Adel und Bürgertum in Deutschland. Teil 1 Adel und Bürgertum in Deutschland I: Entwicklungslinien und Wendepunkte im 19. Jahrhundert [2. Aufl.] 9783050047560, 9783050045054

Die historische Forschung hat bisher vor allem die beeindruckende Selbstbehauptung des deutschen Adels im 19. und frühen

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German Pages 355 [350] Year 2008

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Adel und Bürgertum in Deutschland. Teil 1 Adel und Bürgertum in Deutschland I: Entwicklungslinien und Wendepunkte im 19. Jahrhundert [2. Aufl.]
 9783050047560, 9783050045054

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Heinz Reif (Hg.) Adel und Bürgertum in Deutschland I

Elitenwandel IN f)FR

Moderne Herausgegeben von Heinz Reif Bandl

Heinz Reif (Hg.)

Adel und Bürgertum in Deutschland I Entwicklungslinien und Wendepunkte im 19. Jahrhundert

2., unveränderte Auflage

Akademie Verlag

1.

Auflage Akademie Verlag, Berlin 2000

2.

Auflage Akademie Verlag, Berlin 2008

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen

Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-05-004505-4 © Akademie Das

Verlag GmbH, Berlin 2008

eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach D IN/ISO 9706.

Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. -

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Einbandgestaltung: Jochen Baltzer Druck: Digital Printing Service, Andernach Printed in the Federal Republic of Germany

Inhaltsverzeichnis

Heinz Reif

Einleitung... Robert von Friedeburg Das Modell England in der Adelsreformdiskussion zwischen Spätaufklärung und Kaiserreich.29

Gunter Heinickel

Adelsidentität nach der Ständegesellschaft: Der preußische Adel in adelspolitischen Bildern und Vorschlägen um 1840.51 EWALD FRIE

August Ludwig von der Marwitz (1777-1837). Adelsbiographie vor entsicherter Ständegesellschaft.83 Friedrich

Frank Möller

Zwischen Adelstradition und Liberalismus. Die Familie von Gagern.103 Bernhard Löffler

Adel und Gemeindeprotest in Bayern zwischen Restauration und Revolution

(1815-1848).123

Josef Matzerath

Adel und Hauptstadt in der militärischen Gegenrevolution 1848/49.155

Hartwin Spenkuch

„Pairs und Impairs". Von der Ersten Kammer zum Herrenhaus (1849-1872). Argumente, Positionen, Entscheidungen.173 Hans-Christof Kraus

Militärreform oder Verfassungswandel? Kronprinz Friedrich von Preußen und die „deutschen Whigs" in der Krise von 1862/63.207 Hartmut Berghoff

Industriekapitalismus im Deutschen Kaiserreich Abstoßungskräfte und Annäherungstendenzen zweier Lebenswelten.233 Adel und

Thierry Jacob Das Engagement des Adels der preußischen Provinz Sachsen in der kapitalistischen Wirtschaft 1860-1914/18.273 John C. G. Röhl

Defizite des Kaiser-Konzepts. Wilhelm II. im Wandel der politischen Institutionen und Politikfelder nach Bismarcks Entlassung.331

Heinz Reif

Einleitung*

„Die Formen der wirklichen Aristokratie sind nachzuahmen, demokratisierbar; die deutschen .Formen' undemokratisierbar." (Max Weber, Aristokratie und Demokratisierung in Deutschland, 1918)

I.

Die Adelsforschung der zurückliegenden Jahrzehnte hat vor allem die beeindruckende Selbstbehauptung des deutschen Adels im 19. und frühen 20. Jahrhundert herausgearbeitet: die Verteidigung (und zum Teil erhebliche Erweiterung) des großen Grundbesitzes in zahlreichen Adelsfamilien, den bleibenden Erfolg an den meisten Höfen und in den höheren staatlichen Ämtern, in Beamtenschaft, Militär und Diplomatie; den begrenzt bleibenden Anschluß an die neuen Reichtumschancen in Industrie und Finanzwesen; die (ebenfalls begrenzt bleibende) Erschließung neuer, bürgerlicher Berufe; seine weiterhin bedeutende

Stellung in der bürgerlichen Gesellschaft, nicht zuletzt in Kirche und Politik, in Vereinen, Verbänden, Parteien, Parlamenten und RegieDie mit diesem Band

beginnende Buchreihe präsentiert Ergebnisse des Forschungsprojekts „Elitenwandel in det gesellschaftlichen Modernisierung. Adel und Bürgertum im 19. und 20. Jahrhundert", das in Durchführung wie Drucklegung von der Deutschen Forschungsgemeinschaft in großzügiger Weise gefördert wird. Alle Mitarbeiter dieses Forschungsprojekts sind der DFG zu Dank verpflichtet. Die beiden Tagungen zur Geschichte von Adel und Bürgertum in Deutsch-

land, deren Beiträge in den ersten zwei Bänden dieser Reihe veröffentlicht werden, sind durch die Unterstützung der Werner-Reimers-Stiftung ermöglicht worden und fanden in deren Haus in Bad Homburg statt. Auch dieser bewährten Einrichtung der Forschungsförderung gilt unser herzlicher Dank.

Heinz Reif

X

rungen. Die Mehrzahl der Historiker des deutschen Adels hat diese Erfolgsgeschichte mit erkennbarem Unwillen beschrieben. Der Abschied des Adels aus der Geschichte ging ihnen nicht schnell genug, war politisch zu belastend und folgenreich. Dabei gibt es für dieses Obenbleiben zahlreiche überzeugende Gründe: Eine in ihrem Kern nahezu tausendjährige Adelsformation ließ sich nicht kurzfristig und selbst in 100 Jahren nicht auflösen oder in ein enges Prokrustesbett gesellschaftlicher Modernität zwingen. Wenn überhaupt, dann konnte der Übergang des Adels in die moderne Welt nur in einem langwierigen, komplexen Wechselspiel von Funktionsverlusten und strukturbedingter Anpassung einerseits, von Selbstbehauptung und Identitätswahrung andererseits gelingen. Immer wieder eröffnete das 19. Jahrhundert dem Adel neue Handlungsspielräume und Machtchancen, die er auf eigene Weise, das heißt unter möglichst weitgehender Wahrung überkommener Standestraditionen, nutzen konnte. Die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in Deutschland haben dem Adel im 19. Jahrhundert zudem besonders günstige Bedingungen für eine Selbstbehauptung geboten. Der deutsche Adel, in seinem Zentrum eine breite Gruppe alter, langangessener, in zahlreichen Ämtern bewährter Familien, trat vergleichsweise stark ins 19. Jahrhundert ein. Das Odium, das nach Alexis de Tocqueville so schwer auf dem Adel im vorrevolutionären Frankreich lastete, Reichtum und Privilegien ohne Verdienst für die Allgemeinheit, traf ihn kaum. Er besaß gegenüber den bürgerlichen Gruppen einen Vorsprung an Prestige, Vermögen und Lebensklugheit in der Statussicherung. 35(1918 immer noch 19) Höfe und der gesamte, relativ zahlreiche, weiterhin „glänzende" Hochadel blieben, wenn auch in veränderter Form, erhalten und damit bis 1918 eine sichtbare Repräsentation des Prinzips sozialer Ungleichheit. Romantik, Historismus und Restauration, in mehreren deutschen Staaten sogar eine dezidierte Schutzpolitik stützten den Adel und werteten ihn erneut auf. Die meisten Monarchen und Fürsten erneuerten schon bald nach 1815 wieder die Herrschaftssymbiose mit dem ehemaligen Herrenstand, der zum Teil noch immer in Lehnsbeziehungen zu ihnen stand. Nicht zu vergessen schließlich auch die vielfältigen Möglichkeiten des Adels, mit Institutionen und Klassen, die gleichfalls durch den Modernisierungsprozeß herausgefordert wurden (Kirchen, Bauern, alter Mittelstand), restabilisierende Defensivbündnisse zu schließen. Trotz all dieser erfolgreichen Statusverteidigung kann letztlich jedoch kein Zweifel daran bestehen, daß der langfristige Machtverlust des Adels in seiner Gesamtheit, des Adels als Stand, seit dem Ende des -

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Einleitung

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18. Jahrhunderts unvermeidbar war. Seine Geschichte im Verlauf des säkularen Modernisierungsprozesses muß deshalb, trotz aller Selbstbehauptung, am Ende doch als die Geschichte eines langen, immer wieder stark gebremsten, mehrfach unterbrochenen und abgelenkten Abstiegs beschrieben werden; ein langer Abschied von Macht und Ehre: Die Industrialisierung bot neue, überwiegend von Bürgerlichen genutzte Reichtumschancen und schwächte damit, allerdings nur relativ, die agrarisch fundierte ökonomische Stellung des Adels. Die von ständischen Barrieren freigesetzte Mobilitätsgesellschaft löste die hergebrachten sozialen Hierarchien auf und stellte die alten, ständisch stark

in Frage. Der Übergang vom Adel seit der Jahrhundertwende in seiner Mehrheit vollends auf die Verliererseite. Die Urbanisierung, der Aufstieg der großen Städte, schuf neue Handlungsräume hoher gesellschaftlicher Relevanz, die dem Adel weniger vertraut waren als den Bürgern. Die Prinzipien der Arbeitsgesellschaft, der Professionalisierung und Demokratisierung durchdrangen Schritt für Schritt alle höheren Berufsbereiche, auch das Militär; selbst dort verloren schließlich Familientradition und Standespersönlichkeit an Gewicht für das Avancement. Säkularisierung und Verwissenschaftlichung der Weltdeutung, Max Webers „Entzauberung der Welt", lösten die Aura des Adels auf, erodierten die Bedeutung adliger Formkultur, das Ideal der autonomen adligen Persönlichkeit. Die Pluralisierung des Wertesystems schwächte den adligen Anspruch, der Allgemeinheit zu dienen, der Gesamtheit ein stilprägendes Vorbild, eine Wertelite zu sein. Die adlig-ständische Symbolwelt, der adlige Statuskonsum, von der Kleidung bis zur Reisekultur, einst rechtlich streng eingehegt, wurde Schritt für Schritt zum frei erreichbaren Mode- und Konsumartikel, zunächst nur dem bürgerlichen Reichtum, dann aber bald dem gesamten Massenkonsum zugänglich. Der Nationalismus entwertete die adlig-partikularen, regionalen Traditionen. Der Aufstieg der Parlamente zwang den Adel aus seinen korporativen Eigenräumen heraus. Nun mußte er zunehmend in der Öffentlichkeit argumentieren, mühsam Massenloyalitäten erarbeiten, wo er früher als „Herr" nur zu fordern, als Mitglied der lokalen wie regionalen Honoratiorenschaft zu wünschen, als Standesgenosse (z. B. eines Landrats, Oberpräsidenten oder Ministers) oder als Kammerherr des Fürsten nur eindringlich zu bitten brauchte. Der Anspruch des Adels auf einen Vorrang a priori schmolz durch alle diese Vorgänge langsam aber unabwendbar dahin. Dieser spannungsvolle Befund verlangt, den mit der Zeit etwas starr gewordenen Blick auf den angeblich so anpassungsfähigen Adel, wel-

geschlossenen Heiratskreise massiv Agrar- zum Industriestaat rückte den

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cher der Erosion ständischer Vorzugslage auch im bürgerlichen 19. Jahrhundert widerstand, wieder ein Stück weit zu verflüssigen, das Deutungs- und Darstellungsmodell der äußerst folgenreichen Geschichte einer Selbstbehauptung des Adels korrigierender Kritik zu unterziehen. Bedeutungsverlust wie Beharrungserfolg des deutschen Adels im Wandel des 19. und 20. Jahrhunderts sind in der bisherigen Forschung ganz überwiegend mit dualen, linearen Mustern der Klassenkonkurrenz erklärt worden.** In der Nachfolge Max Webers und Hans Rosenbergs akzentuierten Historiker des Deutschen Sonderwegs mit starken Thesen die „Feudalisierung" des Bürgertums und die bleibende gesellschaftlich-politische Dominanz des Adels über 1933, die Machtübernahme der Nationalsozialisten hinaus. Die marxistische Forschung sah dagegen ebenfalls mit dem Fluchtpunkt 1933 eine zunehmende „Verbürgerlichung" des Adels, der als kapitalistische „Nebenklasse" weitgehend spannungsfrei in die deutsche Monopolbourgeoisie diese weiter aggressiv aufladend hineinwuchs. In beiden Fällen lieferte im Schwerpunkt der ostelbische, altpreußische Adel die Folie für Interpretationen, die den „Junkern" die Verantwortung für die vielfältigen deutschen Fehlentwicklungen zuwiesen, während doch neuere Forschungen zur Geschichte des Bürgertums z. B. zu den ständischen Vorlieben und Traditionen des Bildungsbürgertums oder zu den hierarchisch-autoritären Visionen der bürgerlichen Intelligenz und Technokratie eindrucksvoll sichtbar gemacht haben, wie viel Fehllauf auch hier zu verorten ist. Die Forschungen zur Geschichte des „dritten", rheinbündischen, südwestlichen Deutschland haben gegenüber den Sonderwegshistorikern die von Staat und liberaler Bewegung durchgesetzte Entprivilegierung und Entmachtung des Adels, seine Einbürgerung in die moderne Berufs- und (Grund-)Besitzgesellschaft akzentuiert. Die im Vergleich zu Preußen auffällig geringe Zahl der im deutschen Westen und Südwesten lebenden Adligen hat diese Sichtweise zusätzlich gestützt. Heinz Gollwitzer entdeckte hier mit dem Adel in „patriarchalischem Stilleben" einen „äußerst sympathischen" Adelstypus, der in vielem an Fontanes Dubslav von Stechlin oder Giuseppe Tomasi di Lampedusas „Leoparden" erinnert. Allerdings läßt auch er keinen Zweifel daran aufkommen, daß diese Adelsvariante des sanften Abschieds aus der politischen Geschichte in Deutschland nur wenig Gewicht gewonnen hat. Und neuere Forschungen haben inzwischen auch -

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Zum hier zugrunde gelegten Forschungsstand vgl. Heinz Reif, Adel im 19. und 20. Jahrhundert (= Enzyklopädie Deutscher Geschichte, Bd. 55), München 1999.

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für Südwestdeutschland die Grenzen staatlicher Funktionalisierung und gesellschaftlicher Einbürgerung des Adels wieder stärker hervorgehoben (E. Fehrenbach). Damit ist es bis heute bei einer auf Konkurrenz und Konflikt zwischen Adel und Bürgertum fixierten Engführung der deutschen Adelsforschung geblieben. Das Gehäuse von Fragen, das die Adelshistoriker umfangt, lenkt den Blick einseitig auf die Feststellung von viel oder wenig Niedergang des Adels, Verbürgerlichung des Adels oder Feudalisierung des Bürgertums, auf Sieg, Niederlage oderwie zuletzt Hj. Henning (1994) „unentschiedene Konkurrenz". Das beliebteste methodische Verfahren der so ausgerichteten Forschung blieb das Auszählen von Adligen und Bürgerlichen nach mehr oder weniger aussagekräftigen Indikatoren, nach Grundbesitz, Berufsposi-

tionen, Mitgliedschaften, Ehegattenwahl, kurz die Errechnung Quoten.

von

Forschungsprojekt „Elitenwandel in der gesellschaftlichen Modernisierung", dessen Ergebnisse mit zwei Tagungsbänden beginnend in dieser Buchreihe präsentiert werden, hat dazu drei PerspektivkorrekDas

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turen erarbeitet:

gilt zunächst mit Heinz Gollwitzer daran zu erinnern, „daß der Sozialprozeß nur zur einen Hälfte als eine Geschichte von Klassenkämpfen aufzufassen, zur anderen jedoch als ständige Herstellung von Kompromissen und Synthesen zu begreifen ist". Die beachtlichen Selbstbehauptungserfolge des Adels in Deutschland waren zweifellos Ergebnis günstiger Anpassungskonstellationen. Zu diesen gehörten 1. Es

ganz entscheidend aber auch Konstitution, Verhalten und Orientierungsmuster des Bürgertums. Es gilt also, die Ergebnisse der jüngeren sozial- und kulturgeschichtlichen Bürgertumsforschung zu nutzen und die Geschichte des Adels in Deutschland als Geschichte seiner Beziehungen zu den verschiedenen Gruppen höheren Bürgertums zu schreiben. Diese Beziehungen besaßen im 19. und frühen 20. Jahrhundert je nach Zeitphase und gesellschaftlicher Konstellation eigene Akteure, eine eigene Form und eigene inhaltliche Schwerpunkte. Wie in den meisten anderen Ländern Westeuropas, wurden auch in Deutschland die gesellschaftlichen Machtstrukturen nicht von Adel oder Bürgertum, sondern von Adel und Bürgertum in jeweils noch genauer zu bestimmenden Mischungslagen geprägt. Der aristokratisch orientierte Bürger war keineswegs nur eine vernachlässigenswerte Abweichung von der liberalen Norm langfristig erreichbarer Gleichheit, sondern eine an

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Zahl gewichtige Realität, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sogar stark an Bedeutung gewann. Die Bildung einer neuen gesellschaftlichen Führungsschicht wurde am Ende des 18. Jahrhunderts zu einem gesamteuropäischen Problem. „Elite" wurde ein Gegenbegriff zum Adel, mit dem eine neue Auswahl eingefordert wurde. An Deutschland fällt auf, daß diese Diskussion, obwohl auch hier überwiegend Bürger diskutierten, in starkem Maße an das Adelsvorbild gebunden blieb. „Neuen Adel", seit Mitte der fünfziger Jahre auch neue Aristokratie wollte man schaffen, nicht aber, wie besonders in Frankreich, die konsequent alternativ zum Adel konzipierte „élite" einer bürgerlichen Gesellschaft. Das „bürgerliche Projekt" (J. Kocka) des aufklärerisch-liberalen Bürgertums besaß in der Praxis von Anfang an einen starken aristokratischen Kern, der dem Klassenhaß auf den Adel frühe Grenzen setzte. Dominant war die Erwartung einer schrittweisen, langfristigen „Einbürgerung" des Adels. Zumeist wurde der Adel in der um 1800 anhaltenden Diskussion zum Elitenreservoir gezählt und damit an der Suche nach Kriterien für die Auswahl der neuen Führungsschicht beteiligt. Genau genommen war die Umbruchsituation um 1800 für einen großen Teil des Adels nicht neu. Auch im Alten Reich hatte es schon eine Trennung des Adels in Elite und Elitenreservoir gegeben. Ein Teil der Adelsfamilien hatte den Aufstieg des zentralisierten frühmodernen Staates, die Durchsetzung des stehenden Heeres, die Blüte des absolutistischen Hofes und die Kommerzialisierung einer auf Fernhandel ausgerichteten Getreidewirtschaft zu nutzen gewußt und hielt sich fähige, nobilitierte Bürger integrierend in den alten wie in den neu aufkommenden Führungspositionen, während ein anderer Teil diesen Anschluß nicht schaffte, sondern verarmte, absank oder ausstarb. Diese Situation wiederholte sich nun um 1800 unter den verschärften Bedingungen konsequenter Pluralisierung, welche aber auch dem deutschen Bürgertum, wie der Erwartungsbegriff „neuer Adel" zeigt, nicht ganz geheuer war. Der Adel, insbesondere der staatliche Funktionsadel in Preußen, hatte, als die Verlusterfahrungen der großen Wende um 1800 auftraten, schon viel Altes abgestreift und viel Neues in sich aufgenommen. Die Nachrichten aus Frankreich waren zwar beunruhigend. Im Grunde aber traf ihn die Entwicklung nicht völlig unvorbereitet, allerdings wegen des nun konsequenter gehandhabten Leistungsprinzips extrem hart. Andererseits vertrat das damals diskutierende Bürgertum, auch dies verrät der Begriff „neuer Adel", keineswegs ein konsequent offenes Leistungs- und Pluralitätsprinzip. Das Alte war also nicht so alt, wie es damals erschien; und das Neue sollte -

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nicht so neu sein, wie es denkbar war. Dies war aus der Sicht des Adels keine schlechte Ausgangsposition für eine gemeinsame Suche von Adel und Bürgertum nach den Grundlagen „neuen Adels". Die neuere Forschung zu „Stadt und Bürgertum" (L. Gall) hat inzwischen gezeigt, daß das ständische Bürgertum der Städte im alten Reich vor ähnlichen Herausforderungen stand und diese im schrittweisen Wandel durchaus bewältigt hat. -

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Elitenbildung soll hier langwierigen Begriffsdiskussionen vorbeugend vor allem zweierlei bedeuten: Zum einen die Leitbilder, Normen und Verhaltensmuster konstituierende Begegnung von Adligen und Bürgerlichen in leitenden Funktionsbereichen der modernen Gesellschaft, vom höheren Beamten und Militär bis zum Führungspersonal der Parteien, Verbände und Regierungen; zum anderen den komplexen Vorgang der Suche nach bzw. der Ausbildung von gesellschaftlichen, kulturellen Orientierungsstandards, die solche Führungssektoren übergreifen und im günstigen Fall in der Lage sind, den spannungsvollen Prozeß der Modernisierung zu tragen und in seinen Extremen zu mäßigen. In dieser Sicht erscheint Elitenbildung als eine Konfiguration neben-, mit- oder gegeneinander agierender adliger und bürgerlicher Gruppen, deren Realitätsdeutungen und Handlungsweisen 2.

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die leitenden Positionen in Staat und Gesellschaft, im äußersten Fall sogar die Gesellschaft insgesamt prägen. Die bisherigen Forschungen zum Verhältnis von Adel und Bürgertum haben mit Deutungskonzepten wie „Einbürgerung", „Verschmelzung" und „Selbstbehauptung" die Aufmerksamkeit der Historiker stark auf die engste aller Beziehungen zwischen zwei Gruppen, auf die Heiratsverbindung konzentriert. Schon die von Max Weber mit dem Konnubium gleichgestellte Kommensalität wurde dagegen kaum untersucht, von anderen Feldern der Begegnung Beruf, Vereine, Verbände, Freizeit gar nicht zu reden. Elitenbildung aus Adel und Bürgertum konnte aber auch jenseits von Heirat und trennenden Adelstiteln auf den Weg kommen. Was die Heiratsbeziehungen angeht, so gab es für den Adel gute Gründe, gerade diesem Brückenschlag gegenüber vorsichtige Distanz zu halten. Er war nämlich dem gehobenen Bürgertum an Zahl weit unterlegen. Eine zu schnelle, zu weitgehende Öffnung gegenüber dem durchaus heiratswilligen Bürgertum hätte den Ansehensvorsprung des Adels, der nur 0,4% (um 1800) bis 0,2% (um 1900) der Bevölkerung ausmachte, schnell eingeebnet, das in der Gruppe bewahrte Prestige im Meer des umgebenden, weitaus zahlreicheren höheren Bürgertums versinken lassen. Aber auch aus der -

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Sicht des Bürgertums waren adlige Heirat und Nobilitierung keinesfalls problemlose Strategien. Die Zahl der Nobilitierungen war zu gering, um eine langfristig gleichgewichtige Verschmelzung denkbar werden zu lassen, aber groß genug, um die eigene Gruppe zu spalten und zu schwächen. Das Festhalten des Adels an Distanz und Distinktion entsprach damit in gewissen Grenzen ebenso einer Selbsterhaltungslogik wie das nicht per se adelsfeindliche Bemühen des Bürgertums um eigene Formen staatlicher (z. B. Kommerzienrat) und gesellschaftlicher Zuweisung von Ehre. Elitenbildung, Aristokratiebildung konnte durchaus jenseits von Heiratsbeziehungen und Titeln ablaufen. Das Scheitern einer Elitenbildung aus Adel und Bürgertum war nicht vorprogrammiert. In Frankreich z. B. haben die den Adel einschließenden Notabein als Träger einer Elitenkontinuität die wachsenden Klassenspannungen und Revolutionen des 19. Jahrhunderts ausgehalten und auch der Entwicklung einer demokratisierbaren „meritocratic" keinen, zumindest keinen zerstörenden Widerstand entgegengesetzt. Der Plan eines „neuen Adels" aus Adel und Bürgertum hatte in Deutschland durchaus seine Konjunkturen und Chancen. Für die Stellung des Adels im Prozeß der Elitenbildung wurde dabei entscheidend, welche (erneuerten) Bestände seiner Tradition in der sich entwickelnden Moderne, in staatlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Funktionsbereichen gebraucht wurden, welche eigenständigen, vom Bürgertum akzeptierten, ja gesuchten Beiträge er in eine gemeinsame Orientierungsarbeit einbringen konnte. Wenn man z. B. davon ausgeht, daß die im 19. Jahrhundert sich ausbildenden Teileliten eigener, professioneller Rationalität noch nicht darauf verzichten konnten, ihre Erfolgsnormen, ihr Leistungsniveau und ihre daraus resultierenden Statusansprüche sichtbar „darzustellen", dann eröffnete sich dem Adel, dem Meister der Sichtbarkeit, dem Virtuosen der Repräsentation von Vorrangansprüchen, wenn die Fachleistung stimmte, auch in der aufkommenden Moderne ein weites, neues Feld der Selbstlegitimierung als Repräsentationselite. Aber nicht nur die sich ausbildenden Teileliten, auch Staat und Gesellschaft als Ganzes konnten auf personale Formen der Integration und Repräsentation noch lange nicht verzichten. Hinzu traten neue Integrationsaufgaben. Das Lokale und Regionale war mit der staatlichen Zentrale zu verbinden, auch dies eine keineswegs konfliktfreie neue Aufgabe und Machtchance, die der Adel, der in seiner Landschaft zumeist noch über große Vertrauenspotentiale verfügte, nutzen konnte: als Reichstagsabgeordneter, Spitzenrepräsentant nationweit agierender Verbände und Vereine, als Hofadel -

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Einleitung

persönlicher Vertrauter des Monarchen wie seiner Regierung. Das Bürgertum brauchte dagegen Zeit, um zu einer solchen Vernetzungsleistung fähig zu werden; es mußte Ortstabilität in der Region gewinnen, geordnete Lebensläufe und Familienkontinuität erarbeiten, Leund

bensform in Vertrauen umsetzen, sich in überregionale Netzwerke einbauen, kurz: Ehre, Würde und Anerkennung erwerben, welche befähigten, die Region, aber auch das bonum commune zu vertreten. Der Adel hatte in dieser Integrationsfunktion einen erheblichen zeitlichen Vorsprung vor dem Bürgertum, der ihn nicht nur als Repräsentations-, sondern auch als Vernetzungselite im Spiel hielt. Und als in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die professionalisierten Teileliten nach kultureller Homogenität und gemeinsamer Lebensform einer künftigen Reichselite zu suchen begannen, hatte wiederum der Adel mit seiner hochdifferenzierten Alltagskultur nicht Unbeträchtliches in die Aushandlung einer solchen ,führenden' Gesellschaftsformation einzubringen. Die Konzepte „Stand" und „Klasse" haben die Adelsforschung sehr stark auf die Unterschiede, Gegensätze und Konflikte zwischen Adel und Bürgertum ausgerichtet. Eingebunden in globale marxistische oder modernisierungstheoretische Verlaufsmodelle haben sie den Adel als inkompatibel mit der Moderne des 19. Jahrhunderts, als „ständischen Überhang", als Störfaktor im eigentlich relevanten Prozeß definiert, als Gruppe, die lediglich reaktiv, durch Anpassung an den Haupttrend, ihren Todeskampf hinauszuzögern vermochte. Das Konzept „Elitenbildung" (aber z. B. auch Professionalisierung oder Generation), das Adel und Bürgertum übergreift, ermöglicht es demgegenüber, die Geschichte der Beziehung Adel Bürgertum als eine lange Zeit offene und gleichgewichtige zu erforschen, und Phasen dieser Beziehungsgeschichte in ihrer je eigenen Qualität zu erschließen. Der Adel brachte in das 19. Jahrhundert, in die mit Bürgertum und Staat betriebene Aushandlung einer neuen Elitenbildung auch Ressourcen ein, die brauchbar, ja begehrt waren, wie brauchbar und begehrt, das kann nur die konkrete Erforschung von Elitenbildungprozessen klären. -

3. Die Frage, welche Machtressourcen den Adel auch nach dem Verlust seiner Herrschaftsrechte befähigten, eine wichtige Rolle in den Elitenbildungsprozessen des bürgerlichen Zeitalters zu spielen, führt in das Feld der Adelskultur. Es gab im 19. Jahrhundert ein „Projekt Bürgertum", daneben aber auch (und zum Teil mit diesem eng verschränkt) ein „Projekt Adel in der bürgerlichen Gesellschaft". Neben der von der jüngeren Bürgertumsforschung herausgearbeiteten „Bür-

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gerlichkeit" stand auch die Entwicklung neuer „Adligkeit" als Kultur auf der Tagesordnung. Das heißt: Unterschiedliche Gruppen des Adels (zum Teil aber auch des Bürgertums) versuchten, aus dem umfassenden alteuropäischen Adelserbe, durch eine zeitgemäße, selektive Reinvention dessen, was Adel eigentlich ist, ein kulturelles Selbstverständnis und Handlungsmuster zu erarbeiten, welche den sehr unterschiedlichen Adelsgruppen in Deutschland eine (stets prekär bleibende) Einheit verliehen. Zugleich sollte diese Wiedererfindung des Adels

Zugehörigkeit zum Elitenreservoir neu begründen, die Standesgenossen zur Teilnahme an den Elitenbildungsprozessen motivieren, dessen

allem aber durch die Identifikation brauchbarer Adelsressourcen eigenständigen Aushandeln adlig-bürgerlicher Grundkonsense im Rahmen solcher Elitenbildung befähigen. „Adligkeit" in diesem Sinne aufgefaßt zeigte dem Adel eigene Wege in die Moderne, jenseits von Isolation und Abstieg, aber auch jenseits bloß reagierender Anpassung. Diese aus Altem neu gestaltete Adelskultur wurde im 19. und selbst noch im 20. Jahrhundert dynamisch fortentwickelt und enthielt viele Angebote, die auch für das höhere Bürgertum attraktiv waren. Bürgerlichkeit und Adligkeit als zwei verschiedene Bestände von Kulturbevor

zum

deutungen konnten in der Begegnung von Adels- und Bürgergruppen Schnittmengen bilden, neue Orientierungs- und Verhaltensmuster kreieren, welche sich als mögliche Wege in und durch das bürgerliche Zeitalter interpretieren lassen. Solche Prozesse diskursiv, d. h. in der Begegnung von Gruppen des Adels und des Bürgertums erarbeiteter Kulturbedeutungen stehen im Zentrum des Forschungsprojekts, das in dieser Buchreihe vorgestellt wird. Welche Adelsfraktion dachte sich wann, unter welchen Bedingungen, in welcher Konzeption von neuem Adel oder Aristokratie, mit welcher Bürgergruppe zusammen? Und welche Bürgerfraktion träumte, bezogen auf welche Adelsgruppe, von der Bildung einer neuen Aristokratie oder Elite? Was wurde an Annäherung erstrebt, was an Kontaktformen und Konsens entwickelt, an Angeboten lanciert, an Legitimationen erdacht, an scheiternden Brükkenschlägen erlitten? Und schließlich: Welches waren die Gründe für das Scheitern solcher Konzepte von Elitenbildung? Anknüpfend an die oben zitierte These Max Webers ist dabei vor allem danach zu fragen, welche dieser Deutungsprozesse zu radikalen, und welche zu gemäßigten politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Elitevorstellungen geführt haben. Das Projekt, auf der Grundlage eines neuadligen oder aristokratischen Leitbilds zu adlig-bürgerlicher Gemeinsamkeit zu finden, hatte in Deutschland durchaus seine Chancen, seine Konjunkturen, vor allem aber immer wieder seine Krisen.

Einleitung

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Bemühen, eine „wirkliche Aristokratie" im Sinne Max Webers zu bilden, ist in vielen Handlungsfeldern, in denen sich Adlige und Bürgerliche begegneten, erkennbar; aber es scheint so, daß es im 19. und Das

frühen 20. Jahrhundert in fast allen seinen Anläufen gescheitert ist. Es fragt sich, was die Gründe dieses Scheiterns, welche Fermente der Radikalisierung hier am Werke waren? Warum gelang es nicht, eine aristokratische Formkultur zu entwickeln, die demokratisierbar war, oder anders gewendet: Warum wurde in Deutschland nicht das kritische Minimum an Eliten- und gesellschaftlicher Aristokratiebildung erreicht, das die extremen Reaktionen, die der Modernisierungsprozeß in allen Teilen der Bevölkerung hervorrief, mäßigend unter Kontrolle hielt oder gar wie in Großbritannien, Polen, aber auch Frankreich die politische wie die Alltagskultur der Nation insgesamt durchdrang und prägte? -

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II.

Die zwei Konferenzen, deren Ergebnisse in den ersten beiden Bänden dieser Buchreihe präsentiert werden, gingen von der Einsicht aus, daß sich die Prozesse adlig-bürgerlicher Begegnung und diskursiver Erarbeitung neuer, auf Elitenbildung zielender Kulturbedeutung in bestimmten Zeitphasen vermehrten und verdichteten. Um einen ersten Überblick über das Spektrum der Beziehungen von Adel und Bürgertum zu gewinnen, wurden die Vorträge zum einen auf Entwürfe und Versuche der Selbstdefinition gerichtet, welche einer Elitenbildung den Weg zu weisen versuchten, zum anderen auf Zeiten der Machtprobe, aber auch der gemeinsamen Gefährdung, die das Verhältnis Adel Bürgertum in jeweils neue Horizonte rückten. Seit der Spätaufklärung schien das „Modell England" einen organischen, nichtrevolutionären Weg in eine stark erneuerte oder gar völlig umgestaltete Gesellschaft aufzuzeigen. Robert von Friedeburg beschreibt die Sogwirkung, die Konjunkturen, die wechselnden Interpretationen und Instrumentalisierungen, und die letztlich bis ins frühe 20. Jahrhundert reichende Laufzeit dieses wirkungsmächtigen Modells. Immer wieder hat das Beispiel des „englischen Adels", der in sich hierarchisch geordnet, fest an den Boden rückgebunden und zum Bürgertum offen war, Adel, Bürger und Monarchie in Deutschland zu Diskussionen und Erneuerungsvisionen angeregt. Es faszinierte, weil es das Gegensätzliche zu vermitteln versprach: Geburt und Verdienst, Erbadel und neue Elitenbildung, ständische und konstitutionelle Verfassung, monarchisch-aristokratische und nach Rechtsgleichheit stre-

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bende bürgerliche Gesellschaft, Beharrung und Wandel. Und selbst nach dem Scheitern aller auf allzu überzogene Erwartungen gegründeten Verschmelzungskonzepte seit der Jahrhundertmitte, meldete sich der „englische Adel" als Orientierungsmodell noch einmal mit Macht zurück: Als Vorbild für eine neue gesellschaftliche Elite des Reiches, welche aufgrund ihrer so reichen wie beeindruckenden Alltagskultur Orientierung und Ordnung verlieh, Hierarchie neu legitimierte, Mobilisierung und Vermassung eindämmte, kurz: die Gesellschaft in Harmonie integrierte. Man mag, wie es von Friedeburg, gestützt auf ein Diktum Wolfgang Mommsens, nahelegt, in dem „Spiegel England" noch einmal verschärft die bleibenden Verwerfungen und Konflikte der deutschen Gesellschaftsgeschichte erkennen. Genauso legitim ist es aber, auf den Prozeß statt auf Ergebnisse zu achten, und daraufhinzuweisen, daß das „englische Beispiel" Adel und Bürgertum in Deutschland über ein Jahrhundert hinweg im Gespräch gehalten hat, und aus dieser Perspektive heraus zu fragen, wieviel Abschliff von Unterschieden, welche Schnittmengen gemeinsamen Selbstverständnisses sich aus diesem anhaltenden Diskurs ergeben haben. Die Orte, an denen Adel und Bürgertum in konkreter Deutungskonkurrenz einen „neuen Adel", eine „Adeligkeit nach der Ständegesellschaft", welche den neuen Elitestandards entsprach, auszuhandeln versuchten, blieben im Deutschland der ersten Jahrhunderthälfte so zahlreich wie unvorhersehbar. Weder räumlich noch thematisch läßt sich für diese Diskussionen ein Zentrum bestimmen. Günther Heinickel erschließt und analysiert in seiner Studie den von Friedrich Wilhelm IV. um 1840 nach englischem Vorbild eingeleiteten Versuch einer Adelsreform, die als Vorarbeit für ein zeitgemäßes Zweikammersystem mit Oberhaus (Pairie) geplant war. Zwar konnte man über die Kriterien des neuen Adels letztlich keine Einigung erzielen; doch stellte sich jenseits aller Herkunftsunterschiede (alter, grundbesitzender Adel vs. nobilitierte Beamtendynastien) der hier diskutierenden Beamten, bei aller inhaltlichen Divergenz, doch eine Gemeinsamkeit ein: Man akzentuierte mit der „Gesinnung" ein nicht-materielles Kriterium für Adel, das einerseits die Aspiranten aus dem schnell erworbenen bürgerlichen Reichtum und die altständischen Mitregierungsansprüche auf Distanz hielt, andererseits der höheren Beamtenschaft, die diese Adligkeit auszuhandeln versuchte, durch die Definitionsmacht darüber, was Gesinnung war, Einflußmöglichkeit und das prestigeträchtige Image der Fortschrittlichkeit sicherte. Hier wird in ersten Ansätzen eine Schnittstelle adliger und bürgerlicher Deutungsarbeit erkennbar, die langfristig erhebliche Wirkungen entfaltete: In -

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der höheren Beamtenschaft wurde im Laufe des 19. Jahrhunderts durch professionelle Ausbildung und Zusammenarbeit der Unterschied zwischen Adligen und Bürgerlichen zweifellos am stärksten eingeebnet. Die Beiträge von Ewald Frie und Frank Möller zeigen, in Orientierungssuche wie Selbstverständnis, nicht nur zwei Adelsvertreter des Vormärz, wie sie polarer kaum zu finden sein dürften; sie zeigen darüber hinaus und vor allem auch zwei äußerst verschiedene Traditionen, Konstellationen, Handlungsoptionen und Strategien des Aushandelns neuer, zeitgemäßer Adligkeit, des adligen Kampfes um Zugehörigkeit auch zum Elitenreservoir der aufkommenden bürgerlichen Gesellschaft. Zwar waren die Ausgangspunkte beider ähnlich: Adligkeit als autonome Quelle von Politkompetenz, von Freiheitssicherung im Kampf gegen den übermächtig gewordenen bürokratischen Absolutismus; die ungeteilte, selbständige adlige Person als Repräsentantin des Allgemeinwohls. Aber Auswahl und Bearbeitung der für diese neue Adligkeit verwandten Ressourcen konnten verschiedener kaum sein. Während von der Marwitz einen erneuerten ständischen Adel, einen abgeschotteten Platz des Adels in der neuen Elite zu begründen suchte, dabei auf nicht generalisierbare vorindustrielle Adelsqualitäten (Rittergut, Familie, Paternalismus) zurückgriff und einen Adelskonservatismus auf den Weg brachte, der mit dem durchaus vorhandenen bürgerlichen Konservatismus nicht vermittelbar war, entschied sich die Familie von Gagern für den entgegengesetzten Weg: Abkehr vom Grundbesitz als Kernelement von Adligkeit; Ableitung der autonomen adligen Politikkompetenz allein aus der adligen Persönlichkeit, welche zunehmend als sozialisiert statt vererbt interpretiert und mit generalisierbaren Qualitäten wie Tugend, Charakter und Selbständigkeit aufgeladen wurde; dies alles ohne ganz auf adelskulturell begründete Unterschiede zum Bürgertum zu verzichten. Dieser Ansatz schuf hinreichend große Schnittmengen mit dem liberalen Elitenmodell des gebildeten, vermögenden, tugendhaften, selbständigen und gemeinwohlorientierten ,citoyen'. Machtteilung zwischen Adel und Bürgertum bei der Durchsetzung des nationalen Verfassungsstaats wurde möglich, weil eine sukzessive Einebnung der Unterschiede, ein sanftes Verschwinden des Adels in einer neuen, übergreifenden politikfähigen Aristokratie vorstellbar war. Die Beiträge von Bernhard Löffler und Josef Matzerath lenken den Blick zurück von den einzelnen, neue Modelle von Adligkeit entwikkelnden Adelsvertretern hin zur konkreten Politik von Adelsgruppen in ihren Landschaften und Territorien. Löffler zeigt am Beispiel Bayerns, wie der Adel, aus einem altständischen Überlegenheitsgefühl heraus,

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den Anschluß an einen wichtigen Bereich staatlicher Modernisierung, die Gemeindepolitik, verweigerte und damit in erheblichem Maße seinen Anspruch fragwürdig werden ließ, in besonderer Weise zur Vertretung des staatlichen Gesamtinteresses, des Allgemeinwohls, prädestiniert zu sein. Dies verwies die Bauern auf das liberale Bürgertum der benachbarten Städte und auf die modernisierende Staatsbeamtenschaft als die wahren Gemeinwohl-Eliten. Die adlige Weigerung, zu den öffentlichen Lasten der Gemeinde, die durch staatlich delegierte Aufgaben ständig wuchsen, in angemessenem Umfang beizutragen, trieb in der Folge nicht nur Adel und Bauern, sondern auch liberales Bürgertum und Adel weit auseinander. Die Verbitterung der selbstbewußt gewordenen, politisch mobilisierten Gemeindebürger über ihre durch feudalen Abgabendruck und adlige Beitragsverweigerung verarmenden Gemeinden trug damit ebenso zum Ausbruch der 1848er Revolution bei wie die im Kampf gegen den egoistischen Adel gestärkte Einheit des liberalen Bürgertums und dessen Einschätzung, das Land schon in erheblichem Umfang für den Parlamentarismus gewonnen zu haben. Im frühkonstitutionellen Sachsen war die Bildung einer erneuerten adlig-bürgerlichen politischen Standschaft auf der Grundlage von Rittergutsbesitz schon vor 1848 relativ weit vorangeschritten. Die Revolution zwang nun dazu, die Kriterien für die Fähigkeit zur Vertretung von Allgemeinwohl und Volk in aller Offenheit und Öffentlichkeit neu auszuhandeln. Das setzte adlige wie bürgerliche Gutsbesitzer gleichermaßen unter Rechtfertigungsdruck. Von den beiden konservativen Positionen, die sich relativ unabhängig von der Zugehörigkeit zu Adel oder Bürgertum unter diesem Druck herauskristallisierten, verwies die reformkonservative in zweifacher Weise auf eine künftige, Adel und Bürgertum übergreifende Gemeinsamkeit: das Kalkül, auch als Großgrundbesitzer (ohne Rittergutsprivileg) oben zu bleiben; und die wachsende Wahrnehmung einer neuen, Adel und Bürgertum gleichermaßen „von unten" bedrohenden, Sozialrevolutionären Spannungsfront. Ein entscheidendes Ergebnis der Revolution 1848 war aus elitengeschichtlicher Sicht, daß Adel und Krone wieder enger zusammenrückten. Das liberale Erwartungsmuster einer schrittweisen Einbürgerung des Adels wurde durch die wesentlich von Preußen getragene militärische Gegenrevolution massiv erschüttert. Der Adel gewann die Einsicht, daß für ihn auch im weiteren 19. Jahrhundert ein eigener Weg möglich war. Ihre institutionalisierte Form gewann diese Perspektive in der Konstruktion des preußischen Herrenhauses. Die Durchsetzung -

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dieser extrem

adelslastigen Einrichtung war nach dem Sieg der militä-

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rischen Gegenrevolution der zweite entschiedene Schlag Preußens gegen das Modell adlig-bürgerlicher Elitenbildung. Hartwin Spenkuchs detaillierte Rekonstruktion der Argumente, die die preußische Abkehr von der Ersten, nach Zensuswahlrecht gestalteten Kammer zum historisch-adelsständisch dominierten Herrenhaus stützten (bzw. zu verhindern suchten), weist so anschaulich wie eindrucksvoll den Weichenstellungscharakter dieser Entscheidung für Preußen, letztlich aber auch für Gesamtdeutschland auf. Zwar gab es auch in den anderen deutschen Ländern, insbesondere in Bayern, Erste Kammern stark ständischer Qualität, aber keine repräsentierte so umfassend und nahezu endgültig eine gesellschaftliche Machtgruppe, die im Wesentlichen historisch legitimiert war. Die Bedrohung des zahlreichen, im Durchschnitt wenig vermögenden preußischen Adels durch die bürgerliche Gesellschaft lenkte den Blick von Monarchie und Adel rückwärts. Der ostelbisch-altpreußische, monarchietreue Adel brauchte den Staat, fühlte sich weiterhin als Staat und erhielt nach dem Sieg über die Revolution auch dessen verstärkten Schutz. Im Grunde schuf sich hier ein Monarch seinen alten Adel mit dem Blick auf das bedrohliche Kommende neu, als umfassend befestigtes Bollwerk vor dem Thron. Wichtigstes Ziel des so konstruierten Herrenhauses war die Stabilisierung und Integration des in sich schon seit langem sehr heterogenen, langfristig abstiegsgefährdeten preußischen Adels, später auch des deutschen Adels in seiner Gesamtheit, vom Standesherrn bis zum Krautjunker. Auf der Strecke blieb angesichts dieser Prioritätensetzung die naheliegende zukunftsorientierte Aufgabe und Chance: Die Dynamik des gesellschaftlichen Wandels, wie defensiv auch immer, in der Zusammensetzung des Herrenhauses sichtbar werden zu lassen oder gar mit dieser Institution die Bildung eine neuen Reichtumselite aktiv voranzubringen. Statt für eine staatstragende plutokratische Elite nach englischem Modell entschieden sich König und preußischer Adel 1854 für eine verstärkte Distanzierung vom bürgerlichen Reichtum im Bereich der politischen Repräsentation. Revolution und erfolgreiche Gegenrevolution warfen damit lange, schwere Schatten in das 19. und 20.Jahrhundert. Den verbleibenden „liberalen", zumindest aber flexibleren Gruppen

im Umkreis der preußischen Monarchie, die solchen Verkrustungstendenzen entgegenwirkten, geht Hans Christof Kraus in seiner Studie über den Kronprinzen Friedrich und die weiterhin am englischen Modell orientierten „deutschen Whigs" nach. Er belegt, an sicherlich noch vermehrbarem Quellenmaterial, die anhaltende „Denkbarkeit" eines von oben gelenkten Verfassungswandels zugunsten einer stärkeren

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Öffnung des

gegenüber dem Bürgertum, einer durch gleichgewichtigere Machtteilung zu erzielenden besseren Harmonie der Stände, und nicht zuletzt: einer fortschrittlicheren machtpolitischen Erziehung Adels

des Adels. Die Realisierungschancen für solche Konzepte schätzt Kraus dagegen außerordentlich skeptisch, als faktisch aus Gründen der Situation, der Mentalitäten und der Handlungsschwäche der Akteure nicht gegeben ein. Weder im Verfassungskonflikt 1862/63, noch in der „Neuen Ära" 1858/61. Der Versuch, das Modell England auf Preußen zu übertragen, scheiterte zum wiederholten Male am monarchischen Prinzip, am Primat des militärischen Ernstfalldenkens und am Konzept eines historisch, von Vermögensgrundlagen weitgehend unabhängig definierten preußischen Adelsstandes, der in vielem das gerade Gegenteil der englischen aristocracy, aber auch der gentry war. Weitere Forschungen könnten m. E. durchaus noch wichtige Belege für das Interpretament der „verpassten Chance" beibringen; insbesondere wenn man nicht auf die einmalige Verfassungsänderung von oben, sondern auf den sukzessiven Verfassungswandel durch kontinuierliche politische Praxis innerhalb der Verfassung (statt mit Bismarck außerhalb der Verfassung und gegen sie) abhebt. Wichtiger ist es aber, unter elitengeschichtlicher Perspektive festzuhalten, daß der altliberale Kreis um den Kronprinzen entscheidend dazu beigetragen hat, das an England orientierte Konzept einer adlig-bürgerlichen, staatstragenden Aristokratie ins Kaiserreich zu tradieren, wo es unter neuen Bedingungen einer erneuerten Abwehrfront gegen die Gefährdung von unten; einem neuen, gemeinsamen Vertrauen in die Unverzichtbarkeit des Militärs, und der Bildung bisher unbekannt großer Vermögen in Adel wie Bürgertum zum Ausgangspunkt einer Welle neuer Aristokratiekonzepte wurde. Ziel war seit den 1890er Jahren allerdings nicht mehr die politische Elite hier hatte man in Machtteilung sein Nebeneinander gefunden sondern die Politik und Kultur tragende, den Massen Orientierung gebende, Staat und Gesellschaft harmonisch integrierende neue Reichselite, in die nun auch der west- bzw. südwestdeutsche Adel, insbesondere der Hoch- und Diplomatenadel, einbezogen wurde. Die Beiträge von Hartmut Berghoff und Thierry Jacob behandeln zwar dasselbe Thema, das Verhältnis des Adels zu den von der bürgerlichen Gesellschaft eröffneten neuen Reichtumschancen in Finanzwesen und Industrie; aber sie repräsentieren aufgrund ihrer unterschiedlichen Perspektiven und Forschungsansätze Einsichten in das Verhältnis von Adel und Bürgertum, die in vielem neu sind und sich eher ergänzen als widersprechen. -

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Berghoff geht von dem in der Forschung, insbesondere von Hans Rosenberg vertretenen Befund aus, daß das Verhalten des Adels gegenüber der modernen marktorientierten Wirtschaft des Kapitalismus ambivalent

Flexible

Anpassung verband

sich mit rückwärts letztlich wurde damit der Angewandter Anpassungsverweigerung; schluß an den neuen Reichtum trotz glänzender Ausnahmen, wie z. B. den oberschlesischen Magnaten doch verpaßt. Berghoff sucht diese Ambivalenz gleichsam von außen aufzuklären, indem er das Adelsengagement in verschiedenen Sektoren und Funktionen des Kapitalismus an einem idealen, hochflexiblen, konsequent markt- und profitorientierten Unternehmer mißt, dessen Kapital räumliche Bindungen und personal begründete Loyalitäten nicht mehr kennt. In diesem Spiegel treten dann die Adelsdefizite, die lebensweltlich konstituierten mentalen Anpassungsbarrieren gegenüber einem rein kapitalorientierten Wachstums- und Profitsteigerungsverhalten kristallklar hervor. Der Adel verwaltete ein eigenes kulturelles Kapital, das auf Abgrenzung von der bürgerlichen Geschäftswelt (statt dessen Nutzung), auf Sicherung von Politikfähigkeit (statt purem Reichtum) gründete. Deshalb habe er die neuen ökonomischen Möglichkeiten letztlich nicht erkennen wollen. Die Brücken zwischen Adel und Wirtschaftsbürgertum blieben schmal, während sich die Kluft zwischen beiden durch die zunehmende Distanzierung, mit welcher der Adel auf den schnell wachsenden bürgerlichen Reichtum reagierte, noch einmal vertiefte. Die Möglichkeit adlig-bürgerlicher Elitenbildung auf der Grundlage neuen Reichtums erscheint in dieser Deutung als ferner denn je. Während Berghoff aus seiner auf das erfolgreiche Wirtschaftsbürgertum ausgerichteten Perspektive heraus eher die Kosten der adligen Anpassungsverweigerung akzentuiert (Ausblendung des Wandels in der Umwelt, „innere Emigration" etc.), die Anpassungsbarrieren im Adel eher als einzelne Mentalitäts- und Verhaltensmuster addiert (wobei diese nicht selten als Defizite erscheinen, z. B.: Risikoaversion, geringe Sachkunde, Bodenfixierung), die lebensweltliche Einbindung dieser Orientierungen dagegen nur andeutet, wählt Thierry Jacob mit semer regional begrenzten Fallstudie den umgekehrten Weg: Er rekonstruiert die eigene Form der Aneignung kapitalistischen Wirtschaftens durch den Adel und stellt dieses Wirtschaften als Teil einer umfassenden adelsspezifischen ratio der Sicherung des Familienstatus dar. Damit erschließt Jacob zum einen, wie Berghoff, aber in einer die einzelnen Ebenen wirtschaftlichen Engagements (und Nicht-Engagements) integrierenden Deutung den Rückstand des Adels an wirtschaftlicher war:

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Modernität gegenüber dem Bürgertum. Zum anderen macht er aber dadurch, daß er nicht Adel und Wirtschaftsbürgertum, sondern Adel mit Adel vergleicht, deutlich, daß die Nutzung der neuen Reichtumschancen von Adelsfamilie zu Adelsfamilie, aber auch von Adelsregion zu Adelsregion unterschiedlich war, daß es also auch im Adel auf wirtschaftlichem Gebiet Konkurrenz, neues Aushandeln von Adligkeit und Ausdifferenzierung neuer adliger Elitenreservoire gab. Diese Prozesse rückten bestimmte Gruppen des Adels recht nahe an das Wirtschaftsbürgertum heran, nicht zuletzt an denjenigen, nicht unbedeutenden Teil des Wirtschaftsbürgertums, der dem von Berghoff zugrunde gelegten idealen Unternehmer ebenfalls nur bedingt entsprach. Der Adel wollte wie der Bürger Geld verdienen, das Wirtschaftswachstum auch über Landwirtschaft und agrarische Nebenbetriebe hinaus nutzen, allerdings innerhalb eines gegebenen, lebensweltlich gegründeten Rahmens. Darin unterschied sich der deutsche Adel wahrscheinlich selbst vom englischen der allerdings viel reicher war und weitaus bessere Profltgrundlagen nutzen konnte nur graduell. Das Muster von Adeligkeit in der preußischen Provinz Sachsen schlug also durchaus neue Brücken zum Wirtschaftsbürgertum. Entgegen der in der älteren Literatur, insbesondere von Fritz Stern vertretenen Einschätzung kommt Thierry Jacob zu dem Ergebnis, daß der grundbesitzende Adel sich letztlich nicht durch die spektakulären Gründerzeitkonkurse, in denen bekannte Adelsfamilien skandalisiert -

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wurden, von weiterem, nun konsequent adelsspezifischem Engagement

in kapitalistischen Unternehmen abbringen ließ. Man konzentrierte sich zwar auf das Land und über dieses hinaus auf die Region; aber die Brücken zum Wirtschaftsbürgertum brachen (auch politisch) nicht ein, wurden sogar Schritt für Schritt breiter, allerdings wie schon in der politischen Elitenbildung seit den 1850er Jahren im Bewußtsein eines letztlich bleibenden Nebeneinander. Die Kluft blieb zwar bestehen, aber sie verlor an Trennendem. Nimmt man zu diesem Befund hinzu, daß auch der große bürgerliche Reichtum, je später im 19. Jahrhundert desto mehr, nach Veredelung durch Lebensform und kulturelle Praxis, nach der Aura, das Gemeinwohl zu repräsentieren, verlangte, dann gab es, trotz des Schocks der 1870er Jahre durch die Fülle reicher und reichster Parvenüs und des tendenziellen Rückzugs des Adels auf Führung seines Landes und seiner Region, am Ende des Jahrhunderts durchaus noch hinreichend Gemeinsamkeit, die Bildung einer adligbürgerlichen Reichtumsaristokratie zumindest zu denken. Offen bleibt in Jacobs Studie allerdings, wie sich diese partielle wirtschaftliche Modernisierung eines im Kern auf Grundbesitz ge-

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gründeten Adels auf die große Zahl derjenigen Standesgenossen ausgewirkt hat, welche fern allen Grundbesitzes und zum Teil auch allen nennenswerten

Vermögens in städtischen Lebenswelten und Berufen

standen. Leider kann dieser Band den hierzu geplanten Beitrag, ein dringendes Forschungsdesiderat, nicht präsentieren.*** Doch zeigen die bisher vorliegenden Befunde, daß diese Adelsgruppen zu jeweils spezifischen Bürgergruppen sehr zahlreiche und ganz andere Brücken schlugen: auf professioneller Grundlage in höherer Beamtenschaft und

auf sozialreformerischer Grundlage in der „zweiten Gesellschaft" Berlins und anderer Metropolen, auf kultur- und modernekritischer Grundlage in zahllosen Zirkeln und Verbänden, auf neukonservativer Grundlage gegen die vermutlichen Gefahren einer Massendemokratie. Erosionsbewegungen im Adel und im Bürgertum griffen hier ineinander. Das Problem der wilhelminischen Ära war nicht der Mangel, sondern die Fülle von adlig-bürgerlichen Brückenschlägen, die Vielfalt gemeinsamer Suchbewegungen von Adel und Bürgertum nach einer neuen, gesellschaftliche Einheit und Konsens stiftenden Elite. Der viel kritisierte Kaiser, das zeigt der Beitrag von John C. G Röhl deutlich, war, trotz seiner Machtfülle und seiner Offenheit für zahlreiche Entwicklungen der Moderne, nicht in der Lage, und letztlich auch wohl nicht willens, diese vielfältigen Strömungen und Rinnsale des ausufernden, in sich widersprüchlichen adlig-bürgerlichen Elitendiskurses in das neue, umfassende Bett einer Aristokratie zu lenken (z. B. durch Nobilitierungs-, Hof- oder Ordenspolitik ). Er verfehlte die Aufgabe, eine Aristokratie zu bilden, welche Adel und höheres Bürgertum übergriff, die Regierungspolitik eines erneuerten, reichen Deutschland trug, für Wandel offen war und langfristig, das Nebeneinander von Adel und Bürgertum einebnend, in der Lage war, vorbildhafte, die Gesellschaft integrierende, demokratisierbare aristokratische Lebensformen im Sinne Max Webers hervorzubringen. Von einem Monarchen, der auch im Politikfeld Elitenbildung Sprunghaftigkeit als Vielseitigkeit tarnte, enttäuscht, vom funktionslos werdenden Hof entfremdet, und zunehmend aggressiv nationalistisch aufgeladen, drifteten viele dieser adlig-bürgerlichen Suchbewegungen in das Feld sich schnell überholender autoritärer Visionen gegen Massendemokratie

Offizierskorps,

Der mit dieser Studie befaßte Kollege Gangolf Hübinger hat diese leider nicht abschließen können. Bis auf weiteres ist damit das Kapitel „Weltanschauung, Sozialdarwinismus, Nietzsche, Krieg" in Arno Mayers Buch „Adelsmacht und Bürgertum. Die Krise der europäischen Gesellschaft 1848-1914" (München 1984/New York 1981) das Beste, was es derzeit zu diesem Thema zu lesen gibt.

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und Sozialismus ab. Der zweite Tagungsband wird sich der Aufarbeitung dieser letzten Phase der langen Suche nach einem „neuen Adel" widmen. Was kann man auf der Grundlage der hier präsentierten Aufsätze über die Konjunkturen und Krisen der Beziehung von Adel und Bürgertum Deutschlands im 19. Jahrhundert resümieren? Drei große Perioden lassen sich unterscheiden: Die erste Jahrhunderthälfte war die Periode der Erneuerungspläne, der Häutungen, des Abschleifens alter, ständischer Adligkeit und Bürgerlichkeit. Die noch offene Machtkonstellation zwischen Adel und Bürgertum ließ vieles als denkbar, aber auch als

machbar erscheinen: „Adelsdämmerung" im Sinne Kants, Selbstreform des Adels durch Reinventionen, vor allem aber die Bildung einer zeitgemäßen Elite, eines neuen Adels nach englischem (oder napoleonischem) Vorbild. Mit der erfolgreichen Gegenrevolution 1849 und der Etablierung des Herrenhauses 1854 ging diese Zeit der Pläne zu Ende. Friedrich Wilhelm IV. sicherte dem Adel einen eigenen Weg des Obenbleibens im weiteren 19. Jahrhundert: Als politische Elite in fester Bindung an die Monarchie. Nicht nur der preußische, sondern langfristig auch der west- und süddeutsche Adel, in dem durchaus Traditionen einer adlig-bürgerlichen Zusammenarbeit beim Aufbau einer modernen Gesellschaft vorhanden waren, haben diese Chance ergriffen. Die Bildung „neuen Adels", eine adlig-bürgerliche Elitenbildung, war künftig nur noch von oben, durch den Monarchen und seine Regierung machbar. Die Brücken zur Monarchie und zum Militär blieben für den Adel deshalb wichtiger als die Brückenschläge in die bürgerliche Gesellschaft hinein, in die Richtung einer englischen, adligbürgerlichen Aristokratiebildung. Diese wurde von altliberalen Adligen und Bürgern zwar in den 1850er und 1860er Jahren verstärkt eingefordert. Aber mehr als ein (ungleichgewichtiges) Nebeneinander beider Machtgruppen in der politischen Elitenbildung war für den Adel, der durch eine erfolgreiche Selbstorganisation und Identitätsstabilisierung seines gesamten, auch den landfernen und den „armen" Adel einschließenden Standes (Familienverbände, Orden, Adelsvereinigungen) gestärkt worden war, nicht vorstellbar. Das heißt: Gerade als die Gefährdung durch eine breite, gut organisierte Sozialrevolutionäre Bewegung von unten neue Gemeinsamkeiten schuf, war der Adel wieder so erstarkt, daß er was die Ausbildung einer neuen, die gesellschaftlichen Machtverhältnisse treffender abbildenden Elite anging keinen Handlungsbedarf mehr erkennen konnte. Die Angebote des Bürgertums zur Bildung einer neuen „Aristokratie" gingen ins Leere. -

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Die 1870er Jahre, die Erfahrung der schnell sich öffnenden Vermögensschere zwischen einem Adel mit dreifacher, „glänzender" militärischer Leistungsprobe und einem von diesen Siegen extrem profitierenden Bürgertum haben die Entfremdung zwischen Adel und Bürgertum zunächst noch einmal gesteigert. Erst in der seit den 1890er Jahren beginnenden dritten Phase hatte sich der neue bürgerliche Reichtum so stark ,veredelt' und zugleich sein Vertrauen in Monarchie und Militär so glaubwürdig gemacht, war aber auch der Druck von unten so stark gestiegen, die Stellung des Adels in den konservativen Parteien so geschwächt, daß die Konstellation für einen neuen Versuch der Aristokratiebildung günstig schien. Nun erwiesen sich jedoch die fortschreitende Desintegration auf beiden Seiten, bei Adel wie Bürgertum, dazu dann auch die Unfähigkeit und Unwilligkeit des Monarchen zu einer energischen, neuen Elitenpolitik als gravierende Hemmnisse eines entscheidenden Schritts in eine modernere, besser integrierte Gesellschaft. Es blieb damit letztlich bis 1914 bei den außerordentlich komplizierten, das faktische Nebeneinander kaschierenden Kompromißstrukturen bei gleichzeitiger Radikalisierung einer Vielzahl kleinerer adlig-bürgerlicher Suchbewegungen, die (noch) ohne Chancen waren,

Massenloyalitäten zu gewinnen.

Robert von Friedeburg

Das Modell

England in der

Adelsreformdiskussion zwischen Spätaufklärung und Kaiserreich

Johann Anselm Feuerbach meinte in seinen „Betrachtungen über den Geist des Code Napoleon"1 von 1812, daß, ebensowenig wie sich ein „Adel behaupten" könne, „von welchem die oeffentliche Meinung gewichen ist, so auch derjenige nicht, der seine ausgesprochenen Vorzugsrechte nicht durch äusseren Glanz vor den Augen des Volks verherrlichen, nicht auf die Macht des Reichtums (sich) stützen kann ..." Was Montesquieu von dem Verhältnisse des Adels zur Monarchie, als einer durch Gesetz und Ehre beschränkten Alleinherrschaft behauptet, kann weder von einem persönlichen Verdienstadel, noch von einem erblichen nicht begüterten Adelsstande, kann nur von einem auf bleibendem Grundvermögen fest ruhenden Erbadel gelten ."2 Und er stellte den deutschen Verhältnissen sodann Frankreich und England gegenüber. Im „Majoratsadel im Sinne des französischen und englischen Staatsrechts" sei der den Titel erbende Gutsbesitzer zugleich materiell angemessen ausgestattet. Die Mindererbenden aber gehörten „dem Staate bloß als Bürger an". Der Bürgerstand ergänze „sich auf diese Weise in steter Wechselwirkung aus dem Adel selbst..., und der Adel (finde) im Buergerstande seine eigene Uebungsschule ..." Diese Äußerung gibt die Hauptstoßrichtung der Instrumentalisierung des englischen Modells in der Adelsreformdiskussion wider. Sie zielte auf die Reform des Adels in der erst zu begründenden bürgerlichen Gesellschaft und nahm mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung ...

Paul Johann Anselm Feuerbach, Betrachtungen über den Geist des Code Napoleon, in: Themis, oder Beiträge zur Gesetzgebung, Landshut 1812, S. 34-39, 45. Ebd. (wie Anm. 1), S. 35. Vgl. zum Zusammenhang von Aufklärung und Anglophilie grundlegend Michael Maurer, Aufklärung und Anglophilie in Deutschland. Göttingen 1987, S. 13-59.

Robert

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von

Friedeburg

auf England im Hinblick auf die materielle Ausstattung der englischen Peerage, die Form der Vererbung der Standesrechte und auf die Re-

präsentation in einer eigenen Kammer, dem Oberhaus, Bezug. Die Forschung zur Reformdiskussion um den deutschen Adel steht mittlerweile auf einer ganzen Reihe von Einzel- und Überblicksdarstellungen, so von Elisabeth Fehrenbach, Dieter Langewiesche und Heinz Reif.3 In dieser Diskussion lassen sich zwei Hauptgesichtspunkte fixie-

ren.

Fußend auf den Vorschlägen zu einer Reform des Adels in der Publizistik der Spätaufklärung leiteten das Ende des Alten Reiches und die Reformbestrebungen in den neuen deutschen Einzelstaaten in eine intensive Diskussion in den ersten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts über, in welchem Maße und mit welchem Ziel der Adel in diese Reformen einzubeziehen sei. In den einschlägigen Organen bürgerlichen Reformwillens so dem Rotteck-Welckerschen Lexikon wurde diese Diskussion im Vormärz fortgeführt. Sie lebte in den Debatten um die Reichsverfassung im Gefolge der Revolution von 1848/49 noch einmal neu auf. Mit dem Verpuffen der Adelsreformbewegung im Adel selbst und der korporativen, politischen und sozialen Rekonsolidierung des Erbadels seit der Jahrhundertmitte mußte es auch um die Attraktivität des Modells England geschehen sein. Denn die Verteidigung des adligen Rechtsstatus aller erbberechtigten Titelträger konnte mit dem Prinzip der englischen Primogenitur, so wie es in Deutschland verstanden wurde, kaum vereinbart werden. Das durch die Burke-Rezeption von Rehberg u. a. vermittelte konservative Englandbild mußte verblassen. Zum anderen wies Dieter Langewiesche auf die Funktion der Adelskritik als Spiegel der Selbstkonstruktion des Bürgertums hin. -

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Heinz Reif, Adelserneuerung und Adelsreform in Deutschland 1815-1874, in: Elisabeth Fehrenbach (Hg.), Adel und Bürgertum in Deutschland, München 1994, S. 203-230; Dieter Langewiesche, Bürgerliche Adelskritik zwischen Aufklärung und Reichsgründung, in: Elisabeth Fehrenbach, Adel und Bürgertum in Deutschland 1770-1848, München 1994, S. 11-28; Walter Demel, Adelsstruktur und Adelspolitik in der ersten Phase des Königreichs Bayern, in: Eberhard Weis (Hg.), Reformen im rheinbündischen Deutschland, München 1984, S. 213-228; Leonhard Lenk, Das Modell England in der bayrischen Verfassungsdiskussion zwischen 1770 und 1818, in: Gesellschaft und Herrschaft. Forschungen zu sozial- und landesgeschichtlichen Problemen vornehmlich in Bayern, München 1968, S. 271-299; Adelheid Bues, Adelskritik und Adelsreform, Göttingen 1948; Carl August v. DrechSEL, Über Entwürfe zur Reorganisation des deutschen Adels im 19. Jahrhundert, Ingolstadt 1912; zur Sozialgeschichte des Adels vgl. beispielsweise Armgard v. Reden-Dohna u. Ralph Melville (Hg.), Der Adel an der Schwelle des bürgerlichen Zeitalters 1780-1860, Stuttgart 1988; Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Europäischer Adel 1750-1950, Göttingen 1990.

Das Modell

England in der Adelsreformdiskussion

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Zwischen der Spätaufklärung und der Revolution von 1848, der Radikalität der „Wortforderung nach Reform" in der Spätaufklärung und der „Mäßigung der Möglichkeit zur Tat" bei den meisten Liberalen der Zeit bis zur Jahrhundertmitte blieb die Zielperspektive jedoch in den Worten Langewiesches eine staatsfixierte bürgerlich-adlige Elitensymbiose auf vorindustrieller Grundlage. Diese Phase der Adelsreformdiskussion, in der sich das Bürgertum am Adel als kritisiertem aber gleichwohl der Kritik und damit eben auch der Beschäftigung für wert gehaltenen erblichem Herrschaftsstand rieb, wurde durch die Kritik an „Kapitalherrschaft" und „Geldaristokratie" abgelöst, die bereits in den Debatten der Paulskirche anklang und dann an Boden gewann. Bis zu diesem Zeitraum war zwischen Spätaufklärung und der Revolution von 1848 dem Sog des Modells England auch für Reformer mit ganz unterschiedlichem Schwerpunkt schlechterdings nicht zu widerstehen. Selbst ein Befürworter des Code Napoleon wie Anselm Feuerbach konnte in seinen Betrachtungen über die Gesetzgebung an dem England der vermeintlichen Elitensymbiose ein nachahmenswertes Beispiel finden. England mochte als konkrete rechtliche und soziale Blaupause im Hinblick auf die vermeintliche soziale und rechtliche Positionierung der englischen Peerage gelten und damit sowohl für den sich allmählich formierenden Konservativismus, ebenso aber auch für den sich formierenden Liberalismus als Beispiel geeignet erscheinen. In den Mittelpunkt dieses Modells England geriet dann je nach Stoßrichtung die Peerage als Beispiel für die erfolgreiche Verteidigung ererbter Privilegien der ständischen Ordnung gegen die soziale und politische Revolution. Die breite Rezeption von Edmund Burke im sich formierenden Konservativismus übte in dieser Hinsicht einen wichtigen Einfluß aus. Andererseits mochte die Peerage in ihrem Verhältnis zur Gentry als Beispiel für die Öffnung eines Herrschaftsstandes zum Bürgertum gelten. England konnte jedoch auch als nicht unmittelbar in staatliche Reformen umzusetzendes Leitbild eines auch in Deutschland zu schaffenden gebildeten Standes bzw. einer ständisch-meritokratischen Elite herangezogen werden, als ein Vorbild, in dem die angestrebte bürgerlich-adlige Symbiose geglückt erschien (Feuerbach). Das Modell England spielte, vermittelt vor allem durch Montesquieus Beschäftigung mit England als politisches Vor- und polemisches Gegenbild zur eigenen Monarchie, in Deutschland im Laufe des 18. Jahrhunderts eine stetig wachsende Rolle. Dabei mochte es sich um die englische Gartenbaukunst handeln die Landgrafen von Hessen-Kassel schwenkten zuerst von dem französischen zum englischen Parkmodel! -

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oder auch um die Reform der Landwirtschaft in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Die Anziehungskraft Englands datiert in ihrer Wucht jedoch auf die Jahre der französischen Revolution und des napoleonischen Kaiserreiches. England verteidigte seine ständische Sozialordnung nach außen gegen die Machtexpansion des französischen Staates und behauptete sie nach innen gegen die tatsächlichen oder vermeintlichen Gefahren der sozialen Revolution. Es stand daher für nationale Selbstbehauptung nach außen und Meisterung der sozialen Krise im Innern. Es vermochte die Achtung der Aufklärer unter dem Einfluß von Montesquieu und die Würdigung derer auf sich zu vereinen, die an der Verteidigung der überkommenen ständischen Hierarchie interessiert blieben. Mehr noch, der englische Staat entfaltete sich zur führenden Weltmacht. In einer Zeit, in der die Legitimität gesellschaftlicher Privilegien zunehmend nicht zuletzt an ihrer Funktionalität für die Entfaltung der Nation im Innern und nach außen bemessen wurde, mußte um

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englische Beispiel eine geradezu magische Anziehung ausüben, jedenfalls für alle jene, die weder für eine völlige Liquidierung des Adels als erblichem Stand mit bestimmten Privilegien noch für die Verteidigung des Status quo unter Ablehnung jedweder Reform waren. Denn das englische Modell ließ sich, obschon flexibel, nicht auf jede Konzeption anwenden.4 Trotz des breiten Spektrums möglicher Bewertungen des englischen Modells je nach politischem Interesse konnte es weder für die Liquidierung des Adels als Stand noch für eine Verteidig gung des Status quo instrumentalisiert werden. Für die Verteidiger des Adels kam es nur so lange in Frage, wie eine Opferung eines Teils der Träger adliger Titel zugunsten einer Konsolidierung des Adels auf neuer Grundlage ins Auge gefaßt wurde. Im folgenden wird in drei Punkten auf den Ausgangspunkt der Beschäftigung mit England (I.), auf die Reformdebatten zwischen dem Ende des Heiligen Römischen Reiches und der Revolution von 1848/49 (II.) und auf den Ausklang der Reformdebatte und damit auch einen Wandel in der Beschäftigung mit England in den 1850er bis 1880er Jahren eingegangen werden (III.). das

Vgl. Wolfgang J. Mommsen, Zur Entwicklung des Englandbildes der Deutschen seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, in: Lothar Kettenacker u. a. (Hg.), Studien zur Geschichte Englands und der deutsch-britischen Beziehungen, München 1981, 375397, hier S. 375; vgl. jedoch nach wie vor Sigmund Neumann, Die Stufen des preussischen Konservativismus, Berlin 1930, zur Rezeption von Burke durch den sich formierenden preußischen Hochkonservativismus.

Das Modell

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England in der Adelsreformdiskussion 1.

Trotz des Wandels der politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen durch die französische Revolution und die Napoleonischen Abenteuer setzten bereits die zahlreichen Aufsätze zur Adelskritik und Adelsreform der 1780er und 1790er Jahre entscheidende Akzente zur Rolle des englischen Modells, die bis zur Revolution von 1848 die Bahnen der Debatte mit bestimmen sollten. Ihr Tenor war die Gleichstellung der Bürger mit dem Adel bei gleichzeitiger Ablehnung einer völligen Abschaffung des Adels als Stand und scharfer Verurteilung

republikanischer Experimente.5 Mit dem Begriff des „Bürgers" waren dabei, etwa in der von Johann Georg Krünitz herausgegebenen „Oeconomischen Encyclopädie", nicht etwa die Stadtbürger, sondern die Mitglieder jenes gesitteten Standes akademisch geschulter Diener am Gemeinnutz gemeint. Soweit nicht adligen Standes, verstanden sie sich „wegen ihrer Gelehrten- und edeln Dienste, sonderlich in Aemtern" doch dem Adel ebenbürtig als „edle und angesehene Leute" und wurden als solche im Krünitz mit der französischen „Noblesse de Robbe" [sie] verglichen.6 Bereits in diesen Aufsätzen wird der Gemeinnutz im Sinne eines Dienstes

in

aufgeklärter

Gemeinwesen Absicht dem bloßen Pochen auf überholten Rechtspriviam

Bues, Adelskritik (wie Anm. 3), S. 25, insbesondere zur Ablehnung der völligen Aufhebung des Adels in Frankreich. Johann Georg Krünitz, Oeconomische Encyclopädie, oder allgemeines System der Staats- Stadt- Haus- und Landwirtschaft, Artikel „Bürger", Teil 7, 1787, 377-401, hier 377 f, 380 f. Zum Begriff des gesitteten Standes vgl. Friedrich Gabriel ReseWlTZ, Die Erziehung des Bürgers zum Gebrauch des gesunden Verstandes, und zur gemeinnützigen Geschäfftigkeit, Kopenhagen 1773, S. 77: Deren Bestimmung liege darin, „vornehmlich durch die Aufklärung und Thätigkeit seines Verstandes, durch die Entwicklung seiner Talente, und durch den klugen Gebrauch seines Genies" dem Allgemeinwohl zu dienen. „Wo dieser Stand, den man mit Recht unter den erwerbenden Bürgern den gesitteten nennet", noch nicht blühe, sondern „in Vorurtheilen über das, was in sein Fach gehöret" verharre und „nur alten Gewohnheiten und einer erierneten Rutine" folge, könne „zur Verbesserung eines Volkes nur wenig ausgerichtet werden". Durch den „gesitteten Bürgerstand" müsse „dem Wohl des Landes aufgeholfen, die Nahrung vermehret, der niedrige Stand beschäfftiget, gute

Künste verbreitet, Sitten und Denkungsart verbessert und allgemeiner gemacht und der Nation ein neuer Schwung zur Vollkommenheit gegeben werden"; vgl. Barbara Stollberg-Rjlinger, Handelsgeist und Adelsethos. Zur Diskussion um das Handelsverbot für den deutschen Adel vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Historische Forschung 15 (1988), 273-309; Robert v. FRffiDEBURG/Wolfgang Mager, Learned men and merchants: the rise of the „Bürgertum", 1648-1806, in: Sheilagh Ogilve u. Robert Scrjbner (Hg.), Germany: A Social History 1300— 1800. Bd. II, London 1996, 164-195.

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legien zur Verteidigung des Eigennutzes entgegengestellt. Besonders der französische Adel wurde für sein vermeintlich nur am Eigennutz orientiertes Handeln an den Pranger gestellt, für ihn sei der „Genuss" einziger Zweck seines Daseins.7 Unter der Perspektive der Aufklärung, welche Gruppe dem Gemeinwesen am nützlichsten, gemessen an den Ziel Vorstellungen der Aufklärung, sei, sah sich auch der Adel zunehmend genötigt, das eigene Verdienst im Rahmen der Konkurrenz unterschiedlich zugeschnittener ständischer Personenkreise unter Beweis zu stellen. Dem Adel als gegebenen privilegierten Herrschaftsstand wurde dabei ein anderer Adelsenfwurf, ein erst zu begründender gesitteter Verdienststand unter Einbeziehung der bürgerlichen, vor allem akademisch geschulten Amtsträger, entgegengestellt. Eine erfolgversprechende Verteidigung des Adels als Geburtsstand mußte demgegenüber auf diejenigen besonderen Befähigungen abheben, die gerade nicht akademisch erlernbar waren. Dabei wurde häufig auf seine Herrschaftspraxis qua Grundbesitz und seine Herrschaftspraxis qua Weitläufigkeit hingewie-

Zudem wurde auf seine Rolle als Mittler zwischen Fürst und Volk und auf seine besondere Befähigung zur Ausfüllung der Doppelrolle von Dienen und Herrschen abgehoben. Gegenüber der sichtbaren, nutzbringenden Arbeit eines „bürgerlichen Sekretärs im Kolleg"8 hieß es dazu beispielsweise im Deutschen Merkur von 1791, müsse der adlige Rat „hoch genug stehen, um die weitumgreifenden und unendlich mannigfaltigen Kombinationen der Menschen und bürgerlichen Angelegenheiten in einem grossen Staat übersehen zu können."9 Bezeichnenderweise stammte diese Formulierung aus einer Übersetzung und Kommentierung von Edmund Burkes „Das Recht der Völker". Die effektive Verteidigung des Adels als privilegiertem Rechtsstand unter den neuen Argumentationsvorgaben der Spätaufklärung10 bediente sich bereits vor der Herausgabe der „Betrachtungen über die Revolution" in Frankreich der Werke Burkes, des bald prominentesten Kritikers der revolutionären Liquidierung der französischen Ständegesellschaft auf naturrechtlicher und geschichtsphilosophischer Grundlage in Europa, und damit des englischen Beispiels, mit dem Burke gegen Frankreich polemisierte. sen.

Bues, Adelskritik (wie Anm. 3), S. 33-34. „Soll der Staat Bedienungen nach Verdienst vergeben?", Deutsches Magazin 1797, zit. nach Bues, Adelskritik (wie Anm. 3), S. 55. Übersetzung von Edmund Burke, „Das Recht der Völker", in: Deutscher Merkur 1791, zit. nach Bues, Adelskritik (wie Anm. 3), S. 55. Die schlichte Verteidigung ständischer Ungleichheit ohne Eingehen auf die neuen Argumente der Aufklärung braucht hier nicht berücksichtigt zu werden, vgl. Jörn Garber, Drei Theoriemodelle frühkonservativer Revolutionsabwehr, in: Jahrbuch des Instituts für deutsche Geschichte VIII (1979), S. 65-101.

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Noch vor der Verbreitung von Burkes Revolutionskritik veröffentlichte Justus Moser 1785 in den Berliner Monatsheften einen Aufsatz mit dem Titel „Warum bildet sich der deutsche Adel nicht nach dem englischen?" Die Neuformierung der deutschen ständischen Gesellschaft und besonders die Neuformierung eines aus Gelehrten und Adligen gebildeten Herrenstandes wird dort als Lehre des englischen Beispiels gefordert. Moser ging es vor allem darum, die vermeintlich in England noch segensreich wirkende Unterscheidung von „adlig" und „edelgeboren" wieder einzuführen. Jedes landtagsfähige Gut solle demnach als Reichsherrlichkeit betrachtet werden, die seinem edelgeborenen Besitzer die Reichswürde und damit den Adel verschaffe. Nur solche Gutsbesitzer seien als Adlige (mit dem Prädikat „von") anzusehen, nur sie sollten diejenigen Geburtsrechte für sich beanspruchen können, die bislang allen Adligen vorbehalten gewesen waren. Die mindererbenden Nachkommen und die Verwandten dieser Adligen, die nicht ihrerseits landtagsfähige Güter besäßen, seien nurmehr als „edelgeboren" zu verstehen. Sie genössen aber keine adligen Vorrechte und könnten Personen bürgerlichen Standes heiraten und Handel und Gewerbe trei-

ben."

Den Ausgangspunkt für Moser bot bezeichnenderweise die französische Diskussion, ob Adlige bürgerliche Handlungen betreiben könnten, also die Debatten um die Erosion des traditionellen Geflechts ehrender und entehrender Tätigkeiten in der Aufklärung, durch die auch die Legitimation des Adels als Herrschaftsstand in Mitleidenschaft gezogen wurde. Das englische Beispiel erlaubte es Moser, aus den Trümmern der ihrer Legitimation in der Spätaufklärung vollends verlustig gehenden feudalen Ehrhierarchie den Adel als Besitz- und Herrschaftsstand zu retten, in dem Standesprivilegien und Grundbesitz strikt gekoppelt wurden. Das englische Vorbild diente Moser in diesem Zusammenhang als Vehikel seiner Vorstellung einer Reform des Reiches. Das wird an zwei Punkten deutlich. Er schränkte die zu diesem Zeitpunkt in England längst auf praktisch alle nicht handarbeitenden Personen ausgeweitete Bezeichnung „Gentlemen" mit der Übersetzung „edelgebürtig" auf solche Personen ein, die tatsächlich Nachkommen adliger Personen waren.12 Er insinuierte mit seiner Diskussion der Bedeutung der WappenJustus Moser, Warum bildet sich der deutsche Adel nicht nach dem englischen?, in: Berlinische Monatsschrift 1785, S. 193-208; vgl. Bues, Adelskritik (wie Anm. 3), S. 64-67; Maurer, Anglophilie (wie Anm. 2), S. 111-141. Moser, Adel (wie Anm. 11), S. 197. Vgl. ebd. S. 198 seine Argumentation, daß gemäß älteren Reichsschlüssen der landsässige Adel aufgrund der Gleichstellung der Dienstleute der Fürsten mit den Reichsdienstleuten ebenfalls als reichsfrei zu be-

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fähigkeit als Kennzeichen der Edelgeborenen eine geburtsständische Differenzierung von Bürgern und wappentragenden Gentlemen in England, die nach dem faktischen Zusammenbruch der Versuche einer Reorganisation der effektiven Kontrolle der Krone über die Wappenführung gegen Ende des 17. Jahrhunderts nicht mehr den englischen Verhältnissen entsprach. Diese eigenwillige Übersetzung des Begriffs „Gentleman" mit „edelgeboren" sollte seine Vorstellung einer Reform

der ständischen Gesellschaft des Reiches mit vermeintlicher Munition aus dem Arsenal des englischen Modells versehen. Allerdings konzedierte er in einem auf den hier zitierten Artikel folgenden Aufsatz im Staatsanzeiger über die Ahnenprobe, auch die nicht „edelgeborenen", also bürgerlichen, Besitzer von Rittergütern, wie es sie beispielsweise im Kurfürstentum Sachsen in nicht unbeträchtlicher Zahl gab, könnten als ehren- und damit adelsfähig zugelassen werden. Wo in England der Wert einer Person wenigstens seit Gregory Kings einflussreicher Statistik aus dem späten 17. Jahrhundert an der Summe der jährlichen Einkünfte gemessen wurde und Einfluß und Macht des Adels sich nicht zuletzt direkt aus ihrer Fähigkeit ergaben, in dieser Hierarchie die Spitze zu behaupten, übertrug Moser dieses System in Geld messbarer Macht in ein System der rechtlichen Anerkennung besonderer Ehrenrechte im Reich aufgrund derjenigen Besitztümer, die als „Reichsherrlichkeit" anzusehen seien. Das Problem des Umfangs der jährlichen Einkünfte landtagsfähiger Rittergüter, der bekanntlich von Gut zu Gut enormen Schwankungen unterlag, ließ Moser aus seinen Betrachtungen aus. Ihm ging es um die Gleichbehandlung von „Herzogtümern, Grafschaften, Freiherrlichkeiten" und selbst „mediaten landsässigen Gütern" als Reichsherrlichkeiten. In diese Richtung gehört auch Mosers unzweideutige Ablehnung bürgerlicher Handlung für den neu zu gründenden Adel, während Geldgewinne aus Handel und Kohleforderung durchaus zu den Einnahmequellen der großen englischen Magnaten zählten. Moser verband mit Hilfe seiner Deutung des englischen Modells die Verteidigung des Adels als erblichem Herrenstand mit einer weitgehenden Liquidierung der innerständischen Differenzierung des Adels im Reich zugunsten eines Reichsadels, der aufgrund der gesetzgeberischen Rechte des Reiches geschaffen werden könne.13

Moser vgl. in diesem Zusammenhang auch Garber, Theoriemodelle 10), S. 89. Moser, Adel (wie Anm. 11), S. 202; zu Sachsen vgl. Axel FLÜGEL, Sozialer Wandel und politische Reform in Sachsen. Rittergüter und Gutsbesitzer im Übergang von der Landeshoheit zum Konstitutionalismus 1763-1843, in: Klaus TENFELDE, Hanstrachten sei;

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Es ist vor diesem Hintergrund kein Zufall, wenn der Göttinger Professor und Geheime Justizrat Johann Stefan Pütter14 in seiner Abhandlung „Über den Unterschied der Stände" vor allem auf das Problem der inneren Differenzierung des Adels im Reich hinwies. Im Rahmen einer Erörterung zum Problem der „Mißheiraten deutscher Fürsten" setzte er sich mit dem Problem auseinander, daß es im Reich den einen Adelsstand, der einer Reform hätte unterzogen werden können, nicht gab, sondern eine Vielzahl höchst heterogener Herrenstände. Zur Verteidigung unterschiedlich privilegierter Erbstände in einem Gemeinwesen bezog sich Pütter dabei sowohl auf einen englischen Aufsatz, der die Ungleichheit unter den Menschen in der Berliner Monatsschrift von 1793 verteidigt hatte, als auch auf Moser und das von ihm propagierte englische Modell.15 So sehr Pütter Moser grundsätzlich zustimmte, wies er doch darauf hin, daß der Adelstitel in England zugleich Sitz und Stimme im Oberhaus gäbe, in Deutschland Standeserhöhungen durch Kaiser und Fürsten jedoch nicht zugleich Sitz und Stimme auf den Landtagen brächten.16 Gleichwohl bezeichnete Pütter Mosers Vorschlag und die englischen Verhältnisse als „vorteilhafte Einrichtung"17. Hintergrund dieser Erwägungen waren in engerem Sinne Rechtsstreitigkeiten wie die zwischen adligen Rittergutsbesitzern ohne zureichende Ahnenzahl und der paderbornischen Ritterschaft in der Mitte der 1790er Jahre, in deren Verlauf sich die Rittergutsbesitzer vor den Reichsgerichten mit Unterstützung durch Juristen der Göttinger Universität in die landständische Korporation der paderbornischen Ritterschaft einzuklagen suchten. Ein juristischer Vertreter der Kläger, der Göttinger Beisitzer der juristischen Fakultät Justus Runde, behauptete in diesem Zusammenhang, bereits der tatsächliche Besitz eines Rittergutes und die Verteidigung des Vaterlandes im Konfliktfall seien als Nachweis adligen Standes anzusehen. Diese Nachweise seien durch den Fürstbischof außer Acht gelassen worden. Legitimation des adligen Standes sei im Paderbornischen ebenso wie in „den meisten übrigen deutschen Landesverfassungen" die Fähigkeit gerade dieser „Classe der Stände" also der Rittergutsbesitzer -, „der landesherrlichen Macht in der Regierung -

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Ulrich Wehler (Hg.), Wege zur Geschichte des Bürgertums, Göttingen 1994. S. 36-56. Vgl. zu ihm auch Lenk, Modell (wie Anm. 3), S. 280. Johann Stefan Putter, Über den Unterschied der Stände, besonders des hohen und niedern Adels in Teutschland, zur Grundlage einer Abhandlung über Mißheiraten Teutscher Fürsten und Grafen, Göttingen 1795, S. 157-167 zum englischen Modell, S. 169 zu Moser. Ebd., 164-165. Ebd., S. 167.

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dasjenige Gegengewicht zu halten, bey dessen Verletzung der Staat al-

lemahl der Gefahr ausgesetzt ist, den Druck einer willkürlichen Gewalt und Übermacht zu fühlen" und zu einer „Oligarchie" zu verkommen18. Der Ausschluß eines Teils der Rittergutsbesitzer aufgrund ohnehin erst seit dem 15. Jahrhundert eingeführter Ahnenproben laufe der Funktion des Adels für den Staat als Verteidiger des Vaterlandes, Repräsentant der Bevölkerung seiner Gerichtsbezirke und Mittler zwischen Fürst und Volk zuwider.19 Von dieser Bewertung der Rechtmäßigkeit und Legitimität adliger Standesprivilegien an den aufgeklärten Maßstäben Vaterland, Verdienst und Repräsentation in einem konkreten Rechtsstreit mit der Pointe, tatsächlichen Rittergutsbesitz als Qualifikationskriterium der Bedeutung einer Ahnenprobe vorzuziehen, war der Weg zur Heranziehung des vermeintlichen englischen Modells zur Rekonstruktion des deutschen Adels nach aufgeklärten Maßstäben nicht lang. Dieser Schritt war in der Schriften von Moser von 1785 und dem Bezug auf sie durch Pütter im Jahre 1795 und Runde im Jahr darauf bereits getan. Es wäre m. E. vorschnell, das Modell England in eine Auseinandersetzung zwischen ständischer Ordnung und bürgerlicher Gesellschaft sui generis zu stellen, ging es doch auch den meisten bürgerlichen Vertretern noch keineswegs um die Schaffung einer rechtsgleichen Gesellschaft aller Haushaltsvorstände, sondern eher um die Reform der ständischen Gesellschaft in ihrem Sinne. Es ging um die Verteidigung der ständischen Ordnung in den Termini der Aufklärung, und in dem Maße, in dem England zum Symbol dieser Verteidigung in praktischer Machtpolitik und Theorie wurde, mußte es unweigerlich zum beherrschenden Modell dieses Versuchs werden.

Vgl. Justus Friedrich Runge, Kurze Darstellung der Unrechtmäßigkeit einer Ausschließung vom Landtage durch die bey der ritterschaftlichen Curie eingeführte Ahnenprobe, in einer beym Kaiserlichen Reichskammergericht von den Nichtaufgeschworenen Mitgliedern der Paderbornischen Ritterschaft wider des Herrn Fürstbischof zu Paderborn Hochfürstliche Gnaden und die ritterschaftliche Curie der Landstände des Hochstifts Paderborn eingebrachten Klage, Göttingen 1796, S. 1416. Runge war Hofrat, Professor der Rechte und Beisitzer der juristischen Fakultät Göttingen. Die Kläger, als deren Vertreter Runge schrieb, waren ausnahmslos Träger adliger Titel und Besitzer von solchen Rittergütern, deren Besitz bis dahin Landtagsfähigkeit als Realrecht verliehen hatte. Im Kern seiner Argumentation stand die Behauptung, bei der Landtagsfähigkeit handele es sich um ein am Gut haftendes Realrecht. Umgekehrt könnten Adlige, die sich nicht im Besitz eines solchen Gutes befänden, gleich mit wie vielen Ahnen, auch nicht zum Landtag zugelassen werden. Runge, Darstellung (wie Anm. 18), S. 11 zur Fürsorge für das Vaterland, S. 14 zur Oligarchie, S. 16 zur Stellung des Adels als Mittler zwischen Fürst und Volk, S. 7 zu Repräsentation der Untertanen adliger Gerichtsbezirke.

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II. Den Übergang dieses speziellen Interesses am Modell England für eine Reform des Adels, die auch über das Ende des Reiches hinaus Bestand haben würde, spiegelte das in der Auseinandersetzung mit Montesquieu entstandene Englandbild des ungemein einflußreichen Historikers Johannes von Müller, dessen in den 1780er und 1790er Jahren erschienene Schriften als gesammelte Werke erstmals 1810-19 und bereits 1831-35 in zweiter Auflage erschienen.20 Hatte England in

Montesquieus l'Esprit des Lois noch eine bewunderte, aber kaum nachzuahmende Sonderstellung als Gemischte Verfassung eingenommen, verband Müller mit seinem Blick auf England die Gesichtspunkte der gemischten Verfassung und der gebändigten Monarchie. Der ausschlaggebende Faktor für das Gelingen dieses Systems sei der Adel: „Wo Königreich und Freiheit nebeneinander bleiben, da muss die feste Mittelmacht einer selbständigen Aristokratie existieren. Der Satz ist von Montesquieu erwiesen."21 Den Versuch zur praktischen Umsetzung solcher Überlegungen in Adelsreformvorschläge und ihren Übergang aus dem Rechtsgefüge des Alten Reiches in das neu zu begründende deutsche Staatengefüge spiegeln die diversen Vorschläge des

Freiherrn vom Stein.22 Eine ganze Reihe verstreuter Äußerungen Steins gemahnen an das englische Vorbild, ohne daß es eigens genannt wird. Dazu zählen seine Bemerkungen von 1817 gegen eine Steuerfreiheit des Adels und einen Ausschluß von Gutsbesitzern ohne Stammbaum23, sein Hinweis auf die Gefahren von bloßem „Geldreichtum" und einer reinen „Beamtenherrschaft" von 181924, sein Eintreten für die Berücksichtigung der „Eigentümer aller Klassen" in der Nas-

Vgl. Thomas Grütter, Johannes von Müllers Begegnung mit England. Ein Beitrag Geschichte der Anglophilie im späten 18. Jahrhundert, Stuttgart 1967. Johannes v. Müller, Sämtliche Werke, 1810-19, 2. Auflage 1831-35, Bd. 24, S. 98, zit. nach Grütter, Müller (wie Anm. 20), S. 166. Zu Steins reichsritterlichem Hintergrund und seiner Auseinandersetzung mit dem Herzog von Nassau um die Eidesfrage und seinen Rechtsstatus vgl. Freiherr vom Stein, Brief Stein an Dalwigk vom 6. März 1818, in: ders., Briefe und amtliche zur

Schriften, bearb. v. Erich Botzenhart, hg. v. Walther Hubatsch, Bd. VI, Stuttgart 1965 (zit. als Botzenhart), S. 732. Vgl. Freiherr vom Stein, Schreiben an den Freiherrn von Mirbach v. 19. Mai 1817, in: ders., Ausgewählte Schriften, ausgewählt und erläutert v. Klaus Thede, Jena 1929, S. 243; ders., in: Botzenhart (wie Anm. 22), S. 628 f. Ders., Bemerkungen zu einem Aufsatz des Staatsministers von Humboldt über ständische Verfassung v. 25. Februar 1819, in: Thede. S. 262-278, hier S. 274.

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Denkschrift von 180725, seine Vorstellung einer politischen Repräsentation der Nation durch Grundeigentümer und Bürger26, seine Unterscheidung adliger Gutsbesitzer und im Grunde nur als adelsfähig sauer

bezeichnender Personen mit adligem Prädikat, aber ohne solchen Gutsbesitz27, sein Beharren auf vermeintlich in geschichtlicher Erfahrung bewährter Modelle28, seine Wahl des Begriffs „Oberhaus" in seiner Denkschrift über die Herrenbank von 181629 zur Benennung derjenigen Institution, die als Repräsentation des „bedeutenden Grundeigentums mit geschichtlicher Existenz und Familienehre" fungieren sollte; alle diese Bemerkungen deuten auf das englische Modell immer wieder indirekt hin. Im Rahmen seines Plädoyers gegen Ahnenproben, aber zugunsten einer massiven Erhöhung des Mindestwertes des zur Zulassung auf den geplanten westfälischen Provinzständen vorzuweisenden Gutsbesitzes, wies er in einem Brief an Mirbach jedoch auch direkt auf England hin: „In England würde weder Lord Nelson, noch der Herzog von Wellington, noch der Graf Chatham das Oberhaus durch den Glanz ihrer Taten verherrlicht noch durch ihre Beredsamkeit erleuchtet haben. Die schönen Zeiten unseres Volkes wissen nichts von Stammbäumen Der Adel muß durch Verdienst erreichbar sein."30 Stein knüpfte damit einerseits an Moser und Pütter an und bezog sich in seiner Denkschrift über die Bildung der Provinzialstände in Westfalen explizit auf den bereits oben erwähnten Göttinger Juristen Justus Runde31, in seinen Überlegungen zur Repräsentation des Volkes auf Jeremy Bentham.32 Es kann auch nicht überraschen, daß Stein Scharnhorsts Entwurf einer Reorganisation der Provinzialtruppen von 180833, in dem die Bewaffnung der „bemittelten Klassen der Untertanen" mit Hinweis zu

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Vgl. ders., Nassauer Denkschrift über die zweckmäßige Bildung der obersten Provinzial-, Finanz- und Policeybehörden in der preußischen Monarchie, Nassau 1807, in: Botzenhart (wie Anm. 22), S. 116. Vgl. Steins Beurteilung des Rehdigerschen Entwurfs zur Konstitution der Reichsstände v. September 1808, in: Botzenhart (wie Anm. 22), S. 178. Vgl. ders., Denkschrift Chr. Schlosser, Frühjahr 1818, in: Botzenhart (wie Anm. 22), S. 868-870. Ders.. Schreiben an Arndt v. 5. Januar 1818, in: Botzenhart (wie Anm. 22), S. 697. Vgl. Bues, Adelskritik (wie Anm. 3), S. 100. Stein, Schreiben an Mirbach v. 19. Mai 1817, in: Botzenhart (wie Anm. 22), S. 628-631, hier S. 629; vgl. hierzu auch Bues, Adelskritik (wie Anm. 3), S. 101 f. Stein, Denkschrift über die Bildung von Provinzialständen in Westfalen vom 31. März 1817, in: Botzenhart (wie Anm. 22), S. 605-607, hier S. 607. Vgl. sein Schreiben an F. A. v. Spiegel v. 1. April 1818, in ebd., S. 752-755, hier S. 753, zum Hinweis auf Jeremy Bentham. Ebd., S. 201.

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englischen Erfahrungen der Milizen während der Revolutionskriege verteidigt wurde, ungeteilt unterstützte.34 Eine andere Perspektive stellte sich im Königreich Bayern, neben Baden das zweite 'Fegefeuer' des Adels. Das Modell England spielte in der gesamten bayrischen Verfassungsdiskussion zwischen der Spätaufklärung und 1818 eine zentrale Rolle. Als Vermittler diente nicht zuletzt die Universität Göttingen und insbesondere der oben bereits genannte Pütter als „Kronzeuge der gesamten verfassungshistorischen Literatur"35, Justus Moser36, Julius Freiherr (später Graf) von Soden mit seiner Übersetzung Adam Smiths, der Erlanger Anglist Johann Christian Fick37 und Kronprinz Ludwig selbst, der für die Verhandlungen über die Ständeversammlung 1818 englische Anregungen einbrachte und von Peers, Oberhaus und Unterhaus sprach.38 Das englische Beispiel wurde jedoch auf die

den Vertretern des Konstitutionalismus im Verlauf der Verfassungsverhandlungen bemüht, um für eine neue Repräsentativverfassung des Königreichs Bayern einzutreten. In diesem Zusammenhang wurde auch eine Reform des Adels ins Auge gefaßt, erneut orientiert nicht zuletzt am englischen Beispiel. Anselm Feuerbach hatte Burke in der Übersetzung von Gentz gelesen. Neben die Rezeption von Burke traten Gemeinsamkeiten der vermeintlich gemeinsamen germanischen englischen und deutschen Vergangenheit, die eine Readaption ohnehin ursprünglich germanisch-deutscher Institutionen möglich erscheinen ließ, ohne dadurch das Prinzip des spezifischen nationalen geschichtlichen Angemessenseins zu verletzen. Die „Jury der Engländer", ohnehin erst mit der angelsächsischen Landnahme aus „Germaniens Wäldern" nach England gelangt, war ein Beispiel für die Möglichkeit der Orientierung an England nicht im Sinne des aufgeklärten Machbarkeitsprinzips, sondern im Sinne der Wiederaufdeckung verschütteter Wurzeln genuin vor

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Bues, Adelskritik (wie Anm. 3), S. 102, weist in ihrer Arbeit auf die Bedeutung des Begriffs des „Verdienstes" aus der Diskussion der Spätaufklärung seit den 1780er Jahren hin. Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts begann jedoch mit der Suche nach einer nicht in der allgemeinen Menschheitsvergangenheit, sondern der eigenen spezifischen Nationalvergangenheit liegenden Legitimität politischer Institutionen eine neue Phase der Bewertung politischer Institutionen im Hinblick auf ihre vermeintliche geschichtliche Bewährung. Die Differenzierung eines bürgerlichen und eines adligen, primär auf den Staat bezogenen Verdienstbegriffs erscheint mir überzogen. Der Begriff des Verdienstes bezog sich noch in der Aufklärung immer auf das Gemeinwohl und damit auf das Gemeinwesen den Staat als Ganzen, und grenzte in erster Linie Gemeinnutz von Eigennutz ab. Lenk, Modell (wie Anm. 3), S. 280. Ebd., S. 277. Ebd., S. 287. Ebd., S. 293. -

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deutscher Einrichtungen.39 Feuerbach griff auf dieser Grundlage mit Hinblick auf die englische Verfassung die oktroyierten Verfassungen der Rheinbundstaaten von 1808 an40 und feierte den Code Napoleon und die Pläne zur Reorganisation des Adels in Bayern als adlig-bürgerliches Kondominat besitzender Schichten mit Hinweis auf das französische und englische Staatsrecht. Seine 1812 veröffentlichte Denkschrift „Über den Geist des Code Napoleon" war identisch mit dem bereits 1808 erstellten Gutachten, das Montgelas als Grundlage für die neue bayrische Zivilgesetzgebung dienen sollte.41 In seiner Geschichte der Landstände in Bayern, von Ignaz Rudhart 1816 als Teil der Argumentation für eine neue Repräsentatiwerfassung geschrieben, pries er die englischen Verfassungsverhältnisse und vor allem ihre historische Gewachsenheit, um die abrupte und daher vermeintlich unhistorische, also schädliche Aussetzung der landständischen Vertretung in Bayern zu diskreditie-

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ren.42

In diesen Rahmen einer geradezu allgegenwärtigen Englandorientierung eingebettet unternahm Montgelas seine bayrische Adelsreform. Die Errichtung der Adelsmatrikel im Jahre 1808 stand zum einen unter dem Eindruck, die bayrischen Verhältnisse den französischen angleichen zu sollen, um Napoleons Wohlwollen zu erhalten. Es stand jedoch zum anderen unter dem Eindruck der Bewertung Montgelas', daß der bayrische Alt- und Neuadel einer durchgreifenden Reform bedürfe, die auch seiner Verschmelzung zu Gute kommen müsse.43 Äußerungen des Vorstandes des Reichsheroldsamtes Ritter v. Lang und von Montgelas' Schwager Graf Arco deuten die Bedeutung des englischen Vorbildes für Montgelas an. Walter Demel sieht es als Antwort auf diese Orientierung an England und an der von Napoleon 1808 ins Leben gerufenen Noblesse Impériale, wenn Montgelas im Mai 1808 fast vierzig bürgerliche Beamte und Gelehrte in den neugeschaffenen Zivildienstorden der Krone aufnahm.44. Insbesondere die Bestimmung im Nachtrag zum Adelsedikt vom 23. Dezember 1812 zur Form der Vererbung des Adelstitels der durch die Verleihung des Militär- oder Zivilverdienstordens Geadelten spiegelt 39

Anselm Feuerbach, „Betrachtungen über das Geschworenengericht" (1812), in: Ludwig Feuerbach (Hg.), Anselm Ritter von Feuerbachs Leben und Wirken, 2 Bde., Bd. 1, S. 208; vgl. auch Lenk, Modell (wie Anm. 3), S. 284. 40 Vgl. Lenk, Modell (wie Anm. 3), S. 285. 41 Feuerbach, Geist (wie Anm. 1), beispielsweise S. 44-^15; Lenk, Modell (wie Anm. 3), S. 284; Demel, Adelsstruktur (wie Anm. 3), S. 220. 42 Lenk, Modell (wie Anm. 3), S. 292. 43 Demel, Adelsstruktur (wie Anm. 3), S. 218 f. 44 Ebd., S. 218.

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nicht zuletzt einen zentralen Topos der Orientierung an England, nämlich die strikte Primogenitur, wider. Der Titel sollte nur auf einen ausgewählten Nachkommen vererbt werden können. Dabei sollte eine zentrale Rolle spielen, welcher der möglichen Erben ein zur „Führung des Titels erforderliches eigenes Vermögen" aufweisen könne. Die materielle Ausstattung des Adels, Verdienst als Grundlage des Titels und die Reduzierung der möglichen Titelerben spiegelten das englische Vorbild. Freiherr Maximilian von Lerchenfeld, Mitglied der bayrischen Verfassungskommission von 1814/15, machte 1819 unter dem positiven Eindruck der englischen Verfassung ähnliche Vorschläge. König Ludwig I. setzte mit seinem Gesetzentwurf zu einer weiteren Reform des Adels von 1827/28 erneut zu einer Übertragung englischer Verhältnisse auf Bayern an. Zwar wurde der Entwurf von der ersten Kammer der Reichsräte abgewehrt, aber auch unter den Adligen in Bayern gab es Unterstützung für das englische Modell.45 Montgelas ging es 1808 jedoch nicht allein um die Nachahmung Englands, sondern um die Neustrukturierung des Adels in einen besitzenden privilegierten Herrenstand in Angleichung an die Rechtsstellung der Standesherren und einen nurmehr als Pflanzschule zu betrachtenden, jedoch weitgehend seiner Privilegien entkleideten Adel, ein Gedanke, der so auch bei Feuerbach und m. E. bei Moser in seinen Vorschlägen zur Differenzierung einer „adligen" und „wohlgeborenen" Personengruppe auftauchte.46 Die neue untere, zweite, Klasse des Adels sollte, auch Feuerbachs Überlegungen entsprechend, mit Bürgern von Besitz und Bildung zu einem neuen „gebildeten Stand" zusammenwachsen47, wie er bei Krünitz und der Spätaufklärung zur Verschmelzung von Teilen der Bürger und des Adels bereits vorgedacht worden war. Diesem neuen Stand sollte das Prädikat „Herr" und besondere Formen der Haft im Straffall vorbehalten bleiben, um nicht mit dem gemeinen Volk in Kontakt kommen zu müssen.48 Wenn Ignaz von Rudhart im Jahre 1825 „Über den Zustand des Königreichs Bayern nach amtlichen Quellen" schrieb, „im wesentlichen und im juridischen Sinne" gäbe es in Bayern nur noch zwei Stände, -

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Lenk, Modell (wie Anm. 3), S. 289. Vgl. Demel, Adelsstruktur (wie Anm. 3), S. 221 zum Ziel, die Gerichtsrechte des zu schaffenden Majoratsadels auf die Stellung der verbliebenen Gerichtsrechte der Standesherren zu heben, nämlich mit den standesherrlichen Herrschaftsgerichten der 1. Klasse, den Majoratsgerichten der 2. Klasse (gleichberechtigt mit den Landgerichten) und den Landgerichten untergebenen Ortsgerichten mit mindesten 50 Familien und eingeschränkter Polizeigewalt. Die Formulierung bei Demel, Adelsstruktur (wie Anm. 3), S. 223, 225. Ebd., 223.

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„1. den Adel, dem sich Staatsdiener und Geistliche als Theile anschließen, und 2. die Gemeinen"49, bezog er sich damit einerseits erneut auf das englische Vorbild, dessen Bedeutung für die bayrische Verfassung er betonte, das er jedoch in derselben Studie im Hinblick auf die klaf-

fenden Unterschiede von Arm und Reich nicht mehr anraten wollte. Und während so in die Anglophilie der Spätaufklärung zunehmend kritische Züge einzogen, verlor die Forderung nach einer Reform des Adels zum anderen schrittweise ihre am Reich orientierten ständischen Züge. Der württembergische Staatsmann Karl August Freiherr von Wangenheim formulierte in einem Brief von 1819, der Adel sei insgesamt zum Untergang verurteilt, „wenn er sich nicht in einen englischen Adel mehr oder weniger umwandelt, da die Regierungen demjenigen nicht in der Länge widerstehen können, was der vernünftige Teil des Volks fordert, der unvernünftige Teil desselben erstürmen wird."50 Die Ablehnung von Nobilitierungen unter bürgerlichen Beamten in den Staaten des deutschen Südwesten, wie Hessen-Darmstadt, der betont bürgerliche Hofstil des badischen Großherzogs Leopold, Friedrich Lists Kritik an Johann Friedrich Cottas Bemühungen um einen Titel und die scharfe Hofkritik kennzeichnen im Vormärz eine schärfere Gangart der Adelsreformforderungen aus dem Westen und Süden Deutschlands, wie sie beispielsweise in den Artikeln Adel und Hof des RotteckWelckerschen Staatslexikons zum Ausdruck kommen. Mit der Polemik des württembergischen Liberalen Moritz Mohl eben gegen jene Integration von Besitz und Titel, auf welche die Adelsreformdebatte gedrängt hatte, so lange es sie nicht zu geben schien, war auch das Ende des englischen Modells im spezifischen Sinne der Adelsreform gekommen. Mohl polemisierte in der Paulskirchendebatte gegen „die Töchter der Geldsäcke", die sich „Gräfinnen" nennen lassen wollen51. In dem Maße, in dem im Verlauf der 40er und 50er Jahre bürgerlicher Geldreichtum im Zuge der industriellen Revolution überall sichtbar entstand, wandte sich die Kritik der liberalen Bürger an der Ordnung ihrer Gesellschaft alten und zugleich neuen Gegnern zu.

Zit. nach Demel, Adelsstruktur (wie Anm. 3), S. 226. Zit. nach Lenk, Modell (wie Anm. 3), S. 289. Fehrenbacii, Adel und Bürgertum (wie Anm. 3), S. 19.

Das Modell

England in der Adelsreformdiskussion

45

III.

Robert Mohl führte schon 1856 im Englandabschnitt seiner Geschichte der Literatur- und Staatswissenschaften einen vernichtenden Doppelschlag gegen den inneren Kern der Argumentation mit England als Modell einer Adelsreform nämlich gegen die Konzeptualisierung des englischen Adels als Peerage und der Verbindung dieser Peerage und ihres Einflusses im Oberhaus mit vermeintlich nachahmenswerten Besonderheiten der englischen Geschichte. Er nahm möglicherweise mit Bezug auf Kurhessen die Schwäche deutscher Gerichte und ihre Abhängigkeit von den Landesherren aufs Korn und stellte dem die materielle Unabhängigkeit der „leitenden Mitglieder der Stände" in -

-

-

England entgegen.52

Er lobte Thomas Babington Macaulays 1849 erschienene „Englische Geschichte seit dem Regierungsantritt Jakobs II.", weil sie die „Partei des wahren Verstandes und der sittlichen Pflicht", „des gesetzlich festgestellten Rechtes gegen die Willkür" und des „männlichen Bürgerthums gegen höfische und pfäfflsche Ränke, Junkerthum und dynastische Selbstüberhebung" einnehme.53 Montesquieu jedoch kritisierte er scharf für seine Beschreibung der englischen Verfassungsverhältnisse, die völlig verfehlt sei.54 Insbesondere seine Analyse des Adels gehe an den tatsächlichen Verhältnissen vorbei. Der Adel in England setze sich keineswegs allein aus den Peers mit Sitz im Oberhaus zusammen, sie bildeten nur „Spitze und amtlichen Ausdruck" des Adels. Vielmehr sei die Gliederung des Adels in England „in ihren feinsten Unterschieden" in anderen, jüngeren Werken viel klarer beschrieben.55 Zwar feierte noch Max Büdinger in seinen 1880 veröffentlichten „Vorlesungen über die englische Verfassungsgeschichte" England als ein besonders gutes Beispiel der Exemplifizierung „ewig gültiger Gesichtspunkte", so des Kampfes zwischen „Adelsrecht und Herrschergewalt".56 Aber um konkrete Vorschläge zur Reform des Adels ging es hier längst nicht mehr. Mohl wies bei seiner Kritik der bisherigen Sicht des englischen Adels vor allem auf Rudolf Gneists „Adel und Ritterschaft in England" von 1853 hin. Gneists Auseinandersetzung mit der 52

53 54 55 56

Robert

v.

Mohl, Die Geschichte der Literatur- und Staatswissenschaften, Bd. II,

Erlangen 1856, Neudruck Graz 1960, S. 5. Vgl. Maurer (wie Anm. 2.), S. 430-447 zur Erosion der Anglophilie. Ebd., S. 31. Ebd., S. 39. Ebd., S. 92. Max S. 2.

Büdinger, Vorlesungen über Englische Verfassungsgeschichte, Wien 1880,

Robert

46

von

Friedeburg

englischen Verfassung und Geschichte seine Darstellung der „Geschichte und heutigen Gestalt der Ämter in England" von 1857, seine „Englische Communalverfassung" von 1860 und seine „Englische Verfassungsgeschichte" von 1882 nahmen zwar, unvermeidlich, auch das Thema der ständischen Gliederung Englands auf. Daß die Ritter Englands kein erblicher Herrenstand gewesen oder geworden seien, daß dadurch ihr Einfluß im Lande und die Rolle der bürgerlichen Tüchtigkeit gefestigt und gefördert worden sei, hebt auch er hervor. Auch er machte diese Feststellungen nicht zuletzt, um einen Hebel zur Kritik an deutschen Verhältnissen zu gewinnen.57 Aber in den Mittelpunkt seiner Darstellung rückten nun die Reformen der englischen aristokratischen politischen Führung der 1840er Jahre für die „leidenden Klassen". Über die Distanzierung von den Härten der industriellen Revolution in England und der Historisierung der politischen Argumentation in Deutschland im Zuge des Einflusses von Georg Beseler und Otto Gierke seit den 1840er Jahren hinweg ließ sich kaum mehr für ein unmittelbares englisches Vorbild für gesetzgeberische Maßnahmen in Deutschland argumentieren. Zwar rückte im Zuge der Historisierung der politischen Argumentation mit der eigenen auch die vermeintliche nationale Gemeinsamkeit von Engländern und Deutschen ins Blickfeld. Die Frage Voltaires, warum England so lange und so erfolgreich seine freie Constitution habe aufrechterhalten können, beantwortete der Cambridger Historiker Sir James Stephen in seinen Lectures on the History of France aus dem Jahre 1851 mit dem Hinweis, „Because England is still, as she has always been, German."58 Es ging beim Blick auf England jedoch zunehmend um die historische Exemplifizierung der Selbstfindung eines Gemeinwesens zur bürgerlichen Nation, also des historisch geglückten Verhältnisses bürgerlicher Freiheit, monarchischer Ordnung und staatlicher Machtentfaltung, die jedes Volk für sich selbst finden müsse. Gneist bestätigte noch in seiner englischen Verfassungsgeschichte von 1882, es sei „ein schönes Zeugnis für die Macht des Christentums und der Nationalität, für die regierende Klasse Englands insbesondere, wenn die englische Gesellschaft in ein Jahrhundert der Socialreform und der Reformbills übertritt"59, und führte das auf „die Besonnenheit und politische Erfahrung der regierenden Klasse", vor allem aber auf die im -

-

-

-

...

57 58

59

Rudolf Gneist, Englische Verfassungsgeschichte, Berlin 1882, S. 424, 429, 432, 446, 447, 624. Sir James Stephen, Lectures on the History of France, 1851, Vol. II, S. 495, zit. nach J. H. M. Salmon, The French Religions Wars in English Political Thought, Oxford 1959, S. 1. Rudolf Gneist, Englische Verfassungsgeschichte, Berlin 1882, S. 715.

Das Modell

England in der Adelsreformdiskussion

47

Verlaufe der englischen Geschichte entstandene Nationalität als geglücktes Verhältnis von Herrschaft, Tugend und Verantwortung zurück, wenn er schrieb: „Die Tausend Jahre englischer Geschichte, welche hinter uns liegen, berechtigen zu dem Vertrauen, daß diese Nation die bevorstehenden Kämpfe bestehen und die besten Bausteine zum Wiederausbau ihres Staatswesens in ihrer eigenen Vergangenheit finden wird, ebenso wie die deutsche Nation."60 Während jedoch die Orientierung an England als Vorbild für das deutsche Verfassungsleben im allgemeinen und eine Reform des Adels im besonderen zurücktrat, blieb das Vorbild Englands für standesgemäßes Leben und Verhalten noch lange lebendig. Gerade weil es zu einer verfassungsrechtlichen Reform des Adels letztlich nicht gekommen war und die unterschiedlichen deutschen Adelsgruppen neben den Gruppen des gehobenen Bildungs- und Wirtschaftsbürgertums eher in gespannter Koexistenz als in harmonischer Symbiose leitende Stellungen in Staat und politischer Repräsentation teilten61, blieb das englische Beispiel als vermeintliche Lösung des Problems einer allgemeinen Qualifizierung gesellschaftlicher Eliten zur Herrschaft von Fall zu Fall bedeutend. Dabei zeichneten sich durchaus die Umrisse der Möglichkeit einer durch Besitz und Bildung zusammengeschweißten Elite, deren Kennzeichen kulturelle Fähigkeiten und Praktiken seien, und deren besondere Fähigkeiten ihre Herrschaft in einer hierarchischen Gesellschaft rechtfertige, ab. Der deutsche Referent der Kolonie Togo für Schule und Rechtswesen, Rudolf Asmis, kritisierte beispielsweise noch in seinen 1942 erschienenen Lebenserinnerungen zwar die englische Politik der rechtlichen Aufweichung der Rassentrennung und machte sie sogar für den Niedergang Englands verantwortlich.62 Die Voraussetzung für den willigen Gehorsam der unterworfenen Bevölkerung in den afrikanischen Kolonien im besonderen und innerhalb jeder Gesellschaftsordnung im allgemeinen sah er aber in der kulturellen Befähigung der jeweiligen gesellschaftlichen Elite zu einer Herrschaft, die ihre Legitimität nicht durch die „Entgleisung aufgrund ungewohnten Herrentums" gefährde. 60 61

62

Ebd., S. 724. Hartmut Spenkuch, Das Preußische Herrenhaus. Adel und Bürgertum in der Ersten Kammer des Landtages 1854-1918, Düsseldorf 1998, S. 441^164, besonders S. 456 f.; Hansjoachim Henning, Die unentschiedene Konkurrenz: Beobachtungen zum sozialen Verhalten des norddeutschen Adels in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Akademie der Wissenschaften und Literatur Nr. 6., Geistes- und Sozialwissenschaftliche Klasse, Stuttgart 1994, S. 3-48; Drechsel, Entwürfe (wie Anm.

Vgl.

3), S. 83-113.

Rudolf ASMIS, Kalamba Na M'Putu. Koloniale Berlin 1942, 100-111 zur Kritik an England.

Erfahrungen

und

Beobachtungen.

Robert

48

von

Friedeburg

Laut Asmis sei „Herrentum" nichts anderes als die Lebensform des „Gentleman", der englische Begriff für Herr sei daher eben auch „Gentlemen". Nur derjenige könne die Rolle des „Herren" und „Gentleman" ausfüllen, der „Herrenrechte" nicht nur besitze, sondern sie auch „auszuüben verstehe."63 Erst diese zum Habitus geronnene Überlegenheit qualifiziere auch zur tatsächlichen Ausübung von Herrschaftspositionen, in der Heimat wie in den Kolonien.64 Überblickt man von Moser bis Asmis die Übersetzungen des Begriffs „Gentleman", vom Äquivalent zur „edelgeborenen" Person im System eines neuen Reichsadels bis hin zum Sozialisationsideal einer eigenen Herrenklasse in der Heimat und in den Kolonien, bestätigt das Wolfgang J. Mommsens Vorschlag, das Modell England als Spiegel von Verwerfungen und Konflikten innerhalb der deutschen Gesellschaft zu verstehen.65 Sicherlich gilt das auch und gerade für die lange kontroverse Problematik einer Reform des Adels in Deutschland. Während Mommsen jedoch die Rückständigkeit der deutschen Gesellschaft gegenüber dem bewunderten und beneideten englischen Vorbild hervorhebt, weist die Rolle des englischen Modells in der zweiten Jahrhunderthälfte auch noch auf einen anderen Aspekt hin. England stellte für die deutschen Beobachter immer auch eine hierarchische Gesellschaft dar, die ihre sozialen Abstufungen erfolgreich verteidigt hatte. Die Verschmelzung der deutschen Adelslandschaften in einen Reichsadel und das Vorbild des englischen Gentleman als Chiffre für den Verhaltenskodex einer legitimen Führungselite zielten immer auch auf die Verteidigung ständischer oder quasiständischer Herrschaft in einer Gesellschaft, deren Herrschaftspositionen nicht ausschließlich oder in erster Linie dem Zugriff aller Gesellschaftsmitglieder offen stehen sollten. Wie vergleichsweise offen die englische Gesellschaft im Vergleich zur deutschen ständischen Gesellschaft des Alten Reichs gewesen sein mochte, wenigstens um die Wende zum 20. Jahrhundert war sie möglicherweise weniger mobil und in mancher Hinsicht starrer und hierarchischer als die deutsche Gesellschaft gegen Ende des 19. Jahrhunderts geworden.66 So schillernd die Rolle des englischen Modells 63 64

65 66

Ebd., 44-46.

Vgl. Derek Sayer, British Reaction to the Amritsar Massacre, 1919-1920, in: Past & Present 131 (1991), 130-164 und Francis G. Hutchevs, The Illusion of Permanence. British Imperialism in India. Princeton 1967. Mommsen, Englandbild (wie Anm. 4), S. 375. Vgl. Robert v. Friedeburg, Konservativismus und Reichskolonialrecht. Konservatives Weltbild und kolonialer Gedanke in England und Deutschland vom späten 19. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg, in: Historische Zeitschrift 263 (1996), 345-393.

Das Modell

England in der Adelsreformdiskussion

49

während des gesamten Zeitraums zwischen der Spätaufklärung und der Gründung des deutschen Kaiserreiches ohnehin immer gewesen war, so hatte sich bis um 1900 seine Funktion möglicherweise doch in dem Maße grundlegend gewandelt, wie die deutsche Gesellschaft die englische im Hinblick auf soziale Mobilität und gesellschaftliche Pluralität überholt hatte. So wie englische Konservative sehnsüchtig auf die hierarchischen Gesellschaften des eigenen Kolonialreichs blickten, weil dort hierarchische Ordnungen, die in der Heimat immer häufiger Gegenstand der Kritik wurden, noch wie selbstverständlich zu bestehen schienen, so blickten auch deutsche Kommentatoren gegen Ende des 19. Jahrhunderts womöglich nicht zuletzt deswegen nach England, weil dort, wenigstens bis zum Ersten Weltkrieg, die ständische Ordnung verhältnismäßig stabiler als im Reich zu sein schien.67

Vgl. v. Fredeburg, Konservativismus und Reichskolonialrecht (wie Anm. 66).

Gunter Heinickel

Adelsidentität nach der Ständegesellschaft: Der preußische Adel in adelspolitischen Bildern und Vorschlägen um 1840

i.

Adelsgeschichte ist bis in die jüngste Vergangenheit in der deutschen Historiographie fast ausschließlich von den Prämissen der Sonderwegstheorie ausgehend beleuchtet worden, und zwar unabhängig davon, ob diese Prämissen geteilt oder kritisiert wurden.1 In den letzten Jahren hat sich dagegen die Erkenntnis durchgesetzt, daß mindestens bis 1914 in den meisten Gesellschaften Westeuropas adlig-bürgerliche

Mischkulturen existierten.2 Dadurch relativierte sich das für die Theorie vom deutschen Sonderweg wesentliche Axiom, das in der erfolgreichen Behauptung des preußisch-deutschen Adels in der deutschen Gesellschaft des Kaiserreiches, und der daraus resultierenden „Feudalisierung" des deutschen Bürgertums das wesentlich unterscheidende Merkmal im Vergleich zu anderen westeuropäischen Nationalstaaten sehen wollte. Ist aber eine adlig-bürgerliche Mischkultur als Ergebnis eines „Elitenkompromisses" für eine bestimmte Periode des gesellschaftlichen Wandels im Prozeß der sich durchsetzenden Moderne als der europäiDavid Blackbourn u. Geoff Eley, The Peculiarities of German History, Oxford University Press 1991. Arno J. Mayer, Adelsmacht und Bürgertum. Die Krise der europäischen Gesellschaft 1848-1914, München 1984; Gerald N. Izenberg, Die „Aristokratisierung" der bürgerlichen Kultur im 19. Jahrhundert, in: Legitimationskrisen des deutschen Adels 1200-1900 (= Literaturwissenschaft und Sozial Wissenschaften, 11), Stuttgart 1979.

