offiziere folgten dem Ruf der Tradition. Indem Traditionen erfunden, ausgebaut und kultiviert wurden, konnten regionale und soziale Unterschiede überbrückt und ein starkes, homogenes Bild des Offizierkorps nach außen projiziert werden. Dieses Bild stärkte wiederum das Offizierkorps in seinen aktuellen gesellschaftspolitischen und militärprofessionellen Aufgaben.

MARTIN KOHLRAUSCH

Die Flucht des Kaisers Doppeltes Scheitern adlig-bürgerlicher Monarchiekonzepte

„Das Ungeheure ist Tatsache geworden. Die Bahn Wilhelms IL, dieses eitlen, überheblichen und fleißigen Monarchen ist beendet", notierte Gerhart Hauptmann am 9. November 1918 in sein Tagebuch. „Mir griff es an die Gurgel, dieses Ende des Hohenzollernhauses; so kläglich, so nebensächlich, nicht einmal Mittelpunkt der Ereignisse", hielt Harry Graf Kessler am selbigen Tag fest, den er einen der „denkwürdigsten" und „furchtbarsten der deutschen Geschichte" nannte.1 Das plötzliche Verschwinden der Figur zu der - positiv oder negativ - fast jeder Deutsche eine dezidierte Position entwickelt hatte, forderte Reaktionen heraus, die schnell über ein bloßes Erstaunen hinausgingen. „Dem Zeitgenossen", so vermutete einer von diesen, „ist die Entthronung der Hohenzollern ein Erlebnis, das ihn irgendwie zur politischen Stellungnahme verleitet".2 Derartige Stellungnahmen bezogen sich bald nach Bekanntwerden der genaueren Umstände vor allem auf die kontrovers diskutierte Flucht des letzten Hohenzollernherrschers in die Niederlande.3 Es ist auf die merkwürdige Diskrepanz aufmerksam gemacht worden, die im Hinblick auf den 9. November 1918 zwischen der historiGerhart HAUPTMANN, Tagebücher 1914 bis 1918, hg. v. Peter Sprengel, München 1997, S. 244; Harry GRAF KESSLER, AUS den Tagebüchern 1918-1937, München 1965, S. 9 ff. Kurt HEINIG, Hohenzollern. Wilhelm II. und sein Haus. Der Kampf um den Kronbesitz, Berlin 1921, S. 1. Über die Flucht Wilhelms II. in die Niederlande wurde eine breitere Öffentlichkeit erst im Laufe des 11.11. 1918 durch die Tageszeitungen informiert. Vgl. a. die entsprechenden Notizen etwa in den Tagebüchern Thomas Manns und Graf Kesslers für diesen Tag.

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sehen Einschätzung und dem Empfinden der Zeitgenossen klafft. 4 Wenn heute die Abdankung des Monarchen als konsequenter Schlußpunkt politischer und gesellschaftlicher Entwicklungen des Kaiserreichs und insbesondere des Ersten Weltkriegs gesehen wird, dann muß mit Verwunderung die vielfach bezeugte Erschütterung der Zeitgenossen registriert werden, unter denen viele den Zusammenbruch der Monarchie als massiven und originären Eingriff in ihr Leben empfunden zu haben scheinen.5 Andererseits erscheint eine gewisse Zurückhaltung angesichts des eigenwilligen Gemisches aus Selbstmitleid, politischer Agitation, ideologischer Überhöhung und Verdrängung des vergangen Geglaubten durchaus angebracht bei dem Versuch, das Ende der Monarchie in Deutschland mentalitätsgeschichtlich zu beleuchten.6 Immerhin, eine solche Annäherung verspricht Aufschlüsse nicht zuletzt unter dem Gesichtspunkt einer erneuerten Elitengeschichte. Schließlich war es zuvorderst die Figur des Monarchen, auf die sich hohe Erwartungen im Hinblick auf eine Elitenintegration - eine zu schaffende Reichselite aus dem Bürgertum richteten, und zu der sich - als preußischer König - zumindest der preußisch-ostelbische Adel in einem spezifischen Näheverhältnis wähnte.7 Jene vielschichtigen Hoffnungen, Erwartungen und Projektionen an und auf den letzten Hohenzollemherrscher als vermeintliche „Integrationsinstanz" sollen im folgenden unter dem vereinfachenden Begriff der „Kaiserkonzepte" angesprochen werden. Hiermit ist angedeutet, daß dieser Beitrag sich nicht auf die Schilderung der dramatischen Ereignisse um den letzten Kaiser am 9. und Ernst-Wolfgang BÖCKENFÖRDE, Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frankfurt a. M. 1992, S. 306. Vgl. zum „Schmerz" der monarchisch Gesonnenen auch die instruktiven zeitgenössischem Schilderungen von Friedrich MEINECKE in dessen Artikel von 1922, „Das Ende der monarchischen Welt", abgedruckt in: Ders., Politische Schriften und Reden, hg. v. Georg Kotowski, Darmstadt 1958, S. 344-350, hier S. 344. Dieses Erstaunen über die geringe Aufmerksamkeit gegenüber dem Ende der Monarchie - ein „Nicht-Ereignis" der historischen Forschung - bei Karl Ferdinand WERNER, Fürst und Hof im 19. Jahrhundert: Abgesang oder Spätblüte, in: Ders. (Hg.), Hof, Kultur und Politik im 19. Jahrhundert, Bonn 1985, S. 1-53, hier S. 35. Im Gegensatz etwa zu der allzusehr den Selbstdarstellungen seiner Protagonisten verbundenen Darstellung von Johannes ROGALLA v. BIEBERSTEIN, Adel und Revolution 1918/1919, in: Mentalitäten und Lebensverhältnisse. Beispiele aus der Sozialgeschichte der Neuzeit. FS Rudolf Vierhaus, Göttingen 1982, S. 242-259. ROGALLA V. BIEBERSTEIN spricht von einer „Symbiose von Adel und Monarchie". Vgl. ebd., S. 244.

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10. November 1918 beschränken will. Vielmehr sollen diese, insbesondere ihre Rezeption, gleichsam als Angelpunkt dienen, um retrospektiv und prospektiv das Verhältnis der wilhelminischen und Weimarer Eliten zum letzten deutschen Kaiser auszuloten. Zumindest in zweifacher Hinsicht erscheint hierfür dieses Beispiel in besonderer Weise geeignet. Erstens spiegeln sich in den einschlägigen Reaktionen Kritikpunkte an der wilhelminischen Herrschaft in extremis wider. Zweitens beförderten diese eine nahezu vollständige Ablösung vom Monarchen, die wiederum für das Selbstverständnis der Eliten - des Adels zumal - eine nicht zu unterschätzende Bedeutung gewann. Beginnen wird dieser Beitrag mit sehr generellen Überlegungen zum Verhältnis der wilhelminischen Eliten - vor allem des Adels - zur monarchischen Spitze, anschließend auf die Rezeption der Flucht Wilhelms II. eingehen, an diesem Beispiel die ausgeführten Vermutungen untersuchen, um abschließend die Ablösung vom Monarchen und die Transformation der gescheiterten Kaiserkonzepte in alternative Führerund Herrscherkonzepte nach 1918 anzusprechen. Hier berühren sich die zwei eng miteinander verknüpften Fragestellungen dieser Untersuchung; jene nach dem Wandel des monarchischen Bewußtseins und jene nach dem Verhältnis insbesondere des ostelbischen Adels zum Deutschen Kaiser und letzten König von Preußen. I. Stilwandel der Herrschaftsrepräsentation und schleichende Desillusionierung des Adels Nach dem Tod des Reichspräsidenten Paul v. Hindenburg forderte Wilhelm II. in Erwartung seiner Restauration: „Blut muß fließen, viel Blut, bei den Offizieren und den Beamten, vor allen beim Adel, bei allen, die mich verlassen haben" 8 . Ohne jede faktische Relevanz indiziert der kaiserliche Wutausbruch doch ein - nicht erst seit 1918 — höchst problematisches Verhältnis des letzten Königs von Preußen zu seinen Standesgenossen, das in der Allgemeinheit des Adels ebenfalls als konfliktreich gesehen wurde. Überspitzt formuliert, fühlte sich zumindest der ostelbische Adel - über den hier vornehmlich zu sprechen sein wird - vom Monarchen ebenso verraten wie dieser von ihm.

Tagebucheintragung Sigurd v. Ilsemanns vom 22.8. 1934, zit. nach: John C.G. RÖHL: Kaiser Wilhelm II. „Eine Studie über Cäsarenwahnsinn", München 1989. Die Stelle ist in der von Harald v. Koenigswald herausgegebenen Ausgabe der Ilsemann-Tagebücher nicht enthalten.

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Die frühzeitige und heftige Opposition vieler Adliger gegen den Neuen Kurs Wilhelms II. erstreckte sich hauptsächlich, so die gängige Ansicht, auf das Feld der Wirtschaftspolitik. Die Ablehnung der Caprivischen Handelsverträge und später der Streit um das Mittellandkanalprojekt, als sich Heinrich York symptomatisch als „Seiner Majestät untertänigste Opposition" apostrophierte, sind bekannte Beispiele.9 Durch Versuche des Kaisers, einen „Gewissenszwiespalt" in „seinem Adel" zu vermeiden, sollten die Konflikte auf eine sachliche Ebene begrenzt werden; ausgeräumt wurden sie nicht.10 Dies fiel schwer bei einem Monarchen, der, wie der Alldeutsche Ernst Graf zu Reventlow rückblickend klagte, den Wunsch hatte, als „Bahnbrecher und Fackelträger einer neuen Zeit hervorzutreten."11 Adlige Kritik an Wilhelm II. war breit gefächert. Zumal aus dem hohen Adel zielte sie auf dessen militärisch-burschikose Art und erfolgte aus einer gemäßigt liberalen, bzw. zentrumskatholischen Position.12 Letztendlich problematischer wirkte aber die Kritik aus preußisch-konservativer Sicht, die besonders anschaulich in der Weigerung des alten Adels, einen wilhelminischen Fürstentitel zu akzeptieren, hervortritt.13 Hier tritt ein Unbehagen am wilhelminischen Stil hervor, das sich schnell im idealisierten Bild Wilhelms I. einen Ausdruck schuf, und auf die Formel, Wilhelm II. sei „zu

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Zum Zitat und zu den „Kanalrebellen" jetzt ausfuhrlich: Hartwin SPENKUCH, Das preußische Herrenhaus. Adel und Bürgertum in der Ersten Kammer des Landtages 1854-1918, Düsseldorf 1998, S. 263 ff. Man denke etwa an die Rede Wilhelms II. beim Festmahl der Provinz Ostpreußen vom 6.9. 1894 mit der symptomatischen Warnung: „Eine Opposition preußischer Adliger gegen ihren König ist ein Unding." Johannes PENZLER (Hg.), Die Reden Kaiser Wilhelms II., Leipzig 1897 ff., Bd. I., S. 275. 2 Ernst GRAF ZU REVENTLOW, Von Potsdam nach Doorn, Berlin 1940, S. 196. Zur ersteren vgl. etwa Marie PRINCESSE RADZIWILL, „Une grande dame d'avant guerre". Lettres de la Princesse Radziwill au Général de Robilant 1889-1914, 4 Bde., Bologna 1933-34 und die Beispiele aus Isabel V. HULL, The Entourage of Kaiser Wilhelm II 1888-1918, Cambridge 1982, S. 118 f.; zur Kritik aus liberaler und katholischer Perspektive (etwa Franz Graf v. Ballestrem; Heinrich Prinz zu Schoenaich-Carolath): SPENKUCH, Herrenhaus (wie Anm. 8), S. 265. Zur Kritik aus preußischer Sicht etwa Alexander FÜRST ZU DOHNA-SCHLOBITTEN, Erinnerungen eines alten Ostpreußen, Berlin 1989. Zur Weigerung der Familien Armin, Dönhoff und Maitzahn, einen wilhelminischen Fürstentitel zu akzeptieren vgl. Das Tagebuch der BARONIN SPITZEMBERG. Aufzeichnungen aus d^r Hofgesellschaft des Hohenzollernreiches, hg. v. Rudolf Vierhaus, Göttingen 1960, S. 405 u. 558 sowie SPENKUCH, Herrenhaus (wie Anm. 8), S. 265.

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wenig König von Preußen und zu sehr deutscher Kaiser" gebracht werden konnte.14 Wie neuartig und irritierend die Herrscherkritik aus der Mitte der traditionell Königstreuen war, zeigt sich besonders anschaulich in der sogenannten Caligula-Affäre. 15 Nachdem 1894 der linksliberale Historiker Ludwig Quidde sein Pamphlet „Caligula. Eine Studie über römischen Cäsarenwahnsinn" auf den Markt gebracht hatte, das vom ersten Wort an keinen Zweifel daran ließ, wer mit der Schilderung des wahnsinnigen Kaisers gemeint war, übernahm es ausgerechnet die Kreuzzeitung, durch eine detailreiche Besprechung den bis dahin schleppenden Verkauf anzukurbeln.16 In einem Rückblick aus den 1920er Jahren vermutet Quidde den Grund für die Maßnahme der Kreuzzeitung in der Desillusionierung der „preußischen Aristokratie" durch den Kaiser. Dieser habe durch seine Art im Adel und der Armee viel vom „Kapital monarchischer Gesinnung verwirtschaftet".17 Der Kommentator der Post beschreibt das verbreitete zeitgenössische Erstaunen angesichts dieser Tatsache: „Wenn es die Republikaner' wären, die sich an der Quiddeschen Schrift erfreuten, so wäre weiter nichts zu verwundern, aber es sind unzweifelhafte Monarchisten, altbewährte ,Kartellbrüder', die Jedem der es hören will, die Flugschrift als ,schneidig' und fabelhaft interessant' anempfehlen."18

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So die Kritik Adolf Frhr. Marschall v. Biebersteins im Gespräch mit der Baronin S p i t z e m b e r g . V g l . SPITZEMBERG, T a g e b u c h ( w i e A n m . 1 3 ) , S. 4 2 1 ( 2 4 . 1 0 . 1 9 0 2 ) .

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Bisher hat dieser Skandal kaum Beachtung in der historischen Forschung gefunden. Vgl. lediglich die Einleitung von Hans-Ulrich WEHLER in Ders., (Hg.), Ludwig Quidde. Schriften über Militarismus und Pazifismus, Frankfurt a. M. 1977, S. 7-18 sowie Helmuth ROGGE, Affären im Kaiserreich. Symptome der Staatskrise unter Wilhelm IL, in: Die politische Meinung 8 (1963), S. 58-72. Die Broschüre wurde mit einer Auflage weit über 200.000 die bestverkaufte politische Schrift des Kaiserreichs. Vgl. WEHLER, Quidde (wie Anm. 15), S. 13. Gemutmaßt wurde sogar, Quidde habe aufgrund von intimen Informationen ihm bekannter ostpreußischer Adliger gehandelt. Vgl. hierzu sowie zum Zitat ebd., S. 27 u. S. 24 f. Zur Bedeutung der adligen Gegnerschaft zu Wilhelm II. fur die Caligula-Affare vgl. auch Utz-Friedbert TAUBE, Ludwig Quidde. Ein Beitrag zur Geschichte des demokratischen Gedankens in Deutschland, München 1963, S. 4 ff. Die Einschätzung Quiddes wurde in der liberalen Presse der Zeit durchgängig geteilt. Vgl. z.B. Berliner Tageblatt, Wer ist Quidde?, 19.5. 1894 u. Breslauer Zeitung, Herrn Quiddes „Caligula", 24.5. 1894. Die Post, 18.5.1894. Vgl. a. Hermann Heinrich QUIDDAM (d.i. Hermann Heinrich Rothe), Contra Caligula. Eine Studie über deutschen Volkswahnsinn, Leipzig 1894, S. 7 ff.

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Noch weiter gingen aus dezidiert bürgerlicher Perspektive verfaßte „Gegen-Pamphlete" zum Caligula. Hier wurde beispielsweise die „Unfähigkeit der Männer des Ancien régime", sich auf einen „jungen und willensstarken Kaisei" einzulassen, verurteilt. Charakteristisch sei, daß „allein die Kreuzzeitung die Notwendigkeit empfand, dem Caligula ein Ende zu machen." Dieser „Sehnsuchtsschrei nach der kaiserlichen Sympathie" resultiere aus Wilhelms II. „Absage an die zu sicher gewordenen Magister der monarchischen Idee". Es wiederhole sich „der Konflikt zwischen Jung und Alt", den man schon bei der Bismarckentlassung habe erkennen können. Die Konservativen hätten „[...] auf der ganzen Linie, aus einem leicht begreiflichen steif und starr gewordenen Machtbewußtsein heraus, die Introduktion des kommenden Monarchen unterschätzt, und sich in den Ansprüchen nicht zu menagieren verstanden."19 Wilhelm II. wird als ein Modernisierer geschildert, der die Notwendigkeiten der neuen Zeit - vor allem in der Wirtschaft - verstanden habe. Es paßt in dieses Bild, wenn Quidde aus seiner anecdotal experience berichtet, daß „dem zeitweiligen gesellschaftlichen Boykott, [...] alte Beziehungen in aristokratischen Kreisen auffallenderweise viel besser Stand hielten als in bürgerlichen."20 Von dem Bürgertum und dessen Haltung zum Kaiser sprechen zu wollen, ist unmöglich, aber es läßt sich doch generalisierend feststellen, daß Anknüpfungspunkte sowie eine gewisse Affinität zum wilhelminischen Stil hier durchaus vorhanden waren. Als Anknüpfungspunkt kann eine zweifellos erhöhte Durchlässigkeit der Hofgesellschaft und der Umgebung des Kaisers ebenso gelten wie die massive Ausweitung der imperialen Gunsterweisungen, die als Erfolgsversinnbildlichung von großen Teilen des Bürgertums zumindest akzeptiert wurden, sowie schließlich eine auffällige persönliche Nähe Wilhelms II. zu Mitgliedern der akademischen Intelligenz und Repräsentanten des Wirtschaftsbürgertums.21 Wie die Zukunft noch 1903 feststellte, war 19 20 21

STEINHAMMER, Der Caligula-Unfùg, Berlin 1894. S. 6 ff. WEHLER, Quidde (wie Anm. 15), S. 37. Thomas A. KOHUT, Wilhelm II. and the Germans. A Study in Leadership, New York/Oxford 1991, S. 142. Isabel V. Hull klassifiziert die wilhelminische Politik sogar explizit als „eine bürgerliche", Vgl. Isabel V. HULL, „Persönliches Regiment", in: John C.G. Röhl (Hg.), Der Ort Kaiser Wilhelms II. in der deutschen Geschichte, S. 3-24, hier S. 20 ff. Generell: John C.G. RÖHL, Hof und Hofgesellschaft unter Wilhelm II., in: Ders. (Hg.), Kaiser, Hof und Staat. Wilhelm II. und die deutsche Politik, München 1995, S. 78-115, insbesondere S. 114 f. sowie Hartmut POGGE VON STRANDMANN, Der Kaiser und die Industriellen. Vom Primat der Rüstung, in: Röhl, Ort, S. 111-130, insbesondere S. 115 f.

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die Meinung weit verbreitet, daß nur die „eiserne Faust" des Kaisers die Agrarier „niederzwinge". Wenn es den Kaiser nicht mehr gebe, sei es mit der industriellen Weltmacht bald vorbei. 22 Aufgrund seiner vielbeschworenen „Jugend und Energie" wurde Wilhelm II. als der „richtige Mann am richtigen Platz", als ein „Mann der Zukunft" gefeiert.23 In der zunächst durchaus positiv rezipierten Entlassung Bismarcks fanden diese Assoziationen ihr Symbol. 24 Diese Affinität bestimmter bürgerlicher Gruppen zu Wilhelm II. fand ihre Entsprechung und wurde verstärkt durch die Präsentation des Kaisers als moderner Herrscher. In vielerlei Hinsicht vertrat Wilhelm II. durch sein Auftreten die Aspirationen des jungen, elastischen, großstädtischen, aufstrebenden Mittelstandes.25 Zwar ist es nicht ungewöhnlich, daß sich Hoffhungen auf gesellschaftliche Veränderungen mit dem Thronfolger verbinden, die Intensität der Erwartungshaltung an Wilhelm II. erscheint allerdings ebenso als Spezifikum wie der propagierte enge Nexus zwischen dem „jungen Kaiser" und den technisch-industriellen Eliten als Bannerträgem der neuen Zeit. 26 In der oftmals dokumentierten kaiserlichen Sympathie für das Marineoffizierskorps - die im adlig dominierten Offizierkorps des Heeres reziprok als Ablehnung empfunden wurde - fand dieser Stilwechsel einen

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Die Zukunft 1903. Zit. nach: Joachim RADKAU, Das Zeitalter der Nervosität, Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, München/Wien 1998, S. 280 f. So etwa in der Badischen Presse vom 4.10. 1889. Zit. nach KOHUT, Wilhelm II. (wie Anm. 21), S. 229. Ahnlich liest sich selbst die Rede Theodor Mommsens zum Kaisergeburtstag 1891 vom 29.1 des Jahres, sowie, hagiographischer noch, zwei Jahre später zum selben Anlaß. Vgl. Theodor MOMMSEN, Reden und Aufsätze, Berlin 1905, S. 183 ff. Vgl. hierzu: Elisabeth FEHRENBACH, Wandlungen des deutschen Kaisergedankens (1871-1918), München/Wien 1969. S. 89 f. sowie Kurt KOSZYK, Deutsche Presse im 19. Jahrhundert: Geschichte der deutschen Presse, Bd. II., Berlin 1966, S. 250; Ferdinand TÖNNIES, Kritik der öffentlichen Meinung, Berlin 1922, S. 434 u. 476. Trotz aller Rückschläge bewahrte das Schlagwort vom „modernen Kaiser^' einen Teil seiner Faszination. Noch in den Jubiläumsschriften des Jahres 1913 wird dieses regelmäßig beschworen: vgl. beispielhaft Martin SPAHN, 25-jähriges Regierungsjubiläum, in: Hochland 10 (1913), S. 294-308, S. 294 f. Friedrich Wilhelm V. LOEBELL, Rückblick und Ausblick, in: Philipp ZOM/Herbert v. Berger (Hg.), Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Bd. IV, Berlin 1914, S. 1698-1699. Zum Ort des Kaisers im Jugendkult des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts vgl. Birgit MARSCHALL, Reisen und Regieren. Die Nordlandfahrten Kaiser Wilhelms II., Hamburg 1991, S.34 ff. Christian SIMON, Kaiser Wilhelm II. und die deutsche Wissenschaft, jn: Röhl, Ort (wie Anm. 21), S. 91-110.

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deutlichen Ausdruck.27 Ob allerdings von einem konsistenten Elitenkonzept Wilhelms II. gesprochen werden kann, erscheint durchaus fraglich. Neben den Angeboten an die aufstrebenden bürgerlichen Gruppen steht die wiederholt ostentativ vollzogene Rückwendung zum Adel. Ideologisch erfolgte diese etwa auf der Ebene der notorischen Reden Wilhelms II. vor dem Brandenburgischen Provinziallandtag, symbolpolitisch durch eine berechnende Vergabe von Gnadenerweisen an Adlige.28 Von den Spannungen unbenommen standen dem Adel fortdauernd vielfältige Kanäle zur persönlichen Beeinflussung ebenso offen, wie der oft wiederholte Verweis auf die adligen Verdienste, zumal in der preußischen Kriegsgeschichte, auch gegenüber dem preußischen König, seine Wirkung nicht verfehlen konnte 29 Vor dem Hintergrund der Loyalitätsverschiebungen gegenüber dem Monarchen verliert nicht nur die strikte Trennung Adel gleich monarchisch und vice versa weitgehend ihren Sinn. Die durchaus breitenwirksame Vorstellung vom „modernen Kaiser4' mußte auch das - nicht zuletzt ideologisch bedeutsame - Näheverhältnis des Adels zum Monarchen langfristig gefährden. Nur schwerlich ließ sich der „politische Ideenhaushalt" des ostelbischen Adels mit dem wilhelminischen Image des Herrschers in Einklang bringen. Der Konnex zwischen der Affinität des Kaisers zu einem „modernen" Lebensstil und der Entfremdung traditionell königsnaher Gruppen vom Kaiser ist augenscheinlich. Ein Gefühl der Zurücksetzung zumal des im Vergleich mit den wohlhabenderen Standesgenossen alternativlosen „junkerlichen" Adels angesichts der zunehmenden Präsenz des „Geldadels" am Hof trat hinzu.30 27

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Holger H. HERWIG, The German Naval Officer Corps. A Social and Political History. 1890-1918, Oxford 1973, S. 31 ff., v.a. S. 34. Vgl. etwa die Rede anläßlich des Festmahls des Brandenburgischen Provinziallandtages vom 5.3. 1890, in: Ernst JOHANN (Hg.), Reden des Kaisers. Ansprachen, Predigten und Trinksprüche Wilhelms II., München 1966, S. 48 ff. Zum Anstieg der Gnadenerweise gegenüber Adligen vgl. René SCHILLER, Vom Rittergut zum Adelstitel? Großgrundbesitz und Nobilitierungen im 19. Jahrhundert, in: Ralf Pröve/Bernd Kölling (Hg.), Leben und Arbeiten auf märkischem Sand. Wege in die Gesellschaftsgeschichte Brandenburgs 1700-1914, Bielefeld 1999, S. 49-89, hier S. 58. SPENKUCH, H e r r e n h a u s ( w i e A n m . 8 ) , S. 1 7 7 , v g l . a.: A l a s t a i r THOMPSON, H o n -

ours Uneven: Decorations, the State and Bourgeois Society in Imperial Germany, in: Past and Present 144 (1994), S. 171-204. Diese Beobachtung über seine ostelbischen Standesgenossen etwa bei Alexander PRINZ V. HOHENLOHE, Aus meinem Leben, Frankfurt a. M. 1925, S. 348. Vgl. die Klagen über den „neuen Reichtum" bei Kurt FRHR. V. REIBNITZ, Geschichte und Kritik von Doorn, Berlin 1929, S. 88 sowie James RETALLACK, Notables of the

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Dessen ungeachtet überlebten spezifisch ostelbisch-adlige Bezüge zum Monarchen. Wilhelm II. beeinflußte über die Zivil- und Militärkabinette das Avancement adliger Söhne in der höheren Bürokratie und vor allem der Armee. Als Oberster Kriegsherr trat er in ein vielseitiges Näheverhältnis zum adlig dominierten Offizierkorps, als Schloßherr in Berlin und Potsdam war er Angelpunkt eines expandierenden Hoflebens, das trotz aller Öffnungstendenzen eine primär adlige Veranstaltung blieb.31 Gleichsam als oberste Instanz der preußischen Adelsgesellschaft bildete Wilhelm II. zudem deren Fokuspunkt und Machtfaktor bis hinein in Heiratsentscheidungen.32 Hinzu trat die ideologisch überhöhte, als adlig-monarchische Symbiose rezipierte und als solche prägende preußische Geschichte.33 Allerdings waren auch diese Bindungen zwischen Adel und Monarch einer beständigen Erosion unterworfen. Wilhelm Π. gefiel sich nicht nur in der Pose des modernen Herrschers und in demonstrativ zur Schau getragener Nähe zu den Protagonisten des Industriezeitalters.34 Der Markgraf von Brandenburg und preußische König betonte auch ungleich stärker als sein Großvater seine Stellung als deutscher Kaiser zuungunsten der preußischen Königswürde. Strukturell verschärfte sich diese Entwicklung zudem aufgrund der stetig wachsenden Zahl Adliger und eine hierdurch bedingte kontinuierliche Abnahme der Herrschernähe. Hiermit wurde jene schon zuvor zur Illusion mutierte Vorstellung vom preußischen König als primus inter pares innerhalb der preußischen Adelsgesellschaft für jeden sichtbar zu Grabe getragen. Freilich änderten derartige, im ostelbischen Adel stark empfundenen, Verlusterfahrungen nichts an der für den Adel evidenten Tatsache, daß er ohne die monarchische Verfassung des Reiches seine herausgehobene Stellung nicht bewahren konnte. Die Einsicht in diese Wahrheit konnte ein Grund sein, den Träger der Krone, von dem man glaubte, er Right: The Conservative Party and Political Mobilization in Germany, 1876-1918, L o n d o n 1 9 8 8 , S . 1 5 2 f. u n d ROGALLA V. BIEBERSTEIN, A d e l ( w i e A n m . 6 ) , S . 2 4 8 . 31

Vgl. Karl MÖCKL, Einleitung, in: Ders., (Hg.): Hof und Hofgesellschaft in den deutschen Staaten im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, Boppard 1990, S. 716, hier S. 14.

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RÖHL, H o f ( w i e A n m . 2 1 ), S. 1 0 7 .

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Vgl. Abschnitt Mythen und Legenden, in: Gottfried KORFF (Hg.), Preußen. Versuch einer Bilanz, Bd. I., Berlin 1981, S. 471-499; Jürgen MIROW, Das alte Preußen im Geschichtsbild seit der Reichsgründung, Berlin 1981, S. 58 ff. So etwa, zum Leidwesen vieler Adliger, während der Kieler Woche. Vgl. RÖHL, Hof (wie Anm. 21), S. 114.

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gefährde die Monarchie, anzugreifen oder aus demselben Grund seine Kritik zurückzuhalten bzw. den Monarchen zu verteidigen. Dieses Dilemma trat im „Krisenjahr 1908" anschaulich zutage. Theodor Eschenburg bilanzierte zwanzig Jahre nach dem Höhepunkt der Prozesse um die Kaiserfreunde Kuno Moltke und Philipp Eulenburg sowie die erregten Reaktionen auf das Daily Telegraph-interview: „Damit [mit der Kritik des Reichstages, einschließlich der konservativen Parteien, am Monarchen; M.K.] brach ein Stück aus der preußischen Königstradition".35 „Die Loyalität zum Monarchen bei den konservativen Abgeordneten der Wahlparlamente war nie so erodiert wie im letzten Vorkriegsjahrzehnt", urteilte jüngst Hartwin Spenkuch. Im Reichstag war es selbst innerhalb der Rechten lediglich der „die-hard-Konservative" Elard v. Oldenburg-Januschau, der in einer breit rezipierten, emotional-dramatischen Rede „seinem Kaisei" zur Seite sprang und die „alte Treue" des Adels zum Monarchen beschwor. 36 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Rede vom „monarchischen Kapital", dessen Aufzehrung durch Wilhelm II. Zeitgenossen beklagten oder zumindest registrierten. In einer Abhandlung über die „geistigen Strömungen der Zeit" aus dem Jahr 1911 resümierte Theobald Ziegler: Im November 1908 sei man, „um den letztverantwortlichen Führer dieses neuen Kurses zu treffen, von der Gewohnheit abgegangen, in der Debatte die Person des Kaisers aus dem Spiel zu lassen". Das „Volksgericht" über den Kaiser sei „eine Abrechnung über die Höhe des aufgezehrten Kapitals" gewesen.37 Kurz nach dem Zusammenbruch der Monarchie abstrahierte der Staatsrechtler Hermann Heller in einer Schrift über die „Ideenkrise der Gegenwart" diese Beobachtung. Ausgehend von Bismarcks berühmten Brief an den jungen Wilhelm, worin der Kanzler einen Träger des Königtums forderte, der bereit sein müsse, auf den Stufen des Thrones um seine Krone zu kämpfen, folgerte Heller: „Wir haben es hier mit einer neuen, von der 35

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Theodor ESCHENBURG, Das Kaiserreich am Scheideweg. Bassermann Bülow, und der Block, Berlin 1929, S. 131. Man beachte die persönliche Fixierung auf den Monarchen bei Oldenburg-Januschau. Vgl. Ders. als Abgeordneter der Konservativen im Reichstag, Verhandlungen des Reichstages, XII. Legislaturperiode, 1. Session, Bd. 233, Berlin 1909, S. 5437. Zur Darstellung des Redners: Elard v. OLDENBURG-JANUSCHAU., Erinnerungen, Leipzig 1936, S. 98. Verweise auf die Rede finden sich etwa bei Joachim V. WINTERFELDT, Jahreszeiten meines Lebens. Das Buch meiner Erinnerungen, Berlin 1942, S. 55. Theobald ZIEGLER, Die geistigen und sozialen Strömungen Deutschlands im 19. Jahrhundert, Berlin 1916, S. 466.

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monarchischen Idee sowohl friderizianischer wie romantischer Prägung grundverschiedenen Auffassung der Monarchie zu tun. Diesem, in den tonangebenden bürgerlichen und auch adeligen Schichten herrschend gewordenen Gedankenkreis, fehlt jede letzte, sei es rationale, sei es religiöse Fundierung." Entlang der wirkungsmächtigen Deutung Treitschkes sei die monarchische Idee lediglich zur zweckmäßigsten Organisationsform des Staates mutiert, die sich durch stetigen Leistungsbeweis legitimieren müsse.38 Zeitgenossen - adlig oder nicht - konstatierten regelmäßig mit einiger Besorgnis ein zwar breites, aber zunehmend flacheres monarchisches Bewußtsein - man sei Monarchist mit dem Kopf, nicht mehr mit dem Herz, stellte Ziegler mit Blick auf die oberen Schichten fest. D.h. die Institution Monarchie wurde gerechtfertigt, der Monarch immer stärker - auch öffentlich - kritisiert. Diese Beobachtung korreliert mit der - positiv oder negativ - problematisierten Exponiertheit der „allerhöchsten Person". Nicht zuletzt weil der spezifisch wilhelminische Stil als Führungsversprechen begriffen wurde, konnte immer wieder kaiserliches Führungsversagen beklagt werden. 39 Will man diesen Prozeß als Verlusterfahrung beschreiben, so wird man eine Linie ziehen müssen von 1908, über die Jahre 1914/16, die dann schließlich symbolträchtig am 9./10. November 1918 in der Abdankung Wilhelms Π. und dessen Flucht nach Holland endete. Vor dem Hintergrund der hier für das Verhältnis des Adels zum Monarchen gemachten Vermutungen gilt es, die Rezeption dieses dramatischen Ereignisses genauer in den Blick zu nehmen. II. Die Rezeption der Flucht Wilhelms II. als sinnfälliges Scheitern der Kaiserkonzepte „Der Thron der Hohenzollern ist durch unseren Bittgang zu Wilson zu schmal für Wilhelm II. geworden, er konnte jetzt nur noch ein Kind tragen", formulierte Max Weber in einer kurz nach der Revolution gehaltenen Rede und brachte damit ein allgemein empfundenes Di-

Hermann HELLER, Die politischen Ideenkreise der Gegenwart, Breslau 1926, S. 4 3 . 39

Allerdings, konzediert Ziegler, nötige die „stark ausgeprägte Persönlichkeif' Wilhelms II. das Volk, sich mit ihm zu beschäftigen, sei es auch, um Kritik zu üben. Dadurch gerate der Kaiser immer wieder „in den Mittelpunkt des Interesses", ZIEGLER, Strömungen (wie Anm. 37), S. 547, Vgl. auch KOHUT, Wilhelm II. (wie Anm. 2 1 ) , S. 1 6 3 .

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lemma auf den Punkt.40 Spätestens nachdem der schwer angeschlagene Kaiser durch die dritte Wilsonnote für jeden ersichtlich zum Friedenshindernis geworden war, stand die Abdankungsfrage im Raum.41 Daß diese Frage nicht im Zuge einer Regentschaft ihrer Lösung zugeführt werden konnte, hatte viele Gründe. Einer der wichtigsten war die Renitenz des Monarchen gegenüber allen Vermittlungsbemühungen, die in dessen Abreise aus dem politischen Zentrum Berlin nach dem militärischen Zentrum in Spa festgeschrieben wurde. Bezeichnenderweise lasen Zeitgenossen diese „Flucht nach Varennes" als endgültigen Verzicht auf eine freiwillige Abdankung.42 Es würde hier zu weit führen, die Ereignisse im Hauptquartier im Detail zu rekonstruieren, zumal es deren Rezeption ist, die hier interessiert.43 Offensichtlich ist allerdings, daß durch die eigenartige Mi40

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Dieses Zitat bei REIBNITZ, Doorn (wie Anm. 30), S. 197, der sich offensichtlich auf eine Rede Webers am 17.11. 1918 in Heidelberg zum Thema „Die zukünftige Staatsform Deutschlands" bezieht. Vgl. Wolfgang MOMMSEN (Hg.), Max Weber zur Neuordnung Deutschlands. Schriften und Reden 1918-1920, Tübingen 1983, S. 370 ff. Weber hatte schon am 11.10. 1918 „als aufrichtiger Anhänger monarchischer Institutionen" den „Rücktritt" des Kaisers gefordert. Für den Fall eines Endes „mit Unehren", d. h. auf äußeren Zwang hin prophezeit Weber „auf Generationen nachwirkende" Folgen für die Monarchie. Vgl. Max WEBER, Gesammelte politische Schriften, München 1921, S. 477. Zur Debatte um eine Regentschaft vgl. Ernst-Rudolf HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789. Bd. V.: Weltkrieg, Revolution und Reichserneuerung 1914-1919, Stuttgart 1978, S. 658 ff. Zu den zahlreichen Bemühungen prominenter Persönlichkeiten, eine Regentschaft einzurichten vgl. Ludwig FRANZ, Die deutschen Monarchisten 19191925, Kulmbach 1932, S. 16 f. Es wäre reizvoll, ist allerdings in diesem Rahmen nicht durchführbar, die Abdankung der übrigen deutschen Herrscher einzubeziehen. Vgl. hierzu: Helmut NEUHAUS, Das Ende der Monarchien in Deutschland 1918, in: Historisches Jahrbuch 111 (1991), S. 102-136. Die Metapher wird benutzt von Arnold Wahnschaffe, im November 1918 Unterstaatssekretär in der Reichskanzlei, in seinem Artikel „Der letzte Akt der Kaisertragödie", abgedruckt in Alfred NIEMANN: Revolution von Oben - Umsturz von Unten. Berlin 1928, S. 423 ff. Zur öffentlichen Diskussion um die Abdankung vgl. Karin HERRMANN, Der Zusammenbruch 1918 in der deutschen Tagespresse. Politische Ziele, Reaktionen und Ereignisse und die Versuche der Meinungsführung [...], 23. September bis 11. November 1918. Phil. Diss., Münster 1958, S . 121-125; Adolf STUTZENBERGER, Die Abdankung Kaiser Wilhelms II. Die Entstehung und Entwicklung der Kaiserfrage und die Haltung der Presse, Berlin 1937, S. 78-101. Zur Regentschaftsfrage vgl. Friedrich MEINECKE, Das Ende der Monarchie, in: Ders., Politische Schriften (wie Anm. 4), hier: S. 222 f. Vgl. HUBER, Verfassungsgeschichte (wie Anm. 40), S. 676, sowie Wilhelm GROENER, Lebenserinnerungen. Jugend. Generalstab. Weltkrieg, hg. v. Hiller v.

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schung höfischer und militärischer Elemente, die das Soziotop Spa charakterisierte, über Tage hinweg ein Entscheidungsvakuum herrschte. Wilhelm Groener fühlte sich nach eigener Aussage als Württemberger nicht berufen, dem preußischen König Ratschläge zu erteilen, Paul v. Hindenburg reklamierte, daß dieses ihm als preußischer Offizier versagt sei. 44 Daß Wilhelm II. nicht selbst die Initiative ergriff, vermag kaum zu überraschen; ebensowenig, daß der gordische Knoten nicht durch Mitglieder der immer noch auf die Gunst des Herrschers bedachten Entourage zerschlagen wurde.45 Vor diesem Hintergrund war die freiwillige Abdankung des Kaisers ebenso unwahrscheinlich wie dessen Fronttod.46 Freilich wurde dies in den Folgejahren des Ersten Weltkrieges durchaus anders gesehen. Es waren vor allem folgende, jeweils symbolisch stark aufgeladene Fragen, welche die außerordentlich heftigen Debatten um den „9. November in Spa" bestimmten: 1. Warum und auf wessen Initiative erfolgte der Ortswechsel des Kaisers von Potsdam nach Spa?

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Gaertringen, Göttingen 1957, S. 456, Siegfried A. KAEHLER, Vier quellenkritische Untersuchungen zum Kriegsende 1918, in: Ders., Studien zur deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Aufsätze und Vorträge, Göttingen 1961. S. 283 sowie Ekkehart GUTH: Der Loyalitätskonflikt des deutschen Offizierskorps in der Revolution 1918-1920. Frankfurt a. M. u.a. 1983, S. 12 ff. Vgl. die Niederschrift aus einem Vortrag Groeners vor seinem engsten Stab (Kommandostelle Kolberg) am 18.8. 1919, abgedruckt in: Kuno GRAF V. WESTARP, Das Ende der Monarchie am 9. Nov. 1918, hg. v. Werner Conze, Berlin 1952, S. 201-206, hier: S. 203, vgl. auch GROENER, Lebenserinnerungen (wie Anm. 43), S. 459. Zu Hindenburg: J.W. WHEELER-BENNEETT, Hindenburg, The Wooden Titan, London 1936, S. 184. Zu deren Zusammensetzung auch noch ffir den November 1918: Isabel V. HULL, Entourage (wie Anm. 12), S. 289. Einiges deutet sogar darauf hin, daß die Weichen nach Holland relativ früh gestellt worden waren. Zu den Kontakten zwischen Spa und den Niederlanden: J.A. DE JONGE, Wilhelm II., Köln/Wien 1988, S. 122-127. Die mit Abstand hilfreichste Darstellung der Vorgänge in Spa ist bis heute die von Westarp in den 30er Jahren kompilierte Zusammenstellung der Augenzeugenaussagen. Zum Ablauf der Ereignisse - trotz deutlicher Parteinahme - vgl. die Rekonstruktion in HUBER, Verfassungsgeschichte (wie Anm. 40), S. 666 ff. Vergleichsweise hohe Authentizität besitzen auch die Tagebuchaufzeichnungen von Albrecht v. THAER, Generalstabsdienst an der Front und in der Obersten Heeresleitung. Aus Briefen und 1915-1919, Göttingen 1958, S 251 f. sowie Ludwig BERG, „Pro Fide et Patria". Die Kriegstagebücher von Ludwig Berg 1914-1918. Katholischer Feldgeistlicher im Großen Hauptquartier Kaiser Wilhelms II., hg. v. Frank Betker und Almut Kriele, Köln u.a. 1998, S. 775 ff.

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2. Warum gelang es nicht, den Kaiser rechtzeitig von der Notwendigkeit abzudanken bzw. eine Regentschaft einzurichten, zu überzeugen? 3. Warum kam es nicht, wenn die Option der freiwilligen Abdankung verworfen wurde, zu einem „Frontunternehmen"47 Wilhelms II.; vor allem: Ist der Kaiser mit derartigen Vorhaben konfrontiert worden? 4. War eine bewaffnete Niederschlagung der Revolution möglich? Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang die Befragung jener 39 Frontoffiziere, die auf Betreiben Groeners für den Morgen des 9. November nach Spa gerufen worden waren, um diese Frage sowie die nach der Einstellung der Armee zum Kaiser zu beantworten? 48 5. Wer gab letztlich die Anregung, den Kaiser nach Holland „zu schicken" bzw. überredete ihn zu diesem Schritt? Welche Haltung nahm der Kaiser selbst ein? Dies waren die Kernfragen, die sich schon in den frühen Zeitungsberichten über die demütigenden Szenen, denen das kaiserliche Gefolge durch Schmähungen holländischer und belgischer Schaulustiger ausgesetzt war, finden.49 Unzählige Darstellungen - bald nicht mehr nur in Zeitungen - über den 9. November in Spa bildeten das Rohmaterial für eine beispiellos intensive Debatte über Vergangenheit und Zukunft der gestürzten Monarchie, die sich zunächst sehr konkret an einer - in der Regel stark von den jeweiligen Interessen geleiteten - Rekonstruktion der Ereignisse orientierte, freilich zunehmend nach Intentionen und Überzeugungen der Akteure fragte. Die Spa-Zeitzeugen - fast ausnahmslos Militärs - schrieben in knappem zeitlichen Abstand zum Zwecke der Rechtfertigung für Ehrengerichte oder „Richtigstellungen"

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Begriff bei THAER, Generalstabsdienst (wie Anm. 46), S. 252. Zum Ablauf der eigentümlichen Abstimmung den detaillierten Bericht des Augenzeugen Wilhelm HEYE, Lebenserinnerungen, BA-MA Freiburg, Ν 18/4. Vgl. auch: GUTH, Loyalitätskonflikt (wie Anm. 43), S. 15 f. und KAEHLER, Untersuchungen (wie Anm. 43), S. 283. Vgl. Jan BANK, Der Weg des Kaisers ins Exil, in: Hans Wilderotter/Klaus-D. Pohl, (Hg.), Der letzte Kaiser. Wilhelm II. im Exil, Gütersloh/München 1991, S. 105-112., hier S. 109 ff. sowie die entsprechenden Berichte der großen Tageszeitungen. Friedrich WENDEL, Wilhelm II. in der Karikatur, Dresden 1928, bietet eine gute Auswahl einschlägiger Karikaturen, welche die Peinlichkeit des Ereignisses variieren, S. 103 ff.

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in Zeitungen.50 Ihrem Charakter nach können diese frühen Ansätze, eine einheitliche Linie der Fluchtinterpretation herzustellen, durchaus noch als Versuche gelesen werden, die Deutungsmacht des monarchietreuen Adels zu sichern. Jenen begrenzten Diskursen folgte aber bald deren Verlagerung nach außen, die sich in einschlägigen Pamphleten und nahezu allen Formen publizistischer Auseinandersetzung Raum schaffte.51 In diesen Darstellungen aus zweiter Hand wird das Geschehen regelmäßig dramatisch überhöht. Suggestiv beginnen fast alle Berichte mit der Schilderung metaphorisch ins Spiel gebrachter „grauer Novembernebel" und „sterbender Blätter".52 Sowohl rechtfertigende als auch kritische Beiträge suggerieren damit eine Notwendigkeit der eingetretenen Entwicklung, die entweder den Herrscher entlasten sollte oder vermeintlich dazu diente, das Ende der Monarchie als eine kausale Notwendigkeit zu begründen. Gerade von Apologeten wurde mit stilistischen Mitteln immer wieder die Kennzeichen einer Tragödie beschworen. Die Hauptakteure des „letztfen] Akt[es] der Kaisertragödie" werden als loyale, aber verzweifelte Männer präsentiert, die sich widerwillig einem abstrakten Schicksal beugen. 53 „Tragik", „Schick50

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Vgl. hierzu, neben dem in der Arbeit von Westarp präsentierten Material, die Denkschriften der Generale Schulenburg, Marschall und Plessen, der Offiziere Gontard und Niemann, des Staatssekretärs Hintze, des Unterstaatssekretärs Wahnschaffe, des Kapitäns zur See Restorfif, des Konteradmirals Levetzow sowie diverser weiterer Augenzeugen und Entscheidungsträger in Spa und Berlin, sämtlich abgedruckt in: NIEMANN, Revolution (wie Anm. 42), S. 325 ff. Als paradigmatisch für diese Entwicklung - wenn auch freilich ein späteres Zeugnis - kann das Erscheinen der Schrift: Ludwig HERZ, Die Abdankung, Leipzig 1924 angesehen werden. Auf die .aufklärerischen Darstellung aus liberaler Perspektive reagierte der Loyalist und doomhörige Alfred NIEMANN mit seiner kapitelweise vorgehenden „Widerlegung", Die Entthronung Kaiser Wilhelms II. Eine Entgegnung auf: Ludwig Herz „Die Abdankung", Leipzig 1924. Zitate nach Edgar V. SCHMIDT-PAULI, Der Kaiser. Das wahre Gesicht Wilhelms II., Berlin 1928, S. 272; Nahezu deckungsgleich: Karl ROSNER (Hg.), Erinnerungen des Kronprinzen Wilhelm. Aus den Tagebüchern und Gesprächen, S t u t t g a r t / B e r l i n 1 9 2 2 . , S . 2 8 0 f.; REVENTLOW, P o t s d a m ( w i e A n m . 1 1 ) , S. 4 6 9 ; J o -

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seph SONNTAG, Schuld und Schicksal, 1919, S. 54 ff. Aber auch kritische Stimmen verwenden jene theatralische Sprache: Emil LUDWIG, Wilhelm der Zweite, München 1964, S. 321, dem das Motto „Welch Schauspiel! Aber ach ein Schauspiel nur!" vorangestellt ist, spricht von Hoftheaterstil. Vgl. auch Theodor PLIEVIER, Der Kaiser ging, die Generäle blieben, Berlin 1981, S. 316-322. So der Titel eines Sonderabdruckes aus der Deutschen Allgemeinen Zeitung vom 16.8. 1919 mit einer Stellungnahme des Unterstaatssekretärs Arnold Wahnschaffe. Abgedruckt in NIEMANN, Revolution (wie Anm. 42), S. 423 ff. Vgl. zum Hinter-

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sal" und „Schuld" sind die Schlagwörter, um die eine stilisierte Konfrontation zwischen Groener, Hindenburg und dem Generalstabschef des Kronprinzen, Friedrich Graf v. d. Schulenburg, entwickelt wurde.54 Erstere, Groener zumal, drangen demnach mit der Macht ihrer militärischen Autorität auf eine Abdankung des Kaisers und auch - zumindest Hindenburg - auf dessen Übertritt nach Holland. Schulenburg hingegen profilierte sich - zumindest in den einschlägigen Berichten - als Siegelbewahrer preußischer Traditionen, indem er das Verbleiben des Kaisers beim Heer forderte.55 Vor diesem Bühnenbild spielt Wilhelm II. in rechtfertigenden Darstellungen den Part des tragischen Helden. Der Kampf, der in der Realität nicht stattfand, wurde in die Seele des Herrschers transferiert. Karl Rosners suggestiver Bestseller „Der König" etwa beschreibt nichts weiter als Wilhelms II. „Seelenkämpfe" am 9. November, während der aktive Monarchist Ernst v. Eisenhardt-Rothe die „ungeheuren Erschütterungen" der „kaiserlichen Seele" beschwor und seine Ausführungen zum Thema mit der rhetorischen Frage beendete: „Welcher Dramatiker wird sich finden, diese Tragik je in Worte zu fassen". 56 Derartige Deutungs- und Verdrängungsversuche der Anhänger des Ancien Régime verweisen eindringlich auf die Symbolkraft der Kaiserflucht. Einerseits versinnbildlichte jenes demütigende Ereignis den vergleichsweise abstrakten Vorgang der Abdankung, andererseits war es umstrittenes Objekt der Kämpfe um politische Deutungsmacht. Die Flucht Wilhelms II. wurde schnell zur Chiffre im symbolischen Bürgerkrieg der Weimarer Republik. In der Thematisierung des Ereignisses spiegelte sich die Enttäuschung über das Versagen desjenigen,

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grund der Beschreibung von „politics as theatre" im wilhelminischen Deutschland: David BLACKBOURN, Populists and Patricians. Essays in Modern German History, London 1987, S. 249 ff. Vgl. Anm. 52 sowie die bezeichnenden Titel des Werkes „Kaiser Wilhelm II. Schicksal und Schuld", Göttingen 1962 von Wilhelm SCHÜSSLER, sowie SONNTAG, Schuld (wie Anm. 52). Hierzu vor allem die vielzitierte Denkschrift vom 7.12. 1918 von Schulenburg selbst, abgedruckt in NIEMANN, Revolution (wie Anm. 42), S. 325-331, die zunächst in der kommunistischen „Die Freiheit" erschien. Vgl. Joachim v. STÜLPNAGEL, 70 Jahre meines Lebens, Nachlaß v. Stülpnagel, BA-MA Freiburg, N5/27, S. 159. Karl ROSNER, Der König. Weg und Wende, Stuttgart/Berlin 1921, passim; EISENHARDT-ROTHE, Der Kaiser am 9. November! Eine Klarstellung nach noch nicht veröffentlichtem Material, Berlin 1922, S. 40.

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durch den sich viele repräsentiert fühlten, sie verwies aber auch noch einmal ausdrücklich auf die Person des letzten Kaisers. Letztendlich zählte in Spa der kaiserliche Wille, einen anderen als den eingeschlagenen Weg zu gehen. Daran, daß dieser Wille nicht vorhanden war, konnten auch wohlwollende Beobachter nicht vorbeigehen: „Ein König muß mehr als ein Mensch sein!"57 behauptet der Spa-Zeitzeuge Joachin v. Stülpnagel in seinen Erinnerungen. Dem Auftreten des Kaisers an diesem Tage könne man nur menschlich gerecht werden, geschichtlich nicht. Unstrittig war die Wirkungsmacht der kaiserlichen Flucht: „Daß der Kaiser geflohen sei, war der gehässigste und wirksamste der gegen mich erhobenen Vorwürfe, die mir in Versammlungen, Presse und Privatgesprächen unausgesetzt entgegenströmten", klagte bezeichnenderweise auch Kuno Graf Westarp, konservativer Parteiführer und einer der letzten Herolde der Monarchie nach 1918. Auf der Linie Westarps waren sich die Verteidiger des Kaisers - und der Monarch selbst - einig über die verheerenden Folgen der Flucht für das monarchische Bewußtsein: „Der Fluch, der auf Wilhelm II. lastet und ihn in den Augen des Volkes unmöglich macht, ist [...] die angebliche feige Flucht und Desertion nach Holland" glaubte etwa Josef Sonntag.58 Allerdings, so argumentierte nicht nur Sonntag, seien diese Beschuldigungen des Kaisers haltlos. Wilhelm II. habe „gewiß nicht als legendärer Gewaltmensch gehandelt, aber als guter Deutscher," so der ehemalige Pressechef des Auswärtigen Amtes Otto Hammann, indem er sich auf den angeblich durch den Fortgang Wilhelms II. vermiedenen Bürgerkrieg bezog. 59 „Wenn vielleicht die Monarchisten im Interesse des monarchischen Gedankens Grund haben mögen, zu beklagen, daß der Kaiser nicht den Entschluß gefaßt hat, zu bleiben - das deutsche Volk, das ihn der Flucht angeklagt, müßte ihm tief dankbar für das Opfer sein, das der Kaiser ihm gebracht hat", argumentierte einer der umtriebigsten Anhänger der Monarchie, Edgar v. Schmidt-Pauli. 60

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Stülpnagel forderte ein Handeln des Kaisers „aus eigenem Willen" - ohne Berater. Vgl. STÜLPNAGEL, 70 Jahre ( w i e Anm. 55), S. 147 f.

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SONNTAG, Schuld (wie Anm. 52), S. 45 Wilhelm II. verwendet in seinen Erinnerungen einigen Raum auf die Erwiderung des Fluchtvorwurfs. WILHELM II., Ereignisse und Gestalten 1878-1918, Leipzig 1922, S. 245 f. Otto HAMMANN, Bilder aus der letzten Kaiserzeit, Berlin 1922, S. 134. SCHMIDT-PAULI, Kaiser (wie Anm. 52), S. 284. Sonntag resignierte: „Das Opfer ist umsonst gewesen". SONNTAG, Schuld (wie Anm. 52), S. 59.

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Durchaus inkonsistent angesichts des gepriesenen „Königsopfers" wurde zudem hervorgehoben, daß der Kaiser beim Heer habe bleiben wollen und erst auf Drängen seiner Berater - vor allem Hindenburgs nach Holland gegangen sei. Von Feigheit könne keine Rede sein. Schließlich habe nicht der Kaiser das Heer, sondern dieses - in der Abstimmung der 39 Offiziere manifestiert - ihn verlassen: Die Flucht bleibe am Kaiser haften, „weil der Volksverstand [...] sich immer an das Sinnliche, Augenfällige und Äußerliche hält", so Sonntag.61 Den wenigen, welche die Entscheidung Wilhelms II. vorbehaltlos verteidigten, standen diejenigen gegenüber, für die der „9. November" die Schwächen des monarchischen Systems bestätigte. In seiner Schrift über „Die Abdankung" beschwor der linksliberale Ludwig Herz unter der Überschrift „Dies Irae" die Symbolkraft der Flucht: „Die Stunde war gekommen, in der die Rechnung für eine dreißigjährige verfehlte Politik dem Herrscher vorgelegt wurde, der sein eigener Kanzler und sein eigener Generalstabschef hatte sein wollen. Die Rechnung mußte bezahlt werden, er mußte sie selbst zahlen." Ähnlich wie später die dezidierten Republikaner Emil Ludwig oder Johannes Ziekursch argumentiert Herz, daß nur der freiwillige Tod des Herrschers die Konsequenz aus der Situation des November 1918 habe sein können, wenn er beklagt, daß der 9. November „herandämmerte", ohne „daß in Spaa das geschehen wäre, was geschehen mußte". 62 „Mit dem romantischen Ideale des Herrschers, das Wilhelm II. zu verkörpern suchte", so Herz, „stimmt das klägliche Ende schlecht zusammen". 63 Sehr deutlich wird hier, wie vermeintlich adlig-monarchische Ideale sich in den Augen der liberal-republikanischen Öffentlichkeit zum Bumerang entwickelten. Imperiale Beteuerungen, wie etwa Wilhelms II. Credo, „ein Nachfolger Friedrichs des Großen dankt nicht ab" oder vergleichbare martialische Postulate des Herrschers, aber auch generell ein über 30 Jahre hinweg zur Schau getragener Habitus, wurden zum Nennwert genommen.64 Weit stärker noch als bei Herz 61 62 63 64

Ebd., S. 71. HF.RZ, Abdankung (wie Anm. 51 ), S. 53. Ebd., S. 71. Wilhelm II. zu Hugo Graf v. Lerchenfeld-Koefering, zit. u.a. in REVENTLOW, Potsdam (wie Anm. 11), S. 472. Auf ähnliche Weise zum Nennwert genommen wurde der unter Bezugnahme auf seinen Vorfahren Albert Achillles getätigte Ausspruch Wilhelms II.: „Ich kenne keinen reputierlicheren Ort zu sterben, als in der Mitte meiner Feinde" von 1891. Vgl. Johannes ZIEKURSCH: Politische Geschichte des Neuen Deutschen Kaiserreichs. Bd. 3. München 1930, S.443 und WENDEL, Karikatur (wie Anm. 49), S. 117.

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führte dies in Ludwigs stilbildender Wilhelm-Biographie und Ziekurschs vielbeachteter „Deutscher Geschichte" zu einer Vulgarisierung vermeintlicher feudaler Ideale - vor allem in der expliziten Forderung nach dem Königstod - denen der Kaiser nicht entsprochen habe.65 Die Durchschlagskraft derartiger Argumente zeigte sich noch einmal im ständigen Rückgriff auf selbige in den hochemotionalen Debatten um die „Fürstenenteignung". Die Agitation der Volksentscheidbefürworter speiste sich zu nicht unerheblichen Teilen aus der Kritik an den als üppig empfundenen Verhältnissen des Ex-Kaisers in Doorn und einer ohne Hemmungen ins Lächerliche gezogenen Präsentation der Flucht nach Holland.66 Mit Genugtuung prophezeite Maximilian Harden: „Daß der Erste Bundesfiirst, der König von Preußen, aus dem Felde über die Grenze floh, wird selbst der gestern ihm anhänglichste Offizier und Lehnsmann niemals verzeihen".67 Gerade diesem Vorwurf versuchte sich eine Fluchtdeutung, die auf die Institution Monarchie abhob, zu entziehen. Die Flucht des letzten Trägers der Krone sei letztendlich irrelevant, da Amt und Inhaber getrennt werden müßten. Daß dies „vor allem die dazu berufenen Schichten damals nicht verstanden, war ein nationales Unglück, das sich meines Erachtens bitter gerächt hat. Ein Mann mochte zurücktreten, die Idee aber mußte gerettet werden" bedauerte beispielsweise Stülpnagel.68 Nicht selten wurden aus dieser Einsicht - gerade auch von Adligen - weit radikalere Schlußfolgerungen gezogen. Ehemals oder immer noch überzeugte Monarchisten attackierten gerade als solche die Flucht Wilhelms II.: „Im ganzen Volk und besonders in den 65

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ZIEKURSCH, Geschichte (wie Anm. 64), S. 442 f. und - ein „altpreußisches Hurra" fordernd - LUDWIG, Wilhelm (wie Anm. 52), S. 328 f. „Wilhelm II. ist aus seiner Staatsstellung bei Nacht und Nebel geflohen. Damit hat er sich selbst der Anrechte [auf sein Vermögen, M.K.] begeben" formulierte typischerweise ein „Frauenstimme" iiberschriebenes Flugblatt 1925, in: Rijksarchief Utrecht, R14, Nr. 662. Regelmäßig wurde eine Verbindung zwischen dem hohen Lebensstandard in Doorn und der „feigen Flucht" gezogen. Vgl. auch Lamar CECIL, Wilhelm II. Bd. II., Chapel Hill 1996, S. 332. Maximilian HARDEN in: Die Zukunft, 23.11. 1918. Nahezu identisch: HOHENLOHE, Leben ( w i e A n m . 30), S. 3 6 3 ; SCHÜSSLER ( w i e A n m . 54), W i l h e l m II.,

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S . 121. STÜLPNAGEL, 70 Jahre (wie Anm. 55), S. 11. Vgl. auch SCHREYER, Monarchismus und monarchistische Restaurationsbestrebungen in der Weimarer Republik, in: Jahrbuch fur Geschichte 29 (1984), S. 291-320, hier: S. 297 und Friedrich FRHR. HILLER V. GAERTRINGEN, Monarchismus in der deutschen Republik, in: Michael Stürmer, Die Weimarer Republik. Belagerte Civitas, Königstein/Ts. 1980, S. 254271, S . 260.

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monarchistischen Kreisen ist Seine Majestät ganz außerordentlich durch den 9. November belastet", beobachtete Schulenburg.69 Das kaiserliche Verhalten ließ sich auch von Loyalisten kaum überzeugend vermitteln: „[...] der der Führer hätte sein sollen, der Kaiser, suchte sein Heil in der Flucht, so daß selbst noch der Rest derjenigen, die noch dem Obersten Kriegsherrn und Monarchen die Treue zu halten und sich zu opfern bereit waren, sich verlassen sahen", lamentierte der durchaus moderate Prinz Alexander zu Hohenlohe.70 „Kein Wort der Kritik ist für diesen Abgang zu herb. Wilhelms II. Vorgehen war unköniglich, unsoldatisch und geeignet der Dynastie und dem monarchischen Gedanken den Todesstoß zu versetzen", schrieb Der Tag.11 Desillusioniert und enttäuscht sahen viele Monarchisten in der Flucht eine endgültige Bestätigung für die Schwächen des Kaisers. Daß dieser zu wenig König von Preußen und zu sehr deutscher Kaiser gewesen sei, effektives Regieren zu sehr zugunsten von Äußerlichkeiten vernachlässigt habe, der Vorwurf „innerer Schwächlichkeit" und viele weitere der Topoi der Kaiserkritik von rechts finden sich in der Kritik an der Flucht wieder.72 Reventlow, einer der schärfsten Kaiserkritiker im neurechten Lager, argumentierte folgerichtig, daß eine direkte Linie von Wilhelms II. Thronbesteigung zu dessen Flucht führe, und gelangte zu dem Urteil: „Die ganze Summe der Regierangszeit Wilhelms II. ballte sich vernichtend zusammen am 9. November 1918. Das Erbe war vertan." Reventlow selbst zog für sich die Konsequenz einer endgültigen Ablösung von der Monarchie und propagierte nicht erst nach 1933 die Notwendigkeit einer durchsetzungsfahigen Führerfigur.73 69

Schulenburg an Müldner v. Mülnheim [Adjutant des Kronprinzen Wilhelm], 29.7. 1919, Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, 90 Mu 1 Nachlaß Müldner von Mülnheim, Bd. 1, fol. 158f.

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HOHENLOHE, Leben ( w i e Anm. 30), S. 381

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Der Tag. 29.11. 1918. Dies gilt insbesondere fur eine grundlegende Kritik an den vermeintlichen Auswüchsen des Wilhelminismus. Durch sein Verhalten erscheint der Kaiser ein letztes mal als Vemichter spezifisch preußischer Werte. Dieser Vorwurf kurz nach dem 9.11. 1918 selbst bei KESSLER, Tagebuch (wie Anm. 1), S. 10 u. 12. Reventlow spricht von „Innerer Schwächlichkeit": REVENTLOW, Potsdam (wie Anm. 11), S. 470. Vgl. auch: REIBNITZ, Doorn (wie Anm. 30), S. 88, HOHENLOHE, Leben (wie Anm. 30), S. 348 f. sowie WERNER, Abgesang (wie Anm. 5), S. 51. REVENTLOW, Potsdam (wie Anm. 11), S. 466 u. 478. Zur Führerforderung durch Reventlow vgl. dessen Werk - eine Antwort auf die Novemberkrise 1908 - „Der Kaiser und die Monarchisten", Berlin 1908, S. 1 ff. Zur Instrumentalisierung der Kaiserflucht durch die Nationalsozialisten: Martin KOHLRAUSCH: Die Deutung der Flucht Wilhelms II. als Fallbeispiel der Rezeption des wilhelminischen Kaiser-

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Paul v. Hoensbroech, der schon 1919 mit einem äußerst kaiserkritischen Pamphlet im konservativen Lager für Furore gesorgt hatte, wehrte sich in einer Nachfolgeschrift gegen den Vorwurf, er habe der Monarchie geschadet: „Um freie Bahn zu haben zur Verteidigung der Monarchie, muß man den Mut, ja die Rücksichtslosigkeit besitzen, einen zufalligen Träger der Krone, [...] der die Krone zum Nachteil der Monarchie getragen hat, zu verurteilen, ihn gleichsam von sich zu tun [...], denn ohne die Preisgabe des Kronenträgers würde einem der betreffende unfähige Monarch, hier Wilhelm 2., stets entgegengehalten werden". 74 Diese Haltung ist als Indikator von einiger Bedeutung. Die Abdankung Wilhelms II. und vor allem die Art und Weise, wie diese zustande kam, wird als Chance begriffen. Hoensbroechs Aufruf „Zurück zur Monarchie", so der Titel des zitierten Bandes, heißt dann nicht viel mehr als „weg von der Demokratie" und hin zu einer autoritären, auf eine Person ausgerichteten Staatsform. Was nun bedeutet dieses Spektrum der Fluchtdeutung für das Verhältnis der bürgerlichen und adligen Eliten zum ehemaligen Kaiser? Ein idealisiertes Herrscherbild war durch die Flucht derartig verletzt worden, daß ein mentaler Ablösungsprozeß vom Monarchen befördert wurde, der mehr als die bloße Abdankung Wilhelms II. reflektierte. Bisher zurückgehaltene bzw. marginalisierte Kritik an Wilhelm II. wurde gleichsam zur herrschenden Meinung und der ehemalige Monarch auch in adligen Kreisen zur persona non grata. Mehr noch, die Rede vom „Versager auf dem Thron" erleichterte vielen pragmatisch Denkenden ihre politische Neuorientierung - sei es in republikanische oder später in die nationalsozialistische Richtung. „Der Kaiser hat seinen Fahneneid gebrochen [...]. Jetzt bindet euch kein Eid mehr", rief Reventlow nicht nur seinen Standesgenossen zu.75 Hier allerdings trennte sich die gemeinsame Erfahrung. Notwendigerweise war der Adel in seiner Stellung durch sein spezifisches Näheverhältnis zum Herrscher stärker als das Bürgertum auf die Fortexistenz der Monarchie angewiesen. Notwendigerweise büßte er mit dem turns, in: Wolfgang Neugebauer/Ralf Pröve (Hg.): Agrarische Verfassung und politische Struktur. Studien zur Gesellschaftsgeschichte Preußens 1700-1918, Berlin 1998, S. 3 2 5 - 3 4 7 , hier: S. 340. 74 75

Paul GRAF V. HOENSBROECH, Zurück zur Monarchie, Berlin 1919, S. 3 f. REVENTLOW, Potsdam (wie Anm. 11), S. 467. So argumentierte Groener aus der vorgeblichen Enttäuschung über die Flucht: „Mit einem solchen Monarchen hatte ich nichts mehr zu tun, das ging über alle meine monarchische Überzeugung". Dorothea GROENER-GEYER, General Groener. Soldat und Staatsmann, Frankflirt a. M. 1 9 5 4 , S. 1 9 3 .

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Sturz der Monarchie seine gesellschaftliche Sonderposition ein. Aus der adligen Umgebung des Kaisers lassen sich folgerichtig viele Belege persönlichen Schmerzes und Verlustes liefern. So beklagte Wilhelms II. Adjutant Oskar v. Chelius den „armen, armen Kaiser, dem mein Leben gehörte", Eberhard Graf v. Schwerin, Augenzeuge in Spa, berichtete, er sei nach der Nachricht von der bevorstehenden Abreise des Kaisers zusammengebrochen, und Dietlof Graf Arnim-Boitzenburg schrieb im Januar 1919: „Mir ist noch immer so, als ob ich ohne unseren Kaiser und König nicht leben könnte". 76 Flucht und Abdankung fallen hier in der Erfahrung der Zeitgenossen zusammen. Freilich waren durch die Kaiserflucht zu offensichtlich Werte verletzt worden, die zumindest der ostelbische Adel, hier zumal die von Marcus Funck identifizierten Militärclans, als für sich konstitutiv begriff. 77 Gerade diejenigen aber, die noch immer nach Doorn blickten und nach Erklärungen fragten, wurden durch kaiserliches Selbstmitleid enttäuscht.78 Während die ältere Generation hofnaher Aristokraten, jene, die direkt oder indirekt noch durch einen idealisierten Wilhelm I. geprägt worden waren, sich hierdurch kaum in einem gewissermaßen selbstverständlichen Monarchismus beirren ließ, verlangten Anhänger der mittleren und jüngeren Generation nach einer Rechtfertigung des kaiserlichen „Versagens".79 76

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Chelius an Fürstenberg am 25.11. 1918, zit. nach HULL: Entourage (wie Anm. 12), S. 306. Erinnerungen von Graf Eberhard v. Schwerin, abgedruckt in: NIEMANN, Revolution (wie Anm. 42), S. 455-463, hier S. 459; zu Arnim-Boitzenburg: Schreiben von Dietlof Graf v. Arnim Boitzenburg vom 15.12. 1918 und 26.1. 1919 in: Landesarchiv Magdeburg, Außenstelle Wernigerode, Rep H Karow, Nr. 220, fol. 72. u. 98. Für den Hinweis danke ich Stephan MALINOWSKI. Vgl. den Beitrag von Marcus FUNCK in diesem Band. Dies war der Tenor der Erinnerungen WILHELMS II. ( w i e A n m . 58). REVENTLOW

bezeichnete Wilhelms II. Erinnerungen als „den schwersten Schlag für den monarchischen Gedanken", in: Der Reichswart Nr. 47 v. 25.11. 1922. Zur negativen Aufnahme der Erinnerungen des Ex-Kaisers und des Kronprinzen: FRANZ, Monarchisten (wie Anm. 40), S. 169 f. und Sigurd v. ILSEMANN, Der Kaiser in Holland. Aufzeichnungen des letzten Flügeladjutanten Kaiser Wilhelms II. aus Amerongen und Doorn 1918-1923, München 1967, Bd. I, S. 264. Paul v. Hintze kommentierte die Feier des 70. Geburtstages Wilhelms II. mit der Bemerkung: „C'est le ridicule que tue". Zit. nach: Johannes HÜRTNER, Paul von Hintze: „Marineoffizier, Diplomat, Staatssekretär." Dokumente einer Karriere zwischen Militär und Politik 1903-1918, Göttingen 1998, S. 110. Auch HERZ, Abdankung (wie Anm. 51 ), S. 77 f. vermißt bei Wilhelm II. jeglichen Ansatz zur Selbstkritik. Dieses Phänomen zeigt sich schon in der Abdankungskrise. Vgl. die Tagebuchaufzeichnungen Hintzes vom 29.10. 1918, in: HÜRTNER, Hintze (wie Anm. 78), S. 656. Zur Kritik der jüngeren Generation vgl. Dankwart GRAF V. ARNIM,

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Um dieses Phänomen zu erhellen, lohnt ein kurzer Blick auf die sehr heterogenen Varianten der Vorstellung vom notwendigen Königstod. Grundsätzlich zu unterscheiden sind die diffusen Pläne, die vor dem 9. November kontempliert wurden, und die Verselbständigung des Themas in dem der Kaiserflucht folgenden Diskurs. Entlang Bismarckscher Vorgaben wollen Berater des Kaisers Anfang November 1918 den Tod des Kaisers im Kampf gegen die Revolution geplant haben.80 Staatssekretär Clemens Delbrück hatte sich vorgeblich zu diesem Zweck schon von Berlin aus auf den Weg nach Belgien gemacht, während das Tagebuch des Oberst Albrecht v. Thaer für den 5. November von Vorbereitungen für einen „kleinen Spezialangriff' berichtet, der dem Kaiser den „Soldatentod" erlauben sollte.81 Ebenso wie Thaer und dessen Offizierskollegen will der ehemalige Reichskanzler Georg Michaelis die Idee eines Herrschers, der „selbst den Degen [...] ziehen" müsse, propagiert haben. 82 Gemeinsam haben diese vermeintlichen Aktivitäten lediglich, daß sie durch die Quellenlage nur sehr bedingt überprüfbar sind.83 Bemerkenswerter sind dagegen, nicht zuletzt für diesen Kontext, die vielzähligen Varianten, in denen der publizistisch eingeforderte Königstod während der Weimarer Republik wiederkehrte. Grundtenor war die, sich nicht selten loyalistisch gebende, zweckrational motivierte vorgebliche Überzeugung, nur durch ein „heroisches Ende" hätte der Kai-

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Ais Brandenburg noch die Mark hieß, Berlin 1991, S. 115, Marion GRÄFIN DÖHNHOFF, Bilder, die langsam verblassen. Ostpreußische Erinnerungen, Berlin 1989, S. 36, und Ottfried G R A F V. FINCKENSTEIN, Nur die Störche sind geblieben. Erinnerungen eines Ostpreußen, München 1994, S. 103. „Die feste Stütze der Monarchie suche ich [...] in einem Königtum, dessen Träger entschlossen ist, in kritischen Zeiten lieber mit dem Degen in der Faust auf den Stufen seines Thrones für sein Recht zu kämpfend zu fallen, als zu weichen", hatte Bismarck 1886 in einem „Lehrbrief an Prinz Wilhelm angemahnt. Das Zitat findet sich in fast allen Abhandlungen zum 9. November. Vgl. etwa: Joachim v. KÜRENBERG (alias Joachim v. Reichel), War alles falsch? Das Leben Kaiser Wilhelms II, Bonn 2 1952. Zu den Königstodplänen vgl. generell CECIL, Wilhelm II. (wie Anm. 66), S. 290. Zu Delbrück vgl. LUDWIG, Wilhelm (wie Anm. 52), S. 327. THAER, Generalstabsdienst (wie Anm. 46), S. 251 f. Vgl. auch HEYE, Lebenserinnerungen (wie Anm. 48), S. 471. Zum Plan von Michaelis dessen Sohn: Wilhelm MICHAELIS, Zum Problem des Königstodes am Ende der Hohenzollemmonarchie, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 13 (1962), S. 695-704. Die Problematik der Quellen ist sehr überzeugend herausgearbeitet bei KAEHLER, Untersuchungen (wie Anm. 43), S. 285 ff.

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ser die Monarchie retten können. Groener etwa vermutete kurz nach dem Krieg, dieser Fall hätte einen Umschwung der öffentlichen Meinung bewirkt.84 Bezeichnenderweise reklamierte er die Urheberschaft am „Königstodplan" noch einmal in einem von ihm selbst angestrengten Ehrengericht für sich. Der ehemalige Generalquartiermeister konterte auf diese Weise einen vorrangig von adligen Offizieren (v. d. Schulenburg) vorgebrachten „Defätismusverdacht" im Rückblick auf den 9. November 1918.85 Allerdings ist äußerst fraglich, ob das Herrscherverständnis, welches in der Forderung nach dem Königstod zutage tritt, wie Groener behauptet, als traditionell - d.h. der monarchischen Überlieferung entsprechend - bezeichnet werden kann. Zurecht hat Siegfried Kaehler in seinem einschlägigen Aufsatz darauf aufmerksam gemacht, daß es ausgerechnet der als Demokrat verschrieene homo novissimus Groener war, der am entschiedensten, auch öffentlich, für diese Lösung eingetreten sei.86 Und ebenso bemerkenswert sind die Argumente, die Groener bemüht. Der Kaiser müsse die Konsequenz aus dem verlorenen Krieg ziehen, er habe die Verpflichtung, sich um der „monarchischen Idee" willen zu opfern, und schließlich dürfe er sich nicht aus der „Schicksalsgemeinschaft des Volkes ausschließen".87 Auffallig ist hier die Instrumentalisierung der Person des Kaisers, wie sie zutage tritt in der Überlegung, den Königstod für die Anfeuerung einer Levée en masse zu nutzen, und wie sie vor allem in der Vorstellung eines für das Fortleben der Monarchie notwendigen Todes des Trägers der Krone, gleichsam eine Abwandlung der Lehre von den zwei Körpern des Königs, zum Tragen kommt. 88

84

Groener in einer öffentlichen Stellungnahme in der Kreuzzeitung, vom 2.2. 1919.

85

Vgl. HEYE, Lebenserinnerungen ( w i e A n m . 48), S. 4 7 8 f.

86

KAEHLER, Untersuchungen (wie Anm. 43), S. 286. Auch andere Verfechter des Gedankens - wie Heye und Michaelis - hatten einen bürgerlichen Hintergrund. Bemerkenswert ist zudem, wie präsent der Gedanke vom Königstod auch in der „bürgerlichen Flotte", im Kreis um Admiral Reinhard, war. Vgl. Willibald GUTSCHE, Wilhelm II., Der letzte Kaiser des deutschen Reiches, Berlin 1991, S.

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GROENER-GEYER, Soldat (wie Anm. 75), S. 96. Eine nahezu identische Auffassung findet sich bei Emst Jünger mit Bezug auf Wilhelm II., der König [!] habe die Pflicht zu sterben. „Das können die Unzähligen verlangen, die vor ihm in den Tod gingen." Emst JÜNGER, Der Kampf als inneres Erlebnis, Berlin 1922, S. 52. Andreas KRAUSE, Scapa Flow. Die Selbstversenkung der wilhelminischen Flotte, Berlin 1999, S. 143 ff.

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In den bemerkenswert verbreiteten, erstaunlich intensiven, wirklichkeitsfremden und romantischen Debatten über den von Wilhelm Π. geforderten „Königstod" beweisen zwar idealisierte adlige Selbstbilder noch einmal ihre Prägekraft, aber ebenso die Beliebigkeit ihrer Anwendung. Als Beispiel kann etwa die Vorstellung, der „Lehnsherr" dürfe seine Vasallen nicht verlassen, gelten, aber ebenso die vermeintliche preußische Tradition, die angeblich den Tod des Herrschers nach einem verlorenen Krieg nahelegte.89 Die Phantastereien über letzte Reiterattacken und Frontunternehmungen belegen eine Verselbständigung monarchischer und aristokratischer Ideologie sowie eine Vulgarisierung derselben. Jetzt erwiesen sich die ambitionierten, spezifisch wilhelminischen Vorgaben als Bumerang, ebenso wie jene hybride, stark ideologisierte Preußenmythologie, wie sie im Kaiserreich ausgeformt worden war, und den Träger der Krone genuin umschloß.90 Paradoxerweise kann daher gerade der ständige Verweis auf die „Tradition" als Indikator für eine massive Veränderung der Monarchierezeption dienen. Es paßt in dieses Bild, daß nur vereinzelte ältere Adlige darauf insistierten, daß die Königstodforderung gegenüber einem Monarchen nicht angemessen sei. Dies war letztendlich die Auffassung Hans v. Plessens, der diversen Berichten zufolge mit der Bemerkung: „Seine Majestät darf nicht in Lebensgefahr gebracht werden" die Königstodforderung in dieser Angelegenheit vorstellig gewordener Militärs abwehrte.^1 Mit einiger Verwunderung urteilte Herz „Anders [als in der Berliner Reichskanzlei, M.K.] abgetönt war allerdings die Ideenwelt im Hauptquartier. Hier lag die Betonung auf Kaiser, weniger auf Reich und noch viel mehr auf König und Preußentum, Unterordnung und Nachklang alter lehnsrechtlicher und ständischer Verfassungen [...]" 92 Für die jüngere Generation Adliger hingegen galten großenteils Haltungen und Einstellungen gegenüber dem Monarchen, die sich nurmehr sehr bedingt von denen Bürgerlicher in vergleichbaren Posi-

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Vgl. hierzu: Hans ROSENBERG, Friedrich der Große in den Krisen des siebenjährigen Krieges, in: Ders., Bismarck, der Osten und das Reich, Darmstadt 1960, S. 129-147. So insistierte selbst der Verteidiger Wilhelms II., Graf Westarp: „Das Urteil der Geschichte [...] kann an den König der Hohenzollerndynastie nur die höchsten Ansprüche stellen." WESTARP, Ende (wie Anm. 44), S. 172. Vgl. KAEHLER, Untersuchungen (wie Anm. 43), S. 290. Vgl. auch die Berichte bei Finckenstein über die Verteidigungsbemühungen der älteren Generation: FINCCKENSTEIN, Erinnerungen (wie Anm. 79), S. 103. HERZ, Abdankung (wie Anm. 51 ), S. 6 f.

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tionen unterscheiden lassen. Dies trifft zumal für das Offizierkorps zu, in dem der Vorwurf der „Fahnenflucht" besonders relevant war.93 Der Feststellung des notorischen Korvettenkapitäns Hermann Erhardt, die Monarchie sei für ihn und seine Offiziere „erledigt" gewesen, nachdem der Kaiser über die Grenze gegangen sei, lassen sich nur wenige Beispiele entgegenstellen,94 wenn auch die Erhardtsche Feststellung dahingehend zu korrigieren ist, daß es weit stärker die Person Wilhelms II. als die Institution Monarchie war, die durch die „Novemberereignisse" im Offizierkorps endgültig diskreditiert war. Diese Konstellation mußte gerade in einer Situation Bedeutsamkeit erlangen, in der die unreflektierte Legitimation, die der Institution Monarchie immanent war, der Person des Monarchen nicht länger zur Verfügung stand.95 Adlige und Bürgerliche teilten die Einsicht in den Mangel an geeigneten Thronprätendenten - Ernst Feder sprach von einem anonymen Monarchismus - ebenso wie die Überzeugung, daß ein solcher

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SCHREYER, Monarchismus (wie Anm. 6 8 ) , S. 3 0 8 . Bezeichnenderweise wehrte sich der Heidelberger Mediävist Karl Hampe in einer Auseinandersetzung mit Max Weber gegen den Vorwurf der „Desertion". Folker REICHERT, Max Weber im Ersten Weltkrieg, in Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 89 vom 17.4. 1999. Vgl. a. Anm. 7 9 . Zit. nach Johannes ERGER, Der Kapp-Lüttwitz-Putsch. Ein Beitrag zur deutschen Innenpolitik 1919/1920, Düsseldorf 1967, S. 20. Vgl. auch Hermann SCHREYER, Monarchismus (wie Anm. 68), S. 292. Zur Ablösung des Offizierkorps, insbesondere der jüngeren Offiziere, von Wilhelm II. vgl. die aussagekräftigen Beispiele bei Wilhelm DEIST, Zur Geschichte des preußischen Offizierkorps 1888-1918, in: Ders., Militär, Staat und Gesellschaft. Studien zur preußisch-deutschen Militärgeschichte, München 1991, S. 45 f., der davon spricht, der oberste Kriegsherr sei fur die Offiziere ein „belangloses Phänomen" geworden. Zur Ablösung der Offiziere vom Kaiser vor dem 9.11. 1918 auch die Mitteilung von Siegfried A. Kaehler in einem Brief an Meinecke vom 22.1. 1919, in: Friedrich ME[NECKE, Ausgewählter Briefwechsel, hg. v. Ludwig Dehio und Peter Classen, Stuttgart 1962, S. 332. Anstelle der Loyalität zum Herrscher war die Nation zum Bezugspunkt geworden, der auch eine insbesondere im Adel lange überdauernde spezifisch preußischmonarchische Loyalität überlagerte. Vgl. BOCKENFÖRDE, Recht, S. 309 f. Zur Loyalitätsverschiebung von der Monarchie zur Nation im Offizierskorps vgl.

GUTH, Loyalitätskonflikt (wie Anm. 43), S. 40 f. 95

In diesen Kontext gehört die merkwürdige Tatsache, daß der Kaiser seine Memoiren verfassen zu müssen glaubte, nicht zuletzt um hier dem Vorwurf der „feigen Flucht" entgegenzutreten. Bis dato war ein solches Vorgehen für gekrönte Häupter durchaus unüblich und belegt somit erneut nicht nur die Profanisierung des Monarchen, sondern auch den selbstverständlich gewordenen Rechtfertigungsdruck. Insofern steht die Deutung der Flucht sichtbar in der oben aufgezeigten Kontinuität der Monarchenrezeption unter Wilhelm II. Vgl. Anm. 78.

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„von den breiten Schultern des ganzen Volkes getragen" werden müs-

III. Die Ablösung vom Monarchen als gemeinsame adlig-bürgerliche Erfahrung

Die neuen Anforderungen an den gemäß dem Verfassungsverständnis des 19. Jahrhunderts unverantwortlichen Monarchen erscheinen als Konsequenz aus der neoabsolutistischen Attitüde Wilhelms II. und dessen vollständigen Stilwandel in der Herrscherdarstellung.97 Durch ihr ununterbrochenes öffentliches Hervortreten war die Person Wilhelms II. zur „konkreten Abstraktion"98 der monarchischen Idee in Deutschland geworden und hatte das Kaiseramt über die Grenzen der traditionellen konstitutionellen Unverletzlichkeit hinausgedrängt. Dieses Hervortreten - das durchaus strukturelle Gründe hatte - unterwarf den Monarchen einer Leistungserwartung, die in ihrer Übersteigerung Enttäuschung fast zwangsläufig herausforderte: „Der Tag kann kommen, an welchem dem seine Persönlichkeit stets in den Vordergrund stellenden Monarchen alle Schuld und alle Verantwortung allein zugeschoben und dadurch für die Krone eine direkte Gefahr heraufbeschworen wird" trug der Hofmarschall Robert v. Zedlitz-Triitschler 1904 in sein Tagebuch ein.99 Prophezeiungen, daß der Kaiser wegen der starken Betonung seiner Machtstellung einmal zur Flucht gezwungen sein würde, finden sich bezeichnenderweise schon kurz nach dessen Regierungsantritt.100

Schulenburg an Müldner v. Mülnheim, 8.12. 1919, Zit. nach: SCHREYER, Monarchismus (wie Anm. 68), S. 296. Ernst FEDER, Artikel „Republik oder Monarchie", in: Berliner Tageblatt, Nr. 504 vom 24.10. 1919. Zur Kronprätendentenfrage vgl. HILLER V. GAERTRINGEN, M o n a r c h i s m u s ( w i e A n m . 6 8 ) , S . 2 5 7 . 97

Hierzu der klassische Text von Friedrich Julius STAHL, Das monarchische Prinzip. Eine staatsrechtlich-politische Abhandlung, Berlin 1845. Vgl. auch Christoph SCHÖNBERGER, Das Parlament im Anstaltsstaat, Zur Theorie parlamentarischer Repräsentation in der Staatsrechtslehre des Kaiserreichs (1871-1918), Frankfurt a. M. 1997, S. 83 ff. und 216 ff.

