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German Pages 208 [209] Year 1979
Abrüstung Wissenschaft Verantwortung
Herausgegeben von Herbert Meißner und Karlheinz Löhs
A k a d e m i e - V e r l a g • B e r l i n 1978
Herausgegeben im Auftrage der Akademie der Wissenschaften der Deutschen Demokratischen Republik
Redaktionsschluß: 15. Februar 1978
Erschienen im Akademie-Verlag, 108 Berlin, Leipziger Str. 3 — 4 (C) Akademie-Verlag Berlin 1978 Lizenznummer: 202 • 100/316/78 Herstellung: V E B Kongreß- und Werbedruck, Oberlungwitz Einband: Rolf Kunze Bestellnummer: 753 642 7 (6542) • L S V 0105 Printed in G D R D D R 4.80 M
Inhaltsverzeichnis
Seite
Vorwort der Herausgeber Ernst Laboor Abrüstung in Mitteleuropa
1
Jürgen Kuczynski Rüstung und Wirtschaft
20
Herbert Meißner Sozialökonomische Bedingungen und Konsequenzen der Abrüstung
25
Karl-Heinz Röder Staatliche Rüstungsfinanzierung und Krise der Staatsfinanzen im Imperialismus der Gegenwart
37
Georg D o m i n und Hans Hermann Lanfermann Wissenschaftspolitik und Abrüstung
52
Karl Friedrich Alexander und Helmut Abel Die Neutronenwaffe — eine ernste Gefahr
71
Max Steenbeck Die Verantwortung der Wissenschaftler im Atomzeitalter
77
Karlheinz Löhs Naturwissenschaft und Abrüstung
105
Eberhard Leibnitz Abrüstung und zivile Forschung
118
Heinz Stiller und Martin Manfred Schneider Für das vollständige Verbot aller Kernwaffenversuche
123
Helmutden Böhme und Erhard GeißlerErkenntnisse Gegen Mißbrauch genetischer
135
Helmut Kraatz Einige Gedanken zur Entwicklung der Medizin und ihrer gesellschaftsbezogenen Aufgaben Helmut Haenel und Rudolf Engst Gegen das Bündnis von Hunger und Rüstung Friedrich Jung Abrüstung — ein Gebot der Vernunft! Alfred Bönisch Rüstungsbeschränkung und Abrüstung als Gegenstand bürgerlicher Friedensforschung Alexander Kolesnyk Wissenschaftler, Wissenschaft und die allgemeine und vollständige Abrüstung Autorenverzeichnis
Vorwort Ausgehend von einer Plenarveranstaltung der Akademie der Wissenschaften der D D R im September 1977 zum Verhältnis von Wissenschaft und Abrüstung entstand der Gedanke, Mitglieder und leitende Mitarbeiter der Akademie um Stellungnahme zu aktuellen Fragen der Abrüstung aus der Sicht ihres jeweiligen Wissenschaftsgebietes zu bitten. Dies erschien nicht nur legitim, weil jedes Fachgebiet Berührungspunkte mit dieser Problematik aufweist. Auch die Tatsache, daß Physiker und Biologen, Chemiker und Wirtschaftswissenschaftler, Juristen und Historiker, Philosophen und Soziologen der Akademie in verschiedensten Gremien auf nationaler und internationaler Ebene an den Bemühungen um Abrüstung und Friedenssicherung teilnehmen, erleichterte dieses Vorhaben. In Vorbereitung der UN-Sondertagung über Abrüstung im Mai — Juni 1978 werden diese Beiträge in Buchform der Öffentlichkeit vorgelegt, um national und international zur Meinungsbildung beizutragen. Unser Anliegen stieß auf größtes Interesse sowohl des Präsidenten der Akademie als auch der Kreisleitung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands und aller Autoren. Dank dieses Interesses und der daraus abgeleiteten Förderung des Vorhabens sowie einer beispielhaften Unterstützung durch die Leitung des Akademie-Verlages ist es gelungen, die Schrift noch vor der UN-Sondertagung erscheinen zu lassen. Als Herausgeber möchten wir allen Beteiligten — Autoren und Förderern dieses Buches — unseren besten Dank für die gegebene Unterstützung, die vorbildliche Termintreue und die rasche technische Realisierung dieses Projekts sagen. Möge dieses Buch durch seine Beiträge ein weiteres Mal unterstreichen, daß die Mitglieder und Mitarbeiter der Akademie der Wissenschaften der D D R die aktive Friedenspolitik der Regierung unseres Landes allseitig unterstützen und stets in den vorderen Reihen der um Friedenssicherung und Menschheitsfortschritt ringenden progressiven Kräfte unserer Zeit zu finden sind.