Günther Heinickel

52

anzusehen,

genügt es nicht,

Entwicklungspotentiale eines konkreten historischen Falles genauer herauszuarbeiten, die Untersuchung auf das Aufspüren vormoderner, altständisch—patrimonialer Elemente in der (deutschen) Gesellschaft auszurichten. Unterschiede der historischen Entwicklung sind dann eben nicht mehr auf die „An- oder Abwesenheit von Adelsangehörigen in der politischen Führungsschicht", oder auf das Vorherrschen von Großgrundbesitz zurückzuführen, sondern müssen im „Charakter der Aristokratie und der Natur der verschiedenen politischen Formen, die sie beherrschten"3 untersucht werden. D. h., es sind zum besseren Verständnis des Verhältnisses Adel-Bürgertum zu Ende des 19. Jahrhunderts die genaueren Verläufe und Bedingungen des historischen Prozesses zu ergründen, unter denen in den jeweiligen Gesellschaften ein spezifisches Kompromißergebnis erzielt wurde. Diese neue Fragestellung hat auch Konsequenzen für die zu wählenden Untersuchungsfelder. Konzentrierte sich die ältere Forschung zur Erklärung der vorausgesetzten deutschen Sonderentwicklung auf das Verifizieren globaler Modernisierungstheorien4 am konkreten historischen Beispiel, so standen zwangsläufig die materiellen Verhältnisse und staatlichen Institutionen im Mittelpunkt des Interesses. Fragen nach der Durchdringung des Staates durch Bürokratie und moderne Rechtssysteme, der Fortdauer ständischer Strukturen, kultureller und sozialer Praktiken des ancien regime und deren Schutz durch die noch immer monarchischen Verwaltungen waren vordringlich.5 Diese Fragestellung, die von der Erwartung idealtypisch schneller und möglichst vollständiger Ablösungs- und Auflösungsprozesse in der sich modernisierenden Gesellschaft geleitet war, konnte folgerichtig Adelsgeschichte im 19. Jahrhundert nur als Vorgang einer erfolgreichen oder scheiternden Orientierung am status quo, bzw. Restauration lediglich als versuchte Wiederherstellung eines status quo ante beschreiben und begreifen.6 Adelsgeschichte im 19. Jahrhundert wurde, als Ablauf rein defensiver Verhaltensmuster, mit der Entwicklung des modernen Konservatismus gleichgesetzt.7

sehe Normalfall

so

um

Spezifika und

(wie Anm. 2), S. 234. Hans-Ulrich Wehlers Zusammenfassung dieser Thesen in: Europäischer Vgl. Adel 1750-1950, Göttingen 1990, S. 9-18. Herbert Obenaus, Anfänge des Parlamentarismus in Preußen bis 1848 (= Handbuch der Geschichte des deutschen Parlamentarismus), Düsseldorf 1984. Paul Nolte, Staatsbildung als Gesellschaftsreform. Politische Reformen in Preußen und den süddeutschen Staaten 1800-1820, Frankfurt/M. u. New York 1990. Aus ganz verschiedenen Blickwinkeln zeigen diese Übereinstimmung z. B. F. L. Carsten, Geschichte der preußischen Junker, Frankfurt/M. 1988; Panajotis KonIzenberg

Adelsidentität nach der

Ständegesellschaft

53

Erkennt man aber die Abweichung vom konventionell angenommenen Modell einer idealtypisch säkularen Modernisierung als den historischen Normalfall an, dann stellt sich das Problem des Verlaufs der Ablösung der alten Gesellschaft durch die bürgerliche Welt neu. Dann genügen Untersuchungen über den unterschiedlichen Erfolg materieller und politstruktureller Beharrungs- und Durchsetzungskräfte des Adels gegenüber dem Bürgertum, die im Grunde reine Positionsanalysen darstellen, nicht mehr, um die unterschiedlichen Charaktere der europäischen Gesellschaften gegen Ende des 19. Jahrhunderts bezeichnen zu können. Vielmehr müssen Darstellungsweisen gefunden werden, die diese langsamen und komplexen Prozesse unter den Bedingungen wechselseitiger Beeinflussung und Durchdringung adliger und bürgerlicher Welt- und Wertanschauungen differenzierend nachvollziehbar werden lassen. Diese Bedingungen, unter denen in den verschiedenen Gesellschaften die spezifischen adlig-bürgerlichen Kulturen zustande kamen, waren womöglich für die späteren historischen Dispositionen der jeweiligen Gesellschaften entscheidender gewesen als die zu einem bestimmten Zeitabschnitt erreichte materielle Ausstattung und Rechtsverteilung zwischen diesen gesellschaftlichen Gruppen. Ein solcher Ansatz nimmt auch die Erkenntnisse der neueren Soziologie auf, die besagen, daß ,jede soziale Klasse, da sie in einer historisch bedingten Sozialstruktur eine Stellung einnimmt, von ihren Beziehungen zu den anderen konstitutiven Teilen der Struktur derart berührt wird, daß sie diesen Positionseigenschaften verdankt, die von ihren rein immanenten Eigenschaften wie etwa einem bestimmten Berufstypus oder materiellen Existenzbedingungen relativ unabhän-

gig sind."8

-

Will

man Genaueres über die stellungsspezifischen Eigenschaften unterschiedlicher Gruppen und ihrer wechselseitigen Beziehung innerhalb einer Sozialstruktur erfahren, kann die Kulturgeschichte der Sozialgeschichte zu Hilfe kommen. Denn nach Roger Chartier ist die Untersuchung von „Repräsentationen"9, d. h. die Abbildungen des

DYLIS, Konservativismus. Geschichtlicher Gehalt und Untergang, Stuttgart 1986; Robert M. Berdahl, The Politics of the Prussian Nobility 1770-1848. The Development of a conservative Ideology, Princeton 1988. Pierre Bourdieu, Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt/M. 1983, S. 42. D. h. Eigendarstellungen sozialer Gruppen, die sowohl als gruppeninterne Vorstellung wie als Darstellungen gegenüber anderen Gruppen fungieren, vgl. Roger Charter, Die unvollendete Vergangenheit. Geschichte und die Macht der Weltauslegung, Berlin 1989, S. 10.

54

Günther Heinickel

Sozialen unterschiedlicher Gesellschaftsgruppen, dazu besonders gut geeignet, weil diese Repräsentationen immer schon in Konkurrenz und Wettbewerbssituationen" entstanden, „bei denen es um Macht und Herrschaft geht."10 Solche „Klassifizierungs- und Auslegungskonflikte" können gar den Blick auf „Kampfzonen eröffnen, die um so entscheidender sind als sie materiell weniger greifbar sind", und in ihren Weltauslegungen und Selbstdeutungen mehr über die Mechanismen verraten, mit denen „eine Gruppe ihre Sicht der sozialen Welt, ihre Werte und ihre Herrschaft durchsetzt oder durchzusetzen sucht."11 Will man sich aus dieser Perspektive mit den Weltanschauungen, Selbstdeutungen und Weltbildern des Adels beschäftigen und sich den Wandlungsprozessen, denen diese im 19. Jahrhundert eventuell unterworfen waren, nähern, erscheinen Auseinandersetzungen, die sich mit den „Bedingungen und Möglichkeiten adliger Existenz in Behauptung und Kritik"12 einschlägig beschäftigten, als Untersuchungsgegenstand besonders geeignet. Adelspolitische Reform- und Neuordnungsentwürfe sind geradezu mustergültige Beispiele für „Repräsentationen" im Chartierschen Sinne. Diese zeitgenössischen Auseinandersetzungen über die politischsozialen Aufgaben, die erwünschte soziale Herkunft, Ergänzung und innere Differenzierung des Adels in seiner Gesamtheit, vorgetragen von Vertretern desselben wie von Außenstehenden, sind zugleich „Vorstellungen" wie „Darstellungen" des „ideellen" wie „generativsozialen" Wandels des Adels.13 Verglichen mit den Aufschlüssen, die uns eine Untersuchung von Adelsreformentwürfen über die Vorstellungen und Wünsche der Gesellschaften versprechen, die solche Pläne hervorbrachten, ist die Tatsache, daß solche Pläne nirgendwo konsistent umgesetzt wurden, ebenso zweitrangig wie die Frage, aus welchen politischen Gründen sie scheiterten.14 Adelsreformvorschläge und -plane haben in der neueren wie älteren Forschung fast nur unter politikgeschichtlichen Gesichtspunkten Beachtung gefunden. Dabei konzentrierte sich das Interesse fast aus•0 11 12

13 14

Ebd. Ebd. S.U. Otto Gerhard Oexle, Aspekte der Geschichte des Adels im Mittelalter und der frühen Neuzeit, in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Europäischer Adel 1750-1950, Göttingen 1990, S. 21. Denn Adel bedeutet Zuschreibung wie Denkform. Vgl. Oexle (wie Anm. 12), S.21. Zum kontrafaktischen Lesen von Geschichte als Methode: Maria Osietzky, Für eine neue Technikgeschichte, ÖZG 3/1992, S. 293 ff.

Adelsidentität nach der

Ständegesellschaft

55

schließlich auf Pläne der preußischen Reformzeit, die in der Umgebung Steins entstanden, sowie etatistische und juristische Problemstel-

lungen.15

Einzig Kondylis16 und Reif17 lösen sich von dieser überkommenen Perspektive und würdigen Adelsreformentwürfe in anderen Zusammenhängen, sei es im Kontext der Geschichte des Konservatismus oder aus

elitentheoretischem Interesse.

Aber auch Kondylis, der den Weg der Idee der altständischen „societas civilis" in den modernen, rein an materiellen Interessen orientierten Konservatismus entwirft, nimmt Adelsreformentwürfe nur in passiver Rolle wahr, als Widerspiegelung von „immer schwächer werdende(n) Positionen des Adels"18, als Indiz für den Verfall des Adels als Stand. Ist auch in langfristiger Perspektive Kondylis' Befund zuzustimmen, übergeht diese Sicht doch die eigentümliche Qualität von Adelsreformentwürfen als Quelle zur genaueren Analyse der Transformation des Adels im 19. Jahrhundert. Auch Kondylis' Forschungen zum Konservatismus bleiben dem Bild einer „unilinearen 5

Carl August v. Drechsel, Über Entwürfe zur Reorganisation des deutschen Adels im 19. Jahrhundert, Ingolstadt 1912; Heinrich v. Treitschke, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, Fünfter Teil, Leipzig 1928, S. 255-258 Erich BOTZENHART, Adelsideal und Adelsreform beim Freiherrn von Stein, in: Westfälisches Adelsblatt 5, 1928, S. 210-24; Sigmund Neumann, Die Stufen des preußischen Konservatismus. Ein Beitrag zum Staats- und Gesellschaftsbild Deutschlands im 19. Jahrhundert, Berlin 1930 (= Historische Studien, Heft 190); Adelheid Bues, Adelskritik Adelsreform Ein Versuch zur Kritik der öffentlichen Meinung in den letzten beiden Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts anhand der politischen Journale und der Äußerungen des Freiherrn vom Stein, Göttingen 1948; Reinhold K. Weitz, Der niederrheinische und westfälische Adel im ersten preußischen Verfassungskampf 1815-1823/24. Die verfassungs- und gesellschaftspolitischen Vorstellungen des Adelskreises um den Freiherrn vom Stein. Bonn 1970; Horst CONRAD, Die Kette. Eine Standesvereinigung des Adels auf dem Wiener Kongreß, Münster 1979; Harald v. Kalm, Das preußische Heroldsamt (1855-1920). Adelsbehörde und Adelsrecht in der preußischen Verfassungsentwicklung, Berlin 1994. 6 WieAnm.7. 7 Heinz Reif, Mediator between Throne and People. The Split in aristocratic conservatism in 19th Century Germany, in: Bo Strath (ed.), Language and construction of class identities, (Condis Project Report No.3); Heinz Reif, Adelserneuerung und Adelsreform in Deutschland 1815-1874, in: Elisabeth Fehrenbach (Hg.), Ade! und Bürgertum in Deutschland 1789-1848, München 1994, S. 203230,; Heinz Reif, Adelspolitik in Preußen seit der Reformzeit, in:, Hans-Peter Ullmann u. Clemens Zimmermann (Hg.), Restaurationssystem und Reformpolitik im Deutschland des frühen 19. Jahrhunderts. Süddeutschland und Preußen im Vergleich, München 1996, S. 199-224. 8 Kondylis (wie Anm. 7), S. 402. -

Günther Heinickel

56

Verfallsgeschichte", von „Angriff (auf die alte Ordnung) und „Verteidigung" (altständisch-adliger Wertkategorien) verpflichtet. Die anderen Forschungsansätze extrapolieren im Gegensatz zu Kondylis lediglich einzelne, aus der Betrachtung der altständischen Welt gewonnene Phänomene und Begriffe wie „Patrimonialität", „Hierarchie", oder „Herrschaft", und messen adlige Identität im 19. Jahrhundert an diesen exemplarischen Elementen ständischpatrimonialen Denkens (Gutsherrschaft), weshalb sie zwangsläufig in

Übereinstimmung mit dem beobachtbaren Zurückweichen ständischer

Institutionen und Ordnungen eine sich auflösende Adelsidentität annehmen müssen19, oder, falls sie solche Tendenzen nicht zu erkennen vermögen, einen solchen Wandel mit Kontinuitätskonzepten abstreiten.20 Berdahl hat sich zum Beispiel mit der Wahl der Patrimonialität als Untersuchungsgegenstand der Möglichkeit begeben, die Adelsreformdebatte anders als nur anachronistisch zu sehen. So zählt Berdahl die durch Friedrich Wilhelm IV. im Vormärz ausgelöste Adelsdebatte in Preußen neben den Auseinandersetzungen über Provinzial- und Generalstände zu den interessantesten Diskussionen der Zeit, und weist auch darauf hin, daß diese auf erstaunliche Wandlungs- und Kompromißbereitschaft innerhalb des sonst als weitgehend monolithisch wahrgenommenen Adels hindeuten. Aber eine irritierende Konsequenz auf seine eigene Untersuchungsmethode, die auf der Prämisse aufbaut, daß aus dem Gutsbesitz abgeleitete patrimoniale Herrschaftsbilder den entscheidenden und zunehmend ausschließlichen Kern adliger Identität im ostelbischen Preußen bildeten, hatte diese Beobachtung nicht. Die Adelsreformdebatte erscheint lediglich als interessante Aberration vom „normalen" Weg des Adels in den modernen Konservatismus. Im Gegensatz dazu kann die differenzierte Wahrnehmung von Adelsreformkonzepten Veränderungen und Wandel der Adelsidentität ausweisen, ohne daß damit notwendig ein Verlust des Standesbewußtseins einhergehen muß (Wienforts Vermutung), der Adel verbürgerlichte oder Ersatzbürgertum21 wurde.

Beschrieben als „Verbürgerlichung, Vereinzelung, Aufgabe der Standessolidariz. B. bei Monika Wienfort, Ostpreußischer „Gutsbesitzerliberalismus" und märkischer „Adelskonservatismus", in: Kurt Adamy u. Kristina Hübener (Hg.), Adel und Staatsverwaltung in Brandenburg im 19. und 20. Jahrhundert, Berlin 1996, S. 305-324. So bei Berdahl (wie Anm. 7). Christof Dipper, Adelsliberalismus in Deutschland, in: Dieter Langewiesche (Hg.), Liberalismus im 19. Jahrhundert. Göttingen 1988, S. 172-192.

tät",

Adelsidentität nach der Ständegesellschaft

57

Die Studien Reifs mit ihren elitentheoretischen Ansätzen stellen die ersten Versuche dar, einen systematischen Überblick über die verschiedenen Adelsreformentwürfe und -initiativen zu geben und diesen in einen theoretischen Zusammenhang mit Fragen des Elitenwandels zu stellen. Er identifiziert vier idealtypische Grundmuster von Adelsreformideen, von denen jeweils zwei einer bestimmten elitentheoretischen Zielvorstellung zugeordnet werden können. Zwei Konzepte hatten nach Reif das Ziel einer intensivierten „Elitenzirkulation" und waren als Muster eines Elitenwandels deutbar: entweder nach englischem Modell eines politischen, sozial relativ offenen Adels (wie es Freiherr v. Stein vorschwebte), oder nach napoleonischem Vorbild einer Art „Staatselite" (an dem sich die bayrische Adelspolitik des Grafen Montgelas orientierte). Von diesen beiden grundsätzlich auf „Adelswandel" angelegten Konzepten unterscheidet er zwei weitere, die als reine „Binnenreformmodelle" des Adels vom Grafen Leopold v. Stolberg in seiner katholisch-westdeutschen Version („katholischer Edelmann", „Tugendadel"), von Friedrich August von der Marwitz in einer ostelbisch-protestantischen Form („erneuerter Kriegeradel") vertreten, den Adel lediglich „moralisch-innerlich", bei gleichzeitig starkem Abschluß nach außen, stabilisieren wollten.22 Doch nur das „Stolberg'sche Modell" des „katholischen Edelmanns" stellt ein reines „Tugendadelsmodell" dar, das wesentlich unpolitisch bleibt in dem Sinne, als es nicht ausdrücklich einen Wandel politischer Institutionen und Funktionen anstrebt. Darin steht es deutlich in der Tradition älterer Adelserneuerungsvorschläge, die auf frühere „Adelskrisen" reagierten23 und schon im ancien regime als moralische Appelle zur „Rückkehr" des Adels zu seinen „wahren Bestimmungen", Verhaltensweisen und Werten aufgerufen hatten.24 Die drei anderen Modelle sind dagegen dadurch charakterisiert, daß sie durch eine „politische" Aufgabenzuteilung dem Adel neue Orientierung geben und daher (im Gegensatz zum Tugendadelsmodell) nicht nur kollektive Orientierungsbilder (Adelseigenschaften als Substrat überkommenen Adels) liefern mußten, sondern auch relativ präzise daß eine Vielzahl von „Mischforrnen" an Adelsreformmodellen existierte, daß nicht immer mit einem „englischen Modell" die damit assoziierte politische Rolle des Adels gewollt ist, oder französisch-napoleonische Muster von Protagonisten vertreten werden, denen nichts ferner lag, als das Nacheifern französischer Vorbilder. Barbara Stollberg-Rilinger, Handelsgeist und Adelsethos, in: Historische Zeitschrift, Bd. 258, S. 1-28. Vgl. Oexle (wie Anm. 12), S. 48-56.

Allerdings zeigt eine genauere Analyse,

58

Günther Heinickel

sozialpolitische

Kriterien des Adels und, damit verbunden,

Aussagen

über die erwünschte zukünftige Rekrutierung (Herkunft und Ergänzung) des Adels. Damit teilten sie grundsätzlich Vorstellungen von eventuellem Elitenwandel und -kreislauf und unterschieden sich nur in ihren Kriterien erwünschter Adelseigenschaften. Der Elitenbegriff wird herkömmlich als ein spezifisch modernes Führungsschichtenmodell dem Begriff der adligen Standesgesellschaft gegenübergestellt („vom Adel zur Elite").25 „Elite" definiert sich so als Gruppe von Entscheidungsträgern, die allein aus persönlichen Qualitäten und der individuellen Leistungen wegen in bestimmte Machtpositionen gelangt sind, relativ unabhängig von ihrem sozialen Herkommen. Nach dieser Auslegung schließen sich der Begriff der Elite und der der Standesgesellschaft gegenseitig aus, der Adel ist nicht „Elite" sondern „Herrschaftsstand". So gesehen repräsentieren und charakterisieren die Begriffe „Elite" und „Adel" verschiedene Epochen. Es ist allerdings auch möglich, den Begriff „Elite" neutral zur Bezeichnung jener sozialen Strata zu benutzen, aus welchen vornehmlich die Führungspositionen einer Gesellschaft besetzt werden, und die über die Zugangs- und Erfolgskriterien der Führungsstellen bestimmen. „Elite" wäre so gesehen kein Gegenentwurf zum ständischen Modell der Adelsherrschaft, vielmehr ist nach dieser Definition der Adel als „Elite der Standesgesellschaft" zu bezeichnen. So definiert schließen sich die Begriffe „Elite" und „Adel" nicht aus, sind aber auch nicht deckungsgleich, vielmehr stehen sie in einem spannungsreichen Wechselspiel zueinander. Die Inanspruchnahme oder Zuschreibung von „Adel", der sich in der Erfüllung einer Reihe von Adelseigenschaften manifestiert, kann als Ausdruck der Leistung der geforderten Eigenrationalität einer Führungsschicht in der Standesgesellschaft beschrieben werden. So waren im ancien regime „Adel" und „Elite" nicht unbedingt identisch, verhielten sich aber kongruent26. Adelskritik, Adelslegitimationen und Adelserneuerungskonzepte, wie sie schon in der ständischen Epoche auftraten, konnten sich daher auf die Frage beschränken, theoretische Überlegungen zu den und „Elite" auf, die Heinz Reif in seinem Manuskript: »„Adeligkeit" historische und elitentheoretische Überlegungen zum Adelshabitus in Deutschland um 1800«, Berlin 1997 formulierte, und führen diese für den vorliegenden Zusammenhang weiter. Wie auch die Begriffe „Klasse" und „Stand" sich in einem dependenten, doch autonomen Verhältnis gegenüberstehen, vgl. Bourdieu, Soziologie (wie Anm. 8), S. 59; Robert M Berdahl, (Hg.), Klassen und Kultur. Sozialanthropologische Perspektiven in der Geschichtsschreibung, Frankfurt/M. 1982, S. 263-282.

Die

folgenden Ausfuhrungen greifen einige

Begriffen „Adel" -

Adelsidentität nach der

Ständegesellschaft

wie der Adel seinen nügen, und im Falle

59

eigenen Kriterien, den „Adelseigenschaften", gevon Nichterfüllung dieser Anforderungen zu den

„adligen Tugenden" zurückfinden konnte.27 Der Weg in die Moderne kann demgemäß als zunehmende Differenzierung von „Adel" und „Elite" beschrieben werden, d. h. einerseits durch die zunehmende Besetzung von Führungspositionen mit Nichtadligen, und, was noch wichtiger ist, daß die Zugangskriterien für Führungspositionen nicht mehr ausschließlich, bzw. immer weniger durch Adelseigenschaften bestimmt wurden. Diese Entwicklung spiegelt sich wider im Übergang von den älteren Adelserneuerungs- und -legitimationsprogrammen zu den neueren Adelsreformvorstellungen, die als typische Produkte der nachständischen Zeit zu gelten haben. „Adelsreformkonzepte" in der nachständischen Epoche sind der Versuch, unter den Bedingungen der abnehmenden Bedeutung von Adelseigenschaften zur Qualifizierung von Führungspositionen der immer stärkeren Trennung zwischen „Adelseigenschaften" und den „Kriterien von Elitenfunktionen" entgegenzuwirken, diese wieder in ein engeres Verhältnis zu bringen. Das geschah in zwei Richtungen: zum einen mußten sie sich mit der sozialen Erneuerung des Adels beschäftigen, d. h. mit den Herkunftsgruppen, aus denen sich der Adel zukünftig erneuern sollte. Und zum zweiten mit der Frage, welche Adelseigenschaften noch als zukünftige Kriterien einer Eigenrationalität der Elite taugten, d. h. der sozialen Erneuerung eher günstig oder hinderlich, den Funktionsanforderungen dienlich oder schädlich seien. Durch diesen Auswahlprozeß kamen indirekt auch „bürgerliche" Funktions- und Leistungsanforderungen ins Spiel. Aus diesen Reflexionen von „Kernelementen"28 überlieferter adliger Identität gingen revidierte „Adelseigenschaften" hervor, die als Elitekriterien stabilisiert oder neu etabliert werden konnten. Diese revidierten „Adelseigenschaften" könnten ebenso unter dem Begriff einer „Adeligkeit" gefaßt werden, wie der Begriff der „Bürgerlichkeit" die Teilhabe an einer bestimmten Kultur, unabhängig von der sozialen Position eines Individuums, bezeichnen kann.29 Entsprechend Vgl. Anm. 24. Der Begriff wurde übernommen aus: Reif, Adeligkeit (wie Anm. 25). Die Bildung des Begriffs „Adeligkeit" als Entsprechung zu „Bürgerlichkeit" wurde erstmals von Michael G. Müller, Florenz/Halle vorgeschlagen. Zum Begriff der „Bürgerlichkeit" als auf gemeinsamer Kultur begründete Klammer der verschiedenen „Bürgertümer" vgl. Gunilla Büdde, Auf dem Weg ins Bürgerleben. Kindheit und Erziehung in deutschen und englischen Bürgerfamilien 1840-1914, Göttingen 1994, S. 19.

Günther Heinickel

60

sich bei „Adeligkeit" um eine Sammlung von Substraten „historisch tief gegründeter Elemente adliger Identität"30, welche ursprünglich die Kriterien des Adels über die „Elitenfähigkeit" von Individuen bestimmten und sich jenseits der vielfältigen Adelsvarianten und unterhalb des Wandels des Adels in Mittelalter und Neuzeit bewegten. Anders also als bei einer Untersuchung der vielfaltigen Möglichkeiten der Inszenierung adliger Kultur zur Neupositionierung in der bürgerlichen Welt, handelt es sich bei „Adeligkeitsenfwürfen" um Entwürfe von Konzepten einer allgemein kompatiblen Adeligkeit. Dies geschah nicht nur über die Mobilisierung von Erinnerungsressourcen konkreter Adelslandschaften, sondern auch durch die bewußte Akzeptanz von Brüchen mit der konkreten Vergangenheit. Unter Beihilfe der Argumentationsfigur, daß eine bestimmte Adelsgesellschaft sich von ihren „wahren Ursprüngen" entfernt habe, Aberrationen eines idealen Uradels eingetreten seien, die es nun gelte, wieder rückgängig zu machen, konnten und sollten solche Brüche legitimiert und akzeptabel werden. „Adeligkeit" wird also eigentlich erst durch Reflexionen, wie sie z. B. in den Adelsreformkonzepten angestellt werden, geschaffen. Und es ist diese Reflexion und Auswahl von Adelseigenschaften auf ihre Brauchbarkeit veränderter „Elitenfunktionen" hin, die Adelsreformkonzepte der nachständischen Zeit von den älteren Adelslegitimationen unterscheiden. In ihnen wird das Problem der Herkunft und des Ursprungs der Herrschaftseliten (Elitenkonzept) über die Diskussion der Auswahlkriterien (Adeligkeit) reflektiert. Deshalb sind Adelsreformkonzepte immer auch als weiterentwickelte, „zeitgemäße" Versuche einer Adelslegitimation (Ursprung des Adels) zu verstehen, indem in ihnen nicht nur die überkommenen Mentalitätskerne (das „Wesen") des Adels, sondern auch Elemente solcher historischer Selbstrechtfertigungen reflektiert werden. Der Komplex der Adelsreformentwürfe läßt sich so ausgehend von den Begriffen „Elite" und „Adeligkeit" problematisieren. Die Eigenrationalität einer Elite wird einerseits bestimmte „Adeligkeitseigenschaften" zu Kriterien erheben, andere verwerfen; umgekehrt aber werden die ausgewählten „Adeligkeitseigenschaften" sich auch auf die „Eigenrationalität" der Elite

handelt

es

auswirken. Ein Adelsreformkonzept, das von der Vorstellung bestimmter Aufgaben der Eliten, d. h. Führungsschichten, her entwickelt wird, „befragt" unter bestimmten Präferenzkriterien die verschiedenen Adelsei-

REiF(wie Anm. 25).

Adelsidentität nach der

Ständegesellschaft

61

genschaften nach ihrer „Eignung" auf ihre Funktions"tauglichkeit" („Verdienstadelskonzept"). Geht es von unbedingt zu erhaltenden „Adelseigenschaften" aus, entsteht ein „Tugendadelsmodell", das in seiner relativ undifferenzierten Auswahl von Adelseigenschaften den älteren Adelserneuerungs- und -legitimationsprogrammen weitgehend entspricht. Adlige und Bürgerliche beteiligten sich an der Entwicklung solcher

„adliger Erinnerungsmuster', und deshalb zeigt sich in der Kontroverse um „Adelserneuerung" und „Adelsreform" die Konkurrenz von Adel und Bürgertum nicht als eine absolute, wie sich im folgenden gerade für die adlig-bürgerlich geprägte Beamtenschaft Preußens zeigen läßt, sondern als Deutungskonkurrenz um die Aufgaben, vor allem aber um die Zugangskriterien zu dieser historisch tief gegründeten Herrschaftsgruppe. Neben dem in den älteren

Darstellungen vorherrschenden „globaAdelsreformentwürfen, der Aufschlüsse über Un-

len" Vergleich terschiede und Tendenzen in den unterschiedlichen Adelslandschaften ermöglicht31, besteht die zweite Untersuchungsmethode im Bezug einiger ausgesuchter Adelsreformkonzepte auf die konkrete Adelslandschaft, aus der sie formuliert, bzw. an die sie adressiert waren. Nur durch den Bezug auf eine konkrete Adelslandschaft mit ihren Entscheidungsbereichen können Prozesse der Kriterienauswahl mit einer sozialhistorischen Analyse in Verbindung gebracht werden. Denn erst die Durchführung der Analyse dieses Findungs- und Selektionsprozesses von Adelskonzepten in Bezug auf begrenzte institutionelladministrative Entscheidungsbereiche erlaubt auch Schlußfolgerungen über das Gewicht an Einflußmöglichkeiten verschiedener sozialer Gruppen auf die Adeligkeitskriterien. Denn die identifizierbaren Protagonisten werden zwar eine viel zu kleine und heterogene Gruppe bilden, um umfassend generalisierbare Aussagen treffen zu können, aber durch die Rückbindung der programmatischen Aussagen an das tatsächliche oder beabsichtigte Verwaltungshandeln erhöht sich die Aussagekraft der Quellen. von

II.

Die Auseinandersetzungen um eine Adelspolitik und -reform verliefen in Preußen im 19. Jahrhundert um einen festen zylindrischen Kern bestimmter Begriffe und Modellvorstellungen, in mehrere Stränge und Diskussionskreise unterteilt, die allerdings je nach politischer

Exemplarisch., Heinz Reif, Mediator between Throne and People (wie Anm. 17).

Günther Heinickel

62

des Adels immer wieder abrissen, um an anderer Stelle neuformiert wieder aufgenommen zu werden. Sie können deshalb nicht als fortlaufende, konsistente Geschichte wahrgenommen werden, sondern verliefen unregelmäßig und sprunghaft. Dies hat zur Konsequenz, daß eine Untersuchung nach „Clustern", d. h. zeitlichen und örtlichen „Diskussionsschwerpunkten" vorgenommen werden muß, die oft weit voneinander entfernt lagen. Die in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts innerhalb der preußischen Verwaltung durch Initiativen des Königs Friedrich Wilhelm IV. ausgelöste Adelsreformdiskussion, welche inzwischen schon mehrfach in allgemeinen Zügen in der Forschung vorgestellt wurde, ist ein solcher „Schwerpunkt". In den bisherigen Darstellungen standen die Gründe für das Scheitern des Vorhabens Friedrich Wilhelms IV., einen nach englischem Muster „neuen Adel" zu schaffen, sowie die Rolle der altadligen, bzw. nobilitierten Beamtenschaft gegenüber diesen königlichen Plänen im Mittelpunkt des Interesses.32 Beschränken sich Berdahl und v. Kalm auf eine generelle Darstellung der Vorgänge, indem sie lediglich die Rolle einiger Schlüsselfiguren hervorheben, erkennt Reif in der (begrenzten) Konsensbildung der Beamtenschaft über den Begriff der „Gesinnung" die gemeinsame Plattform, von der aus alle an der Diskussion Beteiligten die königlichen Pläne so lange kritisieren und hinauszögern konnten, bis sie durch die Revolution 1848 letztendlich obsolet geworden waren. Mag ein solcher Konsens der Beamtenschaft das Scheitern von Friedrich Wilhelms IV. Adelsreformplänen nach englischem Vorbild erklären, so verdeckt diese vereinfachende Gegenüberstellung von König und Verwaltung doch wichtige Aufschlüsse über Bruchlinien und Konflikte innerhalb der vordergründig so geschlossenen Front von Alt- und Neuadel, bzw. Nobilitierten. Aus diesem Grund soll an dieser Stelle ausführlicher auf die in den in den verschiedenen Gutachten vorgebrachten Ansichten über den Adel und seine Zukunftssaussichten eingegangen, und die darin vorge-

Konjunktur

nommenen

„Konstruktionen"

von

„Adeligkeit" wahrgenommen

wer-

den.

wurde die Richtung der adelspolitischen Auseinanderdurch das „ständische Paradox", ein Resultat der Preußen in setzungen preußischen Reformen, vorgezeichnet. Dieses „ständische Paradox" bestand in der rechtlichen Trennung des durch Grundbesitz politisch (Vertretung auf den Provinziallandtagen) privilegierten Standes der Rittergutsbesitzer, und dem damit immer weniger identischen, doch

Allgemein

Neben den schon erwähnten Berdahl

Reif, Adelspolitik (wie Anm. 17).

(wie Anm. 7), v. Kalm (wie Anm. 15) und

Adelsidentität nach der

Ständegesellschan

63

durch soziale Privilegien (Hofzugang, eigene Gerichtsbarkeit) ausgezeichneten Adelsstandes33. Alle adelspolitischen Initiativen in Preußen beschäftigten sich seit 1815 mit der Frage, wie dieses „Paradox" überwunden und eine größere Einheitlichkeit von politischem und sozialem Ständesystem wieder erreicht werden könne. Drei Wege waren denkbar: 1. Aristokratisierung: d. i. die Bildung und Förderung eines begüterten Erbadels mittels einer Betonung des adligen Standes durch Bestätigung und Formalisierung des Adels als Stand bei gleichzeitiger Binnendifferenzierung, wobei das materielle Kriterium entscheidend wäre (z. B. Schaffung einer Gentry und einer Aristokratie nach englischem Vorbild), zu Lasten des armen, d. h. nichtbegüterten Adels. Dafür sei, so das Argument der Befürworter (z. B. Bunsen, aber auch Friedrich Wilhelm IV) eines solchen Konzeptes, die traditionell sozial wenig abgeschlossene „ostelbische" Adelssituation sogar eine vorteilhafte Voraussetzung. 2. Akzeptanz des verfassungsmäßigen Status quo und eine erneuerte korporative Organisation des Adels jenseits des Standes der Rittergutsbesitzer durch (auch ideologische) Formalisierung und Strukturierung mit Hilfe reformierter Sozialgesetze (betreffend Vererbung des Titels, Adelsverlust, Konnubium) für den Adel zu Lasten ökonomischer Grundlagen und Privilegien als Standeskriterien. 3. Sukzessive Bildung eines interessenorientierten Großgrundbesitzerstandes durch konsequenten Einschluß der bürgerlichen Rittergutsbesitzer, zu Lasten des Adelsstandes, durch eine Vernachlässigung der spezifisch adelsständisch geprägten sozialen Adelsgesetzgebung (Ernst v. Bülow-Cummerow). Dabei ist festzuhalten, daß die dritte Variante in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts noch die (innerhalb der Zentrale) umstrittenste Minderheitenposition bildete und außerhalb eigentlich adelsreformerischer (im Gegensatz zu allgemein konservativen) Interessen und Absichten lag. Bei den adelspolitischen Intentionen Friedrich Wilhelms IV. ist immer zu berücksichtigen, daß neben der Schaffung einer Gentry der König die Idee der Bildung einer quasi hochadligen Aristokratie als gleichberechtigtes Ziel einer Adelsreform verfolgte. Denn Friedrich Wilhelm IV. blieb vom Idealbild einer zu schaffenden ständischen Repräsentation geleitet, eine Idee, die er durchaus in Übereinstimmung dazu auch René Schiller, Vom Rittergut zum Adelstitel? Großgrundbesitz und Nobilitierungen im 19. Jahrhundert, in: Ralf Prove u. Bernd Kölling (Hg.), Leben und Arbeiten auf märkischem Sand. Wege in die Gesellschaftsgeschichte Brandenburgs 1700-1914, Bielefeld 1999, S. 49-89, hierS. 71 f.

Vgl.

64

Günther Heinickel

mit den Absichten der Reformepoche sah und die ihm seine Vorgaben einer anzustrebenden „Adeligkeit" lieferte. So griffen das „Dauerthema" der zu schaffenden Repräsentation und das Ziel einer Adelsreform in den 1840er Jahren ineinander. Die erwünschte Form der vom König angestrebten „Generalstände" für das Königreich Preußen lieferte zugleich bestimmte Vorgaben für eine „Adeligkeit" im Sinne der monarchischen Zentrale, nach denen der Adel zu formen, zu reformieren war. Deshalb bestimmte der administrative Entscheidungsbereich zum einen schon die äußeren Bedingungen wesentlich mit, unter denen generell jede adlige Neubestimmung in jener Epoche nur konkret werden konnte, und grenzte zum anderen alle außerhalb dieses Interessenbereiches agierenden Teilnehmer des „Adelsdiskurses" weitgehend aus. Vergegenwärtigt man die große Anzahl und regelmäßige Wiederkehr von Adelsreformvorschlägen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, erscheinen die durch Friedrich Wilhelm IV. in den 1840er Jahren ausgelösten Debatten und Gesetzesinitiativen über die Stellung und eine Reform des preußischen Adels keineswegs nur als willkürliche und marottenhatte Allüre eines überspannten Monarchen. Der Zusammenhang mit den seit Jahrzehnten erhobenen Vorschlägen und Initiativen Einzelner zu einer Reform des Adels ist ebenso deutlich, wie die Verbindung zu gewissen Verlaufslinien staatlichen Verwaltungshandelns, die, so offenbar die Überlegungen des Monarchen, wenn man sie nur förderte und zur bewußten Politik erhob, eine eigene Tradition zu stiften in der Lage wäre.34 Bekanntlich wurden diese Adelsdebatten durch die am 10. September 1840 anläßlich der Huldigung in Königsberg ausgesprochenen Standeserhöhungen ausgelöst35, welche in ihrem konditionalen Charakter Prädikate und Titel nur auf denjenigen unter den Nachkommen übergehen lassen wollte, der sich in alleinigem Besitz des väterlichen Grundeigentums in mindestens der bei der Nobilitierung vorhandenen Größe befand. Nachdem der König dem Staatsministerium seine Entscheidung später zur Begutachtung vorgelegt und dieses einen insgesamt negativen Befund ausgestellt hatte36, modifiGenau dieses Argument wurde in dem unten noch ausführlicher dargestellten Votum von Streckfuß deutlich vorgebracht. Vgl. Votum Streckfuß, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (im folgenden abgekürzt. GStAPK) 1. HA Rep. 100, Nr. 3787, Bl. 74-97 v. v. Kalm, wie Anm. 15, S. 43. In der Besprechung des Staatsministeriums vom 6. Oktober 1840 wurde festgehalten: 1. daß den höheren Beamten die neuen Bestimmungen zu Standeserhöhungen „schmerzlich" seien, würde ihre Aussicht auf Standeserhöhung in Zukunft doch ausgeschlossen sein 2. daß diese Adels-Verleihungen den neu begnadigten Personen nicht angenehm seien, weil a. sie sie in der Disposition ihres Grundbesitzes

Adelsidentität nach der

Ständegesellschaft

65

seine Bestimmungen etwas nach dem Vorschlag des Ministeriums, nämlich was den Übergang des Adels auf die erste Generation der Nachkommen anging, hielt aber sonst an seiner Grundlinie fest.37 Bevor der König am 15. Oktober 1840 seine Bestimmungen zu weiteren Adelsverleihungen mitteilte, forderte er in einer Allgemeinen Kabinettsordre vom 13. Oktober 1840 die Mitglieder des Staatsministeriums zur Entwicklung ihrer Ansichten auf, aus welchen sie ihre vorgeschlagenen Modifikationen der königlichen Absichten begründeten.38 Innenminister Gustav v. Rochow verfaßte als erster sein Votum (datiert 10. Dezember 1840), welches er an Fürst Wittgenstein (Minister des Königlichen Hauses) vorab verschickte39, und in welchem er zierte

er

geniere, b. weil viele derselben gerade ihrer Kinder wegen die Erhebung in den Adelsstand begrüßen. Vorgeschlagen wird dagegen von Seiten des Staatsministeriums: I. den Adel auch unangesessenen höheren Staatsdienern zu verleihen mit der Maßregel, daß sich dieser nur auf die Descendenz vererbe, wenn der Staatsdiener selbst oder dessen Nachkommen Grundeigentum erwerben, II. sonst allen Nachkommen den Adel zu vererben, aber erblich nur für diejenigen der Söhne, die in den väterlichen ritterlichen Grundbesitz sukzedieren oder solchen erwerben. GStAPK Rep. 77, Tit 1108, Nr. 31, Bd. 1 (Die staatsrechtlichen Verhältnisse des Adels Bd. 1 1809-1850). Der König billigt am 7. Oktober den Antrag des Staatsministeriums sub. II. Allerdings hält der König für die Erhebung in den Grafenstand an den Prinzipien von Königsberg und der Kabinettsordre vom 10. September 1840 fest. Ferner gestattet der König, daß die Nobilitierten anstatt ihrer Namen den Namen ihres Rittergutes annehmen dürfen oder ihren eigenen Namen auf das Rittergut übertragen können. Diese letzten beiden Bestimmungen würden sich allerdings nicht zur Veröffentlichung eignen, vgl. ein Extract des Schreibens an Rochow 15. Oktober 1840, in: GStAPK Rep. 77, Tit. 1108, Nr. 31 Bd. 1. Rochow schrieb an Wittgenstein als Antwort auf dessen Anfrage vom 16. Oktober wegen neuer Bestimmungen zu Standeserhöhungen, Berlin 17. November 1840. Rochow berichtet vom Zustandekommen der modifizierten Bestimmungen vom 15. Oktober und von der Allerhöchsten Order vom 13. Oktober, mit der der König zugleich dem Staatsministerium auftrug, die näheren Ansichten zu entwickeln, aus welchen dasselbe die vorgeschlagenen Modifikationen ausgesprochen hat. Aus diesem Hergang gehe hervor, so schließt Rochow, daß die Ausfertigung der Adelsdiplome unabhängig vom Ausgang dieser Beratung ist, vgl. GStAPK Rep. 77, Tit. 1108, Nr. 31 Bd. 1. Schon am 9. Dezember 1840 hatte Rochow an Direktor von Tzschoppe geschrieben, sich aufsein Schreiben an Wittgenstein vom 17. November bezogen und erklärt, daß er ursprünglich der Ansicht gewesen sei, daß die vom König mit Allerhöchster Ordre vom 13. Oktober geforderte Stellungnahme des Staatsministeriums zu dessen vorgeschlagenen und auch teilweise bewilligten Modifikationen keine Auswirkungen auf die Ausstellung der Adelsdiplome haben würde. Jetzt aber, bei Ausarbeitung seines Votums, seien ihm, Rochow, Zweifel gekommen und er glaube,

daß bestimmte klärende Zusätze in die Bestimmungen vom 15. Oktober werden müßten. Er, Rochow, werde eine Abschrift seines Votums

aufgenommen

66

Günther Heinickel

königlichen Vorgaben folgendermaßen rekapitulierte:

Es sei wichauf seine mehr oder minder verwaiste historischden Adel tig, politische Bedeutung zurückzuführen, nachdem der Adel sein Recht auf ausschließlichen Besitz von größeren und bevorrechteten Gütern verloren habe, ein Recht, welches dem ganzen Stand, auch den Mitgliedern, welche kein Gut besaßen, reale Bedeutung gegeben habe. Dieses ausschließliche Recht sei durch die Reformen aufgehoben und auch nicht wieder herzustellen. Das Verhältnis des Adels zum Grundbesitz sei seitdem ein „zufälliges", kein „notwendiges" mehr, und so blieben dem Adel nur noch seine sozialen Beziehungen als Privilegien. Dies erzeuge Neid und Mißstimmung, was aber nicht der Fall wäre, würden diese Privilegien als Folge materieller Heraushebung erscheinen. Der Adel könne aber seine Rolle in der Monarchie nur spielen, wenn er mit den übrigen Ständen in Eintracht lebe. Die Art und Weise, wie der Adel erzeugt werde, sei ein Mittel, die Achtung des Adels in der Gesellschaft zu heben oder zu mindern. Der neu hinzutretende Adel solle nach den neuen Bestimmungen die Beziehung zwischen Adel und Grundeigentum wieder herstellen, indem Grundbesitz zwar nicht für die Verleihung neuen Adels, aber für die Vererbung desselben die Voraussetzung sei. Auf diese Weise solle Adel nicht mehr ohne Verbindungen zum großen und bevorrechteten Grundbesitz gedacht werden können. Seit der Adel zu Beginn des neuen Jahrhunderts seine Rechte verloren und der Bürgerstand sich allgemein gehoben habe (wofür dessen gänzlich veränderte Stellung zum Kriegsdienst verantwortlich sei) herrsche ein Mißverhältnis zwischen Adel und dem höheren Bürgerstande. Die neue Adelsgesetzgebung würde diesen sozialen Konflikt versöhnen, weil durch sie die dauerhafte Nobilitierung durch „objektive" Umstände erfolge. In diesem neuen Adel verbänden sich auch, ähnlich wie bei den englischen Adelsverhältnissen, bürgerliche und adlige Zweige derselben Familie. Die bürgerlichen Familienmitglieder würden dadurch dem Adel überhaupt näher gerückt. So würden aus Scheidewänden Abstufungen.40 die

an Wittgenstein senden, um diesen entscheiden zu lassen, ob er die Ausfertigung der Diplome noch einmal aussetzen wolle. Weiter machte Rochow Vorschläge, wie die Diplome formuliert werden könnten, um Mißverständnisse auszuschließen, falls die Voti des Staatsministeriums nicht berücksichtigt werden sollten, vgl. GStA PK Rep. 77, Tit. 1108, Nr.31 Bd. 1. Die Kritik, die Rochow in seinem Votum gegen die königlichen Pläne vorbrachte, zitierte Reif nach der Reinschrift. Rochow verschärfte in der Reinschrift seine Bedenken speziell gegen das englische Adelsmodell gegenüber der ursprünglichen Fassung, die deutlich verbindlicher feststellte: „Alles dies (die negativen Folgen für die innerfamilären Verhältnisse bei Durchführung der geplanten Adelsreform,

Adelsidentität nach der

Ständegesellschaft

67

Die Reaktion des vom König zur Stellungnahme aufgeforderten Staatsministeriums den königlichen Absichten gegenüber war eindeutig ablehnend, doch setzte sich dieses scheinbar so übereinstimmend negative Votum aus den unterschiedlichsten Motiven, Absichten und Gegenvorschlägen zusammen.41 Was äußerlich wie eine geschlossene Front entschiedener Abwehr wirkt, verdeckte tatsächlich eine Reihe eklatanter Interessengegensätze.42 Der König war mit diesem Gutachten des Staatsministeriums vom 31. März 1841 denn auch nicht zufrieden und beauftragte Minister Anton Graf zu Stolberg als Oberrevisionsrat am 21. Juli 1841 mit dem Vorsitz einer Kommission, deren Mitglieder zum Teil das besondere Vertrauen des Königs besaßen und zu seinem engeren Kreis zählten.43 Der Kommission gehörten an: der Hofmarschall des Prinzen v. Preußen Adolf August v. Rochow-Stülpe, v. Savigny, Oberregierungsrat Streckfuß, Prof. v. Lancizolle (Berlin), Prof. v. Bethmann-Hollweg (Bonn) und der Oberregierungsrat v. Raumer. Die Beratungen in dieser Kommission über die Grundsätze der Adelsverleihungen brachten aber keineswegs eine Klärung oder einen Konsens über die Ziele und Positionen, sondern verschärften diese Differenzen in bezeichnender Weise noch erheblich. In den Vota der Mitglieder des Staatsministeriums werden drei grundsätzliche Positionen deutlich, die sich in ihren Kritikpunkten und Gegenvorstellungen zwar teilweise überschnitten, aber doch völlig verschiedene Zielrichtungen und Schwerpunkte erkennen lassen und aus den Stellungnahmen der Minister v. Rochow (Innen), Mühler und v. Kamptz (beide Justiz) im wesentlichen zu skizzieren sind. Alle Votanten des Staatsministeriums waren zunächst einmal darüber einig, daß der „christlich-germanische", bzw. kontinentaleuropäische Adel seit jeher ein Geschlechteradel gewesen sei, also unbedingte Erblich-

41

42 43

G. H.) kann die Folge seyn, nothwendig ist sie nicht, wie mit seinen ähnlichen Verhältnissen das Beispiel von England zeigt.", vgl. GStAPK Rep. 77, Tit. 1108, Nr. 31 Bd. 1, vgl. mit der Reinschrift in Rep. 100, Nr. 3783 B. 1-23 und Reif, Adelspolitik (wie Anm. 17), S. 218 f. Schon Reif erkennt den additiven Charakter der Stellungnahme des Staatsministeriums, welche insofern eine bloße Zusammenstellung der unterschiedlichen Meinungen darstellt Siehe das Protokoll der Sitzung des königlichen Staatsministeriums zum Problemkreis einer Adelsreform und den daraus resultierenden Bericht an den König in: Heinz Reif, Friedrich Wilhelm IV. und der Adel. Zum Versuch einer Adelsreform nach englischem Vorbild in Preußen 1840-1847. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 43 (1995), S. 1097-1111. Vgl. die Vota der Staatsminister in: GStAPK Rep. 100, Nr. 3783 B. 1-51. Vgl. GStAPK Rep. 89, Nr. 919 Bl. 50-52. Die meisten Mitglieder kannten sich untereinander und gehörten zum engeren Kreis um den Kronprinzen.

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keit des Adelsprädikats herrschte, mithin die Verleihung des Adels an ein Mitglied einer Familie, von dem das Prädikat wiederum nur auf ein anderes Mitglied der Familie übergehen sollte, als ahistorisches Unding abzulehnen sei. Aufgrund dieser mangelnden historischen Legitimation werde der neue Adel keine Akzeptanz beim alten Adel finden, auch dann, wenn dessen junges Alter vergessen wäre, und deshalb auch vom Bürgerstand nicht wirklich geachtet werden. Aus diesem Grund würde das Modell keine Lösung für die Probleme darstellen, auf die es gemünzt sei. Mühler führt die anläßlich der Huldigung Nobilitierten an, die in der Tat versuchten, ihre Nobilitierungsbedingungen ändern zu lassen.44 Dieser neue Adel werde vielmehr als am Grundbesitz haftend empfunden werden, nicht als an der Person, welche geadelt 44

So übersandte Wittgenstein am 29. Oktober 1840 ein Schreiben des v. EickstädtPetcrswald aus Pommern, eines der Begnadigten der Huldigung, an Rochow weiter. Eickstedt fragte verwundert an, ob die zweite Bestimmung der allerhöchsten Ordre vom 15. Oktober durch die erste nicht teilweise aufgehoben würde, insofern der Titel in der ersten Deszendenz auf alle Kinder übergehe, auch ob diese Bestimmung hinsichtlich der Söhne nur für die zweite und folgende Deszendenz gelte, vorausgesetzt die Söhne sukzedierten alle in den väterlichen Besitz. Seine Vaterpflicht ließe es nicht zu, seine Güter, ausschließlich Lehen, nur einem Sohn zu übergeben, außerdem sei er durch die Lehensordnung in der Disposition sowieso beschränkt. Damit würde der neue Titel mit ihm aussterben. Auch der Begnadigte Graf Saurma auf Zülzendorf bat um Verleihung der Standeserhöhung auf beide Söhne, da der eine schon seit 1835 das Majorat Ruppersdorf eigentümlich übertragen bekommen habe, der andere das Majorat Zülzendorf erhalten solle. Durch die Majoratsverfassung sei für beider Wohlstand gesorgt. In dieser Sache schrieb Rochow an v. Merckel, Oberpräsidenten von Schlesien, um Besitzverhältnisse der Saurma zu klären. Schließlich warnte Rochow in einem Schreiben an Wittgenstein vom 16. Dezember 1840 anläßlich der Immediateingabe von Graf Blumenthal auf Varzin, der den König bat, die ihm verliehene Grafenwürde auf beide Söhne vererben zu dürfen. Er empfahl, keine Ausnahmen zu geben, schon gar nicht zu diesem frühen Zeitpunkt nach Erlaß der neuen Vererbungsbestimmungen. Denn ähnliche Wünsche würden wohl bei der Mehrzahl der Begnadigten zu finden sein Und endlich wandte sich Rochow am 15.Januar 1841 in der Sache des Grafen Blumenthal direkt an den König: „Es scheint mir in der Sache nicht darauf anzukommen ob der getheilte Grundbesitz für jeden der Söhne eine ausreichende Dotierung seyn würde, um die Vererbung der Grafenwürde auf beide zu rechtfertigen, sondern nur darauf, ob es als geeignet betrachtet werden könne, gegen die über die Vererbung der Grafenwürde allgemein aufgestellten Bestimmungen schon gegenwärtig wenige Monate nach ihrem Erlaß eine Ausnahme zu bewilligen. Ich kann nur der, Ew. K. M. bereits über einen ähnlichen Antrag des Grafen von Skorzewski vorgetragenen allerunterthänigsten Ansicht seyn, daß nach Bewilligung einer solchen Ausnahme das Prinzip kaum würde zu halten sein." Am 4. Februar 1841 wurde der Fall Blumenthal mit Bezug auf Rochows Empfehlung abschlägig beschieden. Alle Beispiele vgl. GStAPK Rep. 77, Tit. 1108, Nr. 31 Bd. 1.

Adelsidentität nach der

Ständegesellschaft

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ist (Mühler). Auch im Personaladel wie er noch im ALR Teil II. Tit. 9 § 32 angedeutet ist, und der historisch kein Bestandteil des Geschlechtsadels gewesen sei, sondern nur eine rechtliche Gleichstellung (wie das auch in den aktuellen Beispielen Bayerns und Württembergs sei) fände diese Adelsform keinen Anknüpfungspunkt. Das vom König immer wieder zitierte Beispiel England könne nicht zum Vorbild dienen. Während Mühler einfach darauf hinwies, daß die eigentümlichen Adelsverhältnisse Englands in einem historischen Prozeß entstanden und nicht „gemacht" worden seien, fügte Innenminister Rochow ausführend hinzu, daß selbst dort die beschränkte Erblichkeit nur innerhalb der Familien des hohen Adels stattfände, nicht aber bei der Gentry, und die nachgeborenen Söhne des Adels selbstverständlich zum Adel zählten. England könne außerdem nicht als Beispiel gelten, so Rochow, weil zwischen dem Adel und dem höheren Bürgertum in den geselligen Beziehungen keine Unterschiede gelten, sondern nur Sitte, Bildung und Betragen die Grenzlinie zwischen dem Gentleman und dem, der es nicht ist, ziehen. Damit führte Rochow als Argument aus, was dem König offensichtlich doch ersehntes Ziel seiner Pläne war: die Schaffung eines dem Gentleman ähnlichen Sozialtypus, gebildet aus adligen und bürgerlichen Elementen. Aber auch in einem zweiten Argument waren sich die Votanten einig: diese neue Regelung gefährde den Familienfrieden. Mühler zitierte seine Äußerungen zur Frage der standesungleichen Ehen, wo er schon argumentiert habe, es widerspreche dem „christlich-germanischen" Familienleben, Standesungleichheit in der Familie zu schaffen. Der Besitz würde dadurch auch nicht gesichert, denn der moralische Druck auf den Vater, seine Kinder gleich zu behandeln, würde diesen eher zum Verkauf seines Grundbesitzes und damit auch zum Aussterben seines adligen Namens bringen, als gegen seine „heiligen Pflichten" zu handeln. Die Scheidewand zwischen den Ständen würde außerdem, so Rochow zu diesem Punkt, lediglich in die Familien hineingetragen und Zwietracht durch die unterschiedliche Privilegierung der Kinder erzeugt. Gemeinsam verweisen die drei Votanten noch auf die angemessene Lebensbeschäftigung, die eine wesentliche Grundlage des preußischen Adelstypus seien, namentlich der Dienst, genauer der Kriegsdienst, der, wie Innenminister Rochow meinte, dazu beigetragen habe, daß der Adel trotz teilweiser Verringerung des Wohlstandes vor seinem Verfall bewahrt worden war. Mühler und Kamptz sahen das ganz ähnlich, hatten aber wohl mehr den zivilen Bereich im Blick. Mühler führte aus, der Adel habe in Preußen an der allgemeinen intellektuellen und moralischen Ent-

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wicklung, ein Produkt des ganzen Volkes und in allen Ständen gepflegt, teilgenommen, und diese, dem höheren Bürgerstand gleich, in sich aufgenommen, wissend, daß nicht die Abkunft den Zugang zu den führenden Stellen in Staat und Gesellschaft ebene, sondern Eigenschaften wie „Fleiß", „Beharrlichkeit", „Mut". Kurz, Tugenden des „Adels des Menschengeschlechts", die zu den „Vorzügen des Standes" hinzukommen müssen, um diesen „in dem rechten Lichte erscheinen zu lassen". Mit keinem Wort erwähnte Mühler die von Rochow durchaus angesprochenen Spannungen zwischen Adel und höherem Bürgerstand, nichts über das Verhältnis der Stände untereinander und der daraus entstandenen Adelskritik, vielmehr zeichnete Mühler auf das Leistungs- und Dienstadelsethos bezogen das Bild eines ständeübergreifenden Konsenses von Adel und höherem Bürgertum. Doch mit diesen Positionen hörten die Gemeinsamkeiten der Votanten auch schon auf, die Differenzen waren bei weitem in der Überzahl und gewichtiger. Innenminister v. Rochow nämlich erkannte im Fernhalten von den eigentlichen handwerklichen Gewerben die zweite Grundlage des preußischen Adelstypus, denn es erhalte ihm die Standesgesinnung, ein Verhalten, das durch die Politik sogar beeinflußbar wäre. Ausdrücklich verlangt er das Eintreten des Adelsverlusts bei Ergreifen niedriger Handwerkergewerbe und nichtgeachteter Berufe. Für Mühler dagegen ist eine solche Beschränkung der möglichen Lebensbeschäftigungen für den Adel weder ratsam noch verständlich. Warum sollte der Adel in der öffentlichen Meinung verlieren, wenn „einzelne Mitglieder einem gewerblichen Nahrungszweig" nachgehen? Ein vorurteilsfreies Urteil werde darin nur den Wechsel des Schicksals erkennen. Konsequent negiert er, daß der Adel durch die Wahl bestimmter Berufe in der öffentlichen Meinung verliere, sofern dieser verarmte Edelmann sich nur den „Adel der Gesinnung" erhalten habe. Die zweite Kluft zwischen den Ministern wird deutlich in der Bewertung dessen, was Rochow als drittes konstitutives Element des preußischen Adels identifizierte: nämlich die Eheschließungen innerhalb des Standes zumindest als Regel. Denn der Adel müsse sich auch in den Familienbeziehungen als Stand erkennen, ohne welche der Stand nur äußere Existenz, aber ohne Leben wäre. Ein feindliches Abschließen gegenüber dem Bürgertum sei darin allerdings keineswegs zwangsläufig zu erkennen, beteuerte Rochow. Diese Eheschließungspraxis sei im übrigen auch gerade bei alten Gentry-Familien in England üblich. Während Rochow dieses Verhalten nur beschreibt und anmerkt, daß darauf kaum Einfluß genommen werden könne, spricht sich Kamptz in seinen Ausführungen ausdrücklich für eine solche Exklusivität im -

-

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Konnubium aus, indem er dafür plädiert, daß bei ungleichen Ehen der Adelsname weder auf die bürgerliche Ehefrau noch auf die Kinder übergehen solle. Mühler wies dies alles entrüstet zurück, wieder unter Hinweis auf das „innerste Wesen der christlichen Ehe". Doch die schärfste und ausführlichste Auseinandersetzung der Votanten betraf die Frage nach dem Kriterium des Grundbesitzes für die Vererblichkeit des Adels. Es war Rochow, der diesen Komplex über das in den königlichen Vorgaben angesprochene Maß hinaus thematisierte, indem er der Kritik an dem Vorhaben des Königs in seinem Votum einen eigenen Vorschlag zur Stützung des Adels folgen ließ. Darin sprach er sich zwar dafür aus, die Beziehung zwischen Grundbesitz und Adel zu stärken, aber nicht durch ein „Gentry'-Modell. Vielmehr sollte nach ihm die Vererbung des Adels in einer Familie von der Existenz, oder dem Erwerb und der Erhaltung von rittermäßigem Grundbesitz abhängig gemacht werden. Dieser Grundbesitz sollte Stammguteigenschaften haben und würde den Adelsnamen für die ganze Familie sichern, also einen Geschlechteradel repräsentieren. Dies entspräche dem überkommenen Adelsmodell in Deutschland und würde auch berücksichtigen, daß jedes Familienmitglied potentiell in den Grundbesitz gelangen könne. Bei Verlust des Gutes sollte die Vererbung des Adels aufhören oder sogar ein sofortiger Verlust des Adelsnamens für die ganze Familie eintreten. Diese Bestimmungen sollten selbst auf den alten Adel ausgedehnt werden. Damit hatte Rochow einen radikalen Entwurf eines Adelskonzepts geliefert, welcher das Besitzkriterium, wenn auch nicht auf Individuen, so doch auf Familien, konsequent anwandte. Kamptz bewegte sich in seinen Positionen insgesamt zwischen Mühler und Rochow. Er befürwortete wie Mühler Adelsverleihungen ausdrücklich als Mittel zur Belohnung ausgezeichneter Verdienste ohne Rücksicht auf das Vorhandensein von Grundbesitz. Aber er wollte ebenfalls, ähnlich wie Rochow, eine Adelsstützungspolitik, die auf die Annäherung von Adel und Grundbesitz setzte. Dienst und Grundbesitz sind bei ihm gleichgewichtige Grundlagen des Adels. Allerdings, wie Rochow sein Adelskonzept ausdrücklich auch auf den alten Adel angewandt sehen wollte, hatte Kamptz mehr den „neuen" Adel im Blick. „So weit dies möglich" sei, solle dieser neue Adel in einen „näheren und bleibenden Zusammenhang" mit dem Grundbesitz gebracht werden. Um dieses Ziel zu erreichen, schlug Kamptz Gebührenund Abgabenfreiheit für Fideikommißstiftungen aus ritterschaftlichen Gütern und den darauf begründeten neuen Adel vor. Wie bei Rochow, sollte auch dieser neue Adel ein Geschlechteradel sein, auch wenn

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Grundbesitzbindung wählte, während sich Rochow mit seinem Stammgutsmodell offenbar stärker am überkommenen Muster der durch Lehnsbeziehungen konstituierten Kamptz die „modernere"

Form der

Familienverbände orientierte. Während Mühler und Kamptz in ihrer Hochschätzung von Dienstund Leistungskriterien für den Zugang zum Adel weitgehend konform gegangen waren, grenzte sich Mühler in der Frage des Verhältnisses von Grundbesitz und Adel nicht nur von Rochow, sondern auch von Kamptz entschieden ab. Mühler wie Kamptz hatten noch übereinstimmend moniert, daß mit den neuen Bestimmungen ein wesentliches Mittel zur bleibenden Auszeichnung und Bindung „verdienter Männer" mitsamt ihrer Nachkommenschaft an den Landesherrn, den Staatsdienst und die Interessen der Regierung verlorenginge. Ein großer Teil des Adels in Preußen, so Mühler, verdanke schließlich seinen Ursprung dem Verdienst in Militär und Zivildienst. Viele dieser Familien hätten niemals Grundeigentum besessen, und aus Gründen der Richtung ihrer Erziehung, ihrer Lebensbeschäftigung und der Lage ihres Vermögens seien sie abgehalten worden, rittermäßigen Grundbesitz zu erwerben und sich dem Landadel anzuschließen. Trotzdem könne man diesem „achtbaren" Teil des Adelstandes nicht den Vorwurf einer unehrenhaften und unstandesgemäßen Haltung machen oder ihn in seiner „Gesinnung und sein(em) Verhalten zur Regierung und der übrigen Bevölkerung" gegenüber dem niederen, mit Grundbesitz ansässigen Adel, nachsetzen. Für Mühler ist gerade die Vererbbarkeit des Adels „ein Sporn" geworden zur Entwicklung dessen, worauf Preußens Größe und Kraft beruhe: der intellektuellen und moralischen Kraft seines Volkes, und dessen besonderer Bindung an das Herrscherhaus. Es sei nicht die Schuld des Adels, daß er zu Beginn des Jahrhunderts „an den Vorzügen seines Standes" verloren habe. Der Grund dafür läge nicht in der Art seiner Fortpflanzung und Vererbung, sondern in den Zeitereignissen, der Richtung der Weltansicht und der Notwendigkeit, außer den Vorzügen des Standes noch etwas zu besitzen was diese Vorzüge unterstützt, ihnen Leben und Bedeutung gibt. Bei diesem „Etwas", welches den Standesprivilegien „Leben und Bedeutung" geben sollte, dachte Mühler offensichtlich nicht an materielle Qualitäten. Vielmehr, so Mühler, könne er nicht zugeben, daß ein Edelmann ohne Grundbesitz weniger förderlich sein solle, als ein Edelmann mit Grundbesitz. Im Gegenteil: historisch hätte doch gerade diese letztere Klasse des Adels dem Landesherrn zu schaffen gemacht, während im Dienstadel das in der Staatsverwaltung stets beachtete Prinzip, daß Fähigkeit und Verdienst die Anerkennung des Werts liefert, mit

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größtem Erfolg zum Tragen gekommen sei. Daß man dagegen vermögenden Leuten, die bedeutenden Grundbesitz zu Fideikommissen verwenden wollen, den Adel und die Stiftung gewissermaßen „gratis an-

binden wolle", setze den Wert des Adels herab. Eine solche „Provokation" auf die Stiftung von Fideikommissen stünde außerdem den Interessen des freien Gütermarktes entgegen, was nur solange unbedenklich sei, wie solche Stiftungen nur Ausnahmen, nicht ein allgemeines politisches Ziel darstellten. Mühler empfahl, in diesen Verhältnissen der „freien Gestaltung der Dinge" ihren Lauf zu lassen. Der Minister des königlichen Hauses, und damit Hauptverantwortliche in Standessachen, Wittgenstein, schloß sich dem Votum Mühlers weitgehend an, indem er ähnlich wie Kamptz und Rochow für den grundbesitzenden Adel einen bedingenden Zusammenhang von Grundbesitz und Titel befürwortete, den Verdienstadel aber von solchen Kriterien frei gestellt sehen wollte. So stellte sich seine Position tatsächlich als eine Verschärfung der Mühlerschen Ansichten dar, nämlich als eine faktische Privilegierung des Dienstadels gegenüber dem angesessenen Adel.45 Der Hofmarschall v. Rochow, präsentierte in seinem Votum eine verschärfte Position des Innenministers v. Rochow. Er interessierte sich nur für den Grundbesitz als Kriterium des Adels und der Adelswürdigkeit. Hinsichtlich der anderen Kriterien fürNobilitierungen ging er ausdrücklich mit den Ausführungen Bethmann-Hollwegs konform. Gegen die Ausführungen von Mühler (die von Mühler als „tote Hand" kritisierten Folgen von Familienstiftungen auf Grundbesitz verteidigte Rochow als im Gegenteil „feste und sichere Hand") erklärte der Hofmarschall ausdrücklich, daß die erwünschten konservativen, d. h. auf Erhaltung der bestehenden Staatseinrichtungen und unbedingte Treue zum Regentenhaus ausgerichteten Einstellungen zwar in allen Ständen zu finden seien, aber die staatliche Aufmerksamkeit auf die Anwendung der materiellen Mittel zur Schaffung einer solchen Gesinnung besonders achten, sie nicht dem „Zufall" überlassen, sondern aktiv fördern müsse. Die Ehrenvorzüge allein seien jedenfalls nicht ausreichend, um einen Adelsstand zu konstituieren, und gerade den Punkt des Berichts des Staatsministeriums vom 31. März 1841, daß kein Bedürfnis bestehe, die Trennung von Standschaftsrechten und Adelsrechten wieder rückgängig zu machen, kritisierte er am heftigsten, denn dadurch hätte der Adel als Stand aufgehört zu existieren und in Folge dessen sei ein „Geist der Opposition im Inneren eines Standes" (d. i. Stolbergs Votum vom

15. März schloß sich wiederum

Wittgenstein an.

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der Rittergutsbesitzer), der doch dazu berufen sei, gleiche politische Interessen zu vertreten, entstanden. Der besitzlose Ade! stelle an sich kein Problem dar, da er sich nicht so zahlreich vermehre, weil die Frauen nicht standesgemäß zu versorgen seien. Um seinem Ziel näher zu kommen, schlug Hofmarschall v. Rochow vor, die Nobilitierungen nur unter abschreckenden Bedingungen zu erteilen, z. B. dem Zwang der Gründung einer Familienstiftung und dem Erwerb eines Rittergutes im dem Umfang und Wert, der diesem die Standschaftsrechte gebe. Nur der fortdauernde Besitz eines Rittergutes solle den Adel erhalten, aber auch nur in der vom König vorgeschlagenen beschränkten Weise durch Primogenitur, bis es der Familie gelänge, eine fideikommissarische Stiftung zu gründen. Dann würde der so beschränkte Adel zum Geschlechteradel und mit den altüberkommenen Familien verschmelzen können. Rochow schlug also eine Art „Übergangsklasse" zwischen Bürgertum und Geschlechtsadel vor, eine „Gentry1, die sich aber nicht wie die englische aus den nachgeborenen Söhnen des titulierten Adels, sondern aus dem nobilitierten, rittergutsbesitzenden, aber noch nicht fldeikommissarisch gebundenen Bürgertum rekrutieren sollte. Der Hofmarschall v. Rochow hatte wegen einer eventuell „mangelnden" historischen Begründung eines solchen „neuen Adels" keine Skrupel, da man, wie er feststellte, mit dem Entzug des Grundbesitzprivilegs von der historischen Herkunft des Adels sowieso schon abgewichen sei. Auch das Kommissionsmitglied Streckfuß betonte den Grundbesitz als entscheidendes Standeskriterium. Doch von Stiftungen und Majoraten als Zugangskriterium oder auch nur zur Absicherung des Besitzes wollte er nichts wissen, da das frühere exklusive Recht auf Rittergutsbesitz als mögliche Klammer des Adels verloren, und nicht wünschbar sei, es wieder herzustellen. Dies widerspräche den Gesinnungen und Meinungen der Gesellschaft und behindere den „ungeheuren Aufschwung" der Landwirtschaft, welcher der „im Bürgertum aufgehäuften Reichtümer unerläßlich bedarf. Mit dem Hofmarschall v. Rochow ging Streckfuß darin einig, daß einige soziale Standesprivilegien wie der eximierte Gerichtsstand nicht ausreichten, um einen Stand zu begründen, und es „unberechenbare Folgen" haben würde, den exklusiven Zugang des Adels auf Beamten- und Offiziersstellen wieder einzurichten.46 Streckfuß erkannte in den bürgerlichen Rittergutsbesitzern vor den negativen Folgen in der Öffentlichkeit, in Deutschland, in ganz Europa, wenn bei diesem Vorgehen der Eindruck entstünde, die preußische Regierung plane, dem Adel irgend neue Vorzüge vor dem Bürgerstande im

Streckfuß warnte

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zukünftiger Nobilitierungen47 und plädierte darüber hinaus, den überkommenen Adel durch eine neue Titulatur zu „überbauen" und ein neues korporatives Verhältnis zu setzen. Dadurch würde vermieden, dem alten Adel, auch dem besitzlosen, irgend etwas zu nehmen. Streckfuß schlug dazu vor, ein den adligen Grundbesitzer charakterisierendes Prädikat (z. B. „Edler von pp", gefolgt vom Namen des Gutes dieses Prädikat sei nicht neu, „sondern schon lange in deutschen Ländern, vor allem Österreich gewöhnlich, und auch in Preußen nicht unbekannt") einzuführen, das bei Verlust des Gutes, aber ohne den ererbten Adel, wieder verlorenginge. Nach mehreren Generationen erfolgreicher Vererbung des Gutes könne dann noch ein ehrender Zusatz beigefügt werden, welcher den älteren Adel bezeichne („Reichs-Edler v."). Der ältere Adel in dritter Generation des Besitzes eines Gutes könnte sofort diese Zusatz-Prädikate beanspruchen. Darin läge eine Auszeichnung für den älteren Adel, um diesen mit den neuen Einrichtungen zu versöhnen. Dem (erblichen) Adel ohne Grundbesitz bliebe dann übrig, so Streckfuß kühl, sich seine Stellung in der Gesellschaft selbst auszumitteln. Die Einführung eines persönlichen Adels befürwortete er, um verdiente Beamte auszuzeichnen. Streckfuß erwartete jedoch, daß „nach dem jetzigen Zustande der öffentlichen Meinung" dieser Wunsch von Jahr zu Jahr seltener laut würde. Das Kommissionsmitglied v. Raumer entwarf dagegen ein extrem militarisiertes Gesinnungs- und Dienstadelsmodell, das weit über Mühlers Gutachten im Staatsministerium hinausging. Im Unterschied zu Mühler griff Raumer das Argument der königlichen „Eröffnungen" auf, daß historisch der Adel aus dem Stand der „Freien" hervorgegangen, und eine Trennung zwischen niederem Adel und Bürgertum erst später eingetreten sei. Deshalb seien weder „militärische Gesinnung" noch Ehrbegriffe exklusiv adlige Eigenschaften gewesen. Das den Stand konstituierende Element sei immer der Dienst gewesen, und der Grundbesitz habe diesem nur als notwendige Grundlage gedient. Raumer beschrieb weiter eine sehr „ostelbisch" geprägte historische Situation, als er ausführte, daß ursprünglich das Stammgut auf alle Kinder erblich war, und in einem Dorf oft mehrere Edelleute ansässig gewedas natürliche Reservoir

-

sen, Einzelne gar „lose

herumgetrieben" seien. Dagegen setzte Raumer

ein stark kontrastiert.es England, das sich nicht erst durch den Handelsgeist des Elisabethanischen Zeitalters, sondern schon in seiner feudalen

täglichen Leben und Verkehr einzuräumen. Dies könne Preußens bedeutende Stellung, „die ihm von der Vorsehung in Deutschland eingeräumt scheint", gefährden. Vgl. zur Praxis der Nobilitierung von bürgerlichen Rittergutsbesitzern bis zum Ende des Kaiserreiches: Schiller (wie Anm.

33).

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Struktur stark vom preußisch-deutschen Fall unterschieden habe. Deshalb sei der englische Adel eine „politische Institution", der deutsche beruhe auf der „Standesgesinnung". Die neue „Ministerial¡tat" des Beamtentums sei daher das preußische Äquivalent der englischen „politischen Aristokratie". Nicht das Aufkommen dieses Beamtenstandes, auch nicht der Briefadel, sondern der allgemeine Niedergang Deutschlands, die Stärkung der Landeshoheit und besonders die geistlichen Staaten hätten Pfründenwesen, Ahnenproben und den Standesabschluß gefördert.48 Der „Familienstandssinn" sei die stärkste Stütze des Adels, auch wenn das oft zu „reiner Ahnenzählung" geführt habe. Militärische Subordination und Disziplin seien spezifische Gaben Brandenburgs gewesen, die dem „eigentlichen Deutschland" gefehlt und seit der Zeit des Großen Kurfürsten auf den Adel ganz Deutschlands ausgestrahlt hätten. Die Aufhebung des Lehnswesens habe nicht deshalb so nachteilig gewirkt, weil dies den Adel aus dem Grundbesitz gedrängt hätte (was nicht erwiesen sei), sondern seine Familienbande gelockert habe. Trotzdem seien Ehrgeiz und Gehorsam als Teil der älteren Adelsehre auf den neuen Beamtenstand übergegangen, so daß der Adel schließlich nur noch in Verbindung mit dem landesherrlichen Dienst Geltung zu haben schien. Durch die Reformepoche, deren Ergebnisse Raumer verteidigte, und die nur scheinbar dem Adel geschadet habe, seien die Vorzüge des Adels auf breitere Kreise übergegangen, vornehmlich auf den Beamtenstand. Deshalb bleibe für das Überleben des Adels die Gutswirtschaft zweitrangig, ebenso Einrichtungen wie Patrimonialgerichtsbarkeit und Polizeigewalt, die nur noch dem Ansehen in der Bevölkerung dienten. Die Teilnahme an der Staatsregierung sei vielmehr entscheidend. Und mit Blick auf das zweite große Ziel Friedrich Wilhelms IV., der Bildung eines in eigener ständischer Repräsentation zusammengefaßten „hohen", d. h. durch Titel und Vermögen ausgezeichneten Adels fragte Raumer polemisch: „Wäre eine neue politische Aristokratie das, was Dienst- und Beamtenadel bisher dem Monarchen waren?" Raumer befürwortete eine ständische „Selbstkontrolle" des Adels durch „Matrikeln wie im Rheinland", verwarf aber eine weitergehende staatliche Aufsicht, wie sie ein Heroldsamt darstellen würde. Eine völlig unstandesgemäße Lebensweise sollte zwar zum

Raumer zitierte ausdrücklich den rheinischen und westfälischen Stiftsadel als negatives Beispiel, dem er „Engherzigkeit", „Beschränktheit", „Abgeschlossenheit", „Schlaffheit" bescheinigte und der in dem „was den wahren Adel ausmachen soll, gegen seine ärmeren Genossen zwischen Weichsel und Elbe sehr zurücksteht".

Adelsidentität nach der Ständegesellschaft

Verlust des Adels führen können, aber Räumer ab.

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Heiratsbeschränkungen

lehnte

Bethmann-Hollwegs Ausführungen über die Herkunft des Adels glichen auffällig Raumers historischen Einschätzungen zur Herkunft des niederen Adels aus dem Stand der Freien und seinem gewachsenen Verhältnis zum Staatsdienst. Die Schlüsse, die er daraus zog, können in ihrem Gegensatz zu Raumer nicht größer gedacht werden. Durch die Nobilitierung bürgerlicher Aufsteiger in den höheren Zivilstellen sei der Adel zur „Conventionellen Auszeichnung geworden", habe aber zugleich verletzend eine Unvereinbarkeit von „Bürgerlichkeit und

hohen Staatsämtern" demonstriert. Die weitere Zukunft des Adels könne in der zeitgenössischen Lage des Adels in Frankreich gesehen werden, der nur noch in den Erinnerungen und Namen lebe. Da diese Entwicklung, wenn man sie nicht retardieren wolle, was aber nur kon-

traproduktiv wirke, nur gelenkt werden könne, plädierte BethmannHollweg dafür, durch die Modifizierung des noch bestehenden Adels

diesen zu erhalten und neu zu beleben. Das wahre Fundament des Adels und der höheren Standesehre sei aber die Macht, die nach Bethmanns Definition aus einer Mischung von Privatrecht, Vermögen und öffentlichem Einfluß bestehe. Entscheidende Grundlage der Macht aber sei das Land, welches auch nach der Aufhebung aller gutsherrlichen Rechte eine natürliche Herrschaftsposition garantiere. Der Staatsdienst stehe dagegen in keiner Beziehung zum Stand und könne nur als

ergänzende Einkunftsquelle dienen, wie dies historisch vom Adel in den Ländern, wo er ständisch zurückgedrängt und relativ unvermögend

gewesen war, notabene in Preußen, auch genutzt worden sei. Durch die Reformgesetze sei aber der Staatsdienst allen Ständen gleichermaßen zugänglich geworden, und Bethmann warnt ausdrücklich davor, dies rückgängig machen zu wollen. Dies sei gegenüber dem Bürgertum ungerecht, aber vor allen Dingen auch unwirksam, denn der Adel könne sich unmöglich über den Staatsdienst regenerieren. Um den Beamtenstand in seiner Gesamtheit nicht zu entmutigen, sei deshalb auf Nobilitierung aufgrund von Verdienst zu verzichten (und Ausnahmen nur in Verbindung mit Dotationen vorzunehmen). Bethmann verurteilte den Bericht des Staatsministeriums und die vom König daraufhin konzessionierten Modifikationen. Allein durch Nobilitierung aus dem Stand der Rittergutsbesitzer muß das Ziel des erneuerten Adels erreicht werden, und durch Beschränkung der Teilbarkeit und Veräußerlichkeit der Grundbesitz geschützt werden. Von fideikommissarischen Stiftungen als Bedingung sei aber abzusehen, um Bürgerliche nicht von der Nobilitierung abzuschrecken. Bei Verlust des Gutes sei hingegen,

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allerdings nicht beim alten Adel, da historische Rechte nicht geschmä-

lert werden dürften, auch der Adel abzuerkennen. Die Landstandschaft der Besitzenden war nach Bethmann also politisch entscheidend. Keinesfalls, führte er aus, dürfte versucht werden, die Nichtbesitzenden „künstlich" zu halten. Eine Unterscheidung im Prädikat zwischen Besitzern und Nichtbesitzern sei deshalb geeignet, die gesellschaftliche Akzeptanz einer solchen Politik bei den Betroffenen zu erhöhen. Eine beschränkte Vererbung des Adels nach englischem Vorbild dagegen sei vielleicht wünschenswert, so Bethmann, aber in Übereinstimmung mit dem Bericht des Staatsministeriums hält er eine solche Maßnahme für nicht durchführbar. Savigny schließlich ging mit Rochow darin konform, daß Grundbesitz in der Familie vorhanden sein müßte, um der ganzen Familie den Adel zu erhalten. Allerdings hatte auch er eine Dientsadelskomponente in seinem Konzept, indem er als Bedingung der Nobilitierung eines bürgerlichen Rittergutsbesitzers dessen Stellung in einer höheren Ziviloder Militärstelle vorsah. Der Adel solle auch bei nobilitierten Beamten grundsätzlich in die erste Deszendenz vererbt werden, aber für eine weitere Vererbung müsse ein Rittergut erworben oder weiter vorhanden sein. Entscheidend bleibe daher, daß der Grundbesitz in der Familie erhalten wird, weshalb Savigny in seinen weiteren Ausführungen sich vor allem auf das Problem einer zweckgemäßen Einrichtung von Fideikommissen speziell für landtagsfähige Güter konzentrierte. III. So zeigt sich in allen diesen Stellungnahmen eine klare Differenz zwischen den altadligen Ministern bzw. Mitgliedern der Adelskommission, die, mit Ausnahme Wittgensteins, aber unter Einschluß des erst 1840 nobilitierten Bethmann-Hollweg, eine jede Adelsreorganisation auf Grundbesitz begründet sehen wollten, wogegen Mühler, besonders aber Raumer (dem Lancizolle in seinem Votum sehr nahekam) und schwächer der aus altem Adel stammende Kamptz eindeutig einem Dienstadelskonzept anhingen. In den weiteren Auseinandersetzungen der Adelskommission blieben diese unterschiedlichen Positionen erhalten, und es erwies sich als schwer, einen abgestimmten Bericht zu verfassen.49 Einigen konnte man sich zunächst nur auf Savignys Vorschlag, durch die Erleichterung und Förderung von Fideikommissen Debatte vom 28. Oktober 1841 im Hause Nr. 3787 Bl. 181 ff.

Stolbergs, vgl. GStAPK 1. HA Rep. 100,

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landtagsfähigen Gütern der vom König gewünschten „politischen Bedeutung" des Adels Vorschub zu leisten. Nur Streckfuß zeigte sich demgegenüber weiterhin kritisch, weil er gesamtwirtschaftliche Nachteile fürchtete. Streckfuß' Vorschlag einer titularen „Überbauung" des alten Adels durch Schaffung eines neuen Adelsstandes aus ansässigem Adel und bürgerlichen Rittergutsbesitzern mit eigenen Prädikaten wurde, wie die Idee des Königs, eine „Primogenitur" auf Titel einzuführen, mit dem Argument abgelehnt, daß dies den Adel „spalte". In der Ablehnung eines „englischen Modells" wie im Festhalten an der Idee des „Geschlechtsadels" war man sich einig. Doch in der grundsätzlichen Frage der anzuwendenden Kriterien für Nobilitierungen blieben die Meinungsunterschiede schroff bestehen, wie es auch von der Kommission klar ausgesprochen wurde. Während v. Lancizolle wie v. Raumer dem Dienst als Nobilitierungskriterium den Vorzug gaben, lehnten dies Hofmarschall v. Rochow, aber am entschiedensten v. Bethmann-Hollweg ab, während Stolberg zu vermitteln suchte, nämlich dahingehend, daß der Dienst als Fundament zukünftiger Nobilitierungen, vor allem bei höheren Militärstellen, nicht auszuschließen, aber doch der Nobilitierung bürgerlicher Rittergutsbesitzer der Vorzug zu geben sei. Raumer verschloß sich diesen Ansichten nicht, sondern modifizierte seinen Standpunkt dahingehend, daß abhängig von den Besitzverhältnissen die Art der Vererbung des Adels variieren könne, indem fideikommissarisch gebundener Grundbesitz die Vererbung in ganzer Deszendenz garantiere, während dem Nachkommen eines verdienten Beamten lediglich eine „Erbgarantie" auf den Titel bei Erlangung eines Rittergutes oder einer höheren Staatsstelle eingeräumt werde. Somit war weder im Staatsministerium, noch in der Adelskommission eine „Gleichgewichtigkeit" verschiedener „Kerneleauf

mente"50 festzustellen. Mit Ausnahme des Konsenses über die Ablehnung des Primogeniturprinzips für die Vererbbarkeit des Adelsprädikats und generell eines englischen Adelsmodells, zeigte sich bei der Frage der zu präferierenden Kriterien für zukünftige Nobilitierungen die härtesten und dauerhaftesten Brüche innerhalb der alt- und neuadligen Hof- und Staatsbeamtenschaft. Die Kontroverse läßt sich nicht so

sehr als eine Auseinandersetzung zwischen „Gesinnungs- oder Grundbesitzadelsmodell" charakterisieren, vielmehr als ein Konflikt um die entscheidenden Grundlagen der erwünschten (konservativen) „Gesinnung" selbst. Die „Angst vor dem Grundbesitzkriterium"51 bildete 50

Vgl.

die anderslautende

217. 51

Vgl. ebd., S. 219.

Schlußfolgerung bei Reif, Adelspolitik (wie Anm.17),

S.

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80

keineswegs die Brücke, die über die verschiedenen Argumente hinweg zu einem Konsens der Ablehnung der königlichen Pläne führte. Vielmehr zeigten sich zwei Fraktionen, die sich gerade in der unterschiedlichen Bedeutung und Rolle, die sie der „Gesinnung" zuspraeben

chen, klar voneinander differenzieren lassen. Dabei standen sich Ver-

alten und/oder grundbesitzenden Adels und des (nobilitierten) Beamtenadels keineswegs so eindeutig gegenüber. Hielten Erstere an der Überzeugung fest, daß nur materielle Grundlagen auf Dauer den Adel als Stand erhalten könnten und rein „symbolische" Faktoren wie soziale Privilegien, Ausbildung und sozialer Verkehr nicht ausreichen, plädierte die zweite Fraktion, daß es genau und in letzter Konsequenz eigentlich nur dieser symbolische Bereich sei, durch den sich der Adel seit alters her am eindeutigsten und zuverlässigsten selbst vergewissert und neu konstituiert habe. Besonders deutlich wird dies in Raumers Ausführungen. Sein Modell einer „Erbgarantie" des Titels bei erfolgreicher Karriere läßt am klarsten die letzte Konsequenz seiner radikalen Dienstadelsidee hervortreten: die Privilegierung einer Gruppe garantiert durch kein anderes Kriterium mehr als eben die Geburt selbst. Damit stellt sich die Frage nach dem Inhalt des von allen Fraktionen gebrauchten Begriffs der „Gesinnung". Legt man das Bourdieusche Konzept über das relativ autonome Verhältnis von materiellem und symbolischem Kapital auf diese Beobachtungen an, so könnte man konstatieren, daß die Vertreter des Dienstadelskonzepts diese relative Autonomie des symbolischen Kapitals bestätigen, ausbauen und voll Vertrauen in seine konstituierende Kraft als alleiniges Kriterium gesellschaftlichen Erfolgs durchsetzen wollten, während die andere Gruppe den letztendlichen Zusammenhang zwischen materiellem und symbolischen Kapital betonte.52 Für den „Beamtenadel", d. h. allen, die sich dem Dienstadelskonzept verpflichtet fühlten, hatte diese tendenzielle „Bereinigung" der „Adeligkeit" von allen materiellen Bezügen und das alleinige Kriterium der „Geburtsauslese" einen nicht zu unterschätzenden Vorteil. In seinem „Antimaterialismus" erschien dieses Konzept von „Adeligkeit" hervorragend geeignet zur Abwehr politischer Aspirationen von (bürgerlichem) Neureichtum ebenso, wie es sich gegen eventuelle Versuche altständischer Interessenpolitik einsetzen ließ. Damit war es dieser alt- und neuadligen Beamtenschaft möglich, sich in ihrer „Fortschrittlichkeit" gegenüber dem historischen Konkurrenten des gutsbesitzenden Adel weiterhin vergewissern zu können. Die Historiographie betont den „Bruch" zwischen Reformepotreter

des

Bourdieu, Soziologie (wie Anm. 8), S. 59.

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ehe und Vormärz im Selbstverständnis der preußischen Beamtenschaft, konstatiert eine Hinwendung zum „Konservatismus". Es kann vermutet werden, daß dies den Betroffenen anders erschien. Wie es in den verschiedenen Vota anklang, sahen sie sich in bester Übereinstimmung und Kontinuität mit den Zielen der Reformzeit während sie Friedrich Wilhelms IV. Neuadelskonzept von Gentry und Aristokratie mit ihrem eigenen „anti-materiellen" und vorgeblich „sozial offeneren" Dienstadelsmodell konfrontieren und kritisieren konnten.

Ewald Fríe

Friedrich August Ludwig von der Marwitz (1777-1837). Adelsbiographie vor entsicherter

Ständegesellschaft

Einleitung Auf vier vielfach ineinander verschlungenen Pfaden ist die Erinnerung an den preußischen General Friedrich August Ludwig von der Marwitz (1777-1837) durch die Zeit getragen worden: einem gutsherrschaftlich-familiären, einem politischen, einem literarischen und einem historiographischen. Der gutsherrschaftlich-familiäre begann bereits mit der Predigt des Pfarrers Kaumann am Grab und setzte sich dann in der mündlichen Dorftradition und der sich verschriftlichenden Adelstradition fort.1 Beide speisten sich aus den materiellen Überresten der Marwitzschen Gutsherrschaft (Kirche, Schloß, landwirtschaftliche Gebäude, Gedenksteine) und den schriftlichen Zeugnissen, die zunächst in der von Ludwig von der Marwitz errichteten Bibliothek aufbewahrt wurden. In ihrem Mittelpunkt steht der gestrenge Guts- und

Familienpatriarch. Der politische Tradierungspfad setzte an dem familiären an, als zu Beginn der Restaurationszeit nach 1848 die Kamarilla um Friedrich

G. Kaumann, Worte der Trauer, gesprochen am Sarge Sr. Exzellenz des Herrn Generallieutenants v. d. Marwitz am 10. Dezember 1837 in der Kirche zu Friedersdorf, Frankfurt/O. 1838; Pfarrchronik Friedersdorf im Pfarrarchiv Seelow.

Vgl.

Ewald Frie

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Wilhelm IV. eine stark gekürzte und gefälschte Autobiographie zum Druck brachte.2 Er ist auch der einzige Pfad, der bereits sein Ende gefunden hat, mit der Zeichnung eines radikalnationalistischen Antisemiten und Franzosenfeindes, der die nationalsozialistische Kriegführung anfeuern sollte.3 Seitdem taugt Marwitz als Identifikationsfigur für die Politik nicht mehr. Der literarische Überlieferungsweg4 ist wohl der wirkungsmächtigste gewesen und hat ein wesentlich freundlicheres Bild auf uns gebracht. Herausragend sind die Namen Theodor Fontane und Günter de Bruyn. Ersterer hat in der Friedersdorfer Bibliothek gesessen, und aus dem dort Gelesenen ein Kapitel der Wanderungen durch die Mark Brandenburg gemacht. „Erst von Marwitzs Zeiten ab existiert in Preußen ein politischer Meinungskampf'5, heißt es dort einleitend. Denn Marwitz sei der erste gewesen, der den Kampf gegen die Ideen der Französischen Revolution in Brandenburg aufgenommen habe. Was hier politisch zugespitzt wird, ist in den Romanfiguren Vitzewitz (,Vor dem Sturm') und Dubslav von Stechlin (,Der Stechlin'), die beide Züge des Friedersdorfer Gutsherrn erhielten, ins Lebensweltliche gewendet. Im Mittelpunkt dieser Darstellungen steht die dem UnterAus dem Nachlasse Friedrich August Ludwig's von der Marwitz auf Friedersdorf, Königlich Preußischen General-Lieutenants a. D., Bd. 1, Lebensbeschreibung, Berlin 1852. Zur Überlieferungsgeschichte vgl. Klaus Vetter, Über Friedrich August Ludwig von der Marwitz und den Umgang mit seinem schriftlichen Nachlaß, in: Friedrich Beck u. Klaus Neitmann (Hg.), Brandenburgische Landesgeschichte und Archivwissenschaft. Festschrift für Lieselott Enders zum 70. Geburtstag (Veröff. d. Brandenburgischen Landeshauptarchivs 34), Weimar 1997, S. 271-285. Vgl. u. a. Herbert Blank, Soldaten. Preußisches Führertum von Waterloo bis Ypern. Geschichte und Gestalt des Offiziers, Oldenburg 1932, S. 151-175; W. D. von der Schulenburg, F. A. L. von der Marwitz und sein Urenkel Bernhard von der Marwitz, masch., o. 0. 1938; Walther Kayser, Ein preußischer Patriot. aus Tagebüchern und Denkschriften Ludwigs von der Marwitz, München 1939; Rudolf Haesen, Kulturschöpferische deutsche Soldaten im Zeitalter der Befreiungskriege, Berlin 1940, S. 72-73. Vgl. Otto TSCHIRCH, Willibald Alexis als vaterländischer Dichter und Patriot, in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte 12 (1899), S. 509-550; Hans-Gerhard Wegner, Theodor Fontane und der Roman vom märkischen Junker, Leipzig 1938 [Reprint New York u. London 1970]; Günter de Bruyn, Mein Liebling Marwitz oder Die meisten Zitate sind falsch, in: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Theodor Fontane (Text und Kritik, Sonderband), München 1989, 11-29; DERS., Mein Brandenburg, Berlin 1997, S. 127-157. Theodor Fontane, Wanderungen durch die Mark Brandenburg, Bd. 1, Die Grafschaft Ruppin-Das Oderland, München 1991, S. 763.

Selbstzeugnisse

Adelsbiographie vor entsicherter Ständegesellschaft

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märkische Adelswelt. Vitzewitz und Stechlin mühen sich, zwischen Moderne und Tradition einen gangbaren Weg zu finden. De Bruyn hat diese Überlegungen weitergeführt. Die Geschichtswissenschaft geht bei ihrer Beschäftigung mit Marwitz bis heute von dem Teildruck der Erinnerungen aus, den Friedrich Meusel 1908/1913 besorgt hat.6 Dieser ist auf den Konflikt zentriert, den der erst 33jährige Marwitz mit dem fast doppelt so alten Fürsten Hardenberg 1810/11 geführt hat. Dementsprechend taucht Friedrich August Ludwig von der Marwitz in historischen Darstellungen als führender Vertreter der altkonservativen Opposition gegen Hardenberg auf, der sich „gegen eine zeitgemäße Politik" wandte, „für eine ungehemmte Adelsrestauration eintrat" und in einer Art Donquichotterie „das Rad der Geschichte zurückdrehen"7 wollte. Zwischen den vielen ungnädigen Adjektiven, die ihm zugedacht werden, befindet sich allenfalls Lob für seinen „kraftvollen Stil"8, der ihn in der Tat zu einem der beliebtesten Zitatenlieferanten für die Epoche der preußischen Reformen und für den preußischen Frühkonservatismus hat werden lassen. Diese auf den verschiedenen Überlieferungswegen hergestellten, sehr uneinheitlichen Werturteile weisen auf eine Biographie hin, die wegen ihres Facettenreichtums, aber auch wegen ihrer Brüche anschlußfähig für verschiedene Epochen, Kommunikationsräume und Funktionen war. Sie am Ende des 20. Jahrhunderts im Sinne einer Mikrostudie9 neu zu schreiben, erscheint mir aus mehreren Gründen sinnvoll: methodisch: Sie kann beitragen zu einem neuen Verständnis von (Adels-)Biographie, indem sie die adeligen Selbstbeschreibungen und Traditionen, die auf ein umfassendes vormodernes Lebensverhältnis hindeuten, ernst nimmt. Daraus folgt die Notwendigkeit, verschiedene gang

geweihte

Vgl. Friedrich

Meusel (Hg.), Friedrich August Ludwig von der Marwitz. Ein märkischer Edelmann im Zeitalter der Befreiungskriege, Bd. 1, Lebensbeschreibung, Berlin 1908; Bd. 2.1 u. 2.2, Tagebücher, Politische Schriften und Briefe. Berlin 1913. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2, Von der Reform-

ära bis

zur industriellen und politischen „Deutschen Doppelrevolution" 18151845/49, München 1987, S. 151, 159 u. 443. Wehler, Gesellschaftsgeschichte 2 (wie Anm. 7), S. 159. Vgl. Hans Medick, Weben und Überleben in Laichingen 1650-1900. Lokalge-

schichte als Allgemeine Geschichte (Veröff. d. Max-Planck-Instituts für Geschichte 126), Göttingen 1996, S. 13-37. Zum Zusammenhang zwischen Biographik und Mikrogeschichte vgl. Michel Vovelle, Biographie ou étude de cas. Le retour de la biographie, in: Jahrbuch für Geschichte 39 (1990), S. 81-99.

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bislang meist unverbundene Forschungsgebiete (Agrargeschichte, Militärgeschichte, Adelsgeschichte, Politische Geschichte der preußischen Reform- und Restaurationszeit) aufeinander zu beziehen und miteinander ins Gespräch zu bringen. politikgeschichtlich: Indem somit auf eine vorschnelle Konzentration auf Politik verzichtet wird, wird eine politikgeschichtlich fruchtbare Adelsbiographie neu möglich. Die Bedingungen der Entstehung einer neuartigen konservativen (Adels-) Politik in der Umbruchzeit der preußischen Reformen läßt sich erst dann aufzeigen, wenn das allmäh-

liche Autonomwerden des Politischen ernst genommen wird. chronologisch: Sie kann die Epoche 1790-1830 als eigenständiges Laboratorium vor der Moderne deutlich werden lassen, in dem bürgerliche „Öffentlichkeit" und ständischer Adel im Angesicht einer entsicherten ständischen Gesellschaft und ohne das Wissen um die zukünftige Klassenstruktur die Denkräume bergender Gesellschaftsmodelle neu abschritten. Dies zu zeigen ist der Zweck der folgenden Ausführungen. 1. Die Einheit der Epoche 1790-1830 Für die deutsche Geschichte lohnt es sich, eine zwischenrevolutionäre Epoche 1790-1830 anzunehmen, die weder mit dem Begriff der ständischen noch dem der bürgerlichen Gesellschaft angemessen gefaßt werden kann. Sie ist eine Übergangsepoche zwischen beidem und doch auch mehr als das. Sie ist ein Laboratorium. Es arbeitet unter dem Eindruck, daß sich „die Sinngrenzen des Möglichen"10 auch jenseits philosophischer Debatten dramatisch erweitert haben. In einem Ungewissen Augenblick, in dem die Vergangenheit als prägende Denkstruktur entsichert war, ohne daß ein dominantes Zukunftsmodell sich schon abzeichnete, wurden mögliche Lebensweisen diesseits oder jenseits überkommener Gesellschaftsstrukturen entworfen und zu realisieren versucht. Während dramatische Wandlungsprozesse, ja Brüche, die äußeren Verhältnisse der Staaten immer wieder neu strukturierten, wurden lebhafte Debatten über mögliche Utopien geführt, über einheNiklas Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 1, Frankfurt/M. 1993, S. 40. Luhmanns Begriff ist auf das ausgehende 16. Jahrhundert und die intellektuelle Entwicklung gemünzt. Doch bezogen auf handlungsprägendes Alltagswissen trifft er auch die Situation des ausgehenden 18. lahrhunderts noch.

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K7

gende Modelle für eine aus den Fugen der überkommenen societas civilis geratende Gesellschaft. An mehreren Gegenstandsbereichen ist dies bereits gezeigt worden: Lothar Gall hat mit seiner Frage, ob die frühbürgerliche Gesellschaft einen eigenständigen Typus darstelle, seit den 70er Jahren eine lebhafte Debatte über die Gesellschaftsentwürfe des Bürgertums vor dem Durchbruch zur Industrialisierung ausgelöst. Auf dem Erfahrungshintergrund „einer noch weitgehend traditional geprägten, jedenfalls vorindustriellen Gesellschaft"11 entstand das Leitbild einer klassenlosen Bürgergesellschaft mittlerer Existenzen, das erst durch die beginnende Industrialisierung und den Durchbruch gänzlich neuer sozialer Formationen zersetzt wurde. Ähnlich hat Rudolf Boch anhand der Industrialisierungsdebatte des rheinischen Wirtschaftsbürgertums, Begriffe Kosellecks übernehmend, gezeigt, wie erst in den 1830er Jahren „die Erfahrung als bestimmende Struktur des Denkens zunehmend von der Erwartung verdrängt" wurde. Ja, die 1830er Jahre markierten „eine 'Sattelzeit', in der tradierte ökonomische und gesellschaftliche Denkkategorien im rheinischen Wirtschaftsbürgertum rasch an Bedeutung verloren und neue, sich unserem heutigen Weltverständnis und Erfahrungshorizont annähernde, an ihre Stelle traten."12 Für den Konservatismus sind ähnliche Utopien des Übergangs feststellbar, die freilich bislang in ihrer eigenen Dignität kaum gewürdigt worden sind, sondern in der Regel als unvollkommene Übergangserscheinungen gewertet wurden.13 Mit der Französischen Revolution und vor allem ihrer Entgleisung verloren die Denkmodelle der Aufklärung unter den 'Intellektuellen' ...

an Faszination. „Eine prophetische, neospiritualistische Tendenz"14 wurde stärker. Intellektuelle suchten Antworten auf die Frage, wie der

Lothar Gall, Von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft (EDG 25), München 1993, S. 66. Rudolf BOCH, Grenzenloses Wachstum? Das rheinische Wirtschaftsbürgertum und seine Industrialisierungsdebatte 1814-1857 (Bürgertum. Beiträge zur europäischen Gesellschaftsgeschichte 3), Göttingen 1991, S. 285-286. Vgl. Robert M. Berdahl, The Politics of the Prussian Nobility. The Development of a Conservative Ideology 1770-1848, Princeton 1988; Axel Schildt, Konservatismus in Deutschland. Von den Anfängen im 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 1998, S. 42-62. Grundsätzlich hierzu auch Dietrich Gerhard, Regionalismus und ständisches Wesen als ein Grundthema europäischer Geschichte, in: HZ 174 (1952), S. 307-337. Christopher Charle, Vordenker der Moderne. Die Intellektuellen im 19. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1997, S. 62.

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Revolution und Gegenrevolution sich entwickelnde, als instabil betrachtete gesellschaftliche und politische Zustand neu abzusichern sei. Der Romantikforscher Ernst Behler hat anhand der Wandlungen des Denkmodells der „unendlichen Perfektibilität"15 des Menschen gezeigt, daß mit der Wende zur Romantik eine zunehmende Skepsis aus

gegenüber der optimistischen Aufklärungsidee einer möglichen Vervollkommnung des Menschen Platz griff. Die Idee wurde nicht aufgegeben. Sie verband sich aber nunmehr „mit einem Bewußtsein von Verlusten, mit Wehmut, Ironie, Bedauern, einem 'Dennoch'."16 Die Debatte um die Möglichkeit menschlicher Selbstvervollkommnung hatte eine durchaus lebenspraktische Seite. Kennzeichen der 'romantischen Generation' war die Entsicherung von Lebensläufen. Dies konnte mit dem neuen Typus des Schriftstellers zusammenhängen, der nur schwer eine auskömmliche Existenz fand, oder auch vom Ausbrechen aus der „Sicherheit einer vorgezeichneten und fremdbestimmten beruflichen Karriere" herrühren, das mit dem Ziel „der individuellen Vervollkommnung"17 geschah. Die Spannung zwischen dem auch je

individuell verstandenen Ziel menschlicher Perfektibilität und dem raschen Wandel der sozialen, kulturellen und politischen Verhältnisse, der die Möglichkeiten individueller Bewältigungsstrategien überstieg, reichte jedoch weit über die Gruppe der romantischen Intellektuellen hinaus. Anne-Charlott Trepp hat gezeigt, daß um 1800 führende Vertreter des Hamburger Bürgertums ihre Biographie vom Privatleben her zu organisieren versuchten. Berufsarbeit, politische Reformtätigkeit, individuelle Empfindsamkeit, Ehe- und Familienleben sollten ineinandergreifen und nicht einem ausdifferenzierten Lebensschwerpunkt untergeordnet sein. Trepp zeigt allerdings auch, daß, je weiter das 19. Jahrhundert voranschritt, diese ganzheitlichen Lebensentwürfe sich immer weniger verwirklichen ließen.18 Zu diesem Befund wiederum gibt es eine Entsprechung auf literarischer Ebene. Ende des 18. Jahrhunderts wurde die Autobiographie erstmals und nur für kurze Zeit ein Bestandteil der 'hohen' Litera-

-

Ernst Behler, Unendliche Perfektibilität. Europäische Romantik und Französische Revolution, Paderborn u. a. 1989. Behler, Perfektibilität (wie Anm. 15), S. 16. Rudolf Vierhaus, Heinrich von Kleist und die Krise des preußischen Staates um 1800, in: Kleist-Jahrbuch 1980, S. 9-33, hier 21. Vgl. Anne-Charlott Trepp, Sanfte Männlichkeit und selbständige Weiblichkeit. Frauen und Männer im Hamburger Bürgertum zwischen 1770 und 1840 (Veröff. d. Max-Planck-Instituts f. Geschichte 123), Göttingen 1996.

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Karl Philipp Moritz, Bräker, Laukhard, Goethe etc.). Einerseits war die Säkularisierung weit genug fortgeschritten, um die Konzentration auf das eigene Ich zu ermöglichen. Andererseits war die Entfremdung durch die Trennung der Lebens- und Arbeitsbereiche noch nicht so weit fortgeschritten, daß der literarische Anspruch, das Allgemeine im individuellen Leben einzufangen, hätte unrealisierbar erscheinen müssen.19 Insgesamt entsicherten die dramatischen sozialen und politischen Wandlungsprozesse zwischen den Revolutionen von 1789 und 1830 die standardisierten biographischen Verlaufsmuster des 18. Jahrhunderts. Damit verbunden war eine gesteigerte Empfindsamkeit der Individuen, eine Verstärkung der Subjektivität, die sich in der Bereitschaft äußerte, die eigene Biographie selbst in die Hand zu nehmen und vom 'privaten' Mittelpunkt her neu zu organisieren. Gleichzeitig waren die Jahre 1790 bis 1830 ein Laboratorium vor der Moderne, in dem liberale und konservative Zukunftsmodelle entstanden, die sich noch nicht aus ständischen Denkmodellen gelöst hatten. Beides hängt im Falle Marwitz und nicht nur dort20 miteinander zusammen und vollzieht sich vor dem Hintergrund eines grundlegenden Wandels der Gesellschaftsstrukturen. Werner Conze hat ihn mit den Negativbegriffen Dekorporierung, Disproportionierung und Entsittlichung zu fassen gesucht, um die Verwerfungen sichtbar zu machen, die der Strukturtur

(vgl.

-

-

Vgl.

Klaus-Detlef Müller, Die Autobiographie der Goethezeit. Historischer Sinn gattungsgeschichtliche Perspektiven, in: Günter Niggl (Hg.), Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung (Wege der Forschung 565), Darmstadt 1989, S. 459-481; außerdem Jaques VoisrNE, Vom religiösen Bekenntnis zur Autobiographie und zum intimen Tagebuch zwischen 1760

und

und 1820, in: ebd., S. 392-414. „Die Generation Boyen's", schrieb Friedrich Meinecke schon 1896,

„war durch die ihr gestellte Aufgabe, den friderizianischen Staat mit den neuen Gedanken der deutschen Geistesbildung zu erfüllen, zum Reflektieren und zum Systembilden geradezu aufgefordert. Die erschütternden Krisen, die er in voller Manneskraft erlebte, schmiedeten auch seine Gedanken so fest zusammen, daß sie in den nun folgenden stillen Jahrzehnten sich wohl noch im einzelnen ausbilden, aber eine neue Wendung nicht mehr nehmen konnten." Und weiter: „Für Boyen und vielleicht für dessen Generation überhaupt ist charakteristisch eine innigere Verknüpfung des persönlichen Empfindens und Denkens mit den Aufgaben des Berufs, bei Roon führen diese Sphären fast ein Eigenleben, eben weil das einigende Band der Reflexion fehlt." Friedrich Meinecke, Boyen und Roon. Zwei preußische Kriegsminister, in: HZ 77 (1896), S. 207-233, hier 220 u. 222.

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wandel mit sich brachte.21 Luhmann spricht vom Übergang von der stratifikatorischen zur funktional differenzierten Gesellschaft. Nicht mehr wies ständische Schichtung jedem sein Recht und seinen sozialen Raum zu. Vielmehr begannen die sich ausdifferenzierenden sozialen Systeme ihre eigenen Logiken zu entfalten und über ständische Einhegungen hinauszudrängen. „Zentral liegende Einzelfunktionen", so Luhmann, entwickelten sich zu stärkerer Eigenständigkeit und zwangen die Akteure, „der Funktion gegenüber den Regeln ihrer Gesellschaftsschicht den Vorzug zu geben."22 Die Epoche zwischen den Revolutionen von 1789 und 1830 bezeichnet für Preußen gerade den Augenblick, in dem sich auch jenseits philosophischer Debatten die Schwierigkeit abzeichnete, „die Rollensets, zu denen sich die Kommunikationsstandards der verschiedenen Handlungsfelder verdichten, in einer Biographie zur Individualität zu versammeln und sie miteinander in Einklang zu bringen."23 Diese Entwicklung betraf alle Stände, gefährdete aber naturgemäß vor allem den, der in der stratifikatorisch geschichteten Gesellschaft die Spitze gebildet hatte: den Adel.24 ...

2. Der

preußische Adel

was mit Adel gemeint ist, solange er kein Buch darüber schreiben muß."25 Dominic Lieven hat mit diesem Stoßseufzer ein Definitionsproblem angesprochen, das die Adelsforschung auf zwei unterschiedliche Lösungswege geführt hat. Sie hat entweder mit sozialwissenschaftlichen Begriffen wie ,soziale Ungleichheit' oder ,Elite' operiert, oder aber auf dem Weg der vorsichtigen Verbreiterung historiographischer Detailarbeit vor allem rechts- und mentalitätsgeschicht-

„Jeder weiß,

Werner Conze, Staat und Gesellschaft in der frührevolutionären Epoche Deutschlands, in: HZ 186 (1958), S. 1-34, hier 20-32. Luhmann, Gesellschaftsstruktur (wie Anm. 10), S. 81. Rudolf Schlögl, „Aufgeklärter Unglaube" oder „mentale Säkularisierung"? Die Frömmigkeit katholischer Stadtbürger in systemtheoretischer Hinsicht (ca. 17001840), in: Thomas Mergel u. Thomas Welskopp (Hg.), Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge zur Theoriedebatte, München 1997, S. 95-121,

Vgl.

hier 104. Vgl. Heinz Reif, Von der Stände- zur Klassengesellschaft, in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Scheidewege der deutschen Geschichte. Von der Reformation bis zur Wende 1517-1989, München 1995, S. 79-90. Dominic Lieven, Abschied von Macht und Würden. Der europäische Adel 18151914, Frankfurt/M. 1995, S. 9.

Adelsbiographie vor entsicherter Ständegeseilschaft

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liehe Befunde systematisiert. Für den hier vorzustellenden Versuch, mentalen Wandel in einer Umbruchzeit anhand einer Biographie zu untersuchen, erweist sich der zweite Weg als sinnvoller, weil er die Motive von Personen ernst nimmt und dennoch die Dynamik gesellschaftlichen Wandels insgesamt erfassen kann. Was also ist Adel? Folgen wir einem bemerkenswerten rechts- und

mentalitätsgeschichtlich fundierten Verlaufstypus von Gerhard Dilcher26, so steht der deutsche Adel im Mittelpunkt von vier verfaßten gesellschaftlichen Beziehungsräumen: 1. Er legitimiert sich durch geblütsmäßige Abkunft, durch die Geschichte seiner Familie. Dieses Prinzip ist „anarchisch in doppelter Richtung"27, indem es übergeordnete Herrschaft wie ständische Gleichstellung konterkarieren kann. 2. Er definiert sich als Herrschaftsstand. Die Verfügung über Land und Leute, über Bauern vor allem, sichert einerseits funktional argumentiert die Abkömmlichkeit des Adeligen für außerlandwirtschaftliche Tätigkeiten (Militär, Gericht, Verwaltung etc.), stellt aber andererseits einen Teil der spezi-

-

fischen Lebensform des Adels dar. 3. Er nimmt Teil an der fürstlichen bzw. monarchischen Regierung. 4. Er führt die Kirche und legitimiert sich durch sie. Zusammenfassend hat Dilcher die „verfassungsrechtliche Stellung des Adels als vormodernes, umfassendes Lebensverhältnis"28 bezeichnet. Noch war es möglich, die verschiedenen Beziehungsräume in einem Lebenslauf zusammenzubringen, ja, sie bedingten sich und stützten sich gegenseitig. Dieses umfassende Lebensverhältnis nahm jedoch in jedem Staat unterschiedliche Züge an. Im ostelbischen Preußen sind vor allem vier bedeutsame Verschiebungen hervorzuheben: Die Teilhabe an der fürstlichen bzw. monarchischen Regierung wurde in den Dienst für König und Staat umdefiniert. Verwaltungsund Militärdienst wurden zu Elementen der Selbstdefinition und zu Versorgungsposten des preußischen Adels Die Definition der Familienehre sollte eng an den Dienst für König und Staat herangeführt werden, um ihr die herrschaftsdestabilisierende Gerhard Dilcher, Der alteuropäische Adel ein verfassungsgeschichlicher Tyin: Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Europäischer Adel 1750-1950 (GG Sonderh. 13), Göttingen 1990, S. 57-86. Einen ähnlichen Weg verfolgt Otto Gerhard Oexle, Aspekte der Geschichte des Adels im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, in: ebd., S. 19-56. Dilcher, Adel (wie Anm. 26), S. 66. Dilcher, Adel (wie Anm. 26), S. 77.

pus?

-

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nehmen. Auch die potentiell oppositionellen ständischen Eigentraditionen sollten unterdrückt werden. Ausgelöscht wurden sie nicht, blieben vielmehr latent.29 Die Herrschaft des Adels über Land und Leute wurde gestärkt und die Führung der Kirche in das lokale Herrschaftsverhältnis eingeschmolzen (Patronatsrecht). Regional entwickelten sich erhebliche Unterschiede. Der Landadel Ost- und Westpreußens hielt sich unabhängiger von der Krone, war auch wirtschaftlich stärker nach außen orientiert. Die Mark Brandenburg hingegen war durch Berlin als Residenz und Absatzmarkt gleichermaßen auf den Weg „einer introvertierten Staatsprovinz"30 gewieRolle

zu

sen.

Diese regional unterschiedlich stark staatsabhängig umgebogene Adelstradition war in friderizianischer Zeit vollendet. Sie geriet jedoch seit dem späten 18. Jahrhundert unter den Druck der „Entgrenzung der ständischen Gesellschaft."31 Das Bevölkerungswachstum brach von unten her die standesgebundene Zuteilung von Lebenschancen auf, während das Anwachsen der bürgerlichen Schichten zunächst weniger bedeutsam war. Die durch das Pfandkreditsystem32 zusätzlich ange-

Vgl. Wolfgang Neugebauer, Politischer Wandel im Osten. Ost- und Westpreußen von den alten Ständen zum Konstitutionalismus (Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europas 36), Stuttgart 1992; Peter Baumgart, Zur Ge-

schichte der kurmärkischen Stände im 17. und 18. lahrhundert, in: Dietrich Gerhard (Hg.), Ständische Vertretungen in Europa im 17. und 18. lahrhundert (Veröff. d. Max-Planck-Instituts für Geschichte 27), 2. Aufl. Göttingen 1974, S. 131-161. Wolfgang Neugebauer, Brandenburg im absolutistischen Staat. Das 17. und 18. Jahrhundert, in: Ingo Materna und Wolfgang Ribbe (Hg.), Brandenburgische Geschichte, Berlin 1995, S. 291-394, hier 394. Das Zitat bei Wolfgang Hardtwig, Vormärz. Der monarchische Staat und das Bürgertum, 3. Aufl. München 1993, S. 67. Zur Entwicklung insgesamt vgl. HansUlrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1, Vom Feudalismus des Alten Reiches bis zur Defensiven Modernisierung der Reformära 1700-1815, München 1987, S. 83-90 u. 409-428; Berdahl, Politics (wie Anm. 13), S. 14106; Neugebauer, Wandel (wie Anm. 29); Hanna Schissler, Preußische Agrargesellschaft im Wandel. Wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Transformationsprozesse von 1763-1847, Göttingen 1978. Friedrich von Cölln hat in seinen „Vertrauten Briefen" von den ,,Opiate[n]" gesprochen, die das Pfandkreditsystem dem preußischen Adel zuführte, und die ihn gegen den drohenden Untergang um so empfindungsloser machten. Vgl. [Friedrich von Cölln], Vertraute Briefe über die innern Verhältnisse am Preußischen Hofe seit dem Tode Friedrichs II., Zweyter Band, Amsterdam Cölln 1807, S. 148-149. -

Adelsbiographie vor entsicherter Ständcgesellschaft

93

heizte Agrarkonjunktur machte den Boden zur Handels- und Spekulationsware und delegitimierte damit die Herrschaft über Land und Leute. Die ständisch eingehegten Sozialbeziehungen erwiesen sich für diejenigen Großgrundbesitzer als Fessel, die zum Agrarkapitalismus drängten. Den sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Entwicklungen entsprachen geistesgeschichtliche. Vor allem in der Spätaufklärung wurde vehement nach der Legitimation einer geburtsständischen Elite gefragt. Mehr und mehr verbreitete sich die Forderung, den Adel in die bürgerliche Gesellschaft einzuschmelzen.33 Die über ständische Schranken hinwegdrängenden, auf funktionale Logiken hinweisenden Entwicklungen erhielten eine starken Schub durch die preußische Niederlage von 1806/07. Die beschämenden Festungs- und Truppenkapitulationen schienen die Reputation des adligen Offizierkorps irreparabel zu beschädigen. Von den vier verfaßten gesellschaftlichen Beziehungsräumen, in deren Mittelpunkt der Adel sich nach Dilcher bewegte, waren damit zumindest zwei gefährdet: die Teilhabe an der Herrschaft bzw. in Preußen der Dienst für König und Staat sowie die im ostelbischen Preußen besonders stark ausgebaute Herrschaft über Land und Leute. Die Reformgruppe um Staatskanzler Hardenberg34 setzte an diesen Stellen an und verstärkte sie noch. Ländliche Abhängigkeits- sollten in Eigentumsverhältnisse umdefiniert, ständische Berufsschranken eingerissen, bürokratische und militärische Laufbahnen für Bürgerliche geöffnet und das Leistungsprinzip durchgesetzt werden. Dies sollte eine Dynamik freisetzen, die allein den existenziell gefährdeten Staat schien retten zu können. Diese Dynamik zerstörte aber auch die Lebensgrundlagen des Adels. Wer die legislativen Einhegungen der stratifikatorischen Gesellschaftsdifferenzierung aufriß, die Dynamik des Wirtschaftssystems freizusetzen suchte, die Teilhabe an Führungspositionen von ständischen Definitionskriterien löste, das umfassende lokale Herrschaftsverhältnis aufbrach, der entband die Dynamik der funktionalen Differenzierung und zerstörte damit das vormoderne umfassende Lebensverhältnis, in dem der Adel im

Vgl. Dieter Langewiesche, Bürgerliche Adelskritik zwischen Aufklärung und Reichsgründung in Enzyklopädien und Lexika, in: Elisabeth Fehrenbach (Hg.),

Adel und Bürgertum in Deutschland 1770-1848 (Schriften des Historischen Kollegs 31 ), München 1994, S. 11 -28. Hierzu herausragend Barbara Vogel, Allgemeine Gewerbefreiheit. Die Reformpolitik des preußischen Staatskanzlers Hardenberg (1810-1820), Göttingen 1983, S. 19-132; John R. Gillis, Aristokratie und Bürokratie im Preußen des 19. Jahrhunderts, in: Barbara Vogel (Hg.), Preußische Reformen 1807-1820, Königstein/Ts. 1980, S. 188-206.

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Mittelpunkt von vier verfaßten Beziehungsräumen stehen und sie gleichzeitig bedienen konnte. Für den preußischen Adel verschärfte sich damit die oben angesprochene Problematik eines vom Zentrum des 'privaten' Familienlebens her zu organisierenden umfassenden Lebensentwurfes, der mit neuen Zukunftsmodellen einzuhegen war. Nicht nur lag dieser im Zuge der zwischenrevolutionären Epoche, des empfindsamen Zeitalters. Vielmehr entsicherten die wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen seit dem späten 18. Jahrhundert und die politischen Einschnitte seit Jena und Auerstedt das bislang eher reflexionsenthobene ganzheitliche Lebensmodell, das das adelige Selbstverständnis grundierte. Adelige Selbstinterpretation mußte die verschiedenen Lebensbereiche neu miteinander verzahnen und dabei deren sich verschärfende Eigenlogiken in Betracht ziehen. Wie sollte ein neues Selbstverständnis jenseits überkommener Lebensmodelle aussehen?

3. Friedrich August Ludwig von der Marwitz (1777-1837) Diese Frage war das Leitthema der biographischen Arbeit, die Friedrich August Ludwig von der Marwitz zeit seines Lebens an sich selbst vornahm. Biographische Arbeit, das meint die schriftliche Fixierung von Reflexionen über das eigene Leben. Immer wieder neu vergewisserte sich Marwitz der Sinnhaftigkeit seines Handelns. Autobiographische Aufzeichnungen, militärische, agrarische und politische Schriften, Briefe usw. zeugen davon. Stets wird in ihnen die eigene Lebenserfahrung aktualisiert. Vor allem aber werden Familientraditionen sowie überkommene ständische und Adelstraditionen35 mit der Gegenwart abgeglichen. Dies hing mit einer spezifischen Geschlechts- und Generationserfahrung Marwitz' zusammen. Wie Kleist, Boyen und andere war Marwitz in der preußischen Ständegesellschaft vor dem Einschnitt

Konzept vgl. Erika M. Hoerning, Erfahrungen als biographische ResPeter Alheit u. Erika M. Hoerning (Hg.), Biographisches Wissen. Beiträge zu einer Theorie lebensgeschichtlicher Erfahrung, Frankfurt/M. New York 1989, S. 148-163. Marwitz' Orientierung an eigener Lebensgeschichte zeigt sich an immer wiederkehrenden Lebensrückblicken. Seine familiengeschichtliZu dem

sourcen, in:

-

chen Interessen sind eindrucksvoll in den Gedenksteinen und selbstentworfenen Predigten für seine Vorfahren und früh verstorbenen Geschwister erkennbar. Das ständische und adelsbezogene Orientierungsinteresse zeigt sich an den Lektürespuren in seinem Briefwechsel sowie in der Begründung verschiedener politischer Aktivitäten.

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von 1806 sozialisiert. Zusätzlich war seine Familie fest im vorrevolutionären königsnahen Adel Preußens verwurzelt. Marwitz' Vater war

Hofmarschall Friedrich Wilhelms II., seine Schwester Hofdame der Königin. Enge familiäre Beziehungen bestanden zum Erzieher des Kronprinzen und späteren Königs Friedrich Wilhelm III., Carl Adolph Reichsgraf von Brühl. Dessen Tochter Fanny heiratete Marwitz 1803. 1809 ging er eine zweite Ehe mit Charlotte Gräfin Moltke ein, einer Hofdame der Königin Luise. Die Königin übernahm auch die Patenschaft für das erste aus dieser Verbindung stammende Kind. Die familiären ständischen Dispositionen wurden durch den Karriereeinstieg des Jugendlichen verstärkt. Vierzehnjährig trat Marwitz in das Elitekavallerieregiment Gensd'armes ein. Nach dem Tod des Vaters und im Zusammenhang mit seiner ersten Eheschließung quittierte Marwitz 1802 den Militärdienst, eine in der nachfriderizianischen Zeit nicht ganz ungewöhnliche Entscheidung.36 Sie deutet aber doch darauf hin, daß Marwitz nun aus den vorgestanzten Institutionalisierungen heraustreten wollte. „Der Soldatenstand in Friedenszeiten", meinte er 1805 im Rückblick, sei „das lebende Bild der Langeweile"37 Marwitz versuchte daher, vom Zentrum einer Familiengründung sowie eines patriarchalisch zu regierenden und nach modernen agrarökonomischen Grundsätzen zu bewirtschaftenden Rittergutes aus, sein Leben neu zu organisieren. Seine Lebensführung auf dem Landgut, einem sozialen Raum, dem er seine Insignien noch einschreiben konnte, sollte zum Ausdruck seiner Selbstbeschreibungen und Selbstverortungen werden. Hierauf deuten die ersten Entscheidungen des jungen Gutsherrn hin. Sie waren nicht nur auf die Bewirtschaftung des Gutes, sondern auch auf Dorfschule, Kirche und die Abhängigkeitsverhältnisse der Bauern zu ihrem Gutsherrn bezogen. Doch bald schon machten nacheinander familiäre Unglücksfalle, die militärische Niederlage Preußens, die wirtschaftlichen Folgen der französischen Besatzung, die Hardenbergschen Reformen und die Befreiungskriege die Durchführung dieses Planes unmöglich. Marwitz sah sich gezwungen, sein Gut immer wieder zu verlassen, um militärisch oder politisch tätig zu sein. Und weder im Militär (Militärreformen, taktische Veränderungen etc.), noch in der Politik (Hardenbergsche Reformen) noch auf dem Agrarsektor (Agrarreformen, Wirtschaftskrise) ließen sich die Wandlungsprozesse mit den Vgl. Vierhaus, Kleist (wie Anm. 17), S. 17. Dezember 1805, F. A. L Landeshauptarchiv Potsdam Friedersdorf 504, Fol. 4-6.

v.

11. d. Marwitz an Carl

v.

(BLHA Potsdam), Pr.

Brühl; Brandenburgisches Br.

Rep.

37 Marwitz-

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überkommenen Traditionsbeständen allein bewältigen. Neben den einschneidenden Ereignissen waren es eben auch die sich verschärfenden Eigenlogiken der einzelnen sozialen Systeme (Bürokratisierung der Politik, Professionalisierung des Militärs, Kapitalisierung der Landwirtschaft), die den Lebensplan der Vorreformzeit ad absurdum führten. Welchen Stellenwert konnten Lebenserfahrung, Familien-, ständische und Adelstraditionen da noch haben? Marwitz war skeptisch. „Es kann nicht genug gesagt werden", schrieb er Ende 1821 an seinen Schwager, den späteren Minister Gustav von Rochow, „daß der Zustand seit zweihundert Jahren so beschaffen und so voller Widersprüche war, daß die Revolution, die wir erlebt haben, sich nothwendig daraus entwickeln mußte."38 Rochow, der sich in der Umgebung der Kronprinzenkommission mit der Bildung der Provinzialstände befaßte, mochte das nicht recht glauben. Er setzte auf Restauration. Marwitz hoffte ebenfalls auf die Macht der Politik, doch mochte er nicht mehr bei Vergangenheitsorientierung allein verbleiben. Vielmehr trifft auf ihn Karl Mannheims Bemerkung zu: „Das konservative Erleben rettet sich gleichsam dadurch, daß es immer mehr auf die Ebene der Reflexivität und der methodischen Beherrschbarkeit jene Einstellungen zur Welt erhebt, die für das originäre Erleben sonst verlorengegangen wären."39 Folglich schrieb er seinem Schwager: „Es möchte wohl das beste Mittel seyn, das ganze jetzige Gaukelspiel fahren zu lassen, aus den seit 200 Jahren zusammenstürzenden Trümmern einen wahren Adel zu gründen, und ihn durch gute organische Gesetze zu sichern."40 Dieser neue Adel sollte zwar auf der bis zur friderizianischen Zeit staatsabhängig umgebogenen preußischen Adelstradition beruhen, jedoch zeitgemäß umdefiniert und dann rechtlich neu fundiert werden. Der Adel sei, erklärte er Rochow, „die Gesamtheit derjenigen Grundbesitzer, welche in einem Verhältnis zum Staate steht, jene Rechte genießt, und jene Pflichten übt. Nun frage ich: Wo ist jene Gesamtheit? Wo ihr Verhältniß zum Staate? Wo genießt sie Rechte? Wo übt sie Pflichten? Ich sehe nichts als ein DurcheinanderGaukeln gehaltloser Schatten. Statt der Gesamtheit sehe ich IsoliJ°

21. November 1821, F. A. L v. d. Marwitz an Gustav von Rochow, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem (GStAPK), Rep. 92 v. Rochow A III 9.

39

Karl Mannheim, Konservatismus. Ein Beitrag zur Soziologie des Wissens, hg. v. David Kettler u. a., Frankfurt/M. 1984, S. 126. 20. März 1821, F. A. L v. d. Marwitz an Gustav von Rochow, GStAPK, Rep. 92 v. Rochow A III 9, Fol. 45^46.