9 8

KAEHLER, U n t e r s u c h u n g e n ( w i e A n m . 4 3 ) , S . 3 0 1 .

99

Robert V. ZEDLUZ-TRÜTZSCHLER, Zwölf Jahre am deutschen Kaiserhof, Berlin/Leipzig 1924, S. 66

1 0 0

V g l . KOHLRAUSCH, D e u t u n g ( w i e A n m . 7 3 ) , S . 3 3 1 .

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Darüber hinaus trug die hybride, unter tatkräftiger Mithilfe Wilhelms II. immer wieder popularisierte, Vorstellung des omnikompetenten Herrschers nicht unerheblich zur Konstruktion eines Führerversprechens bei, das sich spätestens seit 1908 nicht mehr ausschließlich an der Figur des Monarchen festmachte.101 Diese Entwicklung kulminierte im massiven Verfall des kaiserlichen Ansehens nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs und dem gleichzeitigen Einsetzen des Hindenburg-Mythos. Auf die Gründe für den Legitimitätsverlust Wilhelms II. im Krieg und dessen Ausdrucksformen einzugehen, würde hier zu weit führen. Bernd Sösemann hat am Beispiel der „Deutschen Gesellschaft 1914" darauf aufmerksam gemacht, wie maßgebliche gesellschaftliche Kreise fast aller politischen Richtungen spätestens ab 1915 schockiert feststellten, daß von Wilhelm II. weder die im Krieg dringend gebotenen Regelungsleistungen innerhalb des Militärs, zwischen Militär und Politik, innerhalb der Politik, ja nicht einmal mehr repräsentativer Natur erbracht werden konnten. 102 Der Kaiser, so zeigte sich, war nicht nur der von Harden gescholtene „Guillaume le Pacifique", sondern auch insofern ein Friedenskaiser, als er zwar in idealer Weise die Prosperitätserfolge der Vorkriegsjahrzehnte zu symbolisieren verstand, andererseits aber kaum in der Lage war, angemessen auf die Kriegssituation zu reagieren, ganz zu Schweigen von seiner

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Die Forderung nach einem Führer wird im späten Kaiserreich immer lauter, der Bezug auf die Person des Monarchen bleibt freilich uneindeutig. Vgl. etwa: Hermann ONCKEN, Der Kaiser und die Nation. Rede bei dem Festakt der Universität Heidelberg zur Erinnerung an die Befreiungskriege und zur Feier des 25-jährigen Regierungsjubiläums Kaiser Wilhelms II., Heidelberg 1913. Ein extremes Beispiel für die Ablösung vom Monarchen, die in der Forderung nach einem neuen Führerstil, wenn nicht nach einem neuen Führer zum Tragen kommt bietet das Kapitel „Der Kaiser als Führer", in: David FRYMANN, (d. i. Heinrich Claß), Wenn ich der Kaiser wär'. Politische Wahrheiten und Notwendigkeiten, Leipzig s 1914, S. 227. Vgl. auch den Artikel „Cäsarismus" in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hg. v. Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck, Bd. I., S. 726-771, hier: S. 728 u. 756. Bernd SÖSEMANN, Der Verfall des Kaisergedankens im Ersten Weltkrieg, in: Röhl, Ort (wie Anm. 21), S. 145-172, hier: S. 153 ff. Insbesondere die Entlassung Alfred v. Tirpitz' erregte nachhaltige Verstimmung: „Tirpitz dismissal was a milestone in the disaffection of the German right [...] from the Kaiser [...] and the monarchic system". So jüngst: Raffael SCHECK, Alfred von Tirpitz and the German Right-Wing Politics 1914-1930, New York 1998, S. 43.

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Unfähigkeit, die Rolle eines Obersten Kriegsherrn auszufüllen. 103 Diese Einsichten machten selbst vor dem inner circle des hofnahen Adels nicht halt. Das Mitglied des Herrenhauses Ernst v. Hertzberg-Lottin etwa beklagte 1917 den „falschen Royalismus" seiner Fraktionsgenossen, die zu sehr Rücksicht auf den Monarchen nähmen. 104 Innerhalb der zunehmend nervösen Eliten, denen bis dato, trotz aller Enttäuschungen, die Kombination aus Heer und Kaiser als Stabilitätsausdruck galt, wurde die hervorgehobene Rolle des monarchischen Herrschers zunehmend in Frage gestellt; etablierte Kaiserkonzepte wurden modifiziert. „Die gebildeten, wohlhabenden Kreise waren aufs Äußerste besorgt um den Fortbestand unserer Monarchie", hieß es 1917 in einer Mitteilung an die OHL. 105 Diktaturmodelle hatten Konjunktur, „aber das [die Errichtung einer Diktatur; M.K.] geht nicht, wenn man einen Monarchen hat" schrieb Karl v. Einem 1915 resigniert in sein Tagebuch. 106 In seiner Eigenschaft als Führer der Nationalliberalen stellte Gustav Stresemann am Tag der Entlassung Ludendorffs folgerichtig fest: „Ich bin der Meinung, daß von unserem Standpunkt aus die Abdankung des Kaisers eher zu ertragen sein würde als das Gehen von Hindenburg".107 In Hindenburg stand ein Prätendent bereit, auf den sich breiteste Kreise zu einigen vermochten. Bemerkenswert ist, daß dieser die in ihrer Totalität unerwartete militärische Niederlage des Reiches ohne „Imageschaden" überstehen konnte, während der Kaiser für selbige verantwortlich gehalten und mit dieser assoziiert wurde. Hindenburg hatte, lapidar gesagt, all die Vorzüge, die der Kaiser nicht besaß. In dem Resümee „Von Spa nach Weimar" argumentierte Gerhard Schulze-Pfaelzer entlang eines gängigen Interpretationsmusters: „Niemand käme auf die Idee, den Mann, der jenseits aller Parteien steht, zur Verantwortung zu ziehen." Hindenburg, der durch sein Alter altpreußische Zeiten repräsentiere, wird als „vom Schicksal erwählter Patriarch" 103

Vgl. Die Ursachen des deutschen Zusammenbruchs im Jahre 1918, unter Mitarbeit v. Eugen Fischer und Walter Bloch i. A. des Vierten Untersuchungsausschusses, hg. v. Albrecht Philipp, Berlin 1925, Bd. 5, S. 130 f. Wilhelm DEIST, Kaiser Wilhelm II. als Oberster Kriegsherr, in: Röhl, Ort (wie Anm. 21), S. 25-42. Zu Bethmann Hollwegs Idee eines Volkskaisertums vgl. FEHRENBACH, Wandlungen (wie Anm. 24), S. 218.

104

RETALLACK, N o t a b l e s ( w i e A n m . 30), S. 219.

105

Bericht des Majors v. Weiß, zit. nach DEIST, Innenpolitik II, Nr. 332, S. 846 f. Anm. 5. Ebd., Nr. 425 u. Nr. 1136. Gustav STRESEMANN, Vermächtnis, Bd. 1, Berlin 1932, S. 13.

106 107

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bezeichnet.108 Die Anklänge an den idealisierten Wilhelm I. sind hier überdeutlich, aber auch das Gegenbild zu Wilhelm II. entlang der eingeübten Kontrastierung mit dem späten Bismarck. 109 „Hindenburgs Nimbus" sei nicht von oben gemacht worden, sondern der Feldherr durch „freien Wunsch und Willen des Volkes auf den Schild gehoben" worden. „Darin", so Schulze-Pfaelzer, „liegt schon etwas Volksmonarchisches".110 Deutlich tritt hier die eingangs beschriebene Überzeugung zutage, daß der Monarch sein Amt durch Leistung und vorbildliches Auftreten legitimieren müsse. Die Gegenüberstellung des königlichen „Versagers" mit „echtem Führertum" knüpft, dies zeigt sich nicht zuletzt bei Harden, an eine Linie der Kritik an, die schon im Kaiserreich virulent war. 111 Nach der Wahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten erst wurde deutlich, wie vollständig sich der Ablösungsprozeß von Wilhelm II. vollzogen hatte. Walther Lambach, der 1928 in einem aufsehenerregenden Artikel das Dogma der legitimistisch-monarchischen Orientierung der DNVP aufbrach, stellte fest, neben der „Größe" Hindenburgs sei der „Nimbus" der „lebenden Hohenzollem" in sich zusammengesunken. Nicht sie, sondern Hindenburg habe den Platz neben Wilhelm I., Friedrich dem Großen und dem großen Kurfürsten erhalten. Hindenburg sei zwar zunächst nur als bloßer Statthalter des Monarchen gedacht gewesen, habe sich aber als „Träger eigener Größe" herausgestellt: „Der hinter dem Reichspräsidenten aufragende Schatten des Kaisers und Königs, der jeden anderen überragt hätte, überragte einen Hindenburg nicht mehr", behauptete Lambach. 112 Wenn der Staatsrechtler Freiherr v. Freytag-Loringhoven mit Genugtuung feststellte, daß sich durch die Präsidentschaft Hindenburgs der „Führergedanke" 108

109

Gerhard SCHULZE-PFAELZER, Von Spa nach Weimar. Die Geschichte der deutschen Zeitenwende. Leipzig/Zürich 1929, S. 34. Es paßt ins Bild, daß Theodor Eschenburg von der Figur Hindenburg nicht nur als von einem „Ersatzkaiser" sondern auch von dem „heimlichen, aber wirklichen Kriegskaiser" gesprochen hat. Theodor ESCHENBURG, Die improvisierte Demokratie. Ein Beitrag zur Geschichte der Weimarer Republik, in: Ders., Die improvisierte Demokratie. Gesammelte Aufsätze zur Weimarer Republik, München 1964, S. 53, 31. Wulf WÜLFING/Karin BRUNS/Bernd PARR, Historische Mythologie der Deutschen 1798-1918, München 1991, S. 181 f.

1 1 0

SCHULZE-PFAELZER, S p a ( w i e A n m . 1 0 8 ) , S . 3 3 .

111

Zur Forderung nach Führertum schon im Kaiserreich s. Anm. 73. Vgl. a. Paul v. ROHRBACH, Monarchie, Republik und politische Parteien in Deutschland, Stuttgart 1920, S. 5 ff. Walther LAMBACH, Politische Wochenschrift fur Volkstum und Staat 4 ( 1 9 2 8 ) ,

112

S. 4 9 5 - 4 9 7 .

Die Flucht des Kaisers

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im gewählten Staatsoberhaupt verwirkliche, wird vollends deutlich, wo die Defizite des abgedankten Monarchen lagen. 113 Die spontanen Ausdrucksformen des Hindenburg-Kultes deuten auf eine tiefverwurzelte Popularität, die in vielem an den BismarckMythos erinnert und Defizite der gescheiterten Kaiserkonzepte aufzeigt. 114 Der Kanzler und der Feldmarschall a.D. boten reine Projektionsflächen für die symbolische Vergegenwärtigung nationaler Einigkeit und Stärke. Daß sich die Grenzen der Akzeptanz Hindenburgs gerade im konservativen Lager schnell zeigten, nachdem der Feldmarschall die politische Bühne betreten hatte, bestätigt nur diesen Befund. Wie auch die Kritik an Hindenburg aus dem monarchischen Lager und aus Doorn, die sich vor allem an dessen Rolle am 9. November festmachte, nur den Erfolg des „Konkurrenzkultes" unterstreicht.115 Nur mühsam konnte Mitte der zwanziger Jahre der Bruch zwischen dem Generalfeldmarschall und seinem Obersten Kriegsherren mittels eines durchsichtigen Formelkompromisses kaschiert werden. Indem Hindenburg eine unspezifizierte „Mitverantwortung" an den Ereignissen des 9. November öffentlich akzeptierte, glaubte man in Doorn die Popularität des Feldmarschalls für die eigene Sache instrumentalisieren zu können. 116 Wilhelm II. habe sich demnach nach „furchtbarem inneren 113 114

115

116

Politisches Handwörterbuch (Führer-ABC), hg. v. M. WEIß, Berlin 1928, S. 944. Vgl. Peter FRITZSCHE, Presidential Victory and Popular Festivity in Weimar Germany: Hindenburg's 1925 Election, in: Central European History 23 (1990), S. 205-224 und Rolf PARR, „Zwei Seelen wohnen, ach! In meiner Brust". Strukturen und Funktionen der Mythisierung Bismarcks, München 1992, S. 89 f. Zu den gescheiterten Kaiserkonzepten vgl. John RÖHL, Defizite des Kaiser-Konzepts. Wilhelm II. im Wandel der politischen Institutionen und Politikfelder nach Bismarcks Entlassung, in: Heinz Reif (Hg.), Adel und Bürgertum in Deutschland I. Entwicklungslinien und Wendepunkte im 19. Jahrhundert, Berlin 2000, S. 331355. „Der allverehrte Generalfeldmarschall und sein Generalquartiermeister haben vor Gott und der Geschichte zu verantworten, was sie am 9. November, dem dunkelsten Tag deutsch-preußischer Geschichte, ihrem kaiserlichen Herrn geraten und gemeldet haben", kritisierte Schulenburg in einer Denkschrift vom 26.8. 1919, abgedruckt in NIEMANN, Revolution (wie Anm. 42), S. 350-365, hier S. 365. Eie sehr ähnlich begründete Kritik findet sich noch bei HUBER, Verfassungsgeschichte (wie Anm. 40), S. 668 f. Vgl. Wilhelm II. an Dommes, 21.8. 1922, abgedruckt in: ILSEMANN, Aufzeichnungen (wie Anm. 78), Bd. I., S. 317. Vgl. auch ein in hoher Auflage erschienenes „Merkblatt", welches das „Schuldeingeständnis" Hindenburgs publik machen sollte: Rijksarchief Utrecht, Bestand Wilhelm II., unsortiert, sowie den Abdruck des frühen Briefwechsels zwischen Hindenburg und Wilhelm II. in dessen Erinnerungen (wie Anm. 58), S. 249.

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Kampf dazu durchringen können, seinen „Thron zum O p f e f zu bringen. Seine Entscheidung, das Heer zu verlassen, sei nur auf Drängen seiner Berater, insbesondere Hindenburgs, zustande gekommen. 117 Die Versuche, Hindenburg mit der Verantwortung für die Flucht zu belasten, fugen sich ein in den Kampf um die Deutung der Flucht und unterstreichen, wie brisant und delikat das Thema auch lange nach dem 9. November 1918 noch war. Es bleibt aber festzuhalten, daß die Doorner Bemühungen zwar die Prominenz des Ereignisses in der öffentlichen Meinung bezeugen, zu keinem Zeitpunkt aber eine Neubewertung der Flucht herbeiführen konnten. Vielmehr veranschaulicht die im Ganzen unkoordinierte „Fluchtbewältigung" nach 1918, wie stark die Spaltungen innerhalb der monarchischen Rechten waren.118 Als Wilhelm II. versuchte, Hindenburg zur Rechenschaft zu ziehen, indem er den Rat des Feldmarschalls über seinen eigenen vorgeblichen Willen stellte, bestätigte der Kaiser implizit jenes verkehrte Verhältnis zwischen Monarchen und militärischem Führer, welches sich in den Köpfen schon wesentlich früher festgesetzt hatte.119 Potentielle Loyalitätskonflikte wurden mit der durch das Ende der Monarchie eingetretenen Orientierungslosigkeit nunmehr virulent. Um den Kaiser zu schützen, hätte die Schuld auf Hindenburg, den Hoffnungsträger der monarchischen Sache, geschoben werden müssen. Dessen Erfolg als

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Hindenburg an Wilhelm II. am 2 8 Juli 1 9 2 2 , abgedruckt in NIEMANN, Revolution (wie Anm. 4 2 ) , S. 4 7 2 . Zur „Fluchtbewältigung" von Doorn aus vgl. die „Notizen über die Vorgänge im Oktober und November", welche Sigurd v. Ilsemann für das Hohenzollern'sche Hausministerium in Berlin verfaßte, Rijksarchief Utrecht, Bestand Wilhelm II., unsortiert. Vgl. auch die - freilich fruchtlosen - Versuche einer Koordinierung der monarchistisch-loyalen Bemühungen von Friedrich v. Berg und später Magnus v. Levetzow. Berg richtete 1926 auf „Allerhöchste Ordre" eine Propagandastelle zur „Bearbeitung der Presse bis weit nach links ein", deren Ziel es sei, „der ungezügelten Agitation der Linksparteien [...] einen Damm entgegenzusetzen." Zit. nach: John C.G. RÖHL, Der „Königsmechanismus" im Kaiserreich, in: Ders., Kaiser (wie Anm. 21), S. 116-141, hier Anm. 10 (S. 254). In den Monaten zuvor hatte im Zusammenhang mit der Fürstenenteignung das Thema der „Kaiserflucht" eine enorme Brisanz erhalten. Vgl. Rijksarchief Utrecht, R14, Nr. 662. Levetzow arbeitete direkte Richtlinien aus, mit denen der "Doorner H o f die Flucht verteidigen sollte: Gerhard GRANIER: Magnus von Levetzow. Seeoffizier, Monarchist und Wegbereiter Hitlers. Lebensweg und ausgewählte Dokumente. Boppard/Rhein 1982, S. 345 ff. So notierte etwa v. Einem im Weltkrieg mit Genugtuung, daß sich Wilhelm II. gegenüber Hindenburg „ehrerbietig" gezeigt habe. DEIST, Innenpolitik (wie Anm. 105), Nr. 425, S. 1137.

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einzige schichtenübergreifende Integrationsfigur aber machte ihn fiir die Eliten so attraktiv, nachdem offensichtlich geworden war, daß es dem angestammten Herrscher unmöglich war, eine Massenloyalität zu binden. Hier scheint der Kern des neuen Leistungsparadigmas zu liegen, dem Hindenburg zunächst so hervorragend zu entsprechen schien bzw. dessen Vorhandensein zumindest durch den Kult um Hindenburg indiziert wurde. IV. Resümee In der im Hindenburgmythos manifestierten Ablösung vom Kaiser scheiterten die Kaiserkonzepte der wilhelminischen Eliten endgültig, nachdem im November 1918 die Institution Monarchie beseitigt worden war. Dieses doppelte Scheitern ist als Vermischung paralleler Prozesse zu verstehen. Zum einen veränderten sich strukturell die Erwartungen an den Herrscher hin zum Leistungsvorbehalt. Zum anderen schritt konkret eine kontinuierliche Ablösung von der Person Wilhelms II. fort. Beide Prozesse waren eng miteinander verwoben, was in der Kritik der Flucht Wilhelms II. nach Holland deutlich hervortritt. In der Hilflosigkeit und gleichzeitigen Radikalität der Fluchtkritik, d. h. Herrscherkritik, spiegelt sich ein stark idealisiertes Bild des omnipräsenten und omnikompetenten Monarchen, dem die Person Wilhelms II. im Rückblick nicht zu entsprechen vermochte. Es zeigte sich aber auch, wie sehr Wilhelm II. „den Erfolg in seine Legitimationsgrundlagen" aufgenommen hatte.120 Die Lücke, die zwischen monarchischer Prägung und Enttäuschung durch die Herrscherfigur entstand, offenbarte sich nicht nur im Hindenburgkult, sondern konkret in der Einforderung eines Diktators bzw. Führers. In dem „Schrei nach dem Diktator", wie Friedrich Everling „das Sehnen des Volkes nach seinem König" zu verorten, und wie Westarp das „Kaiserreich der Zukunft" zu propagieren, mochte als Formel zur Beruhigung der Loyalisten taugen, politisch blieb dies Augenwischerei, die aber die Brücke vom enttäuschten Monarchismus zu gesellschaftlichen Ordnungsentwürfen, die mit den ehemaligen Kaiserkonzepten nurmehr sehr wenig gemein hatten, nicht verdecken konnte.121 120

121

Zu den starken cäsaristischen Elementen des wilhelminischen Kaisertums vgl. Artikel „Cäsarismus" (wie Anm. 101), S. 768 ff, Zitat ebd., S. 769. Zit. nach Roswitha BERNDT, Monarchisch-restaurative Organisationen im Kampf gegen die bürgerlich-parlamentarische Staatsform der Weimarer Republik, in: Je-

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In diesem Kontext ist auf den jüngst von Klaus Schreiner beschriebenen politischen Messianismus hinzuweisen, definiert als Sehnsucht „nach einem starken Mann, der, ausgestattet mit der Autorität und dem Sendungsbewußtsein eines messianischen Führers, in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft eine Wende zum Besseren herbeifuhrt." 122 In ihrer Intensität können diese Sehnsüchte wohl nur vor dem Hintergrund eines schon lange vor dem 9. November 1918 „vagabundierender Monarchismus" verstanden werden - wie er etwa im Kaiserbuch von Heinrich Claß auftrat. 123 Anklänge an die überzogenen wilhelminischen Versprechungen sind in den messianischen Phantasien nach 1918 deutlich zu erkennen: „Daß das Problem der Führerschaft und Gefolgschaft [...] einem Volke, das durch Krieg und Revolution seine bisherigen politischen Führerschaften auf allen Lebensgebieten zum Teil beraubt ist, auf der Seele brennen muß, das ist selbstverständlich", glaubte etwa Max Scheler.124 Wenn selbst der Adjutant des Kronprinzen, Ludwig Müldner v. Mülnheim, 1923 konstatierte, daß ein solcher Führer „augenblicklich noch kein Hohenzoller sein kann, sondern nur irgendein Mann mit fester Hand und einem mehr oder weniger gut sitzenden Cut", unterstreicht dies noch einmal die Ablösung von der Hohenzollernmonarchie, von der Monarchie überhaupt bis weit in den Kern des ostelbischen Adels hinein.125 Auch für den Großteil des Adels war der Herrscher eine politische Größe neben anderen gewor-

naer Beiträge zur Parteingeschichte 43 (1978), S. 26 Anm. 33 und Walter H. Kaufmann, Monarchism in the Weimar Republic, New York 1953, S. 172. 122 Klaus SCHREINER, „Wann kommt der Retter Deutschlands?" Formen und Funktionen des politischen Messianismus in der Weimarer Republik, in: Saeculum. Jahrbuch fur Universalgeschichte 49 (1998). S. 107-160, hier: S. 108. 123 FRYMANN, Kaiser (wie Anm. 101), S. 219 ff. Der von einer konkreten Person losgelöste Kaisergedanke bekam nach 1918 eine eigenartige Konjunktur. Vgl. etwa die Vielzahl monarchischer Artikel zum 27.1. 1919. Man denke auch an die Beschwörung eines „heimlichen Kaisers" im George Kreis und in diesem Kontext an Ernst KANTOROWICZ, der in „kaiserloser Zeit" seine stark mythisierende Biographie Kaiser Friedrichs II. schrieb. Das Zitat findet sich in der Vorbemerkung zum Werk. Vgl., Ders., Kaiser Friedrich, Berlin 2 1928. 124 Max SCHELER, Vorbilder und Führer, in: Ders., Zur Ethik und Erkenntnislehre, Berlin 1933, S. 151. Vgl. auch die Überlegungen zur Etablierung des „Führergedankens" im „Vakuum eines monarchenberaubten Staates" in: Karl Dietrich BRACHER/Wolfgang SAUER/Gerhard SCHULZ, Die nationalsozialistische Machtergreifung. Studien zur Errichtung des totalitären Gesellschaftssystems in Deutschland 1933/34, Köln/Opladen 2 1962, S. 24. 125 Müldner am September 1923. Zit. nach SCHREYER, Monarchismus (wie Anm. 68), S. 318

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den, die ihre Stellung beständig zu rechtfertigen hatte. Diese Entwicklung bestätigten paradoxerweise selbst jene Monarchisten, die - bei aller internen Kritik am Monarchen - entsprechend dem Leistungsparadigma ihre Energie hauptsächlich darauf verwandten, das Verhalten des Monarchen zu rechtfertigen. In dieser Transformation ehemals monarchischer Loyalität in alternative politische Bindungen läßt sich das Gegensatzpaar Adel und Bürgertum als Kategorie kaum mehr ertragbringend verwenden. Vielmehr präsentiert sich hier das Ergebnis einer langfristigen Angleichung der Einstellungen zum Monarchen, die sich im Weltkrieg massiv beschleunigte, und in der Ablösung vom Monarchen und in der äußerst aktiven Hinwendung zu Ersatzobjekten der Erwartungsprojektion, wie vor allem Hindenburg, als vollzogen gelten kann. Zweifelsohne war der Weg, den der Adel in diese Angleichung zu gehen hatte, weiter und mit größeren Verlusterfahrungen verbunden als der Bürgerlicher.126 Ohne Monarchie, d.h. ohne preußischen König, war zumindest der ostelbische Adel langfristig nicht existenzfähig. Diese Wahrheit hat derselbe in großen Teilen in ihrer vollen Tragweite realisiert. Die respektive Enttäuschung äußerte sich gerade im Diskurs über die Flucht Wilhelms II., während die Fluchtrezeption gleichsam als Vehikel den adligen Frontenwechsel erleichterte. Wenn auch die andauernde Verbindlichkeit des „Symbols Doorn" für die ältere Generation nicht unterschätzt werden sollte, so handelt es sich hier doch um ein zunehmend oberflächliches Phänomen. 127 In der 126

Das Ende der Monarchie habe den Familien des Adels „von heute auf morgen die Grundlage entzogen" klagte mit typischem Tenor etwa Rudolf-Christof FRHR. V. GERSDORFF, Soldat im Untergang, Frankfurt a.M. 1979, S. 26. Vgl. die vielfältigen Belege insbesondere für den ostelbischen Adel bei ROGALLA V. BIEBERSTEIN, Adel (wie Anm. 6), S. 248 f. und jetzt reflektiert bei Marcus FuNCK/Stephan MALINOWSKI, Geschichte von oben. Autobiographien als Quelle einer Sozial- und Kulturgeschichtegeschichte des deutschen Adels in Kaiserreich und Weimarer Republik, in: Historische Anthropologie 7 (1999), S. 236-270, hier v. a. S. 260266.

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Die Trauer äußerte sich regelmäßig stark nostalgisierend und wurde sentimental vorgetragen. Vgl. etwa die Klage Oldenburg-Januschaus, es sei „eine Welt" eingestürzt, mit allem „was der Inhalt meines Lebens gewesen war" und was seine Eltern ihn von „Kindesbeinen an zu verehren gelehrt" hätten. Elard V. OLDENBURG-JANUSCHAU, Erinnerungen (wie Anm. 36), S. 208. Typischerweise wurde bei adligen Familienfeiern etc. des Kaisers gedacht, ohne das hieraus eine monarchistische Aktivität abgeleitet wurde. Vgl. die Erinnerungen von Alexander STAHLBERG, Als Preußen noch Preußen war. Erinnerungen, Berlin/Frankfurt a. M. 1992, S. 94 u. 131; Philipp Franz FÜRST z u SALM-HORSTMAR, Ein fürstliches Le-

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jüngeren Generation Adliger wurden überkommene Loyalitäten nahezu hinfällig. 128 Einen solchen Schluß legt zumindest die Gruppe deijenigen nahe, die den Ex-Kaiser mit der Königstoderwartung konfrontierten. Hier konnte die Ablösung vom Monarchen von Bürgerlichen und Adligen unisono mit der ausgebliebenen „Leistungsprobe" Wilhelms II. begründet werden. Dementsprechend läßt sich in den monarchischen Vereinigungen der Weimarer Republik keine nennenswerte adlige Überrepräsentation feststellen, während in der aufstrebenden völkischen Bewegung Adlige wiederum durchaus keine Seltenheit waren. 129 Spätestens seit dem November 1918 war der „nationale Gedanke", nicht mehr die Dynastie, gerade für junge Adlige der wesentliche Bezugspunkt.130 In dieser Entwicklung zeigt sich, wie politisch inhaltsleer und widersprüchlich Leitbilder, die um Wilhelm II. kreisten, geworden waren. Die zugkräftige Idee eines Volkskaisertums blieb immer eine Illusion, die nicht zuletzt am Inhaber des Amtes scheiterte. Insofern bestätigt die Rezeptionsgeschichte der Flucht die Paradoxie des wilhelminischen Kaisertums. Wilhelms II. Interpretation des Kaisertums wurde nicht zuletzt deshalb scharf angegriffen, weil der Kaisergedanke seine Integrationskraft entfaltet hatte und vor seinem eigenem Verfechter in Schutz genommen werden sollte. Diese Überlegung verweist noch einmal auf die hohen Erwartungen zumal der bürgerlichen Eliten an Wilhelm II. als Integrationsfaktor, die in ihrer Tragweite darauf angelegt waren, enttäuscht zu werden. Freilich konnten derartige Erwartungen wiederum auf kaiserliche Vorgaben zurückgreifen, die insbesondere die Möglichkeit einer erfolgreichen Elitenintegration durch den Herrscher suggerierten. Wilhelm II. hatte, wenn auch nicht konsistent,

ben. Mein Leben, meine Arbeit, meine Erkenntnisse, Dülmen 1994, S. 281, Gerhard V. JORDAN, Unser Dorf in Schlesien, Berlin 1987, S. 203. 128

Vgl. HERZ, Abdankung ( w i e Anm. 51), S. 10.

129

Arne HOFMANN, „Wir sind das alte Deutschland, Das Deutschland wie es war..." Der „Bund der Aufrechten" und der Monarchismus in der Weimarer Republik, Frankfurt a. M. u. a. 1998, S. 60 f. kann sogar nachweisen, daß die Werbeversuche des Bundes der Aufrechten in adligen Kreisen ein ausgesprochener „Mißerfolg" waren. Vgl. auch: BERNDT, Organisationen (wie Anm. 121), S. 15-27, hier insbesondere S. 18 ff. Im Gegensatz zu diesen Befunden steht die - freilich unbelegte - These bei ROGALLA V. BIEBERSTEIN, Adel (wie Anm. 6), S. 259, der Adel habe „in der Monarchie nach wie vor das Heil gesehen." Zur Präsenz Adliger in den völkischen Bewegungen siehe den Beitrag von Stephan MALINOWSKI in diesem Band.

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HILLER V. GAERTRINGEN, M o n a r c h i s m u s ( w i e A n m . 6 8 ) , S . 2 6 2 .

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durchaus Ansätze, eine Reichselite unter ausdrücklicher Einbeziehung der technischen und wirtschaftlichen Eliten zu schaffen, gezeigt. Sein Interesse als Monarch, angewiesen auf eine möglichst breite Legitimitätsbasis und mit der Vorgabe konfrontiert, die Gesellschaft umfassend zu repräsentieren, stand in diesem Punkt allerdings diametral den Interessen der etablierten Gruppen - d. h. vornehmlich des Adels - entgegen. Wenn letzterer sich gegen die spätestens seit 1908 sichtbare schleichende Demontage des Monarchen nicht entschiedener zur Wehr setzte als andere Gruppen, verweist dies auch auf die Einsicht in die immer offensichtlicher werdende Aporie der eigenen Monarchiekonzepte.131 Diese Konzepte setzten auf das Überleben eines Herrschers, der gezwungen war bzw. sich gezwungen glaubte, die Basis der Monarchie über Preußen hinaus zu verbreitern, den Hof zu öffnen und seine Amtsführung in der Öffentlichkeit zu präsentieren und bewerten zu lassen, mithin die Monarchie als Institution in der modernen Gesellschaft zu verankern. In diesem durchaus strukturell angelegtem Prozeß blieb für eine vielversprechende Neudefinition der adlig-monarchischen Geschäftsgrundlage - zumal für die hier in den Blick genommenen adligen Gruppen - nahezu kein Spielraum.

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Zeitgenossen erkannten diese Problematik durchaus: vgl. zum Dilemma des Monarchen: HOHENLOHE, Leben (wie Anm. 30), S. 358, zum adligen Dilemma: FRYMANN, Kaiser (wie Anm. 101), S. 212, der von einer „Zwickmühle" in welcher der Adel sich befinde, sprach.

AXEL SCHILDT

Der Putsch der „Prätorianer, Junker und Alldeutschen". > Adel und Bürgertum in den Anfangswirren der Weimarer Republik

I. Der Schock der Revolution In der Abendausgabe der Kreuzzeitung vom 9. November 1918 hieß es unter der Überschrift „Der Kaiser dankt ab": „Uns fehlen die Worte, um das auszudrücken, was uns in dieser Stunde bewegt. Unter der Wucht der Ereignisse hat die dreißigjährige Regierungszeit unseres Kaisers geendet, der stets das Beste für sein Volk gewollt hat. Das Herz jedes Monarchisten krampft sich zusammen bei diesem Ereignis."2 Tiefe Trauer, Lähmung, Apathie, Eskapismus und Hoffnungslosigkeit sowie Ängste vor dem Kommenden bis hin zu Panikreaktionen kennzeichneten die vorherrschende Stimmung in den alten Eliten3 nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs und dem sang- und klanglosen Abgang aller Dynastien4 im November 1918. Die Revolution wurde vom Adel wie von weiten Teilen des Bürgertums gleichermaßen als illegitime „Besitzergreifung der staatlichen Macht durch das Industrie-

Ernst TROELTSCH, Spektator-Briefe. Aufsätze über die deutsche Revolution und die Weltpolitik 1918/22. Mit einem Geleitwort von Friedrich Meinecke. Zusammengestellt und hg. von Hans Baron, Tübingen 1924, S. 118. Neue Preußische Zeitung (Kreuzzeitung; künftig zit. als NPZ) Nr. 574 vom 9.11. 1918. Vgl. Dieter GROH, Der Umsturz von 1918 im Erlebnis der Zeitgenossen, in: Hans Joachim Schoeps (Hg.), Zeitgeist der Weimarer Republik, Stuttgart 1968, S. 7-32, v. a. S.15f. Vgl. Helmut NEUHAUS, Das Ende der Monarchien in Deutschland, in: Historisches Jahrbuch, 111 (1991), S. 102-136.

Axel Schildt

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proletariat"5 wahrgenommen, und die Weimarer Republik galt den meisten Konservativen gleich welchen Standes als widernatürliches „System", das baldmöglichst zu überwinden sei.6 Werner von Rheinbaben hielt in seinen Erinnerungen als tiefen Eindruck fest: „Man sah keine Fürsten, keine Oberschicht, kein Bürgertum mehr, nur noch Massen."7 Aber noch mehr als für das Bürgertum handelte es sich für den Adel 1918 nicht nur um einen tiefgreifenden politischen Regimewechsel, sondern darüber hinaus gehend, sowohl materiell wie ideell, um den „Zusammenbruch einer Welt",8 die in der Wahrnehmung mancher Adliger vom „Mittelalter [...] bis 1918" gereicht hatte.9 Da die Bedeutung der Elitenkontinuität über 1918 hinweg10 als Faktor der Auflösung und Zerstörung der ersten deutschen Demokratie von großen Teilen der historischen Forschung hoch gewichtet wird,11 fallt es besonders auf, daß in den einschlägigen historischen Handbüchern und Überblicksdarstellungen, die ein Sachregister aufweisen, die

5

So Walther v. Altrock, langjähriger Generalsekretär des Landes-Ökonomie-Kollegiums, zit. nach Jens FLEMMING, Landwirtschaftliche Interessen und Demokratie. Ländliche Gesellschaft, Agrarverbände und Staat 1890-1925, Bonn 1978, S.

6

Vgl. Axel SCHILDT, Konservatismus in Deutschland. Von den Anfangen im 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 1998, S. 131 ff. Werner v. RHEINBABEN, Kaiser, Kanzler, Präsidenten, Mainz 1968, S. 165. Rheinbaben wurde 1920 auf der Liste der DVP in den Reichstag gewählt und war 1923 zeitweilig Staatssekretär in der Reichskanzlei. Francis L. CARSTEN, Reichswehr und Politik 1918-1933, Köln/Berlin 21965, S. 13; DERS., A History of the Prussian Junkers, Hants/Vermont 1 9 8 9 , S. 1 5 2 ; vgl. Arnold J. MAYER, Adelsmacht und Bürgertum. Die Krise der europäischen Gesellschaft 1 8 4 8 - 1 9 1 4 , München 1 9 8 8 ; Johannes ROGALLA V. BIEBERSTEIN, Adelsherrschaft und Adelskultur in Deutschland, Frankfurt/M. 1989, S. 290. Hans Olof V. ROHR, Qui Transtulit. Eine Stammreihe der von Rohr, Hannover 1 9 6 3 , S. 1 6 ; vgl. Johannes ROGALLA V. BIEBERSTEIN, Adel und Revolution 1918/19, in: Mentalitäten und Lebensverhältnisse. Beispiele aus der Sozialgeschichte der Neuzeit. Rudolf Vierhaus zum 60. Geburtstag, hg. v. Mitarbeitern und Schülern, Göttingen 1982, S. 243-259. Für den Staatsapparat als Überblick Wolfgang ELBEN, Das Problem der Kontinuität in der deutschen Revolution. Die Politik der Staatssekretäre und der militärischen Führung von November 1918 bis Februar 1919, Düsseldorf 1965. Vgl. etwa Henry Ashby TURNER JR., „Alliance of Elites" as a Cause of Weimar's Collapse and Hitler's Triumph?, in: Heinrich August Winkler (hg. unter Mitarbeit v. Elisabeth Müller-Luckner), Die deutsche Staatskrise 1930-1933. Handlungsspielräume und Alternativen, München 1 9 9 2 , S. 2 0 5 - 2 1 4 u. Wolfgang ZOLLITSCH, Adel und adlige Machteliten in der Endphase der Weimarer Republik. Standespolitik und agrarische Interessen, in: ebd., S. 239-256.

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Stichworte „Adel" und „Bürgertum" nicht verzeichnet werden12 und nur selten nach unterschiedlichen Reaktionen dieser Gruppen auf die Revolution gefragt worden ist. Dies liegt wohl teilweise daran, daß beide Begriffe äußerst heterogene soziale Gebilde kennzeichnen,13 die im 20. Jahrhundert kaum mehr trennscharf abgrenzbar zu sein scheinen. Nun hatten sich in der wilhelminischen Gesellschaft unzweifelhaft einige Annäherungen von Bürgertum und Adel ergeben; Zeitgenossen glaubten eine „adlig-bürgerliche Amtsaristokratie" (Otto Hintze, 1911) und insgesamt eine „sozial verschmolzene, politisch herrschende composite élite" zu erkennen.14 In manchen historischen Darstellungen wurde das Kaiserreich, die schon ältere These einer „Feudalisierung" des Bürgertums umdrehend, retrospektiv weitergehend modernisiert und sogar schlicht als „Gesellschaft des Besitzbürgertums"15 charakterisiert, in der preußische Traditionen schon längst untergegangen wären, als die Republik ausgerufen wurde. In dieser Perspektive erübrigte es sich, nach unterschiedlichen Reaktionen des Adels und Bürgertums auf die Novemberrevolution zu fragen. Erst in der jüngsten Forschung wird demgegenüber wieder die im Kaiserreich fortbestehende ökonomisch-soziale Distanz zwischen Adel und Bürgertum namentlich in Preußen hervorgehoben,16 ablesbar etwa an der doch relativ geringen Zahl an Nobilitierungen, an der Dominanz des Grundadels im Preußi12 13

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16

Vgl. etwa Eberhard KOLB, Die Weimarer Republik, München 21988. Die soziale und politisch-kulturelle Spannbreite des Adelsbegriffs im Deutschland des ausgehenden 19. Jahrhunderts wird idealtypisch angedeutet in der Gegenüberstellung eines westlich-grundherrschaftlichen und katholisch-zentrumsorientierten Adelstypus auf der einen und eines ostelbisch-gutsherrschaftlichen und royalistisch-konservativen Adelstypus auf der anderen Seite von Heinz REIF, Der katholische Adel Westfalens und die Spaltung des Adelskonservatismus in Preußen während des 19. Jahrhunderts, in: Karl Teppe (Hg.), Westfalen und Preußen, Paderborn 1991, S. 107-124. Hinzuweisen ist auch darauf, daß für die ostelbischen Provinzen die Begriffe „Adel" und „Junker" in diesem Zeitraum nicht mehr synonym waren, weil die Grenzen des adligen und bürgerlichen Großgrundbesitzes fließend geworden waren. Hartwin SPENKUCH, Das Preußische Herrenhaus. Adel und Bürgertum in der Ersten Kammer des Landtages 1854-1918, Düsseldorf 1998, S. 27, 29. Ernst-Wolfgang BÖCKENFÖRDE, Der Zusammenbruch der Monarchie und die Entstehung der Weimarer Republik, in: Karl Dietrich Bracher u.a. (Hg.), Die Weimarer Republik 1918-1933. Politik - Wirtschaft - Gesellschaft, Düsseldorf 1987, S. 17-43 (Zit. S. 22). Dolores L. AUGUSTINE, Die wilhelminische Wirtschaftselite, Phil. Diss. (FU) Berlin 1991; vgl. zuletzt Morten REITMAYER, „Bürgerlichkeit" als Habitus. Zur Lebensweise deutscher Großbankiers im Kaiserreich, in: Geschichte und Gesellschaft 2 5 ( 1 9 9 9 ) , S. 9 4 - 1 2 2 .

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sehen Herrenhaus17 und an den Bastionen des Adels in Diplomatie, staatlicher Verwaltung und im Militär. Sämtliche preußischen und deutschen Armeekorps hatten bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs adlige Kommandeure. In Preußen waren 1914 von 11 Staatsministern 8 adliger Herkunft, von 12 Oberpräsidenten waren es 9 und von 490 Landräten 270.18 Ungeachtet von Adaptionen einiger Züge adlig-höfischen Lebensstils im neuen Luxus des Wirtschaftsbürgertums existierten im übrigen viele formelle Gräben, welche die Kultur prägten. Sinnfällig wird dies durch das Schweriner Beispiel illustriert, wo es bis 1918 unterschiedliche Sitzplätze und Eingänge fur Adlige und Bürgerliche in Schloßkirche und Hoftheater gab.19 Mit solchen und wichtigeren Privilegien für den Adel war es nach 1918 vorbei - eine Wiener Zeitung resümierte lakonisch: „Blaublut ist kein guter Typ mehr".20 Genauer gesagt, in Deutschland verlor der Adel durch den Artikel 109 der Weimarer Reichsverfassung alle Vorrechte der Geburt, womit auch die Rangunterschiede im Adel selbst im öffentlichen Recht planiert wurden. „Deutscher Adel" bedeutete offiziell nur noch, daß dem „Familiennamen ein Adelsprädikat als Teil des Namens vorangestellt"21 war. Dies betraf in der Weimarer Republik nach unterschiedlichen Schätzungen 50.000 bis 100.000 Personen, wobei gerade der Verlust ständischer Privilegien zum starken Mitgliederzuwachs in kleinen regionalen und konfessionell gebundenen adligen Interessenorganisationen sowie in der überregionalen Deutschen Adelsgenossenschaft führte.22 Politisch orientierte sich der organisierte Adel an den Parteien der Rechten, vor allem an der Deutschnationalen 17 18

19

Spenkuch, Herrenhaus (wie Anm. 14), S. 153. Walter GÖRLITZ, Die Junker. Adel und Bauer im deutschen Osten. Geschichtliche Bilanz von 7 Jahrhunderten, Glücksburg 1956, S. 331. Joachim v. Dissow (d.i. Johann Albrecht v. Rantzau), Adel im Übergang. Ein kritischer Standesgenosse berichtet aus Residenzen und Gutshäusern, Stuttgart u.a. 1961, S. 69. Vgl. zu dieser Dimension adliger Höherwertigkeit Hans-Ulrich WEHLER, Einleitung, in: ders. (Hg.), Europäischer Adel 1750-1950, Göttingen 1990.

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ROGALLA v . BIEBERSTEIN, A d e l s h e r r s c h a f t ( w i e A n m . 8 ) , S. 3 2 .

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Iris FREIFRAU V. HOYNINGEN-HUENE, Adel in der Weimarer Republik. Die rechtlich-soziale Situation des reichsdeutschen Adels 1918-1933, Limburg 1992, S. 15; zu den genauen Regelungen ebd., S. 29 ff. Vgl. auch ebd., S. 11 ff. zur Definition des Adels bis 1918. Vgl. Georg Η. KLEINE, Adelsgenossenschaft und Nationalsozialismus, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 26 (1978), S. 100-143; Dieter FRICKE/Udo RößLiNG, Deutsche Adelsgenossenschaft 1874-1945, in: Dieter Fricke u.a. (Hg.), Lexikon zur Parteiengeschichte. Die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien und Verbände in Deutschland (1789-1945), Bd. 1, Köln 1983, S. 530-543.

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Volkspartei (DNVP), daneben an der Deutschen Volkspartei (DVP), für den katholischen Adel kam der rechte Flügel des Zentrums lind die Bayerische Volkspartei in Frage.23 Allerdings gab es eine erhebliche „mentale Reserve", die gegen ein adliges Engagement in den bürgerlich geprägten Parteien sprach.24 Viele Adlige zogen es vor, sich in überparteilich-konservativen Klubs zu sammeln, die seit 1919 vermehrt gegründet wurden, an erster Stelle in dem exklusiven, von Heinrich Freiherr v. Gleichen-Russwurm präsidierten Juniklub, wo sie mit wichtigen Vertretern des , jungkonservativ" bzw. „konservativ-revolutionär" gestimmten Bürgertums, mit führenden Kräften der DNVP, nationalistischer Wehrverbände usw. zusammentrafen, sowie im Nationalen Klub von 1919.25 Der Zusammenschluß der rechten Klubs, die sogenannte Ring-Bewegung, besaß numerisch nahezu eine Parität von Adel und Bürgertum. Von den 634 Mitgliedern des Deutschen Herrenklubs, der Ende 1924 das Erbe des Juniklubs antrat, sollen 42% Angehörige des Adels gewesen sein, im größten des an 13 Orten vertretenen Herrenklubs, in Berlin, waren es 55%.26 Diese Klubs boten wichtige Gesprächsorte für die Koordination gegenrevolutionärer Kräfte.27 Als Reaktion auf die Novemberrevolution standen zwei politische Tendenzen - sich ergänzend - nebeneinander. Im Vordergrund und weit verbreitet war die besonders von Offizieren, ob bürgerlicher oder adliger Herkunft, vorgebrachte Klage über die Feigheit des Bürgertums. Dem bürgerlich-württembergischen Generalquartiermeister Wilhelm Groener zufolge hatte es sich von einer „verschwindenden Minderheit" den Schneid abkaufen lassen, von einer „Handvoll Matrosen, denen das russische Gift" von Juden als den eigentlichen „Draht23

24

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26 27

Allerdings gab es ständig latente Gegensätze zwischen der mit Sozialdemokraten und Linksliberalen koalitionsbereiten Parteiführung des Zentrums und dem Verein katholischer Edelleute; vgl. Der katholische Adel und das Zentrum, in: NPZ, Nr. 123 vom 7.3. 1920. Wolfram PYTA, Dorfgemeinschaft und Parteipolitik 1918-1933. Die Verschränkung von Milieu und Parteien in den protestantischen Landgebieten Deutschlands in der Weimarer Republik, Düsseldorf 1996, S. 174. Vgl. nach wie vor Hans-Joachim SCHWIERSKOTT, Arthur Moeller van den Bruck und der revolutionäre Nationalismus in der Weimarer Republik, Göttingen u.a. 1962; Gerhard SCHULZ, Der „Nationale Klub von 1919" zu Berlin, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 11 (1962), S. 207-237; Joachim PETZOLD, Wegbereiter des deutschen Faschismus. Die Jungkonservativen in der Weimarer Republik, Köln 1978, S. 99 ff. HOYNINGEN-HUENE, Adel (wie Anm. 21 ), S. 99. Vgl. Fritz Günther v. TSCHIRSCHKY, Erinnerungen eines Hochverräters, Stuttgart 1972, S. 58 f.; FLEMMING, Landwirtschaftliche Interessen (wie Anm. 5), S. 226 f.

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ziehern" „eingespritzt war".28 Auf dieser Basis verstärkte sich wohl der traditionelle „antikapitalistische Affekt"29 in adligen Kreisen. In der Kreuzzeitung erschien am 1. März 1920 ein Artikel von Walter Freiherr v. Keyserlingk, in dem die Verbürgerlichung der Armee, der Weg zu „Mittelmäßigkeit und unsicherer Manneszucht", als wesentlicher Faktor für die Kriegsniederlage benannt wurde: „Die Gewähr für Durchdringung der durch den Waffendienst hindurchströmenden Massen des Volkes mit dem Geiste selbstloser Hingabe mußten die Führer, die Offiziere geben. Ihr Denken und Trachten war der Maßstab für das Ganze, die Erziehung hierzu die sich nach oben aufdrängende Aufgabe. Aus der Forderung der Abkehr von politischem Handeln entwikkelte sich jene Sonderstellung eines ideal denkenden Offiziersstandes, der in dem Gefühle der alleinigen Verpflichtung gegen den Monarchen und Kriegsherrn in der Anerkennung von Über- und Unterordnung Begriffe von Pflichterfüllung und Ehre in sich festigte, wie sie in der Geschichte der sittlichen Entwicklung der Menschen einzig dastehen. [...] Doch die Gefahr der Unterhöhlung blieb nicht aus. Der wachsende Zahlenbedarf seiner Mitglieder machte ein Übergreifen in Heranziehung des Ersatzes aus Kreisen notwendig, die mit Leib und Seele im Strom des tätigen Wirtschaftslebens standen."30 Und wie im militärischen Bereich sei es im zivilen Leben gewesen, stellte ein anderer Artikel des gleichen Blattes anläßlich der Beratungen im Reichskabinett über die Frage der Verleihung von Titeln31 fest, denn Ehrentitel seien „allzu häufig oder gar an ungeeignete Personen verliehen" worden: „Kein Zweifel, daß in den letzten Jahrzehnten der Geist des Mammonismus gerade hier gesündigt hat, wenn etwa reiche Stifter zu Ehrendoktoren ernannt oder in den Adelsstand erhoben wurden für Leistungen, deren Motiv lediglich die Erlangung solcher Titel und Würden war. Doch nicht derlei unerfreuliche Nebenerscheinungen, von denen schließlich keine menschliche Einrichtung frei ist, haben zum Kampf gegen die Titel geführt. Es war vielmehr das Prinzip der Demokratie oder - wie man sie vielfach richtiger nennen würde - der Egalité (und wir gebrauchen das Fremdwort für diesen dem germanischen Denken 28

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31

Brief von Wilhelm GROENER an seine Frau vom 17.11.1918, in: ders., Lebenserinnerungen. Jugend, Generalstab, Weltkrieg. Hg. von Friedrich Freiherr Hiller von Gaertringen, Göttingen 1957, S. 471 f. DLSSOW, Adel (wie Anm. 19), S. 25. Walter FREIHERR V. KEYSERLINGK, Widernatürlicher Soldatenstand, in: N P Z

Nr. 111 vom 1.3. 1920. Kabinettsitzung vom 30.12. 1919, in: Das Kabinett Bauer vom 21. Juni 1919 bis 27. März 1920 (Akten der Reichskanzlei. Weimarer Republik), bearb. v. Anton Golecki, Boppard am Rhein 1980, S. 500 f.

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fremden Begriff hier gern)". 32 Schließlich bleibt zu erwähnen, daß die bürgerlichen Parteien in der Kreuzzeitung Anfang März 1920 anläßlich der Beratungen der preußischen Landesversammlung über eine Abfindung für die Hohenzollern heftig kritisiert wurden, weil sie, abgesehen von der DNVP, dem „Raub am preußischen Königshause" nichts entgegenzusetzen hätten: „Der Pöbel mußte seine Brocken zugeworfen bekommen. [...] Das ganze Bild, der Zeit entsprechend: würdelos und gemein." 33 Aber neben antibürgerlichen Affekten adliger Kreise und aus dem Bürgertum selbst, man denke nur an Oswald Spenglers hemmungslose Haßtiraden gegen den Liberalismus, gegen das „innere England"34, lassen sich Stimmen ausmachen, die angesichts der katastrophalen Lage nun erst recht die Einheit von Adel und Bürgertum als den wichtigsten politischen und sozialen Kräften gegen den Bolschewismus beschworen, und es war kein Zufall, daß zu diesen Eduard Stadtler, einer der maßgeblichen Ideologen der „Ring"-Bewegung und Chefredakteur des Zentralorgans des Juniklubs, „Das Gewissen", gehörte. Ein „gesundes Bürgertum" als „Volkstum bindendes, Volkstum schaffendes, Volkstum tragendes" Element sollte, mit dem kleinen preußischen Soldaten- und Beamtenadel in enger Fühlung, die soziale Führung übernehmen, wie Stadtler noch in den 30er Jahren schrieb.35 Vorläufig führte die Bedrohung durch die Novemberrevolution zur stärkeren politischen Abschottung der agrarischen Provinzen vom Reich und bereits im Vorfeld der Gründung des Reichs-Landbundes zur Mobilisierung regionaler landwirtschaftlicher Organisationen, die von Interessenvertretern des Großgrundbesitzes dominiert wurden.36 Zwar hatte die Wahl zur Nationalversammlung im Januar 1919 einige Verluste für die Konservativen gezeitigt, die nun vor allem von den Deutschnationalen repräsentiert wurden, aber Unruhen und Streiks von Landarbeitern konnten schon im Ansatz erstickt werden. Symptomatisch scheint die Erzählung des Junkers Elard von Oldenburg-Janu32 33

34 35

36

Die Titelfrage, in: NPZ Nr. 21 vom 12.1. 1920. Der Raub am preußischen Königshause vor der Landesversammlung, in: NPZ Nr. 115 vom 3.3. 1920. Oswald SPENGLER, Preußentum und Sozialismus, München 1920, S. 102. Eduard STADTLER, Weltrevolutions-Krieg, Düsseldorf 1937, S. 154 ff.; vgl. auch ders., Die Diktatur der sozialen Revolution. Ein parteifreies Aktionsprogramm zur Überwindung der Anarchie in Deutschland, o.O./o.J. (Berlin 1920). Jens FLEMMING, Landwirtschaftliche Interessen (wie Anm. 5), S. 161 ff.; zu den regionalen Entwicklungen ebd., S. 1 9 8 ff; vgl. neuerdings Stephanie MERKENICH, Grüne Front gegen Weimar. Reichs-Landbund und agrarischer Lobbyismus 19181933, Düsseldorf 1998.

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schau, dem bei der Rückkehr auf sein ostpreußisches Gut „der Geist der Auflehnung" in Gestalt eines Knechtes begegnete: „In dem Gefühl, daß hier auf meinem eigenen Grund und Boden schnell, persönlich und kräftig gehandelt werden müsse, nahm ich einen handfesten Knotenstock und begab mich auf das Feld, wo auch der erwähnte Knecht arbeitete. Ich trat auf ihn zu, nahm ihn beim Ohr und fragte ihn: ,Wer regiert in Januschau?' Als er nicht antwortete, schrie ich ihn an: ,Ich hau dich in die Fress', daß du Kopp stehst.' Diese Sprache verstand er. Sein Mut verließ ihn, und er bezeichnete mich als den Herrn. Das gegenseitige Vertrauensverhältnis war wieder hergestellt. [...] Damit war die Revolte in Januschau erledigt." Nicht überall ging es wohl in der Form so schlicht zu, aber im Resultat festigten sich die überkommenen ostelbischen Besitz- und Machtstrukturen sehr rasch.37 II. Die Organisierung und das Scheitern der Gegenrevolution In den ostelbischen Provinzen entwickelte sich bereits 1919 eine „brisante Mischung" von „wirtschaftlichen Interessen der agrarischen Oberschicht" und „aggressiver nationalistischer Machtpolitik"38, die umgehend zur konterrevolutionären Bewaffnung drängte und ein zuverlässiges Hinterland für die Gegner der Weimarer Republik entstehen ließ.39 Die Aufmerksamkeit der Reichsregierung galt währenddessen zuvörderst den dramatisierten Gefahren von links. Hierzu paßte das auf Karl Marx und Friedrich Engels zurückreichende Diktum, mit dem Kurt Tucholsky am 8. Mai 1919 einen seiner Artikel in der Weltbühne 37

38

39

Elard v. OLDENBURG-JANUSCHAU, Erinnerungen, Leipzig 1936, S. 208 f.; als Beispiel für ein etwas dezenteres, aber gleichwohl ähnlich selbstbewußtes Auftreten Sieghart GRAF ARNIM, Dietlof Graf Arnim-Boitzenburg (1867-1933). Ein preußischer Landedelmann und seine Welt im Umbruch von Staat und Kirche, Limburg 1998. Helge MATTHIESEN, Konservatives Milieu in Demokratie und Diktatur. Eine Fallstudie am Beispiel der Region Greifswald in Vorpommern 1900-1990, Phil. Diss. Göttingen 1998, S. 59. Vgl. diesbezüglich die einstimmig angenommene Entschließung der 27. Generalversammlung des Bundes der Landwirte, in: Korrespondenz des Bundes der Landwirte, Nr. 8 vom 17.2. 1920; als illustratives Beispiel die Schilderung über das Verhalten der von der Marwitz bei GÖRLITZ, Junker (wie Anm. 18), S. 326 f.; aufschlußreich auch die Erlebnisse eines demokratischen Landrats im ostpreußischen Kreis Rosenberg Anfang 1921, dok. in Jens FLEMMING u.a. (Hg.), Die Republik von Weimar, Bd. 1: Das politische System, Königstein/Ts./Düsseldorf 1979, S. 60-63; Jens FLEMMING, Die Bewaffnung des „Landvolks". Ländliche Schutzwehren und agrarischer Konservatismus in der Anfangsphase der Weimarer Republik, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 26 (1979), S. 7-36.

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einleitete: „Wir haben in Deutschland keine Revolution gehabt - aber wir haben eine Gegenrevolution."40 Mitte Oktober 1919 war nach Arbeiterunruhen im Bitterfelder Industrierevier erstmals der Ausnahmezustand nach Artikel 48 der Weimarer Verfassung verhängt worden,41 während erst Ende des Jahres im Kabinett „die unhaltbaren Zustände in Ostpreußen" zur Sprache kamen, wo der Belagerungszustand von rechter Seite „in einzelnen Kreisen tatsächlich gegen die jetzt in der Regierung befindlichen Parteien gehandhabt werde." 42 Die propagandistischen Bemühungen der rechten Bewegung konzentrierten sich seit dem Herbst 1919 auf die Verbreitung der „Dolchstoß-Legende", die sich als trostreiche Flucht aus der Verantwortung und gleichzeitig als aggressive Spitze gegen die Weimarer Koalition, die dem Versailler Vertrag zugestimmt hatte, hervorragend zur Integration des rechten Lagers eignete.43 Hohe - und in der Historiographie häufig ignorierte ~ symbolische Bedeutung erhielt vor diesem Hintergrund die Debatte um die alliierten Forderungen nach Auslieferung deutscher Offiziere, die verschiedener Kriegsverbrechen beschuldigt wurden. Die Reichsregierung hatte zwar nicht die Absicht diesen nachzukommen, versuchte aber einen Verzicht auf diplomatischem Wege zu erreichen und „passiven Widerstand" 44 zu leisten, während die nationalistische Rechte wider besseres Wissen suggerierte, es bestehe ernsthaft die Absicht, „Deutschlands Söhne" dem Feind zu opfern und so gegen „alle Rechtsgründe, den gesunden Menschenver-

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41

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43

44

Ignaz WROBEL (d.i. Kurt Tucholsky), Preußische Studenten, in: Die Weltbühne 2 (1919), S. 532-536; auch in Kurt Tucholsky, Gesammelte Werke, Bd. 2, Reinbek 1975, S. 87. Vgl. die Dokumente in: Zwischen Revolution und Kapp-Putsch. Militär und Innenpolitik 1918-1920, bearb. v. Heinz Hürten, Düsseldorf 1977, S. 252 ff. Gemeinsame Sitzung des Reichskabinetts mit dem Preußischen Staatskabinett am 4.12. 1919, in: Das Kabinett Bauer (wie Anm. 31), S. 457; Reichswehrminister Gustav Noske suchte dies mit Hinweis auf Aussagen des sozialdemokratischen Oberpräsidenten August Winnig zu entkräften, der sich zufrieden über die Zusammenarbeit mit den militärischen Instanzen gezeigt habe; Winnig schloß sich im März 1920 den Putschisten an. Ulrich HEINEMANN, Die verdrängte Niederlage. Politische Öffentlichkeit und Kriegsschuldfrage in der Weimarer Republik, Göttingen 1983; vgl. Anneliese THIMME, Flucht in den Mythos. Die Deutschnationale Volkspartei und die Niederlage von 1918, Göttingen 1969. Unmißverständlich war die öffentliche Stellungnahme des Reichskanzlers zur Auslieferungsfrage anläßlich eines Presseempfangs in der Reichskanzlei am 5.2. 1920, in: Das Kabinett Bauer (wie Anm. 31 ), S. 576 ff. (Zitat: S. 579).

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stand, das einfachste sittliche Gefühl" zu verstoßen.45 Dieser „Ehrlosigkeit" gegenüber sah man sich zur physischen Gewaltandrohung moralisch legitimiert, wie es der damals 52jährige Baron Leopold v. Vietinghoff-Scheel, also kein jugendlicher Heißsporn, vertraulich in einer Sitzung des Geschäftsführenden Ausschusses des Alldeutschen Verbandes in Berlin am 14. Februar 1920 ausdrückte: „Das einzige Druckmittel, über das wir verfügen, ist, überall im ganzen Volke zu verbreiten, daß jedermann, der irgendwie den Versuch macht, die Auslieferung herbeizuführen, dabei sein Leben riskiert, also Furchterregung." 46 Die Regierung wurde aber nicht nur als ehrlos gegenüber dem äußeren Feind, sondern gleichzeitig als im Inneren korrupt verächtlich gemacht. Im ersten Viertel des Jahres 1920 wurde dazu die gerichtliche Auseinandersetzung zwischen Reichsfinanzminister Matthias Erzberger (Zentrum) und dem deutschnationalen Fraktionsführer Emil Helfferich weidlich ausgenutzt. Dieser hatte haltlose Beschuldigungen über die Verquickung öffentlicher und privater finanzieller Interessen gegen den Minister erhoben. Am Tag vor dem Beginn des Kapp-LüttwitzPutsches wurde Helfferich, wegen formaler Beleidigung lediglich zu 300 Mark Geldstrafe verurteilt, von der rechten Presse als moralischer Sieger gefeiert. Die „nationale Misere" legte publizistisch immer wieder den Vergleich mit der Situation Preußens nach Tilsit nahe und ließ immer wieder den Ruf nach einem Arndt oder Fichte laut werden, in deren Geiste die Weimarer Demokratie hinweggefegt werden sollte. Extremer Nationalismus und Diktaturgelüste in alldeutscher Tradition hatten sich innerhalb weniger Monate wieder zu einem mächtigen politischen Faktor entwickelt. Trotz der Offensivstimmung der Rechten brach der Kapp-LüttwitzPutsch im März 1920 nach vier Tagen kläglich zusammen. Die Gründe

45

46

General der Kavallerie v. KLEIST, Die Unmöglichkeit der Auslieferungen, in: NPZ Nr. 18 vom 10.1. 1920; die Pressekampagne zog sich über Wochen hin; vgl. etwa Massenkundgebungen gegen die Auslieferung, in: NPZ, Nr. 46 vom 26.1. 1920; Deutschlands tiefste Erniedrigung, in: NPZ Nr. 65 vom 5.2. 1920; Gegen die Auslieferungsschmach. Erklärung des Deutschen OfFiziersbundes und des Nationalverbandes Deutscher Offiziere, in: NPZ Nr. 68 vom 6.2. 1920; vgl. auch: Zur Auslieferungsfrage. Überreicht von der Vermittlungsstelle Vaterländischer Verbände, Berlin 1920; Sollen wir der Entente deutsche Männer zur Aburteilung ausliefern?, o.O./o.J. (Berlin 1920) - beide Broschüren in Kopie im Archiv der Forschungsstelle fur Zeitgeschichte in Hamburg (FZH), 285-3. (Seinerzeit) Deutsches Zentralarchiv Potsdam, Ausschußsitzung des AV vom 14./15.2. 1920 in Berlin (Kopie in FZH, 412-2).

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dafür sind in der Forschung ausführlich dargelegt worden.47 Daß es sich um ein schlecht geplantes Unternehmen handelte, dessen Ziele nicht hinreichend klar festgelegt worden waren, stellten schon die Zeitgenossen immer wieder heraus. Die Putschisten wußten die Armee nicht hinter sich, sondern beabsichtigten sie durch die Aktion überhaupt erst in ihrem Sinne zu mobilisieren. Es gab zwar kaum der Republik ergebene Offiziere, aber eine starke „neutrale" Mittelgruppe, die Abenteuern abhold war und abwartete.48 Zudem existierten taktische Differenzen zwischen beteiligten Militärs und Zivilisten während der Planung. Während Waither Freiherr von Lüttwitz, als Kommandierender des Gruppenkommandos I der starke Mann der Reichswehr 4 9 für eine Einbeziehung der äußersten Rechten der Sozialdemokratie, für eine „Noske-Diktatur", plädierte, bestanden die Putsch-Protagonisten der zivilen Rechten, an erster Stelle der ostpreußische Generallandschaftsdirektor Wolfgang Kapp, auf der restlosen Ausschaltung aller parlamentarisch-demokratischen Kräfte. Hier wirkte die autoritäre Ideologie der konservativen Sammlung der Kriegsjahre, die in der Deutschen Vaterlandspartei ihren organisierten Ausdruck gefunden hatte, besonders nachhaltig fort. Solche Differenzen konnten bis zum Beginn des Putsches nicht ausgeräumt werden. Während ursprünglich Kapp und Ludendorff die Verbindung zur militärischen Spitze gesucht und diese gedrängt hatten, rasch loszuschlagen, waren es im März 1920 äußere Umstände, vor allen Dingen die drohende Auflösung von Teilen der Reichswehr aufgrund der Bestimmungen des Versailler Vertrags, die nun die beteiligten Offiziere zur überstürzten Ingangsetzung einer Aktion bewogen. Davon wurde nicht nur die Reichsregierung, die sich lange auf die beruhigenden Ausführungen des Wehrministers Gustav Noske verlassen hatte,50 überrascht. Auch große Teile 47

48

49 50

Vgl. grundlegend die Interpretation von Johannes ERGER, Der Kapp-LüttwitzPutsch. Ein Beitrag zur deutschen Innenpolitik 1919/20, Düsseldorf 1967; zum Ablauf auch J. BENOIST-MÉCHIN, Jahre der Zwietracht. 1919-1925, Oldenburg/Hamburg 1965, S. 80 ff. CARSTEN, Reichswehr, S. 92 ff.; bisweilen ist die taktisch bedingte Zurückhaltung gegenüber dem Putsch von hohen Offizieren in der älteren Literatur zur prinzipiellen Gegnerschaft stilisiert worden (vgl. etwa Carl GUSKE, Das politische Denken des Generals von Seeckt, Lübeck 1971, S. 186 ff.; vgl. dagegen die psychologisch feinsinnige Charakterisierung von Golo MANN, Deutsche Geschichte 1919-1945, Frankfurt/M. 1961, S. 21). Hans MEIER-WELCKER, Seeckt, Frankfurt/M. 1967, S. 254. Vgl. die Selbstdarstellung von Gustav NOSKE, Von Kiel bis Kapp. Zur Geschichte der deutschen Revolution, Berlin 1920; kritisch zur Rolle des Wehrministers Wolfram WETTE, Gustav Noske. Eine politische Biographie, Düsseldorf 1987, S. 637 ff.

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der politischen Rechten waren offenbar völlig uninformiert.51 So mutmaßte die Kreuzzeitung am 13. März 1920, es handle sich unter Umständen um einen Trick, mit dem die Regierung von der Blamage des Ausgangs im Prozeß zwischen Erzberger und Helfferich ablenken wolle.52 Selbst einige der als Minister vorgesehenen Personen hatten zuvor nichts von der Aktion gewußt, wobei entsprechenden Aussagen der Beteiligten allerdings mit einiger Skepsis begegnet werden muß. Kapp als designierter Kanzler verließ noch am 4. März für einige Tage Berlin, weil er den nach ihm benannten Putsch nicht erwartet habe, und Conrad Freiherr v. Wangenheim, als Landwirtschaftsminister vorgesehen, war von Berlin am 9. März nach Hannover gereist und habe dort erst am Mittag des 13. März aus der Zeitung von den Ereignissen erfahren. Friedrich Freiherr v. Falkenhausen, als Chef der Reichskanzlei ausersehen, sei am späten Nachmittag zuvor bei der Gartenarbeit alarmiert und lediglich in groben Zügen in Kenntnis gesetzt worden.53 Die Regierungserklärung Kapps fiel reichlich nichtssagend aus. Unverbindliche Absichtserklärungen auf wirtschaftlichem Gebiet, außenpolitisch die Beschwörung der Gefahr durch den „kriegerischen Bolschewismus" und innenpolitisch die vage Vision eines „über allem Kampf der Berufsstände und Parteien" stehenden Staates und einer Nation als „sittlicher Arbeitsgemeinschaft", verrieten kaum etwas über konkrete Schritte des neuen Regimes.54 Aussagen über eine Rückkehr zur Monarchie wurden vermieden.55 Der Bund der Aufrechten, die größte monarchistische Organisation, hatte den Putsch deshalb verur-

51

52

53

54 55

Dies galt etwa für eine der seinerzeit größten rechtsextremen Organisationen Uwe LOHALM, Völkischer Radikalismus. Die Geschichte des Deutschvölkischen Schutz- und Tnitzbundes 1919-1923, Hamburg 1970, S. 190 ff. Der angebliche Putschversuch, in: NPZ, Nr. 134 vom 13.3. 1920; vgl. in gleichem Sinne Kuno GRAF WESTARP, Helfferich, in: Hans von Arnim/Georg von Below (Hg.), Deutschnationale Köpfe. Charakterbilder aus der Vergangenheit und Gegenwart der rechtsstehenden Parteien, Leipzig/Wien 2 1928, S. 371-385 (hier S. 383). ERGER, K a p p - L ü t t w i t z - P u t s c h ( w i e A n m . 4 7 ) , S.

1 2 9 f.; Jan STRIESOW,

Die

Deutschnationale Volkspartei und die Völkisch-Radikalen 1918-1922, Frankfurt/M. 1981, Bd. 1,S. 169 f. Abgedruckt in ERGER, Kapp-Lüttwitz-Putsch (wie Anm. 47), S. 324-326. Vgl. Ludwig Franz GENGLER, Die deutschen Monarchisten 1919-1925. Ein Beitrag zur Geschichte der politischen Rechten von der Novemberrevolution 1918 bis zur ersten Übernahme der Reichspräsidentschaft durch Generalfeldmarschall von Hindenburg, Phil. Diss. Erlangen 1932, S. 75 ff.

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teilt; er galt ihr als plebejische Massenaktion, die auf die Zustimmung der Parteien schielte. 56 III. Adlige und bürgerliche Putschisten Man wird diese Differenzen und Unklarheiten schwerlich auf einen Gegensatz von Adel und Bürgertum beziehen können, denn sowohl bei den militärischen wie bei den zivilen Akteuren waren Adlige und Bürgerliche jeweils führend vertreten. Allerdings gibt es durchaus einige Indizien für die verhältnismäßig starke Attraktivität des Putsches gerade unter adligen Offizieren und besonders in der elitären ehemals kaiserlichen Marine, deren Oberkommandierender Adolf v. Trotha sich in falscher Einschätzung der Lage explizit den Putschisten zur Verfügung stellte. 57 Zwar war es, wie bereits erwähnt, vor und besonders im Ersten Weltkrieg zu der auf der Rechten bisweilen beklagten begrenzten Öffnung des Offizierkorps für „erwünschte Kreise", die „Gruppen der bürgerlichen Oberschicht", gekommen. Wilhelm II. hatte den „Adel der Gesinnung" ganz offiziell neben den „Adel der Geburt" gestellt, und im gesamten Offizierskorps hatte sich der Adelsanteil von etwa 40% zur Jahrhundertwende auf 30% bei Kriegsausbruch und etwa 20% Ende 1920 verringert. Aber zum einen ist dabei die „Adelspyramide" zu beachten. Während der Adelsanteil im Offizierkorps 1914 bei 30% lag, betrug er unter den Generälen 70%. Zum anderen war der Adelsanteil auch unter den rangniederen Offizieren gerade in einigen Traditionseinheiten - besonders der Kavallerie - wesentlich höher, die in den putschistischen Umtrieben eine aktive Rolle spielten. 58 Hinweise, die näher geprüft werden müßten, gibt die von Emil Julius Gumbel 1924 vorgelegte Liste von 540 Offizieren, gegen die wegen ihrer Teilnahme am Kapp-Lüttwitz-Putsch ermittelt wurde - bekanntlich kam es nur in einem einzigen dieser Fälle zu einer Verurteilung. Der Adels-

56

Vgl. jetzt die Studie von Arne HOFMANN, „Wir sind das alte Deutschland, Das Deutschland, wie es war..." Der „Bund der Aufrechten" und der Monarchismus in der Weimarer Republik, Frankfurt/M. u.a. 1998, S. 71 ff.

57

Das Kabinett Bauer (wie Anm. 31), S. 670 ff.; vgl. zur Rolle der Marine im Kapp-Lüttwitz-Putsch Werner RAHN, Reichsmarine und Landesverteidigung 1919-1928. Konzeption und Führung der Marine in der Weimarer Republik, München 1976, S. 51 ff.; Gerhard GRANIER, Magnus von Levetzow. Seeoffizier, Monarchist und Wegbereiter Hitlers. Lebensweg und ausgewählte Dokumente, Boppard 1983, S. 70 ff.

58

Detlef BALD, Der deutsche Offizier. Sozial- und Bildungsgeschichte des deutschen Offizierskorps im 20. Jahrhundert, München 1982, S. 21 ff., 39ff., 85 ff.; vgl. HOYNINGEN-HUENE, Adel (wie Anm. 21), S. 267 ff.

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anteil dieser Liste - über ein Viertel - liegt etwas über dem Anteil des Adels bei den Offizieren der Reichswehr. 59 Für das Verständnis des Kapp-Lüttwitz-Putsches - auch hinsichtlich des hier behandelten Aspekts - ist die Betrachtung der Freikorps unerläßlich. Die im zweiten Halbjahr 1919 anschwellende rechte Welle ging einher mit der Verstärkung der Freikorps durch die vom „Kampf gegen den Bolschewismus" 60 im Baltikum zurückgekehrten Truppen, die sich nun in den ostelbischen Provinzen sammelten. Freikorps und mit diesen über personelle Netzwerke verbundene nationalistische Wehrverbände 61 errangen an vielen Orten die hegemoniale Macht. Die Marinebrigade Ehrhardt, die am 13. März 1920 in Berlin einmarschierte und das militärische Zentrum des Putsches bildete, 62 verkörperte besonders deutlich den schon bald metaphysisch überhöhten „Freikorpsgeist", eine Melange aus Weltkriegserlebnis, Frontkameradschaft, Führergedanke und „Frontstellung gegen das bürgerliche Zeitalter", eine Ideologie, in welcher die „Gestalt des Bourgeois" als der „eigentliche Gegner" fungierte. 63 Solche rechtsextremen antibürgerlichen Affekte - die ja durchaus in Traditionen der wilhelminischen Kultur

Emil Julius GUMBEL, Verschwörer. Zur Geschichte und Soziologie der deutschen nationalistischen Geheimbünde 1918-1924, Neuausgabe Frankfurt/M. 1984, S. 62-71; noch signifikanter erscheint dieser Umstand, wenn berücksichtigt wird, daß der Adelsanteil in der Reichswehr Ende 1920 vermutlich schon höher gewesen ist als Anfang des Jahres, denn durch die Verkleinerung des Offizierskorps infolge des Versailler Vertrags erhöhte sich zumindest bis Mitte der 20er Jahre der Adelsanteil; einschränkend ist allerdings festzuhalten, daß in diesen Tagen viele Offiziere gar nicht wußten, welcher Kommandeur eigentlich „seine Macht legal ausübte und wer putschte" (Harold J. GORDON, Die Reichswehr und die Weimarer Republik 1919-1926, Frankfurt/M. 1959, S. 134). 60

6

'

62 63

Forderungen des Generals Rüdiger Graf von der Goltz an die Reichsregierung, August 1919, dokumentiert in: Otto-Ernst SCHÜDDEKOPF (Hg.), Das Heer und die Republik. Quellen zur Politik der Reichswehrführung, Hannover/Frankfurt 1955, S. 100 f. Vgl. Horst W.G. NUßER, Konservative Wehrverbände in Bayern, Preußen und Österreich 1918-1933 mit einer Biographie von Forstrat Escherich (1870-1941), München 1973; James M. DIEHL, Paramilitary Politics in Weimar Gemrany, Bloomington 1977; Hans-Joachim MAUCH, Nationalistische Wehrorganisationen in der Weimarer Republik. Zur Entwicklung und Ideologie des „Paramilitarismus", Frankfurt/Berlin 1982. Gabriele KRÜGER, Die Brigade Ehrhardt, Hamburg 1971, S. 38 ff. Hagen SCHULZE, Freikorps und Republik 1918-1920, Boppard 1967, S. 57 (ff.); Schulze betont, daß auch die Freikorps vom Beginn des Putsches, den sie insgeheim schon lange erwartet hatten, überrascht wurden (ebd., S. 278).

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wurzelten 64 - gingen einher mit schlichtem monarchistischem Denken. Ein Aktivist brachte es, aus dem „Dritten Reich" rückblickend, auf die Formel, man sei „für ein neues Deutschland unter der alten schwarzweiß-roten Flagge"65 marschiert - mit dem Hakenkreuz am Stahlhelm. 66 In einem Bericht der Deutschen Zeitung wurde die Parade zum einjährigen Bestehen der Marine-Brigade Ehrhardt am 1. März 1920 geschildert: „Mit klingendem Spiel und wehenden Fahnen zogen die Sturmkompagnie, die Bataillone, Artillerie, Maschinengewehr- und Scheinwerferzüge in vorzüglicher Verfassung vorüber. Dann Feldgottesdienst unter blauem Frühlingshimmel - wie einst. Nachmittags Sportfest und abends frohes Beisammensein - alles wie einst. Auch das Wetter - Hohenzol lern weiter! Nur einer fehlte." 67 In einer Broschüre umriß Hermann Ehrhardt, der Führer der etwa 2.500 Mann zählenden nach ihm benannten Brigade, ein Jahr nach dem Putsch die nur locker verknüpften Komponenten seiner Weltanschauung. Er offenbarte seine Sympathie für den Gedanken der „Aristokratie" und „Monarchie" ebenso wie das Verlangen nach einem Arndt und Fichte zur nationalen Gesundung sowie seine Absicht, die „bürgerliche Gesellschaftsordnung" kompromißlos zu verteidigen und den Klassenkampf durch einen „Adel der Arbeit" zu überwinden.68 Während hier zumindest der Versuch gemacht wurde, eine Ideologie der Freikorps zu entwerfen, begnügte sich ein Offizier seiner Einheit mit der Verklärung

64

Vgl. Axel SCHILDT, Radikale Antworten von rechts auf die Kulturkrise der Jahrhundertwende. Zur Herausbildung und Entwicklung der Ideologie einer „Neuen Rechten" in der Wilhelminischen Gesellschaft des Kaiserreichs, in: Jahrbuch fiir Antisemitismusforschung 4, (1995), S. 63-87.

65

Edgar VON SCHMIDT-PAULI, Geschichte der Freikorps 1918-1924, Stuttgart 1936, S. 236.

66

Zum radikalen Antisemitismus der Putschisten vgl. die Erinnerungen von Bogislav VON SELCHOW, Hundert Tage aus meinem Leben, Leipzig 1936, S. 312 ff.; Striesow, Deutschnationale Volkspartei (wie Anm. 53), Bd. 1, S. 170 ff. Der Antisemitismus bildete eine wichtige Klammer nahezu der gesamten politischen Rechten und war gerade in den agrarischen Verbänden allgemein verbreitet; vgl. Heinz REIF, Antisemitismus in den Agrarverbänden Ostelbiens während der Weimarer Republik, in: ders. (Hg.), Ostelbische Agrargesellschaft im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Agrarkrise - junkerliche Interessenpolitik - Modernisierungsstrategien, Berlin 1994, S. 379-411.

67

Deutsche Zeitung (Berlin), Nr. 103 vom 4.3. 1920. Hermann EHRHARDT, Deutschlands Zukunft. Aufgaben und Ziele, München 1921,

68

S. 7, 1 5 , 2 1 , 2 8 ,

30.

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der abenteuerlich-landsknechtshaften Kameradschaft der „zweitausend resoluten Männer unter einem mannhaften Führer". 69 In mancher Hinsicht bildeten die bürgerlich bzw. kleinbürgerlich geprägten Einwohnerwehren, die auf Anweisung des zuständigen Ministers Noske seit den Tagen der Novemberrevolution und verstärkt seit Januar 1919 aufgestellt worden waren, 70 um als militärische Hilfstruppen politische Unruhen zu bekämpfen, den ideologischen Gegenpol zu den Freikorps und nationalistischen Wehrverbänden, mit denen sie wiederum personell vernetzt waren. Denn bei aller antibolschewistischen Gemeinsamkeit ging es den Einwohnerwehren, die Anfang 1920 940.000 Mitglieder mit 690.000 Gewehren und Karabinern aufbrachten, doch in der Regel gerade nicht um Putschabenteuer, sondern ausschließlich um die „Sicherung des persönlichen Eigentums"71 gegen tatsächliche und vermeintliche Revolutionsgefahren. Die Einwohnerwehren warteten insofern in den Märztagen vielfach ab, wie sich die Situation entwickelte, um dann im Anschluß an den gescheiterten Putsch, als das Militär mit großer Brutalität gegen revolutionäre bewaffnete Arbeiter vorging, auf der Seite der siegreichen bürgerlichen Ordnung zu stehen. Im April 1920 wurden die Einwohnerwehren, auch auf Druck der Alliierten, aufgelöst. 72 Während für die militärische Seite des Unternehmens immerhin vorsichtige Trendaussagen bezüglich des Anteils von Offizieren adliger und bürgerlicher Herkunft getroffen werden können, sind solche Aussagen für die „zivile" politische Rechte kaum möglich.73 Zu den prominenten zivilen Verschwörern zählten neben Wolfgang Kapp der schon im Kaiserreich als Sittenwächter umstrittene deutschnationale Theologe und Hofprediger Gottfried Traub, vorgesehen als Kultusminister, außerdem Georg Wilhelm Schiele, der bereits erwähnte Freiherr v. Wangenheim, auch er in der DNVP und als Vorsitzender des Bundes der Landwirte gewichtiger Lobbyist der Großagrarier, vorgesehen als Landwirtschaftsminister, daneben auch Hans-Jürgen v. Dewitz aus 69

70

71

72 73

Manfred v. KJLLINGER, Ernstes und Heiteres aus dem Putschleben, München 1942, S. 51; vgl. ders., Der Klabautermann. Eine Lebensgeschichte, München 1936 (jeweils Verlag Franz Eher Nachf.). Erwin KÖNNEMANN, Einwohnerwehren und Zeitfreiwilligenverbände, Berlin (Ost) 1971, S. 34 ff. und einschlägige Dokumente ebd., S. 351 ff. Peter BUCHER, Zur Geschichte der Einwohnerwehren in Preußen 1918-1921, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 9 (1971), S. 15-59 (Zit. S. 51). Zur Auflösung der Einwohnerwehren einige Unterlagen in FZH, 4132. Ohnehin verschwimmen die Kategorien „Zivil" und „Militär" in diesem Fall, denn auf der „zivilen" Seite der Putschisten standen etliche ehemalige Angehörige der deutschen Armeen und kaiserlichen Marine.

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dem Direktorium des Pommerschen Landbundes, der erwähnte Freiherr v. Falkenhausen, der ehemalige Berliner Polizeipräsident Traugott v. Jagow, vorgesehen als Innenminister, der frühere Vorsitzende der konservativen Reichstagsfraktion, Herausgeber der Kreuzzeitung und deutschnationale Vorständler Kuno Graf Westarp sowie die Industriellen Hugo Stinnes und Arnold Rechberg, eine Gruppe, die etwas herablassend und unterschätzend als „Gemisch von entlassenen Beamten der Kaiserzeit, ultrakonservativen Politikern und, am Rande, krassen Opportunisten" bezeichnet worden ist.74 Wichtiger ist wohl die Tatsache, daß fast alle Protagonisten und Sympathisanten des Putsches, an erster Stelle Wolfgang Kapp, zu den führenden Mitgliedern der im September 1917 gegründeten Deutschen Vaterlandspartei zählten, die mit nationalistischer und antisemitischer Agitation alle Kräfte zur moralischen Stärkung der Heimatfront zu koordinieren und mobilisieren versuchte. Die organisatorische Infrastruktur dieses Sammlungsversuchs hatte vor allem der Bund der Landwirte gestellt, während es in der Deutschkonservativen Partei erhebliche Reserven gab, nicht zuletzt wegen des Versuchs einer Verbreiterung der politischen und sozialen Basis des rechten Lagers. Das Ziel, relevante Teile der Arbeiterschaft zu erreichen, gelang der Vaterlandspartei allerdings dann nicht wie erhofft. 75 Sie blieb eine „ausgesprochen bürgerliche Bewegung", 76 in der „Honoratioren, das gehobene wilhelminische Bildungs- und Besitzbürgertum",77 das Bild prägten, unter Einbeziehung eines beträchtlichen Adelsanteils in der öffentlich herausgestellten Führung. 74 75

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GORDON, Reichswehr (wie Anm. 59), S. 98. Zu den diesbezüglichen Versuchen der Konservativen im Kaiserreich, die in die faschistische Bewegung und Gründung der Deutschen Arbeiterpartei 1919 mündeten, vgl. Dirk STEGMANN, Zwischen Repression und Manipulation: Konservative Machteliten und Arbeiter- und Angestelltenbewegung 1910/12-1918, in: Archiv für Sozialgeschichte 12 (1972), S. 351-432; im Oktober 1918 hatte es sogar inoffizielle Verhandlungen zwischen Vertretern der Vaterlandspartei und der Generalkommission der Gewerkschaften gegeben, die allerdings ohne Ergebnis blieben; Hans MOMMSEN, Die verspielte Freiheit. Der Weg der Republik von Weimar in den Untergang 1918 bis 1933, Berlin 1989, S. 24. Dirk STEGMANN, Vom Neokonservatismus zum Proto-Faschismus: Konservative Partei, Vereine und Verbände 1893-1920, in: ders. u.a. (Hg.), Deutscher Konservatismus im 19. und 20. Jahrhundert. FS Fritz Fischer zum 75. Geburtstag und zum 50. Doktoijubiläum, Bonn 1983, S. 199-230 (Zitat: S. 220); vgl. ders., Die Erben Bismarcks. Parteien und Verbände in der Spätphase des Wilhelminischen Deutschlands. Sammlungspolitik 1897-1918, Köln/Berlin 1970, S. 497 ff. Heinz HAGENLÜCKE, Deutsche Vaterlandspartei. Die nationale Rechte am Ende des Kaiserreiches, Düsseldorf 1997, S. 406.