Die Herausgeber
E. Laboor
Abrüstung in Mitteleuropa Zur Geschichte der Bemühungen der Sowjetunion und der anderen sozialistischen Staaten um militärische Entspannung im Zentrum Europas Die Vorstellung, die Waffen zu vernichten, um Kriege zu verhindern, ist so alt wie der Wunsch der Völker, in Frieden leben zu wollen. Unter den Bedingungen jener Gesellschaftsordnungen, die auf der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen beruhten und die gesetzmäßig immer wieder räuberische Kriege zur Aneignung von Territorien und zur Unterjochung fremder Völker zum Zwecke ihrer Ausbeutung hervorbrachten, mußte diese Idee frommer Wunschtraum oder opportunistische Illusion bleiben. Erst der aus der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution hervorwachsende Sozialismus eröffnete diesem humanistischen Wunsch reale Perspektiven. Die Oktoberrevolution leitete eine Epoche ein, in der alle gesellschaftlichen Lebensformen revolutionär erneuert werden, die Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus im Weltmaßstab. W. I. Lenin bezeichnete die Oktoberrevolution als den „ersten Sieg auf dem Wege der Abschaffung der Kriege", der auch in der Frage der imperialistischen Kriege „eine neue Epoche der Weltgeschichte eröffnet" habe.1 Der Sozialismus ist berufen, die Menschheit von der Ausbeutung und in diesem Zusammenhang auch von der Geißel der Kriege zu befreien. In einer Welt sozialistischer Staaten, in der keine gesellschaftlichen Kräfte mehr existieren, die am Kriege interessiert sind, wird es auch keine Kriege mehr geben und wird ihre materielle Vorbereitung, die Rüstung, keinen Platz mehr haben. In diesem Sinne erklärte W. I. Lenin schon im Verlaufe des ersten Weltkrieges die „Entwaffnung" als „ein Ideal des Sozialismus". 2 In der Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus, in der für lange Zeit sozialistische und kapitalistische Staaten nebenein1
W. I. Lenin, Z u m vierten Jahrestag der Oktoberrevolution. Bd. 3 3 , Berlin 1962, S. 3 6 und 3 5
In:
Werke,.
2
W. I. Lenin, Ober die Losung der „Entwaffnung". In: Werke, Bd. 23, Berlin 1957. S. 9 2
1
ander existieren, wäre die allgemeine und vollständige Abrüstung die umfassendste Methode, jenen Kräften, die am Kriege interessiert sind und die in unserer Zeit mit dem Begriff des militärisch-industriellen Komplexes erfaßt werden, die materiellen Möglichkeiten zur Kriegführung aus der Hand zu schlagen. Teilweise oder auch regional begrenzte Abrüstung in Räumen erhöhter Spannung könnte in Verbindung mit politischen Entspannungsschritten die Gefahr des Kriegsausbruchs verringern. Solche Friedenssicherung zu erreichen, ist der junge Sowjetstaat schon frühzeitig mit Abrüstungsinitiativen hervorgetreten. A u f der internationalen Wirtschaftskonferenz, die im April 1922 in Genua stattfand, erklärte die sowjetische Delegation, daß sie beabsichtige, der Konferenz „eine allgemeine Beschränkung der Rüstungen vorzuschlagen und alle Vorschläge zu unterstützen, die eine Erleichterung der Last des Militarismus zum Ziel haben". 3 Hervorzuheben ist, daß die sowjetische Delegation in diesem Zusammenhang das Prinzip der gleichen Sicherheit für alle an den Abrüstungsmaßnahmen Beteiligten in die internationalen Verhandlungen einführte. Sie erklärte, daß der Sowjetstaat zur Abrüstung bereit sei, wenn „völlige und vorbehaltlose Gegenseitigkeit gewahrt wird und notwendige Garantien gegen jeden Überfall und gegen Einmischung in seine inneren Angelegenheiten gegeben werden". 4 A u f der Moskauer Konferenz im Dezember des gleichen Jahres mit Vertretern der westlichen Nachbarstaaten über Fragen der Abrüstung trug die sowjetische Seite dem Prinzip der gleichen Sicherheit Rechnung, indem sie den Grundsatz bestimmter Proportionen der Rüstungsverminderung aufstellte. Außerdem brachte sie den Vorschlag ein, an den Grenzen die Streitkräfte auseinanderrücken zu lassen und so mit der Vermeidung direkter Konfrontation der Streitkräfte von Staaten mit unterschiedlicher Gesellschaftsordnung die Gefahr militärischer Konflikte zu verringern. 5 In Genua hatten die Westmächte noch verhindern können, daß Sowjetrußland seine Abrüstungsvorschläge vortragen konnte. Dann aber mußten sie — vorwiegend zur Beschwichtigung der Völker, die über das Bekanntwerden neuer Kriegsvorbereitungen beunruhigt waren — eine Kommission einberufen, die eine Abrüstungskonferenz des
3
D o k u m e n t y vnesnej politiki S S S R , t o m pjatyj, M o s k a u 1961, S. 1 9 3
4
Ebenda
5
Ebenda, t o m sestoj, M o s k a u 1962, S. 24 ff.