40

Adelsbiographie vor entsicherter Ständegesellschaft

97

rung. Statt eines geordneten Verhältnisses die bunteste Vermischung adelichen und nicht-adelichen Grundbesitzern, und von wirklichen und erschaffenen Edelleuten ohne Grundbesitz, jeden nach verschiedenen Richtungen auseinander strebend. Statt der Rechte sehe ich nur theils gegründete, theils ungegründete, allenthalben bestrittene Ansprüche; statt der Pflichten nur ein Streben nach möglichem Gewinn für jeden Einzelnen. Bevor diese einzelnen Edelleute ein Adel genannt werden können, müssen sie erst in eine Gesamtheit vereinigt, in ein rechtlich anerkanntes, mithin geachtetes Verhältniß zum Staate gevon

stellt, und demnach die jetzige Verwirrung erst vollständig gelöst wer-

den."41

Diese Beschreibung des Adels ein auf Grundbesitz fußender, kollektiv privilegierter Staatsstand entsprang dem für Marwitz typischen Denken in radikalen Gegensatzpaaren. Sie führte zu mehreren Adelsreformplänen, die wegen der staatsabhängigen Adelsdefinition immer zugleich Verfassungspläne waren. Sie spannten die Elemente Grundbesitz, Staatsdienst und staatlich garantierte Privilegien jeweils zeitgemäß zusammen. 1812 konzipierte Marwitz vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit Frankreich einen grundbesitzenden, politisch privilegierten Kriegeradel.42 Er sollte zwar prinzipiell erblich, jedoch von steter Bewährung im Krieg abhängig sein. „Feigheit zieht den Verlust des Adels und der Besitzungen, letzteres zugleich für ihre Kinder, nach sich." Knapp zehn Jahre später, als die preußischen Reformen ausliefen und die Machtverteilung zu Beginn der Restaurationsepoche und im Zusammenhang mit der Kronprinzenkommission neu gestellt wurde, grundierte die Abgrenzung von Bürgertum und Bürokratie die Reformpläne. Es komme „darauf an, das gemeinsame Interesse aller Landbewohner zu concentriren, ihm ein Organ zu verschaffen, und es so dem Interesse der Städter und dem Geschrei der GeldOligarchen gegenüber zu stellen. Alles übrige kann zu nichts helfen."43 Um diesem Gedanken Breitenwirksamkeit zu sichern, war Marwitz sogar bereit, sich mit dem alten Napoleon-Bewunderer Buchholtz zu verbünden, der in neueren Schriften ebenfalls den Gegensatz zwischen Land und Stadt zur Grundlage seiner Verfassungsprojekte gemacht -

-

...

20. März 1821, F. A. L v. d. Marwitz an Gustav von Rochow, GStAPK, Rep. 92 v. Rochow A III 9, Fol. 45-46. Die Rechte und Pflichten hatte Marwitz zuvor kurz erläutert, daher „jene". Vgl. Meusel, Marwitz 2.2, S. 156-159. Das folgende Zitat S. 158. 8. November 1821, Marwitz an Gustav von Rochow, GStAPK, Rep. 92 Rochow A III 9, Fol. 70-72.

Ewald Frie

98

hafte.44 Die Verbindung kam nicht zustande, weil Rochow lieber auf seine guten Verbindungen zur Hofgesellschaft setzte, als mit aus seiner Sicht-zweifelhaften Publizisten zusammenzuarbeiten. -

Daß Marwitz die Auseinandersetzung mit dem Bürgertum erst nach 1815 als Leitlinie ins Auge faßte, hängt einerseits mit der sich verändernden außenpolitischen Situation zusammen. Es ist andererseits Fol-

spezifisch preußischen Sozialstruktur. Die bürgerliche Trägerschicht der dem Staat entgegentretenden „Öffentlichkeit" war insgesamt klein und wurde meist über den Staatsdienst zusammengefügt. Politische Teilhabeforderungen waren vor 1806 selten. Öffentliche Debatten konzentrierten sich auf kulturelle und Lebensstilfragen. Erst allmählich wurde das Politische „autonom und zum ersten Agglomerationskern der Schichtungen."45 Hierzu trug die Nationalisierung der „Öffentlichkeit" während der Jahre 1806-1815 entscheidend bei. Danach schoben sich die nationale, die konstitutionelle und die soziale Frage ineinander.46 Antworten wurden aber nach wie vor vom Staat aus gesucht. Auf dieses Problemsyndrom antworteten die Marwitzschen Pläne. Es ging Marwitz um die Neuschaffung eines ständisch inspirierten Staats- und Gesellschaftsmodells. Politik sollte die 'zusammenstürzenden Trümmer' der ständischen Gesellschaft neu zusammenfügen. Marwitz, Symbolfigur des preußischen Adelskonservatismus des frühen 19. Jahrhunderts, betrieb Politik am Beginn der Autonomisierung des Politischen und als Versuch, die Folgen funktionaler Differenzierung einzufangen und ständisch geprägte Adelstraditionen zu retten. ge der

Vgl. 21. November 1821, F. A. L v. d. Marwitz an Gustav von Rochow, GStAPK, Rep. 92 Rochow A III 9, Fol. 78-81, sowie der Artikel von Buchholz in der Neuen Monatsschrift für Deutschland 6 (1821) H. 9, „Über Land und Stadt in bürgerlicher und politischer Beziehung". Mannheim, Konservatismus (wie Anm. 39), S. 108. Zur Berliner Gesellschaft vgl. Florian Maurice, Freimaurerei um 1800. Ignatz Aurelius Feßler und die Reform der Großloge Royal York in Berlin, Tübingen 1997; Helga Schultz, Berlin 1650-1800. Sozialgeschichte einer Residenz, Berlin 1987; Ilja Mieck, Von der Reformzeit zur Restauration (1806-1847), in: Wolfgang Ribbe (Hg.), Geschichte Berlins Bd. I, Von der Frühgeschichte bis zur Industrialisierung, 2. Aufl. Berlin 1988, S. 405^462; Generaldirektion der Stiftung Preußischer Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg (Hg.), Friedrich Wilhelm II. und die Künste. Preußens Weg zum Klassizismus, Berlin 1997. Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Verfassungsprobleme und Verfassungsbewegung des 19. Jahrhunderts, in: Ders., Staat, Recht, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frankfurt/M. 1991, S. 244-262.

99

Adelsbiographie vor entsicherter Ständegesellschaft

Politik sollte sich zum Gegenstück der 'privaten', vom Gut her kommenden Lebensführung entwickeln. Zwischen beidem, zwischen lokaler Lebensführung und preußischer Politik, und durch beides trachtete Marwitz die lebensplanzerlegenden Ereignisse und Entwicklungen der Jahre 1800-1830 einzufangen. Deshalb engagierte er sich ein zweites nach der bekannten Auseinandersetzung mit Hardenberg Mal 1810/11 in der Politik. 1827 wurde er Mitglied des Staatsrates. Im gleichen Jahr berief ihn der König zum Marschall des brandenburgischen Provinziallandtages, dessen Mitglied er seit dessen erstem Zusammentritt 1824 gewesen war. Geglückt ist auch dieses zweite politische Unternehmen nicht. Bereits Mitte der 1820er Jahre hatten auswärtige Beobachter bemerkt, wie wenig wirksam die neuen Provinzparlamente waren.47 Anfang der 1830er Jahre trat Marwitz nach und nach von seinen öffentlichen Ämtern zurück, enttäuscht auch über den geringen Rückhalt, den er unter seinen Standeskollegen gefunden hatte.48 Mitte der 30er Jahre hielt er dann die Ziele seines Lebens insgesamt für nicht erreicht und nicht mehr erreichbar. „Mein ganzes Leben hindurch, bei so mann ich faltigen Unternehmungen, an denen ich die ganze Kraft meines Geistes und Körpers, auch meiner Gesundheit gesezt habe, habe ich niemals den Zweck erreicht, den ich mir vorgesezt hatte", schrieb er 1833 an seine älteste Tochter Fanny. „Es ist mancherlei Gutes, für das Allgemeine und für viele einzelne, daraus hervorgegangen, also allerdings Nutzen, aber niemals der, den ich mir vorgesezt hatte, sondern immer eine anderer, oft unerwarteter. Ich habe nichts behalten als das Bewußtseyn, recht gehandelt zu haben."49 In dieser Situation setzte Marwitz zu einem letzten, monströsen biographischen Projekt an. Er begann eine umfassende Autobiographie50 zu verfassen, Versuch der Sinngebung, der Selbstrechtfertigung -

-

-

23. Dezember 1824, Bericht des Berliner Gesandten nach Dresden, Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, HStA 3451 Conv. IV (1824), Fol. 121; 28. Dezember 1824, General v. L'Estocq an Fürst von Anhalt-Dessau, Landesarchiv Oranienbaum, Abt. Dessau D 2 b 27 Karton II, Fol. 361-362. Vgl. 25. Januar 1832, v. Schütz an F. A. L v. d. Marwitz, BLHA Potsdam, Pr. Br. Rep. 37 Marwitz-Friedersdorf 597, Fol. 140; sowie umfangreicher Schriftwechsel aus dem Jahr 1833 in BLHA Potsdam, Pr. Br. Rep. 37 Marwitz-Friedersdorf 599. 3. Juni 1833, F. A. L v. d. Marwitz an Fanny v. Arnstedt, BLHA Potsdam, Pr. Br. Rep. 37 Marwitz-Friedersdorf 506, Fol. 243-244. Zu Marwitz außer den anfangs genannten Titeln Gerhard Ramlow, Ludwig von der Marwitz und die Anfange konservativer Politik und Staatsanschauung in Preußen, Berlin 1930 [Nachdr. Vaduz 1965]; Klaus Vetter, Kurmärkischer Adel und preußische Reformen (Veröff. d. Staatsarchivs Potsdam 13), Weimar 1979

Vgl.

100

Ewald Frie

und gleichzeitig der Verpflichtung der Nachkommen auf die eigenen leitenden Maximen.51 Bis zu seinem Tode gelangte er nur bis in das Jahr 1808. Doch auch dieser Torso umfaßte in einer 1908 gedruckten Version noch mehr als 500 Druckseiten. Marwitz bescheinigte sich einen stets konsequent antimodernen, radikalpreußischen Lebenslauf. Veränderungen und Brüche deckte er weitgehend zu. Das machte den Text attraktiv für verschiedenste Selbstverortungen. Die eingangs erwähnten Überlieferungspfade, der gutsherrschaftlich-familiäre, der politische, der literarische und der historiographische setzten jeweils an diesem Text an. Deshalb wurde er immer wieder neu aufgelegt: in den 1850er Jahren, um die Jahrhundertwende und in den 1920er und 1930er Jahren. Die bekannteste Fassung, von Friedrich Meusel 1908 und 1913 veröffentlicht, ergänzte den Text um zahlreiche, sorgfältig ausgewählte Dokumente. Sie stärken die Marwitzsche Selbstinterpretation in der Regel, orchestrieren sie gleichsam. Damit aber verstellen diese Publikationen den Blick auf Marwitz eher als daß sie ihn öffnen.

4. Methodische

Konsequenzen für eine Marwitz-Biographie

Aufgabe einer modernen Biographie muß es daher sein, die sinnverbürgenden Stilisierungen der orchestrierten Autobiographie an ihre historischen Entstehungszeiten zurückzuverweisen52 und durch sie sowie mehrere Aufsätze von Vetter; Bernhard Gölz, Altständischer Konservativismus und preußische Reformen. Ludwig von der Marwitz, in: PVS 25 (1984), S. 359-377; Madelaine von Buttlar, Die politischen Vorstellungen des F. A. L. v. d. Marwitz. Ein Beitrag zur Genesis und Gestalt konservativen Denkens in Preußen, Frankfurt/M. u. a. 1980. „Biographien sind Selbstbeschreibungen von Individuen im Kreuzungsbereich gelebter Lebensgeschichte und gelebter Gesellschaftsgeschichte", schreibt Wolfram Fischer-Rosenthal. „Ihr Generator sind Kontinuitätsunterbrechungen, Krisen im Leben des Einzelnen und in der Geschichte der Gesellschaft. Die erzählte oder niedergeschriebene 'ganze' Lebensgeschichte oder Teile von ihr verdanken sich sowohl diesem tatsächlich gelebten Leben wie auch der miterlebten Gesellschaftsgeschichte und unterscheiden sich genau an diesem Punkt von der Fiktion belletristischer Texte." Wolfram Fischer-Rosenthal, Schweigen Rechtfertigen Umschreiben. Biographische Arbeit im Umgang mit deutschen Vergangenheiten, in: Ders. u. Peter Alheit (Hg.), Biographien in Deutschland. Soziologische Rekonstruktionen gelebter Gesellschaftsgeschichte, Opladen 1995, S. 43-86, hier 44. Vgl. Lutz Niethammer, Kommentar zu Pierre Bourdieu: Die biographische Illusion, in: BIOS 3 (1990), S. 91-93. -

-

Adelsbiographie vor entsicherter Ständegesellschaft

101

hindurch mittels neuen Quellenstudiums auf einen vielfach gebrochenen Lebenslauf zu stoßen. Die Marwitzsche Biographie erhält ihre Bedeutung durch die politisch und gesellschaftsstrukturell bedingte Zerlegung eines Lebensentwurfes und durch die steten, aber insgesamt vergeblichen Bemühungen, den vormodernen ganzheitlichen Lebensentwurf situationsadäquat neu zu definieren. Es geht um ein subjektiv erlebtes Scheitern. Kann dieses Leben als eine einheitliche, in sich stimmige, der Chronologie folgende Geschichte erzählt werden?53 Es empfiehlt sich wohl eher, den Rhythmen und Logiken der einzelnen Systeme, den kommunikativen Akten Marwitz' in ihnen und den Wechselwirkungen zwischen ihnen nachzugehen. Auf diese Weise läßt sich die biographische Konstruktion von Wirklichkeit, die Handeln generiert, ebenso einfangen wie die gesellschaftliche Strukturierung von Biographien, die sich oftmals hinter dem Rücken der Handelnden abspielt. Doch in der systematischen Zerlegung eines insgesamt gescheiterten Lebenslaufes liegt mehr als nur methodologisches Interesse. Die Brechung soll auch Mißtrauen erzeugen gegen die von Sozialhistorikern geschriebenen tragischen Erfolgsgeschichten des preußischen Adels (erfolgreich für den Adel, tragisch für Deutschland, vgl. Wehler). Nach ihren Thesen ist die Umwandlung eines Standes in eine Rittergutsbesitzerklasse im Ganzen gelungen. Diese Thesen scheinen mir der Konzentration auf Leitbegriffe wie „Elite" und „Strategie" geschuldet.54 Diese sozialhistorischen Sonden sind aber zu unsensibel gegenüber den mentalen Veränderungen, die sich auf der Rückseite des gesellschaftsstrukturellen Umbruchs abspielen. Die vormodernen

Hiergegen argumentiert Pierre Bourdieu, Die biographische Illusion,

in: BIOS 3 S. 75-81. (1990), Kurz, aber einflußreich: Rudolf Braun, Konzeptionelle Bemerkungen zum Obenbleiben: Adel im 19. Jahrhundert, in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Europäischer Adel 1750-1950 (GG Sonderh. 13), Göttingen 1990, S. 87-95. Vgl. außerdem die herausragende Studie von Heinz Reif, Westfälischer Adel 1770-1860. Vom Herrschaftsstand zur regionalen Elite, Göttingen 1979. Reif hat in neueren Publikationen nachzuweisen versucht, daß es dem preußischen Adel gelungen sei, durch flexible Anpassung seiner überkommenen Selbstdefinitionen an die Erfordernisse des 19. Jahrhunderts in demselben zu überleben und sogar in der Klassengesellschaft noch lange führende Positionen zu bekleiden. Wie aber haben sich die überkommenen adeligen Selbstbeschreibungen dabei verändert? Ist der Adel des ausgehenden 19. Jahrhunderts noch mit den Begriffen beschreibbar, die Dilcher für die Vormoderne entwickelt hat? Zu dem gesamten Fragenkomplex jetzt auch Anja Victorine Hartmann, Kontinuitäten oder revolutionärer Bruch? Eliten im Übergang vom Ancien Régime zur Moderne. Eine Standortbestimmung, in: ZHF25(1998),S. 389-420.

Ewald Frie

102

Selbstbeschreibungen des Adels müssen nicht nur als Handlungsoptionen, sondern auch als Selbstdefinitionselemente und mentalitätsprägende Faktoren ernst genommen werden. Nur dann lassen sich die Brüche und Verluste beschreiben, die

auf der Nachtseite des erfolgreichen Anpassungsprozesses liegen, dennoch aber notwendig zu ihm gehören. War der preußische Adel nach der (Selbst-)Zurichtung auf das 19. Jahrhundert noch der preußische Adel? zwar

Frank Möller

Zwischen Adelstradition und Liberalismus. Die Familie von Gagern

Heinrich von Gagern, Präsident der Frankfurter Nationalversammlung, seit Dezember 1848 Ministerpräsident der provisorischen Zentralgewalt, war 1848/49 auch auf außergewöhnliche Weise das Idol und der Heros der bürgerlich-liberalen Öffentlichkeit. In seiner Person bündelten sich die politischen Hoffnungen und Erwartungen des Bürgertums. Einen besonderen Ausdruck fand die Hingabe seiner Anhänger in dem ihm verliehenen ehrenden Beinamen „der Edle". Wie in der ausführlichen Personenbeschreibung seines Parteigenossen Rudolf Haym deutlich wird, sollten damit nicht die Fähigkeiten sondern Charakter und Tugend Gagerns gewürdigt werden. „So entspringen aus der gleichen Quelle die beneidetsten Tugenden des öffentlichen wie des Privatlebens, umgeben ihn dort mit dem Glänze der Hoheit, hier mit dem Scheine unnachahmlicher Liebenswürdigkeit. Im öffentlichen Leben großmüthig und edel, dabei stets muthig und kampflustig, begierig, Unrecht abzuwehren, dem Rechte zum Siege zu verhelfen; im häuslichen Leben herzlich, heiter, voll kindlicher Gutmüthigkeit."1 Es ist auffallend, daß bei der Zuschreibung von Tugenden keiner der Lobredner Gagerns auf den anderen, ursprünglichen Bedeutungsgehalt des Wortes „edel" verweist.2 Sogar wenn Haym den „Adel seines Wesens" betont, oder eine Flugschrift hervorhebt, daß eine Rede Gagerns „an Würde, Adel, Wahrheit Alles übertraf, was man bisher in

Vgl.

Rudolf Haym, Die deutsche

Nationalversammlung, 3 Bde., Berlin 1848Das Lob von Gagerns Tugenden in der mit immer den gleichen Stereotypen ist unüberschaubar.

1850, Bd. 2, S. 181-191, hier S. 186.

Publizistik von 1848/49 Auf weitere Belege wird hier verzichtet. So unterscheidet das Grimmsche Wörterbuch, Bd. 3, 1862, S. 26, drei Bedeutungen: 1. „edelgeboren", 2. „trennen wir von bloszen Vorzügen des standes die des inneren menschen", 3. „günstiges Beiwort", etwa edle Speise. -

Frank Möller

104

gehört hat"3, spielt die Zugehörigkeit Gagerns zum Geburtsadel keine Rolle. Daß die Reichsritterschaft, der Heinrich von Gagern entstammt, seit 1654 die Titulatur „Edel und Wohlgeboren" führte, ist offensichtlich überhaupt nicht mehr bewußt.4 Selbst konservative oder radikale Gegner Gagerns, die die Benennung „der Edle" ironisch gewendet benutzen, bezweifeln eher die Tugenden Gagerns als auf seine adlige Herkunft zu verweisen.5 Die Unterscheidung von „Edelmann" und „edler Mann", also die Unabhängigkeit von Tugend und Adel,6 ¡st offensichtlich 1848 schon so selbstverständlich, daß sie der Paulskirche

nicht einmal mehr reflektiert wird. Trotzdem bleibt es bemerkenswert: Wenn die bürgerlich-liberale Bewegung in der Person Heinrich von Gagerns einen Adligen als tugendsam ehrt, versöhnt sie nicht nur Adel und Tugend, sondern in gewisser Weise auch Aristokratie und Bürgertum.

Nach dem Verhältnis von adligem und bürgerlichem Selbstverständnis in der Familie von Gagern zu fragen, verspricht in dreifacher Hinsicht Erkenntnisgewinn: Erstens beleuchtet eine Analyse des adligen Familienhintergrundes einen wichtigen Aspekt der Biographie Heinrich von Gagerns. Seine Person und damit seine Politik kann nur vor dem Hintergrund seines adligen Daseins und seiner davon geprägten Vorstellungswelt verstanden werden.7 Zweitens zeigt sich die Familie von Gagern als Beispiel für eine adlige Reaktion auf den krisenhaften Legitimations- und Machtverlust des Adels seit dem 18. Jahrhundert. Konkret wird eine Variante des deutschen Adelsliberalismus sichtbar, der nicht nur auf den grundbesitzenden Adel begrenzt werden sollte.8 Schließlich kann drittens die Betrachtung des -

-

„Herunter mit der Maske!", Sonderdruck aus „Rheinische Volkshalle" Köln 1848 (in Bundesarchiv Frankfurt, FN 7 V/35). Rudolf Endres, Adel in der Frühen Neuzeit, München 1993, S. 72. Einige Ausnahmen finden sich auf der Linken; vgl. etwa Carl Vogt, der den Liberalen unter ihrem „ritterlichen Führer" eine Neigung zum Duell unterstellt; Steno-

graphischer Bericht über die Verhandlungen der Deutschen Constituirenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main, Frankfurt am Main 1849, ND München 1988, Bd. 8, S. 5823. Vgl. Christian Meier u. Werner Conze, Art. „Adel, Aristokratie", in: Otto Brunner, Werner Conze u. Reinhart Kosseleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, Stuttgart 1972, S. 1-48, hier S. 30. Der Verf. arbeitet an einer Biographie Heinrich von Gagerns. Grundlegend Christof Dipper, Adelsliberalismus in Deutschland, in: Dieter Langewiesche (Hg.), Liberalismus im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen

Zwischen Adelstradition und Liberalismus

105

Status eines der Führer der bürgerlich-liberalen Bewegung auch Aufschluß darüber geben, wie innerhalb des liberalen Bürgertums Adel gesehen und Adlige akzeptiert wurden. Im folgenden werden erstens das Herkommen und die ökonomischen Grundlagen der Familie Gagern skizziert, zweitens die Adelsprogrammatik des Vaters Hans Christoph von Gagern, sowie drittens des Bruders Friedrich von Gagern beschrieben, um erst viertens Heinrich von Gagerns besondere Stellung zwischen Adel und Bürgertum darzulegen.

adligen

1. Die

Grundlagen der Familie von Gagern

Die Familie, dem Individuum übergeordnet, definiert den Adligen. Die familiäre Herkunft und das Vorbild der Vorfahren waren auch für die Gagerns der Kern ihrer adligen Legitimation. Die aus pommerschrügenschem Uradel stammende Familie wurde in ihrer sogenannten Moyselbritzer Linie seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts am Rhein seßhaft.9 Claudius Moritz von Gagern, Ur-Urgroßvater von Heinrich von Gagern, erwarb durch Heirat mit der Erbtochter des Rittergeschlechts von Steinkallenfels die reichsunmittelbare ritterschaftliche Herrschaft Morschheim sowie das ebenfalls reichsunmittelbare Gut Laumersheim. Dadurch wurde er 1731 in den Kanton Oberrhein im rheinischen Ritterkreis aufgenommen, wo er bald das Amt eines Ritterrates übernahm. Damit zusammenhängend führte die Familie nun auch den Reichsfreiherrentitel. Wenn die Familie auch mehrfach die Güter wechselte 1780 wurde als letztes reichsunmittelbares Gut Monsheim bei Worms erworben blieb sie dabei doch stets Mitglied des Ritterkantons Oberrhein. Sowohl der Großvater als auch der Vater, HansChristoph von Gagern, waren selbst noch Räte der Reichsritterschaft.10 Schon 1801 erfolgte allerdings im Frieden von Luneville die Mediatisierung des ober- und niederrheinischen Kantons durch Frankreich. Die Zugehörigkeit zum reichsunmittelbaren Adel war für die Familie von prägender Bedeutung. Man war, wie es Hans Christoph von -

-

Vergleich, Göttingen 1988, S. 172-192; Dipper beschränkt seine Untersuchung allerdings auf adlige Gutsbesitzer. Vgl. Ludwig von Pastor, Leben des Freiherrn Max von Gagern 1810-1889. Ein Beitrag zur politischen und kirchlichen Geschichte des neunzehnten lahrhunderts, Kempten/München 1912, S. 448-451; Stammbaum bei Paul WENTZCKE u. Wolfgang Klötzer (Hg.), Deutscher Liberalismus im Vormärz. Heinrich von Gagern. Briefe und Reden 1815-1848, Göttingen/Berlin/Frankfurt 1959, S. 456 f. Heinrich von Gagern, Das Leben des Generals Friedrich von Gagern, 3 Bde., Leipzig/Heidelberg 1856, Bd. 1, S. 39.

Frank Möller

106

Gagern formulierte, Mitglied »jenes Adels, der keinem Lande angehörte, aber allen."11 Dieses Gefühl der Zugehörigkeit zum Reich, der alleinigen Verantwortung gegenüber dem Kaiser und der Unabhängig-

den Landesfürsten bedeutete ein erhöhtes Bewußtsein der eigenen Selbständigkeit und Freiheit. Es blieb bis ins 19. Jahrhundert für das adlige Selbstverständnis der Familie prägend. Zwar war der Gutsbesitz für die Zugehörigkeit zur Reichsritterschaft ausschlaggebend, doch bildete der agrarische Besitz nicht die ökonomische Grundlage der Familie. Wie bei vielen anderen Ritterfamilien sicherte der Dienst für fremde Herren die Existenz.12 Nach der schweren Verwundung als Kapitän in französischen Diensten war der Großvater Obersthofmeister in Pfalz-Zweibrücken; Hans Christoph von Gagern wurde schon 1790 mit 24 Jahren Präsident des fürstlichen Kabinetts von Nassau-Weilburg, schließlich leitender Minister im neuen Herzogtum Nassau. Auch die nächste Generation blieb in Staatsdiensten. Von den Brüdern Heinrich von Gagerns trat der Älteste, Friedrich, als Offizier in niederländische Dienste, wo er es bis zum General brachte, Karl wurde bayerischer Offizier, Moritz nassauischer Kammerherr und Geheimer Rat und Max nassauischer Gesandter und nach der Jahrhundertmitte schließlich österreichischer Hof- und Ministerialrat. Heinrich von Gagern selbst trat als Regierungsassessor in die Dienste des Großherzogtums Hessen, wo er es bis zum Regierungsrat brachte. Auch er sollte noch nach der Revolution von 1848 als hessischer Gesandter in Wien tätig werden. Ökonomische Grundlage der Familie war also die Zugehörigkeit zur bürokratischen Verwaltungselite. Für das adlige Selbstverständnis hatte dies nun in doppelter Hinsicht Folgen. Zum einen spielte Gutsbesitz bei den Gagerns eine eher geringere Rolle. Da sie über keine grundherrschaftlichen Rechte oder gar Patrimonialgerichtsbarkeit verfügten, nötigte sie ein Festhalten an feudal-ständischen Sonderrechten auch nicht zu einer beharrenden Politik. Hier zeigt sich ein großer Unterschied zu den Standesherren, die auf Grund ihrer Feudalrechte zumeist im konservativen Lager standen, oder, soweit sie liberal waren, zumindest in ökonomischen Dingen vom Eigeninteresse gebremst keit

von

-

1

2

-

Hans Christoph von Gagern, Nationalgeschichte der Deutschen. Bd. ! : Von der uralten Zeit bis zu dem Gotenreich unter Hermanrich, Wien 1813, S. 2. Vgl. Bernd WUNDER, Adel und Verwaltung. Das Beispiel Süddeutschland (18061914), in: Kurt Adamy u. Kristina Hübner (Hg.), Adel und Staatsverwaltung in Brandenburg im 19. und 20. Jahrhundert. Ein historischer Vergleich, Berlin 1996, S. 241-266.

Zwischen Adelstradition und Liberalismus

107

wurden. Andererseits schuf die ehemalige Reichsunmittelbarkeit für die Gagerns ein besonderes Spannungsverhältnis. Im Unterschied zu vielen in der Bürokratie tätigen landsässigen Adligen suchten sie sich, trotz ihrer Beschäftigung in staatlichen Diensten, einer weitgehenden bürokratischen Disziplinierung zu entziehen. Vor diesem Hintergrund adlige Mitglieder der bürokratischen Verwaltungselite, aber ehemals reichsunmittelbar müssen die Vorstellungen der Gagerns vom Adel verstanden werden.13

-

-

2. Das Adelsverständnis Hans

Christoph von Gagerns

Betrachten wir zuerst das adlige Selbstverständnis des Vaters, Hans Christoph von Gagern.14 Erst 1852 im Alter von 86 Jahren gestorben, hatte er prägenden Einfluß auf seine Söhne. Am deutlichsten hat er seine Anschauungen zum Adel im zweiten Band seiner „Resultate der Sittengeschichte" unter dem Titel „Die Fürnehmen, oder Aristocratie" im Jahre 1812 niedergelegt. Es ist eine ausführliche, an historischen Beispielen argumentierende Auseinandersetzung mit der Adelskrise der Umbruchszeit 1800. Seine Antwort daraufbleibt dabei im Rahmen der zeitgenössischen Adelsreformdebatte.15 Der Adel wird als politische Elite mit den Argumenten Montesquieus verteidigt. Gesellschaftliche Ungleichheit erklärt Hans Christoph von Gagern für unabänderlich. „Die Natur hat Gleichheit nicht gestiftet. Sie hat weder Stärke, noch Vernunft, noch Fähigkeit gleich ausgetheilt. Sie wollte die Übung der menschlichen Kräfte, und es ist ihr Gesetz, daß der Schwächere dem Stärkeren weiche, und daß der Klügere den Andern leite."16 Daß man diese „Verschiedenheit der Anlagen im Menschen" bezweifelt hat, „daß man die Veredlung der Gattung, das Bes-

Grundlegend

Christof Dipper, Die Reichsritterschaft in napoleonischer Zeit, in: Eberhard Weis (Hg.), Reformen im rheinbündischen Deutschland, München 1984, S. 53-74. Die These der „kalkulierte^] Pseudomodernität" erscheint als Ergebnis modernisierungstheoretischen Denkens für die Familie Gagern un-

passend.

Zur Person Hellmuth Rössler, Zwischen Revolution und Reaktion. Ein Lebensbild des Reichsfreiherrn Hans Christoph von Gagern 1766-1852, Göttingen/Berlin/Frankfurt 1958. Vgl. Heinz Reif, Adelserneuerung und Adelsreform in Deutschland 1815-1874, in: Elisabeth Fehrenbach (Hg.), Adel und Bürgertum in Deutschland 1770-1848, München 1994, S. 203-230. Hans Christoph von Gagern, Resultate der Sittengeschichte, Bd. 2, Stuttgart/Tübingen 1812, S. 2.

Frank Möller

108

oder hindern wollte", hält Gagern für eine der großen Torheiten der Gegenwart.17 Denn die Ungleichheit selbst sei eine der Antriebskräfte der Menschheit. Sie zwinge den Menschen schließlich, sich zum Staat zusammenschließen, um das „Ungestüm und die Insolenz des Stärkeren zu bändigen"18. Aristokratie, also die „Oberhand des Fähigeren und Besseren", wird daher immer existieren. „Die ausgezeichneten Menschen werden immer die Tendenz haben, diese Vorzüge zu erreichen, geltend zu machen, zu vertheidigen, zu erweitern, auf Söhne und Brüder fortzupflanzen, und die übrigen die Tendenz, sie einzuräumen, und wieder zu beneiden."19 Dieses Argument, welches auch in der „Restauration der Staatswissenschaften" des gleichaltrigen Karl Ludwig von Haller auftaucht20, dient nun vor allem dazu, die Unterschiede zwischen den Ungleichheiten innerhalb der feudal-ständischen von denen innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft zu verwischen.21 Denn das adlige Privileg der Geburt wird bei Hans Christoph von Gagern nur knapp begrünserseyn, das Besserwerden

läugnen

det.22

In Variation der Drei-Stände-Lehre leitet Gagern aus der von Natur gegebenen Ungleichheit drei Arten der Aristokratie ab: „Aristocratie der Weisheit, Aristocratie der Tapferkeit, und Aristocratie des

Reichthums"23. Die Erblichkeit erscheint dabei als „eine bloße Eigen-

schaft, eine Fortsetzung", mit der die beiden ersten Formen in die dritte übergehen. Besitz ¡st also eine der Grundlagen des Adels. Wichtiger jedoch als die Vererbung des Reichtums ist das Vorbild der Vorfahren: „Das Bewußtseyn eines edlen Ursprungs, das Bild freier und tapfrer Vorväter nährt hohe und heilsame Empfindungen."24 Die Aristokratie wird als Tugendadel konzipiert, die ihre ethischen Qualifikationen durch die Ausrichtung an der eigenen Tradition entwickelt. Der Adel habe aus der Vergangenheit gleichsam „eine Essenz abgezogen", die

17 18 19 20 21

Ebd., S. 162. Ebd., S. 3. Ebd., S. 4.

Vgl.

etwa

23 24

Ludwig

v.

Haller, Restauration der Staatswissenschaft, Bd. 3,

Wie etwa gegen Haller bei Carl Theodor Welcker, Art. „Adel", in: Carl v. RotDers., Das Staatsiexikon, 2. Aufl. Bd. 1, Altana 1845, S. 249-252, kritisiert wird. Dabei mag eine Rolle spielen, daß Hans Christoph v. Gagern durch seine Mutter nicht zum „alten" Adel gehörte. Gagern, Resultate der Sittengeschichte (wie Anm. 16), S. 51. Ebd., S. 159. teck u.

22

Karl

Winterthurl820, S. 255 f.

Zwischen Adelstradition und Liberalismus

109

Gagern als die „Ehre" bezeichnet. Sie ist „das stete Trachten nach Veredlung und Bildung"25. Auf die drei skizzierten Grundlagen Besitz, Bildung, Tugend stützt sich die politische Funktion des Adels. Er wird unter Berufung auf Montesquieu und ähnlich wie beim Freiherrn vom Stein26 als -

-

-

-

vermittelnder Stand zwischen Herrscher und Volk verstanden. Dabei scheint Hans Christoph von Gagern diese Fähigkeit besonders dem nicht verarmten27 niederen Adel zuzusprechen.28 Mittlerer Besitz sorge für ein erhaltendes Interesse am Staat und sichere gleichzeitig die Selbständigkeit als Voraussetzung der Tugend.29 Diese und die Bildung befähigen den Adel zum Dienst am Staat. Durch seine Mittlerposition kann der Adel damit sowohl revolutionäre Demokratie wie autokratische Monarchie verhindern. Prägend ist für diese Vorstellung Hans Christoph von Gagerns offensichtlich die eigene Erfahrung. Die Französische Revolution und die bürokratischen Reformen der Napoleonischen Zeit sind für Gagern die abschreckenden Beispiele unbeschränkter Herrschaft von demokratischer bzw. bürokratisch-monarchischer Herrschaft. Ein Adel, der auf Grund eigener Selbständigkeit und Stärke eine vermittelnde Position einnehmen kann, sichert daher die Freiheit der Gesellschaft vom Staat. Der Adel soll also nicht Stütze des Throns oder Vertreter des Volkes sein, sondern selbständige Macht im Staat. Das historische Beispiel aristokratischer Herrschaft in Griechenland, Karthago, Rom, Venedig und Bern belegt nach der Meinung Gagerns diese Vorzüge des Adels: „Weder die tollen Einfalle blödsinniger oder verwilderter Fürsten, noch die blutigen Stürme der Démocratie sind dort einheimisch. Vererbung oder Irrthum in der Wahl mögen wohl verdrehte, hitzige, leere Köpfe in die Senate bringen. Aber alle Regeln der Wahrscheinlichkeit sind dafür, daß die Majorität klüger, einsichtsvoller und kaltblütiger seyn werde. Die Erziehung ist

-

-

25 26

Ebd., S. 163. „Reichtum vereinigt das eigene Wohl des Grundbesitzers mit dem allgemeinen,

und durch die Erinnerung der Taten der Voreltern verbindet sich der Ruhm der Nation mit der Familienehre." Zit. n. Meier u. Conze, Art. „Adel" (wie Anm. 6), S. 33. 2' „Arme Edelleute sind ihrer Natur nach der Ruhe der Staaten gefährlich, weil sie besser erzogen, des Wohllebens gewöhnt, mit Waffen vertraut, und der Arbeit unlustig, zum Aufruhr und zur Glücksjagd neigen."; Gagern. Resultate der Sittengeschichte (wie Anm. 16), S. 148. 28 Ebd., S. 146 f. 29 Ebd., S. 12.

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auf den Zweck gerichtet. Sie saugen gleichsam schon mit der Muttermilch die Maximen ein. Die Bilder der Vorfahren, die Sagen von ihrem großen Thun entflammen die jungen Männer. Die Palme der Ehre, des Beifalls, des Ruhms wird ihnen ohne große Hindernisse immerdar vorgehalten. Der Wohlstand des Volkes ist der eigne und der Enkel Vortheil. Die Weisheit der Alten, der Rückblick auf Jahrhunderte, und selbst begangene anerkannte Fehler haben ein solideres System zu Stande gebracht, nach dem nur unverrückt gehandelt werden darf."30 Die Freiheit der Gesellschaft, die der Adel schützen soll, wird bei Gagern auf eine ständisch gegliederte Gesellschaft bezogen. Denn die ungegliederte Untertanengesellschaft gilt als Signum des Despotismus moderner Staatlichkeit. „Unsere Staatsverwaltungen haben jetzt unförmliche Massen zu regieren, die sie weder als solche, noch in ihren Teilen und Individuen kennen. Sie erreichen sie nur, und sehr unvollständig, durch Spion und Polizei."31 Der Weg zur bürgerlichen Gesellschaft wird daher von Gagern nur halbherzig gegangen. Daß man dem wirtschaftenden Bürgertum aus Handwerkern und Fabrikanten „bürgerliche Ehre" gegeben habe und es zur Nation zähle, gilt als wichtiger Schritt zur „Veredlung der Gattung". Doch damit endet die Öffnung nach unten. „Möchten sie dafür stets dankbar seyn, und andere Stände, ohne die sie selbst nicht seyn können, auf der höheren Stufe ungestört lassen! Möchte ihnen stets die Überzeugung gegenwärtig bleiben, daß politische Bemühungen mit ihrem Tagewerk unverträglich sind."32 Das Problem der Adligen bleibt also letztlich, „wie sie mit Klugheit, Festigkeit und Plan die gehörige Distanz halten und wieder, wie sie die Fähigen aufnehmen wollen."33 Doch die Vorschläge Gagerns, wie die freiheitssichernde Stärke des Adels erreicht werden kann, sind insgesamt eher defensiv. Denn es bleibt nur der Appell: einerseits an den Adel, seine nationale und europäische Pflicht zu erfüllen, andererseits an den Staat, sich doch auf die Vorzüge ständischer Gesellschaft und Freiheit zu besinnen. Es kann daher nicht wundern, daß die Laufbahn Gagerns im Ergebnis von Resignation geprägt ist. Gegenüber der energischen Reformpolitik durch Marschall von Bieberstein in Nassau konnte er sich nicht durchsetzen und legte 1811 sein Amt nieder. Im Bundestag, wo er als Gesandter der Niederlande saß, war seine in doppelter Hinsicht ständische Politik, die sowohl die Souveränität der Ein-

30 3' 32 33

Ebd., S. 124. Vgl. ebd., S. 46-49, hier S. 47 f. Ebd., S. 61. Ebd., S. 128.

Zwischen Adelstradition und Liberalismus

dem Bund zurückgenommen, als auch das Ver14 Artikel verwirklicht sehen wollte, zum Scheitern versprechen des urteilt, so daß er sich 1818 aufsein Gut zurückzog. Die Vorstellungen Hans Christoph von Gagerns vom Adel entsprechen denen der zahlreichen adligen Frondeure jener Zeit, die sich gegen den modernen Anstaltsstaat wandten und dabei auch auf liberale Forderungen zurückgriffen. Vergleichbares findet sich auch bei der altwürttembergischen Ehrbarkeit in den Verfassungskämpfen zwischen 1815 und 1819, beim Widerstand brandenburgischer Adliger gegen Hardenberg oder eben beim Freiherr vom Stein, mit dem Gagern auch persönlich befreundet war. Gefordert wird hier eine idealisierte Ständegesellschaft, in der der Adel aus eigener Stärke den Ausgleich zwischen Staat und Gesellschaft sichert und die daher von dem bürokratischen Neoabsolutismus der napoleonischen Zeit befreit ist.34 „In der Harmonie der Stände, ohne welche Staaten convulsivisch untergehn, bietet er [der Adel] auf beiden Seiten die Hände. Das ist sein natürlichster und edelster Beruf."35 Man wird diese Position nicht im eigentlichen Sinne als liberal bezeichnen können. Wichtig ist jedoch, daß sie im Falle Hans Christoph von Gagerns von seinen Söhnen in eine liberale Richtung weiter entwickelt werden konnte. zelstaaten

gegenüber

3. Das Adelsverständnis Friedrich

von

Gagerns

Der älteste Bruder Heinrich von Gagerns, Friedrich, niederländischer Offizier und 1848 im badischen Aufstand gefallen, verdient trotz seiner geringeren öffentlichen Bedeutung bei einer Analyse des adligen Selbstverständnisses der Familie von Gagern besondere Beachtung: Zum einen war Friedrich von Gagern in gewisser Weise der Theoretiker der Familie, der in zahlreichen, damals jedoch nicht veröffentlichten Schriften seine politischen und gesellschaftlichen Vorstellungen skizzierte. Für die Beurteilung des Adels ist besonders eine 1837 verfaßte Schrift „Von dem Unterschied der Stände und dem aristokratischen Element" hervorzuheben.36 Dort kann man nachvollziehen, wie die Ideen des Vaters in der nächsten Generation der Gagerns aufgegriffen und wie sie variiert und verändert wurden. Zum zweiten

Adel und Konstitutionalismus. Stationen eines Konflikts, in: Elisabeth Fehrenbach (Hg.), Adel und Bürgertum (wie Anm. 15), S. 69-81. Gagern, Resultate der Sittengeschichte (wie Anm. 16), S. 146. Abgedr. bei Gagern, Leben (wie Anm. 10), Bd. 3, S. 75-104.

Hartwig Brandt,

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hatte Friedrich von Gagern einen nicht zu unterschätzenden Einfluß auf das politische Handeln seiner Brüder. Wie der Vater sieht auch Friedrich von Gagern in der „Aristokratie eine Thatsache"37. Moderne Vorstellungen, die von einer zunehmenden Gleichheit in der Gesellschaft ausgingen, seien ein Irrtum. Ausführlicher begründet er jedoch die Bedeutung des Geburtsprivileg für eine politische Elite. „Es liegt in der Abstammung von berühmten Aeltern gewiß ein mächtiger Sporn, sich ihrer nicht unwürdig zu zeigen."38 Der Adlige als geborener Befehlshaber sei insgesamt überlegener und wohlwollender, der erst spät in solche Position gerückte, sei kleinlicher, „seine Herrschaft sei eifersüchtiger und härter"39. Schließlich bringt Friedrich von Gagern noch ein neues Argument, welches zwar eigentlich das Leistungsprinzip der modernen Gesellschaft akzeptiert, die damit verbundene erhöhte Mobilität jedoch begrenzen will. „Vor allem aber hat erbliche Aristokratie eine natürliche Stütze in dem Gefühl der Billigkeit, welches uns sagt, daß es härter ist zu sinken als nicht zu steigen." Daher erscheint es legitim, daß bei gleicher Fähigkeit der Adlige bevorzugt wird.40 Wie beim Vater wird der Adel als Leistungs- und Tugendelite begriffen. „Unbekümmert um Fürsten- oder Volksgunst, aber begeistert für das Wohl und den Ruhm seiner Nation, ist er [der Adlige] ein Wächter der Gesetze, ein Vertheidiger der Freiheit und des Rechts, ein Beschützer der Unterdrückten."41 Als Leistungselite soll der Adel daher neue Verdienstträger aufnehmen und unwürdige ausstoßen.42 Orientiert sich der Adel an diesem Ideal ist ihm eine herausgehobene Position sicher. Wenn die Aristokratie „berühmte Namen unbefleckt erhält, wenn großes Vermögen in ihren Händen bleibt, wenn sie sich durch Bildung und nützliche Thätigkeit auszeichnet und gegen emporstrebenden Verdienst gerecht ist, dann wird ihr eine ausgezeichnet einflußreiche Stellung im Staate auch ohne Privilegien nicht entgehen." Die wichtige politische Führungsrolle des Adels erfordert nach Meinung Friedrich von Gagerns jedoch auch drei besondere Vorrechte, die der Staat gewähren soll. Diese seien keine adligen Privilegien, sondern für Staat und Gesellschaft funktionale Vorzüge. Erstens verlangt 37 38 39 40 41 42

Ebd., S. 76.

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. S. S. S. Ebd.. S.

86. 87. 87. 101. 90.

Zwischen Adelstradition und Liberalismus

113

eine Adelskorporation, die auch über Aufnahme und Ausschluß der Adligen entscheiden soll. Als Vorbild dient hier sicher einerseits der der Familie vertraute Ritterkanton, andererseits entspricht der Vorschlag aber auch zahlreichen Adelsreunionen, die in den 1830er Jahren diskutiert wurden.43 Bemerkenswert ist immerhin, daß Friedrich von Gagern die Schaffung einer Adelskorporation mit dem natürlichen Recht der Assoziation legitimiert. Von daher bleibt offen, ob hier wirklich an eine altständische Adelskorporation gedacht wird. Zweitens spricht sich Friedrich von Gagern für Majorate aus. Er leugnet zwar nicht die Nachteile des Majorats für das freie Wirtschaftsleben, hält den Schaden jedoch für gering und daher akzeptabel, da der politische Nutzen überwiegend sei. Jedoch werden die Majorate eng mit der Begrenzung des Adels auf Erstgeborene nach englischem Vorbild verbunden. Schließlich drittens wird ebenfalls nach englischem Vorbild eine „Pairie", ein Oberhaus als parlamentarische Vertretung des Adels verlangt. Gagern argumentiert hier mit der konstitutionellen Theorie. Nicht Volks- oder Fürstensouveränität sondern die Herrschaft der Vernunft in einer Mischverfassung sind das Vorbild. Deshalb soll die erste Kammer auch auf keinen Fall durch die Regierung oder vom Volk beschickt werden. Doch die konkrete Situation des Adels schätzt Friedrich von Gagern noch kritischer ein als sein Vater: „Der Adel und die Mediatisierten sind zwischen die Eifersucht der Regierungen und den Neid des Bürgerstandes wie zwischen Hammer und Amboß gestellt."44 Innerhalb der staatlichen Herrschaft sei der Adel von allen wichtigen Stellen verdrängt und durch „platte Creaturen ersetzt". „Bei den Anstellungen hat das Monopol der Intrigue die Privilegien der Geburt ersetzt. Die höheren Stellen stehen nur der Servilität offen." Denn „Juden und Wechsler" seien in den Regierungen „die wahren Aristokraten des Zeitalters." Aber auch von Seiten des Bürgertums werde der Adel angegriffen. Statt sich auf die freiheitlichen Traditionen des Adels zu beziehen, opfere der Liberalismus „die Freiheit der Gleichheit auf und ebne dadurch den Boden für den „Despotismus". Dem Adel gelänge es jedoch nicht, mit dieser Situation umzugehen.

Gagern

Weiterhin „den Blick auf die Vergangenheit gerichtet" sei er zwar nicht bereit, auf irgend einen seiner Ansprüche freiwillig zu verzichten, lasse sich jedoch seine Vorrechte ohne Widerstand entreißen. Denn der

Vgl. Reif, Adelserneuerung (Wie Anm. 15), S. 211 f. Friedrich von Gagern, Gegenwärtige Zustände [1823], abgedruckt bei Gagern, Leben

(wie Anm. 10),

Bd. 1, S. 269-277, hier S. 273.

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114

Adel halte es immer noch für seine „schönste Bestimmung, in der Domesticität der Fürsten die erste Stelle zu behaupten."45 Der Adel sei also das Opfer einer Zusammenarbeit von obrigkeitlichem Staat und bürgerlicher Gesellschaft, welche auf Kosten der Freiheit allgemeine Egalität anstrebe. Diese Krisenbeschreibung fällt bei Friedrich von Gagerns zwar schärfer aus als bei seinem Vater, zielt jedoch in dieselbe Richtung: Der Adel wird als Vertreter der Freiheit gegenüber den egalitären Tendenzen moderner Staats- und Gesellschaftsbildung gesehen. Friedrich von Gagern schlägt jedoch einen anderen Ausweg aus der Adelskrise vor als sein Vater. Bleibt bei diesem das Plädoyer für eine ständische Politik des Staates, fordert Friedrich von Gagern ein Bündnis des Adels mit der als national verstandenen Gesellschaft. Hierin besteht die Weiterentwicklung der Adelsvorstellung des Vaters durch Friedrich von Gagern. Der Adel wird bei ihm quasi nationalisiert. Als eine nationale Elite kann er seine Existenzberechtigung finden. Schon 1823 erklärt ihn Friedrich von Gagern zu einem „Auxiliarkorps" der Einheitsbewegung. „Es liegt in der Natur der Verhältnisse, daß Niemand die Herstellung des Deutschen Reichs eifriger wünscht als er. Erinnerungen, Hoffnungen, Interessen und die edleren Gesinnungen Alles vereinigt sich dazu bei ihm." Besonders hervorgehoben werden dabei natürlich die reichsunmittelbaren Adelsfamilien, also Standesherren und Reichsritter. Gerade die Standesherren werden aufgefordert, auf ihre feudal-ständischen Rechte zu verzichten; „wenn ihr Vermögen aus freiem Eigenthum bestehen wird, und sie also von dieser Seite den besonderen Schutz der Regierungen nicht mehr nöthig haben, dann hindert sie nichts mehr, sich frei zu bewegen und sich an die Spitze der öffentlichen Meinung zu stellen."46 Indem Friedrich von Gagern die Vorstellungen von Nation und Parlamentarismus in die Adelsvorstellungen des Vaters integriert, entwickelt er dessen Programmatik entscheidend weiter, Nicht nur wird „das Repräsentativsystem" zur „Herrschaft der Aristokratie des Geistes" erklärt47, sondern der Adel selbst wird in die national verstandene, bürgerliche Gesellschaft als politische Elite integriert. Damit ordnet sich Friedrich von Gagern in die gemäßigte Richtung des konstitutionellen Liberalismus ein. Seine Vorstellungen entsprechen weitgehend -

45 46

47

Ebd., S. 273 f. Friedrich von Gagern, Von der Nothwendigkeit und den Mitteln, die politische Einheit Deutschlands herzustellen [1823], abgedruckt bei ebd., S. 278-291, hier S. 287. Gagern, Leben (wie Anm. 10), Bd. 3, S. 93.

Zwischen Adelstradition und Liberalismus

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den auch von Karl Theodor Welcker nach englischem Vorbild entwikkelten Ideen. Auch Welcker akzeptiert eine besondere politische Stellung des Adels, wenn das „öffentliche Wohl sie fordert und das allgemeine Vertrauen ihnen zur Seite steht." Der Adel kann bestimmte auch erbliche Vorrechte behalten, diese legitimieren sich jedoch nicht mehr durch Tradition und Vergangenheit, sondern durch ihre funktionale Rolle für den liberalen Verfassungsstaat. Friedrich von Gagern ist daher Teil des liberalen Konstitutionalismus, der ein „Konzept partieller politisch-rechtlicher Interessenidentität zwischen Bürgertum und Adel" gegen den bürokratischen Absolutismus entwirft.48

-

-

4. Heinrich

von

Gagern zwischen Adel und Bürgertum

Die Vorstellungen des Vaters und des Bruders vom Adel und seinem Verhältnis zum Bürgertum waren auch prägend für Heinrich von Gagern. Er selbst hat jedoch keine theoretische Schrift über den Adel verfaßt,49 sondern bei ihm tritt die Adelstheorie der Familie in die Praxis über. Schon durch seine Sozialisation sah sich Heinrich von Gagern zwischen Adel und Bürgertum gestellt. Einerseits wurde er im Sinne der Familientradition als Adliger erzogen. Im Mittelpunkt stand dabei der Erwerb spezifischer Bildung für eine geplante Beamtenlaufbahn. So begründete der Vater das Studium in der französischen Schweiz damit, „daß in jedem Verhältnisse einem jungen Edelmann sehr vollständige Kenntnis der französischen Sprache anständig, ja notwendig sei, wenn er etwas mehr als Grenadierhauptmann werden will."50 Auch eine Kavaliersreise als Begleiter eines nassauischen Prinzen, alleine für

Reiner Schulze, Statusbildung und Allgemeinheit der Bürgerrechte in Verfassungstexten und Staatslehre des frühen deutschen Konstitutionalismus, in: Gerhard Dilcher (Hg.), Grundrechte im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main u. a. 1982, S. 85-120, hier S. 97; vgl. auch Elisabeth Fehrenbach, Adel und Bürgertum im deutschen Vormärz, in: Dies., Politischer Umbruch und gesellschaftliche Bewegung. Ausgewählte Aufsätze zur Geschichte Frankreichs und Deutschlands im 19. lahrhundert. Hg. v. Hans-Werner Hahn u. lürgen Müller, München 1997, S. 247-266, hier S. 263-265; Dieter Langewiesche, Bürgerliche Adelskritik zwischen Aufklärung und Reichsgründung in Enzyklopädien und Lexika, in: Elisabeth Fehrenbach (Hg.), Adel und Bürgertum (wie Anm. 15), S. 11-28. Vgl. Hans Schenk (Bearb.), Familienarchiv der Freiherren von Gagern. Bestand FN 7, Koblenz 1987. Zit. n. Harry Gerber, Heinrich vom Gagern als Student. Aus dem Briefwechsel mit seinem Vater, in: Nassauische Annalen 68 (1957), 175-202, hier S. 183.

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die Familie wohl nicht finanzierbar, versuchte der Vater zu arrangieren.51 Der Studienabschluß dagegen war für einen Adligen unnötig. Adliger zu sein, bedeutete jedoch auch schon früh, die adlige Freiheit im Gegensatz zum Staat zu erleben. Eine Beamtenkarriere in Nassau sei unmöglich, denn dort, so der Vater, habe er eine starke Partei, gemeint waren wohl Marschall und Ibell, gegen sich, „die Dir als Edelmann und als Gagern abhold wären."52 Auch die Bereitschaft, sich der Domestizierung im Staatsdienst durch das Ausscheiden zu entziehen, entsprach der Familientradition. Hier gewann der, wenn auch kleine Landbesitz, eine besondere Bedeutung. Wie der Vater diesen Weg nach den Schwierigkeiten im Bundestag 1818 ergriffen hatte, zog sich auch Heinrich von Gagern, als er wegen seiner Oppositionshaltung den hessen-darmstädtischen Dienst verlassen mußte, im Jahr 1836 auf das Gut Monsheim in der Rheinpfalz zurück. Dieser adligen Prägung stand bei Heinrich von Gagern jedoch auch

die weitgehende Akzeptanz der Prinzipien der bürgerlichen Gesellschaft gegenüber. Seit seiner Burschenschaftszeit scheint er auch deren egalitäre Werte akzeptiert zu haben. Die Burschenschaften, so beschreibt er seine Entwicklung, „gingen aus einem zugleich nationalen und demokratischen Geiste hervor. Die nationale Tendenz gewann mich für sie, die demokratische ließ ich mir gefallen, um so mehr als ich mich nicht stark genug fühlte, ihr zu opponieren. [...] Namentlich mußte mein Billigkeitssinn der Demokratie einräumen, daß nur eminente Eigenschaften berechtigen konnten, hervorzuragen. Diese hatte ich nicht". Die hier beschriebene Anerkennung bürgerlicher Gleichheit zeigte sich etwa darin, daß er seit damals nur noch als „Heinrich Gagern" unterschrieb.53 Auch seine zweite Ehe mit einer Bürgerlichen begründete Gagern mit dem Hinweis, „da er nun doch einmal in diesem demokratisierten Lande leben und wirken müsse, die Wahl seiner Lebensgefährtin besonders in wirtschaftlicher Beziehung den Anforderungen einer tüchtigen Hausfrau und Mutter [...] entsprechen

sollte."54

Die Zustimmung zu den Prinzipien der bürgerlichen Gesellschaft wird schließlich auch in seiner Politik der Jahre 1848/49 deutlich. Von seiner Eröffnungsrede als Parlamentspräsident mit der Formel „Souve51 52

53 54

Ebd., S. 198. Ebd., S. 196. So auch in dem Brief an den bayerischen desarchiv Frankfurt, Abschrift). Max

v.

König Max

Gagern, zit. n. Pastor, Leben (wie Anm. 9),

II.

vom

S. 100.

4. Juli 1848

(Bun-

Zwischen Adelstradition und Liberalismus

¡17

ränität der Nation" über den „kühnen Griff bis zum Simon-GagernPakt zeigt sich in Gagerns Politik eine hohe Bereitschaft, auf die Linke der Paulskirche zuzugehen. So ist er vor allem bereit, aus pragmatischen Erwägungen das liberale Vereinbarungsprinzip zu opfern. Die Nationalversammlung könne „nicht innerhalb der Consequenzen eines Prinzips bleiben, welche die Möglichkeiten des Zustandekommens des doch so dringenden Verfassungswerkes in Frage stellen mußten."55 Bezeichnenderweise warfen daher nicht nur Konservative, sondern auch liberale Anhänger des Vereinbarungsprinzips der Nationalversammlung „Souveränitätsschwindel" vor. Gagern überschritt damit die elitären Vorstellungen des vormärzlichen Liberalismus. Auch in seinen Selbstbeschreibungen ordnet sich Heinrich von Gagern zwischen Adel und Bürgertum ein. So erklärt er ganz konkret seine Charaktereigenschaften wie seine politischen Ansichten aus der Spannung zwischen adliger Herkunft und politischer Sozialisation: „Der Kampf zwischen meiner aristokratischen Neigung und meiner durch die Umstände mir gegebenen demokratischen Richtung hat einen großen Einfluß auf die Ausbildung meiner Eigenschaften ausgeübt."56 Der Adel wird nicht verleugnet, aber doch in gewisser Weise individualisiert. Daher scheint es bezeichnend, daß Heinrich von Gagern keine allgemeinen, theoretischen Äußerungen über den Adel hinterlassen hat. Der Adel als Gruppe, als Stand spielte für ihn eine eher geringe Rolle. Adliger zu sein, wurde von Heinrich von Gagern eher als individuelle Qualifikation und Verpflichtung, denn als eine ständische

Zugehörigkeit wahrgenommen.

Von daher übernimmt Heinrich von Gagern zwar die liberale Adelsprogrammatik des Bruders, doch bezieht er sie ganz individuell auf sich. Sein adliger Status besteht darin, daß er sich selbst zum Vorkämpfer des Volkes erklärt. Sah der 18jährige noch eher eine Einheit des Adels, wenn er zustimmend eine Äußerung von Görres wiedergab, es „neige sich der größte Teil des Adels [...] mehr auf die Seite des Volkes und habe mit diesem jetzt gleiches Interesse"57, so wird in der Folgezeit der Adel immer in zwei Teile geteilt: die eigene Seite und die Heinrich v. Gagern an Anton v. Schmerling am 22. lanuar 1849, abgedr. in: Bundesarchiv Frankfurt, FN 7 V/72: Beilagen der Conferenz [...], 44. Heinrich v. Gagem an Friedrich v. Gagern am 13. Mai 1839, abgedr. bei WentzCke u. Klötzer, Deutscher Liberalismus (wie Anm. 9), S. 221, hier auch weitere

wichtige Aussagen. Heinrich v. Gagern

an

bei Gerber, Heinrich

Christoph v. Gagern am 23. Gagern (wie Anm. 50), S. 191.

Hans

von

Oktober 1818,

abgedr.

118

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Gegner. Dem sich der Bürokratie und der einzelstaatlichen Monarchie zuneigenden Adel, von ihm als „Servilaristokratie" beschimpft, steht ein wahrer Adel, der mit der Demokratie verbündet ist, gegenüber. So urteilte Gagern nach den Wiener Konferenzen von 1834 über den reak-

tionären hessen-darmstädtischen Prinzen Emil, dieser sehe „nur eine hohe Aristokratie, die sich zum niedrigsten Servilismus hinneigt. Eine schöne Rolle für die Aristokratie! Und ein gutes Omen für die Fortdauer des wohltätigen Einflusses einer beschützenden Aristokratie in

Deutschland!"58

Von daher taucht die adlige Herkunft in den Schriften Gagerns fast immer dann auf, wenn er seine eigene politische Rolle gegenüber dem Vater verteidigt. Gerade beim Wechsel aus seinem Beamtenverhältnis in eine Oppositionsrolle im Landtag greift er auf diese Argumentation zurück. Es sei eine wichtige Rolle für Deutschland, der Regierung als Abgeordneter „den Krieg zu erklären und diesen dann mit starken Waffen zu führen". Und diese halte er „für echt liberal und echt aristokratisch". Auch beim Rückzug auf das Land, wozu er vom Vater zur ökonomischen Versorgung und für die zur Wahl notwendige Steuerquote die Überschreibung des Gutes Monsheim erbat, verwendete er den Adel als Argument. Seine „ständische Karriere" werde die Adelsehre der Familie sichern. „Sie stehen viel zu hoch in Deutschland, als daß sie sich gefallen lassen dürften, von einem solchen Lumpengouvernement, wie das hiesige, in Ihren Absichten und Wünschen enthört [= nicht gehört] zu werden. Es ist im Interesse von Deutschland, im Interesse Ihrer Familie, im Interesse der Aristokratie, die Sie so hoch obenanstellen, daß Sie fühlen lassen, wo man nicht hören will. Bloß durch Energie kann die Aristokratie in Deutschland eine Achtung wiedererlangen, die sie jetzt nicht verdient."59 Wenn Gagern hier das „Interesse der Aristokratie" beschwört, so ist diese Aussage auf den Vater bezogen. Denn offensichtlich geht es ihm nicht um eine kollektive Ehre des Adels, sondern um eine ganz persönlich verstandene Ehre, die es zu verwirklichen gilt.60 Recht treffend formuliert eine zeitgenössische Lebensbeschreibung diesen Wandel von einem ständischen Adelsbewußtsein zu einem aristokratischen Heinrich v. Gagern an Hans Christoph v. Gagern am 25. Mai 1834, abgedr. bei Wentzcke u. Klötzer, Deutscher Liberalismus (wie Anm. 9), S. 140. Heinrich v. Gagern an Hans Christoph v. Gagern am 7. August 1827, abgedr. bei ebd., S. 74. Knapp aber treffend Thomas NiPPERDEY, Deutsche Geschichte 1800-1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1983, 265 f.

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119

Selbstverständnis. Gagern sei schon immer „den Principien der Aristozugewandt" gewesen, doch habe er sich inzwischen weiterentwickelt. „Sein Stolz, der nie von Eitelkeit gewußt, ist ganz aus den Standesverhältnissen herausgetreten und hat eine rein humane Basis gesucht die eines Ehrenmannes, der sich als solcher fühlt."61 kratie

Sieht man das Adelsbewußtsein Gagerns in dieser Übergangszone von kollektiven und individuellen, adligen und bürgerlichen Werten, kann auch eine seiner grundlegenden Beschreibungen des eigenen Charakters erklärt werden. „Ich bin eigentlich eine aristokratische Natur im besseren Sinne des Worts", erklärte er 1839, „mit Geiz nach wahrer Ehre, ohne großen Ehrgeiz."62 Diese etwas nebulöse Aussage muß als individualistisches Bekenntnis verstanden werden. Das Streben nach Größe soll vor den Zwängen einer Karriere geschützt werden. Das in der Familie tradierte adlige Freiheitsideal ist hier mit dem bürgerlichen Selbständigkeitsideal identisch geworden.63 Die von Heinrich von Gagern als adlig oder aristokratisch bezeichneten, eigenen Wertmaßstäbe sind schon längst mit dem bürgerlichen Wertekanon deckungsgleich.64 Dagegen kann auch nicht eingewandt werden, daß diese bürgerlichen Werte ursprünglich am Vorbild der adligen Tugendvorstellungen entwickelt wurden65, denn Gagerns Selbstverständnis wurde auch von der bürgerlich-liberalen Öffentlichkeit honoriert. Diese Stellung Heinrich von Gagerns zwischen Adel und Bürgertum spielte bei seiner Heroisierung durch seine bürgerlichen Anhänger 1848/49 offensichtlich eine große Rolle. Indem sie einen Adligen zu ihrem Helden erwählten, bestätigten sie die liberale Elitenkonzeption einer Verbindung von entfeudalisiertem Adel und gebildetem Bürgertum. Doch welche Bedeutung hatte in dieser Glorifizierung Heinrich von Gagerns der adlige Status? Die Antwort auf diese Frage erklärt selbstverständlich nicht die Person Gagerns, sondern sie zeigt das Wunschbild der bürgerlichen Öffentlichkeit. Diese projizierte auf ihren Helden ihr eigenes Idealbild. Heinrich von Gagern werden von seinen Panegyrikern, etwa Haym, offensichtlich bürgerliche Werte zuge-

Die Gegenwart. Bd. 1 (1848), S. 737. Heinrich v. Gagern an Hans Christoph v. Gagern am 13. Mai 1839, abgedr. bei Wentzcke u. Klötzer, Deutscher Liberalismus (wie Anm. 9), S. 221. Vgl. Lothar Gall, Bürgertum in Deutschland. Berlin 1989. Vgl. Manfred Hettling u. Stefan-Ludwig Hoffmann, Der bürgerliche Wertehimmel. Zum Problem individueller Lebensführung im 19. lahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft 23 (1997), S. 333-359, rein programmatisch und eher unkonkret, aber mit weiterführender Literatur. So etwa Jonathan Dewald, The European Nobility, 1400-1800, Cambridge 1996.

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schrieben. Betrachtet man nur den bürgerlichen Tugendkanon, wie ihn Michael Maurer aus den Biographien des 18. Jahrhunderts erarbeitet hat66, sieht man, daß viele dieser Tugenden auch Gagern zugeschrieben werden: Individualität als Identität mit sich selbst, Rechtschaffenheit und Ehrlichkeit, Empfindsamkeit in Freundschaft, Liebe und Haß. Wie bürgerlich Gagern beschrieben wird, zeigt sich deutlich im Vergleich mit den Charakterbeschreibungen Anton von Schmerlings, des Vorgängers Gagerns als Reichsministerpräsidenten. Bei den Charakterisierungen Schmerlings, selbst wenn sie seine intellektuellen Fähigkeiten und sein gewandtes Auftreten positiv hervorheben, schwingt immer der aus der Adelskritik bekannte Vorwurf der Frivolität und Unzuverlässigkeit mit. Die bürgerlichen Konnotationen Heinrich von Gagerns sind jedoch nicht umfassend, denn es fehlen bezeichnenderweise die ökonomischen Tugenden des Bürgertums, wie Ordnung oder Sparsamkeit. Nicht einmal seine Leistungen werden über Gebühr hervorgehoben. Obwohl Hayms Schrift als liberale Propaganda zu verstehen ist, gibt er offen zu, daß Heinrich von Gagern weder als Redner noch als Diplomat und Politiker besonders herausrage. Es ist sein Charakter, der ihn zum Helden der bürgerlich-liberalen Bewegung macht. Gagern wird nicht zum erfolgsorientierten Bourgeois, sondern zum tugendhaften Citoyen stilisiert. Wenn Gagern als Adliger das bessere Bürgertum verkörpern kann, zeigt sich hier das Gesellschaftsbild seiner bürgerlichen Anhänger. Die bürgerliche Öffentlichkeit von 1848/49 hing offensichtlich noch immer an einer aristotelischen Bürgergesellschaft der tugendhaften Männer. Hierin spiegelt sich einerseits die Verwurzelung des Bürgertums in noch immer vorindustriellen Lebensverhältnissen, andererseits aber auch der nostalgische Widerstand gegen den Übergang zur industriekapitalistischen Gesellschaft. Für diese Bürger verkörperte Gagern die Qualitäten, die das moderne Erwerbsleben ihnen bereits geraubt hatte. *

Beispiel der Familie Gagern kann ein möglicher Umgang mit der Legitimations- und Funktionskrise des Adels in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gezeigt werden. In der Abfolge vom Vater über den Bruder zu Heinrich von Gagern findet unter Rückgriff auf adlige

Am

Michael Maurer, Die Biographie des Bürgers. Lebensformen und Denkweisen in der formativen Phase des deutschen Bürgertums (1680-1815). Göttingen 1996.

Zwischen Adelstradition und Liberalismus

121

Traditionen eine Anpassung an die bürgerliche Gesellschaft statt. Hans Christoph von Gagern beantwortet die auch gegen den Adel gerichteten einzelstaatlich-bürokratischen Reformen mit einem Programm, das den Adel als Träger ständisch verstandener Freiheit in der Reichsnation definiert. Friedrich von Gagern erweitert diese Vorstellungen um Parlamentarismus und Nationalismus und paßt sie damit dem gemäßigt-liberalen Konstitutionalismus an. Heinrich von Gagern zeigt schließlich nicht nur eine prinzipielle Akzeptanz der bürgerlichen Gesellschaft, sondern er bezieht deren Werte auch auf sich selbst. Diese individuelle Verbürgerlichung nutzt allerdings weiterhin die Karrierevorteile adliger Herkunft. Die verbürgerlichte Adelselite, die sich damit in seiner Person zeigt, wird in idealisierter Form auch von der bürgerlichen Öffentlichkeit honoriert.

Bernhard Löffler

Adel und Gemeindeprotest in Bayern zwischen Restauration und Revolution

(1815-1848)

i.

„Die öffentliche Meinung ist eine Macht, welcher auch eine stärkere Aristokratie als die unsrige nicht wird widerstehen können. [...] Wenn der Adel sein Interesse wohl verstünde, so würde er selbst jede Gelegenheit aufsuchen, sich mit den Gemeinden zu vereinigen, und sich nicht zu hoch dünken, um Ehrenstellen in denselben anzunehmen. Er würde dann den natürlichen Einfluß des großen Besitzers genießen, ohne der Privilegien zu bedürfen".1 So resümierte der fränkische Verwaltungsjurist und Statistiker Ignaz von Rudhart in den 1820er und 1830er Jahren die gesellschaftliche Position des Adels und wies die Notwendigkeit politischer Anpassungsstrategien auf. Rudhart ( 1790— 1838), als Abgeordneter der Klasse der Städte und Märkte des Obermainkreises (1825-1834) unumstrittener Führer der gemäßigtliberalen Fraktion in der vormärzlichen bayerischen Ständeversammlung und nachmaliger Ministerpräsident König Ottos von Griechenland, wußte durchaus, wovon er sprach. Er hatte zeitweise als Direktor der Kreisregierungen in Würzburg und Regensburg, dann als Regie-

rungspräsident des Unterdonaukreises in Passau fungiert und dabei persönliche Erfahrungen mit den Verhältnissen unmittelbar in den Gemeinden gesammelt.2 Die Adelsprivilegien widersprachen für ihn 1

2

Rudhart, Politisches Glaubensbekenntniß, hg. v. Friedrich Wilhelm Bruckbräu, Passau 1840, S. 98, 105 f., 308. Zu Rudhart siehe Ferdinand Koeppel, Ignaz von Rudhart. Ein Staatsmann des Liberalismus, München u. Berlin 1933; Josef Leeb, Wahlrecht und Wahlen zur

Ignaz

von

Bernhard Loftier

124

der natürlichen Ordnung der Gesellschaft und den Grundsätzen von „Gemeinsinn" und Gemeinwohlpflichtigkeit, wie sie sich auf oberster Verfassungsebene aus den konstitutionellen Prinzipien der Rechtsgleichheit, auf unterer Verwaltungsebene aus dem Gemeindewesen als „Urrecht, das aus dem gesellschaftlichen Verbände hervorgeht", erga-

ben.3

Rudhart führt uns damit direkt zum Kern unserer Thematik, dem schwierigen Verhältnis von Adel und Gemeinden im rechtsrheinischen Bayern zwischen Restauration und Revolution. An dieser Stelle ist freilich für vorliegende Untersuchung zunächst eine Erweiterung des Themas „Adel und Bürgertum im 19. Jahrhundert" vorzunehmen. Denn die für uns einschlägigen zentralen Auseinandersetzungen betrafen in erster Linie das bäuerliche Land. Der Ort, an dem die Kontaktzonen zu wirklich augenfälligen „Konfliktzonen" (E. Fehrenbach)4 wurden, lag vor 1848 zwischen grundbesitzendem Adel und bäuerlicher Bevölkerung, zwischen Grund- und Patrimonialgerichtsherren einerseits und den bäuerlich-dörflichen Gemeinden und herrschaftlichen Kleinstädten andererseits. Auch wenn bayerische Adelige vermehrt in die Stadt zogen und sich hier vereinzelt Berührungspunkte etwa im Vereinswesen ergeben konnten, gehörte der Großteil des süddeutschen Adels, zumal des alten Adels, gleich ob landsässig oder mediatisiert, nach wie vor der ländlichen Welt an. Im städtischen Raum spielte er nur eine eher „marginale" Rolle.5 Bezeichnenderweise Zweiten Kammer der bayerischen Ständeversammlung im Vormärz (1818-1845), 2 Bde., Göttingen 1996, hier Bd. 2, S. 768 f. In unserem Zusammenhang ist v. a. auf die dreibändige, zwischen 1825 und 1827 geschriebene, statistischsozialgeschichtliche Darstellung „Ueber den Zustand des Königreichs Baiern nach amtlichen Quellen" zu verweisen, in der immer wieder von der Gemeinde als dem wichtigsten Kernelement und Fundament des Staates die Rede ist (dort z. B. Bd. I, S. III f., 38 ff.; Bd. 2, S. 329-336; Bd. 3, S. 104-109). Rudhart auf dem Landtag 1825. Vgl. Ferdinand Koeppel, Rudhart (wie Anm. 2), S. 39-46, 55-64, 126-129, Zitat S. 55 f. Vgl. die instruktive Einleitung bei Elisabeth Fehrenbach (Hg.), Adel und Bürgertum in Deutschland 1770-1848, München 1994, S. VII-XV. Auch in der Stadt existierten vereinzelte adelig-bürgerliche „Kontaktzonen" in bestimmten Vereinen und Gesellschaften, die anfänglich sogar einen überproportionalen Adelsanteil aufwiesen. Allerdings kam es hier nicht eigentlich zu Konflikten. Denn entweder dominierten wie in den Residenzstädten Beamte und Offiziere, sie mochten adelig bzw. nobilitiert sein oder nicht, gleichsam qua Amt/Beruf, nicht qua Stand. Oder es gab gar keine großen Berührungspunkte zwischen Adel und Bürgertum, wie in den alten Handels- und aufsteigenden Industriestädten, in denen die standesunabhängige Klammer in den dominanten Bür-

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-

Adel und

Gemeindeprotest in Bayern

125

auch in politischer Hinsicht das wohl bedeutendste vormärzliche Thema, das die Stellung des Adels im neuen konstitutionellen Staat betraf, ein agrarpolitisches: Es ging primär um die Fragen der Abschaffung oder Ablösung der grund- und gerichtsherrlichen Feudallasten, nicht zuletzt als Grundvoraussetzung einer künftigen bürgerlichkapitalistischen Wirtschaftsverfassung auch auf dem Land. Daß damit der Adel beinahe automatisch in seiner staatspolitischen Verortung als Gruppe mit bestimmten Herrschaftsprivilegien, die mit den Anforderungen und Vorstellungen des modernen, Rechtsgleichheit verbürgenden Staates kollidierten, in Frage gestellt wurde, machte die allgemeinund verfassungspolitische Brisanz der Forderungen nach Beendigung der überkommenen grundherrlichen Rechts- und Sozialordnung aus. Diese Ablösungsvorgänge waren dann auch 1848 das eigentlich Revolutionäre und Schmerzhafte für den Adel.6 Ausgangspunkt der Überlegungen soll daher ein Blick auf eben jene bäuerlich-gemeindlich-adeligen Konfliktzonen sein. Dabei geht es sowohl um die Klagen der Bauern und die Probleme der Gemeinden mit den ansässigen Adeligen, als auch um die Reaktionen des Adels darauf, seine Rechtfertigungs-, Abwehr- und Anpassungsversuche sowie seine Forderungen an den Staat. Die Quellengrundlage bilden in erster Linie Beschwerden an die Kammer der Abgeordneten der bayerischen Ständeversammlung. Diese zahlreichen und durchweg inhaltsreichen Kollektiv- oder Einzel-Petitionen „wegen Verletzung der constitutionellen Rechte" befinden sich zumeist in den Akten des Bewar

gervereinen die wirtschaftliche Tätigkeit darstellte. Hier wie dort kam es letztlich bei aller Nobilitierung von Beamten oder Unternehmern zu einer Art stillem Elitenwechsel ohne große Elitenkonflikte. Auf dem Land verhielt sich das anders; dort waren die ständischen Grenzen viel länger und viel nachhaltiger erkennbar; auch der Prozeß von deren Aufweichung und Ablösung verlief abrupter, gewaltVgl. Lothar Gall, Adel, Verein und städtisches Bürgertum, in: Elisabeth Fehrenbach (Hg.), Adel (wie Anm. 4), S. 29-43; ferner exemplarisch am Beispiel Münchens Ralf Zerback, München und sein Stadtbürgertum. Eine Residenzstadt als Bürgergemeinde 1780-1870, München 1997, hier S. 72-79, 128132, 239-245, 298 f.; sowie Walter Demel, Der bayerische Adel von 1750 bis 1871, in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Europäischer Adel 1750-1950, Göttingen 1990, S. 126-143, hier S. 133. Vgl. Wolfram Siemann, Die Adelskrise 1848/49, in: Elisabeth Fehrenbach, Adel (wie Anm. 4), S. 231-246, hier S. 233; ferner Heinz Reif, Der Adel, in: Christof Dipper u. Ulrich Speck (Hg.), 1848. Revolution in Deutschland, Frankfurt a. M. u. Leipzig 1998, S. 213-234; Rainer Koch, Die Agrarrevolution in Deutschland Verlauf- Ergebnisse, in: Dieter Langewiesche (Hg.), Die 1848. Ursachen deutsche Revolution 1848/49, Darmstadt 1983, S. 362-394. samer.

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126

Bernhard Löffler

schwerdeausschusses der Kammer und bieten tiefe, sozialgeschichtlich aufschlußreiche Einblicke in das alltägliche Leben.7 Wichtig ist hierbei, daß das Beschwerdewesen als Form eines poli-

tisierenden, institutionalisierten Protests gewissermaßen eines der Scharniere bildete, das die bäuerlich-adelige Welt zumindest für eine bestimmte Zeit in die bürgerliche Welt der parlamentarischen Öffentlichkeit einfügte, die Konflikte gleichsam auf die „technische Höhe"

einer modern-bürgerlichen Auseinandersetzung hob und somit in vielem in unser Generalthema integrieren kann. Denn die Beschwerden der Bauern waren keineswegs spontan-unbeholfen, sondern durchweg recht präzise und professionell formuliert und juristisch begründet. Beinahe immer standen einer oder mehrere, meist auf grundherrlichbäuerliche Verhältnisse spezialisierte, im landwirtschaftlichen Vereinswesen tätige und unter der Landbevölkerung angesehene Advokaten8 (in der Revolutionsphase 1848/49 dann manchmal auch demokratische Vereine9) dahinter. Oft wurden die Petitionen kollektiv und in Der Bestand ist seit kurzem durch ein kommentiertes Repertorium, das zwischen 1819 und 1918 rund 2400 Petitionen erfaßt, gut erschlossen: Dirk Götschmann (Bearb.), Die Beschwerden an die Kammer der Abgeordneten des Bayerischen Landtags 1819-1918, 2 Bde., München 1997. Die Akten selbst befinden sich im Archiv des Bayerischen Landtags in München, Bestand „V. Ausschuß (Beschwerdeausschuß)" [künftig: ABL München]. Zu den rechtlichen Grundlagen des Beschwerdewesens in Bayern: Dieter Köhler, Die Beschwerde wegen Verletzung konstitutioneller Rechte in der bayerischen Verfassung von 1818, Diss. jur. München 1965, bes. S. 79-88; Max von Seydel, Bayerisches Staatsrecht, 7 Bde., 1. Aufl. München 1884-1894, hier Bd. 2, S. 30-56, 72-98. Vgl. auch Wolfgang von Hippel, Die Bauernbefreiung im Königreich Württemberg, 2 Bde., Boppard a. Rh. 1977, hier Bd. 1, S. 401 ff., 417 f., 492; Bd. 2, S. 240-251, der als Redaktoren von bäuerlichen Petitionen auch Beamte, Verwaltungsaktuare oder Lehrer benennt und z. B. auf den „Oberschwäbischen Landwirtschaftlichen Verein" oder den „Hohenloher Landwirtschaftlichen Verein" als „Deckorganisationen" zur Ausrichtung bäuerlicher Versammlungen und zur Koordinierung von Petitionen hinweist. In diesen Vereinen agierten dann wiederum Advokaten wie der Ulmer Oberjustizprokurator Andreas Alois Wiest oder der Hohenlohesche Rechtskonsulent Müller aus Künzelsau. Zum politischen Vereinswesen (Märzvereine) und zu dessen zeitweisem Einfluß auf dem Land vgl. Dieter Langewiesche, Die politische Vereinsbewegung in Würzburg und in Unterfranken in den Revolutionsjahren 1848/49, in: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 37 (1977), S. 195-233, hier S. 221 f., 224, 229-233, der am Beispiel Unterfrankens zahlreiche dörfliche Vereinsdependancen nennt, u. a. auch in den adeligen Herrschaftsgebieten Amorbach (Leiningen), Lohr Miltenberg und Wertheim (Löwenstein) sowie Wiesentheid (Schönborn); außerdem Hermann Kessler, Politische Bewegungen in Nördlingen und dem bayerischen -

,

Adel und

Gemeindeprotest in Bayern

127

koordinierter Form vorgebracht. So trug etwa eine von zwei Advokaverfaßte Petition der Grundholden der Standesherrschaft Oettingen-Wallerstein, die am 8. März 1848 wegen hohen Feudaldrucks klagten und die Beseitigung der „fremden" fürstlichen Macht forderten, die zwischen „ihrem und dem Herzen ihres Monarchen" sich befinde, 2.709 Unterschriften aus insgesamt 50 Gemeinden.10 Davor war es bereits im Januar 1843 zu einer koordinierten Petitionsaktion zahlreicher Gemeinden desselben Herrschaftsgerichts gekommen, mit der man, betreut von vier Anwälten, in 17 sehr umfangreichen Beschwerdesätzen (samt Nachträgen und vielfältigen Belegen) einen besseren staatlichen Schutz vor standesherrlichen Übergriffen auf freieigene Grundstücke forderte.11 Gerade vor dem Hintergrund der Revolution von 1848/49 leisteten so die verfassungsmäßigen Beschwerden einen entscheidenden Beitrag, das „elementare" Unruhepotential der Bauern, wie es in den Agrarunruhen im Frühjahr 1848 eruptiv aufflackerte, auf lange Sicht in legalistische, parlamentarische Bahnen zu lenken, den Protest zu institutionalisieren und den liberal-bürgerlichen Abgeordneten in den Landtagen die Möglichkeit zu geben, „sich als [dessen] rechtliche Vollstrecker" zu betätigen.12 Kurzum: Die „Technik" des Protests, die Petitions"kultur", war über weite Strecken der Zeitspanne 1818-1848 auch auf bäuerlicher Seite in großem Maße bürgerlich, auch wenn die ten

Ries während der deutschen Revolution 1848/49, München 1939, S. 103-144, 169-192.

Petition vom 8. März 1848 (Bayerisches Hauptstaatsarchiv München [künftig: HStA München], MInn 43956), verfaßt von Dr. von Lips und Friedrich Hauck. Petitionen vom 5. Januar 1843 (Gemeinden Forheim, Löpringen, Hürnheim, Christgarten); vom 14. Januar 1843 (Ehringen); vom 25. Januar 1843 (Baldingen); vom 29. Januar 1843 (Munzingen, Birkhausen): ABL München, 0/3/1^1. Vgl. auch die Landtagsverhandlungen vom 3. August 1843: Verhandlungen der Kammer der Abgeordneten der bayerischen Ständeversammlung (künftig: KdA) 1843, Bd. 13. S. 95-100. Ähnlich schon die Beschwerde der Gemeinden Ebermengen, Hoppingen, Groß- und Kleinsorrheim, Möggingen, Döblingen, Ziswingen und Medingen vom 27. April 1819 über die Bedrückung durch ungemessene Frondienste (ABL München, H/1/3.5). Vgl. auch Dieter Langewiesche, Revolution in Deutschland, in: Dieter Dowe u. Heinz-Gerhard Haupt u. Dieter Langewiesche (Hg.), Europa 1848. Revolution und Reform, Berlin 1998, S. 167-195, hier bes. S. 169-180, 186-189; Zitat Wolfram Siemann, Adelskrise (wie Anm. 6), S. 234 f. Zu den Agrarunruhen: Christof Dipper, Revolutionäre Bewegungen auf dem Lande: Deutschland, Frankreich, Italien, in: Dieter Dowe u. Heinz-Gerhard Haupt u. Dieter Langewiesche -

-

(Hg.), Europa.

S. 555-585; Rainer Koch,

Agrarrevolution (wie Anm. 6).

Bernhard Löffler

128

Ziele, Problemlagen und für eine kurze Phase die Dynamik des Vorgehens zwischen Bauern und Bürgern differierten. Für die Beschwerden der adeligen Seite gilt im Grunde ähnliches. Bei ihnen ist ebenfalls ein recht souveräner Umgang mit der Materie

und dem Instrumentarium erkennbar. Auch diese Petitionen waren juristisch wohldurchdacht formuliert; auch hier trat man oftmals mit Kollektivpetitionen auf und beauftragte anerkannte Juristen mit der Vertretung und Verteidigung der eigenen Sache.13 Der schon erwähnte und oftmals im Brennpunkt bäuerlicher Klagen stehende Fürst Karl von Oettingen-Wallerstein z. B. ließ darüber hinaus systematische Juristisch-historische" Forschungen in seinem Archiv durchführen, um althergebrachte Besitzrechte der Grundherrschaft nachweisen, Rechtstitel sichern und die Bauern besser belangen zu können. Gleichzeitig forcierte der „gewiegte Jurist" das Bemühen, das bisher stark von Observanz und Mündlichkeit bestimmte bäuerliche Lehensverhältnis in hieb- und stichfeste juristische Formen zu fassen und damit gegen alle möglichen Angriffe auch von Seiten des „angreifenden, ja zerstörenden" Staates abzusichern.14 Derselbe Fürst OettingenWallerstein fungierte zudem zeitweise als Wortführer einer standesherrlich dominierten regelrechten Adelslobby, die sich 1848/49 mit zahlreichen Flugschriften und einer Kette von Petitionen an die Frankfurter Nationalversammlung wandte.15 II. Inhaltlich kann man bei den bäuerlichen bzw. dörflich-gemeindlichen Beschwerden grosso modo zwei Kategorien unterscheiden: zum -

3

4 5

-

Etwa den Heidelberger Juristen Karl Salomo Zachariä oder den Marburger Staatsrechtler Vollgraff, die in den dreißiger Jahren die Fürsten von Hohenlohe publizistisch und gutachterlich gegen den württembergischen Staat vertraten. (Hartmut Weber, Die Fürsten von Hohenlohe im Vormärz. Politische und soziale Verhaltensweise württembergischer Standesherren in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Diss. Tübingen 1977, S. 224-235). Wolfgang von Hippel, Bauernbefreiung (wie Anm. 8), Bd. 1, S. 412-416, Zitate S. 412, 415 Anm. 302. Vgl. die fürstlichen Instruktionen ebd., Bd. 2, S. 279-293. Standesherrliche Kollektivpetition vom 5. Juni 1848 zur Sicherung standesherrlicher Rechte; Petition vom 26. Juli 1848 von 19 adeligen Familien zur Sicherung des Fideikommißwesens; Petition westfälischer Adeliger vom 16. August 1848 zu Fragen des Erb- und Familienrechts; Petition vom 27. Oktober 1848 von 41 adeligen Unterzeichnern zum Eigentumsrecht; Petition von 36 „reichsständischen" Familien vom 8. Dezember 1848 zum Fideikommißwesen. Vgl. Wolfram Siemann, Adelskrise (wie Anm. 6), S. 236-243.

Adel und

Gemeindeprotest in Bayern

129

einen den Protest wegen grund- und gerichtsherrlichen Abgabendrucks oder sonstiger Belastung durch adelige Privilegien (Wildschäden o. ä.) und zweitens die Beschwerden wegen mangelnder Beteiligung des Adels an den Gemeindepflichten oder gänzlichen Übergehens der Gemeinderechte. Ein herausragendes Beispiel für Kategorie Eins bietet abermals der Fall des Fürsten Karl von Oettingen-Wallerstein, dessen umfangreiche Standesherrschaft sich über bayerisch-schwäbische (Donauries) und württembergische Gebiete erstreckte.16 Der Fürst versuchte angesichts einer erheblichen Schuldenlast, der anstehenden Ablösungsproblematik und einer diffizilen rechtlichen und prekären politischen Position der eigenen Herrschaft zwischen den Königreichen Bayern und Württemberg, unter Anwendung aller erlaubten und unerlaubten Mittel den Interessen seines Hauses zu dienen und dessen Lage zu konsolidieren, überspannte allerdings mit seinen Forderungen an die Grundholden zumeist den Bogen des zulässigen Rechts. Von 1819 bis 1844 steigerte er so den jährlichen Durchschnittsertrag der Gutsveränderungsgefälle von 1.732 Gulden auf 5.538 Gulden, denjenigen der Herbst- und Grundzinse von 2.655 Gulden auf 3.068 Gulden.17 Entsprechend laut und zahlreich waren die Klagen der Grundholden, der betroffenen Gemeinden und Kleinstädte. Die ganze Periode von 1819 bis 1848 finden sich durchgehend Beschwerden über den Grund- und Gerichtsherren wegen „maßlosen Feudaldrucks [...], durch welchen im Allgemeinen allseitige Mißstimmung der Gutsangehörigen, Entwertung der Güter, Verarmung der Familien und Begünstigung der Concubinate durch Erschwerung der Heirathen herbeigeführt worden sey", verbunden immer mit dem Ruf nach mehr staatlichem

6

7

Vgl. Gerhard Nebinger, Die Standesherren in Bayerisch-Schwaben, in: Pankraz Fried (Hg.), Probleme der Integration Ostschwabens in den bayerischen Staat. Bayern und Witteisbach in Ostschwaben, Sigmaringen 1982, S. 154-216, hier S. 181 ff.; Wolfgang von Hippel, Bauernbefreiung (wie Anm. 8), Bd. 1, S. 412-

420; Bernhard Löffler, Die bayerische Kammer der Reichsräte 1848 bis 1918. Grundlagen, Zusammensetzung, Politik, München 1996, S. 82 f.; Hermann Kessler, Bewegungen (wie Anm. 9), S. 15-29. Wolfgang von Hippel, Bauernbefreiung (wie Anm. 8), Bd. 1, S. 417 Anm. 312. Eine erhellende

Aufstellung der bäuerlichen Besitzverhältnisse im Ries und deren Belastung bringt Heinz Gollwitzer, Die Standesherren. Die politische und gesellschaftliche Stellung der Mediatisierten 1815-1918. Ein Beitrag zur deutschen Sozialgeschichte, 2. Aufl. Göttingen 1964, S. 83-86.

Bernhard Löffler

130

Schutz.18 Besonders angeprangert wurde dabei die rechtswidrige Aus-

weitung grundherrlicher Forderungen auf sog. „ludeigene", also an sich abgabenfreie Gemeindegründe, die Erhebung ungemessener Frondienste an sich leibeigenschaftlicher Provenienz, die standesherrliche Verweigerung der Konkurrenz zu Gemeindelasten, vor allem aber die Steigerung der verschiedenen Besitzwechselabgaben und der Zwang

einem für die Bauern unvorteilhaften Gütertausch mit der Standesherrschaft. Den Hebel hierzu bildete neben dem Tod der Gutsmaier (mit nachfolgender neuer Besitzverteilung und Abgabenfestsetzung) besonders die erforderliche Zustimmung des Grundherren zu Verehelichung und Ansässigmachung. Dies wurde offenbar nur gewährt, wenn die Bauern davor einen Revers unterzeichnet hatten, der die erhöhte Abgabenlast vertraglich fixierte. Die Folge sei neben dem dauernden Sinken der bäuerlichen Einkünfte und der Entwertung der Güter eine tief empfundene Rechtsunsicherheit, die zu Auswanderung führe und die öffentliche „Sittlichkeit" untergrabe. Nachdem sich der Grundherr weigere, seinen den bäuerlichen Lasten korrespondierenden traditionellen Fürsorgepflichten nachzukommen, erbitte man den Schutz des Staates „unseres geliebten Königs", letztlich die Übernahme der Grund- und Gerichtsherrlichkeit durch den Landesherren, der in diesem Zusammenhang zum Landesvater werden sollte. Denn die Haltung des Fürsten, der versuche, „dasjenige, was die Mediatisierung den Standesherren an politischer Macht entzogen habe, durch ein System der Erweiterung der Grundlasten, durch Knechtung aller seiner Grundholden wieder zu erwerben", sprach für die Bauern als rechtschaffene Staatsbürger den zeitgemäßen konstitutionellen Prinzipien „lauthals zu

Hohn"19.

Diese Proteste standen nicht allein; über andere adelige Herren, etwa die Standesherrschaft Löwenstein-Wertheim, mehrere fränkische Reichsritter oder einige altbayerische Adelige, wurden ähnliche Klagen

Zitat

aus

der Petition

von

Birle und

Lichtenberger,

6. Februar 1846

(ABL

Mün-

chen, B/9/9). Vgl. in der Folge ferner Kollektivpetition Birle und Co., 20. März 1848 (ABL München, B/9/1I); Gemeindepetitionen vom 27. April 1819, vom 5., 14., 25. und 29. Januar 1843 sowie vom 8. März 1848 (ABL München, H/1/3.5 und 0/3/1^1; HStA München, MInn 43956; s. o.); ferner die Beschwerden in Württemberg (1830-1840) bei Wolfgang von Hippel, Bauernbefreiung (wie Anm. 8). Bd. 1, S. 279-293. Aus den genannten

Gemeindepetitionen von

1848.

Vgl.

außerdem

Wolfgang VON

Hippel, Bauernbefreiung (wie Anm. 8), Bd. 1, S. 383-420, 485^198.

Adel und

Gemeindeprotest in Bayern

131

vorgebracht.20 In ihrer Gesamtheit verweisen die Beschwerden dabei

-

dies als erstes Zwischenfazit auf zwei Tendenzen von allgemeinerer und gerade auch für die Betrachtung des Verhältnisses von Adel und Bürgertum bemerkenswerter Bedeutung. Erstens: Der Ansprechpartner der Bauern, dörflichen Gemeinden und auch einiger Kleinstädte war immer der Staat. Monarch und Regierung, an die die Beschwerden vom Parlament nach Prüfung weitergeleitet wurden, erschienen als Instanzen der Hilfe, mochte auch ein latentes Mißtrauen gegenüber der Bürokratie und der Obrigkeit vorhanden sein. Dies widerspricht dem Befund antietatistischen bäuerlichen Verhaltens in hessischen Dörfern oder in Baden mit seiner fortschrittlicheren Gemeindeordnung von 1831, wie er etwa bei Friedeburg und Nolte skizziert wird.21 Monarch und Regierung gewährten die Rechts- und Schutzfunktionen, die der Grundherr entgegen allen Traditionen von Schutz und Mundt verweigerte. Die Attitüde des gütigen adeligen Unter-Landesvaters wurde zunehmend unglaubwürdig, da der sich auf historisches Recht berufenden adeligen Privilegierung und halböffentlichen Stellung im Zeichen zunehmenden ökonomischen und politischen Drucks keine Gegenleistung der Adeligen mehr entsprach, ein Defizit, das in vielen Beschwerden auch explizit so formuliert wurde. Bei aller traditionalistischen und rückwärtsgewandten Argumentation stießen die Bauern damit letztlich einen modernen Egalisierungs- und zugleich gesamtstaatlichen Integrationsprozeß mit an, der für sie den gegebenen konstitutionellen Prinzipien zu entsprechen schien, der aber ebenso von der Regierungsbürokratie wie von den liberalen politischen Kräften vorangetrieben wurde und uns gleich -

Vgl. z. B. die Petitionen der Gemeinde Haindlfing (Oberbayern), 4. März und 11. April 1848, gegen den Gerichts- und Gutsherren Anton von Pellet (ABL München, H/1/19, K/l/13). Petition von neun Gemeinden der Fürstlich Löwensteinschen Herrschaft Kreutzwertheim (Unterfranken), 20. September 1831 (ABL München, K/12/2, sowie Landtagsverhandlungen vom 30. November 1831: KdA 1831, Bd. 25, Protokoll 143, S. 47 ff.). Petition der Gemeinde Üttingen (Unterfranken), 17. Juni 1819, gegen den Freiherrn von Wolfskel (ABL München, U/1/2). Robert von Friedeburg, Ländliche Gesellschaft und Obrigkeit. Gemeindeprotest und politische Mobilisierung im 18. und 19. Jahrhundert, Göttingen 1997; Paul Nolte, Gemeindebürgertum und Liberalismus in Baden 1800-1850. Tradition Radikalismus- Republik, Göttingen 1994. Kritisch hierzu etwa Joachim Eibach, Konflikt und Arrangement: Lokalverwaltung in Bayern, Württemberg und Baden zwischen Reformära und 48er Revolution, in: Eberhard Laux u. Karl Teppe (Hg.), Der neuzeitliche Staat und seine Verwaltung, Stuttgart 1998, S. 137-162, hier -

-

-

S. 160 ff.

Bernhard Löffler

132

noch unter gemeindepolitischem Akzent begegnen wird. Dies machte die eigentliche Relevanz und Brisanz der Beschwerden für den Adel aus: daß sie sich über die Einzelfalle hinaus verbanden mit allgemeinen Zeittendenzen, und Forderungen nach gesellschaftlicher, bürgerlicher Nivellierung korrelierten mit solchen staatlicher Provenienz. Auch unter diesem inhaltlichen Aspekt kann man daher die ländlichen Verfassungsklagen als Teil einer staatsbürgerlichen Entwicklung interpretieren. Zwischen ihrem, der Gemeindebürger, und des Monarchen Herzen solle keine Zwischenmacht mehr sein, baten die Gemeinden des Fürstentums Oettingen-Wallerstein im Jahre 1848.22 Das konnte die Staatsregierung leicht im eigenen Sinne lesen, im Sinne der Schaffung eines einheitlichen Untertanenverbandes ohne intermediäre Gewalten.23 Für den Staat boten die Proteste folglich einen veritablen, instrumentalisierbaren Ansatz, dem Adel nach 1818 in einer Art zweitem Mediatisierungsvorgang die letzten öffentlichen Rechte zu entziehen. Dementsprechend zeigten staatliche Stellen nicht selten unverhohlen Sympathie mit den Landgemeinden und Verständnis für ihre Klagen. Um wieder das Beispiel Oettingen-Wallerstein aufzugreifen: Hier gab der zuständige Regierungspräsident von Schwaben und Neuburg, Karl Freiherr von Stengel, nach „außerordentlichen Nachforschungen" in einem Gutachten vom 21. Mai 1842 den Gemeinden weitgehend Recht, bezeichnete die meisten Wallersteinschen Forderungen und Praktiken, ,jedes, wenn auch noch so beschränkte Eigenthum aus dem Mediatgebiete nach und nach zu verdrängen, und die Colonatsverhältnisse in ein Pachtsystem aufzulösen", ebenfalls als „ungesetzlich oder unzulässig" und empfahl seinem König, für rasche Abhilfe zu sor-

gen.24

Das führt uns zu einem zweiten Punkt: Bei aller staatstreuen Gesinnung machte sich doch ein neues eigenständiges Selbstbewußtsein der adeligen Landgemeinden und Kleinstädte bemerkbar, vor allem dort, wo diese sich dezidiert als staatsbürgerliche und politische Gemeinden dem Adel entgegenstellten. Zum einen beklagte man sich über Belästi22

23

24

Petition vom 8. März 1848 (HStA München, MInn 43956). auch Max von Seydel, Staatsrecht (wie Anm. 7), hier Bd. 2, S. 340-348; sowie Monika Wienfort, Ländliche Rechtsverfassung und bürgerliche Gesellschaft. Patrimonialgerichtsbarkeit in den deutschen Staaten 1800 bis 1855, in: Der Staat 33 (1994), S. 207-239, hier S. 224-229. Gutachten vom 21. Mai 1842 bei Heinz GOLLWITZER, Standesherren (wie Anm.

Vgl.

17), S. 359-367, Zitate S. 359 f., 364.

Adel und

Gemeindeprotest in Bayern

133

gungen kommunaler Instanzen durch die Gerichtsherren, über Drohungen gegenüber engagierten Gemeindemitgliedern, wenn diese selbstbewußt-eigenwillige Gemeindebevollmächtigte unterstützten, über verweigerte gerichtsherrliche Bestätigungen der Gemeindevorsteher bzw. des Magistrats, sogar über Arreststrafen für Gemeindevertreter. Besonders deutlich wird dies in den Herrschaftsgebieten der großen bayerischen Standesherrschaften (wie der Oettingen-Wallerstein oder Thurn und Taxis), in denen etwa die Magistrate der Stadt Oettingen und des Marktes Wörth vehement für ihre gemeindebürgerlichen und gerichtlichen Rechte stritten.25 Zum anderen ging es den Gemeinden um die Heranziehung der ansässigen Adeligen zur Aufbringung der Gemeindelasten wie den Bau von Straßen oder die Finanzierung ge-

meinnütziger Einrichtungen (Feuerwehrhaus, Hebammendienst, Durchführung von Viehimpfungen usw.). Da nicht zuletzt die Grundherrschaften etwa von Verbindungsstraßen zu größeren Märkten oder Städten profitierten, seien sie auch entsprechend ihres Anteils an der Flurmarkung zum Beitrag an den Gemeindelasten verpflichtet; dies würden die „Lehren der christlichen Religion, das Vernunftgesetz, die Gesetze der civilisierten Staaten und die Constitution" gebieten, vor allem aber der Grundsatz der die Bürgergemeinde umgreifenden Ge-

meinwohlpflichtigkeit!26

Bei all dem kann man durchaus auch in der bäuerlichgemeindlichen Welt gewisse Anklänge an Ideale der tugendhaften z. B. Petition der Stadt Oettingen (im Hochgericht Oettingen-Wallerstein), 5. Juni 1819 (ABL München, 0/1 a/2); Petition des Magistrats des Marktes Wörth (im Gebiet der Thurn und Taxis), 28. März 1843 (ABL München, W/8al/14), in der es um Zuständigkeitsabgrenzungen des fürstlichen und des Marktgerichts hinsichtlich der Strafpolizei ging und das gemeindliche Recht gegenüber der Adelsgerichtsbarkeit verteidigt wurde. Siehe ferner etwa die Petition der Gemeinde Haindlfing (Oberbayern), 4. März 1848 (ABL München, H/1/19), in der ebenfalls Diskriminierungen des Gemeindeausschusses moniert wurden. Z. B. Petition der Gemeinde Obbach (Unterfranken), 26. März 1843, gegen die Gutsherrschaft ZuRhein, die einen Beitrag zur Errichtung einer Distriktsstraße verweigerte (ABL München, 0/2/5). Vgl. auch die oben angeführten Petitionen von Birle und Co., 6. Februar 1846, die ebenfalls die mangelnde Beteiligung des Adels an den Gemeindelasten beklagten (ABL München, B/9/9); oder zum überregionalen Vergleich die Petition der Wahlmänner des Amtes Neustadt (Sachsen-Weimar) vom 18. Mai 1848, die ihre Forderungen zur Aufhebung des Feudaldrucks mit solchen zur stärkeren Heranziehung des Adels zu den Gemeindelasten verbanden. (Rüdiger Moldenhauer [Bearb.], Die Protokolle des Volkswirtschaftlichen Ausschusses der Deutschen Nationalversammlung 1848/49. Mit ausgewählten Petitionen, Boppard a. Rh. 1992, S. 346-352, hier S. 350 f.).

Vgl.

-

-

-

Bernhard Löffler

134

Bürgerrepublik erkennen, auf die etwa Paul Nolte mehrfach, freilich in überzogener Form, vor allem für den badischen Liberalismus hinge-

wiesen hat. Gerade im deutschen Süd(west)en verwischte die ländliche Gemeinde oder Kleinstadt als relativ geschlossene Formation mit dem Bürgermeister an der Spitze mit ihren Forderungen nach bürgerlichem „Gemeingeist" und „Gemeinsinn" in der Tat die ständischen Grenzen und konnte zu einem potentiellen Probefeld selbstbewußter politischer Partizipation im kleinen werden.27 Allerdings wird man mindestens ebenso deutlich zu betonen haben, daß zum einen viele Formen des Gemeindekommunitarismus sich vor allem aus älteren, vorliberalen und vormodern-mittelalterlichen Traditionsschichten speisten, von denen die erwähnten Segmente moderner, republikanisch-bürgerlicher Prägung zu scheiden sind. Hinzuweisen wäre etwa auf traditionell korporativistische Denkmodelle (alte Rechte an Wald und Jagd, Vorstellungen einer „moralistischen" Wirtschaftsordnung des „gerechten Existenzminimums"). So beriefen sich die Bauern vor allem während der Sozialrevolutionären Unruheperiode 1847/48 oft explizit auf die Forderungen des Bauernkriegs mit seinen legendären Zwölf Artikeln.28 Zum anderen waren die gemeindlichen Proteste zumeist auf das unmittelbare lokale oder regionale Umfeld beschränkt und ließen jede nationalpolitische oder ausgreifend liberal-konstitutionelle Ambition vermissen. Man konzentrierte sich lieber auf die drängendsten eigenen ökonomischen oder gemeindlichen Probleme und legte im Ganzen eine unprogrammatische Grundhaltung an den Tag, die auf Bodenqualität, Betriebsgröße und Ertrag, mitunter auch auf konkrete gemeindepolitische

z. B. Paul Nolte, Bürgerideal, Gemeinde und Republik. „Klassischer Republikanismus" im frühen deutschen Liberalismus, in: HZ 254 (1992), S. 609-656; Ders., Gemeindeliberalismus. Zur lokalen Entstehung und sozialen Verankerung der liberalen Parteien in Baden, in: HZ 252 (1991), S. 57-93. In der Folge auch Elisabeth Fehrenbach, Die Entstehung des „Gemeindeliberalismus", in: Dies., Politischer Umbruch und gesellschaftliche Bewegung. Ausgewählte Aufsätze zur Geschichte Frankreichs und Deutschlands im 19. Jahrhundert, hg. v. HansWerner Hahn u. Jürgen Müller, München 1997, S. 145-162. Vgl. Hanns Hubert Hofmann, Adelige Herrschaft und souveräner Staat. Studien über Staat und Gesellschaft in Franken und Bayern im 18. und 19. Jahrhundert, München 1962, S. 482-487; Friedrich Lautenschlager, Die Agrarunruhen in den badischen Standes- und Grundherrschaften im Jahre 1848, Heidelberg 1915, S. 37, 54; Wolfram SiEMANN, Adelskrise (wie Anm. 6), S. 233 f.; Rainer Koch, Agrarrevolution (wie Anm. 6), S. 377 f.

Vgl.

-

Adel und

Gemeindeprotest in Bayern

135

ausgerichtet war und nur sehr bedingt in modernrepublikanische Theorien einzufangen ist.29 Aber mit dieser relativierenden Einschränkung geben die Beschwerden doch einen Hinweis auf ein deutlich gesteigertes dörflichgemeindliches, auch geme'mdebürgerliches Selbstbewußtsein, das unter Umständen zu einer realen politischen Größe werden und eine liberalisierende Breitenwirkung entfalten konnte, die ursprünglich in Rechte

gar nicht intendiert war, sondern erst in bestimmten (gesellschafts)politischen Konstellationen zu Tage trat. Diese Feststellung gilt zudem gerade für einen weiteren Umstand, der den Adel in jenem gemeindepolitischen Diskurs irritieren und alarmieren mußte. Denn auch das kommunale Gemeinwohlargument konnte wie schon die Klage über adelige Feudalrechte ein gutes Stück weit mit

ihrer Intensität

so

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den

antiadeligen Vorstellungen

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einer staatlichen Herrschaftsverdich-

tung einhergehen. Die Forderung nach mehr Gemeinsinn in und für die

Gemeinden konnte sich für den Ansprechpartner Staat leicht einfädeln in eine aufgeklärte „gouvernementale 'Gemeinwohl-Ideologie" (W. Demel), wie sie die bayerischen Staatsrechtslehrer und maßgeblichen Minister seit Ende des 18. Jahrhunderts vertraten. Diese knüpfte zwar zunächst die authentische Interpretation von Gemeinwohl und die Fähigkeit zu dessen Durchsetzung nicht an die Gemeinden, die unter strikte Kuratel gestellt wurden, sondern ausschließlich an den Staat.30 etwa auch Lothar Gall, Gemeinde und Staat in der politischen Theorie des frühen 19. Jahrhunderts, in: Peter Blickle (Hg.), Theorien kommunaler Ordnung in Europa, München 1996, S. 63-74, hier S. 70; Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800-1866. Bürgerwelt und starker Staat, 4. Aufl. München 1983, S. 171-178,602; Dieter Langewiesche, Revolution (wie Anm. 12), S. 186-189. Wiguläus Frhr. von Kreittmayr (1706-1790), einer der bedeutendsten aufgeklärten bayerischen Rechtsreformer, definierte den Staat bezeichnenderweise als „Respublica vel civitas", als „die Bürgerliche Gesellschaft (Societas civilis), welche aus Regenten und Unterthanen bestehet, um die gemeine Wohlfahrt mit vereinigten Kräften zu beförderen [...]". (Kreittmayr, Anmerkungen über den Codex Maximilianeum Bavaricum civilem, 5 Teile, München 1758-1768, hier Bd. 2, S. 5). Vgl. zum Kontext der gemeindepolitischen Konzeptionen vornehmlich Walter Demel, Der bayerische Staatsabsolutismus 1806/08 bis 1817. Staats- und gesellschaftspolitische Motivationen und Hintergründe der Reformära in der ersten Phase des Königreichs Bayern, München 1983, S. 132-163, Zitate S. 132, 140; zum württembergischen Vergleich: Ulrich Speck, Staatsordnung und Kommunalverfassung, Frankfurt a. M. 1997; allgemein zur Position des Adels im bayerischen Staat neuerdings Walter Demel, Struktur und Entwicklung des bayerischen Adels von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis zur Reichsgründung, in: ZBLG 61 (1998), S. 295-345.

Vgl.

Bernhard Löffler

136

Aber der Weg des rigorosen Etatismus und Zentralismus wurde nach der Absetzung Maximilian von Montgelas' 1817 verlassen: das staatliche Gemeinwohlpostulat erhielt eine neue Anbindung an das Gemeindewesen. Die Gemeinden wurden wieder aufgewertet und mit einem erweiterten Selbstverwaltungs- und Finanzrecht ausgestattet.31 Staatsmänner, Verwaltungsjuristen und Politiker der Ära nach Montgelas (wie Ignaz von Rudhart, Georg Friedrich von Zentner, Max von Lerchenfeld, Carl von Giech, Hermann von Rotenhan und sogar Karl von Abel) betrachteten sie zunehmend als komplementäre und unabdingbare Bestandteile des Staatsganzen, als „Grundlage aller politischen Institutionen im Staate", als „Spiegelbild der Staatsverfassung im Kleinen" und „Bürgschaften der Freyheit". Nicht in einem Gegeneinander, sondern in einem Wechselspiel sollten jetzt Gemeindefreiheit und staatliche Einheit wirken, sollten sich Traditionen der alten „Dorf-Gmein" mit den neuen Anforderungen flächendeckender, geschlossener staatlicher Verwaltungs- und Steuerbezirke verbinden, zur Identifikation mit dem Staate und zum Nutzen des gesamten Gemeinwesens. „Jedem Gemeinde-Gliede muß ein ihm angemessener Grad von Teilnahme an den gemeinsamen Angelegenheiten zugestanden werden; wenn der einzelne sich dadurch selbst als unmittelbares Glied eines Ganzen, einer öffentlichen Gemeinschaft verpflichtet, so hört er auf, sein Selbst allein zum Zwecke zu nehmen. Es wird ein Sinn für das öffentliche, ein Gemein-Sinn wieder entstehen, sey' er auch anfänglich nur lokal

[,..]".32

Zur Problematik der Verbindung bzw. des Gegensatzes von Gemeinde und Staat, von „traditionalem Stadt- und Gemeindebürgerrecht und modernem Staatsbürgerrecht" vgl. Rainer Koch, Staat oder Gemeinde? Zu einem politischen Zielkonflikt in der bürgerlichen Bewegung des 19. Jahrhunderts, in: HZ 236 (1983), S. 73-96, Zitat S. 79; Dieter Langewiesche, „Staat" und „Kommune". Zum Wandel der Staatsaufgaben in Deutschland im 19. Jahrhundert, in: HZ 248 (1989), S. 621-635. Georg Friedrich von Zentner (1752-1835), von 1823-31 bayerischer Justizminister und der Hauptredakteur der bayerischen Verfassung von 1818, in seinem einleitenden Vortrag zum Entwurf des Gemeindeedikts von 1818 im bayerischen Staatsrat, zitiert bei Eberhard Weis, Die Begründung des modernen bayerischen Staates unter König Max I. (1799 bis 1825), in: Max SPINDLER (Hg.), Handbuch der bayerischen Geschichte, Bd. 4/1, München 1974/75, S. 3-86, hier S. 70 f. Ähnlich der eingangs zitierte und charakterisierte Ignaz von Rudhart in seinem Politischen Glaubensbekenntniß (wie Anm. 1), S. 85, 106, 222 f., 276, 315 ff. und Ders., Zustand (wie Anm. 2), Bd. 1, S. 38-51; Bd. 2. S. 329-336; ferner Maximilian Emanuel Frhr. von Lerchenfeld (1778-1843), 1817-25 und 1833/34 bayerischer Finanzminister, Staatsrat und Mitglied der Verfassungskommission in: Max

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Adel und

Gemeindeprotest in Bayern

137

Diesem Ideal eines geschlossenen Staatsverbandes auf der Grundlage flächendeckender Gemeinwesen stand die Existenz des gerichtsherrlichen Adels ganz offensichtlich entgegen. Die Bestimmungen und staatsrechtlichen Interpretationen der Gemeindeedikte von 1818 und 1834, der Verordnung zum Gemeindeumlagenrecht von 1819 sowie des Verfassungsedikts über die gutsherrlichen Rechte und die gutsherrliche Gerichtsbarkeit (VI. Beilage zur bayerischen Verfassung von 1818) ergeben dabei folgendes, etwas zwiespältiges Bild der rechtlichen Stellung der Adeligen zu den Ruralgemeinden33: Mit Ausnahme der Standesherren mit ihrer exponierten „unterlandesherrschaftlichen" von Lerchenfeld (Hg.), Aus den Papieren des k. b. Staatsministers Maximilian Freiherrn von Lerchenfeld, Nördlingen 1887, S. 92, 96-108, 235-249, 340-343, 347 ff. Vgl. auch Sebastian Hiereth, Die Bildung der Gemeinden im Isarkreis nach den Gemeindeedicten von 1808 und 1818, in: Oberbayerisches Archiv 77 (1952), S. 1-34, hier S. 20-25, 32 mit Anm.47; Hanns Hubert Hofmann, Herrschaft (wie Anm. 28), S. 390-399; sowie Lothar Gall, Gemeinde (wie Anm. 29), S. 68 ff. 33 Zum Folgenden: Gemeindeedikt vom 17. Juni 1818, §§ 1, 2, 4, 11, 19, 56, 105116 (Christian Engeli u. Wolfgang Haus [Hg.], Quellen zum modernen Gemeindeverfassungsrecht in Deutschland, Stuttgart 1975, S. 139 ff., 147). § 11 definierte die gemeindeumlagenpflichtigen „wirklichen Gemeindemitglieder" als „diejenigen, welche in dem Bezirke [der Gemeinde] ihren ständigen Wohnsitz aufgeschlagen oder daselbst ein häusliches Anwesen haben, und dabey darin entweder besteuerte Gründe besitzen oder besteuerte Gewerbe ausüben". Der Adel war also explizit nicht ausgenommen. Auch die Ausführungen bei Max von Seydel, Staatsrecht (wie Anm. 7), Bd. 1, S. 625 f., implizieren eine prinzipielle Zugehörigkeit der adeligen Besitzungen zu den Gemeindemarkungen. VI. Verfassungsedikt vom 26. Juni 1818 in: Gesetzblatt für das Königreich Baiern (künftig: GBI.) 1818, Sp. 221-276; Revidiertes Gemeindeedikt vom 1. Juli 1834 in: GBI. 1834, Sp. 109-132. Zur Umlagen- und Steuerfrage: Verordnung vom 8. Juni 1807 (Regierungsblatt für das Königreich Baiern 1808, Sp. 969); Titel IV, § 13 der bayerischen Verfassung von 1818 (Ernst-Rudolf Huber [Hg.], Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1, 3. Aufl. Stuttgart 1978, hier S. 162); Verordnung, die Umlagen für Gemeinde-Bedürfnisse betreffend, 22. Juli 1819 (GBI. 1819, Sp. 83-98). Vgl. daneben auch die einschlägigen verwaltungspraktischen Entschließungen der Regierung des Obermainkreises, 19. April und 15. Mai 1821 (ABL München, K/2/7) sowie der Regierung von Schwaben und Neuburg, 7. Oktober 1835 (Schriftstücke und Debatten in: Verhandlungen der Kam-

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mer der Reichsräte des Königreichs Baiern [künftig: KdRR] 1842/43, Beilagen Bd. 5, S. 183-202; Bd. 3, S. 49-65), die jeweils die Konkurrenz- und Gemeindeumlagenpflichtigkeit von Adeligen feststellten. Erörterung hierzu bei Max VON Seydel, Staatsrecht (wie Anm. 7), Bd. 3/1, S. 6-32, 236-242, 279-295, v. a. aber S. 80-90, 138-158; Bd. 4, S. 459-616; Karl MÖCKL, Der moderne bayerische Staat. Eine Verfassungsgeschichte vom aufgeklärten Absolutismus bis zum Ende der Reformepoche, München 1979, S. 106, 134 ff., 208 ff. -

Bernhard Löffler

138

Stellung34 waren die Adeligen nach dem Gemeindeedikt an sich formalrechtlich in die Gemeindeverbände integriert. Mit der Aufhebung der adeligen Steuerbefreiungen im Jahr 1807 war der Adel wiederum mit ausdrücklicher Ausnahme der Standesherren zudem pflichtig zur Leistung der Gemeinde- und Distriktsumlagen, die als prozentuale Zuschläge zu den direkten Staatssteuern erhoben wurden. Vielfach maßgeblich waren dabei für unsere adeligen Grundherren die Distriktsumlagen, die ein aus mehreren Ortsgemeinden bestehender Gemeindedistrikt für solche Ausgaben erheben konnte, die den Bereich der einzelnen Gemeinden überschritten und an denen man denke an den Straßenbau gerade die mehr oder weniger großflächigen adeligen Güter unmittelbar partizipierten.35 Andererseits gestand jedoch das erwähnte Verfassungsedikt den adeligen Grundbesitzern mit Gerichtsbarkeit je nach Wertigkeit ihres Herrschafts- bzw. Patrimonialgerichts36 abgestufte Gerichts-, Kuratel- und Polizeirechte über ihre Grundholden zu, stellte sie also über die Gemeinden. In Stiftungs- und Gemeindeangelegenheiten sicherte es ihnen ausdrücklich die „niedere Curatel und Verwaltung" über die Ruralgemeinde zu, ferner die Aufsicht über die Wahlen der Gemeindevorsteher und -pfleger, deren Bestätigung, wenn gewünscht auch über die „Führung und Verwahrung des Gemeinde-Buchs, des Inventariums, der Concurrenz-Rolle für die -

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Zur rechtlichen Position der Standesherren vgl. das Edict, die staatsrechtlichen Verhältnisse der vormals reichsständischen Fürsten, Grafen und Herren betreffend (IV. Verfassungsbeilage vom 26. Mai 1818), §§ 53, 55 (GBI. 1818, Sp. 208 f.), sowie die Gemeindeumlagenverordnung von 1819, Art. 3 Ziff. 1 (GBI. 1819, Sp. 89 f.). Erörterung bei Heinz Gollwitzer, Standesherren (wie Anm. 17), S. 3235, 46-60, 72-97, dort S. 73 f. und 78 zum Begriff der „Unterlandesherrschaft"; ferner Max von Seydel, Staatsrecht (wie Anm. 7), Bd. 1, S. 602-628, bes. S. 623-626; Bd. 4, S. 533 f., 536 f., 586-596. In dem Gesetz über die Behandlung der Districtsumlagen vom 11. September 1825 (GBI. 1825, Sp. 87 ff.) wurde den beteiligten Grund-, Zehnt- und Gutsherren neben den Gemeindevertretern die Mitgliedschaft in der Distriktsversammlung zugestanden, die für die Erhebung der Umlagen mit verantwortlich war. Max von Seydel, Staatsrecht (wie Anm. 7), Bd. 3/1, S. 238 f. Die Herrschaftsgerichte (der Standesherren) mit Zuständigkeiten über die streitige, die Zivil- und die freiwillige Gerichtsbarkeit; Patrimonialgerichte I. Klasse ebenfalls mit streitiger und freiwilliger Gerichtsbarkeit; Patrimonialgerichte II. Klasse nur mit freiwilliger Gerichtsbarkeit, beide aber anders als die Herrschaftsgerichte ohne Zuständigkeit über Distriktspolizeisachen, stattdessen nur mit der niederen örtlichen Polizei (Verwaltung). -VI. Verfassungsedikt von 1818, §§ 3141, 84-92 (GBI. 1818, Sp. 229-235, 251-256). Vgl. auch die Erörterungen bei Max von Seydel, Staatsrecht (wie Anm. 7), Bd. 1, 583-601; Bd. 2, S. 340-349; Hanns Hubert Hofmann. Herrschaft (wie Anm. 28), S. 282-305, 379-402. -

Adel und

Gemeindeprotest in Bayern

139

Anlagen und des Lagerbuchs, dann des Duplicáis der Tauf-, Trau- und Sterbe-Register [...], wobey er [der adelige Gerichtsherr] aber den Gemeinde-Vorsteher als seinen Gehülfen beyzuziehen verbunden ist".37

bayerische Adel stand folglich in gewissem Umfang auch nach (bei immerhin 773 adeligen Gerichts- und Verwaltungsbehörden

Der

1818 noch im Jahr 184838) außerhalb der rechtlichen Norm der Gemeindebürger, und er stand jedenfalls quer zu dem auch rechtlich schon deutlich aufscheinenden allgemeinen Postulat, jeder Staatsbürger müsse dem staatlich-kommunalen, konstitutionellen Gemeinwesen und einer durchgehend-stringenten Gemeindebildung eingefügt werden. Grundherrliche Gerichte schoben sich zwischen die Gemeinden und die Staatsbehörden und beengten bzw. störten beider Wirkungskreise und Selbstverwaltungsrechte. Da außerdem die bayerischen adeligen Gerichtsbezirke von jeher weit weniger geschlossen waren als zum Beispiel die preußischen Gutsbezirke, kam es zu einer recht unübersichtlichen Vermischung unterschiedlicher Kompetenzen und Herrschaftsträger, die noch durch die angesprochenen ortsgemeindeübergreifenden Probleme wie den Distriktsstraßenbau verkompliziert wurde.39 Die Adelsgerichte wurden daher zunehmend als „offenbare Störung des Gemeinwohls" empfunden, wie es in einem Gutachten der Kreisregie-

37

38

VI.

Verfassungsedikt von 1818, §§ 96-110, bes. §§ 96, 100, 101, 103, 106 (GBI. 1818, Sp.257-264); ähnlich §§ 95, 96 und 101-107 des Gemeindeedikts von 1818, bei Engeli u. Haus (Hg.), Quellen (wie Anm. 33), S. 152-155. Zahlen bei Hanns Hubert Hofmann, Herrschaft (wie Anm. 28), S. 424, 457 f., 461; Walter Demel, Die wirtschaftliche Lage des bayerischen Adels in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, in: Armgard von Reden-Dohna u. Ralph Melville

39

(Hg.),

Der Adel

an

der Schwelle des

1860, Stuttgart 1988, S. 237-269, hier S. 253.

bürgerlichen

Zeitalters 1780-

So erstreckte sich etwa das Patrimonialgericht Burggrub mit 1.343 Objekten in 98 Orten auf den Bereich von fünf Landgerichten. In der 800-Seelen-Gemeinde Pretzfeld im Landgericht Ebermannstadt überschnitten sich die Rechte von sieben gutsherrlichen Gerichtsbarkeiten. Das Schönbomsche Gericht Pommersfelden gehörte mit seinen 3.000 Objekten in 71 Orten zu fünf oberfränkischen und einem mittelfränkischen Landgerichtsbezirk. Vgl. Hanns Hubert Hofmann, Herrschaft (wie Anm. 28), S. 304 f., 400 f., 496; Karl Möckl, Staat (wie Anm. 33), S. 208 ff. Zu der Problematik der unklaren Scheidung adeliger und gemeindlicher Zuständigkeiten und den komplizierten Vorgängen in der Gründungsphase von Gemeinden und Patrimonialgerichtsbezirken zwischen 1808 und 1818 siehe Sebastian Hiereth, Bildung (wie Anm. 32).

¡40

Bernhard Löffler

aus dem Jahr 1826 lautete.40 Der bayerische Innenminister Karl von Abel, an sich fürwahr kein Protagonist des Modernen, stellte in diesem Zusammenhang im Jahr 1843 lakonisch und ohne Umschweife fest, es sei leider nicht zu vermeiden, daß in bestimmten Bereichen „wohl begründete Rechte [des Adels] in den wogenden Fluthen der Zerstörung untergehen". Es sei angezeigt, sich den neuen Umständen zu unterwerfen. Auch der Adel habe eben als Gemeindemitglied und Staatsuntertan zu den allgemeinen Staats- und Gemeindelasten seinen Beitrag zu leisten.41 Denn, so Ignaz von Rudhart, „kein Theil der öffentlichen Autorität, die nur der Regierung gebührt, wird von irgend einem Unterthan ohne eigene Nachtheile besessen. [...] Die Aristokratie hüte sich, vom Buchstaben des Gesetzes abzuweichen; er ist die einzige Legitimität, die keine Privilegien für sich hat [...]".42 Für den Adel bestand das grundsätzliche Problem, daß er als „willkürliche Privatherrschaft" mit öffentlich-rechtlichen Aufgaben ein Fremdkörper im modernen Staatsgebilde blieb, den es weiter einzuschränken oder zu domestizieren galt.43 Dieses Ansinnen mußte er nun gleichsam in zweifacher Stoßrichtung versuchen abzuwehren: gegen die Gemeinden und gegen den Staat. Adelsrecht war auch und gerade in gemeindepolitischer Hinsicht ein „politisches Kampfobjekt" par excellence.44

rung des Rezatkreises

Gutachten der Kreisregierung in HStA München, MInn 29501. Diese Folgerung gilt im Grunde auch dann, wenn man wird feststellen müssen, daß die Patrimonialgerichtsbarkeit zunehmend in die bürokratisch-staatliche Ordnung integriert wurde, etwa den Normen bürgerlicher Rechtskultur oder bestimmten staatlichen Qualitätsanforderungen an die Patrimonialjuristen unterworfen war, das „feudale Residuum" also bereits vor 1848 gewisse moderne, d. h. auf die Landesjustiz ausgerichtete Züge aufwies. Auf diese Zusammenhänge verweist zu Recht Monika Wienfort, Rechtsverfassung (wie Anm. 23). Abel vor der Kammer der Abgeordneten am 19. August 1843 (KdA 1843, Bd. 14, S. 404-409). Ignaz von Rudhart, Glaubensbekenntniß (wie Anm. 1), S. 83, 106; vgl. auch Ders, Zustand (wie Anm. 2), Bd. 1, S. 44-51. Walter Demel, Staatsabsolutismus (wie Anm. 30), S. 277-306, 438-553. Hanns Hubert Hofmann, Herrschaft (wie Anm. 28), S. 293, 464. Zu den Konfliktlinien zwischen Staat und Adel, dem Problem der Integration des Adels in den Staat vgl. z. B. Gerhard Nebinger, Standesherren (wie Anm. 16); Elisabeth Fehrenbach, Das Scheitern der Adelsrestauration in Baden, in: Eberhard Weis (Hg.), Reformen im rheinbündischen Deutschland, München 1984, S. 251-264; Wolfgang von Hippel, Bauernbefreiung (wie Anm. 8), Bd. 1, S. 372-383, und Bd. 2, S. 70-79, 143-157, 189-216, 329-361. -

Adel und

Gemeindeprotest in Bayern

141

III.