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Die engere Führung der Vaterlandspartei stand nach der Revolution und der Auflösung der Partei, nachdem Versuche zur Bildung einer nationalliberal-konservativen Sammlung gescheitert waren, zunächst nicht in der ersten Reihe der neuen Deutschnationalen Volkspartei, ebensowenig wie die vorherigen Repräsentanten der Deutschkonservativen. Gewichtige Ausnahmen bildeten allerdings Kapp selbst, der seit Juli 1919 dem engeren Vorstand der DNVP angehörte und ihren Landesverband Ostpreußen führte, sowie der erwähnte Graf Westarp, der autonome Strukturen des Hauptvereins der Deutschkonservativen in der DNVP erhielt. Zudem dominierten auf lokaler Basis oftmals ehemalige Funktionäre der Vaterlandspartei, von der ganze Ortsgruppen geschlossen zu den Deutschnationalen gewechselt waren. „Fast könnte man sie (die DNVP; A.S.) mit der Vaterlandspartei identifizieren", bemerkte deshalb Sigmund Neumann in seinem berühmt gewordenen Buch über die Parteien der Weimarer Republik nicht ganz zutreffend.78 Denn die DNVP wurde von der Gruppierung um Kapp ganz offensichtlich als nicht ausreichend für die Verwirklichung weiter gespannter Pläne empfunden. Zur Koordination von Aktionen gegen die Republik wurde im August 1919 eine Nationale Vereinigung gegründet, die etwa Freikorpssoldaten aus dem Baltikum als Ersatz für unbotmäßige Landarbeiter auf ostelbische Güter vermittelte. Dadurch konnten militärische Strukturen erhalten und reorganisiert werden, die dem ersehnten Umsturz dienen sollten.79 Die Nationale Vereinigung war also keine rein zivile politische Angelegenheit, wie auch deren organisatorische Führung durch den Ludendorff-Vertrauten Oberst a.D. Max Bauer, „die Seele des ganzen Unternehmens", zeigte.80 In der Nationalen Vereinigung gaben er und der ehemalige Hauptmann des Gardekavallerieschützenkorps Waldemar Pabst, der als Hauptgeschäftsführer fungierte, den Ton an. Pabst hatte nach einem in letzter Minute gestoppten ersten Putschversuch im Juni 1919 seinen Abschied nehmen müssen, galt aber nach wie vor als Verbindungsmann zu Lüttwitz.

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Sigmund NEUMANN, Die Parteien der Weimarer Republik, Stuttgart u.a. 31973 ( 1 9 3 2 ) , S. 6 1 .

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Hagen SCHULZE, Otto Braun oder Preußens demokratische Sendung, Frankfurt/M. 1977, S. 291; zur Nationalen Vereinigung vgl. Junius ALTER, Nationalisten, Leipzig 1 9 3 0 , S. 3 0 . GENGLER, Monarchisten, S. 82; vgl. Ekkehart P. GUTH, Der Loyalitätskonflikt des deutschen Offizierskorps in der Revolution 1918-1920, Frankfurt/M. 1983, S. 2 3 2 ff.

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Neben früheren Führungskräften der Vaterlandspartei waren es innerhalb der DNVP vormalige Funktionäre und Anhänger der Deutschkonservativen, die sich bei den Vorbereitungen des Putsches 1919/20 hervortaten. In der DKP aber hatte es eine eindeutige Überrepräsentanz des preußischen Adels gegeben,81 und adlige Junker stellten insofern auch einen gewichtigen Teil der Putsch-Protagonisten, 82 etwa Wilhelm Freiherr v. Gayl, als Landrat deshalb später seines Amtes enthoben und am Ende der Weimarer Republik Innenminister von Papens „Kabinett der Barone", oder Botho-Wendt Graf zu Eulenburg. Das Gerüst des Putsches bildeten die von Großagrariern dominierten landwirtschaftlichen Verbände und Regionen,83 und es war kein Zufall, daß Freiherr v. Wangenheim, der Vorsitzende des Pommerschen Landbundes, als Landwirtschaftsminister vorgesehen war. 84 Von den DNVPLandesverbänden wurde dem Putsch explizite Unterstützung vor allem in Mittelschlesien, wo ihn die von Axel Freiherr v. Freytag-Loringhoven geführte Partei „mit tiefster Befriedigung" 85 aufnahm, in Pommern und in Mecklenburg zuteil. IV. Rechte Kritiker des Putsches Allerdings rieten fuhrende Kräfte der Deutschnationalen ebenso wie die Führung der DVP in den ersten Märztagen den Putschisten von ihrem Plan ab und versuchten zwischen ihnen und der Regierung zu vermitteln.86 Die Funktionäre der DNVP verblieben dann, als dies nicht gelang, mehrheitlich in einer abwartenden „virtuellen Identität"87 81

James RETALLACK, Notables of the Right: The Conservative Party and Political M o b i l i z a t i o n in G e r m a n y , 1 8 7 6 - 1 9 1 8 , L o n d o n / B o s t o n 1 9 8 8 ; v g l . SCHILDT, K o n -

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servatismus (wie Anm. 6), S. 102 ff. Dies betonte neben DLSSOW, Adel (wie Anm. 19), S. 182, in naiver Apologie etwa GÖRLITZ, Junker (wie Anm. 18), S. 341 ff., der eine Ehrenlinie von den Putschisten zu den Männern des 20. Juli 1944 zog. Neben den in der Literatur häufig abgehandelten Regionen Ostpreußen, Schlesien, Pommem ist vor allem Thüringen und Schleswig-Holstein zu erwähnen; vgl. Matthias SCHARTL, Landräte und Kapp-Putsch im nördlichen Schleswig-Holstein, in: Demokratische Geschichte. Jahrbuch zur Arbeiterbewegung und Demokratie in Schleswig-Holstein 8 (1993), S. 173-204. Vgl. Martin SCHUMACHER, Land und Politik. Eine Untersuchung über politische Parteien und agrarische Interessen 1914-1923, Düsseldorf 1978, S. 248 ff. Schlesische Zeitung vom 15.3. 1920, dok. in: Karl BRAMMER, Fünf Tage Militärdiktatur. Dokumente zur Gegenrevolution, Berlin 1920, S. 42. Vgl. ERGER, Kapp-Lüttwitz-Putsch (wie Anm. 47), S. 335 f.; namentlich Gustav Stresemann hegte ursprünglich Sympathien für das Unternehmen. MOMMSEN, Verspielte Freiheit (wie Anm. 75), S. 80.

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oder sahen das Unternehmen Kapp-Lüttwitz als strategisches Abenteuer an, von dem man sich nach dem Mißlingen selbstverständlich distanzierte.88 Zudem gab es eine ganze Reihe von Adligen aus dem gleichen preußisch-junkerlichen Milieu mit ähnlichem politischem Werthorizont, die aus unterschiedlichen Gründen zu den scharfen Kritikern des Putsches zählten, am seltensten wohl aus demokratischer Überzeugung. 89 In seinen Erinnerungen berichtet Oldenburg-Januschau über seine Ablehnung, als Kapp ihm im Januar 1920 die Leitung der Provinz Ostpreußen für den Fall einer Erhebung andienen wollte: „Es sei in dieser Zeit der allgemeinen Unsicherheit nicht möglich, von Berlin aus einen Umsturz der Verhältnisse für ganz Deutschland ins Werk zu setzen. Eine solche Tat sei unter den gegenwärtigen Umständen nur von Ostpreußen aus denkbar. Hier habe man die Truppen in der Hand, so daß der Erfolg innerhalb Ostpreußens dank des Mangels an Großstädten sicher sei. Nach der bewaffneten Erhebung müsse man einen selbständigen Staat aufrichten mit dem Ziel, von hier aus Preußen neu zu gründen. Gegenüber Berlin sitze man am längeren Hebelarm, da man die Ernährung der Hauptstadt bis zu einem gewissen Grade unterbinden könne.[...] Sei das geschehen, dann könne man, den preußischen Osten im Rücken, den Marsch auf Berlin wagen. Im Scherz fügte ich zu Kapp gewandt hinzu: ,Nehmen Sie Reitstunden. Wer Berlin in die Hand bekommen will, muß durchs Brandenburger Tor geritten kommen.'" 90 Während hier eine alternative - wohl ebenso illusionäre - Strategie für einen Putsch vorgeschlagen wurde, verurteilten einzelne adlige Politiker wie etwa der Fraktionsfiihrer der DNVP in der Nationalversammlung, Arthur Graf Posadowsky-Wehner, das Unternehmen, weil

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Vgl. Das Kabinett Bauer (wie Anm. 31), S. 792 ff.; STRIESOW, Deutschnationale Volkspartei (wie Anm. 53), Bd. 1, S. 174 ff.; Werner LIEBE, Die Deutschnationale Volkspartei 1918-1924, Düsseldorf 1956; eine Sammlung von Zeitungsartikeln in FZH, 7533. Vgl. TROELTSCH, Spektator-Briefe (wie Anm. 1 ), S. 118. OLDENBURG-JANUSCHAU, Erinnerungen (wie Anm. 37), S. 212. Einem Zeitzeugen zufolge fand dieses Gespräch allerdings in den Tagen des Putsches in Berlin statt, wohin sich Oldenburg-Januschau als Unterstützer begeben hatte. Prinz Ernst Heinrich V. SACHSEN, Mein Lebensweg vom Königsschloß zum Bauernhof, Frankfurt/M. 1979, S. 153 ff.; tatsächlich hatte Kapp ursprünglich, im Sommer 1919, den Plan verfolgt, zunächst Ostpreußen zu erobern, den er nach einem Gespräch mit Ludendorff und General Friedrich Karl von Loßberg, Chef des Stabes des Reichswehrgruppenkommandos 2, fallen ließ; vgl. STRIESOW, Deutschnationale Volkspartei (wie Anm. 53), Bd. 1, S. 164.

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dadurch die langfristige Entwicklung der „bürgerlichen Gesellschaft" nach rechts gefährdet würde.91 Diese Position entsprach, zumindest unmittelbar nach dem Mißlingen, breiten Stimmungen in der Partei.92 Ähnlich äußerten sich auch der zum „Held von Tannenberg" stilisierte Generalfeldmarschall Paul v. Hindenburg, den die politische Rechte Anfang März 1920 zum Präsidentschaftskandidaten erkoren hatte,93 und Generalfeldmarschall August v. Mackensen. 94 Großen Teilen der alten Herrschaftsschicht des Kaiserreiches schien es schlicht noch zu früh, an eine erfolgreiche Gegenrevolution zu denken. Zu Beginn des Jahres 1920 hatte die Kreuzzeitung herausgestellt, daß die Gegenwart den „Urhebern und Nutznießern der Revolution [...] den Demagogen auf der Gosse" gehöre, und geschlossen: „Uns gehört die Zukunft, auch wenn wir sie nicht erleben."95 So fand der Kapp-Lützwitt-Putsch keine ausreichende Basis, obwohl die Stoßrichtung gegen die Weimarer Republik durchaus einem breiten Konsens der politischen Rechten entsprach. Aber nur eine kleine Minderheit der militärischen Führung, in der adlige Offiziere eine hervorgehobene Rolle spielten, radikalisierte Freikorps, große Teile der adligen Junker und eine Minderheit des rechtskonservativen Bürgertums fand sich zur aktiven Tat bereit.96 Den größten Anteil am Fehlschlag des Putsches hatte der gewerkschaftlich organisierte Generalstreik der Arbeiterschaft, aber auch eine Mehrheit der politischen Rechten und „die breiten Schichten des Bürgertums" standen Kapp

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Arthur GRAF V. POSADOWSKY-WEHNER, Weltwende. Gesammelte politische Aufsätze, Stuttgart 1920, S. 117. Auch der spätere Partei-Diktator Alfred Hugenberg und der Führer der Alldeutschen Heinrich Claß äußerten sich in diese Richtung; vgl. STEGMANN, Neokonservatismus (wie Anm. 76), S. 228 f. Zu diesem Zeitpunkt war noch nicht abzusehen, daß die erste Volkswahl des Reichspräsidenten erst 1925 stattfinden würde; vgl. Generalfeldmarschall von Hindenburg Präsidentschaftskandidat, in: NPZ Nr. 122 vom 6.3. 1920; Andreas DORPALEN, Hindenburg in der Geschichte der Weimarer Republik, Berlin 1966, S. 58 ff.; Walter RAUSCHER, Hindenburg. Feldmarschall und Reichspräsident, Wien 1997, S. 216 f. Theo SCHWARZMÜLLER, Zwischen Kaiser und „Führer". Generalfeldmarschall August von Mackensen. Eine politische Biographie, Paderborn u.a. 1995, S. 186. Neujahrsgedanken, in: NPZ, Nr. 1 vom 1.1. 1920. Etwa in einzelnen „bürgerlichen Gegenstreiks", SCHARTL, Landräte - wie Anm. 83), S. 193, 196 - gegen den gewerkschaftlichen Generalstreik oder bisweilen in der Unterstützung von Bürgerräten für die Putschisten; vgl. Hans-Joachim BIEBER, Bürgertum in der Revolution. Bürgerräte und Bürgerstreiks in Deutschland 1918-1920, Hamburg 1992, S. 313 ff.

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„mißtrauisch oder doch mindestens abwartend gegenüber."97 Die legitime Reichsregierung, die - wie die Nationalversammlung 1849 - in Stuttgart Zuflucht gefunden hatte, bezeichnete die Putschisten in ihrem Aufruf „An das deutsche Volk" vom 14. März 1920 als „reaktionäre Frevlei", 98 und in der Nationalversammlung bedankte sich Reichskanzler Bauer in seiner Regierungserklärung am 18. März ausdrücklich bei Arbeiterschaft und Bürgertum gleichermaßen für die Niederschlagung des „bolschewistischen Angriffs von rechts", während der Adel bei ihm und in der anschließenden ausführlichen Debatte keine Erwähnung fand. 99 In einer weiteren Perspektive handelte es sich beim Kapp-Lüttwitz-Putsch lediglich um eine Episode im Kampf gegen die Weimarer Demokratie. Der politischen Rechten führte sein Ausgang vor Augen, daß eine Vendée im Deutschland des 20. Jahrhunderts ebenso anachronistisch war wie ein militärischer Staatsstreich ohne ausreichende Massenbasis. Den Putschisten selbst wurde allerdings durchaus ein ehrendes Andenken zuteil. In der Kreuzzeitung wurde ihnen attestiert, sie seien „entschlossene Männer, durchglüht von heißer Vaterlandsliebe und getrieben von schwerer Sorge um die Zukunft Deutschlands", die geglaubt hätten, „mit militärischen Kräften die Besserung herbeiführen zu können. [...] Die Gründe, aus denen ihr Unternehmen gescheitert ist, werden noch häufig eingehend erörtert werden müssen." 100 Die Parteien der Weimarer Koalition vermochten aus ihrem Sieg in dieser Auseinandersetzung keine Kraft zu schöpfen. Die Reichstagswahl im Juni 1920 endete mit einem dramatischen Rückgang ihrer Stimmen von 76,2% auf 43,6% und einer Rechtswende, so daß es zur ersten „rein bürgerlichen Regierung" 101 kam, während der Adelsanteil im Offizierkorps der verkleinerten Reichswehr in den folgenden Jahren wieder

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Arthur ROSENBERG, Die Geschichte der deutschen Republik, Karlsbad 1935, S. 366. Das Kabinett Bauer (wie Anm. 31), S. 684; Philipp SCHEIDEMANN, Memoiren eines Sozialdemokraten, Bd. 2, Dresden 1928, S. 400 f., sprach von „preußischen Reaktionären" bzw. einer „Karnevalsregierung". Die Deutsche Nationalversammlung im Jahre 1920 in ihrer Arbeit für den Aufbau des neuen deutschen Volksstaates. Hg. v. Eduard HEILFRON, Bd. 9, Berlin 1920, S. 238 ff. (Zitat: S. 245). Rückblick, in: NPZ, Nr. 135 vom 24.3. 1920; vom 14.3. bis 23.3. 1920 hatte die Zeitung aufgrund des Streiks nicht erscheinen können; vgl. auch die vorsichtige Rechtfertigung der Motive fur den Putsch durch den Volksparteiler Heinze in: Deutsche Nationalversammlung (wie Anm. 99), S. 268 ff.. Arnold BRECHT, Aus nächster Nähe. Lebenserinnerungen 1884-1927, Stuttgart 1966, S. 318.

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anstieg. 102 Erst nach dem Scheitern des „Hitler-Putsches" in Bayern im November 1923, das von Militär und nationalistischen sowie weißblauen Organisationen im Schatten des Kapp-Lüttwitz-Unternehmens planmäßig zur „Ordnungszelle" ausgebaut worden war 103 , ging die politische Rechte endgültig zum parlamentarischen Weg der Zerstörung der Demokratie über. Und zahlreiche der Putsch-Protagonisten der ersten Nachkriegsjahre, ob adliger oder bürgerlicher Herkunft, begegneten sich später als Aktivisten der „nationalen Erhebung" in der NSDAP, 104 in der Ende der 20er Jahre radikalisierten DNVP oder im Stahlhelm.

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Hans-Adolf JACOBSEN, Militär, Staat und Gesellschaft in der Weimarer Republik, in: Karl D. Bracher u.a. (Hg.), Die Weimarer Republik 1918-1933. Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Düsseldorf 1987, S. 343-368 (hier S. 343, 355). 103 VG] HANS FENSKE, Konservatismus und Rechtsradikalismus in Bayern nach 1 9 1 8 , Bad Homburg v. d. H. 1969, S. 89 ff. 104 Yg] exemplarisch die Positionen des ehemaligen Herrscherhauses, dok. v. Willibald GUTSCHE/Joachim PETZOLD, Das Verhältnis der Hohenzollern zum Faschismus, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 29 (1981), S. 917-939; Friedrich Wilhelm PRINZ V. PREUßEN, Das Haus Hohenzollern 1918-1945, München/Wien 1985, S. 59 ff.

MARCUS FUNCK

Schock und Chance. Der preußische Militäradel in der Weimarer Republik zwischen Stand und Profession

1. Stand und Defizite der Forschung Die fortdauernd starke Präsenz des Adels in den preußisch-deutschen Offizierkorps sowie dessen Präponderanz gegenüber der bürgerlichen Zivilgesellschaft bis weit in das 20. Jahrhundert hinein zählt bis heute zu den zentralen Themen der deutschen Militärgeschichte. Allerdings stehen die Schärfe der Urteile und die Reichweite der Interpretationen seit jeher in einem ungünstigen Verhältnis zu dem tatsächlichen Fundus an gesichertem Wissen. Dies um so mehr als die Geschichte des deutschen Adels im 19. und 20. Jahrhundert wie auch die neuere Militärgeschichte, trotz beeindruckender Forschungsleistungen im einzelnen, lange Jahre nicht gerade einen Kembereich der historischen Forschung ausmachte.1 Wer sich mit der Geschichte des deutschen Militärs in der Zwischenkriegszeit beschäftigt, hat sich vor allem mit zwei umfassenden Interpretationsangeboten auseinanderzusetzen, die in ihren Stärken und Schwächen kurz skizziert werden sollen. Unter Betonung der Kontinuitäten in der jüngeren deutschen Geschichte dominierte bis in die 1980er Jahre ein Interpretationsmodell die historische Forschung, das In beiden Bereichen hat es in den letzten zwei Jahrzehnten allerdings eine deutliche Intensivierung der Forschung gegeben. Vgl. zusammenfassend: Heinz REIF, Adel im 19. und 20. Jahrhundert, München 1999 und für die Potentiale einer erweiterten Militärgeschichte: Thomas KÜHNE/Benjamin ZIEMANN (Hg.), Was ist Militärgeschichte?, Paderborn 2000.

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die Geschichte der Reichswehr als bloße Fortsetzung der deutschen Armeen im Kaiserreich und als Vorgeschichte der Wehrmacht im Nationalsozialismus zu erklären suchte. Neben noch immer bedeutenden Gesamtdarstellungen entstanden zahlreiche militärhistorische Einzelstudien, vor allem zur Früh- und Endphase der Republik, in denen soziale Ordnungsmuster des Kaiserreiches in wissenschaftliche Kategorien umgeschrieben und als Analyseraster zur Erforschung der Nachkriegszeit verwandt wurden.2 Danach gelang es der weiterhin von adligen Offizieren dominierten Reichswehrfiihrung nach einer kurzen Phase der Instabilität 1918/19, die Republikanisierung des Offizierkorps und ein Hineinwachsen der Armee in die Gesellschaft der Republik zu verhindern.3 Zum Schaden der Weimarer Republik etablierte sich die Reichswehr als quasi-autonomes Eliteheer mit der Tendenz zur Bildung eines „Staates im Staate".4 Mit Hinweis auf die homogene Zusammensetzung des Offizierkorps, die sogar die der Vorkriegsarmee übertraf, und den weiterhin hohen Anteil adliger Offiziere, wurden die fatal erfolgreiche Reorganisation des Reichsheeres entlang wilhelminischer Leitlinien und die Persistenz vormoderner, (neo-) feudaler Strukturen im Militärapparat betont.5 Die Reichswehroffiziere, vorAls Auswahl: Gordon A. CRAIG, The Politics of the Prussian Army 1640-1945, London/Oxford/New York 1955, v.a. S. 342-467; Francis L. CARSTEN, Reichswehr und Republik 1918-1933, Köln/Berlin 1964; Rainer WOHLFEIL, Heer und Republik (1918-1933), in: Handbuch zur deutschen Militärgeschichte, Bd. II/6, Frankfurt 1970; pointiert zusammenfassend: Manfred MESSERSCHMIDT, Preußens Militär in seinem gesellschaftlichen Umfeld, in: Hans Jürgen Puhle/Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Preußen im Rückblick, Göttingen 1980, S. 43-88, v.a. 77-85. Die verpaßte Chance zum demokratischen Neuanfang 1918/19 dominierte einen guten Teil der militärhistorischen Revolutionsforschung. Beispielhaft: Wolfram WETTE, Gustav Noske. Eine politische Biographie, Düsseldorf 1987. Urvater dieser Sichtweise ist Ekkehart KEHR, Zur Soziologie der Reichswehr, in: Der Primat der Innenpolitik. Gesammelte Aufsätze zur preußisch-deutschen Sozialgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, hg. v. Hans-Ulrich Wehler, Berlin 1965, S. 235-243, dessen großartige tagespolitische Polemik von Historikern allzu leichtfertig als bare wissenschaftliche Münze genommen wurde. Detlef BALD, Der deutsche Offizier. Sozial- und Bildungsgeschichte des deutschen Offizierkorps im 20. Jahrhundert, München 1982, v.a. S. 85-100. Noch immer werden Kontinuität und Restauration des preußisch-deutschen Militarismus über 1918 hinaus einfach als „bekannt" vorausgesetzt, Adelsprivileg und -monopolisierung in Führungsstrukturen als „eindeutiges Faktum" festgelegt und somit von vornherein der wissenschaftlichen Diskussion entzogen. So Detlef Bald in seinen „einführenden Bemerkungen" zur Sozial- und Strukturgeschichte der Wehrmacht, in: Die Wehrmacht. Mythos und Realität, im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes hg. v. Rolf-Dieter Müller/Hans-Erich Volkmann, München 1999, S. 349-356. Allen Einwänden zum Trotz liefern Balds grandie-

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nehmlich Abkömmlinge und Repräsentanten der „alten Eliten", fanden demnach niemals zu einer konstruktiven Beziehung zur Republik. Vielmehr orientierten sie sich an Monarchie und „soldatischem Geist" und trugen somit maßgeblich zum Kollaps der Weimarer Republik bei. So ziehen sich die von oben gesteuerte „soziale Militarisierung"6 der preußisch-deutschen Gesellschaft einerseits, die neuständische Abgeschlossenheit des Offizierkorps andererseits als nahezu unveränderliche Konstanten durch die neuere preußisch-deutsche Geschichte, die durch den „Zwang der großen Zahlen" 7 im späten 19. Jahrhundert kaum geschwächt, unter den Bedingungen des Ersten Weltkrieges nach 1916 nur kurzzeitig aufgehoben und erst durch die modernisierenden Strukturveränderungen in der militärischen Gesellschaft des „Dritten Reiches" gebrochen wurden.8 Bei näherem Hinsehen erweisen sich diese Glaubenssätze jedoch als unzureichende Instrumente für eine sozialgeschichtliche Untersuchung des preußischen Militäradels nach 1918. Zwar liefern sie das analytische Rüstzeug zur Erklärung der Beharrungskraft der traditionellen Herrschaftseliten gegen gesellschaftliche Modernisierung und Demokratisierung, der Übernahme adlig-antibürgerlicher Lebens- und Herrschaftsmodelle durch das Bürgertum und der Wirkungsmacht der (alt-) preußischen Militärtradition, beschreiben jedoch in erster Linie die Statik eines vergangenen Gesellschaftszustandes, während die Dynamik der Gesellschaftsbildung nach 1918 ignoriert bzw. unverbunden daneben gestellt wird. Auch wenn diese Interpretation den Forschungsdiskurs über das deutsche Militär der Zwischenkriegszeit über Jahre hinweg bestimmte, blieb sie nie unumstritten. Eine grundlegend neue Perspektive eröffgende Studien noch immer die verläßlichsten Daten über die soziale Zusammensetzung des Offizierkorps. Otto BÜSCH, Militärsystem und Sozialleben im alten Preußen 1713-1807. Die Anfänge der sozialen Militarisierung der preußisch-deutschen Gesellschaft, Berlin 1962. Manfred MESSERSCHMIDT, Militär, Politik und Gesellschaft. Ein Vergleich, in: Eliten in Frankreich und Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert. Bd 1 : Strukturen und Beziehungen, hg. v. Rainer Hudemann/Georges-Henri Soutou, München 1994, S. 249-261, hier: S. 255. Bernhard R. KROENER, Auf dem Weg zu einer „nationalsozialistischen Volksarmee". Die soziale Öffnung des Heeresoffizierskorps im Zweiten Weltkrieg, in: Martin Broszat/Klaus-Dietmar Henke/Hans Woller (Hg.), Von Stalingrad zur Währungsreform. Zur Sozialgeschichte des Umbruchs in Deutschland, München 1988, S. 651-682 und ders., Strukturelle Veränderungen in der militärischen Gesellschaft des Dritten Reiches, in: Michael Prinz/Rainer Zitelmann (Hg.), Nationalsozialismus und Modernisierung, Darmstadt 2 1994, S. 267-296.

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neten jene Studien, in denen das Beziehungsgeflecht von militärischer Profession, Nationalstaat und industrieller Gesellschaft ins Zentrum der Überlegungen gerückt wurde. 9 Im Übergang des Offizierkorps vom Gesellschaftsstand zum Berufsstand bildeten sich in einzelnen Sektoren des Militärs über Expertenwissen verfugende funktionale Eliten aus, die sich in erster Linie der Organisation von militärischer Gewalt verpflichtet fühlten. Im Ersten Weltkrieg wurde die aristokratischwilhelminische Militärkultur durch einen von der Dritten Obersten Heeresleitung zur Maxime erhobenen Leistungskult abgelöst, so daß im Krieg letztlich zwei Offizierstypen das Feld beherrschten: Zum einen der Generalstabsoffizier in der Etappe als Manager der militärischen Gewaltorganisation und zum anderen der Frontoffizier als Heros des Krieges, von denen der erste Typ das Offizierkorps der Reichswehr in den Führungs- und Entscheidungspositionen dominierte. Nicht die reaktionär-konservativen Militärfossilien in der Truppe, sondern die progressiven Kriegsmanager im Wehrministerium und in den Stäben trugen demnach entscheidend zur systematischen Demontage der Weimarer Republik bei. Die neofeudale Außendarstellung des Offizierkorps hingegen wurde als mediale Inszenierung zur Wiedergewinnung von militärischer Identität und sozialem Status gedeutet. Erst durch die erfolgreiche Vermittlung des Leitbildes einer homogenen, aristokratisch veredelten Militärelite erlangte das sozial desintegrierte Offizierkorps innermilitärische wie gesamtgesellschaftliche Akzeptanz. Mit diesem Interpretationsansatz gelang es überzeugend, das dynamische Ineinandergreifen von industrieller und militärischer Gesellschaft in den Blickpunkt zu rücken und gleichzeitig den allgegenwärtigen Rückgriff auf aristokratische Militärtraditionen zu integrieren. Im Anschluß an dieses flexible Verlaufsmodell, das allerdings den Widerstand der Offiziere gegen den säkularen Wandel des Militärs und die tief gegründete Nähe der Offizierskultur zur aristokratischen Kultur

Grundlegend: Michael GEYER, Aufrüstung oder Sicherheit. Die Reichswehr in der Krise der Machtpolitik 1924-1936, Mainz 1980; v.a. aber ders., Professionals and Junkers. German Rearmament and Politics in the Weimar Republic, in: Richard Bessel/E. J. Feuchtwanger (Hg.), Social Change and Political Development in Weimar Germany, London 1981, S. 77-133 u. in erweiterter Perspektive: ders., The Past as Future: The German Officer Corps as Profession, in: Geoffrey Cocks/Konrad H. Jarausch (Hg.), German Professions 1800-1950, Oxford 1990, S. 183-212.

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zuweilen marginalisiert,10 soll einerseits der preußische Militäradel als soziale Formation, andererseits „Aristokratie" als zugeschriebene, scheinbar unveränderliche Qualität im Wandel nach 1918 untersucht werden. Aus der Perspektive der Adels- und Elitenforschung ist der älteren sozialgeschichtlich ausgerichteten Militärgeschichtsschreibung zusätzlich zu entgegnen, daß sie in frappierender Gleichförmigkeit des Arguments die jüngere deutsche (Militär-) Geschichte in die Schraubzwingen der Modernisierungstheorie preßte. Je nach Standpunkt mündete dies in eine adlige Beharrungs- oder Niedergangsgeschichte, die den strengen inneren Differenzierungen, den spezifischen Spielregeln, Lebensweisen und Verhaltensformen dieser sozialen Gruppe kaum gerecht wurde. Zweifellos ist die Geschichte des deutschen Adels, zumal des Militäradels, im 19. und 20. Jahrhundert als die Geschichte eines unvermeidlichen Niederganges zu schreiben. Doch verlief dieser Abstieg auch nach 1918 keineswegs geradlinig und eindimensional, sondern wurde durch Anpassungs- oder Beharrungsleistungen immer wieder gebremst, blockiert oder gar als Chance zur inneren Neuordnung bei gleichzeitiger Identitätswahrung genutzt." Unter den Bedingungen des grundlegenden Wandels aller Gesellschafts- und Lebensbereiche nach 1918, eines Wandels der wiederum auch neue Handlungsspielräume eröffnete, muß der preußische Militäradel demnach als eine in die Defensive geratene gesellschaftliche und militärische Elite im Wechselspiel von Niedergang, Anpassung und Beharrung untersucht werden. Insofern ist der als Vermittlungsversuch von Klaus-Jürgen Müller entfaltete Interpretationsrahmen, „einmal die vorindustrielljunkerliche Tradition des preußisch-deutschen Militärstaates und, zum anderen, die moderne kapitalistisch organisierte Industriegesellschaft,12 für die Zeit nach 1918 fruchtbar zu machen, indem diese beiden Pole eben nicht als statische Gegensätze nebeneinander gestellt,

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Bspw. Michael GEYER, Deutsche Rüstungspolitik 1860-1980, Frankfürt a. M. 1984, S. 118: „Die Geschichte machte einen Sprung - ob nun diejenigen, welche die Geschichte machten, springen wollten oder nicht."

11

So schon Heinz REIF, Der Adel in der modernen Sozialgeschichte, in: Sozialgeschichte in Deutschland. Entwicklungen und Perspektiven im internationalen Zusammenhang, hg. v. Wolfgang Schieder/Volker Sellin, Bd. IV: Soziale Gruppen in der Geschichte, Göttingen 1987, S. 34-60, hier: S. 54; vgl. Eckart CONZE, Von deutschem Adel. Die Grafen Bernstorff im zwanzigsten Jahrhundert, Stuttgart/München 2000, S. 10 f.

12

Klaus-Jürgen MÜLLER, Armee und Drittes Reich 1933-1939, Paderborn 1987, S. 13 (Hervorhebungen im Text).

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sondern als dynamische Entwicklungen miteinander verschränkt werden. Diese Untersuchungsperspektive läßt differenzierte Schlüsse über soziale Verhaltensweisen und Mentalität der adligen Offiziere zu. Mehr noch ermöglicht sie die Bestimmung konkreter Umschlagpunkte und möglicher Alternativen der politischen Orientierung, die über den allgemeinen Hinweis auf Militarismus und Demokratiefeindlichkeit hinausgehen. Als Grundpfeiler dieser Untersuchung stelle ich vier Überlegungen voran: a) Auffallend ist zunächst, daß den „Junkern" als Sondergruppe innerhalb des deutschen Adels wohl zurecht ein Höchstmaß an historischer Verantwortung zugewiesen wurde, jedoch ohne die in ihrer Bedeutung kaum zu übersehenden Binnengrenzen des Adels zu konturieren. In erstaunlicher Weise hat die „kritische Sozialgeschichte" am unscharfen Stereotyp des Junkers festgehalten und in der Nachfolge von Hans Rosenberg diesen politischen Kampfbegriff als analytische Kategorie in die Geschichtswissenschaft eingeführt. 13 Dabei bediente sie sich nicht zuletzt der Selbstdeutungen und -Stilisierungen des preußischen Adels, die angesichts einer beschleunigt zerfallenden Adelswelt nach 1918 doch in erster Linie dem inneren Zusammenhalt einer imagined community dienen sollten.14 Entgegen der immer wieder erhobenen Forderung nach Differenzierung des Adelsbegriffes, der einzigartigen Vielfalt des deutschen Adels entsprechend,15 orientierte sich die sozialgeschichtliche Junkerforschung zu stark an den großen Rittergutsbesitzern, setzte eine innere Homogenität des preußischen Adels als gegeben voraus und tendierte letztlich zur kritischen Reproduktion der junkerlichen Selbstsicht. Der Adel im preußischen Offizierkorps wurde geradezu als Agent agrarischer Interessen konstruiert, der Dynamik der gesellschaftlichen und militärischen Modernisierung entzogen und ganz im Stile seiner 13

Schulbildend: Hans ROSENBERG, Die Pseudo-Demokratisierung der Rittergutsbesitzerklasse, in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Moderne deutsche Sozialgeschichte, Köln 1968, S. 287-308; kritisch, aber kaum differenzierter: Hanna ScfflSSLER, Die Junker. Zur Sozialgeschichte und historischen Bedeutung der agrarischen Elite in Deutschland, in: Hans Jürgen Puhle/Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Preußen im Rückblick, Göttingen 1980, S. 89-122.

14

Vgl. Marcus FuNCK/Stephan MALINOWSKI, Geschichte von oben. Autobiographien als Quelle einer Sozial- und Kulturgeschichte des deutschen Adels in Kaiserreich und Weimarer Republik, in: Historische Anthropologie 7 (1999), S. 236270, hier: 244.

15

REIF, Adel im 19. und 20. Jahrhundert (wie Anm. 1), S. 1-9.

Der preußische Militäradel in der Weimarer Republik

133

Selbstinszenierungen als vormoderner rocher de bronze präsentiert, als „statische Elite in einem sich rapide wandelnden gesellschaftlichen Kosmos." 16 In Anlehnung an Otto Büschs Thesen von der räumlichen Deckungsgleichheit des Gutsbezirks mit dem Kantonbezirk sowie der sozialen Identität des Gutsbesitzers und des Regimentskommandeurs17 wurden „Altpreußentum", Militäradel und Gutsbesitz in eins gesetzt und für die Sozialstrukturanalyse der Reichswehr fortgeschrieben, ohne die dramatischen Auswirkungen des ökonomischen und sozialen Wandels gerade auf die Offiziersdynastien zu berücksichtigen. Dagegen wird Militäradel hier als eine eigene Adelsgruppe verstanden, die sich aus der Masse der nachgeborenen Söhne der Familien des landgesessenen Adels und der zahlreichen nichtbegüterten Familien des kleinen Adels rekrutierte. Mit Vorbehalt sind auch die nobilitierten bürgerlichen Offiziersfamilien hinzuzuzählen, deren Wertesystem, Ethos und Sozialverhalten sich zumeist schon in der zweiten Generationen an aristokratisch-militärischen Normen orientierte. Diese Entwicklung zu einer zunehmend rein militärisch-aristokratisch fundierten Elite verschärfte sich nach 1918 in der Reichswehr. Zwischen 1921 und 1934 stammten beispielsweise weniger als fünf Prozent der Offiziersanwärter und 1930 kein einziger General aus Gutsbesitzerfamilien, während die Selbstrekrutierungsquote innerhalb des Offizierkorps sprunghaft anstieg.18 Der Jammer über den Verlust von eigenen Gütern und eigenem Besitz bzw. über die Entfremdung von der „heimatlichen Scholle"19 steht in gewissem Widerspruch zu der stilisierten Nähe zum

16

MESSERSCHMIDT, Militär, Politik und Gesellschaft (wie Anm. 7), S. 259.

17

BÜSCH, Militärsystem und Sozialleben (wie Anm. 6); kritisch und mit gutem Argument: Frank GÖSE, Zwischen Garnison und Rittergut. Aspekte der Verknüpfung von Adelsforschung und Militärgeschichte am Beispiel Brandenburg-Preußens, in: Ralf Pröve (Hg.), Clio in Uniform? Probleme und Perspektiven einer modernen Militärgeschichte der Frühen Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 1997, S. 109-142.

18

Vgl. Karl DEMETER, Das deutsche Offizierkorps in Gesellschaft und Staat 16501945, Frankfurt a. M. J 1962, S. 53 u. Nikolaus v. PRERADOVICH, Die soziale Herkunft der Reichswehr-Generalität 1930, in: Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 54 (1967), S. 481-486, dessen schrille Kritik an der „sowjetzonalen Historiographie" den Wert seiner statistischen Untersuchung kaum schmälert.

19

Paul V. LETTOW-VORBECK, Meine Lebenserinnerungen, in: Bundesarchiv-Militärarchiv Freiburg ( B A - M A ) Ν 103/44 (ν. Lettow-Vorbeck), fol. 4f.; vgl. Alexander V. BRANDENSTEIN-ZEPPELIN, Erlebtes und Erstrebtes, in: B A - M A Ν 491/1 (Ν. Brandenstein-Zeppelin), fol. 1 ; Fabian Ν. SCHLABRENDORFF, Begegnungen in

134

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Großgrundbesitz und zum Landleben.20 Dieser Widerspruch läßt sich auflösen, wenn man erstens auf realgeschichtlicher Ebene Familiennetzwerke und die weitläufigen inneradligen Verwandtschaftsbeziehungen rekonstruiert und zweitens „Land" und „Familie" als kulturelle Orientierungsbegriffe versteht, mit deren Hilfe ein Teil des Militäradels historische Tiefe, Identität und sozialen Status zurückzugewinnen suchte. b) Der Militäradel ist als eine Teilgruppe des kleinen Adels zu beschreiben. Die Verwendung des Begriffes ist lohnenswert, weil er im Unterschied zur rein adelsrechtlichen Unterscheidung zwischen hohem und niederem Adel eine Aussage über die ökonomische und soziale Lage dieser Teilgruppe trifft. Zum kleinen Adel zählen vor allem jene Familien, die schon vor dem Ersten Weltkrieg vom „Absinken in den Mittelstand"21 betroffen, zu einem herrschaftlichen Lebensstil aus eigener Kraft nicht mehr fähig waren und gleichwohl die für sich reklamierte besondere Befähigung zum Herrschen nicht kampflos aufgeben wollten. Ebenso müssen zum Teil die nichterbenden Söhne und nichtheiratenden Töchter als Träger der Familienlasten hinzugezählt werden, selbst wenn sie aus eigentlich vermögenden Familien stammten. Relative Verarmung und Tendenzen zur „Proletarisierung" in Teilen des kleinen Adels standen seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der inneradligen Diskussion,22 und die Gründung der Deutschen Adelsgenossenschaft 1874 kann nur vor diesem Hintergrund verstanden werden. Mit enormem propagandistischen Aufwand und bescheidenen Erfolgen betrieb die DAG die finanzielle Stützung in Not geratener Standesgenossen als Gegenstück zu den Familienstiftungen des vermögenden Adels durch Einrichtung von Hilfsfonds, Erziehungsbeifünf Jahrzehnten, Tübingen 1979, S. 12f.; Erich v. MANSTEIN, AUS einem Soldatenleben 1887-1939, Bonn 1958, S. 15. 20

FUNCK/MALINOWKSI, Geschichte von oben (wie Anm. 14), S. 247-253.

21

Hugo v. FREYTAG-LORINGHOVEN, Menschen und Dinge, wie ich sie in meinem Leben sah, Berlin 1923, S. 336.

22

Bspw. Stephan KEKULÉ V. STRADONITZ, Armut und Reichtum im deutschen Adel, in: Deutsche Revue 36 (1911), S. 35-42; anonym., Über Berufswahl, in: Deutsches Adelsblatt 4 (1886), S. 102f. und GRAF BÜLOW V. DENNEWITZ-GRÜNHOFF,

Soziale Bedeutung und Aufgaben des Adels, in: ebda. 23 (1905), S. 761-765. So einfach wie Hartwin SPENKUCH, Das Preußische Herrenhaus. Adel und Bürgertum in der Ersten Kammer des Landtages 1854-1918, Düsseldorf 1998, S. 26 (s. a. Fußnote 34) kann man das Problem des „verarmten Adels" nicht vom Tisch wischen. Hier trübt die spezifische Forschungsperspektive den Blick fürs Ganze denn was man nicht sucht, kann man eben auch nicht finden.

Der preußische Militäradel in der Weimarer Republik

135

hilfen und Stipendien.23 Durch den sozialen Absturz des kleinen Adels nach 1918 verschärfte sich die finanzielle Situation von Standesgenossen gerade aus militäradligen Familien zusehends und konnte weder durch staatliche Pensionszahlungen noch durch inneradlige Stützungsmaßnahmen und Stellenvermittlungen im Adelsblatt unter Kontrolle gebracht werden.24 Auch ist die Zuordnung des Militäradels zum kleinen Adel insofern sinnvoll, als dadurch die Beschränkung der Analyse auf die adligen Spitzen innerhalb der militärischen Profession aufgegeben und die Masse der nach 1918 entlassenen Offiziere in den Blick genommen wird. c) Infolge der skizzierten perspektivischen Verengung ergaben sich auch gravierende methodische Unzulänglichkeiten in militärhistorischen (Adels-) Studien. Zum einen fallt die Tendenz ins Auge, die politische und gesellschaftliche Stellung des Militäradels über Positionsanalysen zu taxieren, ohne den Bedeutungswandel dieser Positionen im institutionellen Gefiige zu berücksichtigen.25 Zu prüfen bleibt, in welchem Maße sich mit diesem Bedeutungswandel auch ein nicht quantifizierbarer Verhaltenswandel der Offiziere einstellte bzw. inwiefern sich das Rollenverständnis des gesamten Korps oder wenigstens seiner bedeutendsten Teile änderte. Zum anderen bewertete man das Maß an Erfolg und Beharrung zu stark nach den Leistungen der adligen Spitzenmilitärs,26 während es kaum jemandem in den Sinn kam, die Frage nach dem Rest der Familien oder gar nach den „Verlierern" auch adlige Offiziere scheiterten an der Majorsecke - zu stellen, was 23

Neben dem Central-Hilfsverein, der zwischen 1888 und 1891 insgesamt 142 Familien mit bescheidenen 40.000 Mark unterstützt haben will, war die „Nobilitas. Verein zur Förderung und Unterstützung verarmter Edelleute" die wichtigste Unterstützungsagentur der DAG vor 1914.

24

In einem „an den Adel auf dem Lande" gerichteten Aufruf reagierte das Deutsche Adelsblatt 1921 - also kurz nach der Heeresreduzierung - auf die hohe Nachfrage von Standesgenossen, besonders von älteren und verheirateten Offizieren, die ohne Stellung waren, nach Unterkunft und Tätigkeit auf dem Lande und forderte Hilfe für diejenigen die „vorn an der Front Ihnen allen vier Jahren hindurch den Feind von Haus und Hofhielten." In: Deutsches Adelsblatt (39/1921), S. 40.

25

Michael GEYER, Die Geschichte des deutschen Militärs von 1860-1945. Ein Bericht über die Forschungslage (1945-1975), in: Die moderne deutsche Geschichte in der internationalen Forschung 1945-1975, hg. v. Hans-Ulrich Wehler, Göttingen 1978, S. 256-286, hier: 265f. Vgl. auch Heinz REIF, Adel (wie Anm. 11), S. 47f.

26

Bspw. Daniel J. HUGHES, The King's Finest. A Social and Bureaucratic Profile of Prussia's General Officers 1871-1914, New York 1987.

136

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zu verzerrenden Einschätzungen der sozialen Lage des gesamten Adel führen mußte. Insofern folgten die sozialgeschichtlichen Positionsanalysen unbewußt einer spezifisch adligen Herrschaftsstrategie, nach der sich der Wert der Gesamtgruppe gerade nach dem Wert ihrer Besten bemißt.27 Als Korrektiv dazu sollte der Fokus gerade für die Jahre nach 1918 in stärkerem Maße auf den adligen Durchschnitt bis hin zu den Modernisierungs- und Revolutionsverlierer innerhalb und außerhalb der militärischen Profession gerichtet werden.28 d) Zurecht ist das preußische Offizierkorps als eine Elite beschrieben worden, die im 19. Jahrhundert einen politisch-sozialen Führungsanspruch einforderte, der weit über die Grenzen der Profession hinaus reichte.29 Seine Legitimation bezog es gleichermaßen aus aristokratischen Herrschaftstraditionen, vermeintlich historisch gewachsenen und in der Armee konservierten Wertbeständen und aus dem nationalen Auftrag zur Landesverteidigung. Das Offizierkorps als Ganzes verstand sich vor 1914 als ständisch-genossenschaftlicher Sozialverband von ebenbürtigen Kriegern und beanspruchte über den funktionalen Rahmen hinaus einen Platz als gesamtgesellschaftliche Herrschaftsund Wertelite. Dieser Anspruch auf Formulierung und Repräsentation allgemeiner Werte in Stellvertretung auch der zivilen Gesellschaft schlicht zusammengefaßt in der Selbsteinschätzung als „Erzieher der Nation" - wurde durch die allgemeine Wehrpflicht und das Institut des Reserveoffiziers paradoxerweise zugleich gestärkt und erschüttert. Aufgrund ihres allumfassenden Vertretungsanspruches repräsentierte und reproduzierte die preußisch-deutsche Armee die Herrschaftsverhältnisse und -konflikte der fragmentierten wilhelminischen Gesellschaft sehr viel stärker als sie diese Spannungen ausgleichen konnte, insofern war sie in der Tat eine Friedensarmee par excellence. Nach 1918 hingegen kann man beim Offizierkorps in seiner Gesamtheit

27

Georg SIMMEL, Exkurs über den Adel, in: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Gesammelte Werke, Bd. 11, hg. v. Otto Rammstedt, Frankfurt a. M. 1992, S. 824.

28

So schon Georg H. KLEINE, Adelsgenossenschaft und Nationalsozialismus, in: Vierteljahreshefte ffir Zeitgeschichte 26 (1978), S. 100-143.

29

Eine nützliche Einführung in die ältere soziologische Elitenforschung liefert Heiger OSTERTAG, Bildung, Ausbildung und Erziehung des Offizierkorps im deutschen Kaiserreich 1871-1918 - Eliteideal, Anspruch und Wirklichkeit, Frankfurt a. M. 1990. Vgl. auch Bernhard R. KROENER, Generationserfahrungen und Elitenwandel. Strukturveränderungen im deutschen Offizierkorps 1933-1945, in: Soutou/Hudemann, Eliten (wie Anm. 7), S. 219-233.

Der preußische Militäradel in der Weimarer Republik

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nicht mehr ernsthaft von einer gesellschaftliche Elite sprechen.30 Die kleine Zahl der aktiven Offiziere, die hohe Selbstrekrutierungsquote von ca. fünfzig Prozent und die geringe Ausstrahlungskraft auf weite Teile der Gesellschaft warfen die Reichswehr ganz auf ihren funktionalen Auftrag zur Landesverteidigung zurück - und nicht einmal diesen konnte sie zufriedenstellend erfüllen.31 Weder repräsentierte das Offizierkorps gesamtgesellschaftliche Werte, noch konnte es diese formulieren oder gar steuern. Mochte sich die Reichswehr auch als elitäres Führerheer definieren und über ihren militärischen Auftrag hinaus einen gesellschaftlichen Führungsanspruch signalisieren, bildete sie doch eine gesellschaftliche Gruppe neben anderen, deren Auftrag von der Gesellschaft her formuliert und als Erwartung von außen an sie heran getragen wurde. 2. Ausgangsbedingungen - Bemerkungen zu den sozialen Veränderungen im preußischen Militäradel nach 1914 Das Offizierkorps des „deutschen Heeres", das nach dem 9. November 1918 von den Fronten zurück in die Heimat marschierte, hatte mit dem vom 1. August 1914 nur noch sehr wenig gemein. Insgesamt dienten in den deutschen Armeen zwischen 1914 und 1918 45.923 Offiziere und 226.130 Reserveoffiziere, von denen 11.357 bzw. 35.493 getötet wurden. Allein das preußische Kontingent hatte noch 1914 22.112 aktive Offiziere und 29.230 Reserveoffiziere gezählt, von denen innerhalb der ersten fünfzehn Kriegsmonate 5.633 (17%) bzw. 7.565 (9%) getötet worden waren. Bis zum November 1918 produzierte der Krieg hier 35.260 aktive Offiziere und 169.625 Reserveoffiziere. 32 Durch die außerordentliche Vermehrung der Offizierspatente während des Krieges stieg auch die absolute Zahl der adligen Offiziere. Zählte das preußische Kontingent 1914 etwas mehr als 6.000 aktive adlige Offiziere,

30

Ähnlich schon Heinz HÜRTEN, Das Offizierkorps des Reichsheeres, in: Hanns Hubert Hofmann (Hg.), Das deutsche Offizierkorps 1860-1960, Boppard 1980, S. 244f. Vgl. Wilhelm HEYE, Mein Lebenslauf, in: BA-MA Ν 18/4 (Heye), fol. 216, der die Reichswehroffiziere als „Paria der Gesellschaft" beschreibt.

31

GEYER, Abrüstung oder Sicherheit (wie Anm. 9), 23f.

32

Alle Zahlen nach: Vom Sterben des Deutschen Offizierkorps, hg. v. Constantin V. ALTROCK, Berlin 1921 u. Otto-Emst VOLKMANN, Soziale Heeresmißstände als Mitursache des deutschen Zusammenbruchs von 1918, in: Das Werk des Untersuchungsausschusses der Verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung und des Deutschen Reichstages 1919-1930, Vierte Reihe: Die Ursachen des Deutschen Zusammenbruches im Jahre 1918, Zweite Abteilung, Bd. 1/11, Berlin 1928.'

138

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mehr als ein Drittel aller adligen Männer im kriegsfähigen Alter, stieg deren Zahl bis 1918 noch auf ca. 10.200.33 Schon die bloßen Zahlen weisen auf gewaltige soziale Verschiebungen innerhalb des Armee-Offizierkorps während des Ersten Weltkrieges hin. Aufgrund des enormen Bedarfs an militärischem Führungspersonal und des Mangels an ausgebildeten aktiven Offizieren, insbesondere nach dem „Sterben des [alten] Offizierkorps" 1914/15, gewannen die zumeist bürgerlichen Reserveoffiziere, vor allem in den unteren, frontnahen Hierarchieebenen erheblich an Bedeutung. Auch wurden mit der Auflösung der relativen Homogenität des Offizierkorps die Befehlshierarchien entlang der militärischen Erfordernisse neu geordnet. Dieser Entwicklung gab der Rückzug des Kaisers als Oberster Kriegsherr und der Machtzuwachs der Obersten Heeresleitung ebenso Ausdruck wie die Verschiebungen im Herrschaftsgefiige zwischen Kommandierenden Generalen und Generalstabsoffizieren bzw. Etappen- und Frontoffizieren. Aus der ohnehin prekären Einheitlichkeit der Vorkriegsarmee entfalteten sich verstärkt seit 1916 offensichtlich konkurrierende Offizierskonzeptionen, welche die Wehrdebatten bis in die 1930er Jahre hinein bestimmen sollten. Nach dem Prinzip der ungleichen Verteilung adliger Offiziere auf die verschiedenen Rangstufen - je höher der Rang desto größer der Adelsanteil34 - konzentrierte sich der Militäradel in den frontfernen Entscheidungszentren, während die Verwendung an der Front auf jüngere Adelsoffiziere bis zum Major beschränkt blieb. Dies ist in zweierlei Hinsicht von Bedeutung: einmal lag hier der Nukleus für den tiefen Bruch zwischen den Adels-Generationen, der die Zugehörigkeit zu einem gemeinsa-

33

Angesichts des Mangels an differenziertem statistischen Material, handelt es sich bei diesen Zahlenangaben um vorsichtige Schätzungen. Einigermaßen verläßliche Zahlen existieren für das Jahr 1912, in dem insgesamt 7.096 adlige Offiziere (davon 5.944 aktive Offiziere) in den deutschen Armeen dienten. Vgl. Helene PRINZESSIN V. ISENBURG, Der Berufswandel im deutschen Adel (1912-1932), in: Deutsches Adelsblatt 54 (1936), S. 43-45 u. 74f. und dies., Berufswandel im deutschen Uradel während des letzten Vierteljahrhunderts (1912-1937), in: ebda. 55 (1937), S. 887f. Hans-Ulrich WEHLER, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3: Von der „Deutschen Doppelrevolution" bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849-1914, München 1995, S. 819 liegt mit der Angabe von 6.630 aktiven adligen Offizieren (inklusive Fähnriche und Offiziere à la suite) wohl etwas zu hoch, während Iris FREIFRAU V. HOYNINGEN-HUENE, Adel in der Weimarer Republik. Die rechtlich-soziale Situation des reichsdeutschen Adels 1918-1933, Limburg 1992, S. 284 für 1914 Ist- und Soll-Stärken miteinander verwechselt, somit sagenhafte 8.700 adlige Offiziere ermittelt.

34

Zur „Adelspyramide": BALD, Der deutsche Offizier (wie Anm. 5), S. 93-96.

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139

men Stand überlagern sollte, 35 zum anderen wurde die große Zahl adliger Offiziere vom Stabsoffizier aufwärts in funktionale Stellungen gedrängt, wo sie entgegen ihrer heroischen Familientraditionen zwar über die Front verfugen und Tod zuteilen, aber nicht mehr direkt in das Frontgeschehen eingreifen konnten.36 Aufgrund der erfolgreichen Vemebelungstaktik der gezielten Legendenbildung ist die Größenordnung der adligen Kriegstoten nur ungefähr zu ermitteln. Die repräsentative, für eine breite Öffentlichkeit zusammengestellte Helden-Gedenkmappe des deutschen Adels beispielsweise verzeichnet insgesamt 4.800 adlige Kriegsopfer. Darunter finden sich allerdings auch Offiziere bzw. Soldaten, die an Krankheiten starben, Attentaten zum Opfer fielen, nach 1918 in den Revolutionskämpfen getötet wurden oder einfach nur „an Überarbeitung im Dienst für das Vaterland" starben sowie Frauen und Kinder.37 Nach anderen, nicht weiter begründeten Angaben lag die Opferquote des deutschen Adels bei etwa 25% der adligen Kriegsteilnehmer, was auf eine absolute Zahl von ungefähr 4.000 infolge von Kampfhandlungen getöteten adligen Soldaten und Offiziere schließen läßt.38 Am genauesten lassen sich die Verluste für einzelne Geschlechter nachweisen, zumal diese für den Familiengebrauch detaillierte Opferverzeichnisse

35

36

37

38

Andeutungen in diese Richtung bei Kroener, Generationserfahrungen und Elitenwandel (wie Anm. 29), S. 228-233. Diese Bemerkung schließt nicht aus, daß es gerade den adligen Etappenoffizieren auch im Krieg möglich war, einen aristokratischen Lebensstil zu pflegen. Vgl. die von zeitweiligem Artilleriebeschuß unterbrochenen Jagdgeschichten bei Erwin V. WITZLEBEN, Privates Kriegstagebuch, Bd. 2, 14.2. 1915-24.4. 1916, in: BAMA Ν 228/2 (ν. Witzleben), und die gänzlich außergewöhnlichen „Kriegserlebnisse" eines Hochadligen bei Andreas DORNHEIM, Kriegsfreiwilliger, aber Annexionsgegner: Alois Fürst zu Löwenstein-Wertheim-Rosenberg und seine „Kriegsbriefe", in: Kriegserfahrungen. Studien zur Sozial- und Mentalitätengeschichte des Ersten Weltkriegs, hg. v. Gerhard Hirschfeld/Gerd Krumeich/Dieter Langewiesche/Hans-Peter Ulimann, Essen 1997, S. 170-188. Dort (S. 179) auch die Wiedergabe einer bezeichnenden Beschreibung eines alternativen Kriegsalltags vom 14.12. 1914: „In meinem ganzen Leben habe ich nicht so gefaulenzt." Vgl. Alexis V. SCHOENERMARCK, Helden-Gedenkmappe des deutschen Adels, Stuttgart 1921; noch umfassender (und unglaubwürdiger) ist die Ehrentafel der Kriegsopfer des reichsdeutschen Adels 1914-1919, Gotha 1921. Daran angelehnt und falsch sind die phantastischen Zahlen bei HOYNINGEN-HUENE, Adel in der Weimarer Republik (wie Anm. 33), S. 20. Friedrich Wilhelm v. OERTZEN, Junker. Preußischer Adel im Jahrhundert des Liberalismus, Berlin o.J., S. 385f.

140

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anlegten.39 Von den im Heer am stärksten vertretenen preußischen Adelsgeschlechtern stellten die v. Biilow insgesamt 124 Kriegsteilnehmer, von denen 33 getötet wurden, die v. Arnim verloren 26, die v. Wedel 24 ihrer Söhne. Den „17 Helden v. Kleist" gedachte Georg v. Kleist, General der Kavallerie à la suite des 1. Brandenburgischen Ulanen-Regiments Nr. 3 „Kaiser Alexander II. von Rußland" - in diesem Regiment dienten alle seine sechs Söhne, von denen drei im Krieg getötet wurden - und Fideikommißherr auf Wusseken im Namen des Familienverbandes: „Alt und jung, alle wehrfähigen Kleiste folgten dem Ruf ihres Königs. Von 73 Mitgliedern des Geschlechts im Alter von 17 Jahren und darüber, die in Deutschland wohnten und deren Aufenthalt bekannt war, haben 58 am Kriege teilgenommen. [...] Auch dieser Krieg hat unsere Reihen wieder gelichtet. Wir haben den Verlust von 17 Vettern zu ertragen." 40 Noch schwerer wogen die Kriegsverluste für die kleineren Adelsfamilien, deren „Stammhalter im Felde geblieben" und die nun - um in der Sprache zu bleiben - „im Mannesstamm erloschen" waren. Bei aller Ungenauigkeit vermitteln die Eintragungen in die Helden-Gedenkmappe einen Eindruck von der Größenordnung des Familiensterbens. Danach wurden im Ersten Weltkrieg 675 „einzige Söhne", von den insgesamt 497 gefallenen Brüderpaaren in 105 Fällen die „einzigen Söhne" und von 100 gefallenen Vätern und Söhnen 23mal der „einzige Sohn" getötet. Insgesamt verloren also knapp über 800 Familien ihren männlichen Nachwuchs. Diese Aufzählungen lassen erahnen, daß der militärisch geprägte preußische Adel für den Kriegseinsatz alle vorhandenen personellen Ressourcen mobilisiert hatte. In der Statistik mag dies als Positionsgewinn oder Selbstbehauptung in einem der Kernbereiche adliger Berufstätigkeit ausfallen, in der Realität des Krieges bedeutete es aber eine Einordnung der Adelsgesellschaft in die Kriegsgesellschaft, eine überproportional hohe Anzahl im Krieg gefallener Männer und eine entsprechende Zahl an zu versorgenden Witwen und Waisen. Die fatalen demographischen Konsequenzen, insbesondere für die Geschlechter und Familien des niederen Adels, sind bislang noch nicht einmal ansatz-

39

Vgl. als Beispiele die Gedenkschrift der Familie v. d. Marwitz mit ihren detaillierten Beschreibungen der jeweiligen Todesarten der im Weltkrieg gefallenen „Vettern", in: Brandenburgisches Landeshauptarchiv Potsdam (BLHA), Rep. 37 (Friedersdorf), Nr. 259, fol. 105-120 und das schlichte „Verzeichnis der dem Militär angehörenden Mitglieder der Familie v. Arnim", in: ebda., Rep. 37 (Boitzenburg), Nr. 3356.

40

Die v. Kleist im Weltkriege, o. O. 1920.

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weise untersucht worden. Von ungleich größerer Bedeutung war allerdings, daß diese beeindruckenden Opferleistungen im Verhältnis zu den von der gesamten Gesellschaft erbrachten Opfern nicht mehr viel zählten.41 Trotz aller Anstrengungen, Umfang und Bedeutung des Adelsopfers der bürgerlichen Öffentlichkeit plausibel zu machen, ließ sich daraus ein gesamtgesellschaftlicher Führungsanspruch nicht mehr ohne weiteres ableiten - zu groß waren die materiellen und immateriellen Kriegsverluste insgesamt, zu stark waren die Ressentiments gegenüber der dafür verantwortlichen Kaste kriegerischer Herren. Für das Offizierkorps der Reichswehr ist zunächst festzustellen, daß der Militäradel sämtliche Offiziersstellen spielend alleine hätte besetzen können. Die erste Rangliste des neugebildeten Reichsheeres vom 1. Mai 1920 hingegen wies unter den insgesamt knapp 4.000 Offizieren gerade einmal 862 (21,7%) adlige Offiziere aus, d.h. etwa elf Zwölftel der am Ende des Krieges im Dienst stehenden adligen Offiziere wurden nicht in die Reichswehr übernommen. Die Zahl von ca. 9.300 adligen Offizieren „außer Dienst" nach 1918/20 verdeutlicht die katastrophalen ökonomischen und sozialen Folgen der Kriegsniederlage bzw. der Demobilisierung für eine bedeutende Teilgruppe des deutschen Adels, selbst wenn ein Teil davon in anderen angestammten Berufsfeldern oder in den Familien unterkam. Damit wird klar, daß eine Sozialgeschichte des Militäradels nach 1918 ihren Gegenstand verfehlt, wenn sie sich ausschließlich auf die konstante Größe von ungefähr 900 adligen Reichswehroffizieren konzentriert.42 Vielmehr muß das militärisch geprägte „Adelsproletariat", das 1918/20 sein traditionelles berufliches Tätigkeitsfeld und ökonomisches Standbein verlor, in die Analyse einbezogen werden. Aus der militärischen Profession gedrängt und unfähig, den Anschluß an ein ziviles Erwerbsleben zu schaffen, hielten diese Doppelexistenzen ihren militärischen und politischen Führungsanspruch aufrecht. Durchaus in Konkurrenz

41

Richard BESSEL, Germany After the First World War, Oxford 1993, S. 9-11.

42

Daher kann von einer „sozialen Konsolidierung" des preußischen Adels infolge der Reduzierung auf 4.000 Offiziersstellen höchstens aus der verengten Perspektive der militärischen Profession die Rede sein. Vgl. Wolfgang ZOLLITSCH, Adel und adlige Machteliten in der Endphase der Weimarer Republik. Standespolitik und agrarische Interessen, in: Heinrich August Winkler (Hg.), Die deutsche Staatskrise 1930 bis 1933. Handlungsspielräume und Alternativen, München 1992, S. 242 u. Detlef BALD, Vom Kaiserheer zur Bundeswehr. Sozialstruktur des Militärs: Politik der Rekrutierung von Offizieren und Unteroffizieren, Frankfurt a. M./Bern 1981, S.21.

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zur Reichswehr verstanden sie sich als eigentliche Gralshüter der Wehrhaftigkeit. Ganz gleich, ob adlig oder bürgerlich, die große Zahl der Offiziere blieb unmittelbar nach Einstellung der Kampfhandlungen im Dienst zumeist werden ja spektakuläre Einzelbeispiele hilf- und ratloser Altherrenmilitärs als Nachweis für „massenhafte Austritte" präsentiert - , so lange dies von den Alliierten geduldet wurde. Generalfeldmarschall Paul v. Hindenburg gab in seiner Weihnachtsbotschaft 1918 die ehrenvolle Rechtfertigung für den Verbleib, indem er für das Offizierkorps feststellte, daß die Pflicht gegen Volk und Vaterland über persönlichen Gefühlen und Anschauungen, Wünschen und überkommenen Traditionen stünde.43 Mögen „Ordnungswille", „Staatsglaube" oder „Reichsidee" ideologische Klammem für den Verbleib gewesen sein, so verblieben die meisten Offiziere erst einmal im Militär oder schlössen sich den neu gebildeten militärischen Haufen an, weil sie eine Wahl nicht hatten und nach über 4V2 langen Jahren Krieg zu einem schnellen Übergang in eine zivile Existenz nicht in der Lage waren. Die in adligen Selbstzeugnissen, aber auch in der Forschungsliteratur oftmals geäußerte Behauptung, der Adel hätte sich 1918 zunächst enttäuscht auf seine Güter zurückgezogen, trifft zumindest für diese Adelsformation nicht zu, weil sie diese Güter überhaupt nicht besaß. Es blieb bei Drohgebärden, Entwürfen von Abschiedsgesuchen und „festen Entschlüssen", die schließlich doch nicht ausgeführt wurden. 44 Erst mit der Konstituierung der Vorläufigen Reichswehr, im Grunde eine militärische Abwicklungsagentur gemäß den Bestimmungen des Versailler Vertrages, die noch im Frühjahr 1920 über einen Etat von 24.000 Offizieren verfügte, der sukzessive auf 4.000 Offiziere abgebaut werden sollte, begann die Zeit der Abschiede und der Entlassungen. Mit der Reduzierung der Offiziersstellen waren die Zeiten, in denen „in der Armee 60 Bülows, je 30 bis 50 Arnims, Bredows, Goltz', Kleists, Puttkamers, Schwerins und Wedels" 45 gleichzeitig 43

Briefentwurf des Chefs des Generalstabes des Feldheeres an Kriegsminister Reinhardt vom 17.12. 1918, in: Württembergisches Hauptstaatsarchiv Stuttgart (WHStA), Kriegsarchiv, MIO Bü 22, fol. 66.

44

Entwurf eines Abschiedsschreibens im Armee-Oberkommando Süd vom Juni 1919 in: BA-MA Ν 97/6 (ν. Bredow) u. Schreiben von Walter Freiherr v. Lüttwitz' an Friedrich Ebert vom 19.6. 1919 in: ebda. Ν 97/7, fol. 12.

45

Francis L. CARSTEN, Geschichte der preußischen Junker, Frankfurt 1988, S. 149. Daneben nehmen sich die gezwungen anmutenden Aufzählungen für das Reichsheer (ebda. S. 164f. und 176f.) doch sehr bescheiden aus. Vgl. die Aufzählung bei DEMETER, Offizierkorps (wie Anm. 18), S. 54.

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dienten, endgültig vorüber. Für die Familien des preußischen Adels wog das Wegbrechen der traditionellen Versorgungs- und Ausbildungsanstalten für die nachgeborenen Söhne besonders schwer. Mit der Schließung der Kadettenkorps war es nicht mehr möglich, die nachgeborenen Söhne entlang eines staatlich subventionierten „vorgezeichneten Weges" 46 Karriere machen zu lassen. Sicherlich war der Berufswechsel für diejenigen Offiziere einfacher, die aufgrund wirtschaftlicher Not wechseln mußten, über Familiennetzwerke oder berufliche Beziehungen verfügten, bereits zuvor Kontakt mit potentiellen Arbeitgebern aufgenommen hatten und ein Mindestmaß an nichtmilitärisch verwertbarer Bildung mitbrachten.47 Tiefgreifend gelungen, im Sinne einer vollständigen Ablösung vom Offizierleben, ist der Wechsel wohl nur in seltenen Fällen.48 Hauptmann Hans-Jürgen v. Arnim, während des Ersten Weltkrieges in einem Divisionsstab eingesetzt, schildert rückblickend die ungewisse berufliche und wirtschaftliche Situation: „[...] wer konnte, sah sich nach etwas anderem um; ging auf das elterliche Gut und wurde Landwirt, andere, wie v. Witzleben und v. Pentz, v. Schlick oder v. Keyserlingk kamen durch Bekannte in der Industrie unter. Ich machte immer noch demobil, nahm aber abends Unterricht in Stenographie, um nicht

46

47

48

Karl Anton PRINZ ROHAN, Heimat Europa. Erinnerungen und Erfahrungen, DiisseldortfKöln 1954, S. 56. Informativ die Berufsaufstellung ehemaliger Marineoffiziere nach Angaben des Marine-Offizier-Verbandes in: Christian GÄSSLER, Offizier und Offizierkorps der alten Armee als Voraussetzung einer Untersuchung über die Transformation der militärischen Hierarchie, Wertheim 1930, S. 85-90. Auch wenn sich die statistischen Angaben über die (zumeist bürgerlichen) 4361 Marineoffiziere nicht auf die adligen Armeeoffiziere übertragen lassen, geben sie doch einen Eindruck von dem möglichen Spektrum beruflicher Neuorientierung. Demnach fanden 43,8% dieser Offiziere ein Unterkommen in Industrie und Handel, zumeist in leitenden Positionen. Typisch allerdings die Tatsache, daß ein Drittel der Befragten keine Berufsangabe machte. Für ehemalige Offiziere in der Wirtschaft vgl. a. Dietrich v. OPPEN (Hg.), Leseskizzen aus der Familie von Oppen vornehmlich im 20. Jahrhundert. Ein zeitgeschichtliches Lesebuch, Freiburg/Brsg. 1985, S. 172. Der Reichsarbeitsnachweis für Offiziere e.V. erstellte Personalprofile für ausgeschiedene Offiziere und vermittelte Stellen vorzugsweise in der Industrie. Als Paradebeispiel kann hier der Ausbruch des Kriegsleutnants Henning v. Tresckow aus der militärischen Welt im Oktober 1920 angeführt werden, den er allerdings bereits im Februar 1 9 2 6 rückgängig machte. Vgl. Bodo SCHEURIG, Henning von Tresckow. Ein Preuße gegen Hitler, Frankfurt a. M./Berlin 1987, S. 2030. Andere, denen der Eintritt in die Reichswehr verwehrt blieb, sammelten sich in den unzähligen und keineswegs nur der nostalgischen Erinnerung verpflichteten Wehr- und Regimentsvereinen.

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ganz ohne was dazustehen, da ich, immer an der Front, keine Gelegenheit zu Bekanntschaften in der Industrie pp gehabt hatte."49 Immerhin gelang es ihm, die Aufnahme eines unstandesgemäßen Berufs zu vermeiden, indem er nach seinem Eintritt in das Freiwillige Regiment Reinhardt Ende Januar 1919 in die Reichswehr übernommen und schließlich Chef der 5. Kompanie im Infanterie-Regiment 5 in Angermünde wurde. Auf sein bescheidenes Gut in der Provinz Brandenburg zurückkehren konnte sein Vetter, der Major der Reserve Bernd v. Arnim, doch auch hier überwogen Verunsicherung und Orientierungslosigkeit: „Aus meiner großen, arbeitsreichen, verantwortungsvollen Tätigkeit, die meine ganze Arbeitskraft ausfüllte, bin ich ausgeschieden und da ich nun heimgekehrt bin, weiß ich nicht wie und wo anfangen, lohnt es sich wieder mit dem Aufbau dessen zu beginnen, was die lange Kriegszeit wirtschaftlich bei uns zerstörte?"50 Infolge der Heeresreduzierung nach 1918 kam es zu dramatischen Verschiebungen der Berufsstruktur auf allen Ebenen der Adelshierarchie, wobei zu berücksichtigen ist, daß die hochadligen und die vermögenden Familien des landgesessenen Adels den beschleunigten Wandel mit sehr viel weniger Einbußen verkrafteten.51 Während 1912 aus jeder der ausgezählten Adelsgruppen - Fürsten, Grafen, Uradel und Briefadel - fast genau ein Drittel der Männer im aktiven Offiziersdienst standen, reduzierte sich bis 1932 der Anteil des Offizierberufs in den jeweiligen Adelsgruppen auf ein bis vier Prozent. Dagegen stieg zur mit Abstand größten Berufsgruppe die Kategorie „ohne Beruf an, mit einem Anteil von knapp 40 Prozent in uradligen bis zu über 50 Prozent in fürstlichen Familien. Ganz gleich welche Berufe und Einkommensquellen sich tatsächlich hinter dieser Tarnbezeichnung verbargen, diese dürften vom hochadligen Rentierdasein bis zum kleinadligen Handelsreisenden reichen, der Offizierberuf, das älteste, bedeutendste Tätigkeitsfeld und elementarer Bestandteil der angestammten Lebenswelten nicht nur des preußischen Adels, war jedenfalls fast vollständig weggebrochen.

49

Hans-Jürgen v. ARNIM, Erinnerungen, IV. Teil: Vom Kompaniechef bis zum Bataillonskommandeur. Die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen in der Weimarer Republik, in: BA-MA Ν 61/8 (ν. Arnim), fol. 2.

50

Brief Bemd v. Arnims an seinen Bruder Dietloff v. Arnim-Boitzenburg vom 23.12. 1918, in: BLHA, Rep. 37, Herrschaft Boitzenburg, Nr. 4457/5: Briefe von Bernd an Dietloff von Amim-Boitzenburg 1912-1919.

51

Die folgenden Angaben richten sich nach Helene PRINZESSIN V. ISENBURG, Der Berufswandel im deutschen Adel (wie Anm. 33)

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3. Der Militäradel in Revolution und Konterrevolution 1918-1923 Ohne die traumatischen Erfahrungen der Kriegsniederlage und Kaiserflucht, der Revolution und des vorübergehenden Kontrollverlustes über Waffen und Gewaltanwendung ist das Verhalten des Offizierkorps in den frühen Jahren der Reichswehr nicht zu verstehen. Dies gilt in besonderem Maße für die adligen Offiziere, die mit der Abdankung Wilhelm II., in seinen Eigenschaften als Spitze der militärischen Gesellschaft und der Adelsgesellschaft eine doppelte Autorität, einen in der Krise möglicherweise über das rein Militärische hinaus weisenden Orientierungspunkt verloren. Zwar hatte sich das Offizierkorps, gerade in den höheren Rängen, schon lange vor 1914 nicht mehr als alleiniges Instrument der Dynastien verstanden und zunehmend vom Obersten Kriegsherrn distanziert,52 doch blieb jenseits fachmilitärischer und privater Kritik die Loyalität auf der Basis eines persönlichen Treueverhältnisses davon weitgehend unberührt. Denn gerade den adligen Offizieren mußte klar sein, daß ihre bevorzugte Stellung in der wilhelminischen Gesellschaft eng mit der Existenz einer intakten Monarchie verknüpft war. Noch im November 1918 beschwor General Ludwig Freiherr v. Falkenhausen, Generalgouverneur von Belgien, die gegenseitige Treueverpflichtung gegenüber dem wankenden Kaiser: „Bleiben Euere Majestät fest, wir lassen uns alle für Sie totschlagen!"53 Eben dieses Treueverhältnis wurde durch Flucht, Thronentsagung und Entbindung der Offiziere von ihrem Eid durch den Kaiser gebrochen,54 was neben dem Bleiben Hindenburgs55 den adligen Offizieren den Verbleib im militärischen Dienst nach dem November 1918 erleichtert haben mag, aber auch eine kaum mehr zu überbrückende Kluft zwi-

52

Wilhelm DEIST, Zur Geschichte des preußischen Offizierkorps 1888-1918, in: ders., Militär, Staat und Gesellschaft. Studien zur preußisch-deutschen Militärgeschichte, München 1991, S. 43-56 u. Isabel V. HULL, The Entourage of Kaiser Wilhelm II., Cambridge 1982, S.16f.

53

Ludwig FRHR. V. FALKENHAUSEN, Erinnerungen aus dem Weltkrieg 1914/18, in: BA-MA Ν 21/2 (ν. Falkenhausen), fol. 379.

54

Smilo FRHR. V. LÜTTWITZ, Soldat in 4 Armeen. Lebenserinnerungen des Generalleutnants a.D., in: BA-MA, Ν 10/9 (ν. Lüttwitz), fol. 52: „Aber die Tatsache der .Flucht' blieb mir in Gedenken an die Tapferkeit unserer Soldaten und an die hohen Traditionen der hohenzollernschen Monarchie eine herbe Enttäuschung."

55

Vgl. Wilhelm GROENER, Lebenserinnerungen. Jugend, Generalstab, Weltkrieg, hrsg. v. Friedrich Frhr. Hiller v. Gaertringen, Göttingen 1957, S. 468

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sehen den weiterhin aktiven Offizieren und Wilhelm II. schuf.56 Zwar blieb die Monarchie fur den größten Teil der Generalstabs- und Truppenoffiziere die einzig denkbare Staatsform,57 doch nahm die private und dann auch öffentliche Kritik der adligen Offiziere an der Person des Kaisers wie des Kronprinzen schnell an Ausmaß und Schärfe zu.58 Während nur bei einer ganz unwesentlichen Minderheit der Offiziere der Ablösungsprozeß vom Monarchen mit einer Hinwendung zur Republik korrespondierte, sahen eher traditional-konservativ eingestellte Offiziere im absolut gesetzten Staat, in der Nation, die Brücke zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.59 Einen gewissen Bruch mit der aristokratischen Offiziertradition markierte hingegen die Orientierung zum Volk als Grundlage militärischer Arbeit, eine Einstellung wie sie besonders außerhalb des institutionalisierten Militärs häufig war. Diesen Übergang zum Völkischen formulierte in zunächst gemäßigter Form Admiral Adolf v. Trotha in einer Denkschrift vom 12.3. 1919: „In der Vergangenheit gab sich der Offizier mit seiner ganzen Person in die Hand des Monarchen als der Verkörperung des Staates, seines Vaterlandes. [...] Heute haben sich diese Verhältnisse ganz verschoben. Der ideelle Mittelpunkt liegt jetzt im völkischen

56

57

Ekkehard P. GUTH, Der Loyalitätskonflikt des deutschen Offizierkorps in der Revolution 1918-1920, Frankfurt a. M./Bern/New York 1983. Friedrich FREIHERR HILLER V. GAERTRINGEN, Monarchismus in der deutschen Republik, in: Michael Stürmer, Die Weimarer Republik. Belagerte Civitas, Königstein/Ts. 1980, S. 254-271. Vgl. die z.T. absurden Gedankenspiele über eine monarchische Restauration und die damit verbundene Destruktionspolitik der weitverzweigten monarchisch-antirepublikanischen Verbände in den Nachlässen der pensionierten Militärfossilien August v. Cramon (BA-MA Ν 266) und Karl v. Einem (BA-MA Ν 324).

58

Bspw. ein Brief des Generals Walter v. Hülsen vom 26.11. 1932, in: BA-MA Ν 280/36 (ν. Hülsen): „Man ist in Potsdam und Doorn so weit gegangen die, die im Dienste des Vaterlandes blieben und es retteten verächtlich zu machen. Göthe sagte richtig: Warum, wie mit einem Besen, sind die Könige weggefegt? Wärens Könige gewesen, sie stünden heut noch unbewegt. Wenn sich S.M. über uns alte Soldaten entrüstet, dass wir ihn noch immer nicht wiedergeholt hätten, so vergißt er, dass er selbst seinen Platz verlassen hat." (Hervorhebung im Original) Vgl. den Beitrag KOHLRAUSCH in diesem Band.

59

Vgl. den (von v. Seeckt entworfenen) Aufruf des Oberbefehlshabers des Grenzschutzabschnittes Nord, General der Infanterie v. Quast, an das Offizierkorps vom 24.4. 1919, abgedruckt in: Offiziere im Bild von Dokumenten aus drei Jahrhunderten, hg. v. Manfred MESSERSCHMIDT, Stuttgart 1964, S. 217-219. Zur Bedeutung der Reichsidee für die Wehrideologie: Michael SALEWSKI, Reichswehr, Staat und Republik, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 31 (1980), S. 271288.

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Staat, im Vaterland selbst."60 Im Ansatz wurde bereits hier die Beharrung auf ständischer Exklusivität relativiert, Adel als gesellschaftliche Führungsschicht in den nationalen Volksbegriff eingebunden. Gleichwohl bedeutete das Ende der Monarchie einen als „Weltuntergang"61 wahrgenommenen lebensgeschichtlichen Bruch in den Biographien der Offiziere, der weit über den Verlust des Monarchen hinausging. Die schockartige Erfahrung des Zusammenbruches eines Zeitalters und dessen Herrschaftsmechanismen, des Verfalls ehemals unhinterfragt gültiger Wertmaßstäbe und des Verlustes der angestammten Lebenswelten wird in den zahlreichen nach 1918 publizierten Autobiographien deutlich: „Die Welt, die ich gekannt und geliebt hatte, gehörte der Vergangenheit an. Alle Werte, die sie erfüllt und fur die wir gedient, gekämpft und geblutet hatten, waren gegenstandslos geworden. [...] Aus einer Laufbahn, der ich mit Passion und Hingebung angehangen, hatten die Ereignisse mich herausgeschleudert."62 Von besonderer Bedeutung war die Erfahrung und Verarbeitung des schicksalhaften Hereinbrechens der Revolution bzw. der anfanglichen Hilflosigkeit der militärischen Herren, die in sämtlichen autobiographischen Rückschauen ihren metaphorischen Ausdruck in heruntergerissenen Achselstücken und tränenreichen Abschiedsparaden erhielt. Hinzu kam die Differenz zwischen den individuellen Erfahrungen von Heroismus, Leid und massenhaftem Tod an den Kriegsfronten und der gänzlich unheroischen und unvermittelten Kriegsniederlage, die für viele Offiziere vordergründig nur durch die Flucht in den Mythos des Dolchstoßes plausibel zu erklären war. 63 Bedeutsamer und zukunftsträchtiger war jedoch jene von Verunsicherung und Radikalisierung gleichermaßen zeugende Folgerung, die in den martialischen Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg und dessen Ende zu finden ist: Die aggressive Forderung nach einer sich ständig erneuernden Opfergemeinschaft, in der Krieg und gewaltsames Sterben als Wert an sich und als eine Sache des geeinten Volkes aufgefaßt 60

Adolf V. TROTHA, Volkstum und Staatsflihrung, Briefe und Aufzeichnungen 1915-1920, Berlin 1928, S. 197.

61

Tilo FRHR V. WILMOWSKI, Rückblickend möchte ich sagen... - an der Schwelle des 150jährigen Krupp-Jubiläums, Oldenburg/Hamburg 1961, S. 88.

62

Franz v. PAPEN, Der Wahrheit eine Gasse, München 1952, S. 116. Weitere Hinweise bei Funck/Malinowski, Geschichte von oben (wie Anm. 14), S. 261 f.

63

Annelise THIMME, Flucht in den Mythos. Die Deutschnationale Volkspartei und die Niederlage von 1918, Göttingen 1969. Zur „Dolchstoßlegende": Ulrich HEINEMANN, Die verdrängte Niederlage. Politische Öffentlichkeit und Kriegsschuldfrage in der Weimarer Republik, Göttingen 1983.

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würde: „Nun sind wir schon drei lange Vierteljahre Krieger, haben vergessen, daß einmal Friede war und Stille, daß es eine Zeit der Rosen und der Schmetterlinge gab. [...] Aus einem Volk friedlicher Arbeiter wurde ein Volk der Kämpfer. [....] Aber daß wir jeden Tag Soldat sein müssen, daß jeden Tag ein Gegner, jeden Tag ein Kampf, jeden Tag ein Schicksal auf uns wartet, dem wir uns stellen müssen, das hat uns doch erst dieser Krieg gelehrt. [...] Daß unser Leben nur ein Lehen ist, daß unsere Zukunft auf dem Blut beruht, das wir als Verpflichtung empfangen und als Opfer hinzugeben haben, daß wir lodernd nur dann das Leben genießen, daß wir jubelnd nur dann den Tod begrüßen, wenn wir wissen, daß kein noch so bescheidenes Stückchen Leben von Wert ist, wenn wir nicht den Einsatz dafür gewagt haben, das hat uns doch dieser Krieg gelehrt."64 Damit wurde zwar das aristokratische Offizierkonzept endgültig in ein von Härte geprägtes preußisches, rein kriegerisch-soldatisches überführt, in dem der Adel nur noch eine Nebenrolle spielen konnte, doch wurde so das Weiterkämpfen ermöglicht und mit neuem Sinngehalt unterlegt.65 Die adligen Offiziere kämpften nach dem 9. November 1918 innerhalb und außerhalb des institutionalisierten Militärs weiter, und zwar mit zunächst sehr konkreten Zielen: Niederschlagung der Revolution, die in Erinnerung der Ereignisse in Rußland seit 1917 auch als Bedrohung des eigenen Lebens empfunden wurde, und im Falle der Gutsbesitzer die Sicherung des Eigentums. Dieser militärische Dienst wurde allerdings in ganz unterschiedlichen, z.T. rivalisierenden Institutionen (reguläre Armee, Freikorps, Selbstschutzverbände etc.) geleistet, die sich in den Wirren des Bürgerkrieges und der Demobilisierung gebildet hatten, und in Organisationsgrad und Befehlshierarchie, nicht zuletzt auch in ihren politischen Zielsetzungen fundamental voneinander unterschieden. Es kann gar nicht stark genug betont werden, daß die Jahre der Revolution und Konterrevolution geprägt waren von dem Konflikt zwischen der Tendenz zur Privatisierung von Krieg und Gewalt in den paramilitärischen Verbänden und den Anstrengungen der Reichswehrführung das Gewaltmonopol wiederzuerlangen.66 Das ei-

64

Bogislaw v. SELCHOW, Hundert Tage aus meinem Leben, Leipzig 1936, S. 257.