2
Völkerbundes vorbereiten sollte. Zu den Beratungen der Kommission mußte schließlich auch die Sowjetunion eingeladen werden. Die sowjetische Delegation legte schon bei ihrem ersten Auftreten am 30. November 1927 den Entwurf einer Konvention über die sofortige allgemeine und vollständige Abrüstung vor. 6 Der Entwurf, der u. a. die Entlassung des gesamten militärischen Personalbestandes, die Vernichtung der Waffen, des Rüstungsmaterials, aller See- und Luft-Kriegsfahrzeuge sowie jeglicher Militärstützpunkte und der Rüstungsindustrie, das Verbot jeder Art von Militärdienst, die Abschaffung der Kriegsministerien und Generalstäbe, das Verbot der Kriegspropaganda vorsah, rief damals in der Arbeiterbewegung, in der Bewegung demokratischer und pazifistischer Kräfte und bis weit hinein in bürgerliche Kreise ein beachtliches zustimmendes Echo hervor. Nachdem die Vertreter der kapitalistischen Staaten erklärt hatten, daß sie einer allgemeinen und vollständigen Abrüstung nicht zustimmen können, sondern nur einer teilweisen Abrüstung, unterbreitete die Sowjetunion der Kommission am 23. März 1928 den Entwurf einer Konvention über die Verminderung der Rüstungen.7 Das im Zusammenhang mit unserem Thema bemerkenswerte war, daß der Entwurf ermöglichte, den jahrelangen fruchtlosen Debatten ein Ende zu setzen, in denen die Regierung jedes kapitalistischen Staates nachzuweisen versuchte, daß gerade ihr wegen irgendwelcher ungünstigen Umstände Ausnahmen von der Abrüstung gewährt werden müßten. Die Sowjetunion ging vom Prinzip der gleichen Sicherheit für alle aus, dem der augenblickliche Rüstungsstand entsprach, und schlug vor, die Abrüstung von diesem Stand aus in bestimmten Proportionen vorzunehmen, wobei sie für die großen und stärker gerüsteten Staaten höhere Abrüstungskoeffizienten vorsah. Ein solches Herangehen gewährleistet eine wesentliche Herabsetzung der Rüstungen und damit der Kriegsgefahr bei Aufrechterhaltung des bestehenden militärischen Kräfteverhältnisses zwischen den Staaten. Damit waren prinzipielle Ausgangspunkte auch für künftige Verhandlungen über Teilabrüstungsmaßnahmen geschaffen worden. Außerdem trat die Sowjetunion für das völlige Verbot und die Vernichtung der besonders barbarischen Mittel der Kriegführung ein. Das waren damals Fliegerbomben, chemische und bakteriologische Waffen. 6
Ebenda, t o m desjaty), M o s k a u 1965, S. 506 ff.
7
Ebenda, t o m odlnnadcatyj, M o s k a u 1966, S. 218 ff.
3
In den zwanziger und dreißiger Jahren verfielen sowohl die Abrüstungsprojekte als auch die anderen Vorschläge der Sowjetunion zur Sicherung des Friedens der Ablehnung durch die imperialistischen Mächte. Der zweite Weltkrieg wurde unvermeidlich. Die Völker kämpften gegen die faschistischen Aggressoren in der Hoffnung, mit deren Niederwerfung ein für allemal friedliche Bedingungen ihrer Existenz zu schaffen Ausdruck dieser Hoffnungen sind die Beschlüsse der Antihitlerkoalition über die Sicherung des Friedens nach dem Sieg über den Aggressorenblock und die Charta der Organisation der Vereinten Nationen. Im Ergebnis des zweiten Weltkrieges trafen sich die Truppen der Sowjetunion und der Westmächte im Zentrum Europas und standen sich von der westlichen Ostsee, an der Elbe, der Werra, dem Böhmerwald bis nach Osterreich gegenüber. Sie waren als Truppen der Antihitlerkoalition in die Mitte Europas gekommen und ihr Auftrag bestand in der Sicherung der Grundlagen einer friedlichen Nachkriegsordnung in Europa. Für Österreich hieß das die völlige Wiederherstellung seiner Selbständigkeit, seiner Souveränität, Sicherung gegen jegliche Gefahr eines erneuten „Anschlusses", Abschluß