Wie fielen vor diesen rechtlichen und politischen Hintergründen die Reaktionen des Adels auf die bäuerlichen und gemeindlichen Vorwürfe aus? Zum einen versuchte man, die eigenen grund- und gerichtsherrlichen Rechte als wohlerworbene Eigentumsrechte zu etablieren, also möglichst ganz von der öffentlich-rechtlichen in die privatrechtliche Sphäre zu ziehen. Diese Strategie setzte bereits 1819 ein, als ein Großteil des altbayerischen landsässigen Adels in einer Eingabe seine Interpretation des gutsherrlichen Edikts vorlegte. Die Vertreter von 14 angesehenen Familien erklärten kategorisch, daß „die Ausübung [ihrer Rechte] nur aus der besonderen Ermächtigung des Souveräns wegen der Möglichkeit einer Mißdeutung als gravierlich müsse erachtet werden", weil die Patrimonialgerichtsbarkeit, wie der Begriff selbst bereits aussage, „ein eigentümliches Recht, ein patrimonium" sei.45 Ähnlich äußerte sich 1822 ein schwäbischer Reichsritter, als er der Niedergerichtsbarkeit die Eigenschaften eines „freyen Eigenthumes und [der] Allodialitaet" zuschrieb und die Wiederherstellung der „aristokratischen Plenituditaet in statu quo ante" für adelige Grund- und Gerichtsherren forderte.46 Und noch im Jahr 1848 gebrauchte Fürst Karl von Oettingen-Wallerstein in einer Eingabe an die Frankfurter Nationalversammlung, die im ganzen eine recht konziliante Haltung zur Ablösungsfrage zeigte, einen derart ausgeweiteten Eigentumsbegriff, daß schlechterdings alle überkommenen Berechtigungen als „Privatrecht"

erschienen.47

Diese Grundhaltung bedeutete auch, daß der Adel nicht ohne weiteres gewillt war, sich den staatlichen Anforderungen nach einer bestimmten Ausstattung und Struktur der Patrimonialgerichte zu fügen, was als ungebührliche Einmischung in eigene Angelegenheiten abgelehnt wurde. So setzte man sich gegen die Festlegung von möglichst geschlossenen Gerichtsbezirken ebenso zur Wehr wie gegen eine solche der Höchstgröße der Bezirke (Diamentralentfernung von vier Geh-

Eingabe vom 14. Februar 1819, unterzeichnet von Mitgliedern der Häuser Lerchenfeld, Yrsch, Pfetten, LaRosée, Niedermayr, Ezdorf, Cetto, Tann, Tattenbach, Perfall, Butler, Paumgarten-Ehring, Freyberg und Mandl, die daran auch die Kri-

tik an administrativ festgelegten Voraussetzungen für eine Patrimonialgerichtsbarkeit knüpften. (HStA München, Staatsrat 1957; Hervorhebung v. Vf.). Petition von Johann Frhr. von Kiessing, 6. Mai 1822 (ABL München, K/6/4). Eingabe vom 7. November 1848 bei Wolfram Siemann, Adelskrise (wie Anm. 6), S. 241.

Bernhard Löffler

142

stunden). Ferner wurden die kostspieligen Vorgaben zur Qualifikation Entlohnung der Patrimonialrichter, die denjenigen der Landrichter entsprechen sollten, kritisiert.48 Schließlich ergoß sich z. B. 1827/28 eine kleine altadelig-oberbayerische Petitionslawine zu dem Problem und

der Gerichtszugehörigkeit von säkularisierten Klostergrundholden über den bayerischen Landtag, da der Entscheidung ebenfalls grundsätzliche Bedeutung zum Stand der adeligen Gerichtsbarkeit im Staate zugemessen

wurde.49

Im Laufe der dreißiger und vierziger Jahre verschoben sich dann aber etwas die Akzente in der Verteidigungsstrategie. Aufgeschlossene Adelskreise traten weniger ablehnend-fordernd auf, sondern zeigten ihren guten Willen, ohne freilich ihre eigenen Ziele aus den Augen zu verlieren. Das Argumentationsschema lautete mehr und mehr: Man

gemeinderechtspolitische Reformen nicht mehr grundwegs ab, statt einer vom Staat aufoktroyierten gesetzlichen Lösung bevorzuge man jedoch die freiwillige Ablösung und eine Entschädigung der Rechte.50 Vor allem in liberal(konservativ)en Kreisen lehne adels- und

Vgl. Eingabe vom 14. Februar 1819 (HStA München, Staatsrat 1957); Beschwerde der Freiherren von Crailsheim (Rügland und Ansbach) gegen die gesetzliche Eingrenzung der Gerichtsbezirke auf den Umkreis von vier Stunden Wegstrecke, 30. März 1822 (ABL München, Cl/11; KdA 1825, BeilagenBd. 2, S. 135 f.); aus gemeindlicher Sicht: Beschwerde von vier Gemeinden aus dem oberbayerischen Landgericht Rain, gegen die Zuordnung zum Patrimonialgericht Sandizell, weil dieses mit seinen neuen Amtsräumen zu weit entfernt liege, 26. Januar 1843 (ABL München, R/9/10). Vgl. auch Monika Wienfort, Rechtsverfassung (wie Anm. 23), S. 213 ff, 228 f.; Hanns Hubert Hofmann, Herrschaft (wie Anm. 28), S. 405-409, 455 ff., der weitere adelige Gravamina v. a. der fränkischen Reichsritterschaft nennt. Beschwerde des Johann von Barth auf Harmating und Eurasberg, 1827; Kollektivbeschwerde der Grafen von Preysing-Hohenaschau, LaRosée, Yrsch, der Freiherrn von LaFabrique, Paumgarten, Freyberg, Perfall, Pfetten und Koch, 1828; Beschwerde der Gebrüder Freiherrn von Reck, 1828; Beschwerde des Grafen Friedrich Karl von Spaur, 16. Juni 1828 alle wegen der Einziehung der zu ihren Patrimonialgerichten gehörigen Gerichtsbarkeiten über vormalige Kloster- und Stiftsgrundholden. ABL München, S/16/8; Kammerverhandlungen von Juli und August 1828: Alphabetisches Repertorium über die Verhandlungen der beiden Kammern der Ständeversammlung des Königreichs Baiern 1827/28, S. 135-145; KdA 1827/28, BeilagenBd. 16, Beilage 83 (121 Seiten mit Gutachten und Protokollen); BeilagenBd. 18, Beilage 96 (42 Seiten); Bd. 16, S. 447-545 (mit ausführlichen Beratungen). Die Argumentationslinie der Freiwilligkeit bestimmte auch die Debatten zur Ablösungsfrage auf dem bayerischen Reformlandtag von 1848. Letztlich freilich nutzte der Staat die sich ihm bietende Chance einer gesetzlichen, nicht privatver-

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Adel und

Gemeindeprotest in Bayern

143

der Standesherren und mancher ihrer Parteigänger waren solche flexibel-pragmatischen Töne, die zum Jahr 1848 hin sukzessive zunahmen, zu vernehmen. Maßgebliche Vertreter dieser Gruppe waren etwa Karl von Leiningen, Ludwig von Oettingen-Wallerstein (der liberale Bruder des erwähnten Karl), Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst, Constantin von Waldburg-Zeil, Erwein von Schönborn und Carl von Giech, zu denen sich auch andere Adelige (und einflußreiche Minister) wie Max Erkinger von Seinsheim, Friedrich von ZuRhein, Georg von Maurer, Heinrich Aloys von Reigersberg oder Joseph von Armansperg gesellten.51 Diese Adelsfraktion verfaßte liberale Broschüren und Denkschriften etwa zum Ablösungswesen, in dem sie eine prinzipielle Notwendigkeit erkannte, zeigte sich auch zu Opfern bereit, plädierte allerdings für evolutionäre Wege der Entschädigung und gütlichen Einigung. Manche ließen den Worten Taten folgen: Leiningen, Giech und Hohenlohe-Schillingsfürst verzichteten freiwillig auf Teile ihrer Privilegien, mit dem Tenor, man dürfe sich den „dringenden Zeitbedürfnissen" nicht entgegenstellen, müsse historischen Ballast abwerfen, „um auf einer zeitgemäßen Basis wiederaufzubauen, was auf der alten zusammengebrochen war", und sich so materiell und moralisch eine „einflußreiche Stellung in der bürgerlichen Gesellschaft zu sichern, welcher nothwendig [dann] auch die entsprechenden politischen Rechte zufallen" würden. Um das monarchische Prinzip retten zu können, radikal-revolutionären Lösungen zuvorzukommen und das Heft politischen Handelns in den Händen zu behalten, müsse man bestimmte Vorleistungen erbringen und Zugeständnisse machen, auch wenn die Opfer schmerzten.52 Das prominenteste politische Opfer der Revolutiz. B. zu den aufschlußreichen Verhandlungen in der Kammer der Reichsräte Bernhard Löffler, Kammer (wie Anm. 16), S. 274-282. Heinz Gollwitzer, Standesherren (wie Anm. 17), S. 163-209, zu Bayern S. 192196; ferner Bernhard Löffler, Kammer (wie Anm. 16), S. 135-139, 182-185, 190 ff, 271-281, 502-507; Christof Dipper, Adelsliberalismus in Deutschland, in: Dieler Langewiesche (Hg), Liberalismus im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, Göttingen 1988, S. 172-192, hier S. 180 ff, der einerseits auf das Beispiel des Grafen Erwein von Schönborn verweist, in dessen Schloßpark zu Gaibach seit 1820 jährlich große Verfassungsfeiem abgehalten wurden (u. a. 1832 die spektakuläre liberale bayerische Parallelveranstaltung zum Hambacher Fest), der andererseits aber auch zu Recht die Einflußgrenzen dieser liberalen Adelspolitik betont. Vgl. die Broschüren und Denkschriften: Max Erkinger von Sepwsheim, Zur Ablösungsfrage in Bayern, Würzburg 1848, bes. S. 4 f.; Ludwig von OettingenWallerstein, An diejenigen meiner Mitbürger im Riese, welche sich gewöhnlich nicht viel mit Staatsgeschäften abgeben, Nördlingen 1848; [Ders.], Zur Verstän-

traglichen Ablösung. Vgl.

Bernhard Löffler

144

in Bayern, König Ludwig I., dichtete mit Blick auf jene engagierten und reformbereiten Adeligen: „Die schlimmen Aristokraten / verleideten mir den Thron, / sie haben Euch verraten / und sprachen uns beiden [König und Volk] Hohn [...]".53 Indes konnten auch solche konzilianten politischen Tendenzen bei Teilen des Adels nicht verhindern, daß gerade die Gebiete der erwähnten Standesherren und daneben vieler reichsritterschaftlicher Herrschaften im Fränkischen, im Donauries oder im Odenwald und im Spessart 1848 von schweren Unruhen heimon

gesucht wurden.54 Die erwähnten

Stellungnahmen dürfen darüber hinaus freilich nicht daß für viele Adelige die Vorgänge des Vormärz und beverdrängen, sonders der Jahre 1847/48 schlicht eine „Catastrophe" darstellten, die den Köpfen einer „Brut Übelgestimmter" entsprungen sei.55 Auch im Laufe der fünfziger Jahre beklagte man sich rückblickend oft wehmütig und larmoyant über die „destructiven Gesetze des Jahres 1848" und über die staatsrechtliche Benachteiligung des Adels seit der Revolutidigung in der Bodenentlastungsfrage (Ablösungsfrage), München 1848, bes. S. 4; Carl von Giech, Ansichten über Staats- und öffentliches Leben, Nürnberg 1843, hier S. 94 f.; Denkschrift Leiningens über die deutschen Standesherren, 12. Juli 1846, bei Heinz Gollwttzer, Standesherren (wie Anm. 17), S. 382-389, Zitat S. 383; Hohenlohe, Redemanuskript 1848, Denkschrift vom 25. Mai 1850 und Innenminister Reigersberg an Hohenlohe, 2. Juni 1855 (alles Bundesarchiv Koblenz, Nachlaß Hohenlohe, Nr. 1044, 1054, 961); Denkschrift Armanspergs an König Ludwig I. von 1848 (HStA München, Nachlaß Armansperg, Nr. 6);

Constantin von Waldburg-Zeil, Meine Grundsätze, Schaffhausen 1850, bes. S. 7 ff., 18. Zitiert bei Hanns Hubert Hofmann, Herrschaft (wie Anm. 28), S. 435. Allgemein zur Haltung des Adels während der Revolution in Bayern vgl. Heinz Gollwitzer, Ludwig I. von Bayern. Königtum im Vormärz. Eine politische Biographie, 2. Aufl. München 1987, S. 335-342, 689-720; Bernhard Löffler, Kammer (wie Anm. 16), S. 135-140, 190-193,269-290,473^180. Betroffen waren z. B. die Standesherrschaften Oettingen, Giech, Hohenlohe, Erbach, Neippberg, Leiningen, Löwenstein, Salm und Fürstenberg sowie die Reichsritterschaften Würtzburg, Künsberg, Redwitz, Schaumberg, Guttenberg und Seckendorff. Siehe oben die Literatur zu den Agrar-unruhen sowie Hanns Hubert Hofmann, Herrschaft (wie Anm. 28), S. 482-498; Friedrich Lautenschlager, Agrarunruhen (wie Anm. 28); Hermann Kessler, Bewegungen (wie Anm. 9), S. 38-76. So etwa die Gebrüder Carl und August von Seinsheim, Max von Arco-Valley oder Karl Maria von Aretin in Stellungnahmen und in ihrer Korrespondenz 1847/48 (Archiv der Grafen von Seinsheim, Sünching bei Regensburg, Nr. 318, 929) oder Albert zu Erbach an Chlodwig zu Hohenlohe, 3. Januar 1848 (Bundesarchiv Koblenz, Nachlaß Hohenlohe, Nr. 1039). Vgl. zu dieser reaktionären Adelsfraktion Bernhard Löffler, Kammer (wie Anm. 16), S. 160-167.

Adel und

Gemeindeprotest in Bayern

145

des Eigentums offenbar als Dennoch zeigen die liberalgelte.56 einzige wie weit in bestimmten Adelskreisen in aufgeschlossenen Positionen, Süddeutschland die Lernfähigkeit und das Bewußtsein der Notwendigkeit von Revisionen gerade auf agrarpolitischem Gebiet vorgedrungen waren, wie nötig die unvoreingenommene Selbstvergewisserung des eigenen Standes im veränderten politischen und gesellschaftlichen Umfeld geworden war, wie unumgänglich Reformen in Richtung eines grundbesitzenden Verdienst- und Gesinnungsadels bis weit in konservative Kreise hinein schienen bei gleichzeitiger Sicherung bestimmter adelspolitischer „Essentials" wie der politischen Standschaftsrechte, des Fortbestehens der Fideikommisse, gewisser Familien- und Erbrechte und der Aufrechterhaltung des Grundsatzes billiger Enton, für den das Grundrecht auf

Klasse

Wahrung

nicht

-

schädigung.57

Diese grundsätzlichen adelspolitischen Erwägungen verbanden sich mit Reaktionen auf die gemeindepolitischen Argumente. Dabei wurden die Forderungen der Landgemeinden durchgehend zurückgewiesen, zunächst mit „historisch-rechtlichen", dann mehr und mehr auch mit ökonomischen Begründungen.58 In einer ersten Argumentationslinie

Eingabe des Grafen Eberhard zu Erbach, 25. Mai 1853; „Recurs-Vorstellung" des Prinzen Karl von Oettingen-Wallerstein, 22. Februar 1854 (HStA München, MInn 47609). Vgl. auch Wolfram Siemann, Adelskrise (wie Anm. 6), S. 232. Ein in Süddeutschland aktiver liberaler Zirkel, an dem auch die genannten Standesherren teilhatten, war der Kreis um Friedrich Rohmer und Johann Caspar Bluntschli, der sich 1848 mit einer grundsätzlichen Adelsreform befaßte. Bernhard Löffler, Die Ersten Kammern und der Adel in den deutschen konstitutionellen Monarchien. Aspekte eines verfassungs- und sozialgeschichtlichen Problems, in: HZ 265 (1997), S. 29-76, hier S. 42-59; Wolfram Siemann, Adelskrise (wie Anm. 6), S. 236-241, dort entsprechende adelige Petitionen an die Frankfurter Nationalversammlung. Zur Lernfähigkeit des Adels in Südwestdeutschland: Elisabeth Fehrenbach, Scheitern (wie Anm. 44); Dies., Das Erbe der Rheinbundzeit: Macht- und Privilegienschwund des badischen Adels zwischen Restauration und Vormärz, sowie: Adel und Adelspolitik nach dem Ende des Rheinbundes, beides in: Dies., Umbruch (wie Anm. 27), S. 195-231. Vgl. in der Folge etwa die Petition mehrerer Gutsbesitzer (Ernst Frhr. von Reitzenstein, Friedrich und Ferdinand Frhrn. von Lindenfels, Caroline von Wisseil, Josef von Weichmann auf Gratschenreuth, Franz und Karl Grafen von Hirsch-

berg) aus den Landgerichten Kemnath und Neustadt a. d. Waldnaab, mit der Bitte um authentische Interpretation des Gemeindeumlagenedikts, 10. März 1825; die beiden Petitionen von Johann Frhr. von Kiessing (aus Adelstein in Oberbayern), über die Qualität der adeligen Patrimonialgerichtsbarkeit, 6. Mai 1822 und 16. April 1831; die Petition von Friedrich Frhr. von Halder (aus Burtenbach in Schwaben), über angebliche Benachteiligung bei Verurteilung zu Konkurrenz an

Bernhard Löffler

146

wurde prinzipiell die Zugehörigkeit des Adels zu den Gemeinden bestritten und damit auch die Verpflichtung zu einem Beitrag zu deren Lasten. Dem „Nivellierungs-System" und „Götzen-Zeitgeist" müsse entgegengewirkt werden; der Adel sei als „eigene Klasse", wie sie ja auch vom bayerischen Adelsedikt von 1818 definiert und mit gewissen politischen Standschaftsrechten ausgestattet werde, zu sichern, damit sie nicht im Strudel der Umwälzungen untergehe. Es sei nicht alles über einen egalitären Leisten zu schlagen. Zwar respektiere man die Unterwerfung unter neues Recht, auch die Abschaffung alter Steuerprivilegien, müsse aber ebenso scharf darauf bestehen, daß der Adel weiterhin eine „eigene und zwar bevorzugte Staats-Bürger-Klasse" sei, die sich prinzipiell von dem bäuerlichen Stand der Grundholden unterscheide. Die adeligen Güter lägen nicht im Gemeindeverband. Die Adeligen selbst seien nie auf eine Stufe mit den Landbewohnern zu stellen, da sie ja nicht gleichzeitig Herren und Knechte der gutsherrlichen Gerichte und Polizeien sein könnten. Die adeligen Grund- und Gerichtsherren und ihre Beamten könnten sich nicht gut den eigenen Grundholden unterordnen. Dies werde bereits mit Blick auf die „ethymologische" Wortentwicklung ganz deutlich. Schon die Begriffe Gutsherren und Gutsuntertanen schlössen „die Natur der Gemeinschaft" aus. Eine Verfassung, die diese faktisch bestehenden Grundsätze, alte Rechte und den „eingeführten Unterschied der Klassen" nicht achte, trage „den Keim voller Unzufriedenheit und den ihrer Auflösung mit

sich".

Im weiteren Verlauf gesellte sich zu diesem „historischrechtlichen" Argument ein reichlich abstruser, aber öfter geäußerter ökonomisch-steuerpolitischer Vorwurf. Weil den Umlagen der allgemeine Staatssteuerfuß zugrunde gelegt werde, würden die Adeligen kraß benachteiligt. Da die Bauern ihre grund- und gerichtsherrlichen Abgaben nicht versteuern müßten, reduzierten sich mit ihrem Steuersatz auch die Gemeindeumlagen. Bei den adeligen Grundherren würden jedoch deren kapitalisierte Rechte auf den Steuerfuß angerechnet und damit die Gemeindeumlagenlast gesteigert. Hinzu komme, daß ein kleiner bäuerlicher Hof vergleichsweise effektiver arbeiten und produzieren könne als ein großer grundherrschaftlicher Betrieb mit teueren

Gemeindeumlagen, 7. August 1843. ABL München, K/2/7, K/6/4 und 7, H/1/17; zur erstgenannten Beschwerde auch KdA 1825, BeilagenBd. 1, S. 317 ff.; zur Petition Halder auch die Kammerverhandlungen vom August 1843: KdRR 1842/43, BeilagenBd. 5, S. 180-202; Bd. 3, S. 49-65; KdA 1843, Bd. 13, S. 245; Bd. 14, S. 312-318, 374-412.

den

Adel und

Gemeindeprotest in Bayern

147

und unzuverlässigen Arbeitskräften: „Was der Pflug gewinnt, verzehrt das Gesinde". Kleine Felder würden dagegen von der Bauernfamilie selbst bestellt, ohne hohe Lohnkosten. Außerdem seien sie bei Schlechtwettereinbrüchen schneller abzuernten und das Getreide besser in Sicherheit zu bringen. Daher sollten die gesamten Berechnungs-

grundlagen der Gemeindeumlagen zumindest neu und gerechter taxiert werden. Schließlich bestand man seitens des Adels auch in diesem gemeindepolitischen Punkt wie bei den Ablösungsdebatten im Verlauf der dreißiger und vierziger Jahre auf der Freiwilligkeit der gemeindlichen Abgabenleistungen, um sich von den „Odiosa" der Zwangsumlagen zu befreien. Jeder Gutsbesitzer werde nach seinen Kräften gemeinnützliche Zwecke unterstützen und dabei auch gerne Opfer bringen, aber er wolle sich diese nicht staatlich-gesetzlich diktieren lassen, sondern aus eigener Verantwortlichkeit und Herrlichkeit leisten.59 Dementsprechend wurde es nach 1848 von vielen Adeligen als ganz besonders „hart und demütigend" empfunden, daß man die privilegierte grundherrschaftliche Stellung gerade gegenüber der Gemeinde verloren hatte, jenseits der finanziellen Einbußen, die teilweise damit verbunden waren. Mit dem Ende der Gerichtsbarkeit konnte man sich offenbar vergleichsweise leicht abfinden, nicht aber damit, nun plötzlich „unter dem polizeilichen Befehl der bäuerlichen Gemeinde zu stehen, über die man doch einst eine landesherrliche und seit 1806 wenigstens eine patrimonialherrschaftliche Stellung" innehatte. Eine „bevorzugte Stellung über die Gemeinde" hatten mit Carl von Giech in den meisten Denkschriften um 1848 auch diejenigen Teile des Adels gefordert, die an sich einem selbständigen und starken Gemeindewesen sowie Agrarreformen offen gegenüberstanden. Giechs Freund und Mitstreiter für einen liberalen, fränkischen Protestantismus in Bayern, Hermann Freiherr von Rotenhan, der von 1830 bis 1848 Mitglied der bayerischen Zweiten Kammer war, von 1845 bis 1847 als deren Präsident fungierte und dessen Bruder mit einer Tochter des Freiherrn vom Stein verheiratet war, hatte schon in einer Denkschrift des Jahres 1845 postuliert: Die Aristokratie sei eine ausgleichende Stütze des Staates, der perfekte Vermittler zwischen Vergangenheit und Zukunft. Daher -

-

Neben den eben erwähnten Petitionen bringt dieses Argument etwa auch Friedrich von ZuRhein in seiner Replik auf die Beschwerde der Gemeinde Obbach, ZuRhein würde sich der Zahlung von Gemeindeumlagen verweigern, in zwei Entschließungen vom 1. September 1835 und 20. Juni 1839. ABL München, 0/2/5.

Bernhard Löffler

148

dürfe

allem das patriarchalische Verhältnis nicht kappen.60

man vor

demitgliedern

zu

den Gemein-

IV.

Abschließend sollen die rungen

Ergebnisse

zusammengefaßt werden.

der

Untersuchung

in vier

Folge-

1) Das parlamentarische Beschwerdewesen eröffnete für die dörflichen und kleinstädtischen Gemeinden wie für die Adeligen grundsätzlich eine Möglichkeit zur Interessenartikulation, die über die enge rechtliche Begrenzung auf Verfassungsverletzungen hinausging und genuin politische Probleme thematisieren konnte, in unserem Fall die Stellung

den Gemeinden. Dabei zeigt das Beschwerdewesen schlaglichtartig die neuen, modernen Methoden der politischen Auseinandersetzung, deren juristisch-'bürgerlichen" Zuschnitt, dem sich letztlich auch die bäuerliche und die adelige Bevölkerung nicht entziehen konnte. Der Verwaltungsjurist, zeitweilige mittelfränkische Regierungspräsident, Reichsrat und Standesherr Carl von Giech umschrieb diesen Zeitenwechsel im Jahre 1842 mit den Worten: „In der frühen Zeit waren es mehr die Personen, welche die öffentlichen Angelegenheiten leiteten, jetzt sind es mehr die Institutionen. Die sachlichen Beziehungen haben das Uebergewicht gewonnen. [...] Der Einzelwille wird mehr durch den Gesammtwillen ersetzt, und die Institutionen sind die Form, welche der Gesammtwille annimmt. Das ist die unausbleibliche Folge der Civilisation, welche die Interessen vermehrt, die Bildung und Einsichten erweitert, die gesellschaftlichen Zustände vervieldes Adels in und

zu

Rotenhan, Ansichten über den Adel in besonderer Beziehung auf Werner Uhde, Hermann Freiherr von Rotenhan, eine politische BioBayern (bei München Diss. 1933, S. 79 ff.). Vgl. zu Rotenhan auch Heinz Gollgraphie, witzer, Ludwig I. (wie Anm. 53), S. 357; davor Hanns Hubert Hofmann, Herrschaft (wie Anm. 28), S. 473-479; Carl August von Drechsel, Über Entwürfe zur Reorganisation des deutschen Adels im 19. Jahrhundert, Ingolstadt 1912, Das Problem der Gemeindeumlagen war auch mit dem Jahr 1848 S. 21-25. nicht ausgestanden; in den fünfziger und sechziger Jahren gab es vor allem in Standesherrschaften immer wieder Probleme um deren Konkurrenz zum Distriktsstraßenbau. Vgl. z. B. Petitionen des Distriktsrats Oettingen, 29. November 1855 und 1. Juni 1861; oder des Distriktsrats Wörth (Herrschaft Thurn und Taxis) vom 29. Februar 1856 (ABL München, 0/3/12 und 13, W/8al/17). Hermann

von

-

Adel und

Gemeindeprotest in Bayern

149

fältigt".61

Das kann als Hinweis auf die gestiegene Bedeutung der Institution Parlament und seiner Instrumentarien (Beschwerdewesen, Plenar- und Ausschußarbeit) gelesen werden. Man kann darin auch die Aufforderung des aufgeschlossenen Adeligen erblicken, sich in einer Situation des Umbruchs den neuen staatsbürgerlichen Institutionen zu stellen, sich nicht abzusondern und auf die überkommenen Privilegien zurückzuziehen, sondern aktiv an den neuen Verhältnissen mitzuarbeiten ganz im Sinne der eingangs zitierten Äußerung Ignaz von Rudharts. In diesem Kontext wäre ferner auf eine zunehmend professionelle Handhabung des ländlichen Vereinswesens in Bayern durch Teile des Adels zu verweisen, die in vielem ein durchaus bürgerliches Verständnis von modernem Lobbyismus aufzeigte. Der 1810 gegründete Landwirtschaftliche Verein, der als beinahe „öffentlich-rechtliches Vertretungsorgan der gesamten bayerischen Landwirtschaft" und „ständiger Beirat der Staatsregierung in landwirtschaftlichen Fragen" charakterisiert wurde62, bildete die gesamte Periode 1818 bis 1848 hindurch einen einflußreichen, adelig dominierten Interessenverband. Über die Hälfte der Gründungsmitglieder waren Adelige, ebenso eine Vielzahl von Vorständen der Zentral-, Bezirks- und Kreiskomitees, die über Vereinszeitungen, Wanderausstellungen und -Schulungen von der Buchhaltung bis zu verschiedenen Bewirtschaftungsformen, über Distriktsversammlungen und nicht zuletzt die Bereitstellung von Krediten durch Darlehenskassen tief ins Land hinein wirkten. Ludwig von Oettingen-Wallerstein zum Beispiel figurierte zeitweise als Erster Präsident des Vereins. Dessen Programm war entsprechend zurückhaltend und adelsfreundlich formuliert; hinsichtlich der Ablösungsproblematik -

Carl von Giech, Ansichten (wie Anm. 52), S. 264 f.; zu Giech: Heinz GollwitZER, Graf Carl Giech 1795-1863. Eine Studie zur politischen Geschichte des fränkischen Protestantismus in Bayern, in: ZBLG 24 (1961), S. 102-162. Alois Schlögl (Hg.), Bayerische Agrargeschichte. Die Entwicklung der Landund Forstwirtschaft seit Beginn des 19. Jahrhunderts, München 1954, S 556-560, hier S. 559. Zum Landwirtschaftlichen Verein vgl. außerdem dessen zwei Denkschriften: Die Landwirtschaft in Bayern. Denkschrift zur Feier des 50jährigen Bestehens des Landwirtschaftlichen Vereins in Bayern, München 1860, bes. S. 1761, 166-212; Denkschrift zur Feier des 100jährigen Bestehens des Landwirtschaftlichen Vereins in Bayern, hg. v. Bayerischen Landwirtschaftsrat, München 1910, bes. S. 1-39; ferner Bernhard Löffler, Kammer (wie Anm. 16), S. 298303; und Heinz Haushofer, Bäuerliche Führungsschichten in Bayern im 19. und 20. Jahrhundert, in: Günther Franz (Hg.), Bauernschaft und Bauernstand 15001970, Limburg 1975, S. 225-243, hier S. 226 ff.

Bernhard Löffler

150 etwa

hieß

es

bezeichnend, man wolle sich „durch Mäßigung und höhe-

Gerechtigkeit" auszeichnen.63 Für Württemberg könnte mit ähnlicher Grundtendenz, wenngleich anderer Akzentuierung, auf die maßgeblich von Fürst Constantin von Waldburg-Zeil geprägte und organisierte, mit einem scharfen politischen Profil und deutlich antibürokratischer Spitze versehene, oberschwäbische, liberal-demokratische, konfessionspolitisch katholische Bewegung hingewiesen werden.64 Auch hier beeinflußten Aristokraten geschickt die Landbevölkerung und viele Gemeinden, bauten ein instire

tutionelles Geflecht auf, das Presse- und Petitionswesen ebenso umfaßte wie eigene Publikationen und die Einflußnahme über die Erste Kammer, und koordinierten und betreuten gemeindliche Beschwerden gegen antikirchliche Omnipotenzansprüche des Staates.65 Auch hier also können sich die durchaus modernen Handlungsmöglichkeiten und -Fähigkeiten des Adels erweisen. Daß dabei modern-bürgerliche Formen der „Selbstverteidigung" auch in die Dienste der Reaktion gestellt werden konnten, zeigte bereits das Beispiel des Juristen Fürsten Karl von

Oettingen-Wallerstein.

2) Eine entscheidende öffentliche Institution im Sinne der Ausführungen Carl von Giechs wurde mehr und mehr die Gemeinde. Das wird in den Beschwerden eindrucksvoll veranschaulicht. Die Gemeinden, die daran geknüpften politischen Erwartungen und rechtlichen Möglichkeiten sowie die Debatten um deren Umfang und Relevanz bildeten gewissermaßen neben der parlamentarischen Institution Beschwerein dewesen und der gesellschaftlichen Institution Vereinswesen drittes Scharnier, das sowohl die bäuerliche als auch die adelige Welt in einen Staats- und gemeindebürgerlichen Rahmen einbezog. Die gemeindepolitischen Forderungen der Bauern und die adeligen Abgrenzungsversuche stellten eine Art Lackmustest dar für die Gültigkeit allgemeiner staatsbürgerlicher Grundsätze im konstitutionellen bayerischen Königreich nach 1806/18. -

-

Die Landwirtschaft in Bayern. Denkschrift 1860 (wie Anm. 62), S. 50. Peter Blickle, Katholizismus, Aristokratie und Bürokratie im Württemberg des Vormärz, in: HJb 88 (1968), S. 369^106; Walter-Siegfried Kircher; Adel, Kirche und Politik in Württemberg 1830-1851. Kirchliche Bewegung, katholische Standesherren und Demokratie, Göppingen 1973; Ders., Ein fürstlicher Revolutionär aus dem Allgäu. Fürst Constantin von Waldburg-Zeil, Kempten 1980; Constantin von Waldburg, Grundsätze (wie Anm. 52). V. a. Peter Blickle, Katholizismus (wie Anm. 64), S. 395-398.

Adel und

Gemeindeprotest in Bayern

151

3) Die antifeudalen Beschwerden der Bauern und Gemeinden enthielfreilich mit regionalen Unterschieden, aber cum grano salis nicht eigentlich eine antistaatliche Spitze, sondern wandten sich an den Staat, zumal an den Monarchen, um deren Hilfe gegen den Adel zu erlangen. Kritik und Protest in den Petitionen zielten auch nicht urten

-

-

sprünglich-bewußt und mit programmatischem Hintergrund auf die Abschaffung des Adels. Selbst auf dem bayerischen Reformlandtag

1848 wurde solches nicht ernsthaft diskutiert.66 Die Kritik der Bauern und Gemeinden richtete sich vielmehr wesentlich praktischer orientiert gegen die alten Adelsrechte (Grundund Gerichtsherrschaft) und deren Auswüchse, daneben vor allem gegen die mangelnde Beteiligung des Adels am Gemeindewesen (Umlagenpflicht, Straßenbau etc.). Dabei kam es zu einer eigenartigen Mivon

-

-

schung

aus

traditionellen, „archaischen" Argumentationsmustern (hi-

Gegenseitigkeitsverhältnis von Abgaben und korrespondierendem Schutz, alte lehnrechtliche Argumentationen, Anknüpfen an Traditionen des Bauernkriegs) und einem neuen vormärzlichen, vorrevolutionären Selbstbewußtsein, das sich etwa in den dezidierten gemeindebürgerlichen Ansprüchen zeigte und unter gewissen Umständen auch in vermehrte Gewaltbereitschaft umschlagen konnte. Im Ganzen aber kennzeichnete die bäuerlich-gemeindliche Haltung eher storisches

Vgl. die Landtagsverhandlungen zur Ablösungsfrage vom 6. bis 11. Mai 1848: Überblick in Repertorium (wie Anm. 49) 1848, S. 17-23; Gustav Mayer, Der bayerische Reformlandtag 1848, Diss. masch. München 1926, S. 142-175. Der Kammerreferent Peregrin Schwindl, liberaler Regierungsdirektor aus Bayreuth, der in seinem Gutachten vom 6. Mai ! 848 pathetisch feststellte: „Kraft dieses Gesetzes hören Adeliche und Geistlichkeit auf, politische Körperschaften zu bilden; kraft dieses Gesetzes stürzt die bayerische Aristokratie zusammen." (KdA 1848. BeilagenBd. 2, S. 103), stand mit seinem radikalen Plädoyer weitgehend allein. Die bekannten demokratischen Pfalzer Abgeordneten (Andreas Jordan, Georg Friedrich Kolb, Friedrich Schüler, Friedrich Justus Willich) traten in der Kammer kaum auf, da ihnen wegen oppositionellen Verhaltens der Kammereintritt verwei-

gert worden

oder sie sich vornehmlich auf nationalpolitischer Ebene engadie Bemerkungen bei Josef Leeb, Wahlrecht [wie Anm. 2], Bd. 2, S. 762 ff., 806, 813). Aber auch dort, in der Frankfurter Nationalversammlung, verlief die Adelsdebatte eher moderat, im Zeichen eines allgemeinen, gelassenen Überlegenheitsgefühl der bürgerlichen Abgeordneten, deren Großteil nichts weniger wollte, als eine egalitäre Nivellierung der Gesellschaft. Vgl. Peter Wende, Die Adelsdebatte in der Paulskirche, in: Adolf M. BIRKE u. Lothar KettenACKER (Hg.), Bürgertum, Adel und Monarchie. Wandel der Lebensformen im Zeitalter des bürgerlichen Nationalismus, München u. a. 1989, S. 37-51. war

gierten. (Vgl.

Bernhard Löffler

152

politischer Pragmatismus und eine ökonomisch-rationale Beschränkung auf die unmittelbaren dörflichen und landwirtschaftlichen Begebenheiten.

ein

Diese Grundeinstellung verhinderte jedoch nicht, daß die Beschwerden über den Adel im Kontext der staatlichen Politik der Schaffung eines einheitlichen Staatsbürgerverbandes und einer allgemein forcierten Gemeindepolitik dem Adel als politischem Stand gefährlich werden konnten. Wo sich der alte Zusammenhang von grundherrlicher und grundholdlicher Gegenseitigkeit und Verbundenheit auflöste und die öffentlich-rechtlichen Befugnisse des Adels inopportun wurden, konnte sich sehr schnell die Frage nach dessen grundsätzlicher Existenzberechtigung stellen. Mochten die Adeligen auch das spektakuläre Aufbegehren ihrer Bauern 1848 als besonders bedrohlich empfinden, wesentlicher, strukturell tiefgreifender und dauerhafter wurden sie, so scheint mir, vom Staat und dessen Bürokratie gefährdet. Die zentrale Konfliktlinie, die in unserer Analyse in der bäuerlich-gemeindlichadeligen Lebenswelt ihren Ausgangspunkt nahm, erfuhr ihre eigentliche Zuspitzung im umstrittenen Kräftefeld von Adel und Staat. Auch in den adeligen Petitionen gegen die bäuerlichen oder gemeindepolitischen Ansprüche ist dies gut erkennbar. Ob es sich um Gemeindeforderungen, Holz- und Floßrechte, lehnrechtliche Differenzen, das Recht der Ansässigmachung, Fragen der Gerichtszugehörigkeit von Grundholden oder des gerichtlichen Instanzenzuges handelte, die Antworten auf die bäuerlichen Proteste und eigene adelige Beschwerden wurden oft nur als Aufhänger benutzt für eine umfassendere Verteidigung der eigenen prekären Stellung im Staat.67 Neben den genannten Fällen etwa Petition von 13 adeligen Gutsherren und Waldbesitzern aus den fränkischen Familien der Freiherrn von Redwitz, Künsberg, Schaumberg, Reitzenstein und Guttenberg wegen einer Floßordnung, 16. Februar 1846 (ABL München, O/la/19); Petition von Friedrich von Sichart zu Hofeck wegen Suspension seiner Patrimonialgerichtsbarkeit, 14. März 1846 (ABL München, S/15,2/1 und 2; KdA 1846, BeilagenBd. 9, S. 196-210); Petition von 23 adeligen Gutsbesitzern aus Oberfranken (Mitglieder der Familien Waldenfels, Reitzenstein, Feilitzsch, Sichart, Zedtwitz, Künsberg und Wisseil) wegen lehnrechtlicher Belastungen, 27. Februar 1822 (ABL München, B/l/4); Beschwerde des freiherrlich-künsbergischen Patrimonialrichters Morgenroth (Oberfranken) wegen eines Regierungsbescheids auf Rückerstattung von Siegel- und Lehengebühren, 20. März 1840 (ABL München, M/7/14; KdA 1840, Bd. 7, S. 422 ff); Beschwerde des Patrimonialgerichts Paumgarten-Ehring (Niederbayern) wegen eines Kompetenzstreits mit dem Stadtgericht Passau, 20. Mai 1834 (ABL Mün-

chen, E/4/16); Beschwerde der Freiherrn von Crailsheim, Rügländer Linie (Mittel-

franken),

über staatliche

Eingriffe

in

gutsherrliche Rechte bei Erteilung einer Ge-

Adel und

Gemeindeprotest in Bayern

153

eben in Bayern vor 1848 nicht „längst im Staate aufgegangen", wie Robert von Friedeburg dies am hessischen Beispiel feststellt.68 Das relativiert für den ländlich-adeligen Bereich Bayerns sowohl Hans-Ulrich Wehlers Charakterisierung des vormärzlichen Herrschaftssystems als „monarchisch-adelig-bürokratisches Kondominat", als auch das von Manfred Gailus konstruierte dreipolige Konfliktmodell, in dem „alte" Eliten (Adel), „neue" Eliten (Bürgertum, Bürokratie) und die „Volksmassen" sich gegenüberstehen. Während Gailus am preußischen Fall der Jahre 1847-49 für die Auseinandersetzungen der alten mit der neuen Elite eine grundsätzliche Kompromißfähigkeit konstatiert, habe diese für die Konflikte zwischen Eliten und Volk nicht gegolten.69 In unserer Untersuchung dagegen war über weite Strecken oft mehr von einer Kooperation der Bauern (Volk) mit dem modernen Staat (Bürokraten der neuen Elite) gegen den Adel (alte

Der Adel

war

Elite) zu spüren.

4) Die Reaktionen des Adels lassen bei allen Unterschieden im einzel-

folgende Grundtendenzen erkennen. Das Generalthema war selbstverständlich die möglichst weitgehende Erhaltung der eigenen rechtlichen, sozialen, wirtschaftlichen und politischen Position im modernen, bürokratischen Staat und gegenüber den dörflichen Gemeinden, kleinen Städten und bäuerlichen Grundholden. Um dies zu erreichen, stellte man sich zunächst auf einen strikten rechtlichen Standpunkt, der zum einen die privat- und eigentumsrechtlichen Dimensionen der eigenen, auch öffentlich delegierten Rechte der Grundund Gerichtsbarkeit betonte, sich zum anderen kategorisch von der Gemeinde und deren Lasten abzusetzen versuchte. Mehr und mehr überwog dann aber (in gleitenden Übergängen) seit den dreißiger und vierziger Jahren ein anderes Handlungsmuster diese eher starre, unnachgiebige Haltung. Der Adel ging teilweise auf die neuen Anforderungen ein, war gezwungen, Zugeständnisse zu machen und sich flexinen

werbekonzession und

Ansässigmachung (ABL München, C/1/13; KdA 1827/28, BeilagenBd. 7, Beilage 54, S. 17-20). Robert von Friedeburg, Gesellschaft (wie Anm. 21), S. 145. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2: Von der Reformära bis zur industriellen und politischen „Deutschen Doppelrevolution" 18151848/49, München 1987, S. 297 ff.; Manfred Gailus, Straße und Brot. Sozialer Protest in den deutschen Staaten unter besonderer Berücksichtigung Preußens, 1847-1849, Göttingen 1990, S. 55-64, 495-516.

Bernhard Löffler

154

bel und

lernfähig anzupassen.

Pointiert formuliert: An die Stelle der -

Reaktion trat die Prävention. Der Spagat zwischen Anpassung und Selbstbehauptung gelang zu einem guten Teil, wenn auch nicht ohne Verluste.70 Die Patrimonialgerichtsbarkeit fiel in Bayern 1848 entschädigungslos, aber die Grundlasten mußten nach bestimmten Berechnungsschlüsseln abgelöst werden.71 Die Erste Kammer blieb unverändert bestehen; die Besitzform des Fideikommisses wurde erhalten und auch in der Folge interessenpolitisch verteidigt, moderne Formen des vereinsorganisierten landwirtschaftlichen Lobbyismus wurden gefunden. Grundsätzlich jedenfalls wahrte man sich die Chance, in der neuen, bürgerlichen Wettbewerbsgesellschaft, die nun auch auf den agrarischen Bereich ausgriff, zu bestehen. Und doch ging 1848 mit dem Fall der Gerichtsbarkeit und der Ablösung der Grundlasten die hervorgehobene öffentlich-rechtliche Position des Adels ohne große Gegenwehr verloren.72 Er wurde damit auch seiner Sonderstellung jenseits der Gemeinden beraubt. Gezwungenermaßen war er 1848 dort angelangt, wo ihn Ignaz von Rudhart bereits in den 1820er Jahren haben wollte: als Teil der Gemeinden, wenngleich auch mit einer auf Landbesitz basierenden funktionalen Elitenstellung.

70

71

72

Sehr instruktiv Rudolf Braun, Konzeptionelle Bemerkungen zum Obenbleiben: Adel im 19. Jahrhundert, in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Europäischer Adel 1750-1950, Göttingen 1990, S. 87-95; vgl. auch die Bemerkungen zu entsprechenden Verlusterfahrungen 1848/49 bei Heinz Reif, Adel (wie Anm. 6), S. 218-222. Wilhelm Volkert, Die Bauernbefreiung in Bayern, in: Verhandlungen des historischen Vereins für Niederbayern 109 (1983), S. 135-142; Bernhard Löffler, Kammer (wie Anm. 16), S. 269-290; Ders., Adel (wie Anm. 57), dort auch zum Fideikommißwesen S. 55-59. Vgl. etwa das Schreiben des liberalen bayerischen Justizministers und Reichsrats Carl Friedrich von Heintz an den bayerischen Innenminister Gottlieb von ThonDittmer, 16. August 1848, in dem der recht ruhige und protestlose Vollzug des Ablösungsgesetzes thematisiert wird. (HStA München, MInn 43955).

Josef Matzerath

Adel und Hauptstadt in der militärischen Gegenrevolution 1848/49

an, daß die Stadt äußerlich noch ruhig ist, innerlich doch jedoch gährt". Albert v. Carlowitz, sächsischer 11. März 1848 als Regierungskommissar nach Justizminister, ging am das Zentrum in der Leipzig Bewegung. In den Dörfern um die Stadt hatte die Regierung Truppen zusammengezogen. Carlowitz sollte entscheiden, ob der Basisrevolution mit militärischen Mittel ein Ende zu machen sei.1 Am 12. März 1848 schrieb er aus Leipzig an den Vorsitzenden des Gesamtministeriums Julius Traugott v. Könneritz, seine persönliche Reputation in der Stadt sei „auf Null reduzirt", da die allgemeine Meinung herrsche, er „sei ganz von Ew. Exzellenz abhängig", Könneritz sei der eigentliche Justizminister. Die Mißstimmung der Leipziger über die „große Nähe der Truppen" nehme zu, da wegen der drohenden Belagerung die Lebensmittelpreise stiegen. Dem Stadtrat könne man nicht untersagen, Petitionen zu beraten, da ja ein Landtag bevorstehe. Robert Blum als Haupt der Bewegung zu aus den verhaften, sei unklug, da selbst die „Einwohner vornehmeren Classen" in ihm „den Schutz gegen Gewaltthätigkeiten des Pöbels und Gefährdung des Eigenthums" sähen. Ein „Einschreiten" gegen „Blum und Consorten" würde daher „die ganze Bürgerschaft erbittern", auch die „besser gesinnten Einwohner". Man werde auch niemanden finden, der gegen Blum als Zeuge aussage, und kein Leipziger Richter werde ihn verurteilen. Der Truppen könne sich die Regierung auch nicht sicher sein, zwei Unteroffiziere hätten sich bereits offen für Blums Ansichten ausgesprochen und „dies auch auf

„Euer Exzellenz zeige ich daß

es

...

v. Carlowitz an v. Könneritz, 12. März 1848, in: Josef Matzerath (Hg.), Der sächsische König und der Dresdner Maiaufstand, Köln Weimar Wien 1999, S. 89-92.

Vgl.

Josef Matzerath

156

nicht abgeleugnet". Der schlimme Geist unter den Truppen scheine auch die Leipziger Schützen anzustecken. Einem Gerücht nach hätten sie erklärt, im Konfliktfall „über die Köpfe wegschießen zu wollen". Der Regierungskommissar resümierte seinen Bericht: „Sollte das Militär unzuverlässig seyn, so ist Alles verloren. Auf Preußische Hülfe verweise man mich nicht, ich stimme dagegen unbedingt. In dem Augenblick, wo, weil man sich der eigenen Truppen nicht für sicher hält, man Preußische Bajonette organisirt, steht die Monarchie auf dem Spiele, ist Recht und Thron gefährdet. Darüber geht mir kein Zweifel bei, und zu einer solchen Maaßregel mitzuraten, läuft gegen mein Gewissen." Dem Kalkül v. Carlowitz kann eine besondere Bedeutung auch deshalb zugesprochen werden, weil er bis zu seiner Berufung als Minister im Jahre 1847 der Meinungsführer der aristokratisch-konservativ gesonnenen Adeligen in der Ersten Kammer des Sächsischen Landtags war.2 Er gehörte zu den Adelsvertretern im Parlament und in der hohen Bürokratie, die man als „gemäßigt konservativ" bezeichnen kann. Daneben profilierten sich sächsische Adelige auf dem gesamten Spektrum der politischen Richtungen. In der Ersten Kammer des Sächsischen Landtages, die bis zum 15. November 1848 zu 72 Prozent aus adeligen Standesherren und Rittergutsbesitzern bestand, herrschten reformkonservative Positionen vor. Liberale Ansichten blieben unter den adeligen Parlamentariern vereinzelt, wohingegen eine weitere hochkonservative Gruppierung erkennbar ist, die sich selbst als „starr" oder als „streng konservativ" bezeichnete. Die vorliegende Untersuchung nimmt die beiden konservativen Gruppierungen in den Blick, weil diese, vertraut man auf die Proportionen des sächsischen Oberhauses, als vorherrschend innerhalb des Adels gelten dürfen. Die Analyse stützt sich weitgehend auf Meinungsäußerungen von Adeligen der Ersten Kammer, die zwar keine durch Wahl bestätigte Repräsentativität für den sächsischen Adei beanspruchen konnte3, deren hoher

Befragen

Bernhard Hirschel, Sachsens Regierung, Stände und Volk, Mannheim 1846, S. 187 f. Die 42 Mitglieder der Ersten Kammer setzten sich zusammen aus den erwachsenen königlichen Prinzen (1848: Prinz Johann), fünf Standesherren, fünf Vertretern der Kirchen und geistlichen Korporationen, einem Vertreter der Universität, zwölf auf Lebenszeit gewählten und zehn vom König ernannten Rittergutsbesitzern sowie den Bürgermeistern von acht bedeutenden Städten. Die zwölf mandatierten Abgeordneten wählten sämtliche Rittergutsbesitzer des Kreises, den sie vertraten. Vgl. Verfassungsurkunde des Königreiches Sachsen, in: Gesetz- und Verord-

nungsblatt für das Königreich

Sachsen

1831, S. 254, § 63.

Adel und

Hauptstadt in der militärischen Gegenrevolution

157

Adelsanteil sie aber dennoch zu einem zentralen Diskussionsforum seiner politisch führenden Köpfe machte. Konservativ ausgerichtete Adelige in der Mitte des 19. Jahrhunderts

Parteirichtung zuzuordnen, stößt allerdings auf grundsätzliche Schwierigkeiten. Obwohl die Parteibildung in Sachsen wie in Deutschland seit 1848 sämtliche politischen Lager erfaßte, fiel es gerade dem Adel schwer, den politischen Vereinen beim politischen Entscheidungsprozeß ein Mitspracherecht zuzubilligen. Als am 6. Oktober 1848 die Erste Kammer des Sächsischen Landtages den Regierungsentwurf für das Vereinsgesetz der allgemeinen Begutachtung unterzog, einer

rekurrierten die Redner immer wieder auf eine Äußerung des demokratisch gesonnenen Innenministers Martin Gotthard Oberländer. Er hatte am 2. September 1848 in der Zweiten Kammer über das künftige Verhältnis von Regierung und politischen Vereinen gesagt: „Die Regierung sieht das Vereinswesen als im Organismus des ganzen Volkes so fest begründet an, daß sie auf das, was in den Vereinen vorkommt, Rücksicht zu nehmen hat. Die Behörden sollen die Vereine nicht ignoriren. Die Behörden werden in Wechselwirkung mit den Vereinen stehen, wie es jetzt schon geschieht."4 Diese Bemerkung war von Oberländer nicht programmatisch gedacht, sondern fiel nur nebenbei, um zu versichern, daß das Ministerium keineswegs an eine polizeistaatliche Überwachung der soeben entstandenen Parteien denke, wenn es verlangte, Vereine müßten sich selbst und ihren Vorstand staatlich registrieren lassen. Am 6. Oktober 1848, als die Erste Kammer den Regierungsentwurf für ein Vereinsgesetz der allgemeinen Begutachtung unterzog, attakkierte ein Phalanx konservativer Mitglieder des Oberhauses, die vorwiegend aus adeligen Rittergutsbesitzern bestand, das politische Vereinswesen.5 Ludwig Eduard Victor v. Zehmen meinte, hier werde das Recht gewährt, „sich aus der Gesamtheit der Staatsbürger abzusondern,

einzelne bestimmte Sonderzwecke und Interessen, Parteizwecke zu verfolgen". Parteiinteressen hielt v. Zehmen schon per se für gefahrlich. Die Gefahr steigere sich noch einmal, wenn „die Vereine in die Regierung einzugreifen streben". Die Regierung dachte sich der Abgeordnete der Rittergutsbesitzer des Meißner Kreises als eine überparteiliche Macht, die „widerstrebende Sonderinteressen auch in das Ganze" um

...

4

5

Mittheilungen über die Verhandlungen des außerordentlichen Landtags im Königreiche Sachsen während des Jahres 1848, Dresden o. J. (= MVaL 1848), II. Kammer 1848, Bd. 2, S. 1264 und 1752. MVaL 1848,1. Kammer, S. 1004-1025, 1027-1050, 1051-1061.

158

Josef Matzerath

einzufügen habe. Streng-Konservativen, wie Curt Ernst v. Posern, galt ein Parlament, das durch politische Parteien dominiert wird, als „gleichbedeutend mit steter Unruhe und Unsicherheit, der unmittelbare Vorläufer zur Republik". Der Oberlausitzer Rittergutsvertreter Heinrich Erdmann August v. Thielau argumentierte, politische Vereine könnten nur nützlich sein, um anzuzeigen, „welche Stimmung im Volke in dieser oder jener Beziehung hinsichtlich der Regierungmaaßregeln vorherrsche." Doch auch dazu eigne sich lediglich ein Verein, der „richtig geleitet und von der achtbaren Classe des Volkes, welche Gesetz und Ordnung will, gebildet werde." Der Redner brachte seine Ansicht auf die prägnant paradoxe Formel: „Es gibt nur einen Verein, der den Ausdruck des Volkes wiedergeben soll und kann in einer geregelten Verfassung, und das ist die Ständeversammlung." Obwohl v. Thielau selbst sein Mandat lediglich auf eine Wahl von Rittergutsbesitzern stützte, glaubte er den-

noch, die Interessen des ganzen Volkes zu vertreten. Weltanschaulich ausgerichtete Parteien, fürchtete er, würden Staat und Gesellschaft zur Beute von Gruppeninteressen machen. Offensichtlich erschien v. Thielau die Legitimation seines Mandats nicht bedenklich. Im Verlauf der Debatte führte er aus, an der Spitze der Vereine drängten sich Männer, „die weder die Vertretung des Volkes in materieller, noch in intellectueller Hinsicht zu übernehmen vermögen." Er fragte, ob denn

die „ehrenwertesten Bürger von Sachsen, die anerkannt rechtlichsten Männer" Volksversammlungen ausschrieben. Damit zählt er indirekt Kriterien auf, die seiner Ansicht nach zur Volksvertretung berechtigen. Das Selbstbewußtsein eines solchen Parlamentariers alter Fasson gründete sich demnach vorwiegend auf Eigentum, persönliche Fähigkeit und, wenn man die hohe Ehre des „ehrenwertesten (Staats-)Bürgers" als ständische Qualität versteht, auf Zugehörigkeit zum Adel. Von einer Adelspartei oder der Position des Adels während der Revolution 1848/49 zu sprechen, erscheint daher aus zwei Gründen bedenklich. Einerseits fehlte der gesellschaftlichen Gruppe die Geschlossenheit einer Parteimeinung. Dies belegen schon die demokratischen Apostaten wie der Paulskirchenabgeordnete Wilhelm Adolf v. Trützschler, der Teilnehmer des Dresdner Maiaufstandes Hermann Marschall v. Bieberstein, oder der liberale Präsidenten der Ersten Kammer Friedrich Ernst v. Schönfels. Zum andern war gerade bei den seit dem Vormärz parlamentarisch aktiven Adeligen die Abneigung stark, sich als Interessenvertreter weltanschaulicher Gruppierungen zu verstehen und sich in die Disziplin einer Parteimeinung einbinden zu lassen. Einer kruden adelsbezogenen Eigennützigkeit stand der von ihnen zu-

Adel und

Hauptstadt in der militärischen Gegenrevolution

159

mindest immer wieder deklarierte Anspruch entgegen, die Gesamtheit der Gesellschaft zu vertreten. Daher oszillieren die politischen Positionen auch des konservativen Adels. Es können somit nur politische Strömungen innerhalb des Adels angenommen werden. Obwohl eine quantitative Erfassung letztlich unmöglich ist, geht die Untersuchung davon aus, daß das Gros des sächsischen Adels den liberalen und demokratischen Richtungen der 1848er Bewegung distanziert gegenüberstand. Dies entspricht jedenfalls dem Bild, das sich aus den Landtags-

protokollen ergibt. Im Folgenden wird trotz der Schwierigkeit, eine verbindliche Parteimeinung zu bestimmen, versucht, zu ermitteln, wie sich konservativ denkende Adelige zur militärischen Gegenrevolution, zum König und zum Bürgertum stellten. Zunächst soll eine reformkonservative Positi-

rekonstruiert werden. In einem zweiten Schritt wird auf dieser Folie die Haltung der Starr-Konservativen analysiert. Für beide Spielarten des adeligen Konservatismus stellte sich die Frage nach der militärischen Gegengewalt gegen das Zentrum der Revolution einmal im März 1848 für Leipzig und im Mai 1849 für Dresden. on

Die gemäßigt Konservativen Der

Spiritus rector des vormärzlichen Ministeriums v. Könneritz drängte König Friedrich August II. bereits zwei Tage vor v. Carlowitz Bericht aus Leipzig, ihn zu entlassen, damit ein neues Ministerium zur „weiteren Fortbildung des constitutionellen Princips" eingesetzt werden könne.6 Künftig solle man in Sachsen mit einem parlamentarischen „Vertrauens Votum über die Minister" regieren. Der Landtag werde „ein Programm von dem Ministerium über den im allgemeinen zu erwartenden Gang oder über einzelne Anträge erwarten", meinte

Könneritz. Er selbst könne in den Kammern kein Vertrauen für eiKurs erwarten, da er „fortwährend darauf gehalten habe, nicht über die Grenzen der Verfassungs Urkunde, namentlich, was einen Eingriff in das Regierungs Recht herbeyführen könnte, hinauszugehen". Der König müsse ihn daher entlassen, um „dem bevorstehenden außerordentlichen Landtag einen ruhigen Gang, mehr Mäßiv.

nen neuen

gung anzubahnen." Dabei dürfe

es durchaus so aussehen, als wenn der ihn „aus König Höchsteigener Bewegung" entlasse und die Öffentlichkeit dies so verstehe, „als wenn Ew. Königliche Majestät mit [v. Könv. Könneritz an Friedrich August Matzerath (wie Anm. 1), S. 86-89.

Vgl.

II., Dresden den 10. März 1848, in; Josef

Josef Matzerath

160

neritzens] Rath unzufrieden" sei. Die bisher ablehnende Haltung des Königs gegenüber dem Adressensturm könne dann ebenfalls als Politik des scheidenden Ministers gelten. Von Könneritz, der selber wußte, daß er allgemein als „Stütze des conservativen Princips" galt, war daher bereit, diese Position dazu zu instrumentalisieren, um den König, der bislang ebenfalls nicht zu Konzessionen bereit war, in die Lage zu versetzen, aus einer politisch unbelasteten Stellung seinen Einfluß weiter geltend zu machen. Wie diese Zukunftserwartung sich aus der Perspektive der konservativen Adligen darstellte, läßt sich aus einem Brief entnehmen, den

13. März 1848 aus dem Amt entlassene Kultusminister Carl August Wilhelm Eduard v. Wietersheim am Tag nach seiner Demissionierung an den König schrieb.7 „Ich glaube an eine allweise Weltregierung", bekannte v. Wietersheim. „Von dieser stammt die Uranlage der Menschheit, aus der jene periodischen Wandlungen des Menschengeistes hervorgehen, welche unabweisbar zugleich Veränderungen der Staatsformen zur Folge haben." Für Sachsen und die konstitutionellen Staaten Deutschlands sei daher die entscheidende Frage: „Liegt es im ewigen Rathschluße, daß die Umbildung der, nur durch Stände beschränkten Monarchie in die parlamentarische, nach welcher der Fürst im wesentlichen nur herrscht, aber nicht regiert, vor sich gehe?" Falls dies wirklich so bestimmt sei, werde zwar die Stellung eines Monarchen sich verändern, aber sie werde keine unwürdige. „Eine passivere wird sie allerdings", schrieb der Kultusminister a. D. an Friedrich August II., aber zugleich werde sie „eine reinere und höhere, weil sie [den Fürsten] über das Parteigetriebe erhebt. In wichtigen Momenten die Geschicke des Volkes mit der Macht der vollen Würde seiner geheiligten Person mäßigend leiten," sei auch weiterhin eine „edle, hohe Aufgabe". Übrigens könne später einmal wieder ein „Umschwung der Meinung in Volk und Ständen" eintreten und ein „conservatives Ministerium herbeiführen", dem v. Wieterheim langen Bestand vorhersagt, wenn es sich von „wirklich rétrograder Tendenz fern hält". Ein Monarch, der wegen der „Reinheit seiner Tugenden" des Vertrauens seines Volkes würdig sei, müsse deshalb ausharren. Wenn sich die gegenwärtige Aufgeregtheit lege, werde er die Liebe seiner der

am

Untertanen wiedergewinnen. Der König sollte daher im Amt

Ende des monarchischen

Vgl.

v.

Wietersheim

S. 92-94.

an

bleiben,

Prinzips wenigstens

Friedrich

August II.,

nach dem einstweiligen als moralische Macht auf

um

in: Josef Matzerath

(wie

Anm.

1),

Adel und

Hauptstadt in der militärischen Gegenrevolution

161

die Öffentlichkeit zu wirken und um die Option auf eine künftige konservative Regierung offenzuhalten. Ein solches Ministerium muß man sich dann wohl so vorstellen, daß es dem Monarchen wieder de jure oder informell mehr Regierungsrechte zubilligen wird. Soweit die Existenz eines Adels an die Staatsform der Monarchie gebunden ist, kann man in den Erwägungen der drei Minister v. Carlowitz, v. Könneritz und v. Wietersheim eine Tendenz erkennen, die eigenen Ziele in einer parlamentarischen Monarchie an die Fortexistenz des Königshauses zu knüpfen. Das Kalkül der Minister lief jedoch weniger darauf hinaus, alle ständische Autonomie aufzugeben und sich selbstvergessen als persönliche Diener des Monarchen zu definieren. Eher schien die adelig-konservative Spitzenbürokratie den Monarchen funktionalisieren zu wollen, um eine Krisenzeit durchzustehen und später wieder das Ruder in die Hand zu nehmen. Für die adeligen Rittergutsbesitzer läßt sich ein ähnliches Kalkül belegen. Sie wollten ihre Mandate im Landtag nicht weiter auf die Privilegien eines Vasallengutes gründen, aber dennoch nicht aufgeben, sondern die Parlamentsplätze als Großgrundbesitzer wieder einnehmen. Gleich zu Beginn des Landtages, am 20. Mai 1848, legten 30 adelige (und neun bürgerliche) Rittergutsbesitzer in beiden Häusern des Parlaments eine Petition vor, die die Gleichstellung des adeligen und bäuerlichen Grundbesitzes erstrebte.8 Offensichtlich beeindruckt durch die ländliche Basisrevolution, die in Sachsen erst nach der Berufung des Märzministeriums in Gang kam9, und durch die Erfolge der liberalen Vereine bei den Wahlen zur Paulskirche, in die diese 20 von 24 sächsischen Abgeordneten entsandten, wollten die Antragsteller ihr parlamentarisches Mitspracherecht auf eine neue Basis stellen. Peter Alfred Graf Hohenthal-Püchau erläuterte diese Ansicht: „Ich halte das -

-

Von 21 Unterzeichnern aus der Ersten Kammer des Landtages waren bis auf zwei Ausnahmen sämtliche adelig. Der hohe Adelsanteil ist zunächst wenig erstaunlich, weil die Rittergutsbesitzer in diesem Hause des sächsischen Parlaments während des gesamten 19. Jahrhunderts fast ausschließlich von Adeligen repräsentiert wurden. Die gleichlautende Petition an die Zweite Kammer unterzeichneten 11 adelige und 7 bürgerliche Rittergutsbesitzer. Insgesamt votierten daher 30 Adelige und 9 Bürgerliche für ein Ende ihres Status als bevorrechtete Vasallen. Die Petitionen an die beiden Kammern finden sich: SächsHStA Dresden, Ständeversammlung, Nr. 2819 und 2996, S. 1 f. Zu den Unruhen auf dem Lande vgl. Roland Zeise, Die antifeudale Bewegung der Volksmassen auf dem Lande in der Revolution von 1848/49 in Sachsen. Diss. Potsdam 1966. Der Autor vermerkt keine Unterschiede für die bäuerlichen Proteste gegen adlige, bürgerliche, kommunale Grundherren oder Standesherren.

Josef Matzerath

162

Zweikammersystem für eine nothwendige Grundbedingung des Bestehens der constitutionellen Monarchie, und wenn das Zweikammersystem wahrhaft wohltätig auf das Land wirken soll, so halte ich es für eine ebenso unausbleibliche Folge, daß der größere Grundbesitz als nothwendiges Element der Staatswohlfahrt auf stabile Art darin vertreten sei, keineswegs aber der privilegierte Grundbesitz, weil ich das Privilegium für eine electrische Materie ansehe, welche immer den Neid und die Mißgunst anderer Classen dem großen Grundbesitz zuzieht, und die ihm wegen dieser Privilegien gerade seinen Sitz in den Organen der Gesetzgebung entziehen wollen, eben darum wünsche ich ihn von diesen Privilegien zu befreien und dadurch nicht dem privilegierten, sondern dem großen Grundbesitz desto mehr seinen Sitz in der Kammer zu sichern."10 Die hier projektierte Strategie des Obenbleibens ähnelt dem Credo, das Tomasi di Lampedusa dem Fürsten von Salina in den Mund legte: „Wenn wir wollen, daß alles bleibt, wie es ist, dann ist nötig, daß alles sich verändert."11 Die Monarchie gehörte als Voraussetzung für ein Oberhaus zwar mit zum Kalkül, die Basis der erneuerten politischen Bedeutung der adeligen (und bürgerlichen) Konservativen sollte allerdings der Großgrundbesitz sein. Daß diese Strategie nicht aufgehen würde, offenbarte sich durch die Wahlrechtsänderung, die die Regierung dem Parlament vorlegte.12 Da

Modus vorhersehbar die Dominanz des Adels wie auch des Großgrundbesitzes in der Ersten Kammer beendete und dieses Haus des Parlaments sich künftig auch nach Parteien zusammensetzen sollte, hätte eine Ablehnung des Gesetzes durch das Oberhaus naheliegen können. Damit wäre aber das Gesetz gescheitert und zweifellos ein innergesellschaftlicher Konflikt heraufbeschworen worden. Die Erste Kammer gab dem Druck der öffentlichen Meinung im November 1848 jedoch mehrheitlich nach und beging, wie der Abgeordnete Ernst Wilhelm Gottschald sagte, einen „politischen Selbstmord"13. In der Grundsatzdebatte zum Wahlgesetz erklärten von achtundzwanzig Rednern, die ihr Votum begründeten, dreizehn, sie sähen sich genötigt, dem Wahlgesetz nicht aus Überzeugung, sondern wegen der daran der

10

1' 12

13

neue

Die Debatte der Ersten Kammer fand am 4.7.1848, 12.7.1848 und 14.7.1848 statt. Das Zitat des Grafen Hohenthal findet sich MVaL 1848, S. 249. Guiseppe Tomasi di Lampedusa, Der Leopard, München u. Zürich 1988, S. 33. Provisorisches Gesetz die Wahlen der Landtagsabgeordneten betreffend, vom 15. November 1848. in: Gesetz- und Verordnungsblatt für das Königreich Sachsen, S. 227-232. MVaL 1848,1. Kammer, S. 1125.

Adel und

163

Hauptstadt in der militärischen Gegenrevolution

geknüpften Vertrauensfrage der Regierung und der Zustände im Lande

zuzustimmen. Sieben weitere Parlamentarier lehnten das Gesetz offen ab oder deuteten dies an. Dagegen umfaßte das Spektrum der Redner, die sich aus unterschiedlicher Überzeugung für das Gesetz aussprachen, nur acht Personen. In der Gruppe der Befürworter befanden sich sechs bürgerliche Abgeordnete und zwei Adelige. Für eine kompromißlose Ablehnung sprachen sich sechs Adelige und nur ein Bürgerlicher aus. Und im großen Feld derjenigen, die aus politischer Notwendigkeit zustimmten, befanden sich elf Adelige und zwei Bürgerliche.14 Wenn sich somit Adel und Bürgertum auf sämtliche Positionen verteilt finden, läßt sich doch eine Gewichtung der Präferenzen deutlich erkennen. Mit Ausnahme weniger liberal Gesonnener sah sich die überwiegende Mehrheit des Adels politisch gezwungen, gegen ihre konservative Grundhaltung der Umgestaltung des Parlaments zuzustimmen. Diese Position vertrat auch Friedrich Freiherr v. Friesen. Obwohl er im Vormärz sich als „streng Konservativer" geriert15 und Liberale wie Robert Blum noch als „Intriganten und Unruhstifter" bezeichnet hatte, die man wegen ihrer Umtriebe bei den Leipziger Unruhen des Jahres 1845 mit „unerbittlicher und rastloser gesetzlicher Strenge verfolgen" müsse16, wich er nun vor einem Konflikt zurück: „Es sind nun einmal jetzt stürmische außerordentliche Zeiten und die Nothwendigkeit außerordentlicher Maaßregeln ist nicht abzuleugnen, sie können durch ein bloßes Festhalten des bisher Bestandenen nicht abgewendet werden, und derjenige Staatsmann müßte erste noch geboren werden, der den jetzigen Sturm der Zeit so ohne weiteres mit einem Quos ego17 beschwichtigen könnte."18 Im Zangengriff einer drohenden Protestbewegung, die im Frühjahr 1848 viele Rittergutsbesitzer sprichwörtlich vor der eigenen Haustüre erlebt hatten, und der Wahlrechtsreform rangen sich die gemäßigt Konservativen dazu durch, ihre Landtagsmandate zur Disposition zu stellen. Auch als der König sich im Mai 1849 entschloß, der Reichsverfassungskampagne notfalls mit militärischer Gegengewalt Einhalt zu gebieten, sah er sich von den Konservativen weitgehend allein gelassen. Er schrieb am 29. April 1849 an Friedrich Wilhelm IV.: „In der deut14 15 16 17 18

MVaL 1848, I.Kammer, S. 1121-1154, 1155-1187, 1225-1264. Bernhard HlRSCHEL (wie Anm. 2), S. 190 f. Sächsische Landesbibliothek, Handschrift App. 863, Friedrich Frhr Tagebücher, S. 56 ff. Vergil, Aeneis I, 135. MVaL 1848, I. Kammer, S. 1165.

v.

Friesen,

Josef Matzerath

164

sehen Frage herrscht hier ziemliche Aufregung, und selbst ein großer Theil der conservativen d. h. muthlosen, nur so weit wie ihre Nase sehenden Parthei drängt zur Annahme der Verfassung in badischer Manier." Leider mache ihm auch sein „sonst so vortreffliches Ministerium böse Sprünge".19 Da nur v. Beust und Rabenhorst die Ablehnung der Reichsverfassung mittragen wollten, bemühte sich der König, weitere Minister zu finden. Albert v. Carlowitz war in dieser Situation trotz einer Aufforderung Friedrich Augusts II. nicht bereit, Minister zu werden. Die Gründe für seine Ablehnung sind nicht durch ihn selbst, sondern durch ein Tagebuch des Monarchen überliefert.20 Sie lagen durchaus auf der Linie eines Arrangements mit der Entwicklung. So sagte v. Carlowitz dem König, „durch Reichsgesetz(gebung), Grundrechte und die sonstige neue Gesetzgebung" seien „alle Möglichkeit anders, als durch eine Reihe von Gewaltstreichen, zu genommen welchen er sich nicht wohl verstehen könne, eine ordnungsmäßige Regierung wieder herzustellen". Um die Position v. Carlowitz vor dem Maiaufstand besser auszuleuchten, stehen leider keine Selbstzeugnisse des Politikers zur Verfügung. In dieser Situation ist es daher erhellend, die Begründung der Minister Held, v. Ehrenstein und Weinlig heranzuziehen, die ebenfalls nicht bereit waren, den Forderungen des Königs nach militärischer Gegengewalt zu entsprechen. Am 29. April 1849 erklärten sie, nicht im Amt zu bleiben, falls der König sich weigere, die Reichsverfassung anzuerkennen.21 Weinlig erläuterte seine Position in einem Schreiben an den König.22 Die Monarchie könne sich langfristig „nur durch Einführung des Prinzips der Selbstregierung" gegen die „Republikgelüste" halten. Zudem sei es für die norddeutschen Klein- und Mittelstaaten nur wünschenswert, wenn Preußen die deutsche Kaiserkrone annehme. „Gerade jetzt ist es noch möglich, die Souveränität der Einzelstaaten ...,

19

20 21 22

Friedrich August II. an Friedrich Wilhelm IV. von Preußen, Dresden, den 29. April 1849, in: Josef Matzerath (wie Anm. 1), S. 66-68. Friedrich August II., Darstellung der Begebenheiten im Mai 1849, 1. Mai 1849, in: Josef Matzerath (wie Anm. 1), S. 7. Ebd., S. 5. Weinlig an Friedrich August II., Dresden, den 28. April 1849, in: Josef Matzerath (wie Anm. 1), S. 130-134. Der Brief Weinligs reiht sich ein in die Schreiben an den König, in denen die Minister während der Jahre 1848/49 zu wichtigen Ereignissen Stellung nahmen. Er fällt daher nicht in die Alltagskommunikation, die wohl vorwiegend mündlich in Konferenzen des Gesamtministeriums mit dem Monarchen oder in Vorträgen stattfand, sondern diente dazu, die Position des Ministers dem Fürsten gegenüber zu dokumentieren.

Adel und

Hauptstadt in der militärischen Gegenrevolution

165

wahren und Preußen zu nöthigen, deutsch zu sein. Später könnte es sich vielleicht für Deutschland nur einfach darum handeln, preußisch zu werden." Den innergesellschaftlichen Vorteil dieser Strategie erschließt eine Äußerung des Grafen Hohenthal-Püchau. Das Mitglied der Ersten Kammer des Sächsischen Landtages von 1848 wünschte sich noch 1850, „daß Sachsen den inneren Halt, den es durch die Bewegung vom Jahre 1848 verloren" habe, „durch Anschluß an einen mächtigeren Staat, der nun dieselbe Bahn, die constitutionelle, aber mit größeren Garantieen betreten hat, gewinne."23 Die gemäßigt konservativen Adeligen wären bereit gewesen, mit dem König in eine kleindeutsche parlamentarische Monarchie zu gehen, um so eine langfristige Garantie gegen eine Sozialrevolutionäre Unterwanderung des Königreiches Sachsen zu gewinnen. Daß auch v. Carlowitz auf einen reformerischen Kurs in Anlehnung an Preußen setzte, demonstrierte er nach dem Maiaufstand. Er ließ sich in den Landtag 1849/50 wählen, der sich noch nach dem 1848er Wahlrecht konstituierte, und trat in der Ersten Kammer erneut für einen reformkonservativen Kurs ein. Zudem wurde er als Kommissar der preußischen Regierung beim Erfurter Unionsparlament bestellt.24 Nach dem Staatsstreich der Regierung v. Beust im Jahre 1850 gehörte v. Carlowitz dem restituierten Parlament nicht mehr an. Er verkaufte sogar seine sächsischen Rittergüter und siedelte sich in der preußischen Provinz Sachsen an. Auch andere konservative adelige Rittergutsbesitzer kehrten nicht in den 1850 restituierten vormärzlichen Landtag zuzu

rück.25

Die militärische Niederschlagung des Dresdner Maiaufstandes entzweite die konsequent reformkonservativen Adeligen mit Friedrich August II. und seiner Regierung. Prominente Vertreter dieser Richtung wie Albert v. Carlowitz verweigerten sich einer Politik der Bajonette und Staatsstreiche, auch wenn sie vom König gewünscht wurde. Von einem Kampf des Adels um einen König, der zur Volksmonarchie überzugehen drohte, wie dies Heinz Reif für Preußen diagnostiziert Peter Alfred Graf Hohenthal-Püchau, Die conservative Partei in Sachsen und ihre Stellung zur deutschen Frage, Dresden 1850, S. 31. Zum Kurs der gemäßigt Konservativen vgl. Andreas Neemann, Landtag und Politik in der Reaktionszeit. Sachsen 1849/50 bis 1866, (Manuskript) Diss. Tübingen 1998. Zu Albert v. Carlowitz vgl. ADB, 3. Bd. (1967), 783-789. Andreas Neemann (wie Anm. 24) nennt neben Albert v. Carlowitz als adelige Vertreter dieser Richtung Peter Alfred Graf v. Hohenthal-Püchau und Wolfgang v. Herder.

Josef Matzerath

166

hat, kann bei den gemäßigt konservativen Adeligen in Sachsen nicht die Rede sein. Hier kämpfte eher der König um einen einflußreichen Teil des Adels, oder zumindest ohne ihn mit den Aufständischen. Die ,Starr Konservativen'

Die zweite konservative Position, mit der sich sächsische Adelige 1848/49 profilierten, artikulierte sich im Frühjahr 1848 zunächst in der Ersten Kammer des Landtages. Die Starr-Konservativen bezogen Stellung gegen die Petition zur Gleichstellung des ritterlichen und bäuerlichen Grundbesitzes. Zu denen, die sich selbst als „starr konservativ"

klassifizierten, gehörte Caspar Carl Philipp Utz v. Schönberg, der das größte Rittergut im Erzgebirge besaß. Er meinte, man könne durch

Konzessionen nichts erreichen. Die Rittergutsbesitzer würden die Zahl ihrer Gegner durch Nachgiebigkeit nur vermehren: „wir werden ihnen die Waffen gegen uns erst in die Hand geben." Man handele sich lediglich den Vorwurf ein, „eine gewisse Liberalität zur Schau zu tragen" und sich „eine Popularität zu verschaffen", die die Zeit den Rittergutsbesitzern ohnehin abspreche. Die Erste Kammer solle doch nicht „sich selbst das Grab graben helfen, in welches man sie in nächster Zeit zu

legen gedenkt."26

1848, zehn Tage nachdem der Regierungskommissar Carlowitz sich in Leipzig gegen den Einsatz von Militär entschied, Am 22. März

v.

Schönberg Truppen nach Purschenstein gerufen. Eine Schwadron Freiberger Jäger erstickte das Aufbegehren der Bauern, die nicht länger die Ablösegelder an das Rittergut zahlen wollten. Die Soldaten wurden am selben Tag gegen die Landbevölkerung ausgesandt, an dem sie auf die sächsische Verfassung vereidigt worden waren. Den neuen Eid feierte man in Freiberg als Verbrüderung des Milihatte Utz

v.

tärs mit dem

Volk.27 Für die Reaktion des streng konservativen Adels

läßt sich daher nicht allein auf spätere Kommentare über das angebliche Versagen des Albert v. Carlowitz in Leipzig hinweisen.28 Da sie 26 27

28

MVaL 1848,1. Kammer, 4. Juli 1848, S. 251 SächsHStA Dresden, Grundherrschaft Pohl, Tagebuch Rudolph v. Bodenhausen, Bl. 141, Mittwoch 22. März 1848. Ein zeitgenössischer Stich, der darstellt, wie Soldat und Bürger sich bierselig verbrüdern, ist nachgedruckt in Mitteilungen des Freiberger Altertumsvereins, Heft 69, (1940) unpaginiert. Diese Position referiert Richard Frhr. v. Friesen, Erinnerungen aus meinem Leben, Dresden 1880, Bd. 1, S. 71 f. Um den „Zuständen in Leipzig,," die immer mehr den „Charakter einer offenen Revolution angenommen" hätten, „ein Ende zu .

machen" sei

v.

Carlowitz

am

11. März 1848

„mit sehr weitgehender Vollmacht

Adel und

Hauptstadt in der militärischen Gegenrevolution

167

auf der Bühne der Landespolitik nicht zum Zuge kamen, führten die Hochkonservativen auf ihren Gütern vor, wie sie sich die Handhabung einer Revolution vorstellten. Neben der militärischen Repression gehörte auch die konservative Mobilisierung im Lande selbst zu dieser Strategie. Ernst Gottlob v. Heynitz auf Heynitz lieferte ein solches Exempel. Er war in der Ersten Kammer einer der Wortführer der Streng-Konservativen, die die Petition zur Gleichstellung des ritterlichen und bäuerlichen Grundbesitzes ablehnten. Am 8. September 1848 bezog v. Heynitz sein kurz zuvor renoviertes Schloß Heynitz und ließ sich von den Bauern mit Geleit einholen. In geschmücktem Wagen fuhr er durch Ehrenpforten, an denen ihm mal die Schuljugend, mal die Jungfrauen auf einem Kissen Kranz und Gedicht reichten oder der Schullehrer eine Rede hielt. Bei der Ankunft im herrschaftlichen Hof sprach der Ortspfarrer, und der Gemeindevorstand brachte der Herrschaft ein dreimaliges Hoch, das die umstehende Gemeinde wiederholte. Von Heynitz bedankte sich für den „ehrenvollen Empfang" und die „freundliche, liebevolle Gesinnung gegen ihn und seine Familie". Schließlich sang man gemeinsam und unter Instrumentalbegleitung „Nun danket alle Gott."29 Die traditionell30 inszenierte grundherrliche Einholungsfeierlichkeit aus und der bestimmten Weisung dorthin gesendet" worden. Es seien zu seiner Unterstützung sächsische Truppen um die Stadt zusammengezogen worden und er habe sogar preußische Truppen anfordern dürfen. „Dieser Lage und dieser Aufgabe war Carlowitz nicht gewachsen; er, der wohl nie in seinem Leben einer aufgeregten Volksmenge persönlich gegenüberstand, nie in seinem Leben einem echten Demagogen ins Auge gesehen, nie mit einer so gewaltigen revolutionären Persönlichkeit, wie Robert Blum war, auch nur gesprochen hatte, fand in Leipzig Zustände vor, hörte dort Ansichten aussprechen und Forderungen stellen, die weit über Alles hinausgingen, was er bis dahin für möglich gehalten hatte. Da verlor er Muth und Besonnenheit, da verließ ihn die Macht der Ueberzeugung und die Kraft des Widerstandes. Er that gar nichts, reiste vielmehr nach Dresden zurück, ohne von dem Militär Gebrauch gemacht, ohne auch nur irgend eine kräftige Maßregel zur Wiederherstellung des gesetzlichen Zustandes angeordnet und getroffen zu haben. Der Eindruck, den er von Leipzig zurückbrachte, läßt sich mit seinen eigenen Worten kurz ausdrücken: 'Ich habe den Abgrund gesehen, es ist Alles verloren!' Dieser jämmerliche Ausgang des ersten Vorgehens der Regierung gegen die Revolution war von entscheidendem Einfluß für das ganze Land; von da an war der Sieg der Revolution entschieden, war die Autorität der Staatsgewalt untergraben, sie selbst machtlos geworden." SächsHStA Dresden, Gutsarchiv Heynitz, Nr. 354, „Hofordnung" bei dem festlichen Empfängen aufschloß Heynitz 1848 Als Beleg für die Tradition derartiger Einholungen in Sachsen läßt sich verweisen auf: Kurze Beschreibung des Einzugs Ihro Excellenz, des wirklichen Geheimden .

168

Josef Matzerath

dem Spätsommer 1848 ist nicht nur im Gutsarchiv dokumentiert, sie wurde auch vom Muldejourna!, einer dem Konstitutionellen Verein nahestehende Zeitung, publizistisch verwertet. Aus dieser Perspektive und zweifellos auch in den Augen der hochkonservativen Adeligen galt v. Heynitz Einholung als Beweis, daß die Gemeinden unter ihrer Grundherrschaft sich „keineswegs so gedrückt und beengt so unglücklich" fühlten, wie die politischen Gegner immer wieder behaupteten.31 Das patrimoniale Idyll bezeugte in ihren Augen vielmehr die Harmonie in der richtig geführten ländlichen Gesellschaft. Derart legitimiert sprach sich v. Heynitz auch in der Wahlrechtsdebatte der Ersten Kammer des sächsischen Landtages für die unveränderte Beibehaltung dieses Hauses aus. Während die Zweite Kammer für das „Princip der Entwickelung der Ideen der Zeit" stehen könne, solle das Oberhaus ein „Organ für das Princip der Erhaltung des Bestehenden" sein. Es müsse daher „aus Männern bestehen, die unabhängig von der Regierung dastehen", und die „auch präsumptiv unabhängig sind von den Ideen der Zeit." Die Vermutung, zeitlichen Einflüssen wenig zu unterliegen und zugleich ein stabiles Vermögen zu haben, dürfte nach v. Heynitz Auffassung idealtypisch der adelige Rittergutsbesitzer erfüllt haben, auch wenn der Redner dies nicht explizit sagte. Mit welchen Konsequenzen es behaftet sein könnte, dem neuen Wahlgesetz nicht zuzustimmen, erwogen weder v. Heynitz, noch andere Hochkonservative, etwa v. Schönberg-Purschenstein, der ebenfalls gegen die Verfassungsänderung votierte.32 Sie drangen aber mit ihrer Ansicht in der Landtagsdebatte nicht durch. Ihre Vorstellungen vom patrimonialen Oberhaus schienen offensichtlich selbst den meisten konservativen Adeligen nicht durch bloß moralische Appelle durchsetzbar. Offensichtlich entsprach die harmonische Einholung auf dem Rittergut Heynitz nicht dem, was die meisten Rittergutsbesitzer mit ihren Untertanen erlebt hatten, oder es kontrastierte dem, was sie von -

31

32

Raths und General=Postmeisters Adam Rudolphs von Schönberg, als Hochdieselben am 27sten Octobris 1772 das erstemahl als alleiniger Besitzer der Herrschaft Purschenstein und Sayda anhero kamen, in: SächsHStA Dresden, Familiennachlaß v. Schönberg, Nr. 23, Chronik des Geschlechtes von Schönberg, XVII. Heft, 1. September 1923 bis 31. August 1926, S. 28-30. Muldejournal oder der constitutionelle Freimüthige, 4. November 1848, Nr. 108, S. 545 f. Zur politischen Selbsteinschätzung des Blattes vgl. ebd. 5. Dezember 1848, Nr. 121, S. 597 f. Zu v. Heynitz vgl. MVaL 1848 S. 1141 f.; zu v. Schönberg, ebd. S. 1142 f.

Adel und

Hauptstadt in der militärischen Gegenrevolution

169

ihnen bei einer starren Haltung befürchteten.33 Implizit enthielt die Forderung, die Erste Kammer unverändert zu lassen, daher die Bereitschaft, es auf einen innergesellschaftlichen Konflikt ankommen zu lassen, oder um es im Bild einer Zange zu formulieren, die Forderung enthielt unausgesprochen die Absicht, dem Klammergriff nicht durch Rückzug aus dem Parlament auszuweichen, sondern ihn durch Widerstand gegen eine drohende Protestbewegung aufzubrechen. Die Position der streng-konservativen Adeligen, etwa eines v. Heynitz oder v. Schönberg-Purschenstein, sind aus den Tagen unmittelbar vor dem Maiaufstand nicht überliefert. Dem Landtag, der am 30. April 1849 aufgelöst wurde, gehörten sie nicht mehr an. Der König bemühte sich auch nach dem Rücktritt der Minister Held, v. Ehrenstein und Weinlig nicht, einen der ultrakonservativen adeligen Rittergutsbesitzer ins Kabinett zu holen. Die adeligen wie die bürgerlichen hohen Beamten der Zentralbehörden wichen aber vor der militärischen Auseinandersetzung zurück, wie die Bemühungen um Albert v. Carlowitz, den Diplomaten Leon Albin v. Seebach, den Geheimrat Johann Heinrich August Behr zeigten, oder sie scheuten die Machtprobe zumindest wie Ferdinand Zschnisky, der nur unter Konzessionen zum Eintritt ins Ministerium zu bewegen war.34 Daß Friedrich August II. keinen der hochkonservativen Rittergutsbesitzer in sein Kabinett holte, kann aber kaum bedeuten, daß diese gegen eine militärische Niederschlagung des Aufstandes gewesen sind. Denn Richard v. Friesen, der durch sein Charlotte Trützschler v. Falkenstein a. d. H. Dorfstadt artikulierte die Befürchtungen sächsischer Adeliger, die auf Rittergütern lebten. Sie schrieb am 22. März [1849] an ihren späteren Ehemann Rudolf v. Bodenhausen, der vom Nachbargut Pohl stammte und als Offizier in der sächsischen Armee diente (s. o.): „wer weiß ob Du nicht bald lesen wirst, daß viele Rittergutsbesitzer im Voigtland entflohen sind und daß das Bettelvolk Dorfstadt angezündet hat." In einem anderen undatierten Schreiben an denselben Adressaten, das vermutlich im Frühjahr 1848 entstand, heißt es: „Wir sind hier auch immer etwas besorgt, denn wenn unsere arme Nachbarschaft nichts mehr hat, fällt sie zuletzt auch über uns her. Es sollte mich sehr wundern wenn Ihr von Pohl noch keine Petition bekommen hättet, denn da sogar die Dorfstädter nach ihren eigenen Worten: .endlich aus ihrem Schlafe erwacht sind', und Erlaßung von Abgaben fordern, die sie niemals hatten, so ist doch nicht zu erwarten, daß Euere civilisierte Pöhler noch in diesem Schlafe liegen. Neulich waren auch die Falkensteiner beim Vater, haben aber nur wenig erreicht." SächsHStA Dresden, Grundherrschaft Pohl, Briefwechsel, unpaginiert. Vgl. Friedrich August II., Darstellung der Begebenheiten im Mai 1849, in: Matzerath (wie Anm. 1), S. 5-9; sowie Behr an Friedrich August II., Dresden, den 1. Mai 1849, Ebd. S. 135-138. Zu Behr vgl. auch Richard Frhr. v. Friesen (wie Anm. 28), Bd. 1, S. 145 f. und 161f. -

Josef Matzerath

170

selbsttätiges Engagement gegen den Dresdner Maiaufstand noch während der Erhebung zum Innenminister ernannt wurde, berichtet aus der Erinnerung des Jahre 1880 die unterschiedlichen politischen Ansichten nach der Niederschlagung des Aufstandes. Die „streng-conservative Partei", die „mächtig und schroff aufgetreten sei, habe gefordert, „daß der alte Bundestag wieder hergestellt werde" und daß „die mit den Waffen in der Hand gefangenen Empörer standrechtlich erschossen werden sollten."35 Dies deckte sich jedenfalls mit den strengkonservativen Ansichten, die für das Jahr 1848 ermittelt werden konnten.

Der König und seine Minister entsprachen dem aber nicht bzw. nicht unmittelbar. Die Maigefangenen wurden nicht hingerichtet. Außenpolitisch steuerte Sachsen nicht sogleich den alten Bundestag wieder an, und im Sommer 1849 wählte man erneut ein Parlament nach dem Wahlrecht vom November 1848. Es gestaltete sich somit auch das Verhältnis der streng-konservativen Adeligen zum König und seiner Regierung nicht konfliktfrei.

Resümee Eine Analyse der Positionen, die sächsische Adelige zur militärischen Gewalt gegen die Revolution 1848/49 einnahmen, zeigt, daß in sämtlichen Lagern Adelige wie Bürgerliche standen. Es mag noch als atypisch zu verbuchen sein, wenn sich v. Trützschler bei den radikalen Demokraten engagierte, oder Marschall v. Bieberstein im Mai 1849 in Dresden als Aufständischer kämpfte. Einschlägiger ist schon, daß reformkonservative Adelige wie v. Carlowitz, aber auch der bürgerliche Spitzenbürokrat Behr sich vor der Erhebung weigerten, in ein Kabinett einzutreten, das die Ablehnung der Reichsverfassung mit Gewalt durchsetzen wollte, während v. Beust, Rabenhorst, Zschinsky und v. Friesen sich auf diesen Kampf einließen. Auch auf dieser Ebene Ein aggressives Plädoyer für das Standrecht ist auch von dem ehemaligen Kommandanten des sächsischen Gardereiterregimentes Friedrich Gotthelf von Berge überliefert. Er besichtigte die 300—400 Gefangenen, die unmittelbar nach dem Ende des Aufstandes in der Frauenkirche interniert waren. August Röckel berichtet als Augenzeuge darüber, der hohe Offizier a. D. habe sich an die preußischen Wachmannschaften gewandt: „Das sind also die Halunken. Von diesen Kerls, wie sie hier sitzen, ist nicht ein einziger unschuldig. Habt Ihr diese Bestien nicht gleich niedergeschossen, so müßt Ihr's jetzt tun." Vgl. August Röckel, Sachsens Erhebung und das Zuchthaus zu Waldheim, Frankfurt a. M. 18652, S. 74 f. ...

Adel und

Hauptstadt in der militärischen Gegenrevolution

erweist sich eine

171

Zuordnung nach gesellschaftlichen Großgruppen als

unzuverlässig.

Schließlich bestanden die gemäßigten wie die strengen Konservativen der Ersten Kammer des sächsischen Landtages von 1848 zwar überwiegend aus Adeligen, aber beide Richtungen wurden auch von bürgerlichen Parlamentariern vertreten. Eine Standesvertretung war das sächsische Oberhaus in der Mitte des 19. Jahrhunderts ohnehin nicht36, und der Rückhalt der beiden konservativen Strömungen in Adel und Bürgertum läßt sich nicht abschätzen. Dennoch offenbart gerade die Differenz zwischen den beiden von Adeligen wie Bürgerlichen vertretenen Politikkonzepten, daß die politische Position die jeweilige Gruppenzugehörigkeit wesentlich überlagerte. Die Wahlrechtsdebatte in der Ersten Kammer des Landtages erlaubt nicht einmal mehr von einer Strategie zu sprechen, die Macht der adeligen (und bürgerlichen) Rittergutsbesitzer zu erhalten. Die Mehrheit der Gemäßigt-Konservativen begab sich ihrer künftigen Einwirkungsmöglichkeiten auf die Landespolitik, um einer zweiten Revolutionswelle zu entgehen. Der sächsische Adel fand weder im März 1848 noch im Mai 1849, geschweige denn in den dazwischen liegenden Debatten, zu einer gemeinsamen Haltung, ob gegen das Zentrum der Revolution mit militärischer Gegengewalt vorzugehen sei. Die differenten und teilweise diametral entgegengesetzten politischen Ansichten innerhalb einer gesellschaftlichen Großgruppe, deren zentrale Standesaufgabe in der Frühen Neuzeit die Herrschaft war, wirft die Frage auf, welche Bindekräfte den Adel zusammenhielten, wenn es nicht der Erhalt einer gemeinsamen Herrschaftsposition war. Ohne das Problem hier erschöpfend behandeln zu können, soll eine Antwort wenigstens umrissen werden. Wie etwa aus dem Tagebuch Rudolf v. Bodenhausens (1826-1900), der in den Jahren 1842-1845 die Dresdner Kadettenanstalt durchlief, dann als Leutnant der Kavallerie in Grimma und Freiberg stand, in dieser Funktion 1849 an der Niederschlagung des Aufstandes beteiligt war und schließlich bis 1856 in Borna und Rochlitz diente, bevor er sich auf sein Rittergut Pohl zuDie Sitze in den landständischen Corpora der kursächsischen Ritterschaft waren dem stiftsfähigen Adel reserviert gewesen. Seit 1817 akzeptierte der alte Adel zu etwa zwanzig Prozent gewählte Vertreter der nichtstiftsfähigen und bürgerlichen Rittergutsbesitzer in seinen Landtagsgremien. Mit der Verfassung von 1831 fielen Stiftsfähigkeit und Adel als Bedingung für Landtagsmandate gänzlich weg. Damit wurde der Adel eine Gruppe ohne rechtlich zugesichertes parlamentarisches Kondominat. De facto behielt er aber die meisten Sitze in der Ersten Kammer.

Josef Matzerath

172

rückzog, zu ersehen ist, nahm im Alltag dieses jungen Offiziers das Gespräch mit anderen Adeligen, etwa beim Besuch auf einem Rittergut in der Nähe seiner Garnison, bei Reisen ins heimatliche Vogtland oder

bei Bällen in Provinzstädten wie Oelsnitz, einen zentralen Stellenwert ein.37 Auf derartigen Kommunikationsforen wurde nicht nur das adelige Selbstverständnis junger Männer geprägt, die auf den Stationen ihrer Militär- oder Zivilstaatskarriere eine Art „innere Kavalierstour" durch Sachsen machten, sondern hier ist auch der Entstehungsort des kollektiven Gedächtnisses. Die Mechanismen der Binnenkommunikation institutionalisierten Verhaltensweisen, schufen den adeligen Habitus als wesentliche Kohäsionskraft der Gruppe.38 Um die Mitte des 19. Jahrhunderts war der sächsische Adel eine gesellschaftliche Gruppe, die sich weniger über einheitliche politische Ziele als über gegenseitige Selbstvergewisserung seiner Adeligkeit definierte. Die politischen Ansichten überschnitten sich mit denen bürgerlicher Kreise. Der ehemalige Herrschaftsstand ging dennoch nicht in anderen gesellschaftlichen Eliten auf, oder verschmolz mit ihnen, weil er sich als eine „Erinnerungsgruppe" untereinander seine durch Alter garantierte vorzügliche Qualität bestätigte. Diese weder durch Vermögen noch durch Bildung zu übertreffende selbstreferentielle Stellung gestattete es dem Adel, unter seinen Mitgliedern unterschiedliche politische Ansichten zu tolerieren.

37

SächsHStA Dresden, Grundherrschaft Pohl, Nr. 35 und 42,

38

Tagebuch Rudolph

Bodenhausen. Zu Institutionalisierungsmechanismen vgl. Karl-Siegbert Rehberg, Institutionen als symbolische Ordnungen. Leitfragen und Grundkategorien zur Theorie und Analyse institutioneller Mechanismen, in: Gerhard GÖHLER (Hg.), Die Eigenart der Institutionen, Baden-Baden 1994, S. 47-84. v.

Hartwin Spenkuch

„Pairs und Impairs".1

Von der Ersten Kammer zum

(1849-1872). Argumente, Positionen, Entscheidungen

Herrenhaus

i.

Die Frage der Bildung einer Ersten Kammer oder synonym damit: eines Oberhauses war in Preußen nach dem Ende der Revolution von 1848 eine vielumstrittene, 1849-1854, 1860/61 und nochmals 1872 sogar eine heiß umkämpfte. Somit ist zunächst zu fragen, welchen Stellenwert sie innerhalb des Problemkomplexes adelig-bürgerliche Elitengeschichte hat? Unsere leitende Fragestellung lautet auf einen kurzen Nenner gebracht: Welche Adelsfraktion wollte mit welcher Fraktion des Bürgertums zusammengehen, welche Bürgertumsfraktion träumte von einer neuen, aus ihr und altadeligen Elementen fusionierten Aristokratie? Bezüglich dieser Fragestellung möchte ich drei Ebenen unterscheiden. 1. kann man die Genese der Ersten Kammer als Indikator sehen, was jenseits der vielfachen Gedankenspiele von Monarchen und Minirealistischerweise „ging" in stern, Politikern und Publizisten Preußen, was möglich oder erwartbar war. Die Zusammensetzung und der politische Streit darum sind verfassungshistorisch wie ideenge-

-

-

-

Wilhelm (v.) Merckel, Die preußische Pairie, Berlin 1852, S. 12. Er damit auf die Unzulänglichkeit des seines Erachtens egoistischspielte engstirnigen Kleinadels, der Junker, für ein Oberhaus an. Hier soll damit in einem allgemeinen Sinne die Schwierigkeit der Oberhaus-Bildung im politischen Tageskampf bezeichnet werden, zumal aus heterogenen Elementen.

Zit.

aus:

Hartwin

174

Spenkuch

schichtlich ein Indikator denkbarer und gedachter Optionen über Elite und Elitenbildung. 2. besaß ein einmal etabliertes Oberhaus natürlich einen eigenen Steilenwert als Ort und Medium der Begegnung, äußerstenfalls der Fusion von Adel und Bürgertum, sowohl sozial wie im politischen Parteisinne. Das war ein sozialgeschichtlicher Prozeß, der, das lehren andere Länder, viele Jahrzehnte dauern konnte. 3. konnte ein existierendes Oberhaus auch durch seine Tätigkeit, seine Gesetzgebung eine „adelig-bürgerliche Synthese" befordern, selbst wenn das wiederum einige Zeit brauchen mußte. Andererseits soll die Bedeutung von Oberhausfrage und Oberhaus nicht überschätzt werden. Sie waren ein wichtiger Teil des Problemkomplexes Elite, aber eben nur Teil, denn der Prozess der Elitenbildung und -fusion ist breiter zu untersuchen, hat eine breitere politische Dimension, von der wirtschaftlichen und sozialen gar nicht zu reden. Hier ist unsere Kenntnis sicher nicht überreichlich. Gerade hinsichtlich der 1850er Jahre sprach Dieter Langewiesche zu Recht von der „am dürftigsten erhellten Phase in der deutschen Geschichte des 19. Jahr-

hunderts"2.

Im weiteren Text wird nach folgender Gliederung verfahren: Zunächst werden nach einigen Bemerkungen zum Zweikammersystem die vier Abschnitte der Genese des Herrenhauses bis 1854/55 rekonstruiert. Ein fünfter Abschnitt skizziert die Reformüberlegungen zwischen 1858 und 1872 und die Gründe ihrer Nicht-Realisierung. Abschließend werden die im Sinne der Fragestellung unserer Tagung wesentlichen, aus der empirischen Untersuchung gewonnenen Er-

kenntnisse formuliert.

Dieter Langewiesche, Liberalismus in Deutschland, Frankfurt/M. 1988, S. 65. In einem umfassenden gesellschaftsgeschichtlichen Sinne scheint mir selbst das Bad Homburger Tagungsprogramm gewisse Lücken aufzuweisen, besonders für die Zeit des Vormärz und der 1850er bis 1870er Jahre. Die auf breiter Aktenauswertung basierende Regesten-Edition der Protokolle des preußischen Staats-

Vgl:

ministeriums, die gegenwärtig im Rahmen eines Langzeitvorhabens der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften (Berlin) erscheint, dürfte künf-

tige Forschung

wesentlich erleichtern. Die ersten Bände dieser Acta Borus-

sia, N. F. genannten Reihe behandeln die 1840er, 1880er und 1910er Jahre (bearb. v. Bärbel Holtz, Hartwin Spenkuch u. Reinhold Zilch) und erscheinen

1999 im Olms Verlag, Hildesheim. Der Band für die Jahre 1848-1858 befindet sich in Vorbereitung.

Von der Ersten Kammer

zum

Herrenhaus

175

Als Quellengrundlage dienen drei Gattungen: staatliche Akten preußischer Ministerien, die stenographischen Protokolle der Ersten und der Zweiten Kammer sowie gedruckte Quellen, Memoiren bzw. zeitgenössische Broschüren und, last but not least, die geschichtswissenschaftliche Literatur. Keine Befassung mit dem Thema kann umhin, die klassische Darstellung Erich Jordans zur Bildung des Herrenhauses, den bahnbrechenden verfassungs- und politikgeschichtlichen HandbuchBand Günther Grünthals und die einschlägigen Aufsätze etlicher Teilnehmer dieses Symposiums hervorzuheben.3 Angesichts des im Wortsinne verwickelten Themas ist es nicht zu vermeiden, eine Menge von Daten, Zahlen und Namen ins Spiel zu bringen, aber selbst dann spreche ich in der Regel von vorwaltenden Tendenzen und kann die Differenzierung und situative Einbettung im Rahmen dieses Aufsatzes nicht bis ins letzte Detail betreiben. Meine Aussagen über Adel und Bürgertum, Liberale und Konservative stehen folglich immer unter dem Vorbehalt des „grosso modo und mit einigen Ausnahmen". Aber die Aufgabe des Historikers ist es ja wohl, zu verallgemeinern, ohne die vielgestaltige historische Realität zu verzeichnen. Das soll nun unternommen werden. II.

Ende 1849 waren in Preußen die Verfassungsrevision, die Beseitigung des „Revolutionsschutts" und die konservative Anverwandlung des ursprünglich liberalen Konstitutionalismus (G. Grünthal) in vollem Akten des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz, I. HA, v. a. Staatsministerium (Rep. 90/90a), Innenministerium (Rep. 77), Zivilkabinett (Rep. 89) und Brandenburg-Preußisches Hausarchiv (BPH). Alle nicht anders gekennzeichneten Aktenangaben beziehen sich auf das GStAPK, I. HA. Erich Jordan, Friedrich Wilhelm IV. und der preußische Adel bei Umwandlung der Ersten Kammer in das Herrenhaus 1850-1854, Berlin 1909; Günther GrüNTHAL, Parlamentarismus in Preußen 1848/49-1857/58, Düsseldorf 1982; Heinz Reif, Adelspolitik in Preußen zwischen Reformzeit und Revolution 1848, in: H.-P. Ullmann u. C. Zimmermann (Hg.), Restaurationssystem und Reformpolitik, München 1996, S. 199-224; Hans-Christof Kraus, Konstitutionalismus wider Willen, in: FBPG 1995, S. 157-240. Für die spätere Zeit wegweisend Bernhard Mann, Das Herrenhaus in der Verfassung des preußisch-deutschen Kaiserreichs, in: G. A. Ritter (Hg.), Gesellschaft, Parlament und Regierung, Düsseldorf 1974, S. 279298. Weitere bibliographische Nachweise im Literaturverzeichnis meines Bandes Das Preußische Herrenhaus. Adel und Bürgertum in der Ersten Kammer des Landtages 1854-1918, Düsseldorf 1998. Relevant dort v. a. Kap. 1,4 und 2, 3,2 und 3,3, 4,1 sowie 6,1.

Hartwin

176

Spenkuch

Gange.4 Treibende Kräfte waren dabei König, Staatsministerium sowie die Kräfte der Beharrung in Adel und konservativer Partei, Militär und Bürokratie. Sie wurden zwar mit jedem Jahr und jeder Wahl stärker, büßten aber gleichzeitig durch internen Dissens zwischen König, Ministerium und den konservativen Fraktionen an Durchsetzungsfähigkeit ein. Sie konnten zwar in Preußen nicht zuletzt aus macht- und wirtschaftspolitischen Gründen Verfassung und Konstitutionalismus nicht gänzlich beseitigen, aber die Liberalen ihrerseits waren in den Kammern bald nur noch fähig zu hemmen, nicht hingegen ihre eigenen Vorstellungen durchzusetzen, zumal sich der starke linke Flügel, die Demokraten, durch Wahlboykott selbst ausgeschaltet hatte bzw. poli-

-

zeistaatlich unterdrückt wurde. Dabei stellte die Oberhaus-Frage nur eine von mehreren Streitfragen dar, die sich von diversen Verfassungsbestimmungen wie dem politisch zentralen Budgetrecht der Kammern über die höchst wichtige Gemeinde-, Kreis- und Provinzialordnung und Kernfragen des Rechtsstaates wie dem Disziplinarrecht für Beamte oder der Gestaltung des Rechtsweges gegen Verwaltungsverfügungen bis hin zur Grundsteuerfreiheit für Rittergutsbesitzer, der Gestattung von Fideikommissen oder den organisatorisch-ideologischen Verhältnissen in Kirche und Schule

erstreckten.5

Was das hier abzuhandelnde Problem angeht, so sah die oktroyierte Verfassung vom 5. Dezember 1848 ein Zweikammersystem vor, über dessen grundsätzliche Angemessenheit zwischen Liberalen und Konservativen ein fragiles Einvernehmen bestand. Die konservativen Staatsdenker und Politiker, modifiziert aber auch die meisten liberalen, begründeten mit fünf verknüpften Argumentenbündeln die Notwendigkeit des Zweikammersystems.6 Erstens sollten durch zweimalige Manfred Botzenhart, Deutscher Parlamentarismus in der Revolutionszeit 1848-1850, Düsseldorf 1977, bes. S. 755 ff. Günther Grünthal, Das Ende der Ära Manteuffel, in: Jahrbuch für Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 1990, S. 179-219, 189.

Vgl.

Zugespitzt bemerkte der liberale Abgeordnete Friedrich Harkort in der 2. Kammer am 3. Februar 1853, S. 222: „Das historische Recht (...), das Recht der Bevormundung, ist der rote Faden der Reaktion." Regierung und Konservative strebten dahin, „die Verfassung nach und nach niederzureißen, um einen Stände- und Rittersaal herzustellen". Vgl. z. B. Johann Caspar Bluntschli, Allgemeines Staatsrecht, Bd. 1, 3. Aufl., Berlin 1863, S. 486-490 oder Hermann Wagener (Hg.), Staats- und Gesellschaftslexikon, 23 Bde., Berlin 1859-67, Bd. 23, S. 196-199 (Artikel Zweikam-

mersystem).

Von der Ersten Kammer

zum

Herrenhaus

177

Beratung übereilte, quasi zufällig gefaßte Beschlüsse einer Kammer unmöglich sein. Zweitens sei in der Ersten Kammer ein unverzichtbares Maß an Expertenwissen und Lebenserfahrung versammelt, das

weder durch Fraktionsrücksichten noch Parteien-Konkurrenz beschränkt werde. Drittens könne ein Oberhaus zwischen (monarchischer) Regierung und (mehr oder weniger allgemein) gewählter Volkskammer vermitteln, gegen überbordende Demokratie und obrigkeitliche Despotie gleichermaßen. Ein viertes Argument brachten am deutlichsten Konservative vor, nämlich, daß hier das historisch gewachsene Recht der um den Staat verdienten, „staatsnahen" Gruppen zur Geltung kommen müsse. In der theoretischen Diskussion rekurrierte man fünftens auf die (nicht zuletzt auf unvergänglichem Grundbesitz beruhende) Unabhängigkeit der in der Ersten Kammer sitzenden Personen. Die hier vertretene „ausgezeichnete Minderheit"

mit überlegener Staatsweisheit lasse sich ihren Standpunkt weder von der Regierung noch von Wählermehrheiten oder Volksmassen oktroyieren. Der Reichsfreiherr vom Stein argumentierte so 1816, G. W. F. Hegel wenig später und David Hansemann in einer Denkschrift zum

Regierungsantritt Friedrich Wilhelms IV. 1840.7 Überblickt man die Stellungnahmen aus dem liberal-konservativen Kontinuum, so fällt die jedenfalls in Staatsrechtslehrerkreisen ungeheure Beharrungskraft der im 18. Jahrhundert von Montesquieu übernommenen aristotelischen Gedankengänge auf. Und es wird deutlich, daß gebildete, beamtete und besitzende Liberale sich durchaus als Bestandteil, ja Avantgarde der Elite, der staatsweisen „ausgezeichneten Minderheit" verstanden; plutokratisch-meritokratische Denkfiguren und die Abstufung politischer Rechte nach „Besitz und Bildung" waren ihrem Gesellschaftsmodell nicht fremd, sondern inhärent.8 Hingegen blieb stets

-

-

Peter Michael Ehrle, Volksvertretung im Vormärz, Frankfurt/M. 1979, Bd. 2, S. 331 (Stein); G. W. F. Hegel, Grundlinien einer Philosophie des Rechts, in: Sämtliche Werke, Hg. v. H. Glockner, Bd. 7, 1952, bes. § 302-13; David Hansemann, Preußens Lage und Politik, in: Joseph Hansen (Hg.), Rheinische Briefe und Akten zur Geschichte der politischen Bewegung 1830-1850. Bd. 1, ND Osnabrück 1967, S. 250-260 (ein zu schaffender tüchtiger reichsständischer Adel, Repräsentanten des landständischen Adels, Beamte, Universitätsprofessoren und durch ein nicht detailliert dargelegtes qualifiziertes Wahlrecht bestimmte Volksvertreter gehören in das Oberhaus). Vgl. Manfred Botzenhart, Die Parlamentarismusmodelle der deutschen Parteien 1848/49, in: Gerhard A. Ritter (Hg.), Gesellschaft, Parlament und Regierung, S. 121-143, S. 139 f.; Walter Gagel, Die Wahlrechtsfrage in der Geschichte der liberalen Parteien 1848-1918, Düsseldorf 1958; Kurt Klotzbach, Das Elitepro-

Vgl.

-

-

Hartwin

178

Spenkuch

fraglich, wie sich die alten Eliten in und zu diesem Konzept stellen würden. Grundsätzlich gegen ein Zweikammersystem hatten sich schon im Vormärz die Demokraten ausgesprochen, etwa Rotteck bereits 1838 formuliert: „Eine Vermittlung durch eine Adelskammer ist eine Bevormundung des Königs und des Volkes. (...) In dem reinen Staatsrechte der constitutionellen Monarchie" sei für sie „keine Stelle [zu] finden." In der Nationalversammlung der Paulskirche trugen die Demokraten allenfalls ein föderatives Staatenhaus als „2. Volkshaus" mit.9 Aber seit Mitte 1849 boykottierten die Demokraten die Wahlen und schieden zudem unter dem Druck der restituierten Staatsgewalten als politische Kraft aus dem parlamentarischen Kampf über die Verfassung aus. Der mehrjährige Streit über die konkrete Gestaltung eines Oberhauses wurde somit nur in dem Spektrum zwischen der liberaldemokratischen bis liberalkonservativen Linken und der gouvernemental-konservativen bis ultrafeudalen Rechten ausgetragen.10 Im folgenden wird es somit um drei Gruppen von Akteuren gehen, nämlich den König mit seinem (letzten Endes willigen) Organ Staatsministerium, die konservative Partei und die Liberalen, letztere jeweils mit linken und rechten Flügeln. Ich ordne die Zeit in vier chronolo-

-

gisch abgrenzbare Perioden, nämlich vom Beginn der Verfassungsrevision 1849 bis zu den Königlichen Propositionen vom 7. Januar 1850,

da bis zum Gesetz über die Erste Kammer vom 7. Mai 1853, von da bis zur Gründungs-Verordnung für das Herrenhaus vom 12. Oktober 1854 und schließlich fünftens eine Art Nachgeschichte vom Reformanlauf der „Neuen Ära" bis zur Krise um die Kreisordnung von 1872. Ich identifiziere fünf idealtypische Modelle, nämlich a) ein von von

blem im politischen Liberalismus, Köln/Opladen 1966. In polemischen Momenten konnte ein Mann wie Heinrich v. Treitschke aber schreiben, 1. Kammern „führen in den meisten Staaten ein künstliches Dasein, in vielen haben sie nur Unheil gestiftet"; DERS., Das Zweikammersystem und das Herrenhaus, in: Preußische Jahrbücher 31, 1873, S. 221-256, S. 233. Karl v. Rotteck, Staatsrecht der Constitutionellen Monarchie, Bd. 3, Leipzig 1838, S. 193. Vgl. Botzenhart, Parlamentarismus (wie Anm. 4), S. 642 ff. Zur

Haltung

der 1848er Demokraten und Liberalen

gegenüber

dem Adel

jetzt

auch

Wilhelm Ribhegge, Das Parlament als Nation, Düsseldorf 1998, S. 53 ff. Vgl. Ludolf Parisius, Deutschlands politische Parteien und das Ministerium Bismarck, Berlin 1878, S. 15-17; Grünthal, Parlamentarismus (wie Anm. 3), S. 98 ff, 319 ff. Demokratische Publizistik weisen nach: Karl Meitzel u. August Wolfstieg, Bibliographie der Schriften über beide Häuser des Landtags, Berlin 1915, S. 51 ff.

Von der Ersten Kammer zum Herrenhaus

179

den regionalen Selbstverwaltungsorganen bestimmtes Oberhaus, b) die Wahlkammer aufgrund Zensuswahlrecht, c) die erbliche Adelskammer oder Pairie, d) eine berufsständische Erste Kammer mit unterschiedlich gedachten Schwerpunkten, sowie e) ein mixtum compositum aus verschiedenen Elementen, durch königliche Ernennung bewirkt. Dabei lassen sich a) der liberaldemokratischen Linken, b) den gemäßigten Liberalen, c) König Friedrich Wilhelm IV., d) und e) tendenziell der rechten Seite des parteipolitischen Spektrums zuordnen. Darauf wird zurückzukommen sein. In einem ersten Abschnitt ging es Ende 1849 um Bestand oder Modifikation der Ersten Kammer als Wahlkammer aufgrund Wahl der Selbstverwaltungskörperschaften oder allenfalls ziemlich breit gefaßter Zensuswahl.11 Denn mittels eines relativ großzügigen Zensuswahlrechts war sie Anfang 1849 von rd. 190.000 Wahlberechtigten praktisch der 1. Klasse des Dreiklassenwahlrechts gewählt worden. Indirekte Wahl durch (demokratisierte) Kreistage und Provinzialvertretungen hatte die Preußische Nationalversammlung 1848 vorgeschlagen und die oktroyierte Verfassung vom 5. Dezember 1848 übernommen, wenngleich mit der Anmerkung, ob nicht auch dem Könige ein Berufungsrecht und Städten und Universitäten eine Repräsentanz einzuräumen sei.12 Alle Alternativen wurden im Verfassungsausschuß der Zweiten Kammer diskutiert, aber am Ende spiegelte sich die Zusammensetzung des Ausschusses im Beschluß wider: gegen die sieben Stimmen der konservativen Fraktionen (Kleist-Retzow, Bodelschwingh bzw. Arnim-Boitzenburg) votierten die 14 Vertreter von beamtenliberalem Centrum und später sog. Altliberalen, der damaligen Fraktion um Georg v. Vincke und Friedrich Harkort, für eine Erste Kammer aus 2/3 von den Kreistagen Gewählten und 1/3 aus Repräsentanten der 200 höchstbesteuerten Grundbesitzer jeder Provinz. Das hieß: etwa 10.000 Kreisvertreter hätten 160 Abgeordnete, 1.600 große Grundbesitzer 80 Abgeordnete bestimmt; die Verteilung auf die Provinzen sollte gemäß ihrer Einwohnerzahl erfolgen. Dies biete „hinreichende Garantien für -

-

Wie bedrohlich bereits damals Liberale ihre Lage ansahen, erhellt daraus, daß Beckerath Ende Oktober 1849 an G. Mevissen schrieb, wenn Land und Presse nicht bald Zeichen ihres Freiheitssinnes gäben, werde die liberale Sache den Boden unter den Füßen verlieren und die Verfassungsrevision mit einem Sieg des Absolutismus enden; Joseph Hansen, Gustav v. Mevissen, Bd. 1, Berlin 1906, S. 609, Anm. Vgl. Grünthal, Parlamentarismus (wie Anm. 3), S. 47-49. v.

180

Hartwin

Spenkuch

eine liberal-konservative Richtung" der Ersten Kammer, äußerte der Altliberale Hermann v. Beckerath.13 Im Plenum der Zweiten Kammer wurden nicht weniger als 28 Anträge zur Bildung der Ersten Kammer gestellt. Die bürgerlichen Liberalen wie Georg Beseler, Otto Camphausen, Ludwig Tellkampf, auch Peter Reichensperger, lehnten insbesondere eine erbliche Pairie, d. h. ein Oberhaus nach englischem Vorbild ab. Denn Preußen fehle ein Adel wie in England, der zugleich reich und zum Bürgertum offen sei, traditionell auch Volksrechte verteidige und treu zur Verfassung stehe; das habe das Handeln des Adels bewiesen; zudem sei die Revolution 1848 gerade in den standesherrlichen Gebieten besonders heftig ausgefallen. Desgleichen wandte man sich gegen das von Innenminister Manteuffel favorisierte berufsständische System, denn das sei mittelalterlich und schaffe Interessen- statt Volksvertreter. Als minoritäre Gruppe machte die adelige Rechte verschiedene Avancen an die bürgerlich-liberale Seite. So bezeichnete Graf Arnim-Boitzenburg die bürgerlichen Besitzer als selbstverständlichen Teil des gesamten großen Grundbesitzes und Otto v. Bismarck malte als gemeinsamen Gegner von Konservativen und Liberalen „demokratische Pairs" an die Wand. Hans v. Kleist-Retzow bemühte sich, die bürgerliche Seite mit

deren eigenen verfassungstheoretischen Argumenten zu schlagen, indem er für die Erste Kammer ein anderes Bauprinzip als für die zensusbewehrte Zweite Kammer verlangte und das „Volksleben in seiner Manigfaltigkeit" nur durch ein berufs-ständisches Oberhaus mit leichter Adelsmehrheit angemessen repräsentiert sah. Diesen (erst konkret zu fassenden) Avancen erlag die Kammer mit ihrer deutlichen Mehrheit von Liberalen aller Schattierungen damals aber nicht.14 Im Endergebnis verfehlte der Ausschußantrag mit 137 zu 170 Stimmen die Mehrheit, weil nicht nur die Rechte dagegen stimmte, sondern liberale Führungsfiguren wie Georg Beseler, Peter Reichensperger, Graf Konrad Dyhrn und Max Duncker Anstoß an der vorgesehenen Privilegie-

Vgl. den Bericht des Verfassungsausschusses, vorgetragen von H. v. Beckerath in: Sten. Ber. 2. Kammer, 22. Oktober 1849, S. 794-801. Zit. n. Beckerath ebd. S. 795. zur Plenardiskussion bereits Botzenhart, Deutscher Parlamentarismus (wie Anm. 4), S. 755 ff. Zit. nach Sten. Ber. 2. Kammer, 22./23V25. Oktober 1849, S. 809 (Beseler); S. 836 (Manteuffel); S. 854 (v. Beckerath); S. 850 (ArnimBoitzenburg); S. 842 (Bismarck). Die Liberalen Preußens wünschten also, anders als nach Elisabeth Fehrenbach, Adel und Bürgertum im Vormärz, in: HZ 258, 1994, S. 25, die Liberalen Süddeutschlands, im Vormärz keineswegs eine erbliche

Vgl.

Pairie.

Von der Ersten Kammer zum Herrenhaus

181

rung des Grundbesitzes nahmen. Immerhin erreichte ein ähnlicher Antrag des Centrumsabgeordneten Archivrat Riedel die knappe Mehrheit (156 gegen 150 Stimmen), wonach 2/3 der Ersten Kammer von den Kreistags- und Provinzialvertretern, 1/3 von der fünfzigfachen Anzahl der am höchsten mit direkten Steuern belasteten Grundbesitzer gewählt werden sollten. Somit hätten die 3000 höchstbesteuerten Grundbesitzer Preußens 60 Abgeordnete bestimmt. Dafür stimmte auch eine Anzahl altadeliger Abgeordnete aus den Fraktionen von Mitte und Linker, während die große Mehrheit des Adels im Rahmen der konservativen Fraktionen ihr Nein zu Protokoll gab.15 In der Ersten Kammer, die einen Monat später über die Sache beriet, vertrat der Berichterstatter des Zentralausschusses, der altliberale Greifswalder Professor Eduard Baumstark, dezidiert alle Gegengründe gegen erbliche, ernannte und kategorial gemischte Kammern. Die erbliche Pairie sei schon mit der Herrenkurie des Vereinigten Landtags mißlungen und Erblichkeit Signum des ständischen Prinzips. Unter dieses Rubrum fielen auch Berufsstände, die ständische Sonderung statt politische Vermittlung im konstitutionellen System bedeuteten. Ernennung von Oberhäusern bedinge regelmäßig deren Schwächung als Organ eines Partei-Ministeriums, ja ihren Untergang. Mixtum compositum sei bloßer Mischmasch ohne Prinzip, weshalb auch die Beimengung von Vertretern von Städten und Universitäten im Zentralausschuß abgelehnt worden sei. Folgerichtig hatte der Zentralausschuß mit neun zu fünf Stimmen die indirekte Wahl der Mitglieder der Ersten Kammer durch Kreis- und Provinzialvertreter beschlossen, zugleich aber die besondere Berücksichtigung des Großgrundbesitzes. Wie die Verfassungskommission der Zweiten Kammer empfahl man, daß ein Drittel der Ersten Kammer von den 200 höchstbesteuerten Grundbesitzern jeder Provinz gewählt werden sollte.16 Das kam dem Landadel weit entgegen, denn das Spitzensegment des Grundbesitzes wies eine überdeutliche adelige Mehrheit auf. Aber die äußerste Rechte, die sich wahrscheinlich einerseits doch nur zum Teil in diesem Spitzensegment fand und der andererseits das noch zu geringe Repräsentanz schien, setzte dem sofort den Antrag Stahl entgegen, der sozusagen die ideelle Keimzelle des späteren Herrenhauses darstellt. Er sah zusätzlich zu dem guten Dutzend Standesherren neben 60 erblichen 60 gewählte Großgrundbesitzer einerseits, andererseits 40 gewählte Kaufleute bzw. Industrielle neben je acht Städtevertretern, 15 16

Ebd. 25. Oktober 1849, S. 870 f., 873 f. (Abstimmungsergebnisse). Sten. Ber. 1. Kammer, 21. November 1849, S. 1495, 1496, 1499 (Zit.).

Hartwin

182

Spenkuch

evangelischen Generalsuperintendenten

und katholischen Bischöfen sowie sechs Professoren vor. Grundbesitz und in zweiter Linie Fabrikanten, das seien die Mächte in Preußen, die Anspruch auf Repräsentation hätten, führte F. J. Stahl aus. Zwar könne auch ein hoher Zensus Rittergutsbesitzern und Kapitalisten zu einer guten Vertretung in der Ersten Kammer verhelfen, aber ein solchermaßen erzieltes Ergebnis sei gänzlich unhistorisch. Die von der Linken betonte „Popularität im Lande" sei kein Kriterium. Ein historisch und wegen der Kaufleute modern gebildetes Oberhaus werde sich Popularität zu erwerben wissen durch Einstehen für das Populärste im Lande, nämlich Thron und Altar, auch wenn das liberalen Zeitungsschreibern nicht passe.17 Obwohl Stahls Rede großen Eindruck machte, hielt die KammerLinke dem tapfer entgegen. Friedrich Christoph Dahlmann rief emphatisch aus: „Der deutsche Adel hat seine politische Zukunft verfehlt, weil er sich auf einem Vorzuge des Blutes weidete, der auch den jüngeren Söhnen zu Gute kommt". Eine Pairie, die 1815 möglich gewesen sei, ja die er selbst bis um 1840 unterstützt hätte, sei nun unmöglich. Die liberaldemokratische Linke, hier der schlesische Regierungsrat Kuh, formulierte noch schärfer und bestritt, daß der Adel in irgendeiner Weise mehr Verdienste um Preußen besitze als das Bürgertum; Kuh lehnte Zensus und die historisch belasteten Provinzial-Landtage zugunsten der reinen Wahl durch demokratisch legitimierte Kreisvertreter ab und bestand auf 240 von den Kreistagen Gewählten .18 Die Liberalkonservativen und Rechtsliberalen der Ersten Kammer schlugen in mehreren Anträgen ein Zensuswahlrecht vor. So proponierten Graf August Dönhoff und der Westfale Wilhelm von Zur Mühlen die Wahl von 40 städtischen und 200 ländlichen Deputierten durch die 7.200 Höchstbesteuerten Preußens; etwas weniger restriktiv die Oberlandesgerichtspräsidenten Friedrich Ernst Scheller und Gustav Wilhelm Kisker die Wahl durch etwa 20.000 Wähler. Da man das platte Land des preußischen Ostens nicht den 8.000-9.000 größten Grundbesitzern überliefern wollte, so der Einwand des schlesischen Altliberalen Karl August Milde, und es sozusagen ideologische Bedenken dagegen gab, daß durch Zensuswahl nicht die Edelsten und Gebildetsten, sondern Schlachter, Bäcker und Brauer den Wächter der Verfas-

-

Sten. Ber. 1. Kammer, 21./22. November 1849, S. 1501, 1520 (Antrag Stahl). Vgl. Dahlmanns im Plenum zugegebene frühere positive Haltung in DERS., Die Politik auf den Grund und das Maß der gegebenen Zustände zurückgeführt, Göttingen 1835, ND Berlin 1924, S. 134-138. Zit. Kuh It. Sten. Ber. 1. Kammer 23. November 1849, S. 1543. -

-

Von der Ersten Kammer

zum

Herrenhaus

183

sung bestimmen sollten, versuchte ein Antrag August v. Bernuths wenigstens die Hundertfache Wählerzahl zu stipulieren. Er scheiterte aber knapp gegen eine Koalition aus Rechter, die seine Intention, somit neben dem Großgrundbesitz eine breiter gefaßte Elite zur Wahl zu berechtigen, glatt verwarf, und liberaldemokratischer Linker, die den Zensus auch in so gemilderter Fassung ablehnte. Nicht unerwartet gewannen anschließend weder der Antrag der Linken noch der Antrag Stahl noch der vom Berichterstatter Baumstark als verfassungspolitische „Lebensfrage" stilisierte Antrag des Zentralausschusses eine Mehrheit. Am Ende blieb mit dem regierungsseitig inspirierten Antrag des Ministerialrats Mätzke nur der dilatorische Ausweg, das Wahlgesetz vom 6. Dezember 1848 solange beizubehalten, bis ein noch zu vereinbarendes Gesetz die Zusammensetzung der Ersten Kammer regeln würde. Der Ausweg wurde mit 84 zu 51 Stimmen beschriften und diesem der Vertagung gleichkommenden Antrag trat die Zweite Kammer gezwungenermaßen bei. Ende 1849 war somit im Streit zwischen liberaler Linker, liberaler Mitte und gouvernementaler bzw. äußerster Rechter sowie im Dissens zwischen Erster und Zweiter Kammer kein Gesetz zustande gekommen.19 III. Das konnte König Friedrich Wilhelm IV. nur Recht sein, denn speziell seine beiden Essentials im Revisionsprozeß: starkes erbliches Element und große Anordnungsfreiheit für den Monarchen hatten beide Kammern bis dahin fast einmütig abgelehnt. Nun verlangten die, nach einigem Hin und Her innerhalb der Regierung und zwischen König und Konservativen, am 7. Januar 1850 publizierten „Allerhöchsten Propositionen" unter Punkt VIII ein Oberhaus nach dem Geschmack Friedrich Wilhelms IV.: mit ca. 50 % Erblichen und monarchisch Ernannten (104 von rd. 210) sowie knapp 20 % Städte- und Universitätsvertretern (30 plus sechs), so daß nur noch rd. ein Drittel

19

21. November 1849, S. 1503 (Antrag DonhofïïZur Mühlen); S. 1503, 1509 ff. (Antrag Scheller/Kisker); 24. November 1849, S. 1556 (Milde); 22. November 1849, S. 1527 (Wachler); 23./24. November 1849, S. 1535, 1573 f. (Antrag Bernuth); 24. November 1849, S. 1558 (Zit. Baumstark); 24. November 1849, S. 1572 (Antrag Stahl deutlich mit 40 zu 105 Stimmen abgelehnt); 24. November 1849, S. 1580 f. (Antrag Mätzke). Zur Genese der regierungsseitigen Inspiration Grünthal, Parlamentarismus (wie Anm. 3), S. 157 f.