65

Ausführlicher: Marcus FUNCK, The Meaning of Dying. East Elbian Noble Families as „War Tribes" in the 19th and 20th Centuries, in: Matt Berg/Greg Eghigian (Hg.), Sacrifice and National Belonging in Twentieth-Century Germany, Arlington 2001.

66

GEYER, Aufrüstung oder Sicherheit (wie Anm. 9), S.25. Neben den verstreuten Hinweisen bei Otto-Ernst SCHÜDDEKOPF, Das Heer und die Republik. Quellen zur

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gentliche Ausmaß der Bewaffnung von unten kann erst durch lokalund regionalgeschichtlich angelegte Detailstudien aufgezeigt werden.67 Gutshäuser in adligem Besitz bildeten organisatorische Schaltstellen der konterrevolutionären Bewegungen, des bewaffneten Widerstandes gegen Revolution und Demokratie auf dem flachen Land. So stellte der Rittmeister a.D. Wilhelm v. Oppen-Tornow nach 1918 sein Gutshaus verschiedenen Verbänden als Waffenkammer und Kommandozentrale zur Verfugung, beherbergte Fememörder und unterstützte die Küstriner Putschisten, während der Rittergutsbesitzer v. Natzmer als Führer der Bauern die Revolution in Cottbus zurückgeschlagen haben soll. 68 Solche Aktivitäten basierten vornehmlich auf traditionellen Vorstellungen von militärischem Herrentum, nur daß sie nach 1918 auf privat finanzierte und geführte Einheiten übertragen wurden und auf die „BasisMilitarisierung"69 der Bevölkerung angewiesen blieb. Grundlegend anders stellten sich die Beziehungen zwischen Offizieren und Soldaten in den eigenmächtig „von unten" gebildeten Freikorps dar - die staatsnahen, „von oben" eingesetzten Freikorps seien hier außen vor gelassen. 70 Der Zerstörung der staatlich-institutionellen Kollektivität wurden hier neue, aus der erlebten und stilisierten Frontkameradschaft geschöpfte Bindungsformen entgegengesetzt, die einen

67

Politik der Reichswehrfuhrung 1918-1933, Hannover/Frankfurt 1955 u. Heinz HÜRTEN (Hg.), Zwischen Revolution und Kapp-Putsch: Militär und Innenpolitik 1918-1920, Düsseldorf 1977 s. James M. DIEHL, Paramilitary Politics in Weimar Germany, Bloomington/London 1977. Jens FLEMMING, Die Bewaffnung des „Landvolks". Ländliche Schutzwehren und agrarischer Konservatismus in der Anfangsphase der Weimarer Republik, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 2 8 ( 1 9 7 9 ) , S. 7 - 3 6 . Vgl. auch Rainer POMP, Brandenburgischer Landadel und die Weimarer Republik. Konflikte um Oppositionsstrategien und Elitenkonzepte, in: Kurt Adamy/Karin Hübener (Hg.), Adel und Staatsverwaltung in Brandenburg im 19. und 20. Jahrhundert, Berlin 1996, S. 185218.

68

Leseskizzen (wie Anm. 47), S. 455 u. Charlotte FRFR. V. HADELN, In Sonne und Sturm, Rudolstedt 1935, S. 182f. Über die engen Verbindungen des brandenburgischen Landadels zu Major Bruno Emst Buchrucker informiert die Sammlung v. Oppen zum Buchrucker-Putsch in: BLHA, Rep. 37, Gut Bollersdorf, Nr. 25-30. Für spätere Aktivitäten, bspw. zur Unterstützung von Reichswehreinheiten bei Umgehung der Abrüstungsbestimmungen vgl. die in eine Art Lausbubengeschichte verpackten Beschreibungen bei Christoph V. L'ESTOCQ, Soldat in drei Epochen. Eine Hommage an Henning von Tresckow, Berlin 1990, S. 54-60.

69

Michael Geyer, Deutsche Rüstungspolitik (wie Anm. 10), S. 119. Allgemein dazu noch immer: Hagen SCHULZE, Freikorps und Republik 19181920, Boppard 1969.

70

V. OPPEN,

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Wandel im „soldatischen Führertum" markieren. Es ist schon des öfteren daraufhingewiesen worden, daß gerade unter den Freikorpsfiihrern die Notwendigkeit zum sozialen Handeln - allerdings nur in den eigenen Reihen und auf Kosten des imaginierten Feindes - mit dem Recht auf Intervention verknüpft, und damit die Gehorsamspflicht gegenüber vorgesetzten Stellen aufgegeben wurde.71 Persönliche Fürsorge war das Bindeglied zwischen den charismatischen Führern und ihren Gefolgschaften, selbst wenn die Mittel dazu geraubt werden mußten, während Differenzen mit vorgesetzten militärischen und politischen Behörden öffentlich ausgetragen wurden. Am eindrücklichsten läßt sich diese radikale Wendung vom aristokratischen Offiziertum zum soldatischen Führertum in den im Baltikum und den deutsch-polnischen Grenzgebieten eingesetzten Einheiten beobachten. Major Joachim v. Stülpnagel unterschied drei Typen der im Baltikum kämpfenden Offiziere: Solche, die aus nationalen und ideellen Gründen ihren Dienst taten, solche die schlicht ihre Pflicht erfüllten und schließlich sittlich minderwertige Abenteurer und Condottieri. Nüchtern stellte er fest, daß die Masse der Mannschaften nur Vertrauen in ihre eigenen Führer hätte und Weisungen aus Berlin nicht befolgen würde.72 Die tiefe Abneigung v. Seeckts gegen den „Landsknechtscharakter" der selbstmobiliserten Freikorps und den „bolivianischen Zuständen" im Osten,73 war ein markantes Beispiel für die große Kluft zwischen den von Gardekorps und Generalstab gleichermaßen geprägten Offizieren und den von ihren zusammengewürfelten Gefolgschaften akklamierten militärischen Führern. Sowohl in den Bürgerkriegs- als auch in den Grenzkämpfen wurden historisch weiter zurück reichende Vernichtungsphantasien gegen einen inneren und äußeren Feind erstmals erprobt. Programmatische Schriften und persönliche Berichte von den Kämpfen hielten die Erinnerungen an jene Klassen- oder Rassenfeinde und an die Kampfmethoden wach, 74 die in ihrer Brutalität durchaus als Vorstufe zum geno71

SCHÜDDEKOPF, Heer und Republik (wie Anm. 66), S.44. Vgl. die Erinnerungen des „roten Generals" Georg MAERCKER, Vom Kaiserheer zur Reichswehr, Leipzig 1921.

72

Vortrag „Die Truppen im Baltikum", gehalten vor dem preußischen Kriegsministerium am 1.10. 1919 in: BA-MA Ν 5/18 (ν. Stülpnagel), fol. 29.

73

Hans V. SEECKT, Die Reichswehr, Leipzig 1933, S. 14.

74

Bspw. Rüdiger GRAF V. D. GOLTZ, Meine Sendung in Finnland und im Baltikum, Leipzig 1920; Bernhard V. HÜLSEN, Der Kampf um Oberschlesien, Berlin 1922; Manfred V. KJLLINGER, Kampf um Oberschlesien 1921, Leipzig 1934; Walther FREIHERR v. LÜTTWITZ, Im Kampf gegen die November-Revolution, Berlin 1934.

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zidalen Krieg bezeichnet werden können.75 Ein Erfahrungsbericht des Garde-Kavallerie-Schützenkorps von den Kämpfen in Berlin empfahl, daß bei künftigen derartigen Auseinandersetzungen zuerst der Belagerungszustand verhängt werden sollte, damit mit der Waffe sich Widersetzende oder Plünderer sofort erschossen werden könnten. Weiter hieß es: „Je schärfer die Mittel, um so schneller der Erfolg; keine Verhandlungen, sondern restlose Ergebung erzwingen; unsichere Elemente aus den eigenen Reihen rechtzeitig und rücksichtslos entfernen; gegen Menschenansammlungen stets rücksichtslos nach 3maliger kurzer Aufforderung von der Waffe Gebrauch machen." 76 Die Fanatisierung und Radikalisierung der Kriegführung, die stark antibürgerlichen - aber auch „anti-wilhelminischen" - Affekte, wurden von den beteiligten adligen wie bürgerlichen Offizieren gleichermaßen getragen. Aristokratische Herkunft oder Bindungen an ein militärisches Altpreußentum hatten keinerlei mäßigende Wirkung auf ihr Handeln.77 Vielmehr wurde der aus einer spezifisch preußischen Adelstradition geschöpfte militärische Wertekanon in den gegenrevolutionären Kämpfen erweitert, brutalisiert und in die Adelsgesellschaft rückübertragen.78 4. Re-Aristokratisierung und Professionalisierung: Elitenbildung in der Reichswehr Aus der Perspektive der Reichswehrführung war die Zeitphase zwischen dem 9. November 1918 und dem 31. Juli 1920 (formale Bildung des 100.000-Mann-Heeres) geprägt von vier ineinander verschränkten und widersprüchlichen militärischen Entwicklungen: erstens die organisatorisch aufwendige Heimführung des Feldheeres und der Einsatz der „zuverlässigen" Teile der alten Armee unter der Führung der OHL und der Mehrheitssozialisten gegen die revolutionären Kräfte; zweitens die unkontrollierte, teilweise revolutionäre Auflösung des alten Heeres und die eigenmächtige Bildung neuer Militärverbände in Ergänzung oder Konkurrenz zur regulären Armee; drittens die institutionell ge75

Vgl. Ernst v. SALOMON, Die Geächteten, Berlin 1930, S. 167: „Eine Welle des dumpfen Hasses stieg aus der Masse zu uns herauf, der Haß zweier Rassen, der blinde Ekel voreinander [...]."

76

Garde-Kavallerie-Schützenkorps: „Erfahrungen aus den Straßenkämpfen Berlin" vom 31.3. 1919, in: BA-MA Ν 280/106 (ν. Hülsen).

77

Vgl. die Passagen über Paul v. Lettow-Vorbeck in Klaus THEWELEIT, Männerphantasien, Bd. 1: Frauen, Fluten, Körper, Geschichte, Basel/Frankfurt a. M. 1977.

78

Vgl. FUNCK/MALINOWSKI, Geschichte von oben (wie Anm. 14), S. 260-266.

in

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lenkte Demobilisierung und Abwicklung des alten Heeres; und viertens die staatlich organisierte Neuaufstellung eines Heeres gemäß den Auflagen des Versailler Vertrages bei gleichzeitiger Auflösung der neu entstandenen, konkurrierenden Militärverbände unter der Führung von unabhängigen „Kriegsherren" bzw. deren Nutzung als Personalreservoir in Abhängigkeit von der militärischen Zentralgewalt. In diesem Zusammenhang kann nur der letztgenannte Entwicklungsstrang unter der Perspektive der militärischen Elitenbildung isoliert untersucht werden, selbst auf die Gefahr hin, das komplexe Geflecht der Entscheidungsbedingungen zu vereinfachen und die Handlungsspielräume der militärischen Führung zu überschätzen. Schon bei einer flüchtigen Durchsicht der Akten wird deutlich, daß die Wiedererlangung der gesamtgesellschaftlichen Eliterolle in der Heeresleitung, besonders im Truppenamt und im Heerespersonalamt, oberste Priorität besaß. Insbesondere die Politik der Heeresleitung in der Ära Seeckt, die Konzentration auf die Felder Rekrutierung, Erziehung und Ausbildung des Offizierkorps, ist ohne den vorhergegangenen Statusverlust der Offiziere im Herrschaftssystem wie in der Gesellschaft nicht zu verstehen. Hinzu kam, daß zentrale Bestandteile der preußischen Militärtradition aus der Reichswehr herausgelöst worden waren. Das andauernde Reden über „Ehrenhaftigkeit" beispielsweise ist nur vor dem Hintergrund der Auflösung eines allgemeingültigen Verhaltenskodex für Offiziere und der Abschaffung der militärischen Ehrengerichte zu verstehen. Während die Reichswehr diesen doppelten Verlust durch unzulängliche Hilfskonstruktionen auszugleichen versuchte, übernahmen die militärischen Verbände und Vereine die Kontrolle des Ehrbegriffs. Auch hier ist eine Privatisierung von Kontrollen und Leistungen zu beobachten, die ehemals ausschließlich der militärischen Profession zugedacht gewesen waren. Nicht weiter verwunderlich ist, daß besonders adlige Offiziere a.D. als Angehörige des Standes höchster Ehre die Expertenschaft in Sachen Ehrenhaftigkeit für sich reklamierten und somit immer wieder in die Geschäfte der militärischen Profession intervenierten. Schon seit dem Herbst 1918 hatte man sich in Kreisen der Obersten Heeresleitung und des preußischen Kriegsministeriums mit den Planungen für den Neuaufbau einer Armee nach dem Kriege befaßt und es war den Beteiligten klar, daß man die Uhr nicht einfach auf den Vorkriegsstand zurückdrehen konnte. Nach dem militärischen Zusammenbruch und dem Militärstreik, der Auflösung der Armee und der hastig improvisierten Neuaufstellung militärischer Verbände gehörte die alte Armee der Vergangenheit an. Hans v. Seeckt prägte 1919 das Wort,

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man könne einen toten Leichnam, die alte Armee, nicht einfach „galvanisieren".79 Wenn es nun darum ging eine neue Armee aufzubauen, so wurden die Rahmenbedingungen von den Siegermächten bestimmt, während die innere Ausgestaltung der Armee, u.a. die Auswahl der Offiziere ausschließlich Sache der deutschen Militärführung blieb.80 Hier gab es durchaus konträre Vorstellungen, insbesondere zwischen dem aus Württemberg stammenden preußischen Kriegsminister General Walter Reinhardt einerseits und Seeckt sowie führenden Offizieren des Generalstabes anderseits,81 von außerhalb der Militärfiihrung formulierten Offizierskonzepten ganz abgesehen.82 Schließlich setzte sich die „restaurative Linie" des Generalstabes durch, bevorzugt Generalstabsoffiziere in die neue Armee zu übernehmen und in verantwortliche, militärpolitisch sensible Stellungen zu hieven, zumal nach Wilhelm Groeners Argumentation „der Generalstabsoffizier die durch immer erneute Prüfung und Siebung gewonnene Elite des gesamten Offizierkorps [war]."83 Groener formulierte auch das Kalkül der militärischen Zentrale in einem früheren Schreiben an das Personalamt im preußischen Kriegsministerium. Den Wiederaufbau sah er nur dann gewährleistet, wenn „die besten Männer4' blieben. Gerade die Neuorganisation, die Verkleinerung des Heeres gäbe Gelegenheit, „das Offizierkorps von dem ihn aus dem Kriege und aus der Revolutionszeit anhaftenden Schlacken zu reinigen, wenn eine feste und zielbewußte Hand den Bau leitet[e]."84 Übrig blieb also der professionelle Kern des

79

Friedrich v. RABENAU, Seeckt. Aus seinem Leben 1918-1936, Leipzig 1940, S. 126. Diese Haltung brachte ihm die bittere Feindschaft der abgetretenen Schnauzbartmilitaristen ein. Vgl. ebda. S. 232.

80

Besonders in diesem Punkt zeigten sich Oberste Heeresleitung (Hindenburg, Groener) und preußisches Kriegsministerium (Reinhardt) gegenüber den Arbeiterund Soldatenräten keinerlei Kompromißbereitschaft. Bezeichnend Groeners tautologisches Argument: „Führer können nicht gewählt werden, weil gewählte Offiziere keine Führer sind." Protokoll einer Besprechung zwischen dem Rat der Volksbeauftragten, Groener und dem Zentralrat der Arbeiter- und Soldatenräte (27-Ausschuß) vom 30.12. 1918, in: BA-MA Ν 42/11 (ν. Schleicher)

81

BALD, Vom Kaiserheer zur Bundeswehr (wie Anm. 42), S. 22-24 und WETTE, Noske (wie Anm. 3).

82

Für die republikanische Variante: Franz Carl ENDRES, Reichswehr und Demokratie, München/Leipzig 1919.

83

Schreiben Wilhelm Groeners an Walter Reinhardt vom 24.8. 1919, zitiert nach: Detlev BALD, Gerhild BALD, Eduard AMBROS (Hg.), Tradition und Reform im militärischen Bildungswesen. Von der preußischen Allgemeinen Kriegsschule, Baden-Baden 1985, S. 46, S.153.

84

Schreiben Groeners an Reinhardt vom 26.3. 1919 in: BA-MA PH 3/27, 2.

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alten Heeres, der sich weniger als „echter Träger der alten Tradition des deutschen Offizierkorps", 85 als vielmehr durch einen sachlichfunktionalen Zugriff auf militärfachliche Fragen auszeichnete. Natürlich war in dieser Gruppe auch eine überproportional hohe Zahl adliger Offiziere zu finden, der Adelsanteil im Generalstab betrug bei Beginn des Weltkriegs annähernd 50 Prozent, doch waren sie in erster Linie nicht aufgrund von Herkunft und Protektion, sondern aufgrund von Expertenwissen, Leistung und systematischer Auslese in ihre Stellungen gelangt und dort verblieben. Insofern setzte sich in der Reichswehr der Aufstieg der „Bürosoldaten" beschleunigt fort. Die Rekrutierungspraxis war anfänglich ohnehin sehr viel differenzierter und das Offizierkorps sehr viel heterogener als in der Literatur gemeinhin dargestellt wird. Im Januar 1920 beklagte sich Seeckt gegenüber Reichswehrminister Noske, daß „das Offizierkorps auch die Ansätze einer einheitlichen Zusammensetzung von Ansichten und Wille nicht erkennen läßt. Wir haben eine Menge kleiner Republiken in der Armee. Das geht weiter nicht an."86 Das Offizierkorps setzte sich zusammen aus höheren und mittleren Truppenführern vom Regimentskommandeur aufwärts, jüngeren, aktiven Offizieren, die sich in Generalstabs- und Stabsstellungen befanden, Kriegsleutnants und den sogenannten „Noske-Offizieren", aus dem Unteroffizierkorps teilweise auch aus dem Mannschaftsstand beförderte Offiziere, die jedoch sehr schnell wegen vorgeschobener „Unzuverlässigkeit" ausgesiebt wurden. Den Wehrkreiskommissionen, die für die Übernahme der Stabsoffiziere zuständig waren, und später den Regimentskommandeuren wurde nahegelegt nicht den traditionellen Auswahlkriterien zu folgen: Weder soziale Herkunft noch Bildung oder gar die wirtschaftlichen Verhältnisse der Bewerber standen an oberster Stelle, sondern Charakter, Gesinnung und militärisches Können.87 Dies ermöglichte die gnadenlose Aussiebung demokratisch gesonnener Offiziere ebenso wie unliebsa-

85

So DEMETER, Offizierkorps ( w i e Anm. 18), S. 48; vgl. die ähnliche Einschätzung bei Emilio WILLEMS, Der preußisch-deutsche Militarismus. Ein Kulturkomplex im sozialen Wandel, Köln 1984, S. 122: „ D i e s e Organisation [des Generalstabes bzw. Truppenamtes] führte zu einem neuen Offizierskorps, das bis auf den letzten Mann die traditionellen Wertvorstellungen der kaiserlichen A r m e e repräsentierte."

86

Schreiben des Chefs des Truppenamts an den Reichswehrminister v o m

16.1.

1920, in: B A - M A Ν 247/89, fol. 11. 87

W i e Anm. 81. Das Schreiben enthält auch eine deutliche Spitze gegen den älteren, „aristokratischen" Offiziertypus: „ I n die obersten Kommandostellen müssen frische Männer kommen, die fuhren können, und von denen zu erwarten ist, daß sie nicht nur die repräsentative Seite ihre Stellung ausüben."

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mer Frontsoldaten, doch war es eben kein Rückfall in eine Zeit, in der das Offizierkorps soziales Prestige über die Ausstrahlungskraft seiner Herkunft und Exklusivität bezog. Bei der Eingliederung neueingestellter Offiziere scheint es zu erheblichen Schwierigkeiten gekommen zu sein, da häufig jüngere Offiziere, die mit den Mannschaften eng verwachsen waren, ihre Stellen für ältere und ranghöhere Offiziere räumen mußten. Zwar bemühten sich die Wehrkreise, soweit dies die Bedingungen der Siegermächte zuließen, um einen behutsamen und sukzessiven Austausch,88 doch waren sie nicht in der Lage das bedrohliche Protestpotential der von Entlassung bedrohten Offiziere abzubauen. Die militärische Aufbauarbeit der frühen Jahre war durchaus restaurativ in dem Sinne, daß Revolution und Konterrevolution aus dem Offizierkorps verdrängt wurden. Frontsoldatentum, Revolution und Bürgerkrieg hatten die ohnehin fragile Homogenität des Offizierkorps aufgelöst, so daß von den politischen Ambitionen einzelner militärischer Persönlichkeiten abgesehen, die Reichswehrpolitik anfanglich unter dem Motto „Wir müssen arbeiten!" 89 in erster Linie auf Wiederherstellung der militärischen Einheit unter Führung der Offiziere und auf Verankerung des Wehrgedankens in der Bevölkerung zielte. Das angestrebte Führerheer als Speerspitze der oberhalb des republikanischen und der Verfassung angesiedelten wehrhaften Nation knüpfte an ein vermeintlich unpolitisches, rein militärische fundiertes Offizierskonzept an, wie es vor 1914 am ehesten im Generalstab entwickelt worden war. Die z.T. grotesk anmutenden Versuche v. Seeckts, die Wiedererrichtung des Offizierkorps als militärische Funktionselite und als gesellschaftliche Wertelite bis in die Kompanien hinein zu steuern, rissen nach seiner Verabschiedung 1926 nicht ab. Doch orientierten sich seine Nachfolger nüchterner an den gegebenen Realitäten, versuchten die Basis des Offizierersatzes zu erweitern und zeigten sich in Theorie und Praxis der militärischen Elitenrekrutierung insgesamt sehr viel experimentierfreudiger. Auch hinsichtlich der Elitenbildung im Offizierkorps

88

Schreiben des preußischen Kriegsministers Reinhardt an alle Kommandobehörden vom 13. Mai 1919, in: Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden (SHStA), Bestand Heeresabwicklungsamt, Ρ 7151, fol. 172.

89

Erlaß des Chefs der Heeresleitung, Generalmajor v. Seeckt, an die Generalstabsoffiziere vom 7.7. 1919, abgedruckt in: Offiziere im Bild von Dokumenten (wie Anm. 59), S. 217-219.

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galt es, „aus dem Gebiet der Utopien herauszukommen." 90 Dazu gehörte zunächst einmal die Überlegung, die Armee aus der selbstverschuldeten gesellschaftlichen Isolation herauszufuhren, indem sie von der Reichswehrfiihrung näher an den republikanischen Staat, damit ins Zentrum der politischen Entscheidungen, herangerückt werden sollte.91 Am deutlichsten formulierte dies der Kommandeur des III. Wehrkreises General Otto Hasse, der damit bezeichnenderweise der vom sozialdemokratischen Reichstagspräsidenten Hermann Löbe vorgeschlagenen Neuordnung der Offiziersergänzungsbestimmungen und einer allgemeinen „Hetze gegen die Reichswehr4' entgegentreten wollte: „Wir haben eine Republik und können es aus sachlichen und personellen Gründen nicht ändern und wollen es auch nicht ändern." Er forderte, ein offenes Wort für die Demokratie auszusprechen und den Mut zum Bekenntnis, der jedoch „durch inneren konventionellen Zwang, von außen durch gesellschaftlichen Terror der politisch unorientierten und dilettantierenden Kreise, die sich meist nicht aus den klügsten Elementen zusammensetzen, unterdrückt [würde]." Nur über eine symbolische Annäherung an die Republik könne das Heer wieder sichtbar werden bzw. in die Mitte des Volkes rücken. 92 In einem von v. Seeckts Nachfolger, General Wilhelm Heye, unterzeichneten Umlaufpapier für Offiziere im Reichswehrministerium wurde diese Überlegung sogar noch weitergeführt: „Monarchie oder Republik? Dabei ist diese Frage, so wie sich die Dinge nun mal entwickelt haben, keine Tatfrage mehr. Es gibt in Deutschland kaum ein Dutzend ernst zu nehmender Männer, die die Wiederherstellung der Monarchie in absehbarer Zeit für zweckmäßig, geschweige denn für möglich und durchführbar halten." Um den „Kommunisten und Pazifisten den Wind aus den Segeln zu nehmen", solle sich die Reichswehr an der Ausgestaltung der Republik beteiligen. Des weiteren müßten alle Reichs-

90

Brief Joachim v. Stülpnagels an Friedrich v. Rabenau vom 14.5. 1926, in: B A MA Ν 5/21 (ν. Stülpnagel), fol. 7.

91

Überhaupt verlangten führende Offiziere im Ministerium, daß die Rolle des Offizierkorps durch offensive „Öffentlichkeitsarbeit" auch in der Gesellschaft wieder zu entsprechender Geltung gebracht werden sollte. Diese Linie vertrat schon frühzeitig insbesondere Kurt v. Schleicher. Vgl. die Aufzeichnung über eine „Besprechung des Herrn Chefs P.A. mit den Abteilungsleitern des Rw.M. über den gesellschaftlichen Verkehr des Offizierkorps der Reichswehr" vom 14.12. 1927, in: BA-MA Ν 42/42 (ν. Schleicher), fol. 62-64.

92

General Otto Hasse an den Chef der Heereleitung Hans von Seeckt vom 30.11. 1926, die Hetze gegen die Reichswehr betreffend, in: BA-MA Ν 247/89 (ν. Seeckt), fol. 65-69.

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wehrangehörige, welche die Auffassung, daß die Armee im Volke wurzele und allen Bevölkerungsschichten gehöre, nicht teilen könnten, aus dieser Armee entlassen werden. 93 Unter der Prämisse, daß das Friedensheer „überhaupt kein Heer, sondern ein Torso" war, 94 blieb die perspektivische Ausrichtung der Rekrutierungspolitik auf ein Führer- bzw. Eliteheer fixiert, das nun aber sehr konkreten gesamtgesellschaftlichen Ansprüchen gerecht werden sollte.95 Dies allerdings in schärferer Abgrenzung von den Prinzipien der alten Armee als es unter v. Seeckt denkbar gewesen wäre. In einem vom Heerespersonalamt entworfenen Rundschreiben vom April 1928, das bis auf Bataillonsebene heruntergereicht wurde, stellte der Chef der Heeresleitung fest, daß der Offizierersatz noch immer nicht den hohen Anforderungen entspräche. Es ginge nicht an, den Ersatz nur aus eng begrenzten Kreisen des Volkes zu entnehmen, vielmehr sollten die „charakterlich, geistig und körperlich Besten", die Elite der Nation, rekrutiert werden. Ausnahmen könnten bei gleicher Eignung nur für Söhne von Reichswehrangehörigen, gefallener oder schwerbeschädigter Kriegsteilnehmer gemacht werden, ohne daß dabei Inzucht betrieben werden dürfe. Die Reichswehrführung konnte es auch unter Heye nicht wagen, die Befugnisse der Regimentskommandeure zu beschneiden, doch wurde in dem Rundschreiben die erneute Tendenz zur Ausbildung „besserer Regimenter" scharf kritisiert, die Vorstellung einer gleichartigen Zusammensetzung aller Offizierkorps dagegen gesetzt und die Befugnisse der Zentrale bei der Auswahl des Offiziernachwuches betont.96 Nach dem Ende der „Ära Seeckt" geriet die Reichswehr tatsächlich zu einem Laboratorium neuer Methoden und Kriterien der Rekrutierung und Beförderung. Wer sich dabei nicht bewährte, wurde rigoros 93

Umlaufpapier zum Jahreswechsel 1926/27, in: BA-MA Ν 42/39 (ν. Schleicher), fol. 81-90.

94

So ein beißendes Schreiben aus der Heeresorganisationsabteilung an Oberstleutnant Werner Frhr. v. Fritsch vom 26.10. 1926, in: BA-MA Ν 42/42 (ν. Schleicher), fol. 15-17, in dem auch daraufhingewiesen wurde, daß die Vorstellung, die Erinnerung an entzogene Kriegsmittel führe zu Mitteln und Wegen ohne sie den Kampf zu bestehen in sich widersprüchlich und für die Reichswehr kontraproduktiv sei.

95

Vgl. die Denkschrift Joachim v. STÜLPNAGELS „Der gegenwärtige Zustand und die Zukunftsaufgaben des Offizierkorps vom 20.11. 1928, in: BA-MA Ν 5/22 (ν. Stülpnagel), fol. 16-24. „Das Ziel ist die Schaffung eines Offizierkorps, das charakterlich und geistig eine Elite von Menschen darstellt, die über den Rahmen der Berufsaufgaben hinaus auf die Masse der Bevölkerung eine Einwirkung ausübt."

96

Ein Entwurf findet sich in BA-MA Ν 5/22 (ν. Stülpnagel), fol. 3-4.

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ausgesiebt, dafür wurde von der Möglichkeit der bevorzugten Beförderung stärker als je zuvor Gebrauch gemacht. Neben eher traditionellen Einstellungsbedingungen, zu denen letztlich auch das Abiturientenexamen zu zählen ist, traten die sogenannte psychotechnische Prüfung und standardisierte Wehrkreisprüfungen. In zunächst bescheidenem Umfang und unter strengen Auflagen erwog das Heerespersonalamt schließlich auch die Öffnung der Offizierslaufbahn für Mannschaftsund Unteroffiziersdienstgrade aus der Truppe und folgte damit einer alten Forderung sozialdemokratischer Wehrexperten. Im Heerespersonalamt kam man gleichwohl zu der Einsicht, daß „das Offizierkorps [...] heute noch nicht eine Elite besonders hervortretender Menschen, wohl aber ein guter, die Masse des alten Offizierkorps überragender Durchschnitt ist [...]. Im besonderen fehlt es heute an Geistigkeit, an Köpfen."91 Die gestiegene Zahl diplomierter und promovierter Offiziere sowie der hohe allgemeinen Bildungsstand im Offizierkorps wurden in dem Memorandum ebenso hervorgehoben wie die vom General Walther Reinhardt initiierten Hochschulkurse für besonders begabte Offiziere, die sogenannten Reinhardt-Kurse, und die Idee einer Kriegsakademie als universitäre Einrichtung.98 Das eigentliche Defizit wurde, neben der schwierigen wirtschaftlichen Lage und der ungewissen Zukunft der Offiziere, jedoch im Mangel an Charakter und Persönlichkeit gerade unter den Stabsoffizieren in der Truppe gesehen; Eigenschaften mit denen man das Vertrauen der Jugend gewinnen zu können glaubte. Der Typ des älteren Offiziers - damit war nichts weniger als der „wilhelminische" Offizier gemeint - , der Sklavenseelen erzöge und nur passive Resistenz bei den Untergebenen bewirke, wurde geradezu als Schreckbild gezeichnet. Der neue Offizier hingegen sollte den Mut zum Bekenntnis aufbringen und sich als bester Staatsbürger präsentieren, um so, als Voraussetzung zur gesellschaftlichen Erziehungsarbeit, Glaubwürdigkeit in der Truppe und im Volk wiederzugewinnen." In den Antworten von Offizieren des Heerespersonalamts auf die Denkschrift wurde die Abkehr von überlieferten Prinzipien noch deutlicher formuliert. Betont wurden die Notwendigkeit einer sachlich schärferen Auslese unter den Truppenoffizieren und einer weiteren Rationalisierung der militärischen Arbeit. Nicht auf Achsel-

97

Wie Anm. 92.

98

Vortragsnotizen aus dem Arbeitsgebiet des Personal-Amts vom 19.11. 1928; Β Α ΜΑ Ν 5/22 (Ν. Stülpnagel), fol. 14. Vgl. auch Detlev BALD, Tradition und Reform (wie Anm. 8 1 ) , S. 4 6 .

99

Wie Anm. 92

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stücken und Dienstalter könne Autorität beruhen, sondern ausschließlich auf Leistung.100 Für die professionals in der Reichswehrfiihrung basierte das Offizierkorps nicht mehr auf den Faktoren „Herkunft" und „formale Abgrenzung", zumal sie selber diesen allenfalls unvollkommen genügten.101 In Differenz zum aristokratischen Herrschaftsmodell handelten sie nach der Einsicht, daß „außergewöhnliche Männer [...] nicht nur ,geboren', sondern auch ,erzogen' [würden]." Die zahlreichen Sachdebatten zwischen den „Traditionalisten" und „Modernisierern" im Ministerium verliefen entsprechend nur zum geringsten Teil entlang der herkömmlichen sozialen Trennungslinien zwischen Adel und Bürgertum. In Fragen der Rekrutierung, Ausbildung und Erziehung orientierten sich die Berliner Offiziere an der individuellen Bildung, Leistung und Persönlichkeit der Offiziere, sämtlich Kriterien professioneller Elitenbildung, allerdings in scharfer Abgrenzung nach unten. 102 Dies schloß den Adel, der diesen Kriterien zu entsprechen schon immer vorgegeben hatte,103 beileibe nicht aus, jedoch wurde die adlige Annahme, von Geburt aus schon etwas zu sein, nicht mehr zur Richtschnur der militärischen Elitenrekrutierung gemacht. 104 Drei durchaus widersprüchliche Voraussetzungen für diesen tiefgreifenden, aber bei100

„Gedanken zur Denkschrift" vom 5.12. 1928 und Antwortschreiben vom 6.12. 1928, ebda. 25-28 bzw. 29-33. Vgl. die 1932 von der Heeresorganisationsabteilung emsthaft angestellten Überlegungen, hierarchische Rangabzeichen durch Funktionszeichen zu ersetzen, in: GEYER, Aufrüstung oder Sicherheit (wie Anm. 9), S. 16.

101

GEYER, Professionals and Junkers (wie Anm. 9), S. 81 dort auch Beispiele. Im Reichswehrministerium beschäftigte man sich sogar mit der Frage der Abnutzung von Uniformen durch zu häufiges Tragen und kam zu der Antwort, daß finanziell schlechter gestellte Offiziere, die Uniform nicht immer tragen müßten.

102

David N. SPIRES, Image and Reality. T h e Making of the German Officer 19211933, Westport (Conn.) 1984.

103

Marcus FUNCK/Stephan MALINOWSKI, „Charakter ist alles!" Erziehungsideale und Erziehungspraktiken in deutschen Adelsfamilien im 19. und 20. Jahrhundert, in: Jahrbuch für Historische Bildungsforschung 4 (2000), S. 71-91.

104

In einer Auftragsarbeit des Militärschriftstellers (und ehemaligen Reichswehroffiziers) Kurt Hesse für die Heeresausbildungsabteilung heißt es: „Vergessen wir nicht, daß die Führerrolle, die uns vor Augen steht, die Rolle des Führers des Volkes, nur dann übernommen sein kann, wenn wir auch die geistige Qualität dazu haben. Es sind viele Ansätze im Offizierkorps zur Persönlichkeit, aber die Zahl der Persönlichkeiten ist noch immer gering." Zwar konstatierte er einen allgemeinen Rückgang an Persönlichkeiten, nannte aber in konventioneller Manier „gesunden [!] Adel, alte Beamtenfamilien, Großgrundbesitz und alt eingesessene Kaufleute" als Schichten, die eine gewisse Gewähr für Qualität böten. Vgl. B A MA Ν 558/43 (Hesse), S. 19.

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leibe nicht vollkommenen Wandel verdienen besondere Beachtung: Die Professionalisierung des Heeresoffizierkorps wurde vorangetrieben von Offizieren, die aus der Tradition des aristokratisch geprägten wilhelminischen Offizierkorps stammten, über ihre Tätigkeiten in Generalstabsstellen aus dieser allerdings herausgewachsen waren. Insofern könnte man die „Re-Aristokratisierung" des Offizierkorps der Reichswehr geradezu als eine Gründungsbedingung der professionellen Armee bezeichnen. Außerdem hatte die Reichswehrführung schmerzhaft einsehen müssen, daß die Offiziere in der Weimarer Gesellschaft die soziale Leiter hatten hinabsteigen müssen. Das Offizierkorps war in doppelter Hinsicht ein „degradierter Berufsstand".105 Einerseits hatte der Offizierberuf die Faszination des Heroischen und seine Ausstrahlungskraft weitgehend verloren, anderseits waren die Offiziere faktisch nicht in der Lage, ihrem zugewiesenen Auftrag der Landesverteidigung zu genügen. Derart auf sich selber zurückgeworfen, eröffneten sich für die Armee neue Denk- und Handlungsräume, die ihr aufgrund der gesellschaftlichen Bedeutung und Verantwortung vor 1914 verwehrt geblieben waren. Schließlich konnte sich die Reichswehr die strenge Selektivität und in gewissem Sinne auch Vorläufigkeit leisten. Mit dem Versailler Vertrag waren ihr militärisch bis auf weiteres die Hände gebunden, doch gerade die Verkleinerung der Armee erleichterte das auf eine bessere Zukunft hin ausgerichtete Experimentieren und Ausprobieren. Spätestens seit 1923 standen den zugestandenen fünf Prozent vom Gesamtbestand an neu zu besetzenden Planstellen eine Vielzahl von Bewerbern gegenüber, 1929 bewarben sich ca. 1.600 Bewerber für 196 freie Stellen, so daß die jeweiligen Auswahlkriterien für Entlassung und Einstellung ohne Rücksichten angelegt werden konnten.106 Deutlich wird aber auch, daß die Suche nach zusätzlichen „weichen" Rekrutierungsfaktoren vor allem in Konzepte wie „Persönlichkeit" und „Charakter" mündete, die den Militäradel eher stärkten als schwächten und diesen wieder näher an die Reichswehr heranführten. 5. Bewahrung, Marginalisierung und Degeneration des aristokratischen Offizierkonzepts Den ernsthaftesten Widerstand gegen den fundamentalen Wandel des Offizierberufes leisteten neben den disparaten konservativen 105

Eckart KEHR, Zur Soziologie der Reichswehr (wie Anm. 4), S. 240.

106

Friedrich DOEPNER, Zur Auswahl der Offizieranwärter im 100.000-Mann-Heer, in: Wehrkunde 22 (1973), S. 200-204 u. 259-263.

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Wehrverbänden paradoxerweise die Offiziere selber. An v. Seeckt hatten sich noch alle Offiziere aufrichten können, so daß sie ihm willig folgten. Danach hing das Ministerium förmlich in der Luft, die Truppenoffiziere bevorzugten andere Modelle militärischer Arbeit. 107 Hier muß man wohl suchen, wenn man der Bedeutung des Adels für die militärische Arbeit in der Zwischenkriegszeit auf der Spur ist. In den Garnisonen und Kasernen, in einzelnen Truppenteilen der mittleren und unteren Ebene lebten die Offiziere nach einem eigenen, von der Zentralbehörde abgekoppelten Stil, der je nach regionaler Besonderheit mehr oder weniger aristokratisch ausfiel. Dabei war das Verhältnis des Adels zur Reichswehr zunächst sehr zwiespältig, verhielten sich die „landsässigen Familien recht zurückhaltend gegen die neue Reichswehr." 108 Grundsätzlich wurde das „Söldnerheer" der Republik kritisch und ablehnend beurteilt, dagegen die glorreiche militärische Vergangenheit in erster Linie von Offizieren a.D. beschworen. Aus dem Zwang zur beruflichen Neuorientierung heraus und aufgrund der ökonomischen Dauerkrise, die gerade die militäradligen Familien belastete, ergingen jedoch schon sehr früh Aufrufe an den Adelsnachwuchs, sich der „militärischen Aufbauarbeit" nicht zu verweigern.109 Umgekehrt vermittelte die Reichswehrführung unter v. Seeckt erfolgreich den Anschein der Kontinuität und so mancher Erlaß des Chefs der Heeresleitung liest sich geradezu als ein Angebot an die Söhne dieser Familien. Dies lag nicht zuletzt daran, daß in den zahlreichen Denkschriften, Erlassen und Auftragsarbeiten der Reichswehrführung mit der Forderung nach „Persönlichkeit" und „Charakter" rhetorisch an Konzepte der Vorkriegszeit angeknüpft wurde, die den Adel besonders anzogen. In Ermangelung einer zeitgemäßen Begrifflichkeit, welche die militärische Gesellschaft wohl auch gar nicht hätte ertragen können, hüllte die Reichswehr ihre eigentlich

107 Yg] fy r ¿en Bruch zwischen Reichswehrführung und Truppenoffizierkorps GEYER, Professionals and Junkers (wie Anm. 9), S. 84. Schon 1926 klagte Hauptmann Eccard v. d. Gablentz, Kompaniechef im Potsdamer Infanterie-Regiment 9, hier durchaus im Sinne des Ministeriums, über die „zu hohen Ansprüche" und Ziellosigkeit der Ausbildung, was zu Mißstimmung in der Truppe führte, zumal in der Truppenpraxis eben keine Führer und Persönlichkeiten, sondern Untergebene ausgebildet würden. S. Eccard v. D. GABLENTZ, Gedanken über Änderung unserer Ausbildung vom 2.10. 1926, in: BA-MA Ν 42/42 (ν. Schleicher), fol. 1924. 108

v. ARNIM, Erinnerungen ( w i e Anm. 49), fol. 11.

109

„Adelige an die Front!", in: Deutsches Adelsblatt 39 (1921), S. 132f. u. Hauptmann V. KORTZFLEISCH, Der Offizierberuf im Reichsheer, ebda., S. 338f.

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„modernen" Elitenkonzepte in den Mantel des Vergangenen und trug somit zur Aufwertung des aristokratischen Offizierskonzeptes bei. Mit den oben erwähnten zunehmenden Einschränkungen blieb den Regimentern bzw. Kompanien das Recht auf Auswahl der Offiziere und des Ersatzes an Unteroffizieren und Mannschaften belassen, so daß in einzelnen Einheiten alte Regiments- und Familienbeziehungen erneut Tendenzen zur Konzentration und Abschließung begründeten.110 Durch die Betonung der Traditionspflege wurde gerade den adligen Offizierfamilien, mit ihren generationentiefen Verbindungen zu einzelnen Einheiten, der Wiedereinstieg in den Offizierberuf erleichtert. Mit dem Ziel die militärische Vergangenheit mit der Gegenwart zu versöhnen, wurden den Kompanien sogenannte Traditionsregimenter zugewiesen, aus deren Geschichte die jungen Einheiten Kraft für die gänzlich unheroische Tagesarbeit beziehen sollten.111 Was lag für einen adligen Offizieranwärter näher, als sich um die Aufnahme in solchen Einheiten zu bemühen, deren Geschichte untrennbar mit dem eigenen Familiennamen verwoben war? Und umgekehrt mußten auch die Regimenter Interesse an Offizieren haben, die in ihrer Einheit mehr als nur eine nummerierte Versorgungsanstalt sahen, unter der sie mili110

Eine plastische Beschreibung der Bedeutung von Netzwerken und persönlichen Beziehungen (und deren Grenzen) für die Einstellung als Offizieranwärter liefert - bezeichnenderweise am Beispiel eines Bürgerlichen - Hans MEIER-WELCKER, Aus dem Briefwechsel zweier junger Offiziere des Reichsheeres 1930-1938, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 14 (1973), S. 57-100. S. a. Friedrich DOEPNER, Die Entscheidung für den Offizierberuf, in: Wehrkunde 23 (1974), S. 421-428. Hermann TESKE, Analyse eines Reichswehr-Regiments, in Wehrwissenschaftliche Rundschau 12 (1962), S. 252-269, hier: S. 256 berichtet von sogenannten „Traditionssöhnen", die von ihren Vätem, alten Gardisten, dem Regiment zur Erziehung übergeben wurden. Gerade unter Seeckt war es auch innerhalb der Reichswehrführung möglich, „Adjutantenpolitik" zu betreiben und Einstellungen von Freunden und Bekannten zu forcieren. Vgl. Friedrich v. RABENAU, Auszug aus meinen Erinnerungen an meine Adjutantenzeit, in: BA-MA, Ν 62/11 (ν. Rabenau), fol. 19-29. Daß diese Praxis den „Modernisierern" ein Dorn im Auge war, geht nicht zuletzt aus der Diskussion um Stülpnagels Denkschrift vom November 1928 hervor. Vgl. Anm. 92.

111

Generalmajor Friedrich v. Loßberg sah in der Tradition das letzte Ideal, „das dem Soldaten des Söldnerheeres Standesbewußtsein einimpft und ihn bei der Truppe hält." Schreiben des Kommandeurs Gruppenkommando 2 „Erhaltung der Überlieferung des alten Heeres" vom 30.9. 1919, in: BA-MA Ν 247/89 (ν. Seeckt), fol. 5f. Vgl. Erlaß des Reichswehrministeriums - Chef der Heeresleitung, General der Infanterie v. SEECKT „Die Grundlagen der Erziehung des Heeres" vom 1.1. 1921, abgedruckt in: Offiziere im Bild von Dokumenten (wie Anm. 59), S. 224-226. Der eigentliche „Traditionserlaß" mit der Zuweisung konkreter Traditionseinheiten stammt vom 24.8. 1921.

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tärische Tagesarbeit leisteten. Einzelne Regimenter, wie das Infanterie-Regiment 9 - Tradition v.a. der Potsdamer Garderegimenter - und das Reiter-Regiment 4 - Tradition u.a. der Garde du Corps - in Potsdam sowie das Bamberger Reiter-Regiment 17 - Tradition u.a. des 1. Ulanen-Regiments - entwickelten sich wieder zu Bastionen des Militäradels. Der Adelsanteil lag mit absteigender Tendenz bei bis zu 60 Prozent.112 Insgesamt blieb der Anteil des Adels im Offizierkorps zwischen 1920 und 1933 relativ konstant bei etwas mehr als 20 Prozent, auch die Wahl v. Hindenburgs zum Reichspräsidenten beeinflußte die Gesamtentwicklung kaum. Bemerkenswerter als diese Zahl sind einzelne quantitative Befunde, die das Nebeneinander von traditionellem und neuartigem Verhalten bei der Berufswahl implizieren. So sank der Anteil der Gutsbesitzersöhne unter den Offizieren auf unter 5 Prozent, während die Selbstrekrutierungsrate sich bei ca. 50 Prozent einpendelte. 113 Offensichtlich war es den männlichen Mitgliedern von Gutsbesitzerfamilien nicht gelungen, in der Reichswehr als Offiziere Fuß zu fassen. Der Militärberuf hatte für diese Gruppe an Attraktivität verloren, zumal er mehr als je zuvor spezifische Qualifikationen verlangte, die sie nur unzureichend erfüllen konnte. Dagegen stieg der Anteil des Adels bei den Offiziersanwärtern seit 1929 merklich an und erreichte 1932 den Höchststand von 35,9 Prozent. Weniger waren es monarchistische Sehnsüchte und schon gar nicht eine Annäherung an den republikanischen Staat, die den Adelsnachwuchs verstärkt in die Armee trieben,114 sondern vielmehr die Möglichkeit, traditionellen Lebensstil und militärische Arbeit sinnvoll miteinander verknüpfen zu können. So finden sich adlige Offiziere in den Funktionsstellen der Stäbe (1932: 19,3 Prozent, was 140 Offizieren entspricht) ebenso wie in der Infanterie (1932: 17,3 Prozent, was 256 Offizieren entspricht) oder der Kavallerie ( 1932: 47,3 Prozent, was 290 Offizieren entspricht). Eine ein-

112

Für das IR 9 siehe TESKE, Analyse (wie Anm. 105) u. die nostalgisch-tendenziöse Regimentsgeschichte von Wolfgang PAUL, Das Potsdamer Infanterie-Regiment 9 1918-1945. Preußische Tradition in Krieg und Frieden, Osnabrück 1984. An dieser Stelle sei noch einmal darauf hingewiesen, was der eindrucksvolle Adelsanteil in solchen Offizierkorps tatsächlich bedeutete. Im IR 9 verbargen sich hinter den 62% im Jahre 1920 ganze 47 adlige Offiziere (vs. 29 bürgerliche): 7 Stabsoffiziere, 11 Hauptleute und 29 Leutnante; hinter den 47% im Jahre 1933 ganze 33 adlige Offiziere (vs. 37 Bürgerliche): 4 Stabsoffiziere, 7 Hauptleute und 22 Leutnante.

113

Im Fall der adligen Offiziere lag die Selbstrekrutierungsrate sogar leicht darüber, 1932 bspw. bei 56,4 Prozent.

114

HOYNINGEN-HUENE, Adel in der Weimarer Republik (wie Anm. 33), S. 293.

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deutige Entwicklung, Tendenzen der Zunahme oder Abnahme in der Wahl der Truppengattung, läßt sich aus diesen Zahlen auch aufgrund des kurzen Untersuchungszeitraums nicht ableiten. Deutlich wird nur die weiterhin dominante Skepsis gegenüber den technischen Truppen aber nicht der Militärtechnik an sich! - und die ungebrochene Attraktivität der Kavallerie für den Adel. Diese hatte sich dort, wo der Krieg entschieden worden war, nämlich an der Westfront, als untaugliches Instrument moderner Kriegführung erwiesen, doch dienten 1932 knapp 38 Prozent aller adligen Offiziere in Reiter-Regimentern, ihr Anteil am Offizierkorps der Kavallerie machte durchgängig fast 50 Prozent aus. Sicherlich wirkte das in der Kavallerie gepflegte Image des Herrenreiters besonders anziehend auf den Adel. Neoromantische Rittervorstellungen, die Leidenschaft für Pferde, den Reitsport und die Jagd als Elemente einer genuin adligen Lebenswelt spielten bei der Wahl des Berufes und der Waffengattung eine ebenso große Rolle wie die Übergewichtung traditioneller Repräsentationsformen von sozialem Status. Doch standen besonders die Reiter-Regimenter unter besonderem Modernisierungsdruck. Während v. Seeckt noch unbeirrt an der Lanze festgehalten hatte, zweifelte v. Stülpnagel schon 1924 in seinen „Gedanken über den Krieg der Zukunft" die Brauchbarkeit der Heereskavallerie grundsätzlich an. Und schließlich arbeiteten Offiziere wie Hans Guderian, der die monatliche Beilage „Der Kampfwagen" für das Militär-Wochenblatt redaktionell leitete, schon sehr früh an Konzepten zur Motorisierung des Heeres, wonach nicht zuletzt die Kavallerie revolutionär umgestaltet und zu Panzerverbänden weiterentwickelt werden sollte. Der tatsächliche Regimentsalltag hing jedoch von den Eigenheiten der jeweiligen Truppenführer ab. Smilo v. Lüttwitz berichtet, er habe 1927 als Hauptmann im Reiter-Regiment 6 in Pasewalk die Aufstellung einer Kompanie „schwere Eskadron" durchgesetzt, in der eben nicht das Pferd, sondern der Motor im Mittelpunkt der Ausbildung stand. Im Unterschied dazu betonte Bernd Graf v. d. Schulenburg, der 1931 Regimentskommandeur wurde, „die gesellschaftliche Eleganz und Sicherheit" und ließ „noch einmal den alten feudalen Charakter preußischer Offizierkorps vergangener Zeiten durchschimmern."115 Gegen die Absichten der Offiziere in der Reichswehrführung gab es auf Initiative „von unten" also durchaus Möglichkeiten, regimentale

15

Denkschrift v. Lüttwitz' vom 3.12. 1927, in: LÜTTWITZ, Soldat in 4 Armeen (wie Anm. 54) fol. 71-73 u. ebda. S. 82.

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Eigenheiten zu bewahren und Freiräume für spezifisch adlige Vorstellungen von Offiziertum zu schaffen. Dies äußerte sich in kleinen Widerständigkeiten und Beharrungsleistungen, vor allem auf dem gesellschaftlichen Parkett. Gerade in den kleinen, verstreuten Garnisonsstädten auf dem Lande - solche ländlich-kleinstädtischen Standorte blieben sehr zum Leidwesen der Reichswehrführung in der Mehrzahl - , in denen das Offizierskasino zum Mittelpunkt des geselligen Lebens erhoben wurde, konnten die Offiziere einen Lebensstil kultivierten, der an die „besseren Regimenter" im Kaiserreich anknüpfte. 116 Im Mikrokosmos der Regimenter und Kompanien boten sich Nischen zum standesgemäßen Überleben und zur Pflege eines aristokratischen Kriegerethos', die der Adel soweit es ihm möglich war konsequent besetzte und mit eigenem Inhalt und Sinn füllte. Durch den Krieg und den Versailler Frieden war die preußischdeutsche Armee ihrer Institutionalität, Periodizität, Symbolik und Kollektivität beraubt worden. 117 In den Regimentern und Regimentsvereinen lieferte der Adel ein Surrogat für diesen Verlust. Kraft der historischen Tiefe seiner Familiennamen und des Glanzes der militärischen Vergangenheit versorgte er ein geschichtsloses Heer mit einem Hauch von sozialem Status, Kontinuität, Farben- und Formenpracht und Geschlossenheit. Hier konnte er in verkleinertem Maßstab die Stärken seiner Repräsentationskultur und seiner Symbolwelt ausspielen. Neben dem schlichten Feldgrau, der Farbe des Krieges, und dem jovialen, „zivilistischen" Stil des Ministeriums glänzten die wilhelminisch prachtvollen Uniformen der alten Regimenter um so mehr. 118 Anläßlich des Hochverratsprozesses gegen die Ulmer Reichswehroffiziere, durch den das Ausmaß der inneren Zerrissenheit der Reichswehr sowie die Frontstellung ihrer Führung gegen die politische Einflußnahme der Wehrverbände öffentlich wurde, kommentierte Generalleutnant a.D.

116

Für das Anknüpfen an Familientraditionen und einen „feudalen" Lebensstil vgl. die Stilisierungen bei Rudolf V. GERSDORFF, Soldat im Untergang, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1977 u. Dietrich v. CHOLTITZ, Soldat unter Soldaten, Konstanz/Zürich/Wien 1951.

117

Christian Walter GÄSSLER, Offizier und Offizierkorps der alten Armee in Deutschland als Voraussetzung einer Untersuchung über die Transformation der militärischen Hierarchie, Wertheim a. M. 1930, S. 78.

118

Jedoch verliefen auch die Beziehungen der Regimenter zu den Regimentsvereinen keineswegs so harmonisch, wie es nach der Außendarstellung den Anschein hatte. Vgl. BLHA, Rep. 37, Herrschaft Neuhardenberg, Nr. 1894 Vereins-Akten IV, Jahresversammlung des Vereins ehemaliger Offiziere des Ulanen Regiments Kaiser Alexander II. von Rußland vom 26.2. 1921 und vom 17.2. 1927.

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v. Cramon, daß die Reichswehr ihrer eigentlichen Aufgabe, der Pflege der Tradition und deren Übertragung auf die Gegenwart nicht gewachsen sei. Durch den Wegfall der Monarchie fehlten der Reichswehr die Voraussetzungen, die unbedingtes Vertrauen und innere Zufriedenheit gewährleisteten, zumal die Republik nichts Gleichwertiges hätte aufbauen können.119 Zwar überschätzte der überzeugte Monarchist alter Prägung die Anziehungskraft der monarchischen Idee, zumal im Zusammenhang mit dem Leipziger Prozeß, doch lag er mit seiner Beobachtung richtig, daß gerade jüngere Truppenoffiziere, fern von der Berliner Zentrale, auf der Suche nach einer „übergreifenden Idee" sich an Angeboten jenseits der Reichswehr aufrichteten.120 Die Ausstrahlung der aristokratisch orientierten Regimenter und Vereine, deren Zahl geradezu ins Unermeßliche stieg,121 blieb auf den Ort bzw. die Region oder auf Teilbereiche der nationalen Militärkultur begrenzt. Um aber in der fragmentierten militärischen und zivilen Gesellschaft der Weimarer Republik integrativ zu wirken, fehlte der aristokratischen Interpretation des Offizierberufes letztlich die Legitimation und eine zukunftsweisende Perspektive. Innerhalb des engen Rahmens der Reichswehr mit ihren 4.000 Offiziersstellen boten sich einem Teil des Militäradels ganz vorzügliche Karrierechancen, wenn dieser bereit war, das Korsett der ständischen Exklusivität abzulegen. Denn im Unterschied zur preußischen Armee vor 1914 verliefen erfolgreiche Militärkarrieren nur über die Berliner Zentrale, die sich zur Wahrung ihrer ureigenen militärischen Interessen vom Adel als Stand scharf distanzierte. Zumindest in den höheren Kommandostellen verwischten sich die Unterschiede zwischen adligen und bürgerlichen Einstellungen zum Offiziersdienst - die eigentlichen innermilitärischen Konfliktlinien verliefen zwischen fachmilitärischen

119

August V. CRAMON, Der Leipziger Hochverratsprozeß im Lichte deutscher Freiheit, in: BA-MA Ν 266/80 (ν. Cramon), fol. 15-18.

120

So auch die Rechtfertigung der in Leipzig angeklagten Leutnante. Vgl. den Vortrag des Majors Theisen (militärischen Sachverständigen in der Hauptverhandlung in Leipzig) vor dem Offizierkorps des Reichswehrministeriums, „Der Prozeß gegen die ehemaligen Leutnante Scheringer und Ludin und Oberleutnant a.D. Wendt vor dem Reichsgericht in Leipzig" vom 14.10. 1930, in: BA-MA Ν 26/6 (ν. Hammerstein) und den offenen Brief Richard Scheringers an Groener aus der Festungshaft vom 28. Oktober 1930, abgedruckt in: SCHÜDDEKOPF, Heer und Republik (wie Anm. 66), S. 302.

121

Eine Übersicht liefert das Handbuch der Vereinigungen deutscher Kriegs- und Friedens-Truppenteile, Oldenburg/Berlin 1925.

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Richtungen und zwischen den Generationen.122 Andererseits nutzten gerade adlige Offiziere die relative Unabhängigkeit der Regimentsgeselligkeit, innerhalb derer sie für die zumeist nur kurze Dauer ihrer Regimentszugehörigkeit und bis zur nächsten Prüfung ihren Familienund Standestraditionen folgen konnten. Die Beziehungen zwischen der professionellen Armee und einzelnen von Militärfossilien angeführten Adelsverbänden bzw. -vereinen gestalteten sich im Grunde schon seit Gründung der Reichswehr problematisch, was zu tiefen Rissen in der militärischen Gesellschaft und in der Adelsgesellschaft bis in einzelne Familien hinein führte. Insbesondere aus den Reihen der Reichswehrführung richtete sich wiederholt scharfe Kritik gegen DNVP und Kreuz-Zeitung.123 Auch während des Kapp-Putsches verhielten sich adlige Offiziere nicht nur abwartend, um später ausschließlich die mangelhafte Vorbereitung des Unternehmens zu kritisieren. Oberstleutnant Kurt Freiherr v. Hammerstein-Equord löste seinem Schwiegervater und direktem Vorgesetzten Walter Freiherr v. Lüttwitz im März 1920 den Gehorsam auf und ließ einen putschenden Onkel von Soldaten festsetzen. Einen ständigen Konfliktherd bildete die von dem notorischen Querschläger Graf Waldersee, Vorsitzender des Nationalverbandes Deutscher Offiziere, vorangetriebene Agitation gegen den „November-Verräter" Wilhelm Groener. Waldersee strengte nicht nur ein letztlich erfolgloses Ehrengerichtsverfahren gegen den „Verstandesmenschen ohne Sinn für Volksempfinden, Truppengeist und Herkommen" und „tüchtigen Feldeisenbahnchef ' als den vermeintlich Schuldigen an der Kaiserflucht an, 124 sondern attackierte über seinen Verband auch die Reichswehr122

Beispielhaft für die tiefgreifenden Konflikte zwischen den Offiziersgenerationen, die hier leider nicht weiter ausgeführt werden können, war die durch Kurt HESSE, Von der nahen Ära der „jungen Armee", Berlin 1925 ausgelöste Debatte. S. a. die durch v. Seeckt inspirierte, schulmeisterliche Gegenschrift des Majors im Reichswehrministerium Friedrich v. RABENAU, Die alte Armee und die junge Generation. Kritische Betrachtungen, Berlin 1925. Die politische Problematik des Generationskonflikts verdeutlicht Peter BUCHER, Der Reichswehrprozeß. Der Hochverrat der Ulmer Reichswehroffiziere 1929/30, Boppard 1967. Allgemein: KROENER, Generationserfahrungen und Elitenwandel (wie Anm. 29).

123

Vgl. einen Brief Joachim v. Stülpnagels an Kuno Graf Westarp vom 8.10. 1919, in: BA-MA Ν 5/18 (ν. Stülpnagel), in dem er die Kampfweise der Kreuz-Zeitung als unruhestiftend zurückwies und das (nachträgliche) Urteil von Erich v. d. Bussche-Ippenburg, Die Wehrmachtsführung von 1918 bis 1933, in: BA-MA Ν 386/4 (v. d. Bussche-Ippenburg): „Gegenspieler der Reichswehr war die DNVP." Zitate aus Rüdiger Graf v. d. Goltz, Überhebliche Geschichtsfalschung vom 3.1. 1927, fol. 2, in: BA-MA Ν 714/10 (v. d. Goltz) und Friedrich Graf v. d. Schulenburg, „Erlebnisse" des Grafen Friedrich von der Schulenburg, in: BA-MA Ν 58/1

124

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fìihrung.125 Das konfliktreiche Nebeneinander, wenn nicht sogar die Unvereinbarkeit von ehemaligen Offizieren und Reichswehroffizieren wurde geradezu paradigmatisch durch die ständigen Querelen im „Verein ehemaliger Generalstabsoffiziere ,Graf Schlieffen'" vorgeführt.126 Der Verein, dem 1928 1.297 Mitglieder angehörten, darunter ca. 350 aktive Reichswehroffiziere, war zur Förderung des engen Zusammenhaltes von ehemaligen und aktiven Generalstabsoffizieren gegründet worden, ein Grundsatz, der nach dem Urteil des Generals Joachim v. Haack von Beginn an eine Farce war.127 Über die Aufnahme Groeners brach ein erbitterter Streit zwischen den Mitgliedern aus, wobei sich unter der Führung Heyes und v. Hammersteins sämtliche Reichswehroffiziere loyal hinter den Reichswehrminister stellten und angesichts des „latenten Kampfes des Vereins gegen die Reichswehl*' mit kollektivem Austritt drohten. Erst ein durch August v. Mackensen erwirktes Entlastungsschreiben S.M. für Groener entschärfte die Situation, jedoch verwirklichten die Frondeure die Drohung des Hauptmanns a. D. Prinz Lippe: „Wenn dieser Schuft eintritt, dann treten wir aus!" In dem vermeintlichen Linksrutsch der Reichswehr und der „klaren schwarz-rot-gelben Mehrheit" sahen Ehemalige wie Wilhelm v. Dommes, Flügeladjutant des letzten Kaisers, eine Schande für ihre Vorstellung von militärischer Führung. In der letzten Aussprache faßte Prinz Lippe deren selbstbewußte und selbstgerechte Mission bündig zusammen: „Wir, die wir noch ein Menschenalter deutsche Geschichte zu machen haben, dürfen keine Kompromisse mit dem Novembertume schließen. Wir würden damit das Rückgrat derer zerbrechen, die in der vaterländischen Wiederaufbauarbeit voranzugehen berufen sind."128 Die Liste der kleinen und großen Auseinandersetzungen zwischen aktiven und inaktiven adligen Offizieren ließe sich durchaus verlän-

(v. Schulenburg-Tressow), fol. 229. Die herablassende Beschreibung Groeners als blassen Verwaltungsbeamten identisch u.a. bei August v. Cramon, Die tragische Schuld Hindenburgs. Erinnerungen August v. Cramons, Dezember 1934, in: B A MA Ν 266/83 (ν. Cramon), fol. 5. 125

Siehe bspw. den Bericht Stülpnagels über „Äußerungen des Generalleutnants Graf Waldersee über Seeckt" vom Mai 1924, in: BA-MA Ν 42/26 (ν. Schleicher).

126

Zur eisigen Atmosphäre zwischen den aktiven und inaktiven Offizieren: Joachim v. Stülpnagel, 75 Jahre meines Lebens, in: BA-MA Ν 5/27, 3 (ν. Stülpnagel), fol. 249f. Aufzeichnungen einer Sitzung des Schlieffen-Vereins vom 28. Februar 1930, in: BA-MA Ν 12/82 (ν. Eberhardt).

127

128

Ebda.

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gern. 129 Zum endgültigen Bruch führte der sogenannte „Groener-Erlaß" über das Verbot der Mitgliedschaft von Offizieren in politischen Vereinen, zu denen von nun an auch die Deutsche Adelsgenossenschaft gerechnet wurde, der immerhin 60 Prozent aller adligen Reichswehroffiziere angehörten. Diesen war letzten Endes das Hemd näher als der Rock und die Zugehörigkeit zur militärischen Profession galt mehr als die Zugehörigkeit zu ihrer Standesvertretung. Immerhin ist kein Fall bekannt, daß ein adliger Reichswehroffizier die Armee verlassen hätte, während die fast 500 aktiven Offiziere in der DAG ihre Mitgliedschaft aufkündigten.130 Auch wenn dadurch nur die formale Mitgliedschaft aufgegeben wurde, sehnten sich auch die adligen Reichswehroffiziere offensichtlich weniger nach einem exklusiven Stand, sondern nach Verwirklichung der nationalen Einheit. Die zahlreichen konservativen und antirepublikanischen Wehr- und Veteranenverbände bildeten allerdings ein bedeutendes symbolisches Auffangbecken für die große Masse des gestrandeten Militäradels, die in den regulären Einheiten kein Unterkommen mehr gefunden oder sich in einzelnen Fällen der Mitarbeit verweigert hatte.131 Die aussor129

Bspw. die heftigen Konflikte anläßlich des Uniformverbots u.a. für den Stahlhelm, in die sich auch der Kronprinz einschaltete. Dieser mußte sich von v. Hammerstein-Equord allerdings sagen lassen, daß das Recht auf Uniform nur den „wirklichen Soldaten", d. h. der Reichswehr gebühre. Anstelle verabschiedeten Offizieren eine Regimentsuniform zu verleihen, die sie dann bei kindlichen Aufmärschen und Soldatenspielen zur Schau trügen, hätte man alten Offizieren besser das Geld zu einem gut sitzenden Frack geben sollen. Siehe den Bericht des Obersten v. Thaer über Äußerungen des Generals v. Hammerstein vom 22.12. 1931, in: B A - M A Ν 42/21 (ν. Schleicher), fol. 120-122. Selbst der Kronprinzenberater Friedrich Graf v. d. Schulenburg, Reichstagsabgeordneter für die DNVP, später NSDAP-Mitglied und SS-General, hielt nur wenig von der „draufgängerischen Stahlhelmpolitik politisch urteilsloser Generale" und bevorzugte die HerrenklubVariante. Vgl. die Briefe v. d. Schulenburgs an v. Schleicher vom 27.6. 1930, in: B A - M A Ν 42/27 (ν. Schleicher) und vom 15.8. 1931, in: ebda. Ν 42/21 (ν. Schleicher), fol. 80.

130

Vgl. HOYNINGEN-HUENE, Adel in der Weimarer Republik (wie Anm. 33), S. 319321. Die Bedeutung des Unvereinbarkeitserlasses ist wohl darin zu sehen, daß sich dadurch die DAG und zahlreiche weitere Organisationen v.a. aus dem rechten Spektrum noch stärker vom Staat und seinen Organen distanzierten und sich als außerhalb stehende „nationale Opposition" präsentieren konnten.

131

Vgl. das pathetische Bekenntnis von Graf Rüdiger v. d. Goltz, Soldat und Politik ' vom 14.10. 1929, in: BA-MA Ν 714/11: „Wir alten Offiziere haben nach der Revolution den geliebten hohen Beruf aufgegeben oder auch aufgeben müssen, als wir noch voll arbeitsfähig, aber grossenteils nicht mehr jung genug waren, einen neuen Beruf zu ergreifen. Das Gleiche gilt für den größten Teil der später aus der Reichswehr ausgeschiedenen Offiziere. Da Arbeit uns anerzogen war, suchten wir nach neuer Tätigkeit. Es war das Natürliche, dass wir irgend etwas ergriffen, das

170

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tierten adligen Ehemaligen betrachteten selbst ihre Standesgenossen in der Reichswehr mit Skepsis und verdächtigten sie der Kollaboration mit der Revolution bzw. der Republik. Auch im Stahlhelm und in jenen unterschiedlichen Organisationen, die sich in den Vereinigten Vaterländischen Verbänden ein gemeinsames Sprachrohr schufen, agierten einzelne einflußreiche Vertreter des Militäradels und bei öffentlichkeitswirksamen Auftritten wurden vor allem ehemalige hochrangige adlige Offiziere in den Vordergrund geschoben. Die Bedeutung dieser Verbände lag weniger in den teilweise grotesken Bemühungen um eine Restauration der Hohenzollernmonarchie oder in der allgemeinen Wahrung des monarchischen Gedankens, als vielmehr in der aggressiven, in Abstufungen reaktionär und zunehmend radikal-völkisch fundierten „Militarisierung der Zivilgesellschaft",132 zumal des preußischen Kleinadels. Der angeblichen Wehrfeindlichkeit und Zaghaftigkeit der Reichswehrführung stellten sie die eigene Wehrfreundlichkeit und Führungskraft gegenüber; unfreiwillig höhlten sie die Überreste preußischer militärischer Tradition bis zur Unkenntlichkeit aus. Rüdiger Graf v. d. Goltz warf der Republik wie der Reichswehr vor, daß sie „tüchtige Bürokraten züchten, aber keine Führer: Aber der beste Bürokrat, selbst der beste Generalstäbler ist noch kein Führer von weitem Blick." Hinter dem Raunen vom Führer, das bei v. d. Goltz völkisch verbrämt war, verbarg sich ein Modell militärischer und gesellschaftlicher Herrschaft, das sich grundsätzlich von der professionellen Armee unterschied, wo immer auch deren politischen Präferenzen lagen.133 Indem die Reichswehrführung die Verbände finanziell, personell und organisatorisch förderte, weil sie diese als Instrument zur Wehrhaftmachung der gesamten Gesellschaft zu benötigen glaubte, ohne sie kontrollieren zu können, drohte ihr zusehends das staatlich legitimierte Gewaltmonopol zu entgleiten - und nur das Stillhalteabkommen mit der NSDAP 1933/34 sollte die Reichswehr vor dem Zugriff von außen retten, freilich begleitet von einer umfassenden Selbstgleichschal-

dem alten Berufe nahe lag und unserer Vorbildung entsprach. Zu diesen Möglichkeiten gehört das Arbeiten und Werben fur den Wehrgedanken." 132

Hans MOMMSEN, Militär und zivile Militarisierung in Deutschland 1914 bis 1938, in: Ute Frevert (Hg.), Militär und Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1997, S. 265-276.

133

Rüdiger Graf v. d. Goltz, Alte und neue Führerschicht vom 23.7. 1929, in B A MA Ν 714/11.

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tung. 134 Zur Annäherung an den republikanischen Staat oder gar zur Integration fehlten der Reichswehr letzten Endes Wille und politische Kraft. Jenseits der Sphäre des professionellen Militärinstituts gewann ein militärisch geprägtes „Adelsproletariat" in den Wehr- und Veteranenverbänden ein weites Betätigungsfeld und wirkte in verheerender Weise auf große Teile der Adelsgesellschaft und ihrer Organisationen (vor allem die DAG) zurück. Ökonomisch und sozial bedroht, teilweise sogar deklassiert, wurden von hier aus jene Standesgenossen, die sich der Republik und ihrer Einrichtungen nicht von vornherein verweigerten, systematisch ausgegrenzt, wurde der radikale Antisemitismus salonfähig gemacht, der gesellschaftliche Führungsanspruch auf völkischer Basis reformuliert, gemäßigte konservative Strömungen zurückgedrängt und der Adel militärisch mobil gehalten. Gerade die militärischen und paramilitärischen Verbände dienten als bevorzugtes Sammelbecken für den militärisch geprägten Teil insbesondere des preußischen Adels, der mit dem Verlust der Monarchie 1918 seine gesellschaftliche und politische Orientierung verloren hatte. Insofern folgte auch diese Adelsgruppe der fur die Weimarer Republik charakteristischen Tendenz zur gesellschaftlichen Selbstorganisation und Mobilmachung außerhalb staatlicher Institutionen. Auf diese Weise konnten die vormaligen militärischen Herren zwar einen ungebrochenen Anspruch auf Führung formulieren, doch gründete dieser nurmehr auf der kriegerischen Vergangenheit. Folgerichtig wurde das Offizierkorps als ein eigenständiger Führerstand gedacht, mit dem gemeinsam die Standesgenossen als Führer an die Spitze der „Volksgenossen" treten sollten. 135 Von da an war es nur noch ein kleiner Schritt zu der Forderung nach der Bildung eines Neuadels aus „Blut und militärischer Berufung". Da alle Offiziere im Weltkrieg ihre Pflicht erbracht und „geblutet" hätten, so Rüdiger Graf v. d. Goltz, müsse der neue Adel als „rassischer Schwertadel" definiert werden und die Abkömmlinge kriegsbewährter Offizierfamilien integrieren.136 Damit aber war das aristokratische Offizierkonzept faktisch abgeschafft und in ein rassistisch aufgeladenes, vorgeblich rein soldatisches überführt worden.

134

Klaus-Jürgen MÜLLER, Das Heer und Hitler. Armee und nationalsozialistisches Regime 1933-1940, Stuttgart 1969; Manfred MESSERSCHMIDT, Die Wehrmacht im NS-Staat. Die Zeit der Indoktrination, Heidelberg 1969.

135

W. v. HAGEN, Adel verpflichtet!, in: Deutsches Adelsblatt 39 (1921), S. 37f.

136

Rüdiger GRAF V. D. GOLTZ, Offizier und Adel, in: Deutsches Adelsblatt 53 ( 1935), S. 504f.

STEPHAN MALINOWSKI

„Führertum" und „Neuer Adel" Die Deutsche Adelsgenossenschaft und der Deutsche Herrenklub in der Weimarer Republik

Der Begriff „Adel" fehlt nicht nur in den Sachregistern der Literatur zur Weimarer Republik, sondern den meisten Darstellungen auch als analytische Kategorie. Bei genauerem Hinsehen ist über die Geschichte des Adels nach 1918 vieles behauptet und einiges belegt,1 der Begriff Adel bislang jedoch kaum mit jener analytischen Differenzierung verwendet worden, welche die Sozialgeschichte der letzten Jahre etwa für den Begriff „Bürgertum" etabliert hat. Von Hans Rosenbergs einflußreichen Deutungen der „Rittergutsbesitzerklasse"2 bis zu den genauesten Analysen der Auslieferung des Weimarer Staates ist weni-

Zu den wenigen Arbeiten über den Adel nach 1918 gehören die auf präzise Belege verzichtende, der Ehrenrettung der „Junker" verpflichtete Arbeit von Walter GÖRLITZ, Die Junker. Adel und Bauer im deutschen Osten, Limburg 4 1981, S. 326-410, der Überblick von Francis L. CARSTEN, Geschichte der preußischen Junker, Frankfurt/M. 1988, S. 154-189 und die analytisch enttäuschende Arbeit von IRIS FREIFRAU V. HOYNINGEN-HUENE, Adel in der Weimarer Republik, Limburg 1992. Zuletzt: Wolfgang ZOLLITSCH, Adel und adlige Machteliten in der Endphase der Weimarer Republik. Standespolitik und agrarische Interessen, in: Heinrich August Winkler (Hg.), Die deutsche Staatskrise 1930-1933. Handlungsspielräume und Alternativen, München 1992, S. 239-256. Wichtige Ausgangspunkte dieses Beitrages bilden die hervorragenden Arbeiten von George KLEINE, Adelsgenossenschaft und Nationalsozialismus, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 26 ( 1 9 7 8 ) , S. 1 0 0 - 1 4 3 u n d K a r l - O t m a r FREIHERR VON ARETIN, D e r b a y e r i s c h e A d e l .

Von der Monarchie zum Dritten Reich, in: Martin Broszat/Elke Fröhlich u.a. (Hg.), Bayern in derNS-Zeit, Bd. 3, München 1981, S. 513-567. Hans ROSENBERG, Die Pseudodemokratisierung der Rittergutsbesitzerklasse, in: ders., Machteliten und Wirtschaftskonjunkturen, Göttingen 1978, S. 83-101.

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Stephan Malinowski

ger vom Adel als von „vorindustriellen Eliten", „Machteliten", dem „Junkertum" und den „ostelbischen Rittergutsbesitzern" die Rede.3 Die Entadelung der Begrifflichkeit dürfte kein Zufall sein. Untersuchungen jener vorindustriellen Machtelite, die bei „der Machtübertragung an Hitler eine bis heute von vielen verkannte Schlüsselrolle"4 spielte, betrachten „den" Adel v.a. aus zwei Perspektiven: Erstens in politikgeschichtlichen Analysen, die den Einfluß einzelner Adliger im inner circle der Hindenburg-Kamarilla minutiös herausgearbeitet, dabei jedoch kaum mehr als die immer gleichen zehn bis zwanzig adligen Namen genannt haben.5 Zweitens durch den Blick auf die ostelbischen Großgrundbesitzer und ihre wohlorganisierten Interessenverbände, deren Einfluß als anti-demokratische pressure-group vor und nach 1918 als relativ gut untersucht gelten kann.6 Über die politischen Winkelzüge der o.g. zehn bis zwanzig Adligen ist fast alles, über die politische Ausrichtung der landwirtschaftlichen Interessenverbände manches, über die „verbleibenden" 60.000 bis 100.000 Mitglieder des Adels7 so gut wie nichts bekannt. Keine der alten Machteliten, so das Urteil Heinrich August Winklers, habe „so früh, so aktiv und so erfolgreich an der Zerstörung der Weimarer Demokratie gearbeitet wie das ostelbische Junkertum".8 Daß diese Deutung einiges für sich hat, mag erklären, warum der Blick auf den ostelbischen „Junkern" bzw. „Agra-

Heinrich August WINKLER, Weimar 1918-1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie, München 1993, S. 607. Heinrich August WINKLER, Deutschland vor Hitler. Der historische Ort der Weimarer Republik, in: Walter Pehle (Hg.), Der historische Ort des Nationalsozialismus, Frankfurt/M. 1990, S. 28. Aufgenommen und unterstrichen bei Hans-Ulrich WEHLER, Einleitung, in: ders. (Hg.), Europäischer Adel 1750-1950, Göttingen 1990, S.14. Vgl. die präzisen Darstellungen von WINKLER, Weimar (wie Anm. 3), S. 477-594 und - in stark personalistischer Zuspitzung: Henry A. TURNER, Hitlers Weg zur Macht. Der Januar 1933, München 1996. Zuerst: Hans-Jürgen PUHLE, Agrarische Interessenpolitik und preußischer Konservatismus im Wilhelminischen Reich (1893-1914), Hannover 1966. Zuletzt: Stephanie MERKENICH, Grüne Front gegen Weimar. Reichs-Landbund und agrarischer Lobbyismus 1918-1933, Düsseldorf 1998. Die genaue Anzahl ist unbekannt. Auch HOYNINGEN-HUENE, Adel (wie Anm. 1 ), S. 17-20, die für die o.g. Untergrenze plädiert, liefert nicht mehr als begründete Schätzungen. Heinrich August WINKLER, Requiem für eine Republik. Zum Problem der Verantwortung für das Scheitern der ersten deutschen Demokratie, in: Peter Steinbach/Johannes Tuchel (Hg.), Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Bonn 1994, S. 54-67, zit. S. 57.

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riern" haften blieb, tendenziell erstarrte und nicht etwa „den" Adel, sondern mit den ostelbischen Großgrundbesitzern einen Typus unter die Lupe nahm, der zweifellos zu den einflußreichsten Teilgruppen des Adels gehörte. In beiden Fällen ist es das „verhängnisvolle" Fortbestehen überproportionaler Macht, gespeist aus Großgrundbesitz, personellen Netzwerken und Lobbyismus, die das Interesse an diesen Adelsgruppen zu begründen scheint. Die nicht zu bestreitende Tatsache, daß der politische Einfluß einzelner Adelsiraktionen nach 1918 immens blieb, scheint jedoch den Blick auf die ebensowenig bestreitbare Tatsache verstellt zu haben, daß der Zusammenbruch von 1918 für den Adel einen Sturz markiert, der tiefer als für jede andere Gruppe des Kaiserreichs war. Die Tiefe dieses Sturzes wird freilich erst dann deutlich, wenn der schmale Fokus auf die vergleichsweise kleinen weiterhin erfolgreichen Adelsgruppen (reiche Gutsbesitzer, höhere Reichswehroffiziere, hohe Beamte, Diplomaten, etc.) um jene Absteiger und Verlierer erweitert wird, die in keinem der traditionellen professionellen Felder des Adels mehr Platz fanden und nicht genug soziales und kulturelles Kapital besaßen, um in einer bürgerlichen Karriere zu reüssieren. Die immensen Gräben zwischen äußerlich vollkommen ungebrochenem adligen Reichtum und Einfluß, Abstieg und Misere verliefen zwischen verschiedenen Adelsgruppen, verstärkt jedoch auch quer durch einzelne Familien. Zum adligen Gutsbesitzer gehörten meist die jüngeren, nichterbenden Brüder, die unvorbereitet „in ein Leben [geworfen wurden], das wesentlich anders ausschaut[e], als die Erwartungen der Kinderstube verheißen hatten."9 Zur Gruppe der ca. 900 Adligen, die sich im Offizierkorps der Reichswehr etablieren konnten, gehören die ca. 10.000 adligen Kriegsoffiziere des alten Heeres,10 deren „vorgezeichneter Weg durchs Leben" 11 1918 vielfach ein abruptes Ende fand. Schließlich gehört zum männlichen Anteil jener Adelsfraktionen, die den Umbruch von 1918 zumindest materiell gut überstanden hatten, ein erheblicher Teil der adligen Frauen, die, auf ein selbständiges Leben in wirtschaftlicher Knappheit durch nichts vorbereitet, als Schwestern, Töchter, Tanten und Witwen bescheidene bis klägliche Existenzen in Damenstiften, immer häufiger jedoch in beengten Stadtwohnungen oder im „Tantenflügel" eines Gutshauses

Erwein FRHR. V. ARETIN, Rundbrief an den jungen Adel Bayerns (1923), in: Archiv der Fürsten Öttingen-Wallerstein (AFÖW), VIII, 19.1c, Nr. 117. Für genauere Angaben vgl. den Beitrag von Marcus FUNCK in diesem Band. Karl Anton PRINZ ROHAN, Heimat Europa. Erinnerungen und Erfahrungen, DüsseldorCKöln 1954, S. 56

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verbrachten. Selbst in den Familien des Hochadels, die in den Händen ihrer Familienchefs größtenteils noch erheblichen Reichtum konzentrierten, wuchs die Anzahl der nachgeborenen Söhne, deren sozialer Abstieg in einzelnen Fällen bis in „Karrieren" als Kfz-Lehrling und SA-Mann führen konnte, erheblich an. 12 Einteilungen entlang professioneller, adelsrechtlicher und regionaler Kategorien, die bereits für das späte Kaiserreich nicht mehr fein genug sind,13 bieten fur eine Sozialgeschichte des Adels nach 1918 nur noch sehr wenig Halt. Die durch Geburt erworbene Zugehörigkeit zum Landadel ist längst nicht mehr zwingend mit Landleben, geschweige denn mit Gutsbesitz identisch. Der Begriff Militäradel ist nicht länger gleichbedeutend mit Garnisonsstadt, Kaserne und Kasino, sondern müßte auch die Heerscharen entlassener Offiziere auf Arbeitssuche beachten. Uradel verweist ebensowenig auf eine vornehme Lebensweise wie Hochadel durchgängig auf einen Platz im gesellschaftlichen „Oben". Der Adel läßt sich entlang von fünf Trennungslinien in zahlreiche, heterogene Einzelgruppen aufgliedern: Erstens regional, zweitens konfessionell, drittens entlang der adelsrechtlichen Unterscheidungen, v.a. zwischen hohem und niederem Adel, viertens nach Anciennität (und Reputation) der einzelnen Familien und fünftens nach der sozialen (u.a. professionellen, pekuniären) Realitäten einzelner Familien bzw. Personen. Nach 1918 ist es eindeutig die letztgenannte Linie, deren Bedeutung ansteigt, während es in allen Adelsgruppen eine wachsende Bereitschaft gibt, die anderen vier zu übersehen und auf diese Weise ideologisch zusammenzurücken. Im Blick auf den 1918 schlagartig beschleunigten Wandel der sozialen Realitäten ließen sich - als erste, sehr grobe Annäherung - drei Gruppen unterscheiden, die z.T. quer zu traditionellen Einteilungen standen: Erstens eine stetig schrumpfende Gruppe von Adligen, die vor und nach 1918 in den traditionellen Feldern des Adels etabliert war. Wenn überhaupt, so dürfte es äußerst wenige Familien des alten Adels 12

13

Bundesarchiv Berlin (BAB), Ref. 2 R Pers., Christoph Prinz v. Hessen, (*14.5.1901). Der Prinz trat 1930 der NSDAP bei, nachdem er u.a. eine Schlosserausbildung begonnen und bei einer Versicherungsgesellschaft gearbeitet hatte. Er stieg nach 1933 zum Ministerialdirektor im Reichsluftfahrtministerium auf. Karrieren wie diese sind im Hochadel nach 1918 zwar nicht typisch, aber - wie sich u.a. anhand der NSDAP-Akten belegen läßt, auch keine skandalösen Einzelfälle mehr. So z.B. das Viererschema (Dynastien, Hochadel/Standesherren, Niederadel, Neunobilitierte) bei Hans-Ulrich WEHLER, Deutsche Gesellschaftsgeschichte 18491 9 1 4 , ( B d . 3 ) , M ü n c h e n 1 9 9 5 , S. 8 0 5 - 8 2 5 .