eines Staatsvertrages zur Regelung dieser Probleme. Für Deutschland hieß das Erfüllung des Potsdamer Abkommens, insbesondere Ausrottung des Faschismus und Militarismus samt seiner sozialökonomischen Wurzeln, Entmilitarisierung, Herstellung demokratischer Zustände und Garantien gegen jegliches Wiedererstehen des Militarismus und Faschismus, Abschluß eines Friedensvertrages. Schon bald nach dem zweiten Weltkrieg sagten sich die Westmächte von den Beschlüssen der Antihitlerkoalition los und brachen sie schließlich vollends. Sie lösten den kalten Krieg gegen die Sowjetunion und gegen den in weiteren Staaten Europas und Asiens entstehenden Sozialismus sowie gegen die progressiven Bewegungen in den kapitalistischen Ländern aus, errichteten rings um die sozialistischen Staaten ein System militärischer Stützpunkte, verbündeten sich mit den geschlagenen Aggressoren von gestern und begannen fieberhaft aufzurüsten. Die U S A verkündeten ihren Anspruch auf die Weltherrschaft Wenige Jahre nach dem zweiten Weltkrieg brachte die Aggressivität des Imperialismus erneut die Gefahr eines Weltkrieges hervor. Vor der friedliebenden Menschheit erwuchs die Aufgabe des Kampfes gegen die Kriegsgefahr, für Entspannung, für Abrüstung im globalen Maß-
4
stab. Im Zusammenhang mit der Entwicklung der Kernwaffen und anderer Massenvernichtungswaffen erhielt das Problem der Abrüstung auf diesem Gebiet eine neue, bis dahin unbekannte Dimension. Die Sowjetunion hat mit großer Initiative, unterstützt von den anderen sozialistischen Ländern und allen am Frieden interessierten Kräften, vor allem in der U N O einen beharrlichen Kampf um die Abrüstung geführt.8 Für Europa entstanden infolge des Bruchs des Potsdamer Abkommens durch die Westmächte besondere Probleme der Friedenssicherung und auch der Abrüstung. Verständlicherweise enthielten die Beschlüsse der Antihitlerkoalition, darunter das Potsdamer Abkommen, keine konkreten Festlegungen über den Abzug der Besatzungstruppen aus Österreich und aus den vier deutschen Besatzungszonen. Aber ihre Anwesenheit war eindeutig an die Verwirklichung der auf die Sicherung des Friedens im Nachkriegseuropa gerichteten Aufgaben gebunden. Ihr Abzug nach Abschluß des österreichischen Staatsvertrages und eines deutschen Friedensvertrages ergab sich mit Notwendigkeit aus den Festlegungen von Potsdam. Als die Westmächte indessen den Abschluß beider Verträge sabotierten und zu erkennen gaben, daß sie sich mit ihren Truppen für lange Zeit im Zentrum Europas festzusetzen und die Drohung mit ihrem Einsatz oder auch ihren Einsatz zur Liquidierung des Sozialismus in den mittel- und südosteuropäischen Staaten anzuwenden gedachten, als die Gefahr heranwuchs, daß die stärksten Militärmächte unterschiedlicher Gesellschaftsordnung im Zentrum Europas in eine militärische Konfrontation geraten konnten, entstand der Problem des Abzugs der Besatzungstruppen aus Österreich und aus Deutschland als besonderes Problem der militärischen Entspannung. Im Falle Österreichs gelang es der Sowjetunion in einem zehnjährigen Kampfe, die Absichten der Westmächte, die auf die Ausnutzung Österreichs für ihre aggressiven Pläne gerichtet waren, zu durchkreuzen und am 15. Mai 1955 die Unterzeichnung des österreichischen Staatsvertrages zu erreichen.9 Österreich erklärte seine immerwährende militä8
Vgl. dazu: Der K a m p f der Sowjetunion für Abrüstung. In den Jahren 1946 bis 1960 mit einer Ergänzung für die deutsche Ausgabe bis 1962. Gesamtredaktion W. A . Sorin, Berlin 1963; A . E. Efremov, Jadernoe razoruzenie, Moskau 1976
9
Geschichte' der sowjetischen Außenpolitik, 2. Teil 1971, S. 284 ff.