Ebd.,

Hartwin

184

Spenkuch

für die Bestimmung durch Zensuswahl übrigblieb.20 Wie auch in den Kammern diskutiert, sollte diese Zensuswahl die 200 höchstbesteuerten Grundbesitzer jeder Provinz privilegieren. Damit hätten 1.600, wohl zu 2/3 (adelige) Latifundienbesitzer 60 Abgeordnete gewählt21; der bestehende (und zukünftig wachsende) bürgerliche Reichtum in Stadt und Land wäre weitestgehend ausgeschlossen geblieben. Was immer die Adelsreform-Pläne Friedrich Wilhelms IV. im Vormärz noch an Reformelementen der sozialen Öffnung enthalten haben mögen, hier wirkte sich sein Wunsch nach „Hochadel" und „altem Grundadel" gegen das Bürgertum aus; Proposition VIII bedeutete einen Schritt zurück zum Vereinigten Landtag mit Herrenkurie, Adelsmehrheit und ständischer Gliederung. In den drei Wochen bis zur Verabschiedung der Verfassungsurkunde (VU) vom 31. Januar 1850 modifizierten die Kammern die Vorgaben des Monarchen immerhin noch dahingehend, daß neben der bestätigten erblichen Hälfte die andere Hälfte der Oberhäusler durch Zensuswahl der höchstbesteuerten 3.600 Wähler bestimmt und daß das königliche Ernennungsrecht stark beschnitten werden sollte, nämlich auf maximal zwölf Abgeordnete. Das heißt, am Beginn des zweiten Abschnitts der Revisionsgeschichte hatte sich ganz entgegen den ursprünglichen Wünschen der das Element der erblichen Pairie gutenteils Kammermehrheiten durchgesetzt und ein restriktives Zensuswahlrecht für (Großgrund-) Besitzer hatte die Wahl durch (demokratisierte) Gebietskörperschaften verdrängt; die liberal-demokratische wie die breite liberale Gestaltung der Ersten Kammer waren praktisch aus der Skala der Möglichkeiten -

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ausgeschieden.

Mit den Kammerneuwahlen im Frühling 1850 besaßen die von der rechten Seite präferierten Modi der Bestimmung der OberhausmitglieGrünthal, Parlamentarismus (wie Anm. 3), S. 162 ff; Jordan, Friedrich Wilhelm IV. (wie Anm. 3), S. 79 ff. (Kontaktmann Kleist-Retzow). 2/3 ist meine Schätzung aufgrund der Aufstellung der preußischen Großgrundbesitzer über 8.000 Taler Jahreseinkommen in: Rep. 77, Tit. 496a, Nr. 40. Den Hinweis auf diese Akte verdanke ich Dirk Müller, Berlin. Ebd. Nr. 56 Verzeichnis der Wähler zur 1. Kammer gemäß Verordnung v. 4. August 1852. Die ostpreußischen Wählerlisten abgedruckt bei Bernd-Maria Rosenberg, Die ostpreußische Vertretung im preußischen Landtag 1842-1862, Köln/Berlin 1979, S. 117 ff. Für Minden-Bielefeld beispielsweise lassen sich unter 60 Wählern bioß 19 NichtLandwirte feststellen, in der Mittelmark unter 90 keine 40 Bürgerliche, nur in den Regierungsbezirken Trier und Koblenz dominierten eindeutig bürgerliche Kaufleute, Fabrikanten, freie Berufe etc.

Von der Ersten Kammer zum Herrenhaus

185

der auch im Landtag erheblich bessere Chancen, denn die konservativen Fraktionen dort nahmen um einiges zu.22 Trotz und wegen dieser Verschiebung nach rechts entwickelte sich im Verlauf des weiteren Revisionsprozesses im Frühling 1852 eine heftige Krisensituation zwischen dem König und der Kammer-Rechten. Denn nach dem faktischen Sieg über die Liberalen war die Rechte in sich zerstritten über das Maß des Entgegenkommens an die Wünsche Friedrich Wilhelms IV. Gegen seine beiden Ziele, Schaffung eines im Oberhaus erblich berechtigten Hochadels somit gewisse Deklassierung des ritterschaftlichen Adels und größtmögliche Berufungsfreiheit des Monarchen in ihren Augen „Absolutismus" -, traten die junkerlichen Konservativen auf. Die damaligen Irrungen und Wirrungen haben E. Jordan und G. Grünthal detailliert geschildert und analysiert.23 Hier gilt es nur weniges festzuhalten. Die Rechte stand unversehens gegen die Wünsche Friedrich Wilhelms, die liberalkonservativen und gouvernementalen Kräfte suchten die Rechte beim König durch Akzeptanz seiner Forderungen auszustechen, es kam zu quasi verkehrten Fronten und in dem Durcheinander zu einer Rücktrittskrise des Kabinetts. Am Ende aber wiederholte sich in der Session 1852 das Spiel von 1849, daß kein Antrag die Mehrheit beider Häuser errang. Friedrich Wilhelm IV. beharrte auf der „alleinigen Anordnung der Ersten Kammer"24, d. h. einem starken erblichen Element und großer Ernennungsfreiheit; die Konservativen hingegen wollten auf der Linie des Stahlschen Antrags von 1849 einen erklecklichen Teil der Ersten Kammer durch den adeligen Großgrundbesitz wählen lassen und so sowohl die Liberalen dauerhaft auf die Minderheit der Städtevertreter reduzieren wie sich gegenüber allen Veränderungen in der Staatsspitze, d. h. möglichen proliberalen Anwandlungen Friedrichs Wilhelms IV. oder seiner Nachfolger, absichern. -

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22

23 24

Vgl. Grünthal, Parlamentarismus (wie Anm. 3), S. 199, 396. Vgl. Jordan, Friedrich Wilhelm IV. (wie Anm. 3), bes. S. 168-259 u. Grünthal, Parlamentarismus (wie Anm. 3), S. 230-261. 11. Januar 1852, zit. nach Leopold v. Ranke (Hg.), Aus dem Briefwechsel Friedrich Wilhelms IV. mit Bunsen, in: ders., Werke, Bd. 50, Leipzig 1887, S. 531. Der König verlangte ein Ernennungsrecht ohne zahlenmäßige Begrenzung und äußerte im Conseil vom 7. Oktober 1851: „Nach gesunden Verfassungsprinzipien müsse die Bildung der Ersten Kammer lediglich der Krone, freilich nach gesetzlichen von Seiten der Untertanen, überlassen werden." Vgl. Rheinbabens in: Rep. 77, Tit. 496b, Nr. 125, Bd. 1,

Normen, aber ohne Wahlen die Denkschrift Paul Bl. 403.

v.

Hartwin

186

Spenkuch

verfassungsgemäß bis zum 7. August 1852 abzuschließende endgültige Bildung der Ersten Kammer im Parteienkampf nicht gelang, mußte diese anschließend aufgrund einer nachträglich von den Kammern gebilligten Notverordnung vom 4. August 1852 zur Neuwahl ausgeschrieben werden.25 Die nunmehr 120 Abgeordneten (d. h. die gem. Art. 65 VU wählbare Hälfte) wurde jetzt jedoch nicht mehr wie 1849 von rd. 190.000 Männern bestimmt, sondern durch die dreißigDa die

fache Zahl der Höchstbesteuerten, mithin exakt 3.853 Männer, bei einer Wahlbeteiligung von nur 2.439 Personen. Um die Liberalen aller Schattierungen weiter zu schwächen, separierte Innenminister Westphalen die 25 größten Städte zu 30 eigenen Wahlkreisen, verteilte die Abgeordnetenanzahlen zugunsten des Ostens beispielsweise Pommern: elf Abgeordnete, Rheinprovinz: neun Abgeordnete statt aufgrund des bis dahin gültigen Schlüssels Einwohnerzahl sieben bzw. 16 -, und erreichte durch erhebliche regierungsseitige Wahlbeeinflussung, daß die Neuwahlen der 90 ländlichen Wahlbezirke im Herbst 1852 wirklich konservative Ergebnisse zeitigten. In der Zweiten Kammer saßen nun 128 strikt Konservative mit 33 moderatkonservativen Bethmann-Hollwegianern gegen 58 Altliberale und 53 Katholiken, bei rd. 70 im Zweifel gouvernementalen Fraktionslosen. In der Ersten Kammer besaß die rechte Seite inklusive der Gouvernementalen eine komfortable 3/4 Mehrheit. Maßgebliche Repräsentanten der Liberalen wie Hermann v. Beckerath und die Brüder Ludolf und Otto Camphausen gaben angesichts des Rechtsrucks der politischen Gesamtsituation ihre Mandate auf oder wurden nicht wiedergewählt. Damit war der Boden bereitet, um eine „Zumutung ohne Beispiel im parlamentarischen Leben" an die Parlamente zu richten, nämlich die Gestaltung der künftigen Ersten Kammer ganz allein dem König und seinem Ministerium zu überlassen.26 -

25

Sten. Ber. 1. Kammer, 20. Dezember 1852, S. 45-57 u. Sten. Ber. 2. Kam1853, S. 133-141. Liberale wie Sybel sen., Mathis, Kisker, Milde. Harkort bezweifelten deren Angemessenheit und Verfassungsmäßigkeit. Vgl. Rep. 77, Tit. 496a Nr. 53 Bd. 1, Bl. 279 f. (Wählerzahl: 2.700 in den 90 ländlichen Wahlbezirken, 1.153 in den 25 Städten); Jordan, Friedrich Wilhelm IV. (wie Anm. 3), S. 155 f. (Städte); Rep. 77, Tit. 496a Nr. 44 Bd. 3 (Wähleraufstellung v. 17. Juli 1852) u. Preußische Gesetzessammlung 1852, S. 549-556 (provinzweise Wahlkreise); August Plate, Handbuch für das Preußische Abgeordnetenhaus, Berlin 1904, S. 190 f. u. Grünthal, Parlamentarismus (wie Anm. 3), S. 405 (Fraktionsstärken); Sten. Ber. 1. Kammer 7. Februar 1853, S. 254 (Zit.

Vgl.

mer, 20. Januar

26

Sybel sen.).

Von der Ersten Kammer zum Herrenhaus

187

derartigen Gesetzentwurf richtete das Ministerium ManteuffelWestphalen nämlich nach einigem Hin und Her über das taktisch richtige Vorgehen am 7. Dezember 1852 an die Kammern. Dort stellte nun, anders als noch im Frühling 1852, ein entscheidender Teil der Einen

Hochkonservativen seine Vorbehalte gegen eine monarchisch berufene Erste Kammer zurück, zumal es (öffentliche und nichtöffentliche) Hinweise von Innenminister Westphalen über eine für die ritterschaftliche Rechte günstige Regelung gab. Angesichts dieser Hinweise und Kontakte stimmte Graf Eberhard Stolberg-Wernigerode, damals wie später ein robuster Konservativer, mit ja und gab in der Ersten Kammer zu Protokoll: „Mein König sagt: die Ritterschaft und der Adel, das bin ich, und ihre Rechte werde ich (...) ausfuhren." Den als SofortKompensation für ihr so begründetes Ja zum Gesetzentwurf eingebrachten Antrag der Rechten, auch die Zweite Kammer zu 40% (120 von 295 Abgeordneten) von den Höchstbesteuerten, also quasi nur von der 1. Abteilung des Dreiklassenwahlrechts, wählen zu lassen, lehnte die Erste Kammer hingegen mit den Stimmen von Liberalen und Gouvernementalen, Katholiken und Polen ab.27 In der Zweiten Kammer entwickelten die Liberalen kurioserweise in argumentativer Gemeinschaft mit der äußersten Rechten ihre Gegengründe. Eine nur vom König berufene Erste Kammer habe kein Ansehen und keine Macht, drohe wegen der lebenslänglichen Mitgliedschaft zur „Invalidenkammer" abzusinken und stütze die Krone nicht wirklich.28 Sie waren aber in einem unlösbaren Dilemma: Unfähig zu eigener Mehrheitsbildung und somit vor die Wahl gestellt, für die Hoffnung auf den „gerechten König" oder die weitergehenden Anträge der Hochkonservativen zu stimmen, ließen sich die KammerLiberalen schließlich gezwungenermaßen dazu herbei, mit der gouvernementalen Rechten gegen die Hochkonservativen für die Übertragung der endgültigen Kammer-Organisation an den König zu stimmen. Einer ihrer Sprecher, Heinrich v. Sybel sen., Vater des Historikers, führte in diesem Sinne aus: „In der Not, worin wir uns befinden, neh27

28

Zur Entstehung des Gesetzentwurfs Jordan, Friedrich Wilhelm IV. (wie Anm. 3), S. 283-296; Grünthal, Parlamentarismus (wie Anm. 3), S. 311 (Kontakte); Sten. Ber. 2. Kammer, 10. März 1853, S. 633 (Zit. Stolberg). Sten. Ber. 1. Kammer, 1852/53, Drucks. Nr. 106 u. Plenardebatte am 7. Februar 1853, S. 269 (Kompensationsantrag 66 zu 48 Stimmen abgelehnt). Vgl. Sten. Ber. 1. Kammer 7. Februar 1853, S. 248 f., 265 (v. Below bzw. v. Knebel-Döberitz) und Sten. Ber. 2. Kammer, Session 1852/53, Drucks. Nr. 154

(Kommissionsbericht zum Gesetzentwurf).

188

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ich lieber meine Zuflucht zur Krone." Sie taten dies in der Hoffnung, damit die Verfassungsrevision glimpflich zu Ende zu bringen, weil sonst „der Handel" bezüglich des Oberhauses jedesmal schlechter ausfalle und bestimmt, so Peter Reichensperger deklamatorisch, berufe die Krone nur gute Männer. Auch die „Wochenblattpartei", vertreten durch die Professoren Clemens Theodor Perthes und Moritz August me

Bethmann Hollweg, setzte auf diese beiden Gründe und vertraute insbesondere dem erblich zu berechtigenden Großadel.29 Die harten Tatsachen über das Aussehen der künftigen Ersten Kammer formulierte indessen der wohlinformierte moderatkonservative Ministerialrat Brüggemann. Selbstverständlich werde künftig der Schwerpunkt eindeutig beim Großgrundbesitz liegen, denn Latifundienbesitzer würden erblich darin sitzen, sonstige Rittergutsbesitzer lebenslänglich; Städte, Universitäten und sonstige Verdiente, das hieß v. a. Beamte, würden als Minderheit hinzutreten. Der Altliberale Georg v. Vincke fürchtete bereits die Vertreter des „alten und befestigten Grundbesitzes" als konservative Ultras und vertraute auch den Königlichen Pairs, die doch konservativ gesinnte Manteuffel- und Westphalen-Pairs sein würden, nicht. Selbst er stimmte aber für die Regierungsvorlage. Das schließlich in der Zweiten Kammer 241 gegen 70 Stimmen angenommene, verfassungsändernde Gesetz vom 7. Mai 1853 bestimmte: „Die Erste Kammer wird zusammengesetzt aus Mitgliedern, welche der König mit erblicher Berechtigung oder auf Lebenszeit beruft."30 Damit war am Ende des zweiten Abschnitts der Revisionsgeschichte nicht nur die Wahl durch die Selbstverwaltungskörperschaften und das relativ großzügige Wahlrecht von 1849, sondern gleichermaßen das sehr exklusive Zensus-System von 1852 aufgegeben. Alle Anknüpfungspunkte zum Ausbau der Ersten Kammer in eine föderale und plutokratische Richtung waren gekappt worden. Zusätzlich wurde der gebietskörperschaftlichen Wahl mit dem anschließend beschlossenen Gesetz vom 24. Mai 1853 über die Wiederherstellung der vormärzliv.

29

30

Sten. Ber. 1. Kammer, 7. Februar 1853, S. 254 (Zit. Sybel); Sten. Ber. 2. Kammer 10. März 1853, S. 633 (Zit. Keller); Karl August Varnhagen v. Ense, Tagebücher, ND Bern 1972, Bd. 10, S. 4 und Grünthal, Parlamentarismus (wie Anm. 3), S. 313 (Trost der Liberalen, daß somit wenigstens die Verfassung befestigt sei); Sten. Ber. 2. Kammer 10. März 1853, S. 622 f. (P. Reichensperger); ebd. S. 621, 630 f. (Perthes. Bethmann Hollweg). Sten. Ber. 1. Kammer, 7. Februar 1853, S. 256 f. (Brüggemann); Sten. Ber. 2. Kammer, 10. März 1853, S. 629 f. (Vincke).

Von der Ersten Kammer

zum

Herrenhaus

189

chen Kreis- und Provinzialstände bis auf weiteres die Grundlage entzogen. Noch in seiner letzten Rede im Herrenhaus erinnerte Friedrich Julius Stahl an den 1853 erreichten Sieg der ritterschaftlichen Partei über den liberalen Teil der Ersten Kammer, als beide „dem Könige carta blanca gegeben hatten, und jede hoffte, ihre Ansicht würde darin Geltung" finden.31 Was blieb war ein mixtum compositum aus dominierender Adelskammer aufgrund monarchischer Berufung und mit berufsständischem Beisatz. IV.

Aber selbst innerhalb dieses Rahmens blieb die genaue Bestimmung Pairs und Impairs, von Wählern und Wählbaren, vor allem in der Kategorie des ritterschaftlichen Grundbesitzes, noch zu regeln. Es folgte ein eineinhalbjähriges Ringen „hinter der Gardine" (Ernst Ludwig v. Gerlach) bis König und Staatsministerium die diesbezüglichen Probleme geregelt hatten. Hier können nicht die Einzelheiten dieses Ringens nachgezeichnet, wohl aber die Hauptschritte festgehalten werden. Der scharfe Kritiker des Pairie-Vorhabens, Varnhagen v. Ense, notierte in jenen Jahren 1853/54 mehrfach, daß Friedrich Wilhelm IV. sich nicht entschließen könne. Er trage verschiedene Listen umher, setze Namen hinzu und streiche welche, finde weder einen leitenden Grundsatz noch genügend Hochadelige, die nicht katholisch seien, hadere mit der Rechten, die die ganze alte und begüterte Ritterschaft zu Pairs ernannt haben möchte, und klage, für eine persona grata müsse er gleich zwei oder drei berufen, die ihm mißliebig seien.32 Umsetzbare leitende Grundsätze zu finden, war Sache des Innenministeriums. Obwohl angesichts der dezidierten Wünsche Friedrich Wilhelms IV. wesentliche Eckdaten feststanden Gesamtgröße gut 200 Abgeordnete, erbliche Sitze für die Herrenkurie des Vereinigten Landtags, Repräsentanz der Grundbesitzer im Umfang von 90 Abgeordneten, rd. 35 Städte- und Universitäten-Vertreter -, entspann sich nun zwischen Staatsministerium und König eine gewisse Kontroverse, vor allem bezüglich Bestimmung der Wähler der GrundbesitzerKategorie. Denn Friedrich Wilhelm IV. bestand im Sinne seiner romantisch überformten Ideen von wahrem Adel und ständischer Ordvon

-

3' 32

Sten. Ber. Herrenhaus, 31. Mai 1861, S. 677. Ernst Ludwig v. Gerlach, Von der Revolution zum Norddeutschen Bund, hg. v. H. Diwald, T. 1, Göttingen 1970, S. 239 (Tagebuch 3. Dezember 1849). Varnhagen v. Ense, Tagebücher (wie Anm. 29), Bd. 10, S. 77 f., 265, 361, 377.

Hartwin

190

Spenkuch

nung bereits im Kronrat vom 16. November 1852 darauf, daß im künftigen „Haus der Obrigkeiten" der Grundbesitz nur durch Besitzer von mindestens 100 Jahre ununterbrochen in einer Familienhand befindlicher bzw. als Fideikommiß oder Majorat befestigter Rittergüter vertreten sein sollte.33 Nach diesbezüglichen Ermittlungen von Innenminister v. Westphalen fanden sich zunächst 1.438 Familien mit 1.183 hundertjährigen und 993 befestigten Gütern. Schied man nun noch den Herrenstand des Vereinigten Landtags die künftig erblich Berechtigten -, ausländische, minorenne und weibliche Besitzer aus und wandte strenge Maßstäbe an, so blieben (Mitte 1854) unter den 12.544 preußischen Rittergütern nur 1.331 Besitzungen übrig, die 100 Jahre im Besitz derselben Familie bzw. durch besondere Erbordnung gebunden waren. Nun beschlichen sogar Westphalen Zweifel, ob diese Verengung der Wahlberechtigten sinnvoll sei. Er wie das Staatsministerium insgesamt plädierten mehrfach für bloß dreißigjährige oder maximal fünfzigjährige Besitzzeit, um nicht die (offiziell erst) seit 1807 angekauften bürgerlichen Rittergutsbesitzer auszuschließen und die Wählerbasis zumal in Ost- und Westpreußen oder den Regierungsbezirken Bromberg und Frankfurt/O. zu verbreitern.34 Aber Friedrich Wilhelm IV. insistierte hartnäckig auf 100 Jahren Besitzzeit, hielt grundsätzlich einen MdH auch in Bezirken mit nur einem Wähler für möglich, jedenfalls in solchen mit drei35, und setzte sich nach mehreren Beratungsrunden durch. Die am 12. Oktober 1854 ergangene Gründungsverordnung für das Herrenhaus schloß somit die bürgerlichen Rittergutsbesitzer aus, da sie ihre Güter ja maximal seit 47 Jahren besitzen konnten. Selbst der damalige Bundestagsgesandte Otto v. Bismarck hatte Bedenken wegen dieser absichtlich strengen Teilung der Gutsbesitzerschicht36, aber der -

-

-

33

Protokollabschrift in BPH, Rep. 50, E 3 Nr. 9, Bl. 233 f. Extrakt in: Rep. 90a, A VIII, le, Nr. 1, Bd. 2, Bl. 44-44v. Vgl. die Denkschrift v. Rheinbabens (wie Anm. 24), Bl. 416 f. u. SPENKUCH, Herrenhaus (wie Anm. 3), S. 155-161. 34 Denn es befanden sich, so Manteuffels Memorandum Anfang 1854, zwar 169 derartige Besitzungen im Regierungsbezirk Potsdam, 142 im Regierungsbezirk Merseburg, 107 im Regierungsbezirk Köslin, jedoch nur elf im Bezirk Koblenz, 35

36

fünf im Bezirk Gumbinnen und zwei im Bezirk Trier. Memorandum und Votum Westphalens v. 28. Mai 1854 in: Rep. 77, Titel 496a, Nr. 59, Bd. 1, Bl. 296-322. So Niebuhr namens des Königs am 25. April 1854 in: Rep. 77, Tit. 496a, Nr. 59, Bd. 1, Bl. 149 f. Otto Fürstv. Bismarck. Gesammelte Werke, 15 Bde., Berlin 1924-35, Bd. 14,1, S. 372, 3. November 1854: „Die Wahlkorporationen bringen eine sonderbare Spaltung in die Ritterschaft. Man hätte lieber die Provinziallandtage bei dieser

191

Von der Ersten Kammer zum Herrenhaus

König hielt gegen das Kabinett daran ebenso verbissen fest wie an der Bildung der provinzweisen Grafen- und der zwecks Berechtigung zum noch

Herrenhaus

auszuwählenden

aristokratischen

Familien-

Verbände.37 dem Ideal Friedrich Wilhelms vom „alten grundangesessenen Adel" folgende Verzerrung der Verteilung der Sitze auf die Provinzen wird in der folgenden Aufstellung von 1854 deutlich (vgl. Tabelle l).38 Westphalen hatte nämlich die Vertreterzahl zunächst aufgrund der gesamten Rittergüterzahl bemessen und dann daran festgehalten, obwohl die tatsächlichen Wählerzahlen diese Verteilung nicht mehr

Die

Konsequenz, d. h. die

aus

rechtfertigten. Seine pro-ritterschaftliche Intention rechtfertigte er damit, daß die 18 Preußen sozusagen ideell die gesamten 2.106 Rittergüter der Provinz vertreten sollten, die fünf Rheinländer aber nur die rheinischen 529 Rittergüter.39 Bei der Verteilung der 90 Repräsentanten auf die acht Provinzen nach Rittergüter-Zahlen wurden der We-

polnische Posen und wegen seiner zahlreichen erblich Beauch Schlesien selbst im Vergleich zur bereits rechtigten zurechtgezimmerten Ersten Kammer 1852-1854 nochmals weiter benachteiligt. Denn nun entsandten die beiden Westprovinzen statt 20 Abgeordneten nur noch neun Herrenhaus-Mitglieder (MdH), Posen statt zehn nur sieben; die solchermaßen eingesparten Sitze kamen Preußen (plus fünf), Brandenburg und Schlesien (je plus vier) sowie Pommern (plus zwei) zugute. sten, das

-

-

Gelegenheit in den constitutionellen Organismus (...) einfügen sollen." 1865

wur-

de die Mindestbesitzzeit auf 50 Jahre reduziert u. die Herrenhaus-Wählerzahl in der Folge etwa verdoppelt. Daß der hartnäckig seine Ideale verfolgende König sogar an den zur Kabinettsfrage hochstilisierten, ahistorisch konstruierten „Grafen-Verbänden" festhielt, fand selbst „Kamarilla-Haupt" Leopold v. Gerlach am 10. Oktober 1854 „doch sehr sonderbar"; ders., Denkwürdigkeiten, Bd. 2, Berlin 1892, S. 221. Jordan, Friedrich Wilhelm IV. (wie Anm. 3), S. 301 nennt das Herrenhaus infolgedessen „das persönlichste Werk Friedrich Wilhelms IV." Nach Rep. 90a, A VIII le Nr. 1, Bd. 3 Bl. 16 (Staatsministerium 20. September 1854). Eine frühere Aufstellung getrennt nach altem und befestigtem Besitz in Rep. 89, Nr. 304, Bl. 115 (v. Westphalen am 26. Januar 1854 an den König). So im Votum Westphalens v. 26. September 1853 in: Rep. 76 I (Kultusministerium), Sekt. I Nr. 42 Bd. 1, Bl. 346 ff.

192

Hartwin

Tabelle 1:

Rittergüter, alte/befestigte

Besitze und

Verteilung

Spenkuch

der Grundbesitzer-

MdH nach Provinzen Provinz Preußen Pommern

Brandenburg Sachsen Schlesien Posen Westfalen

Rheinprovinz Summe

Rittergüter 2.106 .731 1.825 1.063 3.374 .520 396 529 12.544

100-jährige + befestigte Besitze 57 (15 + 42) 265 (254 + 11) 253 (223 + 30) 271 (195 + 76) 153 (118 + 35) 56 (55 + 1) 190 (163 + 27) 86 (79 7) .331 (1102 +229)

MdH

13 15

90

Am Ende des dritten Abschnitts der

Revisionsgeschichte hätte der Triumph von königlicher Machtvollkommenheit und adelig dominiertem Ständestaat über Grundprinzipien liberalparlamentarischer Repräsentation kaum vollständiger sein können. Das Wahlelement der nun zur Pairie oder korrekter: zum mixtum compositum mutierten Ersten Kammer bestand jetzt in der ständischen Präsentation von über 100 weitgehend adeligen Rittergutsbesitzern mit korporativem (und noch dazu jeweils monarchisch zu bestätigendem) bürgerlichem Beisatz aus (zunächst 29) Städten und (anfangs sechs) Universitäten. Der König hatte seine Suprematie mit dem durch ständisches Präsentationsrecht kaum beeinträchtigten Ernennungsrecht formal, durch das darin inbegriffene Recht zum zahlenmäßig unbegrenzten Pairsschub äußerstenfalls auch realiter gewahrt. Das monarchisch-adelige Kondominat war bekräftigt, bürgerliche Eliten offenkundig ausgegrenzt.40 AU das vollzog sich, wie erwähnt, im Schöße der bürokratischen Instanzen und zwischen König und Staatsministerium, aber gänzlich ohne Beteiligung der Öffentlichkeit. Dort reagierten die Liberalen mit Ablehnung auf die Herrenhaus-Verordnung, allerdings wegen der Pressezensur in gedämpftem Ton. Die Berliner „Nationalzeitung" konstatierte, nun sei es „zur Bildung einer verstärkten Herrenkurie weiteroder zurückgekommen" und sah die „Kammer der Landaristokratie" als den Bürger und Bauern am wenigsten interessierenden Teil des Verfassungsgebäudes an. Varnhagen v. Ense bezeichnete das Ganze -

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40

Heinrich Heffter, Die deutsche Selbstverwaltung im 19. Jahrhundert, 2. Aufl., Stuttgart 1969, S. 336 nennt folglich die Gründungs-Verordnung des Herrenhauses v. 12. Oktober 1854 „das reaktionärste Element seiner Schöpfung".

Von der Ersten Kammer

zum

Herrenhaus

193

als „veraltet und stumpf, als „engherziges (...) Machwerk". Gemäßigt liberale Blätter wie die „Elberfelder Zeitung" oder die „Kölnische Zeitung" nahmen ebenfalls an dem hohen Grundbesitzer-Anteil Anstoß, hielten aber immerhin die so erreichte Befestigung der Verfassung wie den Eintritt „wahrhaft unabhängig gestellter Standesherrn" für begrüßenswert. Aus diesem Grunde glaubte die moderat-konservative „Wochenblattpartei" ebenfalls die neue Verordnung begrüßen zu können: „Die endliche Herstellung der Ersten Kammer betrachte ich aus mehr als einem Grunde als vorteilhaft für unseren Kreis, obgleich die Zusammensetzung empörend ist", schrieb Justus v. Grüner am 22. Oktober 1854 an Johann Gustav Droysen. Das „Preußische Wochenblatt", das die Verordnung „mit aufrichtiger Freude" begrüßte, spielte die Bedeutung der guten Hundertschaft „Junker" herunter und empfahl, aus den erblichen Mitgliedern einen Parlamentsadel als „mächtigsten Pfeiler der Monarchie wie der öffentlichen Freiheit" zu schaffen. Das dürfte indessen einerseits ad personam berechnet gewesen sein, denn man wollte die in der Krimkriegssituation 1853/54 der Wochenblattpartei zugewandte Gunst Friedrich Wilhelms IV. behalten. Im Rückblick erscheint es andererseits zudem als hohles Echo auf frühere Oberhaus-Gedanken des Königs, denn gerade die nicht streng konservativen westlichen oder schlesischen, erblich berechtigten Grand Seigneurs hielten sich vom Herrenhaus eher fern. Friedrich Wilhelm IV. selbst lud einige Erbliche, z. B. die gemäßigt-liberalen Grafen Hatzfeldt und Dyhrn als vermeintlich „persönlich Unwürdige" gar nicht zu den Herrenhaus-Sitzungen ein, von seiner Ablehnung des „ultraliberalen" Prof. Baumstark und seiner hochkonservativen Berufungspolitik bei den von ihm kreierten Vertrauenspairs gar nicht zu reden. Auch die Katholiken durften sich mit einigem Recht zurückgesetzt fühlen, denn die evangelische Übermacht im Herrenhaus war unübersehbar. So beklagte auch die „Deutsche Volkshalle" die Nichtberücksichtigung der katholischen Bischöfe.41 In den Augen des rheinischen Großbürgers Ludolf Camphausen hatte die Verordnung vom 12. Oktober 1854 in anderer Hinsicht das Nationalzeitung Nr. 487 v. 18. Oktober u. Nr. 559 v. 29. November 1854. Varnhagen v. Ense, Tagebücher (wie Anm. 29), Bd. 11, S. 272 (16. Oktober 1854). Kölnische Zeitung 19. Oktober/ 1. Dezember 1854, Elberfelder Zeitung It. Kölnische Ztg. v. 23. Oktober 1854. Johann Gustav Droysen, Briefwechsel, Hg. v. R. Hübner, Bd. 2, Berlin/Leipzig 1929, S. 288. Preußisches Wochenblatt Nr. 42 v. 21. Oktober 1854, S. 382. Deutsche Volkshalle 6. Jg., Nr. 250 v. 29. Oktober 1854.

194

Hartwin

Spenkuch

Ziel verfehlt42: „Das monarchische Interesse will, daß der Eintritt in die Erste Kammer des Landes zu den höchsten Zielen des Ehrgeizes gehöre; man wird aber kaum erwarten dürfen, daß die gegenwärtige Zusammensetzung derselben in geeignetem Maße den Ehrgeiz spornen werde." Camphausen kritisierte, daß es durch die zahlreichen Präsentationsberechtigungen beinahe unmöglich sei, „auch die höchsten Spitzen der Intelligenz, der Industrie und des Handels in die Erste Kammer zu berufen." In machtbewußtem Selbstgefühl, aber ohne Realisierungschance deklamierte Camphausen 1855, Industrie und Handel vor allem und der erblich berechtigte Hochadel, nicht aber Städtevertreter oder beamtete Professoren besäßen das „für Ansehen und Würde der Kammer unentbehrliche Erfordernis unabhängiger Selbständigkeit." Der kleine Adel habe „niemals die persönlichen Eigenschaften (...), die den Pair machen. Hundert kleine Rittergutsbesitzer können aus ihrer Mitte nur einen kleinen Rittergutsbesitzer deputieren." In ähnlicher Richtung bewegten sich die Gedanken seines katholischen Landsmannes, des reichen liberalkonservativen Grafen Fürstenberg-Stammheim: „Junker und Jünkerchen" von wenigen Tausend Talern Einkünften liege wenig am großen Ganzen, „wohl aber sehr viel an seiner und seiner Genossen Wähler Sonderinteressen."^ Insgesamt kann kein Zweifel daran bestehen, daß die Verordnung vom 12. Oktober 1854 nur bei Konservativen auf Zustimmung stieß, die es als das „köstliche Geschenk Königlicher Huld und Weisheit", als „wahres Kleinod deutschen Rechtes" priesen, oder, wie ein anderer Broschüren-Autor, die Rechtskontinuität zur Herrenkurie des Vereinigten Landtags, die organische Zusammensetzung und starke Vertretung des alten Grundbesitzes statt des flüchtigen Geldkapitals, ja die Sitze für ehemalige Reichsstädte lobten. Selbst Leopold v. Gerlach betrachtete das verordnete Ergebnis von fünf Jahren Kampf nicht gerade überschwänglich.44 Den Schlußstein des Revisionsunternehmens und das Ende des vierten Abschnitts bildete der gemäß einer mehrjährigen Lieblings-

Alie Zitate aus: HA Köln, NL Ludolf Camphausen, K 159, Memorandum zur Frage der Ersten Kammer für Königin Augusta v. Preußen vom 12. April 1855. Rheinisches Archiv- und Museumsamt, Archiv Fürstenberg-Stammheim, 23, 219, undat. Aufz. 1854. Anonymus, Die neue Preußische Erste Kammer, Minden 1854; Hermes, Die Neugestaltung der 1. Kammer in Preussen, in: Minerva, November 1854, S. 162179. Beide Schriften waren vermutlich regierungsamtlich inspiriert. Gerlach, Denkwürdigkeiten (wie Anm. 37), Bd. 2, S. 221 f., 225. 251.

Von der Ersten Kammer

zum

Herrenhaus

195

idee Friedrich Wilhelms IV.

im Winter 1855 der Zweiten Kammer vorgelegte Gesetzentwurf zur Benennung der Ersten Kammer als „Herrenhaus".45 Auf der Rednertribüne der nun als Abgeordnetenhaus bezeichneten Zweiten Kammer konnte sich der bürgerlich-liberale Unmut gegen die Rechte, die „Herrenseite" beider Häuser, deutlich äußern. Redner beklagten die adelige Anmaßung und die unnötige Verfassungsänderung. Noch in der Kommission fiel der Gesetzentwurf mit zehn gegen vier Stimmen glatt durch; doch im Plenum gaben die Stimmen der Minister den Ausschlag zugunsten des knapp mit 156 gegen 151 Stimmen verabschiedeten Gesetzes vom 30. Mai 1855.46 Insgesamt darf die Bildung des Herrenhauses als Ausdruck der sozusagen symbiotischen Beziehung zwischen der preußischen Monarchie und dem ritterschaftlichen Adel gedeutet werden. Das war nicht ohne Konflikte vor sich gegangen, aber gemeinsam bewirkten sie die Ausmerzung aller von den Liberalen propagierten Wahlelemente und gestalteten das Oberhaus zu einer von der grundbesitzenden Aristokratie dominierten Institution.47 Ab 1854 bot das Herrenhaus ein verfassungsmäßig garantiertes, gesamtpreußisches Forum der Kommunikation und Kristallisationspunkt zu politischer Aktion für den aus den verschiedenen Provinzen anreisenden Adel. Die Konstruktion des Oberhauses forderte zudem die Bildung von Familienverbänden und Fideikommissen, kräftigte insgesamt den adeligen Standesgedanken. Liberalkonservative, liberale und westlich-katholische Adelige inklusive der tendenziell kammerabstinenten Standesherren wurden zu Zeiten regierungsseitig bekämpft, zogen sich unter dem Druck der Verhältnisse bis 1858 politisch eher zurück oder ließen sich sogar ins Abgeordnetenhaus wählen, um nicht unter der konservativen Phalanx -

„Oberhaus" sei „ganz unpassend" und „Herrenhaus" sei „die einzig richtige"

Bezeichnung ließ der Monarch im Kronrat vom 26. Januar 1855 wissen. Diesen Namen hatte Friedrich Wilhelm IV. erstmals am 10. Januar 1852 Bunsen geschrieben; vgl. Ranke (Hg.), Briefwechsel, S. 531. Vgl. auch die ProtokollAbschrift des Conseils v. 23. Januar 1852 in: Rep. 77, Tit. 496b, Nr. 1, Bd. 5, Bl. 249. In Varnhagen v. Enses Tagebüchern, Bd. 11, S. 370 findet sich das zeitgenössische Scherzwort, damit sei das Abgeordnetenhaus das „Gesindehaus" oder die „Packkammer". Vgl. Sten. Ber. 2. Kammer, 1854/55, Drucks. Nr. 33; Plenardebatte 7. Februar 1855, S. 230-256; Zitat Wentzel S. 251. So bezeichnete Eduard Lasker das Herrenhaus als „das organische Band", das den ritterschaftlichen Adel erst „zu einer geschlossenen Körperschaft" geformt und von der aus er ständische Reaktionspläne habe verfolgen können; vgl. Eduard LASK.ER, Zur Verfassungsgeschichte Preußens, Leipzig 1874, S. 115.

Hartwin

196

Spenkuch

des Oberhauses zur Ohnmacht verurteilt zu sein. Die Bürgerlichen blieben nicht nur in den Wahlverbänden des alten und befestigten Grundbesitzes bzw. im Herrenhaus-Plenum quantitativ randständig; auch im Fraktionswesen entwickelte sich keine rechte Gemeinschaft. Im gesellschaftlichen Umfeld der winterlichen Sessionen, den Hofbällen und adeligen Familientreffen, den Festen von Johanniter-Orden und anderen Korporationen, blieben Oberbürgermeister und Universitätsprofessoren meistens ausgeschlossen. Schließlich zeigte das Herrenhaus auch in seiner Politik keine Tendenzen, die geeignet gewesen wären, eine adelig-bürgerliche Annäherung zu befördern. Stattdessen verfolgte es gerade die ständischen Anliegen des (ostelbischen) Adels, die diesen vom bürgerlichen Kammerteil trennten.48 Auf allen drei eingangs formulierten Feldern der Oberhausfrage als Indikator politischer Optionen, als Medium sozialer Begegnung und als legislativer Beförderer einer „adlig-bürgerlichen Synthese" war das Herrenhaus, jedenfalls bis 1872, somit nicht im Sinne einer Annäherung von Aristokratie und Bourgeoisie tätig.49 Diese Annäherung erfolgte, damals wie später, am ehesten im Bereich des Staatsdienstes, in Bürokratie und Militär. -

-

V.

Angesichts seiner Genese auf dem Höhepunkt konservativer Verfassungsrevision, seiner spezifisch preußischen Zusammensetzung und seiner politischen Grundlinie verwundert es nicht, daß das Herrenhaus sich, beginnend mit der „Neuen Ära" 1858 und bis zur Etablierung des Bismarckschen Reiches 1871/72 reichend, mit mehrfachen Bestrebungen zur Reform konfrontiert sah. Dieser fünfte Abschnitt sei nur in

Darüber hinaus teile ich mit der älteren Historiographie die Auffassung, daß die Jahre 1849-58 bezüglich Verfassungsinterpretation und -praxis eine konservative Erfolgsgeschichte darstellen, während Kraus, Konstitutionalismus (wie Anm. 3), S. 239 f. die Betonung eher auf die „Erfolglosigkeit" der von den Hochkonservativen angepeilten „Totalrevision" der Verfassung zu legen scheint. Deshalb ist die aufgrund einer Untersuchung der bayerischen Reichsrätekammer getroffene Aussage von Bernhard Löffler, Die Ersten Kammern und der Adel in den deutschen konstitutionellen Monarchien, in: HZ 265 (1997), S. 29-76, S. 75, die 1. Kammern seien ein Prisma adelig-bürgerlicher Annäherung gewesen, für das Herrenhaus bis zur Reichsgründung, ja darüber hinaus, so nicht zutreffend. Vgl. zur wilhelminischen Zeit Hartwin Spenkuch, Herrenhaus und Rittergut. Die Erste Kammer des Landtags und der preußische Adel von 1854 bis 1918 aus sozialgeschichtlicher Sicht, in: Geschichte und Gesellschaft, Heft 3, 1999 (im Druck).

Von der Ersten Kammer

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Herrenhaus

197

seinen reformerischen Grundansätzen skizziert. Wie schon 1849 bestanden hier die grundsätzlichen Möglichkeiten einer Reform des Herrenhauses zu einem Föderativorgan, einer breit gefächerten berufsständischen Ersten Kammer oder einem als Parlament entmachteten, von Beamten dominierten Staatsrat. Den ersten und einzigen realisierten Anlauf zur Reform des Herrenhaus unternahm das altliberale Ministerium der Neuen Ära 1860/61, nachdem das Herrenhaus mehrfach wichtige Gesetzentwürfe (Grundsteuer-Reform, Kreisordnung, Ehegesetzgebung) zur Liberalisierung verworfen hatte. Man versuchte den Widerstand zunächst mit Mobilisierung bisher kammerabstinenter liberaler MdH aus Städten und Hochadel, schließlich mit dem Pairsschub vom 29. September 1860 zu brechen. Dann reduzierte eine Wilhelm I. abgerungene Verordnung des Innenministeriums (vom 5. November 1861) die Zahl der Sitze des alten und befestigten Grundbesitzes von 90 auf 41. Da dies kaum ausreichte, die Opposition des Herrenhauses gründlich zu brechen, nahm die das Ministerium unterstützende altliberale Partei weitere Veränderungen in der Zusammensetzung in Aussicht, die jedoch wegen des Wechsels zu einem konservativen Kabinett im März 1862 nicht mehr realisiert werden konnten. Die Reduktion auf 41 Grundbesitzer-Vertreter wurde zudem 1865 wieder zurückgenommen. Die öffentliche Diskussion der Herrenhaus-Reform erlebte in der „Neuen Ära" einen enormen Aufschwung, was zeigt, für wie reformbedürftig bürgerliche Liberale das Oberhaus hielten. Jetzt wollten Publizisten das verwirklicht sehen, was 1849-54 gescheitert war: Wahlen durch die Selbstverwaltungskörperschaften und bessere Vertretung für bürgerliche Eliten. Vielfach forderte man insbesondere Berufung der Spitzen von Handel und Industrie, Geistesleben und Kunst.50 Die Einfügung von gewählten Repräsentanten der Selbstverwaltungskörperschaften schlugen, um nur zwei Konzeptionen pars pro toto zu nennen, 1859 der Berliner Stadtgerichtsassessor Eduard Fischel und 1861 die Zeitschrift „Grenzboten" vor. Dabei wären den Vertretern der (ihrerseits zu reformierenden) Provinziallandtage etwa 1/3 der Sitze

die anonyme Broschüre Die verfassungsmäßige Reform des Herrenhauses, Berlin 1860. Die „Leipziger Illustrirte Zeitung" gestand in einem Artikel 1861 dem reicheren Adel noch eine gewisse Repräsentanz zu. Diverse Artikel aus Zeitschriften nachgewiesen bei Meitzel u. Wolfstieg, Bibliographie (wie Anm. 10), S. 307 f.

Vgl.

Hartwin

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Spenkuch

zugekommen.51

Noch 1872 dachten die nationalliberalen Reichstagsabgeordneten Heinrich v. Treitschke und Hans Viktor v. Unruh oder der Schriftsteller Gustav Freytag immerhin an eine partiell aus Provinzialdeputierten zusammengesetzte Erste Kammer.52 Dieses föderale Element hätte sich anstelle der 105 Vertreter des „alten und befestigten Grundbesitzes", der Grafenverbände, evangelischen Domstifter und ostpreußischen Landesämter setzen lassen und wäre zukunftsweisend gewesen. Bürgerliches Selbstbewußtsein dokumentierte 1872 auch eine Petition der Handelskammer Cottbus an Handelsminister Graf Itzenplitz. Handel und Industrie, hieß es da, seien „die mächtigsten Faktoren für die Wohlfahrt des Landes wie für die Staats-Ökonomie"; „ihr SteuerContingent überragt jedenfalls die Beiträge des Grundbesitzes." Deshalb gebühre den Handelskammern jedes Regierungsbezirkes das Präsentationsrecht für je ein Herrenhausmitglied.53 Mit dem Jahr 1872 ist zudem die große politische Krise bezeichnet, die sich im Gefolge der vom Herrenhaus wie 1860/62 abgelehnten Kreisordnungsreform regierungsintern entspann. Damals formulierte Kanzler Bismarck eine Reformidee, die auf eine neu gruppierte Erste Kammer hinauslief.54 Erbliche, hauptsächlich hochadelige Mitglieder sollten um Angehörige der höchsten Militär- und Zivilbehörden ergänzt werden, die, gemeinsam mit den Vertretern der größten Städte, den Schwerpunkt gebildet hätten. Der Großgrundbesitz sollte zukünftig, wenn überhaupt separat, quantitativ schwächer, aber stärker durch bürgerliche Vertreter repräsentiert sein. Schließlich sollten, als kleinste Gruppe, die von den Höchstbesteuerten Entsandten adeliger wie bürgerlicher Provenienz hinzutreten. Da Bismarcks Plan am Widerstand Eduard Fischel, Preußens Aufgabe in Deutschland, Berlin 1859, bes. S. 56 u. Die Grenzboten, August 1861, S. 360 forderten, hoher Adel, Staatsrat und Spitzen der Verwaltungs-, Justiz- u. Militärbehörden gehörten vorrangig in eine 1. Kammer; „Vertreter der wirklichen und traditionellen Bildung" sollten hinzutreten. Heinrich v. Treitschke, Vorlesungen über Politik, Bd. 2, Leipzig 1898, S. 174— 76; Hans Viktor v. Unruh, Erinnerungen, Stuttgart 1895, 348-350; Gustav FreyTAG, Briefe an Albrecht v. Stosch, Stuttgart u. a. 1913, S. 53, 89, 109 f. Rep. 77, Tit. 496b, Nr. 1, Bd. 5. Itzenplitz sprach der Handelskammer die Kompe-

Vorschläge ab. Denkschrift vom 2. November 1872 und ein Brief v. 22. Novemdazu die Belege ber 1872 in: Bismarck, Ges. Werke, Bd. 6c, S. 24-27; eine Äußerung Anfang 1873 nach Unruh, Erinnerungen (wie Anm. 52), S. 347-349 sowie Treitschkes (durch Bismarck inspirierter) Aufsatz zum Zweikammersystem (wie Anm. 8). Vgl. Bismarck, Ges. Werke, Bd. 15, S. 99 ff. tenz für solche

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zum

Herrenhaus

199

Staatsministerium und Wilhelm I. scheiterte, wissen wir nicht, wie groß der Anteil der einzelnen Gruppen genau geworden wäre, aber zwei Dinge verdienen hervorgehoben zu werden. Erstens wollte der Kanzler die gouvernementale Basis durch Hinzutritt bürgerlicher Kräfte verbreitern, denn „auch der bürgerliche Gutsbesitzer sei binnen kurzer Zeit ebenfalls Junker geworden und habe sich den Adeligen angeschlossen."55 Für städtische Millionäre, die Höchstbesteuerten, sah er zwar nur einige Dutzend Sitze vor, aber das war deutlich mehr als bisher und prinzipiell ausbaufähig. Zweitens würde dieses Oberhaus seinen aktiven Kern in den Staatsbeamten gefunden haben. Damit sollte das Herrenhaus seines parlamentarischen Charakters gutenteils entkleidet und quasi als Staatsrat mit parlamentarischem Beisatz einerseits als Koordinationsgremium der „regierenden Klasse" Preußens dienen und andererseits für Bismarck, im Unterschied zum kollegialischen Staatsministerium oder den ungebärdigen Häusern des Landtags, ein folgsames Forum zur Inaugurierung seiner Politik bieten.56 Insofern vereinigte Bismarcks Plan Züge einer regierungsseitig geforderten Eliten-Fusion mit dem Bestreben, diese Eliten im Oberhaus als Staatsrat zu domestizieren. von

Bilanzieren wir hier die wesentlichen Erkenntnisse aus dieser verfassungsgeschichtlichen tour de force, um anschließend noch einige Gedanken zur Elitenfusion zu entwickeln. Die Problemlage zum Herrenhaus hat sich in ihren Grundlagen 1854-1872 kaum geändert. Akzeptierte man das Zweikammersystem und die (1854/55 bzw. 1865 festgestellten) gesetzlichen Grundlagen, dann waren schnelle Veränderungen nicht möglich, mußten doch beide ab 1876/79 dauerhaft konservativ dominierten Häuser des Landtags einem verfassungsändernden Reformgesetz zustimmen. Im Geflecht der vested interests und im politischen Tageskampf besaß aber der Status quo erhebliche Beharrungskraft. Dies umso mehr, als Preußen in Tradition und politischer -

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Zu v. Unruh lt. dessen Erinnerungen, S. 347; ähnlich Bismarck, Ges. Werke, Bd. 6b, S. 143 (an Eulenburg 7. September 1869 wegen einem in die Kreisordnung einzufugenden Wahlverband der Höchstbesteuerten). Eine lebenskräftige Erste Kammer hätte Bismarck wohl bald zu viel Initiative entwickelt. Aus machtpolitischem Pragmatismus gab es in Bismarcks Einstellung zum Herrenhaus mehrfache Wendungen je nachdem, ob es seinem Willen entHartwin nicht. dazu oder Spenkuch, „Regulator und Ballast im LandVgl. sprach Preußische in: Jost DÜLFFER u. Hans Bismarck und das Herrenhaus, tagsschiff' Politik Hübner (Hg.), Otto v. Bismarck. Person Mythos, Berlin 1993, S. 203-212. -

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Hartwin

Spenkuch

Gesamtkonstellation wesentliche Unterschiede zu den süddeutschen Staaten aufwies. Es gab eigenwillige, dem ostelbischen Adel eng verbundene Monarchen und einen schon quantitativ starken, zudem machtbewußten und in vielen staatlichen Ämtern sitzenden gutsherrschaftlichen Adel. Dieser besaß ein weit größeres politisch-soziales Potential als die zahlenmäßig schwächere, politisch weniger konservative, von standesherrlichen oder ehemals reichsfreien Elementen geprägte, seit 1806/15 auch deutlich weniger „staatsnahe", grundherrschaftliche Aristokratie im deutschen Süden. Preußens Junker dagegen waren vielfach verflochten mit Staatsregierung, Bürokratie, Militär und, last but not least, der stimmenmächtigen adelskonservativen Partei im Landtag, alles Strukturen und Zusammenhänge, die in dieser Massierung in anderen deutschen Staaten nicht auftraten.57 Wohl gab es Phasen der Verunsicherung im junkerlichen Adel, die ihn kurzzeitig kompromißbereiter machten, so während der Revolution 1848/4958, so 1861, als die adelskritische Haltung von Krone und Ministerium sein Selbstbewußtsein erschütterten und die adeligbürgerliche Partei der Altliberalen eine Chance auf den „Klassenkompromiß" darstellte, aber nach wenigen Jahren zwischen den Kräften rechts und links von ihr zerrieben wurde. Ansatzweise geschah dies auch 1872/73. Aber im Grunde hätte die Elitenfusion im Oberhaus, im politischen System und in der Gesellschaft wegen der politischen Schwäche der bürgerlichen und der Unwilligkeit der adeligen Seite sozusagen von König und Ministerium angeordnet werden müssen, analog zur um 1840 erwogenen Adelsreform Friedrich Wilhelms IV. Das wollten nach 1848 aber die preußischen Könige Friedrich Wilhelm IV. und Wilhelm I. nicht ernstlich, die preußischen Kabinette waren in sich uneins und ein Arrangement auf der Basis des Status quo fand sich schneller als die große Oberhaus- und Adelsreform, die in Preußen bis 1918 zugleich eine erhebliche politisch-soziale Umwälzung bedeutet hätte.

Vgl. Bernd Wunder, Adel und Verwaltung. Das Beispiel Süddeutschland (1806— 1914), in: K. Adamy und K. Hübener (Hg.), Adel und Staatsverwaltung in Brandenburg im 19. und 20. Jahrhundert, Berlin 1996, S. 241-266. Vgl. Heinz Reif, Der Adel, in: Christof Dipper u. Ulrich Speck (Hg.), 1848. Revolution in Deutschland, Frankfurt/M. 1998, S. 213-234; Wolfram Siemann, Die Adelskrise 1848/49, in: Elisabeth Fehrenbach (Hg.), Adel und Bürgertum in Deutschland 1770-1848, München 1994, S. 231-246.

Von der Ersten Kammer

zum

Herrenhaus

201

VI.

Als Gesamtresümee zur eingangs formulierten Fragestellung seien aufgrund der Debatten um die Neubildung der Ersten Kammer 1849— 54/55 die folgenden Argumente formuliert. Adelig-bürgerliche Gemeinsamkeit hätte nach der Erfahrung von 1848 die Furcht vor der potentiellen Bedrohung des Besitzes in einer künftigen, sozialdemokratischen Republik sein können und war es bis zu einem gewissen Grade wirklich.59 Auch der grundsätzliche Konsens darüber, daß die Erste Kammer Preußens aus politisch gebildeten, wirtschaftlich selbständigen und staatsbürgerlich zuverlässigen Männern gebildet sein müsse, gab partiell einen gemeinsamen Grund ab. Zudem war die wirtschaftliche Kraft des Adels um 1850 insofern noch ungebrochen, als er immer noch zu den größten Steuerzahlern gehörte. Das belegen die für die Erste Kammer gemäß der Notverordnung vom 4. August 1852 geordnet vorliegenden Wählerlisten. Nicht nur daß das Land 20 Mio. Taler an Einkommen- bzw. Klassensteuer, Gewerbesteuer und Grundsteuer zahlte gegen nur 2,22 Mio. Taler der 25 größten Städte von Aachen bis Memel. In den allermeisten Wahlbezirken gehörte, wie oben erwähnt, die Mehrzahl der 30, 60 oder 90 Höchstbesteuerten zum adeligen Großgrundbesitz. Insofern konnte der Adel noch selbstbewußt sein, hätte er einen adelig-bürgerlichen Kompromiß auf der Basis des großen Besitzes beruhigt eingehen können. Indessen: Trotz seiner guten Position waren die maximal 12.400 Großgrundbesitzer, 3.200 Offiziere und wenige Tausend höhere Beamte aus Adelskreisen selbst unter den rd. 190.000 zur Ersten Kammer 1849 Wahlberechtigten eben eine Minderheit von wenigen Prozent. Diese Minderheiten-Stellung, die à la longue zum Aufgehen in einer breiter gefaßten Elite hätte führen können, prägte das adelige politische Handeln schon diesseits aller ideologischen Voreingenommenheiten und tradierten und internalisierten Herrschaftsorientierung.60 Es gab wohl einige Gruppen im Adel und bei den politischen Fraktionen, die einem wirklichen adelig-bürgerlichen Kompromiß zugeVgl. H. v. Beckerath It. Sten. Ber. 2. Kammer 25. Oktober 1849, S. 858: Verfassung und 1. Kammer sollen Sitte, Religion und Geschichte, „Eigentum und Familie, alles, was [uns] teuer ist, erhalten und nicht der Gefahr des Umsturzes" preis-

geben. Vgl. die Wähler-Aufstellung

zur 1. Kammer v. 17. Juli 1852 in: Rep. 77, Tit. 496a Nr. 44 Bd. 3 und Grünthal, Parlamentarismus (wie Anm. 3), S. 49 (zit.

Zahlenangaben).

Hartwin

202

Spenkuch

Einmal traf das auf den westlich-katholischen Adel zu, so den oben zitierten Grafen Fürstenberg-Stammheim oder die nicht wenigen Aristokraten in der Fraktion Vincke. Teile des schlesischen Adels sind hier zu nennen, tendenziell die ältere Generation der schlesischen Freien Standesherren, etwa die genannten Grafen Hatzfeldt und Dyhrn, auch größere Teile der zur Jahrhundertmitte aktiven Generation des ostpreußischen Adels. Bei den Debatten zur OberhausBildung 1849 fällt durchaus auf, daß die Anträge der Ostpreußen um den Diplomaten Graf August Dönhoff explizit betonten, einigende Kategorie für eine Erste Kammer müsse der Besitz sein. Auch ist natürlich an den ostpreußischen Gutsbesitzer-Liberalismus der Auerswald, Brünneck, Saucken etc. und selbst an den deutlich konservativeren Grafen Friedrich Dohna-Lauck sen. zu denken, der 1849 mit einer Broschüre die gemeinsame Verteidigung des Eigentums durch Adel und Bürgertum propagierte. Zudem gab es stets einige adelige Individualisten, ja Renegaten, beispielsweise 1849 Rudolf v. Canitz und Dallwitz, dessen adelskritische Ansichten großes Aufsehen erregten. Nicht übersehen werden kann weiterhin eine Gruppe mit starkem adeligem, aber nicht altpreußischem Beamtenelement wie die Wochenblatt-Partei (Bethmann Hollweg, die Grafen v. d. Goltz, Pourtalès, Schleinitz und Usedom). Aber all diese Gruppierungen blieben wohl letzten Endes nur Minderheit im zahlreichen preußischen Adel, dessen Kern aus den Junkern Brandenburgs, Pommerns und Preußens be-

neigt waren.

stand.61

Selbst die äußerste Rechte hat allerdings, wie oben erwähnt,

gewis-

Avancen an die bürgerliche Seite gemacht. Aber deren Inhalt nährte stets den Zweifel bei den solchermaßen Angegangenen und wurde praktisch desto weniger wert, je weiter der Verfassungsrevisionsprozeß fortschritt. Bismarck etwa wandte sich 1849 gegen eine Scheidung des Großgrundbesitzes in adelige und bürgerliche Besitzer und schloß für die letzteren erbliche Sitze in der Ersten Kammer nicht aus. Indessen war offensichtlich, daß überhaupt in Frage kommende bürgerliche se

61

Sten. Ber. 1. Kammer 21./22. November 1849, S. 1503, 1528 (Antrag Dönhoff/Zur Mühlen). Friedrich Graf zu Dohna-Lauck, Über die notwendige Abänderung der beiden Wahlgesetze für die 1. und 2. Kammer, Königsberg 1849. R. v. Canitz und Dallwitz (1809-1892), 1849-52 Mitglied der 2. Kammer (Centrum), sprach sich It. Sten. Ber. 2. K. 23. Oktober 1849, S. 829 f. unter Pfui-Rufen der Rechten gegen erbliche Pairie und Privilegierung des Großgrundbesitzes aus; vgl. dazu Varnhagen v. Ense, Tagebücher (wie Anm. 29), Bd. 6, S. 410, 414 (Entrüstung darüber im Adel).

Von der Ersten Kammer zum Herrenhaus

203

Latifundienbesitzer dünn gesät sein mußten. Und der spätere Kanzler mokierte sich zugleich über diejenigen Bürgerlichen, die durch „Deklamationen" gegen die historischen Rechte des Adels „ein Piédestal für ihre eigene politische Bedeutung zu bauen bemüht" seien. Auch Friedrich Julius Stahl machte mehrfach „Koalitionsangebote" an die bürgerliche Seite. So ist sein Antrag vom 22. November 1849 zu interpretieren, als er neben 120 Großgrundbesitzern immerhin 40 Kaufleute und Industrielle zugestehen wollte. Gleichermaßen hat er einmal die urbanen Höchstbesteuerten als „künftige städtische Aristokratie" bezeichnet, die sich mit der Landaristokratie zur Abwehr der „Auflösung und Zersetzung in unserer Zeit" verbinden möge. Dies geschah indessen, als die Rechte erfolglos 120 Abgeordnete der Höchstbesteuerten in die Zweite Kammer bringen und damit die 2. und 3. Wählerabteilung des Dreiklassenwahlrechts weiter zugunsten des Großgrundbesitzes schwächen wollte.62 Das alles waren kaum attrakti-

-

Fusions-Angebote. Im Bürgertum avisierte zunächst die rheinische Bourgeoisie der Camphausen, Hansemann, Beckerath, Mevissen zusammen mit westfälischen Abgeordneten eine fusionierte regierende Klasse, jedenfalls in dem Sinne, daß sie das Großbürgertum als Hauptmacht des preußive

schen Westens und der Städte und den Landadel als traditionelle Elite des Landes im preußischen Osten für gleichberechtigt erachteten. Auch ein Gutteil des Beamtenelements der Jahrhundertmitte, das idealiter seine Aufgabe in der Vermittlung der Stände-Gegensätze sah, konnte sich ein Arrangement vorstellen, zwar mit konservativer oder liberaler Tendenz, aber in den Kammer-Fraktionen der Mitte (Centrum) 1849-55 doch recht deutlich.63 Allerdings neigte gerade das Beamtenelement zum Gouvernementalismus, d. h. dort war man leicht bereit, den mit der nötigen Emphase oder gar krassem Druck vorgebrachten (pro-konservativen) Regierungsvorlagen zuzustimmen. Nicht zuletzt zielten die meisten bürgerlichen Altliberalen auf den Kompromiß mit dem Adel und versuchten ihm Brücken zu bauen, von der Ablehnung der Adels-Abschaffung in der Paulskirche über das Angebot der 60-Sitze-Repräsentanz für den adeligen Großgrundbesitz in der Ersten Kammer bis zu den moderaten Reform-Gesetzentwürfen des Kabinetts der Neuen Ära. Das alles fiel insgesamt auf wenig fruchtbaren Boden -

62 63

-

Sten. Ber. 2. Kammer 24. Oktober 1849, S. 841 f. (Bismarck); Sten. Ber. 1. Kammer 7. Februar 1853, S. 262 (Stahl). Konservative Tendenz bei Klützow, Sten. Ber. 2. Kammer 24. Oktober 1849, S. 846. Liberal z. B. der Antrag Riedel.

Hartwin

204

Spenkuch

und die bürgerliche Seite sah sich in mehrfacher Hinsicht zunehmend in die Defensive gedrängt. Die fortbestehende politisch-soziale Kluft zwischen Adeligen und

läßt sich ferner an den Argumenten in den KammerDebatten, dem politischen Diskurs erkennen. Denn Adelige und Bürgerliche hoben gegen die jeweils andere Seite durchaus verschiedene Dinge hervor. Bürgerlich-liberale Redner betonten den Neuanfang mit der Verfassung von 1848/50, wodurch die historischen Verdienste des Adels die von der liberal-demokratischen Linken, wie erwähnt, im Grunde negiert wurden an eine andere Situation angepaßt werden müßten. Man bestritt dem Adel die Rolle als Mittler zwischen Thron und Volk, denn das habe er in der preußischen Vergangenheit nicht geleistet. Man beklagte die tendenziell „verfassungsfeindliche" Haltung im Adel und erhoffte sich vom Oberhaus dessen Konstitutionalisierung. Die bürgerliche Seite betrachtete sich als Vertreter des Mittelstandes wie der Kapazitäten in Wissenschaft, Handel und Industrie und erblickte in den liberalisierten Kreis- und Provinzialvertretungen den besten Filter für eine zugleich volksnahe und staatstreue Erste Kammer des allgemeinen Interesses. Zudem tauchte der Gedanke auf, daß Preußen als Groß- und deutsche Führungsmacht der Zusammenarbeit der Parteien bedürfe. Keine Rede kann somit damals von Anpassung des Bürgertums an den Adel sein.64 Der Adel hob das Theoretische der bürgerlichen Argumentation hervor, das Unhistorische, nur in den Kammern und der Presse „Gemachte" anstelle der Realitäten des Lebens. Spitzig bemerkte man, die

Bürgerlichen

-

-

sei „höchst konservativ nach unten, aber eben so radikal nach oben", d. h. sei einerseits fordernd und ambitiös, andererseits sozial exklusiv und ängstlich. Hochkonservative Redner wie Ernst Ludwig v. Gerlach beharrten nachdrücklich auf der ständischen Ordnung oder warnten wie Kleist-Retzow gar vor dem vermeintlichen „Übergang in die Demokratie". In aller Regel verwarfen adelige Redner die „Geld-Aristokratie", die gerade gegenüber dem Volk „das größte Übel" sei. Konservative aller Schattierungen betonten das Motiv der Treue zum König, dessen monarchische Rechte die bürgerlichliberale Seite zu stark beschneiden wolle.65 Angesichts dieser beiden,

Bourgeoisie

Sten. Ber. 1. Kammer 21. November 1849, S. 1514 (Kisker); Sten. Ber. 2. Kam23. Oktober 1849, S. 828 (O. Camphausen); Sten. Ber. 1. Kammer 10. März 1853, S. 622 f. (Reichensperger). Argument referiert vom konservativen Abg. Keller in: Sten. Ber. 2. Kammer, 22. Oktober 1849, S. 808. Sten. Ber. 1. Kammer 10. März 1853, S. 620 (Gerlach); mer

Von der Ersten Kammer zum Herrenhaus

205

doch recht unterschiedlichen, ja einander entgegengesetzten Argumentationen ist wenig gemeinsamer Grund auszumachen. Die adelig-bürgerliche Trennung in der Argumentation spiegelte sich auch in den Fraktionen wider: 1851 z. B. sehen wir in der Ersten Kammer unter den 87 Abgeordneten der Rechten 67 Adelige, unter den 20 Deputierten der Mitte acht Adelige und unter 48 der Linken elf Adelige sicher nur ein weiteres Indiz, aber eines mit eindeutiger Tendenz.66 Auch bei konkreten Abstimmungen bestätigte sich die Trennung: Selbst für die gemäßigten Vorschläge der jeweils anderen Seite stimmten nur wenige Adelige bzw. Bürgerliche. Alles in allem: der Adel war machtgewohnt, genoß letzten Endes doch die Unterstützung von König bzw. Regierung und auch im dritten Viertel des 19. Jahrhunderts passte seiner Mehrheit mental die ganze Richtung nicht: Liberale Verfassung und Rechtsgleichheit, Wirtschaftsfreiheit und staatsbürgerliche Emanzipation. Adel heiße definitionsgemäß und nach dem Habitus Anspruch auf Vor-Rang hat Heinz Reif formuliert67 genau den wollte eine Adelsmehrheit, zumal in Ostelbien, um 1850 nicht in Frage stellen (lassen) zugunsten Ungewisser neuer Ordnungen. Es ging eben immer und das wurde bei konkreten Debatten im Parlament überdeutlich um die Bedingungen des und da der Adel war „Klassenkompromisses" angesichts der MöglichHilfe Staat und von Krone, keit, mit Militär, nötigenfalls mit der seit 1848 erprobten Variante der Mobilisierung eines ländlich-bäuerlichen Massenanhangs, an seiner überlieferten und internalisierten Macht und Stellung festzuhalten, wenig entgegenkommend. Die realhistorische Entwicklung hatte insgesamt doch die Logik der Strukturen und Tatsaalle gedachten Optionen von adelig-bürgerlicher chen für sich Machtteilung und sozialer Eliten-Fusion kamen damals dagegen nicht -

-

-

-

-

auf.68

Sten. Ber. 2. Kammer 25. Oktober 1849, S. 859 (Kleist). Sten. Ber. 1. Kammer 21. November 1849, S. 1508 (v. Witzleben); Sten. Ber. 2. Kammer 23. Oktober 1849, S. 850 f. (Graf Arnim-Boitzenburg). Zahlen nach Albrecht v. d. Bussche, Heinrich Alexander v. Arnim-Suckow, Osnabrück 1986, S. 421. Heinz Reif, Adeligkeit" Historische und elitentheoretische Überlegungen zum Adelshabitus in Deutschland um 1800, Manuskript, Berlin 1997, S. 3. Vgl. Wolfgang Schwentker, Konservative Vereine und Revolution in Preußen 1848/49, Düsseldorf 1988. Skeptisch zur Elitenfusion, v. a. mit Bezug auf die Reichsgründungsjahrzehnte, bereits Christof Dipper, Adelsliberalismus in Deutschland, in: D. Langewiesche (Hg.), Liberalismus im 19. Jahrhundert, Göttingen 1988, S. 172-192. Friedrich Meinecke, Die geschichtlichen Ursachen der -

206

Hartwin

Abbildung: Das Zweikammersystem

Das

-

wie es 1848er Demokraten

Spenkuch

sahen69

/Veikammers3"Htem.

deutschen Revolution (1919), in: ders.. Werke, Bd. 9, hg. v. E. Kessel, Stuttgart 1979, S. 632 urteilte bereits, bei aller Zähigkeit, Arbeitsamkeit und Aufopferungs-

fähigkeit des preußischen Adels ermangelte ihm „die Fähigkeit, soziale Opfer zu bringen auch im Staatsleben und es fehlte ihm der politische Weitblick, um zu erkennen, daß Aristokratien, um sich im modernen Leben zu behaupten, die Kunst des rechtzeitigen Nachgebens üben müssen. Kurz, es fehlten ¡hm jene Eigenschaften, die der englischen Aristokratie im 19. Jahrhundert so sehr zustatten gekommen

sind."

Quelle: "Der Leuchtturm" (Leipzig), Juni 1848, S. 314.

Hans-Christof Kraus

Militärreform oder Verfassungswandel? Kronprinz Friedrich von Preußen und die „deutschen Whigs" in der Krise von 1862/63

i.

Vergegenwärtigung und Analyse von historischen Wendepunkten geht, bewegt sich der Historiker in einem nicht ungefährlichen Raum zwischen Skylla und Charybdis. Auf der einen Seite ist es ohne Zweifel notwendig, der Gefahr des geschichtlichen DeterWenn

es um

die

minismus auszuweichen und historische Alternativen mit in den Blick zu nehmen. Es gilt, um eine Formulierung von Klaus Hildebrand aufzugreifen, „aus den Verschüttungen der Vergangenheit auch jene Tatsachen und Zusammenhänge der Geschichte freizulegen, die sich nicht zu entfalten vermocht haben. Als Möglichkeiten des Verlaufs haben sie, ohne das zum Zuge Gekommene letztlich zu bestimmen, zur Wirklichkeit gehört. Nicht selten verweisen sie auf das Ungewisse eines Weges und seine zahlreichen Gabelungen, die jeweils Entscheidungen erforderten. Dem Vergeblichen der Geschichte gebührende Beachtung zu schenken bewahrt davor, die Entwicklung eines Volkes als Einbahnstraße mißzuverstehen."1 Und dies trifft wohl in besonderem Maße auf die deutsche Geschichte zu. Auf der anderen Seite wiederum darf aber auch die Gefahr der rückschauenden Verklärung historischer Wünschbarkeiten nicht unterschätzt werden. Schon kurz nach dem Zweiten Weltkrieg warnte Sieg...

Klaus Hildebrand, Das vergangene Reich. Deutsche bis Hitler 1871-1945, Stuttgart 1995, S. 849.

Außenpolitik von Bismarck

208

Hans-Christof Kraus

fried A. Kaehler im Zusammenhang der Diskussion um ein neues Bismarckbild nachdrücklich vor den Bedenklichkeiten einer „OptativHistorie", die den „elementaren Tatsachen" der Geschichte zuwider „das Gegenwartsbild der damals lebenden Zeitgenossen in entscheidenden Zügen"2 entstelle und damit verfälsche. Auch dieses Problem also gilt es zu berücksichtigen, wenn man sich der schwierigen und keineswegs unproblematischen Frage nach der „ungeschehenen Geschichte", dem „Was wäre geschehen, wenn ...?" zuwendet.3 Nun zählt die Frage, ob nach einer eventuellen Thronbesteigung des „liberalen" Kronprinzen Friedrich von Preußen Ende September 1862 ein „Deutschland ohne Bismarck" und damit ein kontinuierlicher verfassungsmäßiger Übergang zu einer parlamentarischen Monarchie nach britischem oder skandinavischem Vorbild möglich gewesen wäre, zu den meistdiskutierten Problemen der deutsch-preußischen Geschichte des 19. Jahrhunderts. War in der Krise von 1862/63 tatsächlich, wie etwa Thomas Nipperdey meinte, „eine ganz andere Richtung der preußischen und deutschen Geschichte möglich" und hat „nur noch ein einziger Mann, Bismarck, die überlieferte Position der Monarchie -

-

-

ungebrochen halten und retten können?"4 War der 19. September 1862, dem die Entscheidung gegen Friedrich und für Bismarck fiel, tat-

an

Ralf Dahrendorf, der alles bestimmende „Schicksalstag"5 der neueren preußischen und deutschen Geschichte? Wurde damals auch die Chance verpaßt, das Verhältnis zwischen Adel und Bürgertum in neuen institutionellen Formen verfassungsmäßig zu regeln? Oder aber ist es nicht angebracht, die unveränderlichen Tatsachen einer bestimmten historischen Situation über den Spekulationen einer „Optativ-Historie" aus den Augen zu verlieren? Um diese Frage zu beantworten, muß man zwischen dem nur historisch Denkbaren und dem in einer gegebenen geschichtlichen Situation, einer konkreten Lage Möglichen unterscheiden. Es reicht also

sächlich,

so

Kaehler, Briefe 1800-1963, hg.

v. Walter Bussmann u. Günther des 19. und 20. Jahrhunderts, Bd. 58), (Deutsche Geschichtsquellen Boppard a. Rh. 1993, S. 372 (Kaehler an Gerhard Ritter, I. November 1950). Siehe hierzu auch die anregende Studie von Alexander Demandt, Ungeschehene Geschichte. Ein Traktat über die Frage: Was wäre geschehen, wenn ...?, Göttingen 1984, die allerdings das Thema der Möglichkeiten von 1862/63 nicht eigens behandelt, nur an einer Stelle sehr knapp erwähnt; vgl. ebd., S. 29. Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800-1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1983, S. 758. Ralf Dahrendorf, Reisen nach innen und außen. Aspekte der Zeit, München 1986, S. 131; vgl. auch die Ausführungen ebd., S. 131 ff.

Siegfried

A.

Grünthal

Militärrclbrm oder Verfassungswandel?

209

nicht aus, nur in prinzipiellen Alternativen zu denken, sondern man hat die realen Voraussetzungen eben dieser scheinbaren oder auch wirklichen Alternativen genau in den Blick zu nehmen. Auf den konkreten, hier in Rede stehenden Fall bezogen heißt dies: Es ist erstens zu fragen, ob der Kronprinz tatsächlich nach seinen Grundüberzeugungen entschlossen war, nicht nur einen bloßen politischen Kurswechsel, sondern einen wirklichen Verfassungswandel herbeizuführen (II.); es ist zweitens nach dem politischen Verhalten des Kronprinzen im Verlauf dieser Krise zu fragen (III.), und es muß drittens ebenfalls die Frage gestellt werden, ob der Kreis seiner politischen Freunde und Berater, die später von Hermann Oncken so genannten „deutschen Whigs"6, tatsächlich in der Lage gewesen sind, überzeugende politische Konzeptionen und Vorgaben für einen derart einschneidenden verfassungspolitischen Neubeginn zu entwickeln (IV.). -

-

II.

War Kronprinz Friedrich von Preußen7 seiner politischen Grundgesinnung nach tatsächlich ein „Liberaler" oder ist ihm dieses Etikett von

und späteren Verehrern angehängt worden?8 Sieht man sich nun etwas eingehender die Briefe und Tagebücher des Prinzen aus den entscheidenden Jahren 1861 bis 1863 an, dann läßt sich, wie gleich vorwegzunehmen ist, diese Auffassung nicht bestätigen.

zeitgenössischen

Vgl. Hermann Oncken, Historisch-politische Aufsätze und Reden, Bd. 2, München Berlin 1914, S. 263, 265. Bis heute fehlt eine ausführliche und zugleich kritische politische Biographie Friedrichs; aus der älteren Literatur siehe die apologetische, heute eher als Quelle sui generis anzusehende Darstellung von Martin Philippson, Das Leben Kaiser Friedrichs III., Wiesbaden 1900. Als Überblick noch brauchbar, dennoch in vielen Einzelheiten überholt ¡st Werner Richter, Friedrich III. Leben und Tragik des zweiten Hohenzollem-Kaisers (zuerst 1938), neu hg. v. Rüdiger vom Bruch, München 1981; knapper, aber guter Überblick bei Wilhelm Treue, Kaiser Friedrich III.. in: Drei deutsche Kaiser: Wilhelm I. Friedrich III. Wilhelm II. Ihr Leben und ihre Zeit 1858-1918, hg. v. Wilhelm Treue, Freiburg Würzburg 1987, S. 76-132. Wichtige Bemerkungen zur Analyse der Politik des Kronprinzen und deren Motive enthalten auch die Einleitung von Heinrich Otto Meisner in dessen Edition der Tagebücher des Prinzen von 1848-1866 (siehe unten, Anm. 9), S. XIV-LI, und DERS., Der preußische Kronprinz im Verfassungskampf 1863, Berlin 1931, S. 1-62, dort auch wichtige Hinweise zur Kritik der früheren Friedrich-Literatur, insbesondere zu Philippson (vgl. etwa Hg., S. V). Der wohl extremste heutige Verfechter dieser Auffassung ist Dahrendorf; siehe -

-

-

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-

oben, Anm. 5.

Hans-Christof Kraus

210

Friedrich polemisierte schon im April 1861 gegen den „Unsinn" des Deutschen Nationalvereins9, und von Anfang an gehörte er zu den scharfen Kritikern der Opposition gegen die Heeresreform im Abgeordnetenhaus. Im Mai 1861 wohnte er mehreren Parlamentssitzungen bei und notierte: „Debatte über Militärvorlage, viel dummes Zeug von der Opposition, durch Roon glänzend widerlegt!"; und einen Tag später: „Wie elend, daß Lebensfragen der Monarchie von faktiösen Opponenten, die nichts von Militaría verstehen, bedroht werden."10 Auch die Aufzeichnungen des folgenden Jahres, in dem der Konflikt seinen ersten Höhepunkt erreichte, sind durchzogen mit polemischen Ausfällen gegen die „unklaren Hitzköpfe der Fortschrittspartei", den „Nonsens der Fortschrittshelden" sowie gegen den „Unsinn", den die Budgetkommission des Parlaments gerade anzurichten im Begriff ...

sei."

Nicht nur an der Notwendigkeit eines militärisch starken preußischen Staates hat der Kronprinz wie sein Vater festgehalten, sondern auch an der Idee des besonderen Ranges der Monarchie und vor allem auch des Gottesgnadentums. Seine an wirklicher Begeisterung und zugleich tiefer innerer Bewegung kaum zu übertreffende ausführliche Schilderung der Königsberger Krönung vom 18. Oktober 1861 läßt hieran nicht den mindesten Zweifel.12 Und dies, obwohl oder vielleicht

gerade weil jene Krönung die erste in Preußen seit dem Jahre 1701 zur Zeit des beginnenden Heeres- und Verfassungskonflikts ausdrücklich auch als ein eminent politischer Akt zu verstehen war, nämlich als Demonstration des Gottesgnadentums im Verfassungsstaat mit deutlich

-

-

antiliberaler Zielsetzung.13 Fragt man nun nach den eigentlichen verfassungspolitischen Ideen oder Vorstellungen Friedrichs, dann wird man wenig mehr als sehr allgemein formulierte Harmonieideale finden. So plädierte er etwa y

10 11 12 13

Kaiser Friedrich III., Tagebücher von 1848-1866, hg. v. Heinrich Otto Meisner, Leipzig 1929, S. 88 (9. April 1861); künftig abgekürzt: „Friedrich, Tagebücher". Ebd., S. 92(27728. Mai 1861). Die Zitate: ebd., S. 142 (26. Mai 1862), 155 (11. August 1862), 157 (29. August

1862).

Vgl. ebd., S. 112 ff. Vgl. hierzu Walter Bussmann, Die Krönung Wilhelms I. Eine Demonstration des Gottesgnadentums im preußischen Verfassungsstaat, in: Politik und Konfession. Festschrift für Konrad Repgen, hg. von Dieter Albrecht / Hans Günter -

Hockerts / Paul Mikat / Rudolf Morsey, Berlin 1983, S. 189-212; siehe auch Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 3, 3. Aufl.. Stuttgart- Berlin Köln Mainz 1988, S. 290. -

-

Militärreform oder Verfassungswandel?

211

1860 in einem Brief an seinen früheren Lehrer, den Altertumswissenschaftler Ernst Curtius, mit Blick auf das preußische Parlament „für vernünftigen Fortschritt, wenn Besonnenheit und Vaterlandsliebe den Sieg über persönliche Leidenschaften erringen."14 Zwar zeigte sich der Kronprinz überzeugt, so wiederum in einem Brief an Curtius vom Noals Vorvember 1863, Preußen sei „von der Vorsehung bestimmt kämpfer des liberalen Prinzips Deutschlands Schicksale dereinst zu leiten"15, doch wie dieses „liberale Prinzip" eigentlich auszusehen habe, sagte er nicht. Die Abgeordneten, so notierte er einmal im Sommer 1862, besäßen gar kein „richtiges Verständnis der Verhältnisse des Landes", deshalb könne man „eigentlich leicht mit ihnen fertig werden und sie zu leiten bald erlangen durch kluges vorurteilsfreies Handeln."16 Das liberale Ideal einer parlamentarischen Monarchie oder auch nur die Vorstellung eines gleichberechtigten Zusammenwirkens zwischen Monarch und Volksvertretung kommt in diesen Formulierungen jedenfalls nicht zum Ausdruck. Das vieldiskutierte englische Vorbild hat für Friedrich ebenfalls nicht diejenige Rolle gespielt, die man ihm zuweilen meinte zuschreiben zu können. Zwar ist es nicht zu bestreiten, daß seine englische Frau, die Kronprinzessin Victoria, ebenso wie deren Mutter, die britische Königin, zeitweilig einen unverkennbaren Einfluß auf sein Denken und auf bestimmte Handlungen ausgeübt haben17, zwar las er Anfang 1862 zusammen mit seiner Frau die zur gleichen Zeit auch von den liberalen „Preußischen Jahrbüchern" hochgelobte englische Verfassungsgeschichte von 1760-1860 aus der Feder von Thomas Erskine May18, zwar findet sich schließlich in einem Brief des Kronprinzen an ...,

-

-

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14

15 16 17

18

Friedrich Curtius, Ernst Curtius. Ein Lebensbild in Briefen, 2. Aufl., Bd. 2, Berlin 1913, S. 57 (Kronprinz Friedrich an Curtius, 18. Januar 1860). Ebd., S. 87 (Kronprinz Friedrich an Curtius, 1. November 1863). Friedrich, Tagebücher (wie Anm. 9), S. 145 (9. Juni 1862). Vgl. dazu u. a. Charlotte Niederhommert, Queen Viktoria und der deutsche Kronprinz Friedrich Wilhelm, phil. Diss. Münster 1934; ebenfalls die in einzelnen Passagen stark zeitgebunden-polemische, in der zentralen Frage aber treffende Skizze von Walter Frank, Friedrich und Viktoria, in: Gesamtdeutsche Vergangenheit. Festgabe für Heinrich Ritter von Srbik zu 60. Geburtstag, München 1938, S. 335-352. Thomas Erskine May, Die Verfassungs-Geschichte Englands seit der Thronbesteigung Georg's III. 1760 bis 1860, dt. v. O. G. Oppenheim, Bde. I—II» Leipzig 1862-1864; vgl. Friedrich, Tagebücher (wie Anm. 9), S. 125 (14. Januar 1862): „Mit Vicky angefangen, May's 'Verfassungsgeschichte Englands seit Georg III.' zu lesen; lehrreich interessant"; vgl. auch den sehr aufschlußreichen anonymen, mit unverkennbar gegenwartspolitischen Absichten verfaßten Rezensionsartikel:

Hans-Christof Kraus

212

seine Mutter, die Königin Augusta, vom Juni 1863 die Bemerkung, daß die preußische Regierung gut daran täte, sich an England „ein Beispiel zu nehmen"19 doch wirklich konkrete Folgerungen für das ei-

gene politische Handeln hat er hieraus nicht gezogen. Aus seinen weiteren Äußerungen geht lediglich hervor, daß Friedrich eine direkte Nachahmung des britischen Beispiels ablehnte.20 Er sei „der Letzte", schreibt er auf dem Höhepunkt des Konflikts im Juli 1863 an Ernst Curtius, „der schablonenmäßig die Verhältnisse anderer Staaten auf den unserigen übertragen will, ohne seine Eigentümlichkeit gelten zu lassen". Ihm gehe es nur um ein striktes Festhalten an den Grundsätzen der bestehenden preußischen Verfassung, die als solche keinesfalls in Frage oder zur Disposition gestellt werden dürfe, und er fuhr fort: „Klugheit und rechtzeitiges Verständnis, um durch zeitgemäßes Nachgeben große Lebensfragen durchzuführen, ist das, was unseren Staatsmännern fehlt."21 Wie allerdings dieses „zeitgemäße Nachgeben" aussehen sollte und worin denn die „großen Lebensfragen" der Zeit zu suchen seien, dies alles ließ er ebenfalls vielleicht bewußt? im Unklaren. Es scheint, daß in dieser Hinsicht auch andere Einflüsse wirksam waren: So dürften etwa Bismarcks dem Prinzen wiederholt und eindringlich vorgetragene Warnungen, daß Preußen „durch Parlamentsre-

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in England seit hundert Jahren, in: Preußische Jahrbücher 10 besonders die Schlußpassage (ebd., S. 18): „Gegenüber der wi1-18; (1862), dersinnigen Parole: Königthum oder Parlament, hat das preußische Volk, wohl wissend, daß die Parole in Wahrheit lautet: Verfassungsmäßige Monarchie oder Junkerwirthschaft, jenen Gegensatz in energischer Weise für erfunden und unterschoben erklärt. Möge ihm die Erfahrung und das Beispiel Englands zu Gute kommen, um die Eintracht zwischen Krone und Volk nach deutschen und nicht Das

Königthum S.

französischen Begriffen, den Anforderungen der Gegenwart gemäß, fest zu begründen. Darnach aber bedeutet Volksvertretung zuvörderst die Gewährung der Mittel und alsdann die Controle [sic] derselben zu einer nationalen Politik; eine von der Vertretung gestützte Regierung verfügt praktisch über unerschöpfliche Hülfsquellerí\ Der Autor der eben zitierten Passagen ist leider nicht zu ermitteln, trotz der Angaben in Otto Westphal, Welt- und Staatsauffassung des deutschen Liberalismus. Eine Untersuchung über die Preußischen Jahrbücher und den konstitutionellen Liberalismus in Deutschland von 1858 bis 1863 (Historische Bibliothek, Bd. 41), München Berlin 1919, S. 319 ff. Meisner, Der preußische Kronprinz im Verfassungskampf (wie Anm. 7), S. 89 (Anhang, Nr. 26; Kronprinz Friedrich an Königin Augusta, 16. Juni 1863). Hierin fraglos auch beeinflußt durch die entsprechende Auffassungen seines für diese Zeit wichtigsten Beraters Max Duncker; siehe dazu unten, Abschnitt IV. Curtius, Ernst Curtius (wie Anm. 14), Bd. 2, S. 85 (Kronprinz Friedrich an Cur-

tius, 26. Juli 1863).

Militärreform oder Verfassungswandel?

213

gierung zugrunde gehen"22 werde, oder auch König Wilhelms Bezeichnung des englischen Verfassungssystems als „Republik mit Präsident"23 ihre Wirkung vermutlich nicht gänzlich verfehlt haben. Jedenfalls notierte der Kronprinz alle diese Äußerungen wie auch eine entsprechende Bemerkung Leopold Rankes24 kommentarlos in sein Tagebuch. Schließlich dürfte auch ein Gespräch, das Friedrich im November 1863 mit seiner Schwiegermutter führte und in dem er sich über die prodänische Haltung der englischen Regierung in der Schleswig-Holstein-Frage beklagte, ihn über bestimmte Aspekte der britischen Monarchie eines besseren belehrt haben, denn Königin Victoria betonte ihm gegenüber mit ungewöhnlicher Offenheit, „daß, wiewohl sie für Deutschland Teilnahme empfände, sie nichts selbständig vermöge, sondern abhängig sei vom Willen ihrer Minister."25 Nicht zuletzt können auch die Äußerungen des Kronprinzen zur Adelsfrage nur als fragmentarisch und eher zufällig bezeichnet werden. -

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Zwar heißt es im Juli 1861 in einer Notiz Friedrichs für seinen Berater Max Duncker in bezug auf das preußische Herrenhaus: „Ich bin für Umgestaltung und dies sobald als möglich. Zuvörderst sind die Grafenverbände und Präsentationen einzelner großer Geschlechter abzuschaffen"26; zwar äußerte er Anfang 1862 gesprächsweise, wie einer

Friedrich, Tagebücher (wie Anm. 9), S. 209 (11. August 1863); vgl. auch den bei Meisner, Der preußische Kronprinz im Verfassungskampf (wie Anm. 7), S. 134 f.

abgedruckten Brief des Kronprinzen an seine Mutter vom 13. August 1863. Friedrich, Tagebücher (wie Anm. 9), S. 213 (3. September 1863). Vgl. ebd., S. 188 (24. Februar 1863): „Prof. L. Ranke 1 'A Stunden Vortrag über Polen. Lange historische Abhandlung über europäische Verhältnisse seit 1786, geistvoll charakteristisch, aber teils feudal, z. B. unsere Verfassung sei schwer ausführbar; vielleicht werde einmal eine oktroyierte Veränderung derselben nötig werden". Ebd., S. 223

November 1863); von mir gesperrt, H.-C. K. Zur Kritik der prodänischen Haltung des englischen Parlaments siehe auch die Aufzeichnungen ebd., S. 188 (21. Februar 1863). Umgekehrt scheint Victoria alles getan zu haben, um ihren Mann von den Segnungen und der Vorbildlichkeit der englischen Verfassung zu überzeugen; siehe dazu noch die Notiz Bernhardis, in: Aus dem Leben Theodor von Bernhardis (wie Anm. 51), Bd.5, S. 129 (8. November 1863). Max Duncker, Politischer Briefwechsel aus seinem Nachlaß, hg. v. Johannes Schultze (Deutsche Geschichtsquellen des 19. Jahrhunderts, Bd. 12), 1923, Ndr. Osnabrück 1967, S. 289 (Randbemerkung des Kronprinzen auf einem Schreiben des Hallenser Liberalen Fubel an Duncker vom 20. Juli 1861); allgemein zu Geschichte, Entwicklung und Bedeutung des Herrenhauses jetzt die grundlegende Studie von Hartwin Spenkuch, Das Preußische Herrenhaus. Adel und Bürgertum in der Ersten Kammer des Landtages 1854-1918 (Beiträge zur Geschichte des

(18.

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Hans-Christof Kraus

214

Notiz Dunckers zu entnehmen ist, „die preußische Aristokratie müsse das Beispiel der englischen nachahmen"27 doch konkreter wurde er in seinen Äußerungen ebenfalls weder jetzt noch später. Und als Bismarck ihm gegenüber im Mai 1863 einmal gesprächsweise bemerkte: „Unser parlamentarisches Leben sei noch sehr in der Kindheit; unserer Aristokratie fehle das Geld, um, wie in England, Massen zu leiten und eine Ansehen gebietende Macht zu sein. Ahnendünkel schade ihr, naden Bürgerlichen gegenüber, mit denen die Amalgamiementlich rung jetzt sehr wünschenswert sei"28 da wußte der Kronprinz diesen Äußerungen des Ministerpräsidenten keine anderen Argumente entge-

...

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genzusetzen.

zeigt sich also, daß die verfassungspolitischen Ideen Friedrichs nur ausgesprochen rudimentär und unpräzise ausgebildet waren. Außer einigen ungenau formulierten Vorstellungen über die Notwendigkeit eines „harmonischen" Zusammenwirkens zwischen Krone und Volk, eines Eingehens auf die „großen Zeitfragen", findet sich kaum eine konkretere Stellungnahme. Ähnlich vage fiel die zeitweilige Orientierung am englischen Vorbild aus, das von ihm offenbar nur so lange bewundert wurde, als er sich nicht über dessen eigentliche Natur im klaren war. nämlich die parlamentarische Kabinettsregierung er Auch in der Adelsfrage schwankte er: Wünschte anfangs noch eine Reform des Herrenhauses im Sinne einer Zurückdrängung des EinflusEs

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der Junker, so schnitt er später von niemand anderem als Bismarck über die Unterschiede zwischen englischem und preußischem Adel belehrt dieses Thema nicht mehr an. ses

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III.

Die Suche nach einer Antwort auf die Frage, ob in der Krise von 1862/63 eine entscheidende verfassungspolitische Wende in Preußen Parlamentarismus und der politischen Parteien, Bd. 110), Düsseldorf 1998; zur neuen Ära bes. S. 58 ff. Duncker, Politischer Briefwechsel (wie Anm. 26), S. 306 (Notiz Duncker vom 4. Januar 1862); das volle Zitat lautet: „Zu dem etwas beschränkten Grafen Schulenburg-Alten[hausen] äußerte der Kronprinz, die preußische Aristokratie müsse das Beispiel der englischen nachahmen, und rief den Grafen Bernstorff, um Seh.

das zu erklären. B. darauf: Er bedauere, sich Sr. Kgl. Hoheit nicht anschließen zu können. Bemerkung Dunckers dabei: Die Diplomatie in Berlin bemerkt, daß der Kronprinz 'soit un homme peu doué et sans bon sens, qui se dérobeait lui même des appuis fondamentales de son trône'." Friedrich, Tagebücher (wie Anm. 9), S. 142 (24. Mai 1863). -

Militärreform oder Verfassungswandel?

215

und vielleicht langfristig in ganz Deutschland möglich gewesen wäre29, muß sich ebenfalls mit der Politik und dem Verhalten des Kronprinzen in dieser Zeit befassen. Und auch hier zeigt sich, daß Friedrich bis auf eine einzige Ausnahme im Sommer 1863 weit davon entfernt war, sich in eine offene Konfrontation mit der Regierung und damit auch mit dem König selbst zu begeben. Eine Analyse der Tagebuchaufzeichnungen vermag zu belegen, daß der Kronprinz bis zur Septemberkrise des Jahres 1862, trotz immer wieder einmal zu Tage tretender kleinerer Differenzen, unbedingt loyal und treu zu seinem Vater gestanden hat: Im April dieses Jahres notierte er, daß er „niemals" in „Opposition gegen den König" treten werde; einen Monat später gab er seiner Zuversicht Ausdruck, die Abgeordneten würden schon bald einsehen, „daß der König nicht seine politischen Ansichten gewechselt hat, wo es ankommt, Recht und verfassungsmäßige Freiheit zu wahren", und im Juli versicherte er, daß er mit dem König und dem Ministerium in der Militärfrage völlig übereinstimme, nicht ohne hinzuzufügen: „Wir alle hätten zu lernen in dem jungen verfassungsmäßigen Leben Preußens."30 Und sogar noch drei Wochen vor der Abdankungskrise und der Berufung Bismarcks zum Regierungschef vermerkte der Prinz in sein Tagebuch: „Im Abgeordnetenhause gestalten sich die Dinge immer ungünstiger in Militärfrage, jetzt wollen sie sogar zweijährige Dienstzeit als Gesetz durchtreiben. Der arme liebe Papa wird noch viel, viel Herzenskummer durch diese Sache und durch jene unsinnigen Leute leiden."31 Allerdings fügte er dieser Aufzeichnung die Worte hinzu: „Und doch sollte die Regierung rechtzeitig Maßregeln treffen, die, wenn [sie] auch in manchem nachgiebig sind, dennoch die Hauptsache retten; wenn Aufschub der Entscheidung abermals eintritt, dann werden -

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2y

Allgemein

zur Geschichte des preußischen Verfassungskonflikts vgl. neben der immer noch brauchbaren älteren Studie von Fritz Löwenthal, Der preußische Verfassungsstreit 1862-1866, München Leipzig 1914, die nur noch mit Einschränkungen zu konsultierende Arbeit von Kurt Kaminski, Verfassung und Verfassungskonflikt in Preußen 1862-1866. Ein Beitrag zu den politischen Kernfragen von Bismarcks Reichsgründung (Schriften der Albertus-Universität. Geisteswissenschaftliche Reihe, Bd. 13), Königsberg i. Pr. Berlin 1938; besonders aber Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte (wie Anm. 13), Bd. 3, S. 275-369, sowie Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800-1866 (wie Anm. 4), S. 749-768; eine ausführliche neuere Darstellung fehlt. Die Zitate aus: Friedrich, Tagebücher (wie Anm. 9), S. 135 (15. April 1862), 138 f. (11. Mai 1862), 151(10. Juli 1862). Ebd., S. 157(1. September 1862). -

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30 31

Hans-Christof Kraus

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später Konzessionen viel schlimmerer Art kommen müssen."32 Der Kronprinz trat also bereits jetzt wie auch später für einen Kompromiß

Abgeordnetenhaus ein. Den Vermittlungsvorschlag der drei oppositionellen Abgeordneten Sybel, Stavenhagen und Twesten, mit dem die Opposition den Wünschen der Regierung entgegenkam, dafür aber die Militärdienstzeit entgegen dem festen Willen des Königs auf zwei Jahre beschränken wollte33, hielt Friedrich, wie übrigens sogar ebenfalls der Kriegsminister Roon, für durchaus akzeptabel.34 Nur scheiterte dieser Vorschlag an der Kompromißunwilligkeit des Königs. Doch erst in der Krise um die Abdankung König Wilhelms nach der Zurückweisung des Kompromißangebotes der Opposition zeigte Kronprinz Friedrich sein wahres Gesicht: „Welch entsetzensvolle Lage für mich!", notierte er in sein Tagebuch nach dem entscheidenden Gespräch mit seinem abdankungswilligen Vater: „Ich stellte ihm vor", heißt es weiter, „welch unermeßliches Unheil solch ein unseliger Schritt mit sich bringe für Krone, Land und Dynastie, daß der König wegen Kammerbeschlüsse abdiziere, wodurch sehr gefährlicher Präzedenzfall für die Zukunft in unruhigen Zeiten geboten werde."35 D. h. der Kronprinz lehnte einen Rücktritt seines Vaters nicht zuletzt aus dem Grunde ab, weil dadurch das parlamentarische Element der preußischen Verfassungsordnung entscheidend gestärkt worden wäre! Er selbst wiederum reagierte auf die Krise in der Weise, daß er sich wenige Tage später auf eine dreimonatige Auslandsreise begab, die ihn bis nach Nordafrika und damit weit weg vom Schauplatz der preußimit dem

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schen Staatskrise führen sollte.36 Dieses Verhalten dürfte wenigen Beobachtern als Flucht empfunden worden sein. 32 33

34

nicht

Ebd..

Vgl. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte (wie Anm. 13), Bd. 3, S. 297; der Text des Kompromißvorschlages der drei Abgeordneten findet sich in: Ernst Rudolf Huber (Hg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 2, 3. Aufl., Stuttgart- Berlin Köln Mainz 1986, S. 41 (Nr. 40). Vgl. Friedrich, Tagebücher (wie Anm. 9), S. 154 (23. Juli 1862), 209 (11. August 1863). Die Auffassung, Roon habe den Kompromißvorschlag der drei Abgeordneten lediglich aus taktischen Motiven kurzzeitig befürwortet, vertreten von Gerhard Ritter, Staatskunst und Kriegshandwerk, Bd. 1, München 1954, S. 191 f., läßt sich unter Hinweis auf (von Ritter hier ignorierte) ältere Forschungsresultate widerlegen; siehe Egmont Zechlin, Bismarck und die Grundlegung der deutschen Großmacht [zuerst 1930], 2. Aufl. Darmstadt 1960, S. 291 ff. Friedrich, Tagebücher (wie Anm. 9), S. 160 ( 19. September 1862). Vgl. ebd., S. 164-178; sowie die bezeichnenden Bemerkungen des Kronprinzen nach seiner Rückkehr zu Bernhardi, in: Aus dem Leben Theodor von Bernhardis (wie Anm. 51), Bd. 4, S. 334 f. (27. Dezember 1862). -

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von

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Militärreform oder Verfassungswandel?

einziges Mal wagte Friedrich im folgenden Jahr den offenen Widerspruch gegen eine Maßnahme der Regierung seines Vaters. Als die Regierung Bismarck Anfang Juni 1863 nach der Schließung des Landtages eine verfassungsrechtlich zumindest äußerst bedenkliche Verfügung zur Einschränkung der Pressefreiheit erlassen hatte37, hielt der Kronprinz während eines Besuchs in Danzig eine kurze Ansprache, in der er seiner Überraschung über diesen Schritt der Regierung offen Ausdruck verlieh und erklärte, daß er selbst diese Maßregel nicht billigen könne.38 Damit war der für alle sichtbare Bruch zwischen König und Thronfolger vollzogen. Es ist bekannt, daß die Kronprinzessin Victoria ihren Mann bei seiner Entscheidung für eine öffentliche kritische Stellungnahme zur Politik der Regierung maßgeblich beeinflußt

Nur ein

hat; Friedrich scheute sich auch nicht, diesen Tatbestand anderen

gegenüber ganz offen zuzugeben.39 Nur in einem Brief an seinen Vater Text der Verordnung vom 1. Juni 1863 in: Huber (Hg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte (wie Anm. 33), Bd. 2, S. 74-76 (Nr. 61). Vgl. Friedrich, Tagebücher (wie Anm. 9), S. 198 (5. Juni 1863); siehe auch den Text der Rede (nach einem Erstdruck in der „Danziger Zeitung") bei Meisner, Der preußische Kronprinz (wie Anm. 7), S. 73; hiernach auch in: HUBER (Hg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte (wie Anm. 33), Bd. 2, S. 78 (Nr. 64): „Auch ich beklage, daß ich zu einer Zeit hergekommen bin, in welcher zwischen Regierung und Volk ein Zerwürfnis eingetreten ist, welches zu erfahren mich in hohem Grade überrascht hat. Ich habe von den Verordnungen, die dazu geführt haben, nichts gewußt. Ich war abwesend. Ich habe keinen Teil an den Ratschlägen gehabt, die dazu geführt haben. Aber wir alle, und ich am meisten, der ich die edlen und landesväterlichen Intentionen und hochherzigen Gesinnungen des Königs am besten kenne, wir alle haben die Zuversicht, daß Preußen unter dem Szepter Sr. Majestät der Größe sicher entgegen geht, die ihm die Vorsehung bestimmt hat". Vgl. Duncker, Politischer Briefwechsel (wie Anm. 26), S. 348 (Kronprinz Friedrich an Duncker, 10. Juni 1863). In sein Tagebuch notierte er, Friedrich, Tagebücher (wie Anm. 9), S. 199 (6. Juni 1863): „Und jetzt... mußte ich so handeln im Hinblick auf meine und meiner Kinder Zukunft, die jetzt gefährdet werden wird. Gott stehe uns, stehe mir bei! Frauchen ist mein treuester Ratgeber, meine ganze Stütze, mein unermüdlicher Tröster, wie's keine Worte auszudrücken vermögen. Unsere Stellung aber ist furchtbar!". An seine Mutter schrieb Friedrich am 16. Juni 1863, abgedruckt in Meisner, Der preußische Kronprinz (wie Anm. 7), S. 89: „Vicky hat Gedanken, die einem Staatsmann Ehre machen würden"! Siehe auch den aufschlußreichen Brief, den Victoria zwei Tage später, am 8. Juni, an ihre Mutter, die Königin von England schrieb, in: Sir Frederick Ponsonby (Hg.), Briefe der Kaiserin Friedrich, Berlin o. J. [1930], S. 62: „Ich tat, was ich konnte, um Fritz zu bewegen, dies zu tun, da ich wußte, wie notwendig es war, daß er seinen Empfindungen öffentlich Ausdruck verleihen und erklären solle, daß er kei...

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Hans-Christof Kraus

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stritt er einige Monate später rundheraus ab, daß „Viktoria irgend eine politische Rolle zu spielen suchte, und ich werde darauf halten, daß sie diesen von ihr anerkannten Grundsatz auch stets beobachte, sowie mir in der Tat nichts bekannt ist, wodurch sie je davon abgewichen wäre."40 Der Kronprinz erhielt sogleich nach der Veröffentlichung der Kernsätze seiner Danziger Rede eine strenge Verwarnung durch seinen Vater41, dem er sich nun wiederum unterordnete und dem er zugleich versprechen mußte, sich künftig nicht mehr öffentlich zur Regierungspolitik zu äußern. Immerhin machte er in seinem Antwortbrief an den Vater deutlich, daß er „mit demselben Mut für meine Überzeugung zu wagen und zu leiden verstehe, als Du, lieber Papa, es für die Deinige getan; aus diesem Grunde kann ich nicht meine in Danzig gesprochenen Worte zurücknehmen". Daß er den Vater aber anschließend „demütig um Verzeihung"42 bat, scheint ihn vor dem Kriegsgericht gerettet zu haben -jedenfalls hat General Edwin von Manteuffel in einem umfangreichen Gutachten für den König die Möglichkeit eines Prozesses gegen den Kronprinzen ausdrücklich erwogen.43 Fortan verweigerte Friedrich strikt seine Teilnahme an den Sitzungen des Staatsministeeine auf lange Sicht ohne Frage höchst verhängnisvolle riums Entscheidung, mit der er sich politisch selbst ausgrenzte und in eine, wie Heinrich Otto Meisner es ausdrückte, „Selbstverbannung"44 zurückzog, die schließlich in die politische Isolation führen sollte.45 ...

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nen Anteil an den letzten Regierungsverfügungen habe". Vgl. auch Meisner, Der preußische Kronprinz (wie Anm. 7), S. 46. Meisner, Der preußische Kronprinz (wie Anm. 7), S. 186 (Friedrich an König Wilhelm I, 2. Dezember 1863). Die apokryphe Überlieferung dieses Briefes in: ebd., S. 74 (Nr. 9): „Ich verweise Dir die Danziger Rede auf das entschiedenste, ich verlange, daß Du sie rektifizierst, wenn sie unrichtig wiedergegeben sein sollte; ich verpflichte Dich, keine einzige derartige Aeußerung mehr zu tun. Sollte dies doch geschehen, so erfolgt Abberufung nach Berlin, wo dann bestimmt wird, ob Du Deine Kommandostelle[n] noch behalten kannst". Die Zitate nach dem Abdruck des Briefes ebd., S. 75 (Kronprinz Friedrich an den König, 7. Juni 1863). Abdruck des Gutachtens ebd., S. 97-108 (Nr. 35; Promemoria des Freiherrn Edwin von Manteuffel, 27. Juni 1863), hier S. 107. Friedrich, Tagebücher (wie Anm. 9), S. XLII; vgl. auch S. XXX f., XXXIX (Einleitung des Herausgebers); vgl. auch Meisner, Der preußische Kronprinz im Verfassungskampf (wie Anm. 7), S. 53 f., 57 ff. Wenig imponierend erscheinen auch die folgenden Bemerkungen des Kronprinzen in einem Brief an seinen Lehrer Curtius vom I. November 1963, in: Curtius, -

Militärreform oder

Verfassungswandel?

219

Worin lagen seine Motive für dieses Handeln? Zuerst einmal trieb ihn die wie man heute weiß, keineswegs völlig unberechtigte Furcht vor einem Verfassungsbruch der preußischen Regierung um. Spätestens seit Anfang 1862 lagen die im wesentlichen von Edwin von Manteuffel ausgearbeiteten Pläne für eine Verhängung des Ausnahmezustandes im Falle ausbrechender Unruhen bereit46 Pläne, die durchaus auch zur Errichtung einer zeitweiligen Militärdiktatur hätten verwendet werden können. Der Kronprinz vermutete, hierin wohl auch durch vereinzelte Bemerkungen des Königs und Bismarcks bestätigt, der politische Kurs des Konfliktministeriums laufe auf eine immer weiter gehende Einschränkung, schließlich auf die Abschaffung der Verfassung von 1850 hinaus vielleicht unter Inkaufnahme einer zeitweiligen Militärdiktatur; in jedem Fall aber auf eine Abkehr vom nachrevolutionären Verfassungsstaat.47 Dieser Entwicklung versuchte er sich mit dem relativ geringen politischen Gewicht, das ihm als Thronfolger zukam, entgegenzustellen. Seine einzige öffentliche Aktion endete freilich mit einem eher kläglich zu nennenden Rückzug von der politischen Bühne. Das zweite Motiv aber wird man in der Hoffnung auf ein möglichst rasches Scheitern der Regierung Bismarck sehen müssen. Friedrich war überzeugt, daß die Regierung ihren Konfrontationskurs nicht mehr allzu lange werde durchhalten können.48 Ihm war daran gelegen, sich für die Zeit „nach Bismarck", die er herbeisehnte, bereitzuhalten, um dann vielleicht möglichst wenig kompromittiert durch die Konfliktperiode einen neuen Abschnitt der politischen Geschichte Preußens einleiten zu können. Im August 1863 notierte er in sein Tagebuch: -

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(wie Anm. 14), Bd. 2, S. 87: „Was wird nun geschehen? Ich weiß es nicht und suche mich zu verkriechen, wie ich nur kann, weil ich mit Bismarck nichts zu tun haben will und doch alles vermeiden muß, so lange es irgend geht, einen offenen Bruch mit der Regierung offiziell darzutun!"; vgl. auch: Aus dem Leben Theodor von Bernhardis (wie Anm. 51), Bd. 5, S. 139 f. (14. November 1863). Vgl. Ludwig Dehio, Die Pläne der Militärpartei und der Konflikt, in: Deutsche Rundschau 213 (1927), S. 91-100; Gordon A. Craig, Die preußisch-deutsche

Armee 1640-1945. Staat im Staate, Düsseldorf 1960, S, 171 ff; Gerhard Ritter, Staatskunst und Kriegshandwerk. Das Problem des „Militarismus" in Deutschland, Bd. 1: Die altpreußische Tradition (1740-1890), 3. Aufl., München 1965, S. 185. Vgl. etwa Friedrich, Tagebücher (wie Anm. 9), S. 187 (18. Februar 1863), 191 (20. März 1863), 213 (3. September 1863), 229 (23. Dezember 1863) u. a.; siehe auch Richter, Friedrich III. (wie Anm. 7), S. 80. Vgl. Meisner, Der preußische Kronprinz im Verfassungskampf (wie Anm. 7), S. 60 f.

Hans-Christof Kraus

220

ich heute tun würde, wenn ich regierte. Antwort: denn Bismarck hat nun einMinister von der altliberalen Färbung mal kein Vertrauen."49 Diese Maßnahme hätte ohne Frage einen deutlichen politischen Kurswechsel bedeutet, aber eben keinen Verfassungswandel. Weder die politischen Überzeugungen noch das Verhalten des Kronprinzen in der Krise lassen den Schluß zu, daß er eine wirkliche Veränderung der bestehenden Verfassung seines Landes und damit auch einen Wandel der politischen Gewichtung zwischen

„Hauptfrage,

was

...,

-

Adel und

Bürgertum angestrebt hätte. -

IV.

bekannt, daß einige führende Persönlichkeiten, die dem rechten Flügel des deutschen Liberalismus angehörten, die also zu den „deutschen Whigs" zählten, dem engeren Beraterkreis des Kronprinzen zuzurechnen sind. Die vielfältigen Aktivitäten dieses Kreises, von dessen Angehörigen vor allem Max Duncker, Ernst von Stockmar und Gustav Freytag im Hintergrund auch der Militärschriftsteller Theodor von Bernhardi sowie einzelne der Publizisten um die „Preußischen Jahrbücher" wie Rudolf Haym und Hermann Baumgarten genannt werden müssen50, sind im allgemeinen nur noch indirekt und daher unzureichend zu rekonstruieren. Die einzige Ausnahme bildet Max Duncker, Es ist

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dessen Papiere bereits früh die Aufmerksamkeit der Historiker den haben.51

Friedrich, Tagebücher (wie Anm. 9), S. 209 (11. August 1863).

gefun-

Siehe hierzu die mangels neuerer Untersuchungen für viele Einzelheiten imnoch wichtige Studie von Westphal, Welt- und Staatsauffassung des deutschen Liberalismus (wie Anm. 18). Vgl. Duncker, Politischer Briefwechsel (wie Anm. 26), darin vor allem die Einleitung des Hg. Johannes SCHULTZE, S. XI-XXIV. Bis heute grundlegend ist die Biographie von Rudolf Haym, Das Leben Max Dunckers, Berlin 1891; wichtig noch Heinrich von Treitschke, Max Duncker (1886), in: ders., Aufsätze, Reden und Briefe, hg. v. Karl Martin Schiller, Bd. 1, Meersburg 1929, S. 616-634, sowie der Artikel von Herman von Petersdorff, „Duncker, Max", in: Allgemeine Deutsche Biographie 48 (1904), S. 171-199. Zu erwähnen sind ebenfalls noch die bekannten, in den 1890er Jahren herausgegebenen Tagebücher Theodor von Bernhardis, von denen in diesem Zusammenhang die Bände 3 bis 5 von Interesse sind; [Theodor von Bernhardi], Aus dem Leben Theodor von Bernhardis, Bde. 3-5, Leipzig 1894-1895; sie umfassen die Zeit von 1858-1864, sind jedoch in ihrem Quellenwert von geringerer Bedeutung als die überlieferten Dokumente aus der Feder Dunckers und des Kronprinzen. -

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mer

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221

Militärreform oder Verfassungswandel?

Noch bevor Duncker im Sommer 1861 eine Stelle als Vortragender Rat und damit als einer der wichtigsten politischen Ratgeber beim preußischen Thronfolger antrat, hatte er seinen politischen Überzeugungen, auch und gerade in der Adelsfrage, hinreichenden Ausdruck verliehen. Ausgangspunkt seiner Überlegungen hierzu war allerdings die kleine Schrift „Adel und Ritterschaft in England", die der ebenfalls liberale Jurist Rudolf Gneist schon 1853, also auf dem Höhepunkt der Reaktionszeit, publiziert52 und in der er eine Antwort auf die Frage zu geben versucht hatte, „unter welchen Bedingungen der Mässigung, der Gerechtigkeit und des Gemeinsinns innerhalb der bestehenden Classen freie Verfassungen entstehen und bestehen."53 Gneist der übrigens 1888 während der kurzen Regierungszeit Friedrichs III. geadelt wurde54 sprach bereits hier von der ,Jfarmonie der Stände" als dem zentralen Charakteristikum der englischen Verfassung; bewirkt werde sie durch die Öffnung des Adels zum Bürgertum, dessen Aufstiegsmöglichkeiten wiederum zur Bildung einer staatstragenden Elite geführt habe. Während sich in Deutschland die Abschottung der Stände verhängnisvoll ausgewirkt habe, seien auf den britischen Inseln König und Volk „durch den Gemeinsinn der Stände zur harmonischen Einheit verbunden" worden.55 In einem für die altliberale Ideenwelt wichtigen Vortrag von 1858 mit dem Titel „Feudalität und Aristokratie" nahm Max Duncker die Gedankengänge Gneists auf und vertiefte sie. Ähnlich wie Gneist, der in England das „Normal land"56 für eine gesunde Verfassungsentwicklung in Europa gefunden zu haben meinte, idealisierte auch Duncker die englische Verfassungsgeschichte. Der Adel habe sich seine führende Stellung im Staat gerade dadurch erhalten können, daß er auf überholte Privilegien und Vorrechte freiwillig verzichtete, dafür aber „in den Dienst des Landes, in den Dienst des Volkes trat und diesen Dienst ohne anderen Entgelt leistete, als den des dadurch erworbenen Ansehens, des dadurch gewonnenen politischen Einflusses."57 Wenngleich er sich darüber im klaren war, daß die englische politische -

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54 55 56 57

Rudolf Gneist, Adel und Ritterschaft in Hahn, Rudolf von Gneist 1816-1895. Ein

England, Berlin 1853; vgl. Erich J. politischer Jurist in der Bismarckzeit

(lus Commune; Sonderhefte, Bd. 74), S. 57 ff. Gneist, Adel und Ritterschaft (wie Anm. 52), S. 56. Vgl. Hahn, Rudolf von Gneist (wie Anm. 52), S. 233. Die Zitate aus Gneist, Adel und Ritterschaft (wie Anm. 52), S. 36, 43 f. Ebd., S. 12. Max Duncker, Feudalität und Aristokratie. Ein Vortrag am 18. März 1858 Tübingen gehalten, Berlin 1858, S. 40 f.

zu

Hans-Christof Kraus

222

Ordnung auf dem Kontinent nicht nachgeahmt werden könne58, richteDuncker seinen Appell doch an die Vernunft des deutschen Adels, in dessen Hand es liege, „den Kampf der Stände anders und besser zu enden als in Frankreich". Noch sei der deutsche Bürger „frei von dem Neide der Franzosen gegen hervorragende Stellungen. Aber der große Grundbesitz muß darauf verzichten, durch die Gunst der Kronen Vortheile auf Kosten der anderen Stände behaupten zu wollen Man muß auf Sonderrechte verzichten, um das Recht Aller vertreten zu te

...

Den alten Satz alles Rechts: ohne Pflichten keine Rechte, können kann niemand umstoßen. Der große Grundbesitz muß bereit sein, die größten Lasten für den Staat zu übernehmen, wenn er die geachtetste Stelle in demselben einnehmen will."59 Und Duncker schloß mit der unmißverständlichen Warnung: „Vertauscht der große Grundbesitz nicht ernsthaft die feudale Stellung mit der kommunalen, so wird ihm kein vorübergehender Erfolg das Schicksal ersparen, bei Seite geschoben zu werden."60 Nicht alle Freunde und Gesinnungsgenossen Dunckers waren mit dieser im großen und ganzen versöhnlichen politischen Linie einverstanden. Die Erinnerung an die Gegenrevolution von 1849/50 und vor allem an die eben erst zu Ende gehende Reaktionszeit war noch zu frisch, als daß die Thesen Gneists und Dunckers auf allseitiges Verständnis hätten stoßen können. So übte Hermann Baumgarten deutliche Kritik an Dunckers Vortrag, doch dieser wiederum vermochte sich sehr geschickt zu verteidigen61: „Ohne den Grundbesitz sehe ich die fakti...

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vor allem ebd., S. 48: „Es wäre ebenso unverständig als unmöglich, alle Institutionen und mit ihnen alle Mißbräuche Englands nachzuahmen, um eine heilsame Vertretung zu erreichen, aber es ist nothwendig eine andere Grundlage für dieselbe zu besitzen als den Polizeistaat. Was die Gunst der Geschichte England gewährt hat, die glückliche Koincidenz der nationalen, religiösen und politischen Entwicklungskrisen, diese Gunst ist Deutschland versagt worden". 59 Die Zitate ebd., S. 48 f. 60 Ebd., S. 50; vgl. auch Treitschke, Max Duncker (wie Anm. 51), S. 624. und Haym, Das Leben Max Dunckers (wie Anm. 51 ), S. 182 f. Zu Bernhardi äußerte Duncker am 11. April 1862: die jetzige Verfassung des Herrenhauses ist ein unsägliches Unglück, weil sie die politische Erziehung unseres Adels unmöglich macht. Wenn die Herren sich müßten in das Unterhaus wählen lassen, um politischen Einfluß zu haben und zu üben, dann müßten sie mit der übrigen Nation gehen und könnten nicht im Widerspruch mit ihr verharren, ohne um allen und jeden

Vgl.

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...

Einfluß

61

zu

kommen; sie müßten sich anschließen" (Aus dem Leben Theodor

von

Bernhardis [wie Anm.51], Bd. 4, S. 269 f.). Vgl. hierzu und zum folgenden Julius Heyderhoff, Ein Brief Max Dunckers Hermann

Baumgarten über Junkertum

und Demokratie in Preußen

(6.

Juni

an

1858),

Militärreform oder Verfassungswandel?

223

sehen Elemente für ein ständiges politisches Interesse, für eine wirkliche und dauernde Parteibildung nicht", erklärte der Kritisierte hier wiederum unverkennbar auf das britische Vorbild anspielend in seinem Antwortbrief. Gegenwärtig, so Duncker weiter, seien die Junker angesichts des bevorstehenden politischen Kurswechsels, in einer bedrängten Lage; sie sähen voraus, bald in die Opposition gehen zu müssen: „In solchem Augenblick schien es mir richtig, ihnen einen anständigen Rückzug anzudeuten und die Möglichkeit einer selbständigen Stellung". Im übrigen richteten sich seine Ausführungen und Überlegungen „an die intelligenten Klassen der Bourgeoisie, welche selbst der Meinung ist, die Last der Vertretung ohne Hilfe des Grundbesitzes nicht bestreiten zu können."62 Diese Grundhaltung, die auf Vermittlung, auf Versöhnung der Stände und der politischen Machtfaktoren im Staat abzielte, bestimmte auch Dunckers Ratgebertätigkeit für den preußischen Kronprinzen in den Jahren des Konflikts. So empfahl er Prinz Friedrich während der Abdankungskrise vom September 1862 ausdrücklich, den König, wenn irgend möglich, zur Akzeptanz des altliberalen Kompromißvorschlages zu veranlassen.63 Im folgenden Jahr warnte Duncker den Kronprinzen mehrfach wenn auch, wie man weiß, vergeblich vor öffentlicher Opposition gegen die Regierung des Königs.64 Der Thronfolger solle „eine bestimmte Reserve gegen das gegenwärtige System, aber keine prinzipmäßige Opposition"65 an den Tag legen. Verfassungspolitisch plädierte Duncker immer noch für einen umfassenden Ausgleich zwischen den Ständen und Parteien: Preußen befinde sich im Übergang zu einem wirklichen Verfassungsstaat, daher sollten „die Gegensätze, welche die Armee und das Bürgertum, das Bürgertum und das Junkertum, das Herrenhaus und das Haus der Abgeordneten trennen, versöhnt werden."66 -

-

-

-

...

62

in: Historische Zeitschriftl 13 (1914), S. 323-329; der Brief Baumgartens, auf den Duncker hier antwortet (S. 325-329), ist leider nicht erhalten. Die Zitate ebd., S. 327 f.; Endlich sei, fügte er ebenfalls noch an, „die deutsche Frage sehr schwer zu lösen, wenn sie zusammenfallt mit der Vernichtung des ...

63 64 65 66

großen Grundbesitzes" (ebd., S. 328). Vgl. Duncker, Politischer Briefwechsel (wie Anm. 26), S. 335 (Duncker an den Kronprinzen, 20. September 1862). Vgl. Meisner, Der preußische Kronprinz (wie Anm. 7), S. 71 f. (Duncker an den Kronprinzen, 5. Juni 1863), 91f f. (Duncker an den Kronprinzen, 22. Juni 1863). Ebd., S. 92. Ebd., S. 166 (Duncker an den Kronprinzen, 5. Oktober 1863).

Hans-Christof Kraus

224

Damit war, wie zu betonen ist, allerdings keineswegs die Empfehlung des Übergangs zu einem parlamentarischen Regiment verbunden; in einer im Juni 1863 für Friedrich verfaßten politischen Denkschrift Max Dunckers heißt es denn auch ausdrücklich: „Die Übertragung der englischen Verhältnisse auf die unsrigen ist völlig unzutreffend. Wir besitzen keine zuverlässigen Parteien, denen das Königtum die Regierung ruhig überlassen könnte". Da die politischen Parteien des Landes immer noch danach strebten, „ihre Regierung im Parteiinteresse auszubeuten", könne „unter diesen Umständen ein vorsichtiges persönliches Regiment in Preußen noch nicht entbehrt werden."67 Und einige Monate später führte er in einer weiteren Denkschrift noch einen zusätzlichen Gesichtspunkt an: „Die Altliberalen", heißt es dort, „wollen diesen Staat, dieses Preußen, das nicht nur durch seine Geschichte und das Verdienst seines Herrscherhauses, sondern auch durch seine Lage auf den monarchischen Konstitutionalismus und auf Waffenstärke ...

angewiesen ist."68 Die Bedeutung gerade dieses Arguments, das auf den Zwang der geographischen Lage für die innere Konstitution eines Landes hinwies, darf in diesem Zusammenhang nicht unterschätzt werden. Der englische Historiker John Robert Seeley hat es in der Mitte des 19. Jahrhunderts unter Bezugnahme auf die insulare Position Großbritanniens einmal in die Formel gebracht: die innere Freiheit eines Gemeinwesens stehe im umgekehrt proportionalen Verhältnis zu dem -

-

Druck, der auf seinen Grenzen laste. Von Immanuel Kant bis Otto Hintze ist dieses Argument immer wieder angeführt worden, wenn es

ging, die Freiheitsdefizite der politischen und der militärischen Verfassung des preußischen Staates zu begründen.69 Daß auch einer

darum

Ebd., S. 93 (Duncker an den Kronprinzen, 22. Juni 1863). Ebd., S. 179 (Duncker an den Kronprinzen, 31. Oktober 1863). Tatsächlich scheint Kant einer der ersten gewesen zu sein, der 1798 (im 2. Abschnitt des „Streits der Fakultäten") dieses später so bekannte Argument formuliert hat; vgl. Immanuel Kant, Gesammelte Schriften (Akademie-Ausgabe), Bd. 7, Berlin 1907, S. 85 f.: Zwar sei es klar, „daß diejenige Verfassung eines Volks allein an sich rechtlich und moralisch-gut sei, welche ihrer Natur nach so beschaffen ist. den Angriffskrieg nach Grundsätzen zu meiden, welche keine andere als die republicanische Verfassung, wenigstens der Idee nach, sein kann" (S. 85 f.), doch sei „aber hiermit nicht gemeint, daß ein Volk, welches eine monarchische Constitution hat, sich damit das Recht anmaße, ja auch nur in sich geheim den Wunsch hege, sie abgeändert zu wissen; denn seine vielleicht sehr verbreitete Lage in Europa kann ihm jene Verfassung als die einzige anempfehlen, bei der es sich zwischen mächtigen Nachbaren [sie] erhalten kann" (S. 86, Anm. *). Hintze wiederum hat Seeleys These mehrfach in seinen verfassungsgeschichtlichen -

Militärreform oder Verfassungswandel?