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gegeben haben, deren Mitglieder vollständig zu dieser Gruppe zu zählen wären. Zweitens eine klein bleibende Gruppe von Adligen, die erfolgreich aus den traditionellen in neue professionelle Felder wechselten, etwa als Generalstabsoffiziere a.D., denen ein Wechsel auf die mittlere Leitungsebene der Finanz- und Industriewelt gelang. Drittens die ständig wachsende Gruppe, die in den zeitgenössischen Debatten zutreffend als „Adelsproletariat" bezeichnet wird. Erst wenn das betrachtete Spektrum auf diese Weise erweitert ist, wird es gelingen, die Komplexität des Adels, wenn nicht in den Griff, so doch in den Blick zu bekommen. Die Frage, ob die materielle Grundlage der ideologischen und politischen Radikalisierung großer und einflußreicher Adelsgruppen tatsächlich im fatalen Erfolg oder eher in fataler Erfolglosigkeit gesucht werden muß, ließe sich aus dieser Perspektive neu stellen. Mit den schweren Erschütterungen, welche die adligen Lebenswelten 1918 trafen, stellten sich einige ältere Fragen in einer bis dahin unbekannten Schärfe neu: Die Frage nach Natur, Zusammensetzung, Funktion und Aufgaben des Adels. Die Frage nach Abschottung oder Öffnung, die Diskussion, mit welchen gesellschaftlichen Gruppen Koalitionen denk- und machbar waren. Die Frage schließlich, ob der traditionelle Adelsbegriff aufzugeben und durch eine neu zu schaffende „Führerschicht" zu ersetzen war, in der einzelne Teilgruppen des alten Adels eine neu auszuhandelnde Rolle spielen würden. Unter dramatisch verschlechterten Bedingungen liefen zwei ältere, bislang getrennte, Debatten nunmehr zusammen. Einmal die von bürgerlichen und adligen Theoretikern entworfenen Adelsreform-Konzepte, die den Adel im 19. Jahrhundert immer wieder beschäftigt hatten.14 Zum anderen die von bürgerlichen Denkern ausgearbeitete Moderne- und Demokratiekritik, die bereits im Kaiserreich erheblichen Druck entfaltet und sich nach 1918 in jener Publikationsflut Bahn gebrochen hatte, die seit Armin Möhler unter dem irreführenden Namen „Konservative Revolution" zusammengefaßt und in diesem Beitrag als Neue Rechte be-

14

A l s zeitgenössische Darstellung aus adliger Perspektive: Carl August GRAF V. DRECHSEL, Uber Entwürfe zur Reorganisation des deutschen Adels im 19. Jh., Ingolstadt 1912. V g l . Heinz REIF, Adelserneuerung und Adelsreform in Deutschland 1815-1874, in: Elisabeth Fehrenbach ( H g . ) , A d e l und Bürgertum in Deutschland 1770-1848, München 1994, S. 203-230. Zur praktischen Umsetzung vgl. Hartwin SPENKUCH, Das Preußische Herrenhaus. A d e l und Bürgertum in der Ersten Kammer des Landtages 1854-1918, Düsseldorf 1998.

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zeichnet wird. 15 Von Paul de Lagarde bis Edgar Julius Jung hatte die Forderung nach einem „Neuen Adel" in dieser Denktradition eine zentrale Rolle gespielt.16 Für den Adel waren diese Konzepte nach 1918 Bedrohung und Angebot zugleich. Soll die Rekonstruktion dieser Konzepte mehr als eine Fußnote zur Ideengeschichte der politischen Rechten im 20. Jahrhundert sein, müssen die Orte ihrer Produktion und Umsetzung besucht werden: Ein Blick auf die Adelsverbände ist ein Blick in ein gesellschaftliches und diskursives Zentrum des Adels, in dem über die Befestigung des alten und die Komposition eines „Neuen Adels" intensiver als an jedem anderen Ort debattiert wurde. In diesem Beitrag werden mit der Deutschen Adelsgenossenschaft und dem Deutschen Herrenklub zwei der wichtigsten Laboratorien vorgestellt, in denen Adlige nach 1918 versuchten, den Begriff Adel neu zu definieren, den traditionellen Anspruch auf politische Führung theoretisch zu erneuern und praktisch durchzusetzen. Trotz diverser Berührungspunkte handelt es sich um zwei unterschiedliche, in wichtigen Fragen konträre Konzepte, die den beiden grundsätzlichen Optionen entsprachen, die fur den Adel nach 1918 gang- bzw. denkbar waren: Homogenisierung, Abschließung und innere Festigung des „deutschen Adels" war der Weg, der von der Deutschen Adelsgenossenschaft propagiert und befördert wurde. Die Alternative bestand in der systematischen Öffnung zum Bürgertum, genauer: einer Koalition mit jenen vom Bürgertum dominierten Berufsgruppen, welche die strategischen Herrschaftsbereiche im modernen Industriestaat Deutschland kontrollierten - der Weg, den Adlige im Deutschen Herrenklub zu gehen versuchten. Der Beitrag geht von der Vorstellung aus, daß Adel auch nach 1918 eine analytisch sinnvolle Kategorie bleibt, mit der sich eine vergleichsweise leicht eingrenzbare Gruppe mit spezifischen Lebenswel15

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Armin MÖHLER, Die Konservative Revolution in Deutschland 1918-1932. Ein Handbuch, Darmstadt 4 1 9 9 4 (erstmals 1949). Jenseits marxistischer Dekonstruktionen die überzeugendste Kritik an Möhlers einflußreicher Deutung: Panajotis KONDYLIS, Konservativismus. Geschichtlicher Gehalt und Untergang, Stuttgart 1986, S. 469-493 sowie Stefan BREUER, Anatomie der Konservativen Revolution, Darmstadt 1993. Mit dem Begriff Neue Rechte lassen sich die deutliche Distanz zum Konservativismus und die fließenden Übergänge zum Nationalsozialismus beschreiben. Paul DE LAGARDE, Die Reorganisation des Adels, (erstmals 1853) in: ders., Deutsche Schriften, Göttingen 1881, s. v.a. S. 64-66. Edgar Julius JUNG, Adel oder Elit e ? , in: E u r o p ä i s c h e R e v u e 9 / 1 9 3 3 , S . 5 3 3 - 5 3 5 .

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ten, Traditionen, Wertesystemen und einem spezifischen Habitus beschreiben läßt. Anders als Begriffe wie „Professionalisierung" und „Verschmelzung" nahelegen, blieb die Zugehörigkeit zum alten Adel auch nach 1918 handlungsrelevant. Eine genauere Untersuchung der im folgenden nur skizzierten Orte adliger Vergesellschaftung und Selbstdefinition würde ein lohnendes Untersuchungsfeld für eine Sozialgeschichte des Adels darstellen. Sehr plastisch lassen sich hier zwei nur auf den ersten Blick widersprüchliche Tendenzen beschreiben, die für die Geschichte des deutschen Adels nach 1918 zentral waren. Die dramatische Vergrößerung der realen sozialen Gräben zwischen einzelnen Teilgruppen des Adels und eine überall greifbare Tendenz des ideologischen, z.T. auch des praktischen „Zusammenrückens". Deutlicher als bei der Analyse professioneller Felder treten hier die unterschiedlichen Adelsgruppen hervor. Auch für Prozesse der Annäherung und Distanzierung einzelner adliger und bürgerlicher Teilgruppen bieten diese Verbände ein bislang kaum betretenes Untersuchungsfeld. Nicht zuletzt werden hier genauere Aussagen darüber möglich, welche Teilgruppen des Adels sich wann und mit welchen Begründungen vom traditionellen Adels-Konservativismus ab- und der Neuen Rechten, schließlich der NS-Bewegung zuwandten. Die Deutsche Adelsgenossenschaft (DAG) Zeitlich parallel zu anderen, regional und konfessionell gebundenen Adelsverbänden17 entstand im Februar 1874 die DAG als Gründung einer kleinen Gruppe von Gutsbesitzern aus dem alten ostelbischen Adel. Der Verein, der jahrelang als „Fähnlein von etwa 60 angesehenen Edelleuten voll höchsten Plichtgefühls", als Gruppe von „Offizieren ohne Soldaten, Führern ohne Gefolgschaft" existierte,18 wuchs bereits vor dem ersten Weltkrieg zum einzigen überkonfessionellen und überregionalen Adelsverband mit ca. 2.500 Mitgliedern, einer

Von Bedeutung blieben v.a. der vom westfälischen Adel dominierte Verein katholischer Edelleute Deutschlands (VKE, 1869) und die Genossenschaft katholischer Edelleute in Bayern (GKEB, 1875). Dazu: Heinrich v. WEDEL, Über Entwürfe zur Reorganisation des deutschen Adels im 19. Jahrhundert, in: Deutsches Adelsblatt (DAB) 20-32/1912 (Fortsetzungsserie, S. 295-467). Die Deutsche Adelsgenossenschaft. Was sie erstrebt und ob man ihr beitreten soll, in: DAB 1884, S. 556.

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eigenen, dezidiert politischen Zeitschrift und einem landesweiten Organisationsnetz heran. Entgegen späteren Polemiken, welche die DAG als „Vereinigung neuesten Briefadels" verhöhnten, „der gar kein oder nur sehr wenig blaues Blut hat, aber mit desto hellerer Begeisterung Altpreußens Adel markiert",19 ist festzuhalten, daß sich der Kern der DAG von Anfang an aus Mitgliedern renommierter Familien des alten, niederen Adels v.a. Ostelbiens zusammensetzte, die zunächst ausschließlich in den traditionellen professionellen Feldern des Adels verankert waren.20 Wichtig für die Einschätzung der Organisation nach 1918 ist der Hinweis, daß Gründung und Leitung der DAG nicht in den Händen neunobilitierter homines novi oder altadliger Außenseiter, sondern beim sozialen Kern des alten, landbesitzenden preußischen Adels lag. Die Satzungen und frühen Publikationen der Vereinigung machen jedoch deutlich, daß sich in der DAG bereits in den ersten Jahren nicht die soziale und wirtschaftliche crème des alten Adels, sondern v.a. jene Standesgenossen zusammenfanden, welche die sozialen Umwälzungen der Moderne bereits aus der Perspektive der Verlierer wahrnahmen. Auch die frühe Zurücknahme des Grundbesitzes als Voraussetzung der DAG-Mitgliedschaft ist nur so zu verstehen. Der Grundbesitz sollte zwar weiterhin das „Knochengerüst" der Genossenschaft bilden; nicht jedoch um diese relativ gefestigte „Elite", die durch ihren Besitz genug „Rückgrat" hatte, wollte sich die DAG primär bemühen, sondern um die „Masse" des Adels: „Die besitzlose große Masse des Adels, sie gerade ist es, aus der sich das adlige Proletariat und alle Auswüchse des Standes rekrutiren; hier ist die Wurzel des Uebels, bei der dasselbe angefaßt werden muß." Gerade jene Familien, die „der Krone seit Jahrhunderten selbstlosen Schwertdienst [geleistet und] den Grundbesitz verloren haben", sollten den Schutz der DAG genießen. Explizit wurde das „große Heer der jüngeren Söhne und Brüder, der Agnaten und Cognaten" gegen alle Modelle ihrer Zurücksetzung protegiert.21 Alle inneradligen Projekte, die vor und nach 1918 auf den Ausschluß jener Standesgenossen zielten, die keine „ihrem Stand und Namen entsprechende Lebensführung aufrecht" erhalten konnten und zum

19 20

21

Kurt FRHR. v. REIBNITZ, Der Gotha, in: Querschnitt, 2/1928, S. 73. 1884 verzeichnete die Mitgliederliste 206 (männliche) Adlige, darunter 21 Grafen, 36 Barone und 149 Untitulierte. Abgesehen vom Schriftleiter der Kreuz-Zeitung (v. Hammerstein) handelte es sich ausschließlich um Gutsbesitzer, Offiziere und Beamte: DAB 1884, S. 157-161. Die DAG, Was sie erstrebt und ob man ihr beitreten soll. In: DAB 1884, S.604.

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„Spott- und Zerrbild ihres Standes" geworden waren, 22 fanden in der DAG die organisierte Gegenposition. Die Satzungen der DAG enthielten neben allgemeinen Erklärungen über die Förderung von Anstand, Sitte, Ehrbarkeit, christlichem Glauben und die „Hingabe für das gemeine Wohl" einige Formulierungen, die sich als weitere Anhaltspunkte für die soziale Lage und die ideologische Ausrichtung der DAG lesen lassen. Gefordert wurde der „ehrliche Kampf gegen den Materialismus und Egoismus unserer Zeit", die „Mäßigkeit in materiellen Genüssen", „Trost und Hülfe [...] für Standesgenossen in Fällen unverschuldeten Unglücks", die „Wahrung und Pflege des ererbten Grund und Bodens" und das „Widerstreben gegen eine Veräußerung desselben ohne zwingende Notwendigkeit". 23 Diese zur Gründerzeit entstandenen Formulierungen, die spätere Satzungen im Kern unverändert beibehielten,24 verweisen auf vier Linien, welche die Politik der D AG-Führung vor und nach 1918 charakterisieren und durch eine fünfte zusammengehalten wurden. Erstens eine aggressive Frontstellung gegen die ökonomische Moderne und ihren professionellen Kern: Handel, Finanz und Industrie. Zweitens die Festschreibung und Stilisierung der traditionellen Lebenswelten und Berufe des Adels, der Bindung „an die Scholle" und die Ablehnung „bürgerlicher4' Berufe. Drittens die praktische Unterstützung und ideologische Aufwertung des verarmenden Adels, Abwehr aller Modelle, die vorsahen, die Zugehörigkeit zum Adel an bestimmte materielle Mindeststandards zu binden.25 Pflege einer Kultur der Kargheit, die sich mit ihrem unerschöpflichen Vorrat an Metaphern jahrzehntelang bemühte, die materielle Not eines ständig wachsenden Kreises als ethische Tugend und politische Qualität darzustellen. Viertens die praktische Zusammenführung und ideologische Homogenisierung aller Adelsgruppen als „deutscher Adel". Als wichtigste Klammer dieser vier Linien diente ein fünftes Element, das bereits vor 1918 viele der 22

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So die Ausführungen des bayerischen Grafen Karl Anton v. Drechsel, Aberkennung und Niederlegung des Adels, Rede auf dem Adelstag in Berlin, 18.2.1911, Protokoll in: Bayerisches Hauptstaatsarchiv München (BHSAM), Abtl. V, Bestand: Genossenschaft katholischer Edelleute in Bayern (GK.EB), Bd. 3. Formulierungen im ersten Programm der DAG, zit. n. DAB 1884, S. 556. DAG-Satzung von 1892 in: Westfälisches Adelsarchiv Münster (WAAM), Nachlaß Kerckerinck-Borg, Nr. 508. Als frühe Auseinandersetzung der DAG mit dem (exklusiveren) Johanniter-Orden über diese vier Aspekte, hier in Form einer Auseinandersetzung über das englische Adels-Modell, vgl.: Wochenblatt des Johanniter-Ordens Balley Brandenburg, 29.4.1885 und die Erwiderung im DAB 1885, S. 267.

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DAG-Debatten beeinflußte oder dominierte: Ein äußerst aggressiver, zunächst kulturell-wirtschaftlich, dann biologisch-rassisch definierter Antisemitismus. Im Adelsblatt verschmolzen Urbanisierung, Industrialisierung, Handel, Banken, Börsen, Großstadt-Kultur, „Mammonismus" und „Dekadenz" zu einem bedrohlichen Konglomerat, das vom Judentum verkörpert, befördert und gesteuert wurde. Auf der Grundlage dieses Weltbildes richteten sich die „Warnungen", Angriffe und Drohungen jedoch nicht primär gegen Juden, sondern gegen jene Gruppen, die potentiell für eine adlig-bürgerliche Elitensynthese aus Tradition, Reichtum, Bildung, Fachwissen und kultureller Deutungsmacht in Frage kamen: Die Bourgeoisie, ein Teil der akademischen Intelligenz und numerisch kleine, jedoch einflußreiche und durch die Hofführung Wilhelms II. überaus sichtbare Teilgruppen aus dem Hochadel und einzelnen reichen, landbesitzenden und/oder akademisch gebildeten Familien des niederen Adels. Ohne Zweifel waren es v.a. die Ansätze einer solchen Koalition, die am Berliner Hof, dem Preußischen Herrenhaus, der kaiserlichen Nobilitierungspolitik,26 diversen Salons in der „Parvenu-Polis" Berlin27 und nicht zuletzt den spektakulären Finanzskandalen der Gründerzeit28 sichtbar wurden, die der Adels-Antisemitismus des späten Kaiserreich zu torpedieren versuchte. Indem ganze professionelle Felder, im Grunde die gesamte wirtschaftliche und kulturelle Moderne, als „jüdisch" und ihre Repräsentanten als maßlos-dekadente Opfer der „Verjüdelung" eingeordnet wurden, ließen sich die Angriffe auf das nicht-jüdische Bürgertum, den Hochadel, „unseren Standesgenossen, den Fürst-Reichskanzler" 29

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Zur moderaten aber erkennbaren Zunahme der Nobilitierungen von Mitgliedern der reichen Bourgeoisie unter Wilhelm II.: Lamar CECIL, The Creation of Nobles in Prussia 1871-1918, in: American Historical Review 3/1970, S. 757-795. Über Foren und Ausmaß adlig-bürgerlicher Annäherungen in Berlin vgl. Heinz REIF, Hauptstadtentwicklung und Elitenbildung: „Tout Berlin" 1871 bis 1918, in: Michael Grüttner/Rüdiger Hachtmann/Heinz-Gerhard Haupt (Hg.), Geschichte und Emanzipation, FS Reinhard Riirup, Frankfùrt/M.-New York 1999, S. 679699. V.a. die 200-Millionen-Mark-Havarie im Strousberg-Skandal, aus der Bismarck nach 1870/71 mehrere seiner reichen Standesgenossen durch seinen jüdischen Bankier Bleichröder retten ließ, schien geeignet, um die Weltdeutungen der DAGLeitung zu bestätigen. Vgl. dazu Fritz STERN, Gold und Eisen, Bismarck und sein Bankier Bleichröder, Frankfurt/M.-Berlin 1978, S. 439-455. DAB, 1884, S. 581.

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und selbst gegen den jungen Kaiser und seine Hoffiihrung offen vortragen: „Strenger als das Jüdischhandeln der Juden verurtheile man das Jüdischhandeln der christlichen Deutschen und zumal vor allem jener Standesglieder, welche sich nicht entblöden, ihrer edlen Vorfahren Erbe in Saus und Braus zu verprassen um dann neue Mittel für ihre Vergeudung in allerlei gründerhaften Spekulationen zu erstreben".30 Der Ruf nach einem „Stöcker der Aristokratie" und die Selbsternennung zur „politischen Leibwache des sozialen Königthums" 31 ist vor dem Hintergrund eines Kaisers zu sehen, der sich an Bord modernster Stahlschiffe, umgeben von jüdischen und nicht-jüdischen Financiers, bürgerlichen Industriellen und Fachgelehrten sowie „Rennkamelen", auf „Nordlandfahrt" oder archäologische Erkundungen begeben 32 und sich von der sprichwörtlichen „Scholle" immer weiter entfernt hatte: Den weitreichenden Aufbrüchen des „Herrn der Mitte" 33 in die Moderne wollte und konnte ein großer Teil des alten Adels nicht folgen. Was die DAG solchen adlig-bürgerlichen Annäherungen entgegenzusetzen hatte, war wenig: Eine Wappenmalschule, ein Damenunterstützungsfond, Stipendienprogramme, Ballabende, einen mit bescheidenen Mitteln landesweit operierenden Hilfsverein und ein Übermaß an Rhetorik zur Stilisierung der kargen Kartoffel- und Roggenäcker ihrer Mitglieder: „Der Hofkavalier möge nie vergessen, daß der erdige Geruch des von den Vätern ererbten Grund und Bodens stets das beste Edelmanns-Parfüm [...] bleiben wird." 34 Die Kennzeichnung von Juden „durch weithin leuchtende Zeichen", die Errichtung neuer Ghettos, „eventuell mit Kasernements für die Juden-Schutztruppe", wurden im Adelsblatt bereits vor 1900 gefordert. Der Adel sollte die vornehmen Ressentiments gegen das Milieu der Biertische aufgeben, sich an die Spitze der antisemitischen Bewegung stellen und in ihr „die Führerfahne ergreifen".35 Immer wieder wurden Adlige, die sich in Berufe

30

Oldwig V. UECHTRITZ, Semitismus und Adel (Artikelserie), in: DAB 1885, S.

31

DAB 1884, S. 580 Emst GRAF ZU REVENTLOW, Von Potsdam nach Doom, Berlin 5 1940, S. 379. Vgl. Carl FÜRSTENBERG, Lebensgeschichte eines deutschen Bankiers 1870-1914, hg. v. Hans Fürstenberg, Berlin 1931, S. 443f. und Hugo FRHR. VON FREYTAGLORINGHOVEN, Menschen und Dinge wie ich sie in meinem Leben sah, Berlin 1923, S. 172f. („Rennkamele"). Nicolaus SOMBART, Wilhelm II. Sündenbock und Herr der Mitte, Berlin 1996, S. 117-130. DAB 1884 S. 605. DAB 1892, S. 646f.

1 6 9 - 2 3 5 , zit. S. 2 3 3 . 32

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oder Kreise begeben hatten, die als jüdisch galten, zur Umkehr und zum Rückzug aus „Judas Hexen-Gebräu"36 aufgefordert: „Wir können [...] den für die Judenschutztruppe geworbenen adeligen Chefs nur dringend rathen, sich rechtzeitig aus dem Geschäft zu ziehen."37 Die frühe Radikalisierung des hier gepflegten Adels-Antisemitismus ist für unseren Zusammenhang unter zwei Aspekten bedeutsam: Als Blockade jeder modernefahigen Annäherung des Adels an das höhere Bürgertum und als ideologische Grundlage politischer Affinitäten nach 1918. Das Selbstbewußtsein, mit dem die DAG-Führung nach Kriegsende auftrat, hatte mehrere Wurzeln: Der auf unter 2000 männliche Adlige gesunkene Mitgliederbestand lag numerisch über allem, was die katholischen Verbände später erreichen sollten. Die DAG verfügte über ein landesweites Organisationsnetz von Holstein bis Bayern, über ausbaufähige Verbindungen zum Hochadel und über eine eigene Zeitschrift, die seit 35 Jahren ein ideologisches Feld abgesteckt hatte. Anderen Adelsorganisationen auf diese Weise voraus, trat die DAG 1919 mit der Parole „Los vom jüdischen Geist und seiner Kultur4' mit dem Programm an, „den deutschen Adel" zu einen: „Der ganze Adel muß es sein, der noch Tradition im Leibe und seinen Wappenschild rein erhalten hat. Ob hoher oder niederer, ob Ur- oder Briefadel, ob Großoder Kleingrundbesitzer, ob ohne Aar und Halm, ob arm oder reich, alle müssen ihr angehören."38 In der nun überall einsetzenden Konjunktur der Zusammenfuhrung und ideologischen Homogenisierung des Adels39 hatte die DAG vor allen anderen Adelsverbänden einen deutlichen Organisationsvorsprung. Die DAG seit 1918 Die organisatorischen Erfolge der DAG stiegen nach 1918 schlagartig an und erreichten 1925 mit ca. 17.000 (männlichen und weiblichen) 36 37 38 39

Hofprediger Stöcker und die konservative Partei, in: DAB 1885, zit. S. 304. Der Antisemitismus und die Geburtsaristokratie (Serie) DAB 1892, zit. S. 627. Werberuf der DAG-Leitung in: DAB, 30.12.1919, S. 413f. Vorsichtiger, aber tendenziell ähnlich: Alois Fürst zu Löwensteins (Vorsitzender der bayerischen GKEB) rief zu „möglichst weitgehender Einmütigkeit im [...] deutschen Adel" auf: Mitteilungen der GKEB, 10.4.1918; Erwein Frhr. v. Aretin, Rundbrief (wie Anm. 9). Und aus standesherrlicher Perspektive: Christian Emst Fürst zu Stolberg-Wernigerode, vorbereitendes Schreiben zur ersten Wemigeroder Adelstagung, September 1924, in: Landeshauptarchiv Magdeburg, Außenstelle Wernigerode (LHAM-AW), Rep. H Stolberg-Wernigerode, O, L, Nr. 9, Bd. 1.

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Mitgliedern einen Höchststand, der bis Ende 1930 auf ca. 14.000 Mitglieder absank.40 Spätere Sammlungserfolge wurden v.a. dadurch erreicht, daß die Kinder der Mitglieder seit 1936 „als in die DAG hineingeboren betrachtet" wurden41 und zum Zeitpunkt ihrer Volljährigkeit automatisch einen Mitgliedsausweis ausgestellt bekamen. Die Vielfalt der verschiedenen landschaftlich-regionalen Traditionen und Identitäten des deutschen Adels spiegelte sich in 21 Landesabteilungen wider, die sich wiederum in Bezirks- und Ortsgruppen aufgliederten. Im Jahre 1926 waren die vier mitgliederstärksten Landesabteilungen Brandenburg, Hannover-Oldenburg-Braunschweig, Schlesien und Bayern.42 Die Leitung der Landes- und Bezirksabteilungen lag meist in den Händen von Mitgliedern des alten Adels, die zu den renommierten Familien der jeweiligen Region gehörten. In einzelnen Fällen hatten auch Mitglieder aus standesherrlichen bzw. hochadligen Häusern Vorstandsämter übernommen. 43 Hochadliges Engagement gab es jedoch v.a. in den diversen Hilfsorganisationen der DAG. Trotz dieser eindrucksvollen Sammlungserfolge wäre es ein schwerer methodischer Fehler, den politischen Kurs der DAG-Leitung als repräsentativ für die politische Haltung „des Adels" zu werten. Innerhalb der DAG sind zwei Ebenen auseinanderzuhalten. Zum einen der erstaunlich große und heterogene Mitgliederkreis, der vom bayerischen Fürsten über den pommerschen Leutnant a.D. bis zum nobilitierten Universitätsprofessor reichte, und zum anderen kleinere, hochaktive Gruppen, u.a. in der Berliner Hauptgeschäftsstelle, welche die Kooperation der Landesabteilungen, die großen Adelstagungen sowie die 40

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Interne DAG-Berichte v. 12.12.1929, August 1930 und 5./6.12.1930: Deutsches Adelsarchiv Marburg, DAG, Landesabteilung Bayern (DAAM, LAB), Bd. 2, Hft. „Protokolle" und „Rd.schreiben" 26/34. Wege und Ziele der DAG (DAG-Rundschreiben, Mai 1938), in: Landeshauptarchiv Schwerin (LHAS), Großherzogliches Kabinett III (GHK III), Nr. 2647. V g l die Schreiben von Schleinitz (22.1.1941) in: DAAM, LAB, Bd. 1, Hft. „39/44" und Fürst Bentheim (29.4.1937), in: ebd., Bd. 9, Hft. „Guttenberg". Das Adelsblatt hatte 1937 eine Auflage von 25.000. Listen mit den jeweiligen Vorständen der Landesabteilungen (auf dem Adelskapitel) für 1930 und 1931: DAAM, LAB, Bd. 2, Hft. „Protokolle" und ebd., Bd. 1, Hft. „25/29". So z.B. Waldemar Prinz v. Preußen in Schleswig-Holstein, Prinz RatiborCorvey/Fürst Bentheim in Westfalen, Max Egon Fürst zu Fürstenberg in Baden und nacheinander drei Standesherren in Bayern (Sitzung des DAGAdelsausschusses in München, April 1925, in: DAAM, LAB, Bd. 2, Hft. „Protokolle" 24/34 und Archiv der Fürsten zu Fürstenberg, Donaueschingen, (AFFD), XXVIII/i, Vereine, DAG).

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Redaktion des Deutschen Adelsblattes koordinierte und somit das Erscheinungsbild der DAG in der Öffentlichkeit prägte. Parallel zum explosionsartigen Wachstum der Mitgliedschaft erreichte der von der DAG seit über 40 Jahren intensiv gepflegte Antisemitismus im Jahre 1920 eine neue Qualität. Im Anschluß an verschiedene Initiativen, den alten Adel durch eine neue Matrikel gegen die Gründung „unechter Stämme" zu schützen, die „Heiratsschwindler, Hochstapler und Dirnen" nach Auflösung der Adelsschutzbehörden ungehindert betreiben konnten,44 trumpfte eine Initiative von über 120 pommerschen Adligen mit dem Projekt einer „Reinigung des Adels vom jüdischen Blute" auf. Da „der Adel, darunter viele hochangesehene, historisch berühmte Geschlechter, bereits stark veijudet" sei, müsse die einzurichtende Adelsmatrikel „auf strenge Rassenreinheit" achten und nur Mitglieder aufnehmen, die nicht mehr als „1/8 jüdisches Blut" in sich trügen.45 Da selbst die geringe „Blutsmischung mit den niederen Instinkten fremder minderwertiger Rassen" als schädlich für die Stellung des Adels als „geborener Führer der Masse seines Volkes" angesehen wurde, legte man betroffenen Standesgenossen nahe „Cölibatäre [zu] werden und den belasteten Stamm zum Absterben zu bringen." Nach intensiver Debatte, deren Protokoll an hunderte von Adligen verschickt wurde,46 setzte eine von „über 300 Edelleuten aus allen Teilen Deutschlands" besuchte Gründungsversammlung in Berlin am 1. Dezember 1920 die völkische Variante der Adelsmatrikel mit einer Mehrheit von 130 gegen 68 Stimmen durch. Mit dem Werk, für das „die schöne Bezeichnung ,Eisernes Buch deutschen Adels deutscher Art', in zeitgemäßer Abkürzung ,Edda' gefunden" wurde,47 hatte die

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Aufruf (November 1919) zur Gründung einer Adelsmatrikel, gezeichnet von ca. 30 Mitgliedern renommierter Familien, in: Brandenburgisches Landeshauptarchiv Potsdam (BLHA), Rep. 37 Friedersdorf, Bd. 478, Fol. 3f. Aufruf (Januar 1920) von 127 pommerschen Adligen, darunter Fürst Putbus, 15 Grafen, 10 Freiherren, v.a. Gutsbesitzer und Offiziere a.D., in: LHAM-AW, Rep. H Karow, Nr. 220, Fol. 201. Protokolle der Pro-Contra Positionen (Frhr. v. Houwald gegen einen Grafen Spee) in: BLHA, Rep. 37 Friedersdorf, Nr. 240, Fol. 16f. (Zitat aus Houwalds Erklärung, Oktober 1920). Paragraph 8 der Edda-Satzung, setzte „einen Semiten oder Farbigen" in der 32erAhnenprobe als Höchstwert fest. Vgl. DAB, 15.4.1921, S.98. Zur Debatte und zur Gründungsversammlung, auf der neben DAG-Mitgliedern u.a. auch Vertreter des Johanniter- und Malteserordens vertreten waren, s. folgende Nummern des DAB: 39/1921, S. 82; 15.8.1920, S. 259f.; 39/1921, S. 82, 97-99, 115-117. Resümierend

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größte deutsche Adelsorganisation den berüchtigten „ Semi-Gotha" von 191248 gewissermaßen vom Kopf auf die Füße und unter adlige Kontrolle gestellt. Bis zum Erscheinen des dritten Edda-Bandes im Jahre 1936 lagen 725 gedruckte Ahnentafeln bei über 6.000 Anmeldungen vor 49 - multipliziert man jede Anmeldung mit der Summe der („erbgleichen") Geschwister und Kinder, ergibt sich eine beachtliche Beteiligung an dem kostspieligen Projekt, die allerdings weit hinter dem zurückblieb, was die Initiatoren gehofft und gefordert hatten. Parallel zur Einführung des Edda nahm der 34. Adelstag der DAG, der im Sommer 1920 in Berlin stattfand, eine von völkisch orientierten Adligen eingebrachte Statutenänderung nach konträrer Debatte an. Sie lautete: „Wer unter seinen Vorfahren im Mannesstamm einen nach dem Jahre 1800 geborenen Nichtarier hat oder zu mehr als ein Viertel anderer als arischer Rasse entstammt, oder mit jemand verheiratet ist, bei dem dies zutrifft, kann nicht Mitglied der DAG werden."50 Die Satzung, in der die Ziele der DAG formuliert wurden, schloß als dritten Punkt nunmehr den „Kampf gegen Standesdünkel, Materialismus, Eigennutz und fremdrassigen Einfluß auf das deutsche Volkstum" ein.51 Mit diesen beiden Schritten hatte die völkische Aushöhlung bzw. Selbstzerstörung des traditionellen Adelsbegriffes begonnen, deren Konsequenzen deutlich wurden, als adelsfeindliche Fraktionen in der NS-Bewegung ca. zehn Jahre später mit dem Projekt eines „Neuadels aus Blut und Boden" Aufsehen erregten und die Führerqualifikation des „nordrassischen Bauernjungen" über die des historischen Adels

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in der Broschüre „Überblick über die Entwicklung der Adelsschutzeinrichtung, Potsdam 1921" in: WAAM, Nl. Lüninck, Nr. 815. Weimarer historisch-genealoges [sie] Taschenbuch des gesamten Adels jüdischen Ursprungs („Semi-Gotha"), Weimar 1912. Der Semi-Gotha, von einem völkischen Offizier a.D. anonym herausgegeben, wurde im Adelsblatt intensiv debattiert. Kritisiert wurden die Bände wegen der zahlreichen handwerklichgenealogischen Fehler. Vgl. u.a. DAB 1912, S. 371-373, S. 394flf., S. 407-410, S. 423, S. 439-441, S. 483, S. 530, S. 658. Edda, Bd. 3, Gotha 1936, S. III-IV (in. DAAM). 1938 schätzte Bogen ca. 3% des Adels als „veijudet" ein: Bericht Bogens auf einer DAG-Vorstandsitzung in Nürnberg am 6.3.1938, DAAM, Bd. 3, Hft.: „Jugendfrage 1937/39". Darstellung der Debatte auf dem Adelstag in DAB, 31.7.1920, S.241-243. Die hier zitierte Regelung wurde von dem Regierungsassessor v. Ehrenkrook und dem westfälischen Frhr. v. Landsberg eingebracht. Vgl. §3, Abs.8 der DAG-Satzung in: Jahrbuch der DAG 1927, S.17. §1, Abs.3. der DAG-Satzung von Dezember 1920 (WAAM, Nl. Lüninck, Nr. 815).

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einordneten.52 Die alte Vorstellung, nach der Adel mit „blauem", d.h. „hochwertigem" Blut zu tun hatte, mutierte unter massiver Mithilfe der DAG-Führung zur Vorstellung, daß „reines Blut" die Grundvoraussetzung von Adel bzw. Fiihrertum war. Nahm man diese Logik ernst, mußte der Anteil des Adels an einer künftigen „Führerschicht" auf jene 0,1-0,2% schrumpfen, die seinem Anteil in der Bevölkerung entsprachen - „reines Blut" hatten auch andere. Im Adelsblatt, bei Diskussionsveranstaltungen, Schulungsseminaren, auf unzähligen Adelstagungen und ähnlichen Foren der DAG spielten Debatten um ein zeitgemäßes „Führertum" und die Schaffung eines „neuen Adels" eine kaum zu überschätzende Rolle.53 Einen Höhepunkt der inneradligen Diskussion löste Anfang 1930 ein mit „Adelsdämmerung - Adelserneuerung" überschriebener Aufsatz im Adelsblatt aus, dessen Autor offen die Frage stellte, „ob das, was wir Adel nennen, wirklich noch Adel ist." Der hier geforderte „neue Adel" sollte sich aus Teilen alter Familien und der Zuführung „neuen Blutes" aus angesehenen, leistungsfähigen Bürgerfamilien zusammensetzen. Was der Autor hier formulierte, zielte nicht zuletzt auf die Klientel der DAG: „Wer dem neuen Adel angehören soll, muß ein Führer sein, und sei es auch nur im kleinen Kreise, auf seinem Gute, in seinem Unternehmen. Das schließt allerdings alle diejenigen vom Adel aus, die in dienenden Stellungen ihr Leben zubringen müssen." 54 Ähnlich wie bei diversen Elitentheoretikern der Kaiserzeit, die sich den „neuen Adel" als eine Koalition von Teilen des alten mit der „Aristokratie des Geistes" dachten,55 und analog zu den Elitevorstellungen der bildungsbürgerlichen Neuen Rechten,56 deren Adelskritik auch von 52

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R.W. DARRE, Neuadel aus Blut und Boden, München 1930, S.163. Vgl. Hans F. K. GÜNTHER, Adel und Rasse, München 1926. Diese „Führerdebatten" lassen sich nur im Adelsblatt, sondern auf allen Tagungen des „Jungadels" nachzeichnen, was cum grano salis auch für die Veranstaltungen einiger katholischer Verbände gilt. Protokolle entsprechender Veranstaltungen in Heidelberg (1931) und an der überkonfessionellen Jungadelsschule „Ellena" in Thüringen (1926-1932), in: WAAM, Nachlaß Lüninck, Nr. 815 und DAAM, LAB, Bd. 3, Hft. „Ellena". Walter V. ZEDDELMANN, Adelsdämmerung - Adelserneuerung, in: DAB 1930, S. 34-36.

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Ferdinand TÖNNIES, Deutscher Adel im neunzehnten Jahrhundert, in: Die Neue Rundschau, August 1912, S.1062f. Edgar Julius JUNG, Die Herrschaft der Minderwertigen. Ihr Zerfall und ihre Ablösung durch ein Neues Reich, Berlin 3 1930, v.a. S. 101-105; 168-173; 324-332. Vgl. zu Oswald Spenglers Rede auf dem DAG-Adelstag ("Aufgaben des Adels"):

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einzelnen adligen Autoren Zuspruch erhielt,57 wurden auch hier neben dem „englischen Modell" unterschiedliche Grundvoraussetzungen für die Zugehörigkeit zu einem „neuen Adel" debattiert: v.a. Grundbesitz, Bildung, finanzielle und persönliche Unabhängigkeit, politische Erfahrung. In beachtlicher Offenheit wurden konträre Positionen im Adelsblatt präsentiert, in letzter Konsequenz jedoch alles verworfen, was den finanziell und sozial ruinierten Teil des Adels ausgeschlossen und praktische Ansätze zu einer Elitensynthese mit dem reichen und gebildeten Bürgertum geboten hätte.58 Worauf das überall beschworene „Führertum" des Adels (wieder-) errichtet werden sollte, wurde zumindest in den wirren Erklärungen der DAG-Leitung immer undeutlicher. In seiner abschließenden Bemerkung kam der Schriftleiter des Adelsblattes zum plumpen Rassismus und die Diskussion damit zu jenem intellektuellen Tiefpunkt zurück, den der im Adel überaus populäre Schriftsteller Börnes Frhr. v. Münchhausen 1924 mit einem Beitrag im Adelsblatt erreicht hatte. Anhand von drastischen Vergleichen zur Zucht von Vollblutpferden, Möpsen und Dackeln hatte der Baron „Sinn und Wert" des Adels hier als „Menschenzüchtung" definiert59 und damit eine Auffassung vertreten, die im Adel weit über die DAG hinaus Konjunktur hatte.60 In dieser Logik, welche die „rassischen Bedingungen" vor alles andere stellte, hieß es dann auch abschließend: „Schaffung eines neuen Adels? Nein!" 61

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DAB 42/1924, S. 209. Außerdem: Ludwig PESL, Adel und neue Zeit, in: Gelbe Hefte 6/1930, S. 601-625 und ders., Zur politischen Einstellung des Jungadels, in: ebd., S. 665-680. Emst MAYER, Vom Adel und der Oberschicht, Langensalza, 1922, v.a. S. 13f. und S. 23f. Präziser Überblick bei Walter STRUVE, Elites Against Democracy. Leadership Ideals in Bourgeois Political Thought in Germany 1890-1933. Princeton 1973. Otto FRHR. V. TAUBE, Vom deutschen Adel, in: Erwein Frhr. v. Aretin, Rundbrief, (wie Anm. 9), S. 8-12. Vgl. die scharfe Kritik des Herausgebers der philofaschistischen Zeitschrift „Italien" an seinen bildungsunwilligen Standesgenossen: WERNER V. D. SCHULENBURG, Deutscher Adel und deutsche Kultur, in: Süddeutsche Monatshefte, Februar 1926, S. 365-369. Im Ton moderater, inhaltlich ähnlich bei: (Dr.) v. STEGMANN, Wir müssen aus dem Turm heraus, in: Jahrbuch (Kalender) der DAG 1927, S. 6-12. Vgl. v.a. die Beiträge von M. v. Binzer, Carl Gustav v. Platen und Heribert Frhr. v. Lüttwitz, in: DAB, 1930, S. 66f„ S. 82f. und S. 166f.

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B ö r n e s FRHR. V. MÜNCHHAUSEN, A d e l u n d R a s s e , in: D A B 4 2 / 1 9 2 4 , S. 6 3 - 6 5 .

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Vgl. den Briefwechsel zwischen Friedrich Wilhelm Prinz zur Lippe und Gottfried v. Bismarck-Kniephof (März-Juni 1926) am Rande des hochadlig dominierten "Wernigeroder Kreises". Walter v. BOGEN (Schlußbemerkung) in: DAB 1930, S. 168f.

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Die Suche nach den Wurzeln der ideologisch aufgeladenen Ablehnung aller Neuadelskonzepte müßte mit der Frage nach dem sozialen Boden beginnen, auf dem diese Ablehnung propagiert wurde. Die Biographien der beiden Hauptakteure in der Berliner DAG-Leitung, dem Adelsblatt und dem Edda-Projekt stehen idealtypisch für den Weg der aktiven Minderheit, die den bis hier skizzierten Kurs der DAG bestimmte: Walter v. Bogen 62 und Albrecht Frhr. v. Houwald, 63 beide aus briefadligen Familien, gehörten als Oberstleutnant a.D. bzw. ehemaliger Beamter des aufgelösten Heroldsamtes zur großen Gruppe der adligen Verlierer von 1918, die innerhalb der Republik kein „standesgemäßes" Leben mehr führen konnten, gewissermaßen als „Arbeitslose" zur DAG kamen und noch vor 1933 den Weg in die NSDAP fanden. Noch dramatischer als solche Notlandungen verliefen unzählige soziale Flugbahnen, die mit Abstürzen ins Adelsproletariat endeten. Alle Anzeichen sprechen dafür, daß sich ein großer Teil dieser Gruppe, zu der vermutlich Tausende von Adligen zu zählen sind, der DAG angeschlossen hatte, wo auch jene Mitglieder akzeptiert und mit billigem Mittagstisch versorgt wurden, 64 die den DAG-Jahresbeitrag von 6 Mark nicht mehr entrichten konnten.65 Die Akten der DAG-Hilfsorganisationen vermitteln einen Eindruck von Ausmaß und Folgen adliger Armut. Die Unterstützung verarmter Standesgenossen gehörte zu den wichtigsten Aufgaben der DAG und aller anderen Adelsverbände. Vergeblich hatten die Leitungen der süddeutschen Landesabteilungen mehrfach versucht, die DAG in einen „unpolitischen" Verband umzugestalten, der sich allein der inneradligen Armenpflege widmen sollte. 66 Der immense Organisationsaufwand der landesweit operierenden 62

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BAB, NSDAP-Akte Walter v. Bogen u. Schönstedt, *24.4.1880 (Parteibeitritt nach langer und intensiver Werbung für die NS-Bewegung am 1.5.1933). Dr. iur., Oberjustizrat a.D., vgl. seine Selbstdarstellung in einem Schreiben vom 7.7.1938 in: BAB, NSDAP-Akte Albrecht Frhr. v. Houwald, »10.6.1866 (Parteibeitritt 1931). Kurt FRHR. V. REIBNITZ, Gestalten rings um Hindenburg. Führende Köpfe der Republik und die Berliner Gesellschaft von heute, Dresden 2 1929, S. 135. Beitrags-Debatten der bayerischen Landesabteilung (1925/26) und Bericht des Vorstandes an alle Landesabteilungen vom 7.3.1931 in: Archiv der Freiherren v. Lerchenfeld, Heinersreuth (AFLH). Vgl. bereits die DAG-Satzung von 1891 in: LHAM-AW, Rep. H, St. Ulrich, Nr. 458, Fol. 1-5. Entsprechende Initiativen aus Frankfurt/Oder, Bayern und Württemberg und ihre Zurückweisung durch Walter v. Bogen (1927) in: BLHA, Rep. 37 Friedersdorf, Nr. 478, Fol. 132-138 und in: AFLH (Berichte und Schriftwechsel vom 30.6.1929 und 23.11.1929).

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Hilfsinstitutionen steht in einem krassen Mißverhältnis zu den bescheidenen bis kläglichen Summen, die es zu verteilen galt. Wenige Zahlen sollen hier genügen, um die Dimensionen zu verdeutlichen: 1933 konnte die DAG bei einem Schuldenstand von 45.000 Mark für die gesamte D AG-Zentralhilfe eine Summe von 17.500 Mark bereitstellen.67 Was die Unterstützung von 450 „in Not geratenen" Standesgenossen bedeutete, für welche die bayerische Landesabteilung 1926 „Geldmittel in Höhe von 850 Mark" aufwenden konnte,68 wird durch eine einfache Division vorstellbar. 1930 konnte die vergleichsweise wohlhabende Landesabteilung Bayern „341 in Not geratene Standesgenossen, vor allem alte Damen", aufgrund der „traurigen Kassenlagen" überhaupt nicht finanziell, sondern nur durch Kleider- und Wäschespenden unterstützen. Für Bayern lagen die jährlichen Zahlungen nach 1928 deutlich unter 10.000 Mark. 69 Die Kassenlage der katholischen Verbänden Süddeutschlands war im übrigen nicht wesentlich besser. Ein Geschäftsbericht des Vereins katholischer Edelleute Südwestdeutschlands listete 1929/30 akribisch die Verteilung von Kartoffeln, Obst, Damwild, „10 Paar Schuhen" auf und schließt mit dem Satz: „Wir können mit einem Rest von 36,- RM das neue Geschäftsjahr beginnen."70 Auch der Spendenfluß der weit exklusiveren Genossenschaft katholischer Edelleute in Bayern hatte sich bereits vor 1914 zu einem Rinnsal ausgedünnt.71 Es bedarf nur bescheidener ideologiekritischer Fertigkeiten, um die feste Verbindung dieser Realität mit dem in großen Teilen des alten Adels verbreiteten „anti-materialistischen" Habitus zu erkennen. Die hier wie von einer gebrochenen Schallplatte fortlaufend wiederholten Invektiven gegen Luxus und Opulenz, verbunden mit einer Überhöhung von Härte, Kargheit, Dienst und Entsagung, fügten sich nicht nur nahtlos in neu-rechte Stilisierungen des „preußischen Stils",72 sondern 67

DAG-Vermögensnachweis, 31.12.1932, in: DAAM, LAB, Bd. 2, Hft. „Rundschreiben" 26/34.

68 69

Geschäftsbericht der DAG Landesabteilung Bayern (1926) in: AFLH. Jahresberichte der Landesabteilung Bayern für 1925, 1930 und 1931, in: DAAM, L A B , Bd. 2 Hft. „ 1 9 2 8 - 1 9 4 2 " und ebd. Hft. „21/29". Geschäftsberichte mit weite-

70

ren Belegen in: AFLH. Bericht der GKEB-Wirtschaftsstelle für 1929/30 in: Mitteilungen der GKEB, 3 1 . 5 . 1 9 3 1 , S. 2 .

71

Carl August GRAF V. DRECHSEL, Chronik der G K E B 1876-1908, Ingolstadt 1908,

72

Arthur MOELLER VAN DEN BRUCK, Der preussische Stil, Neuausgabe, Breslau 1931 (zuerst 1916). Vgl. Oswald SPENGLERS einflußreiche Vision eines neuen

in: B H S A M , G K E B , Nr. 1.

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waren auch einem Großteil des alten Land- und Militäradels problemlos zu vermitteln: Ein Blick auf Lebenswelten, Habitus, Denk- und Sprachgewohnheiten des Landadels73 zeigt, daß die antimaterialistischen Tiraden der in Berlin gestrandeten Standesgenossen hier nicht auf taube Ohren stießen. Die „Einfachheit [der] Lebensführung" zu bewahren,74 um dem „weichlichen, parfümierten, üppigen Luxus" der „Juden" zu widerstehen, war eine in allen Teilgruppen des alten niederen Adels verbreitete gedankliche Figur, auf die man jenseits der ostelbischen Elogen „eiserner Zucht und Ordnung"75 auch im katholischen Adel überall stößt.76 Die bescheidenen sozialen Verhältnisse des von der DAG protegierten Kleinadels schufen hohe, ihre zunehmend aggressive ideologische Verklärung noch höhere Barrieren zwischen dem hier organisierten Adel und den vom Wirtschafts- und Bildungsbürgertum dominierten Bereichen. Bestätigt wird diese Beobachtung auch in den ausgiebigen Debatten um die zur Erneuerung einer vom Adel mitgestalteten „Führerschicht" angemessenen Berufe. Hielten die tradierten Vorstellungen von den „nicht standesgemäßen" Berufen des Bürgertums der gewandelten Realität stand? Zunächst überwogen nach 1918 die Stimmen, welche bei der Suche nach Perspektiven für die Adelssöhne Handel und Finanz aggressiv oder höhnisch ausschlössen. Es sei kaum anzunehmen, hieß es in einem charakteristischen Beitrag, „daß der Edelmann an sich die geeignete Persönlichkeit ist, [um] Hirsch und Itzig auf kommerziellem

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„Führertums" als Vereinigung industrieller Dynamik und adliger Tradition: Preußentum und Sozialismus, München 1920. Marcus FuNCK/Stephan MALINOWSKI, Geschichte von oben. Autobiographien als Quelle einer Sozial- und Kulturgeschichte des deutschen Adels in Kaiserreich und Weimarer Republik, in: Historische Anthropologie 2/1999, S. 236-270, v.a. S. 247-253. An den reichen, kulturell prägenden Gruppen des (europäischen) Landadels orientiert: Dominic LLEVEN, Abschied von Macht und Würden. Der europäische Adel 1815-1914, Frankfurt/M. 1995, v.a. S. 203-213. Aufruf an den deutschen Adel!, in: DAB 1921, S. 353 (von ca. 30 prominenten Adligen unterzeichnet). Ewald V. KLEIST, Adel und Preußentum sowie R. v. THADDEN, Der Adel in Norddeutschland, beide in: Süddeutsche Monatshefte 5/1926 (Zitat: Kleist, S. 380f.). „Parfümierter Luxus": Franz GRAF v. GALEN, Ritterlichkeit in alter und neuer Zeit, Vortrag auf Tagung des VKE in Münster, 1.9.1921, in: WAAM, Nachlaß Galen, Nr. 51. Trotz mäßigender Worte im Kern ähnlich bei Erwein FRHR. V. ARETIN, R u n d b r i e f ( w i e A n m . 9 ) .

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Gebiete aus dem Felde zu schlagen." 77 Je breiter der Graben zwischen der Stilisierung der alten „Lebensweise" und den sozialen Realitäten großer Teile der DAG-Mitglieder wurde, desto mehr wurde diese Linie innerhalb der DAG aufgegeben. Das deutlichste Anzeichen dieses Wandels ist die im Jahre 1928 eingerichtete „Wirtschaftsabteilung", die in aufwendiger Kleinarbeit Listen von „gewerbetreibenden Standesgenossen" erstellte und sich mit Aufrufen hervortat, bei Juden nicht zu kaufen und keine „fremdstämmigen" Mitarbeiter zu beschäftigen. Von Arnim bis Zitzewitz annoncierten unter dem Werberuf „Standesgenossen, das Geld muß in der Familie bleiben!" 78 Angehörige der ältesten und bekanntesten Familien, die sich als Händler von Fetten, Weinen, Eiern, Vitaminextrakten, Damenbekleidung, Versicherungen, Düngemitteln und Seifen empfahlen. 79 Gleichzeitig wurde die Erwerbstätigkeit adliger Frauen offen debattiert und durch pragmatische Ratschläge unterstützt. Nachdem die Realität „mit vielen Jungmädchen-Träumen von Eheglück recht unbarmherzig aufgeräumt]" hatte, 80 wurden adlige Töchter mit Ratschlägen für diverse Berufswege, u.a. zur Haushaltspflegerin, Ärztin, Bienenzüchterin und „Leiterin im Großwäschereibetriebe" versorgt. 81 „Erwerbstätige Damen" mit klingenden Namen boten in separaten Listen neben Klavier- und Sprachunterricht auch Dienstleistungen in den Bereichen „Gymnastik, Massage", „Handarbeiten" und „Wäschenähen, Ausbessern" an. 82 Abgesegnet wurde diese Richtungsänderung durch den D A G „Adelsmarschall" Friedrich v. Berg, der Karrieren in Handel und Industrie nunmehr explizit zu den für junge Adelige geeigneten Wegen zur

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Dr. V. TROTTA-TREYDEN, Die Teilnahme des Adels an den akademischen Berufen, in: D A B 1921, S. 19f. Vorschläge eines Herrn v. Reichmeister (Major a.D.) zur Organisation des kaufmännisch berufstätigen Adels (Dezember 1928) in: D A A M , LAB, Bd. 2, Hfl. „Protokolle"; und: „Standesgenossen heraus!", undatierter Aufruf der Wirtschaftsstelle in: ebd., Bd. 11, Hft. „Korrespondenz". Verzeichnis von „kaufmännisch tätigen Mitgliedern" in: D A A M , LAB, Bd. 14, Hft. „29/32", vgl. D A B 1929, S. 1-8 u. S. 321. Bericht der DAG-Zentral-Hilfe fur 1930, in: DAAM, LAB, Bd. 14, Hft. „Zentralhilfe".

81

Die Ausbildung unserer Töchter (Broschüre der DAG-Zentralhilfe), in: D A A M , LAB, Bd. 14, Hft. „Zentralhilfe". Schirmherrin der Zentralhilfe war die preußische Kronprinzessin.

82

Liste: "Erwerbstätige Damen", in: Bericht der DAG-Zentral-Hilfe über das Jahr 1930, in: DAAM, LAB, Bd. 14, Hft. „Zentralhilfe 30/43".

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„Führerschaft" rechnete. 83 Die uralte, im deutschen Adel besonders fest verankerte und von der DAG jahrzehntelang zementierte Vorstellung, daß „es eben Berufe gibt, die adligen Wesens Kern zerstören", 84 ließ sich allerdings nicht auf Zuruf abschaffen. Die „kastenmäßige Abneigung des deutschen Adels gegen das Eintreten in ehrenhafte bürgerliche Erwerbsstände" wurde zwar von einzelnen Adligen hellsichtig kritisiert, 85 in großen Teilen des deutschen Adels jedoch bis 1945 nicht überwunden. Die DAG entwickelte sich jedoch immer deutlicher zu einem Forum, auf dem Adlige, deren soziale Realitäten mit den traditionellen Vorstellungen von Adel partout nicht mehr zu vereinen waren, lautstark am Anspruch festhielten, auch künftig zum Kreis der „Führer" zu gehören: „Wir müssen hinein in alle Berufe, klein anfangen, und uns zu Führern emporarbeiten." 86 Nach den Wertmaßstäben des Adels ins Kleinbürgertum „hinabgesunken", vertrat gerade diese Gruppe lautstark den Anspruch, weiter als Waffenbrüder ihrer Vettern in Landwirtschaft, Staatsdienst und Armee zu gelten. Die Registrierkassen altadliger Sekthändler wurden zur modernen Variante des Ritterschwertes verklärt: „Einst haben wir verbunden auf Leben und Tod mit dem Ritterschwert in der Ritterfaust Schulter an Schulter gekämpft, auch heute müssen wir kämpfen Schulter an Schulter, wenn auch mit anderen Waffen." 87 „Führungs'-Ebenen in Handel und Industrie erreichten nur äußerst wenige Adlige. Dazu fehlte es an Tradition, Neigung und Ausbildung. Der Weg des ruinierten Kleinadels führte nicht in die Berufe des reichen Bürgertums, sondern in bescheidene Mittelstandsexistenzen. Nicht das lautlose Verschwinden in bürgerlichen Lebenswelten, sondern das lautstarke Bestehen auf einem durch nichts mehr legitimierten Führungsanspruch kennzeichnet die hier skizzierte „adlige Schattengesellschaft". 88 Auch bzw. insbesondere diese Gruppe des Adels erwies sich als nicht demokratisierbar.

83

Berg an alle Landesabteilungen, 28.6.1931, in: D A A M , LAB, Bd. 14, Hft. „Korrespondenz 29/32".

84

Warum ist der Zusammenschluß des reinblütigen deutschen Adels notwendig? (DAG-Rundschreiben vom 20.5.1938), in: LHAS, GHK III, Nr. 2647.

85

Stephan KEKULE V. STRADONITZ, Armut und Reichtum im deutschen Adel, in: Deutsche Revue 1/1911, S. 35-42, zit. S. 42.

86

Frhr. v. Seydlitz, Leiter der DAG-Wirtschaftsabteilung, Rundschreiben v. 28.3.1931, in: DAAM, LAB, Bd. 14, Hft. „Wirtschaftsabteilung". "Standesgenossen heraus!", undatierter Aufruf der Wirtschaftsstelle in: D A A M , LAB, Bd. 11, Hft. „Korrespondenz".

88

Der Begriff wird von Michael G. MÜLLER fìir die deklassierten Teile des polnischen Adels verwendet, die interessante Parallelen zum deutschen Beispiel zei-

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Zählt man die Zerstörung des Adelsbegriffes durch den Rasse-Begriff, die deutlich antibürgerliche Stoßrichtung des Adels-Antisemitismus, das von der DAG vertretene Adelsproletariat und die groteske Stilisierung adliger Krämerexistenzen zu Führergestalten im Wartestand zusammen, wird schnell deutlich, auf welche politischen Koalitionen die DAG-Leitung spätestens seit 1930 zusteuern mußte. Programmatisch verkündete das Adelsblatt 1930, J e d e r Gedanke einer Adelserneuerung" müsse „seine Spitze notwendig gegen die bürgerliche Lebensform" richten. „Den Kampf gegen die Herrschaft der Advokaten und Bankiers" anzuführen, sei „die erhabenste Zielsetzung, die dem deutschen Adel gestellt werden kann." 8 9 V.a. junge männliche Adlige opponierten immer offener „gegen die mittelalterliche Anschauung" ihrer Väter, die am adligen Namen als Kriterium zur Bewertung des Wertes eines Menschen festhielten. In der Jugend-Beilage des Adelsblattes verabschiedeten sich der mecklenburgische Gutsbesitzer Wilhelm v. Oertzen und Botho Graf zu Eulenburg, „Führer des ostpreußischen Jungadels", 1930 vom traditionellen Adelsbegriff. Oertzens Satz „Der Mann ist soviel wert, wie er leistet, abzüglich seiner Eitelkeit", wurde durch den Appell des jungen Grafen zur Solidarität mit den S A Kameraden noch überboten. Scharf kritisierte Eulenburg, Sohn des letzten Kommandeurs des Potsdamer Ersten Garderegiments zu Fuß, j e n e Standesgenossen, „die zwar auf dem Parkett stets zu sehen sind, nicht aber, wenn es gilt, mit Arbeiterkameraden auf der Straße Farbe zu bekennen und Zivilcourage zu beweisen". 9 0 Es liegt auf der Hand, welche politischen Koalitionen für den größten deutschen Adelsverband übrigblieben, dessen Kurs seit Jahrzehnten von einem sozial deklassierten, ideologisch radikalisierten und in seinen Ansprüchen maßlosen Kleinadel dominiert und auch in den ungebrochen (einfluß)reichen Adelsfraktionen erduldet, protegiert und mitgestaltet wurde: Tatsächlich ließ sich der Verband von seiner Führung seit etwa 1929 zunehmend an bzw. in die NS-Bewegung steuern. Eine Fronde stürzte im Juni 1932 den DAG-Vorsitzenden Friedrich v. Berg,

gen: Der polnische Adel 1 7 5 0 bis 1 8 6 3 , in: Wehler (Hg.), Europäischer Adel, S. 2 1 7 - 2 4 2 , zit. S. 2 3 9 . Werner HENNEKE, Adel und die Krisis des europäischen Bürgertums (Serie), in: D A B 1 9 3 0 , zit. S. 591 f. 9 0

Wilhelm v. OERTZEN, Nuradel, in: Adlige Jugend ( D A B - B e i l a g e ) , 1 . 1 . 1 9 3 0 , S. 4 und die Zustimmung des Grafen zu Eulenburg („Gesinnungsadel oder N a m e n s a d e l " ) in: ebd., 1 . 2 . 1 9 3 0 , S. 6.

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einen engen Vertrauten Wilhelms II. von 66 Jahren, und brachte einen reichen westfälischen Standesherren rechtsradikaler Orientierung, den 20 Jahre jüngeren westfälischen Standesherren Adolf Fürst zu Bentheim an die Spitze der Organisation. 91 Der unter Bentheim 1933 vollzogene Kotau war ebenso formvollendet wie nutzlos, die Proteste der süddeutschen Landesverbände und der katholischen Adelsorganisationen waren intern scharf, blieben aber konsequenz- und kraftlos. 92 Zwar entging die DAG der Auflösung der monarchistischen Verbände, das Ziel der DAG-Führung, sich innerhalb des Dritten Reiches als „politischer Führerstand" zu etablieren, war jedoch auf allen Ebenen gescheitert. In einer Kampfschrift, mit der eine Gruppe „alter Kämpfer" aus dem Adel die „Maiveilchen" unter ihren Standesgenossen angriff, brachte ein Mitglied des Hochadels 1934 freimütig auf den Punkt, wie das Dritte Reich die von der DAG jahrelang betriebene Aushöhlung des Adelsbegriffes konsequent fortzufuhren gedachte: „Was wir [Nationalsozialisten] mit ,AdeP bezeichnen - das habt Ihr von nun an darunter zu verstehen. Selbst dann, wenn ihr Euch danach selbst nicht mehr dazuzählen könnt." 93 Offensichtlich wurde die hier skizzierte Entwicklung der DAG von einem großen Teil der Mitglieder befürwortet und vom Rest geduldet. Wichtig ist an dieser Stelle jedoch der Hinweis auf erhebliche Widerstände in der DAG, die v.a. von den süddeutschen Landesverbänden hartnäckig formuliert wurden. Eine nähere Betrachtung der bayerischen Landesabteilung ist in mehrfacher Hinsicht aufschlußreich. Nacheinander von drei Standesherren gefuhrt war die Abteilung Mitte der 1920er Jahre mit 1048 Mitgliedern, darunter 344 Frauen, die viertgrößte der DAG. 94 Inhalt und Tonfall katholischer Adelstagungen und 91

Vgl. KLEINE, Adelsgenossenschaft (wie Anm. 1), S. 114ff.

92

Zur kraftlosen Kapitulation der katholischen Verbände: Bekanntgabe des Fürsten Alois v. Löwenstein-Wertheim-Rosenberg vom 20.11.1933 in: Mitteilungen der GKEB, 3.12.1933, S. 1. Roderich Graf Thun, Rede auf der Generalversammlung des V K E am 24.1.1934, in: WAAM, Nl. Lüninck, Nr. 809. Eugen Graf v. QuadtIsny, Der Adel im 3. Reich, Vortrag v. 12.4.1934 in München, in: D A A M , LAB, Bd. 6, Hfl.: „Adel und NS". Zustimmende Bemerkungen des Fürsten (Dettingen, der sich 1933 aus dem Vorstand der bayerischen DAG-Abteilung zurückzog, in: ebd., Bd. 2, Hft. „33/34".

93

Friedrich Christian PRINZ ZU SCHAUMBURG-LIPPE, WO war der Adel?, Berlin 1934, S. 50.

94

Der bayerische Thronprätendent Kronprinz Rupprecht hatte im Jahre 1926 die „Schutzherrschaft" übernommen. 29 Mitglieder gehörten dem hohen Adel an, der Fürsten/Prinzen-Titel war 18, der Grafen-Titel 108, der Freiherren-Titel 460 Mal vertreten. Jahrbuch (Kalender) der DAG, 1927, S. 77-112.

197

Die Deutsche Adelsgenossenschaft und der Deutsche Herrenklub

die internen Schriftwechsel verschiedener katholischer Verbände zeugen durchgängig von einem stark christlich gefärbten AdelsKonservativismus, der in Inhalt und Tonfall um Welten vom völkischen Kampfkurs der Berliner DAG-Leitung entfernt blieb und zu scharfen Konflikten innerhalb der DAG führte. 95 Bayerische Adlige verwahrten sich immer wieder gegen den Versuch der „wilden Tiere" 96 in der Berliner DAG-Leitung, den Adel so gedankenlos zu „unitarisieren wie andere Leute Nase bohren."97 Dennoch wurde der.immer wieder erwogene Bruch mit der DAG-Leitung nie realisiert, um die „nützlichen Seiten der DAG" nicht zu gefährden.98 Selbst der bayerische Adel, mit Abstand der eindrucksvollste Protagonist eines christlichkonservativen, von der DAG-Leitung deutlich unterscheidbaren Kurses,99 besaß im adligen Gesamtverhältnis nicht genug Gewicht und Konsequenz, um sich gegen die „wilden Tiere" in der Berliner DAGLeitung durchzusetzen. Sucht man jenseits der konfessionell und regional begrenzten Positionen, die im süddeutschen Adel verbreitet waren, nach überregional relevanten adligen Gegenpositionen zum Kurs der DAG, stößt man auf den Deutschen Herrenklub. In mancher Hinsicht läßt sich dieser Klub als Fortführung einer im Kaiserreich begonnenen adlig-bürgerlichen Elitenfusion und somit als inneradlige Antithese der DAG interpretieren. Der Deutsche Herrenklub (DHK) Der Deutsche Herrenklub und sein in der Ring-Bewegung organisiertes Netzwerk sind mehrfach untersucht und überaus kontrovers gedeu-

95

Dieses

Urteil

stützt

sich

auf

eine

Auswertung

umfangreicher

Vorstands-

Korrespondenzen und Sitzungsprotokolle der katholischen Adelsverbände, die hier nicht ausgebreitet werden kann. Ausgewertet wurden diverse Archivbestände der Genossenschaft katholischer Edelleute und der bayerischen DAG-Abteilung und des Vereins katholischer Edelleute in Augsburg, Marburg, München und Münster. 96

Karl Frhr. v. Aretin an Karl A. Graf v. Drechsel, 7. und 8. 11.1933, in: B H S A M , GKEB, Nr. 6.

97

Briefe Aretins vom 6.7. und vom 31.8.1931 in: D A A M , LAB, Bd. 1, Hft. „30/31".

98

Graf v. Drechsel an Fürst Oeningen, 16. u. 17.12.1931, in: D A A M , LAB, Bd. 3, Hft. „Ellena".

99

Die entsprechende Deutung bei ARETIN, Der bayerische Adel (wie Anm. 1), läßt sich anhand der fur diese Arbeit ausgewerteten Archive vielfach bestätigen.

198

Stephan Malinowski

tet worden, 100 ohne daß man sich ernstlich für die Frage interessiert hätte, welche Gruppen des Adels sich in dieser wohl wichtigsten Organisation der Ring-Bewegung engagiert haben. Der beeindruckende Adelsanteil von 30-60% in den einzelnen Klubs der Ring-Bewegung ist in seiner Größe, nicht jedoch in seiner Komposition bekannt. Diese genauer zu kennen, wäre für eine Untersuchung adliger Neuorientierungen nach 1918 von einiger Bedeutung - so wenig die DAG der Interessenverband des Adels war, so wenig war es der Adel, der im Herrenklub ein neuartiges soziales und politisches Forum fand. Zwei zentrale Unterschiede zwischen dem größten deutschen Adelsverband und dem Herrenklub bedürfen keiner längeren Erläuterung: Während die Wurzeln der DAG bis in das frühe Kaiserreich reichten, lagen die ferneren organisatorischen Ursprünge des DHK in der Zeit des Ersten Weltkrieges, präziser: in einer der für die Neue Rechte der Nachkriegszeit wichtigsten Neugründungen: Der Deutsche Herrenklub ging Ende 1924 aus dem Zerfall des 1919 gegründeten Juni-Klubs hervor,101 dessen spiritus rector Arthur Moeller van den Bruck bereits vor Erscheinen seines Hauptwerks „Das dritte Reich" 102 zu den wichtigsten Ideengebern der Neuen Rechten gehörte, die mit Inhalten und Formen des Vorkriegs-Konservativismus explizit gebrochen hatten. Anders als die DAG war der Herrenklub weder ein exklusiv adliger Kreis, noch ein frei zugänglicher Verband der adligen „Massen". In Anspruch und Praxis konstituierte sich der DHK als kontrollierte Zusammenfuhrung ausgesuchter Teilgruppen aus Adel und Bürgertum. Der DHK glich einer Konzentration ökonomischen, sozialen,. und kulturellen Kapitals, einem per Kooptationsverfahren behut100

Manfred SCHOEPS, Der deutsche Herrenklub. Ein Beitrag zur Geschichte des Jungkonservatismus in der Weimarer Republik, Phil. Diss., Erlangen-Nürnberg 1974. Joachim PETZOLD, Wegbereiter des deutschen Faschismus. Die Jungkonservativen in der Weimarer Republik, Köln 1978. Yuji ISHIDA, Jungkonservative in der Weimarer Republik. Der Ring-Kreis 1928-1933. Frankfurt/M./Bern/New York/ u.a. 1988. Zuletzt in der bislang präzisesten Untersuchung von Berthold PETZINNA, Erziehung zum deutschen Lebensstil. Ursprung und Entwicklung des jungkonservativen Ring-Kreises 1918-1933 (erscheint demnächst im AkademieVerlag).

101

Vgl. Ishida, Jungkonservative, S. 29-43; Petzold, Wegbereiter, S. 89-110 und Petzinna, Erziehung, S. 118-230 (alle wie Anm. 100).

102

Arthur MOELLER VAN DEN BRUCK, Das dritte Reich, Hamburg "1931 (zuerst 1923). Zu Moeller, seinem Umfeld und dem Juni-Klub vgl. Hans-Joachim SCHWIERSKOTT, Arthur Moeller van den Bruck und der revolutionäre Nationalismus in der Weimarer Republik, Göttingen u.a. 1962 und PETZINNA, Erziehung ( w i e A n m . 1 0 0 ) , S. 1 1 - 6 4 .

Die Deutsche Adelsgenossenschaft und der Deutsche Herrenklub

199

sam erweiterten Kreis handverlesener „Herren" aus Adel und Bürgertum, die politische Macht in fast allen strategischen Bereichen der Gesellschaft repräsentierten. Vom Führertypus des von der DAG erträumten „reinblütigen" Adels, der, mit Volk und Boden gleichermaßen verbunden, in den Massen (-Organisationen) „die Führerfahne ergreifen" sollte, ist das im Ringkreis propagierte Führerbild bereits konzeptionell deutlich zu unterscheiden. Explizites Ziel dieser Sammlungsbewegung war und blieb eine aus adligen und bürgerlichen Teilgruppen neu komponierte Führerschicht einander bekannter Herren: Unabhängig vom Parlament, über partikularen Interessen, Gewerkschaften, Verbänden und Parteien, v.a. aber: über den Massen stehend. 103 Satzung, Programmschriften und interne Debatten definierten als raison d'être des Klubs gleichbleibend eine Vereinigung „zwischen fuhrenden Persönlichkeiten der verschiedenen Berufsstände" 104 oder, wie ein Klubmitglied 1926 Oswald Spengler darlegte, die „Führersammlung".105 Zur Dimension des Klubs sollen hier wenige Zahlen genügen: Koordiniert von der Berliner „Mittelstelle des Ringes," vereinte die RingBewegung 1932 auf dem Höhepunkt ihres Einflusses etwa 18 selbständig arbeitende „Herrengesellschaften". Addiert man die Mitglieder der nach Mittel-, Nord- und Westdeutschland guten, in Süddeutschland schwachen Verbindungen, kommt man auf 5.000 Mitglieder als maximale Ausdehnung des landesweiten Netzwerkes im Jahre 193 2. 106 Der innere Kreis war jedoch erheblich kleiner. Für den DHK in Berlin, dem 1928 bei einem Adelsanteil von über 50% 326 Mitglieder angehörten, 107 hatte bereits die Satzung 500 Mitglieder als Obergrenze festgelegt. 103

Heinrich v. Gleichen, Adel, eine politische Forderung, in: Preußische Jahrbücher 197 (1924), S. 131-145.

104

Richtlinien und Satzung des DHK, undatiert (1924/25), in: LHAM-AW, Rep. H Ostrau, II, 158, Fol. 2-5. Protokoll der DHK-Mitgliederversammlung, 17.11.1927. DHK-Jahresbericht 1926/27, beide in: WAAM, Nl. Lüninck, Nr. 820. Vgl. die Programmschrift "Ring, Gemeinschaft der Führenden" (Dezember 1929), im Anh a n g b e i SCHOEPS, H e r r e n k l u b , S . 2 3 7 - 2 4 1 . V g l . d i e D a r s t e l l u n g e n v o n ISHIDA, Jungkonservative,

S. 5 1 - 5 5 .

PETZOLD, W e g b e r e i t e r ,

S.

175-182 und

PETZINNA,

Erziehung, S. 220-230, (alle wie Anm. 100). 105

Wilhelm v. Oertzen-Roggow an Oswald Spengler, Juni 1926, in: LHAS, Bestand Herrengesellschaft Mecklenburg (HGM), Bd. 1, Fol. 124-126.

106

ISHIDA, Jungkonservative, S. 62.

107

Mitgliederverzeichnisse von 1926 (ca. 250 Mitglieder) und 1928 in: WAAM, N L Lüninck, Nr. 820. Vgl. die Liste von 1932 im Anhang bei SCHOEPS, Herrenklub, S. 244-257.

200

Stephan Malinowski

Ungeachtet der taktischen Zusammenarbeit von DAG und DHK in diversen Bereichen und ungeachtet der Mitgliedschaft prominenter DAG-Mitglieder im Herrenklub verweist bereits der hohe Jahresbeitrag von zeitweise über 100 Mark, das 15-fache des DAG-Beitrags, auf die sozialen Standards bzw. Eingangsvoraussetzungen der hier versammelten „Herrenschicht", die außerhalb der Reichweite der meisten DAG-Mitglieder lagen. Auch die Biographien der beiden Adligen, die zu den wichtigsten Protagonisten des DHK gehörten, verweisen auf einen sozialen und intellektuellen Horizont, dessen Weite nicht nur den der sprichwörtlichen DAG-Majore a.D., sondern auch die sozial und gedanklich enge Welt des ostelbischen Landadels deutlich übertraf. DHK-Präsident Hans Bodo Graf v. Alvensleben 108 und Heinrich Frhr. v. Gleichen-Rußwurm, 109 beide im Jahre 1882 geboren, brachten als Mitglieder uradliger Familien, Gutsbesitzer mit landwirtschaftlicher Ausbildung, durch Jura-Studium, Korps-Mitgliedschaft, längere Auslandsaufenthalte in England, bzw. Kanada, kaufmännischbetriebswirtschaftliche Kenntnisse, Offiziersausbildung, Kriegsdienst als Frontkommandeur bzw. in der Propaganda-Abteilung der Obersten Heeresleitung, nicht zuletzt durch gute Kontakte zum katholischen Adel, selbst eine ganze Reihe der „Führerqualitäten" mit, die der Klub zu einen versuchte. Der in dieser Form wohl einzigartig erfolgreiche Versuch einer Zusammenführung adliger und bürgerlicher Mitglieder unterschiedlicher Funktionseliten lohnt eine genauere Beschreibung: Anders als die bildungsbürgerlich dominierten „vaterländischen" Verbände der Kaiserzeit, in denen der geringe Adelsanteil überproportional von Neunobilitierten gestellt wurde, bezeugen die Mitglieder-Listen 110 die massive Präsenz von Angehörigen alter, angesehener Adelsfamilien mit einer 108

(1882-1961), Angaben nach: NSDAP-Personalakte in: BAB, Ref. 2 R Pers.. Alvenslebens Vater Werner Ludwig hatte sich erfolgreich als Agrar-Industrieller betätigt und war eine bekannte Gestalt am Berliner Hof, die Wilhelm II. durch den Grafentitel und mit Jagdbesuchen auf seinem Gut geehrt hatte.

109

(1882-1959), Angaben nach: NSDAP-Personalakte in: BAB, Ref. 2 R Pers.. Vgl. seine Selbstdarstellung von 1947 in: Bundesarchiv Koblenz, Kl. Erw. 402, Fol. 4f. und die Angaben bei SCHWIERSKOTT, Moeller (wie Anm. 102), S. 43-46. DHK-Mitgliederverzeichnis, abgeschlossen am 31.1.1928: WAAM, Nl. Lüninck, Nr. 820. Vgl. ebd.: Mitgliederverzeichnis vom 30.6.1926 (mit ca. 250 Mitgliedern). Die „Herrengesellschaften" im Reich hatten zu dieser Zeit insgesamt ca. 6 0 0 Mitglieder. Vgl. die Mitgliederliste von 1932 im Anhang bei SCHOEPS, Der Deutsche Herrenklub (wie Anm. 100), S. 244-257.

Die Deutsche Adelsgenossenschaft und der Deutsche Herrenklub

201

auffälligen Häufung titulierter Adliger, insbesondere aus dem Grafenstand." 1 Unter den insgesamt 187 adligen Klubmitgliedern befanden sich drei Fürsten, zwei Prinzen, ein Erbgroßherzog," 2 36 Grafen, 29 Freiherren und 116 Untitulierte. Zu den 36 Personen, die 1932 das Direktorium des DHK bildeten, gehörten 23 Adlige, darunter der Fürst zu Stolberg-Roßla und Albrecht Prinz v. Hohenzollern-Namedy." 3 Dieses Konzentrat aus Mitgliedern angesehener Adelsfamilien mischte sich im Klub mit einflußreichen bürgerlichen Vertretern staatlicher und nicht-staatlicher Funktionseliten. Neben zahlreichen hohen Offizieren, Beamten und Diplomaten aus dem Bürgertum verzeichnet die Liste v.a. mittelständische Unternehmer, Fabrikanten und einzelne prominente Vertreter der Industrie- und Finanzwelt sowie diverser Verbindungsorganisationen zwischen Staat und Wirtschaft. 114 Mit 26 Mitgliedern, darunter nur drei Adlige, die als Fabrikbesitzer, Direktoren, Bankiers, Bergassessoren, Kommerzienräte oder Syndizi verzeichnet sind, war diese Gruppe numerisch relativ schwach vertreten. Vertreter der Großindustrie und der entsprechenden Verbände werden in den Listen nur vereinzelt verzeichnet, stützten den Klub jedoch finanziell und saßen zum Teil in den Leitungsgremien. Die Gruppe prominenter „Agrarier", z.T. noch aus den Reihen der alten Konservativen, v.a. aber aus den landwirtschaftlichen Interessenverbänden, war zumindest numerisch stärker: Neben 58 Mitgliedern, darunter 49 Adlige, die auf der Liste als „Rittergutsbesitzer", „Fideikommiß"- oder „Majoratsherr" verzeichnet sind, 115 versammelte der Herrenklub eine Reihe prominen111

Allein durch die Träger des Grafentitels waren hier folgende Familien, -z.T. mehrfach·, vertreten: Arnim, Ballestrem, Bassewitz, Behr, Bismarck, Cartlow, Dohna, Dönhoff, Douglas, Dürckheim, Eulenburg, Finck v. Finckenstein, Garnier, Hagen, Hardenberg, Helldorff, Kalckreuth, Keyserlingk, Landsberg, Loë, Magnis, Piickler, Schlieffen, Schmettow, Schulenburg, Solms, Strachwitz und Wuthenau.

1

Albrecht Prinz v. Hohenzollern-Namedy, Nikolaus Erbgroßherzog v. Oldenburg, Fürst zu Salm-Salm, Christoph Martin Fürst zu Stolberg-Roßla, Christian Ernst Fürst zu Stolberg-Wernigerode, Heinrich Prinz X X X I V . v. Reuß j.L..

1

Bundesarchiv Militärarchiv Freiburg, Nl. Schleicher, Nr. 7, Fol. 6.

114

U.a.: Edmund Stinnes; Tilo Frhr. v. Wilmowsky; Karl Euling, Generaldirektor der Borsigwerk AG; Friedrich Schwartz, Präsident der Preußischen CentralBodencrededit A.G.; Reichsminister a.D. v. Schlieben, Präsident des Landesfinanzamtes; die Lufthansadirektoren Otto Merkel und E. Milch; Ministerialrat Brandenburg, Dirigent der Abteilung Luft- und Kraftfahrwesen im Reichsverkehrsministerium.

115

Zu den 49 (zumeist alt-) adligen Gutsbesitzern sind eine Reihe von (z.T. hoch-) adligen Grundbesitzern hinzuzuzählen, die ohne Berufsangabe verzeichnet sind, so etwa Heinrich Burggraf zu Dohna-Mallmitz, Albrecht Prinz zu Hohenzollern,

202

Stephan Malinowski

ter Vertreter der landwirtschaftlichen Interessenverbände und diesen nahestehender Organisationen. 116 Der Anspruch des Klubs, „Führersammlung" und politische Sacharbeit zu verbinden, spiegelte sich im hohen Anteil der Staatsbeamten und Diplomaten wider - 63 Assessoren, Landräte, Regierungsräte, Ministerialdirektoren, Staatssekretäre, Gesandte und Botschafter, davon ca. die Hälfte in a.D.-Stellungen, verzeichnet die Liste: 4 6 Adlige und 17 Bürgerliche, darunter der Essener Oberbürgermeister Franz Bracht und Reichsminister v. Keudell. Mit insgesamt 51 Mitgliedern war das Offizierskorps relativ schwach vertreten: 34 adlige und 17 bürgerliche Offiziere, ausschließlich in a.D.-Stellungen und nur 13 Mal über dem Majorsrang. Für die Herstellung intellektueller Verbindungen zwischen den Denkwelten des Landadels und der neuen Rechten dürften die prominenten Hochschulprofessoren, die Schriftleiter rechtsstehender Zeitschriften, Publizisten und sonstige Vordenker der Neuen Rechten, die dem Klub angehörten, von erheblicher Bedeutung gewesen sein. 1 1 7 Mit dem Ring, der klubeigenen, durch Heinrich v. Gleichen auf hohem Niveau redigierten Zeitschrift sowie dem Netzwerk an politischen Schulungsinstitutionen, führte der DHK Traditionen des Juniklubs fort, welcher der Neuen Rechten mit dem Gewissen ein Diskussionsforum Nikolaus Erbgroßherzog v. Oldenburg, Heinrich X X X I V . Prinz v. Reuß j.L.; Sylvius Graf v. Piickler; Fürst v. Solms-Solms, Georg-Friedrich Graf zu SolmsLaubach, die Fürsten Christoph Martin zu Stolberg-Roßla und Christian Ernst zu Stolberg-Wernigerode, Nikolaus Graf v. Ballestrem-Plawniowitz, Hans Ulrich Graf Schaffgotsch, Nikolaus Leopold Fürst zu Salm-Salm und Hans-Hasso v. Veltheim-Ostrau. 116

Darunter u.a. folgende Personen: Adolf v. Batocki, Oberpräsident a.D.; Friedrich v. Berg-Markienen, Vorsitzender der DAG; Erich Burchhard, Hauptgeschäftsfuhrer des Landbundes i.d. Provinz Sachsen; Klaus v. Eickstedt, Direktor im Pommerschen Landbund; vier Mitglieder der Familie Heydebrand und der Lasa; Hans v. Knoblauch, Leiter der RLB-Parlamentsabteilung; die RLB-Direktoren Arno Kriegsheim und Heinrich v. Sybel; der westfälische Landbundfuhrer Ferdinand Frhr. v. Lüninck, Joachim v. Oppen, Präsident der Landwirtschaftskammer Brandenburg.

117

U.a.: Walther Schotte (seit 1920 Hg. Der Preußischen Jahrbücher), Heinz Brauweiler (Hauptschriftleiter des Stahlhelm), Georg Foertsch (Chefredakteur der Kreuzzeitung), Max Hildebert Boehm (Die Grenzboten), Karl C. v. Loesch (Theoretiker des „Auslandsdeutschtums"), Walter-Eberhard Frhr. v. Medem (Chefredakteur des „TAG" und DAB-Leitartikler), Hellmuth Rauschenbusch (Direktor der Deutschen Tageszeitung), Harald v. Rautenfeld (Generalsekretär der Baltischen Arbeitsgemeinschaft), Edgar v. Schmidt-Pauli (Politik und Gesellschaft), Gustav Steinbömer und der mondäne Indologe und Gutsbesitzer Hans-Hasso v. Veltheim-Ostrau.

Die Deutsche Adelsgenossenschaft und der Deutsche Herrenklub

203

von Rang und in Form des bis 1924 von Martin Spahn geleiteten Politischen Kollegs in Berlin-Spandau ein Schulungszentrum aufgebaut hatte, das durch Aufbau und Niveau einer leistungsfähigen PrivatHochschule glich, an der die Ideen der Neuen Rechten an den „Führernachwuchs" der verschiedenen Berufs-„stände" vermittelt wurden. 118 Die stets im Dezember organisierten „Jahresessen" des DHK, versammelten z.T. weit über 500 Gäste von inner- und außerhalb des Klubs. Die eindrucksvollen Teilnehmerlisten, die sich wie ein Who is Who der wichtigen Funktionseliten lesen, verweisen noch deutlicher als der Mitgliederkreis auf die Weite der hier angestrebten Elitenfusion. Die ausgefeilten Tisch- und Sitzordnungen, der vorgeschriebene Frack und die Preise auf den Speisekarten 119 verweisen auf finanzielle und soziale Standards, die außerhalb der Reichweite vieler D A G Mitglieder lagen. DAG-Hauptgeschäftsfuhrer v. Bogen brachte diese soziale und politische Differenz Ende 1931 in seiner Absage an den westfälischen Gutsbesitzer Baron Lüninck auf eine einfache Formel: „Zum [Jahresessen] des Herrenklubs komme ich nicht, es ist mir, offen gesagt, zu teuer und außerdem sind sicher sehr viele hochgestellte Persönlichkeiten da, mit denen ich nicht besonders gern zusammen bin.« 120 Die Institution der Jahresessen symbolisiert die spezifische Leistung des Klubs, die in der Zusammenfuhrung adlig-bürgerlicher Vertreter unterschiedlicher professioneller Bereiche lag, zwischen denen es gewöhnlich nur wenig Berührungspunkte gab. Wichtig für diese Funktion des Klubs waren eine Reihe von Personen, die sich keinem der hier genannten professionellen (und damit sozio-kulturellen) Felder eindeutig zuordnen lassen, sondern mehrere dieser Bereiche von innen

118

Dokumentation der Professoren, Dozenten und Kurse des Politischen Kollegs in: Geheimes Staatsarchiv Berlin, Rep. 3 0 3 , Nr. 1 7 3 - 1 7 5 ; Bundesarchiv Koblenz, R 118, Nr. 53 u. 54. Vgl. dazu SCHWIERSKOTT, Moeller (wie Anm. 102), S. 6 1 - 6 6 und S. 179f. sowie PETZINNA, Erziehung (wie Anm. 100), S. 1 4 3 - 1 6 8 , 2 1 5 - 2 2 0 .