1945 bis 1970, Berlin
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rische Neutralität, d. h. es nahm den Status eines nichtpaktgebundenen Landes an, und die Besatzungstruppen verließen das Land. Im Zentrum des Kampfes um die Sicherung des Friedens in Europa standen bis in die Mitte der fünfziger Jahre die Regelung der deutschen Angelegenheiten, der Kampf um den Abschluß eines Friedensvertrages und die Entwicklung Deutschlands als friedliebender und demokratischer Staat. 10 Dieser Kampf richtete sich zugleich gegen die Versuche der imperialistischen Mächte, den Aufbruch in den Sozialismus in der Sowjetischen Besatzungszone, später in der Deutschen Demokratischen Republik rückgängig zu machen, die D D R als selbständigen und unabhängigen Staat zu liquidieren und ganz Deutschland in. ihre gegen den Sozialismus gerichteten Machenschaften einzubeziehen oder wenigstens die B R D zur antisozialistischen Stoßkraft auszubauen. Ziel der sowjetischen Außenpolitik war ein entmilitarisiertes, friedliebendes Deutschland im Zentrum Europas, das keine Bedrohung seiner Nachbarn mehr darstellen und auch von anderen aggressiven Mächten nicht zu einer solchen Bedrohung ausgenutzt werden konnte, sondern das mit einer entwickelten Friedenswirtschaft einen wesentlichen und notwendigen Beitrag zur Gesundung Europas, zur Zusammenarbeit alier Staaten in einem Europa der friedlichen Koexistenz von Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung leisten konnte. 11 (Später, nachdem die Remilitarisierung der B R D schon fortgeschritten war und die D D R zu ihrem Schutz bewaffnete Polizeiformationen aufgestellt hatte, wollte die Sowjetunion das im wesentlichen gleiche Ziel erreichen, indem sie für die B R D und die D D R den Status der militärischen Neutralität anstrebte.) Einer der Aspekte dieses Kampfes waren die Bemühungen um den Abzug der Besatzungstruppen. Abzug der Besatzungstruppen oder ihrer Hauptkräfte bedeutete, verbunden mit anderen Maßnahmen der Entmilitarisierung, den Kampf um progressive Veränderungen in den westlichen Besatzungszonen, später in der B R D vom Druck imperialistischer Militärmacht zu befreien und eine Konzentration gewaltiger militärischer Kräfte und riesiger Waffenarsenale im Zentrum Europas zu verhindern. Die Bildung der N A T O , deren aggressive, antisozialisti10 V g l . d a z u V . N . Belezki, D i e P o l i t i k der S o w j e t u n i o n in den d e u t s c h e n A n g e legenheiten in der N a c h k r i e g s z e i t 1 9 4 5 — 1 9 7 6 , Berlin 1 9 7 7 11 D o k u m e n t e S. 34/35
6
zur D e u t s c h l a n d p o l i t i k
der S o w j e t u n i o n ,
Bd. I, Berlin
1957,
sehe Zielsetzung die Regierung der Sowjetunion bereits in der Zeit ihrer Formierung enthüllte 1 2 , verschärfte das Problem noch zusätzlich. Seit 1947, seit die Sowjetunion im Rat der Außenminister auf die Vorbereitung eines deutschen Friedensvertrages drängte, erhob sie die Forderung nach Abzug aller ausländischen Truppen vom deutschen Territorium ein Jahr nach Abschluß eines Friedensvertrages.13 Da die Westmächte einen Friedensvertrag, ja sogar die Erörterung seiner Vorbereitung hartnäckig hintertrieben und zu erkennen gaben, daß sie sich auch nach Abschluß eines Friedensvertrages nicht aus der BRD zurückzuziehen gedachten, wie das die USA im Falle Japans auch praktizierten, wurde die Forderung nach Abzug der Besatzungstruppen im Zusammenhang mit dem Abschluß eines Friedensvertrages immer dringender. Sie wurde in allen Stellungnahmen der sowjetischen Regierung zum Problem des deutschen Friedensvertrages erhoben. Sie ist auch im Entwurf der UdSSR für die Grundlagen eines Friedensvertrages vom 10. März 1952 enthalten 1 4 , und wurde in dem nachfolgenden diplomatischen Ringen, das schließlich zur Einberufung der Berliner Außenministerkonferenz Anfang 1954 geführt hat, immer wieder bekräftigt Die Deutsche Demokratische Republik hat die Bemühungen um den Abschluß eines Friedensvertrages und um den darauffolgenden Abzug der Besatzungstruppen stets initiativreich unterstützt, wie sie jede auf die Sicherung des Friedens in Europa gerichtete Politik unterstützt und mit eigenen Beiträgen gefördert hat. So nutzte die Regierung der DDR die Möglichkeit ihres Auftretens vor der UNO-Vollversammlung am 11. Dezember 1951, um auch vor diesem Forum die Forderung nach Abschluß eines Friedensvertrages und den nachfolgenden Abzug der Besatzungstruppen nachdrücklich zu erheben. 15 Wenig später, am 13. Februar 1952 wandte sich die Regierung der DDR in einem Schreiben an die vier Besatzungsmächte mit der Bitte, den Abschluß