225

der liberalen Berater des Kronprinzen Friedrich eben dieses Argument bemühte, ist aufschlußreich genug; und obwohl der preußische Thronfolger sich in jener Zeit langsam von Duncker zu entfremden begann, dürfte ihm, der an der Notwendigkeit militärischer Stärke Preußens nie gezweifelt hat, gerade diese Beweisführung unbedingt eingeleuchtet haben. Doch folgte Friedrich seit Mitte 1863 nicht mehr in jeder Hinsicht den Ratschlägen Dunckers; zeitweilig bekamen radikalere Berater größeren Einfluß.70 So etwa Gustav Freytag71, dessen Anliegen es war, wie er offen bekannte, „den Kronprinzen von Pr. mit dem System zu verfeinden"12, und der, wie zu vermuten ist, den Thronfolger im Frühjahr 1863 ebenfalls zum öffentlichen Auftritt gegen die Regierung seines Vaters gedrängt zu haben scheint.73 Und so auch Ernst von und politischen Aufsätzen zitiert; vgl. Otto Hintze, Gesammelte Abhandlungen, Bd. 1: Staat und Verfassung, hg. v. Gerhard Oestreich, 3. Aufl., Göttingen 1970, S. 366, 411, 433, 506; ders., Deutschland und das Weltstaatensystem, in: ders./ Friedrich Meinecke / Hermann Oncken / Hermann Schumacher (Hg.), Deutschland und der Weltkrieg, Leipzig Berlin 1915, S. 3-51, hier S. 5 f. Vgl. Aus dem Leben Theodor von Bernhardis (wie Anm. 51), Bd. 5, S. 127 ff. -

(28. November 1863). Der Einfluß Freytags auf den Kronprinzen Wilhelm ist mangels entsprechender Quellen bisher nur unzureichend zu rekonstruieren und daher schwierig abzuschätzen; wenig ergiebig ist auch die ältere Arbeit von Fritz Kampf, Gustav Freytag und das Kronprinzenpaar Friedrich Wilhelm (Historische Abhandlungen, Bd. 5), Berlin 1933; knapp und nicht sehr ertragreich auch Oswald Dammann, Gustav Freytag und der Konstitutionalismus, phil. Diss. Freiburg i. Br. 1916. Beste Arbeit über das politische Denken Freytags ist immer noch die zuerst 1952 publizierte gediegene Studie aus der Feder von Walter Bussmann, Gustav Freytag.

Maßstäbe seiner Zeitkritik, in: ders., Wandel und Kontinuität in Politik und Geschichte. Ausgewählte Aufsätze, hg. v. Werner PöLS, Boppard a. Rh. 1973, S. 135-161. Julius Heyderhoff (Hg.), Deutscher Liberalismus im Zeitalter Bismarcks, Bd. 1: Die Sturmjahre der preußisch-deutschen Einigung 1859-1870. Politische Briefe aus dem Nachlaß liberaler Parteiführer (Deutsche Geschichtsquellen des 19. Jahrhunderts, Bd. 18), 1925, Ndr. Osnabrück 1970, Bd. 1, S. 133, Anm. 2 (Freytag an Karl Mathy, 3. März 1863). Freytag ist vermutlich auch einer der Hauptverantwortlichen dafür, daß Teile des Briefwechsels zwischen dem Kronprinzen und -

seinem Vater nach der Danziger Affäre über englische Pressepublikationen auch die deutsche Öffentlichkeit gelangten; zu dieser Angelegenheit, auf die an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden kann, siehe besonders die Ausführungen bei Meisner, Der preußische Kronprinz (wie Anm. 7), S. 23 ff, v. a. S. 38 Vgl. einen entsprechenden Brief Freytags an den ihm und dem Kronprinzenpaar befreundeten Coburger Herzog Ernst, in: Eduard Tempeltey (Hg.), Gustav Freytag und Herzog Ernst von Coburg im Briefwechsel 1853 bis 1893, Leipzig an

-

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Hans-Christof Kraus

226

Stockmar, der bereits Ende 1862 dem Kronprinzen den eher verhängnisvollen Rat gegeben hatte, sich aus der Politik zurückzuziehen, um

nicht mit dem politischen Konfrontationskurs der neuen Regierung Bismarck identifiziert zu werden.74 Auch ein geharnischter Brief des Thronfolgers an Bismarck vom 30. Juni 1863, in dem schwere Vorwürfe gegen die Politik des Ministerpräsidenten erhoben wurden75, ist seinem Verfasser „von Stockmar im Bunde mit der Kronprinzessin souffliert worden."76 Aber gerade diese Unsicherheit, dieses Hin- und Herschwanken zwischen verschiedenen Beratern und deren Empfehlungen, schließlich auch die unbestimmten, oftmals verschwommenen und von einem unklaren Harmonieideal beeinflußten politischen Äußerungen des Kronprinzen Friedrich zeigen, daß er außer seiner Entschlossenheit, am verfassungspolitischen Status quo von 1850 festhalten zu wollen über kein weiter ausgreifendes politisches Programm auseinanderstrebenden verfügte. Die Ratschläge seiner Berater spiegeln diese Unsicherheit nur noch einmal in besonders sinnfälliger Wei...

-

-

wider. Ein kurzer Blick auf die Zeit nach dem Ende des preußischen Verfassungskonflikts und nach der deutschen Wende von 1866 vermag noch einmal zu zeigen, wie stark die Auffassungen wichtiger Autoren des gemäßigten Liberalismus aus dem näheren oder weiteren Umfeld des Kronprinzen Friedrich in zentralen Fragen hier in bezug auf die künftige Bedeutung und Stellung des Adels voneinander abwichen. se

-

So bemerkte Hermann Baumgarten in seiner berühmten, im Herbst 1866 verfaßten Selbstkritik des deutschen Liberalismus, es entspreche der ,,unabänderliche[n] Natur der Verhältnisse daß monarchische -

...,

1904, S. 177 f. (Freytag an Herzog Ernst, 9. Februar 1863); der Herzog widersprach hier allerdings entschieden; vgl. ebd., S. 180 (Herzog Ernst an Freytag, 10. Februar 1863): „Es ist doch wirklich reiner Wahnsinn, wenn man die Verhältnisse bei Hof und in der Königlichen Familie unbefangen in's Auge faßt, verlangen zu wollen, daß der Kronprinz in der Phase, in der die Sachen jetzt stehen, vor dem

Volke öffentlich sich erkläre und Partei ergreife?"; Friedrich müsse, im Gegenteil, „vorerst außen vor bleiben". Vgl. Duncker, Politischer Briefwechsel (wie Anm. 26), S. 337 (Ernst von Stockmar an Duncker, 22. September 1862).

Abgedruckt

in:

Anhang zu

den Gedanken und

Erinnerungen

von

Otto Fürst

von

Bismarck, Bd. 2: Aus Bismarcks Briefwechsel, Stuttgart Berlin 1901, S. 349352; die Bemerkung des Briefschreibers, er rechne den preußischen Ministerpräsidenten unter „die allergefährlichsten Rathgeber für Krone und Vaterland" (ebd., S. 351), versah der Adressat mit der Randbemerkung: „Leicht fertig ist die Jugend -

mit dem Worte!" (ebd., S. 352). Meisner, Der preußische Kronprinz (wie Anm.

7), S. 22.

Militärreform oder Verfassungswandel?

227

Staaten nur die Wahl haben, entweder mit Hilfe des Adels zu einer moderierten Verfassung, zu parlamentarischen Formen zu gelangen, oder unter der Herrschaft einer bürokratischen, mehr oder weniger absolutistischen Regierung zu bleiben."77 Und mit Blick auf die jüngsten Ereignisse fügte er gegen Ende seines Textes an: „Nachdem wir erlebt haben, daß in einem monarchischen Staat der Adel einen unentbehrlichen Bestandteil ausmacht, und nachdem wir gesehen haben, daß diese viel geschmähten Junker für das Vaterland zu kämpfen und zu sterben wissen trotz dem besten Liberalen, werden wir unsere bürgerliche Einbildung ein wenig einschränken und uns bescheiden, neben dem Adel eine ehrenvolle Stelle zu behaupten."78 Ganz anders aber Gustav Freytag, der sich zwei Jahre später in einem Zeitschriftenartikel über „Die Ertheilung des Adels an Bürgerliche"79 gegen die Fortsetzung des Instruments der Nobilitierung und damit für die Aufgabe der in seiner Sicht ebenso „schädlichen" wie unzeitgemäßen Institution des modernen Briefadels plädierte: Wenn in der Gegenwart „ein Bürgerlicher den Adel für sich sucht, so thut er es nicht, um gebildeter, besser zu werden, sondern aus begehrlicher Eitelkeit, aus Schwäche oder um sich und den Seinen kleine Vortheile zu schaffen. Und deshalb verübeln wir ihm den erbetenen Wappenbrief um so mehr, je mehr wir ihm politisches Unheil zutrauen". Nur dann, wenn künftig auf „die Ertheilung der Adelsdiplome" verzichtet werde, könne „der stille Gegensatz, welcher hie und da noch zwischen den Interessen des Adels und des Volkes zu Tage kommt, sich von selbst leise und allmählich, ohne daß darum Acte der Gesetzgebung nöthig wären, in den Fortschritten versöhnen, welche Wohlstand und Bildung, und die Hingabe Aller an das Vaterland machen."80 V.

Im Rückblick zeigt sich, daß in der Krise von 1862/63 eine wirkliche Alternative zwischen Militärreform oder Verfassungswandel nicht bestanden hat. Der Kronprinz wollte die Reform des veralteten preußi"

78 79

80

Hermann Baumgarten, Der deutsche Liberalismus. Eine Selbstkritik, Berlin 1866, S. 17; zu Baumgarten siehe auch die aufschlußreiche biographische Skizze von Erich Marcks, Einleitung, in: Hermann Baumgarten: Historische und politische Aufsätze und Reden, Straßburg 1894, S. V-CXXX1V. Baumgarten, Der deutsche Liberalismus (wie Anm. 77), S. 111. Gustav Freytag, Gesammelte Werke, Bd. 15: Politische Aufsätze, Leipzig 1910, S. 324-334. Die Zitate ebd.. S. 325, 332, 334.

Hans-Christof Kraus

228

sehen Heeres ebenso wie sein Vater und die führenden Militärs des Landes; er war nur nicht bereit, die Verfassung von 1850 für die

Durchführung eines militärischen Maximalprogramms auf Spiel zu setzen. Eine grundlegende Verfassungsreform aber, die gleichzeitig auch eine wirkliche Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Adel und Bürgertum mit sich gebracht hätte, strebte er zu keiner Zeit an. Nichts trifft weniger zu als Dahrendorfs Behauptung, der Kronprinz habe gewußt, „was er wollte" und sogar „einen regelrechten Plan für sein Regiment"81 vorbereitet. Und einen ebenso geringen Wahrheitsgehalt enthält der Untertitel der jüngsten Friedrich-Biographie, die den glücklosen Kronprinzen als „Deutschlands liberale Hoffnung" charak-

zu können meinte.82 Im Gegenteil: Die politischen Überzeugungen des Kronprinzen waren und blieben, wie auch die neuere Forschung mehrfach betont hat, diffus und unklar.83 Vielleicht wird man nicht so weit wie Hans Fenske gehen können, der jüngst das Herrschaftsverständnis des Kronprinzen als „bonapartistisch"84 charakterisiert hat, doch als „liberal" wird man ihn nicht bezeichnen können. Hans Delbrück, selbst ein Liberaler, der den unglücklichen Kronprinzen und Kaiser zudem persönlich gut gekannt hat, lehnte es in seinem Nachruf auf Friedrich ausdrücklich ab, ihn „liberal" zu nennen: „Man dürfte es eher so ausdrücken, er hatte eine freiere, tolerantere Anschauung von dem Bestehenden, als die Klassen, die einen Prinzen und König zu umgeben pflegen. Seine

terisieren

-

Grundempfindung war und blieb die eines preußischen Offiziers; Mitglied und später einmal Kriegsherr des preußisch-deutschen Offizierskorps zu sein, war bei ihm ganz wie bei seinem Vater der ausgeprägteste

aller Begriffe."85

Dahrendorf, Reisen nach innen und außen (wie Anm. 5), S. 137. Franz Herre, Kaiser Friedrich III. Deutschlands liberale Hoffnung, Stuttgart 1987.

Treue, Kaiser Friedrich III. (wie Anm. 7), S. 130 f.; aufschlußreich schon mit Blick auf die späteren Jahre die Bemerkungen bei Axel T. G. Riehl, Der „Tanz um den Äquator". Bismarcks antienglische Kolonialpolitik und die Erwartung des Thronwechsels in Deutschland 1883 bis 1885 (Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, Bd. 1), Berlin 1993, S. 262 f., 735 f. Hans Fenske, Bürgertum und Staatsbewußtsein im Deutschen Reich (18711914), in: Historische Mitteilungen 11 (1998), S. 23-45, hier S. 35. Hans Delbrück, Persönliche Erinnerungen an den Kaiser Friedrich und sein Haus (1888), in: derselbe, Erinnerungen. Aufsätze und Reden, Berlin 1902, S. 6483, hier S. 74 f.

Vgl.

u. a.

auch

-

-

Militärreform oder Verfassungswandel?

229

Schließlich darf man nicht vergessen, daß er sich selbst durch sein Verhalten in der Abdankungskrise des September 1862 die große und entscheidende politische Chance seines Lebens verdorben hat. Johannes Ziekursch bemerkte 1925 mit vollem Recht: „Hätte nun in ihm [dem Kronprinzen, H.-C. K.] jener verzehrende Tatendrang gelebt, ohne den kein großes politisches Werk gelingt, dann würde er im September 1862 nach der ihm vom Vater gebotenen Krone gegriffen haben, um seine politischen Ideale zu verwirklichen."86 Aber eben das hat er nicht getan aus Gründen, die nicht bis ins letzte zu durchschauen sind: Mag es Angst vor der politischen Verantwortung inmitten einer Staatskrise, mag es Loyalität gegenüber dem trotz allem geliebten Vater, mag es schließlich das Faktum gewesen sein, daß er nun einmal keine großen, bedeutenden oder auch nur originellen „politischen Ideale" besaß, auf deren baldige Verwirklichung es ihm hätte ankommen können. Vermutlich haben alle der genannten Aspekte eine gewisse Rolle gespielt.87 Auch die Ideen der „deutschen Whigs", soweit sie dem Umfeld und dem Beraterkreis des Kronprinzen angehörten, waren in sich uneinheitlich und stark von den Grundüberzeugungen, auch Voreingenommenheiten der jeweiligen Persönlichkeiten bestimmt. Neigte ein Mann wie Ernst von Stockmar, dessen Vater der engste Mitarbeiter des Prinzgemahls Albert gewesen war, zur Idealisierung englischer Zustände, so plädierte etwa Gustav Freytag für einen durchgreifenden Wandel der preußischen Verfassungsordnung im liberalen Sinne jedoch ohne eigene tragfähige Konzepte zu entwickeln88; es blieb jeweils bei pointierten, aber im ganzen doch fragmentarischen Äußerungen. Max Duncker wiederum, in der Krisenzeit von 1862/63 sicherlich der wichtigste und zeitweilig auch einflußreichste Berater Friedrichs, trat hingegen gerade nicht für einen möglichst umgehenden und tiefgreifenden Verfassungswandel ein, sondern sprach sich für das Festhalten an der gegebenen politischen Ordnung aus freilich mit der künftigen Option vorsichtiger verfassungsstaatlicher Reformen. Konkrete Ideen für eine -

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Johannes Ziekursch, Politische Geschichte des neuen deutschen Kaiserreichs, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1925, S. 71. Treffend bemerkt auch MEISNER, Der preußische Kronprinz im Verfassungskampf (wie Anm. 7), S. 21: „Im entscheidenden Moment kapitulierte bei ihm [Friedrich, H.-C. K.] fast immer der Thronfolger vor dem Sohne, der Politiker vor dem Menschen". Vgl. dazu die methodisch allerdings unbefriedigende Arbeit von Dammann, Gustav Freytag und der Konstitutionalismus (wie Anm. 71).

Hans-Christof Kraus

230

von Friedrich Wilhelm IV. bereits 1840 entwickelt worden waren89, dem von kurz nach Thronwechsel sucht man bei den „deutschen Whigs" vergebens obwohl einige von ihnen über diese älteren Pläne durchaus im Bilde waren.90 Man darf in diesem Zusammenhang ebenfalls die Beharrungskraft der bestehenden Institutionen und der vorhandenen Verfassungsordnung nicht unterschätzen. Die Verfassungsurkunde von 1848, die auch nach der Revision von 1849/50 im wesentlichen unverändert geblieben war, hatte sich nach und nach als ein im ganzen trotz aller Schwierigkeiten doch tragfähiger Verfassungskompromiß erwiesen; es war weder den Liberalen gelungen, das volle Budgetrecht des Parlaments durchzusetzen und damit die Machtstellung des Abgeordnetenhauses wesentlich zu stärken91, noch hatte König Friedrich Wilhelm IV. mit seinen in den Jahren 1851 bis 1857 wiederholt unternommenen Versuchen Erfolg gehabt, die Verfassungsurkunde wieder abzuschaffen und durch einen „Freibrief oder etwas Ähnliches zu ersetzen.92

Adelsreform, wie sie im Umfeld

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Vgl. Heinz Reif, Friedrich Wilhelm IV. und der Adel. Zum Versuch einer Adelsreform nach englischem Vorbild in Preußen 1840-1847, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 43 (1995), S. 1097-1111; zum Zusammenhang der noch kaum erforschten Adelsreformbestrebungen siehe auch ders., Adelserneuerung und Adelsreform in Deutschland 1815-1874, in: Elisabeth Fehrenbach / Elisabeth MOller-Luckner (Hg.), Adel und Bürgertum in Deutschland 1770-1848 (Schriften des Historischen Kollegs; Kolloquien, Bd. 31), München 1994, S. 203-230. Vgl. Duncker, Politischer Briefwechsel (wie Anm. 26), S. 360 f. (Heinrich von Gagem an Duncker, 19. Juli 1863): „Ich erinnere mich, daß der verstorbene Bunsen [gemeint ist der mit Friedrich Wilhelm IV. persönlich befreundete preußische Diplomat und Schriftsteller Christian Karl Josias von Bunsen (1791-1860); H.-C. K.], nachdem ihm von Friedrich Wilhelm IV. der Adel verliehen worden war, mir erzählte: Im Kabinett des Königs lägen schon seit langem Vorarbeiten zu einer Reorganisation des Adels vor, nach Analogie der englischen Einrichtungen, und selbst ein Gesetzesentwurf, der bereits die Genehmigung des Königs erhalten gehabt habe. Auch er, Bunsen, habe den Adel gleichsam auf Grund dieses Gesetzentwurfs erhalten, nämlich vererblich nur auf einen, und zwar denjenigen seiner Söhne, der in Preußen ein Majorat stiften könne und werde". Vgl. Eva Hahndorff, Das Budgetrecht in den Verhandlungen des preußischen

Ein Beitrag zur preußischen Verfassungsgeschichte von 1848-1866, Berlin 1931, S. 14 ff.; Günther Grünthal, Parlamentarismus in Preußen 1848/49-1857/58. Preußischer Konstitutionalismus, Parlament und Regierung in der Reaktionsära, Düsseldorf 1982, S. 126 ff.; Hans-Christof Kraus, Ursprung und Genese der „Lückentheorie" im preußischen Verfassungskonflikt, in: Der Staat 29 (1990), S. 209-234, hier S. 214 ff. Vgl. hierzu Hans-Christof Kraus, Konstitutionalismus wider Willen Versuche einer Abschaffung oder Totalrevision der preußischen Verfassung während der

Landtags phil. Diss.

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Militärreform oder Verfassungswandel?

231

die Struktur des 1854 endgültig konstituierten Herrenhauses angeht93, so war gerade der niedere Adel entschlossen, seine hierdurch festgeschriebene relativ starke Stellung im Rahmen des VerfassungsUnd

was

halten. Man darf nicht vergessen, daß die Junker über die Erfahrung einer doppelten revolutionären Bedrohung verfügten: Sie hatten nicht nur die Ereignisse von 1848 als „Revolution von unten", sondern auch die Reformen der Jahre ab 1807, die von ihnen als „Revolution von oben" empfunden worden waren, hinter sich gebracht und besaßen daher ein besonders starkes Mißtrauen gegenüber jeder Art eines von oben verordneten Verfassungswandels. Schließlich waren sie im Jahre 1848 die wichtigste Stütze des bedrohten Thrones der Hohenzollern gewesen und meinten nicht zuletzt aus diesem Grunde, einen Anspruch auf das Weiterbestehen besonderer Vorrechte zu haben.94

systems

zu

Reaktionsära (1850-1857), in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte N. F. 5 (1995), S. 157-240. Vgl. Erich Jordan, Friedrich Wilhelm IV. und der preußische Adel bei Umwandlung der ersten Kammer in das Herrenhaus. 1850 bis 1854, Berlin 1909; neuerdings vor allem Spenkuch, Das Preußische Herrenhaus (wie Anm. 26), S. 52 ff. u.

passim.

In diesem Zusammenhang sollte auch die Neue Ära zwischen 1858 und 1861 nicht überschätzt werden. Die nach dem Regentschaftsbeginn aufkeimenden großen Hoffnungen der Liberalen auf eine tiefgreifende politische Wende in Preußen gründeten sich auf eine doppelte Täuschung: Zum einen auf die Annahme grundlegender politischer Differenzen zwischen dem Prinzregenten und seinem Bruder und Vorgänger. Obwohl es seit den frühen 1850er Jahren eine Reihe von schweren Konflikten zwischen beiden gegeben hatte (etwa über das Freimaurertum des Prinzen von Preußen und seines ältesten Sohnes oder über Preußens Außenpolitik im Krimkrieg), waren sich beide doch darin einig, daß Preußen die Grundlagen des „monarchischen Prinzips" also des politischen Übergewichts der Krone gegenüber dem Parlament ohne Gefahren für seinen Bestand nicht verlassen dürfe. Und zum anderen hatte die Entlassung der beim liberalen Bürgertum verhaßten Regierung Otto von Manteuffels Hoffnungen auf eine neue, liberale Ära geweckt, die vom Regenten und späteren König abgesehen von einiger politischer Kosmetik weder erfüllt werden konnten noch wollten. Man darf hierbei nicht vergessen, daß die Generation Friedrich Wilhelms IV. und Wilhelms I. sowie der etwa gleichaltrigen Angehörigen der damaligen preußischen Führungsschicht durch das Erlebnis des Jahres 1806, durch den damaligen schnellen Zusammenbruch des preußischen Staates, zutiefst geprägt worden war. Das Trauma „1806" tauchte in allen scheinbaren oder auch wirklichen Gefahrensituationen (1830/31, 1840, 1848, 1862/63) immer wieder auf und bestimmte das Denken und Handeln der entsprechenden politischen Protagonisten dieser Zeit. Nicht zuletzt war es das innerste Anliegen Wilhelms I., mit seiner ab 1859 initiierten Heeresreform einen zentralen Beitrag dafür zu leisten, daß sich ein „neues 1806" nicht wiederholen konnte. Eine Verfassungsordnung, die das Bürgertum gegen-

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Hans-Christof Kraus

232

die anfangs formulierte Fragestellung noch einmal aufzugreifen abschließend sagen können, daß ein wirklicher Verfassungswandel um 1862/63 aus der Rückschau zwar durchaus denkbar, doch in der realen und konkreten Situation, vor allem aber mit dem vorhandenen Personal, nicht möglich gewesen ist. Um die verfestigten politischen Strukturen und auch die Mentalität innerhalb der preußischen Führungsschichten aufzubrechen, hätte es Persönlichkeiten von ganz anderem politischem, aber auch intellektuellem Format bedurft, doch weder Kronprinz Friedrich, noch die politisch wie persönlich ehrenhaften und in ihren Bestrebungen untadeligen „deutschen ein solches aufweisen. konnten Format Whigs" Man wird also

um

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über dem Adel gestärkt, die also einer gewählten parlamentarischen Versammlung ein ausschlaggebendes Gewicht bei der Entscheidung über Struktur und Stärke des preußischen Heeres zugesichert hätte, kam daher für den König und die große Mehrheit des preußischen Führungspersonals dieser Zeit unter keinen Umständen in Frage! Der Beginn eines neuen Verhältnisses zwischen Adel und Bürgertum zeichnet sich dagegen erst in den Jahren um und nach 1866 ab; die Bismarckschen Einigungskriege wirkten auf beiden Seiten als integrierendes Moment, das- langfristig helfen sollte, alte Fronten und Gegensätze zu überbrücken. Hermann Baumgartens Formulierungen von 1866 (siehe oben, vor Anm. 78) dürften der Überzeugung weiter Kreise des norddeutschen Bürgertums Ausdruck verliehen haben. -

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Hartmut Berghoff

Adel und Industriekapitalismus im Deutschen Kaiserreich -Abstoßungskräfte und Annäherungstendenzen zweier Lebenswelten

Der Adel gehörte im Deutschen Kaiserreich zu den schärfsten Kritikern des aufsteigenden Industriekapitalismus. Mit den Kampfbegriffen „Mammonismus", „Materialismus" und „Manchestertum" prangerte er die moralischen und sozialen Kosten des neuen Wirtschaftssystems an, die in der Verwahrlosung breiter Volksschichten und dem Zerfall der althergebrachten Sozialordnung zu bestehen schienen. Dabei wurde das von nur wenigen Zeitgenossen in seiner ökonomischen Funktion verstandene Börsenwesen zum Symbol eines zügellosen Kapitalismus, der das Allgemeinwohl und vor allem die eigene gesellschaftliche Position bedrohte. Mit dieser Einstellung stand der Adel keineswegs allein, sondern teilte sie mit bedeutenden Teilen des Bildungsbürgertums. Der Göttinger Rechtsgelehrte Rudolph von Jhering, der als nobilitierter Hochschullehrer beiden Sozialgruppen angehörte, charakterisierte 1884 Aktiengesellschaften wie folgt: „Die Verheerungen, die sie im Privatbesitz angestiftet haben, sind ärger, als wenn Feuers- und Wassernoth, Misswachs, Erdbeben, Krieg und feindliche Occupation sich verschworen hätten, den Nationalwohlstand zu

ruiniren."1

von Jhering, Das Zweck im Recht, Bd. 1, Leipzig 1884 S. 223, zit. n. Johann Christian Meier, Die Entstehung des Börsengesetzes vom 22. Juni 1896, St. Katharinen 1992, S. 54.

Rudolph

,

Hartmut

234

Berghoff

Hintergrund dieser aus heutiger Sicht grotesken Übertreibung war der „Hexensabbat"2 des Gründerkrachs von 1873. Die rasche Abfolge von Boom (1866-73), Zusammenbruch der Börse und sechsjähriger Depression (1873-79) war zweifelsohne das Schlüsselerlebnis des jungen Kaiserreichs, das die Kapitalismusskepsis seiner Eliten maßgeblich geprägt hat. Die nie mehr verstummende, oftmals antisemitisch gefärbte Kritik an „Spekulantentum" und unberechenbaren Konjunkturausschlägen erreichte in den frühen 1890er Jahren unter dem Eindruck rasch verfallender Getreidepreise, reduzierten Zollschutzes und entsprechend forcierter agrarischer Agitation einen Höhepunkt. Der adligen Börsenkritik ging es weniger um die Beseitigung der objektiv vor-

handenen Mißstände des deutschen Börsenwesens, sondern vielmehr um eine grundsätzliche Verteidigung der angestammten Hegemonie agrarisch-aristokratischer Eliten. Wenn sie die „eiserne Pflugschar" gegen die „goldene Kouponschere"3 ausspielten, sollte die Börse als Zentrum und Symbol des Industriekapitalismus getroffen werden. Tatsächlich gelang es dem Großgrundbesitz, mit dem Börsengesetz von 1896 überaus restriktive Regelungen durchzusetzen, die weit über die von der Börsenenquete (1892-93) gemachten Reformvorschläge hinausgingen. Unter anderem trat 1897 ein völliges Verbot des Terminhandels mit Getreide und Industrieaktien in Kraft.4 Die Debatte um das Börsengesetz ist für das Verhältnis des Adels zur kapitalistischen Welt in dreifacher Hinsicht aussagekräftig. Erstens offenbarte sie auf seiten des Adels ein tiefes Unverständnis für zentrale marktwirtschaftliche Zusammenhänge. Hermann Graf von ArnimMuskau sprach als Mitglied der Börsenenquete von einem „Geheimniß, das gewissermaßen über der Börse liegt" und deutete den TerminOtto Glagau, Der Börsen- und Gründungs-Schwindel in Berlin, Leipzig 1876, Bd. 1, S. 14. „Speculation und Schwindel sind die beiden Mächte, die heute auf dem Thron der Welt sitzen, unter deren Herrschaft die civilisirte Menschheit seufzt und stöhnt, siecht und verkümmert. Wenn Speculation und Schwindel einen ausserordentlichen Fang gethan haben, wenn in ihrem Netze Millionen zappeln, dann spricht die moderne Volkswirthschaft von einer Krisis,...". Ebd., S. 1. Zit. n. Meier, Entstehung (wie Anm. 1), S. 53. Ausführlich Meier, Entstehung (wie Anm. 1), S. 89-315. Knapp Martin Steinkühler, Agrar- oder Industriestaat: Die Auseinandersetzung um die Getreidehandels- und Zollpolitik des Deutschen Reiches 1879-1914, Frankfurt/M. 1992, S. 291-324 u. Hartmut Harnisch, Agrarstaat oder Industriestaat. Die Debatte um die Bedeutung der Landwirtschaft in Wirtschaft und Gesellschaft Deutschlands an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, in: Heinz Reif (Hg.), Osteibische Agrargesellschaft im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Agrarkrise, junkerliche Interessenpolitik, Modemisierungsstrategien, Berlin 1994, S. 33-50. ...

...,

Adel und

235

Industriekapitalismus

handel mit Getreide als „Ursache alles Übels ..., das für die Landwirthschaft in den letzten Jahren eingetreten ist".5 So wurde besonders der komplexe Optionsscheinhandel von ihm und den meisten seiner Standesgenossen nicht nur als reines „Börsenspiel" oder Wette mißverstanden, sondern auch für die Volatilität der Aktienkurse und den Verfall der Getreidepreise verantwortlich gemacht. Letzterer ging aber tatsächlich auf die globale Zunahme von Anbauflächen und Ernteerträgen sowie auf die voranschreitende verkehrstechnische Integration der Weltwirtschaft zurück. Der Terminhandel an den Produktenbörsen lag nicht zuletzt auch im Interesse der Landwirte, da er ihnen mittelfristig eine sichere Kalkulationsbasis verschaffte, saisonale Preisschwankungen ausglich sowie die Breite und Transparenz des Marktes erhöhte. Zweitens war das Börsengesetz von 1896 alles andere als praktikabel. Die auf Druck des agrarisch-aristokratischen Lagers aufgenommenen restriktivsten Regelungen erwiesen sich entweder als wirkungslos oder aber als so dysfunktional, daß sie notgedrungen unterlaufen werden mußten, was zu Rechtsunsicherheit und erhöhten Transaktionskosten führte. Die Flut der Beschwerden riß daher nicht mehr ab, bis die Börsenrechtsnovelle von 1908 den Terminhandel mit Industrieaktien explizit und den mit Getreide de facto legalisierte. Der Ertrag der Börsenagitation war aus Sicht der Großgrundbesitzer gleich Null gewesen. Ihr antikapitalistisch inspirierter Obstruktionskurs hatte sich binnen weniger Jahre marktwirtschaftlichen Sachzwängen beugen müssen.

Gesetzgebungsverfahren 1896 mit einer kaum zu überbietenden Blamage für das agrarische Lager. In der dritten Lesung des Reichstages enthüllte nämlich ein Sozialdemokrat, daß Berthold von Ploetz (1844-1898), der als Vorsitzender des Bundes der Landwirte und konservativer Abgeordneter an der Spitze der adligen Börsenkritik stand, insgeheim selbst mit Effekten und den von ihm verteufelten Getreideterminkontrakten spekuliert hatte. Seine von „Heiterkeit" unterbrochene Verteidigungsrede machte alles noch viel schlimmer. Da es sich beim Getreideterminhandel um eine komplizierte, ihm nicht geläufige Materie handele, habe ihm ein Fachmann „vorDrittens endete das

geschlagen, einen kleinen Versuch zu machen, da würde mir die Sache schon klar werden. (...) Ich habe mit den kleinsten Summen gehandelt, die statthaft sind." Aus „Heiterkeit" wurde schließlich „Große Heiterkeit", als von Ploetz nachgewiesen werden konnte, daß er die MindestZit.

n.

Meier, Entstehung (wie Anm. 1), S. 37

u.

218.

Hartmut

236

Berghoff

einsätze um ein Vielfaches überschritten und nicht bloß zum Studium" spekuliert hatte.6 Die Entstehungsgeschichte des Börsengesetzes ist nicht nur bezeichnend für die Realitätsblindheit und Scheinheiligkeit der agrarischen Agitation, sondern auch für die grundsätzliche Ambivalenz, mit der die deutsche Aristokratie dem unaufhaltsamen Vordringen des Industriekapitalismus begegnete. „Wäre das Landjunkertum in einer Epoche der 'permanenten Revolution' lediglich reaktionär gewesen, wäre es nicht auch fortschrittlich und modern geworden, so hätte es sich unmöglich als eine privilegierte Herrenschicht bis in das 20. Jahrhundert halten können"7, urteilte bereits Hans Rosenberg über das Nebeneinander von Rückwärtsgewandtheit und Anpassungsfähigkeit, ohne jedoch das Mischungsverhältnis genauer zu spezifizieren.8 Während er sich mit Blick auf den Fluchtpunkt 1933 vor allem auf die politischen Konsequenzen der „Ausbeutung demokratischer Methoden für undemokratische Ziele" und die mentalitätsbildende Beharrungskraft überkommener Privilegien konzentrierte, soll es hier um soziokulturelle Einstellungen und eng damit verbunden um ökonomische Entscheidungen gehen. Gerade an diesem für das materielle Überleben der Aristokratie zentralen Punkt blieben Rosenberg und ein Großteil der ihm nachfolgenden Literatur unpräzise und widersprüchlich. Laut Rosenberg war der Gutsadel des Kaiserreichs einerseits eine homogene Schicht, die sich „in ihren Geschäftsmethoden und wesentlichen sozialen Charakterzügen von den meist bürgerlichen Industrieunternehmern grundsätzlich nicht mehr unterschied." Andererseits habe sie aufgrund ihres bornierten Standesdünkels „die Gelegenheit" verpaßt, „den Anschluß an die glanzvolle industrielle Entwicklung des Kaiserreichs „

...

zu

finden."9

Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages, IX. Legislaturperiode, IV. Session, 1895/97, 4. Bd. (19. Mai 2. Juli 1896), S. 2427

2439. Hans Rosenberg, Die Demokratisierung der Rittergutsbesitzerklasse, in: Zur Geschichte und Problematik der Demokratie. Festgabe für Hans Herzfeld, Berlin 1958, S. 460. Ganz ähnlich auch Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3: Von der „Deutschen Doppelrevolution" bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 1849-1914, München 1995, Bd. 3, S. 170-177, 807, u. Hanna SCHISSLER, Die Junker. Zur Sozialgeschichte und historischen Bedeutung der agrarischen Elite in Preußen, in: Hans-Jürgen Puhle u. Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Preußen ¡m Rückblick, Göttingen 1980, S. 106. Rosenberg, Demokratisierung (wie Anm. 7), S. 468 f. -

u.

Adel und

Industriekapitalismus

237

Dieser Beitrag zielt auf eine Präzisierung dieses Urteils ab. Er untersucht zunächst, inwieweit es dem Adel gelang, an den Erwerbschancen des Industriekapitalismus zu partizipieren. Welche Brücken verbanden die Welt des Adels mit derjenigen von Kommerz und Industrie? Wie zahlreich wurden sie frequentiert, wie breit und tragfähig waren sie? In einem zweiten Hauptteil ist danach zu fragen, welche soziokulturellen Hindernisse der Überquerung dieser Brücken entgegenstanden? Wie tief waren die zu überwindenden Gräben, und wie erklärt sich deren Existenz? 1. Brücken zwischen Adelswelt und

Industriekapitalismus

Zunächst ist eine idealtypische und somit stark vereinfachende Klassifizierung vorzunehmen. Um im Bild zu bleiben, lassen sich vier Brükken identifizieren, die jeweils sehr unterschiedliche Implikationen für die Lebensführung des Adels besaßen, aber in der Diskussion oft sträflich vermischt werden. Erstens konnte ein Aristokrat Inhaber einer Personal- oder Vorstand einer Kapitalgesellschaft werden, d. h. gleichsam den Unternehmerberuf ergreifen. Eine solche Hauptbeschäftigung widersprach eindeutig dem adligen Verhaltenskodex, kam aber durchaus vor. Einen wesentlich geringeren Zeitaufwand und einen nur minder schweren Verstoß gegen standesspezifische Normen verursachte zweitens die Übernahme eines Aufsichtsratsmandates oder einer Teilhaberschaft. Damit war ein direktes Engagement in einem Unternehmen gegeben, das sich auf die Ausübung von Kontrollrechten und die Erzielung von Tantiemen- bzw. Dividendeneinkünften beschränkte. Drittens muß die indirekteste und für die soziokulturelle Selbst- und Fremdwahrnehmung folgenloseste Form der Teilnahme an der industriellen Welt genannt werden: die Zeichnung von Aktien. Diese Investitionen brachten zwar wirtschaftliche Risiken und Chancen mit sich, erforderten aber nur einen geringen Zeitaufwand und konnten im Gegensatz zu den zwei vorhergehenden Formen des Engagements in der Regel unbemerkt von der Öffentlichkeit vorgenommen werden. Der Fall von Ploetz zeigt, daß der Vorteil der Anonymität für adlige Investoren sehr wichtig war, allerdings bei exponierten Persönlichkeiten gelegentlich auch in sein Gegenteil umschlug. Viertens schließlich ist auf die geradezu klassische Form des adligen Investments außerhalb der Landwirtschaft im engeren Sinn hinzuweisen. So besaß die Ausdehnung der Guts- bzw. Grundwirtschaft in angrenzende industrielle Branchen hinein eine lange Tradition. Dies schlug sich z. B. in der

Hartmut

238

Berghoff

Weiterverarbeitung agrarischer Produkte oder der Ausnutzung des Holz-, Energie- und Rohstoffreichtums adliger Ländereien nieder.10 Adlige als Unternehmensleiter und Vorstände

1.1.

neueren Studien zur Unternehmerschaft des Kaiserreichs weisen unisono auf die hohe Selbstrekrutierungsrate des Wirtschaftsbürgertums hin. Die Herkunft aus dem Altadel war ebenso selten wie der Aufstieg aus dem Proletariat. Kaelble gibt in seiner Auswertung der in die Neue Deutsche Biographie aufgenommenen Unternehmer für 1871-1918 eine Quote von 2% an, deren Väter dem Großgrundbesitz angehörten. Pierenkemper identifizierte unter den Leitern schwerindustrieller Betriebe in Westfalen 3,6 %, deren Väter „Gutsherren" waren. Reitmayer hat unter 376 Mitgliedern der Hochfinanz des Kaiserreichs nur fünf Söhne (2,3%) von Gutsbesitzern und zwei (0,9%) von Offizieren nachgewiesen. Berghoff und Möller fanden in ihrem Sample Frankfurter, Dortmunder und Bremer Unternehmer 3,5% Söhne Adliger. Then stellte im Gegensatz zu England eine fast völlige Absenz des deutschen Adels an der Spitze von Eisenbahngesellschaften fest. Für fünf bayerische Städte gibt Schumann 2,8 % an, betont aber gleichzeitig das fast völlige Fehlen des alten Landadels. Zumeist handelte es sich überwiegend um Familien, die seit dem 16. Jahrhundert aus dem städtischen Patriziat über den Erwerb von Grundherrschaften in den reichsritterlichen Landadel aufgestiegen waren." Ein

Alle

Vgl. Wilhelm Treue, Das Verhältnis von Fürst, Staat und Unternehmer in der Zeit des Merkantilismus, in: VSWG 44 (1957), S. 27 u. 37 f.; Friedrich LÜTGE, Deutsche Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Berlin 19663, S. 375-378.; Harald WiNkel, Die Ablösekapitalien aus der Bauernbefreiung in West- und Süddeutschland, Stuttgart 1968, S. 27-38; Jürgen Kocka, Unternehmer in der deutschen Industrialisierung, Göttingen 1975, S. 25 u. 52. Vgl. Hartmut Kaelble, Long-Term Changes in the Recruitment of the Business Elite: Germany compared to the U.S., Great Britain, and France since the Industrial Revolution, in: Journal of Social History 13 (1980), S. 409; Toni Pierenkemper, Die westfälischen Schwerindustriellen 1852-1913, Göttingen 1979, S. 44; Morten Reitmayer, Bankiers im Kaiserreich. Sozialprofil und Habitus der deutschen Hochfinanz, Diss. Hannover 1996, S. 421; Hartmut Berghoff u. Roland Möller, Tired pioneers and dynamic newcomers? A comparative essay on English and German entrepreneurial history, 1870-1914, in: EcHR 67 (1994), S. 267; dies., Unternehmer in Deutschland und England 1870-1914. Aspekte eines kollektivbiographischen Vergleichs, in: HZ 256 (1993), S. 360; Volker Then, Eisenbahnen und Eisenbahnunternehmer in der Industriellen Revolution. Ein preußisch/deutsch-englischer Vergleich, Göttingen 1997, S. 219 u. 249 f. u. Dirk

Adel und

Industriekapitalismus

239

methodisches Problem dieser Untersuchungen besteht in der Tatsache, daß entweder nicht zwischen bürgerlichem und adligem Großgrundbesitz oder nicht zwischen Alt- und Neuadel unterschieden wurde. Da frisch nobilitierte Unternehmer und deren Söhne in der Regel fest in der wirtschaftsbürgerlichen Lebens- und vor allem Arbeitswelt verwurzelt blieben und auch vom Altadel nicht als gleichberechtigte Standesgenossen anerkannt wurden, muß diese Gruppe für die hier interessierenden Fragen ausgeklammert werden.12 Aus diesem Grund handelt es sich bei den genannten Zahlen um Maximalwerte. Der tatsächliche Anteil des Altadels an der Unternehmerschaft lag deutlich niedriger. In ihrer Kollektivbiographie der deutschen MultimillionärUnternehmer hat Augustine dagegen scharf zwischen Alt- und Neuadel unterschieden. Von 502 dieser superreichen und daher für die gesamte Unternehmerschaft nicht repräsentativen Geschäftsmänner gehörten immerhin 5,2% Familien an, die vor 1800 einen Adelstitel erworben hatten. Weiteren 2,4% war er zwischen 1800 und 1870 verliehen worden. Die Auswertung zeigt weiterhin, daß dieser Teil des Altadels selbst innerhalb der deutschen Vermögenseliten als überdurchschnittlich reich gelten konnte, da er in der höchsten Vermögensklasse über-

repräsentiert war.13

Es ist also zweifellos zutreffend, daß es sich bei diesen Adelsunternehmern um sehr außergewöhnliche Vertreter ihrer Gesellschaftsschicht handelte. Neben einigen der gemeinhin bekannten oberschlesischen Magnaten, auf die unten detailliert eingegangen wird, gehörte zu der Gruppe adliger Direktoren bzw. Inhaber z. B. der Mitbegründer der

12

Schumann, Bayerns Unternehmer in Staat und Gesellschaft 1834-1914, Göttingen 1992, S. 84 f. Ausführlich Hartmut Berghoff, Aristokratisierung des Bürgertums? Zur SozialUnternehmern in Preußen und Großbritannien u. Dolores L. Augustine, Patricians and Parvenus: Wealth and High Society in Wilhelmine Germany, New York 1994, S. 147-151. Vergleiche dagegen das Fehlurteil von Hans-Konrad Stein, Der preußische Geldadel des 19. Jahrhunderts. Untersuchungen zur Nobilitierungspolitik der preußischen Regierung und zur Anpassung der oberen Schichten des Bürgertums an den Adel, 2 Bde., Diss. Hamburg 1982, S. 72 ff. Vgl. Dolores L. Augustine, Die wilhelminische Wirtschaftselite: Sozialverhalten, soziales Selbstbewußtsein und Familie, Diss. FU Berlin 1991, S. 365 u. 367. In einem Sample von 183 Spitzenindustriellen des Jahres 1907, das aber auch Aufsichtsräte umfaßte, kam Hartmut Kaelble unter Mitarbeit von Hasso Spode, Sozialstruktur und Lebensweisen deutscher Unternehmer 1907-1927, in: Scripta Mercaturae 24 (1990), S. 132-178, S. 173, zu einer Quote von 8 % Altadligen

geschichte

der

Nobilitierung

von

1870-1918, in: VSWG 81 (1994), S. 199-203

13

(Nobilitierung vor 1806).

Hartmut

240

Berghoff

von Arco (1869-1940). Als Offizier eines Berliner Garderegiments geriet er aufgrund seiner technischen Interessen bei seinen Standesgenossen in eine Außenseiterposition. Seit 1893 studierte er Physik. Danach arbeitete er eine Zeitlang als Assistent an der Technischen Hochschule Charlottenburg und seit 1898 als Ingenieur für die AEG. Seine bedeutendsten Erfindungen machte er auf dem Gebiet der Hochfrequenztechnik. Von 1903 bis 1930 fungierte er als technischer Direktor der Telefunken-Gesellschaft.14 Bei dem Chemiker Carl Alexander von Martius (1838-1920) spielte ebenfalls die technische Kompetenz eine große Rolle. Von Arco unterschied ihn jedoch seine quasi halbbürgerliche Abstammung. Sein Vater, der Botaniker Carl Ritter von Martius, war 1820 in den bayerischen Personaladel erhoben worden. Martius gründete nach einer wissenschaftlichen Laufbahn 1867 ein Unternehmen, das 1872 in der Agfa aufging. Zwischen 1880 und 1898 leitete er die Agfa und gehörte danach dem Aufsichtsrat an. In Verbänden, Ausschüssen und im Herrenhaus setzte sich Martius für die Interessen der chemischen Industrie ein. 1903 wurde er in den preußischen Adelsstand erhoben.15 Ganz ähnlich verlief die Karriere des Karl Freiherr Auer von Welsbach (1858-1929). Sein Vater Alois war als Direktor der Wiener Hofdruckerei 1860 zum Ritter geschlagen worden. Nach einem naturwissenschaftlichen Studium betätigte sich Auer als Erfinder und entwickelte u. a. 1898 die Osmium-Metallfadenlampe, aus der die Osram-Lampe hervorging. Auer gründete mehrere Unternehmen, u. a. die Deutsche Glasglühlicht AG. 1901 wurde Auer in den österreichischen Freiherrenstand erhoben.16 Die wenigen Angehörigen des Altadels, die in dem von ihren Standesgenossen mit besonderem Argwohn betrachteten Bankwesen Führungsaufgaben wahrnahmen, weisen allesamt ein Ausnahmeprofil auf. Ihr Weg in die Finanzwelt war nicht Ergebnis einer bewußten Karriereentscheidung und vollzog sich ausnahmslos ohne einschlägige bankkaufmännische Fachausbildung. Vielmehr spielten verwandtschaftliche oder soziale Beziehungen eine entscheidende Rolle. Ferner konnte

Telefunken, Georg Graf

4

5 6

Bd. 1, Berlin 1953, S. 337 f.; Eberhard Schmieder, Zum sozialen Wandel wirtschaftlich führender Kreise Berlins im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, in: Sociológica Internationalis 8 (1970), S. 197. Vgl. NDB, Bd. 16, Berlin 1990, S. 309 f.; Schmieder, Wandel (wie Anm. 14), S. 197. Vgl. NDB. Bd. 1, Berlin 1953, S. 432 f. u. Österreichisches Biographisches Lexikon, 1815-1950. Bd. 1, Graz 1957, S. 35.

Vgl. NDB,

Adel und

Industriekapitalismus

241

auch der Umweg über eine Karriere im Staatsdienst in das Direktorium einer Bank fuhren. Maximilian von Klitzing (1855-1920) absolvierte eine Beamtenlaufbahn bei der Reichsbahn und der Provinzialverwaltung in Posen, stieg 1892 in das Reichsbankdirektorium auf und wechselte schließlich in den Vorstand der Darmstädter Bank. Ein entfernter Verwandter, Hans von Klitzing (1854-1930), war bis 1892 Landrat in Orteisburg, bevor er in die Direktion der Ostpreußischen Feuersocietät und später in den Vorstand der Preußischen Central-BodenkreditAktiengesellschaft wechselte. Für den Mitbegründer des Schlesischen Bankvereins, Joseph Graf von Hoverden (1798-1875), erwiesen sich seine engen Beziehungen zu den künftigen Großkunden der Bank, d. h. zu den schlesischen Magnaten, als wichtigstes Startkapital. Bruno Edler von der Planitz (1873-1950) heiratete die Tochter des Privatbankiers Friedrich Wilhelm von Krause (1838-1923), dessen Vater, ein Bankier und Eisenhüttenbesitzer, 1873 nobilitiert worden war. Durch diese Heirat wurde von der Planitz Mitinhaber des Bankgeschäfts seines Schwiegervaters. Ferner gab es auch ausländische Aristokraten, die sich im Bankwesen engagierten und zugleich in den deutschen Adel aufgenommen wurden. Baron Louis von Steiger (1855-1925) stammte aus einem Schweizer Adelsgeschlecht und folgte seinem Vater Ludwig Angelo Alonzo, einem Frankfurter Privatbankier, in das Bankfach. Von 1900 bis 1909 gehörte er dem Vorstand und von 1909 bis 1925 dem Aufsichtsrat der Dresdner Bank an. Der Bankier Friedrich von Neufville (gest. 1901) stammte aus einer französischen Adelsfamilie, die 1650 eine Privatbank in Frankfurt gegründet hatte. 1884 erfolgte die Aufnahme in den preußischen Adelsstand. Die Söhne führten die Bank fort. Carl von Stetten (1822-96) entstammte einer Augsburger Patrizier- und Bankiersfamilie und blieb diesem Metier treu. Insgesamt aber, so Reitmayers Resümee, blieb „die Kluft" zwischen Adel und Finanzwelt „während des gesamten Kaiserreiches nahezu unüber-

brückbar."17

Für die Industrie galt das nicht mit derselben Rigidität. In Franken weist Schumann auf zwei eindrucksvolle Fälle hin. In Nürnberg Reitmayer, Bankiers (wie Anm. 11), S. 466. Diese Bemerkung bezieht sich auch

auf das vergleichsweise seltene Konnubium zwischen Bankiers- und AdelsfamiliIn den meisten Fällen besaß der betreffende Bankier selbst ein Adelsprädikat. Vgl. auch ebd. S. 462-469. Zu den adligen Bankiers S. 423 u. Rudolf Martin, Jahrbuch des Vermögens und Einkommens der Millionäre in Preußen, Berlin 1912, Teil 2, S. 311 u. 336. Ich danke Morten Reitmayer und Dirk Schumann für die freundliche Überlassung biographischer Daten. en.

Hartmut Berghoff

242

aus einer der alten Patrizierfamilien, die im wesentlichen von ihrem städtischen Grundbesitz profitierten. 1855 kauften sie das ehemalige reichsstädtische Brauhaus. Seit 1873 leitete es Theodor Freiherr von Tucher persönlich, der sich 1898 nach der Umwandlung in eine Aktiengesellschaft in den Aufsichtsrat zurückzog. Friedrich Carl Alexander von Grundherr zu Altenthann und Weyershaus gründete zusammen mit einem Kaufmann eine Großhandlung für Drogerie- und Farbwaren. Ferner beteiligte er sich an der Gründung der Nürnberger Lebensversicherung und stand vorübergehend der mittelfränkischen Handelskammer vor.18 Einer der wohl spektakulärsten Fälle eines Unternehmers aus dem Altadel war Alexander Graf zu Casteli-Rüdenhausen (1866-1928), Rittmeister der bayerischen Kavallerie. Er stammte aus einem bereits im 12. Jahrhundert nobilitierten, reichsritterlichen Adelsgeschlecht Frankens und heiratete 1898 die Enkelin des 1863 nobilitierten und 1881 in den Freiherrenstand erhobenen Bleistiftfabrikanten Lothar Faber (1817-96). Dieser hatte das Kleinunternehmen seines Vaters durch die planmäßige Entwicklung eines Markenzeichens und eine frühe Exportorientierung zu ungeahnter Größe geführt und gehörte zu den reichsten Unternehmern Bayerns. Eine partielle Anlehnung an adlige Lebensweise kam durch den Erwerb umfangreicher Ländereien und den Bau eines Schlosses zum Ausdruck. Graf Alexander betrachtete die Heirat in die neureiche Fabrikantenfamilie keineswegs nur als Mittel zum Zweck der Verbesserung der eigenen Vermögenslage, sondern trat 1900 selbst in die Geschäftsleitung ein. Für die Fabers war dieser ungewöhnliche Schritt aufgrund des kompletten Ausfalls der eigenen männlichen Linie geradezu überlebensnotwendig. Da sowohl der Sohn als auch die beiden Enkel Lothar von Fabers bis 1893 gestorben waren, ging das Unternehmen nach dem Tod Lothars 1896 auf die Enkelin Sophie Ottilie über, wodurch ein Zwang zur raschen Gewinnung einer neuen männlichen Führungsgestalt entstand.19 Insgesamt

stammten die Tucher

Vgl. Schumann, Unternehmer (wie Anm. 11), S. 85. Vgl. Karen A. Kuehl, Das Faber-Castellsche Schloß in Stein bei Nürnberg (erb.

1903-06), Diss. Frankfurt/M. 1985; dies., Das Faber-Castellsche Schloß in Stein bei Nürnberg. Wohnsitz, Wahrzeichen, Werbesymbol, in: Leben und Arbeiten im Industriezeitalter. Ausstellungskatalog des Germanischen Nationalmuseums, Stuttgart 1985, S. 676-681; Jürgen Franzke, (Hg.), Das Bleistiftschloß. Familie und Unternehmen Faber-Castell in Stein, München 1986, S. 10-137 u. Jutta Seîtz, Lothar von Faber Der Gründer des fränkischen Bleistiftimperiums, in: Rainer A. Müller (Hg.), Unternehmer Arbeitgeber. Lebensbilder aus der Frühzeit der Industrialisierung in Bayern, München 1987, S. 220-228. -

-

Adel und

243

Industriekapitalismus

handelte es sich aber um einen außergewöhnlichen Vorgang. Nur ein kleiner Teil des Altadels ließ sich auf die direkteste Form des unternehmerischen Engagements ein.20 Die Entscheidung, die Trennlinie zum bürgerlichen Beruf zu überschreiten, erwies sich aber zumindest materiell häufig als außerordentlich lohnend. 1.2.

Adlige als Aufsichtsräte von Kapitalgesellschaften

Auswertung der Aufsichtsratsmandate kann man auf die Untersuchung von Eulenburg zurückgreifen, der für das Stichjahr 1905 Für die

6.783 Aufsichtsräte von 1.026 Aktiengesellschaften nach sozialen Kriterien klassifiziert hat. Das Ergebnis einer mit 62,7 % erdrückenden wirtschaftsbürgerlichen Dominanz und einer mit 29,4 % eklatanten Überrepräsentation des Finanzsektors überrascht keineswegs. Der als solcher nicht erfaßte Adel wurde überwiegend den Rubriken „Rittergutsbesitzer" und „Magnaten" zugeordnet. Auf sie entfielen 115 (1,7 %) bzw. 84 (1,2%) Sitze. Besonders die erste Gruppe war aber keineswegs rein aristokratisch. Auch ist davon auszugehen, daß die bürgerlichen Rittergutsbesitzer in den erfaßten Kapitalgesellschaften am aktivsten waren. Es bleibt also nur die Feststellung, daß der Großgrundbesitz mit 2,9% an den erfaßten Aufsichtsratsmandaten beteiligt war und der Anteil des Adels an dieser Gruppe vermutlich deutlich unter der Hälfte, d. h. bei ca. 1 % lag. Orientiert man sich vorerst weiterhin ausschließlich am Großgrundbesitz, ist die Aufteilung seiner Mandate nach Branchen aufschlußreich. Überall dort, wo der Bezug zu den Kernvermögenswerten, d. h. zu Grund, Boden und Wald, stark ausgeprägt war, engagierten sich Großgrundbesitzer überdurchschnittlich oft. Dies gilt für Hypothekenbanken, für die Holzverarbeitung und Papierherstellung, die Nahrungsmittel- und vor allem die (oberschlesische) Schwerindustrie sowie für Terrain- und Immobiliengesellschaften. Für die besonders agrarnahe Zuckerindustrie hat Ellerbrock für das Jahr 1895 sämtliche 188 Aktiengesellschaften analysiert. 23% wiesen einen rein aristokratischen und 47 % einen rein bürgerlichen Aufsichtsrat auf, während in 30% beide Sozialgruppen vertreten waren. Für alle Gesellschaftsformen zusammen gibt er einen Adelsanteil von

25,5%

an, wobei anzumerken

ist, daß es sich bei

den meisten die-

So auch das Fazit der ungemein detaillierten Studie von Hartwin Spenkuch, Das Preußische Herrenhaus. Adel und Bürgertum in der Ersten Kammer des Landtages 1854-1918, Düsseldorf 1998, S. 274.

Hartmut

244

Berghoff

Firmen um kleine, lokal orientierte Unternehmen handelte, die man als eine Art Anhängsel des Rübenanbaus klassifizieren kann.21 Landferne Branchen wie die Elektro-, Metall- oder Maschinenbauindustrie wiesen dagegen in der Eulenburgschen Untersuchung eine signifikante Unterrepräsentation auf. Reitmayer konnte bei den insgesamt wenigen adligen Aufsichtsräten deutscher Banken ein klares Muster feststellen. Ihre Präsenz war am stärksten in Hypothekenbanken, insbesondere in denen Württembergs, Bayerns und Schlesiens. In reinen Geschäfts- und Handelsbanken dagegen fungierten Adlige noch seltener als Aufsichtsräte, wenn man die nicht unbedeutende Zahl nobilitierter Bankiers und Unternehmer ausklammert. Hinzu kamen einige beamtete Adlige.22 Insgesamt wurde das Adelskontingent in den Aufsichtsräten nämlich durch Adlige im Staatsdienst erhöht. Allerdings sind die von Eulenburg gebildeten Gruppen „Offiziere", auf die 91 Sitze (1,3 %) entfielen, und „Staats- und Hofbeamte", die die beachtliche Zahl von 500 (7,4 %) Mandaten wahrnahmen, nicht weiter nach bürgerlichen, neuadligen und altadligen Mitgliedern aufgeschlüsselt worden.23 Die Staatsdiener wirkten vor allem in ganz oder teilweise öffentlichen Unternehmen. Jedoch war es im Kaiserreich auch im Privatsektor nicht ungewöhnlich, hohe aktive und ehemalige Beamte in den Aufsichtsrat zu berufen, um sich des Wohlwollens der Behörden zu versichern. So gehörte der Staatssekretär Freiherr von Stengel dem Aufsichtsrat der Darmstädter Bank an. Dem Kuratorium der Preußischen Bodenkreditbank stand der ehemalige Oberpräsident der Provinz Posen und Finanzminister a. D. Gustav von Bonin (1797-1878) vor.24 ser

Franz Eulenburg, Die Aufsichtsräte der deutschen Aktiengesellschaften, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 87 (3. Folge Bd. 32), 1906, S. 92104; Karl-Peter Ellerbrock, Geschichte der deutschen Nahrungs- und Genußmittelindustrie 1750-1914, Stuttgart 1993, S. 308 f. u. 441. Vgl. Eulenburg, Aufsichtsräte (wie Anm. 21), S. 96; Reitmayer, Bankiers (wie Anm. 11), S. 504 f. Als ein Beispiel sei Freiherr Rudolf von Simolin, der im Aufsichtsrat der Württembergischen Hypothekenbank saß, genannt. Vgl. Manfred Pohl, Baden-Württembergische Bankgeschichte, Stuttgart 1992, S. 167. Vgl. Eulenburg, Aufsichtsräte (wie Anm. 21), S. 96. Hinzu kamen noch 95 Aufsichtsratsmandate von Angehörigen der „Liberalen Berufe", unter denen sich vereinzelt Adelige wie der Arzt Albert Freiherr von Schrenck-Notzing befanden, der im Aufsichtsrat der Union Deutsche Verlagsgesellschaft saß. Vgl. Rudolf Martin, Jahrbuch des Vermögens und Einkommens der Millionäre in Württemberg mit Hohenzollern, Berlin 1914, S. 63. Vgl. Reitmayer, Bankiers (wie Anm. 11), S. 505; Glagau, Schwindel (wie Anm. 2), S. 34.

Vgl.

Adel und

245

Industriekapitalismus

Als Musterbeispiel eines adligen Politikers, der seine vorzüglichen Kontakte für geschäftliche Zwecke zu nutzen verstand und mehrere Aufsichtsratsmandate anhäufte, ist der freikonservative Abgeordnete im Reichstag und Preußischen Abgeordnetenhaus, Wilhelm von Kardorff-Wabnitz (1828-1907), zu nennen. Der durch seinen aufwendigen Lebensstil und den Kauf eines schlesischen Rittergutes hoch verschuldete Sproß einer alten mecklenburgischen Adelsfamilie saß vermittelt durch Bismarcks Hausbankier Bleichröder im Aufsichtsrat der Laurahütte, der Posen-Creutzburger Eisenbahn, der Deutschen Reichs- und Continental-Eisenbahnbau-Gesellschaft und der Preußischen Hypothekenbank. Die Stellung als bedeutender Industrieller der Region führte Graf Alexander von Faber-Castell in den Aufsichtsrat der Nürnberger Lebensversicherung. Eher aufgrund verwandtschaftlicher Beziehungen konnte sich Freiherr Friedrich von Gemmingen-Hornberg (1860-1924), der eine Tochter des BASFMitbegründers Gustav von Siegle geheiratet hatte, eine beträchtliche Anzahl von Mandaten u. a. in den Aufsichtsräten der Württembergischen Vereinsbank, der Neckarwerke und der WMF sichern.25 Tilo Freiherr von Wilmowsky (1878-1966) trat 1912 als junger Beamter im Innenministerium und angehender Merseburger Landrat in den Krupp-Aufsichtsrat ein. Hintergrund war allein die 1905 „auf dem Hügel" geschlossene Ehe mit einer Tochter Friedrich Alfred Krupps. Die Berufung erfolgte, so Wilmowsky, als „Beweis verwandtschaftlich-freundschaftlicher Gesinnung; denn ich war mir wohl bewußt, daß meine Befähigung in keiner Weise eine derartige Auszeichnung rechtfertigte". Vom Prestigewert her schien sie ihm der „Verleihung des Schwarzen Adlerordens" zu ähneln. Eine wirtschaftliche Funktion hatte das Mandat praktisch nicht. Der Kruppsche Aufsichtsrat „war eher ein Kreis von Freunden der Firma und der Familie, der offiziell... höchstens zweimal im Jahr zusammentrat, ..."26 Jedoch machte Wilmowsky auf diese Weise die Bekanntschaft führender Ruhrindustrieller.

-

25

26

-

Vgl. Glagau, Schwindel (wie Anm. 2), S. 96, 200 f. u. 214 ff.; Reitmayer, Bankiers (wie Anm. 11), S. 504; Gerhard Hirschmann, Stein. Vom Industrieort zur Stadt, Nürnberg 19912, S. 149; Martin, Württemberg (wie Anm. 23), S. 65 f. Eu-

lenburg, Aufsichträte (wie Anm. 21), S. 96, zählte nur 23 Mandate von Reichstags- und Landtagsabgeordneten. An der Tilo Freiherr von Wilmowsky, Rückblickend möchte ich sagen Schwelle des 150jährigen Krupp-Jubiläums, Oldenburg 1961, S. 159. ...

Hartmut

246

Berghoff

Ein anderer Typus des adligen Aufsichtsrates diente quasi als Aushängeschild, das für Seriosität bürgen sollte. Davon scheint besonders im Gründerboom häufig Gebrauch gemacht worden zu sein, worauf in praktisch jedem zeitgenössischen Kommentar hingewiesen wurde. Der „Neue Social-Demokrat" behauptete 1871 gar, es „sei jetzt der Augenblick gekommen, wo die alte Erbaristokratie ganz in der Geldaristokratie, der Bourgeoisie, aufgeht."27 Läßt sich diese Äußerung vielleicht noch als polemisch abtun, muß ihrer Bestätigung aus dem konservativen Lager ungleich schwereres Gewicht beigemessen werden. So schrieb die „Kreuzzeitung" 1872 ganz resignativ: „Ein Teil des Adels, auch des hohen, ist mit jüdischen und anderen Aktienschwindeleien liiert und kommt diesen an Gewinnsucht und Materialismus überhaupt gleich. Was soll nur werden, wenn dies so fortgeht?"28 Die Häufung solcher Bemerkungen spiegelt zunächst einmal das Skandalöse dieser Engagements wider. Zugleich neigten die Kommentatoren allesamt dazu, das Ausmaß der adligen Beteiligung stark zu übertreiben. In der Regel dienten nämlich nur einzelne Aristokraten als Galionsfiguren, die in den Aufsichtsräten oder Gründungskonsortien Außenseiter blieben. Die treibenden Kräfte waren durchgehend bürgerliche Geschäftsleute. Sehr systematisch verfolgte der „Eisenbahnkönig" Bethel Henry Strausberg die Taktik, mit wohlklingenden Adelsnamen in den Prospekten seiner Gesellschaften Investoren Solidität vorzutäuschen. Beim berüchtigten, vom Immobilienspekulanten Paul Munck gegründeten Lindenbauverein fand sich Gustav von Bonin unter den acht Initiatoren. Beim ebenfalls von Munck ins Leben gerufenen Aktienbau-Verein Passage nahm Kammerherr Louis von Prillwitz die Rolle des adligen Aushängeschildes unter insgesamt 13 Konsorten ein.29 Dem Gründungskomitee des spektakulär gescheiterten Berliner Palmenhauses Flora, einem exklusiven Vergnügungslokal, gehörten u. a. folgende Personen an: Polizeipräsident von Wurmb, Legationsrat Freiherr von Steffens und Fürst Wilhelm Malte Putbus, der wegen der unglücklichen Auswahl seiner Engagements bald schon Zit.

n.

Annemarie Lange, Berlin

zur

Zeit Bebeis und Bismarcks. Zwischen

Reichsgründung und Jahrhundertwende, Berlin 1972, S. 192. Zit. n. Lothar Machtan u. Dietrich Milles, Die Klassensymbiose von Junkertum und Bourgeoise, Frankfurt/M. 1980, S. 147. Vgl. ebd., S. 47; Heinz Gollwitzer, Die Standesherren. Die politische und gesellschaftliche Stellung der Mediatisierten 1815-1918, Stuttgart 1957, S. 256 ff. Vgl. Glagau, Schwindel (wie Anm. 2), S. 151-167. Allgemein Winkel, Ablösungskapitalien (wie Anm. 10), S. 159.

Adel und

247

Industriekapitalismus

Spitznamen „Fürst Kaputtbus" erhielt. Putbus zählte neben den Herzögen von Ratibor und Ujest (beide aus Schlesien) und dem Grafen Lehndorff-Steinort (Ostpreußen) auch zu den „Bürgen" der 1871 zusammengebrochenen rumänischen Eisenbahngesellschaft Strausbergs.30 Die großen Berliner Immobilienspekulanten dieser Jahre waren keine Adligen. Sie hießen Geber, Quistorp, Munck und Carstenn. Letzterer war jedoch 1870 nobilitiert worden. Diese Geschäftsleute instrumentalisierten häufig Adlige, die aber vergleichsweise passive Rollen spielten. Den in Großbritannien verbreiteten Typus des hochadligen „property developer" scheint es in Deutschland nicht oder kaum gegeben zu haben. In Berlin gab es kein Belgravia und an der Ostseeküste den

kein Eastbourne.31

Will man die adlige Tätigkeit in Aufsichtsräten quantitativ gewichten, bleibt angesichts fehlender, auf die hier verfolgten Fragestellungen zugeschnittener Untersuchungen nichts anderes übrig, als mit Hilfe der Ergebnisse Eulenburgs Schätzungen vorzunehmen. Seine Kategorien Magnaten, Rittergutsbesitzer, Offiziere und höhere Beamte besetzten zusammen 790 (11,6%) Aufsichtsratsmandate. Der Anteil des Altadels dürfte maximal bei 3-5 % gelegen haben. Vergleicht man diese Quote mit dem Anteil des Adels an den sozialen Gruppen, aus denen sich Aufsichtsräte überhaupt nur rekrutierten, ist eine deutliche Unterrepräsentation festzustellen.32

Angesichts

Vgl. Glagau, Schwindel (wie Anm. 2), 27), S. 192-198.

der

geringen

S. 186-195

u.

Größe des Adels

Lange, Berlin (wie

Anm.

Zu Großbritannien David Cannadine, Lords and Landlords. The Aristocracy and the Towns 1774-1969, Leicester 1980; J. V. BECKETT, The Aristocracy in England 1660-1914, Oxford 1986, S. 262-286; Hartmut Berghoff, Adel und Bürgertum in England 1770-1850. Ergebnisse der neueren Elitenforschung, in: Elisabeth Fehrenbach (Hg.) unter Mitarbeit von Elisabeth Müller- Luckner, Adel und Bürgertum in Deutschland 1770-1848, München 1994, insb. S. 119 f. Andeutungen zu adliger Stadtentwicklung in Berlin Rüdiger VON TRESKOW, Adel in Preußen. Anpassung und Kontinuität einer Familie 1800-1918, in: GG 17 (1991), S. 344-369, S. 363. Vgl. auch Dominic Lieven, Abschied von Macht und Würden. Der europäische Adel 1815-1914, Frankfurt/M. 1995, 147-153. Als Anhaltspunkt für diese Aussagen dienen die Schätzungen Werner Sombarts zur Sozialstruktur des Kaiserreichs. Vgl. Wehler, Gesellschaftsgeschichte (wie Anm. 8), S. 704 f. Zur „aufsichtsratsfähigen Bevölkerung" sind neben einem weit gefaßten Wirtschaftsbürgertum Rentiers, Adlige und Teile des Bildungsbürgertums, vor allem Juristen, Beamte und Ingenieure zu zählen. Sie stellten zusammen ca. 5 % der Reichsbevölkerung, wovon 0,5 % auf den Adel entfielen. Eine propor-

Hartmut

248

Berghoff

verbietet dieser Wert es jedoch, von einer generellen Abstinenz des Adels zu sprechen. In den Wirtschaftszweigen, die direkt an seine Kerninteressen Großgrundbesitz oder auch an den Staatsdienst angrenzten, scheute er sich nicht, Kontrollfunktionen wahrzunehmen. Auch ist festzuhalten, daß die Präsenz in Aufsichtsräten diejenige in den Vorstandsetagen deutlich überstieg. 1.3.

Adlige als Aktionäre

Die Analyse des Aktienbesitzes stellt sich noch schwieriger dar als die der Vorstands- und Aufsichtsratsmandate, weil breit angelegte, systematische Untersuchungen fehlen. Daher sind in bezug auf die quantitative Dimension noch nicht einmal Schätzungen möglich. Statt dessen können lediglich einzelne Beobachtungen und allgemeine Tendenzen zusammengestellt werden. Allem Anschein nach scheint die Anfang der 1870er Jahre vorhandene Euphorie von Teilen des Adels für spekulative Engagements nach dem Gründerkrach merklich abgekühlt und in dieser Form nicht mehr aufgetreten zu sein. Der Vorwurf der Sozialdemokratie, daß die adlige Börsenfeindschaft auch auf eigene Negativerfahrungen zurückzuführen sei, entbehrt in einigen Fällen sicherlich nicht einer realen Grundlage.33 Bei den Investitionen des Adels in Wertpapieren nahm der Sicherheitsaspekt einen hervorragenden Stellenwert ein. Bismarck, der sich an der Gründungsspekulation offensichtlich nicht beteiligt hatte, achtete sehr darauf, daß Bleichröder sein Geld vorrangig in Staatsanleihen und Pfandbriefen anlegte. Diese Papiere waren abgesehen von Bismarcks mexikanischen und ägyptischen Anleihen mit einem geringen Risiko behaftet. Hinweise auf Industrieund Bankaktien lassen sich nicht finden, jedoch gewisse Quantitäten an Eisenbahnaktien.34 Dieser Befund wird bestätigt durch sehr detaillierte Mikrostudien zu einzelnen Adelsfamilien. Weder bei den Waldburg-

tionale Teilhabe des Adels an den Aufsichtsratssitzen wäre also bei 10 % der Mandate gegeben gewesen. die Thatsache, daß Im Reichstag hatte der Abgeordnete Singer (SPD) erklärt: die Herren sich jetzt so über das Treiben der Börse entrüsten, läßt sich eben nicht anders erklären als aus dem Umstände, daß sie vielleicht zu sehr an der Börse gerupft worden sind ..." Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages, IX. Legislaturperiode, IV. Session, 1895/97, 4. Bd. (19. Mai 2. Juli 1896), S. 2421. Vgl. Fritz Stern, Gold und Eisen. Bismarck und sein Bankier Bleichröder, Frankfurt/M. 1978, S. 355-360. „...

-

Adel und

Industriekapitalismus

249

Zeils noch bei den Fürstenbergs fanden nennenswerte Käufe von Industrieaktien statt.35 Auch die Winkeische Untersuchung der Verwendung standes- und

grundherrlicher Ablösekapitalien erhärtet diese Aussage. Seinen Ergebnissen zufolge stellten Industrieinvestitionen die Ausnahme, Eisenbahnpapiere aber eine beliebte Form der Partizipation an den Gewinnchancen des Industriezeitalters dar. Daß dies keineswegs selbstverständlich war und der Eisenbahn anfangs große Vorbehalte entgegengebracht wurden, zeigt die Empörung eines westfälischen Grafen, mit der er wie die Mehrzahl seiner Standesgenossen 1844 die Bitte um einen Beitrag zur Finanzierung der Eisenbahn Münster-

Hamm zurückwies. „Er müsse sich sehr darüber wundern, wie man dem Adel zumuten könne, sein Geld zu einem solchen Unternehmen herzugeben, da der Adel nur diejenigen Unternehmen befördere, welche darauf ausgingen, das alte, sich täglich mehr auflösende 'patriarchalische Verhältnis' wieder herzustellen."36 Die neuere Untersuchung Thens über die Aktionärsstruktur früher deutscher und britischer Eisenbahngesellschaften zeigt, daß der deutsche Adel „Eisenbahnaktien sehr reserviert" gegenüberstand und seine Rolle „durchweg bedeutungslos" war.37 Weder bezogen auf das investierte Kapital noch auf die Aktionärsschaft erreichte er nennenswerte Anteile. Der Kontrast mit dem wesentlich reicheren und aufgeschlosseneren englischen Adel sticht ins Auge. Bei der BerlinHamburger Eisenbahn, bei der aufgrund der ostelbischen Streckenführung eine hohe Investitionsbereitschaft des Adels zu vermuten gewesen wäre, erreichten die Quoten des Adels am subskribierten Kapital 0,7% und an den Aktionären 2,5 %.38 Allem Anschein nach hat der Adel seine Distanz zu Eisenbahnaktiim en Laufe des 19. Jahrhunderts etwas abgebaut, denn hier kam es zu mehr Investitionen als im industriellen Bereich. Die Ursache der relativen Bevorzugung von Eisenbahnpapieren durch die Aristokratie erklärt sich vor allem aus der Sicherheit der oft mit staatlichen Garantien ver...

35

36

37 38

Adel in der bürgerlich-industrialisierten Gesellschaft. Eine sozialwissenschaftlich-historische Fallstudie über die Familie WaldburgZeil, Frankfurt/M. 1993, S. 428 f.; Erwein H. Eltz, Die Modernisierung einer Standesherrschaft. Karl Egon III. und das Haus Fürstenberg in den Jahren nach 1848/49, Sigmaringen 1980, S. 95-133, insb. S. 132. Louis Berger, Der alte Harkort. Ein westfälisches Lebens- und Zeitbild, Leipzig 1902, S. 321. Vgl. Winkel, Ablösungskapitalien (wie Anm. 10), S. 157-160. Then, Eisenbahnen (wie Anm. 11), S. 160 u. 170. Vgl. Then, Eisenbahnen (wie Anm. 11), S. 158 u. 161.

Vgl. Andreas Dornheim,

Hartmut

250

Berghoff

sehenen Aktien, die in mancher Hinsicht Staatsanleihen ähnelten. Zudem warfen Eisenbahnaktien im Durchschnitt höhere Renditen als festverzinsliche Papiere ab. Schließlich gab es auch einen Nexus zum Landbesitz des Adels, wenn die Strecken durch seinen Grund verliefen. Keine Regel ohne Ausnahmen. Ausgiebige Industrieinvestitionen sind von den Fuggern bekannt, die an verschiedenen Textilunternehmen, einer Leder- und Ölfabrik sowie auch an diversen Eisenbahnen beteiligt waren.39 Der Freiherr von Berlichingen hielt 1870 neben zahlreichen Eisenbahn- und Staatsobligationen auch einige Aktien der Österreichischen Nationalbank und der Baumwollspinnerei Esslingen.40 In Mecklenburg und Pommern hielten Großgrundbesitzer erhebliche Anteile an Zuckerfabriken. In Sachsen, Braunschweig und Hannover dominierten Bauern, in Westpreußen, Posen und Schlesien Industrie-, Handels- und Finanzkapital. Generell scheint zu gelten, daß die expandierenden Zuckerproduzenten mit überregionaler Bedeutung wie z. B. die Glauzig AG überwiegend reine „Geldaktienfabriken" waren, d. h. Anlagegesellschaften für über die Börse eingeworbenes bürgerliches Kapital.41 Eine andere Form des Aktienerwerbs als die Investition eigener Mittel ist in der bisherigen Diskussion häufig übersehen worden. In einem nicht unbedeutenden Ausmaß erbte bzw. erheiratete der deutsche Adel nämlich Aktienpakete. Eheschließungen adliger Männer mit Töchtern reicher Unternehmer fanden keineswegs selten statt. Im markanten Kontrast zur viel stärker ausgeprägten wirtschaftsbürgerlichen Endogenität des Heiratsverhaltens der Unternehmersöhne stand das offenere Konnubium der Unternehmertöchter, die wirtschaftsfremden Gruppen gegenüber aufgeschlossener waren. Ihre Eheverbindungen waren für die Sicherung der betrieblichen Kontinuität zumeist, d. h. wenn es Brüder gab, nicht entscheidend. Aus Sicht des Adels fand ein Zugewinn ökonomischer Substanz statt, ohne dabei den eigenen Namen oder die vertraute Lebensweise aufgeben zu müssen. Augustine fand unter den Schwiegersöhnen der bürgerlichen Multimillionärsunternehmer des Kaiserreichs 22,9%, die dem Altadel entstammten. Un-

Vgl. Winkel, Ablösungskapitalien (wie Anm. 10), mer

S. 83; Schumann, Unterneh-

(wie Anm. 11), S. 84.

Vgl. Winkel, Ablösungskapitalien (wie Anm. 10), S. 143. Vgl. Otto Biermann, Der Einfluß der deutschen Rübenzuckerindustrie

auf die

Landwirtschaft, Diss. Würzburg 1922, S. 134-152; Ellerbrock, Geschichte (wie Anm. 21), S. 309.

Adel und

Industriekapitalismus

251

den Schwiegersöhnen der Vorstands- und Aufsichtsratsvorsitzenden der 100 größten deutschen Industrieunternehmen des Jahres 1907 identifizierten Kaelble und Spode 53 % Angehörige des Altadels. Diese Zahlen dürfen aber wegen der Exklusivität der Samples nicht zu einer Überbewertung des standesüberschreitenden Konnubiums führen. Eine auf der Basis von 350 Zufallsfunden durchgeführte Auswertung des Heiratsverhaltens des norddeutschen landesherrlichen Adels ergab für die Jahre eine Quote von 4,6% Eheschließungen mit Unternehmern.42 Aus Sicht des Adels waren diese Verbindungen alles andere als ideal. Gerade für verarmte Aristokraten kamen sie jedoch einer Art Notanker gleich. Im pommerschen Adel war es laut von Krockow fast „sprichwörtlich" geworden, „die jüdische Bankierstochter aus Köln" zu heiraten, „wenn man sich anders vor Schulden nicht mehr zu retten wußte. Dann mußte man als Offizier seinen Abschied nehmen, wie nach einem unehrenhaft verweigerten Duell."43 Diese Eheschließungen zogen also durchaus Sanktionen der Standesgenossen nach sich wie den Ausschluß aus dem Offizierkorps und die Anfeindung von Verwandten.44 In der Öffentlichkeit wurde diesen, als sensationell bewerteten Hochzeiten große Beachtung geschenkt. Auch von bürgerlicher Seite gab es z. T. schneidende Kritik. Georg Bernhard tadelte etwa das mangelnde Selbstbewußtsein des Wirtschaftsbürgertums, das „aus seinem Geldschrank die Lebenskraft der Feudalherren auffrischt". Während es sich die ökonomisch leistungsschwachen Adligen „in den ter

...

Vgl. Augustine, Wirtschaftselite (wie Anm. 13), S. 435; dies., Patricians (wie Anm. 12), S. 80 f.; Kaelble unter Mitarbeit von Spode, Sozialstruktur, S. 173; Hansjoachim Henning, Die unentschiedene Konkurrenz. Beobachtungen zum so-

zialen Verhalten des norddeutschen Adels in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert, Stuttgart 1994, S. 42-45.; Treskow, Adel (wie Anm. 31), S. 355 ff. u. SpenKUCH, Herrenhaus (wie Anm. 20), S. 447. Christian Graf von Krockow, Die Reise nach Pommern. Bericht aus einem verschwiegenen Land, Stuttgart 1985, S. 132. Diese Bemerkung spielte möglicherweise auf die Enkelinnen Simon Oppenheims an, aus denen Gräfinnen von Bredow, Arco, Matuschka und Pocci sowie Freifrauen von Plancy und Hammerstein wurden. Vgl. Georg Bernhard, Berliner Banken, Berlin 1905, S. 33. Daß sol-

che Aussprüche grob übertrieben waren, zeigt der prosopographische Befund von Ilona Buchsteiner, Großgrundbesitz in Pommern 1871-1914. Ökonomische, soziale und politische Transformation der Großgrundbesitzer, Berlin 1993, S. 298, nach dem 86,3 % der Ehefrauen pommerscher Adeliger ebenfalls aus dem Adel stammten.

Vgl. Dornheim, S. 356.

Adel

(wie

Anm.

35), S. 186; Treskow, Adel (wie

Anm.

31),

Hartmut

252

Berghoff

Wonnegärten wohl sein" ließen, verachteten sie diejenigen zutiefst, „die ihnen das Geld schufen".45 Beim Umgang mit den als Mitgift oder Erbe erlangten Aktienpakefinanziellen

ten lassen sich zwei Tendenzen

feststellen. Es war sehr selten, wenn daraus wie bei Faber-Castell der Schritt in den Unternehmerberuf erwuchs. Jedoch wurden die Aktien zumeist nicht verkauft, sondern sie blieben langfristig im Familienbesitz. Wie schon ausgeführt, erfolgte aus dieser Konstellation heraus z. T. sogar der Einstieg in den Aufsichtsrat. Die Töchter der BASF-Mitbegründer illustrieren diesen Sachverhalt anschaulich: Gustav von Siegle hatte drei Töchter hinterlassen, von denen zwei in den Hochadel einheirateten. Ihre Männer, die Freiherren von Schrenck-Notzing und Gemmingen-Hornberg, gelangten daher nicht nur in den Besitz von BASF-Aktien, sondern auch in den des weitgestreuten Effektenportfolios, das die Familie Siegle zusammengetragen hatte. Rudolf von Knosp, ein weiterer Mitbegründer des Chemiekonzerns, hatte nur ein einziges Kind, seine Tochter Henriette. Sie heiratete den württembergischen Hofmarschall Robert Freiherr von Simolin-Bathory (1851-1927), der dem reichsritterschaftlichen Adel entstammte. Somit dürfte zumindest zeitweilig ein nicht unbedeutender Teil der BASF-Aktien in aristokratischen Händen

gelegen haben.46 1.4.

Adlige Guts- und Grundherrschaft als Ausgangspunkt industrieller Engagements

Den

größten Beitrag

gewerblichen Entwicklung

leistete der Adel durch Investitionen, die er im Rahmen seiner Guts- bzw. Grundherrschaft tätigte. Einerseits ließ er land- bzw. forstwirtschaftliche Produkte weiterverarbeiten und betrieb daher Mühlen, Schnapsbrennereien, Mineralwasserabfüllungen, Brauereien, Weingüter sowie Zucker-, Stärke- oder Kartoffelflockenfabriken. Andererseits lag die Gewinnung und Verarbeitung von Kohle, Ton und Erzen nahe. Zu diesem Zweck zur

besaß der Adel traditionell Bergwerke, Gruben, Hochöfen, Hammerwerke, Ziegeleien, Glashütten und Kalkwerke. Eine große Rolle spielten diese Betriebe in den Mittelgebirgen, wo die Wasserkraft als Energiequelle nutzbar war. Dieses Engagement griff gelegentlich auch über den unmittelbaren Nexus zum Land hinaus. So gab es vereinzelt auch Bernhard, Banken (wie Anm. 43), S. 35. Vgl. Martin, Württemberg (wie Anm. 23), S. 59-66; Genealogisches Handbuch des Adels, Bd. 79, Limburg 1982, S. 377ff. u. 386 f.

Adel und

Industriekapitalismus

253

Metallverarbeitungs-, Maschinenbau- oder sogar Textilbetriebe. Die CastelIsche Bank entstand 1774 aus dem standesherrlichen Impetus heraus, der eigenen Bevölkerung eine solide Sparkasse zu schaffen. Die Grafen fungierten als voll haftende Inhaber der heute noch existierenden Privatbank.47 Bei den um den Landbesitz herum gruppierten Aktivitäten handelte es sich de facto zumeist um Industrieinvestitionen, auch wenn sie nicht als solche und damit als standeswidrig wahrgenommen wurden. Dies hatte vor allem zwei Ursachen: Erstens waren die Adligen nur sehr vermittelt Unternehmer. In der Regel fiel die Verantwortung für diese Betriebe in die Zuständigkeit von Verwaltern oder Pächtern, so daß die zeitliche Bindung des Guts- oder Grundherren gering war und sich, wenn überhaupt, auf wenige strategische Entscheidungen beschränkte. Die lebensweltliche Distanz das war überaus wichtig blieb gewahrt. Zweitens existierte eine weitere kulturell definierte Schranke, die nur selten überschritten wurde. Fürst Hugo von HohenloheÖhringen unterschied 1855 sehr scharf zwischen „reine(n) Fabriketablissements welche das Rohprodukt erkaufen müssen," und solchen „gewerblichen und industriellen Unternehmungen", die „in näherer Verbindung mit den Erzeugnissen und Produkten" des eigenen „Grund und Bodens und deren Verarbeitung stehen".48 Für erstere durften keine Erlöse aus dem Verkauf fideikommissarisch gebundener Immobilien verwandt werden, für letztere war dies dagegen möglich. Auf diese juristisch, ökonomisch und mentalitätsgeschichtlich ungemein wichtige Trennlinie ist noch zurückzukommen. Die innerhalb der Grund- bzw. Gutsherrschaft arbeitenden Gewerbebetriebe hatten ihre größte Bedeutung in der Frühindustrialisierung49 und verloren danach an relativem Gewicht, ohne gänzlich zu verschwinden. Der institutionelle Rahmen dieses Betriebstyps wirkte sich -

-

...,

als Expansionshindernis aus. Seine enge, guts- bzw. grundbesitzbezogene Konzeption ließ ihn im späten 19. Jahrhundert überwiegend zu einem Auslaufmodell werden. Als überaus entwicklungsfähiger Sonderfall ist allerdings die oberschlesische Montanindustrie zu behandeln, die ihren feudalen Ursprung abstreifte, die Betriebe aus den Güterverwaltungen ausgliederte und in moderne Kapitalgesellschaften

Vgl. Winkel, Ablösungskapitalien (wie Anm. 10), S. 115 f. n. Winkel, Ablösungskapitalien (wie Anm. 10), S. 74. Wolfgang Zorn, Typen und Entwicklungskräfte deutschen Unternehmertums im 19. Jahrhundert, in: VSWG 44 (1957), S. 64, sieht im Großgrundbesitzer sogar einen von insgesamt fünf „Herkunftstypen" der industriellen Unternehmerschaft.

Zit.

Hartmut

254

Berghoff

umwandelte. Die exzeptionelle Massierung adliger Industrieengagements in Oberschlesien und die Weiterentwicklung ist auf das Zusammentreffen mehrerer Faktoren zurückzufuhren, das in dieser Kombination in Deutschland einmalig war.50 Diese Sonderstellung erklärt auch den kolossalen Reichtum der oberschlesischen Magnaten. 1912 gehörten zu den elf reichsten Preußen allein sechs schlesische Unternehmeraristokraten, darunter Fürst Henkel von Donnersmarck, Herzog von Ujest, Fürst von Pless und die Grafen von Schaffgotsch und Ballestrem.51 Der phantastische Reichtum der oberschlesischen Magnaten darf aber den Blick nicht dafür verschließen, daß die traditionellen Montanunternehmen des deutschen Adels überwiegend alles andere als entwicklungsfähig waren. Die Mittelgebirgsstandorte im Bergischen, in der Eifel, im Westerwald oder im Schwarzwald konnten seit der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht mehr mit den entstehenden Zentren an Saar, Rhein und Ruhr mithalten. Infolge der voranschreitenden Verkehrs- und MarktinHierzu

gehört die Existenz adeliger Vor- und Mitbaurechte infolge des nicht konsequent durchgesetzten staatlichen Bergregals, was sich vor allem durch die späte, erst 1740 erfolgte Angliederung Oberschlesiens an Preußen erklärt. Daher stand der dortige Adel auch in einer Tradition, die eher derjenigen Böhmens,

Mährens und Rußlands ähnelte als der Preußens. Verstärkt wurde sie durch das Fehlen alternativer Nutzungsmöglichkeiten für das Holz, das wegen der Verkehrsungunst nicht anderweitig vermarktet werden konnte. Ferner wirkten sich merkantilistische Impulse des Staates aus, der die rückständige Provinz intensiv forderte, sowie die Nichtexistenz einer bürgerlichen Unternehmerschaft und das Vorhandensein feudal gebundener Arbeitskräfte. Für die technische Modernisierung im 19. Jahrhundert erwiesen sich Kohlevorkommen, die verkehrstechnische Erschließung sowie der schiere Reichtum der Magnaten als entscheidend. Vgl. Konrad Fuchs, Vom Dirigismus zum Liberalismus. Die Entwicklung Oberschlesiens als preußisches Berg- und Hüttenrevier. Ein Beitrag zur Wirtschaftsgeschichte Deutschlands im 18. und 19. Jahrhundert, Wiesbaden 1970; Waclaw Dlugoborski, Die schlesischen Magnaten in der frühen Phase der Industrialisierung Oberschlesiens, in: Toni Pierenkemper (Hg.), Industriegeschichte Oberschlesiens im 19. Jahrhundert. Rahmenbedingungen Gestaltende Kräfte Infrastrukturelle Voraussetzungen Regionale Diffusion, Wiesbaden 1992, S. 107-128; Toni Pierenkemper, Das Wachstum der oberschlesischen Eisenindustrie bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts Entwicklungsmodell oder Spielwiese der Staatsbürokratie?, ebd., S. 77-106; ders., Unternehmeraristokraten in Schlesien, in: Elisabeth Fehrenbach unter Mitarbeit von Müller-Luckner, Adel (wie Anm. 31), S. 129157 u. Jürgen Laubner, Zwischen Industrie und Landwirtschaft. Die oberschlesischen Magnaten aristokratische Anpassungsfähigkeit und „Krisenbewältiin: Osteibische gung", Reif, Agrargesellschaft (wie Anm. 4), S. 251-266. Vgl. Martin, Preußen (wie Anm. 17), Teil 1, S. 1. Eine abweichende Auflistung bei Lieven, Abschied (wie Anm. 31 ), S. 345 ff. -

-

-

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-

Adel und

Industriekapitalismus

255

tegration erwiesen sich die kleinen, oft noch auf der Basis der Energieträger Holz und Wasser betriebenen Hütten gegenüber den Konkurrenten aus den Revieren als hoffnungslos unterlegen. Neben dem Fehlen von Kohle und Erz machten sich auch mangelnde Investitionen, das geringe Interesse ihrer Eigentümer und eine eklatante technische Rückständigkeit bemerkbar. Die wettbewerbsstrategisch gebotene Standortverlagerung aus den eigenen Besitzungen in die Reviere fand nicht statt, da sie den gerade noch akzeptierten Rahmen aristokratischer Gewerbetätigkeit gesprengt hätte. Aufgrund dieser Problemlage entschieden sich die Fürstenberger in den 1860er Jahren zur Schließung ihrer Hammer- und Eisenwerke,

obwohl sie in den Jahrzehnten zuvor nicht unerheblich in sie investiert hatten. Der von 1830 bis 1842 als Oberhüttenverwalter tätige Ferdinand Steinbeis verzweifelte wie viele seiner Kollegen in anderen Adelshäusern an den engen Grenzen, die das Konzept eines großagrarischen Nebenbetriebes mit sich brachte. „Der fürstliche Hüttenbetrieb kann nicht ohne stete Rücksicht auf den Geist einer Stammgutverwaltung geschehen, und da diese einen wesentlichen konservativen Charakter hat, so muß auch bei Feststellung des fürstlichen Hüttenbetriebes auf den Grundsatz der Nachhaltigkeit ein vorzügliches Augenmerk gerichtet werden". Die Domänenkanzlei bremste mehr als einmal den Tatendrang des agilen Hüttenverwalters und tadelte den Abfluß von Mitteln aus der Landwirtschaft in den „unerschöpflichen Rachen" der Hüttenwerke. 1835 gründete Fürst Karl Egon in Zusammenarbeit mit einem Schweizer und einem englischen Fabrikanten die in einem Schloß betriebene Maschinenfabrik Immendingen, die erst 1900 an den Fürsten von Hohenzollern-Sigmaringen verkauft wurde.52 Die 1844 vom Grafen Henrich zu Stolberg-Wernigerode errichtete Henrichshütte an dem zukunftsträchtigen Standort Hattingen ging bereits 1857, d. h. vor ihrem großen Aufschwung, an die Discontogesellschaft. 1904 übernahm sie Henschel & Sohn.53 Die nassauische Standesherrschaft Schaumburg-Holzappel trennte sich 1853 von ihren Beide Zitate Eltz, Modernisierung (wie Anm. 35), S. 127. Vgl. ebd. S. 75 f. u. 122-130; Fritz Vögele, Die Maschinenfabrik Immendingen, in: Geschichtsverein für den Landkreis Tuttlingen (Hg.), Beiträge zur Geschichte der Industrie und der Industriearchitektur im Landkreis Tuttlingen, Tuttlingen 1994, S. 109-111. Vgl. Wollhard Weber, Entfaltung der Industriewirtschaft, in: Wolfgang Köllmann u. a. (Hg.), Das Ruhrgebiet im Industriezeitalter. Geschichte und Entwicklung, Bd. 1, Düsseldorf 1990, S. 267; Zorn, Typen (wie Anm. 49), S. 64. Für weitere, ähnlich gelagerte Beispiele Winkel, Ablösungskapitalien (wie Anm. 10), S. 160.

Hartmut

256

Berghoff

Bergwerken. Das Fürstenhaus Solms-Braunfels verkaufte bzw. verpachtete seine Gruben und Hütten in den 1870er und 1880er Jahren an die Wetzlarer Buderuswerke, da der Kapitalbedarf die Summe dessen

was der Fürst investieren konnte bzw. wollte. Die Domänenkanzlei des Hauses Löwenstein-Wertheim-Rosenberg hielt es schon 1867 für unmöglich, daß deren Glashütte mit modernen kohlebetriebenen und verkehrsgünstig gelegenen Firmen konkurrieren könne. Die Hütte wurde daher 1880 geschlossen. Der aus ältestem altmärkischen Adel stammende Graf Werner Ludwig Alvo von Alvensleben (1840-1928) betrieb auf seinem Neugatterslebener Gut bis 1923 mit bis zu 90 Arbeitern eine Braunkohlegrube sowie bis 1912 ein Kalkwerk. Letzteres hatte die Aufgabe, die außerhalb der agrarischen Saisonspitzen unausgelasteten Landarbeiter zu beschäftigen. Dieses innerhalb der gutsherrlichen Gewerbelandschaft nicht seltene Modell des Saisonbetriebes erwies sich gegenüber den ganzjährig arbeitenden Kalkwerken des benachbarten Standesgenossen von Krosigk und denen des Solvay-Konzerns als nicht konkurrenzfähig.54 Die Industriebetriebe des Fürsten von Hohenzollern-Sigmaringen entwickelten sich zunächst entlang dieser absteigenden Linie. Zahlreiche, ursprünglich selbst bewirtschaftete Papiermühlen, Glas- und Ziegelhütten sowie die 1838 gegründete Fürstliche Spinnerei Karlsthal wurden allesamt seit den 1860er Jahren verpachtet, verkauft oder eingestellt. Das Herzstück der gewerblichen Unternehmungen war das seit 1707 bestehende Hüttenwerk Laucherthal und schien ebenfalls diesen fur aristokratische Eigenbetriebe typischen Weg zu gehen. Die dort traditionell mit dem Brennstoff Holz betriebene Verhüttung von Bohnerz erwies sich seit den späten 1860er Jahren als unrentabel. Als nach der Reichsgründung Eisen aus Elsaß-Lothringen den deutschen Markt überschwemmte und die Gründerkrise die Preise verfallen ließ, entschloß man sich, die Roheisenproduktion aufzugeben. 1879 wurde der Hochofen gelöscht. Zehn Jahre zuvor hatte man jedoch mit der Errichtung eines kleinen Kupolofens zum Schmelzen von Guß- und Alteisen die Herstellung von Gußwaren aufgenommen, d. h. den ersten Schritt von der Roh Stofferzeugung zur Veredlungswirtschaft unternommen. Gleichwohl war das Werk auf einen „Aussterbe-Etat gesetzt" und sollte 1887 geschlossen werden. Jedoch erkannte der 1883 eingestellte Verwalter Egon Sauerland, ein junger, von der Königlichen Maschi-

überstieg,

Vgl. Winkel, Ablösungskapitalien (wie Anm. 10), S. 134-137 u. 115; Herbert Seiffert, Die Entwicklung der Familie von Alvensleben zu Junkerindustriellen, in:JbWG 1963, S. 209-221.

Adel und

Industriekapitalismus

257

nenbauschule in Stuttgart kommender Ingenieur, das Marktpotential für Guß- und Bronzewaren und betrieb die grundlegende Modernisierung und Erweiterung des Werkes. Zu den wichtigsten Maßnahmen gehörte der Übergang zur Steinkohlefeuerung, die Errichtung eines Elektrizitätswerkes und die Anbindung an die Eisenbahn. Das Personal der Hütte verzehnfachte sich zwischen 1883 und 1907 von 38 auf 350. 1900 wurde die Maschinenfabrik Immendingen von den Fürstenbergern gekauft. Wenig später kamen einige Hütten in Österreich hin-

Gegensatz zum Stammwerk entwickelten sich die Neuerwerbungen weniger günstig und wurden zwischen 1916 und 1924 abge-

zu.

Im

stoßen. Die Fürstlich Hohenzollernschen Werke Laucherthal aber existieren noch heute als Spezialanbieter hochwertiger Metall- und Feingußprodukte. Um 1970 beschäftigten sie 2.200 Mitarbeiter.55 Es handelte sich hier um den seltenen Glücksfall, bei dem ein versierter Verwalter und der zuständige Referent der Hofkammer an einem Strang zogen und die bis in die 1880er Jahre dominante Absterbestrategie des Hofkammerpräsidenten unterliefen. Das Verhältnis zum Fürsten blieb distanziert. Er ließ sich in großen Abständen schriftlich von Sauerland unterrichten, reichte aber dessen Briefe an die Hofkammer zur Bearbeitung weiter. Die lebensweltliche Distanz zwischen Fürst und Hüttenwerk blieb also gewahrt. Wie groß diese war, zeigt auch folgende Begebenheit. Als Fürst Leopold seine neue Maschinenfabrik eineinhalb Jahre nach dem Kauf erstmals besuchte, wurde dies als so ungewöhnlich und bedeutsam erachtet, daß Vorbereitungen für offizielle Feierlichkeiten getroffen wurden, woraufhin die Fabrik ein barsches Telegramm erhielt: „Fürst Leopold kommt morgen 10.30 Uhr nach Immendingen, größerer Empfang verbeten. Will Leute bei der Arbeit sehen."56 Die physische Präsenz im eigenen Unternehmen besaß Seltenheitswert. Die persönliche Anteilnahme an den Geschäften blieb minimal. Die Verantwortung lag allein bei Verwaltern und Kammer.

Ein anderes, wesentlich bekannteres Beispiel einer gelungenen Modernisierung einer Standesherrschaft ist das 1883 von Traugott Hermann Graf von Arnim (1839-1919) erworbene Muskau. Nach dem Johannes Maier, Geschichte des Fürstlich Hohenzollerschen Hüttenwerks Laucherthal, in: Hohenzollerische Jahreshefte 18 (1958), S. 98-127 (Zitat S. 116); Martin Blümcke, Die Fürsten von Hohenzollern, Sigmaringen. Laucherthal oder die „immerwährende Feuerarbeit", in: Willi A. Boelcke (Hg.), Wege zum Erfolg. Südwestdeutsche Unternehmerfamilien, Leinfelden-Echterdingen 1996, S. 30-41. Zit. n. Maier, Geschichte (wie Anm. 55), S. 121.

Vgl.

Hartmut

258

Berghoff

Ende seiner Diplomatenkarriere erstand der aus uckermärkischem Adel stammende Arnim den heruntergekommenen Besitz des Fürsten Pückler für einen niedrigen Preis. Sofort erkannte er, daß die große Forstwirtschaft nur gedeihen konnte, wenn effiziente Gewerbebetriebe angegliedert würden. So ließ er Sägewerke und eine Glasfabrik modernisieren, diverse Bahnstrecken anlegen, eine Papier- und eine Brikettfabrik und mehrere neue Sägewerke gründen sowie die „Gräflich Arnimsche Dampfziegelei" erbauen, um die eigenen Tonvorkommen zu verarbeiten. Ferner kam eine Kohlegrube aus der Pacht in die Eigenbewirtschaftung zurück. Die Investitionen wurden durch den Verkauf von Land finanziert. Insgesamt gelang so die Verwandlung einer maroden in eine profitable Standesherrschaft, deren Wert sich bis 1913 mehr als verdoppelte. Gleichwohl irrt Lieven, wenn er Muskau „ein großes Industriezentrum"57 nennt. Die Unternehmungen standen ganz überwiegend in einem subsidiaren Verhältnis zum Landbesitz. Hier ging es um eine optimale Vermarktung eigener Bodenschätze und Forstprodukte, nicht um eine darüber hinausgehende industrielle Expansion. Damit blieb auch Arnim in den Grenzen der gerade noch als standesgemäß angesehenen gewerblichen Tätigkeit. Auch seiner Charakterisierung als konzernbauender „Managertyp"58 muß widersprochen werden. Vielmehr handelte es sich bei Arnim um einen praktisch veranlagten Aristokraten, der vor allem unmittelbar nach dem Kauf Muskaus umsichtig die Weichen stellte und seinem klugen Verwalter Paul Anton Riebel den Spielraum für die Sanierung des Besitzes gewährte. In der täglichen Lebensführung standen jedoch nicht industrielle, sondern standesgemäße, d. h. vor allem politische, Geschäfte im Vordergrund. Von 1887 bis 1906 saß Arnim als freikonservativer Abgeordneter im Reichstag. Ferner befand er sich lange im geschäftsfuhrenden Ausschuß des Alldeutschen Verbandes, wirkte als Mitglied in der Kolonialgesellschaft, im Flottenverein und bei den Steuer- und Wirtschaftsreformern, dem Sprachrohr der Großagrarier. Seine scharfe Agitation gegen Börse und Getreideterminhan-

unfreiwilligen

Lieven, Abschied (wie Anm. 31), S. 98. Allgemein Hermann Graf von Arnim, Märkischer Adel, Berlin 1989, 102-117; DERS. u. Willi A. Boelcke, Muskau. Standesherrschaft zwischen Spree und Neiße, Frankfurt/Main 1978, S. 332-373. Arnim, Adel (wie Anm. 57), S. 102. Zum Vergleich lohnend wären etwa die Gewerbebetriebe des Fürsten zu Solms-Baruth aus dem Kreis JüterbogLuckenwalde, die Eisenhütten- und Emaillierwerke, Sägemühlen, eine Glasfabrik, einen Kalkbruch, eine Ziegelei und einen Pechofen umfaßten. Vgl. Martin, Preußen (wie Anm. 17), Teil 2, S. 233 f.

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Industriekapitalismus

259

del wies ihn als erzkonservativen, volkswirtschaftlich nicht sonderlich beschlagenen Vertreter des Großagrariertums aus.59 Schaut man abschließend auf die der Guts- und Grundherrschaft angegliederte Nahrungsmittelindustrie, bestätigt sich der Eindruck einer eng auf die Verwertung eigener Agrarprodukte zugeschnittenen Investition. Der Schritt zur Expansion über diesen relativ bescheidenen Rahmen hinaus hin zur systematischen Ausnutzung von Skalenerträgen, der zwangsläufig mit dem Zukauf fremder Agrarprodukte und mit großen Investitionen verbunden gewesen wäre, blieb in der Regel aus. Ferner beschränkten sich solche Betriebe vorrangig auf die erste Verarbeitungsstufe, d. h. es wurde Zucker aus Rüben gewonnen, nicht aber Zucker weiterverarbeitet. Als sich die 1846 allein zum Zweck der Verwertung eigener Rüben gegründete Alvenslebensche Zuckerfabrik als zu klein erwies, gründete der Graf 1880 zusammen mit zwei Angehörigen der Familie von Krosigk eine Zuckerrübensocietät. Die drei Aristokraten waren zugleich Eigentümer und Lieferanten der nicht sonderlich profitablen Fabrik, die weder expandierte noch laufend modernisiert wurde und daher nach 1918 schließen mußte.60 Auf dem im östlichen Westfalen gelegenen Gut Westheim wurde seit den 1860er Jahren von den Pächtern in sehr kleinem Maßstab Bier gebraut. Nachdem das heruntergekommene Gut 1875/76 aus der Pacht in die Eigenbewirtschaftung des jungen Grafen Hermann von Stolberg-Stolberg (1854-1925) überging, kam es unter maßgeblicher Initiative des tüchtigen Verwalters Friedrich Waldeck zu einer energischen Reorganisation. Um die für sich allein kaum rentable Landwirtschaft zu ergänzen, wurde die Brauerei modernisiert und erweitert. Der ambitionierte Versuch, das Bier in Berlin, im Rheinland und im Ausland zu vermarkten, scheiterte. Erst als man sich auf einen bescheideneren Rahmen beschränkte und sich für eine Regionalstrategie, d. h. für die Konzentration auf die nähere Umgebung, entschied, trat eine Konsolidierung der Stolbergschen Brauerei ein. Die Kosten sanken durch den Anbau eigener Gerste. Das Wasser stammte aus den Brunnen des Gutes. Die Pferde für die Fuhrwerke, die jetzt die Kühlwaggons der Eisenbahn ersetzten, wurden ebenfalls dort versorgt. Daß sich die Brauerei nicht auf den überregionalen Märkten durchsetzte, hatte nicht nur etwas mit dem großstadtfernen Standort zu tun. Auch blieb sie allem Ehrgeiz zum Trotz ein typischer aristokratischer Ne5y

Vgl.

60

(wie Vgl.

Arnim u. Boelcke, Muskau (wie Anm. 57), S. 334-345; Meier, Anm. 1), S. 37 u. 113. Seiffert, Entwicklung (wie Anm. 54), S. 220 ff.

Entstehung

260

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benbetrieb, der das in diesem Fall sehr schwache ökonomische Fundament der Landwirtschaft stärken und ergänzen sollte. Der Historiker der Stolbergschen Brauerei hält es für fraglich, ob sich die Adelsfamilie zur unternehmerischen Tätigkeit „entschieden hätte, wäre der landwirtschaftliche Besitz allein lebensfähig gewesen". Sie verfolgte nicht eine industrielle Wachstumsstrategie, sondern reagierte auf die Bedrohung des standesgemäßen Lebensstils. Dieses Engagement war kein Selbstzweck, sondern ein aus der Not geborener Nebenerwerb. Sie schuf Graf Stolberg „die benötigte wirtschaftliche Plattform für seine politischen Ambitionen und sicherte das Überleben eines fast schon verlorenen adligen Familienbesitzes".61 Die seit 1705 kommerziell betriebene Fürstlich Fürstenbergische Brauerei blieb in ihren Entwicklungsmöglichkeiten ebenfalls eingeschränkt, auch wenn sie 1869 die größte badische Brauerei war und ihre Produkte bis nach Frankreich exportierte.62 Obwohl die Stolbergsche und die viel größere Fürstenbergische Brauerei bis in die Gegenwart überlebt haben, fällt auf, daß keine der aus adligen Guts- und Grundbetrieben hervorgegangenen Brauereien mit den rasch wachsenden städtischen Großbetrieben wie Löwenbräu, Schultheiss oder Dortmunder Union auch nur im entferntesten mithalten konnte. Ebenso findet sich unter den großen Namen der deutschen Nahrungs- und Genußmittelindustrie wie Stollwerck, Oetker, Apollinaris, Maggi, Knorr, Bahlsen, Bolle und Zuckerfabrik Franckenthal (später Südzucker AG) kein einziges Unternehmen, das aus adligen Agrarnebengewerben hervorgegangen ist. Die Ratio der guts- und grundherrlichen Betriebe blieb im wesentlichen auf die Verarbeitung eigener Agrarprodukte, die Ergänzung bzw. Quersubventionierung der Gutsbetriebe und z. T. auch auf die saisonale Beschäftigung der Landarbeiterschaft beschränkt. Die darüber hinausweisende Dynamik blieb bürgerlichen Unternehmungen vorbehalten. In ihnen war die industrielle Produktion nicht ein Anhängsel der Landwirtschaft, sondern Hauptbetriebszweck. Entsprechend besaß dieser Unternehmenstyp ein anderes Geschäftsgebaren und eine andere Entwicklungsperspektive. Clemens Wischermann, Zur Industrialisierung des Deutschen Brauwesens im 19. Jahrhundert. Das Beispiel der Reichsgräflich zu Stolbergschen Brauerei in Westfalen 1860-1913, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 30 (1985), S. 179 u. 177. Vgl. auch ebd. S. 151-180. Die Brauerei wurde 1886 formell aus dem Gutsbetrieb ausgegliedert. Vgl. Willi A Boelcke, Wirtschaftsgeschichte Baden-Württembergs von den Römern bis heute, Stuttgart 1987, S. 137 u. 223 f.

Adel und

Industriekapitalismus

2. Soziokulturelle

261

Abstoßungskräfte

Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß sich der deutsche Adel nur in sehr begrenztem Umfang und mit größter Vorsicht auf den Industriekapitalismus einließ. Er verpaßte somit die Chance, seine gesellschaftliche Führungsrolle neu zu fundieren. Diesem Versagen lag nicht eine prinzipielle Ablehnung des bürgerlichen Leistungsprinzips zugrunde, denn auf vielen Gebieten vom Staatsdienst bis zur Wissenschaft, vom Militär bis zur Politik hat es der Adel durchaus erfolgreich verstanden, auf diese Herausforderung durch den Erwerb von Bildungspatenten und Sachwissen aktiv zu reagieren und sich unter Konkurrenzbedingungen zu bewähren. Warum das in der Wirtschaft als dem lukrativsten und dynamischsten Sektor des öffentlichen Le-

bens nicht bzw. kaum geschah, ist erklärungsbedürftig. Zunächst wirkten sich diverse pragmatische Gründe aus. Finanzmittel für Investitionen standen dem Adel nur sehr eingeschränkt zur Verfügung. Entweder fehlten sie angesichts der oft prekären Vermögenslage zur Gänze, oder es mangelte an der ausreichenden Liquidität, da das Kapital in Form von Landbesitz immobilisiert worden war. Für eine Karriere als Unternehmer spielte Kapitalbesitz im 19. Jahrhundert aber eher eine untergeordnete Bedeutung. Wichtiger war es, wirtschaftsnah aufgewachsen zu sein. Die überwiegend endogene Rekrutierung der Unternehmerschaft weist darauf hin, daß Söhne von Geschäftsmännern, die schon von früh auf in das Milieu hineingewachsen waren, entscheidende Startvorteile besaßen. Die wichtigste exogene Gruppe, das gewerbliche Kleinbürgertum, brachte zumindest Rechenhaftigkeit, die Erfahrung einer selbständigen Betriebsführung und einen arbeitszentrierten Lebenszuschnitt als kulturelles Kapital mit. Hinzu kamen oft auch technische Kenntnisse. Weder die Arbeiterschaft noch der Adel verfügte in der Regel über diese Voraussetzungen, wobei erstere sie nicht erwerben konnte, letztere sie nicht erwer-

ben wollte. Warum schnitt sich der Adel weitgehend von diesem so zukunftsträchtigen kulturellen Kapital ab? Entscheidend war die Tatsache, daß er ein eigenes, anders gepoltes kulturelles Kapital besaß, das u. a. auf der Abgrenzung von der bürgerlichen Geschäftswelt basierte. Diese galt als nicht standesgemäß, als ehr- und würdelos. Dieses Unterscheidungskriterium war konstitutiv für den Adel, der sich primär über immaterielle Werte wie Blut und Ehre definierte. Dieser normative Grundsatz hatte seinen legislativen Niederschlag im Preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794 gefunden, das dem Adel die Ausübung

Hartmut

262

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bürgerlicher Berufe untersagte. Die Kodifikation selbst verlor zwar mit von 1807 an diesem Punkt ihre Gültigkeit. Die ihr zugrundeliegende Mentalität hatte jedoch bis in das 20. Jahrhundert dem Oktoberedikt

hinein Bestand. Daher blieb es für den Adel schwer, das aus seiner Sicht Verwerfliche in seine Lebensführung zu integrieren und sich auf das Wirtschaftsbürgertum als die Gruppe zuzubewegen, von der er sich abzugrenzen suchte. Hinzu kam, daß sich das Abgrenzungsbestreben mit dem wachsenden Reichtum der Unternehmerschaft eher verschärfte, als daß es nachließ, was sich sowohl in den Verkehrskreisen als auch in der Nobilitierungspraxis widerspiegelt. In den Berliner Klubs blieb der Adel weitgehend unter sich. Bei den Standeserhebungen dominierte eine „restriktive Haltung der (adelig dominierten) obersten

Staatsbehörden".63

Das Nichterkennen bzw. Nichterkennenwollen von ökonomischen Chancen erwuchs aber nicht nur aus dem Wunsch des Adels, seine Exklusivität gegenüber der ihm materiell am nächsten stehenden bzw. ihn z. T. schon überholenden Sozialgruppe zu wahren. Vielmehr existierten tiefere Anpassungsblockaden, die sich mit der Begrifflichkeit der Neuen Institutionenökonomie fassen lassen. Douglas North, der mit seinem Institutionenmodell die Entwicklungsdivergenzen verschiedener Volkswirtschaften erklärt, unterscheidet zwischen fundamentalen und sekundären Institutionen. Während letztere „formgebundene Regeln wie z. B. Gesetze sind, die infolge von politischen oder gerichtlichen Entscheidungen über Nacht geändert werden können, sind formlose Beschränkungen, wie sie in Sitten und Gebräuchen, Überlieferungen und Gepflogenheiten verkörpert sind, viel weniger leicht zu beeinflussen."64 Fundamentale Institutionen können eine kollektive Veränderungsresistenz induzieren. Zu den spezifischen Fundamentalinstitutionen des deutschen Adels gehörten die Fixierung auf Krone und Staat, das ausgeprägte Dienstethos sowie die Hochschätzung des Militärischen und die entsprechende Abwertung des Zivilen. Hinzu kamen aristokratische Werte, die ...

Vgl. Spenkuch, Herrenhaus (wie Anm. 20), S. 444-455 (Zitat S. 452). Vgl. auch Berghoff, Aristokratisierung (wie Anm. 12). Douglas C. North, Institutionen, institutioneller Wandel und Wirtschaftsleistung, Tübingen 1992, S. 7. Zum Wert institutionenökonomischer Modelle für die historische Forschung vgl. Hartmut Berghoff, Transaktionskosten: Generalschlüssel zum Verständnis langfristiger Unternehmensentwicklung? Zum Verhältnis von Neuer Institutionenökonomie und moderner Unternehmensgeschichte, in: IbWG 1999/2.

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Industriekapitalismus

263

auch in anderen Ländern Europas zu finden waren, wie die Verankerung des eigenen Status' im Landbesitz, die große Bedeutung eines freizeitorientierten Lebensstils, die Distanz zu Utilitarismus und Funktionalismus, die ausgiebige Pflege eines durch komplizierte Etikette und hohe Aufwandsnormen geregelten gesellschaftlichen Lebens und dessen Ausrichtung auf den Hof.65 Ein solcher Lebenszuschnitt ließ sich schlecht mit den Erfordernissen des Industriekapitalismus vereinbaren, mit der täglichen Präsenz im Kontor oder dem laufenden Studium der Aktienkurse. Zur Erklärung der Anpassungsblockade des Adels können neben institutionenökonomischen auch ethnologische Modelle hinzugezogen werden. In ihnen wird Kultur z. T, als Eisberg verstanden. Gerade dessen tieferliegende Schichten besitzen das größte Gewicht, bilden gleichsam das Gravitationszentrum. Da es sich unter der Wasseroberfläche befindet, ist es weder unmittelbar einsehbar noch der Umwelt zugewandt. Auch wenn die Spitze des Eisbergs bei Sonneneinwirkung schnell abschmelzen mag, bleibt der Sockel lange Zeit stabil und sorgt für ein hohes Trägheitsmoment.66 Der deutsche Adel trat seinen Weg in die Moderne mit dem unhandlichen Marschgepäck einer traditionellen, bald schon unzeitgemäßen soziokulturellen Selbstdefinition an. So nahm er sich noch bis weit in das 20. Jahrhundert als eine Sondergruppe wahr, die ihre historische Mission zu verraten glaubte, wenn sie sich auf die Spielregeln der kapitalistischen Welt einließe. Die Tatsache, daß der deutsche Adel um 1900 gleichsam Gefangener seines eigenen Normensystems war und weitgehend auf sich selbst bezogen in geistiger Quarantäne lebte, zeigen auch unzählige Selbstzeugnisse. In seinem Roman über den „Deutschen Adel um 1900" läßt Freiherr von Ompteda den traditionellen Adelsprinzipien verhafteten Fabian sagen, daß „Geld niemand

Vgl. Hartmut Berghoff, Vermögenseliten in Deutschland und England vor 1914. Überlegungen zu einer vergleichenden Sozialgeschichte des Reichtums, in: ders. u. Dieter Ziegler (Hg.), Pionier und Nachzügler? Komparative Studien zur Ge-

schichte Großbritanniens und Deutschlands im Zeitalter der Industrialisierung. Festschrift für Sidney Pollard zum 70. Geburtstag, Bochum 1995, S. 294-299. Vgl. Irene Götz, Erzählungen als Indikatoren für Unternehmenskultur. Zur Ethnographie innerbetrieblicher Kommunikation in einem mittelständischen Unternehmen, in: Clemens Wischermann (Hg), Unternehmenskommunikation. Theorie, Geschichte, Praxis, Dortmund 1999. Werner Rösener, Adelsherrschaft als kulturhistorisches Phänomen. Paternalismus, Herrschaftssymbolik und Adelskritik, in: HZ 268 (1999), S. 1-33, weist auf die „longe durée" der mentalitätsgeschichtlichen Grundlagen adeliger Hegemonie hin.

Hartmut

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glücklich mache, den Charakter verderbe und die Sucht geradezu schädigend einwirken müsse auf den Adel, der berufen sei, die ideellen Güter der Nation zu wahren." Vorausgegangen war ein Disput zwischen ihm und seinem Bruder Ludwig, der als Kaufmann faktisch aus der Familie ausgeschlossen worden war. Ludwig hatte die Weltfremdheit des Adels in scharfen Worten gegeißelt: „heute werden unsere Schlachten an der Börse geschlagen, in Handel und Wandel, in der Industrie. Mit dem Sehweite richten wir nichts mehr aus. Das vergißt der deutsche Adel. Er ist am Mittelalter hängen geblieben." Zwar solle er an den Ländereien der Vorfahren festhalten, weil ein Gut „Erdgeruch, Gesundheit, Heimatsboden bedeutet, ..." Als „Gelderwerb wird aber heutzutage wohl niemand ein Gut erstehen." Ignoriere der Adel die Veränderungen der Zeit, „geht er zugrunde. (...) Laßt eure Söhne

auch Kaufleute und Industrielle, Gelehrte, Forscher werden, so werden sie oben bleiben, so werden sie die Gewaltigen dieser Erde ,.."67 Sowohl im Roman wie in der historischen Realität standen sich beide Standpunkte unversöhnlich gegenüber. Tilo Freiherr von Wilmowsky, der als Mitglied der Familie Krupp und des Aufsichtsrates ihres Unternehmens sowohl in der Welt des Adels als auch in derjenigen der Industrie zuhause war, fällte in seinen Memoiren ein scharfes Urteil über die Abkapselung und den Dünkel seiner Standesgenossen. Die „Entfremdung und Isolierung" des Adels sei keineswegs zwangsläufig gewesen, da er ja zahlreiche „prächtige Gestalten" hervorgebracht habe. „Wieviel hätten diese Typen gewonnen, wenn sie nicht die besten Jahre in kastenartiger Absonderung (sozial exklusiver Regimenter, H. B.) verbracht hätten und dadurch zu einer Überschätzung ihrer Abstammung veranlaßt worden wären." Mit der ihnen „gottgegebenen" Verachtung des zivilen Lebens sei auch „ein Mangel an Verständnis, oft sogar eine Mißachtung des Bürgers, des freien Unternehmers, des 'Koofmich' verbunden" gewesen.68 Lebensstile und Normensysteme werden entscheidend in der Phase der primären und sekundären Sozialisation ausgeprägt, so daß Kind...

...

Georg

Bd. 2.,

Freiherr

von

Stuttgart 1922,

Ompteda, Eysen. Deutscher Adel

um

Neunzehnhundert,

S. 280 f.

Wilmowsky, Rückblickend (wie Anm. 26), S. 36. Für den Hinweis auf dieses Zitat danke ich Heinz Reif und Kay-Uwe Flolländer. Andere pejorative Begriffe zur Kennzeichnung unkultivierter Reicher waren „Judenbaron", „Gründer" „Geldprotz" bzw. „Protzentum". Vgl. Das Tagebuch der Baronin Spitzemberg geb. Freiin v. Varnbüler. Aufzeichnungen aus der Hofgesellschaft des Hohenzollernreiches, hg. v. Rudolf Vierhaus, Göttingen 1960, S. 137.

Adel und

Industriekapitalismus

265

Jugenderinnerungen wichtige Hinweise auf die Anpassungsblockaden dieser Sozialgruppe liefern. Mit den Memoiren des Mecklenburger Adligen Joachim von Rantzau besitzen wir eine anschauliche Quelle über die Erziehungsmuster des deutschen Adels und die in ihnen verankerte Reproduktion antikapitalistischer Vorurteile. In Rantzaus Kindheit und Jugend dominierte die Einweisung in den gutsherrlichen Habitus, wobei Jagd- und Tanzrituale besonders viel Zeit beanspruchten. Sparsamkeit und Pflichtethos waren ebenfalls wichtig. Demgegenüber spielten die schulische Bildung und die Orientierung in der Welt der Gegenwart nur eine untergeordnete Rolle. Im Rückblick bescheinigte er seinen Eltern und ihrer Gesellschaftsschicht das völlige Fehlen einer erwerbswirtschaftlichen Mentalität. Ziel adligen Wirtschaftens sei „eine auskömmliche, bequeme Lebensführung, aber nicht die Vergrößerung des Vermögens" gewesen. „In der Erziehung wurde das 'Geld' bewußt in einen Winkel gerückt. Ich erinnere mich, daß meine Hauslehrer angewiesen waren, in den Lehrbüchern keine Rechenexempel zu benutzen, in denen es sich um Geld und Gewinn handelte; solche Aufgaben wurden sogar oft von meinen Eltern eigenhändig ausgestrichen; Entfernungen von Bergen durften errechnet werden, aber Beispiele aus der Kaufmannspraxis waren verpönt. Dieser antikapitalistische Affekt ging so weit, daß ich später als Gymnasiast mit reichen Mitschülern möglichst wenig umgehen sollte. Ein heits- und

...

...

...

...

Forstmeister hatte eine Millionärstochter aus der rheinischen Großindustrie geheiratet und machte ein dementsprechend großes Haus. Wir durften keine Einladung der Söhne annehmen. Es war eben allzu bekannt, daß diese Familie, im Jahr 1911 etwas ganz Ungewöhnliches, schon ein Auto besaß und sich überhaupt auf ihren Reichtum etwas zugute tat. Unsere Eltern machten uns klar, daß wir hier ganz falsche Anschauungen vom Leben bekommen konnten. (...) Handel, Industrie und Großfinanz waren eben mit dem Makel des materiellen Gewinnstrebens behaftet. Diese ganze Welt galt als fremd und unheimlich."69 Laut Buchsteiner läßt sich sogar im Umgang mit dem Landbesitz dieser Mangel an Erwerbsstreben konstatieren. Buchsteiner hat in ihrer Studie über den Pommerschen Großgrundbesitz zu zeigen versucht, Joachim von Dissow (Rantzau), Adel im Übergang. Ein kritischer Standesgenosse berichtet aus Residenzen und Gutshäusern, Stuttgart 1961, S. 25 f. Ferner betont Rantzau die Frugalität der Lebensführung. So lebte die Familie relativ bescheiden, so lange sie keine Gäste hatte. Die Kinder mußten Süßigkeiten, die ihnen von Besuchern geschenkt wurden, abgeben. Die Eltern nahmen sie bis zur Weihnachtszeit unter Verschluß.

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signifikanter Unterschied zwischen dem Wirtschaftgebaren und bürgerlicher Gutsbesitzer bestand. Erstere seien politisch adliger aktiver, dafür aber wirtschaftlich konservativer gewesen. Ihre bürgerlichen Nachbarn dagegen hätten im Großgrundbesitz eher ein Anlageobjekt als einen Selbstzweck oder eine dynastische Verpflichtung gesehen. Sie seien stärker marktorientiert gewesen und hätten mehr investiert und früher modernisiert. Zugleich trennten sie sich aber auch schneller und leichter von den Gütern als der alteingesessene Adel.70 Heß und Spenkuch vertreten jedoch die Gegenthese eines ökonomisch weitgehend stabilen, zuweilen auch klug und innovativ handelnden daß ein

adligen Großgrundbesitzes.71

Selbst bei dem extremen Sonderfall des gräflichen Bleistiftfabrikanten Alexander von Castell-Rüdenhausen sind die aus der Unternehmertätigkeit erwachsenden lebensweltlichen Ambivalenzen unschwer zu erkennen. Einerseits ließ sich der Rittmeister trotz fehlender Qualifikation ungewöhnlich weit und erfolgreich auf die industrielle Welt ein. Um seine Identifikation mit der Firma zum Ausdruck zu bringen, nahm er mit königlicher Genehmigung den Namen der Fabrikantenfamilie an und nannte sich fortan Graf von Faber-Castell. Zugleich vereinigte er das Fabersche mit dem Castellschen Wappen. Dies hatte auch marktstrategische Gründe. Da andere Bleistiftfabrikanten ebenfalls Faber hießen, kam es zu Verwechslungen. Die für einen Qualitätsproduzenten unerläßliche Pflege eines eindeutigen Markenimages ließ sich so nicht gewährleisten. Faber-Castell dagegen war einmalig. Ferner erhielt die 1905 auf den Markt gebrachte, noch heute existierende Bleistiftlinie „Castell 9000" einen rechtlich geschützten Namen. Das dazu gehörende Markenzeichen (Abb. 1) griff genuin aristokratische Symbole auf. Zwei mit mittelalterlichen Rüstungen ausgestattete Turnierreiter bekämpfen sich mit Lanzen, die das Aussehen von Blei70

71

Vgl. Buchsteiner, Großgrundbesitz (wie Anm. 43),

S. 285-292. Die Söhne adeGutsbesitzer wiesen auch eine sehr liger geringe Neigung auf, ein Landwirtschaftsstudium aufzunehmen. Vgl. ebd., S. 296. Vgl. Klaus HEß, Junker und bürgerliche Großgrundbesitzer im Kaiserreich: landwirtschaftlicher Großbetrieb, Großgrundbesitz und Familienfideikommiß in Preußen (1867/71-1914), Stuttgart 1990; DERS., Zur wirtschaftlichen Lage der Großagrarier im ostelbischen Preußen 1867/71-1914, in: Reif, Agrargesellschaft (wie Anm. 4), S. 157-172 u. Spenkuch, Herrenhaus (wie Anm. 20), S. 201-227. Buchsteiner vergleicht zwei unterschiedliche Regierungsbezirke, die ihr jeweils als Typisierungen adliger bzw. bürgerlicher Rittergutswirtschaft dienen. Aufgrund der unterschiedlichen Strukturen scheint die Argumentation einem Zirkelschluß zu

erliegen.