119

L H A S , Großherzogliches Kabinett III, Nr. 2 6 5 3 : Teilnehmerlisten und Tischordnungen für die Jahresessen von 1930 und 1 9 3 2 (im großen Festsaal von Kroll gegenüber dem Reichstag). Die Plazierung der Tische im Raum und die Sitzordnung der „Herren" an den einzelnen Tischen dokumentieren das feinsinnige Gespür für soziale Hierarchien und den Versuch, unterschiedliche Machtfelder „am weißen Tisch" miteinander in Verbindung zu bringen. 1932 gab es 6 7 5 Teilnehmer, die an 7 2 Tischen à 8 - 2 4 Personen plaziert wurden. Serviert wurde ein viergängiges Menü und deutscher Schaumwein zum Flaschenpreis von 16 Mark.

120

Bogen an Lüninck, 1 . 1 2 . 1 9 3 1 , in: W A A M , Nl. Lüninck, Nr. 8 1 5 .

204

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kannten, „führend" vertraten und innerhalb der Ring-Bewegung zusammenbrachten. Neben Alvensleben und Gleichen gehörten eine Reihe der aktiven Klubmitglieder zu diesen eher seltenen Amphibien, die sich zwischen städtischem Großbürgertum, den „besten Familien" des Adels sowie dem Milieu der rechten Intelligenz souverän bewegen, diese miteinander verbinden und somit den Aufbau eines neukomponierten, modernetauglichen Elitenreservoirs aktiv befördern konnten. Drei Beispiele sollen hier genügen, um diesen im DHK häufig vertretenen Typus des flexiblen „Mehrzweckfuhrers" zu skizzieren. Das prominenteste Beispiel liefert das Klubmitglied Franz v. Papen, der als Sohn eines preußischen Rittmeisters, Mitglied einer alten westfälischen Adelsfamilie, Pagenschüler, Ehemann einer saarländischen Industriellentochter, Diplomat, Generalstabsoffizier, Gutspächter, Kandidat des vom westfälischen Adel dominierten rechten Flügels im Zentrum, aktives Mitglied katholischer Adelsverbände, Hauptaktionär einer bedeutenden Zeitung, Mitglied des preußischen Landtages, Herrenreiter, Katholik mit guten Kontakten zur Kurie und Treuhänder des „Langnamvereins" mit exzellenten Kontakten zur Schwerindustrie diesen Typus bereits idealtypisch repräsentierte, bevor er als Wunschkanzler Hindenburgs dessen Ohr gewann und behielt.121 Analog zu Papen verkörperte Tilo Freiherr v. Wilmowsky122 auf mehreren Ebenen Verbindung von (adligem) Landbesitz und (bürgerlicher) Großindustrie. Wilmowsky, Gutsbesitzer aus einer Familie des schlesischen Uradels, Jurist und Landrat, hatte die Schwester Bertha Krupps geheiratet und wurde später Aufsichtsratsmitglied bei Krupp. Als Gutsbesitzer hatte er sich nach 1918 bei der Aufstellung eines Stoßtrupps der Organisation Escherich hervorgetan. Später wurde er Vorsitzender des sächsischen Landbundes, Vizevorsitzender der Landwirtschaftskammer und Vorsitzender der DNVP-Fraktion im Provinziallandtag. Auch im Reichsausschuß für Technik in der Landwirtschaft, im Luther-Bund sowie als Präsident des Wirtschaftsverbandes Mitteldeutschland war Wilmowsky in fuhrenden Positionen. 121

Franz v. PAPEN, Der Wahrheit eine Gasse, München 1 9 5 2 . Vgl. Joachim PETZOLD, F r a n z von Papen. Ein deutsches Verhängnis, M ü n c h e n / B e r l i n 1 9 9 5 , S. 154 7 . Papens feste und dauerhafte Bindungen an die Denkwelten des Adels werden hier j e d o c h kaum thematisiert. Die spöttischen Urteile über Papens angeblich „beschränkten" Horizont, in denen Zeitgenossen und Forschung

übereinstimmen,

sind zwar erheiternd, j e d o c h kaum geeignet, die Mehrfachkarriere des Herrenreiters in verschiedenen Lebenswelten angemessen zu deuten. 122

Angaben nach seiner Autobiographie: Tilo FRHR. V. WILMOWSKY, Rückblickend m ö c h t e ich sagen, Oldenburg/Hamburg, 1 9 6 1 .

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205

Der Baron war zudem Mitglied des sogenannten „Smoking-Clubs", einem fest institutionalisierten, vierteljährlichen Treffen von sechs hochkarätigen Industrievertretern mit sechs adligen Vertretern der Landwirtschaft im Berliner Hotel Esplanade. Von dieser Plattform aus war 1929 die Vermittlung eines zinslosen Industriedarlehens an den Reichslandbund gelungen. 123 Im gleichen Jahr spielte Wilmowsky für den Herrenklub die Rolle des Geldbeschaffers mit Zugang zu üppigen Quellen. Mit der Feststellung, der Herrenklub habe „sich in letzter Zeit in anerkennenswerter Weise auf die von der Industrie vertretenen Interessen eingestellt", 124 gelang es Wilmowsky, seinen finanzkräftigen Schwager in Essen für ein finanzielle Unterstützung des Klubs zu gewinnen. Ein Kölner Bankier aus einer neuadligen Familie, Kurt Frhr. v. Schröder, war einer der wichtigsten Verbindungsmänner des DHK zur Finanzwelt. Als einer der aktiven Organisatoren des Klubs warb der Baron, in dessen Kölner Haus im Januar 1933 die berüchtigte Unterredung zwischen Hitler und Papen stattfinden sollte, am Rhein um „Führer", die der Politik noch fernstanden. Als ehemals Aktiver im exklusivsten Korps des deutschen Adels, der es bis zum Vorstandsmitglied und Rechnungsführer im Verein alter Herren der Borussia zu Bonn gebracht hatte,125 vereinte auch Schröder die o.g. amphibischen Fähigkeiten. Schröder war im November 1932 eines der aktivsten Mitglieder des NS-freundlichen Keppler-Kreises, als es galt, der für Hitler werbenden Petition an Hindenburg durch die Namen prominenter Mitglieder der „Ruhrlade" größeres Gewicht zu verleihen. Die guten Kontakte zum preußischen Adel dürfte der mit der Tochter eines Kommerzienrates verheiratete Finanzmann aus Köln weniger seinem FreiherrenTitel, als seiner Position verdanken, die er als alter Herr der Borussen bekleidete. Meist in expliziter Anlehnung an das Berliner Modell konstituierten sich in Nord-, Mittel- und Westdeutschland lokale Ableger des Klubs. So gingen etwa die Gründungen der Herrengesellschaften in Schlesien

123

124

125

Protokoll der DHK-Tagung vom 9.4.1927 in: LHAM-AW, Rep. Stolberg, O, E, Nr. 32. Wilmowsky an Krupp v. Bohlen, 28.2.1929, zit. n. PETZINNA, Erziehung (wie Anm. 100), S. 229. Akten des Corps Borussia, darin u.a. Mitgliederlisten der „alten Herren" sowie diverse Schreiben Schröders, in: AFFD, Fürstl.Hs., Erziehung, Corps Borussia

1901 ff.

206

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und Mecklenburg maßgeblich auf die Initiative zweier Mitglieder uradliger Familien zurück, die über persönliche Kontakte der Berliner Klubleitung verbunden waren und die lokalen Herrengesellschaften nach dem Berliner Vorbild, jedoch in eigener Regie aufbauten. Ähnlich wie der Gutsbesitzer Wilhelm v. Oertzen-Roggow in Mecklenburg 126 bemühte sich der ehemalige Kadettenschüler und Gutsbesitzer Fritz Günther v. Tschirschky in Schlesien erfolgreich darum, „eine Gruppe junger Menschen zu sammeln, die aus den verschiedensten Berufen [und] Gesellschaftsschichten [stammen], in erster Linie Akademiker, junge Offiziere, Studenten, Söhne der Kaufmannschaft und des Adels". 127 Oertzen, der zwischen 1926 und 1942 über 11.600 Teilnehmer in den Schulungskursen der Herrengesellschaft versammeln konnte, skizzierte die Arbeitsweise seines Kreises wie folgt: „Wir sind eine durchaus aristokratische Bewegung insofern, als wir Führerpersönlichkeiten aus allen Kreisen heranziehen und durch unsere Veranstaltungen schulen und informieren und vor allem dann auch von ihnen erwarten, daß sie das Gelernte auch anwenden auf sich und auf den Kreis, auf den sie Einfluß haben. Das ist eben Führertum!" Der „große Führer" werde zwar nicht erzogen, sondern geboren, die Schulung von Denken und Fühlen der „kleinen Führer" zu einer neuartigen Oberschicht jedoch unabdingbar, „damit eine Atmosphäre vorhanden ist, in der der Führer überhaupt leben, in der er sich durchsetzen kann." 128 Bestimmt man die Adligen im Herrenklub als sozialen Gegenpol zur Klientel der DAG, wäre zu fragen, ob sich der Klub, der zu einem der wichtigsten Kontakt-, Repräsentations- und Handlungsorte der o.g. Adelsgruppen geworden war, bezüglich des politischen Kurses ebenso

126

Auf der Grundlage z.T. unzugänglicher Quellenbestände, mit unangemessenen mildem Urteil, in dem der ehemals scharfe (marxistische) analytische Blick des Autors einer merkwürdigen Gutsherren-Verehrung gewichen ist: Lothar ELSNER, Die Herrengesellschaft. Leben und Wandlungen des Wilhelm von Oertzen, o.O. 1998, v.a. S. 31-59.

127

Fritz-Günther v. TSCHIRSCHKY, Erinnerungen eines Hochverräters, Stuttgart 1972, S. 57. Tschirschky gehörte später zum Mitarbeiterstab Papens im Vizekanzleramt. Daß die schlesische Vereinigung v.a. „den Abwehrkampf gegen die N S D A P vorbereiten]" sollte, ist bereits angesichts des Gründungsdatums (1927/28) als barer Unsinn erkennbar.

128

Schreiben Oertzens v. 8.11.1930, zit. nach Elsner, Herrengesellschaft, S. 35f. (Zitat) und S. 48 (Teilnehmerzahl). Zum Ablauf der Vortrags-Veranstaltungen vgl. TSCHIRSCHKY, Erinnerungen, S. 58f. und PAPEN, Wahrheit (wie Anm. 121), S. 138f..

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deutlich von der DAG unterscheiden läßt. Das Verhältnis der RingBewegung zum Nationalsozialismus wird in der Literatur kontrovers beurteilt.129 Zweifellos jedoch hielt die Leitung des DHK zur N S Bewegung eine weit größere Distanz als die DAG. Antisemitische Züge innerhalb der Ring-Bewegung aufzuzeigen, ist zwar wie überall innerhalb der Weimarer Rechten eine leichte Übung, niemals jedoch wurde der Antisemitismus innerhalb des Klubs, der auch einige jüdische Mitglieder hatte, zum konstitutiven Bestandteil des hier gepflegten Ideals des „freien Herrentums". Jenseits der gemeinsamen antidemokratischen Ausrichtung unterschied sich der Herrenklub nach sozialer Zusammensetzung und politischer Zielsetzung deutlich von der NS-Bewegung. Diese Differenzen spiegelten sich v.a. zur Zeit des Papen-Kabinetts in massiven Angriffen der NS-Publizistik auf den Herrenklub wider. Bei aller Anerkennung der „Leistungen" und Potentiale des Nationalsozialismus mußten Ziel und Praxis des Herrenklubs, unabhängig über den Massen zu stehen, konsequenter Weise heißen, die eigene Position nicht in sondern über der NS-Bewegung zu suchen. In einem „offenen Brief an Adolf Hitler" hatte Heinrich von Gleichen diesen Herren-Standpunkt im dazu passenden Tonfall bereits 1931 dargelegt: „Ich stelle jedenfalls fest, daß Männer, die sich zur fuhrenden Schicht Deutschlands nicht erst von der gegenwärtigen Generation her rechnen, Ihr Ruf darum nicht erreicht und auch nicht erreichen wird, weil Sie auf diese Männer [...] keinen Wert legen. Denn Sie fordern und wünschen: bedingungslose Gefolgschaft! Dazu werden Sie aber Männer, die ihr Handeln aus eigener Verantwortung bestimmen, nicht bekommen."130 Auf dem Höhepunkt der Konfrontation zwischen NS-Bewegung und dem Kabinett der Barone verkündete Goebbels den „rücksichtslosen Kampf gegen jene „Sorte von Adel", die - zurückgelehnt in „Herrenklubsesseln"- das Volk als „stinkende Masse" bewertete. In den großen NS-Zeitungen trat er eine Kampagne los, für die auch die prominenten Partei-Adligen, u.a. Prinz August Wilhelm v. Preußen, Prinz Schaumburg-Lippe und Graf Reventlow von der Kette gelassen wurden.131

129

Vgl. PETZOLD, Wegbereiter, S. 320-336; 350-364; ISHIDA, Jungkonservative, S. 238-263 und PETZINNA, Erziehung, S. 274-286 (alle wie Anm. 100).

130

Heinrich v. GLEICHEN, Offener Brief an Hitler, in: Der Ring, 6.11.1931, S. 835. Zitat: Angriff, 23.9.1932. Vgl. Völkischer Beobachter 15.10.1932; Preußische Zeitung 24./25.9.1932: „Die Pflicht des wahren Adels. Mit Hitler ñlr das deutsche Volk. Ein Aufruf der nationalsozialistischen Adligen." und ein Pamphlet von Goebbels späterem Adjutanten: F. C. PRINZ ZU SCHAUMBURG-LIPPE, Der Berliner

131

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Die Position einer parteiübergreifenden Koalition von adligbürgerlichen Funktionseliten wurde jedoch nicht erst 1933 überrannt, sondern zuvor innerhalb der Ring-Bewegung aufgelöst. Diese Dynamik ging weniger vom Berliner Klub, als von einigen der ländlichen Herrengesellschaften aus, in denen sich hochaktive Gruppen der N S Bewegung angeschlossen und gegen den unabhängigen Kurs der Klubleitung revoltiert hatten. Die Protokolle eines Treffens im Juni 1932, bei dem Klubpräsident Alvensleben mit 31 Vertretern der regionalen Herrengesellschaften und der zum „System Hugenberg" gehörenden Nationalklubs zusammentraf, machen deutlich, daß spätestens zu diesem Zeitpunkt der den DHK umgebene „Ring" konzentrischen Druck auf die Berliner Klubleitung und ihre NS-kritische Position ausübte. In deutlicher Absetzung von der Berliner Klublinie wurde ein Bekenntnis zur Harzburger Front, der Ausschluß von Mitgliedern demokratischer Parteien, die Absetzung Heinrich v. Gleichens und explizit die „Anbahnung eines freundschaftlichen Verhältnisses zu den Nationalsozialisten" gefordert. Die Vertreter dieses rechtsradikalen Flügels hatten den DHK-Präsidenten Alvensleben eindeutig in die Defensive gedrängt.132 Dieser Entwicklung entsprach die Verwandlung der herrischen Distanz von der NS-Bewegung in einen kraftlosen Rückzug auf opportunistische Positionen und die Selbstgleichschaltung des Klubs, 133 die lange vor dem Parteibeitritt Gleichens und Alvenslebens im Jahre 1937 abgeschlossen war. Insgesamt erinnert die Niedergangsgeschichte des Klubs, dessen weiterer Kreis zurecht als eine der wichtigsten Machtressourcen des Papen-Kabinetts gilt, an jene Überschätzung der eigenen Steuerungsfahigkeiten, der Papens berühmtes Wort, man habe sich Hitler engagiert, ein Denkmal gesetzt hat. Aus der Perspektive des Adels boten die von der Ring-Bewegung organisierten Machtchancen

Herrenklub und das deutsche Volk, Köln 1 9 3 2 . Vgl. I S H I D A , Jungkonservative (wie Anm. 100), S. 251 mit der Auflistung weiterer Beispiele. 132

Das Treffen der 3 2 Herren fand am 2 2 . 6 . 1 9 3 2 auf dem H A P A G - D a m p f e r „Albert Ballin" statt. Neben 13 Adligen, darunter sechs Vertreter alter Familien, verzeichnet die Teilnehmerliste Direktoren, Industrielle, Bankiers, Diplomaten, Offiziere und einen sächsischen Landbund-Funktionär. Vgl. LHAS, H G M , Bd. 10, Fol. 829 1 und BAB, R 1 8 , Nr. 5 3 3 0 , Fol. 1 2 4 - 1 3 1 (Tagungsbericht aus Hamburg), das Berliner Protokoll und das Schreiben an die Hamburger Klubleitung ( 1 2 . 7 . 1 9 3 2 ) , in: BAB, R 1 8 , Fol. 1 5 1 - 1 6 1 . Teilnehmerliste: ebd., Fol. 1 2 .

133

Zur Selbstgleichschaltung des Klubs s. den Bericht des DHK-Geschäftsfiihrers Rosenberger über die Beratungen am 2 3 . 4 . 1 9 3 3 (vom 5 . 5 . 1 9 3 3 ) , in: L H A S , H G M , Bd. 1 2 .

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deutlich bessere Zugänge zu einer erneuerten „Führungsschicht" als die DAG jemals herstellen konnte. Den Willen, v.a. aber die Voraussetzungen zum Eintritt in den Ring dieses „Herrentums" brachte im Adel jedoch nur eine Minderheit mit. Thesen und Perspektiven Was ein genauerer Blick auf die adligen Binnenverhältnisse nach 1918 zu Tage fördert, hat nur wenig Ähnlichkeit mit einer Machtelite. In den Blick gerät vielmehr eine Verlierergruppe und ihre mehrfach gebrochenen Versuche, adelsspezifische Lebenswelten, Wertsysteme und Führungsansprüche neu zu definieren. Für die Untersuchung dieser Gruppe scheint ein differenzierter Adelsbegriff, der zwischen sozial und kulturell verschiedenen Teilgruppen unterscheiden und die Homogenisierungsversuche im Blick behalten kann, besser geeignet als der überall verwendete Begriff der konservativen Eliten, der hochaktive Teilgruppen innerhalb des Kleinadels nicht erfaßt. Zumindest der aktivste Teil jener Adelsgruppen, welche die Planierung des unebenen Weges vom traditionellen Selbstverständnis des Adels zum „Führertum" innerhalb der NS-Bewegung forciert und die Selbstzerstörung des traditionellen Adelsbegriffs betrieben hat, läßt sich weder sinnvoll einer Elite zuordnen, noch als konservativ bezeichnen. Gerade für eine „kritische" Sozialgeschichte des Adels nach 1918 dürfte es gewinnbringend sein, den tradierten Rahmen der demokratisch-liberalen Junkerschelte zu verlassen. Zwar steht dessen historische Berechtigung nicht zur Disposition, die darin möglichen historiographischen Leistungen werden jedoch beschränkt bleiben, wenn man sich künftig mit der empirischen Unterfutterung bereits bekannter Tatsachen begnügt: Daß die Agrarier keine Demokraten und der Einfluß kleiner Adelskreise mit Immediatzugang zum greisen Reichspräsidenten verhängnisvoll waren, ist bekannt und unbestritten. Bezüglich des historiographischen Brennpunkts 1933 würden die Ergebnisse einer Adelsgeschichte, die sich verstärkt den hier skizzierten Teilgruppen zuwendet, die eingangs zitierten Urteile über das Verhältnis von Adel und Nationalsozialismus eher verschärfen als abmildern. Deutlicher als in der Betrachtung der (einfluß-) reichsten Großgrundbesitzer ist die Vorstellung, im Adel hätten nur vereinzelte

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„Querköpfe", „ausgesprochene Außenseiter" und „verzweifelte Idealisten" zur NS-Bewegung gefunden eindeutig widerlegbar. 134 Anders als ältere Arbeiten der Sozialgeschichte nahelegen, dürfte der Schlüssel zur Erklärung dieses Phänomens nicht in der vermeintlichen „Feudalisierung" des Bürgertums, sondern im Gegenteil in der erheblichen Distanz der dominierenden Adelsgruppen zu Kultur und Lebenswelten des Großbürgertums liegen, die vor und nach 1918 nur von einer adligen Minderheit überwunden wurde. Die im Adel handlungsrelevanten völkischen und elitären Modelle einer erneuerten Führungsschicht tragen konsequenter Weise deutliche Züge einer Antibürgerlichkeit, die sich vielfach in die Stromkreise der Weimarer Rechten einspeisen ließ. Für große Teile v.a. des norddeutsch-protestantischen Adels führte die hier skizzierte Radikalisierung nahe an oder direkt in die NS-Bewegung. Betont sei erneut der erhebliche Widerstand gegen diesen Kurs, der sich v.a. in Teilen des katholischen Adels in Süddeutschland formierte. Auch wenn sich die Geschichte der Neuen Rechten ideengeschichtlich ohne weiteres in die großen Denkbewegungen der europäischen Zwischenkriegszeit einordnen läßt, dürfte es in Deutschland spezifische soziale, kulturelle und politische Bedingungen gegeben haben, die diese Strömung im Nachkriegsdeutschland zu einer besonders wirkungsvollen, adlig-bürgerlichen Version autoritärer Gesellschaftsmodelle werden ließen. Unter den Bedingungen der deutschen Kriegsniederlage und ihrer Folgen entwickelten adlig-bürgerliche Verbindungen eine Dynamik, der, anders als etwa in England und Frankreich, keine demokratisierbare Alternative mehr gegenüberstand, die von einer neuformierten Elite gestützt worden wäre. Hier dürften sich durchaus Elemente eines deutschen „Sonderweges" aufzeigen lassen. Nicht etwa im Sinne der zurecht verworfenen Feudalisierungsthese, sondern in der Radikalisierung einer neuartigen Koalition, in der ein desintegriertes Bürgertum und ein weiterhin einflußreicher, die politische Führung fordernder Adel nach einer gemeinsamen Geschäftsgrundlage zur „Überwindung" der Demokratie suchen. Dieser Beitrag hat nicht versucht, die Frage nach dem Stellenwert des Adels in dieser Koalition zu beantworten, sondern sie aus einer verän134

Walter GÖRLITZ, Die Junker (wie Anm. 1) S. 373f. Tendenziell ähnlich die diffuse Beurteilung bei HOYNRNGEN-HUENE, (wie Anm. 1), S. 62-74, 92-111. Die o.g. Gegeneinschätzung als Teilergebnis meines laufenden Dissertationsprojektes, neben einer Untersuchung der Adels-Verbände u.a. auf eine umfassende Auswertung der NSDAP-Mitgliederkarteien gestützt.

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derten Perspektive neu zu stellen. Die paradigmatische Vorstellung vom „Bündnis der Eliten" 135 eignet sich zwar zur Erklärung der effektiven Blockierung wichtiger Demokratisierungstendenzen, kann jedoch die Möglichkeiten und schließlich gewählten Wege der größten adligen Teilgruppen nach 1918 nicht mehr angemessen beschreiben. Das Bündnis, das ein großer Teil des Kleinadels nach 1918 eingeht, erinnert eher an die von Hannah Arendt als „Mob" bezeichnete Allianz der „Deklassierten aller Klassen". Arendts anhand der Dreyfus-Affare erarbeitete Analyse jener neuartigen, aggressiven Konstellation und des von ihr gepflegten Stils, die „nach dem Weltkrieg zur Regel wurde[n]", läßt sich auf die in diesem Beitrag behandelte Entwicklung durchaus übertragen. Gerade in den dynamischsten Teilgruppen des Adels findet sich „die Heldenverehrung der Gangster von Seiten der Elite, die Bewunderung jeglicher Grausamkeit, das Bündnis schließlich aller Deklassierten auf der Grundlage des Ressentiments oder der Verzweiflung." 136 Allerdings geht die Annäherung großer Teile des Adels an die N S Bewegung insgesamt auch in diesem Modell nicht auf. Das eigentliche Explanandum bleibt die Tatsache, daß auch sozial weiterhin etablierte Adelsgruppen den völkischen Amoklauf des Kleinadels unterstützten bzw. stirnrunzelnd in Kauf nahmen, wie insbesondere die Geschichte der DAG zeigt. Alle Erklärungen dieses Phänomens werden sich auf die kulturellen Besonderheiten des Adels, seine Traditionen und seinen Familienbegriff einlassen müssen. In einer engen Welt, in der jeder jeden kannte, war die in Jahrhunderten geschmiedete Solidarität der adligen „Gesamtfamilie" und die damit verbundenen Tendenz ideologischer Homogenisierung von größter Bedeutung.

135

136

Fritz FISCHER, Bündnis der Eliten. Zur Kontinuität der Machtstrukturen in Deutschland 1871-1945, Düsseldorf 1979. Hannah ARENDT, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 1986, S. 1 9 5 .

WOLFGANG ZOLLITSCH

Orientierungskrise und Zerfall des autoritären Konsenses: Adel und Bürgertum zwischen autoritärem Parlamentarismus, konservativer Revolution und nationalsozialistischem Führeradel 1928-1933

Eine der Voraussetzungen der Machtübertragung an Hitler war nicht die Stärke, sondern die Schwäche und Fragmentierung der traditionellen Eliten.1 Trotz der weitreichenden Skepsis gegenüber dem Parlamentarismus in fast allen politischen Lagern waren diese Eliten nicht imstande, eine ihren Wünschen und Interessen entsprechende autoritäre Lösung der Staats- und Wirtschaftskrise der Weimarer Republik durchzusetzen. Die tieferen sozialgeschichtlichen Ursachen dieser Schwäche der Eliten verweisen auf die Entwicklung des Konservativismus und seiner Trägerschichten in Adel und Bürgertum. Die Zuspitzung der politischen und ökonomischen Krisen in der Endphase der Weimarer Republik konfrontierte die machtgewohnten Eliten mit Herausforderungen, die die überlieferten Mittel, mit denen sie ihre Führungsstellung legitimierten, zu untergraben drohten. Die Suche nach neuen Lösungsansätzen und politischen Optionen soll im folgenden vom Adel aus betrachtet werden.2 Der Adel war zwar nur eine zahlenDazu ausführlicher Ian KERSHAW, Hitler 1889-1936, Stuttgart 1998, S. 473. Im Rahmen dieser kurzen Skizze kann auf die regionale und strukturelle Differenzierung innerhalb des deutschen Adels nicht eingegangen werden. Der preußische Adel Ostelbiens steht deshalb schon aus Gründen der Quantität im Vordergrund.

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Wolfgang Zollitsch

mäßig kleine Gruppe innerhalb des sozial breiteren Spektrums des Konservativismus, er verkörperte jedoch beispielhaft das konservative Dilemma zwischen Identitätswahrung und Anpassung an eine sich verändernde Gesellschaft. Er stellte zudem in seiner Orientierung am idealisierten preußischen Werthorizont ein wichtiges Element konservativer Traditions- und Identitätsstiftung dar. Insoweit personifizierte sich im Adel jene Preußenmythologie, auf die sich Konservative unterschiedlicher Provenienz auch in Weimar gerne bezogen.3 Das Verhältnis von Adel und Bürgertum in der Weimarer Republik war nicht mehr durch die Konflikte geprägt, die im gesellschaftlichen Formationsprozeß des 19. Jahrhunderts aufgetreten waren. Mit der Weimarer Republik war eine grundsätzlich andere gesellschaftliche und politische Konstellation gegeben. Die Erforschung des Adels im 20. Jahrhundert muß deshalb auf andere Perspektiven und Fragestellungen zielen.4 Inwieweit wirkten sich die überkommenen kulturellen Deutungsmuster des Adels auch in der modernen Gesellschaft aus? Auf welche Weise beeinflussten adelige Prioritäten, Prägungen und Interessen das politische Verhalten des Adels und seine Stellung innerhalb des konservativen Spektrums am Ende der Weimarer Republik? Die Relevanz der adeligen Positionen erschließt sich nicht durch den nostalgisch verbrämten Blick auf ihre elitäre Randexistenz, sie stehen in Wechselwirkung zur bürgerlichen Gesellschaft, und aus diesem Beziehungsgeflecht heraus erhalten sie ihre Bedeutung. Welche Strategien verfolgten Adel und konservativ-bürgerliche Funktionseliten, um ihre herausgehobene Position unbeschadet des politischen und sozialen Wandels halten zu können? Bedienten sie sich dabei gemeinsamer schichtenübergreifender politischer und gesellschaftlicher Deutungsmuster, oder lag das Dilemma der adeligen und bürgerlichen Eliten gerade im Fehlen solcher konsensstiftenden Identifikationsfelder, die Zur Binnendifferenzierung des Adels am Ende von Weimar: Wolfgang ZOLLITSCH, Adel und adelige Machteliten in der Endphase der Weimarer Republik. Standespolitik und agrarische Interessen, in: Heinrich A. WINKLER (Hg.), Die deutsche Staatskrise 1930-1933, München 1992, S. 239-256 (inkl. der anschließenden Diskussion). Karl-Dietrich BRACHER, Dualismus oder Gleichschaltung: Der Faktor Preußen in der Weimarer Republik, in: ders. u.a. (Hg.), Die Weimarer Republik 1918-1933, Bonn 1987, S. 535-551,548. Dazu neuerdings Eckart CoNZE, Adeliges Familienbewußtsein und Grundbesitz. Die Auflösung des Gräflich Bemstorffschen Fideikommisses Gartow nach 1919, in: Geschichte und Gesellschaft 25 (1999), S. 455-479,455.

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eine angemessene Antwort auf die Probleme der bürgerlichen Gesellschaft von Weimar dargestellt hätten? Welche Rückschlüsse ergeben sich fiir die Stellung und Rolle des Adels, wenn die Krise von Weimar auch als Krise der bürgerlichen Gesellschaft in Deutschland gesehen wird?5 Der Adel war im Hinblick auf diese Gesellschaft auf der einen Seite ein Außenseiter, auf der anderen Seite war er auf sie angewiesen, da er im Kontrast zu ihr seine spezifische Eigenart betonen konnte. Auf welche Weise sich adelige Selbstlegitimierung und politische Orientierung in der Krise der bürgerlichen Gesellschaft von Weimar auswirkten und veränderten, kann am Beispiel der Optionen dargestellt werden, auf die sich der Adel in der Endphase von Weimar einließ: Anpassung des traditionellen preußischen Konservativismus an rassistisch-völkische und nationalsozialistische Vorstellungen, Rückzug auf die Rolle als regionale Agrareliten und Interessenausgleich mit den industriell-bürgerlichen Eliten. Die Grenzen zwischen diesen einzelnen Optionen waren gewiß fließend, doch zeigten diese unterschiedlichen Optionen auch, daß sich der Adel des Gegensatzes zwischen angeborenem Führungsanspruch und tatsächlichen Einflußchancen bewußt war und deshalb nach erfolgversprechenden Orientierungen suchte. Diese Konstellation traf nicht nur auf den Adel zu, sondern war ein generelles Problem der konservativen Eliten in der Krise der bürgerlichen Gesellschaft von Weimar. Wenn der Adel unter den verschärften Bedingungen der Staats- und Wirtschaftskrise auf die Kluft zwischen Traditionsbindung und politisch-gesellschaftlichem Wandel reagieren mußte, so galt dies in abgeschwächter Form auch für das konservative Bürgertum. I. Umformung des traditionellen Konservativismus Der adelige Konservativismus, der im Kaiserreich die Deutschkonservative Partei dominiert hatte, fand sich in der neugegründeten Deutschnationalen Volkspartei nur bedingt wieder. Die DNVP war sozial viel heterogener zusammengesetzt als die konservative Partei des Kaiserreiches. Das bürgerlich-mittelständische und industrielle Element hatte ein stärkeres Gewicht bekommen zu Lasten des adeligen und

Zu diesem Erklärungsansatz Lutz NIETHAMMER u.a., Bürgerliche Gesellschaft in Deutschland, Frankfurt a. M. 1990, bes. S. 437.

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agrarisch-ostelbischen.6 Die Vorbehalte der alten adeligen Agrareliten gegenüber der DNVP zeigten sich am Bestreben, den Hauptverein der Deutschkonservativen des Kaiserreiches, der im monarchistischen Milieu des ostelbischen Preußen verwurzelt war, weiterhin am Leben zu erhalten.7 In diesem exklusiven Zirkel blieb der ostelbische Adel weitgehend unter sich und konnte das Wunschbild, zur elitären Führung berufen zu sein, weiter pflegen, dem innerhalb der DNVP nicht in dem vom Adel gewünschten Maße entsprochen wurde. In seinem Selbstgefühl erschien dieser Adel noch ungebrochen. Die traditionellen Lebensgrundlagen und Wertvorstellungen des ländlichen Adels waren trotz Revolution und Weimarer Demokratie keinem grundsätzlichen Wandel unterzogen worden. Diese Entwicklungen hatten die Distanz zur bürgerlich modernen Welt eher noch verstärkt. Der politische Einfluß des Hauptvereins der Deutschkonservativen blieb jedoch auf sein elitär-agrarisches Milieu beschränkt. Dessen ideologische Vorstellungswelt spiegelte er in hohem Maße wieder. Dazu gehörte auch die reservierte Haltung gegenüber der sozial heterogenen DNVP und deren Kurs, der sie als Koalitionspartei zur zeitweiligen Annäherung an die verhaßte Weimarer Republik führte. Der Hauptverein lehnte diese „prinzipienlose Opportunitätspolitik" der DNVP ab und er versuchte, die Partei im alten monarchisch-deutschkonservativen Sinne wieder umzuformen. Da die Bestrebungen des Hauptvereins jedoch bis 1928 wenig Resonanz fanden, radikalisierte sich eine Gruppe innerhalb des konservativen Traditionsverbandes um den Grafen Arnim-Boitzenburg und trat offen für eine „nationale Diktatur" ein. Der elitäre Dünkel der adeligen Großgrundbesitzer richtete sich dabei nicht nur gegen die „Parteipolitik", als deren Teilhaber man die DNVP ansah, sondern auch gegen die Interessenorganisationen der Landwirtschaft, deren klein- und mittelbäuerlicher Basis man egoistische Motive und darüber hinaus „Junkerhetze" vorwarf.8 Aristokratisches Sendungsbewußtsein gepaart mit fehlender politischer Resonanz bestärkte diese landbesitzenden Adeligen in ihrer Außenseiterposition, sowohl gesellschaftlich wie politisch. Erst mit der Über-

6

7

8

Anneliese THIMME, Flucht in den Mythos. Die Deutschnationale Volkspartei und die Niederlage von 1918, Göttingen 1969, S. 27f. Jens FLEMMING, Konservatismus als „nationalrevolutionäre Bewegung". Konservative Kritik an der Deutschnationalen Volkspartei 1918-1933, in: Dirk STEGMANN u.a. (Hg.), Deutscher Konservatismus im 19. und 20. Jahrhundert, Bonn 1983, S. 295-331,301. Ebd. S. 316.

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nähme des DNVP-Vorsitzes durch Alfred Hilgenberg, die einen tiefgreifenden Kurswechsel markierte, konnte sich der landbesitzende Adel stärker Gehör verschaffen. Nunmehr bestimmte endgültig die republikfeindliche Fundamentalopposition die Linie der DNVP. Mitinitiator dieses Kurswechsels war, neben dem überwiegend bürgerlich geprägten Alldeutsche Verband, gerade der Hauptverein der Deutschkonservativen gewesen, der im Adelsmilieu Ostelbiens seine Stütze hatte. Im Gegensatz zum Kaiserreich waren es jetzt traditionsbewußte Kräfte des Adels, die aktiv daran mitwirkten, den Konservativismus in die völkisch-nationalistische Ecke zu drängen, um ihn als nationalrevolutionäre Bewegung zu „modernisieren". Damit löste sich der altpreußische Konservativismus von seinen Wurzeln, um in einer umfassenderen Formation der sich radikalisierenden Rechten aufzugehen.9 Daß man bereit war, Traditionsballast abzuwerfen, zeigte sich schon an der Umbenennung in „Hauptverein der Konservativen". Dieser sollte nunmehr im Gleichschritt mit dem bürgerlich-alldeutschen Lager zum Kristallisationskern eines neuen, massenwirksameren Konservativismus werden.10 In dieser Konstellation setzte jedoch der aristokratische Konservativismus seine traditionellen Überzeugungen und Bindungen aufs Spiel, die er durch diesen Schritt eigentlich zu bewahren trachtete. Denn anders als im Kaiserreich war der Adel nicht mehr in ein stabilisierendes Gefüge aus monarchischer Loyalität und status-quo-Wahrung eingebunden, sondern verstand sich als gegenrevolutionäre Kraft, die mit der Destabilisierung von Weimar Energien freisetzte, die nicht mehr zu kontrollieren waren und schließlich die eigene Identität gefährdeten. Das Zusammenspiel des elitären adeligen Konservativismus mit der alldeutsch-bürgerlichen Rechten entsprang dem gemeinsamen Haß auf die Weimarer Republik und war keineswegs als eine soziale Öffnung des traditionellen Adels auf Teile des Bürgertums hin angelegt. Diese Option richtete sich nicht an den Problemen der bürgerlichen Gesellschaft von Weimar aus, sondern sie nahm nur Entwicklungen auf, die sich bereits im Kaiserreich herauskristallisiert hatten. Im Anschluß an 9

10

Geoff ELEY, Konservative und radikale Nationalisten in Deutschland: Die Schaffung faschistischer Potentiale 1912-1928, in: ders., Wilhelminismus, Nationalismus, Faschismus. Zur historischen Kontinuität in Deutschland, Münster 1991, S. 209-247, 235; Heidrun HOLZBACH, Das „System Hugenberg". Die Organisation bürgerlicher Sammlungspolitik vor dem Aufstieg der NSDAP, Stuttgart 1981, S. 228f. FLEMMING, Konservatismus (wie Anm. 7), S. 323.

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die mit der Person Hugenbergs verbundene bürgerliche Rechte konnte der Adel seine eigenen alldeutschen, rassistisch-antisemitischen und entschieden antirepublikanischen Ressentiments nunmehr offen nach außen tragen.11 Insoweit wirkte sich diese Begegnung mit dem Bürgertum politisch radikalisierend aus. Der Anspruch des Adels auf eine gesellschaftliche Führungsrolle wurde so zwar lautstärker, aber doch nicht mit neuen Argumenten vertreten. Der Stellenwert der adeligen Geburtselite im Vergleich zur bürgerlichen Leistungselite und das Verhältnis des Adels zur bürgerlichen Gesellschaft insgesamt standen nicht zur Debatte. Die Erosion des traditionellen Konservativismus ermöglichte es dem Adel, auf der Bühne der extremen Rechten mitzumischen, die eigene elitäre Selbstisolierung aufzubrechen, aber die vom Adel so hochgehaltene Wertorientierung und historische Selbststilisierung wurde dadurch zusehends unglaubwürdig. Genau dies empfanden prinzipienfeste preußische Adelige, die dem Wertewandel innerhalb ihres Standes mit Skepsis und wachsender Ratlosigkeit gegenüberstanden. Einer von ihnen, der brandenburgische Landadelige Bodo von der Marwitz zum Beispiel, hielt an den durch Familientradition überlieferten Werten und Denkmustern fest, verließ deshalb die DNVP Hugenbergs, verweigerte sich dem völkisch-antisemitischen und nationalsozialistischen Zeitgeist, stand aber auch der modernen bürgerlichen Gesellschaft fern. Dafür fand er am Ende der Weimarer Republik keine politische Orientierung mehr und zog es deshalb vor, sich im März 1933 nicht mehr an der Reichstagswahl zu beteiligen. Als Maßstab blieben ihm allein die Ideale der preußisch-monarchischen Vergangenheit und die daraus erwachsene historische Verantwortung des Adels, eine Haltung, die mit der politischen Realität nicht in Einklang zu bringen war. 12 Adelige, die ihre politische Sozialisation während des Ersten Weltkrieges oder in der antirevolutionären Stimmung unmittelbar nach 1918 erfahren hatten, sahen in der politischen Gedankenwelt des Kai11

12

Zum Antisemitismus im Adel Georg H. KLEINE, Adelsgenossenschaft und Nationalsozialismus, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 26 (1978), S. 100-143, 110 und den Beitrag von Stephan MALINOWSKI in diesem Band. Brandenburgisches Landeshauptarchiv Potsdam, Rep. 37, Friedersdorf, Nr. 640: Bodo von der Marwitz, Fragebogen zur Entnazifizierung, sowie Wolfgang ZOLLITSCH, Die Erosion des traditionellen Konservativismus. Ländlicher Adel in Preußen zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik, in: Dieter DOWE u.a. (Hg.), Parteien im Wandel vom Kaiserreich zur Weimarer Republik. Rekrutierung - Qualifizierung - Karrieren, München 1999, S. 169-190, 190.

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serreiches oft keine Orientierung mehr. Die Ablehnung des überlieferten Konservativismus und die Hinwendung zu völkischen und nationalistischen Gruppierungen oder schließlich auch die frühe Parteinahme für die Nationalsozialisten ging einher mit der Kritik an der vorgeblich lethargischen und „unpolitischen" Haltung der eigenen Standesgenossen. Diese Sichtweise war vor allem unter jüngeren Adeligen anzutreffen, die befürchteten, daß der traditionelle Habitus des Adels unter den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen ab 1918 zum reinen Selbstzweck zu werden drohte und die deshalb den Begriff des Adels mit neuem Inhalt zu füllen versuchten. Beispiele hierfür finden sich in zahlreichen Artikeln des Organs der Deutschen Adelsgenossenschaft, dem „Deutschen Adelsblatt", wo dem Adel die Rolle einer Führungsund Galionsfigur der völkisch-nationalistischen Bewegung und des Trägers neuer sittlicher und politischer Begriffe jenseits der liberalen Demokratie zugedacht wurde.13 Ahnlich argumentierte auch der spätere Widerstandskämpfer Fritz-Dietloff von der Schulenburg, der den Einsatz für den Nationalsozialismus als eigentliche Führungsaufgabe des Adels ansah, da über die NSDAP preußische Traditionen und moderne Massengesellschaft in Einklang gebracht werden könnten.14 Verlockend erschien es vielen Adeligen, daß der Nationalsozialismus mit dem Schlagwort vom „Neuadel aus Blut und Boden" an die Kategorien anknüpfte, mit denen sich der Adel von der bürgerlichen Gesellschaft absetzte. Die Chance für eine Renaissance des alten Adels und für eine neue Führungslegitimation im Zusammenwirken mit der NSDAP sahen nicht nur Angehörige der jüngeren Generation, auch ältere Adelige, selbst aus dem Hochadel, wollten diese Option als vielversprechende Zukunftsperspektive nutzen. Es waren also nicht nur Angehörige des verarmten „Adelsproletariats", ohne nennenswerten Landbesitz und ohne Zugang zu den etablierten Berufsfeldern des Adels, die ihre Hoffnungen auf den Nationalsozialismus setzten.15 Dem landbesitzenden Adel Ostelbiens kam darüber hinaus entgegen, daß sich die NS-Agrarbewegung zunehmend als Interessenvertretung der Landwirtschaft etablierte und die Forderungen nach umfassendem agrarischem Bestandsschutz, eine traditionelle Domäne des ostelbischen Adels, lautstark vertrat.

13 14

15

KLEINE, Adelsgenossenschaft (wie Anm. 11), S. 113 f. Ulrich HEINEMANN, Ein konservativer Rebell. Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg und der 20. Juli, Berlin 1990, S. 27 ff. Dazu auch ZOLLITSCH, Adel (wie Anm. 2), S. 246.

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Der Versuch von Teilen des Adels, durch eine Annäherung an den Nationalsozialismus aus der ständisch geprägten gesellschaftlichen Isolation auszubrechen und die NS-Massenbewegung als Vehikel für den eigenen Führungsanspruch nutzbar zu machen, übersah die offensichtlichen Widersprüche im Verhältnis von Adel und Nationalsozialismus und erwies sich schließlich als reines Wunschdenken. Das Einschwenken auf die nationalsozialistische Neuadels-Mythologie bestärkte den Adel in seiner Sonderrolle und vertiefte eher den Graben zu bürgerlichen Schichten. Aber die antifeudalen Ressentiments im Nationalsozialismus, die vor allem auf Seiten der bäuerlichen Basis der NS-Agrarbewegung zum Ausdruck kamen, deuteten an, daß den Führungsambitionen des Adels innerhalb des Nationalsozialismus enge Grenzen gesetzt waren.16 So bedienten sich die Nationalsozialisten nur zeitweise adeliger Galionsfiguren, um im agrarischen Verbandswesen Fuß zu fassen, langfristig waren sie aber nicht bereit, den adeligen Agrareliten das Feld zu überlassen. II. Statusverlust als regionale Agrarelite Als Grundlage adeligen Selbstverständnisses und adeliger Lebensgestaltung galt gemeinhin der Landbesitz.17 Deshalb konzentrierte sich der landbesitzende Adel Ostelbiens nach dem politischen Bedeutungsverlust ab 1918 vorrangig darauf, seine ökonomische und soziale Stellung auf dem Lande zu konsolidieren. Die bereits beschriebene politische Umorientierung im Adel hatte ihre tieferen Ursachen in langfristigen Entwicklungen, die vor allem den ökonomischen und sozialen Status des landbesitzenden Adels in Ostelbien gefährdeten. Die Politisierung breiterer Schichten in den rückständigen Landgebieten, die mit der nationalsozialistischen Agrarbewegung einherging, kam nicht von 16

17

Zu antifeudalen Ressentiments im Nationalsozialismus Wolfram PYTA, Dorfgemeinschaft und Politik 1918-1933. Die Verschränkung von Milieu und Parteien in den protestantischen Landgebieten Deutschlands in der Weimarer Republik, Düsseldorf 1996, S. 337 ff. Die geradezu klassische Definition lieferte 1925 Ewald v. KLEIST-SCHMENZIN: „Auf einem Gebiet muß der Adel seine Stellung ganz besonders sorgfältig wahren, nämlich auf dem Lande. In einem großen Landbesitz liegen die Wurzeln seiner Kraft und werden sie immer liegen. Die Führung auf dem Lande darf nie verloren werden." Zit. nach Hans ROSENBERG, Die Pseudodemokratisierung der Rittergutsbesitzerklasse, in: DERS., Machteliten und Wirtschaftskonjunkturen. Studien zur neueren deutschen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Göttingen 1978, S. 83-101,100.

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ungefähr. Auf längere Sicht war die Bindungskraft patriarchalischer Abhängigkeitsstrukturen im Schwinden. Die Auflösung der Gutsbezirke durch die preußische Regierung im Jahre 1927 war mehr als ein Indiz. Auch wenn die großen adeligen Güter nicht im Zentrum der Gutsbezirksreform standen, waren sie von dieser Maßnahme doch betroffen, wie den daraus resultierenden heftigen Auseinandersetzungen zu entnehmen war. Die Kommunalisierung obrigkeitlicher Verwaltungsstrukturen auf dem Land beendete die privilegierte gutsherrliche Sonderentwicklung und schuf Raum für eine Neuorientierung der politischen Loyalitäten in den vormaligen Gutsdörfern. An die Auflösung der Gutsbezirke schloß sich vielfach ein langjähriger Streit um Gemeindesteuern und um die Aufteilung ehemals gutsherrlicher Rechte und Pflichten zwischen Landgemeinde und Gutsbesitzer an, ein Konflikt, der zwar nicht der Auslöser, aber doch ein Indiz fur das veränderte soziale Beziehungsgeflecht zwischen Gutsadel und ländlicher Bevölkerung war. 18 Bürgerliche Gutsbesitzer sahen diesen Konflikt im übrigen oft viel pragmatischer, da sie froh waren, ungeliebte soziale und infrastrukturelle Lasten auf die Gemeinde abwälzen zu können. Die im selben Jahr einsetzende Agrarkrise schmälerte den Einfluß des landbesitzenden Adels in doppelter Hinsicht. Der adelige Landbesitz nahm infolge dieser Krise in erheblichem Maße ab, dagegen vergrößerte sich nicht zuletzt wegen der Siedlungspolitik der Anteil der kleinund mittelbäuerlichen Betriebe.19 Dabei war zu beobachten, daß die adeligen Grundeigentümer bestrebt waren, zumindest den Familienbesitz zu erhalten und Mehrfachbesitz, der oft zur Versorgung der Familienmitglieder gedacht war, abzustoßen. Der verbleibende adelige Landbesitz war darüber hinaus ökonomisch entscheidend geschwächt und zu sozialen Abbaumaßnahmen gezwungen, womit ein weiteres Spannungselement in das Verhältnis von Adel und Landbevölkerung einzog.

Dokumentiert ist dieser Konflikt z.B. im Fall des bereits erwähnten Bodo von der Marwitz: Brandenburgisches Landeshauptarchiv Potsdam, Rep. 37, Friedersdorf, Nr. 140. Mit ähnlicher Einschätzung Thomas NABERT, Der Großgrundbesitz in der preußischen Provinz Sachsen 1913-1933, Köln u.a. 1992, S. 97f. Berechnungen auf Grund der Landwirtschaftlichen Adreßbücher der Provinz Pommern (7. Aufl. Leipzig 1922, 8. Aufl. 1928, 9. Aufl. 1939). Als ein durchaus repräsentatives Beispiel der Kreis Demmin, Adelsgüter über 100 ha: 1922 62 Güter/40.581 ha Gesamtfläche, 1928 59/39.920, 1939 38/28.624. Als genereller Überblick (ohne Adelsanteil) Landwirtschaftliche Betriebszählung. Die land- und forstwirtschaftlichen Betriebe nach Betriebsgröße, Besitzverhältnissen und Viehhaltung, hg. V. Statistischen Reichsamt, Berlin 1937 (Statistik des Deutschen Reichs Bd. 459), S. 1/54.

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Bauernprotest und soziale Unzufriedenheit auf dem Land, nicht selten mit antiaristokratischer Stoßrichtung versehen, erschütterten die überlieferte Hierarchie vollends. Die nationalsozialistische Landbewegung verlieh dieser Grundstimmung Ausdruck und nutzte sie für ihre strategischen Ziele. Auf breiter Front bröckelten die Bastionen adeligen Einflusses im lokalen und regionalen Gefüge, in den Selbstverwaltungsgremien, in Landbünden und Landwirtschaftskammern. 20 Das informelle Netz besonderer Klientel- und Sozialbeziehungen, dessen sich auch der Adel bedient hatte, der sich parteipolitisch nicht exponieren wollte, verlor zusehends an Festigkeit. Damit gerieten auch die politischen Bindungen und Orientierungen des Adels in Fluß. Der für das adelige Selbstverständnis so wichtige Dreiklang von Tradition, Landbesitz und Elitenposition erwies sich als gestört. Wenn fest geprägte Wertorientierungen und Lebensperspektiven so ins Rutschen gerieten, Tradition und adelige Identität erschüttert wurden, die gewohnten Verhaltensmuster den neuartigen Herausforderungen nicht mehr entsprachen, konnten irrationale Übersteigerung und ideologische Fehldeutungen an ihre Stelle treten. Die von eigenen Standesgenossen zum Beispiel im „Deutschen Adelsblatt" vielfach geäußerte Kritik am Adel oder die Übernahme von nationalsozialistischen „Neuadels"-Ideen waren in diesem Sinne keine längst überfälligen Anpassungen des adeligen Selbstverständnisses an die Erfordernisse der modernen Gesellschaft, sondern eher Panikreaktionen einer zutiefst verunsicherten gesellschaftlichen Schicht, auf deren Basis kaum ein Brückenschlag zum Bürgertum möglich war. Angesichts der Gefahrdung seines ökonomischen und sozialen Status gelang es dem landbesitzenden Adel nicht mehr, seine Position als regionale Agrarelite aus eigener Kraft zu halten. Die nationalsozialistische Agrarbewegung agierte als überlegener Konkurrent, und dem Adel gelang es nur unter Preisgabe traditioneller Orientierungen, an die neue Bewegung im agrarischen Milieu Anschluß zu halten. Auf Unterstützung aus dem bürgerlich-industriellen Sektor konnte der landbesitzende Adel bei seinem im Kern antimodernen agrarprotektionistischen Kurs der Statussicherung nicht hoffen. Denn eine Rückkehr zum Agrarstaat war allzu offensichtlich kein geeignetes Mittel, um die wirtschaftlichen Probleme eines fortgeschrittenen Industriestaates zu lösen.

20

Siehe die ausführliche Darstellung bei Stephanie MERKENICH, Grüne Front gegen Weimar. Reichslandbund und agrarischer Lobbyismus 1918-1933, Düsseldorf 1998, S. 319 ff. und PYTA, Dorfgemeinschaft (wie Anm. 16), S. 360 ff.

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III. Das Konzept des Elitenkonsenses Innerhalb des Adels gab es jedoch auch kompromißbereite Kräfte, die versuchten, dem Adel in der modernen bürgerlichen Gesellschaft Resonanz zu verschaffen. Nur im Konsens mit den konservativ-bürgerlichen Eliten in Regierung, Ministerialbürokratie und Industrie sahen diese Adeligen die Gewähr, ihre eigenen Führungsansprüche verwirklichen zu können und den Funktionsverlust des alten Adels aufzuhalten. Eine Fundamentalopposition à la Hugenberg erschien dagegen eher als kontraproduktiv, und die Durchsetzung der vor allem agrarpolitischen Interessen des landbesitzenden Adels setzte, so die Erkenntnis, die Bereitschaft zur begrenzten Mitarbeit am parlamentarischen System voraus. Diese Kreise waren bis 1930/31 vor allem noch in den Führungsgremien von Reichslandbund und regionalen Landbünden zu finden.21 Aus der DNVP waren sie 1930 als gemäßigt konservative Gegner Hugenbergs gedrängt worden, obwohl sie selbst keine erklärten Freunde der Weimarer Republik waren. Diese gemäßigten, „gouvernementalen" Konservativen vertraten, dem eigenen Anspruch nach, das Ziel einer nicht parteilichen, „sachorientierten" Politik und versuchten die unterschiedlichen Interessen der konservativen Funktionseliten in Wirtschaft und Staat auszugleichen, um damit dem Konservativismus einen neuen Rahmen zu geben, in dem sich sowohl industriegesellschaftliche Modernisierung wie politische Reaktion unterbringen ließen. Als Keimzelle dieser neokonservativen Bestrebungen verstanden sich exklusive Organisationen wie der „Deutsche Herrenclub" oder der „Bund zur Erneuerung des Reiches", in denen Angehörige der alten gesellschaftlichen Elite und der neuen wirtschaftlichen und administrativen Funktionselite den autoritären Umbau der Weimarer Republik planten und neue Elitenkonzepte entwarfen, die auf die Bedingungen der Massengesellschaft ausgerichtet sein sollten.22

21

22

Zu den „gouvernementalen" Agrariern Dieter GESSNER, Agrarverbände in der Weimarer Republik, Düsseldorf 1976, S. 262. Zum „Herrenclub" Manfred SCHOEPS, Der Deutsche Herrenclub. Ein Beitrag zur Geschichte des Jungkonservativismus in der Weimarer Republik, phil. Diss. Erlangen 1974 sowie der Beitrag von Stephan MALINOSWKI in diesem Band. Zum „Bund zur Erneuerung des Reiches" Wolfgang ZOLLITSCH, Das Scheitern der „gouvernementalen" Rechten. Tilo von Wilmowsky und die organisierten Interessen in der Staatskrise von Weimar, in: Wolther v. KŒSERITZKY U. Klaus-Peter SICK (Hg.), Demokratie in Deutschland. Chancen und Gefährdungen im 19. und 20. Jahrhundert, München 1999, S. 254-273, 259 f.

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Eine Schlüsselfigur dieses neokonservativen Kommunikationskreises von Seiten des Adels war der provinzialsächsische Landadelige Tilo von Wilmowsky, der als Schwager von Krupp den industriellen Eliten nahe stand, wie als prominentes Mitglied der Führung des Reichslandbundes über ausgezeichnete Kontakte zu den Agrareliten verfügte. Darüber hinaus gehörte er zum Führungszirkel des „Herrenclubs" und des „Bundes zur Erneuerung des Reiches". An der Schnittstelle von Industrie und Landwirtschaft agierte der ebenfalls von Wilmowsky mitorganisierte „Esplanade-Kreis" namhafter Ruhrindustrieller und agrarischer Spitzenfunktionäre, der die Interessenkonflikte zwischen Agrar- und Industriestaat, zwischen agrarischen und industriellen Eliten und, zugespitzt, zwischen vormodernem Adel und industriellem Bürgertum ausgleichen sollte.23 Dieser Elitenkonsens galt als Voraussetzung für die Bildung einer breiten bürgerlich-konservativen Sammlungsbewegung, die das politische Koordinatensystem der Weimarer Republik dauerhaft nach rechts verschieben sollte. Von daher rührte auch die Ablehnung des Hugenberg-Kurses, der zur Polarisierung innerhalb des Konservativismus führte. Die Kursbestimmung des Konservativismus konnte und wollte man nicht allein den ideologischen Scharfmachern wie Hugenberg überlassen, weil dies die Basis zur Durchsetzung der eigenen Interessen, auch im Hinblick auf die Reichsregierung, geschmälert hätte. Ein breiter konservativ-bürgerlicher Konsens setzte voraus, daß traditionelle Orientierung und industriegesellschaftliche Prioritäten miteinander in Einklang gebracht wurden und daß, bezogen auf die politische Konstellation der Jahre 1930-1932, Einfluß auf die Präsidialregierung Brünings ausgeübt werden konnte. Diese Option eines neuen Elitenkonsenses zwischen Adel und Bürgertum, zwischen Industrie und Landwirtschaft scheiterte jedoch an den sich vertiefenden Interessengegensätzen und der fehlenden gesellschaftlichen Basis dieses Konzeptes. Nicht ohne Grund verlor der maßgebende „Deutsche Herrenclub" bis 1932 viele bürgerliche Mitglieder.24 Die Vertreter eines adeligen Brückenschlages zum industriellen Bürgertum erwiesen sich angesichts der tiefsitzenden antimodernen und antirepublikanischen Ressentiments ihrer Standesgenossen als Außenseiter, deren kompromißbereiter Kurs nur so lange Gehör fand, wie die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen der Landwirtschaft 23 24

Zu Wilmowsky und seinen vielfältigen Aktivitäten s. ebd. Der Adelsanteil stieg dementsprechend von 1930 (46%) auf 1932 (58%): SCHOEPS, H e r r e n c l u b ( w i e A n m . 2 2 ) , S. 4 8 .

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stimmten. Die ideologische Vorstellungswelt des ländlichen Adels Ostelbiens spiegelte der bereits genannte Hauptverein der Deutschkonservativen in weit stärkerem Maße wider. Diese Einschätzung bestätigte sich spätestens 1931 durch den Kurswechsel innerhalb des Reichslandbundes. Die „gouvernementalen" Agrarkonservativen wurden durch DNVP- und NSDAP-Anhänger aus ihren bisherigen Leitungspositionen in den landwirtschaftlichen Regionalverbänden und im Reichslandbund gedrängt und verloren damit die Kontrolle über die Gestaltung der agrarischen Interessenpolitik. Doch auch die Hugenberg-Gefolgsleute konnten sich nicht längerfristig etablieren und wurden unter Ausnutzung des durch die Agrarkrise geweckten bäuerlichen Protestpotentials von der nationalsozialistischen Konkurrenz überspielt, der sich mittlerweile auch regional prominente Adelige angeschlossen hatten. Die adeligen Galionsfiguren der NS-Agrarbewegung gaben ihrerseits jedoch nur ein kurzes Gastspiel. Sie mußten schließlich ebenfalls dem Machtanspruch der NS-Bewegung weichen, die nicht bereit war, den alten Agrareliten das Feld zu überlassen.25 Auch im Hinblick auf das Ziel einer bürgerlich-konservativen Sammlungsbewegung erwiesen sich die Vertreter des neuen Elitenkonsenses als Generalstabsoffiziere ohne Armee. Der Versuch Wilmowskis und seiner industriellen Freunde, die gesellschaftliche Basis der Präsidialregierung Brünings nach rechts zu erweitem, um nicht mehr auf die Tolerierung durch die Sozialdemokratie angewiesen zu sein, blieb im Planungsstadium stecken. Die Erosion im konservativen Lager war nicht mehr aufzuhalten. Hugenberg führte die DNVP in die Isolation. Die Bemühungen, den DNVP-Vorsitzenden durch eine flexiblere Persönlichkeit, wie zum Beispiel Goerdeler, zu ersetzen, blieben fruchtlos. Das Bild, das die konservative Rechte, einschließlich der DNVP, im Sommer 1932 bot, wurde selbst von Wilmowski und seinen industriellen Gesinnungsgenossen als passiv und lethargisch empfunden.26 Mit der Kanzlerschaft Papens war zwar der ersehnte Umbau von Weimar nähergerückt, aber die notwendige breitere gesellschaftliche Basis war nicht vorhanden. Die andere Option, Instrumentalisierung der NS-Anhängerschaft und damit Zähmung der NSDAP, war angesichts der Stärke und des unumschränkten Machtwillens dieser Partei höchst problematisch geworden. Hinzu kam, daß innerhalb der Regierung Papen der Dissens zwischen agrarischen und industriellen Interes25

MERKENICH, Front (wie Anm. 20), S. 304f.; ZOLLITSCH, Adel (wie Anm. 2), S. 248f.

26

ZOLLITSCH, Scheitern ( w i e A n m . 2 2 ) , S. 267.

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sen wieder aufbrach. Die Partikularinteressen der Landwirtschaft, die von der extremen Rechten inzwischen mit viel weitergehenden strategischen Zielen verknüpft wurden, waren nicht mehr kompromißfahig. Der Konsens zwischen alten Agrar- und bürgerlich-industriellen Eliten war damit in weite Ferne gerückt. Es waren jedoch nicht nur die widrigen politischen Umstände, die das neokonservative Elitenkonzept scheitern ließen, auch das zwiespältige Verhältnis zur Weimarer Republik trug seinen Teil dazu bei. Die Protagonisten dieser Gruppe definierten ihre Politik als „sachorientiert" und ideologiefern und unterhielten enge Kontakte zu den jeweiligen Reichsregierungen, ein Umstand, der ihnen in der Forschungsliteratur die Bezeichnung „gouvernemental" eingetragen hat.27 Wenn „Gouvernementalismus" nach einer zeitgenössischen Definition von Sigmund Neumann „Einsatz für die legale Ordnung"28 bedeutete, dann erscheint diese Charakterisierung angesichts der ablehnenden Haltung zur Weimarer Republik aber zumindest als fragwürdig. Das grundsätzliche Dilemma dieser konservativen Position lag damit auf der Hand. Antirepublikanischer Vorbehalt und neokonservativer Umbau der Republik auf der einen Seite und vorgeblich „sachorientierte" Interessenpolitik im bestehenden institutionellen Rahmen der Republik auf der anderen Seite waren letzten Endes kontraproduktiv und auch schwer zu vermitteln. Außerhalb des republikanischen Konsenses stehend konnten deshalb die Neokonservativen in der Endphase von Weimar keine auf der bestehenden Ordnung fußende überzeugende Alternative entwickeln und als antirepublikanische Kraft waren sie der extremen Rechten unterlegen. IV. Die Distanz zwischen adeligen und bürgerlichen Eliten Adel und konservatives Bürgertum verfügten in der Krise der bürgerlichen Gesellschaft von Weimar nicht über die Geschlossenheit, um eigenständige Lösungen durchzusetzen. Der Adel selbst bot kein homogenes Erscheinungsbild. Vielmehr war er in der Endphase der Weimarer Republik Veränderungen ausgesetzt, die auf einen rapiden Bedeutungsverlust hinwiesen. Der konservative Adel des östlichen Preußen wurde, politisch zersplittert und ökonomisch geschwächt, in seiner sozialen Hegemonie auf dem Lande bedroht. Damit wurden 27 28

Siehe Anm. 21. Sigmund NEUMANN, Die deutschen Parteien. Wesen und Wandel nach dem Kriege, Berlin 1932, S. 68.

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auch die Grundüberzeugungen und -konstanten, die dieses Milieu prägten, in Frage gestellt und es wurde die im weitesten Sinne „kulturelle" Ausstrahlung des Adels 29 in Mitleidenschaft gezogen. Denn sein spezifisches Lebenskonzept war ökonomisch gefährdet, seine traditionelle Orientierung zeigte Risse und in seinem angestammten Revier war er mit einer überlegenen politischen Konkurrenz, dem Nationalsozialismus, konfrontiert. Adeliges und bürgerliches Elitenmilieu erwiesen sich trotz mancher Überschneidungen letztendlich als voneinander abgeschottet. Vor allem der Adel konnte sich von der Eigendynamik seiner überlieferten Deutungsmuster nicht ablösen. Die Mehrheit des Adels blieb trotz der Gefährdung seines Milieus den milieuspezifischen Prägungen verhaftet und konnte sich nicht auf die Gemeinsamkeiten mit den bürgerlichen Eliten besinnen. Verlockender erschien vielmehr ein Zusammengehen mit den politischen Kräften, die den Adel in seiner antimodernen Haltung bestärkten und bei denen der adelige Führungsanspruch eine ungebrochene Wirkung zu entfalten schien. So mußte der Adel nicht grundsätzlich mit seiner „angeborenen" Orientierung brechen, sondern konnte sie in gleichsam radikalisierter Form fortwirken lassen. Eine Neudefinition des Adels im Bündnis mit den bürgerlichen Eliten stellte sich nur für wenige Standesgenossen als Option dar. Die Mehrheit des Adels blieb weiterhin dem Selbstgefühl als Geburtselite verhaftet, um so mehr, als der Adel in der Weimarer Republik seinen Sonderstatus und seine adelsspezifischen Tätigkeitsfelder in der hohen Bürokratie verloren hatte. Selbst als Agrarelite sah er sich gegen Ende von Weimar in seiner sozialen Stellung bedroht. In seinem Eliteanspruch somit geradezu in den Wartestand gedrängt, war für den Adel eine andere Interessenlage gegeben als für die bürgerlichen Machteliten, um seine Elitenstellung zu legitimieren. Diese unterschiedliche Ausgangslage war mit ein Grund dafür, daß der Adel schon aus seinem standesideologisch geprägten Elitenverständnis heraus kaum auf Gemeinsamkeiten mit den bürgerlichen Eliten setzte. Daß Adel und konservativ-bürgerliche Eliten beide den autoritären Bruch mit der Weimarer Republik wollten und sich in diesem Ziel radikalisierten, spricht nicht gegen die These von der Elitenfraktionierung.30 Denn trotz dieser gemeinsamen Haltung gründeten beide Gruppen in unterschiedlichen 29

30

Zum Problem der „kulturellen Hegemonie" des Adels Hans-Ulrich WEHLER, Einleitung, in: OERS. (Hg.), Europäischer Adel 1750-1950, Göttingen 1990, S. 9-18, 17. So auch KERSHAW, Hitler (wie Anm. 1 ), S. 473.

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kulturellen Milieus, denen es immer weniger gelang ihre gegenseitige Fremdheit und ihre divergierenden ökonomischen Interessen zu Kompromißlösungen zu führen. Die Radikalisierung des traditionellen Konservativismus vertiefte schließlich die Distanz des Adels zur bürgerlichen Gesellschaft und verengte seinen politischen Handlungsspielraum. Sie bestärkte zum Beispiel den landbesitzenden Adel in seinen agrarpolitischen Maximalpositionen, und verhinderte damit den durchaus möglichen Ausgleich mit dem industriellen Bürgertum. Denn industrielle Spitzenvertreter hatten durch ihre Mitwirkung an der Osthilfegesetzgebung signalisiert, daß ihnen durchaus an einer Zusammenarbeit mit den agrarischen Eliten gelegen war, um das konservative Lager auf eine einheitliche Linie zu bringen.31 Die Erosion bzw. Radikalisierung des traditionellen Konservativismus durchkreuzte alle Planungen, die auf einen einheitlichen konservativ-bürgerlichen Block hinzielten und schwächte zugleich den Geltungsanspruch des Konservativismus, dem gesellschaftlichen Wandel ein soziales Leitbild historisch begründeter Stabilität entgegenzustellen. Der konservative Traditionalismus mußte, wenn er sich als antirepublikanische Kraft offen gegen die Weimarer Republik richtete, gegenrevolutionäre Aktivitäten entfalten, die ebendiese konservative Identität aushöhlten und zu Überschneidungen mit der extremen Rechten führten. Die von ihrem Anspruch her historisch legitimierten traditionellen Führungsschichten verloren damit ihr eigenständiges Erscheinungsbild. Eine neue Führungslegitimation erwarben sie jedoch durch diesen Anpassungskurs an die radikale Rechte kaum. Dazu war der Adel in seiner Außenwirkung zu sehr auf sein traditionelles Erscheinungsbild als rückwärtsgewandter Ideenverwalter des Kaiserreiches festgelegt. Zur Führungselite in neuen politischen Bewegungen, die auf Massenmobilisierung ausgerichtet waren, fehlte ihm deshalb die Überzeugungskraft. In seiner Distanz zur modernen Gesellschaft war er auch nicht dazu prädestiniert, den Partizipationsbedürfnissen breiter Bevölkerungsschichten entgegenzukommen und zu deren politischer Mobilisierung beizutragen. Hierin zeigte sich auch die Schwäche der konservativ-adeligen Eliten, die in ihrer Auseinandersetzung mit der Moderne über das Ressentiment selten hinausgekommen waren. In diesem Zusammenhang erwies sich die Erfahrung des Kaiserreiches weiterhin als prägend. Es war dem landbesitzenden Adel im Kai-

31

ZOLLITSCH, Scheitern (wie Anm. 22), S. 258.

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serreich gelungen, sein Milieu weitgehend intakt zu halten und den dominierenden Einfluß auf dem Land zu wahren. Aufgrund der spezifischen Strukturmerkmale des Kaiserreiches ergab sich darüber hinaus ein politischer Einfluß, der die tatsächliche Bedeutung des Agrarsektors weit überstieg. Dies gelang, ohne größere Konzessionen an die bürgerlich-moderne Welt machen zu müssen. 32 Die traditionellen Wertvorstellungen des ländlichen Adels und seine politischen Grundüberzeugungen konnten deshalb ungebrochen fortwirken. In derselben Zeit wurden dagegen in England beispielsweise ganz andere Weichen gestellt. Dort wurden politische Entscheidungen getroffen, die die Position der landbesitzenden Aristokratie und die Vetomacht des Oberhauses beschnitten und die britische Aristokratie zwangen, ihre Traditionen in die bürgerliche Gesellschaft einzubringen.33 Entsprechende Lernerfahrungen mußte der landbesitzende Adel im Osten Deutschlands nicht machen. In der Weimarer Republik konnte der Adel sich deshalb, sofern er nicht in für den Adel untypischen Berufen tätig war, den politischen Zwängen und Spielregeln der bürgerlichen Gesellschaft weitgehend verweigern. Begünstigt durch die von der Revolution letztendlich nicht veränderten Macht- und Besitzverhältnisse im östlichen Preußen hielt er an seinem historisch gewachsenen Selbstverständnis, an seinem durch das preußische Adelsethos überhöhten egoistischen Standesinteresse fest. Der grundlegende Dissens zwischen der rückwärtsgewandten agrarischen Welt und dem Prototyp moderner bürgerlicher Eliten, der Großindustrie, der sich Ende der Weimarer Republik vertiefte, 34 dokumentierte die Distanz des traditionsbehafteten Agrarestablishments zur modernen Gesellschaft, in der er keinen klar umrissenen neuen Standort fand. Die nurmehr verbleibenden politischen Optionen waren keineswegs geeignet, den Widerspruch zwischen Traditionswahrung und gesellschaftlicher Anpassung einer Lösung näher zu bringen: Weder aristokratische Nostalgie, noch neokonservative oder rassistische Elitenkonzepte, noch die vage Aussicht auf einen neuen nationalsozialistischen „Führeradel" konnten einen Lernprozeß in

32

33

34

Zum ländlichen Adel im Kaiserreich Hans-Ulrich WEHLER, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Dritter Band: 1849-1914, München 1995, S. 805ff. David CANNADÍNE, The Decline and Fall of the British Aristocracy, London 1992, S. 449ff„ 462f. Siehe Reinhard NEEBE, Großindustrie, Staat und NSDAP 1930-1933. Paul Silverberg und der Reichsverband der Deutschen Industrie in der Krise der Weimarer Republik, Göttingen 1981, S. 130.

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Gang setzen, der die Repräsentanten der vorindustriellen Welt gezwungen hätte, ihre Erfahrungen in die moderne bürgerliche Gesellschaft einzubringen und sie so auf breiterer Basis und im Sinne eines Modells traditionsverhafteter gesellschaftlicher Stabilität wirksam werden zu lassen. Das Verhältnis zwischen Adel und Bürgertum oder konkreter, die Funktion einer Geburtsaristokratie in der bürgerlichen Gesellschaft, blieb letztlich unbestimmt, so daß ein gemeinsamer politischer Konsens über die Destabilisierung des bestehenden politischen Systems hinaus nicht erzielt werden konnte. Von nicht zu unterschätzender Bedeutung in der Wahrnehmung des Bürgertums war, daß das adelige Elitenverständnis standesideologisch und exklusiv geprägt blieb. Die Betonung des adeligen Vorranges aufgrund einer langen Ahnenreihe, das herrschaftsgewohnte Sendungsbewußtsein und der Versuch einer Neuformierung des Adels im Sinne des nationalsozialistischen Neuadelskonzeptes verstärkten die Distanz zur bürgerlichen Wertewelt. Das schon im Kaiserreich ungeklärte Verhältnis zwischen traditionellem Adel und bürgerlicher Gesellschaft konnte in der Endphase von Weimar aber nicht mehr nachträglich bereinigt werden. Der gesellschaftliche Wandel ließ dieses Spannungsfeld zudem als unzeitgemäß erscheinen. Die entscheidende Herausforderung für den Adel stellte nicht mehr das Verhältnis zum ohnehin nach rechts abdriftenden Bürgertum dar, sondern zur neuen, nationalsozialistischen Massenbewegung, oder anders gewendet: Die Krise der bürgerlichen Gesellschaft von Weimar war Resultat anderer gesellschaftlicher Herausforderungen, nämlich dem Spannungsverhältnis von industrieller Massengesellschaft und Modernisierungskrise. Die Transformation der bürgerlichen in eine neuartige Massengesellschaft ließ sich von konservativem Bürgertum und Adel nur dann wirksam steuern, wenn sie als gesellschaftlich stabilisierender Faktor agierten. Dies hätte jedoch ein Eingehen auf die Regularien des bestehenden politischen Systems erfordert, das in beiden Gruppen aber kaum Legitimität besaß. Der traditionsbehaftete, aber politisch radikalisierte Adel schließlich sah sich durch die umfassende Staats- und Wirtschaftskrise in seiner distanzierten Haltung zur modernen Gesellschaft bestätigt und konnte diese Ressentiments politisch wirksam einsetzen. Erinnert sei an seine Rolle im Vorfeld des 30. Januar 1933. Die Krise der bürgerlichen Gesellschaft von Weimar und das Versagen ihrer internen Krisenlösungsmechanismen gab dem Adel eine vorübergehende Schlüs-

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selstellung,35 da er als sozialer Außenseiter vom Scheitern dieser Gesellschaft nur zu profitieren glaubte. Seine agrarprotektionistischen Sonderinteressen wogen in dieser Situation schwerer als aristokratisch-elitäre Vorbehalte gegenüber der Hitler-Bewegung. Mit dieser Haltung setzte der Adel jedoch seine überlieferten Wertvorstellungen aufs Spiel und er trug durch seine fehlende Anpassungsbereitschaft gegenüber den bürgerlichen Eliten dazu bei, daß eine eigenständige konservative Alternative keine Resonanz fand. Dabei übersah der Adel, daß Anpassung an die bürgerliche Gesellschaft nicht Selbstaufgabe oder Auflösung des adeligen Sonderbewußtseins heißen mußte, sondern daß er gerade auch des Kontrastmodells der bürgerlichen Gesellschaft bedurfte, um seine spezifische Eigenart betonen zu können. Am Ende von Weimar stieß ein geschwächter Adel auf eine neue Bewegung, die den Verhältnissen der Weimarer Republik erwachsen war und die die Regeln des politischen Massenmarktes viel besser beherrschte als die traditionellen Konservativen. Die NSDAP konnte viel überzeugender den „demokratischen" Gestus einer breiten nationalen Sammlung vertreten, konnte sich sowohl als Partei der Mechanismen des Parlamentarismus zu seiner Abschaffung bedienen, wie als Bewegung der Ablösung der Parteienherrschaft verschreiben. Adel und konservative Eliten waren demgegenüber nicht in der Lage, ihre politischen Überzeugungen und Ziele mit den Partizipationsbedürfhissen der industriellen Massengesellschaft zu verbinden. Der adelige Führungsanspruch erwies sich nurmehr als eine historische Reminiszenz, wenn man sich die Fragmentierung und Schwäche der traditionellen Eliten in der Staatskrise von Weimar vor Augen hielt. Diese Spaltung der Eliten im Hinblick auf ihre wirtschaftlichen Interessen, ihre politischen Strategien und ihre Statuslegitimierung war kennzeichnend für die deutsche Entwicklung. Die Beharrungskraft historisch geprägter, voneinander isolierter Teilmilieus erschwerte die Bildung einer einheitlichen Elitenkultur. Im Kontrast zur deutschen Entwicklung stand die relative Geschlossenheit der traditionellen Eliten in Frankreich und England, die weitgehend auf einvernehmliche politische Lösungen bauten, ohne an den Grundprinzipien des politischen Systems zu rütteln, obwohl im Falle Frankreichs von chronischer

35

Betont wird dieser Aspekt bei Heinrich A. WINKLER, Deutschland vor Hitler. Der historische Ort der Weimarer Republik, in: Walter H. PEHLE (Hg.), Der historische Ort des Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 1990, S. 11-30, 28.

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Regierungsinstabilität gesprochen werden konnte.36 Offensichtlich waren es die Unterschiede im Selbstverständnis und im gesellschaftlichen Standort, die die Aristokratie in den genannten Ländern in einen Elitenkonsens einzubinden vermochten. Vergleicht man dagegen die Rolle des bodenständigen preußisch-deutschen Adels mit der von Standesgenossen in anderen europäischen Ländern, wie Frankreich oder England, so fallt ein gewichtiger Unterschied ins Auge, auch wenn antimoderne Ressentiments und ständische Exklusivität keine deutsche Spezialität blieben: Nur im preußisch-deutschen Fall war eine wirksame kollektive Gegenreaktion des Adels gegen die moderne Gesellschaft, gegen den Abbau adeliger Privilegien auszumachen. In Deutschland traf ein machtbewußter, weitgehend homogener und in seiner Position durch die Verhältnisse des Kaiserreiches noch bestärkter Adel auf eine starke Rechte, die nach 1918 an Radikalität und Dynamik gewann und die er als Gegengewicht zum liberalen Bürgertum nutzen konnte. Diese Rechte, im Spannungsverhältnis zwischen industrieller Massengesellschaft und Modernisierungskrise entstanden, konnte sich die daraus resultierenden gesellschaftlichen Spannungen zunutze machen und als neuartige Protestbewegung die Kritik an der modernen Gesellschaft bündeln, sowie als Fundamentalopposition gegen die Weimarer Republik den konservativen Restaurationswünschen Geltung verschaffen. Wenn der Adel, gefangen in seinen traditionellen Deutungsmustern, Anschluß an die modernen gesellschaftlichen Konfliktlagen finden wollte, konnte er dies unter den gegebenen Bedingungen nur auf dem Weg der Anpassung an die neue Rechte tun. Denn der Adel, der am Ende der Weimarer Republik in seiner ökonomischen Stellung und in seinem sozialen Status ernsthaft bedroht war, konnte angesichts seiner Distanz zur bürgerlichen Gesellschaft keine gemeinsame Basis mit bürgerlichen Führungsschichten finden. Zudem war das Bürgertum selbst politischen Erosionsprozessen ausgesetzt, die sein politisches Gewicht entscheidend minderten. Adelige, die diesen Anpassungskurs an die extreme Rechte nicht mitzutragen bereit waren, hatten nur die Alternative, als eigenständig handelnde Akteure aus der politischen Arena auszuscheiden, eine Entscheidung, die, wie oben

36

Cannadine, DECLINE (wie Anm. 33); Heinz-Gerhard H A U P T , Der Adel in einer entadelten Gesellschaft: Frankreich seit 1830, in: WEHLER (Hg.), Adel (wie Anm. 29), S. 286-305; Christophe CHARLE, Noblesse et élites en France au début du XXè siècle, in: Les Noblesses Européennes au XIXe siècle, Università di Milano/École Française de Rome 1988, S. 407-433.

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233

bereits erwähnt, zum Beispiel Bodo von der Marwitz für sich getroffen hatte.37 Die anderen genannten Länder wiesen ein davon abweichendes gesellschaftliches Konfliktschema auf. Sie verfugten über bereits gefestigte bürgerlich-liberale Traditionen oder waren in ihrem politischen Diskurs noch an den Zielvorstellungen einer vorindustriellen Bürgergesellschaft orientiert. Deshalb konnte dort die Konkurrenz von traditionellem Adel und liberalem Bürgertum auf einer Ebene erfolgen, die eine stärkere Verschmelzung von alten und neuen Eliten ermöglichte. Die konservativen Eliten aus Adel und gehobenem Bürgertum erwiesen sich somit als gefestigter und konnten radikalen Bewegungen von rechts eine größere politische Beharrungskraft und ideologische Standfestigkeit entgegensetzen.

37

Siehe oben Anm. 12.

GUIDO MÜLLER

Jenseits des Nationalismus ? „Europa" als Konzept grenzübergreifender adlig-bürgerlicher Elitendiskurse zwischen den beiden Weltkriegen

1. Vorbemerkung Die Frage, ob es Jenseits des Nationalismus" liegende Europa-Vorstellungen in den adlig-bürgerlichen Elitendiskursen nach dem Ersten Weltkrieg gegeben hat, muß in dieser Hinsicht gleich zu Beginn verneint werden. Nationale Interessen mit oberster Priorität zu vertreten, war nach dem Ersten Weltkrieg nicht nur in Deutschland eine Selbstverständlichkeit der internationalen Politik. Es war ein innenpolitisches Gebot auch für europäisch und transnational eingestellte Politiker, Publizisten und Wirtschaftsleiter. Dabei konnten Interessenübereinstimmungen zwischen Staaten dann auch im europäischen Sinne dem nationalen Eigeninteresse oder dem wachsenden nationalen Einfluß dienlich sein oder dienstbar gemacht werden. In diesem Sinne agierten vor allem die Anhänger einer deutsch-französischen Verständigung und des sogenannten „Locarno"-Geistes in beiden Ländern. Im Hintergrund spielten dabei oft gemeinsame Interessen gegenüber den angelsächsischen Ländern oder der Sowjetunion eine Rolle. In demselben Maße konnten gerade auch Rücksichten auf diese Länder den deutschfranzösischen Verständigungsprozeß trüben oder erschweren.1

Vgl. dazu demnächst Guido MÜLLER, „Außenpolitik ohne Eigenschaften?" Der russische Faktor in der deutsch-französischen Annäherung 1922/23-1932, in: Pi-

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Supranationale Europavorstellungen existierten zwischen den Weltkriegen nicht. Die Mehrzahl der Europäer suchte nach einem Europa der harmonierenden oder sich ergänzenden Nationalinteressen. Oft wurden nationale und europäische Interessen auch einfach in eins gesetzt oder das Europäische aus der Vielzahl der Nationalismen zusammengesetzt, aus dem sich dann ein europäischer Nationalismus ergeben konnte. Das galt in besonderer Weise für den Europadiskurs, über den sich Adlige und Bürgerliche austauschten. Er trug zum Teil defensive oder sogar offensiv-kämpferische Züge zur Verteidigung europäischer oder abendländischer Interessen z.B. gegen die ideologisch gefürchtete Sowjetunion, gegen die Wirtschaftsmacht USA oder gegen den Liberalismus. Nationalismus und Europäismus konnten so durchaus miteinander harmonieren. So einfach sich dieser Teil der Themenstellung beantworten läßt, so schwierig wird es dann hingegen sowohl für die Umschreibung der Begriffe von Europa wie von Nation und Nationalismus gerade im zentraleuropäischen Raum. Die Zeitgenossen sahen sich in einer Zwischen· und Übergangszeit. Die Zukunftsvorstellungen waren dabei häufig stärker von Wunschvorstellungen, von Mythen und Utopien beherrscht als an realen politischen und gesellschaftlichen Durchsetzungsmöglichkeiten orientiert. Das galt sowohl für die Vorstellung von der eigenen Nation wie für Europa. Somit lassen sich in der Zwischenkriegszeit wirtschaftliche, kulturelle, konfessionelle und politische Europavorstellungen keineswegs eindeutig voneinander abgrenzen. So wie es schwer fällt, klare Europakonzeptionen zu definieren und bestimmten Autoren, Kreisen oder Bewegungen zuzuordnen, so gilt dies ebenso nach 1918 für den deutschen Begriff von Nation und Nationalismus. Beide Bezugspunkte wurden im Ringen um politische und gesellschaftliche Unterstützung und Anhängerschaft bei den Eliten wie von den Massen begrifflich oft bewußt unscharf oder pragmatisch offen gelassen. Abgrenzungen zum politischen Gegner nach außen waren oft eindeutiger und wurden bevorzugt, als daß Bemühungen um eine genauere Bestimmung nach innen ernsthaft unternommen wurden. Es existieren nebeneinander und zum Teil ineinander verschränkt kleindeutsch-borussische und großdeutsch-katholische, auf ein historisches mittelalterliches oder vorreerre GuiLLEN/Ilja MIECK (Hg.), Deutschland, Frankreich und Rußland im 19. und 20. Jahrhundert. München (im Druck); Gottfried NIEDHART, Internationale Beziehungen 1917-1947, Paderborn 1989; DERS., Die Außenpolitik der Weimarer Republik, München 1999.