12 Zajavlenie ministerstva i n o s t r a n n y c h del SSSR o Severo-atlanticeskom pakte. I n : Vnesnjaja p o l i t i k a Sovetskogo Sojuza, 1 9 4 9 god. D o k u m e n t y i m a t e r i a l y , Moskau 1953, S. 4 6 f f . 13 Vgl. V . N. Belezki, a. a. O., S. 6 3 f f . 14 D o k u m e n t e zur D e u t s c h l a n d p o l i t i k der S o w j e t u n i o n , a. a. O., S. 2 9 1 15 D o k u m e n t e zur A u ß e n p o l i t i k der Regierung der Deutschen D e m o k r a t i s c h e n R e p u b l i k , Bd. I, B e r l i n 1954, S. 2 0 3
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eines Friedensvertrages zu beschleunigen. 16 Die sowjetische Regierung beantwortete diese Initiative am 10. März mit dem Entwurf der Grundlagen eines Friedensvertrages. Diese Schritte unserer beiden verbündeten Staaten leiteten eine mehrjährige Phase des Kampfes um die Sicherung des Friedens im Zentrum Europas in Gestalt eines Friedensvertrages ein. Die Sowjetunion blieb entsprechend den sich verändernden Bedingungen ihres außenpolitischen Wirkens nicht bei den erwähnten Forderungen stehen. Da die Remilitarisierung der B R D immer mehr fortschritt, ihre Eingliederung in die N A T O vorbereitet und die Gefahr einer militärischen Konfrontation der Hauptmächte des Imperialismus und des Sozialismus akut wurde, warf die Regierung der UdSSR die Frage der Truppenverminderung auch unabhängig von den deutschen Angelegenheiten auf. Der Konferenz der stellvertretenden Außenminister, die vom März bis Juni 1951 in Paris tagte und die Tagesordnung einer Außenministerkonferenz ausarbeiten sollte, schlug sie vor, „die Verbesserung der Lage in Europa und die sofortige Inangriffnahme einer Einschränkung der Streitkräfte der vier Mächte" als selbständigen Punkt in die Tagesordnung aufzunehmen. 17 Die Westmächte aber weigerten sich, über diese Frage überhaupt zu sprechen. Sie ließen schließlich die Konferenz scheitern, um einer Erörterung ihrer dem Frieden in Europa und in der Welt schädlichen Politik auf einer Außenministerkonferenz und unter den Blicken der Weltöffentlichkeit aus dem Wege zu gehen. Was sie indessen nicht vermeiden konnten, war, daß die Sowjetunion eine neue Idee in den Kampf um den Frieden eingebracht hatte: die Idee der Einschränkung der Streitkräfte und Rüstungen in Europa. Mitte der fünfziger Jahre veränderte sich die europäische Szene grundlegend. Die imperialistischen Mächte besiegelten im Komplott mit den in der B R D wieder zur Macht gekommenen aggressiven Kräften des deutschen Imperialismus mit der Einbeziehung der B R D in die aggressive N A T O die Spaltung Deutschlands und zwangen Europa die Spaltung in einander feindlich gegenüberstehende Militärblöcke auf. Die N A T O rückte an Elbe, Werra und Böhmerwald vor. Die militärische Konfrontation von Imperialismus und Sozialismus im Zentrum 16 E b e n d a , S . 7 3 ff. 17 Zitiert bei V . N. Belezki, a. a. O., S . 1 3 4
8
Europas erreichte eine neue Stufe. Die aggressivsten Kräfte des Imperialismus, die ihre Außenpolitik weitgehend oder ausschließlich auf die militärische Stärke gründeten, wähnten sich am Vorabend des „Zurückroflens" des Sozialismus aus der DDR und den anderen sozialisti-' sehen Staaten. Die Kriegsgefahr im Herzen Europas wuchs beträchtlich. Die sozialistischen Staaten schufen sich mit dem Abschluß des Warschauer Vertrages über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand vom 14. Mai 1955, der zugleich der Tatsache völkerrechtlich Ausdruck verlieh, daß der Sozialismus als Gesellschaftsordnung über die Grenzen eines Staates hinausgewachsen war, ein Instrument, das seitdem den zuverlässigen Schutz ihrer Sicherheit und des Friedens in Europa gewährleistet. Die Sowjetunion hatte — unterstützt von allen sozialistischen Staaten und von einer europäischen Massenbewegung gegen die Remilitarisierung der BRD — alles versucht, die endgültige Spaltung von Deutschland und die Spaltung in Militärblöcke von Europa abzuwenden. Auf der Berliner Außenministerkonferenz 18 unterbreitete sie den Friedensvertragsvorschlag vom 10. März 1952 in etwas aktualisierter Form. Um die noch verbliebenen Möglichkeiten zur Herstellung der Einheit Deutschlands als friedliebender und demokratischer Staat mit Hilfe wirklich freier Wahlen nutzen zu können, um solche Wahlen nicht dem Druck und der Einmischung aggressiver imperialistischer Kräfte auszusetzen, warf die Sowjetunion die Frage auf, die Besatzungstruppen bis auf kleinere Kontingente zur Erfüllung von Kontroll- und Überwachungsfunktionen noch vor den Wahlen und also auch vor dem Abschluß eines Friedensvertrages abzuziehen. Die Westmächte lehnten ab. So entwickelte denn die Sowjetunion die Idee der kollektiven Sicherheit weiter und legte als Alternative zur Spaltung