Adel und

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Industriekapitalismus

Hintergrund ist das termingerecht zur ProdukteinSchloß Stein zu erkennen, wobei mit der Dreifertiggestellte führung Castell Familienname, Produkt und lateides Wortes fachbedeutung für nisch Schloß gespielt wurde. Die Tatsache, daß ein Angehöriger stiften besitzen. Im

-

-

des alten Hochadels Bleistifte verkaufte, diente also in diesem exzeptionellen Fall unverhohlen Reklamezwecken.72

Abbildung

1 : Werbemotiv des Bleistiftfabrikanten Faber-Castell

AM, WMMWWi Andererseits offenbart die Architektur des Schlosses, die eine merkwürdige Mischung von Späthistorismus und Funktionalismus aus-

Vgl. Kuehl, Schloß, Diss. (wie Anm. 19), S. 61-69 u. dies., Schloß, Katalog (wie Anm. 19). Für die Genehmigung zum Abdruck dieser Abbildung danke ich dem Archiv und der Sammlung der A. W. Faber-Castell GmbH & Co in Stein.

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zeichnete, nicht nur den eigensinnigen Geschmack Faber-Castells, sondern auch seine Stellung als Wanderer zwischen zwei Welten. Ein Damensalon nach dem Vorbild Louis XVI. und ein Ballsaal voller Gotik-, Barock- und Renaissancestilelemente, klosterähnliche Gänge und ein Rokkoko-Schlafzimmer befanden sich unmittelbar neben Räumen, in denen der Jugendstil bzw. die neue Sachlichkeit dominierte. Teile der Innenausstattung stammten von Bruno Paul und den Vereinigten Werkstätten für Handwerk und Kunst. Das in Sichtweite der Fabrik errichtete Schloß war Adelssitz, repräsentative Wohnstätte und Werbesymbol in einem. Es ermöglichte der Familie zugleich Nähe und Distanz zur Fabrik. Hinter den dicken Mauern und in dem 30 Hektar großen Park konnte man standesgemäß leben und zugleich ein Unternehmen führen. Obwohl sich die Firma unter dem Grafen positiv entwickelte, war er zumindest was die Lebenspraxis angeht nur ein halber Unternehmer. In seiner Fabrik ließ er sich eher selten blicken. Statt dessen zitierte er die Direktoren in sein Herrenzimmer im Schloß und ließ sich dort regelmäßig auf dem Laufenden halten. Der Generaldirektor wohnte ganz wie ein Gutsverwalter in einem Haus im Schloßpark. Seinem Sohn Roland gab Alexander den Ratschlag, sich nicht zu sehr mit den Verwaltungsgeschäften zu belasten: „Du hast Deine Direktoren". Graf Roland hielt sich aber nicht daran, sondern suchte regelmäßig die Fabrik auf und nutzte das väterliche Herrenzimmer -

-

überwiegend privat.74 Andere Aspekte der Lebensführung

weisen Graf Alexander als sich intensiv darum, das Steiner Kirchenpatronat zu erlangen, was 1918 tatsächlich gelang. Schon 1911 hatte er für seine Familie eine gesonderte Empore in der Kirche erbauen lassen. Große Bälle für den Hochadel gehörten zum Lebensstil ebenso dazu wie eine standesgemäße Dienerschaft, zu der u. a. ein Kastellan, ein Kammerdiener für den Grafen, eine Jungfer für die Gräfin, acht Zimmermädchen, drei Kutscher sowie Kinderschwester und Erzieherin zählten. Die Diener trugen blaue Livrées mit goldenen Knöpfen und gräflichem Wappen. Alexanders Bibliothek enthielt Titel zu so unterschiedlichen Sachgebieten wie Jagd, Reitsport, NaturwisVollblutaristokraten

aus.

So bemühte

er

senschaft und Technik. Seine Frau bevorzugte Architektur, Mode, Religion und, was angesichts der gewerbebürgerlichen Tradition der eigenen Familie bezeichnend war, Biographien bekannter Aristokraten.

Vgl. ebd., Kuehl, Schloß, Diss. (wie Anm. 19), S. Stein

tat).

30-33 u. 84-146; Hirschmann, (wie Anm. 23), S. 156 u. Franzke, Bleistiftschloß (wie Anm. 19), S. 97 (Zi-

Adel und

Industriekapitalismus

269

Es mögen u. a. auch die Widersprüche zwischen industrieller und adliger Welt gewesen sein, die 1918 die Ehe scheitern ließen. Alexander führte das Unternehmen weiter, nahm aber 1927 wieder seinen alten Familiennamen an, d. h. wandte sich demonstrativ der älteren aristokratischen Tradition seiner eigenen Familie zu.75

Zusammenfassung Es hat sich gezeigt, daß sich Angehörige des alten Adels nur vereinzelt als aktive Unternehmer betätigten. Bei ihnen handelte es sich um klar umrissene Sondergruppen wie die oberschlesischen Magnaten, eingewanderte Adlige, kleine Teile des nobilitierten städtischen Patriziates oder Unternehmer, die trotz weit zurückliegender Standeserhebung ihrer Vorfahren am Geschäftsleben festhielten. Hinzu kamen Einzelfälle, die aufgrund politischer, sozialer oder verwandtschaftlicher Beziehungen neu in den Unternehmerberuf eintraten. Schließlich ließ sich

auch der seltene finden. z.

Typus des technisch hochqualifizierten Außenseiters

Aufsichtsratsmandate, die mit viel geringerem Zeitaufwand und ausgeübt werden konnten, kamen etwas

T. auch ohne Sachkenntnis

häufiger vor, wobei eine eindeutige Präferenz für agrar- und staatsnahe Branchen bestand. Verwandtschaftsbeziehungen und öffentliche Ämter wirkten auch hier als Türöffner für die insgesamt seltenen Berufungen. Hinzu kam die

allem im Gründerboom verbreitete Funktion als Aushängeschild z. T. sogar dubioser Firmen. Gleichwohl ließ sich auch in dieser überhitzten Atmosphäre nur ein kleiner Teil des Adels in dieser Weise instrumentalisieren. Der zeitgenössische Eindruck einer gleichsam geschlossenen Spekulationswelle des Adels war grob übertrieben. Dasselbe galt für den unauffälligen und daher sozial nicht wirksam zu sanktionierenden Aktienbesitz. Aufgrund seiner Risikoaversion und geringen Sachkunde war es für den Adel letztlich konsequent, sich generell zurückzuhalten und, wenn überhaupt, bonitätsstarke Renditepapiere zu favorisieren. Die typische und verbreitetste Form des industriellen Engagements des Adels war die Angliederung gewerblicher Betriebe an seine Gutsbzw. Grundherrschaften. Diese Investitionen dienten dazu, die eigene vor

Vgl. Genealogisches Handbuch des Adels, Bd. 1, Glücksburg 1951, 201; Christian Koch u. Karen Kuehl, Erinnerungen an ein großes Haus. Gespräche mit Kunigunde Pfeifenberger und Klara Röder, in: Franzke, Bleistiftschloß (wie Anm. 19), S.142 f. u. DIES., Schloß, Diss. (wie Anm. 19), S. 32.

Hartmut

270

Landwirtschaft

Berghoff

ergänzen bzw. deren Verluste auszugleichen. Es ging den adligen Eigentümern also darum, den standesgemäßen Lebensstil zu sichern, nicht aber darum, ihn im Interesse von Wachstumschancen umzustellen oder aufzugeben. Daher wurde das eigentliche Management praktisch immer in die Hände von Verwaltern gelegt, um zu

sich zeitlich nicht zu stark an diese Unternehmen zu binden. Die Investitionen wiesen durchweg einen engen Bezug zum Landbesitz auf, d. h. sie dienten der Verwertung eigener Ressourcen oder Agrarprodukte bzw. auch der Beschäftigung von Arbeitskräften außerhalb der agrarischen Saisonspitzen. Diese sehr häufig zu findenden Investitionen zeichneten sich einerseits durch einen beschränkten Umfang aus und andererseits durch ihr subsidiares Verhältnis zur guts- bzw. grundherrlichen Wirtschaft, was die Überlebens- und vor allem die Expansionschancen dieser Betriebe einschränkte. Ihre Ratio war die der Bestandssicherung und Arrondierung der im Landbesitz begründeten Basis aristokratischer Lebensformen, nicht aber die der rastlosen Wachstumsdynamik kapitalistischer Marktwirtschaften. Schon im Kaiserreich verloren diese Nebenbetriebe daher gegenüber rein industriewirtschaftlich geführten Unternehmen an Boden und mußten nicht selten bereits geschlossen werden. Insgesamt blieben die Gräben zwischen der Welt des Adels und der des Kapitalismus tief. Zwar verbanden sie auch Brücken, aber diese reichten nicht sehr weit in das Territorium der jeweils anderen Sphäre hinein. Zudem handelte es sich um schmale Übergänge mit geringer Tragfähigkeit, so daß sie nur von wenigen Grenzgängern genutzt werden konnten. Die Distanz der deutschen Aristokratie zum Industriekapitalismus blieb so groß, da sie Chancen eines stärkeren Engagements kaum erkannte bzw. auch gar nicht erkennen wollte. Antikapitalistischer Ehrenkodex, ein überkommener Wirtschaftsstil, schiere Inkompetenz und Borniertheit gingen Hand in Hand. Als Hauptursache ließ sich eine auffällige Diskrepanz zwischen der Dynamik der realen volkswirtschaftlichen Entwicklung und der Beharrungskraft des lebensweltlichen Normengefüges des Adels ausmachen. In marxistischer Terminologie ausgedrückt bestimmte das Sein eben nicht das Bewußtsein der Aristokratie, sondern deren Bewußtsein zog sich immer mehr auf sich selbst zurück und ignorierte den Wandel der Umwelt. Zu dieser gleichsam inneren Emigration trugen vor allem die Erziehungsmuster adliger Elternhäuser und der Korpsgeist elitärer Regimenter bei. Die auf diese Weise reproduzierte Selbstwahrnehmung als unentbehrlicher Ernährer des Volkes und Wahrer dessen ideeller Traditionen sowie als staatstragende Herrschafts- und Militär-

Adel und

Industriekapitalismus

271

käste, die ein Anrecht auf eine privilegierte Sonderbehandlung besaß,

ließ sich zudem im Kaiserreich politisch untermauern. Somit erfuhr sie gleichsam eine staatliche Approbation, was den Anpassungsdruck zu mindern schien und langfristig die falschen Signale setzte. Das Hauptproblem bestand aber in einem viel tieferen Dilemma. Um voll an den Chancen des Industriekapitalismus partizipieren zu können, hätte sich der Adel von zentralen Elementen seiner kulturellen Selbstdefinition trennen müssen und somit den Verlust der eigenen Identität riskiert. Gegenüber dieser Gefahr mochte vielen Adligen der verpaßte Anschluß an die industriekapitalistische Moderne als das kleinere Übel erscheinen.

Thierry Jacob

Engagement des Adels der preußischen Provinz Sachsen in der kapitalistischen Wirtschaft Das

1860-1914/18

Die Erforschung des Verhältnisses des preußischen Adels zum Kapitalismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist in der Geschichtsschreibung ein Problemfeld, das einerseits sehr vernachlässigt und anderseits mit vorschnellen Generalisierungen gleichsam zugeschüttet wurde. In den Kapiteln Francis L. Carstens über die preußischen Junker im Kaiserreich, bleibt die Frage des möglichen Anschlusses des Adels an die neuen Einkommensquellen der kapitalistischen Wirtschaft, außer dem berühmten Beispiel des schlesischen Magnaten Henckel von Donnersmarck, völlig unberücksichtigt. In ihrer Untersuchung über die Großgrundbesitzer Pommerns untersuchte Ilona Buchsteiner zwar die wirtschaftliche Lage der adligen und bürgerlichen Großgrundbesitzer dieser Provinz, konzentrierte sich aber auf ihre Agrarstrategien und Grundbesitzverwaltungsformen, ohne sich für die Zusammensetzung des Vermögens oder das Verhältnis zwischen Landwirtschaft und Industrie zu interessieren.1 Darüber hinaus haben sich die Arbeiten, die Francis L. Carsten, Geschichte der preußischen Junker, Frankfurt/M. 1988, S. 138-147 und Ilona Buchsteiner, Großgrundbesitz in Pommern 1871-1914. Ökonomische, soziale und politische Transformation der Großgrundbesitzer, Berlin 1993. Die Ansätze Reifs, der die Frage nach der wirtschaftlichen Lage des Adels im 19. Jahrhunderts für eine der fruchtbarsten bei der Erforschung der Geschichte des Adels hielt, blieben bis in die jüngste Zeit weitgehend unberücksichtigt. Vgl. Heinz Reif, Der Adel in der modernen Sozialgeschichte, in: Wolfgang Schieder und Volker Sellin (Hg.), Sozialgeschichte in Deutschland, Bd. 4, Göttingen 1986, S. 46-52. Auch die Pionierstudie von Gollwitzer über die Standes-

Vgl.

Thierry Jacob

274

Beziehungen zwischen Adel und industrieller Gesellschaft untersuchten, hauptsächlich auf die dünne Elite der Standesherren und der schlesischen Magnaten konzentriert.2 Diese Monographien betonen zwar die relativ starke wirtschaftliche Anpassung dieser Adelsfraktion, trennen aber dafür zu scharf die "Grands Seigneurs" vom Kern des preußischen Grundadels, als ob nur die hohen Adligen bereit und fähig gewesen wären, sich wirtschaftlich anzugleichen. Über das ökonomische Handeln der Adligen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verfügt man demzufolge nur über analytische Teilbilder und Beispiele von adligen Familien, die für den gesamten preußischen Adel nicht repräsentativ sind. Hinzu kommt, daß die von Rosenberg und Wehler entwickelten Erklärungsmuster der Geschichte der preußischen Junker, Adel und Kapitalismus als fremde und brückenlose Welten kennzeichneten.3 Zwar die

herrén, in der er ein Kapitel dem modernen wirtschaftlichen Engagement der Hochadligen widmete, fand bis in die letzten Jahre keine große Forschungsresonanz. Vgl. Heinz Gollwitzer, Die Standesherren. Die politische und gesellschaftliche Stellung der Mediatisierten 1815-1918, Göttingen 1964, S. 254-262.

kurzem wurden durch Demels Aufsatz über den bayerischen Adel in der vor allem durch die sehr nuancierten und anregungsvollen Ergebnisse Spenkuchs über die finanzielle Lage und das wirtschaftliche Engagement der Herrenhausmitglieder neue Anregungen in die Diskussion gebracht. Vgl. Walter Demel, Die wirtschaftliche Lage des bayerischen Adels in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, in: Armgard v. RedenDohna und Ralph Melville (Hg.), Der Adel an der Schwelle des bürgerlichen Zeitalters 1780-1860, Stuttgart 1988, S. 236-269 und Hartwin Spenkuch, Das preußische Herrenhaus. Adel und Bürgertum in der Ersten Kammer des Landtages 1854-1918, Düsseldorf 1998, S. 201 -217 und 272-276. Vgl. Gollwitzer, Standesherren (wie Anm. 1); Toni Pierenkemper, Untemehmeraristokraten in Schlesien, in: Elisabeth Fehrenbach (Hg.), Adel und Bürgertum in Deutschland 1770-1848, München 1994, S. 129-157; Hannes Stekl, Österreichs Aristokratie im Vormärz. Herrschaftsstil und Lebensformen der Fürstenhäuser Liechtenstein und Schwarzenberg, München 1973; Wolfgang BehrinGER, Thurn und Taxis. Geschichte ihrer Post und ihrer Unternehmen, MünchenZürich 1990; Andreas Dornheim, Adel in der bürgerlich—industrialisierten Gesellschaft. Eine sozialwissenschaftlich-historische Fallstudie über die Familie Waldburg-Zeil, Frankfurt/M u. a. 1993 und Hermann Graf v. Arnim-Muskau u. Willi A. Boelcke, Muskau: Standesherrschaft zwischen Spree und Neiße, Frankfurt/M.-Berlin-Wien 1979. Vgl. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, München 1995, S. 167-176 und die Aufsätze von Hans Rosenberg, Die Pseudodemokratisierung der Rittergutsbesitzerklasse und Zur sozialen Funktion der Agrarpolitik im Zweiten Reich, in ders., Machteliten und Wirtschaftskonjunkturen. Studien zur neueren Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Göttingen 1978, S. 83-101 und Erst

vor

ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und

Das

Engagement des Adels in der kapitalistischen Wirtschaft

275

betonten beide Autoren die Anpassungskraft des preußischen Adels an die industrialisierte Leistungsgesellschaft des 19. Jahrhunderts, konzentrieren sich aber hauptsächlich auf die Erhaltung des Adels als „Herrenstand" und untersuchten vor allem seine Anpassung auf der politischen Ebene. Vom Adel entwickelte Strategien der Reorientierung seines wirtschaftlichen Handelns und Verhaltens gerieten dabei kaum in das Blickfeld. Der Ansatz Rosenbergs beschreibt den preußischen Adel als eine Gruppe, die durch wirtschaftliche Immobilität und Inkompetenz gekennzeichnet war. Die preußischen Junker hätten nicht nur den Anschluß an die wirtschaftliche Moderne und an den Industrialisierungsprozeß verpaßt, sondern sie wären auch unfähig gewesen, ihre Güter dynamisch und ,modern' zu verwalten. Ihre Gutswirtschaft wäre nichts anderes als eine ,Verlustwirtschaft' gewesen, was dazu geführt hätte, daß die stark verschuldeten Junker mit den aufsteigenden bürgerlichen Grundbesitzern nicht konkurrieren konnten. So wird der preußische Adel d. h. die Junker in den meisten Darstellungen als eine sich bis weit in das 20. Jahrhundert hinein erhaltene Klasse und Agrarelite beschrieben, die vom (Groß-)Grundbesitz geprägt war und ihr Einkommen allein aus dem Agrarsektor bezog. Es wird oft behauptet, daß der preußische Adel mit Ausnahme der Standesherren die aktive Beteiligung an der industriellen Wirtschaft weder gewollt hätte, noch die dafür notwendige Dynamik aufbringen konnte. Der Adel wäre demzufolge eine soziale Gruppe gewesen, die die wirtschaftlichen Herausforderungen der Industriegesellschaft nicht gemeistert und sich dann fatalistisch auf ihr altes Standesbewußtsein und auf ihre Agrarpositionen zurückgezogen hätte. Danach wäre die Geschichte des Adels die Geschichte eines langen, aber unaufhaltsamen sozialen und wirtschaftlichen Verfalls. Dennoch scheint mir diese Interpretation ein zu viel einheitliches, normatives und geronnenes Bild des preußischen Adels zu zeichnen. Erstens verdeckt das sehr oft benutzte Junkerkonzept die starke Uneinheitlichkeit des preußischen Adels und verführt dazu, den preußischen Adel als einen homogenen Block darzustellen.4 Zweitens darf nicht vergessen werden, daß der Adel als Grundbesitzer immer mit der Wirtschaft zu tun hatte und in vielen Fällen bereits in der frühen Neuzeit als industrieller Unternehmer wirkte. Daher ist die Frage zu klären, wie -

-

-

-

102-117. Die Thesen Rosenbergs werden durch die Studie Buchsteiners über die Grundbesitzer der Provinz Pommern stark relativiert, vgl. Buchsteiner, Großgrundbesitz (wie Anm. 1). Vgl. dazu die Analysen von Reif, Adel (wie Anm. 1), S. 37-39.

Thierry Jacob

276

der Adel dieses frühe wirtschaftliche Engagement in der Industriegesellschaft fortgeführt oder weiterentwickelt hat.5 Drittens scheint es falsch, Adel und Kapitalismus streng voneinander zu trennen, als ob es zwischen beiden keine Brückenschläge geben konnte. Beide dürfen nicht bloß gegenübergestellt werden, sondern müssen im Wechselspiel analysiert werden. Ziel dieses Aufsatzes ist es, die These von der rigiden Ablehnung des Kapitalismus durch den preußischen Adel zu relativieren und das noch wenig erforschte Verhältnis des Adels zum Geld und zur wirtschaftlichen Moderne zu untersuchen. Dabei soll der Adel nicht als Motor des Kapitalismus vorgestellt werden, sondern es wird untersucht, inwiefern diese alte Elite neue wirtschaftliche Handlungsmöglichkeiten wahrgenommen und akzeptiert hat. Ausgangsthese ist, daß in dem untersuchten Zeitraum also dem des Kaiserreiches als die Industrialisierung sich beschleunigte und endgültig durchsetzte und der preußische Adel damit vor einer immer dringlicheren doppelten Herausforderung stand. Wenn er sein Weiterleben, seinen Fortbestand als Elite und sein ,Obenbleiben' sichern wollte, mußte er nicht nur neue Einkommensquellen entdecken, sondern auch eine (begrenzte) Umwälzung traditioneller Werte vornehmen und neue Wege der sozialen Erhaltung definieren.6 Dabei ist es besonders wichtig, weder von einem totalen Immobilismus noch von einer radikalen Transformation des Adels auszugehen, sondern vielmehr die vom Adel geschlossenen Kompromisse, die Diskontinuitäten und die Transformationsfaktoren innerhalb des Adels zu betonen. Darüber hinaus soll auch hinterfragt werden, inwieweit das Festhalten der Adligen an ihren traditionellen Werten und einem standesgemäßen ,Habitus' die grundlegenden Vorbedingungen der wirtschaftlichen Anpassung bestimmte. Um diese Grundthese weiterzuführen, wird die Beschreibung und Analyse der wirtschaftlichen Anpassungsstrategien und -wege des preußischen Adels im Kaiserreich den Kern der Untersuchung bilden. -

-

Vgl.

Fritz Redlich,

Europäische Aristokratie und wirtschaftliche Entwicklung,

in:

ders., Der Unternehmer. Wirtschafts- und Sozialgeschichtliche Studien, Göttingen 1964, S. 280-298 und Wolfgang Zorn, Unternehmer und Aristokratie in Deutschland. Ein

Beitrag zur Geschichte des

sozialen Stils und Selbstbewußtseins in der

Neuzeit, in: Tradition 8 (1963), S. 241-254. Vgl. Rudolf Braun, Konzeptionelle Bemerkungen zum Obenbleiben: Adel im 19. Jahrhundert, in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Europäischer Adel 1750-1950, Göttingen 1990, S. 87.

Das

Engagement des Adels in der kapitalistischen Wirtschaft

277

Was sind die Modalitäten und Kennzeichen des wirtschaftlichen Engagements des Adels im Kapitalismus? Wie und mit welcher Flexibilität hat er auf die wirtschaftlichen Herausforderungen der Industrialisierung reagiert? Welche wirtschaftlichen Investitionssektoren hat er bevorzugt, welche wirtschaftlichen Rollen und Funktionen hat er erfüllt und wie erfolgreich war er dabei? Welche Fraktionen innerhalb des

Adels haben die Chancen wahrgenommen, sich die neuen Einkommensquellen zu erschließen? Räumlich bezieht sich die Analyse auf die 1815 entstandene preußische Provinz Sachsen. Einerseits, weil dort die Archivlage besonders günstig ¡st, anderseits weil diese Provinz eine alte Industrielandschaft war, die allgemein eine fortgeschrittene Zusammenarbeit von Agrarwirtschaft und Industrie kennzeichnete, wie man am Beispiel der Zukkerindustrie der Magdeburger Börde und des Hallenser Raumes erkennen kann.7 Damit soll versucht werden, auf die kaum erforschte Frage des Verhältnisses zwischen Landwirtschaft und Industrie einzugehen. Der Grundbesitz blieb die wirtschaftliche Basis des Adels im 19. Jahrhundert. Stellte der Wille, ihn zu erhalten, den Anlaß zu seiner Modernisierung und zur Erschließung neuer Märkte dar? Konnte der Grundbesitz als Ausgangsbasis eines neuen wirtschaftlichen Handelns des Adels genutzt werden? Die Analyse des wirtschaftlichen Engagements des Adels der preußischen Provinz Sachsen soll in diesem Beitrag sowohl auf einer wirtschaftlichen als auch auf einer sozial- und kulturgeschichtlichen Ebene erfolgen. In den drei ersten Abschnitten werden zunächst die verschiedenen Wege, Formen und Bedingungen der wirtschaftlichen Anpassung des Adels beschrieben. Im vierten Teil werden die sozialen und ökonomischen Folgen der wirtschaftlichen Tätigkeiten für die Gruppe skizziert und im fünften Teil werden die vom Adel entwickelten sozialen Strategien und Logiken des wirtschaftlichen Engagements vorgestellt.

Ferner stellt die Provinz Sachsen ein repräsentatives regionales Beispiel dar. Ihre mittlere geographische Lage innerhalb Deutschlands machte aus ihr eine Übergangsregion zwischen den westlichen und den östlichen Provinzen der preußischen Monarchie. Ihre wirtschaftlichen Strukturen waren repräsentativ für die des mitteldeutschen Ballungsgebiets.

278

Thierry Jacob Die diversifizierte Zusammensetzung des Vermögens Das Eindringen von Wertpapieren in das Vermögen der

I.

-

Adligen

Als erster Indikator der wirtschaftlichen Anpassung des Adels ist zu untersuchen, inwieweit sich das Privatvermögen der Adligen den neuen Einkommensquellen gegenüber geöffnet hat und in welchem Um-

fang

Zusammensetzung dieses Vermögens sich durch die Zeichnung zinstragenden Wertpapieren diversiflziert hat. Das Eindringen der Wertpapiere in das Privatvermögen der Adligen die

von

ist ein Prozeß gewesen, der sich nach Verhältnis zum Gesamtvermögen, nach Umfang und Natur der Wertpapiere, nach dem Tempo der provinziellen bzw. der deutschen Industrialisierung und nach dem Reichtumsniveau der Familien sehr differenziert vollzogen hat. Eines steht aber fest: Die beobachtete Zeichnung von Wertpapieren war nicht nur, wie es in der Geschichtsschreibung oft und schematisch behauptet worden ist, eine Eigenschaft des hohen Adels oder der reichsten Familien des preußischen Adels, vielmehr haben alle Schichten des Adels je nach finanzieller Kraft, diese neuen Reichtumschancen zu nutzen gewußt. Was aber die Hochadligen und die reichsten adligen Familien von den kleineren Adelsfamilien unterschied, war nicht die Diversifizierung des Vermögens an sich, sondern vielmehr der Umfang und die Natur der besessenen Wertpapiere. Es scheint, als ob die reichsten Familien verhältnismäßig mehr Wertpapiere gekauft haben und mehr Aktien als Obligationen oder Staatspapiere besaßen. Ihre größere Kapitalkraft erlaubte ihnen, größere Risiken einzugehen und spekulativere Wertpapiere zu kaufen als ihre über weniger Finanzmittel verfügenden

Standesgenossen. Zunächst gilt es zu klären, ob der Besitz von Wertpapieren im Vermögen und Einkommen der Adligen eine marginale oder eine bedeutende Rolle gespielt hat. Angesichts der schwierigen und lückenhaften Quellenlage soll hier diese Frage anhand einer begrenzten Zahl von Fallbeispielen erörtert werden.8

Die in der Außenstelle des Landeshauptarchivs Sachsen-Anhalt in Wernigerode erhaltenen Guts- bzw. Familienarchive des Adels der Provinz Sachsen erweisen sich als sehr lückenhaft: Testamente und Nachlässe, Vermögens- und Einkommensaufstellungen sind nicht systematisch vorhanden, was eine globale und detaillierte Analyse der Zusammensetzung des Einkommens und Vermögens sowie ihrer Entwicklung erschwert. Dazu kommt die sehr häufig praktizierte Steuerhinterziehung. Zahlreiche Adlige minderten den Wert ihrer Wertpapiere beträchtlich herab oder verzeichneten sie bei der Steuererklärung überhaupt nicht.

Das

Engagement des Adels in der kapitalistischen Wirtschaft

279

Der Anteil der Wertpapiere im Gesamtvermögen und im Gesamteinkommen der untersuchten Adligen ist je nach Familie sehr unterschiedlich gewesen. Das Verhältnis der Wertpapiere zum Gesamtvermögen bewegte sich zwischen 3,4 % bei Max v. Wuthenau 1912 bis zu 50 % bei Gustav v. Bonin 1878, wobei der Durchschnitt der besessenen Wertpapiere im Verhältnis zum Gesamtvermögen wahrscheinlich auf 20-25 % zurückzuführen ist.9 So betrug das Verhältnis der Wertpapiere zum Gesamtvermögen bzw. Brutto-Nachlass des Grafen Julius Zech von Burkersroda 1876 12 %, des August v. Veitheim 1907 22 %, des Grafen Werner v. d. Schulenburg-Wolfsburg 1861 21 %, und des Grafen Werner v. d. Schulenburg-Burgscheidungen 1893 35 %.10 Viel bedeutender scheint aber, daß der Anteil des Einkommens aus Wertpapieren am Gesamteinkommen das Verhältnis der Wertpapiere zum Gesamtvermögen sehr häufig übertraf. Während sich das Vermögen des Grafen Albrecht v. Alvensleben-Schönborn 1902 nur aus 11 % Wertpapieren zusammensetzte, machten diese mehr als 18 % seines Gesamteinkommens aus. Im Jahre 1908 waren es sogar 25 %." Auch die Wertpapiere derer v. Zech-Burkersroda erwiesen sich als bedeutende Geldquelle, die ihren Inhabern 1856 30 %, 1899 35 %, 1909 44 % und 1918 36 % ihres Einkommens einbrachten.12 In Jahren mit schlechteren Ernten oder sinkenden Agrarpreisen scheinen die Wertpapiere den Einnahmeverlust z. T. aufgefangen zu haben und übertrafen manchmal die Einnahmen aus der Gutswirtschaft. Zwischen 1860 und 1875 machten die Erträge der von Wilhelm v. BismarckBriest besessenen Wertpapiere durchschnittlich 20 % seines Gesamteinkommens aus. 1870 stieg dieser Anteil jedoch auf 45 % und auch 1875 befand er sich mit 39 % deutlich über dem Mittelwert. Die höchsten Erträge lagen damit in einer Zeit, als das Einkommen aus der Gutswirtschaft drastisch sank.13 Die Verwaltung des Privatvermögens und die Erhaltungsdauer der Wertpapiere zeugen auch von der wichtigen Rolle der Wertpapiere innerhalb des Vermögens der Adligen. Unter denjenigen Familien, die y

10

1' 12 13

Landesarchiv Magdeburg-LHA (später LHAM), Rep. H Hohenthurm, Nr. 116 und Rep. H Brettin, Nr. 6. Die Summe der im Besitz des Max v. Wuthenau befindlichen Geschäftsanteile betrug immerhin 161.050 Mk. LHAM, Rep. H Beetzendorf I, B. I. Nr. 358a, Rep. H Burgscheidungen, Hausarchiv Sectio I., Nr. 131, Rep. H Veitheimsburg, Nr. 941, Rep. H Goseck, Nr. 506 und 507. LHAM, Rep. H Erxleben II, B. XXX. Nr. 3672 und 3673. LHAM, Rep. H Goseck, Nr. 493, 520 und 595. LHAM, Rep. H Briest, Nr. 585, 586 und 614.

Thierry Jacob

280

Wertpapiere besaßen, zeigt sich der klare Trend, daß sie an der Diversifizierung ihres Vermögens über Generationen hinweg festhielten. Die Pionierrolle mancher Adliger innerhalb ihrer Familie blieb kein Einzelfall. Im Gegenteil entwickelte sich häufig eine Dynamik, die die Nachfahren weiter fortgesetzt haben. Dies bedeutet aber nicht, daß die Adligen ihr Mobiliarvermögen passiv verwaltet haben und bloße Rentiers waren. Ein bedeutender Anteil der untersuchten Adligen gehörte zu den Pionierinvestoren, die Gründungsaktionäre von neuen Unternehmen waren und damit finanzielle Risiken eingingen. Ferner wechselte oft die Zusammensetzung ihrer Wertpapiere, wenngleich sie an den gleichen Wirtschaftssektoren festhielten. Angesichts ihres Kurses wurden Werte verkauft, an deren Stelle andere mit besseren Gewinnerwartungen oder höheren Börsenkursen traten. Aus der von Joachim

Alvensleben-Falkenberg geführten Korrespondenz mit seiner Bank wird ersichtlich, daß er seine Wertpapiere häufig wechselte. Die Bewegungen auf seinem Konto zeigen, daß er zwischen 1880 und 1892 insgesamt für 62.607 Mark Wertpapiere kaufte und für 46.850 Mark wiederum verkaufte.14 Nun gilt es zu klären, welche Art von Wertpapieren die Adligen besessen haben und welche wirtschaftlichen Investitionssektoren sie bevorzugt haben. Die Zusammensetzung der Wertpapiere ist wiederum je nach den Familien und der betrachteten Zeit sehr unterschiedlich gewesen. Einige Trends lassen sich trotzdem feststellen. 1. Die im Besitz von Adligen befindlichen Wertpapiere setzten sich nicht nur aus sicheren Rentiersinvestitionen, sondern immer aus einer mehr oder weniger gleichgewichtigen Mischung zwischen festverzinslichen (Staatsanleihen, Obligationen) und risikotragenden Wertpapieren (Aktien und Geschäftsanteile) zusammen. Wenn es um die Investition ihres Geldes ging, versuchten die Adligen, sich ein diversiflziertes Mobiliarvermögen zu schaffen, in dem einerseits die finanziellen Risiken eingeschränkt werden sollten, das aber anderseits auch für die gewinnbringenderen Werte einen Platz hatte. Während beispielsweise die v. d. Schulenburg auf Probstey Salzwedel sichere und staatsgebundene Investitionen bevorzugten, suchte Julius v. Bülow seine Wertpapiere zu diversifizieren und schaffte sich ein Privatvermögen, das sich 1897 aus 56 % Staatsanleihen, 28 % Geschäftsanteilen und 14,5 % Aktien zusammensetzte. Der Freiherr Balduin v. Eller-Erberstein ging mehr Risiko ein. Die Aktien umfaßten 41 % seiner Wertpapiere, die 14

LHAM, Rep. H Sülldorf Nr. 414.

v.

Das

Engagement des Adels in der kapitalistischen Wirtschaft

281

Obligationen und die Staats- bzw. Stadtanleihe dagegen nur 35 % bzw. 23 %.15 Die Diversifizierung des Vermögens sollte auf keinen Fall einen Vermögensverlust mit sich bringen, sondern erweiterte Einkommen. Statt an der Börse zu spekulieren, war es den Adligen viel wichtiger, über feste und diversifizierte bewegliche Einkommen verfügen zu können. Dies spricht dafür, daß sie mit den Regeln des Börsenspiels und der modernen Vermögensverwaltung umzugehen wußten. Ein Konkurs aus falsch gewählten oder spekulativen Investitionen konnte bei keinem der untersuchten Adligen beobachtet werden. 2. Aus den ökonomischen Entscheidungen der Adligen geht ein klarer Trend hervor. Die Investitionen wurden auf eine begrenzte Zahl von Wirtschaftssektoren begrenzt. Dabei wurden industrielle Investitionen deutlich bevorzugt. Von den Staatspapieren abgesehen, setzten sich die im adligen Besitz befindlichen Wertpapiere fast hauptsächlich aus drei industriellen Sektoren, nämlich der Zuckerindustrie, der Eisenbahn und dem Bergbau zusammen. An vierter Stelle standen dann die Bank-

aktien. Die beiden ersten Sektoren stellten die stärksten wirtschaftlichen Investitionsbereiche dar. So bestand das Allodialvermögen des Werner v. Bismarck aus 99 % Eisenbahnaktien bzw. Obligationen und die Zuckerfabrikenanteile und Eisenbahnaktien des 1893 verstorbenen Grafen Werner v. d. Schulenburg-Burgscheidungen umfaßten 80 % seiner Wertpapiere.16 Die Wertpapiere des Grafen Zech von Burkersroda setzten sich aus 40 % Bankaktien, 27 % Bergbauaktien und 21 % Eisenbahnaktien bzw. Obligationen zusammen. Julius v. Bülow hinterließ 1897 insgesamt 77.968 Mark industrielle Wertpapiere, in der die Zuckerfabrikenanteile (66 %) und die Bergbauaktien (10 %) dominierten.17 Wie läßt sich diese Konzentration auf wenige wirtschaftliche Sektoren erklären? Die Gründe sind sowohl in den adligen Mentalitätsstrukturen als in den Höhen und Tiefen der wirtschaftlichen Entwicklung zu finden. Die vom Adel bevorzugten wirtschaftlichen Sektoren zeigen, daß er nicht versuchte, in alle Bereiche der Wirtschaft vorzudringen, sondern die Reichtumschancen selektiv wahrnahm. Der berühmte Satz des Fürsten Alfred v. Windisch-Graetz: „Geschäfte macht kein Windisch-Graetz", ist nicht wie oft behauptet dahingehend zu interpretieren, daß die -

Adligen 5 6 7

sich

-

vom

kapitalistischen Engagement

zurückhielten. Viel-

LHAM, Rep. H Beetzendorf 2, Nr. 431 und 460, Rep. H Beyernaumburg, Nr. 66 und Rep. H Morungen, Nr. 473 und 474. LHAM, Rep. H Briest, Nr. 66 und Rep. H Burgscheidungen, Nr. 130 und 131. LHAM, Rep. H Goseck, Nr. 506 und Rep. H Beyernaumburg, Nr. 66.

Thierry Jacob

282

mehr strebten sie eindeutig nach wirtschaftlichem Gewinn, hielten sich jedoch von allem fern, was mit Geldverkehr, mit Kommerz, mit Spekulation, also mit ,Geschäften' zu tun hatte.18 Es gab innerhalb des Adels ständische Barrieren und Vorurteile, die nicht überschritten wurden und die den Sprung in die Welt der Finanzen und des Geldes verhinderten. Deshalb lehnten sie ziemlich durchgehend eine Beteiligung an Handelsgesellschaften oder Immobiliengesellschaften ab, weil solche Aktivitäten nicht zu ihrem traditionell standesgemäßen Denken und Handeln paßten. Andererseits schien die Industrie, d. h. der produktive Sektor' weniger problematisch zu sein. Erstens, weil die Industrie an sich kein grundsätzlich neuer Sektor war, insbesondere in der Provinz Sachsen, die auf eine lange Tradition des Bergbaus zurückblicken konnte, an welcher der Adel seit der frühen Neuzeit beteiligt war.19 Zweitens, weil viele Adlige sich als Grundbesitzer bereits industriell betätigt hatten und drittens, weil manche industrielle Sektoren, gerade der Bergbau und die Zuckerindustrie, aber auch die Eisenbahn, auf dem Grund und Boden beruhten oder mit der Landwirtschaft zusammenarbeiteten, was den Adligen mehr Spielraum und Möglichkeiten des

Engagements gewährte.

Aus diesen Gründen ist zu erklären, warum die Adligen industrielle Investitionen vorwiegend auf lokaler oder regionaler Ebene bevorzugten. Daher richtete sich die Beteiligung der Adligen der Provinz Sachsen überwiegend auf Investitionen in den führenden industriellen Sektoren der regionalen Wirtschaft. Wenn sie Geld in die Schwerindustrie einbrachten, legten die Adligen es weniger im Ruhrbergbau an, als in der Kaliindustrie der Provinz Sachsen oder in dem größten Unternehmen der Provinz, der ,Mansfelder Kupferschieferbergbauenden Gewerkschaft'. Die mittlere geographische Lage der Provinz Sachsen innerhalb Deutschlands, machte die Provinz sehr früh zum Knoten-

-

Vgl. Hannes Stekl und Marija Wakounig, Windisch-Graetz. Ein Fürstenhaus im

19. und 20. Jahrhundert, Wien-Köln-Weimar 1992, S. 119. Dabei liefert die Mansfelder Gewerkschaft ein bedeutendes Beispiel frühen industriellen Engagements des Adels der Provinz Sachsen. Bei einer 1824 erfolgten Abtretung von Kuxen an diese Gewerkschaft stellte der Adel der Provinz 1/4 der ehemaligen Kuxbesitzer. Die Grafen Hohenthal und Vitzthum-Eckstädt, die bis zum Ersten Weltkrieg in der Deputation dieser Gewerkschaft saßen, verdankten ihren Sitz den von ihren Vorfahren im 18. Jahrhundert erworbenen Kuxen. Vgl. LHAM, Rep. F4 Ee, Nr. 46 L, Georg Schmidt, Die Familie der Grafen von Hohenthal, Halle 1896, S. 19 und Verwaltungsbericht der Mansfeld'schen Kupferschieferbauenden Gewerkschaft 1890-1910, Eisleben 1891-1910, S. 62 und 66.

Das

Engagement des Adels in der kapitalistischen Wirtschaft

283

des deutschen Eisenbahnnetzes. Dies veranlaßte die Adligen, sich stark an der Finanzierung der Eisenbahngesellschaften zu beteiligen. Darüber hinaus weckten die mit der Entstehung des Eisenbahnnetzes häufig verbundenen Abtretungen von Parzellen an die Eisen-

punkt

bahngesellschaften das wirtschaftliche Interesse von Adligen, die die Vorteile dieser Projekte für die Verkehrserschließung ihrer Besitzungen erkannten.20 Aber ihr Hauptinvestitionssektor blieb die Zuckerindustrie, an der die Adligen sich massiv finanziell beteiligten. Wenn die

Provinz Sachsen eine führende Rolle in der deutschen Zuckerindustrie spielte, verdankte sie dies u. a. auch dem wirtschaftlichen Engagement der adligen Grundbesitzer. Die wirtschaftliche Anpassung des Adels ist weniger auf der deutschen Ebene zu suchen als auf der regionale Ebene. Für den Adel der Provinz Sachsen kann man daher von einer echten und tiefen Anpassung an die kapitalistische Wirtschaft sprechen, weil die Adligen sich an die wirtschaftliche Struktur ihrer Region an-

zupassen gewußt haben. Stellte diese beobachtete Konzentration auf sichere Wertpapiere und auf eine begrenzte Zahl von regional-industriellen Sektoren eine Besonderheit der adligen Gutsbesitzer dar oder markierte sie im Gegenteil einen Trend in der Investition aller Gutsbesitzer? Mit anderen Worten, unterschieden sich die Adligen in ihren wirtschaftlichen Investitionen von den bürgerlichen Gutsbesitzern? Haben letztere ihr Privatvermögen umfangreicher und risikofreudiger diversifiziert? Diese Frage kann hier anhand weniger Beispiele beantwortet werden. Die Wertpapiere des bürgerlichen Grundbesitzers Karl Schumann entsprachen 1918 21 % seines Gesamtvermögens. Der größte Teil seiner Wertpapiere war in Reichsanleihen angelegt, der Rest setzte sich aus 20 Anteilen einer Zuckerfabrik, 6 Anteilen einer Molkerei und 40 Sparkasseanteilen zusammen.21 Der 1861 in den preußischen Adelsstand erhobene August von Nathusius (1818-1884), einer der angesehensten und einflußreichsten Grundbesitzer der Provinz, ist im Gegenteil zum oben erwähnten Beispiel ein größeres finanzielles Risiko eingegangen und hat sich als Aktionär größerer Unternehmen betätigt. Er besaß zwischen 1856 und 1880 ein beträchtliches Mobiliarvermögen, in dem Bergbau-, Banken- und Versicherungsgesellschaftsaktien -

-

20

21

So mußte Traugott v. Wuthenau Ende der fünfziger Jahre Parzellen an die BerlinAnhalter Eisenbahn veräußern, deren Strecke durch sein Rittergut führte. In seinem Nachlass sind 1862 für 7.500 Thaler Prioritäts-Actien dieser Gesellschaft zu finden, vgl. LHAM Rep. H Hohenthurm, Nr. 1163, Bl. 16-20. LHAM, Rep. H Starsiedel, Nr. 13.

284

Thierry Jacob

finden waren, obwohl die Eisenbahnaktien den größten Teil der Aktien ausmachten.22 Aus diesen beiden Beispielen geht hervor, daß sich die bürgerlichen Gutsbesitzer in ihren ökonomischen Entscheidungen auch als eine gespaltene Gruppe erwiesen haben. Sie gingen nicht alle den gleichen Weg der Vermögensdiversifizierung und bevorzugten offenbar die gleichen Investitionssektoren wie die Adligen. Nur eine Minderheit unter den bürgerlichen Grundbesitzern scheint sich umfangreicher und viel dynamischer als die Adligen an spekulativeren Unternehmen beteiligt zu haben. 3. Das Eindringen der Wertpapiere in das Vermögen der Adligen hing auch vom Tempo und der Konjunktur der deutschen Industrialisierung ab. Während in den vierziger und fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts (abgesehen von der Zuckerindustrie und den traditionellen Staatspapieren), nur wenige Wertpapiere im Vermögen der untersuchten Adligen zu finden waren, bildeten die späten fünfziger Jahre eine Phase stärkeren Engagements der Adligen in der Finanzierung des preußischen bzw. deutschen Eisenbahnnetzes. Zwar stellten diese Wertpapiere meist Renditepapiere dar, da die Dividenden vieler Eisenbahngesellschaften vom preußischen Staat garantiert wurden, aber manche Adlige haben diese Eisenbahngesellschaften schon in einer Zeit mitfinanziert, in der die Investition noch Risiken mit sich brachte. Diese Investitionen erwiesen sich als sehr ertragreich. In seiner Studie über die Eisenbahnen und das deutsche Wirtschaftswachstum, hat R. Fremdling die Profitabilität der preußischen Eisenbahnen mit der der Bergwerke, der Textilindustrie und der Banken verglichen, also mit den typischen Sektoren der deutschen Industrialisierung.23 Nach Fremdling haben sich zwischen den vierziger und frühen siebziger Jahren die Durchschnittsdividenden der preußischen Eisenbahnen immer rentabler erwiesen, als die aller anderen wirtschaftlichen Sektoren. Fremdling schließt daraus, daß fur Privatinvestoren die Kapitalanlage in den Eisenbahnen profitabler war, als eine Anlage in Aktiengesellschaften anderer Sektoren.24 In diesem Kontext war demzufolge die zu

Vgl. Hans-Heinrich MÜLLER, Zur Geschichte und Bedeutung der Rübenzuckerindustrie in der Provinz Sachsen, in: Hans-Jürgen Räch und Bernhard Weissel (Hg.), Landwirtschaft und Kapitalismus, Berlin 1979, S. 50. Rainer Fremdling, Eisenbahnen und deutsches Wirtschaftswachstum 1840-1879, Dortmund 1975. Die Durchschnittsdividenden der preußischen Eisenbahnen betrugen 1840—49: 4,98 %, 1850-59: 5,93 %, 1860-69: 7,5 % und 1870-79: 6,01 %, und übertrafen immer, abgesehen von der zweiten Hälfte der siebziger Jahre, die der anderen

Das

Engagement des Adels in der kapitalistischen Wirtschaft

285

Beteiligung der Adligen an der Finanzierung der (preußischen) Eisenbahngesellschaften eine zielstrebige Konzentration auf einen der führenden und profitabelsten Sektor der deutschen Industrialisierung. Die Adligen haben die von den Eisenbahngesellschaften gebotenen Gewinnchancen wahrgenommen und ihr finanzielles Engabeobachtete starke

gement in diesem Sektor erwies sich als eine rationelle und bewußte

Entscheidung, die dafür spricht, daß der Adel nach Reichtumsgewinn strebte und sich an die konjunkturelle wirtschaftliche Entwicklung anzupassen gewußt hat.25 Die späten sechziger und die frühen siebziger Jahre waren auch eine Phase, in der die Adligen sich an dem sich beschleunigenden Aufbau der deutschen Industrie und des Bankwesens relativ stark beteiligten. In dieser Periode wurden, wie es scheint, die neuen Reichtumschancen von den Adligen breiter als nie zuvor wahrgenommen. Adlige haben in dieser Zeit auch spekuliert. In der Geschichtsschreibung wurde die finanzielle Beteiligung des Adels an den Unternehmungen der Gründerzeit oft und zu schematisch skizziert. Die Beispiele von den wenigen Hochadligen, die sich an den spekulativen und dubiosen Geschäften des Strousberg-Systems beteiligt hatten, fungierten dabei als Leitbild des wirtschaftlichen Engagements des Adels.26 Diese wenigen Beispiele stellen angesichts der Ergebnisse meiner eigenen Untersuchung eine Ausnahme dar. Die Adligen haben sich in ihrer Mehrheit von hochspekulativen Geschäften ferngehalten. Sie haben sich zwar in neuen oder gewinnbringenden Sektoren engagiert, aber vor allem, um sich die neuen Reichtumschancen zu eröffnen, weniger um zu spekuwirtschaftliche

wirtschaftlichen Sektoren, vgl. Rainer Fremdling, Eisenbahnen (wie Anm. 23), S. 137-138. Die Investition in Eisenbahngesellschaften war aber keine Eigenart des preußischsächsischen Adels, sondern ein gemeinsamer Trend des wirtschaftlichen Engagements des deutschen Adels. Vgl. Heinz Gollwitzer, Standesherren (wie Anm. 1), S. 257, Hannes Stekl, Österreichs Aristokratie (wie Anm. 2), S. 24-25, Wolfgang Behringer, Thurn und Taxis (wie Anm. 2), S. 327-328 und 333-338, Susanne Heil, Der Haushalt des Erbdrosten Clemens Graf Droste zu Vischering nach den Haushalts- und Ökonomie Etats der Jahre 1860-1920, in: Toni Pierenkemper (Hg.), Zur Ökonomik des privaten Haushalts, Frankfurt/M.-New York

1991, S. 204. Gemeint sind die berühmten und sehr oft zitierten Beispiele der Herzöge von Ujest und Ratibor, des Fürsten zu Putbus und des Grafen Lehndorff, die sich spekulativ am rumänischen Eisenbahn-Projekt des Unternehmers Strausberg beteiligten. Dazu vgl. Fritz Stern, L'or et le fer, Paris 1990, S. 423-432.

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286

lieren.27 Die untersuchten Vermögen bzw. Nachlässe dieser Periode weisen die höchste Rate an Aktien gegenüber den Obligationen und Staatspapieren auf, der Banksektor ist stärker als je vertreten und spekulative Wertpapiere tauchten zwar begrenzt aber in einer Intensität wie später nicht wieder auf. Die hochkonservative Familie v. d. Schulenburg liefert ein Beispiel für die Beteiligung des Adels an den Gründerzeitunternehmen. In einem an Werner v. d. SchulenburgBeetzendorf II. adressierten Vorstellungsprospekt der 1862 gegründeten Preußischen Hypotheken-, Credit- und Bankanstalt tauchten nicht weniger als 105 Adlige unter den 119 beigetretenen Mitgliedern des Gründungs-Komitees auf, darunter drei Adlige der Provinz Sachsen. Werner v. d. Schulenburg beschloß daraufhin, in dieses Unternehmen zu investieren und zeichnete vier Aktien für 1.600 Thaler. 1856 beteiligte sich der Graf Leopold v. d. Schulenburg-Bodendorf an der neu gegründeten Bergbau-Gesellschaft Neu Essen zunächst mit sechs Aktien und kaufte später weitere 19 Aktien, bevor er 1858 Aktien der ,Steinkohlen-Zeche-Vollmond' erwarb. Die Mitgift der Gräfin Maria v. d. Schulenburg-Hessler bestand lediglich aus Wertpapieren, die sie von ihrem 1874 verstorbenen Vater geerbt hatte. Neben verschiedenen Staatsanleihen und Eisenbahnaktien setzten sich diese Wertpapiere u. a. aus 3.000 Mark Anteilen an einer chemischen Fabrik, 6.000 Mark Aktien der Maklerbank sowie 3.000 Gulden Darmstädter Bankaktien -

-

zusammen.28 Der Börsenkrach von 1873 und die daraus folgende wirtschaftliche Krise markierten einen Bruch im wirtschaftlichen Engagement des Adels. Die Konkurse mancher Unternehmen und die daraus resultierenden Skandale scheinen auf die Adligen als Schreckbild gewirkt zu haben und führten dazu, daß sie sich in ihren ökonomischen Entscheidungen auf sichere und traditionellere Investitionen zurückzogen.29 Die hoch gewinnbringenden Aktien tauchten nicht mehr so oft auf und spekulative Werte waren wieder seltener zu finden.30 Ein InvestitionsIn seiner Analyse der wirtschaftlichen Tätigkeiten der hochadligen Mitglieder des Herrenhaus kommt auch Spenkuch zu der gleichen These, vgl. Hartwin Spenkuch, Herrenhaus (wie Anm. 1), S. 275. LHAM, Rep. H Beetzendorf 2, Nr. 444a, Rep. H Bodendorf, Nr. 372 und Rep. H. Vitzenburg, Nr. 1489. Das Interessanteste am Beispiel der Hochadligen des Strousberg-Systems scheint mir weniger in ihrer spekulativen Beteiligung zu liegen, als vielmehr in der folgenden übertriebenen Diskreditierung des Kapitalismus. Dazu soll bemerkt werden, daß Ende der siebziger Jahre der preußische Staat die Eisenbahngesellschaften verstaatlichte und ihre Aktionäre mit .consolidierten'

Das

Engagement des Adels in der kapitalistischen Wirtschaft

287

sektor blieb aber verschont, nämlich die Zuckerindustrie, in der die Adligen der Provinz Sachsen ihre starke finanzielle Beteiligung fortsetzten. Mit der Rückkehr zum industriellen und wirtschaftlichen Wachstum Ende der achtziger Jahren und mit der Entwicklung neuer produktiver Sektoren in der Hochindustrialisierungsphase, knüpfte der Adel wieder langsam und vorsichtig an die bereits früher gemachten Investitionen in gewinnbringenden Sektoren an. Das Beispiel des August v. Veitheim ist besonders repräsentativ für diese Öffnung der Adligen gegenüber den neuen wirtschaftlichen Sektoren der Hochindustrialisierung. Während er zwischen 1870 und 1881 über ein Privatvermögen von mehr als 100.000 Mark verfügte, das sich allein aus Staatspapieren und Eisenbahnaktien zusammensetzte, wandelte er sie Ende der achtziger Jahren um und kaufte an ihrer Stelle für 40.000 Mark Hibernia-Aktien, für 20.000 Mark Dessauer-Gas-Obligationen, für 20.100 Mark Dessauer Landesbankaktien, für 10.000 Mark Central-Boden-Kredit-Bank Obligationen und für 2.500 Mark Transvaal-

Aktien.31

Angesichts dieser Beschreibung der Investitionen ausgewählter adliger Familien scheint mir, daß die These einer strengen Ablehnung der

neuen Einkommenschancen durch den Adel nicht zu halten ist. Hinter dem scheinbar monolithischen Block des Vermögens blieb verborgen, daß es eine, je nach Familie und finanzieller Kraft unterschiedliche, tiefe Reorientierung der Zusammensetzung gab. Die untersuchten Adligen haben die Reichtumschancen der Wertpapiere zu nutzen gewußt, indem sie ihr Privatvermögen durch das Zeichnen von Wertpapieren diversifizierten, ihr Einkommen erweiterten, und dabei nach wirtschaftlichen Gewinn strebten. Dabei haben sie wichtige Brücken des Anschlusses an den Kapitalismus geschaffen. Wenngleich die Zeichnung von Wertpapieren eine indirekte Teilnahme an dem Kapitalismus bedeutete, stellte sie trotzdem für die Adligen, deren Vermögen sich traditionell überwiegend aus Grundbesitz zusammensetzte, eine doppelte Neuerung dar. Erstens bedeutete die Zeichnung von Wertpapieren, daß die Adligen einen Teil der landwirtschaftlichen Erträge nicht wieder in die Gutswirtschaft investierten, was dafür spricht, daß sie nach einer Umstrukturierung ihres Vermögens strebten oder daß sie die in der Land-

Anleihen 3'

entschädigte, was zu einem Verschwinden preußischer Eisenbahngesellschaften-Wertpapiere im Vermögen der Adligen führte. LHAM, Rep. H. Veitheimsburg, Nr. 852, 861. 927, 939, 940 und 941.

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288

Wirtschaft sinkenden Erträge durch Einkommen aus dem industriellen Sektor zu kompensieren suchten. Zweitens zeigt das Eindringen von Wertpapieren in das Vermögen der Adligen eine begrenzte Anerkennung der industriellen Welt, ja sogar des Börsensystems. Ihr Geld investierten sie vorzugsweise in sichere dabei aber gewinnbringende, regionale und industrielle Sektoren.32 Wenn man ihre Investitionsstrategien mit der Entwicklung der deutschen Industrialisierung vergleicht, sind zwei Prozesse zu beobachten: Erstens sind die Adligen in ihrer wirtschaftlichen Wahl dem Industrialisierungsprozeß sowohl aktiv wie passiv gefolgt. Auch wenn zweitens eine breitere Öffnung gegenüber der regionalen Industrie zu beobachten war, zeichneten sich die Adligen durch einen relativen Abschluß gegenüber den finanziellen und spekulativeren Sektoren aus. Das Zeichnen von Wertpapieren stellte wenngleich es ein wichtiges Merkmal wirtschaftlicher Anpassung des Adels war meist mehr ein passives Verhalten als ein aktives Engagement im wirtschaftlichen Bereich dar. Die Mobilisierung des erforderlichen Kapitals zum Zeichnen von Wertpapieren geschah in zahlreichen adligen Familien auf der Basis unternehmerischer Tätigkeiten, die sie auf ihrem Grundbesitz entwickelt hatten. -

-

II.

Der Schritt

zum

agrar-industriellen Unternehmertum

Zahlreiche adlige Familien der Provinz Sachsen begnügten sich nicht mit der Diversifizierung ihres Privatvermögens und passiven Verwaltung ihres Grundbesitzes. Sie suchten vielmehr die Logik der wirtschaftlichen Anpassung auf der Ebene ihres Grundbesitzes fortzusetzen. In einer Provinz, die durch eine enge Zusammenarbeit zwischen Industrie und Agrarwirtschaft gekennzeichnet war, erkannten sie die Chance, den Grundbesitz an die Dynamik der Industrialisierung anzuschließen und seine Verwertung und Verwaltung zu modernisieren. Die Logik, die diese wirtschaftliche Entwicklung des Grundbesitzes lenkte, war eine industrielle Logik, und dabei suchten die Adligen ihre Während des Ersten Weltkrieges beteiligten sich die Adligen finanziell stark an den von den deutschen Staaten aufgelegten Kriegsanleihen bzw. neuen Staatsanleihen, dies weniger aus wirtschaftlichen als aus patriotischen Gründen, wobei beide Strategien einander nicht ausschlössen. Während manche Familien einen Teil ihrer Wertpapiere in Staatsanleihen umwandelten, zeichneten andere diese Anleihen aus eigenem dafür mobilisiertem Kapital, was gerade am Ende der untersuchten Periode ein weiterer Beweis für ihre finanzielle Kraft ist.

Das

Engagement des Adels in der kapitalistischen Wirtschaft

289

Grundbesitzertätigkeit neu zu definieren. Der Grundbesitz bildete fast immer die Ausgangsbasis ihres industriellen Engagements und ist das wichtigste und entscheidende Feld wirtschaftlicher Tätigkeit des Adels gewesen.33 Die Adligen strebten nicht nur nach Steigerung der Erträge des Grundbesitzes, sondern auch nach der Industrialisierung der landwirtschaftlichen Produktion und Kommerzialisierung der gesamten Gutswirtschaft. Zwei Prozesse, die in engem Zusammenhang standen, sind dabei zu beobachten: Die Industrialisierung der wirtschaftlichen Tätigkeiten und die Gestaltung der Gutswirtschaft als eine nach Rentabilitätsgesichtspunkten orientierte Produktionseinheit. 1.

Die Gründung von Zuckerfabriken und Kohlengruben als Merkmal der Industrialisierung des Grundbesitzes

den zahlreichen traditionellen Nebenbetrieben (wie Mühlen, Ziegeleien, Sägewerken, Kiesgruben) stellte die Erricheiner Zuckerfabrik oder einer Braunkohlengrube das größte auf tung den Gutsbesitz bezogene Feld des Unternehmertums adliger Grundbesitzer dar.34 Diese Fabriken waren keine Nebenbetriebe, wie man oft

Abgesehen

von

etwa

In der untersuchten Periode sind nur drei Beispiele von industriellen Unternehmen im alleinigen Besitz von Adligen ohne Verbindung zum Grundbesitz bekannt: 1835 gründete der Oberforstmeister v. Leipziger eine Kammgarnspinnerei, die nach mehreren Kapitalerweiterungen 1899 in eine AG umgewandelt wurde, in deren Aufsichtsrat die v. Leipziger bis zur vierten Generation als wichtige Aktionäre

saßen. Die günstigen Gewinnchancen der Zuckerindustrie veranlaßten den Graf Heinrich zu Stolberg-Wernigerode 1840 eine Maschinenfabrik in Magdeburg zu kaufen, die er für die Einrichtung von Zuckerfabriken umbaute. Das Unternehmen nahm einen raschen Aufschwung und brachte 1871-1888 jährlich einen Durchschnittsgewinn von ca. 190.000 Mark. Ludwig v. Breitenbuch kaufte 1864 das Hütten- und Hammerwerk Ludwigshütte und wandelte es in eine modern eingerichtete Spinnerei um. Vgl. W. Genzmer, 100 Jahre Kammgarnspinnerei Schedewitz, Zwickau 1935, S. 49-51, Heinrich Heffter, Otto Fürst zu StolbergWernigerode, Bd. 1, Husum 1980, S. 113, Eberhard Lorenz, Produktion, Produktivkräfte und Kapitalkonzentration in der Magdeburger Industrie von 1871 bis

1914, Berlin 1966 (Diss. MS.), S. 15 und LHAM, Rep. H Burg Ranis, Nr. 39. Dies bedeutet nicht, daß sich das industrielle Engagement der Adligen auf diese beiden gewerblichen Sektoren beschränkte: Es gab zahlreiche Alternativen, die Bodenschätze des Grundbesitzes auszubeuten und sie industriell zu transformieren. So besaß u. a. der Graf v. d. Asseburg eine Papierfabrik und Hans Freiherr v. Bodenhausen-Burgkemnitz betrieb auf seinem Grundbesitz drei große Tonwarenfabriken, vgl. Paul Ellerholz (Hg.), Handbuch des Grundbesitzes im Deutschen Reiche. Bd. I/V: Provinz Sachsen, Berlin 1880, 1885 und 1899 und Nie-

290

Thierry Jacob

pauschal die industrielle Betätigung des Adels charakterisiert hat, sondern an Profit orientierte Erwerbsbetriebe, die Kapital, Zeitaufwand, technische Kenntnisse und Einbeziehung in die Kommerzialisierungsnetze verlangten, was von einer echten kapitalistischen Anpassung zeugt.35 In der untersuchten Periode betrieben die Adligen auf ihrem Gutsbesitz ca. 19 Zuckerfabriken als Privatfirmen oder offene Handelsge-

sellschaften (OHG). Dies waren mehr als 10 % aller Zuckerfabriken der Provinz Sachsen. In einigen Fällen waren die Adligen dabei Pioniere. So betrieben die v. Krosigk auf Mucrena schon 1836 eine Zukkerfabrik und die 1847 bzw. 1848 gegründeten Zuckerfabriken Ostrau und Quetz der v. Veitheim und v. Graevenitz waren die ersten des Bitterfelder Kreises. Die Finanzierung dieser Fabriken erfolgte auf verschiedenen Wegen. So wurden die benötigten finanziellen Mittel in einigen Fällen gleich nach den Ablösungsprozessen vollständig aus dem Privatvermögen zur Verfügung gestellt. Häufig bevorzugt wurde aber der Zusammenschluß mit anderen Teilhabern, weil er den Vorteil brachte, ein größeres Kapital zusammen zu bringen und die wirtschaftlichen Risiken zu teilen. Daher gehörten diese 19 Fabriken mehr als 30 adligen Familien der Provinz Sachsen. So betrieben die Familien v. Alvensleben-Neugattersleben und v. Krosigk zwischen 1875 und 1920 die Zuckerfabrik Hohenerxleben gemeinsam. Hans Friedrich v. Kotze und die Gebrüder v. Kröcher schlössen sich zusammen, um die Zuckerfabrik Klein Oschersleben ins Leben zu rufen und die Familien v. Veltheim-Veltheimsburg und v. Krosigk-Eichenbarleben betrieben 53 Jahre lang die Zuckerfabrik Eichenbarleben.36 Obwohl die Adligen großen Wert darauf legten, als Gesellschafter unter sich zu bleiben, sei es aus Familien- oder Vertrauensgründen bzw. aus standesgemäßen wirtschaftlichen Interessen, scheuten sie sich nicht, auch mit bürgerlichen Grundbesitzern, ja sogar mit Großbauern zusammenzuarbeiten. Die v. Wedel sorgten immer dafür, daß die scheidenden Gesellschafter ihrer Zuckerfabrik durch bürgerliche Grundbesitzer des

35

36

kammers Güter-Adressbücher, Bd. V: Provinz Sachsen, Stettin 1906 und Leipzig 1913. Vgl. die Analysen von Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3 (wie Anm. 3), S. 169. Vgl. LHAM, Rep. H Neugattersleben, Nr. 147-152, Rep. H Erxleben II, C. Nr. 3895, Rep. H Veitheimsburg, Nr. 673 und Herbert Seiffert, Die Entwicklung der Familie von Alvensleben zu Junkerindustriellen, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte (1963), S. 221-222.

Das

Engagement des Adels in der kapitalistischen Wirtschaft

291

Kreises ersetzt wurden. Die v. Krosigk versuchten, nachdem sie die Zuckerfabrik Helmsdorf die sich früher im alleinigen Besitz der v. Kerssenbrock befand geerbt hatten, das Kapital der Fabrik durch Teilnahme eines anderen Standesgenossen, aber auch von Großbauern, zu erweitern.37 Zwar blieben die Adligen Hauptgesellschafter der Fabrik, die sich auf dem Boden ihres Grundbesitzes befand, doch spricht diese Geschäftspartnerschaft dafür, daß sie ihren standesgemäßen Stolz und ihre Exklusivität zugunsten ihrer wirtschaftlichen Interessen zu temperieren wußten und andere soziale Schichten als Geschäftspartner anerkannten. Sie zeigten sich dabei nicht nur wirtschaftlich anpassungsfähig sondern auch sozial kompromißbereit. Das zweite Feld adliger unternehmerischer Tätigkeiten lag in der Ausbeutung der unterirdischen Bodenschätze des Grundbesitzes v.a. Braunkohle und Kalisalze. Das Bergbauengagement war innerhalb des Adels kein Novum, das Bemerkenswerte dabei liegt aber darin, daß fast alle von Adligen auf ihrem Gutsbesitz betriebenen Bergwerke in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden.38 Mit der Entwicklung der Industrie und der wirtschaftlichen Konkurrenz suchten die adligen Gutsbesitzer neue Wege der Ausbeutung ihrer Gutswirtschaften und des Anschlusses an die wirtschaftliche Modernität.39 Dennoch war diese Tätigkeit sowohl durch Unternehmungsbereitschaft als auch durch die Verfügung über die entsprechenden Bodenschätze eingeschränkt. Nicht alle Adligen hatten die Möglichkeit, eine Braunkohlengrube auf ihrem Gutsbesitz zu errichten und demzufolge war der adlige Bergbaubesitzer eine auf wenige Kreise konzentrierte Erscheinung. Insgesamt gab es 14 adlige Familien der Provinz, die sich auf -

-

-

37

38

3"

H Piesdorf, Nr. 198 und 199 und Paul Elleruolz (Hg.), Handbuch des Grundbesitzes im Deutschen Reiche (wie Anm. 34), 1899. Die Geschäftspartnerschaft mit Großbauern beschränkte sich nicht auf die Zuckerindustrie, sondern war auch in anderen Sektoren zu finden. Die beiden Vettern v. d. Schulenburg gründeten 1898 mit Bauern des Salzwedeler Kreises eine ,Kornhaus mbH' und der Graf v. Wuthenau und Curt v. Bülow-Dieskau waren Mitglieder der Molkerei-Genossenschaft Niemberg. Vgl. LHAM, Rep. H Beetzendorf I, C. III. b. Nr. 24 und Rep. H Hohenthurm, Nr. 861. Als Grund- und Bodenbesitzer betrieben zahlreiche deutsche adlige Familien schon seit der frühen Neuzeit Bergbau, und dies insbesondere im mitteldeutschen Raum, vgl. dazu Walter Bogsch, Die Führungsschichten im sächsischen Bergbau 1430-1740, in: Hans Helbig (Hg.), Führungskräfte der Wirtschaft im Mittelalter und Neuzeit, Bd. 1., Limburg/L. 1973, S. 93-99. Die einzigen drei Ausnahmen waren die Grafen zu Stolberg-Wernigerode, Stolberg—Rossla und Asseburg-Falkenstein, die schon seit der frühen Neuzeit Bergbau und Hüttenwerke betrieben.

Vgl. LHAM, Rep.

292

Thierry Jacob

diesem Gebiet engagierten.40 Ihre Bergwerke waren mittlere lokale Produktionseinheiten und aus ihnen sind keine größeren Unternehmen hervorgegangen.41 Sie wurden nicht unabhängig verwaltet, sondern blieben ein Teilbereich des gesamten Gutsbesitzes, dessen Hauptverwaltung sie unterstellt waren. Zweck der Errichtung einer Braunkohlen- oder Kaligrube war weniger, ein industrielles Imperium auszubilden, als umgekehrt, im Interesse des Grundbesitzes zu handeln. Die Adligen suchten die Erträge ihrer Gutswirtschaft zu vergrößern und aus dem Grundbesitz heraus ein unabhängiges und an Rentabilitätskriterien orientiertes wirtschaftliches System zu schaffen. Diejenigen Familien, die Bergbau betrieben, waren oft die gleichen, die eine Zuckerfabrik besaßen oder die große finanzielle Investitionen in der Zuckerindustrie getätigt hatten. Die v. Alvensleben-Neugattersleben gründeten auf ihrem Grundbesitz in den vierziger Jahren zeitgleich eine Zuckerfabrik und eine Braunkohlengrube, und die v. Helldorff auf St. Ulrich errichteten zunächst eine Braunkohlengrube, versuchten dann ihre Produktion zu erweitern und gründeten schließlich in den sechziger Jahren eine Zuckerfabrik, die von der Grube mit dem notwendigen Brennstoff versorgt wurde.42 Alle diese Betriebe arbeiteten konsequent zusammen, und standen in Relation zu der rein agrarischen Ausbeutung der Gutswirtschaft. So Die auf diesem gewerblichen Sektor beobachtete Überlegenheit der bürgerlichen Grundbesitzer läßt sich teilweise damit erklären, daß diese nicht an einen vielhundertjährigen alten Familienbesitz gebunden waren und sich demzufolge Grundbesitz in Kreisen kaufen konnten, die über reiche Bodenschätze verfügten. Die einzige Ausnahme bildeten die Harbker Kohlenwerke der Grafen v. Veitheim. Gegründet in den fünfziger Jahren, wurden sie energisch erweitert, bis 1887 eine Brikettfabrik errichtet und zur Ermöglichung dieses Baus die Umwandlung in eine AG beschlossen wurde. Die Familie v. Veitheim betrieb die Kohlenwerke weiter, bis es 1915 zum Verkauf an die Braunschweiger Kohlenbergwerke AG kam, in deren Aufsichtsrat die Familie vertreten blieb, vgl. Wilhelm Pieper, Der Kohlenbergbau im Kreis Neuhaldensleben, in: Die Elbe 5 (1926), S. 30. In seiner Untersuchung über das Engagement des westfälischen Adels im Bergbau und in der Eisenverhüttung kommt Hinz zu den gleichen Ergebnissen, vgl. Lothar Hinz, Die Geschichte der Wocklumer Eisenhütte 1758-1864 als Beispiel westfälischen adligen Unternehmertums, Altena 1977, S. 68. Vgl. LHAM, Rep. H Neugattersleben, Nr 159, Hellmut Kretzschmar, Geschichtliche Nachrichten von dem Geschlechte von Alvensleben seit 1800, Hopfer Burg 1930, S. 60 und Karl Weschke, Zum 75jährigen Bestehen der Zuckerfabrik Stöbnitz, o. O. 1939, S. 13-16. Die v. Alvensleben gründeten ferner einen Kiesbruch, ein Kalkwerk, eine Kartoffelflockenfabrik sowie eine Anlage zur Trocknung der Rüben.

Das

Engagement des Adels in der kapitalistischen Wirtschaft

293

bildeten sich auf manchem adligen Grundbesitz agrar-industrielle Produktionseinheiten und Musterwirtschaften. Der Gutsbesitz war auf großen Flächen mit Zuckerrüben bebaut. Die dafür erforderliche große Menge an Düngemittel verbesserte die Produktivität des Bodens, die Feldarbeit wurde durch Verwendung von Maschinen mechanisiert, Feldbahnen zum Transport der Rüben wurden errichtet und die Produkte dieser Ausbeutung kommerziell verwertet. Wenngleich diese auf den Gutsbesitz bezogenen Betriebe kleine bzw. mittlere Produktionseinheiten waren, erwiesen sie sich dennoch als eine lukrative Einkommensquelle. Manchmal bildete die auf dem Gut liegende Fabrik die größte Einnahmequelle. So schrieb 1857 Heinrich v. Graevenitz in seinem Testament: „Sollte er (mein ältester Sohn, T. J.) dennoch glauben, im Erbtheil verletzt zu sein, so kann ich nur annehmen, dass bei meinem Tode die Zuckerfabrik (...) durch Zeitverhältnisse gedrängt, nicht mehr betrieben wird."43 Durch ihr wirtschaftliches Engagement im Rahmen der Gutsbetriebe schufen sich die Adligen ein wirksames Mittel zur Kompensation der sinkenden Getreidepreise und der Landwirtschaftskrise des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts. Die anhand von Vermögensaufstellungen rekonstruierte Verteilung der verschiedenen Einkommensquellen zweier adliger Familien liefert ein relevantes Beispiel der Bedeutung dieser Fabriken innerhalb des Gesamteinkommens (vgl. Tab. 1 und 2). Wenngleich das Einkommen aus der Gutswirtschaft immer als erste Einkommensquelle fungierte, zeichnet sich die Zusammensetzung des Gesamteinkommens durch ein Gleichgewicht zwischen reinem landwirtschaftlichem und industriellem Einkommen aus. Die Fabriken spielten im Gesamteinkommen eine bedeutende Rolle und befanden sich immer an der zweiten Stelle des Einkommens.44 Manchmal bildeten die Einkommen aus dem gewerblichen Sektor, wie bei den v. Helldorff und v. Veitheim zu erkennen ist, die erste Einkommensquelle. So verdankten sie z. B. 1893 50 % bzw. 55 % ihres Gesamteinkommens allein ihren Erwerbsbetrieben. Wenn man das Einkommen aus dem gewerblichen Sektor und die Wertpapiere zusammenrechnet, dann ergibt das ein Übergewicht des nicht agrarischen Einkommens innerhalb des Gesamteinkommens. Bei LHAM, Rep. H Queetz, Nr. 7.

Dabei darf nicht vergessen werden, daß oft ein beträchtlicher Teil der rein agrarischen Nutzung der Gutswirtschaft aus Zuckerrübenanbau bestand, der entweder der Versorgung der eigenen Zuckerfabrik diente oder dessen Kommerzialisierung beträchtliche Gewinne brachte.

Thierry Jacob

294

den v. Helldorff machten die nicht agrarischen Einkommen in den untersuchten Stichjahren zwischen 40 % und 77 % ihres Einkommens und bei den v. Veitheim zwischen 54 % und 75 % aus. Tabelle 1:

Verteilung der verschiedenen Einkommensquellen der Karl Heinrich und Roderich Heinrich

Jahr

1893 1897 1903

v.

Helldorff auf St. Ulrich, Kreis Querfurt, in

Jahr 1878/79 1883/84 1888/89 1893/94 *

H.4-5

Verteilung des Einkommens in % Grundvermögen Kapitalvermögen Handel und Gewerbe

26 24 39 23 44 27 3* 60 1908 Die Reduzierung des Einkommensanteils der ist auf eine Erbteilung zurückzuführen.

Tabelle 2:

v.

50 38 29 37

Wertpapiere

Verteilung der verschiedenen Einkommensquellen des August heim auf Veitheimsburg, Kreis Neuhaldensleben, in v. H.

v.

Veit-

Verteilung des Einkommens in % Grundvermögen Wertpapiere Zuckerfabrik Verschiedenes 37 32 35 15 Verschiedenes:

36

26 19

20 49 28 56

0.2 11

Hypothekenlöschung, Grundstücksverkauf, Bankguthaben usw.

1. Die Gründung von Kleinbahnen: Integration der Gutswirtschaft in die regionalen Kommerzialisierungs- und Produktionsmärkte

Die Logik der Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung der Gutswirtschaft wurde Ende der achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts mit dem Engagement der adligen Grundbesitzer bei der Entwicklung des regionalen bzw. lokalen Eisenbahnnetzes der Provinz Sachsen (den sogenannten Neben- und Kleinbahnen) noch weiter gefuhrt.47 Wenn 45 46 47

LHAM, Rep. H St. Ulrich, Nr. 142, 145, 147 und 161. LHAM, Rep. H Veitheimsburg, Nr. 939 und 940.

Entstehungsgeschichte und Gesetzgebung über die Neben- und Kleinbahnen vgl. Dieter Ziegler, Eisenbahnen und Staat im Zeitalter der Industrialisierung, Stuttgart 1996, S. 360-380 und 381-441 und insbesondere für die Provinz Sach-

Zur

Hermann Giesau, Geschichte des Provinzialverbandes 1925, Merseburg 1926, S. 199-232.

sen:

von

Sachsen 1825-

Das Engagement des Adels in der kapitalistischen Wirtschaft

auch der Staat und insbesondere die

295

Provinzialverwaltung

durch die Gewährung von Darlehen und die Übernahme von Aktien die Errichtung von Kleinbahnen finanziell stark unterstützte, lag die Initiative und die Finanzierung ihrer Gründungen bis zur Jahrhundertwende hauptsächlich in den Händen der Kreise, der Gemeinden und von Privatinvestoren. Die Adligen erkannten schnell, welche wirtschaftlichen Vorteile ihrem Gutsbesitz durch einen Anschluß an das lokale bzw. regionale Eisenbahnnetz erwuchsen. Sie beteiligten sich persönlich sehr stark an seiner Entstehung und Finanzierung, sei es als Gründer, als kapitalkräftige Investoren oder als Vermittler zwischen den Gemeinden, den Kreisen und der Provinzialverwaltung, was ihre prominente Stellung im Kreis, ihr sozialer Einfluß und ihre Beziehungen zur regionalen und zentralen Verwaltung ermöglichte. Zwar stellte die Teilnahme der adligen Gutsbesitzer an der Finanzierung der regionalen Eisenbahnen keine Besonderheit des Adels dar, seine starke Beteiligung an der Zukkerindustrie und die oft betriebene industrielle Ausbeutung der Gutswirtschaft veranlaßten ihn aber, sich intensiv als Mitgründer von Eisenbahnen zu engagieren. Diejenigen Adligen, die sich als Gründer oder Aktionäre von Kleinbahnen auszeichneten, sind nämlich oft diejenigen, die auch eine Musterwirtschaft betrieben, ihr Gut intensiv mit Zuckerrüben bebauten oder die selbst Eigentümer von Erwerbsbetrieben waren.48 Bei dem Engagement der Adligen in der Entstehung des Regionaleisenbahnnetzes mischten sich untrennbar ihre Rollen als Förderer der wirtschaftlichen Entwicklung des Kreises und als Vertreter ihrer eigenen Interessen. Kein Adliger engagierte sich nämlich in einer Kleinbahn, ohne daß diese die Bedingung erfüllte, den Gutsbesitz zu durchqueren oder ein Anschlußgleis zu dem Gutsbesitz zu bauen. So übernahm 1880 Albrecht v. Alvensleben-Schönborn die Leitung des Gründungskonsortiums der Neuhaldensleber Eisenbahn. Die Logik dieser Bahn bestand darin, die verschiedenen Fabriken und Gutsbetriebe der Gegend zu verbinden und ihre Trasse an die MagdeburgDie Vorteile, welche die Gutsbesitzer aus einem Anschluß an das lokale Eisenbahnnetz erwarteten, verdeutlicht die Korrespondenz des Grafen Hohenthal mit der Gera-Meuselwitzer Eisenbahn: Von dem über zahlreiche Nebenbetriebe verfügenden Rittergut Kayna sollten mit einem Anschluß an diese Bahn 40.000 Zentner Zuckerrüben, 50.000 Zentner Ziegel, 25.000 Zentner Gruben- und Braunhölzer sowie 38.000 Zentner Getreide usw. transportiert werden. Vgl. LHAM, Rep. H Kayna, Nr. 68, Bl. 10-11.

296

Thierry Jacob

Braunschweiger Eisenbahn anzuschließen. Von Alvensleben gewann die finanzielle Unterstützung der Kreisverwaltung und mehrerer Zukkerfabriken des Kreises, konzipierte die Statuten der Gesellschaft und vergaß dabei seine eigenen Interessen nicht. Da mehrere Trassen geplant wurden, korrespondierte er mit dem Ministerium für öffentliche Arbeiten, damit dieses jene Trasse bevorzugte, die seine Güter mit der Zuckerfabrik, an der er beteiligt war, verband.49 Die Teilnahme der Adligen der Provinz Sachsen an der Entwicklung und Finanzierung des Eisenbahnnetzes zeugt davon, wie konsequent sie ihren Grundbesitz zu fördern beabsichtigten. Zweck ihres Engagements im Regionaleisenbahnnetz war eigentlich nicht die Einkommensdiversifizierung, da diese Bahnen kleine und lokale Unternehmen waren, deren Rentabilität meist gering blieb.50 Vielmehr investierten sie ihr Geld, um den Gutsbesitz in die Transportnetze der Region einzugliedern, und so dessen landwirtschaftliche und

industrielle Produktion besser verwerten zu können. Dabei versuchten die Adligen alle Chancen zur Förderung ihres Grundbesitzes zu nutzen, was als eine Form der ökonomischen Anpassung an die kapitalistische Wirtschaftsführung zu verstehen ist. 2.

Die relative ode

Deindustrialisierung am Ende der untersuchten Peri-

Obwohl es mancher adligen Familie gelang, ihren Gutsbesitz zu modernisieren und ihre industriellen Betriebe Jahrzehnte lang zu betreiben, ist am Ende der untersuchten Periode ein Deindustrialisierungsprozeß zu beobachten, der zu einer (relativen) Reduzierung der Unternehmertätigkeit des Adels führte. Die Gründe dafür sind vielfäl-

tig.

Ein erster Grund liegt in der Erschöpfung der Bodenschätze. Die Hauptgründe der Aufgabe von Betrieben sind aber vielmehr in der wirtschaftlichen Entwicklung der Provinz Sachsen, wie des Deutschen Reiches überhaupt, zu suchen. Die meisten der von Adligen geführten Betriebe waren kleine Produktionseinheiten, die zur Jahrhundertwende der Wachstumsdynamik der Industrialisierung nicht mehr entsprachen. Das Bahnprojekt bekam 1886 die Baugenehmigung, vgl. LHAM, Rep. H Erxleben 2, B. XX. Nr. 2878. Z. B. brachten die dem Graf Alvensleben gehörigen Aktien der Neuhaldensleber Eisenbahngesellschaft 1902 nur 2,16 % Dividende, vgl. LHAM, Rep. H Erxleben 2, B. XXX. Nr. 3672.

Das

Engagement des Adels in der kapitalistischen Wirtschaft

297

Im südwestlichen Teil des

Regierungsbezirks Merseburg vollzog sich des Konzentrationsprozeß Bergbaus in immer größer werdenden Konzernen. Dort standen die meisten kleinen Privatgruben unter dem Druck der Konkurrenz und konnten sich oft nicht mehr halten, so daß immer mehr Gruben in den Besitz der größeren Unternehmen gerieten.51 So gaben die v. Leipziger zwischen 1884 und 1889 ihre Braunkohlengrube auf, während die v. Helldorff das Einkommen ihrer Grube sinken sahen, worauf sie diese um 1920 an die BASF verpachteten.52 Auch in der prägenden Industrie der Provinz Sachsen, der Zuckerindustrie, setzte sich im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts ein ähnlicher Konzentrationsprozeß durch. Diesem fielen viele Zuckerfabriken zum Opfer.53 So wurde 1903 die v. Graevenitzsche Zuckerfabrik eingestellt sowie 1918 die v. Krosigksche Zuckerfabrik Mukrena. Der Rückgang der Zuckerindustrie wirkte auch negativ auf die hochspezialisierte und vorher marktführende Stoiberger Maschinenfabrik, die 1906 nicht wegen Mißleitung, sondern wegen Auftragsmangel ihre Türen schließen ein

mußte.54

Aber dieser Deindustrialisierungsprozeß bedeutete nicht, daß die Adligen sich als Rentiers auf ihren Gutsbesitz zurückzogen und sich mit ihren rein landwirtschaftlichen Erträgen zufrieden gaben. Es scheint vielmehr, daß nach dem Verkauf oder der Einstellung ihrer Betriebe manche Familien, zumindest diejenigen, die Kapital mobilisieren konnten, sich weiter wirtschaftlich zu behaupten suchten. Ihre Dieser Prozeß der Deindustrialisierung der wirtschaftlichen Tätigkeiten des Adels war aber ein europäischer Prozeß. Schon seit 1850 und zunehmend im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts gab der britische Adel, wegen Mangel an Sachkompetenz, Kapital und Zeit, seine Kohlengruben und Eisenhütten auf. Auch der französische Adel der Franche-Comté konnte im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts mit der schärfer werdenden Konkurrenz der größeren Eisenhütten nicht mehr mithalten und wurde dazu gezwungen, seine Betriebe einzustellen. Vgl. Hartmut Berghoff, Adel und Bürgertum in England 1770-1850, in: Fehrenbach (Hg.), Adel und Bürgertum (wie Anm. 2), S. 115-117 und Claude-Isabelle Brelot, La noblesse réinventée. Nobles de Franche-Comté de 1814 à 1870, Bd. 1, Paris 1992, S. 365-367. Vgl. Handbuch der Provinz Sachsen, Magdeburg 1884 und 1889, S. 520 und LHAM, Rep. H St Ulrich, Nr. 276 und 277. Die Krise der Zuckerindustrie hatte ihre Wurzeln in der Überproduktion, in den sinkenden Zuckerpreisen und in der europäischen Konkurrenz. Allein in der Provinz Sachsen wurden 50 Fabriken geschlossen, darunter befanden sich fast drei Viertel in Privatbesitz oder OHG, vgl. Müller, Rübenzuckerindustrie (wie Anm. 22), S. 60-61. Vgl. Lorenz, Produktion (wie Anm. 33), S. 15.

Thierry Jacob

298

mit den Betrieben und der Einkommensdiversifizierung begonnene wirtschaftliche Sozialisation setzte sich weiter fort. Die Adligen beteiligten sich weiterhin an industriellen Unternehmungen, suchten aber andere Formen, sich wirtschaftlich zu betätigen. Roderich Heinrich v. Helldorff (1848-1913) scheint den Rückgang des Einkommens seiner Braunkohlengrube durch das Zeichnen gewinnbringender Wertpapiere kompensiert zu haben. In seinem Allodialnachlaß befanden sich für 128.000 Mark Aktien großer Industrieunternehmen bzw. Banken, alles Werte, die im Nachlaß seines älteren Bruders nicht zu finden waren.55 Andere Familien gingen den Schritt von der direkten Unternehmertätigkeit zur Kapitalbeteiligung in der gleichen Industriebranche und zeigten dabei einen markanten Grad an wirtschaftlicher Kontinuität. Die 1865 gegründete ,Zuckerfabrik v. Veitheim und v. Krosigk' wurde 1904 wegen unzureichenden Betriebskapitals und Verschuldung in eine GmbH mit mehr als 65 Gesellschaftern umgewandelt. Dabei blieben v. Krosigk und v. Veitheim aber die größten Gesellschafter dieser neuen Fabrik und August v. Veitheim lieferte einen Teil seiner Zuckerrüben an die benachbarte Zuckerfabrik Nordgermersleben, bevor er 1918 für 40.500 Mark Anteile von der Erbin des bürgerlichen Gründers dieser Fabrik erwarb.56 Aus diesem kurzen Panorama der wirtschaftlichen Tätigkeiten der adligen Grundbesitzer der Provinz Sachsen auf der Ebene des Grundbesitzes ist zu erkennen, wie stark die Adligen die Chance zu nutzen wußten, den eigenen Grund und Boden zu modernisieren und zu entwickeln. Der Grundbesitz war dabei immer Initiator und Ausgangsbasis ihrer unternehmerischen Tätigkeiten. Wenngleich nicht alle adligen Familien der Provinz Sachsen eine Fabrik auf ihrem Gutsbesitz errichteten, versuchten sie dennoch in großem Umfang, die Ausbeutung der Gutswirtschaft zu fordern, ihre Erträge zu diversifizieren und die Produktion in die wirtschaftliche Struktur der Provinz zu integrieren. Dabei entstanden oft Musterwirtschaften, die denen von bürgerlichen Grundbesitzern ähnlich waren. Aber das Entscheidende war die Betätigung der Adligen der Provinz Sachsen im Agrar-Unternehmertum. Die adligen Grundbesitzer waren 55 56

LHAM, Rep. H St Ulrich, Nr. 168. LHAM, Rep. H Veitheimsburg, Nr. 687 und 690 und Zabels Jahr- und Adressbuch der Zuckerfabriken Europas für die Betriebszeit 1916/17, Magdeburg 1916, S. 52. Den Familien v. Krosigk und gegründeten Zuckerfabrik.

neu

v.

Veitheim

gehörten

75 % der Anteile der

Das

Engagement des Adels in der kapitalistischen

Wirtschaft

299

stärker daran interessiert, ihren Grundbesitz industriell zu nutzen, als ihr Geld in größere Betriebe oder in industrielle Konzerne zu investieren. Zahlreiche adlige Familien der Provinz Sachsen taten dies durch die Errichtung von Zuckerfabriken oder Gruben zielstrebig und konsequent. Auf diese Adligen trifft der abwertende Kampfbegriff Krautjunker' nicht zu. Wie zahlreiche bürgerliche Grundbesitzer, waren sie zugleich Grundbesitzer und Industrielle, genauer gesagt, sie waren agro-industrielle Unternehmer. In mancherlei Hinsicht näherten sich diese Adligen mehr den englischen oder nordfranzösischen Adligen als dem Stereotyp vom ostelbischen Junker. Diese unternehmerischen Tätigkeiten brachten den Adligen nicht nur beträchtliche Einkommen, sie führten auch zu einer relativen Umgestaltung ihres wirtschaftlichen Denkens und Verhaltens. Der Grundbesitz war nicht mehr eine feudale Einkommensquelle, sondern eine auf Profit und Rentabilität orientierte wirtschaftliche Basis. Die Adligen scheuten nicht davor zurück, sich mit Bürgerlichen zu vereinigen und schufen wichtige Brücken zur industriellen Welt. Ging aber der Adel einen weiteren Schritt voran in seiner wirtschaftlichen Anpassung, nämlich zur persönlichen Teilnahme an der Verwaltung größerer Unternehmen über, und hat er versucht, seine agro-industriellen Interessen durch das Mitwirken an der Verwaltung der Aktiengesellschaften durchzusetzen? ,

III. Die

Beteiligung der Adligen an den Vorständen und Aufsichtsrä-

ten der Unternehmen

Als weiterer Indikator der wirtschaftlichen Anpassung des Adels an den Kapitalismus ist zu untersuchen, ob der Adel der Provinz Sachsen sich an den führenden Organen der Unternehmen, sei es als Vorstandsmitglied oder als Aufsichtsratsmitglied, beteiligt hat. Diese Form der Beteiligung an der kapitalistischen Wirtschaft stellt nämlich ein Tätigkeitsfeld dar, das eindeutig nicht mit den traditionellen standesgemäßen Orientierungen des Adels im Zusammenhang stand. Die Teilnahme an einem Unternehmen bedeutete, daß man von der traditionellen Ablehnung der persönlichen Verwicklung in die Geschäfte und von den als unstandesgemäß betrachteten Berufen Abstand nahm. Mit der Teilnahme an einem Aufsichtsrat trat auch der vor der Öffentlichkeit bisher leicht zu versteckende Aktienbesitz in den Vordergrund. Man war nicht nur ein bloßer Aktionär, sondern man engagierte sich persönlich in einem Unternehmen, das dadurch mit seinem Namen assoziiert wurde. Das Engagement der Adligen in den Aktien-

-

300

Thierry Jacob

gesellschaften stellt demzufolge ein gutes Kriterium dar, um die Tiefe, aber auch die Grenzen ihrer wirtschaftlichen Anpassung sowie ihrer Wahrnehmung des Kapitalismus zu analysieren. Bei der Analyse der Beteiligung des Adels an den Unternehmen hat sich die Geschichtsschreibung zu starr auf die dünne Elite der Standesherren und die großen Berliner Aktiengesellschaften konzentriert. Diese Eingrenzung hat dazu geführt, daß man die Teilnahme des Adels an den Gremien der Aktiengesellschaften als eine Eigenschaft der wohlhabendsten adligen Familien, die über Reichtum, soziales Prestige, und Nähe zur Information verfügten, bezeichnet hat. Ferner wurde diese Beteiligung sehr oft entweder als Strohmann-Tätigkeit beschrieben oder als Suche nach schnellen und spekulativen Gewinnen. Die alleinige Berücksichtigung der Berliner Großbanken und -unternehmen und der Bergbaugesellschaften des Ruhrgebiets als mögliches Tätigkeitsfeld von Adligen hat auch dazu geführt, daß man die Betrachtung der Ebene der regionalen Wirtschaft Deutschlands und der mittleren bzw. kleineren Unternehmen vernachlässigt hat. Aber gerade diese regionalen Betriebe, die nicht unbedingt an der Berliner Börse notiert waren und im Zusammenhang mit der Agrarwirtschaft arbeiteten, allerdings nicht weniger hohe Dividenden als eine Berliner Bank bringen konnten, boten dem Adel genügend Spielraum. Er konnte sich in ihren Verwaltungen engagieren ohne das Gefühl zu haben, sein Ansehen aufs Spiel zu setzen. Und dies gilt insbesondere für die preußische Provinz Sachsen. Das fuhrt zu der Frage: Hat das bereits oben beobachtete Zeichnen von industriellen Wertpapieren und die starke Beteiligung der Adligen an der Zuckerindustrie eine Dynamik ausgelöst, die sich in der Teilnahme von Adligen an den Vorständen bzw. Aufsichtsräten der regionalen Unternehmen fortgesetzt hat? Zwischen den späten sechziger Jahren und 1918 wurden insgesamt 88 Adlige der Provinz Sachsen identifiziert, die ein Aufsichtsrats- oder Vorstandsmandat innehatten.57 Da schon während der untersuchten Als

Quellen dieser Untersuchung fungieren

die Adressbücher der Direktoren und seit 1898 erschienen, die Handbücher der deutschen Aktiengesellschaften, die Unternehmensarchive des Hamburger Weltwirtschaftsarchivs sowie zahlreiche Firmenfestschriften (insbesondere für die Zuckerindustrie), sowie für die Gründerzeit die Untersuchung von Otto Glagau, Der Börsenund Gründungsschwindel in Deutschland, Leipzig 1877. Glagau versuchte in seinem antisemitischen Werk die Kollusionen zwischen Politikern, Beamten und Unternehmern zu dokumentieren und kommt zu übertriebenen, manchmal sogar falschen Ergebnissen, die mit großer Vorsicht behandelt werden müssen. Da unsere Methode auf Stichproben basiert, ist diese Liste sicherlich nicht vollständig.

Aufsichtsräte, die aber

erst

Das

Engagement des Adels in der kapitalistischen Wirtschaft

301

Periode eine Generationenkontinuität zu beobachten ist oder mehrere Mitglieder der gleichen Familie ein Mandat besaßen, entstammten diese 88 Adligen 74 Familien, was rund einem Fünftel aller in der Provinz Sachsen begüterten adligen Familien entspricht. Diese relativ bedeutende Zahl weist darauf hin, daß diese Adligen keine Sonderfälle waren, und daß die Behauptung, die Adligen hätten sich vom persönlichen Engagement in den Unternehmen ferngehalten, stark zu relativieren ist.58 Diese 88 Adligen erweisen sich um so mehr als repräsentativ, da unter ihnen nur zwei Standesherren vertreten waren und ihr Vermögensniveau sehr unterschiedlich gewesen ist.59 Der Blick in Rudolf Martins Jahrbuch der Millionäre der Provinz Sachsen zeigt, daß 1913 unter diesen 88 Adligen (oder ihren Erben) die Millionäre zwar überwogen (sie stellen 57 % aller Mandatsträger dar), aber immerhin stammten 43 % dieser Adligen nicht aus wohlhabenden Familien, ja sogar aus verarmten Familien.60 Das Vermögensniveau war Außerdem wurden diejenigen Adligen, über die unpräzise Angaben vorlagen, nicht in das Untersuchungssample einbezogen, so daß die Zahl der Adligen der Provinz Sachsen, die als Vorstand oder Aufsichtsrat tätig waren, wahrscheinlich noch viel größer war. Diese Zahl wird um so bedeutender, wenn man den Adel der Provinz Sachsen mit anderen europäischen Adelsgruppen vergleicht. Unter den Adligen des Somme Départements in Frankreich ist in den zwei ersten Dritteln des 19. Jahrhunderts nur ein einziges Beispiel persönlichen Engagements in den Aktiengesellschaften zu finden und in der Franche-Comté fungierten nur eine Handvoll reicher Adliger als Verwaltungsräte. Nur der von Napoleon geschaffene Adel scheint sich in größerem Umfang in den Aktiengesellschaften engagiert zu haben. Vgl. JeanMarie Wiscart, La noblesse de la Somme au 19è siècle, Amiens 1994, S. 189, Claude-Isabelle Brelot, La noblesse réinventée (wie Anm. 51), S. 492—494 und Nathalie Petiteau, La noblesse d'Empire au XlXè siècle, 1808-1914, Paris 1997, S. 381-387. Die Teilnahme des britischen Adels an der Unternehmensverwaltung war bedeutender, betraf aber nur den reichen Hochadel. Vgl. dazu David Cannadine, The Decline and the Fall of the British Aristocracy, London 1992, S. 407. Es handelte sich um den Grafen Otto zu Stolberg-Wernigerode, der als Mitglied der Oels-Gnesen Eisenbahn und der Zeitung "Die Post" amtierte und um seinen Onkel, Graf Eberhard, Mitglied der Preußischen Hypotheken- und Creditanstalt und der Halle-Sorau-Gubener Eisenbahn, vgl. dazu Glagau, Börsen- und Gründungsschwindel (wie Anm. 57), S. 464-465 und 497-502. Die vier anderen standesherrlichen Familien der Provinz Sachsen besaßen kein Mandat in Aktiengesellschaften. Nicht auszuschließen ist dennoch, daß sie in den Aufsichtsräten durch ihre Güterverwalter vertreten waren. Rudolf Martin, Jahrbuch des Vermögens und Einkommens der Millionäre in der Provinz Sachsen, Bd.14, Berlin 1914. 33 % der adligen Mandatsträger waren Multimillionäre, 24 % waren 'einfache Millionäre' und 43 % die stärkste Gruppe waren in Martins Jahrbuch nicht zu finden. -

-

302

Thierry Jacob

also nicht das entscheidende Kriterium, damit ein Adliger die Möglichkeit wahrnahm, sich an den Aktiengesellschaften zu beteiligen, aber wie wir später sehen werden, wirkten die Unterschiede des Vermögensniveaus als interne Trennlinie. Die untersuchten Adligen, die als Unternehmensmandatsträger fungierten, verkörperten demzufolge nicht die reiche Elite der preußischen Aristokratie, sondern eher den mittleren Kern der adligen Gruppe. Es gilt nun zu klären, inwiefern sich die Adligen der Provinz Sachsen in der Verwaltung der Unternehmen engagiert haben und welche Funktionen und Rollen sie erfüllt haben. Angesicht des Mangels an homogenen Quellen fällt es schwer zu sagen, ob die Teilnahme der Adligen an den Vorständen bzw. Aufsichtsräten mit der Zeit gestiegen ist. Wenn man nur die gemeinsamen Jahrgänge der deutschen Handund Adressbücher in Betracht zieht, wird eine steigende persönliche Teilnahme der Adligen deutlich: Zwischen 1898 und 1918 verdoppelte sich die Zahl der adligen Mandatsträger von 18 auf 40 Personen und parallel dazu verdoppelte sich auch die Zahl der von ihnen gehaltenen Mandate. Die durchschnittliche Mandatszahl pro Kopf blieb aber stabil: Im Durchschnitt verfügte jeder Adlige über 1,3 Mandate, und ein deutlicher Trend zur Mandatsanhäufung ist nicht zu beobachten. 70 % der ermittelten adligen Mandatsträger der Provinz Sachsen besaßen nur ein Mandat, 17 % 2 Mandate und 13 % mehr als 2 Mandate.61 Die Besitzdauer dieser Mandate weist aber darauf hin, daß die Teilnahme der Adligen an den Unternehmensgremien keine vorübergehende und oberflächliche Tätigkeit war. Sie stellte im Gegenteil ein echtes Engagement dar und deutet daraufhin, daß die Adligen die Vertretung ihrer finanziellen Interessen als eine ernste Sache ansahen. 49 % der Adligen behielten nämlich ihr Mandat mehr als 10 Jahre und 13 % mehr als 20 Jahre, wobei sich die durchschnittliche Dauer der Ausübung einer Verwaltungsfunktion sich auf 6 und 11 Jahre belief.62 Die Adligen In seiner Untersuchung über die berufliche und soziale Zusammensetzung der Aufsichtsräte der an der Berliner Börse notierten Aktiengesellschaften für das Jahr 1906 kommt Eulenburg zu ähnlichen Ergebnissen. Die von ihm untersuchten Grundbesitzer besaßen im Durchschnitt 1,23 Aufsichtsratsstellungen und 82 % hatten nur ein einziges Mandat, wobei zu bemerken ist, daß die Adligen der Provinz Sachsen sich etwas umfangreicher engagiert haben. Vgl. Franz Eulenburg, Die Aufsichtsräte der deutschen Aktiengesellschaften, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, III. Folge, Bd. 32 (1906), S. 105-108. Die Erhaltungsdauer der Mandate für diejenigen Adligen, über die Angaben zur Verfugung stehen, sah wie folgt aus: 2-5 Jahre: 17,74 %, 6-10: 33,87 %, 11-15: 24,19 %, 16-20: 11,29 %, mehr als 20 Jahre: 12,90 %. Diese Erhaltungsdauer der

Das

Engagement des Adels in der kapitalistischen Wirtschaft

303

haben aber in der überwiegenden Mehrheit als Aufsichtsräte fungiert: 71 % besaßen ein Aufsichtsratsmandat und 59 % waren nur Mitglied des Aufsichtsrates. Immerhin 25 % waren in den Vorständen vertreten.63 Diese Tatsache zeigt, daß die Adligen nicht geneigt waren, sich in die tägliche und technische Verwaltung der Unternehmen zu verwickeln. Ihnen reichte es, eine Stellung zu besitzen, die es ihnen erlaubte, die Geschäftsführung zu kontrollieren und ihre eigenen Interessen zu vertreten.64 Den Sprung in die reale Verwaltung eines Unternehmens taten die Adligen nicht oder nur sehr selten und bevorzugten dafür einflußreiche Funktionen mit geringerem Arbeitsaufwand. Wie bei den Privatinvestitionen bildete die Industrie mit 67 % der Mandate (vgl. Tab. 3) das größte Betätigungsfeld der Adligen. An zweiter Stelle kamen die Eisenbahngesellschaften (17 % aller Mandate), dann die Banken, Immobilien- und Versicherungsgesellschaften (12,6 % aller Mandate). Im industriellen Sektor ist erneut die dominante Stellung der Zuckerindustrie (der Provinz Sachsen) zu beobachten: diese stellte mit 43 Mandaten den stärksten Teilnahmesektor der Adligen, danach kamen die Bergwerke und die weitere Montanindustrie mit 14 % aller Mandate. Wenn sich auch die Beteiligung der Adligen an den Vorständen und Aufsichtsräten auf drei wirtschaftliche Sektoren konzentrierte (Zuckerindustrie, Bergbau und Eisenbahn), die allein 72 % ihrer Mandaten ausmachten, so ist dennoch ein vielfältigeres Engagement und eine breitere Öffnung anderen wirtschaftlichen Sektoren gegenüber zu beobachten als in ihren Wertpapierinvestitionen. Die Banken, Versicherungs- und Immobiliengesellschaften stellten das vierte Feld adligen Engagements dar, und dabei handelte es sich meist um Berliner oder die größeren regionalen Banken. Am Ende der untersuchten Periode tauchten in nicht unbedeutendem Umfang wirtschaftliche Sektoren der Hochindustrialisierung (Chemie, Elektrizitäts- und Wassergesellschaften) sowie die Kolonialgesellschaften auf. Mandate wäre noch größer, wenn man über die Kaiserzeit hinaus geht und nach der Kontinuität der Verwaltungsfunktion in der Zeit der Weimarer Republik sucht. Manche Familien behielten ihr Mandat bis in die vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts. 63 % bzw. 12 % der Adligen waren einfache Mitglieder bzw. (Stellv.) Vorsitzende eines Aufsichtsrats, 21 % bzw. 3,2 % einfaches Mitglied oder Vorsitzende eines Direktoriums und 0,80 % Prokuristen. Zur Rolle des Aufsichtsrats, vgl. Klaus J. Hopt, Zur Funktion des Aufsichtsrats im Verhältnis von Industrie und Bankensystem, in: Norbert Horn und Jürgen Kocka (Hg.), Recht und Entwicklung der Großunternehmen im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Göttingen 1979, S. 228-242.

Thierry Jacob

304

Tabelle 3:

Verteilung der von den Adligen gehaltenen Mandate nach den verschiedenen

wirtschaftlichen Sektoren und Branchen, 1870-1918

Wirtschaftliche Sektoren und Branchen

Industrie Zuckerindustrie Bergwerke und weitere Montanindustrie Maschinenbau- und Metallindustrie Brauereien Holz- und Papierindustrie Elektrizitäts- und Wassergesellschaften Chemische Industrie Textilindustrie Verschiedenes

Eisenbahngesellschaften Banken, Versicherungs- und Immobiliengesellschaften Banken und Immobiliengesellschaften Versicherungsgesellschaften

Zahl der Mandate absolut in % 96

67

43 21 9 6 5 5 4 2 2

30

24

17

18

13

16 2

11

Kolonialgesellschaften

4

Presse

1

14 6 4

3 3 3 1 1

143

Insgesamt Dieser Prozeß der

Erweiterung des Engagements des Adels in den Unternehmensverwaltungen vollzog sich aber nicht homogen und in gleichem Umfang. Vielmehr begründeten Kriterien, wie die Verfügung

über

Grundbesitz, das Reichtumsniveau, die Nähe

zu anderen Fühund der der innerhalb Familie entscheidende rungsschichten Rang Trennlinien in der Art und Weise dieses Engagements. Schematisch gesehen kann man zwei Typen von Adligen und zwei Strategien der Teilnahme an den Unternehmen unterscheiden, die im folgenden beschrieben werden sollen:

1. Im gesamten

Untersuchungssample hebt sich eine erste Gruppe be-

sonders hervor: Die Gutsbesitzer. Diese waren nämlich in den wirtschaftlichen Sektoren am zahlreichsten vertreten, die mit der wirtschaftlichen Nutzung des Gutsbetriebes verwoben waren. So besaßen sie alle Zuckerfabriken- und Kleinbahnmandate, die meisten Brauerei-,

Das

Engagement des Adels in der kapitalistischen Wirtschaft

305

Holzgesellschafts- und Maschinenbaumandate sowie zwei Drittel aller Bergwerks- und größeren Eisenbahnmandate. Sie besaßen ferner hauptsächlich Mandate regionaler Unternehmen, saßen in fast gleichgewichtigem Maße in den Aufsichtsräten wie in den Vorständen und behielten ihre Mandate sehr lange, und vererbten sie in einigen Fällen über mehrere Generationen hinweg. Die wirtschaftliche Strategie, die ihrem Engagement zugrunde lag, beruhte weniger auf raschen Bereicherungserwartungen oder Spekulationen als vielmehr auf der Vertretung und Verteidigung ihrer Grund-

besitzerinteressen. Die Gutsbesitzer saßen in den Gremien dieser Gesellschaften eben als solche, und ihr Eindringen in die Aufsichtsräte ist als Folge ihrer agrar-unternehmerischen Tätigkeiten zu erklären. Zahlreiche Gutsbesitzer, die Großaktionäre waren, engagierten sich persönlich in den Verwaltungen solcher Unternehmen, deren Produktion ihren eigenen Interessen entsprachen. Das beste Beispiel dieser Grundbesitzer-Strategie lieferte Karl v. Davier (1853-1936). Er erbte 1895 die Güter Seggerde, Weferlingen, Hasselburg und Lemsell, widmete sich dann dynamisch ihrer Verwaltung und führte bald eine Musterwirtschaft. Er beteiligte sich an der Zuckerfabrik Weferlingen, in dessen Aufsichtsrat er saß. Er besaß weitere vier Mandate in industriellen Unternehmen, deren Produktion oder Tätigkeitsbereiche für seine Gutswirtschaft von hoher Wichtigkeit waren: Er amtierte zwischen 1911 und 1930 als Vorsitzender bzw. Mitglied des Aufsichtsrats der Kleinbahn AG Neuhaldensleben-Weferlingen, der Brauerei Allerthal AG, der Kaliwerke Ummendorf-Eisleben AG und der Elektrischen Überlandzentrale Weferlingen AG.65 Die Kontinuität in der Vertretung seiner eigenen Interessen spiegelt sich in der Beteiligung des Adels an der Verwaltung der Kleinbahnen wider. Durch ihre Tätigkeit im Vorstand des Aufsichtsrats, kontrollierten die Grafen Albrecht v. Alvensleben-Schönborn und Ludwig v. Wartensleben sowie Werner v. d. Schulenburg Jahrzehnte lang die Kleinbahngesellschaften, die sie mit-

gegründet hatten.66 Diese Adligen waren keine passiven oder rein repräsentierenden Aufsichtsräte, die von Bürgerlichen in die Unternehmensverwaltungen

Hermann Wäschke, Die Familie von Davier, Cöthen 1909, S. 141 und 144— 145; Denkschrift der Zuckerfabrik Weferlingen zur Feier des 25jährigen Bestehens der Gesellschaft, o. O. 1902, S. 52 und Handbuch der deutschen Aktiengesellschaften, 1911 und 1918. Vgl. Handbuch der deutschen Aktiengesellschaften, 1906, 1911, 1918 und Adressbuch der Direktoren und Aufsichtsräte, 1908, 1911, 1913, 1916, 1918.

Vgl.

Thierry Jacob

306

berufen worden waren, sondern sie saßen dort sehr oft als Unternehmensgründer. In der gesamten untersuchten Gruppe bildeten nämlich die Grundbesitzer die Mehrzahl der Unternehmensgründer. Die großen Aktienzuckerfabriken z. B. waren in der Provinz Sachsen keine alleinigen Unternehmungen der bürgerlichen Grundbesitzer, vielmehr wurden sie häufig durch eine Vereinigung adliger und bürgerlicher Geldgeber gegründet, und manchmal ergriffen die Adligen auch selbst die Initiative zum Aufbau eines Unternehmens. So verdankten u. a. die Zuckerfabriken Delitzsch, Gross Osterhausen, Gross Osterwieck und Stendal ihre Entstehung adligen und bürgerlichen Grundbesitzern, aber die Initiative und die Koordinierung der Gesellschafter übernahmen die Adligen v. Busse, v. Bülow-Beyernaumburg, v. Gustedt und v. Bis-

marck-Briest.67

Manche der adligen Grundbesitzer in der Provinz Sachsen begnügaber nicht mit einem Sitz in mittleren und regionalen Unternehmen und wagten den Schritt, sich am größeren Bank- und Industriekapitalismus zu beteiligen. Der Weg dieser Teilnahme an der Unternehmensverwaltung war durch sozio-wirtschaftliche Kriterien bestimmt: Diese Adligen waren viel kapitalkräftiger als das Gros ihrer Standesgenossen, verfügten über Prestige, Einfluß und einen guten wirtschaftlichen Ruf, waren meist politisch tätig besaßen gute Beziehungen zu politischen und wirtschaftlichen Milieus, die sie zu nutzen wußten. Sie unterschieden sich von anderen Gutsbesitzern insofern, als sie in großen Banken und Bergbaugesellschaften saßen (an denen sie finanziell beteiligt waren), die ihren Sitz entweder in den regionalen Hauptstädten oder in Berlin hatten. Schwer zu beurteilen bleibt aber, ob diese Adligen aktive Mitglieder jener Gesellschaften waren oder ob sie nur dekorative und für die Unternehmen prestigebringende Stellungen einnahmen. Ihr Engagement setzte in der Gründerzeit ein, währte aber die gesamte untersuchte Periode. So zeichnete sich der Landeshauptmann der Provinz Sachsen, Graf Wilko v. Wintzingerode in den ten sich

Vgl. 50 Jahre Zuckerfabrik Delitzsch mbH, Delitzsch 1940, S. 4; Denkschrift zum 50jährigen Bestehen der Aktien-Zukerfabrik zu Osterwieck AG, Osterwieck 1928, S. 6 und 10-11; Actien-Zuckerfabrik Stendal, Stendal 1916, S. 3 und LHAM, Rep. H Beyernaumburg, Nr. 1358. Friedrich v. Busse wurde 1899-1916 Vorsitzender des Vorstandes der Zuckerfabrik Delitzsch und Mitglieder der Familien Gustedt, Bismarck und Bülow saßen über drei Generationen hinweg in den

Gremien der oben genannten Zuckerfabriken. Diese arbeiteten gut und brachten ihren Gesellschaftern beträchtliche Gewinne. Keine der Fabriken ging in Konkurs. Die Dividenden der Zuckerfabrik Osterwieck lagen z. B. zwischen 1902 und 1917 zwischen 5,5 und 20 %.

Das

Engagement des Adels in der kapitalistischen Wirtschaft

307

späten sechziger Jahren als Gründeraktionär der Preußischen BodenCredit-Actienbank aus und fügte dem noch ein weiteres Mandat in einer Berliner Baugesellschaft hinzu, während der Graf Albrecht v. Alvensleben-Schönborn um die Jahrhundertwende im Aufsichtsrat einer neu gegründeten Dresdener Elektrizitätsgesellschaft saß.68 Die Verteidigung ihrer Grundbesitzerinteressen und die Einflußnahme auf jene Wirtschaftssektoren, die für sie von Wichtigkeit waren, vernachlässigten diese Adligen aber nicht: Wenn sie sich in der Verwaltung von Banken engagierten, dann waren sie zumeist in Hypotheken- und Grundbanken vertreten. So amtierte Hermann v. Erffa, einer der führenden Köpfe des Bundes der Landwirte, als Mitglied des Verwaltungsrats der Preußischen Central-Boden-Kredit Bank in Berlin, Wolff Freiherr Marschall v. Altengottern fungierte 19 Jahre lang als Aufsichtsrat der Deutschen Grundkreditbank zu Gotha und Ernst v. Gustedt wurde 1918 Vorsitzender des Aufsichtsrats der Deutschen Landwirtschaftlichen Treuhandbank in Leipzig.69 2. Der zweite Typ von Adligen, der in den Unternehmensgremien tätig war, war derjenige, der durch seine Teilnahme an den Aktiengesellschaften die Chance ergriffen hatte, entweder als Manager in den neuen lukrativen Berufsfeldern der Wirtschaft Karriere zu machen oder seine begrenzte Einkommensbasis zu erweitern. Diese Adligen, die 20 % der gesamten untersuchten Gruppe ausmachen, zeichneten sich durch gemeinsame sozio-kulturelle Merkmale aus: Keiner war Grundbesitzer, sie stammten entweder aus nicht grundbesitzenden bzw. nicht wohlhabenden Familien oder waren nachgeborene Söhne, die kaum über Vermögen verfugten. Sie kamen oft aus den gleichen Familien, waren geographisch mobil und beteiligten sich an großen Unternehmen. Auch wenn es sich bei ihnen um eine erzwungene Anpassung handelte, bleibt die Tatsache bestehen, daß diese Adligen die Chancen der neuen Karrieren und geldbringenden Tätigkeiten wahrgenommen haben.70

Börsen- und Gründungsschwindel (wie Anm. 57), S. 502-519; Geheimes Preußisches Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin (im folgenden GStAPK). Rep. 120A, XI. 2. Nr. 19, vol. 1. Bl. 379-380 und Adressbuch der Direktoren und Aufsichtsräte, Berlin, 1901, 1903 und 1905. Vgl. Handbuch der deutschen Aktiengesellschaften, 1918 und Adressbuch der Direktoren und Aufsichtsräte, Berlin 1911, 1913, 1916, 1918 und 1920 und GStAPK, Rep. 120A, XL 2. Nr. 25, vol. 3, Bl. 293. Das Engagement des preußischen Adels in den Aktiengesellschaften war aber viel beschränkter als das des britischen Adels. Der strenge Ausschluß der nachgeborenen Söhne aus dem Gutsbesitzerbe führte am Ende des 19. Jahrhunderts zu einer

Vgl. Glagau,

308

Thierry Jacob

Eine

Managerkarriere verfolgten z.

B. Udo

v. Alvensleben und NikoThümen. Udo v. Alvensleben (1858-1945), der aus einem nicht begüterten Zweig dieser bekannten Familie stammte, wurde bei der preußischen Eisenbahnverwaltung tätig, bevor er 1890 in die Direktion der Lübeck-Büchener (Privat-)Eisenbahngesellschaft wechselte. Er war bis 1905 Mitglied des Direktoriums, wurde 1906 dessen Vorsitzender und behielt diese Funktion, bis er 1925 in den Ruhestand ging.71 Nikolaus v. Thümen (1862-1943), dessen Vater 1865 das Familiengut verkaufte, wurde erst Bankdirektor, dann Direktor der Magdeburger Hagelversicherungsgesellschaft, bevor er 1916 als Vorstandsmitglied von vier Hallenser und Gothaer Bergbaugewerkschaften wirkte und noch in drei weiteren Aufsichtsräten bis 1925 tätig war.72 Unter denjenigen Adligen, die mit einem Unternehmensmandat nach einer Einkommenserweiterung strebten, waren die Offiziere stark vertreten. Während ihrer aktive Militärkarriere übten bspw. zwei Vater und Sohn v. Brandenstein lukrative Nebentätigkeiten bei Berliner Immobiliengesellschaften aus.73 Einen anderen Anlaß, sich an Aktiengesellschaften zu beteiligen, bildeten die von den Offizieren angesammelten technischen Erfahrungen und ihr soziales Prestige.

laus

v.

-

-

breiteren Öffnung des britischen Adels gegenüber Wirtschaftskarrieren, die zu seiner stärkeren Sozialstabilisierung beitrug. Die von Cannadine untersuchten Samples von britischen adligen 'Company Directors' wurden in der Tat von landlosen Adligen oder nachgeborenen Söhnen dominiert. Diese These bestreitet jedoch Stone, der behauptet, die Wirtschaftskarrieren hätten im Vergleich mit den Offizier- und Verwaltungslaufbahnen immer eine Minderheit dargestellt, daher könne von einer bedeutenden wirtschaftlichen Anpassung der britischen Adligen nicht die Rede sein. Vgl. David Cannadine, Decline and The Fall (wie Anm. 58), S. 409-412 und Lawrence Stone, L'Angleterre de 1540 à 1880: Pays de noblesse ouverte, in: Annales ESC (1985), S. 79-80. Vgl. Handbuch der deutschen Aktiengesellschaften, 1898 bis 1918 und Hamburger Weltwirtschaftsarchiv (später HWWA): Firmenarchiv, A10 D462 III: Jahresberichte der Direktion der Lübeck-Büchener Eisenbahn-Gesellschaft für das Jahr 1908, 1909 und 1924, Lübeck, 1909, 1910 und 1925. Vgl. Genealogisches Handbuch des Adels, AA, Bd. 13 (1975), S. 493; Handbuch der deutschen Aktiengesellschaften, 1918 und Adressbuch der Direktoren und Aufsichtsräte, 1901, 1903, und 1916. Der Oberst Curt v. Brandenstein amtierte zwischen 1908 und 1913 als Aufsichtsrat der Stahndorfer Terrain AG, sein Sohn Clemens, preußischer Major, häufte zwischen 1906 und 1911 drei Mandate bei der Berliner Elektromobil Droschken AG, der Vereinigten Gummifabriken Harburg-Wien AG und der Terrain AG am Flugplatz Johannisthai an. Vgl. Handbuch der deutschen Aktiengesellschaften, 1906 und 1911 und Adressbuch der Direktoren und Aufsichtsräte, 1908, 1913 und 1918.

Das

Engagement des Adels in der kapitalistischen Wirtschaft

309

adligen Offiziere wirkten als Aufsichtsräte, weil ihr Beruf dem Unternehmen als Beweis ihrer technischen Befähigung und ihrer Zuverlässigkeit galt. Sie verstanden es, dies zu ihrem Vorteil zu nutzen. So wurde 1911 der grundbesitzlose General der Infanterie a. D. Lothar v. Trotha Mitgründer und Aufsichtsrat der Press-, Stanz- und Ziehwerke Chillingworth in Nürnberg und der Major Kraft Freiherr v. Bodenhausen beteiligte sich während des Ersten Weltkrieges an der Prinz Carlshütte und Maschinenbau AG.74 Damit verdienten sie, je nach UnManche

ternehmen, bedeutende Tantiemen, die erhaft

zu

ihrem Lebensunterhalt dau-

beitrugen.75

dieser Typ von Adligen am häufigsten am Ende der untersuchten Periode zu finden war und minoritär blieb, symbolisiert er immerhin einen allmählichen Prozeß der Öffnung zu neuen lukrativen und bisher als nicht standesgemäß angesehenen Karrieren sowie der Annäherung an Erwerbstätigkeiten, die der Adel am Anfang des Kaiserreichs noch streng ablehnte. Durch eine Managerkarriere oder die Übernahme eines Aufsichtsratsmandats zielten diese ,Pionieradligen' darauf, entweder den sozialen Abstieg zu bremsen oder ihr standesgemäßes Leben weiterführen zu können. Dabei ergriffen sie die Initiative und erwiesen sich als wirtschaftlich ,modern'. Die Teilnahme von Adligen an der Verwaltung der Unternehmen war alles andere als marginal und unbedeutend und spiegelt in mancher Hinsicht das hier vorgestellte Panorama an wirtschaftlichen Tätigkeiten des preußisch-sächsischen Adels wider. Seine wirtschaftliche Anpassung ist eindeutig. Reiche, wohlhabende aber auch verarmte Familien und Personen versuchten, sich wirtschaftlich zu betätigen und zu behaupten. Sie suchten zielstrebig den Anschluß an die neuen Reichtumschancen und erwiesen sich dabei als relativ erfolgreich. Ihr Vermögen öffnete sich den gewinnbringenden Wertpapieren und wurde dadurch in seiner Zusammensetzung umgestaltet. Ihr Grundbesitz wur-

Wenngleich

Vgl. Handbuch der deutschen Aktiengesellschaften, 1918 und HWWA, Firmenarchiv: A10, P52: Geschäftsberichte der Press-, Stanz- und Ziehwerke Chillingworth für die Geschäftsjahre 1911 bis 1919. Diese Beispiele relativieren die These eines der Wirtschaft gegenüber streng ablehnend eingestellten preußischen Offizierkorps. Die Untersuchung der wirtschaftlichen Tätigkeiten und Vermögensverwaltung der Offiziere würde wahrscheinlich zahlreiche ähnliche Beispiele liefern. Während seiner Amtszeit verdiente Lothar v. Trotha jährlich im Durchschnitt 17.971 Mark Tantiemen, vgl. HWWA, Firmenarchiv: A10, P52: Geschäftsberichte der Press-, Stanz- und Ziehwerke Chillingworth für die Geschäftsjahre 1911 bis 1919.

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310

modernisiert, teilweise industrialisiert und auf Rentabilität wie Einbindung in die Kommerzialisierungsnetze ausgerichtet. Die Unternehmen wurden ein wichtiges Feld adliger Tätigkeit und Einflußnahme, wenngleich nur eine Minderheit Karriere in den Aktiengesellschaften machte. Das Engagement der Adligen in der kapitalistischen Wirtschaft zeigte sich als ein dynamischer aber auf bestimmte wirtschaftlide

che Sektoren beschränkter Prozeß. In ihrer ökonomischen Wahl bevorzugten die Adligen regionale und industrielle Wirtschaftsbereiche und konzentrierten sich dabei auf Sektoren, die im Zusammenhang mit der Gutswirtschaft standen. „Je weniger eine Branche auf den Faktor Land angewiesen war, desto geringer fiel das Interesse des Adels an ihr aus."76 Der Grund und Boden bildete fast immer den Ausgangspunkt ihrer wirtschaftlichen Tätigkeiten. Dabei haben sie ihre Grundbesitzerinteressen zu verteidigen, zu vertreten und konsequent durchzusetzen

gewußt.

Dennoch spricht die Mischung von offensivem und passivem Verhalten, die Begrenzung auf bestimmte wirtschaftliche Sektoren und die Vernachlässigung anderer für die Tatsache, daß die Adligen zwar Betriebe gründeten, aber nicht nach Unternehmensexpansion strebten. Ständische Vorurteile und Barrieren bestanden weiterhin, weshalb die wirtschaftliche Anpassung des Adels ein lückenhafter, ambivalenter und unvollendeter Prozeß gewesen ist. IV. Soziale

Auswirkungen des wirtschaftlichen Engagements

Um den Prozeß der wirtschaftlichen Anpassung der Adligen besser zu kennzeichnen und seine Bedeutung für den sozialen Zusammenhalt der adligen Gruppe zu gewichten, soll hier kurz auf zwei Fragen eingegangen werden: Wie einheitlich verhielt sich der Adel in sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht? Wie hat sich das Engagement des Adels in der kapitalistischen Wirtschaft auf dessen Vermögensniveau und seine

Einkommensentwicklung ausgewirkt?