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formatorisches Reich oder ein mythisches Reich, auf das Bismarckreich, auf wilhelminische Reichsvorstellungen, auf ein deutsches Mitteleuropa, Zwischeneuropa oder einen deutsch kontrollierten Großwirtschaftsraum orientierte Deutschlandvorstellungen. Es gibt im Hinblick auf die innere Verfassung an Kaiser oder Königtum orientierte monarchische, alt- und neuaristokratische, ständische, föderale, republikanische, sozialistische und liberaldemokratische Deutschlandbilder. Ahnlich gilt das Offene und Unbestimmte für die Vertreter der „konservativen Revolution", einer in ihren Ambivalenzen, ihren umfassenden Ansprüchen und ihrer herausfordernden Haltung wohl für die Zwischenkriegszeit - übrigens nicht nur in Deutschland - besonders charakteristischen politischen Ideologie eines neuen und „dritten Wegs" zwischen den alten politischen Ideologien des langen 19. Jahrhunderts. Von daher ist es kaum verwunderlich, daß sich auch Vordenker und Protagonisten dieser jungkonservativen Denkrichtung häufig in den Reihen der Europabewegungen finden, die sich ähnlich wie die „konservativen Revolutionäre" ebenfalls als zukunftsorientierte Richtung verstanden. Im Anschluß soll an einem prominenten Beispiel aus dem deutschen Auswärtigen Amt von 1931 deutlich gemacht werden, wie wenig zudem oft gerade aus deutscher Sicht bewußt Mitteleuropa- und Paneuropavorstellungen voneinander abgegrenzt wurden, wenn entweder die Verbindung oder die unverbindliche Offenheit größere politische Vorteile versprach. Eindeutig ging es in jedem Fall um eine nationalistische Politik zum Vorteil Deutschlands durch ein europäisches Argument oder eine europäische Politik. Europa hatte bereits ein solches Gewicht in der außenpolitischen Argumentation gewonnen, daß außenpolitische Weitsicht und Agieren über den Tag hinaus nicht mehr auf europäische Argumente verzichten konnte, ohne daß genuin europäische Anliegen im Mittelpunkt gestanden hätten. Das galt interessanterweise für die Verlierernation Deutschland nach 1918 in ebenso wie für den Sieger Frankreich. Spätestens 1923/24 nach der mißlungenen Ruhrbesetzung wurde dies auch dem vormals dezidiert nationalistischen Lager in beiden Ländern zunehmend bewußt. So nahmen in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre Verbindungen zwischen nationalistischen und europäischen Argumentationen gegenüber den stärker pazifistisch-liberaldemokratischen oder sozialistischen Argumentationen der frühen zwanziger Jahre zu. Daher rührt auch die Ambiguität solcher Politiker und Friedensnobelpreisträger wie Briand und Stresemann.

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Der mangelnde Wille zur genauen Abgrenzung der jeweiligen Vorstellungen einer deutschen Rolle in Europa oder von einer europäischabendländischen Rolle Deutschlands ist vor allem in Anbetracht der mangelnden Realisierungschancen und der politischen Realitätsferne typisch für die Europabewegungen und ihre Vertreter in der Zwischenkriegszeit. Ähnlich wie es in den beiden Weltkriegen von Seiten der deutschen Macht-, Wirtschafts-, Intellektuellen- und Verwaltungseliten nicht nur eine Fülle von Plänen und Ansätzen zur deutschen Kontrolle und Herrschaft Kontinentaleuropas gab, existierten auch in der Zwischenzeit Kontinuitäten, Umformulierungen und Neuansätze dieser europäischen Planungen. Die Debatte lief weiter und ist mit den ersten Schritten der europäischen institutionellen und wirtschaftlichen Integration in den fünfziger Jahren auch lange noch nicht abgeschlossen. Daher ist es auch bisher aussichtslos geblieben, den Grafen Coudenhove-Kalergi auf ein konkretes und in absehbarer Zeit umsetzbares Paneuropa-Konzept seiner Bewegung in den zwanziger und dreißiger Jahren festzulegen. Jede zu weitgehende Festlegung hätte den Ausschluß möglicher Anhänger der an sich schon minoritären Außenseiterbewegung der Europaverbände bedeutet, zumal die Europabewegung als Ganzes schon ein sehr zersplittertes und uneinheitliches Bild bot und Vereinigungsversuche auch über den finanziellen Hebel niemals gelangen. Ähnlich ist sich die Forschung über die Außenpolitik der Weimarer Republik zwar einig, daß die Revision der Versailler Bestimmungen das Ziel war. Doch es wird immer Grund zu spekulativen Auseinandersetzungen liefern, mit welchen Mitteln, in welcher Reihenfolge und vor allem mit welchem letzten Ziel die Außenpolitiker von Rathenau und Stresemann bis zu Brüning und Curtius ihre Revisionspolitik betrieben. Hier soll es nun um die Fragen gehen, welche Adligen oder welcher Adelstypus sich wie und an welchen gesellschaftlichen Orten nach 1918 mit welchem Typ von Bürger zum Europa-Diskurs äußerten und welche Art von grenzüberschreitendem adlig-bürgerlichem Elitendiskurs über Europa vorherrschte. Neuer Nationalismus und Europäismus sollen sich in bestimmten Organisationen und Milieus gut vereinbar erweisen. Außerdem zielt dieser europäische Elitendiskurs bezeichnenderweise zugleich auch auf den Versuch einer Neudefinition von Adel; es geht um eine neue Form internationaler Aristokratie, um eine Verbindung von Bürgertum und Adel in einer neuen gesellschaftlichen und politischen Form, die stark an kulturellen und ästhetischen Werten ausgerichtet war. Weiterhin muß das Thema hier auf den deutschsprachigen Raum und die deutsche Diskussion eingegrenzt bleiben. So

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interessant auch einerseits der Vergleich mit anderen europäischen Ländern, vor allem mit dem Frankreich der „Dritten Republik" und dem faschistischen Italien wäre, so muß der europäische Vergleichsaspekt ebenso wie die sozialen Netzwerke im europäischen Adel hier ausgeblendet bleiben. Möglicherweise wird sich ein Folgeband dieses Forschungsprojektes zu Adel und Bürgertum im 19. und 20. Jahrhundert vor allem den wichtigen europäischen Vergleichsaspekten zuwenden 2.1. Hinführung: Mitteleuropa und Paneuropa unter einem Mantel Anfang 1931 führten der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, Bernhard Wilhelm von Bülow, und der Botschafter in Washington, Friedrich von Prittwitz und Gaffron, zwei prominente adlige Diplomaten aus derselben um 1885 geborenen Generation, einen vertraulichen Briefwechsel über die europäische Politik des deutschen Reiches. Auch in der Weimarer Republik war die Diplomatie immer noch eine besondere professionelle Domäne des Adels geblieben. So würde es sich lohnen, den adlig-bürgerlichen Diskurs über internationale Politik und die europäische Rolle Deutschlands anhand der Akten und Korrespondenzen des deutschen diplomatischen Korps einmal ausführlicher nachzuzeichnen. Ähnlich wie es an biographischen Arbeiten zu deutschen Diplomaten und überhaupt an einer Sozialgeschichte der Diplomatie mangelt, fehlt es trotz der wegweisenden Arbeiten Peter Krügers zur Außenpolitik der Weimarer Republik bisher an einer solchen Untersuchung der internationalen Politik der ersten deutschen Republik.2 Hier soll ein Zitat aus dem Brief Bülows an Prittwitz und Gaffron zunächst vor allem deutlich machen, auf welche Weise in der Wilhelmstraße Anfang der dreißiger Jahre aus deutschem Interesse heraus europäisch argumentiert wurde, ohne in den Antagonismus zwischen Europamodellen eines restaurativ-konservativen Mitteleuropa und eines fortschrittlich-westlichen Paneuropa zu geraten: „Lieber Freund, [...] Es besteht ein Plan, der sich vielleicht durchführen läßt, eine Wirtschaftsunion mit Österreich einzugehen, die wahrschein-

Peter KRÜGER, Die Außenpolitik der Republik von Weimar, Darmstadt 1985, 1993; DERS., Struktur, Organisation und Wirkungsmöglichkeiten der leitenden Beamten des auswärtigen Dienstes 1921-1933, in: Klaus SCHWABE (Hg.), Das diplomatische Korps als Elite, 1871-1945, Boppard 1985; DERS., Versailles. Deutsche Außenpolitik zwischen Revisionismus und Friedenssicherung, München 1993. 2

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lieh sehr schnell zu einem Anschluß der Tschechoslowakai und Ungarn fuhren würde. Diese Dinge sind äußerst geheim. [...] Auf diesem Wege eines wirtschaftlichen Zusammenschlusses mit Österreich würden wir Bewegung in die zähe Masse der Umgestaltung der europäischen Wirtschaftsverhältnisse bringen, und es ist durchaus möglich, daß sich politische Konflikte daraus ergeben, obwohl wir der Angelegenheit ein paneuropäisches Mäntelchen umhängen werden. [...] Angelpunkt unserer auswärtigen Politik ist nach wie vor unser Verhältnis zu Frankreich. Es besteht immer noch ein Zustand der Entfremdung und auf französischer Seite des Mißtrauens. [...] Unsere Beziehungen zu Italien sind freundschaftlich und ziemlich intim, ohne daß irgendwelche Bindungen bestünden oder beabsichtigt wären. Die deutsch-polnischen Beziehungen werden sich hoffentlich im Laufe des nächsten Jahres bessern. [...] An einer Antisowjetfront [...] werden wir uns keineswegs beteiligen. [...] Für England sind wir zur Zeit ziemlich uninteressant, und auch England interessiert uns nicht sehr, da es in weitgehendem Maß von eigenen Sorgen in Anspruch genommen wird." 3

Deutlich steht im Mittelpunkt dieser geheimen Überlegungen des auswärtigen Staatssekretärs der Regierung Brüning ein europäisches und grenzübergreifendes Konzept. Wie lassen sich nun die Aussagen dieses hohen adligen Berufsdiplomaten und seine Person beurteilen und einordnen? Handelt es sich nicht um ein geheimes antifranzösisches Taktieren mit dem Ziel, ein mitteleuropäisches Wirtschaftsimperium unter deutscher Führung zu errichten und dabei politische Konflikte in Kauf zu nehmen? Geht es hier nicht sichtlich um ein raffiniertes Diplomatenspiel von alten Adligen aus der Wilhelmstrasse, ganz im Stile des langen 19. Jahrhunderts? Alle wichtigen Figuren im europäischen Spiel werden berücksichtigt und zum eigenen Vorteil verschoben oder ausgeschaltet. Das alte Spiel des deutschen Großmachteinflusses in Mittel-, Ost- und Südosteuropa wird in Berücksichtigung des mißtrauischen Frankreich und des desinteressierten England fortgespielt. Im herkömmlichen Verständnis der internationalen Beziehungen der Weimarer Republik steht der konservative Berufsdiplomat Bernhard von Bülow (1885-1936), der 1919 aus dem auswärtigen Dienst auf eigenen Wunsch ausgeschieden und 1923 wieder eingetreten war, fur den verständigungsfeindlichen ,neuen Kurs' der Präsidialregierung Brüning, der sich ganz auf den Einfluß in Südosteuropa und die nationale Stärke Deutschlands ausrichtete. Immerhin war Bülow aber unter Außenminister Stresemann nicht nur 1923 zum Leiter des Völkerbund3

A D AP, B, Bd. XVI, Nr. 174, S. 435-437.

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referates ernannt worden, sondern 1925 in der Karriere sogar zum Leiter der Abteilung Westeuropa aufgestiegen. Wie verträgt sich das mit der auf Frankreich ausgerichteten neuen Verständigungspolitik der Stresemann-Administration seit den Konferenzen von London und Locamo 1924/25, wenn ausgerechnet ein angeblicher Gegner dieser Politik Leiter der zuständigen Abteilung wird? War von Biilow also ein antiwestliches Trojanisches Pferd der alten wilhelminischen Eliten in den Büros der Wilhelmstrasse ? Oder steht Bülow nicht viel mehr für den Versuch, deutschen Nationalismus mit europäischen Interessen zu vereinbaren, im Sinne der deutschen Revisionspolitik von Rathenau und Stresemann bis Brüning und von Papen ? Warum war von Bülow das paneuropäische Mäntelchen so wichtig, wenn es sich bei der Bewegung des österreichischen Grafen doch im Grunde lediglich um eine periphere Propagandaorganisation handelte? Ging es um die öffentliche Meinung in Deutschland, in Frankreich oder gar in Mitteleuropa, und welchen Stellenwert hatten dort europäische Motive? Die schwer zu beurteilende und kaum eindeutig einzuordnende Zwischengestalt des adligen Berufsdiplomaten von Bülow verrät dabei mehr über die zwiespältige und janusköpfige Außenpolitik der Weimarer Republik als manche Darstellung Stresemanns. Zur Beantwortung dieser einfach erscheinenden Fragen fehlen uns zudem immer noch wichtige historische Informationen. Leider gibt es noch so gut wie keine grundlegenden biographischen, prosopographischen, elitenhistorischen und mentalitätsgeschichtlichen Untersuchungen zum diplomatischen Personal in Deutschland - und anderen wichtigen europäischen Staaten - im 20. Jahrhundert. Dies wäre nicht nur wichtig für das Verständnis einer kontrovers beurteilten Persönlichkeit wie von Bülow und seine Einordnung in die deutsche Außenpolitik. Solche Untersuchungen wären außerdem eine unentbehrliche Grundlage einer Sozialgeschichte der internationalen Beziehungen im 20. Jahrhundert. Dies kann auch an dieser Stelle nicht geleistet werden. Dagegen soll es um einen anderen Aspekt gehen. Dem dunklen Bild des als rückständig bewerteten, sozusagen den borussisch-kleindeutschen Nationalismus verkörpernden Bülow werden in der traditionellen Europahistoriographie die idealistischen und fortschrittlichen Vertreter europäischer Bewegungen gegenüber um so mehr in ein helles Licht gerückt. 4 Dann wird jemand wie der euro4

Vgl. z.B. den informativen Pionieraufsatz von Walter LIPGENS, Europäische Einigungsidee 1 9 2 3 - 1 9 3 0 und Briands Europaplan im Urteil der deutschen Akten, in: Historische Zeitschrift 203 (1966), S. 4 6 - 8 9 , S. 3 1 6 - 3 6 3 . Ähnlich betont Krüger

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asiatische Gründer der Paneuropa-Bewegung, Richard Graf v. Coudenhove-Kalergi, ein Graf böhmischer Herkunft, zur positiven und zukunftsweisenden Lichtgestalt. Doch ein näherer und kritischer Blick gerade auf die sozialen und mentalen Strukturen der Europabewegungen nach dem Ersten Weltkrieg muß ein anderes Bild ergeben. Um es gleich vorwegzunehmen, so beschreibt Bülow, der wohl ohne Zweifel zu den hellsichtigsten, intelligentesten und wichtigsten Vertretern der Wilhelmstrasse zwischen den Kriegen gehört, nicht nur die zentralen Problemfelder europäischer Politik nach dem Ersten Weltkrieg, mit denen auch alle Europäer zu rechnen hatten. Zugleich spricht der Spitzendiplomat auch deutlich und ungeschminkt die zentralen Anliegen an, die alle Europabewegungen im deutschsprachigen Raum zwischen 1922 und 1933/38 bewegten. Der vormalige Völkerbunds- und Europareferent kannte zudem diese heiklen Punkte aus langjähriger Beschäftigung mit dem Thema und ihren Vertretern nur zu gut. Es ging den Europabewegungen im Kern um die Lösung von drei, als miteinander verbunden angesehenen Problemkreisen: 1. das Anschlußproblem Österreichs und der Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie, das man sich angewöhnt hatte, als „Mitteleuropa" zusammenzufassen, 2. die Umgestaltung und Reconstruction' der europäischen Wirtschaftsverhältnisse zu Gunsten der deutschen Position, 3. schließlich der deutsch-französische Ausgleich als Kern eines kontinental-katholischen Europa, der mit den propagandistischen Formeln der „Verständigung", des „Locarno-Geistes", „Paneuropas" oder des „Abendlandes", später der „europäischen Neuordnung" versehen wurde. Zur Erreichung der ersten beiden Ziele war ein Ausgleich mit Frankreich notwendig, das zumindest sein Mißtrauen abbauen und stillhalten mußte. Nichts anderes strebten im Grunde auch die unter dem Etikett der Europabewegungen firmierenden Gruppen, Vereine, Clubs und Zirkel an. Diese waren allesamt elitäre Vereinigungen mit dem eingestandenen Ziel, als auserwählte europäische Avantgarde und neue Führungsschicht entweder eine politische Massenbewegung hinter sich zu versammeln oder zu ihrem eigenen persönlichen Vorteil Einfluß auf die

meines Erachtens zu stark in seinen Darstellungen (wie Anm. 2) den Einschnitt zwischen einer verständigungsbereiten und kooperativen europäischen Außenpolitik unter Stresemann und Staatssekretär Schubert bis 1929 und einer konfrontativen und deutschnationalen Richtung ab 1930 unter Brüning und Curtius, in der Schuberts Nachfolger von Bülow tonangebend geworden sei.

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staatliche Politik zu nehmen. In beiden Richtungen scheiterten ihre Unternehmungen, wenngleich sie auch unter starker Beobachtung und Anteilnahme des Auswärtigen Amtes standen. Fast immer wurden sie von jungen bürgerlichen oder überproportional von adligen Intellektuellen initiiert und geleitet. Diese waren nach dem Zusammenbruch der alten Welt und dem Kriegsende in eine Orientierungskrise geraten und von sozialem Abstieg bedroht. Bolschewismus, Demokratie und Liberalismus boten ihnen keine sinnvollen Alternativen. Doch in der Idee des europäischen oder abendländischen Zusammenschlusses erblickten sie eine Alternative und lohnende Aufgabe. Sowohl der PaneuropaFührer Graf Coudenhove-Kalergi wie Prinz Karl Anton Rohan, der Gründer des „Europäischen Kulturbundes", stellen in ihren Biographien dafür anschauliche Beispiele dar. Lediglich in der Form und Intensität der Beziehungen zu Frankreich und in der Prioritätenfolge der drei Ziele bestanden zwar graduelle, aber keine prinzipiellen Unterschiede zwischen den deutschen Europabewegungen. Keines der drei Ziele wurde im Grunde je aufgegeben zu Gunsten der Erreichung eines der zwei anderen. Entgegen dem von Coudenhove selbst erweckten Eindruck konnte die Paneuropa-Union auch nur kaum und nur sehr kurzfristig 1926/27 Bedeutung und Anhängerschaft in Frankreich erlangen. Sie stand dort viel zu sehr unter dem Eindruck, den Anschluß Österreichs oder eine Stärkung österreichischen Einflusses verdeckt betreiben zu wollen und somit letzten Endes vor allem deutsche Ziele im Auge zu haben. Briand und Poincaré suchten sie daher für ihre außenpolitischen Zwecke gegenüber Deutschland einzusetzen.5 Der Bedeutungsgewinn europäischer Bewegungen und Themen hatte seit den Locamo-Verträgen und dem deutschen Völkerbundseintritt zunehmend auch schon die Mentalität von ausdrücklichen Gegnern dieser Bewegungen erfaßt. Das wird wohl kaum dekouvrierender deutlich im propagandistischen Gebrauch des „paneuropäischen Mäntelchens" bei von Bülow. Propaganda und Werbung waren aber zugleich auch die wichtigsten und wirkungsvollsten Instrumente der Europabewegungen und ihres Medieneinsatzes, zu denen vor allem Zeitschriften, gesellschaftliche Laurence BADEL, Le Quai d'Orsay, les associations privées et l'Europe, 1925-32, in: Gérard BOSSUAT/René GIRAULT (Hg.), Europe brisée, Europe retrouvée: nouvelles réflexions sur l'unité européenne au X X è siècle, Paris 1994, S. 109-132; DIES., Les promoteurs français d'une union économique et douanière de l'Europe dans l'entre-eux-guerres, in: Antoine FLEURY/Lubor JILEK (Hg.), Le Plan Briand d'Union fédérale européenne, Bern 1998, S. 17-29.

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Ereignisse und publikumswirksame Großkongresse gehörten. Die Ziele der Paneuropäer und anderen europäischen Bewegungen lagen im Grunde sehr viel näher bei Stresemanns Westeuropadirigent und Brünings Staatssekretär als bei den europäischen Gesinnungen und supranationalen Integrationsutopien der Europahistoriker seit den fünfziger Jahren. Somit muß die These von Reinhard Frommelt aus den siebziger Jahren, der „Mitteleuropa" oder „Paneuropa" als einfache Alternative gegenüber stellte, im Lichte neuer Untersuchungen korrigiert werden.6 Die Vereinigung von „Mitteleuropa" und „Paneuropa" war gerade das Ziel der deutschen Europabewegungen. Anders formuliert stellte sich die Leitfrage der Europabewegungen in folgender Weise: Wie kann ein nationenübergreifendes europäisches System ohne Eingriffe in nationale Souveränitäten so wiederhergestellt werden, daß es in einem erneuerten universalen Reichsverständnis dem wirtschaftlichen und demokratischen Modemitätsdruck der USA und konkurrierender Massenbewegungen erfolgreich widersteht oder diese sogar überwindet. Damit läßt sich auch die Irritation vieler Europahistoriker über die Frage lösen, warum gerade so ausdrückliche Anhänger des Anschlusses wie der SPD-Politiker Löbe die Paneuropabewegung unterstützen. Umgekehrt erklärt sich damit auch das große Mißtrauen in Frankreich gegenüber der Paneuropa-Union. Dieses Dilemma führte in den zwanziger Jahren zu einer starken Annäherung und teilweisen Interessenkongruenz der Europabewegungen mit rechten demokratiefeindlichen und jungkonservativen Richtungen, bevorzugt jungkatholischer Provenienz. Gleichzeitig bedeutete dies eine Wendung gegen demokratische und liberale Strömungen und eine erhöhte Attraktivität für Adlige, die defensiv modernisierungswillig waren, für sozial bedrohte Intellektuelle und für Großindustrielle. Genau diese gesellschaftlichen Vertreter finden sich denn auch in der Leitung und Mitgliederstruktur der Europabewegungen wieder, denen sich dieser Beitrag nun zuwenden soll.

Reinhard FROMMELT, Paneuropa oder Mitteleuropa. Einigungsbestrebungen in Wirtschaft und Politik 1925-1933, Stuttgart 1977.

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2.2. Das jungkonservative Europa- und Abendlandkonzept7 Der Sachverhalt eines nach 1918 vorherrschenden gleichzeitig jungkonservativen wie teilmodernistischen Europakonzeptes wurde aus verschiedenen Gründen in der älteren Forschung zur Europaideologie und zu den politischen und sozialen Europabewegungen übersehen. Der wichtigste Grund ist sicherlich, daß seit den fünfziger Jahren Europabewegungen und generell das Thema der europäischen Integration mit fortschrittlichen, liberalen und christdemokratischen Ideen identifiziert wurde. Auf der Suche nach deren Wurzeln und Vorläufern wurde dann auch in der Vorkriegszeit gesucht. Dabei wurden die vorherrschenden wesentlich antidemokratischen, antiliberalen und rechtskatholischen Strömungen der Europaverbände nach 1918 ignoriert oder übersehen. Zweitens konzentrierte sich die bundesdeutsche Forschung fast ausschließlich auf kleindeutsche und westliche Perspektiven, da Österreich und die Schweiz ebenso wie die osteuropäischen Staaten seit 1955 freiwillig oder unter sowjetischem Druck aus dem Weg der europäischen Integration ausscherten. So blieben die Rolle und das Gewicht des alten österreichischen Hintergrunds der multinationalen Habsburgermonarchie und ihrer vielfaltigen weiterbestehenden europäischen Verflechtungen nach 1918 unberücksichtigt. Drittens legten die späteren Entwicklungen der NS-Außenpolitik und des Kalten Krieges eindeutige Schwarz-Weiß-Schemata nahe. Diese wurden einfach auf die Zwischenkriegszeit übertragen oder zurückverlängert. Wer für eine Verständigung mit Frankreich eintrat, konnte nicht für den Anschluß Österreichs oder einen mitteleuropäischen Zusammenschluß bis an die russische Grenze sein. Wer Europäer war, konnte nicht antiamerikanisch und prosowjetisch oder für den italienischen Faschismus sein. Europäertum bedeutete Fortschritt und Aufbruchsgeist und nicht konservative Neubesinnungsversuche. Schließlich: wer Europäer war, mußte bürgerlich-demokratisch sein und konnte nicht traditionsbewußt, elitär und zugleich modernitätsorientierter Adliger sein. Daher wurde in der Forschung zu den Europabewegungen der österreichische Prinz Karl Anton Rohan und sein „Europäischer KulVgl. dazu Guido MÜLLER/Vanessa PLICHTA, Zwischen Rhein und Donau. Abendländisches Denken zwischen deutsch-französischen Verständigungsinitiativen und konservativ-katholischen Integrationsmodellen 1923-1957, in: Journal of European Integration History 5 (1999), No. 2.

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turbund" einfach ignoriert. Das war umso einfacher, da Rohan sich seit Mitte der dreißiger Jahre als Anhänger des Nationalsozialismus diskreditiert hatte, nach 1945 sudetendeutsche Interessen vertrat und sich sehr kritisch gegenüber der Westorientierung und vor allem den USA äußerte.8 Er konnte somit kein richtiger oder gar repräsentativer Europäer gewesen sein. Karl Anton Prinz Rohan, geboren 1898 als Sohn eines böhmischen Großgrundbesitzers und Politikers auf Schloß Albrechtsburg in Niederösterreich, stammte aus dem Zweig einer alten französischen Hochadelsfamilie, die während der Französischen Revolution nach Böhmen ausgewandert war. Als Kind lernte er zunächst französisch, erst später kamen deutsch und tschechisch hinzu. Der Schloßkaplan sprach das Kind mit „Durchlaucht" an. 1914 erfuhr Rohan mit dem Tod des Vaters und dem Beginn des Weltkrieges „Das Sterben eines Zeitalters". So lautet die Überschrift des ersten Kapitels seiner 1954 im Düsseldorfer Diederichs Verlag publizierten Erinnerungen, die unter dem Titel „Heimat Europa" erschienen. Dieser aus dem Militärdienst entlassene und vom sozialen Abstieg bedrohte dreiundzwanzigj ährige Prinz Rohan schuf zwischen 1921/22 und 1925 mit dem „Europäischen Kulturbund" von Wien, Paris, Mailand und Frankfurt aus die bedeutendste europäische Elitenvereinigung der zwanziger Jahre. Dies geschah von Anfang an auf Wiener Terrain in direkter und emstzunehmender Konkurrenz zur „Paneuropa-Union" des ebenfalls österreichischen Grafen Richard Coudenhove-Kalergi. Dessen gesellschaftlicher und politischer Hintergrund des habsburgischen Vielvölkerstaates und seiner Auflösung wurde allerdings bisher viel zu gering berücksichtigt. Von einer derzeit in Graz im Entstehen begriffenen Habilitationsschrift Anita Ziegerhofers als erste wissenschaftliche Biographie Coudenhove-Kalergis ist dazu endlich Aufklärung zu erwarten. Keiner könnte besser diese ganze Problematik des österreichischen wie aristokratischen Hintergrundes charakterisieren als die gesellschaftliche, kulturelle und mentale Kontinuität, die sich in der Person von Coudenhoves Nachfolger an der Spitze der Paneuropa-Bewegung verkörpert: Otto von Habsburg. Seine Person bedeutet keinen Bruch, sondern eine ausdrückliche Kontinuität in der jungkonservativen Mentalität des charismatischen Gründers und seinem oligarchischen Europaverständnis.

Karl Anton ROHAN, Heiße Eisen: Deutschland, Europa, Der Westen, Nürnberg

1963.

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Provokativ ist das aristokratische Movens bei Coudenhove-Kalergi durch Emanuel Richter auf einen Nenner gebracht worden in seinem Aufsatz „Die Paneuropa-Idee. Die aristokratische Rettung des Abendlandes".9 Der Gründer der Paneuropa-Union ist vor allem aufgrund der zahlreichen Eigenpublikationen und eigener Propaganda auch in die Überblicksdarstellungen zur Geschichte der europäischen Idee und der Europabewegungen gelangt. Da er von dieser Seite her bereits häufiger gewürdigt wurde, kann an dieser Stelle auf eine nochmalige Darstellung der Entwicklung seiner Paneuropa-Bewegung verzichtet werden. Dagegen muß Coudenhoves Konzept eines neuen Adels vorgestellt werden, das nicht nur auf das hinter der Paneuropa-Union stehende Konzept des adlig-bürgerlichen Diskurses ein grundsätzliches Licht wirft, sondern auch für den gesellschaftlichen Hintergrund der Paneuropa-Union erhellend wirkt. Anschließend soll dann der weitaus weniger bekannte Fall des „Europäischen Kulturbundes" und seines aristokratischen Gründers Karl Anton Prinz Rohan näher dargestellt werden. 2.3. Der „neue Adel": das Konzept einer neuen geistigen Elite bei dem Paneuropa-Gründer Coudenhove-Kalergi Sicher zu recht hat Emanuel Richter auf die Bedeutung des Wiener Hintergrunds der Jahrhundertwende für die „Mischung aus elitärem Sendungsbewußtsein und kosmopolitischer Weitläufigkeit" bei dem Grafen Coudenhove-Kalergi hingewiesen.10 Doch unterschied sich der Graf durch seine deutliche Wendung gegen den vorherrschenden Antisemitismus von den meisten seiner Standesgenossen und der öffentlichen Meinung im Wien um 1900. Coudenhoves Verbandsarbeit in der Paneuropa-Union war in einer solchen Weise personalisiert und auf seine eigene äußerst einsatzbereite, geltungssüchtige und phantasiebegabte Führungsgestalt zugeschnitten, daß publizistische Selbstdarstellung des Grafen mit Propaganda, Ziel und gesellschaftlichen Vorstellungen der Paneuropa-Bewegung in eins fallen. So ist die Schrift Coudenhoves aus den frühen zwanziger Jahren mit dem schlichten Titel „Adel" nicht nur aufschlußreich für sein eigenes ideelles, soziales und politisches Weltbild; sie läßt auch Schlüsse auf die gesellschaftlichen Ideale der Paneuropa-Union zu. 9

10

Emanuel RICHTER, Die Paneuropa-Idee. Die aristokratische Rettung des Abendlandes, in: Jürgen NAUTZ/Richard VAHRENKAMP (Hg.), Die Wiener Jahrhundertwende. Einflüsse, Umwelt, Wirkungen, Wien 1993, S. 788-812. Ebd., S. 794.

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Die Broschüre erschien in derselben Reihe des Leipziger „Neuen Geist"-Verlags, in der kurz danach auch Karl Anton Prinz Rohan seine „Europa"-Schrift publizieren sollte, die unten noch näher zu analysieren sein wird. So bildet diese Reihe des sächsischen Zeitungsverlegers, DDP-Abgeordneten und Ministers Peter Reinhold eine eigene und besondere Form des adlig-bürgerlichen Gesprächs über neue Formen gesellschaftlichen und politischen Lebens. Die „Neuer Geist"-Reihe ist repräsentativ für die zahlreichen Versuche der frühen zwanziger Jahre, eine neue „geistesaristokratische" Führungsschicht zu installieren. Zu den Mitautoren zählten Anfang der zwanziger Jahre eine Reihe jungkonservativer, geistesaristokratischer und bündischer Autoren aus Deutschland und Österreich. So schrieben Felix Weltsch über „Organische Demokratie", Kurt Hiller über „Ein deutsches Herrenhaus" und über „Logokratie oder ein Weltbund des Geistes", Hans Blüher über „Familie und Männerbund" und Paul Eberhardt verfaßte „An den geistigen Adel deutscher Nation". Richard Coudenhove-Kalergi schrieb außer über „Adel" auch über die „Apologie der Technik", Rohan über „Europa", Max Graf Montgelas über „Beiträge zur Völkerbundsfrage" und der katholisch-jungkonservative Publizist Friedrich Schreyvogel über „Katholische Revolution". Weitere Autoren waren u.a. Radindranath Tagore mit „Der Geist Japans", Albrecht Mendelssohn Bartholdy über „Der Völkerbund", Emil Lederer zur „Soziologie der Revolutionen" und Fritz Adler über „Die deutsche Volkshochschule". Coudenhove sucht mit seiner schematischen Gegenüberstellung eines alten, Land- und Blutadels der Junker und Offiziere gegenüber einem neuen, städtischen Geistesadel des Literaten und Intellektuellen weniger eine historische Darstellung der Adelsentwicklung als ein neues Zukunftsideal zu beschreiben. Dabei geht es ihm um Urbanität, um zeitgemäße Weltoffenheit und moderne Aufgeschlossenheit. Besonders wichtig sind ihm ästhetische Wahrheit und die Verbindung von Adel und Schönheit, somit stärker ästhetisch-kulturelle Kriterien als politisch-soziale Kategorien. Es geht ihm um originelle und synthetische Persönlichkeiten, die aus Kreuzung und Mischung verschiedener herausragender sozialer, ethischer, intellektueller und ästhetischer Qualifikationen hervorgehen. Diese bezeichnet er als die soziale Aristokratie des Geistes der Zukunft. Dabei hebt er ausdrücklich die wichtige und führende Rolle der Juden in diesem Prozeß hervor. Auch der britische Adlige hat sozialen und kulturellen Vorbildcharakter für Coudenhove, ohne daß er das angelsächsische Politikverständnis übernimmt. Diese aristokratische Führerauslese beschreibt er sogar als soziale Eugenik: „Der Adelsmensch der Zukunft wird weder feudal

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noch jüdisch, weder bürgerlich noch proletarisch: er wird synthetisch sein. Die Rassen und Klassen im heutigen Sinne werden verschwinden, die Persönlichkeiten bleiben. [...] Aus diesem Zufallsadel von heute wird die neue internationale und intersoziale Adelsrasse von morgen hervorgehen."11 Es ist verständlich, daß Coudenhove sich selbst als einen prädestinierten Angehörigen dieser neuen Führerschicht sieht, der seine Wurzeln zugleich im alten Blutadel hat. Mit der Propagierung dieses Ideals einer neuen Elite, für das er Anhänger sucht, strebt Coudenhove zudem eine soziale Absicherung seiner eigenen Position als geistesaristokratischer Intellektueller an. Sein eigenes Zeitalter der Demokratie und Plutokratie des Geldes sieht er dabei als Durchgangserscheinung an: „Unser demokratisches Zeitalter ist ein klägliches Zwischenspiel zwischen zwei großen aristokratischen Epochen: der feudalen Aristokratie des Schwertes und der sozialen Aristokratie des Geistes. Die Feudalaristokratie ist im Verfall, die Geistesaristokratie im Werden. Die Zwischenzeit nennt sich demokratisch, wird aber in Wahrheit beherrscht von der Pseudo-Aristokratie des Geldes."12 Vor allem dieses kritische Verständnis von Demokratie, diese idealistische Kapitalismuskritik und dieser elitär-ästhetische Sozialismus machen deutlich, wie stark Coudenhove nicht nur den geistig-politischen Strömungen des Jungkonservatismus und der „dritten Wege" seiner Zeit verbunden ist, sondern auch noch befangen in den aristokratischen Mustern von Führung und Auslese seiner adligen Herkunft. Originell wird diese Vorstellungswelt durch die Verbindung mit seiner Paneuropa-Bewegung und den Zielen eines kontinentaleuropäischen Zusammenschlusses gegen die UDSSR, die britische Welt und die USA. Von daher sind die Beziehungen zur Schaffung einer europäischen Oligarchie, einer europäischen Führungsschicht unter herausragender Beteiligung von Intellektuellen und „Geistesaristokraten" naheliegend. Damit stellt sich der Gründer der Paneuropa-Union nach dem Ersten Weltkrieg und nach dem sozialen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Niedergang sowohl des alten Adels wie des jüngeren Dienstadels, die er als „Adelsdämmerung" umschreibt, eine originelle Aufgabe. Er sucht an der Entstehung einer neuen Elite unter Einbeziehung aristokratischer, bürgerlicher und jüdischer Vertreter durch seine Europabewegung mitzuwirken. Damit konnte er gerade auch unter jüngeren Intellektuellen, Bürgern und Adligen Anhänger 11 12

Richard COUDENHOVE-KALERGI, Adel, Leipzig 1923, S. 43. Ebd., S. 25.

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rekrutieren. Entscheidend war dabei sicher der wesentlich stärker kulturell ausgerichtete Politikbegriff in Österreich und die Affinitäten zu stark von kultureller Priorität geprägten französischen Gesellschaftskreisen, der die adligen Vertreter dieser urban-kosmopolitischen Richtung in den zentralen politischen und sozialen Kämpfen nach dem Ersten Weltkrieg allerdings eher zu Außenseitern machte. Der Name des Gründers des „Europäischen Kulturbundes", Karl Anton Prinz Rohan besaß einen guten Klang vor allem in den französischen Kreisen, deren Lebensform ihr Ideal in vorrevolutionärer Zeit hatte, das heißt, bevor die Rohans aus dem Land emigrierten. Eine gesellschaftliche Verbindung ergab sich dabei in erster Linie zu Industriellen und Diplomaten wie zu Intellektuellen und Literaten, die eine Affinität zu aristokratischem Lebensstil und aristokratischer Gedankenwelt hatten. Es ging ihnen dabei im Grunde um die Schaffung eines neuen sozialen Stils und einer neuen gesellschaftlichen Formation, der sich mit den Begriffen von „Geistesaristokratie" und „neuem Adel" umschreiben läßt. In diesem Zusammenhang steht auch der Prinz Karl Anton Rohan, der seinem „Europäischen Kulturbund" trotz der primär kulturellen Orientierung allerdings zugleich ein prägnantes politisches Profil verleiht. In diesem Fall ist die Orientierung auf die sich neuaristokratisch verstehende Ideologie der „konservativen Revolution" und des „Philofaschismus" noch weitaus augenfälliger als im Fall Coudenhoves und seiner „Paneuropa"-Bewegung. Zugleich sind hier Inhalte und Formen des adlig-bürgerlichen Europadiskurs noch deutlicher nachzuvollziehen. 3.

Der „Europäische Kulturbund" des Prinzen Karl Anton Rohan: der adlig-bürgerliche Europadiskurs im Fahrwasser der konservativen Revolution'

3.1. Rohans „Europa"-Schriiit von 1923 Seine grundlegenden politischen und geistigen Bezugspunkte hat Prinz Rohan im Gründungsmanifest des „Europäischen Kulturbundes" von 1923 publiziert. Dieses wurde in Form einer Broschüre mit dem schlichten Titel „Europa" veröffentlicht. Sie erschien in demselben Leipziger „Neuen Geist"-Verlag, der nicht nur Coudenhoves „Adels"Broschüre, sondern auch die Werke des Religionsphilosophen Max Scheler herausbrachte. Scheler war nach Nietzsche und neben Carl

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Schmitt, in dessen Festschrift 1968 Rohan noch zum Thema „Ordnung, nicht Chaos" publizierte, der wichtigste Philosoph für Rohan. 13 In der „Europa"-Broschüre legte Rohan ein ausdrückliches Bekenntnis zum Faschismus und seiner deutschen Sonderform der „konservativen Revolution" ab. Im Faschismus sah Rohan die der europäischen Jugend „gemäße politische Form". Das „große Reinemachen von demokratischer Korruption" bezeichnete er zudem „als eine durchaus adelige Angelegenheit". Das Junge Europa" wolle „nicht Vernichtung um jeden Preis, sondern Ausrottung des Faulen, nicht sentimentales Freiheitslechzen, sondern zielbewußte Organisation einer freien Menschheit, nicht ideologische Weltverbrüderung, sondern Schaffung eines geeinigten Europas." Einerseits sei das alte „aristokratische System" „erledigt", andererseits die „demokratischen und sozialistischen Versuche endgültig gescheitert". Das programmatischreaktionäre, rückwärtsgewandte Denken seiner Standesgenossen sah Rohan als „Verbrechen an der eigenen Substanz" an. Aufgabe des Adels sei es nun „seiner Tradition gemäß, konservativ die alten Werte mittels der neuen Impulse der Revolution umzuformen". 14 Die Existenzkrise des Adels ist für Rohan ein wesentliches soziales und mentales Element seiner „europäischen Bewegung". An Stelle des alten Adels sieht er eine neue Elite treten aus Intellektuellen, Industriellen und Führern, eine neue „Geistesaristokratie". In diesen Teilen sieht man die große Nähe Rohans zu Coudenhove. Diese soziale Schicht mit elitärem Sonderbewußtsein bildet denn auch die Mitgliedschaft des „Europäischen Kulturbundes". Sie ist im Übrigen auch repräsentativ für die weitaus meisten deutsch-französischen zwischenstaatlichen Gesellschaften - sicher für das „Deutsch-Französische Studienkomitee" des Luxemburger Stahlindustriellen Emil Mayrisch, mit dem es daher kaum überraschende personelle und organisatorische Überschneidungen gab. Die verwandte elitäre Sozialstruktur gilt aber auch für die „Deutsch-Französische Gesellschaft", die „Davoser Hochschulkurse", die Jugendbegegnungen („Sohlberg") und die Treffen der Katholiken.15

13

14 15

Karl Anton Prinz ROHAN, Ordnung, nicht Chaos, in: Hans BARION/Ernst-Wolfgang BÖCKENFÖRDE u.a. (Hg.), Epirrhosis. Festgabe für Carl Schmitt, Berlin 1968, S. 325-331; DERS., Heimat Europa. Düsseldorf 1954, S. 232-233. Karl Anton ROHAN, Europa, Leipzig 1923, 2. Aufl. 1924, S. 8-9. Hier ist eine zentrale Gestalt der Frankfurter Physiker und Zentrumspolitiker Friedrich Dessauer, der 1928 einen Vortrag beim Prager Kongreß des Kulturbundes hielt. Er stand Brüning nahe, forderte die vielfaltigen Bestrebungen des Orga-

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Den Faschismus bewertete Rohan als durchaus konservativ in seinem Bemühen um den Erhalt der „wenigen noch lebensfähigen Werte". Er mache „Front gegen die Reaktion der demokratischen, der sozialdemokratischen Welt, als einer Welt des Rationalismus." Für Deutschland hielt Rohan einen „Fascismus deutschester Art" für notwendig. Dabei sah er in Deutschland besonders das Problem, „einen der Wirtschaft gewachsenen politischen Partner zu schaffen." Das „könnte nur ein aus der Arbeiterbewegung herausbrechender deutscher Fascismus" sein. In der „gezwungenen, gekünstelten Engbrüstigkeit des deutschen Nationalismus" sah er hingegen eine Nachahmung des Westens.16 Diese ausdrücklich positive Bewertung des italienischen Faschismus fehlt bei Coudenhove, der allerdings seit 1923 mehrmals Mussolini für seine paneuropäische Sache zu gewinnen sucht. Die zukünftige Aufgabe des Deutschen erblickte Rohan dank „seiner übernationalen Einstellung" und der durch die Geographie zugewiesenen Lage darin, „die natürliche Brücke zwischen West und Ost, Nord und Süd" zu bilden. Diesen Typus sah er bereits im übernationalen „deutschen Wirtschaftsgeneral" verwirklicht. So ist Rohan deutlich weniger kapitalismuskritisch als der Anfang der zwanziger Jahre noch stärker von einem metaphysischen Sozialismus berührte Coudenhove, der sich in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre dann auch mehr sozial eingestellten Unternehmern wie Louis Loucheur und Robert Bosch zuwendet. Ähnlich setzte Rohan in Frankreich seine europäische Hoffnungen besonders in zwei neue soziale Gruppen: den neuen Typus des technokratischen Konzernherrn und Managers im „Industriegeneral" und den gegen die bourgeoise Korruption gerichteten , jungen Radikalismus".17 Für Rohan war der „revolutionäre Impuls des jungen Europa" gegen „das überlebte demokratisch-parlamentarische System [...] im nisators der Davoser-Hochschulkurse Gottfried Salomon-Delatours in Frankfurt für die deutsch-französische Verständigung und stand in engen Beziehungen zu führenden Frankfurter Industrie- und Bankkreisen. Genauso ist auf Max Clauss, Arnold Bergsträsser, Pierre Viénot und Emil Mayrisch hinzuweisen, die sowohl für das Deutsch-Französische Studienkomitee wie den Kulturbund tätig waren. Personelle Beziehungen gab es auch über den Wiener Dichter Hugo von Hofmansthal und das in Berlin lebende Ehepaar Alfred und Helene von NostitzWallwitz (eine Nichte Hindenburgs). 16

ROHAN, Europa, ( w i e A n m . 14), S. 21 - 3 0 .

17

Ebd. - Hier sind nach Rohan als Beispiele der Wirtschaftsführer Louis Loucheur und Joseph Caillaux und die jungen Radikalsozialisten Marcel Déat und Alfred Fabre-Luce zu nennen.

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Bolschewismus so entsetzliche Um- und Irrwege" gegangen. Hingegen sah er diesen Impuls im Faschismus „zentral als konservative Revolution aufgetreten".18 Damit prägte Rohan bereits 1923 den entscheidenden politischen Begriff für die geistige und politische Gruppierung, die er als europäische Bewegung mitbegründete. Im „Europäischen Kulturbund" wird so die Nähe zur „konservativen Revolution" bereits 1923 durch ihren Gründer und Präsidenten augenfällig. 3.2. Rohan und „Die Aufgabe unserer Generation" (1926) Drei Jahre nach seiner „Europa"-Broschüre stellte Rohan 1926 in der auf einen Vortrag zurückgehenden Publikation „Die Aufgabe unserer Generation" wiederum für seine Ziele ausdrücklich die Parallele zum Faschismus her: „Konservative Revolution nennt man hier dasselbe Lebensgefiihl."19 Die vor allem in jungkatholischen und deutsch-französischen Kreisen z.B. um die Zeitschrift „Abendland" rezipierte Schrift erschien im größten rheinisch-katholischen Verlag, dem Kölner Bachem-Verlag. Mit ihr stellen sich die Verbindungen zur jungkatholischen Bewegung her.

Ebd., S. 25. Die kursiv gedruckte Stelle ist dort gesperrt gedruckt. Es heißt weiter: „Der Fascismus ist durchaus revolutionär. [...] Das aristokratische System ist erledigt, demokratische und sozialistische Versuche sind endgültig gescheitert, ein neuer Weg des Aufbaus einer neuen Weltordnung muß beschritten werden. [...] Der Fascismus ist durchaus konservativ. Die wenigen noch lebensfähigen Werte müssen erhalten bleiben. [Hier zitiert Rohan in einer Fußnote ausführlich Pietro Gorgolinis Anti-Liberalismus nach dessen französischer Ausgabe „Le fascisme" mit einem Vorwort Mussolinis], [...] Der Facsismus ist durchaus traditionell. Aber Tradition lähmt ihn nicht. [...] Tradition ist ihm Forderung fur das Heute, Peitsche zur Höchstanspannung der Kräfte und nicht passives Schwelgen in der Vergangenheit. Er will die Hierarchie des Kopfes über die Hand, des Geistes über die Tat. Er hat kein eigentliches Programm, aber, was heute gewiß mehr bedeutet, den Glauben an die Zukunft. Der revolutionäre Impuls des jungen Europa, der im Bolschewismus so entsetzliche Um- und Irrwege ging, ist hier zentral, als konservative Revolution aufgetreten. Durchaus linksradikal, macht er Front gegen Reaktion der demokratischen, der sozialdemokratischen Welt, als einer Welt des Rationalismus, will aber alle rettbaren Werte wahren, um sie aus dem chaotischen Liquidationsprozeß der Gegenwart in eine neue Zukunft überzuführen." (S. 24f.) So entwickelt Rohan das Programm der Konservativen Revolution direkt aus dem italienischen Faschismus. Über die „rettbaren Werte" macht er allerdings wie viele selbsterklärte Retter keine konkreten Angaben. Karl Anton ROHAN, Die Aufgabe unserer Generation, Hg. von Karl HOEBER, Bd. 17), Köln 1926, S. 20.

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Deutlich spricht Rohans Generationsbeitrag von 1926 die Sprache der Ideen von 1914, in scharfer Abgrenzung zu den Ideen von 1789. Nach einer Schilderung des politischen Niedergangs und der Krise des modernen Staates, in der Staat, Nation, Gesellschaft und Europa stekken, folgert er: „In diese Situation tritt die junge Generation ein, erfüllt von ihrer Mission, eine neue Ordnung, eine neue Lebensform aufzubauen. Aus all dem Gesagten weist nur Eines nach vorn: das Streben nach neuer, engerer Gemeinschaft. [...] Politische Ordnung ist nur denkbar als Gleichgewicht zwischen Führer und Geführten. [...] Die Gesellschaft ist ein Organismus, gleich wie der menschliche Körper, der zu seinem Leben verschiedene Organe braucht. [...] Wollen wir aufbauen, so müssen wir bei der Führerauslese beginnen. [...] Ich glaube, daß es in allen Zeiten politischer Ordnung Adel in irgendeiner Form geben wird. [...] Nachdem die Hilfskonstruktion des Rousseau'schen Denkens, die Utopie der Gleichheit aller Menschen, ein für allemal durchschaut ist, geht es nicht mehr an, jedem den gleichen sozialen Wert zuzuerkennen. Es gibt im heutigen Europa Qualität: sie beginnt sich sogar bereits als geistige Elite zu konstituieren, und zwar auf dem Wege, den Ortega y Gasset so schön definiert hat: ,Der Erlesene erlest sich selbst, indem er mehr von sich verlangt als von den Andern.'" 20 Als den neuen Führer stellt Rohan die neusachliche ,kalte Person' 21 vor: den starken und selbstbewußten, von der Masse distanzierten, unsentimentalen, heroischen und stilbewußten Helden, der scharf zwischen Gesinnung und Verantwortung trennt: „Wir wollen nun, um unserer Selbsterziehung eine Richtung zu geben, in großen Umrissen den Typus uns vorstellen, der für unsere Generation als Führer Gültigkeit besitzt. [...] Nicht mehr die Utopie des Glückes der Meisten durch äußere Mittel zu erreichen, ist unser Ziel, sondern die schärfste Spannung zwischen heroischem Führertum und Masse, die allein wirkliches Glück der Menschen bringen kann. Wir können es heute kaum mehr verstehen, daß Europa noch vor kurzer Zeit glauben konnte, daß man das Glücksproblem des Einzelnen von außen her, durch soziale Maßnahmen zu lösen vermöge. Von unsern Führern müssen wir also vor allem verlangen, daß sie das Lebensproblem als solches kalt, ohne alle

Karl Anton ROHAN, Die politische Problematik unserer Generation. Typoskript (1925/26), in: Teilnachlaß Lily von Schnitzler in Privatbesitz. Helmut LETHEN, Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt a. M. 1994, beschreibt diesen Typus für die junge Generation der zwanziger bis vierziger Jahre.

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Mitleidssentimentalität anschauen. [...] Wir wollen aufblicken können: wir haben es satt, die Geschicke der Gesellschaft von Menschen gelenkt zu sehen, die immer wieder dem dumpfen Befehl der Masse gehorchen. [...] Es ist eines jener verheerenden Mißverständnisse der vergangenen Periode geistiger Verwirrung und menschlicher Schwächlichkeit: in die Politik andere, in Sonderheit ethische Grundsätze hineintragen zu wollen." 22 Diese Sicht übertrug er auch auf die Heranbildung einer neuen europäischen Geistesoligarchie: „Die Wendung nach einer neuen europäischen Ordnung kann auf zweierlei Wegen erfolgen: entweder es bildet sich um einen Führer oder um die neue Gemeinschaftsidee des übernationalen Europa ein Mythos, der die Atmosphäre zu rascher Verwirklichung schafft, oder aber wir werden Schritt für Schritt, organisch gleichsam, im kalten Verfahren aufbauen müssen. Unsere neue Einstellung zur Gemeinschaft verbietet es uns, vom unabhängigen Einzelmenschen als Aufbauzelle der Gesellschaftsbildung auszugehen. Nicht das abstrakte Individuum, sondern wohl das Individuum, aber in seiner sozialen Verbundenheit, als sozial bedingte Entität, bildet die Grundlage der organischen Gesellschaft."23 Dabei bezog Rohan sich ausdrücklich zurück auf das Reich der Karolinger: „Solche Richtlinien, auf den heute große Politik allein interessierenden Raum Europa bezogen, führen in die Nähe der Forderung, die Valéry Larbaud unlängst in der .Europäischen Revue' gestellt hat, als er schrieb: ,Alle unsere Bemühungen sollten dahin gehen, das letzte Meisterwerk wieder zu erschaffen, das uns in der jüngsten Vergangenheit gelungen ist: das Reich Karls des Großen.'" 24 Und weiter wandte er sich an die europäische Jugend: „Die europäische Jugend muß, will sie aus dem Chaos, das sie vorfindet, Ordnung und Gestalt schaffen, von der anthropozentrischen Autorität ausgehen. Sie wird sich bemühen müssen, bereits innerhalb dieser Begrenzung ein System anzuwenden, das den Führermenschen tatsächlich an die Spitze bringt, das die Qualität dem erdrückenden Ansturm der Massen siegreich entgegenstellt. Sie wird im Namen des Geistes eine Ordnung schaffen müssen, die den organischen Gliederbau der Gesellschaft sichtbar zum Ausdruck bringt, um damit alle Vorbereitungen zu treffen für den entscheidenden Wendepunkt in der Geschichte des zukünftigen

22 23 24

ROHAN, Problematik (wie Anm. 20). Ebd. Ebd.

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Europa: für den Augenblick, da eine Wiederverwurzelung der Autorität im Metaphysischen möglich wird."25 Im katholischen Begriff der „complexio oppositorum", der „Uraspannung der Gegensätze", sah Rohan einen „guten Begriff für die „geistige Haltung, die für den Europäer gefunden werden muß": „Wer ganz im Nationalen wurzelnd doch soweit frei wird, den Gegensatz zu diesem Nationalen mitzusehen, mitzuerleben, als dazu gehörig und notwendig zu begreifen, der hat den ersten Schritt zum Europäer gemacht, der baut mit an der großen Kuppel der Übernation von morgen."26 So hatte Rohan aus seinem katholischen Hintergrund heraus eine philosophische Möglichkeit zur Verbindung von Nationalismus und Europäismus erkannt, die auf manche Zeitgenossen attraktiv wirken konnte. Propagiert wurde dieses europäische Elitenkonzept einer faschistisch-autoritären, katholisierenden „konservativen Revolution" über den „Europäischen Kulturbund" bzw. die „Fédération des Unions Intellectuels" und Rohans Zeitschrift „Europäische Revue". Anteil nahmen an diesen Unternehmungen führende bürgerliche und jungaristokratische Intellektuelle, Politiker, Publizisten und Wirtschaftsführer aus ganz Europa. Ohne daß alle Mitwirkenden einfach für die Ideenwelt der „konservativen Revolution", der Rohan eindeutig zugehört, in Anspruch genommen werden können, so zeigt sich im europäischen Kontext doch eine große Affinität auch liberaler, katholischer und konservativer Intellektueller zu dieser Bewegung. 3.3. Die gesellschaftliche und inhaltliche Entwicklung des „Europäischen Kulturbundes" 1922-1932/37 In Österreich wurde Karl Anton Prinz Rohan seit 1921 gefördert durch den führenden Staatsrechtler und Regierungsberater Joseph Redlich, den Großkaufmann Julius Meinl, den Dichter Hugo von Hofmannsthal und vor allem den Prälaten und Bundeskanzler Ignaz Seipel. Auf deren Rat hin eroberte der gesellschaftlich gewandte Prinz aufgrund seines Namens seit 1923/24 führende Vertreter der Pariser Gesellschaft für seine Anliegen. Eingeladen wurde er nach Paris durch den jungen rechtsextremistischen Intellektuellen Baron Robert Fabre-Luce, dessen Ziel die Grün25

ROHAN, Problematik (wie Anm. 20). Vgl. die leicht abgeänderte Druckfassung: ROHAN, A u f g a b e ( w i e A n m . 19).

26

Ebd. S. 21.

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dung einer völkischen Bewegung der „neuen Rechten" in Europa war.27 Die Gräfin Eugène d'Harcourt, Schwester des bekannten katholischen Germanisten Robert d'Harcourt, und der deutsche Botschafter Leopold von Hoesch verschafften Rohan den Zugang zu den Pariser Salons und zu westdeutschen Großindustriellenkreisen. In Frankreich fand Rohan Unterstützung beim Kardinalbischof von Paris, Dubois, dem Pazifisten und Direktor der Nationalmuseen, Baron D'Estoumelles de Constant, bei Paul Desjardins - dem Begründer der „Ecole pour la vérité" und der Treffen von Pontigny sowie bei dem radikalsozialistischen Physiker Paul Langevin, der sich aktiv für eine Überwindung des Wissenschaftsboykotts gegen Deutschland einsetzte und in der Liga für Menschenrechte aktiv war. Weitere Anhänger waren der Jurist Louis Gallié, der Bildhauer Bourdelle ferner die Komponisten Francis Casadesus und Maurice Ravel, der Mathematiker und frühere Marineminister Emile Borei, die Wissenschaftler Lucien LévyBruhl, Léon Brunschwicg, Marie Curie, Henri Lichtenberger und die Schriftsteller André Germain, Edmond Jaloux, Gustave Kahn, R. Martin du Grand, Eugène d'Harcourt und Paul Valéry. Eine zentrale Rolle bei der Konstituierung und Arbeit der französischen Sektion spielte der Verleger Charles Hayet, der die französische Sektion des Kulturbundes auch finanziell unterstützte.28 Programmatisches Ziel des Kulturbundes war es, durch geistige Bindungen zwischen kulturellen Führern aus der „führenden Gesellschaft und den maßgebenden Geistigen" 29 das „Hineinwachsen von Völkern in einen neuen Oberbegriff Europa" zu fordern: „Unbeschadet eines materiellen und als solchen gewiß gesunden und notwendigen Nationalismus, über diesen hinaus stellt die Zeit uns die Forderung

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Robert Fabre-Luce gründete später eine eigene extrem rechte europäische Bewegung unter dem Namen „Vers l'Unité", deren Anhängerschaft in Frankreich sehr begrenzt blieb und die 1933 bei Hitler und Goebbels keine Unterstützung fand. Der deutschen Sektion, die 1927 gegründet wurde, gehörten der DNVP-Abgeordnete Martin Spahn, Otto Hoetzsch, Schrenck-Notzing, Baron Heinrich von Gleichen, Graf von Manteuffel und Vertreter des Stahlhelm wie der „Jungnationalen Vereinigung" an. (Vgl. Guido MÜLLER, Deutsch-Französische Gesellschaftsbeziehungen nach dem Ersten Weltkrieg. Habilitationsschrift, Aachen 1997, S. 407, Anm. 36). L'œuvre de la Fédération des Unions intellectuelles 1923-1928, Prag 1928, S. 9; Union Intellectuelle Française: But de la Fédération des Unions Intellectuelles, Privatdruck Paris 1924, in: Teilnachlaß Lily von Schnitzler in Privatbesitz. Statuten des Kulturbundes, in: L'œuvre (wie Anm. 28), S. 7.

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nach der Synthese - Europäer."30 Auch hier ist wieder das Bemühen um die Verbindung der beiden Begriffe Nationalismus und Europa evident. Rohan beruft sich auf die neue Führungsaufgabe des Adels, der als traditionelle Aristokratie im welthistorischen Umbruch 1917/18 liquidiert worden sei. Er betont die herausragende Rolle seiner JugendGeneration, der Frontkämpfer-Generation, und ihres Kriegserlebnisses, in dem eine neue religiöse Sehnsucht erwacht sei. 31 Er stellt den Anti-Liberalismus, den Anti-Rationalismus und in ihrer Folge den Anti-Kommunismus als die zentralen Voraussetzungen seiner gegen die Ideen von 1789 gerichteten gegenrevolutionären Ideologie heraus. Rohan wendet sich gegen Spenglers kulturpessimistisches Schlagwort vom „Untergang des Abendlandes" und gegen zyklische Geschichtsvorstellungen. Er setzt auf eine fortschreitende Entwicklung zu einer „Welt von morgen" mit einem „ständisch gegliederten Produktionsprozeß", in dem nicht nur der besitzende Bourgeois keinen Platz mehr habe, sondern auch der Mittelstand von Handwerkern und Gewerbetreibenden ganz verschwinden werde. Dafür würden an der Spitze Wirtschaftsgeneräle, Industrieuntemehmer und Finanziers stehen, „abwärts bis zum Kopfarbeiter". Der Arbeiter müsse „vom besitzer30

31

Karl Anton ROHAN, Gründungsschrift des „Kulturbundes", Wien Herbst 1921, in: Nachlaß Lily von Schnitzler. • Geradezu hymnisch schreibt Rohan: „Vielleicht hat noch nie eine Generation gelebt, die den Einschnitt, die Kluft zwischen gestern und morgen so bewußt empfand, wie die unsere. Gewiß gab es noch nie eine Generation, die mit soviel Ernst darum wußte, daß sie keine einzige Frucht ihrer fast verzweifelten Arbeit selbst würde ernten dürfe. Denn das, worauf es ankommt, greift über Jahrhunderte zurück, und soll der Keim sein, der erst nach manchen Generationen zur Reife gelangen kann." (Ebd., S. 18f.). Eine selbständige Publikation widmet Rohan diesem Generationskultus in: DERS., Aufgabe (wie Anm. 19). In dieser Broschüre legt Rohan erneut sein Bekenntnis zum italienischen Faschismus ab: „Unsere Generation hat ein feines Gehör für das Notwendige, und in Zeiten, da eine Krise die andere jagt, sind eben auch Gewaltmaßnahmen, oft blutige Operationen notwendig. [...] Die Jugend hat im Schützengraben die Demut gelernt, die zur Religion führt. [...] Italien: Dort zeichnet sich der Typus der jungen Generation am klarsten; denn dort ist er bereits an der Macht. [...] Der Fascismus hat keine Ideologie. Das werfen ihm seine Feinde, die alten Generationen vor. [...] Unsere Generation glaubt aber nicht an Programme. [...] Der Fascismus drückt lediglich das Lebensgefühl der Jugend aus. [...] Das Problem des Fascismus geht die ganze europäische Jugend an. Denn hier ist, allerdings streng innerhalb der Nation, zum ersten Mal versucht worden, Traditionalismus mit Zukunftswillen zu verknüpfen. Alle liberalen Positionen, die unhaltbar geworden sind, werden eingerannt, man versucht den Weg zu einer organischen Volksvertretung zu finden." (Ebd., S. 9, 19f.).

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strebenden Sozialdemokraten zum kollektivistisch empfindenden Arbeiter werden, nicht aber zum Proleten". Im Bauerntum sah Rohan „die große Reservearmee für das die Volkskörper zersetzende Vorwärtsstürmen der modernen Städte".32 Seit 1923 wird Rohan durch den gleichaltrigen italienischen Faschisten Aldo Pontremoli in führende faschistische Gesellschaftskreise in Mailand und Rom eingeführt. Nach Paris 1924 findet in Mailand 1925 unter Anteilnahme der akademischen Elite des faschistischen Italien die zweite große Tagung des Kulturbundes statt. Im Zentrum der Tagung stand die Aufhebung des westlichen Wissenschaftsboykotts gegen die deutsche Wissenschaft. Der Heidelberger Soziologe Alfred Weber hielt die Schlußansprache und dankte dem gastgebenden faschistischen Italien als dem „Land des immer neuen rinascimento": „Hier in diesem Land [...] haben wir für uns einen neuen europäischen Frühling gefunden." 33 In Deutschland stößt Rohan in dieser Zeit zunächst auf Interesse im Umkreis der Darmstädter Schule der Weisheit bei Hermann Graf Keyserling und Kasimir Edschmid. Durch sie und seine französischen Empfehlungen wurde er in Frankfurter wirtschaftlichen Kreise um den IG-Farben-Exportdirektor Georg von Schnitzler und seine Frau Lilly von Mallinckrodt eingeführt. Von dort kommt er in die Heidelberger akademischen Kreise um Ludwig Curtius, Hans Driesch und vor allem Alfred Weber. Die Schnitzlers empfahlen Rohan weiter an den Baron Alfred von Oppenheim und den Kölner Industriellen Otto Wolff. Bald entsteht eine Kölner Ortsgruppe unter Leitung des Oberbürgermeisters Adenauer und des Wirtschaftswissenschaftlers und Faschismuskenners Erwin von Beckerath. In München unterstützen ihn der Verleger Kurt Wolff und der Historiker Alexander von Müller. In Berlin protegieren ihn Alfred Graf von Nostitz, der deutsche Vorsitzende des „DeutschFranzösischen Studienkomitees", und seine Frau Helene, eine Nichte des Reichspräsidenten von Hindenburg und mäzenatische Freundin der Künstler Rodin, Rilke und Hofmannsthal. Weitere Berliner Förderer sind u.a. Fürst Günther von Schönburg-Waldenburg, Freiherr Werner von Rheinbaben, Richard von Kühlmann und Vertreter des „Herrenclubs". So läßt sich gerade für die preußische Hauptstadt zwar ein hoher Anteil von Adligen im „Kulturbund" konstatieren. Diese kamen 32 33

Ebd., S. 34f.. Alfred WEBER, Rede beim Schlußbankett der Internationalen Jahresversammlung in Mailand, in: Europäische Revue Bd. 1/2 (1925/26), S. 302. Vgl. auch DERS., Die Krise des modernen Staatsgedankens in Europa, Stuttgart 1925.

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allerdings überwiegend aus dem diplomatischen Dienst und der Kulturförderung und standen daher europäischen Anliegen aufgeschlossener gegenüber als die Mehrzahl ihrer Standesgenossen. Somit waren sie eher kosmopolitische Außenseiter als Zentralgestalten der preußischen und der Berliner Adelsgesellschaft. Gerade deshalb dürfen sie aber auch nicht übersehen oder verschwiegen werden. Im Locarno-Jahr findet Rohan weitere Unterstützung u.a. bei verschiedenen namhaften Großunternehmern wie Robert Bosch, Karl Haniel, Wilhelm Cuno, Richard Merton, Otto Wolff, bei den Bankiers Franz von Mendessohn, Jakob Goldschmidt (Danat-Bank) und Vertretern der Dresdener und der Deutschen Bank. Mit deren finanzieller Hilfe gelingt Rohan 1925 die Gründung der wichtigsten und mondänsten deutschsprachigen europäischen Kulturzeitschrift „Europäische Revue". Diese sollte nach Rohans Ausscheiden ab 1933 schließlich mit Hilfe des Auswärtigen Amtes und des Propagandaministeriums bis 1944 weiterbestehen. 34 Dem Freundeskreis der Zeitschrift gehörten 1927 u.a. die Großindustriellen und Bankiers Hermann Bücher, Carl von Weinberg, Louis Hagen, Franz von Mendelssohn, Alfred von Oppenheim, Paul Silverberg, Albert Vogler, Carl Henckell, Emil Mayrisch, Paul von Schwabach und Max Warburg an. Stresemann lehnte hingegen trotz nachdrücklicher Fürsprache des Heidelberger Soziologieprofessors Alfred Weber eine Unterstützung durch das Auswärtige Amt persönlich ab. 35 Im Januar 1926 folgte Thomas Mann der Einladung der französischen Kulturbund-Gruppe in Verbindung mit der Carnegie-Stiftung zur seinem ersten Parisbesuch seit dem Kriege. Ihm waren 1925 bereits Rilke und Hofmannsthal vorausgegangen, Keyserling folgte ihm wenige Monate später. Der Auftritt im Kulturbund verschaffte dem damals noch sehr demokratiekritischen Thomas Mann wieder internationales Ansehen. Ab 1925 warb Hugo von Hofmannsthal publizistisch für den Kulturbund. Er eröffnete auch den großen Wiener Kongreß 1926 in der Hofburgbibliothek, nur zwei Wochen nach dem ersten PaneuropaKongreß am selben Ort. Wien suchte sich damals gegen den britischfranzösisch dominierten Völkerbundsitz Genf als Hauptstadt der euro-

34

Guido MÜLLER, Europäische Revue, in: Caspar von SCHRENCK-NOTZING (Hg.), Lexikon des Konservatismus, Graz/Stuttgart 1996, S. 162f. Alfred WEBER am 10.5.1928 an Liliane von Schnitzler, in: Nachlaßrest von Schnitzler in Privatbesitz.

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päischen Bewegung zu profilieren. Dabei spielte Ignaz Seipel eine führende Rolle. Hofmannsthal betonte in seiner Eröffnungsansprache, daß niemand in seiner Sorge um Europa aufrichtiger sein werde „als der, dem Europa ein verlorengegangenes großes Vaterland ersetzen muß." 36 Der Heidelberger Starsoziologe Alfred Weber hielt in der Hofburg die große Festansprache über „Das zeitgenössische Deutschland und seine Aufgabe in Europa". Weber sah Deutschland in der Gefahr, in die „Sklaverei" entweder der westlichen Zivilisation oder in die des „östlichen Leviathan" zu geraten. Daher bekenne sich Deutschland in seiner „neuen starken, bewußten Liebe zu Europa" zur „europäisierten Welt der weißen Rasse". Weber sah eine „neue Politik" und eine „neue Metaphysik" am Horizont, in der die Gegensätze von Kapitalismus und Sozialismus, von Demokratie und Legitimismus keine Rolle mehr spielen sollten. Die Verwirklichung dieses Programms der Aufhebung aller Gegensätze erhoffte sich Weber von der „kommenden Jugend". In ihr sah er „Idealisten ganz ohne Pathos, Realisten aus dem Bewußtsein der Erdverbundenheit und doch frei vom Nur-Technischen des einseitigen Realismus, national bis in die Knochen und doch bewußt hinausstrebend aus der bisherigen Enge." Mit diesen Männern ohne humanistische Skrupel, von Frauen ist nicht die Rede, sollte der Kulturbund nicht nur ein gemeinsames Werk, sondern eine „neue Noblesse zwischen den Völkern" schaffen. Aus gegenseitiger Anerkennung und Bewunderung solle nicht nur eine „übernationale Geistigkeit" sondern eine „wahre geistesaristokratische Tugend" entstehen. 37 Als Gründer und damaliger Leiter des Berliner Büros des „Deutsch-Französischen Studienkomitees" richtete der französische Kriegsinvalide Pierre Viénot an Rohan und den Kongreß eine Botschaft. Darin betonte er die neue Rolle der jungen, früh gereiften Kriegsteilnehmergeneration gegenüber dem alten, geistigen Europa von gestern. Die neue junge Generation strebe mehr an als eine auf gegenseitige Tolerierung nationaler Ideen gegründete „europäische 36

Hugo von HOFMANNSTHAL, Ansprache bei Eröffnung des Kongresses der Kulturverbände in Wien, in: DERS., Prosa IV, Frankfurt a. M. 1977, S. 336-342.

37

Alfred WEBER, Rede beim Empfang des Kongresses (18.10.1926), Bl. 2, in: Septième Rapport (1926) du Sécrétariat général, Illè Assemblée de la Fédération des Unions intellectuelles, Vienne, le 18, 19 et 20 octobre 1926, gedrucktes Manuskript, in: Nachlaß Lily von Schnitzler in Privatbesitz; die französische Fassung ebd. S. 21; vgl. Alfred WEBER, Der Deutsche im geistigen Europa, in: Europäische Revue, Bd. 2/2 (1926/27), S. 276-284; französische Fassung in: Septième Rapport, S. 20f.

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Gesellschaft". Ihr Ziel sei eine feste und starke „europäische Gemeinschaft." Diese beruhe allerdings auf den nationalen Werten, die Angehörige der Frontkämpfergeneration durch ihr Leben verteidigt hatten. Die Generation der Frontkämpferelite werde den Krieg überwinden und aus ihm die Voraussetzungen der Solidarität beziehen.38 Euphorisch stimmten diesem Bekenntnis zu einer zugleich national und europäisch gesinnten Kriegsgeneration ein junger Italiener und ein junger Deutscher zu. Der eine war der Faschist Aldo Pontremoli, der seit 1923 zum Kulturbund gehörte, der andere der damals noch der DDP nahestehende Heidelberger Privatdozent Arnold Bergsträsser. Bergsträsser sprach davon, daß „kein anderer Weg als der des gegenseitigen geistigen Austrage des Nationalen in seiner ganzen Fülle und Schwere" zu Europa führen könne. Für seine Generation war „Europa zur Realität zuerst durch den Krieg" geworden. Für den kriegsverletzten Bergsträsser war „allein die Idee der Nation, vielleicht die am tiefsten europäische aller Ideen Europas", geeignet, eine „gestalthafte Einheit unseres abendländischen Kontinents sich herausbilden zu lassen". Er berief sich dabei auf eine „Art Kameradschaft, die unter denen entstand, für die der Krieg zum großen Eingangstor ihres Lebens geworden ist," einer „Kameradschaft ,à l'ombre des épées'". 39 Erst voll ausgeprägte, befriedigte und ausgelebte Nationen konnten demnach ein gemeinschaftliches Europa schaffen. Bergsträsser stand hier ganz unter dem Eindruck der „Ideen von 1914", die für ihn den Beginn eines Weges zur „gestalthaften Einheit unseres abendländischen Kontinents" darstellten. Nicht nur der bekannte französische Dichter Paul Valéry zeigte sich ergriffen von diesem europäischen Generationsbekenntnis. Auch für Hofmannsthal waren diese drei Äußerungen die jugendliche „Apotheose des Kongresses".40 In einem Brief an den österreichischen Staatsrechtslehrer Josef Redlich klingt diese Begeisterung noch nach. Hofmannsthal betonte, daß er unter den Bestrebungen, europäische Aussprachen herbeizuführen, denen Rohans „bei weitem den Vorzug" gebe. Er wolle „alles tun, um sie zu fordern". Die faschistischen Dele-

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4 0

Pierre VLÉNOT, in: Rapport (wie ANM. 37). Aldo PONTREMOLI, in: ebd., S. 24; Arnold BERGSTRÄSSER: Antwortrede. Beilage zum Rapport über den III. Kongreß, in: ebd., S. 2. HOFMANNSTHAL, in: e b d . , S. 2 5 .

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gierten gefielen ihm wegen ihrer „dem französischen Wesen so entgegengesetztein] spezifisch italienische[n] Vibration".41 Ähnlich wie Alfred Weber 1925 in Mailand erlag Hofmannsthal 1926 in Wien der Faszination gegenüber dem, was Rohan in der „Europäischen Revue" zur selben Zeit als das „neue Lebensgefühl" bezeichnete, das der „Fascismus" geschaffen habe: „heroisch-tragisch, jung-revolutionär und traditionalistisch zugleich, unideologisch-aktivistisch, Noblesse in der Hingabe an ein überindividuelles Ideal".42 Dieses Bild einer neuen Generation schwebte Hofmannsthal wenige Monate später in seiner Münchener Universitäts-Rede vom Januar 1927 über „Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation" vor. Dabei sprach er von den „Suchenden", den „Vereinzelten, aber um die höchsten Bindungen Bemühten". Die von ihnen angestrebte geistige Umwälzung nannte er eine „konservative Revolution". Deren Charakeristika waren Hofmannsthal zufolge, angelehnt an Nietzsche, das „Heroische" und „alles Hohe, Heldenhafte und auch ewig Problematische in der deutschen Geistigkeit". Hier sah er „mit neuem Mut und Glauben die Anarchie legitimiert". Diese Generation sei „revolutionär*' mit dem „Stigma des Usurpators im scheulosen Auge". Ihr Kennzeichen sei weiterhin die „Hybris des Dienenwollens, überkommenen Ordnungen das Blutopfer [sie !] zu bringen". Hofmannsthal sah sie ausgezeichnet durch „Fanatisches und Asketisches" und das „sehr strenge Zeichen der Männlichkeit".43 Der Dichter Hugo von Hofmannsthal stirbt 1929. Rohan hingegen geht mit dem Kulturbund und der „Europäischen Revue" den Weg zunächst an der Seite Brünings und von Papens schließlich bis zu Hitler und der Mitgliedschaft in der illegalen österreichischen NSDAP. Er bleibt dabei seiner Illusion eines antiliberal-antisozialistischen Bündnisses zwischen Faschismus, Nationalsozialismus und Katholizismus zum Wohle Österreichs und Europas treu - gipfelnd in seinem Buch „Schicksalsstunde Europas" von 1937.44 41

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HOFMANNSTHAL am 9.11.1926 an Redlich, in: Helga FUDGÄNGER (Hg.), Hugo von Hofmannsthal/Josef Redlich, Briefwechsel, Frankfurt a. M. 1971, S. 78 f. ROHAN, Aufgabe (wie Anm. 19), S. 121. Vgl. auch DERS., Umbruch der Zeit: 1923-1930. Gesammelte Aufsätze. Berlin 1930. Hugo von HOFMANNSTHAL, Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation. Rede, gehalten im Auditorium maximum der Universität München am 10. Januar 1927, München 1927, Nachdruck Berlin 1933; Abdruck in: DERS., Reden und Aufsätze III (1925-1929), Frankfurt a. M., S. 29-41. Karl Anton ROHAN, Schicksalsstunde Europas: Erkenntnisse und Bekenntnisse, Wirklichkeiten und Möglichkeiten, Graz 1937.

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Auf der Kulturbundstagung in Prag 1928 wurde die deutsche Delegation durch den Freiherrn Kurt von Lersner geleitet, den profiliertesten Gegner der Linie Stresemanns in der DVP. Referenten waren u.a. der Technikphilosoph Friedrich Dessauer, der französische Architekt Le Corbusier, der belgische Philosoph Hendrik de Man und der Schweizer Psychoanalytiker C.G. Jung. 1929 fand der Kulturbundkongreß im Rahmen der Weltausstellung in Barcelona u.a. mit Reden des faschistischen Sozialministers Giuseppe Bottai, des französischen Sozialisten und Mathematikers Paul Langevin und des Völkerrechtlers Carl Schmitt statt. Nach dem Kulturbundkongreß 1930 in Krakau und 1932 in Zürich scheiterte eine für Anfang 1934 in Budapest geplante Zusammenkunft an den unüberbrückbaren Gegensätzen unter den Vertretern der südost- und mitteleuropäischen Staaten. Das bedeutete das Ende des „Europäischen Kulturbundes". Lediglich in Wien hielt sich bis zum Anschluß 1938 noch eine lebendige Ortsgruppe. So war die Hochzeit des „Europäischen Kulturbundes" die zweite Hälfte der zwanziger Jahre, in der auch die anderen Europabewegungen ihre Blütezeit erlebten. Allerdings unterschied er sich durch seine soziale und geographische Reichweite in führende bürgerliche und adlige Kreise stark von den anderen Europaorganisationen, einschließlich der Paneuropa-Union des Grafen Coudenhove-Kalergi. Außerdem ist in ihm die Nähe zur Gedankenwelt der „konservativen Revolution" am deutlichsten ausgeprägt. Dabei fallt besonders auf, wie über die Kultur auch genuin politische und soziale Vorstellungen eines europäischen Zusammenschlusses vertreten wurden. 4. Zusammenfassung Politisches Ziel des adlig-bürgerlichen Europadiskurses im mitteleuropäischen Zwischenraum nach dem Zusammenbruch des Ersten Weltkrieges, der die Habsburgermonarchie noch härter getroffen hatte als das Deutsche Reich, war die Verbindung eines neuen Nationalismus mit dem europäischen Zusammenhalt. Dabei kommt es zur eigentümlichen Verbindung von aus alten katholisch-universalen Reichsutopien gespeisten jungkonservativen Vorstellungen (Rohan/Hofmannsthal) mit den wirtschaftstechnokratischen Vorstellungen von Großwirtschaftsräumen und Zweckverbänden (Alfred Weber/Georg von Schnitzler). Durch eine Verbindung von Anschluß, Mitteleuropa, Paneuropa und Abendland sollte eine europäische Lösung der deutschen Frage herbeigeführt werden. Ein selbstbewußter antiliberaler, antisozialistischer und antidemokratischer „Euro-Nationalismus" der „wei-

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ßen europäischen Rasse" sollte sich über den gesellschaftlich und kulturell erneuerten völkischen Nationalismen gründen und behaupten. Er war im Grunde das Ziel dieser stärker kulturell, ästhetisch und wirtschaftlich als politisch argumentierenden Europabewegungen. Der kulturpolitische Hintergrund der 1918 untergegangenen habsburgisch dominierten Vielvölkermonarchie war dabei wichtig sowohl für den hohen Grad an Mitwirkung durch katholische und österreichische Adlige wie für die starke Dominanz des Kulturellen. Das Reich als Mythos, als „supranationale" oder transnationale Ordnungseinheit in Europa hatte in diesen Kreisen ebenso wie das „Abendland" noch nichts von seiner Faszination eingebüßt. Soziales Ziel war die Stiftung eines neuen Adels über die nationalen Grenzen Europas hinweg, die Schaffung und Etablierung einer „Euroligarchie". Darin stimmten sowohl Graf Coudenhove-Kalergi wie der altadlige Prinz Rohan überein. Diese „Geistesaristokratie" sollte sich in Ablösung des alten Blut-, Militär- und Verdienstadels aus jungkonservativen Intellektuellen und sozial-patriarchalisch eingestellten Wirtschaftsführern zusammensetzen. Während Coudenhove dabei ausdrücklich Anfang der zwanziger Jahre auch die Juden einbezieht, fehlt diese Überlegung -ebenso aber auch antisemitische Einstellungen- bei Rohan. Im Gesamtbild der Adels-Diskussion der Zwischenkriegszeit stellt diese sowohl europäische wie neue Perspektive allerdings eher eine Randerscheinung und eine radikale Minderheitenposition dar. Sie konnte damit allerdings Attraktivität und bürgerliche Anhängerschaft in neusachlichen, technokratischen und jungkonservativen Industriellen- und Intellektuellenkreisen finden. Dabei erhofften sich vor allem junge Adlige und Rechtsintellektuelle der um 1900 geborenen „Frontkämpfergeneration", die nach 1918 vom sozialen Abstieg bedroht waren, eine führende Mitwirkung an der Durchsetzung eines „neuen Adels" sowohl auf nationaler wie auf europäischer Ebene. Daher verwundern auch die Verbindungen vor allem von Mitgliedern des elitären „Europäischen Kulturbundes" Anfang der dreißiger Jahre zum „Herrenclub" und zur jungkonservativen „Ring"-Bewegung ebenso wenig wie die zum Kreis um v. Papen. 45 Hierarchisch-autoritäre Führerstrukturen waren hierbei ein zentrales Element. Sowohl durch die

Es erstaunt daher kaum, daß gerade solche gesellschaftlichen „Amphibien"-Erscheinungen wie Thilo von Wilmowsky oder Franz von Papen- auch in elitären europäischen Vereinigungen wie dem „Deutsch-Französischen Studienkomitee" Mayrischs oder im „Europäischen Kulturbund" vertreten waren (s. den Beitrag von Stephan Malinowski in diesem Band).

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Nationalsozialisten wie durch die gesellschaftliche und politische Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg wurden diese gesellschaftlichen Vorstellungen ganz an den Rand und in den Untergrund gedrängt. Nach 1945 tauchen sie häufig in den sudetendeutschen Vertriebenenverbänden, im christlich-konservativen oder rechtskonservativen Spektrum wieder auf. Erschien ihr soziales Konzept der elitären Führerauslese in den zwanziger Jahren revolutionär-radikal, so wurden sie damit seit den fünfziger Jahren zu einer minoritären konservativen Randerscheinung - ähnlich wie die Kreise um die Zeitschriften „Nation Europa" und „Neues Abendland". Kulturelles Ziel, hier gibt es direkte Verbindungen zu Milieus der „konservativen Revolution", war die Schaffung einer katholisierenden, antidemokratischen und elitären Kuppel aus der Verbindung von voraufklärerischen europäischen Traditionen mit technisch-modernen Strukturen. Aus mißverstandenem Nietzsche-Kult, Antiliberalismus und der Rezeption katholisierender zeitgenössischer Philosophen und Literaten wie Max Scheler, Carl Schmitt und Hugo von Hofmannsthal entstand eine stark am „Mythos" und „kämpferischen Heroismus" orientierte kulturpolitische Leitidee. Dieses Konzept läßt sich am ehesten als „ästhetisierender Faschismus" umschreiben. Um 1900 standen - die häufig adligen - Anhänger dieser geistigen Erneuerungsbewegung oft an der Spitze der ästhetischen Moderne in der Kunstreform und Lebensreformbewegung. Während allerdings nur wenige - wie Harry Graf Kessler, der „rote G r a f , - sich sozialistischen, demokratischen und pazifistischen Kreisen anschlössen, wandten sich andere wie Hermann Graf Keyserling oder Helene und Alfred von NostitzWallwitz - den elitären und konservativen Zirkeln, Salons und Clubs im Umfeld des „Europäischen Kulturbundes" zu. Es paßt in diesen Zusammenhang, daß über die Frankfurter Mäzenatin Liliane von Mallinckroth-Schnitzler in den zwanziger Jahren auch ein mondäner und kosmopolitischer Vertreter des Expressionismus wie der Maler Max Beckmann oder der Architekt Le Corbusier im Kulturbund auftraten. Der aristokratische Habitus von Adligen in Stil, Etikette, Form und Heroismus der Lebensführung ging oft mit einem Gespür für die neuen Möglichkeiten von Propaganda, Werbung und Technik in der Massenlenkung einher. So war es für den Erfolg des Grafen CoudenhoveKalergi außerhalb seiner Adelskreise ausschlaggebend, mit der angesehenen Burgschauspielerin Ida Roland verheiratet zu sein und mit seiner charismatischen jugendlichen Erscheinung die Möglichkeiten der neuen Druck- und Bildmedien ausnutzen zu können. Für den Prinzen Rohan waren es hingegen die von der neuen westeuropäischen

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Wirtschaftselite protegierten Künstler Max Beckmann und Le Corbusier, ein Tiefenpsychologe wie C.G. Jung, ein Technikphilosoph wie Friedrich Dessauer und ein Philosoph wie Ortega y Gasset, die seinem elitären politischen Programm den passenden ästhetisch-modernen Anstrich verliehen. Dieser stark auf Mitteleuropa bezogene adlig-bürgerliche Europadiskurs war nicht demokratisierbar und fand zudem nur sehr begrenzt Partner in westeuropäischen und stärker von egalitären Entwicklungen geprägten Ländern. Am ehesten fand der „Europäische Kulturbund" Zuspruch bei den mondänen Zirkeln in Paris, Mailand oder Barcelona, die sozial und mental disponiert waren für die elitären und neuaristokratischen Ideen und die europäische Urbanität des österreichischen Prinzen Rohan und seinen kosmopolitischen Lebensstil. Auch Coudenhove-Kalergis „Paneuropa"-Union war alles andere als eine demokratische oder liberale Bewegung, trotz ihrer modernen Offenheit. Europa diente dabei diesen adlig-bürgerlichen Erneuerungsbewegungen als innovative und zukunftsträchtige Legitimationskraft, gerade auch in der Verbindung von Kultur, Technik und Wirtschaft. Als gesellschaftliche Struktur dienten ihnen Netzwerke und Ringe, Salons und Komitees. Dieser Versuch eines adlig-bürgerlichen Konsenses im Diskurs über Europa und einen neuen Adel zerbrach daher nicht nur am teilweise vollzogenen illusionären Bündnis mit dem Faschismus und dem Nationalsozialismus, sondern auch an seinen inneren politischen, sozialen und kulturellen Widersprüchen. Der Versuch, im „neuen Adel" eine neue soziale Bindung zwischen jungen Adligen, die modernen Entwicklungen in Kultur, Wirtschaft und Technik gegenüber aufgeschlossen und sozial mobil waren, der „Frontkämpfergeneration" und dem Bildungs- und Besitzbürgertum auf kontinentaleuropäischer Ebene zu schaffen, scheiterte nicht zuletzt daran, daß er in der Zwischenkriegszeit sowohl innerhalb des Adels wie innerhalb des Bürgertums gesellschaftlich und politisch gegenüber den Hauptströmungen randständig blieb. Trotzdem gibt es ähnliche und konkurrierende Erscheinungen im sozialen Berührungsfeld von Adel und Bürgertum nach dem Ersten Weltkrieg, die Intelligenz und geistige Führerauslese an die vormoderne Stelle von Rasse und Blut zu setzen suchten. Dabei bleiben einzelne vormoderne Partikel der Religiosität, des Lebensstils und der Lebensform von Adeligkeit weiterhin erhalten und wirken auf neue soziale Eliten des großunternehmerischen Wirtschaftsbürgertums - wie den IG-Farben-Direktor von Schnitzler oder den ARBED-Direktor Mayrisch - anziehend.