Europas in Militärblöcke den Entwurf der Grundsätze eines Vertrages über die kollektive Sicherheit in Europa vor, der bereits erste Formulierungen der Mehrzahl der politischen Prinzipien der Staatenbeziehungen enthielt, die zwei Jahrzehnte später in der Schlußakte von Helsinki bindend verein18 Z u V e r l a u f u n d Ergebnissen der Berliner A u ß e n m i n i s t e r k o n f e r e n z v o m 25. Januar bis 18. Februar 1954 vgl. Ernst L a b o o r , A u f dem Wege nach Helsinki 1 9 5 4 — 1975. Die Berliner A u ß e n m i n i s t e r k o n f e r e n z 1954 — Beginn des K a m p f e s der S o w j e t u n i o n u m die Gesamteuropäische Konferenz f ü r Sicherheit u n d Zusammenarbeit i n Europa, Berlin 1977
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bart worden sind. Und die Sowjetunion schlug auch eine gesamteuropäische Staatenkonferenz zur Erörterung der Probleme der europäischen Sicherheit vor. Die Westmächte jedoch waren auch nicht bereit, auf diesen Vorschlag einzugehen. Bedeutsam aber war: das Arsenal der Friedenskräfte ist um eine vervollkommnete Idee, die in den dreißiger Jahren von der Sowjetunion hervorgebracht worden war, bereichert worden. Anderthalb Jahre später, im Juli 1955 tagte die Genfer Gipfelkonferenz der vier Mächte. Sie verhandelte über die Fragen der europäischen Sicherheit, die deutschen Angelegenheiten, die Abrüstung und Kontakte zwischen Ost und West. 19 Unter dem Druck der gespannten Aufmerksamkeit der Völker, die über die Pariser Verträge und die Eingliederung der BRD in die NATO aufs äußerste beunruhigt waren, und als Erfolg der Verhandlungskunst der Delegation der UdSSR kam es zu einem bedeutenden Ergebnis: einer gemeinsamen Direktive der Regierungschefs in allen Tagesordnungspunkten für die Weiterarbeit der Außenminister. Die Sowjetunion bereicherte während dieser Konferenz die Idee der kollektiven Sicherheit in einem entscheidenden Punkte, was sowohl der politischen als auch der militärischen Entspannung, der Verminderung der Streitkräfte und Rüstungen in Europa neue Perspektiven eröffnete. Sie fand einen Kompromiß zwischen den Positionen der sozialistischen Staaten, die im Interesse des Friedens und der Sicherheit die sofortige Errichtung eines Systems der kollektiven Sicherheit und dementsprechend die sofortige Liquidierung der Militärpakte forderten, und den Positionen der Westmächte, die auf die NATO nicht bereit waren zu verzichten, während sich exponierte bürgerliche Politiker zu einzelnen Seiten des sowjetischen Plans der kollektiven Sicherheit positiv äußerten. Die Sowjetunion schlug vor, das System der kollektiven Sicherheit nicht in einem Zuge, sondern in Etappen zu errichten. In der ersten Etappe sollten die Militärpakte noch bestehen bleiben, aber die politischen Prinzipien der Staatenbeziehungen, insbesondere der Gewaltverzicht vereinbart werden. Im Geiste der gleichen
19 Z u Verlauf u n d Ergebnissen der Genfer G i p f e l k o n f e r e n z v o m 18. — 23. J u l i u n d der Genfer A u ß e n m i n i s t e r k o n f e r e n z v o m 27. O k t o b e r — 16. N o v e m b e r 1955 vgl. Ernst L a b o o r , Die A u ß e n p o l i t i k der S o w j e t u n i o n i m K a m p f u m die k o l l e k t i v e Sicherung des Friedens i n E u r o p a 1 9 5 4 / 1 9 5 5 , Dissertation B, Berl i n 1977, Bd. I I I
10
Sicherheit aller Teilnehmer war gleichzeitig das Einfrieren der Truppenstärken vorgesehen. In einer zweiten Etappe sollten die komplizierten Fragen der militärischen Entspannung, vor allem die Auflösung der Organisationen des Warschauer Vertrags und der NATO, ein Ziel, an dem die Staaten des Warschauer Vertrags im Interesse der Überwindung der Spaltung Europas in Militärblöcke unverwandt festhalten 20 , gelöst werden. Damit hatte die Sowjetunion prinzipiell auf die Vorrangigkeit der politischen Prinzipien und die relative Eigenständigkeit der Probleme der politischen und der militärischen Entspannung, auf die Möglichkeit, ja auf die Notwendigkeit gesonderter Verhandlungen über sie hingewiesen. Während der Gipfelkonferenz und der nachfolgenden Außenministerkonferenz hat sie diesen neuen Gedanken mit mehreren Vorschlägen sowohl zur politischen als auch zur militärischen Entspannung noch ausgebaut Die Geschichte hat die Richtigkeit dieses Herangehens inzwischen bestätigt. Es hat zur Vereinbarung der politischen Prinzipien der Staatenbeziehungen in der Schlußakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa geführt, während Erfolge der Wiener Verhandlungen über die Reduzierung der Streitkräfte und Rüstungen in Mitteleuropa noch auf sich warten lassen. Die Verknüpfung der Verhandlungen über die politische Entspannung mit denen über