1. Die soziale Umstrukturierung der adligen Gruppe Die erste Beobachtung, die man festhalten kann, ist, daß unter dem Gesichtspunkt seiner wirtschaftlichen Tätigkeiten der Adel seine Einheit als soziale Gruppe immer mehr verlor.77 Schon im rein landwirtZit. n. Berghoff, Adel und Bürgertum in England (wie Anm. 51), S. 121. Wenn auch der Adel an wirtschaftlicher und sozialer Einheit verlor, so darf nicht vergessen werden, daß er durch die Familiensolidarität, die Errichtung von Fami-

Das

Engagement des Adels in der kapitalistischen Wirtschaft

311

schaftlichen Bereich nahmen die Unterschiede zwischen erfolgreichen und weniger erfolgreichen Adligen zu. Die Größe des Grundbesitzes, die Qualität des Bodens, die Nähe zu den Absatzmärkten, die unterschiedliche Finanzkraft wirkten als Trennlinien und bedingten die Kapazität und den Umfang der wirtschaftlichen „Modernisierung" und Stabilisierung des Grundbesitzes. Dennoch spielten die außeragrarischen wirtschaftlichen Tätigkeiten der Adligen, ihr Engagement in der flnanz- und industriekapitalistischen Wirtschaft und ihr Anschluß an die neuen Einkommensquellen eine immer größere Rolle bei der sozialen Stabilisierung der Adelsgruppe und der Bestimmung der internen Adelshierarchie. Die beobachtete Vielfalt der entwickelten wirtschaftlichen Strategien und die nach Familien und Adelsfraktionen sehr unterschiedlichen Grade der Öffnung zur wirtschaftlichen Moderne deuten darauf hin, daß es nicht jeder adligen Familie gelungen ist, sich ökonomisch zu behaupten. Die am Ende des 19. Jahrhunderts immer mehr zerfallende wirtschaftliche Einheit des Adels und seine damit verbundene soziale Umstrukturierung zeigen die Daten von Rudolf Martin über Vermögen und Einkommen der Millionäre der Provinz Sachsen 1913 mit großer -

-

Deutlichkeit.78

Nach Martins Daten waren die Vermögensunterschiede innerhalb der adligen Millionäre sehr groß. Im Vergleich zum Bürgertum gab es innerhalb der von Martin aufgeführten Adligen mehr Multimillionäre als einfache Millionäre. Die Verteilung der Adligen innerhalb der Vermögenshierarchie war auch sehr ungleich: 12,6 % der untersuchten Adligen verfügten über ein Vermögen, welches größer als 3 Millionen Mark war, 36,2 % über ein Vermögen zwischen 2 und 3 Millionen Mark und 51,2 % besaßen ein Vermögen, das kleiner als 2 Millionen Mark war. Diese Zahlen deuten klar darauf hin, wie stark der Adel bereits in seinen Spitzen wirtschaftlich gespalten war. Wenngleich Vermögensunterschiede innerhalb des Adels keine strikte Neuerung waren, so scheint doch die Verteilung der Adligen innerhalb der Vermögenshierarchie nicht stabil geblieben, sondern einem Wandel unterworfen gewesen zu sein. Während die drei finanziell sehr kräftigen Zweige der standesherrlichen Fürsten zu Stolberg immer an der Spitze der Vermögenshierarchie standen, wurden andere wohlhabende Familienstiftungen oder die Gründung der Deutschen Adelsgenossenschaft 1872 seine politische Stellung und die Institutionen seiner sozialen Einheit zu schützen und zu behaupten suchte. Vgl. Martin, Jahrbuch der Millionäre (wie Anm. 60).

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312

lien der Provinz Sachsen, die dem titulierten Adel oder dem Hochadel angehörten, in bezug auf das Vermögensniveau von Familien mit einem niedrigeren Adelsrang eingeholt, manchmal sogar überholt. Manche Familien, die am Anfang der untersuchten Periode wohlhabend waren, sind 1913 in Martins Jahrbuch nicht mehr verzeichnet. Es fällt auch auf, daß die Familien, die sich finanziell behauptet haben oder aufgestiegen sind, sehr oft diejenigen waren, die ihren Grundbesitz dynamisch verwalteten, eine Fabrik gegründet oder die Zusammensetzung ihres Vermögens stark divers i fiziert hatten. So war am Ende der untersuchten Periode der Adel eine soziale Gruppe, die wie jede andere Gesellschaftsschicht auch von sozialer Mobilität betroffen war. Je nach dem Grad ihrer Öffnung zur wirtschaftlichen Moderne stiegen einige Familien auf und andere stiegen ab, während ein weiterer Teil sich auf etwa dem selben Niveau behaupten konnte. Für diesen Prozeß der Abstiegs- wie Aufstiegsmobilität innerhalb des Adels liefert das Geschlecht von Alvensleben ein eindrucksvolles Beispiel. Die Familie von Alvensleben auf Neugatters leben, erfuhr in drei Generationen einen sozialen Aufstieg, den sie ihren wirtschaftlichen und industriellen Tätigkeiten verdankte. Dank der Errichtung einer Braunkohlengrube, einer Zuckerfabrik und dem intensiven Anbau von Zuckerrüben durch seinen Vater, konnte Werner Alvo v. Alvensleben (1840-1929), der die industrielle Entwicklung seines Grundbesitzes weiterführte, um die Jahrhundertwende jährlich mehr als 150.000 Mark beziehen und steigerte sein Vermögen erheblich. Mit der dritten Generation kam der Eintritt der Familie in die Berliner Wirtschaft durch die Übernahme mehrerer Aufsichtsratsstellungen durch Hans Bodo v. Alvensleben (1882-1946). Ein anderer Zweig dieses Geschlechts, die Familie v. Alvensleben-Woltersdorf, zeichnete sich umgekehrt durch eine routinemäßige und passive Verwaltung ihres Grundbesitzes aus, den es ihr nicht zu erhalten gelang. 1881 kam es zum Verkauf des ganzen Grundbesitzes an den ehemaligen bürgerlichen Pächter und damit erfuhr diese Familie eine starke soziale De-

klassierung.79

Aber nicht nur die wirtschaftlichen Strategien begründeten Trennlinien und bestimmten die soziale Mobilität, sondern auch die sozialen Strategien. Es ist deutlich zu bemerken, daß es vielen Adligen, die über eine Stellung in der Verwaltung, ein politisches Mandat oder eine Hofstellung verfügten, besser gelungen ist, an die wirtschaftliche Moderne H Neugattersleben, Nr. 87, 88 und 106 und Kretzschmar, Geschichtliche Nachrichten (wie Anm. 42), S. 26.

Vgl. LHAM, Rep.

Das

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313

diejenigen, die keine Ämter bekleideten. Manche adligen Beamtenfamilie, die über kein großes Vermögen oder keinen Grundbesitz verfügte, ist durch geschickte Nutzung ihre Karrierevorteile wie etwa durch die angesammelten technischen Erfahrungen, den Zugang zu Informationen und EntScheidungsprozessen, die Nähe zum Staat und zum Wirtschaftsbürgertum im Laufe von zwei oder drei Generationen in der Adelshierarchie gestiegen. Dabei wirkte die Hauptstadt und das Wirtschaftszentrum Berlin als ein entscheidender Anregungspunkt ihrer Sozialisation in der Wirtschaft und ihres wirtheran

zu

kommen als

schaftlichen Verhaltens. So nutzte in der Gründerzeit Gustav v. Bonin, ein verhältnismäßig unvermögender preußischer Beamter und Reichstagsabgeordneter, seine Netzwerke und seine einflußreiche Stellung als Vermittler zwischen Staat und Wirtschaft. Er beteiligte sich an der Gründung der Preußischen Boden-Credit-Actienbank, deren Kuratoriumspräsident er wurde, betätigte sich in spekulativen Unternehmen des StrausbergSystems, schuf damit die Basis des Wohlstands seiner Familie und hinterließ 1878 seinen Erben ein Vermögen, das zur Hälfte aus Wertpapieren bestand. Sein Sohn Giesbert setzte die wirtschaftlichen Tätigkeiten seines Vaters fort, fungierte bis zu seinem Tode als Aufsichtsrat in der gleichen Bank und fügte noch das Mandat in einer Berliner Wassergesellschaft hinzu.80 Der Verwaltungslaufbahn verdankte auch die landlose Familie v. Wilmowsky ihren sozialen Aufstieg. Karl (1817-1893) wurde Geheimer Kabinettsrat Wilhelm I. und heiratete eine Adlige, durch die er Grundbesitzer wurde. Sein Sohn Kurt (18501941) wurde Chef der Reichskanzlei unter Caprivi, dann Oberpräsident, heiratete die Tochter einer bürgerlichen Unternehmerfamilie, verkehrte mit der Berliner Hofgesellschaft und erweiterte seinen Grundbesitz beträchtlich. Der soziale Aufstieg dieser Familie fand seine Krönung in der dritten Generation mit der Heirat von Tilo v. Wilmowsky (1878-1966) 1907 mit Barbara Krupp, der zweiten Tochter Friedrich Alfred Krupps, was ihm ein Vermögen von mehr als 20 Millionen Mark brachte. Tilo v. Wilmowsky wurde 1911 in den Aufsichtsrat der Firma Krupp gewählt, häufte mehr als zehn andere Aufsichtsratssitze an, investierte in industrielle Unternehmen und wur-

Vgl. Glagau, Börsen- und Gründungsschwindel (wie Anm. 57), S. 502-519, GStAPK, Rep. 120A, XI. 2. Nr. 19, vol. 1. Bl. 245, 295 und 379-380, Adressbuch der Direktoren und Aufsichtsräte, Berlin, 1898, 1901, 1903, 1905, 1911 und 1913 und LHAM, Rep. H Brettin, Nr. 6.

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de schließlich einer der angesehensten und einflußreichsten Grundbesitzer der Provinz Sachsen.81 Die Instrumentalisierung der Nähe zu Informationen und zum Wirtschaftsmilieu durch Adlige, die ein politisches Mandat innehatten, läßt sich am Beispiel des Grafen Werner v. d. Schulenburg-Burgscheidungen gut rekonstruieren.82 Er kaufte in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts für 59.712 Mark italienische Rente, für 147.000 Mark Süd-Italienische Eisenbahn-Prioritätenaktien und für 244.069 Mark Gotthard-Bahn-Aktien.83 Das Vorhandensein solcher spekulativen Werte im Vermögen des Grafen war nicht zufällig, sondern Resultat einer gezielten Spekulationsstrategie.84 In der Tat, seit dem Beitritt Italiens zum Dreibund versuchte Bismarck 1888, die italienischen Finanzen der französischen Einflußsphäre zu entziehen und beauftragte Berliner Bankiers, ein Konsortium zum Einkauf italienischer Staatsanleihen zu gründen. Die Gotthard-Bahn, eine durch die Schweiz führende Eisenbahnverbindung zwischen Italien und Deutschland, war ein Unternehmen gewesen, an dem sich das Deutsche Reich seit 1871 finanziell beteiligte.8-^ Wenngleich dies nicht direkt nachweisbar ist, verdankte der Graf v. d. Schulenburg die Informationen für diese Investitionen sicher seinen Hof- und politischen Funktionen. Er war nämlich nicht nur Grundbesitzer, sondern auch Kammerherr, seit 1889 Mitglied des preußischen Herrenhauses und Sohn der Oberhofmeisterin der Kaiserin Augusta, und er fand durch die Instrumentalisierung

Vgl. Erich Neuss, Geschichte des Geschlechtes von Wilmowsky, Halle 1938, passim, Tilo Freiherr, v. Wilmowsky, Rückblickend möchte ich sagen, Oldenburg-Hamburg 1963, passim. Dieser Prozeß der finanziellen Instrumentalisierung der politischen Funktionen durch die Adligen fing aber nicht erst im Kaiserreich an. In seiner Untersuchung über das Verhältnis zwischen Adel und Eisenbahnentwicklung in den vierziger und fünfziger Jahren liefert Eichholtz zahlreiche Beispiele von adligen Beamten, Grundbesitzern und Kammerherrn, die durch den Zugang zu Informationen oder durch Beziehungen ihr Geld in die neuen geldbringenden Eisenbahngesellschaften zu investieren wußten. Vgl. Dietrich Eichholtz, Junker und Bourgeoisie vor 1848 in der preußischen Eisenbahngeschichte, Berlin 1962, S. 138-147. Vgl. LHAM, Rep. H Burgscheidungen Hausarchiv Sectio I Nr. 129, 130 und

131. Die italienischen Werte haben nämlich zwischen ihrem Ankaufsdatum und dem Tode des Grafen 1893 6,7 % bzw. 39 % ihres Nominalwerts verloren, die Gotthard-Bahn-Aktien dagegen 134 % gewonnen. Vgl. dazu Stern, L'or et le fer. (Wie Anm 26), S. 501-504 und H. v. Berlepsch, Die Gotthard-Bahn, in: Petermann's Mittheilungen, Ergänzungsheft Nr. 65, Gotha (1881), S. 41-59.

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Engagement des Adels in der kapitalistischen Wirtschaft

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seiner staatsnahen Funktionen ein Mittel, seinen eigenen finanziellen Interessen zu dienen. In bezug aufsein wirtschaftliches Verhalten und seinen Erfolg war der Adel der Provinz Sachsen immer weniger einheitlich. Der je nach Familie sehr unterschiedliche Grad der Öffnung gegenüber den neuen Reichtumschancen, die Entwicklung verschiedener sozialer und wirtschaftlicher Strategien des Anschlusses an die kapitalistischen Einkommensquellen, die Instrumentalisierung und Nutzung der bekleideten Verwaltungs- bzw. politischen Funktionen, über die nicht jede adlige Familie verfügte, all dies zog scharfe Trennlinien innerhalb des Adels und verursachte eine relative Umgestaltung seiner inneren Hierarchie. 2. Die

Entwicklung des Vermögensniveaus

Nun gilt es festzustellen, ob das wirtschaftliche Engagement des Adels konkrete Auswirkungen auf seinen sozialen und wirtschaftlichen Fortbestand als Gruppe gehabt hat. Konkreter gefragt: Ist der Adel durch sein wirtschaftliches Engagement reicher geworden? Konnte er mit dem Bürgertum und seinen verschiedenen Fraktionen finanziell konkurrieren? Nach Martin stellten die Adligen 1913 mit 128 Eintragungen 22 % aller Millionäre in der Provinz Sachsen. Selbst wenn diese Zahl auch nicht unbedeutend ist und zeigt, wie sehr sich zahlreiche Adlige in der regionalen Vermögenshierarchie behauptet haben, so überwogen doch die Bürgerlichen in der Vermögenselite der Provinz Sachsen. Ferner machten diese 128 Adligen nur ein Drittel der adligen Familien in der Provinz Sachsen aus, die am Anfang der untersuchten Periode identifiziert wurden. Dies beleuchtet wiederum die starke Ungleichheit innerhalb des Adels, bedeutet aber auch, daß die Mehrheit der adligen Familien sich entweder finanziell nicht gehalten haben oder nicht zu großem Reichtum gelangt sind.86 Dennoch kann man anhand der Daten weder einen wirtschaftlichen Verfall noch einen deutlichen Aufstieg der gesamten adligen Gruppe ausmachen. Ferner verteilten sich die Adligen und die Bürger unterschiedlich auf die verschiedenen Vermögensgruppen. Wenn im Verhältnis der Zahlen mehr Adlige als Bürger in den Dennoch darf aber nicht übersehen werden, daß die Daten von Martin nur die Millionäre betrafen und daß auch über wenig Geldmittel verfügende Familien finanziell aufsteigen konnten, ohne im Jahrbuch der Millionäre verzeichnet zu werden.

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oberen Vermögensgruppen standen, was eher für einen relativen Fortbestand der Adligen an der Spitze der Vermögenshierarchie spricht, so waren umgekehrt mehr Bürger als Adlige in den mittleren Vermögensstufen vertreten. In den unteren Vermögensstufen verteilten sich dagegen die Adligen und die Bürger gleichmäßig. Zahlreiche adlige Familien konnten, was ihr Vermögensniveau anging, am Anfang des 20. Jahrhunderts mit dem Bürgertum konkurrieren. Dies zeigt die Analyse des Verhältnisses von Brutto-Einkommen und Gesamtvermögen aller Multimillionäre der Provinz Sachsen (vgl. Tab. 4).87 Das Verhältnis des Brutto-Einkommens zum timillionäre der Provinz Sachsen, 1913 (in %)

Tabelle 4:

Adlige

Grundbesitzer

4,80

Bürgertum insgesamt 5,93

Bürgerliche

Gesamtvermögen der MulBürgerliche Bankiers,

Grundbesitzer

Industrieller und Rentiers

4,99

6,42

Trotz aller Behauptungen, daß die Adligen stets weniger Einkommen aus ihrem wirtschaftlichen Handeln bezogen hätten als die Bürgerlichen, zeigt die hier vorliegende Analyse des Verhältnisses des Brutto-

Einkommens zum Gesamtvermögen im Gegenteil, daß es zwischen den Adligen und Bürgerlichen nur geringe Unterschiede gab. Die adligen Multimillionäre erzielten eine jährliche Vermögensrentabilität von 4,80 %, während die bürgerlichen 5,93 % erzielten. Vergleicht man ausschließlich die Rentabilität des Vermögens der adligen und bürgerlichen Grundbesitzer fällt auf, daß diese gleich war. Die bürgerlichen Grundbesitzer der Provinz Sachsen erzielten nach Martins Untersuchungen keine größere Vermögensrentabilität als die adligen. Nur das Wirtschaftsbürgertum, das sein Einkommen nicht aus dem Agrarsondern aus dem Industrie- bzw. Finanzsektor bezog, erzielte eine höhere Vermögensrentabilität. Es muß darüber hinaus vermerkt werden, daß diejenigen Adligen, die eine Zuckerfabrik oder eine Braunkohlengrube betrieben, die größte Vermögensrentabilität innerhalb ihrer Gruppe erzielten. Daran kann man die Ergebnisse des wirtschaftlichen Anschlusses des Adels an die kapitalistischen Einkommensquellen messen. Die Diversifizierung des Vermögens und das Engagement -

-

Da Martin das Einkommen der .einfachen Millionäre' nicht verzeichnete, kann der Vergleich der Brutto-Einkommen zwischen den Adligen und den Bürgern nur die Multimillionäre betreffen.

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im Agrarunternehmertum brachten den Adligen ein verhältnismäßig höheres Einkommen. Konsequenterweise hätte dadurch das Vermögen der Adligen eine beträchtliche Steigerung erfahren sollen. Dennoch, wenn man die Daten von Martin mit den Nachlässen der Adligen über zwei oder drei Generationen vergleicht, und wenn man dabei die Adligen den Bürgern der Provinz Sachsen auf der Ebene ihrer Vermögensentwicklung gegenüberstellt, werden die Ergebnisse ambivalenter. Trotz ihrer wirtschaftlichen Tätigkeiten und der bedeutenden Vermögensrentabilität scheint es, daß sich innerhalb der untersuchten Periode der Trend der adligen Vermögensentwicklung eher zu einer allgemeinen Stabilität hin entwickelte. Zwar ist es zahlreichen adligen Familien wie den v. Alvensleben-Neugattersleben, v. Helldorff oder v. d. Schulenburg-Hessler gelungen, ihr Vermögen beträchtlich zu vermehren, aber keiner adligen Familie gelang eine Verdreifachung ihres Vermögens, wie dies bei manchen Unternehmern der Provinz Sachsen zu beobachten war oder eine kontinuierliche Steigerung ihres Vermögens, wie bei den bürgerlichen Grundbesitzern. Dank der Erschließung von neuen Einkommensquellen und der wirtschaftlichen Modernisierung des Grundbesitzes, erreichten die Adligen eine Steigerung ihres Einkommens. Ihr Vermögen stieg jedoch nicht in sehr hohem Maße oder blieb generell stabil. Es stellt sich ein doppeltes Problem bei der Bewertung dieses Prozes-

-

ses:

1. Sind die Adligen, deren Vermögen stabil blieb, im historischen Kontext einer scharfen Elitenkonkurrenz und einer Gesellschaft, die immer mehr die Bereicherung zu dem zentralen Kriterium des sozialen Aufstiegs erhob, nun Verlierer oder Gewinner dieses gesellschaftlichen Wandlungsprozesses? Ist die Stabilität des Vermögens als ein Indikator relativen sozialen Abstiegs oder relativen sozialen Aufstiegs zu inter-

pretieren?

2. Wenn der Adel in seinen wirtschaftlichen Tätigkeiten nach Rentabilität strebte, wenn sein Einkommen zunehmend in kapitalistischen Einkommensquellen verankert war, und wenn zahlreiche Familien ein bedeutendes Einkommen erzielen konnten, wie erklärt sich dann, daß der Adel nicht deutlich reicher wurde? Wohin ging das Geld, das er aus seinem diversifizierten Einkommen bezog? Waren demzufolge die bürgerlichen Strategien zur wirtschaftlichen Nutzung des Reichtums insgesamt erfolgreicher und mehr auf sozialen Aufstieg ausgerichtet als die der Adligen?

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V. Die

Entwicklung einer spezifisch adligen Kapitalismusform

Fragen zu beantworten, ist der Begriff der wirtschaftlichen Anpassung nicht der brauchbarste, da er als zu normativ dazu verführt, Um diese

das wirtschaftliche Verhalten des Adels anhand von Kriterien eines reinen aber auch etwas künstlichen bürgerlichen Erfolgsmusters des Wirtschaftens zu bewerten. Die Reorientierung des wirtschaftlichen Verhaltens, die Umstrukturierung der Einkommensquellen des Adels wie auch seiner Ausgabestrategien sollten nicht mit denen der Wirtschaftsbürger verwechselt und gleichgestellt werden. Vielmehr sind diese als Ausdruck der Entwicklung originärer Strategien und der Verfolgung spezifischer Adelsinteressen zu analysieren. Um den komplexen und ambivalenten Prozeß des wirtschaftlichen Engagements des Adels zu verstehen, sollte man, statt nur von wirtschaftlicher Anpassung zu reden, auch von der Entwicklung einer spezifisch adligen Kapitalismusform und von der ,Nutzung der kapitalistischen Einkommensquellen' durch den Adel sprechen. In seinen wirtschaftlichen Entscheidungen und in seinem Verhalten verfolgte er eigene Zwecke, die im Zusammenhang mit dem Wertesystem des Standes und eigenen wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Interessen standen. Diese Zwecke wirkten als Impulse zur Öffnung gegenüber neuen Wirtschaftsorientierungen sowie als Grenzen und Barrieren des wirtschaftlichen Engagements und sind mit dem Bestreben des Adels nach Identitätswahrung in der Industriegesellschaft zu verknüpfen. Der Adel öffnete sich sozial und wirtschaftlich, solange diese Öffnung seinen eigenen Interessen diente, was dazu führte, daß er nur begrenzt, aber zielstrebig wirtschaftlich handelte. Um diese Grundthese zu erläutern, werden drei Indikatoren analysiert, die allerdings weder vollständig sind noch einander ausschließen. Nämlich die Konzentration auf die regionale und ländliche Ebene, die Richtungen der Reinvestition des Geldes und die Strategien der Statussicherung der Familie. -

-

1. Die Konzentration auf die Ebene

regionale

und ländliche wirtschaftliche

Aus dem Panorama der wirtschaftlichen Tätigkeiten des Adels der preußischen Provinz Sachsen geht der klare Trend hervor, daß das Engagement des Adels in der kapitalistischen Wirtschaft sich stark auf die regionale wirtschaftliche Umwelt und den ländlichen bzw. agroindustriellen Wirtschaftssektor konzentrierte.

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dynamischeren wirtschaftlichen Sektoren vernicht alle Möglichkeiten der Bereicherung oder des nachlässigt und Anschlusses an die wirtschaftliche Moderne gesucht und genutzt. Nur eine Minderheit unter den Adligen Gutsbesitzer die über ausreichendes wirtschaftliches, soziales und symbolisches Kapital verfügten oder hohe Beamte, die ihre Beziehungen und ihre Erfahrungen zu nutzen wußten wagte den Schritt in die Berliner Großwirtschaft. Wirtschaftliche Sektoren wie die Versicherungsgesellschaften, die Handelsgesellschaften, die städtische Spekulation tauchten fast nie unter den Investitionen des Adels auf, und kein Industriemagnat ist aus den Reihen des Adels der preußischen Provinz Sachsen hervorgegangen. Dies ist einerseits der Beweis für die partielle wirtschaftliche Anpassung des Adels an den Kapitalismus, anderseits aber auch für eine mangelnde Anbindung an die städtische Welt und ihre Wirtschaft. Dabei wirkten das Fortbestehen antikapitalistischer Vorstellungen, die unzureichende Ausbildung, die wenigen Brücken zum Wirtschaftsbürgertum sowie die Angst, sich mit jüdischen Unternehmern zu kompromittieren vermutlich als Barrieren eines stärkeren Engagements des Adels in der kapitalistischen Wirtschaft und erklären seinen unvollkommenen Anschluß an den Kapitalismus. Dennoch stellt sich die Frage, ob ein umfangreicheres und dynamischeres wirtschaftliches Engagement dem Adel von Nutzen gewesen wäre? Ist diese lückenhafte Beteiligung am Kapitalismus nur als Ergebnis der Inkompetenz oder der Inflexibilität des Adels zu analysieren oder eher umgekehrt als der Ausdruck des zielstrebigen Versuches, seine eigenen Interessen durchzusetzen? Statt sich an allen Wirtschaftssektoren zu beteiligen, war es für den Adel wichtiger, seine traditionelle Wirtschaftsbasis sowie seine Machtstellungen zu verteidigen und zu behaupten. Dabei sind zwei Strategien und Logiken zu unterscheiden, wenngleich beide komplementär sind. Der Adel hat damit die

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-

Die sozio-ökonomische Logik: Trotz der raschen Expansion des industriellen Sektors in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts darf nicht vergessen werden, daß die Landwirtschaft ein wichtiger Produktions- und Einkommensbereich blieb und der moderne Agrarbereich hoher Investitionen bedurfte. Für die Adligen, deren wirtschaftliche Basis der Besitz an Grund und Boden blieb, besaß die Stabilisierung und der Erhalt des Grundbesitzes der Familie höchste Priorität. Dies war nur zu erreichen, wenn der Grundbesitz wirtschaftlich modernisiert und gefördert wurde. Dieses Ziel konnte der Adel nur durch die Einbeziehung des Grundbesitzes und der Gutswirtschaft in die Dyna-

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mik und in die Strukturen der regionalen Wirtschaft erreichen. Von daher erklärt sich, warum die Adligen der Provinz Sachsen sich auf der agro-industriellen und wirtschaftlich regionalen Ebene so stark engagierten. Dabei wußten zahlreiche adlige Familien ihren Grundbesitz als Ausgangsbasis und Entfaltungsmöglichkeit eines umfangreicheren wirtschaftlichen Handelns zu nutzen und handelten zielstrebig, konsequent und verhältnismäßig erfolgreich. Die sozio-politische Logik: Die Beteiligung des Adels an der kapitalistischen Wirtschaft läßt sich nicht nur durch das Streben nach Profit und wirtschaftlicher Modernisierung erklären, sondern auch durch Einfluß- und Machtbestrebungen. Die Region bildete den traditionellen Handlungsraum des Adels, in den er durch seine Familiengeschichte, seinen Grundbesitz und seine Herrschaftsausübung tief verwurzelt war. Aber im Kontext der Elitenkonkurrenz drohte dem Adel im Laufe des 19. Jahrhundert die sukzessive Einschränkung der regionalen Herrschaftsansprüche und oberste Priorität war, diese traditionelle Macht zu erhalten. Seine säkulare regionale Elitenrolle konnte er nur behaupten, wenn er neue Wege der sozialen Stabilisierung fand, was u. a. durch eine Reorientierung seines wirtschaftlichen Handelns zu erreichen war. Darin lag auch ein Grund für die Konzentration der wirtschaftlichen Tätigkeiten auf der regionalen wirtschaftlichen Ebene. Im 19. Jahrhundert wurde die wirtschaftliche Kraft immer mehr ein zentrales Kriterium für die Möglichkeit, Macht auszuüben. Die Beteiligung an der regionalen Wirtschaft wurde vom Adel als ein Weg der -

Machterhaltung wahrgenommen. Die Teilnahme der Adligen an regionalen Unternehmen kann als Beweis dafür interpretiert werden, daß der Adel nicht geneigt war, die Leitung der regionalen Wirtschaft dem Bürgertum zu überlassen. Er

versuchte dadurch seine wirtschaftlichen Interessen als Grundbesitzer zu verteidigen und zugleich eine Teilkontrolle über die regionale Wirtschaft auszuüben. Dank der Betriebsgründungen zählten die Adligen teilweise zu den größten Arbeitgebern des Kreises, was ihnen wiederum ermöglichte, ihren lokalen sozialen Einfluß neu durchzusetzen. Ihre erweiterte wirtschaftliche Dynamik ermöglichte es den Adli-

bürgerlichen Grundbesitzern auf der regionalen Ebene zu konkurrieren, und der wirtschaftliche Erfolg zahlreicher Adliger führte dazu, daß eine regionale ,Notabelngruppe' entstand. Die vermittelte ihnen einflußreiche Stellungen in der Provinzverwaltung, manchmal auch ein politisches Mandat. Bei der Beteiligung von Adligen am politischen Leben spielten andere Strategien als der wirtschaftliche Erfolg gen, mit den

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Engagement des Adels in der kapitalistischen Wirtschaft

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eine entscheidende Rolle. Dennoch fällt es auf, daß sich die Gruppe der Adligen, die entweder ein Mandat im Provinziallandtag, im preußischen Abgeordnetenhaus oder sogar im Reichstag besaßen, weitgehend aus denjenigen Familien zusammensetzte, die sich am effektivsten wirtschaftlich angepaßt hatten oder die wirtschaftlich am erfolgreichsten waren.88 Während alte wohlhabende Familien wie die Schulenburg, die Stolberg oder die Münchhausen regionale wie nationale Mandate weiter innehatten, tauchten auch immer mehr Adlige auf, die ihre politischen Funktionen ihrem wirtschaftlichen Engagement, der damit verbundenen neuen Macht und dem erweiterten Prestige verdankten. So fungierte Vollrath v. Krosigk-Poplitz, der Besitzer der Zuckerfabrik Mukrena war, zwischen 1876 und 1887 als Vorsitzender des Provinzialausschusses der Provinz Sachsen, Hans v. Brauchitzsch, der eine industrialisierte Musterwirtschaft führte, und Kurt v. Bülow-Dieskau, der Bergbau auf seinem Gutsbesitz betrieb und die beide erst seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Provinz Sachsen begütert gewesen waren, wurden Mitglieder des Vorstandes der Landwirtschaftskammer und des Landtages sowie des Provinzialausschusses der Provinz Sachsen. Ludolf v. Bismarck-Briest, Mitgründer der Zuckerfabrik Stendal, wurde Vorsitzender des Kommunallandtages der Provinz und Mitglied des Vorstandes der Landwirtschaftskammer der Provinz Sachsen und stand wegen seiner Verdienste um die Landwirtschaft in hohem Ansehen.89 Dadurch erfuhren diese adligen Familien ein soziale Aufwertung und zeigten sich fähig, mit den Bürgerlichen auf der regionalen Machtebene zu konkurrieren. So sind die Begrenzungen des wirtschaftlichen Handelns des Adels nicht nur als eine Folge von dessen Inkompetenz oder Inflexibilität zu interpretieren, sondern auch als der Ausdruck zielstrebiger Strategien, die seine Grundbesitzerinteressen und seine regionale Elitenrolle sichern sollten. In seinem wirtschaftlichen Verhalten versuchte er, seine Interessen in die Kontinuität seiner jahrhundertealten Entwicklung einzubetten und sie zugleich teilweise neu zu definieren.

Dazu vgl. Thomas Klein, Reichstagswahlen und -abgeordnete der Provinz Sachsen und Anhalts 1867-1918, in: Walter Schlesinger (Hg.) Festschrift für Friedrich von Zahn, Mitteldeutsche Forschungen, Bd. 50/1, Köln-Graz 1968, S. 65-141. Vgl. Giesau, Geschichte des Provinzialverbandes (wie Anm. 47), S. 25, Niekammers Güter-Adressbücher, (wie Anm. 34), 1906 und 1913, passim und GStAPK, Rep. 90, Nr. 1995, Bl. 2-4.

322

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2. Die Reinvestitionen: Bodenankäufe und Renovierung der Schlösser

Der zweite Grund, der auch erklärt, warum das Vermögen der Adligen nicht erheblich gestiegen ist, liegt in der praktizierten Ausgabenstrategier und der Reinvestition des Einkommens. Angesichts der Quellenlage ist es zwar nicht möglich, die Reinvestionsrichtungen systematisch nachzuvollziehen. Dennoch läßt sich ein Trend deutlich nachzeichnen, und zwar der zur Grundbesitzerweiterung und zum Umbau bzw. Neubau des Familienschlosses. Fast zwei Drittel der untersuchten Familien haben einen bedeutenden Teil ihres Einkommens in den Kauf von Liegenschaften, manchmal sogar von ganzen Gütern, oder in die Renovierung bzw. in den Neubau des Schlosses angelegt. Zwar stellte im 19. Jahrhundert das Streben nach Erweiterung des Grundbesitzes keine Eigenheit des Adels in der preußischen Provinz Sachsen dar, und damit ist auch nicht gemeint, daß der gesamte Adel der Provinz Sachsen seinen Grundbesitz vergrößerte. Auch in der Provinz Sachsen verlor der Adel gegenüber Bürgerlichen oder Großbauern an Boden. Zahlreiche adlige Familien, die am Anfang der untersuchten Periode Grundbesitz besessen hatten, mußten diesen im Laufe der Zeit verkaufen. Dennoch setzte sich in der Provinz Sachsen der gleiche Prozeß durch, den Ilona Buchsteiner für Mecklenburg und die Provinz Pommern analysiert hat, nämlich eine immer größere Konzentration von Grund und Boden in der Hand bestimmter Familien.90 In der Provinz Sachsen betraf dieser Prozeß aber nicht nur eine Handvoll von standesherrlichen und reichen Familien, sondern auch die mittleren Familien, sogar finanziell schlechter ausgestatteten Familien. Dadurch erfuhren sie einen relativen Aufstieg sowohl innerhalb der adligen als auch in der Grundbesitzerhierarchie. Die Analyse der Grundbesitzentwicklung von 86 adligen Familien der Provinz Sachsen, die zwischen 1872 und 1913 über Grundbesitz verfügten, zeigt, daß 71 % ihren Grundbesitz erweiterten, 14 % die gleiche Fläche besaßen und nur 15 % einen Teil ihres Grundbesitz veräußern mußten.91 Zwar verlief

Vgl. Ilona Buchsteiner, Zur sozialökonomischen Struktur mecklenburgischer Gutswirtschaften von 1871 bis 1914, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Universität Rostock, Gesellschaftwissenschaftliche Reihe 36 (1987), S. 38-41 und Dies., Großgrundbesitz in Pommern zwischen 1871 und 1914, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 37 (1989), S. 330-333. Berechnungen nach verschiedenen Güteradressbüchem: Adressbuch des Grundbesitzes in der Provinz Sachsen, Berlin 1872, Paul Ellerholz (Hg.), Handbuch des

Das

Engagement des Adels in der kapitalistischen Wirtschaft

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diese Steigerung, je nach finanzieller Kraft und ursprünglicher Größe des Grundbesitzes, unterschiedlich, aber die Entwicklung zeigt, daß die Behauptung, der Adel hätte im Laufe des 19. Jahrhunderts seinen Grundbesitz kaum vergrößern können, zu relativieren ist.92 So stieg zwischen 1872 und 1913 der Grundbesitz der Familie v. Bonin von 363 ha auf 530 ha, die v. Graevenitz, die eine Zuckerfabrik betrieben, erweiterten ihre Güter um mehr als 110 ha, die agro-industrielle Familie v. Helldorff kaufte mehr als 440 ha Grund und Boden, und zahlreiche über bescheidenere Finanzmittel verfugende Familien erwarben Parzellen, die zwischen 10 und 30 ha groß waren und ihren kleineren Grundbesitz abrundeten. Parallel zu dieser Grundbesitzerweiterungspolitik modernisierten zahlreiche Adlige ihre Schlösser, bauten sie um oder ganz neu. Wilhelm v. Wedel baute sein Schloß im Neorenaissancestil um und gab 85.000 Mark für die Modernisierung der inneren Gestaltung aus, während Werner Graf v. d. Schulenburg-Hessler das Familienschloß erweiterte und eine neue Parkanlage errichten ließ.93 Einerseits dienen diese Angaben als Nachweis für eine relative Vermögenssteigerung bzw. die gesunde finanzielle Lage eines Teils der adligen Familien in der Provinz Sachsen. Auch kann man daran die finanziellen Ergebnisse der Modernisierung der Landwirtschaft, des aus den Wertpapieren und den Betrieben bezogenen Einkommens ermessen. Die Familien, die ihren Grundbesitz vergrößerten und ihr Schloß neu bauten, waren sehr oft diejenigen, die einen beträchtlichen Teil ihres Einkommens aus Wertpapieren oder industriellen Tätigkeiten bezogen. Dies gab ihnen die finanzielle Möglichkeit, ihren Grundbesitz zu erweitern und ihre Herrenhäuser zu restaurieren.94 Anderseits Grundbesitzes im Deutschen Reiche (wie Anm. 34), 1880, 1885 und 1889 und Niekammers Güter-Adressbücher, (wie Anm. 34), 1906 und 1913. Der Grundbesitz konnte auch durch Erbanfall vergrößert werden, und manche Adligen kauften sich ein Gut außerhalb der Provinz Sachsen. Dennoch sollen diese Beispiele die Tatsache nicht verdecken, daß andere reiche Familien wie die Grafen vom Hagen und von der Schulenburg-Beetzendorf durch Mißwirtschaft dazu gezwungen wurden, einen Teil ihres Grundbesitzes zu veräußern. 92 Vgl. dazu die Analysen von Carsten, Geschichte der preußischen Junker (wie Anm. 1), S. 132-133 und Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3 (wie Anm. 3), S. 810-812. 93 Vgl. LHAM, Rep. H Piesdorf, Nr. 183 und 184 und Georg Schmidt, Das Geschlecht von der Schulenburg, Teil 1, Beetzendorf 1908, S. 518. 94 Diese Analyse vertritt auch Schwarz-Neuss, die den häufigen Schloßumbau auf die Reichtumssteigerung zahlreicher Grundbesitzer zurückführt, vgl. Elisabeth Schwarz-Neuss, Schlösser und Herrenhäuser im mitteldeutschen Industriegebiet, in: Bruno J. Sobotka und Jürgen Strauss (Hg.), Burgen, Schlösser, Gutshäu-

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ist der Kauf von Grundbesitz und die Renovierung des Schlosses ein Indikator dafür, daß die Adligen nicht nach einer vollständigen produktiven und gewinnbringenden Reinvestition ihres Geldes strebten. Zwar konnte die Grundbesitzerweiterung wirtschaftliche Zwecke verfolgen, aber hinsichtlich einer Einkommenssteigerung wäre das Geld besser in Wertpapiere oder in die Erweiterung der Fabriken investiert worden. Umgekehrt opferten sie für die Erweiterung des Grundbesitzes und des Schlosses große Summen, die ihrem Einkommen und Vermögen entzogen wurden. Als 1867 Friedrich v. Veitheim, Gründer der Zuckerfabrik Eichenbarleben, starb, hinterließ er seinem einzigen, noch minderjährigen Sohn August ein beträchtliches Wertpapiervermögen von 102.000 Mark. Als August 1878 volljährig geworden war begann er, den Grundbesitz konsequent zu erweitern. Bis 1918 kaufte er rund 250 ha für insgesamt 1.145.000 Mark, gründete einen Fideikommiß und ließ auch das Schloß für mehr als 185.000 Mark umbauen. Um diese Ausgaben zu finanzieren, veräußerte er seinen gesamten Anteil am väterlichen Allodialvermögen und zog beträchtliche Summen aus dem Einkommen seiner Zuckerfabrik.95 Dennoch sind diese traditionellen, symbolischen und ,unwirtschaftlichen' Ausgaben weder als unproduktiv noch als irrational zu interpretieren. Sie deuten vielmehr daraufhin, daß der Adel andere Prioritäten setzte, als die nominale Bereicherung und seine standesgemäße Identität zu verteidigen suchte. Es fällt auf, daß der Prozeß der Grundbesitzausdehnung und der Schloßrenovierung in denjenigen Kreisen der Provinz Sachsen am stärksten zu beobachten ist, in denen die bürgerliche und großbäuerliche Konkurrenz am größten war.96 Dort stand der Adel unter dem Druck zahlreicher aufsteigender Bürgerlicher und Großbauern, die sich auch Herrenhäuser oder ,Rübenpaläste' errichten ließen, weshalb auch er seinen Grundbesitz erweiterte und die Schlösser neu bauen ließ. So dokumentierte der Adel seine symbolische und materielle Konkurrenzfähigkeit gegenüber den aufsteigenden Gesellschaftsschichten. Trotz der wirtschaftlichen Tätigkeit eines Teils der Adligen und der daraus resultierenden teilweisen Veränderung seiner Wertorientierunser

in Sachsen-Anhalt,

Stuttgart 1994,

S. 84. Während auch die schlesischen Ad-

ligen ihre Schlösser renovierten, soll aber in Ostpreußen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kein Schloß erbaut oder auch nur umgebaut worden sein, vgl.

Marion Gräfin Dönhoff, Namen die keiner mehr nennt, München 1998, S. 59. Vgl. LHAM, Rep. H Veitheimsburg, Nr. 806-810, 874 und 952. Vgl. Schwarz-Neuss, Schlösser und Herrenhäuser (wie Anm. 94), S. 86-88 und Müller, Rübenzuckerindustrie (wie Anm. 22), S. 50.

Das

Engagement des Adels in der kapitalistischen Wirtschaft

325

gen, blieb der Grundbesitz der soziale und kulturelle Horizont des

Adels. Der wirtschaftliche Erfolg allein reichte nicht, um den Rang der Familie zu demonstrieren; ihm mußte die standesgemäße und identitätsbewahrende materielle und symbolische Übersetzung folgen, die Familienmacht, -prestige und -rang zu dokumentieren und dauerhaft zu verewigen hatte. Jede adlige Autobiographie fängt mit der Beschreibung des Schlosses, der umliegenden Landschaft und Felder und der Idylle des ländlichen Lebens an. Jeder Adlige beschreibt, wie er sich an seinen Grundbesitz gebunden fühlte und daß nur dieser die Lebensbasis eines Adligen bilden kann. Wenn man in den Familienchroniken nach Angaben über die wirtschaftlichen Tätigkeiten ihrer Mitglieder sucht, findet man sie kaum. Dafür heben diese Chroniken die Grundbesitzertätigkeit, die Erweiterung des Grundbesitzes, die Errichtung einer Parkanlage hervor und loben diese Handlungen als das größte Verdienst, das ein Grundbesitzer für sich, fur das Familienprestige und die Weiterexistenz des Geschlechtes erwerben konnte.97 Der Zwang zu symbolischen und standesgemäßen Investitionen läßt sich am Beispiel des Grafen v. Alvensleben-Schönborn sehr gut rekonstruieren. Albrecht Graf v. Alvensleben (1848-1928) auf Erxleben II. in der Altmark entstammte einer berühmten und reichen Familie, deren Oberhaupt er war. Er war ein überdurchschnittlich erfolgreicher Agrarunternehmer, der zugleich in vier Aufsichtsräten industrieller Unternehmen saß.98 Er ließ um die Jahrhundertwende das Schloß renovieren, einen besonderen Flügel für die Beherbergung der Familienbibliothek ausbauen und richtete nebenan einen "kolossalen Stammbaum, der von 1700 etwa bis in mythische Zeiten hinaufführte", ein.99 97

Zur

98 99

chen, veranlaßte die Adligen ebenfalls, ihren Grundbesitz zu erweitern. Vgl. Kretzschmar, Geschichtliche Nachrichten (wie Anm. 42), S. 187-191. Vgl. LHAM, Rep. H Erxleben 2, B. XIII., Nr. 2401 und 2402. Das Beispiel des

Bedeutung des Schlosses für das adlige Standesbewußtsein vgl. jetzt vor allem Marcus Funck und Stephan Malinowski: Geschichte von Oben. Autobiographien als Quelle einer Sozial- und Kulturgeschichte des deutschen Adels in Kaiserreich und Weimarer Republik, in: Historische Anthropologie 7 (1999), S. 236-270, besonders S. 247 ff. Siehe auch: Reinhold Brunner, Landadeliger Alltag und primäre Sozialisation in Ostelbien am Ende des 19. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 39 (1991), S. 997-998. Die Politik der Krone, den Adel zur Einrichtung von Fideikommissen aufzufordern und Standeserhöhungen bzw. einen Sitz im Herrenhaus vom Grundbesitz abhängig zu ma-

Grafen v. Alvensleben illustriert die theoretischen Ansätze Simmeis über das adlige Dasein und dessen Verantwortlichkeitsgefühl, vgl. Georg Simmel, Exkurs über den Adel, in: ders., Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesell-

schaftung, Leipzig 1908, S. 741-745.

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326

Sein Neffe Udo beschrieb dieses Schloß mit Worten, die diesen Prozeß des Wechselspiels zwischen Vergangenheit und Zukunft widerspiegeln: "Alles schien hier auf ewige Dauer angelegt, die Dicke und Festigkeit der alten Mauern, die dichte Substanz der Überlieferung, das geistig und materiell gesunde Fundament, wie es in Onkel Albrechts Persönlichkeit und seinem Wirken sichtbar wurde."100 Mit der Renovierung des Schlosses und des Ahnensaals übernahm der Graf die Pflicht, sein ganzes Geschlecht und damit auch den Adel als Gruppe zu ehren. Er versuchte dabei, den Glanz seiner Familie zu demonstrieren und zu behaupten, opferte dafür aber einen bedeutenden Teil seines

Vermögens. 3. Die Notwendigkeit der

Sicherung des Familienstatutes

Die Tatsache, daß die Adligen trotz ihrer wirtschaftlichen Tätigkeiten nicht in größerem Maße reicher geworden sind und daß ihrem wirtschaftlichen Engagement bestimmte Grenzen gesetzt waren, erklärt sich auch aus den von ihnen betriebenen Strategien der Sicherung des Familienstatus. Alle Adligen strebten zwar nach wirtschaftlichem Gewinn und nach einer Vermehrung ihrer Einkommensquellen, sie verfolgten aber auch andere Zwecke, die nicht nur rein wirtschaftlich begründet waren und die vor allem den Familieninteressen zu dienen hatten. Die Familiensolidarität, der Wille, die adlige Familie zu erhalten, sowie die Notwendigkeit für die Zukunft der Kinder zu sorgen, wirkten auch als Impuls und Bedingung zur wirtschaftlichen Anpassung. Zweck der Vermögensdiversifizierung oder der Errichtung einer Industrieanlage war es nicht bloß Kapital zu akkumulieren, sondern Kapital zu schaffen, um die Erträge unter den verschiedenen Familienmitgliedern verteilen zu können. Oberstes Ziel war dabei, das Obenbleiben der Familie zu sichern und ihren Mitgliedern mit finanziellen Mitteln auszustatten, die zum Erhalt ihres standesgemäßen Lebens beitragen sollten. So schrieb Werner v. Veltheim-Ostrau, als er 1853 auf seinem Gut Bohrversuche unternahm, in sein Tagebuch101: "Für meine Kinder würde ein Kohlenwerk eine gute und sichere Vermögensquelle sein Udo v. Alvensleben, Besuche vor dem Untergang, Adelssitze zwischen Altmark und Masuren, hg. von Harald v. Koenigswald, Frankfurt/M.-Berlin 1978, S. 188-189. Werner v. Veitheim. Eine Lebensgeschichte zum Leben, verf. durch Anna v. Krosigk, Bernburg 1897, S. 226.

Vgl.

Das

Engagement des Adels in der kapitalistischen Wirtschaft

327

(...) Gott wird schon (dabei) helfen." Das Testament des 1869 verstorbenen Werner v. Alvensleben-Neugattersleben liefert ebenfalls ein beeindruckendes Beispiel dieser Strategie der sozio-ökonomischen Erhaltung der adligen Familie. Seinem Testament ist zu entnehmen, daß die von ihm gegründete Braunkohlengrube im Falle einer Fidei-

nicht zum fideikommissarischen Teil des Vermözum Allod geschlagen werden sollte. Die Grube blieb sondern gens, demzufolge im gemeinschaftlichen Vermögen aller Erben, die sich das Einkommen teilten, bis sich die Grube 1923 erschöpfte. Der älteste Sohn verwaltete das Unternehmen und hatte aus dem Reingewinn seinen Geschwistern und der Mutter jährlich Summen zu überweisen, die eine nicht unbeträchtliche Erweiterung der Einkommensbasis darstell-

kommißgründung

ten.102

Die Modalitäten des Erbanfalls zeigen auch, daß die Familienlasten und die Sicherung des Familienstatus den Anlaß bildeten, den Anschluß an die neuen Einkommensquellen zu suchen. In der Regel galt, daß der älteste Sohn den gesamten Grundbesitz und das Schloß erbte, während er dafür seine nachgeborenen Brüder und die unverheirateten Schwestern zu entschädigen hatte. Aber mit dem steigenden Trend zur Stiftung von Fideikommissen und mit der Aufhebung der Lehen 1879 drohte den nachgeborenen Söhnen und Töchtern ein immer strengerer Ausschluß vom väterlichen Vermögen. Die Adligen versuchten daraufhin, die ungleiche Erbteilung zu mildern und ihren Kindern eine wirtschaftliche Basis zu sichern, indem sie die neue Einkommensquelle, die Wertpapiere, als Apanagemittel anerkannten. Wenn auch alte Apanageformen wie die Aufnahme einer Hypothek auf das Gut oder die Gewährung einer lebenslänglichen Rente erhalten blieben, setzte sich dennoch zunehmend der Trend durch, die nachgeborenen Söhne und die Töchter mit Wertpapieren oder Forderungen zu versehen. So stellte der Erbfall einen tiefen Bruch in der Kontinuität des Wertpapierbesitzes dar, da diese den nachgeborenen Söhnen und Töchtern überlassen wurden und der älteste Sohn in der Regel keine Wertpapiere erhielt. Ferner wurde die finanzielle Unterstützung der verschiedenen Familienmitglieder durch die Errichtung zahlreicher Familienstiftungen weiter abgesichert. Diese Stiftungen, die sich aus sicheren Wertpapieren zusammensetzten und deren Kapital sehr erheblich sein konnte, verfolgten keinen anderen Zweck als die Fürsorge für die nachgeborenen Söhne oder unverheirateten Töchter. Durch die Gewährung 02

Vgl. LHAM, Rep. H Neugattersleben, Nr. 159, 160,

162 und 203.

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jährlicher nicht unbedeutender Summen trugen sie konsequent zu einer Einkommensergänzung landloser Familienmitglieder bei. Diese Strategie der Vererbung und Verteilung des Vermögens führdazu, daß der Prozeß der wirtschaftlichen Anpassung und der Diversifizierung des Einkommens nicht nur die Stammherren, sondern auch

te

die anderen Familienmitglieder betraf. Zahlreiche untersuchte Nachlässe von nicht grundbesitzenden Adligen setzten sich aus Wertpapieren zusammen, die sie geerbt, behalten und erweitert hatten. Immer mehr Adlige bezogen ihr Einkommen aus Wertpapieren und lebten davon. Die Tatsache, daß ein Adliger oder eine Adlige landlos waren, bedeutete nicht unbedingt, daß sie über kein Vermögen verfügten. Dank des Prozesses der Diversifizierung des Vermögens und der Strategie der Weiterverteilung der Wertpapiere konnten zahlreiche Adlige ihren sozialen Abstieg bremsen und ein einigermaßen standesgemäßes Leben führen. Anhand dieser Beispiele zeigt sich erstens, wie sehr die adligen Werte als Bedingung und Impuls für wirtschaftliches Engagement wirkten. Der Anschluß an die neuen Einkommensquellen wurde als eine Chance der sozialen Stabilisierung wahrgenommen. Um das Obenbleiben und die Statussicherung der Familie zu gewähren, war der Adel bereit und fähig, Kompromisse zu schließen und sein wirtschaftliches Verhalten zu reorientieren. Zweitens, zogen auch dieses Streben und die patrimonialen Familienzwecke bestimmte Grenzen und Einschränkungen für die wirtschaftliche wie soziale Anpassung des Adels. In der Strategie der Statussicherung lag ein wichtiger Grund, warum die wirtschaftlichen Tätigkeiten des Adels manchmal ,kleinkariert' blieben. Obwohl sie Agrarunternehmer waren, vergrößerten die Adligen ihre industriellen Betriebe nicht. Sie besaßen zwar zum Teil die Kapazität und die finanzielle Kraft, größere Betriebe ins Leben zu rufen, taten dies aber nicht, weil der Betrieb nicht in ein spekulatives und riskantes Unternehmen umgewandelt werden sollte, da dies den Grundbesitz und die Apanagen der Kinder eventuell gefährdet hätte. Die Kinderapanage entzog dem Grundbesitzer bedeutende Einkommensquellen, die er wieder zu erwirtschaften hatte. Dies erklärt, warum die Adligen spekulative Wertpapiere eher selten bevorzugt haben. Ziel war ihnen weniger eine Maximierung des Profits, denn vielmehr die Schaffung von sicherem Kapital, das den Kindern zugute kommen sollte. Ferner erklären die Modalitäten der Erbregulierung und die finanzielle Unterstützung der Familienmitglieder durch die Famtlienstiftungen auch, warum von der unzureichenden Ausbildung und manchen Vorurteilen einmal abgese-

Das

Engagement des Adels in der kapitalistischen Wirtschaft

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hen, die Berufswahl der Adligen auf die traditionellen Verwaltungs-

oder Militärlaufbahnen beschränkt blieb.103 Diese finanzielle Unterstützung und Apanage war nicht so sehr als Startkapital gedacht, um in

Leistungsgesellschaft einen Platz zu finden, sondern vielmehr als „Reservekapital", das ein Rentiersleben ermöglichen oder die Ausübung der standesgemäßen aber nicht sehr lukrativen Berufe absichern der

sollte. Ziel des wirtschaftlichen Engagements des Adels war es zwar Einkommensquellen zu schaffen. Oberste Priorität besaß aber deren Nutzung im Sinne des Erhalts der Gruppen- und Familienstrukturen sowie der identitätsprägenden Werte. Dabei verfolgten die Adligen eine eigene und originäre Logik: sie haben die Reichtumschancen der kapitalistischen Einkommensquellen weniger genutzt, um sich zu bereichern oder sich in allen Handlungsfeldern der Gesellschaft zu behaupten, als vielmehr dazu, ihre alte Welt an die neue Welt anzuschließen, damit die alte weiterleben konnte. Die hier thematisierten drei Indikatoren machen deutlich, warum die Adligen in ihrem wirtschaftlichen Engagement in der kapitalistischen Wirtschaft eine Art "Zwischenweg" entwickelt haben. Es gab innerhalb des Adels verschiedene, eigene sozio-kulturelle Prioritäten (die Stabilisierung und Förderung des Grundbesitzes, die regionale Elitenrolle, die Erweiterung des Grundbesitzes, die symbolischen Ausgaben, die Statussicherung), die aber keineswegs als Barrieren gegen eine wirtschaftliche Anpassung wirkten, sondern durchaus Wege zum Kapitalreichtum, zur Kapitalakkumulation und konsequenterweise zum sozialen Aufstieg wiesen. Entscheidend war für den Adel aber nicht, sich zu bereichern oder auf den Stufen der neuen Sozialhierarchie aufzusteigen, sondern seine traditionelle Wirtschaftsbasis und regionale Elitenrolle, seine Familien- und Identitätswerte zu erhalten. Der Wirtschaft und den wirtschaftlichen Tätigkeiten waren seine Herrschaftsansprüche und sein sozialer Zusammenhalt untergeordnet. Die Verfolgung dieser Strategien war Bedingung und Anlaß seines wirtschaftlichen Engagements.

Trotz ihres starken wirtschaftlichen Engagements zeichneten sich die Adligen der Provinz Sachsen nicht durch ein überdurchschnittliches Eindringen in die neuen Berufe der Wirtschaft oder die freien Berufe aus. Diese neuen Berufe wurden vor allem von landlosen Adligen, die Karriere in den Aktiengesellschaften machten, oder von Söhnen wirtschaftlich sehr dynamischer Familien, wie den v. Helldorff oder den v. Alvensleben-Neugattersleben ergriffen.

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Resümee oder doch bedeutende Teile vom ihm war der Adel der die soziale keine Dynamik des Kapitalismus und der neuGruppe, en Einkommenschancen fern geblieben war. In seinem wirtschaftlichen Verhalten und seinen Entscheidungen war er keine Survivance du Passé, sondern eine Gruppe, die einen Kompromiß zwischen ,Tradition' und ,Moderne' entwickelte. Seine wirtschaftliche Anpassung, wenngleich sie stark auf die regionale und agrar-industrielle Ebene konzentriert blieb, ist nicht zu bestreiten. Dabei wußte er seine wirtschaftliche Basis den Grundbesitz zu nutzen, zu fördern und sie an Rentabilitätsgesichtspunkten zu orientieren. Der Adel nutzte aber nicht alle Möglichkeiten der wirtschaftlichen Investitionen oder der Bereicherung, sondern verteidigte primär seine politischen, Grundbesitzer- und Familieninteressen sowie seine regionale Elitenrolle. Dabei wußte er originäre und eigene Strategien zu entwickeln, die von einer spezifisch adligen Form der Nutzung der kapitalistischen Einkommensquellen Im Kaiserreich

-

-

zeugen.

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war am Ende der untersuchten Periode durch scharfe inTrennlinien und Unterschiede der sozialen Mobilität gekennzeichnet. Die adlige Gruppe verlor immer mehr ihre soziale und wirtschaftliche Einheit und die je nach Familie sehr unterschiedlichen wirtschaftlichen Tätigkeiten und Erfolge haben zu einer Veränderung ihrer internen Hierarchie geführt. Viele Familien erfuhren eine soziale Deklassierung, während andere sich behaupten konnten. Ein Teil stieg dagegen wirtschaftlich und sozial auf und konnte durchaus weiterhin mit dem vermögenden Bürgertum konkurrieren.

Der Adel

nere

JOHN C. G. RÖHL

Defizite des Kaiser-Konzepts. Wilhelm II. im Wandel der politischen Institutionen und Politikfelder nach Bismarcks Entlassung

Als Bismarck im Verfassungskonflikt gegen den Geist der Zeit und gegen die überwiegende Mehrheit des Volkes die halbabsolutistische preußische Militärmonarchie vor dem Ansturm der parlamentarischen Bewegung rettete und sie zum Machtzentrum eines Deutschen Kaiserreichs erhob, schuf er eine Staatsform, die von mehreren Richtungen her gefährdet war. Von außen war sie latent bedroht von den benachbarten

Großmächten, die Gebiete, Machtstellung, Prestige und Hand-

lungsspielraum an das neue Reich verloren hatten. Innerhalb der Reichsgrenzen bestand die zunächst größte Gefahr in dem partikularistischen Bestreben der nichtpreußischen Königreiche Bayern, Sachsen und Württemberg, eventuell mit auswärtiger Hilfe die an Preußen verlorene Souveränität wieder zurückzugewinnen. Von unten sah sich das Bismarckreich weiterhin von der fortschrittlich-demokratischen, sodann von der in der neuen Zentrumspartei zusammengefaßten katholischen Bevölkerung und zunehmend auch von der rasch anwachsenden sozialdemokratischen Arbeiterbewegung bedroht. I. Um dieser Gefahren Herr zu werden, entwickelte Bismarck die Ideologie des „staatserhaltenden monarchischen Prinzips", den Mythos des tatsächlich regierenden Monarchen, dessen bloßer Ratgeber er, der Reichskanzler, sei. „Bei uns [...] regiert der König selbst. Die Minister redigieren wohl, was der König befohlen hat, aber sie regieren nicht,"

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JohnC. G. Röhl

verkündete er rundheraus im Reichstag.1 Wie es sein Sohn Herbert im Oktober 1888, kurz nach der Thronbesteigung Wilhelms II., formulierte, müsse das „erhaltende preußische Prinzip" des wirklich regierenden Monarchen mit allen Mitteln verteidigt werden; es käme alles darauf an, im Kaiserreich „den modernen Parlamentarismus ohne selbstregierenden Monarchen" zu verhindern und dafür zu sorgen, daß die preußisch-deutsche Monarchie nicht, wie etwa die englische oder belgische, zu einer „automatischen Unterschriftsmaschine" verkomme.2 Wie dieses „monarchische Prinzip" noch von den Bismarcks auf den jungen Kaiser Wilhelm II. projiziert wurde, wird aus der Rede ersichtlich, die der von ihm kurz zuvor in den Grafenstand erhobene freikonservative Abgeordnete Hugo Sholto von Douglas am 4. Oktober 1888 hielt, die jedoch in der Bismarckschen Reichskanzlei verfaßt worden war.3 „In den denkwürdigen Thronreden, mit denen er Reichstag und Landtag im Juni eröffnete, hat sich Kaiser Wilhelm zu dem Vermächtniß seiner großen Vorfahren bekannt", erklärte Douglas darin. „Und dieses Vermächtniß besteht in der Stärkung und Festigung des Deutschen Reiches auf der einen und Stärkung und Festigung des monarchischen Prinzips auf der anderen Seite. [...] Was Kaiser Wilhelm I. durch sein siegreiches Schwert für Deutschland erworben hat, will und wird Kaiser Wilhelm II. festhalten. Nicht minder will und wird er festhalten, was Kaiser Wilhelm gethan hat, um den Gedanken und das Bewußtsein einer starken Monarchie in die Herzen seines Volkes einzugraben. Es hat eine Zeit gegeben und diese Zeit liegt nicht fern, in welcher man über den Einfluß des Herrschers spöttelte und ihm die Rolle einer lediglich repräsentativen Figur zudiktiren wollte, wie das noch heute das Ziel der demokratischen und auf demokratische Ziele steuernden Parteien ist. Die Thaten des Kaisers Wilhelm I. haben aller Welt gezeigt, was ein kraftvoller Herrscher Großes zu leisten im Stande ist, und wenn jemals daran gezweifelt worden ist, heute hat Jeder, der sein Vaterland liebt, die tiefe Ueberzeugung, daß Preußen nicht nur durch die Hohenzollern groß geworden ist, sondern daß auch Otto Fürst von Bismarck, Die gesammelten Werke, 15 Bde., Berlin 1924-1932, XII, S. 324 ff. Aufzeichnung Herbert von Bismarcks, 5. Oktober 1888, Die Große Politik der Europäischen Kabinette, 40 Bde., Berlin 1922-1927, VI, Nr. 1352. Fürst Bismarck an Herbert Bismarck, 5. Oktober 1888, zitiert ebd., S. 346, Anmerkung. Kaiserin Friedrich, Tagebucheintragung vom 25. Dezember 1888, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin (im folgenden GStAPK), BPH Rep. 52 Nr. 3.

Defizite des

Kaiser-Konzepts

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die gesammte Zukunft Deutschlands und Preußens, ja die des Weltfriedens, mit dem Hause der Hohenzollern unzertrennlich verknüpft ist. Das ist das große Vermächtniß, das unserem erhabenen Kaiser von seinen Vorfahren überkommen ist, und er würde kein Hohenzoller sein, wenn er nicht die vornehmste Aufgabe seines Wirkens darin erkannte, auf dem Grunde, den seine Väter gelegt haben, weiter zu bauen, zu Deutschlands, zu Preußens Ehre und Segen."4 Innenpolitisch stehe der Kaiser über den Parteien erhaben und wolle „keine Parteiregierung", beteuerte Douglas. Er verlange von seiner Regierung „sachliches Handeln [...] und er hat es wiederholt ausgesprochen, daß sein Leben dem ganzen Volke gehört ohne Unterschied des Glaubens, der Abstammung oder der politischen Parteistellung. Der Kaiser kennt nur einen Maßstab in dieser Beziehung, die treue Liebe zum Vaterlande und zum Throne. Dieser Maßstab allein entspricht dem monarchischen Prinzip. Er allein bleibt und wird bleiben, wenn die vergänglichen Schlagworte des jeweiligen politischen Parteitreibens längst verhallt sind." Kein Herrscher verstehe seine Zeit wie er, Wilhelm II., kein König werde dieses Verständnis besser als er in Taten umsetzen, und das Volk werde ihm dafür „danken mit Treue um Treue". Dadurch werde das Königtum, das unter Kaiser Wilhelm I. bereits einen noch nie dagewesenen Glanz erreicht, das in den letzten zwanzig Jahren „seine Wurzeln tiefer als je in das Herz unseres Volkes gesenkt" habe, noch fester verankert werden. Alle Deutschen, ganz gleich welche Parteirichtung sie bevorzugten, hätten das sichere Gefühl, „daß das Königthum der Hort unserer Freiheit, unserer Kultur, unseres staatlichen Wohlergehens" sei. Und „unser jetziger junger Kaiser" sei der Mann dazu, „die Segnungen eines starken und freien Königthums unserem Vaterlande nicht nur zu erhalten, sondern sie zu einer reicheren und schöneren Entfaltung zu bringen".5 Es gehört gewiß zu den größten Ironien der deutschen Geschichte, daß das Bismarckregime just von den Herrschaftsallüren der Hohenzollerndynastie untergraben wurde, die er selber zum staatsideologischen Bollwerk gegen den Parlamentarismus aufgebaut hatte. Wäre das Bismarcksche Kaiser-Konzept mit einem anderen Kaiser als mit Wilhelm II. lebensfähiger gewesen? Die Antwort darauf lautet, wie wir gleich sehen werden, sicherlich ja, wenn auch diese Frage genauge4

5

Rede des Grafen Douglas, 4. Oktober 1888, Norddeutsche Nr. 474, 7. Oktober 1888. Ebd.

Allgemeine Zeitung

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verfassungstheoretisch unzulässig ist, denn es gehört zur Quintessenz und zur größten Schwäche der monarchischen Idee, daß die Thronfolge keine Wahlfrage ist, sondern stets nach dem Prinzip der Legitimität zu erfolgen hat. Von einer Teilschuld an der gänzlich unzeitgemäßen politischen Entwicklung Wilhelms II. wird man die beiden Bismarcks aber auch nicht freisprechen können, die in den 1880er Jahren seine mystischen, preußisch-dynastischen Machtvorstellungen als Gegengewicht gegen die gefürchtete liberale und anglophile Regierung seiner Eltern bewußt geschürt hatten. Noch während des Antrittsbesuchs Wilhelms II. in St. Petersburg im Juli 1888 hatte Herbert Graf von Bismarck als Staatssekretär des Auswärtigen Amtes den frühen Tod Kaiser Friedrichs III. als eine Erlösung laut begrüßt. „His theme was [...] how the flood gates of democracy & Jews & God knows what more besides wd. have been opened if the reign of the Emperor Frederick & the Empress Victoria had been prolonged. But, he added, un bon petit cancer nous a sauvé!", meldete zutiefst degoutiert der britische Botschafter Sir Robert Morier nach London.6 Andererseits darf nicht übersehen werden, daß die lange Dominanz Bismarcks nicht nur bei Wilhelm I. und der Kaiserin Augusta, nicht nur bei Friedrich und Victoria, sondern auch bei dem jüngeren Wilhelm ein tiefes Gefühl der dynastischen Kränkung hinterlassen hatte, das in der Entlassungskrise, die im Frühsommer 1889 begann, einen bestimmenden Einfluß ausübte. Auf jene Ereignisse zurückblickend nommen

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schrieb Wilhelm seiner Mutter nach Bismarcks Tod, dieser sei damals Herr des Deutschen Reiches gewesen, „and the House of Hohenzollern was nowhere!" Seine, Wilhelms, historische Aufgabe sei es gewesen, die Krone aus dem überwältigenden Schatten seines Ministers zu retten, „to save the honour & the future of our House from the corrupting influence of the Great Stealer of our People's hearts". „Where is he [Bismarck] now?", fragte der Kaiser triumphierend. „The storm has calmed, the [Kaiser] Standard waves high in the breeze, comforting every anxious look cast upwards; the Crown sends its rays 'by the Grace of God' into Palace & hut, & pardon me if I say so Europe & the World listen to hear 'what does the German Emperor say or think', & not what is the will of his Chancellor! [...] For ever & for ever, there is only one real Emperor in the world, & that is the German, regard-

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Sir Robert Morier an Sir Henry Ponsonby, 22. Januar 1889, Royal Archives (RA) 157/11. Der Brief wurde der Königin vorgelegt. Ponsonby an Queen Victoria, 31. Januar 1889. RA 157/12.

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less of his Person & qualities, but by right of a thousand years tradition. And his Chancellor has to obey]"7 Zweifellos begünstigten die monarchischen Befehls- und Verwaltungsstrukturen, die Bismarck vor dem Untergang gerettet hatte, den raschen Aufbau der persönlichen Macht Kaiser Wilhelms II. Die Personalunion des neuen Kaisertums mit der alten Militärmonarchie Preußens machte ein Ineinandergreifen preußischer Verhaltensweisen,

Traditionen und Institutionen mit dem Kaiser-Konzept auf die Dauer unvermeidlich, zumal sich Wilhelm II. wie sein Großvater primär als Militär verstand, sich mit (fast ausschließlich preußischen) Generalund Flügeladjutanten umgab und fest entschlossen war, seine uneingeschränkte Kommandogewalt als Oberster Kriegsherr voll auszuschöpfen. Noch im August 1911 erklärte er einem erstaunten britischen General gegenüber, in Preußen-Deutschland sei die Armee „under his sole command & control"; der Kriegsminister sei lediglich für Verwaltungs- und Budgetfragen zuständig; jeder Offlziersbericht werde ¡hm, dem König und Kaiser, persönlich vorgelegt und sodann in seinem Militärkabinett bearbeitet, daher wisse auch jeder Offizier, daß seine Zukunft allein von ihm, dem Monarchen, abhänge.8 Der Kaiser mit seiner Familie bildete den Mittelpunkt der glänzenden, vorwiegend aristokratischen Hofgesellschaft, die nach der Hofrangordnung in 62 Rangstufen gegliedert war: Die Reihenfolge der Damen wurde nach dem Rang des Ehemanns oder dem des Vaters bestimmt.9 Nicht weniger als 3.500 Beamte, davon Zweidrittel mit festem Monatsgehalt, waren am preußisch-deutschen Hof eingestellt. Zu den ersten Handlungen Wilhelms II. gehörte die Errichtung eines kaiserlichen Marinekabinetts, das ihm den direkten Zugang zur Marine gewährleistete, so wie das bereits bestehende Militärkabinett und das Geheime Zivilkabinett sein persönliches Sekretariat in Armee- beziehungsweise Staatsangelegenheiten darstellten. Sehr gegen den Wunsch Bismarcks, der damals schon jedwede Parlamentsdebatte über die Institution der Monarchie vermeiden wollte, wurde die preußische Kron'

8

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an seine Mutter, 25. September 1898, Archiv der Hessischen Hausstiftung (AdHH) Schloß Fasanerie. Sir John French, Bericht vom August 1911, Public Record Office (PRO) London, FO 800/107, folio 303-305. Ich bin Frau Dr. Ragnhild Fiebig-von Hase für den

Kaiser Wilhelm II.

Hinweis auf diesen aufschlußreichen Bericht sehr zu Dank verpflichtet. Siehe John C. G. RÖHL, Hof und Hofgesellschaft unter Kaiser Wilhelm IL, in ders., Kaiser, Hof und Staat. Wilhelm II. und die deutsche Politik, München41995, 78-115.

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dotation im Februar 1889 von 12,2 Millionen auf 15,7 Millionen Mark erhöht, und eine weitere Erhöhung um 3,5 Millionen erfolgte im Juni 1910. Zum Regierungsantritt Kaiser Wilhelms II. bewilligte der Reichstag einen „Allerhöchsten Dispositionsfonds" von jährlich 3 Millionen Mark, der als Ersatz für die fehlende kaiserliche Zivilliste dienen

sollte.10

Solche Zahlen sprechen Bände, zumal dann, wenn man sie mit den Etats der höchsten Staats- und Reichsämter vergleicht: Mit seinen Einnahmen allein aus öffentlichen Mitteln hätte nämlich der Kaiser die Gehälter des Reichskanzlers und Ministerpräsidenten und sämtlicher Beamten der Reichskanzlei, des Auswärtigen Amtes, des diplomatischen und konsularischen Dienstes sowie des Reichsjustizamts bestreiten können. Es wurde früher angenommen und wird weiterhin von einigen namhaften Historikern des Kaiserreichs behauptet -, daß die Machtfülle Bismarcks nach dessen Entlassung auf die oberste Reichsund Staatsverwaltung übergegangen sei," während ich in mehreren Untersuchungen und Editionen bestrebt gewesen bin, die enorme Entscheidungsgewalt hervorzuheben, die der Kaiser zusammen mit seinen Hofmilitärs, seinen Günstlingen und sonstigen höfischen Ratgebern innehatte.12 Es ist dies jedoch nicht der Ort, die reichhaltigen Quellenbelege auszubreiten, die den Aufbau der persönlichen Macht Wilhelms II. in den 1890er Jahren und den Fortbestand seiner Führungsgewalt besonders in personal-, militar- und außenpolitischen Angelegenheiten bis in den Weltkrieg hinein dokumentieren. -

10 1'

12

Ebd., S. 80-82. Siehe Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Dritter Band. Von der 'Deutschen Doppelrevolution' bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges 18491914, München 1995, S. 1016 ff; Wolfgang J. Mommsen, Kaiser Wilhelm II and German Politics, in: Journal of Contemporary History, 25, 2-3, S. 289-316. Den Forschungsstand resümierend V. R. Berghahn, Imperial Germany 1871-1914. Economy, Society, Culture and Politics, Providence und Oxford 1994, S. 195 f. Eindrucksvoll die Forschungsergebnisse zum Problemkreis 'Persönliches Regiment' zusammenfassend Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866-1918, Band II, Machtstaat vor der Demokratie, S. 475-485. Siehe u. a. John C. G. Röhl, Deutschland ohne Bismarck. Die Regierungskrise im Zweiten Kaiserreich 1890-1900, Tübingen 1969; ders. (Hg.), Philipp Eulenburgs Politische Korrespondenz, 3 Bde., Boppard-am-Rhein 1976-83; ders. u. Nicolaus Sombart (Hg.), Kaiser Wilhelm II New Interpretations, Cambridge 1982; ders. u. Elisabeth Müller-Luckner (Hg.), Der Ort Kaiser Wilhelms II. in der deutschen Geschichte, München 1991; ders., Wilhelm II. Die Jugend des Kaisers 1859-1888, München 1993. -

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Begnügen wir uns stattdessen auch hier mit der knapperen Aussage der Zahlen. Im Vergleich zu dem pomphaften Hof mit seinem überwiegend militärischen Gepräge, der hochadligen Hofgesellschaft und den 2.300 festangestellten Beamten der verschiedenen Hofämter bestand die oberste Reichsverwaltung bei dem Regierungsantritt Wilhelms II.

einem Reichskanzler und fünf Staatssekretären, zwei Unterstaatssekretären, acht Ministerialdirektoren, 68 Vortragenden Räten und 32 (in der Regel gehaltlosen) Hilfsarbeitern. Diese höheren Reichsbeamten wurden von insgesamt 385 mittleren Beamten und Schreibkräften unterstützt. Die zentrale Staatsverwaltung Preußens war ungefähr gleich groß, bestehend aus einem Ministerpräsidenten, der zugleich preußischer Außenminister (und Reichskanzler) war, sieben weiteren Staatsministern, sechs Unterstaatssekretären, 17 Ministerialdirektoren, 162 Vortragenden Räten und 30 Hilfsarbeitern. Die mittleren und unteren Beamten in den preußischen Ministerien zählten wiederum rund 400. Die oberste Beamtenschaft im Reich und in Preußen bestand also zusammengenommen aus 275 Männern, die mit der alleinigen Ausnahme des Auswärtigen Amtes überwiegend bürgerlicher Herkunft waren und vorsichtig auf ihre monarchische Zuverlässigkeit und preußische Staatstreue hin geprüft worden waren. Bis auf die herausragenden zwanzig bis dreißig Köpfe unter ihnen kennen wir ihre Namen nicht; sie taten fleißig ihre Pflicht und rechneten mit der schrittweisen Beförderung und zur gegebenen Zeit mit der Verleihung des passenden Ordens oder gar der Erhebung in den unteren Adelsstand. Keinesfalls bildeten sie eine herrschende Klasse, die bereit oder in der Lage gewesen wäre, dem überwältigenden Machtanspruch des Kaisers und seines Hofes erfolgreich entgegenzutreten! Was die herausragenden Köpfe im Reichs- und Staatsdienst anbeMänner wie Caprivi, Hohenlohe, Bülow und Bethmanntrifft Hollweg, Marschall, Richthofen, Tschirschky, Schön und Jagow, Wilmowski, Posadowsky und Podbielski, Hammerstein und Studt und Rheinbaben, Holstein und Loebell, Schönstedt, Beseler, Budde und Breitenbach so waren sie sämtlich von Wilhelm II. ernannt worden, sie gehörten fast alle zum niederen (und im Falle des Fürsten Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst zum höheren) Adel, sie waren allesamt, sowohl im eigenen Recht als auch durch Heirat und Familienverwandtschaft, mehr oder weniger eingebunden in jene hierarchische Hofgesellschaft, die der Kaiser mittels des „Königsmechanismus" so perfekt im Juni 1888

aus

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beherrschen konnte.13 Auch sie waren nicht bereit, gegen den eisernen Machtwillen des Allerhöchsten Herrn mit seinem Militärischen Gefolge anzutreten. Die Zeugnisse ihrer „byzantischen" Haltung, wie die Zeitgenossen sie nannten, sind zahlreich und deprimierend. Selbst der mutige Reichskanzler General von Caprivi nimmt es (wenn auch unter Protest) hin, daß der Kaiser ihm durch einen seiner Flügeladjutanten befiehlt, eine große Heeresvorlage in den Reichstag einzubringen. Sein Nachfolger Fürst Hohenlohe, ein Onkel der Kaiserin, nimmt verfassungswidrig einen Gehaltszuschuß von jährlich 100.000 Mark vom Kaiser an und begibt sich somit in ein Abhängigkeitsverhältnis zum Monarchen. Bernhard von Bülow, der versprochen hatte, als Reichskanzler nichts als „ausführendes Werkzeug" und „politischer Chef des Stabes [...] Seiner Majestät" zu sein, machte sich während seiner Immediatvorträge Notizen auf seine Manschetten und erklärte 1899, seine ganze Abhängigkeit vom „Allerhöchsten Vertrauen" verratend: „Seiner Majestät dem Kaiser Vorschläge zu machen, die ohne jede Aussicht auf sachlichen Erfolg Allerhöchstdenselben nur an mir irre machen würden, kann ich nicht für nützlich halten."14 Dasselbe byzantische Verhalten findet man bei den anderen Ministern, Diplomaten, Beamten und Militärs dieser Jahre. Noch im Januar 1904 schreibt ein süddeutscher Offizier von einer umstrittenen Ernennung innerhalb der Generalität: „Daß des Kaisers Wille in solchen Besetzungen absolut entscheidet, ist klar."15 Ende 1903 erklärte Wilhelm rundheraus, „er brauche keinen Generalstab, er mache Alles allein mit seinen Flügeladjutanten",16 und als kurz darauf die Ernennung seines Flügeladjutanten Helmuth von Moltke zum Nachfolger des Grafen von Schlieffen als Chef des Großen Generalstabes erfolgte, klagte ein anderer Offizier, es

Dazu John C. G. Röhl, Der „Königsmechanismus" im Kaiserreich, in Kaiser, Hof und Staat (wie Anm. 9), S. 116-140. Bülow an Holstein, 24. November 1899, zitiert nach Katharine A. Lerman, The Decisive Relationship. Kaiser Wilhelm II and Chancellor Bernhard von Bülow 1900-1905, in John C. G. Röhl und Nicolaus Sombart (Hg.), Kaiser Wilhelm II. (wie Anm. 12) S. 227. Max Freiherr von Holzing-Berstett an den Vater, 4. Januar 1904, Generallandesarchiv (GLA) Karlsruhe, Nachlaß Holzing-Berstett, 116/11. Waldersee, Tagebucheintragung vom 5. Januar 1904, GStAPK, Nachlaß Waldersee.

Defizite des

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Kaiser-Konzepts

handele sich dabei wiederum sten sic volo, sie jubeo".17

um

ein eklatantes

Beispiel „des direkte-

II.

allerdings erschütternd, in den zeitgenössischen Quellen festzustellen, wie früh diese quasi-absolutistische persönliche Regierungs-

Es ist

weise Wilhelms II. als desaströs für die Monarchie, für Deutschland und für ganz Europa erkannt wurde. So schrieb Wilhelms Mutter, die Kaiserin Friedrich, bereits im April 1891: „Mein Sohn [...] geniest in vollen Zügen seine 'Macht' die Ausübung des 'persönlichen Redie einer jeden seiner Capricen. Alles beugt Befriedigung giments', sich, alles schmeichelt u. huldigt ihm u. er hat nahezu den Größen Wahn"1* An ihre Tochter Prinzessin von Schaumburg-Lippe schrieb sie verzweifelt im Februar 1892: „In our days a nation like Germany will not be led by the will of one person, especially that of a young & inexperienced man. That perhaps did in Prussia in the days of Frederick] Will[iam] I & of Frederick] the Great, but those days are past. Modern Life is too complicated for a sovereign to be like the Chieftain of a Clan in the olden time personal govt. is no more possible or desirable!"19 Mit erstaunlicher Hellsicht ahnte die verwitwete Kaiserin schon um diese Zeit das Ende der Hohenzollernmonarchie voraus: „I now watch as from a grave [...] the reckless course pursued by my own son. [...] The worst of it is that we shall perhaps all have to pay for his ignorance & imprudence."20 Eine solche unzeitgemäße Überspannung der Macht und Autorität der Krone spiele direkt in die Hände der Republikaner und Sozialisten und müsse zwangsläufig zu einem Zusammenbruch der Monarchie führen, mahnte sie im November 1891.21 Als Wilhelm den absolutistischen Spruch „Suprema Lex Regis Voluntas" in das Goldene Buch der Stadt München eintrug, schlug seine Mutter die Hände über den Kopf zusammen. Sie schrieb ihrer Mutter der Queen: „A Czar, an infallible Pope, the Bourbons and -

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Mudra

an

Colmar

von

der Goltz, 8. März 1904, Bundesarchiv-Militärarchiv

MA) Freiburg, Nachlaß von der Goltz, N737/15. Kaiserin Friedrich an Bogumilla von Stockmar,

(BA-

7. April 1891, AdHH Schloß Fasanerie. Kaiserin Friedrich an ihre Tochter Viktoria Prinzessin zu Schaumburg-Lippe, 25. Februar 1892, AdHH Schloß Fasanerie. Kaiserin Friedrich an Queen Victoria, 16. Februar 1892, RA 52/20. Kaiserin Friedrich an Queen Victoria, 4. November 1891, AdHH Schloß Fasanerie.

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but a constituour poor Charles I might have written such a sentence, tional monarch in the 19* Century!! So young a man, the son of his father & your grandson not to speak of a child of mine should neither have nor express such a maxim!!"22 Den autokratischen Herrschaftsdünkel ihres Sohnes verglich die verwitwete Kaiserin mit dem Obskurantismus der Hofpartei um Friedrich Wilhelm III. und Friedrich Wilhelm IV. und sagte voraus, er werde zwangsläufig „verderbliche Früchte tragen".23 In einem herzzerreißenden Kassandraruf an Baronin Bogumilla von Stockmar schrieb die Mutter des Kaisers, das ganze Unheil der künftigen deutschen Geschichte vorwegnehmend: Es „machen sich jetzt Dinge in Preußen breit, welche ein vernünftiges CulturDas persönliche Revolk kaum ertragen kann in moderner Zeit! 'ad und dem „System wenn absurdum' wird giment geführt", nicht der Deutschen bald „eine Wiedergeburt ReichsverfasBismarck" sung auf solider Grundlage auf festen Prinzipien constitutioneller Freiheit" folge, dann werde „Deutschland immer tiefer hinabgleiten [...] auf der schiefen Ebene [...] zu einer Republik oder gar einen Socialistenstaat. Letzteres könnte ja nie dauern, es käme ein Chaos u. dann Reaction Dictatur u. Gott weiß was für Schäden mehr!"24 Man könnte hier einwerfen, daß man diese Kritik der Kaiserin Friedrich nicht zu hoch veranschlagen dürfe, denn das Verhältnis zwischen Wilhelm und seiner Mutter sei bekanntlich seit Jahrzehnten ein schlechtes gewesen; zudem habe diese „Engländerin" ohnehin nie Verständnis für Preußen gezeigt und überhaupt sei es unfair und unhistorisch, die deutsche Entwicklung stets mit der englischen Meßlatte zu messen. Es ist deswegen nicht unwichtig, festzuhalten, daß wortwörtlich gleichlautende Kritik gegen Wilhelm II. und sein „Überstürzungssystem"25 innerhalb der deutschen Führungselite verbreitet zu hören war. Geradezu vernichtende Urteile über die Geistesverfassung und Regierungspraxis des jungen Kaisers sind von den Bismarcks ganz zu schweigen bereits in diesen frühen Jahren aus der Feder des ehemaligen Erziehers Dr. Hinzpeter, des Geheimrats von Holstein, des Königs Albert I. von Sachsen, des Großherzogs Friedrich I. von Baden, -

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Kaiserin Friedrich an Queen Victoria, 16. November 1891, RA Z51/46. Kaiserin Friedrich an Bogumilla Freifrau von Stockmar, 20. und 25. Juli 1891, AdHH Schloß Fasanerie. Kaiserin Friedrich an Bogumilla Freifrau von Stockmar, 26. April 1892, AdHH Schloß Fasanerie. Ernst Prinz zu Hohenlohe-Langenburg an den Vater, 1. Mai 1891, HohenloheZentralarchiv Neuenstein, Nachlaß Hermann Hohenlohe-Langenburg, Bü. 58.

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des Herzogs Georg II. von Sachsen-Meiningen, der Generaladjutanten Adolf von Wittich und Maximilian von Versen, des Generalfeldmarschalls Helmuth Graf von Moltke und des Generals Walter Freiherr von Loë, des Zivilkabinettchefs Hermann von Lucanus und selbst des besten Freundes Philipp Graf zu Eulenburg, um nur einige wenige zu nennen, überliefert. Hinzpeter sprach schon in der allerersten Regierungszeit seines Zöglings von „Cäsarenwahn", und Friedrich von Holstein stöhnte: „So wie er es macht, so werden heutzutage in Europa keine Reiche mehr regiert. [...] Ob er wohl auf dem Thron stirbt? [...] Er ist nicht der Mann, und es ist nicht die Zeit, um mit dem Volk wie ein Riesenspielzeug umzuspringen."26 Im Herbst 1894 sagte auch Holstein voraus, daß das Regime Kaiser Wilhelms II. den Übergang zu einer Republik oder einer Diktatur bilden würde, da kein europäisches Volk sich Ende des 19. Jahrhunderts ein derartiges „Operettenre-

giment" gefallen ließe.27 Ungewöhnlich weitblickend war das sen-Meiningen, der im September 1891

Urteil des Herzogs von Sachnach einer besonders militan-

Rede des Kaisers einem Vertrauten gegenüber eingestand: „Recht fraglich ist, ob wir die Ruhe behalten, welche seit dem Kriege gegen Frankreich herrschte und ob wir nicht kolossalen Stürmen entgegengehn, die vielleicht auch noch in meine Regierungszeit fallen. Es will mir scheinen, als würde man an höchster Stelle bei uns immer chauvinistischer vielleicht weil man einsieht, daß der bewaffnete Friede uns auch nach und nach ruiniert, vielleicht aber auch, weil der häufige Anblick großer deutscher Heeresmassen das Vertrauen in die eigene Kraft stärkt. Was werden wir aber besten Fall's erreichen, wenn wir losplatzen?: Die Erhaltung des Status quo. Den besitzen wir schon heute! Geht die Geschichte aber schief, was dann?"28 Der Herzog sollte wenige Wochen vor dem Kriegsausbruch 1914 sterben. ten

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20

27 28

Zitiert nach: Norman Rich u. M. H. Fisher (Hg.), Die Geheimen Papiere Friedrich von Holsteins, 4 Bde., Göttingen, Berlin u. Frankfurt/M 1957-1963, III, S. 385 f. Holstein an Eulenburg, 27. November 1894, in John C. G. Röhl (Hg.), Eulenburgs Korrespondenz (wie Anm. 11), II, Nr. 1052. Georg II. Herzog von Sachsen-Meiningen an Carl Werder, 21. September 1891. Thüringisches Staatsarchiv Meiningen (ThStaMgn), HA 395/11. Jetzt zitiert in: Alfred Erck u. Hannelore Schneider, Georg II. von Sachsen-Meiningen. Ein Leben zwischen ererbter Macht und künstlerischer Freiheit, Zella-Mehlis und Meiningen 1997, S. 449.

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III. Am frappantesten ist wohl der Gesinnungswandel, den der Chef des Großen Generalstabes Graf Alfred von Waldersee in den Monaten und Jahren nach Bismarcks Entlassung durchmachte, denn keiner hatte größere Hoffnung in den jungen Hohenzollernprinzen gesetzt als dieser erzreaktionäre Kriegstreiber; keiner hatte Wilhelm so sehr zunächst gegen seine Eltern und sodann gegen die Bismarcks aufgehetzt wie er. Bereits im August 1890 lesen wir die äußerst kritische Bemerkung im Tagebuch des Generals, Kaiser Wilhelm II. hasche nach Ovationen und sei Schmeicheleien sehr zugänglich. „Es hat sich das Alles so schnell entwickelt, daß ich von einem Erstaunen zum anderen komme. Als Prinz Wilhelm schien er mancherlei der vortrefflichen Eigenschaften des Großvaters zu haben, war bescheiden u. einfach in seiner Lebensweise, vermied Aufsehen, ließ sich ungern von Adjutanten begleiten [...]; jetzt ist er in ängstlicher Weise prachtliebend u. steuert auf das Auftreten Ludwigs XIV. hin, spielt sich gern auf den Mäzen auf, wirft das Geld planlos fort u. macht sich auch nicht die geringsten finanziellen Sorgen, tritt möglichst pomphaft auf u. hat nichts lieber als hurrabrüllende Volksmassen; gegen die Armee ist er rücksichtslos u. abstoßend; er ist so weit seine Fähigkeiten sehr hoch zu taxiren u. dünkt sich allen überlegen, leider aber ist dies eine arge Täuschung und steigt der Eindruck, daß recht wenig dahinter ist."29 Genau wie Wilhelms liberale Mutter hielt auch ihr schärfster Widersacher Waldersee die „unerhört entwickelte [...] Eitelkeit" des Kaisers für „die Triebfeder für den größten Theil seines Verhaltens" und stellte bereits im September 1890 „deutliche Spuren von Größenwahn" bei ihm fest.30 Nicht die einseitige Bevorzugung dieser oder jener Partei, Gesellschaftsschicht oder Klasse war nach Waldersees Überzeugung an der immer kritischer werdenden Stimmung in Deutschland schuld, sondern die völlig unzeitgemäßen autokratischen Herrschaftsallüren, die impulsive Persönlichkeit und die vergnügungssüchtige Oberflächlichkeit des jungen Kaisers erregten allgemein Unmut. Wilhelm II. sei „völlig unberechenbar", klagte er am 4. Oktober 1890, „er rühmt sich heute der Waldersee, Tagebucheintragung vom 11. August 1890, GStAPK, Nachlaß Waldersee: vgl. Heinrich Otto Meisner (Hg.) Denkwürdigkeiten des GeneralFeldmarschalls Alfred Grafen von Waldersee, 3 Bde., Stuttgart und Berlin 19221923, II, S. 137 f. Waldersee, Tagebucheintragung vom 25. September 1890, GStAPK, Nachlaß Waldersee; vgl. Meisner, Waldersee (wie Anm. 28), II, S. 149.

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morgen einer anderen Parthei, er schimpft auf die Juden, läßt sich aber mit Leuten jüdischen Ursprungs ein, er verspricht heute die Landwirtschaft zu stützen, thut aber morgen die Möglichkeit, sie zu ruiniren, er zeigt Interesse für die Groß Industrie, feindet sie eigentlich aber in vernichtender Weise an, er entläßt Bismarck, zum Theil weil dieser sich mit [dem Zentrumsführer] Windthorst eingelassen haben soll u. sieht ruhig zu, wie Caprivi mit ihm im regen Verkehr steht, er erklärt die Adligen für die edelsten seiner Unterthanen u. droht den frondirenden Adel (von dem Niemand etwas weiß) zu zertrümmern." Das seien alles Betrachtungen, die man in jüngster Zeit überall zu hören bekomme, vermerkte Waldersee ein halbes Jahr nach der Entlassung Bismarcks in sein Tagebuch.31 Besonders schlimm sei es, konstatierte der General, daß Wilhelm II. trotz des Anspruchs, alles allein zu entscheiden, „nicht die geringste Lust mehr zur Arbeit" habe. „Die Zerstreuungen, seien dies Spielerei mit Armee u. namentlich Marine, Reisen, Jagd pp., gehen über Alles; er hat, da diese Sachen vorgehen, factisch kaum noch Zeit zur Arbeit. Er liest sehr wenig, die Zeitungs Ausschnitte vielleicht noch am regelmäßigsten, schreibt selbst kaum noch, abgesehen von Randbemerkungen auf Berichten, und hält den Vortrag für den besten, der schnell erledigt ist. Solche Geschäftsführung kann eine ganze Weile gehen ohne nach Außen bemerkbar zu werden, auf die Dauer geht sie aber nicht ohne die schwerste Schädigung. [...] Wahrhaft skandalös ist es wie die Hofberichte das große Publikum über die Thätigkeit des Kaisers täuschen; nach ihnen ist er von früh bis spät im Geschäft!"32 Mit ständig steigender Sorge äußerte sich Waldersee über die herrschsüchtige Regierungsweise und den gänzlich oberflächlichen Tagesablauf Wilhelms II. „Verständige u. durchaus Wohlgesinnte klagen, daß die Neigung zur Arbeit immer mehr abnimmt, ebenso die, die Ansicht anderer zu hören," zeichnete er Ende 1891 auf. Wilhelm lasse „Niemand zu Wort kommen, sondern spricht die eigene Ansicht mit größter Sicherheit aus u. wünscht anscheinend keinen Widerspruch."33 Bei einem Rückblick auf die drei Jahre, die seit dem Tod Wilhelms I. vergangen waren, mußte Waldersee Anfang 1891 zugestehen, wie sehr die Hoffnungen, die er in den jüngeren Wilhelm gesetzt hatte, bitter u.

Waldersee, Tagebucheintragung vom 4. Oktober 1890, GStAPK, Nachlaß Waldersee; nur teilweise in Meisner, Waldersee (wie Anm. 28), II, S. 152 f. Ebd.; vgl. Meisner, Waldersee (wie Anm. 28), II, S. 153. Waldersee, Tagebucheintragung vom 22. Dezember 1891, GStAPK, Nachlaß Waldersee; vgl. Meisner, Waldersce (wie Anm. 28), II, S. 228.

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enttäuscht worden waren. „Wenn ich auf das Frühjahr 88 zurückgehe, als der Kaiser Kronprinz war [...] u. wie ich hoffte daß er ein vortrefflicher Kaiser werden würde, der unbekümmert um das Geschrei der

Massen, fest in seinen religiösen Ueberzeugungen, mit Herz für die

Gefühl für Alles Edle u. Gute die Zügel führen muß ich sagen, der Wandel ist ein gewaltiger." In den drei Jahren seit seiner Thronbesteigung sei der Kaiser „flüchtig u. arbeitsunlustig geworden u. bleibt ungern lange bei einem Gegenstande. [...] Ganz unerwartet ist die Neigung zur Prachtentfaltung, zu großartigen Ceremonien u. zum Luxus gekommen."34 In den Augen Waldersees war es ein weiterer Kardinalfehler Wilhelms II., unverantwortlichen Ratgebern sein Ohr zu verleihen. Unter dessen Großvater sei eine sachliche und beständige Geschäftsführung durchaus möglich gewesen, meinte er, weil „der alte Herr Niemand gestattete, mit ihm über 3te zu sprechen, es sei denn sie seien Berufene gewesen. Seine Umgebungen waren daher, mit Ausnahme der Cabinettschefs, einflußlos. Es gab Niemand der sich rühmen konnte des Kaisers Ohr zu haben oder dessen Einfluß man fürchtete." Unter Wilhelm II. sei das nunmehr vollkommen anders geworden, klagte der Generalstabschef. Der neue Kaiser habe Zuträgereien „sehr gern u. begünstigt sie in aller Weise u. gestattet seinen ganzen Umgebungen Urtheile über andere, ermuntert sie womöglich dazu. Er denkt, indem er Leute hört, die außerhalb des officiellen Getriebes stehen, daß er über Alles orientirt wird u. mehr weiß wie seine Minister. Er übersieht, daß 9/10 seiner Leute ihm nach dem Munde reden! Er bemerkt nicht wie viele Leute er verletzt, wie viele er mißtrauisch u. daher unsicher macht, wie viel er die Leute dadurch unter sich gegen einander aufhetzt, also in summus großes Unheil anrichtet."35 Am 10. Januar 1891, kurz vor seiner Entlassung als Chef des Großen Generalstabs, reflektierte Waldersee: „Es ist in heutiger Zeit [...] Niemand seines Lebens sicher; darin liegt eben das eigenthümliche u. unheimliche unseres Zustandes; jeder fühlt sich unsicher, weil er nicht weiß, in wie weit der Kaiser zuverlässig ist; wer heute gut steht, kann in 4 Wochen verklatscht sein! Die Zuträgereien kleinster Leute können genügen angeArmee

u. warmem

würde, [...]

so

Waldersee, Tagebucheintragung vom 18. Januar 1891, GStAPK, Nachlaß WalderMeisner, Waldersee (wie Anm. 28), II, S. 176. Siehe ferner das äußerst negative Urteil vom 6. Februar 1891, ausgelassen bei Meisner, Waldersee (wie Anm. 28), II, S. 185 f. Waldersee, Tagebucheintragung vom 24. November 1890, GStAPK, Nachlaß Waldersee; vgl. Meisner, Waldersee (wie Anm. 28), II, S. 163 f. see; fehlt in

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sehene u. hochgestellte Leute in Mißkredit zu bringen, und wechseln die Dekorationen immer schneller u. schneller; eine gewisse Nervenüberreizung drückt sich deutlich darin aus."36 Wiederholt sah sich Waldersee gezwungen, die furchterregende Möglichkeit ernsthaft ins Auge zu fassen, daß der Kaiser geistesgestört sei oder es allmählich werden würde. Bereits im Februar 1891 vermerkte er die „höchst traurige aber doch sehr bezeichnende" Tatsache in sein Tagebuch, „daß ernste patriotisch denkende Männer sich wirklich mit dem Gedanken beschäftigen, es bereite sich beim Kaiser ganz allmählig eine geistige Störung vor. Dies wäre nun allerdings und namentlich wenn die Entwicklung eine langsame wäre, das größte Unglück das dem Vaterlande zustoßen könnte."37 Unterm 22. Dezember 1891 heißt es einmal wieder im Tagebuch: „Ganz offen soll in weiten Kreisen u. besonders bei Aerzten die Frage besprochen werden, ob [...] eine geistige Störung sich langsam entwickelt."38 Als er im März 1892 von einem Unwohlsein des Kaisers erfuhr, sah Waldersee darin den Beginn des schon lange von ihm vorausgeahnten Nervenzusammenbruchs. Wilhelm II. sei mit dem großen Ziel angetreten, als „berühmter, von der ganzen Welt geachteter u. gefürchteter Herrscher" anerkannt zu werden. „Ihm selber, dem durch die anfänglichen Scheinerfolge völlig schwindlig geworden war, der Alles besser wissen will wie Andere, der auf jedem Gebiet ein richtiges Urtheil haben will, sieht nun, daß Vieles bei uns schlecht geht, daß die Stimmung sich gegen ihn richtet. Er befindet sich nun in schweren inneren Kämpfen; zunächst ist er allerdings noch geneigt, alle Schuld auf Andere zu schieben, u. ist in seinen Äußerungen noch gerade so selbstbewußt u. hochmüthig wie bisher, ich glaube aber, das ist eitel Renommage, die innerliche Stimmung fängt an anders zu werden." Man würde darin den Keim zur Besserung sehen können, wenn man nicht befürchten müsse, daß die „so leichtsinnig überreizten Nerven" des Kaisers ihren Dienst versagen und ein Zustand der „völligen Muthlosigkeit" eintreten könne. „Was nun werden soll, wenn er noch mehr in Schwankung verfallt, was wenn wirklich Muthlosigkeit eintritt, ist mir nicht klar,"

Tagebucheintragung vom 10. Januar 1891, GStAPK, Nachlaß Waldernicht in Meisner, Waldersee (wie Anm. 28), II, S. 175. Waldersee, Tagebucheintragung vom 23 Februar 1891, GStAPK, Nachlaß Waldersee; nicht in Meisner, Waldersee (wie Anm. 28), II, S. 189 ff. Waldersee, Tagebucheintragung vom 22. Dezember 1891, GStAPK, Nachlaß Waldersee; vgl. Meisner, Waldersee (wie Anm. 28), II, S. 228. Waldersee, see;

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gestand der General.39 Tief besorgt schrieb er von Wilhelm II.: „Es ist mit ihm nichts zu machen, er weiß nicht was er will, hat gänzlich verschwommene Ideen über die Anforderungen der heutigen Zeit und ist ein so unsicherer Karakter, daß jeder thöricht ist, der sich mit ihm einläßt. [...] Es kann wohl sein, daß er das ganze Werk seines Großvaters wieder zu Grunde richtet; arbeitet er noch einige Jahre so fort wie bisher, so ist dies unausbleiblich."40

Die Würde des alten Kaiser Wilhelms diente Waldersee stets als Maßstab, an dem er die Persönlichkeit und die Regierungsweise des Enkels zu bemessen suchte. In einem kritischen Rückblick auf die ersten fünf Regierungsjahre Wilhelms II. schrieb er im Juni 1893, letzterer sei Jetzt häufig so weit gegangen, seinen Großvater als müden Greis, der kaum gewußt hat, was in den letzten Jahren um ihn her vorging, darzustellen. In Wahrheit war der alte Herr für uns alle gerade in der Socialisten Frage von unschätzbarem Werth. Die ehrwürdige Persönlichkeit, in der ganzen Welt bekannt durch Gewissenhaftigkeit u. Pflichttreue bis zum letzten Athemzuge, mit seiner ganzen Vergangenheit u. nirgends einen Angriffspunkt bietend für böse Zungen, bot uns einen Schutzwall gegen die Wogen des Umsturzes. Der jetzige Kaiser dagegen züchtet geradezu Social Democraten." Zahllose Äußerungen des Kaisers hätten verbreitet „den Verdacht arg genährt, daß er im Herzen ein rücksichtsloser Autokrat sei; seine Vielseitigkeit entpuppt sich in den Augen vieler als Flüchtigkeit; sein privates Leben wird aufmerksam verfolgt u. dabei der Schluß gezogen, daß er die meiste Zeit dem Vergnügen erweise. Seine Prachtliebe wird verglichen mit der Einfachheit des Großvaters. Das sind Alles Momente, die in heutiger Zeit einem Herrscher nicht ungestraft vorgeworfen werden können, sie machen üble Stimmung u. drückt solche sich darin aus, daß die Leute erregt socialdemokratisch wählen. Es wäre unbillig, wenn ich sagen wollte, daß der Kaiser hauptsächlich die Schuld trüge, er hat aber fraglos viel Schuld u. mit ihm alle, die ihn berathen. Wir brauchten so weit nicht herunter gekommen zu sein, wie wir es sind!"41

Waldersee, Tagebucheintragung vom 16. März 1892, GStAPK, Nachlaß Waldergedruckt bei Meisner, Waldersee (wie Anm. 28), II, S. 234 f. Waldersee, Tagebucheintragung vom 31. August 1892, GStAPK, Nachlaß Waldersee; fehlt bei Meisner, Waldersee (wie Anm. 28), II, S. 264. Waldersee, Tagebucheintragung vom 23. Juni 1893, GStAPK, Nachlaß Waldersee; vgl. Meisner, Waldersee (wie Anm. 28), II, S. 290 f. see; teilweise

Defizite des

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Kaiser-Konzepts IV.

bezeugen die ausführlichen (und weitgehend unveröffentlichten) Eintragungen im Tagebuch Waldersees, daß derartige vernichtende Kritik am Kaiser keineswegs auf Berliner Hof-, Armee- und Regierungskreise beschränkt war, sondern sich vielmehr in allen Schichten und Erwerbszweigen und in allen Regionen des Reiches mit alarmierender Geschwindigkeit breitmachte, wozu freilich der Bruch mit den Bismarcks in erheblichem Maße beitrug. So stellte Waldersee schon bald nach Bismarcks Sturz fest, daß „die Nation in 2 große Lager" zerfalle, „das des Kaisers Wilhelm u. das des Fürsten Bismarck". Der frondierende Altreichskanzler habe jetzt „die ganze Groß Industrie, Börse u. Judenschaft auf seiner Seite" und finde vor allem in Süddeutschland immer mehr Anhänger; es werde nicht lange dauern, meinte er, so hätte Bismarck „alle Besitzenden auf seiner Seite".42 Im Oktober 1890 heißt es im Tagebuch des Generalstabschefs: „Immer erneut erhalte ich Nachricht von der steigenden Mißstimmung gegen den Kaiser; sie hat jetzt Schichten des besten Bürgerstandes erfaßt. In Süddeutschland u. auch neuerdings in Sachsen ist sie im Zunehmen; in Bayern soll man ganz offen sagen er sei geisteskrank."43 Schon im Mai 1890 notierte Waldersee, daß gerade in der Jugend und der Armee, wo der Kaiser doch „fanatische Verehrer" haben müßte, „arg über ihn geschimpft u. seine Eitelkeit u. Hang zum Soldatenspielen kritisirt" werde.44 Im Spätsommer jenes Jahres schrieb er voller Besorgnis: „Es giebt eine große Masse Unzufriedener. [...] Es hat sich ein großes Mißtrauen entwickelt u. garkeine Zuneigung, es ist ein Gefühl der Kälte da u. des großen Mißmuthes. [...] Überall Sorgen für die Zukunft und Zweifel, daß der Kaiser der richtige Mann sei der uns vorwärts bringt." Die einzigen wirklich Zufriedenen, so hielt Waldersee (genau wie die Kaiserin Friedrich) immer wieder fest45, seien die Sozialdemokraten. „Sie sehen ihre Weizen blühen u. beurtheilen den Kaiser vielleicht am Eindrucksvoll

42

43 44

Waldersee, Tagebucheintragung vom 17. August 1890, GStAPK, Nachlaß Waldersee; fehlt in Meisner, Waldersee (wie Anm. 28), II, S. 138. Waldersee, Tagebucheintragung vom 3. Oktober 1890, GStAPK, Nachlaß Waldersee; fehlt in Meisner, Waldersee (wie Anm. 28), II, S. 152. Waldersee, Tagebucheintragung vom 6. und 18. Mai und 11. September 1890, GStAPK, Nachlaß Waldersee; vgl. Meisner, Waldersee (wie Anm. 28), II, S. 126 ff.

45

Waldersee, Tagebucheintragungen vom 10. August und 24. September 1890, GStAPK, Nachlaß Waldersee; fehlt in Meisner, Waldersee (wie Anm. 28), II, S. 136 f. und 149.

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Richtigsten." Im November 1890, als die Parlamentsabgeordneten für die neue Legislaturperiode wieder in Berlin eintrafen, hörte Waldersee „natürlich mehr Stimmen

den Provinzen; leider zeugen sie von der weit verbreiteten Unzufriedenheit u. namentlich über den Kaiser; er hat eigentlich alle mit Ausnahme der Social Demokraten enttäuscht."46 Die Schuld an der verbreiteten Unzufriedenheit gab Waldersee unverhohlen dem Kaiser persönlich, und diese Meinung wurde von fast allen eingeweihten Zeitgenossen geteilt.47 Ende 1890 sprach erzürn Beispiel mit Franz Fischer, dem Berliner Korrespondenten der nationalliberalen Kölnischen Zeitung, sowie mit einem Bankier und einem General. „Bei allen 3 drehte sich das Gespräch bald um den Kaiser u. waren sie einmüthig darin, daß die Stimmung beharrlich schlechter wird. Sie vertreten völlig andere Kreise", zeichnete Waldersee auf, und doch behaupteten alle drei, aufgrund sorgsamer Beobachtung zu urteilen.48 Anfang 1891 war Waldersee betroffen, wahrnehmen zu müssen, wie selbst in der einfachen Berliner Bevölkerung die kürzlich noch vorhandene Begeisterung für den Kaiser verflogen war. Bei der Einweihung der Friedenskirche fiel ihm auf, „wie kühl sich das Publikum dem Kaiser gegenüber auf den Straßen verhielt; noch vor V2 Jahr würden alle Straßen zur Kirche dekorirt gewesen sein, diesmal sah man wenige Flaggen an den der Kirche zunächst liegenden Häusern u. höchstens einige 100 Menschen." Ais der Generalstabschef dem Berliner Polizeipräsidenten diese Eindrücke mitteilte, sagte letzterer resignierend, „es sei dies der Ausdruck der Stimmung".49 Ein Jahr darauf fiel Waldersee auf, daß diesmal bei dem Geburtstag des Kaisers die Illumination auf die Linden und einige andere Straßen beschränkt war, „wie überhaupt alle Berliner ein allmähliges Abnehmen des KaiserEnthusiasmus wahrnehmen wollen".50 Nach zahlreichen Gesprächen mit Berliner Beamten und Politikern mußte Waldersee bekümmert zur Erkenntnis gelangen: „Es ist fraglos die zunehmend schlechte Stim-

aus

-

Waldersee, Tagebucheintragung vom 24. November 1890, GStAPK, Nachlaß Waldersee; fehlt in Meisner, Waldersee (wie Anm. 28), II, S. 163. Waldersee, Tagebucheintragung vom 24. November 1890, GStAPK, Nachlaß Waldersee; vgl. Meisner, Waldersee (wie Anm. 28), II, S. 163 f. Waldersee, Tagebucheintragung vom 12. Dezember 1890, GStAPK, Nachlaß Waldersee; nicht in Meisner, Waldersee (wie Anm. 28), II, S. 165. Waldersee, Tagebucheintragung vom 19. Januar 1891, GStAPK, Nachlaß Waldersee; nicht in Meisner, Waldersee (wie Anm. 28), II, S. 176. Waldersee, Tagebucheintragung vom 31. Januar 1892, GStAPK, Nachlaß Waldersee; nicht in Meisner, Waldersee (wie Anm. 28), II, S. 232.

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mung der Mittelpunkt aller Konversationen."51 Die Lektüre ausländischer Zeitungen hinterließ einen nicht minder deprimierenden Eindruck. „Ueber den Kaiser fängt nun allmählig auch dem Auslande an ein Licht aufzugehen", schrieb er am 8. März 1891. „Bisher hatte er augenscheinlich imponirt, man sah in ihm etwas ganz außerordentliches von klarem Blick, weiter Ziele, unbeugsamer Willenskraft. Jetzt kommt man dahinter, daß er ein unruhiger Geist ist, der vieles anfaßt,

aber nichts er

zu

Ende führt

u.

der doch

so

recht noch nicht

weiß, wohin

will."52

konstatieren, daß überall eine zwar in allen Schichten des und herrsche, „allgemeine Enttäuschung" zu großer Begehrlichkeit die durch Wilhelm Die Volkes. Arbeiter, geradezu angeregt worden seien, seien unbefriedigt; die Arbeitgeber, namentlich die Großindustriellen, seien „in schweren Sorgen"; der Kaufmannsstand im weitesten Sinne verunsichert; der Stand der Lehrer, der Literaten und zum Teil auch der Juristen „tief verletzt"; und „höchst unbehaglich" fühle sich auch der ostelbische Gutsbesitzer und Bauer.53 Als er im Herbst 1891 die wachsende Unzufriedenheit gerade bei denjenigen Parteien wahrnahm, die bisher als reichstreu und staatserhaltend gegolten hatten, also bei den Konservativen, Freikonservativen und Nationalliberalen, zu denen er auch nach seiner Versetzung als Kommandeur des IX. Armeekorps nach Altona die engsten Kontakte unterhielt, stieß Waldersee verzweifelt aus, „allein der Kaiser selbst" sei an dieser katastrophalen Entwicklung schuld, denn er arbeite „ohne es zu ahnen an der Zersetzung der gutgesinnten Partheien".54 Der General fand es „höchst bemerkenswert!)", daß nunmehr selbst solche Kreise, die bisher die festesten Stützen der Monarchie gebildet hatten, mit ihrer Kritik an Wilhelm II. nicht mehr zurückhielten. „Es ist ganz augenscheinlich ein gewaltiges Quantum an Mißmuth, das sich über den Kaiser allmählig angesammelt hat, im Begriff sich zu entladen", Immer wieder mußte der General

schrieb er.55 Nach einem

mehrtägigen Aufenthalt in Berlin

im Dezem-

Waldersee, Tagebucheintragung vom 26. Februar 1891, GStAPK, Nachlaß Waldersee; nicht in Meisner, Waldersee (wie Anm. 28), II, S. 196 f. Waldersee, Tagebucheintragung vom 8. März 1891, GStAPK, Nachlaß Waldersee; nicht in Meisner, Waldersee (wie Anm. 28), II, S. 198. Waldersee, Tagebucheintragung vom 9. März 1891, GStAPK, Nachlaß Waldersee; fehlt in Meisner, Waldersee (wie Anm. 28), II, S. 198. Waldersee, Tagebucheintragung vom 29. Oktober 1891, GStAPK, Nachlaß Waldersee; fehlt bei Meisner, Waldersee (wie Anm. 28), II, S. 219 f. Waldersee, Tagebucheintragung vom 30. November 1891, GStAPK, Nachlaß Waldersee; fehlt in Meisner, Waldersee (wie Anm. 28), II, S. 224.

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ber 1891 urteilte Waldersee, die Verhältnisse lägen in der Tat „sehr schlimm". „Die Achtung vor dem Kaiser geht immer mehr zurück, die Stimmung gegen ihn wird immer schlechter."^6 Im Anschluß an eine

Unterredung mit dem rechtsgerichteten Zeitungsredakteur Arendt vom Deutschen Wochenblatt vermerkte er, dieser sei „sehr schwarzseherisch", besonders in bezug auf das „Zurückgehen des monarchischen Ansehens namentlich in den bisher als gutgesinnt betrachteten Kreisen, sogar [...] bis in Beamten u. Offizierskreise hinein."57 Nach einem längeren Gespräch mit dem mächtigen preußischen Finanzminister Johannes Miquel, der früher als Oberbürgermeister von Frankfurt am Main amtiert und die Nationalliberale Partei geführt hatte, notierte Waldersee, dieser sähe ebenfalls „sehr schwarz u. ist sich auch über den Kaiser völlig klar".58 Das betrübende Fazit, das Waldersee aus seinen zahlreichen politischen Unterhaltungen in der Hauptstadt zog, lautete, die Stimmung im ganzen Lande sei „eine durchaus trübe u. unbehagliche bei allen die sich zu den staatserhaltenden rechnen, also bei der Masse der Landbevölkerung, sei sie zum Bauernstande oder zum großen Grundbesitzstande gehörig, bei allen Beamten, in der Armee, bei den meisten Industriellen, in Gelehrtenkreisen, aber auch bei zahllosen kleinen Leuten, die au fond gute Patrioten sind. Die Grundursache ist ebenso bedauerlich als mir völlig klar; sie liegt allein im Kaiser selbst." Der Mißmut sei weit verbreitet und die Einsicht, daß der Kaiser die Schuld trage, breche sich überall Bahn. „Selten hat Jemand die Erwartungen so getäuscht wie er."59 Auf die wachsende Kritik in allen Schichten und Landesteilen reagierte Wilhelm II. im Februar 1892 mit einer Rede beim Festmahl des Brandenburgischen Provinziallandtags, die zu den berüchtigtsten seiner ganzen Regierungszeit gehört. Darin forderte er die „mißvergnüg-

Nörgler", die stets „herummäkelten" und die Meinung verbreiteten, „als sei unser Land das unglücklichste und schlechtest regierte in der Welt", den „deutschen Staub von ihren Pantoffeln" zu schütteln und Deutschland zu verlassen. Er rief das deutsche Volk auf, sich zusam-

ten

Tagebucheintragung vom 18. Dezember 1891, GStAPK, Nachlaß fehlt bei Meisner, Waldersee (wie Anm. 28), II, S. 227. Tagebucheintragung vom 22. Dezember 1891, GStAPK, Nachlaß vgl. Meisner, Waldersee (wie Anm. 28), II, S. 228. Waldersee, Tagebucheintragung vom 4. Januar 1892, GStAPK, Nachlaß Waldersee; fehlt bei Meisner, Waldersee (wie Anm. 28), II, S. 228 f. Waldersee, Tagebucheintragung vom 3. Januar 1892, GStAPK. Nachlaß Waldersee; fehlt bei Meisner, Waldersee (wie Anm. 28), II, S. 228. Waldersee, Waldersee; Waldersee, Waldersee;

Defizite des

351

Kaiser-Konzepts

menzunehmen und „unbeirrt

von fremden Stimmen auf Gott [...] und die ehrliche fürsorgliche Arbeit seines angestammten Herrschers" zu bauen. Dann fuhr er fort: „Dazu kommt das Gefühl der Verantwortung unserm obersten Herrn dort oben gegenüber und Meine felsenfeste Überzeugung, daß unser Alliierter von Roßbach und Dennewitz Mich dabei nicht im Stich lassen wird. Er hat sich solche unendliche Mühe mit unserer alten Mark und Unserem Hause gegeben, daß wir nicht annehmen können, daß er dies für nichts gethan hat. Nein im Gegenteil, Brandenburger, zu Großem sind wir noch bestimmt, und herrlichen Zeiten führe Ich euch noch entgegen. [...] Mein Kurs ist der richtige und er wird weiter gesteuert."60 Waldersee war genauso fassungslos wie die Kaiserin Friedrich und alle anderen und meinte, die Kaiserrede, die überall und zwar „mit vollem Recht böses Blut" mache, dokumentiere „wieder eine so maaßlose Selbstüberschätzung! Er wird Deutschland zu Größe u. Glück führen u. hat es bisher nur zurückgebracht."61 Es sei „tief traurig" zu sehen, „in welch rapider Weise das Ansehen des Kaisers abgenommen" habe, meinte er jetzt. Die ausländischen Zeitungen schrieben „geradezu Entsetzliches" über den Kaiser, und die inländische Presse schlage bislang unerhörte Töne an. „Immer häufiger kommen in auswärtigen Zeitungen Betrachtungen über den geistigen Zustand des Kaisers; manche sagen unverhohlen, er sei bereits verrückt!" Da diese Kaiserrede mit dem radikalen Protest der Liberalen aller Schattierungen gegen das konservativ-klerikale preußische Volksschulgesetz und mit verbreiteten Straßendemonstrationen der Arbeiter zusammenfiel, hätten viele Leute „Gänsehaut" bekommen. Gewaltsam wurde Waldersee an die revolutionäre Vormärzzeit erinnert: „Die Rathlosigkeit oben, die Verwirrung an alleroberster Stelle wo allerhand Unberufene mitreden das sind Alles Wiederholungen von den Zuständen die das Jahr 48 vorbereiteten", vermerkte er ahnungsvoll in sein Tagebuch.62 Ein halbes Jahr später verglich Waldersee (wieder einmal genau so wie die Mutter des Kaisers) die immer schlechter werdende Stimmung, die sich vor allem auf dem flachen Land breitmachte, mit derjenigen in -

60

61 62

Kaiser Wilhelm II., Rede vom 24. Februar 1892, in: Johannes Penzler (Hg.), Die Reden Kaiser Wilhelms II. in den Jahren 1888-1895, Leipzig o. J., S. 207-210.

Waldersee, Tagebucheintragung vom 26. Februar 1892, GStAPK, Nachlaß Waldersee; Meisner, Waldersee (wie Anm. 28), II, S. 233 f. Waldersee, Tagebucheintragung vom 3. und 7. März 1892, GStAPK, Nachlaß Waldersee; beide Eintragungen fehlen bei Meisner, Waldersee (wie Anm. 28), II, S. 234.

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den Jahren 1808 bis 1812, als die preußische Geschichte ihren bisherigen Tiefpunkt erreichte. Er höre immer mehr Stimmen aus Schlesien, aus der Mark Brandenburg und Sachsen, die von einer erschreckenden Verstimmung, zum Teil sogar Mutlosigkeit in adligen Kreisen zeugten, schrieb er. Selbst in diesen monarchischen Familien habe sich die Überzeugung Bahn gebrochen, „daß der Schuldige an den verworrenen Zuständen im Lande, an der allgemeinen Unsicherheit, allein der Kaiser ist. Selbst in den Kreisen, die ich hier im Auge habe, geht das monarchische Gefühl zurück", registrierte er mit tiefer Sorge. „Man fühlt sich verlassen u. sieht, wie der Kaiser den Umstuizpartheien in die Hände arbeitet."63 Nach einem Jagdaufenthalt in Schlesien notierte Waldersee erneut: „Abfällige Urtheile über den Kaiser werden immer häufiger u. steigt ganz sichtlich damit das Andenken an den Großvater."64 Im Januar 1894 zeichnete er auf, es seien keineswegs die adligen Gutsbesitzer allein, die gegen den Kaiser tief verstimmt seien, „sondern der ganze noch Millionen zählende Theil der Bevölkerung, der von der Landwirtschaft lebt". Bis vor wenigen Jahren, so der General, habe der Bauernstand, oder wenigstens sein evangelischer Teil, „die zuverlässigsten konservativen Elemente [gebildet], die man finden konnte"; in den alten preußischen Provinzen war dieser Stand „gut hohenzollernsch", und in Mecklenburg, Holstein und Hannover immerhin noch „durchaus konservativ". Die Gefahr sei nunmehr gegeben, daß der ganze Bauernstand ins regierungsfeindliche Lager abschwenken und künftighin fortschrittlich, antisemitisch oder gar sozialistisch wählen würde.65 Gelegentlich kam dem General bei seinen düsteren politischen Prognosen die Erkenntnis, daß die angsterregenden Tendenzen, die er in Deutschland wahrzunehmen glaubte und für die er Wilhelm II. persönlich verantwortlich machte, länderübergreifende „Verfallserscheinungen" der neuen Zeit darstellten. So schrieb er zum Beispiel im Dezember 1892 angesichts des Panamaskandals in Frankreich: „Ich bin nicht mehr im Zweifel, daß wir vor großen Katastrophen stehen, die ganz

Tagebucheintragung vom 13. November 1892, GStAPK, Nachlaß nicht in Meisner, Waldersee (wie Anm. 28), II, S. 269. Tagebucheintragung vom 1. Dezember 1892, GStAPK, Nachlaß fehlt bei Meisner, Waldersee (wie Anm. 28), II, S. 270. Tagebucheintragung vom 5. Januar 1894, GStAPK, Nachlaß Waldersee; diese Stelle fehlt bei Meisner, Waldersee (wie Anm. 28), II, S. 303. Waldersee, Waldersee; Waldersee, Waldersee; Waldersee,

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Kaiser-Konzepts

Europa erschüttern, vielleicht eine völlig neue Zeit schaffen werden."66 Obwohl solche Feststellungen vorübergehend zu einer Relativierung seiner Kritik am Kaiser führen konnten er sei „weit entfernt jetzt alle Schuld auf den Kaiser zu werfen", schrieb er zu dieser Zeit so sah er doch seine bisherige Hoffnung, daß das von Bismarck errichtete Deutsche Kaiserreich als Hort monarchischer, evangelischer, aristokrati-

-

scher und militärischer Werte gegen Massendemokratie und Sozialismus dienen würde, durch Wilhelm II. begraben, denn dieser habe „die Bewegung nach dem Abgrund hin sehr in Fluß gebracht. Solange der Großvater lebte sah die ganze Welt auf uns im Gefühl, daß Deutschland eine feste gesunde Kraft sei, ein Fels an dem die Wellen des Umsturz branden würden, ein Haus unter dessen Dach vielleicht Schutz zu finden sei in schweren Zeiten. Das hat der Enkel in überraschend kurzer Zeit zerstört u. arbeitet an dem Zerstörungswerk noch fort."67 V.

Mit brennender Sorge blickte der General in die Zukunft und schrieb: „Worauf die Sache hinaus will ist mir noch nicht völlig klar, daß sie aber schlecht läuft, darüber bin ich nicht einen Augenblick im Zweifel."68 Wie zahlreiche andere Zeitgenossen hatte er das unheimliche Gefühl, daß Kaiser Wilhelm II. mit seinem persönlichen Regierungsstil ein allzu hohes Risiko eingehe, das leicht zur Katastrophe führen könne. Als 1891 ein Porträt des Kaisers ausgestellt wurde, das er für die deutsche Botschaft in Paris hatte malen lassen, machte dies auf Waldersee einen „traurigen Eindruck", weil das Bild den Kaiser der Welt maaßlos eitel und selbstbeso zeigte, „wie er wirklich denkt u. fühlt wußt!" In dem Porträt stehe der Kaiser „in einer unglaublich herausfordernden Haltung, in Garde du Corps Uniform mit schwarzem Küraß u. Purpurmantel u. auf einem langen Feldherrnstab gestützt." Man werde das Bild erst nach zehn oder zwanzig Jahren richtig beurteilen können, meinte er. „Hat er dann Großthaten verübt, so ist es ein ausge-

Waldersee, Tagebucheintragung vom 18. Dezember 1892, GStAPK, Nachlaß Waldersee; fehlt bei Meisner, Waldersee (wie Anm. 28), II, S. 272. Waldersee, Tagebucheintragung vom 18. Dezember 1892, GStAPK, Nachlaß Waldersee; fehlt bei Meisner, Waldersee (wie Anm. 28), II, S. 272. Waldersee, Tagebucheintragungen vom 10. August und 24. September 1890, GStAPK, Nachlaß Waldersee; fehlt in Meisner, Waldersee (wie Anm. 28), II, S. 136 f. und 149.

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zeichnetes

Bild, ist

es

lich."69

anders

gekommen,

so

ist

es

einfach lächer-

Dieses unheimliche Gefühl eines äußerst riskanten Vabanquespiels wurde von zahlreichen anderen Beobachtern des deutschen Kaisersystems geteilt. Der portugiesische Schriftsteller und Diplomat Eça de Queirós hat bereits 1891 hellsichtig das gefährliche Entweder-Oder des wilhelminischen Kaiser-Konzepts klar erkannt, als er schrieb: „Wilhelm II. hasardiert buchstäblich mit jenen fürchterlichen Würfeln aus Eisen, von denen Bismarck einst sprach." Auch er sagte voraus, daß Wilhelm entweder einst „voll gelassener Hoheit von seinem Schloß in Berlin aus die Geschicke Europas lenken" werde, oder aber eines Tages in einem Londoner Hotel sitze und „aus seinem Exilköfferchen die verbeulte Doppelkrone Deutschlands und Preußens" herauskrame.70 Bereits Ende 1890 war in der britischen republikanischen Zeitschrift Truth eine Karikatur erschienen, die mit atemberaubender Weitsicht den Verlauf der Regierung Kaiser Wilhelms II. voraussagte: Bild für Bild sehen wir die innenpolitische Krise nach Bismarcks Sturz, den gefährlich anwachsenden Unmut der deutschen Bevölkerung, den Versuch, die innere Krise durch einen Krieg nach Außen zu meistern, der zur Auflösung des Kaiserreiches in mehrere Republiken führte. Der Kaiser und die anderen abgesetzten Monarchen Europas suchen mit ihren Exilköfferchen Asyl in London (vgl. Abb. 1). Eigentlich nur in diesem allerletzten Detail hat sich die unheimliche Vorhersage des Karikaturisten nicht bewahrheitet.

69 70

Waldersee, Tagebucheintragung vom 18. Januar 1891, GStAPK, Nachlaß WaldcrMeisner, Waldersee (wie Anm. 28), II, S. 176. José Maria Eça de Queirós, O imperador Guilherme (1891), in: Echos de Pariz, see; fehlt in

Porto41920,

übersetzt

von

Professor Dr. Erwin Koller.

Defizite des Kaiser-Konzepts

Abbildung

1 : The Kaisers

Dream.71

Eine Karikatur in der britischen republikanischen Zeitschrift Truth sagt im Dezember 1890 die Zukunft von Kaiser und Reich voraus. Nach der Bismarckbewegung und wachsenden Arbeiterunruhen (unten Mitte) zieht der Kaiser in den Krieg (links), wird geschlagen (Mitte) und sucht zusammen mit den Bundesfürsten Asyl in London (links oben). Das Deutsche Reich zerfallt in mehrere

Republiken (oben Mitte).

Quelle: Aus der Zeitschrift Truth, London, 26. Dezember 1890.