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Seine Bedeutung liegt in den mentalen und sozialen Verbindungen zur Avantgarde und den Milieus des späteren mühsamen europäischen Integrationsprozesses, dessen kulturelle und gesellschaftliche Wurzeln und Vorgeschichte bisher wenig Beachtung gefunden haben. Der minoritäre Versuch einer zeitgemässen Erneuerung des transnationalen und universalen Erbes der Habsburgermonarchie und der voraufklärerischen Reichsideen mißlang an der zunächst erfolgreichen Durchsetzung konkurrierender autokratisch-diktatorischer Systeme und an der Realität des demokratischen, pluralistischen und des totalitären Massenzeitalters. Er bietet daher in der Gegenwart keine Anknüpfungspunkte, auch wenn wir immer noch nicht jenseits des Nationalismus angekommen sind und das europäische Projekt seit der geographischen Erweiterung nach Osten und der wirtschaftlich-monetären Vertiefung mehr denn je in eine demokratische, kulturelle und soziale Krise zu geraten scheint.

ECKART CONZE

Adel und Adeligkeit im Widerstand des 20. Juli 1944

Nur wenige Stunden nach dem fehlgeschlagenen Attentat vom 20. Juli 1944 betonte Adolf Hitler in einer Ansprache gegenüber Arbeitern in Rastenburg: „Ich habe von Anfang an gewußt, daß ihr das nicht gewesen seid. Es ist mein tiefer Glaube, daß meine Feinde die ,vons' sind, die sich Aristokraten nennen." 1 Andere NS-Größen äußerten sich ähnlich, unter ihnen der Führer der Deutschen Arbeitsfront (DAF) Robert Ley, der in primitivster Vulgarität die Verschwörer als „blaublütige Schweine" bezeichnete. Leys Ausbruch gegen den Adel verband sich mit antisemitischen Versatzstücken: „Degeneriert bis in die Knochen, blaublütig bis zur Idiotie, bestechlich bis zur Widerwärtigkeit und feige wie alle gemeinen Kreaturen, das ist die Adelsclique, die der Jude gegen den Nationalsozialismus vorschickt. [...] Dieses Geschmeiß muß man ausrotten, mit Stumpf und Stiel vernichten. Es genügt nicht, die Täter allein zu fassen und unbarmherzig zur Rechenschaft zu ziehen, man muß auch die ganze Brut ausrotten." 2 In gewisser Weise, wenn auch unter gleichsam umgekehrten Vorzeichen, fand freilich diese Identifikation von Widerstand und Adel ihren Weg auch in die Nachkriegszeit. So wird bis heute in ganz erheblichem Umfang insbesondere deijenige Teil des Widerstands gegen den Nationalsozialismus, der im Attentatsversuch des 20. Juli 1944 gipfelte, im öffentlichen Bewußtsein als Adelsopposition wahrgenommen. Ethisch-moralisch unangreifbar rückt so der Adel als soziale Großgruppe, nicht etwa nur der Kreis der in der Tat überproportional am Widerstand beteiligten Adeligen im engeren Sinne, auf die Seite Zit. nach: Max DOMARUS, Hitler. Reden und Proklamationen 1932-1945, 2 Bde., Wiesbaden 1973, hier Bd. 2, S. 2127. Robert LEY, Gott schütze den Führer, in: Der Angriff, 2 3 . 7 . 1 9 4 4 , zit. nach: Detlef GRAF VON SCHWERIN, „Dann sind's die besten Köpfe, die man henkt". Die junge Generation im deutschen Widerstand, München 1994, S. 430.

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des „anderen", des „besseren Deutschland". Der Adel selbst beziehungsweise einzelne Adelige wirkten an der Entstehung und Verfestigung dieser Sichtweise nicht unwesentlich mit. So schrieb schon 1948 Otto Heinrich von der Gablentz, ein Überlebender des Widerstands: „So weit hatte sich der Adel drängen lassen, daß ihm nur ein Weg übrigblieb, der seiner Haltung und Überlieferung ganz unangemessen war: Putsch und Attentat." 3 Als wirkungsmächtig erwiesen sich in diesem Zusammenhang auch die Schriften der Publizistin Marion Gräfin Dönhoff, die selbst mit den Verschwörern in Verbindung gestanden hatte. Noch 1994 fragte die Grande Dame des bundesrepublikanischen Journalismus in einem Buch über die Männer des 20. Juli einleitend: „Was wollten denn diese vielen Grafen und Adeligen eigentlich?" Und die sieben biographischen Porträts, die folgen, sind ausschließlich Angehörigen des Adels gewidmet.4 Demgegenüber ist von der Deutschen Adelsgenossenschaft beispielsweise, deren Adelsmarschall Adolf Fürst zu Bentheim-Tecklenburg-Rheda nach dem 20. Juli im Namen des Standes an Hitler schrieb, er sei von Abscheu vor dem „verruchten Verbrechen" erfüllt, 5 heute in der breiteren Öffentlichkeit kaum mehr die Rede. Dabei erfordert die Erkenntnis, daß keine soziale Großgruppe als solche Widerstand leistete, keine besonders komplizierte Analyse. Warum sollte für den Adel nicht gelten, was für andere Teile der deutschen Gesellschaft zwischen 1933 und 1945 auch gilt. Daß der Adel als Kollektiv bis heute vergleichsweise deutlich mit dem Widerstand assoziiert wird, hat sehr viel mit bestimmten politischen, geschichts- oder vergangenheitspolitischen Entwicklungen in der frühen Bundesrepublik zu tun, auf die im abschließenden Teil dieses Aufsatzes zumindest kurz einzugehen sein wird. In gesellschaftsgeschichtlicher Perspektive nach Adel und Adeligkeit innerhalb des nationalkonservativen Widerstands zu fragen, bedeutet auch, den Widerstand des 20. Juli weiter zu entmythologisieren und zu entmonumentalisieren.6 Es geht dabei nicht darum, den poliOtto Heinrich VON DER GABLENTZ, Die Tragik des Preußentums, München 1948, S. 103 f. (Hervorhebung des Verfassers). Marion GRÄFIN DÖNHOFF, „Um der Ehre willen". Erinnerungen an die Freunde vom 20. Juli, Berlin 1994, Zit. auf S. 34. Zit. nach: Georg H. KLEINE, Adelsgenossenschaft und Nationalsozialismus, in: Vierteljahreshefte fur Zeitgeschichte 26 (1978), S. 110-143, hier S. 139. Zur Begrifflichkeit sei an dieser Stelle lediglich angemerkt, daß ich die Begriffe „Widerstand des 20. Juli" und „nationalkonservativer Widerstand" weitestgehend synonym verwende. Die nationalkonservative Opposition sehe ich, Klaus-Jürgen Müller folgend, als einen „Spezialfall des Verhaltens traditioneller Machteliten in einer geschichtlichen Umbruchsituation", „als Verhalten traditioneller Eliten ge-

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tisch-moralischen Bedeutungsgehalt des Widerstandsthemas herabzustufen, sondern es geht darum, die Bedingtheit dieser Moralität erkennbar und zum Gegenstand des Nachdenkens zu machen.7 Dabei ist Widerstand zum einen als politischer Prozeß zu betrachten, eine Sichtweise, welche die Kategorie der moralischen Auflehnung zwar nicht ausblendet, aber die Oppositionellen auch begreift als politisch bewußte und politisch denkende Menschen, die politische Überzeugungen und Interessen hatten und politische Ziele vertraten. Es ist also ganz dezidiert das politische Profil des Widerstands herauszuarbeiten.8 In unserem Falle ist dieses Erkenntnisinteresse insbesondere auf die adeligen Mitglieder der Opposition zuzuspitzen. Zum anderen ist aber auch - und in gesellschafts- und speziell adelshistorischer Perspektive ist dies besonders wichtig - nach dem sozialen und sozialkulturellen Kontext widerständigen Handelns, nach der sozialen Rückgebundenheit spezifischer Formen und Ziele von Widerstand zu fragen. Eine genüber den Nationalsozialisten". Vgl. Klaus-Jürgen MÜLLER, Nationalkonservative Eliten zwischen Kooperation und Widerstand, in: Jürgen Schmädeke/Peter Steinbach (Hg.), Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Die deutsche Gesellschaft und der Widerstand gegen Hitler, München 31994, S. 24-49, hier S. 25, sowie DERS., Zu Struktur und Eigenart der nationalkonservativen Opposition bis 1938. Innenpolitischer Machtkampf, Kriegsverhinderungspolitik und Eventual-Staatsstreichplanung, in: ebd., S. 329-344, hier S. 329. Freilich kann der Begriff „nationalkonservative Opposition" nicht alle Formen, Beweggründe und Zielsetzungen konservativen Widerstands erfassen, und genausowenig ist widerständiges Verhalten Adeliger in jedem Falle als nationalkonservativ zu rubrizieren. Weil aber das Gros adeliger Oppositioneller dem nationalkonservativen Widerstand in engerem oder weiteren Sinne zuzurechnen ist, scheint es legitim, diesen - auch aus heuristischen Gründen - als Rahmen und Kontext adeligen Widerstands zu betrachten. So schon vor Jahren das Plädoyer von Martin BROSZAT, Zur Sozialgeschichte des deutschen Widerstandes, in: Vierteljahreshefte fur Zeitgeschichte 34 (1986), S. 293-309, hier S. 293. Zu der Notwendigkeit, das Widerstandshandeln gerade auch der Oppositionellen des 20. Juli auch unter politischen Kategorien zu interpretieren, vgl. jüngst: Hans MOMMSEN, Diskussionsbeiträge, in: Ulrich Karpen/Andreas Schott (Hg.), Der Kreisauer Kreis. Zu den verfassungspolitischen Vorstellungen von Männern des Widerstandes um Helmuth James Graf von Moltke, Heidelberg 1996, S. 22 u. 28. Vorliegender Aufsatz knüpft in vielerlei Hinsicht an die wegweisenden Studien von Hans Mommsen an, dem sich der Autor daher verpflichtet weiß. Die Forschungsagenda, die Mommsen 1966 mit seinem grundsätzlichen Beitrag über Gesellschaftsbild und Verfassungspläne des deutschen Widerstandes, wiederabgedruckt in: Hermann Grami, Widerstand im Dritten Reich. Probleme, Ereignisse, Gestalten, Frankfurt a.M. 1994, S. 14-91, eröffnete, ist noch lange nicht abgearbeitet, politik-, sozial- und ideengeschichtliche Widerstandforschungen sind noch immer möglich und notwendig.

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solche Sozialgeschichte des Widerstands erstreckt sich dann auch auf die mentalen und habituellen Besonderheiten der widerständigen Personen und Gruppen wie auch auf Formen sozialer Kommunikation und Erfahrung sowie deren Umsetzung in konkretes Handeln.9 Diese politik- und sozialhistorische Fragestellung, die jenseits der moralischen Würdigung des Widerstands angesiedelt ist, verlangt eine doppelte Herangehensweise, die auch den Aufbau dieses Aufsatzes bestimmt. Zum einen und als erstes ist der nationalkonservative Widerstand auf seine Konzeption bezüglich einer neuen beziehungsweise einer erneuerten adelig-bürgerlichen Elitenbildung zu befragen, bei der Begriff und Konzept einer „neuen Aristokratie" eine wichtige Rolle spielten. In den Überlegungen des Kreisauer Kreises oder der Goerdeler-Gruppe flackerte - letztmals in der deutschen Geschichte der politische und gesellschaftliche Gestaltungswille des Adels, im Verbund mit anderen traditionellen Eliten, noch einmal auf. Waren, so wäre zu fragen, die Staats- und Gesellschaftsvorstellungen des nationalkonservativen Widerstands in einem allgemeinen Sinne oberschichtenspezifisch, oder lassen sich auch charakteristische Elemente adeliger Grundüberzeugungen und Traditionsbestände identifizieren? In einem zweiten Teil ist dann zum anderen mit einem adelsgeschichtlichen Erkenntnisinteresse auch nach spezifisch adeligen Voraussetzungen und Dispositionen für oppositionelles Handeln zu fragen. Das historische Selbstbewußtsein insbesondere des preußischen Adels war eine Möglichkeit, sich der ideologischen Gleichschaltung durch den Nationalsozialismus zu entziehen. Überdies begünstigten spezifisch adelige Netzwerke und Verkehrsformen bestimmte Ausprägungen der Konspirativität, die anderen Oppositionellen nicht möglich waren. So konnte Adeligkeit, verstanden als spezifische Sozialmilieubindung sowie als kulturelle Praxis, Resistenz bewirken und Rahmenbedingungen aktiven Widerstandshandelns schaffen. Am Schluß dann, wie bereits angedeutet, einige Bemerkungen zum Erbe des adeligen Widerstands in der Nachkriegszeit. I. So wenig wie den nationalkonservativen Widerstand insgesamt können wir die adelige Opposition schlicht dualistisch interpretieren, indem wir sie den Zielen und der Realität des NS-Regimes einfach

Vgl. hierzu BROSZAT ( w i e Anm. 7), S. 295.

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gegenüberstellen.10 So gut wie alle Adeligen, die an der Verschwörung gegen Hitler beteiligt waren, einschließlich Stauffenbergs selbst, begegnen uns im zeitlichen Umfeld von 1933 entweder als Befürworter einer nationalkonservativen Allianz mit Hitler oder gar als Sympathisanten, wenn nicht Mitglieder der NSDAP. Auch insofern rechtfertigt sich also die analytische Integration der adeligen Oppositionellen in den weiteren Kontext des nationalkonservativen Widerstands. Denn die nationalkonservative Opposition ist auch als Ganze in der „historischen Konkretisierung [...] als eine bestimmte Komplementärerscheinung der Entente traditioneller Eliten mit Hitler und seiner Bewegung" zu verstehen. Sie war ein „differenziertes Konfliktphänomen im Rahmen dieser Entente". 11 Neben ausgesprochenen Individualisten wie Albrecht Graf von Bernstorff oder bis zu einem gewissen Grade auch Helmuth James Graf von Moltke existierten nur winzig kleine adelige Personengruppen, die sich von Anfang an aus Gewissens-, aber auch aus politischen Gründen kompromißlos gegen Hitler stellten. Einige wenige preußisch-altkonservative Adelige, allen voran der pommersche Gutsbesitzer und Deutschkonservative Ewald von KleistSchmenzin, können als Repräsentanten einer solchen Haltung stehen. Mit dem Etikett „nationalkonservativ" kann man Kleist nicht versehen, so tief wie dieser im vornationalen Alt-Preußen verwurzelt war. Bismarck beispielsweise galt ihm nicht als Konservativer, sondern als Opportunist und, in gewisser Weise, als Verderber Preußens.12 Kleist teilte freilich die Ressentiments vieler seiner Standes- und Altersgenossen gegen die Weimarer Republik. Diese vertraten gesellschaftspolitische Positionen, die sich ganz wesentlich aus dem Gegensatz von traditioneller Sozialordnung und moderner Massengesellschaft ableiteten. Aus der Zielsetzung, die Auflösung der traditionellen sozialen Schichtung und damit einer hierarchisch geprägten und ständisch gegliederten politischen Ordnung rückgängig machen zu wollen, ergab sich ihre antiliberale und antipluralistische Republikfeindschaft und daher ihre Allianz mit dem aufsteigenden Nationalsozialismus. Aller10

11

12

Vgl. Hans MOMMSEN, Der Widerstand gegen Hitler und die deutsche Gesellschaft, in: Schmädeke/Steinbach (wie Anm. 6), S. 3-23, hier S. 5. MÜLLER, Struktur (wie Anm. 6), S. 330. Vgl. auch Axel SCHILDT, Konservatismus in Deutschland. Von den Anfangen im 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 1998, S. 204 f. Vgl. Ekkehard KLAUSA, Politischer Konservatismus und Widerstand, in: Peter Steinbach/Johannes Tuchel (Hg.), Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Bonn 1994, S. 219-234, v.a. S. 227 f. Zu Kleist-Schmenzin im übrigen noch immer die Biographie von Bodo SCHEURIG, Ewald von Kleist-Schmenzin. Ein Konservativer gegen Hitler, Oldenburg/Hamburg 1968.

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dings beruhte diese Allianz bei den allermeisten „Wilhelminern", wie man sie benennen könnte, auf der Annahme, im Bündnis mit Hitler lasse sich die gesellschaftliche Basis der alten Oberschichten und ihr soziopolitischer Status neu begründen. Man erwartete von Hitler nach dem 30. Januar 1933 nicht mehr und nicht weniger als die Restitution der alten wilhelminischen Staats- und Gesellschaftsordnung. Diese Gruppe der „Wilhelminer" ist klar zu scheiden von einer jüngeren, um 1900 geborenen Generationengruppe.13 Deren Denken war weniger durch das wilhelminische Kaiserreich und entsprechende Verlusterfahrungen geprägt als vielmehr durch die konkrete Erfahrung des Kriegsendes, der Revolution und der Weimarer Republik. Nicht wenige Angehörige dieser Gruppe standen jungkonservativen Ideen nahe, bekannten sich, wie beispielsweise Fritz-Dietlof von der Schulenburg, zur Idee eines „preußischen Sozialismus" und sympathisierten weniger mit den Parteien und Repräsentanten des traditionellen rechten Spektrums als vielmehr mit der NSDAP selbst. Der Hitler-Bewegung trauten sie die Fähigkeit eines Brückenschlages zum Volk zu, aber auch kraftvolle Führung, die Wiederherstellung eines nach innen wie außen starken Staates und die Überwindung all jener Krisenphänomene, für die man die Republik, Parlamentarismus und Gleichheitsdenken verantwortlich machte. Entscheidend für den Entschluß zum Widerstand, einen Entschluß, der nur als Prozeß zu begreifen ist,14 waren fur beide Gruppen, die „Wilhelminer" und die jüngere Generation, zum einen individuelle Erfahrungen und Beweggründe, die primär mit der Einsicht in den verbrecherischen und menschenverachtenden Charakter des Regimes zu tun hatten: sei es im Zusammenhang mit Judenverfolgung und Judenmord oder der planmäßigen Vorbereitung, Entfesselung und Durchführung eines Eroberungskrieges. Zum anderen aber trug auch die kollektive Desillusionierung der konservativen Eliten zu ihrem Weg in den Widerstand bei, bezogen auf die, wenn auch divergierenden Erwartungen, die man 1933 mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten und mit ihrem Programm einer „nationalen Erhebung" verbunden hatte.

13

Zur Generationenspezifik des Widerstandes vgl. Wolfgang SCFFLEDER, Zwei Generationen im militärischen Widerstand gegen Hitler, in: Schmädeke/Steinbach (wie Anm. 6), S. 436-459; Detlef GRAF VON SCHWERIN, Der Weg der „Jungen Generation" in den Widerstand, in: ebd., S. 460-471; Nicolai HAMMERSEN, Politisches Denken im deutschen Widerstand. Ein Beitrag zur Wirkungsgeschichte neokonservativer Ideologien 1914-1944, Berlin 1993, S. 78-83.

14

BROSZAT ( w i e A n m . 7 ) , S. 2 9 5 .

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Gerade weil wir den nationalkonservativen Widerstand sozialhistorisch auch erklären können als Ausdruck des Protests konservativer Eliten gegen die Dominanz neuer, nationalsozialistischer Eliten und als Reaktion auf das nationalsozialistische Elitenrevirement vor allem zwischen 1933 und 1938,15 ist nun im folgenden im Kontext der Gesellschaftsvorstellungen und der politischen Ordnungskonzepte der Männer des 20. Juli der Blick insbesondere zu richten auf ihre Elitevorstellungen und Elitekonzepte. Allgemein und über die unterschiedlichen Gruppierungen hinweg gilt dabei, daß man den perzipierten Niedergang Deutschlands, in Verbindung mit der „Verpöbelung in allen Gesellschaftsschichten" (Bonhoeffer) oder der „Gleichheitslüge" (Stauffenberg), auch aus einem Mangel an geeigneten Führerpersönlichkeiten und Defiziten bei deren Rekrutierung erklärte. Der vermeintliche Mangel war freilich schneller konstatiert, als man Gedanken zu seiner Überwindung entwickelte. Die Aussage Goerdelers, man müsse nur „die richtigen Leute an die Spitze stellen", hat Hans Mommsen schon vor mehr als 30 Jahren als hilflos bezeichnet.16 Hilflos bedeutet sowohl für die Gruppe um Goerdeler als auch für den Kreisauer Kreis, daß man im Grunde nicht in der Lage war, für die Elitebildung, eine zentrale Aufgabe des modernen Verfassungsstaates, taugliche Konzepte anzubieten. Zwar ließ der Kreis um Goerdeler keinen Zweifel an seinem Ziel, der alten adelig-bürgerlichen Oberschicht des Wilhelminismus zu neuem Recht zu verhelfen. Doch auf welcher Legitimationsgrundlage sollte dies geschehen? Hier blieben die Argumente im wesentlichen den gängigen Stereotypen verhaftet, die die Geseilschafts- und Kulturkritik in Deutschland seit etwa der Jahrhundertwende beherrschten: Da war von einer „Herrenschicht" (Popitz) die Rede oder von einer „Auslese der Besten" (Bonhoeffer), und gemeint war nichts anderes als die Restauration der wilhelminischen Führungsschicht aus Adel und Bürgertum. Wenn auch die zumeist jüngeren Angehörigen des Kreisauer Kreises derlei Vorstellungen scharf ablehnten, so blieben ihre eigenen doch ähnlich vage. Man berief sich auf ein aristokratisches Ideal, das zwar nicht mehr die geburtsständisch legitimierte Herrschaft des alten Adels meinte, das aber Prinzipien von Elite und Wertigkeit dazu verwandte, für eine neue Aristokratie als den „wahren Staat" im Sinne Edgar Jungs zu plädieren: für eine im Wortsinne „Herrschaft der Besten". Als Gegenmodell zur „demokratischen Gleichmacherei" sah man eine ständisch gegliederte Gesellschaft, an deren Spitze sich eine Elite befand, die zwar 15 16

Vgl. ebd., S. 306. MOMMSEN, Gesellschaftsbild (wie Anm. 8), S. 48.

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nicht ausschließlich geburtsständisch rekrutiert werden sollte, die aber zum einen geburtsständische Elemente nicht a priori ausschloß, und die zum anderen durch den Gedanken der Institutionalisierung dieser Eliten traditionaler und sozialer Herrschaftslegitimierung über kurz oder lang Vorschub leisten würde. So sehr das Elitedenken insbesondere des Kreisauer Kreises von seinem Anspruch her soziale Schichtengrenzen ignorierte beziehungsweise überwand und, um mit Dietrich Bonhoeffer zu sprechen, ein „heute quer durch alle sozialen Schichten hindurchgehendes Qualitätsgefiihl für die menschlichen Werte der Gerechtigkeit, der Leistung und der Tapferkeit" als Grundlage einer neuartigen Elite ansah,17 so sehr blieb dieses auch stark religiös bestimmte und von der katholischen Soziallehre beeinflußte Denken im Grunde sozialutopisch und verkannte die Mechanismen und Bedingungen politischer Herrschaftsbestellung und Herrschaftsausübung in modernen Gesellschaften. 18 Sowohl Moltkes Konzept der „kleinen Gemeinschaften", das unten noch näher zu beleuchten sein wird, als auch die Kreisauer Vorstellung, direkte Wahlen nur auf kommunaler Ebene zuzulassen, zeigen, in welchem Maße selbst im Kreisauer Kreis ein spezifisch deutsches, von der romantischen Staatslehre geprägtes Politikverständnis vorherrschte. Die Kreisauer Staats- und Verfassungskonzeptionen, so sehr sie danach strebten, eine freiheitliche und vor allem auch rechtsstaatliche Ordnung zu entwerfen, sind, beurteilt man sie mit den Maßstäben des westlichen und insbesondere anglo-amerikanischen Liberalismus und Parlamentarismus, in ihrem Kern als antiliberal und antiparlamentarisch zu bezeichnen. Antiwestliche Elemente stehen allerdings, zum Teil sogar widerspruchsfrei, neben modernen und zukunftsweisenden Vorstellungen beispielsweise im Zusammenhang mit dem Föderalismus oder der europäischen Überwindung des Nationalstaates und einer wirtschaftlichen Integration Europas. Demgegenüber spiegelt sich aber in den Mechanismen der Elitebildung und der diesen zugrundeliegenden Betonung eines sozialen Verantwortungsbewußtseins die negative Konnotierung partikularer Interessen und, daraus abgeleitet, eine scharfe Parlamentarismus- und vor allem Pluralismus-

17

18

Dietrich BONHOEFFER, Widerstand und Erhebung, hg. v. Eberhard Bethge, München 1956, S. 205. Vgl. ebd., S. 51. Zur Bedeutung der katholischen Soziallehre für die Ordnungskonzepte des Kreisauer Kreises s. auch Michael POPE, Alfred Delp SJ im Kreisauer Kreis, in: Karpen/Schott (wie Anm. 8 ) , S. 6 3 - 7 0 , sowie Antonia LEUGERS, Staatsaufbau und Verfassungspläne Georg Angermaiers - Mitglied des RöschKreises, in: ebd., S. 7 1 - 8 8 .

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kritik. Politische Herrschaft wurde ohne Parteien gedacht, wobei sich dies zwar historisch-konkret aus der Erfahrung von Aufstieg, Machtgewinn und Machtausübung der NSDAP erklärt, allgemeiner jedoch dabei noch immer die traditionelle Weimarer Parteienkritik - Stichwort: Parteiengezänk - mitschwang.19 Darüber hinaus steigerte die Erfahrung der leichten Manipulierbarkeit von Massen, die der Nationalsozialismus vor und vor allem nach dem 30. Januar 1933 so deutlich demonstriert hatte, das Mißtrauen des nationalkonservativen Widerstands gegen die Volkssouveränität und damit auch gegen aus diesem Prinzip abgeleitete Ordnungselemente und Herrschaftsstrukturen. Obwohl man einer ausschließlich geburtsständischen Elite eine klare Absage erteilte, wirkte indes eine tausendjährige Adelsherrschaft bis in die Begriffsverwendung hinein nach. Nicht nur forderte man eine „neue Aristokratie", die man in der Kontinuität der Debatten des 19. Jahrhunderts ganz bewußt auch der pejorativ konnotierten „Demokratie" entgegenstellte, sondern man hielt auch fest am Begriff des „Adels", den man zwar zu erneuern und als neue, schichtenübergreifende Wertegemeinschaft zu definieren bestrebt war, auf den man aber offensichtlich nicht einfach verzichten zu können glaubte.20 Dies galt ja bekanntermaßen auch für eine Reihe führender Nationalsozialisten - unter ihnen besonders prominent Himmler und Reichsbauernführer Darré - , deren Elitekonzepte der Adelsbegriff ebenfalls durchzog, als könne man durch die Verwendung des Wortes „Adel" den Anspruch auf dauerhafte Herrschaft untermauern, Legitimationsdefizite ausgleichen und die Ziele und Formen der eigenen Herrschaft gleichsam veredeln.21 Doch nicht nur in der Terminologie spiegelt sich die Prägekraft des alten Adels wider, der - überaus ambivalent - in seinem Niedergang erleben mußte, wie konkurrierende Führungsgruppen ihren Führungsbeziehungsweise Herrschaftsanspruch als zwar neu-adelig, aber eben adelig deklarierten. Wenn wir uns nun freilich enger als bislang ge19

20

21

Vgl. hierzu Hans MOMMSEN, Die politische Vorstellungswelt des Kreisauer Kreises, in: Karpen/Schott (wie Anm. 8), S. 9-18. Zu der Gegenüberstellung von „Aristokratie" und „Demokratie" vgl. HAMMERSEN, (wie Anm. 13), S. 249 f., bezogen auf die Genese dieser Gegensatzkonstruktion im 19. Jahrhundert s. Werner CoNZE/Christian MEIER, Art. Adel, Aristokratie, in: Otto Brunner u.a. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, Stuttgart 1972, S. 1-48, vor allem S. 35-47. Als Beispiele: R. Walther DARRE, Neuadel aus Blut und Boden, München 1930, oder Heinrich HIMMLER, Die Schutzstaffel als antibolschewistische Kampforganisation, München 1936, sowie DERS., Der Weg des SS-Mannes, o.O., o.J.

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schehen, den adeligen Angehörigen des nationalkonservativen Widerstandes und ihren Elitekonzepten zuwenden, dann wird rasch deutlich, in welchem Maße - ausgesprochen oder unausgesprochen - bei diesen ein spezifisch adeliges Selbst-, Gesellschafts- und Herrschaftsverständnis weiterwirkte. Dieses war weit entfernt von exklusiven politischen Herrschaftsansprüchen eines Geburtsadels, doch selbst im Kreisauer Kreis prägten spezifische Vorstellungen von Adel und Adeligkeit das Nachdenken über Probleme der Elitebildung, aber auch über den Platz und die Bedeutung des alten Adels innerhalb der neuen Führungsgruppen. In besonders typischer Weise reflektieren die Überlegungen von Fritz-Dietlof von der Schulenburg die Fortwirkung von Überzeugungen, die in der Selbstsicht des Adels den Wesenskern von „Adeligkeit" bestimmten. Schulenburg, 1902 geboren, entstammte einer alten mecklenburgischen Adelsfamilie. Der Jurist gehörte seit Anfang der dreißiger Jahre zu den begeisterten Anhängern der NSDAP, der er 1932 beitrat. Wirkte er noch 1933/34 im Umfeld des Gauleiters Erich Koch an der „Gleichschaltung" Ostpreußens aktiv mit, so begann er sich doch schon bald vom Nationalsozialismus, so wie er ihn als Verwaltungsbeamter kennenlernte und wahrnahm, zu distanzieren. Seit 1937 Polizeivizepräsident von Berlin, geriet er dort in Kontakt mit anderen Kritikern und Gegnern des Regimes und gewann in den Kreisen der Opposition rasch eine zentrale Stellung.22 In seinen Denkschriften sprach Schulenburg immer wieder vom Schwert-, vom Geistes- und vom Werksadel, hatte also einen relativ breiten Elitebegriff. Aber auch in seinem Denken zentrierte sich der gesamte Staats- und Gesellschaftsaufbau um die politische Elite, den „Schwertadel" oder die „Regierungsträger", wie es bei ihm hieß.23 Auf die Aufgaben und Verantwortlichkeiten dieser „Regierungsträger" ist hier im einzelnen nicht einzugehen - hier kommen auch Schulenburgs Überlegungen zu einer Reichsreform mit zentralistischer Zielrichtung ins Spiel. Symptomatisch ist aber, daß in den Konzepten des „roten Grafen", wie Schulenburg vor 1933 genannt wurde, diese „Regierungsträger", vor allem Landräte und Oberbürgermeister, aber auch die ihnen gleichge-

22

23

Zu Schulenburg ausführlich Albert KREBS, Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg. Zwischen Staatsraison und Hochverrat, Hamburg 1964, sowie Ulrich HEINEMANN, Ein konservativer Rebell. Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg und der 20. Juli, Berlin 1990. Die folgenden Ausführungen stützen sich auf Schulenburgs sog. Denkschriftfragment, das vermutlich 1943 entstanden ist. Der Text ist abgedruckt in: HEINEMANN ( w i e A n m . 2 2 ) , S. 2 2 6 - 2 4 1 .

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ordneten Richter, standortälteste Offiziere, Hochschulrektoren und Bischöfe, daß diese „Regierungsträger" ihre Besoldung primär durch die Wirtschaftserträge eines großes Gutes erhalten sollten. Damit waren der Besitz und die Bewirtschaftung von Grund und Boden zur Grundlage der Übernahme und Ausübung von Herrschaft geworden der Neuadel wurde nach dem Vorbild des alten Adels konzipiert. In derlei Modellen spiegelt sich nicht nur agrarromantisches Gedankengut, so wie Horst von Einsiedel in einer Denkschrift für den Kreisauer Kreis betonte, daß im ländlichen Bereich die Wurzeln organischen Lebens weniger versehrt seien, sich dort die „natürlichen Grundlagen eines in sich geschlossenen Lebenskreises" bewahrt hätten und das Persönlichkeitsgefühl dem Massenbewußtsein noch nicht erlegen sei.24 Sondern ganz fundamentale Elemente adeligen Selbstverständnisses scheinen darin auf. Die Herrschaftsrechte des Adels waren, und dies insbesondere im gutsherrschaftlich strukturierten deutschen Osten, über Jahrhunderte an den Besitz von Grund und Boden gekoppelt. Zwar sah schon das 19. Jahrhundert einen Abbau dieser Herrschaftsrechte, aber zum einen blieben Restbestände adeliger Herrschaft noch lange erhalten, zum anderen gewannen die Güter neben ihrer Funktion als Agrarwirtschaftsuntemehmen auch Bedeutung als Quellen des sozialen Kapitals des Adels. Dieses ergab sich nicht zuletzt aus dem hohen symbolischen Wert und dem enormen soziokulturellen Prestige ländlichen Lebens und ländlicher Lebensführung. Im Zuge der agrarromantischen Welle seit den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts wuchs dieses Prestige noch an, ja kompensierte bis zu einem gewissen Grade sogar den Verlust formaler Herrschaftsrechte. So sehr der Adel und das Land, das er beherrschte und bewirtschaftete, schon immer zusammengehörten, so sehr charakterisierte das ländliche Leben nun den Adel geradezu bestimmend und wurde zu einer Art adeligen Residualdomäne. Insbesondere nach dem Untergang der Monarchie 1918, das ja neben dem politischen Machtverlust des Adels auch das Ende um die Höfe zentrierten gesellschaftlichen Lebens in den Haupt- und Residenzstädten brachte, wurde das Land ein regelrechter adeliger Rückzugsort, ganz gleich ob man diesen Rückzug als temporär oder als dauernd ansah. Ein Adel ohne Land verliere seine Existenzberechtigung, formulierte Ewald von Kleist-Schmenzin 1925

24

Horst VON EINSIEDEL, Stellungnahme zu Fragen der Agrarpolitik, 28.11.1941, abgedruckt in: Ger van Roon, Neuordnung im Widerstand. Der Kreisauer Kreis innerhalb der deutschen Widerstandsbewegung, München 1967, S. 521-523.

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aus seiner altadelig-altkonservativen Sicht.25 Während er freilich nicht an eine Erweiterung des alten grundbesitzenden Adels dachte, teilte er doch beispielsweise mit Schulenburg die Überzeugung von der notwendigen Verwurzelung des Adels - als gesellschaftliche und politische Führungsschicht - in seinem ländlichen Grund und Boden. Schulenburgs Konzeption einer land- und landbesitzgebundenen Elite bezog sich indes nicht nur auf amtsabhängige Dotationen von Gütern, sondern indirekt auch auf die Absicht, die Familien der neu-adeligen „Regierungsträger" über Generationen hinweg an den ländlichen Familienbesitz zu binden. Dem lag die Überzeugung zugrunde, die im übrigen auch den Kern des gerade 1938 endgültig beseitigten Fideikommißrechts bildete, Tradition und Bodenständigkeit als Grundbedingungen stabiler staatlicher Ordnung könnten sich nur in landbesitzenden Geschlechterfolgen bilden. 26 Dies alles lief auf die Wiederherstellung einer - per definitionem - adeligen Oberschicht hinaus und stand in krassem Widerspruch zum Gedanken einer offenen Elite, die sich jederzeit und vor allem auf Grund des Leistungsprinzips ergänzen konnte. Diesen Widerspruch zwischen Leistungslegitimation und der unweigerlichen Tendenz zur traditionalen und sozialen Legitimierung und damit Abschließung neugebildeter Eliten löste Schulenburg nicht auf. Von daher war es ihm wie den allermeisten Angehörigen des nationalkonservativen Widerstands nicht möglich, konzeptionell zu einer liberal-demokratischen Gesellschaftsordnung mit offener Elitenbildung zu gelangen. Auch mit Schulenburg diskutierte Hemuth James Graf von Moltke im Laufe des Jahres 1939 wohl sein Konzept der „kleinen Gemeinschaften", das er im gleichen Jahr in einer Denkschrift genauer ausarbeitete und das später Eingang in die Verfassungsentwürfe des Kreisauer Kreises fand. Unter einer „kleinen Gemeinschaft" verstand Moltke eine vom Ansatz her nicht-staatliche Vereinigung von Menschen 25

26

Zit. nach: Reinhold BRUNNER, Landadeliger Alltag und primäre Sozialisation in Ostelbien am Ende des 19. Jahrhunderts, in: Zeitschrift fur Geschichtswissenschaft 39 (1991), S. 995-1011, hier S. 998. Vgl. auch Jens FLEMMING, Konservatismus als „nationalrevolutionäre Bewegung". Konservative Kritik an der Deutschnationalen Volkspartei 1918-1933, in: Dirk Stegmann u.a. (Hg.), Deutscher Konservatismus im 19. und 20. Jahrhundert. FS Fritz Fischer, Bonn 1983, S. 295331, v.a. S. 300-303 u. 315. Zur Auflösung der Fideikommisse und zur zentralen Bedeutung dieser besitzrechtlichen Institution für den deutschen Adel vgl. Eckart CONZE, Adeliges Familienbewußtsein und Grundbesitz. Die Auflösung des Gräflich Bernstorffschen Fideikommisses Gartow nach 1919, in: Geschichte und Gesellschaft 25 (1999), S. 455-479.

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mit dem Zweck, durch ihr gemeinschaftliches Handeln Verantwortung für die Gesamtheit zu übernehmen. Als Beispiele solcher „kleiner Gemeinschaften" nannte Moltke freiwillige Feuerwehren, aber auch Vereinigungen „zur Erhaltung der landschaftlichen Schönheit einer Gegend, zur Fortbildung in einem Spezialfach, zur Begründung und Erhaltung einer Schule, zur Förderung vorgeschichtlicher Studien", ferner Produktions- oder Meliorationsgenossenschaften, wissenschaftliche Vereinigungen, kulturelle Vereinigungen wie Kirchen, Sekten oder Theatervereinigungen.27 Moltke, Jahrgang 1907, der anders als Schulenburg den Nationalsozialismus von Anbeginn an ablehnte, knüpfte mit seinen Überlegungen an Selbstverwaltungs- und Subsidiaritätsgedanken aus dem 19. Jahrhundert an 28 und konstruierte die „kleinen Gemeinschaften" damit als Mittel, der Entstehung eines zentralen und daher tendenziell autoritären Staates vorzubeugen. Darüber hinaus sollten die „kleinen Gemeinschaften" in gesellschaftlicher Hinsicht einerseits der Vereinzelung des Menschen entgegenwirken, andererseits aber auch seiner Vermassung. Vereinzelung und Vermassung waren für Moltke die beiden Seiten der gleichen Medaille. 29 Dieser durchaus partizipatorische und emanzipatorische Züge tragenden Zwecksetzung korrespondierte jedoch - darauf wurde bereits kurz hingewiesen - insbesondere im Zusammenhang mit der Funktion der „kleinen Gemeinschaften" bei Elitebildung und Herrschaftsbestellung eine oligarchisierende und ein liberal-demokratisches System im westlichen Sinne konterkarierende Wirkung. Aus der Übernahme von Verantwortung in einer „kleinen Gemeinschaft" sollte man sich das Recht erwerben können, politische Funktionen in einem Gemeinwesen ausfüllen zu können. Moltke ging davon aus, „daß niemand in eine Organstellung in einem Gemeinwesen gelangen kann, der nicht erfolgreich ein Mitglied einer kleinen Gemeinschaft ist oder war". 30 Diese Forderung ist nun zu verbinden mit jener „konservativen Variante des Rätegedankens" (Hans Mommsen), nach der das politische Führungspersonal auf Staatsebene aus den Vertretungskörperschaften der Gemeinwesen rekrutiert werden sollte - statt durch direkte Volkswahl. Damit war die postulierte Offenheit des Elitezugangs de facto limitiert. 11

28

Helmuth James GRAF VON MOLTKE, Ausarbeitung, 1939, abgedruckt in: Ger van Roon (Hg.), Helmuth James Graf von Moltke. Völkerrecht im Dienste der Menschen. Dokumente, Berlin 1994, S. 154-158. Das Konzept der „kleinen Gemeinschaften" wurde von Moltke im wesentlichen in dieser Ausarbeitung aus dem Jahre 1939 entwickelt. Vgl. ROON (wie Anm. 24), S. 402 f.

29

MOLTKE ( w i e A n m . 2 7 ) , S. 1 5 4 .

30

Ebd., S. 156 f.

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So wenig dies bei Moltke die Rückkehr zu einer geburtsständischen Elite bedeutete, so sehr knüpfte er doch an adelige Denktraditionen wie Dienstgedanken, Verantwortungsbewußtsein, Allgemeinwohlorientierung und Führungsberufung an, die adelige Herrschaft, gerade auch auf lokaler Ebene, über Jahrhunderte legitimiert und ideologisch unterfüttert, ja, abgestützt hatten. Moltkes „kleine Gemeinschaften" waren weit davon entfernt, allein dem alten Adel politische Herrschaft sichern oder wiedergewinnen zu wollen. Aber die aus allen sozialen Schichten zu bildende neue Aristokratie sollte die Tradition der alten aufnehmen, dabei aber deren Fehler, Moltke zufolge insbesondere das völlige Versagen in der sozialen Frage, vermeiden beziehungsweise korrigieren. Unter Gesichtspunkten von Herrschaftslegitimation war man dennoch von einer offenen Gesellschaft weit entfernt. Denn geburtsständische Prinzipien wurden zwar abgelöst, aber durch die Tendenz zu sozialer und traditionaler Legitimation von Herrschaft, die auch die geburtsständische Begründung adeliger Herrschaft stets ergänzt hatte, blieb man auf halbem Wege stehen. Überdies zielte das agrarromantische Denken der Kreisauer, wie es besonders signifikant in den Denkschriften Horst von Einsiedels zum Ausdruck kam, mit dem Plädoyer für den Erhalt der „Wurzeln organischen Lebens" im ländlichen Bereich auch auf eine Stabilisierung der ländlichen Sozialstruktur. Dies ließ sich leicht mit der Konstituierung politischer Herrschaft verbinden. Darüber hinaus tauchen klassisch (land-)adelige Überzeugungen und Argumentationsmuster beispielsweise auch auf im Zusammenhang mit Fragen der ländlichen Boden- und Besitzverteilung. Entsprach es nicht überkommenem adeligen Selbstverständnis und zumal dem Charakter des Ritterguts als Ort auch kultureller Hegemonie - , wenn Einsiedel forderte, daß „die Repräsentation der ländlichen Lebenswerte durch unabhängige und kulturell hochstehende Menschen zu erfolgen hat, die ein hinreichendes Gegengewicht gegenüber anderen Teilen des Volkes [...] darstellen"? 31 Überlegungen wie diejenigen Schulenburgs oder Einsiedels, bei näherem Betrachten jedoch auch diejenigen Moltkes, verweisen auf die Fortwirkung eines spezifisch adeligen Selbstverständnisses, aber auch auf die Verknüpfung, wenn nicht die Identität von Standesethos und Eliteideal, von Dienstideologie und Herrschaftsanspruch. In dieser Perspektive gewinnt auch das Widerstandsdenken und -handeln des EINSIEDEL (wie Anm. 2 4 ) , S . 5 2 2 . Vgl. hierzu im übrigen auch die Gespräche über Agrarfragen im sog. Dossier: Kreisauer Kreis, in: Roman BLEISTEIN (Hg.), Dossier: Kreisauer Kreis. Dokumente aus dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Aus dem Nachlaß von Lothar König S.J., Frankfurt a.M. 1987, S. 47-58.

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Attentäters selbst, von Claus Schenk Graf von Stauffenberg, eine adelshistorisch relevante Dimension. Die Brüder Stauffenberg gelten unter den adeligen Oppositionellen vielfach als Ausnahmeerscheinungen, und ihre Zugehörigkeit zum George-Kreis markiert gewiß auch einen signifikanten Unterschied zum Gros der übrigen widerständigen Standesgenossen. Dennoch disponierte ihre adelige Herkunft die Stauffenberg-Brüder für das Bekenntnis zu den in Georges Orbit vertretenen Eliteprinzipien, zu den georgeanischen Dienst- und Opferidealen. Gleichwohl waren ihre Überzeugungen insgesamt wohl weniger an konkrete Erfahrungen des adeligen Sozialstatus und adeliger Herrschaftspraxis vor allem im ländlichen Raum geknüpft als bei den adeligen Widerstandsangehörigen insbesondere aus den gutsbesitzenden Familien des ostelbischen Preußen. 32 Es ist bis heute durchaus irritierend zu erkennen, wie stark das märtyrerhafte Handeln des Widerstands ein traditionelles Selbst- und Sendungsbewußtsein zur Voraussetzung hatte, das sich in den gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen seit dem 19. Jahrhundert im allgemeinen und den sozialen Applanierungsbestrebungen des Nationalsozialismus im besonderen in einem Residualbereich der Gesellschaft erhalten hatte. Aus einer Reihe von Gründen, nicht zuletzt um das Bündnis mit den konservativen Eliten insbesondere in Verwaltung und Militär nicht zu gefährden, hatten die Nationalsozialisten in der Frühphase ihrer Herrschaft den Status des Adels als tendenziell abgeschlossene gesellschaftliche Gruppierung weitgehend unangetastet gelassen. Dies gilt zumal für die ländlichen Bastionen adeliger Herrschaft und gesellschaftlicher Vorrangstellung, wo die neuen nationalsozialistischen Eliten vielfach die Prädominanz der alten Herren nicht zu brechen in der Lage waren, auch weil den lokalen Funktionsträgern des Nationalsozialismus bei ihrem Versuch, den Einfluß der traditionellen Eliten zu beseitigen, lange Zeit der Rückhalt von Partei- und Staatsfiihrung fehlte. In gewisser Weise markierten erst die Maßnahmen, mit denen das Regime nach dem 20. Juli 1944 gegen die nationalkonservativen Widerstandsangehörigen und ihr Umfeld vorgin-

32

S. hierzu ausführlicher Steven KROLAK, Der Weg zum Neuen Reich: Die politischen Vorstellungen von Claus Stauffenberg - Ein Beitrag zur Geistesgeschichte des deutschen Widerstands, in: Schmädeke/Steinbach (wie Anm. 6), S. 546-559, sowie auch Anselm DOERING-MANTEUFFEL, Über das Ethos des Attentäters. Claus Schenk Graf von Stauffenberg, in: Ders./Joachim Mehlhausen (Hg.), Christliches Ethos und der Widerstand gegen den Nationalsozialismus in Europa, Stuttgart u.a. 1995, S. 46-57.

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gen,33 das Bestreben der NS-Führung, nunmehr dieses nach 1933 nicht vollends zerstörte politische und soziale Bollwerk zu schleifen. Erst die brutale Zerstörung dieses Residualbereichs trug ganz entscheidend dazu bei, daß eine Kontinuität dieses soziopolitischen Handlungsmilieus nach 1945 unmöglich wurde. 34 Π.

Dieser Aspekt fuhrt uns zu einer Erklärung widerständigen Handelns durch milieuhafte und sozialisatorisch vermittelte Prägungen und Verhaltenskodices, durch schichten- und gruppenspezifische Konventionen der Lebensführung, Formen von Gruppenbewußtsein, Wertorientierungen und politische Loyalitäten sowie durch erfahrungsprägende und gruppenspezifisch verarbeitete historische Ereignisse und Entwicklungen. Möglich wird so auch eine klarere Binnendifferenzierung des Widerstands nach Sozialmilieuzugehörigkeit, aber, innerhalb bestimmter Milieus, beispielsweise auch nach Generationengruppen. Klaus Tenfelde hat zu Recht darauf hingewiesen, daß zu den wichtigsten Voraussetzungen für Gruppenbildungen im Widerstand die Existenz von Gruppen6zWw«ge« schon in der Zeit vor dem Nationalsozialismus zählt. Solche Bindungen bestanden zumeist auf der Basis der Religion oder der Konfession, des kollektiven Interesses, einer Ideologie oder einer politischen Überzeugung. 35 Diese Bindungen konnten durch Generationserfahrungen im Sinne Mannheims noch überlagert beziehungsweise verstärkt werden. 36 Gerade im Adel - und das gilt auch und besonders fur die adeligen Angehörigen der verschiedenen Gruppen des nationalkonservativen Widerstands - waren diese Bindungen und mentalen Übereinstimmungen nicht nur abstrakter Natur, sondern sie fanden ihren Niederschlag in spezifischen so33

34

35

36

S. hierzu Ulrike ΗΕΤΤ/Johannes TUCHEL, Die Reaktionen des NS-Staates auf den Umsturzversuch vom 20. Juli 1944, in: Steinbach/Tuchel (wie Anm. 12), S. 377389. Hinzu traten freilich andere Faktoren wie Flucht und Vertreibung aus den deutschen Ostgebieten, auf die in unserem Kontext nicht ausführlicher einzugehen ist. Vgl. Klaus TENFELDE, Soziale Grundlagen von Resistenz und Widerstand, in: Schmädeke/Steinbach (wie Anm. 6), S. 799-812, hier S. 806 (Hervorhebung des Verfassers). Karl MANNHEIM, Das Problem der Generationen, erstmals in: Kölner Vierteljahreshefte für Soziologie 7 (1928), S. 157-185 u. 309-330. Vgl. dazu auch Hans JAEGER, Generationen in der Geschichte. Überlegungen zu einer umstrittenen Konzeption, in: Geschichte und Gesellschaft 3 (1977), S. 429-452. Im Sinne Mannheims argumentiert im übrigen auch SCHIEDER, Generationen (wie Anm. 13), S. 440.

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zialen Kommunikationsformen, in der Existenz von Beziehungsnetzwerken, die dem eigentlichen Widerstandshandeln lange vorausgingen, die es aber erleichterten und zum Teil auch beförderten. Über das Ausmaß dieser Netzwerke und Verbindungen war sich die Gestapo, im Gegensatz beispielsweise zu ihrer genauen Kenntnis des kommunistischen Widerstands in der Frühphase des „Dritten Reiches", bis zum 20. Juli 1944 nicht im Klaren. So hieß es am 29. Juli 1944 in einem Gestapo-Bericht: „Der Verschwörerkreis war durch vielfaltige sippenmäßige, verwandtschaftliche, dienstliche und berufliche, gesellschaftliche und andere Bindungen und Beziehungen stärkstens verknüpft. Auf dieser Basis ist eine zielbewußte Personalpolitik innerhalb des OKH betrieben worden, wie sie den Interessen der Verschwörer dienlich war. Wie auch für die gesamte Planung des Putsches bis in den zivilen Bereich hinein die persönlichen Verbindungen, oft langjähriger Art, zum Teil von den Vätern her Tradition geworden, wesentlich mitspielten." 37 Anknüpfend an Ergebnisse und Begriffsbildungen der Bürgertumsforschung lassen sich diese Faktoren auch als Elemente, ja Kernbestandteile von „Adeligkeit" im Sinne einer historisch gewachsenen kulturellen Praxis begreifen. Dieses adelige Kulturmodell erstreckte sich eben nicht nur auf bestimmte Werte und Werthaltungen wie Ehre, Haltung, Dienst, Pflicht, Opfer, Härte, Ritterlichkeit oder Anstand, auf einen spezifischen Führungsanspruch und ein Herrschaftsideal (wie es exemplarisch weiter oben schon dargestellt wurde), sondern mindestens ebensosehr auch auf besondere Formen von Kontakt, Kommunikation und konkreter Gruppenbildung.38 37

38

Spiegelbild einer Verschwörung. Die Kaltenbrunner-Berichte an Bormann und Hitler über das Attentat vom 20. Juli 1944, hg. v. Archiv Peter, Stuttgart 1961, S. 96. An anderer Stelle der Kaltenbrunner-Berichte heißt es, daß „die Werbung neuer Mitwisser und Verschwörer (...) meist aufgrund früherer Bekanntschaft oder Verwandtschaft erfolgte". S. ebd., S. 523. Bei DÖNHOFF (wie Anm. 4), S. 186, wird die Multidimensionalität dieser adeligen kulturellen Praxis deutlich. Bezogen auf ihre eigenen Verbindungen zum Widerstand schreibt die ostpreußische Adelige: „Mit den Geschwistern Lehndorff bin ich aufgewachsen, die Yorcks kannte ich seit meiner Studienzeit, Schulenburg seit er 1934 nach Ostpreußen kam. Wir waren alle etwa gleichen Alters, alle unter dreißig, kamen alle aus einem ländlichen Milieu, in dem Kontinuität, Verantwortung für das Gemeinwohl, Ehre, Pflicht und eine gewisse .austerity' selbstverständlicher Lebensstil gewesen sind." Zum Thema Bürgerlichkeit als kulturelle Praxis s. insbesondere Wolfgang KASCHUBA, Deutsche Bürgerlichkeit nach 1800. Kultur als symbolische Praxis, in: Jürgen Kocka (Hg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert, 3 Bde., Göttingen 1995, Bd. 2, S. 92-127, hier S. 92-95, sowie auch Klaus TENFELDE, Stadt und Bürgertum im 20. Jahrhundert, in: Ders./Hans-Ulrich

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Werfen wir beispielsweise vor diesem Hintergrund einen Blick auf die von der Gestapo nach dem 20. Juli sogenannte „Grafen-Gruppe", die sich schon vor dem Krieg gebildet hatte und die dann in den Kreisauer Kreis hineinführte. 39 Im Kern gehörten ihr Ulrich von SchwerinSchwanenfeld, Albrecht von Kessel, Botho von Wussow, Peter Yorck von Wartenburg, Fritz-Dietlof von der Schulenburg, als einziger Bürgerlicher der Diplomat Eduard Brücklmeier, sowie in einem weiteren Umfeld noch Cäsar von Hofacker, Karl Ludwig Frhr. von Guttenberg und Gottfried von Nostitz an. Alle wurden in den Jahren kurz nach der Jahrhundertwende geboren. Die Väter gehörten - als Minister, Diplomaten, hohe Offiziere, Verwaltungsbeamte oder Gutsbesitzer - im wilhelminischen Kaiserreich zu den „Stützen des Throns" und den „Säulen der Gesellschaft". Die strukturelle Gleichheit von Erziehung und Ausbildung insbesondere adeliger Söhne im Kaiserreich führte nicht nur zu einer nahezu identischen Sozialisation, sondern schuf auch schon sehr früh direkte persönliche Kontakte und Begegnungen. So besuchten Schwerin, Kessel, Wussow und Yorck gleichzeitig das bekannte Adelsinternat in Roßleben. Der junge Schulenburg war in den Ferien oftmals über längere Zeit im befreundeten Elternhaus der Yorcks, der junge Yorck auf dem Schulenburgschen Gut Tressow. Schul- und Jugendfreundschaften setzten sich im Falle Schwerins, Kessels, Wussows und Yorcks während des gemeinsamen Studiums in Breslau und München fort. Dort studierten die jungen Männer nicht nur, ihrer Familientradition folgend, Rechtswissenschaften, um sich für die prospektive Laufbahn im Staatsdienst zu qualifizieren, sondern ebenso traditionsgemäß schlössen sie sich einem der feudalen Corps oder auch speziellen nicht-schlagenden Adelsverbindungen wie beispielsweise der Münchner Gesellschaft oder den Leipziger Canitzern an. In unserem Falle der späteren sogenannten „Grafen-Gruppe" boten die Münchner Gesellschaft und das gesellschaftliche Leben in München im allgemeinen Raum und Möglichkeit, die Freundschaften zu vertiefen, aber auch zu erweitern. Gottfried von Nostitz und Karl Ludwig Frhr. von Guttenberg stießen in den Studienjahren dazu. Zum Zur Fortentwicklung dieser Begrifflichkeit für die Adelsforschung und damit zum Begriff von „Adeligkeit" VG I Marcus FuNCK/Stephan MALINOWSKI, Geschichte von oben. Autobiographien als Quelle einer Sozial- und Kulturgeschichte des deutschen Adels in Kaiserreich und Weimarer Republik, in: Historische Anthropologie 7 (1999), S. 236-270, v.a. S. 244-247; des weiteren auch Eckart CONZE, Von deutschem Adel. Die Grafen von Bernstorff im 20. Jahrhundert, Stuttgart/München 2000, S. 20f. sowie 287-396 passim. 39

Zur „Grafen-Gruppe" s. insbesondere SCHWERIN, Köpfe (wie Anm. 2); in gerafft e r Z u s a m m e n f a s s u n g DERS., W e g ( w i e A n m .

13).

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Teil freilich ergänzten die freundschaftlichen Beziehungen nur verwandtschaftliche Bindungen, deren Bedeutung gerade innerhalb des Adels kaum überschätzt werden kann. Bereits oberflächliche genealogische Recherchen ergeben eine Verwandtschaft als Vettern ersten oder zweiten Grades zwischen Ulrich Schwerin, Albrecht Kessel und Fritz Schulenburg. Wenn Detlef von Schwerin in seiner Gruppenbiographie über die Mitglieder der „Grafen-Gruppe" davor warnt, die Verwandtschaft als Argument überzustrapazieren, sie sei lediglich die Ebene gewesen, auf der man sich habe begegnen können, so trifft er damit exakt den entscheidenden Punkt. 40 Als anderen potentiellen oder tatsächlichen Kritikern oder Gegnern des NS-Regimes nach 1933 formale Organisationen oder Foren der Begegnung zerschlagen oder gleichgeschaltet wurden, als sich Angehörige des Widerstands der Arbeiterbewegung nur in der Illegalität, in strengster Geheimhaltung und unter massiver Gefahrdung von Leib und Leben treffen konnten, da boten gerade adelige Freundschafts- und Verwandtschaftszirkel die Gelegenheit zu vertrauensvollem Austausch und offener Diskussion. Dies mündete zwar nicht in jedem Fall, aber doch vielfach in Opposition und Widerstand ein. Jagden, Kaminabende, Adelsbälle, Familientage oder Wochenendaufenthalte auf den Landgütern blieben dem äußeren Anschein nach das, was sie immer gewesen waren: traditionelle Formen adeligen Sozialkontakts und gesellschaftlichen Lebens. „Adeligkeit" als kulturelle Praxis mit ihrem spezifischen Familienbewußtsein, ihren besonderen Ausprägungen gesellschaftlichen Lebens und - ganz allgemein - mit dem für sie charakteristischen Bewußtsein distinguierter, ja elitärer Andersartigkeit war somit Bedingung für den Erhalt residualer Inseln eines traditionellen sozialmoralischen Milieus. Dieses adelige Milieu war im übrigen auch gekennzeichnet durch eine Verschränkung, ja, Teilidentität von öffentlicher und privater Sphäre, von öffentlichem und privatem Handeln. Dieser Doppelcharakter, der ein Überwechseln vom privaten in den öffentlich-politischen Bereich (und umgekehrt) erleichterte, entsprach der Gestalt adeliger Herrschaft, wie sie sich über Jahrhunderte entwickelt hatte. Als Herrschaftspraxis war adeliges Leben und Handeln stets öffentlich und privat, auch das „private" Leben war zumindest öffentlichkeitsbezogen. Dieser Sachverhalt wirkte, vor allem sozialisatorisch vermittelt und von Generation zu Generation weitergetragen, im Selbstverständnis und in der sozialkulturellen Praxis des Adels bis weit in das 20. Jahrhundert hinein nach und senkte so die Schwellen, die von freundschaftlichen oder verwandtschaftlichen Kontakten und 40

Vgl. ebd., S. 464.

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Begegnungen zu politischem Handeln führten. Die spezifischen Formen adeliger Gruppenbildung strahlten auch in den beruflichen Bereich hinein, wie wir insbesondere im Militär am vielzitierten Infanterie-Regiment „ G r a f 9 in Potsdam oder am Bamberger Reiterregiment 17 (Stauffenberg, Mertz von Quirnheim, Leonrod, Hößlin, MarognaRedwitz) erkennen können. 41 Zum Teil erweiterten sich solche Kreise in das gehobene Bürgertum hinein, wofür die Mittwochsgesellschaft oder der Solf-Kreis als Beispiele stehen mögen. So war die alte konservative Oberschicht mit dem Adel in ihrem Zentrum bis in die Kriegsjahre hinein dem totalitären Unterwerfungs- und Gleichschaltungsanspruch nicht nur deswegen weniger ausgesetzt als andere gesellschaftliche Gruppen, weil das NS-Regime sie zunächst noch als Allianzpartner schonte, sondern auch weil man seit langem über Möglichkeiten und Fähigkeiten der Gruppenbildung und der Abschließung verfugte, die, gerade weil sie so alt waren, nicht so rasch in den Ruch subversiver oder konspirativer Aktivität kamen, ja zunächst eben auch gar nicht subversiv oder konspirativ waren. Selbst die Treffen des Kreisauer Kreises in der Berliner Hortensienstraße, auf dem Gut Groß Behlitz bei Berlin oder in Kreisau selbst fügten sich rein äußerlich noch in das Muster traditioneller Adelsgeselligkeit beziehungsweise adelig geprägter Oberschichtengeselligkeit. Die Sozialdemokraten oder Gewerkschafter, die dem Kreisauer Kreis angehörten, dürfen wir nicht allein als Repräsentanten der Arbeiterbewegung betrachten, sondern auch als Vertreter des Bildungsbürgertums mit entsprechender Sozialisation und gesellschaftlichem Hintergrund und daher der Möglichkeit, sich in einem Zirkel wie dem Kreisauer Kreis zu bewegen, zu engagieren und dort wiederum auch akzeptiert zu werden. Die späte Erkenntnis des Regimes über das Ausmaß der Verschwörung bestätigt solche Thesen letzten Endes. Sie führte freilich auch dazu, daß in der Schlußphase des „Dritten Reiches" und des Krieges die insgesamt antiaristokratische Stoßrichtung des Nationalsozialismus - durch den 20. Juli gleichsam bestätigt - deutlicher und massiver zutage trat als zu irgendeinem früheren Zeitpunkt.

Zur Bedeutung gerade dieser beiden Regimenter für die Geschichte des militärischen Widerstands s. beispielsweise Ekkehard KLAUSA, Preußische Soldatentradition und Widerstand - Das Potsdamer Infanterieregiment 9 zwischen dem „Tag von Potsdam" und dem 20. Juli 1944, in: Schmädeke/Steinbach (wie Anm. 6), S. 533-545; Kurt FINKER, Das Potsdamer Infanterieregiment 9 und der konservative militärische Widerstand, in: Bernhard R. Kroener (Hg.), Potsdam. Staat, Residenz, Armee, Frankfurt a.M./Berlin 1993, S. 451-464; SCHIEDER (wie Anm. 13), S. 450.

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Man wird sich allerdings davor hüten müssen, Adeligkeit allein und per se als gleichsam hinreichende Voraussetzung beziehungsweise Bedingung adeligen Widerstands zu betrachten. Bestimmte Formen adeliger kultureller Praxis boten vielmehr die Möglichkeit, zu konspirativem Handeln - vom vertraulichen Austausch über politische Fragen bis hin zur Planung des Staatsstreichs - zu gelangen. Selbstverständlich traten andere Faktoren hinzu, insbesondere individuelle Überzeugungen, welche erst die Möglichkeiten adeliger Konspirativität aktivierten und nützten. Die Genese dieser Überzeugungen ist hier im einzelnen nicht darzustellen, die Biographen der Widerstandsangehörigen haben das immer wieder übernommen. Fragt man jedoch einmal mehr nach spezifischen Prädispositionen widerständigen Handelns von Adeligen, so ist darauf zu verweisen, daß von den adeligen Verschwörern und insbesondere ihrer Kemgruppe eine auffallend große Zahl bürgerliche Eheverbindungen eingegangen war. So waren die Ehefrauen von Moltke (Freya Deichmann), Yorck (Marion Winter), Schulenburg (Charlotte Kotelmann), Schwerin-Schwanenfeld (Marianne Sahm), Haeften (Barbara Curtius) und Trott zu Solz (Ciarita Tiefenbacher) bürgerlich - oder vielleicht besser: nicht-adelig. Insbesondere im Kreisauer Kreis mag dieser Sachverhalt Brückenschläge in andere Gesellschaftsschichten erleichtert, ja sogar gefördert haben. Ebenso wäre durch weitere Forschung auch genauer zu erkunden, ob nicht Auslandserfahrungen (Studien- oder berufliche Aufenthalte, ausgedehnte Reisen oder verwandtschaftliche Beziehungen) politische Überzeugungen mitprägten, die für den Entschluß zum Widerstand von Bedeutung waren. Auch diese Frage entzieht sich verallgemeinernden Antworten, und sie kann bei der Identifikation eines womöglich typisch adeligen Widerstandsprofils nur bedingt weiterhelfen. Eher wäre vor einer Überbewertung von Auslandserfahrungen zu warnen. So lassen, wie erwähnt, die Staats- und Verfassungsmodelle des Kreisauer Kreises den Einfluß eines westlich-liberalen Politikverständnisses kaum erkennen, trotz einschlägiger und intensiver Auslandserfahrungen von Männern wie Moltke, Yorck oder Trott.

m. Ob nun an der Verschwörung direkt beteiligt, von ihr Kenntnis habend oder - das galt für die überwältigende Mehrzahl des Adels ahnungslos, viele Adelige bezogen die Ereignisse im Umfeld des 20. Juli stark auf sich selbst als soziale Gruppe. Christian Graf Bernstorff beispielsweise, ein entfernter Verwandter des von den Nationalsozialisten im April 1945 ermordeten Diplomaten Albrecht von Bernstorff,

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notierte 1949 rückblickend: „Wir [das bezog sich auf seine im mecklenburgischen Bernstorf lebende Familie] spürten nur die Folgen, welche sich angesichts der Tatsache, daß das Attentat von Adeligen verübt war, gegen unseren Stand als solchen richteten [...]."42 In dieser Sichtweise, die ja keineswegs aus der Luft gegriffen war, deutet sich indes eine adelsgeschichtlich durchaus belangvolle Wirkung des 20. Juli 1944 in die deutsche Nachkriegsgeschichte hinein an.43 So sehr in den fünfziger Jahren in der westdeutschen Bevölkerung der Widerstand im Umfeld des 20. Juli, noch mit Verrat assoziiert wurde, so sehr bemühten sich die staatlichen Institutionen und die Repräsentanten der Bundesrepublik darum, den Widerstand gegen den Nationalsozialismus in die Traditionsbildung des jungen Staates einzubeziehen. Man identifizierte gerade im nationalkonservativen Widerstand der traditionellen Eliten ein anderes, ein besseres Deutschland, welches eine Verbindungslinie zu ziehen ermöglichte zwischen der Demokratie von Weimar und dem Bonner Staat, der sich seinerseits vor dem aktuellen Hintergrund des Kalten Krieges als das andere, das bessere Deutschland betrachtete. Auch im Kontext der seit Anfang der fünfziger Jahre diskutierten Wiederbewaffnung spielte die positive Bewertung des Widerstandes und insbesondere seiner militärischen Träger eine wichtige Rolle. In diesem allgemeinen Sinne hatten der Widerstand und die Pflege der Erinnerung an ihn eine zentrale Bedeutung für die Selbstvergewisserung des westdeutschen Staates nach 1945.44 Fast noch mehr aber gilt dies für den Adel, dem die Bundesrepublik durch ihren Umgang mit dem nationalkonservativen Widerstand die Reverenz erwies. Bereits wenige Jahre nach Kriegsende - und ganz anders als in der DDR - war in Westdeutschland im Zusammenhang 42

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Christian VON BERNSTORFF, Bericht über die Ereignisse in Bernstorf 1944-1949, Bergen 1949 (unveröffentlichtes Manuskript in Familienbesitz), S. 2. Die folgenden Überlegungen beruhen auf meinen Forschungen zur Geschichte der Grafen von Bernstorff in der Nachkriegszeit. Vgl. dazu ausführlicher CONZE (wie Anm. 38), insbesondere S. 278-300. Vgl. hierzu allgemein: Christiane TOYKA-SEID, Der Widerstand gegen Hitler und die westdeutsche Gesellschaft: Anmerkungen zur Rezeptionsgeschichte des „anderen Deutschland" in den frühen Nachkriegsjahren, in: Steinbach/Tuchel (wie Anm. 12), S. 572-581; Gerd R. UEBERSCHÄR (Hg.), Bewertung und Rezeption des deutschen Widerstandes gegen das NS-Regime, Köln 1994. Vgl. im übrigen auch Manfred KITTEL, Die Legende von der „Zweiten Schuld". Vergangenheitsbewältigung in der Ära Adenauer, Berlin/Frankfurt a.M. 1993, S. 187-227, mit der problematischen These von der Widerstandsrezeption als Teil intendierter Vergangenheitsbewältigung.

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mit der Thematik „Adel und Nationalsozialismus" nicht mehr vom „Junkertum" die Rede, kaum noch von den Adeligen als Steigbügelhaltern Hitlers, sondern in erster Linie vom Widerstand gegen die Diktatur und vom „Aufstand des Gewissens". 45 Dies bezog sich zwar nicht nur auf Adelige. Aber der vergleichsweise hohe Anteil des Adels an der nationalkonservativen Opposition gegen den Nationalsozialismus war nicht zu übersehen. Und so geriet - ob implizit oder explizit jede öffentliche Würdigung des nationalkonservativen Widerstandes zu einer Würdigung des Adels. So wenig dies um des Adels willen geschah, so sehr lag hier eine entscheidende Voraussetzung für die Entstehung einer positiv-versöhnlichen Beziehung zwischen Bundesrepublik und Adel. Wann je hatte die Weimarer Republik den Adel solchermaßen anerkannt und öffentlich belobigt? Es ist hier nicht der Ort, die Widerstandsrezeption und das Widerstandsgedenken in der Ära Adenauer einer eingehenden Analyse zu unterziehen. Aber die Äußerungen führender Repräsentanten der Republik überwölbten gleichsam geistig-politisch die Annäherung des Adels an Demokratie und Weststaat. Am 10. Jahrestag des Attentats in der Wolfsschanze, 1954, sprach Bundespräsident Theodor Heuss in einer Gedenkrede von der Verbindung des „christlichen Adels deutscher Nation [...] mit Führern der Sozialisten, der Gewerkschaften". Und er entwickelte eine lange Widerstandstradition, in der der preußische Adelige des 18. Jahrhunderts Ludwig von der Marwitz einen exponierten Platz einnahm. 46 Auf diese Weise entstand für adelige Familien und Organisationen die Möglichkeit einer erneuerten Identitäts- und Traditionsstiftung, die auch dem Adel selbst dringend geboten erschien. Dies sei am Beispiel der Grafen von Bernstorff kurz aufgezeigt. Nach einer ersten Gedenk-

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Vgl. Annedore LEBER (Hg.), Das Gewissen steht auf. 64 Lebensbilder aus dem deutschen Widerstand, Frankfurt a.M. 1955. Zur Rezeption des Widerstandes in der DDR s. Ines REICH, Das Bild vom deutschen Widerstand in der Öffentlichkeit und Wissenschaft der DDR, in: Steinbach/Tuchel (wie Anm. 12), S. 557-571, sowie DIES., Der 20. Juli 1944 in der Geschichtsschreibung der SBZ/DDR seit 1945, in: Zeitschrift fur Geschichtswissenschaft 39 (1991), S. 533-553. Bekenntnis und Dank. Rede des Bundespräsidenten Theodor Heuss am 19. Juli 1954, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, 20.7.1954. Der adelige Offizier Friedrichs II. von Preußen war aus der preußischen Armee entlassen worden, nachdem er sich im Siebenjährigen Krieg geweigert hatte, ein befohlenes Pliinderungsunternehmen durchzuführen. Im brandenburgischen Friedersdorf erinnert ein Gedenkstein an ihn, dessen Inschrift Heuss zitierte: „Sah Friedrichs Heldenzeit und kämpfte mit ihm in allen seinen Kriegen, wählte Ungnade, wo Gehorsam nicht Ehre brachte."

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schrift für Albrecht von Bernstorff aus dem Jahre 1952 mit Beiträgen u.a. von Carl Jacob Burckhardt, Marion Gräfin Dönhoff, Ernst Kantorowicz, Harold Nicolson, Kurt Riezler und Eric Warburg erschien 1962 aus der Feder des adeligen Publizisten Kurt von Stutterheim eine Biographie Bernstorffs mit dem Titel: „Die Majestät des Gewissens", eine von Respekt und tiefer Verehrung geprägte Schrift, die auf lange Zeit die einzige ausführliche biographische Würdigung Bernstorffs blieb.47 Dem Bändchen lieferte, was in unserem Kontext fast noch wichtiger ist als Stutterheims Darstellung selbst, Theodor Heuss ein langes Vorwort. Heuss, der Bernstorff im Berlin der Zwischenkriegszeit kennengelernt hatte, wies diesem einen historischen Platz zu in einer „nicht abreißenden Reihe" jener „Mitglieder dieses alten niederdeutschen Grafengeschlechts [...], die ihre Namen in die politische Geschichte eingetragen haben". 48 So adelte ein führender Vertreter der Republik die Grafen von Bernstorff als Adelsgeschlecht gleichsam unter republikanisch-demokratischen Vorzeichen aufs neue. Er wies hin auf den Anspruch „dieser Ahnen- und Verwandtenreihe" und die Albrecht von Bernstorff daraus entstandene Verpflichtung, „sich selber und damit dem Namen treu zu bleiben". 49 Das war mindestens ebenso sehr auf den deutschen Adel der Nachkriegszeit und die Angehörigen der Familie von Bernstorff bezogen wie auf den Stintenburger Grafen. Noch allgemeiner formuliert und intendiert waren diejenigen Gedanken von Heuss, in denen er über den „geistig-seelischen" Zusammenhang von adeligen Standesbezeichnungen und „den Sinn und Wert des Edlen" reflektierte. Solche Überlegungen wiederum mit dem ermordeten Albrecht von Bernstorff verknüpfend, schloß Heuss: „[...] wir, die ihn liebten, spürten in seinem Wesen, in seiner Art sich zu geben, in seiner herzhaften, unmittelbaren, nicht intellektualistisch argumentierenden Art des Urteilens das ,Adlige', das Edle seiner Natur. Deshalb liebten wir ihn." 50 Die Würdigung des ehemaligen Bundespräsidenten, die Äußerungen der Weggefahrten in dem Gedenkbändchen und die Ansprachen, in denen Albrecht von Bernstorffs von staatlicher Seite gedacht wurde, prägten die Erinnerung der gesamten Familie Bernstorff an ihren er47

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Kurt VON STUTTERHEIM, Die Majestät des Gewissens. In memoriam Albrecht Bernstorff, Hamburg 1962. Erst 1996, 34 Jahre nach Stutterheims Werk, legte Knut HANSEN, Albrecht Graf von Bernstorff. Diplomat und Bankier zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, Frankfurt a.M. u.a. 1996, eine wissenschaftliche Biographie Albrecht von Bernstorffs vor. Theodor HEUSS, Vorwort, in: Stutterheim (wie Anm. 47), S. 5-9, hier S. 5. Ebd., S. 6. Ebd., S. 9.

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mordeten Verwandten. Die in den späten sechziger und siebziger Jahren entstandene „Geschichte der Herren und Grafen von Bernstorff ' präsentiert und würdigt Albrecht von Bernstorff nicht anders als das öffentliche Gedenken der fünfziger und sechziger Jahre.51 Öffentliches Gedenken und private Erinnerung der Familie befanden sich in Übereinstimmung. Auch wenn sich diese Übereinstimmung zunächst und vor allem auf die historisch-politische und moralische Bewertung und Einordnung Albrecht von Bernstorffs bezog, so lassen sich aus ihr doch auch Schlüsse ziehen auf die erfolgreiche Integration nicht nur einer einzelnen Adelsfamilie, in diesem Falle der Grafen von Bernstorff, in die politische und gesellschaftliche Ordnung der Bundesrepublik, sondern des Adels als sozialer Großgruppe. Diese geschichtspolitische, die immaterielle Integration also, erstreckte sich auf den ost- und den westdeutschen Adel. Sie trug auch entscheidend dazu bei, noch vorhandene Trennlinien zwischen dem in Westdeutschland lebenden Adel ost- und westdeutscher Provenienz zu überwinden und einen „bundesrepublikanischen" Adel zu schaffen. Angesichts der Frage nach dem Gestaltwandel des deutschen Adels im 20. Jahrhundert ist sie ein ganz zentraler Aspekt. Für die Bereitschaft des Adels, sich der deutschen Nachkriegsdemokratie zu öffnen, spielten materielle wie immaterielle, ökonomische wie psychologische Faktoren eine Rolle. Sie erhöhten die Demokratiebereitschaft des Adels. Oder vielleicht besser: Sie halfen dem Adel, sich abzufinden mit den neuen soziopolitischen Rahmenbedingungen, die als Ergebnisse der nationalsozialistischen Diktatur, des verlorenen Krieges und der Besatzungsherrschaft im westlichen Teil Deutschlands entstanden waren. Die Wirkung sowohl des Nationalsozialismus und der Kriegsfolgen als auch des dominierenden westlichen Einflusses auf Deutschland und die Deutschen ist kaum zu überschätzen. Sie lag vor allem darin, daß es, beginnend schon unter der nationalsozialistischen Herrschaft, gelang, traditionelle Widerlager der freiheitlichen Demokratie zu beseitigen beziehungsweise in ihrer Wirksamkeit zurückzudrängen. Die in der deutschen Sozialstruktur tief verankerten Blockaden einer vollen Ausbildung der gesellschaftlichen Rolle des Staatsbürgers konnten überwunden werden. Sicher, dem Adel gelang es, Refugien seines Einflusses, Restbestände seiner ehemals umfassenden Herrschaftsrechte zu erhalten, nicht zuletzt im lokalen Umfeld, auf seinen Gütern. Enteignung und Flucht des ostelbischen Adels zerstörten diese Relikte adeliger Privilegierung indes vollends. Aber auch Werner GRAF VON BERNSTORFF, Die Herren und Grafen v. Bernstorff. Eine Familiengeschichte, Celle 1982 (Privatdruck), S. 351-362.

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die im Westen noch bestehen gebliebenen Restbestände lokaler Herrschaftsrechte waren doch durch die politische und gesellschaftliche Entwicklung soweit gebrochen, daß sie, anders als in den Jahren der Weimarer Republik, keine prinzipielle Gefahrdung für die in der Bundesrepublik entstehende liberale Demokratie mehr darstellten.52 Die freiheitliche Demokratie im Westdeutschland der Ära Adenauer war, wie wir wissen, alles andere als voll entwickelt und ausgeprägt, und an vielen Stellen, in den politischen und anderen öffentlichen Institutionen - der Regierungsstil Konrad Adenauers ist dafür nur ein Beispiel wie auch in den Wertordnungen der westdeutschen Gesellschaft, existierten ältere und obrigkeitsstaatlich bestimmte Traditionsbestände fort. Zwar waren die fünfziger Jahre in wichtigen Bereichen durchaus auch eine Phase „aufregender Modernisierung".53 Aber diese Modernisierungsprozesse vollzogen sich unter „konservativen Auspizien", in einem konservativ geprägten politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Rahmen.54 In diesem konservativen Grundgepräge der Ära Adenauer liegt zusammen mit dem Antikommunismus in der Hochzeit des Kalten Krieges wohl ein weiterer und sicher nicht der unwichtigste Grund für die Integration des Adels in die bundesrepublikanische Gesellschaft. Das eher konservative gesamtgesellschaftliche Wertgefüge der fünfziger Jahre entsprach dem des Adels weitgehend, was im übrigen das öffentlich kultivierte Bild des Widerstandes auf einer anderen Ebene nur reflektierte. So mag es zwar Anlaß gegeben haben für Trauer über den Verlust von Heimat und Besitz, nicht aber zu dauernder Resignation. Aus den ostelbischen Grundbesitzern waren zwar bloße „Weltanschauungsbesitzer" geworden.55 Aber die Bundesrepublik der fünfziger Jahre bestätigte dem Adel, dem grundbesitzenden und auch dem „ohne Ar und Halm", alles in allem doch die Richtigkeit und 52

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Vgl. hierzu noch immer die Überlegungen von Ralf DAHRENDORF, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München 1965, S. 464-480. Dazu auch jüngst: Michael PRINZ, Ralf Dahrendorfs „Gesellschaft und Demokratie" als epochenübergreifende Interpretation des Nationalsozialismus, in: Matthias Frese/Michael Prinz (Hg.), Politische Zäsuren und gesellschaftlicher Wandel im 20. Jahrhundert. Regionale und vergleichende Perspektiven, Paderborn 1996, S. 755-777, vor allem S. 757 f. Hans-Peter SCHWARZ, Die Ära Adenauer 1949-1957. Gründeijahre der Republik, Stuttgart 1981, S. 382. Zur Modernisierung unter „konservativen Auspizien" vor allem Christoph KLEßMANN, Ein stolzes Schiff und krächzende Möwen. Die Geschichte der Bundesrepublik und ihre Kritiker, in: Geschichte und Gesellschaft 11 (1985), S. 476494, hier S. 485. Der Begriff „Weltanschauungsbesitzer" stammt aus dem Roman von Elisabeth [VON] PLESSEN, Mitteilung an den Adel, Zürich 1991.

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Überlebensfähigkeit seiner traditionellen Wertordnung und Denkhaltung. Noch dazu bot ihm die neue Gesellschaft ja alle Möglichkeiten, in den Familien, Familienverbänden und Adelsorganisationen Adeligkeit weiter zu pflegen und zu leben und sich damit zumindest als „Prestige-Oberschicht" (Ralf Dahrendorf) an der Spitze der Gesellschaft zu halten. Den Anspruch, deren politische Ordnung zu bestimmen und eigenen Interessen anzupassen, hatte man gleichwohl aufgeben müssen.

Teilnehmer an den beiden Symposien "Adel und Bürgertum im 19. und 20. Jahrhundert" PROF. D R . KARL OTMAR FRHR. V. ARETIN (MÜNCHEN) PROF. SHELLEY BARANOWSKI (ACRON) P D D R . HARTMUT BERGHOFF (TÜBINGEN) PROF. ROGER CHICKERING (WASHINGTON) P D D R . ECKART CONZE (TÜBINGEN) PROF. DR. CHRISTOF DIPPER (DARMSTADT) JESKO GRAF ZU DOHNA, M . A . (CASTELL) PROF. DR. ELISABETH FEHRENBACH (SAARBRÜCKEN) DR. CHRISTOPH FRANKE (MARBURG) P D DR. EWALD FRIE (ESSEN) P D D R . ROBERT V. FRIEDEBURG (ST. ANDREWS) MARCUS FUNCK, M . A . (BERLIN) GUNTHER HEINICKEL, M . A . (BERLIN) KAY-UWE HOLLÄNDER, M . A . (BERLIN) THIERRY JACOB (LYON) PROF. LARRY E. JONES (BUFFALO) MARTIN KOHLRAUSCH, M . A . (FLORENZ) DR. HANS-CHRISTOF KRAUS (SPEYER)

PROF. DOMINIC LIEVEN (LONDON) DR. BERNHARD LÖFFLER (MÜNCHEN) STEPHAN MALINOWSKI, M . A . (BERLIN) DR. JOSEF MATZERATH (DRESDEN) D R . FRANK MÖLLER (FRANKFURT) PROF. DR. HANS MOMMSEN (FELDAFING) D R . DIRK MÜLLER (BERLIN) P D D R . GUIDO MÜLLER (AACHEN) PROF. DR. MICHAEL G . MÜLLER (HALLE) P D D R . JOHANNES PAULMANN (MÜNCHEN) RAINER POMP, M . A . (BERLIN) PROF. DR. WOLFRAM PYTA (STUTTGART) PROF. DR. HEINZ REIF (BERLIN) PROF. JAMES RETALLACK (TORONTO) PROF. JOHN C . G . RÖHL (SUSSEX) PROF. DR. AXEL SCHILDT (HAMBURG) D R . RENÉ SCHILLER, (BERLIN) DR. HARTWIN SPENKUCH (BERLIN) MARK R . STONEMAN, M . A . (WASHINGTON) DR. WOLFRAM G . THEILEMANN (BERLIN) PROF. DR. MARTIN VOGT (MAINZ) P D D R . MONIKA WIENFORT (BIELEFELD) D R . WOLFGANG ZOLLITSCH (KRAAINEM)