die militärische Entspannung, wie das NATO-Staaten während der Vorbereitungsphase der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa immer wieder forderten, hätte nur dazu führen können, daß die politische Entspannung, an die militärische gebunden, gebremst worden wäre. Im Verlaufe der Verhandlungen über Fragen der Sicherheit und der Abrüstung auf der Gipfelkonferenz hat der britische Premierminister mehrfach Gedanken über eine besondere Zone zwischen Ost und West geäußert, die die BRD und die DDR sowie ihre Nachbarstaaten umfassen sollte und in der Streitkräfte und Rüstungen vermindert und diese teilweise Abrüstung einer besonders weitgehenden Kontrolle unterworfen werden sollten. 21 Dieser Gedanke hat in die gemeinsame
2 0 Die Organisation des Warschauer Vertrages 1955 — 1975. D o k u m e n t e u n d Materialien, B e r l i n 1975, S. 26 f f . 2 1 G e n f e r K o n f e r e n z der Regierungschefs der vier Mächte I. I n : „ N e u e Z e i t " , M o s k a u Nr. 3 0 v o m 21. J u l i 1955 (Beilage), S. 16
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Direktive der Regierungschefs an die Außenminister Eingang gefunden. 2 2 Später hat sich der britische Premierminister unter dem Druck der anderen imperialistischen Regierungen von seinen eigenen Vorschlägen losgesagt. Die Sowjetunion hat den realistischen Gehalt der Gedanken Edens bereits auf der Gipfelkonferenz aufgegriffen und während der Außenministerkonferenz exakt ausgearbeitete Vorschläge dazu unterbreitet, die geeignet waren, die militärische Entspannung im Zentrum Europas voranzubringen. 23 Aber die reaktionärsten und aggressivsten Kräfte des Imperialismus, die im Regierungslager vorherrschten, waren nicht bereit, der Entspannung Raum zu geben. Nach dem erfolgreichen Abschluß der Gipfelkonferenz holten sie zum Gegenschlag aus. Unter ihrem Einfluß zimmerten die Regierungen der Westmächte zur Vorbereitung der Außenministerkonferenz eine gegen die gemeinsame Direktive der Regierungschefs gerichtete Separatdirektive, die alle Fortschritte der Gipfelkonferenz wieder zunichte machte. 24 Sie forderte die Einverleibung der D D R durch die B R D und ihre Eingliederung in die N A T O und konstruierte ein in der Direktive der Regierungschefs nicht vorhandenes Junktim zwischen einer solchen „Lösung" der sogenannten deutschen Frage und der europäischen Sicherheit. Mit diesem Junktim blockierten die imperialistischen Regierungen mehr als ein Jahrzehnt jede Übereinkunft sowohl in den deutschen Angelegenheiten als auch in den Fragen der europäischen Sicherheit. Die „Zone zwischen Ost und West" verfälschte diese Separatdirektive kurzerhand in eine Zone beiderseits der Oder-Neiße-Grenze. Sie setzte die Liquidierung der D D R voraus und versuchte, die Abrüstung einseitig allein den Staaten des Warschauer Vertrages aufzuerlegen. Unter diesen Voraussetzungen konnte es auf der Außenministerkonferenz zu keinerlei Vereinbarungen kommen. Die Idee einer Zone eingeschränkter Streitkräfte und Rüstungen an der Konfrontationslinie zwischen Sozialismus und Imperialismus in Mitteleuropa aber - von der Sowjetunion und von den anderen sozialistischen Staaten aktiv verfochten - war seitdem aus den Erörte2 2 Genfer K o n f e r e n z der Regierungschefs der vier M ä c h t e II. In: „ N e u e Z e i t " , M o s k a u Nr. 3 1 v o m 28. Juli 1 9 5 5 (Beilage), S. 1 8 2 3 D o k u m e n t e zur D e u t s c h l a n d p o l i t i k der S o w j e t u n i o n , Bd. II, Berlin 1 9 6 3 , S . 2 3 9 ff. 24 M M t n g ' s A r c h i v der Gegenwart, 1 9 5 5 , S. 5 4 2 4
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rungen über Frieden und Sicherheit in Europa nicht mehr hinwegzudenken. Sie schlägt sich in der Gegenwart in den Wiener Verhandlungen nieder. Im Ergebnis der beiden genannten Genfer Konferenzen des Jahres 1955 kristallisierten sich drei bemerkenswerte Linien heraus, die im außenpolitischen Kampf und im internationalen Meinungsaustausch über die militärische Entspannung bis in die Gegenwart wirken: 1. Die Sowjetunion hat einen Gedanken von hoher prinzipieller Bedeutung entwickelt: die Vorrangigkeit der politischen Prinzipien der Staatenbeziehungen und — bei Wahrung ihres engen gegenseitigen Zusammenhangs — die relative Selbständigkeit der politischen und der militärischen Entspannung. Die Verwirklichung dieser Idee in der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa hat bereits zu grundlegenden Ergebnissen der politischen Entspannung in Europa geführt und rückt gegenwärtig die Probleme der militärischen Entspannung in den Mittelpunkt der Anstrengungen aller an sicherem Frieden in Europa interessierten Kräfte. 2. Die Sowjetunion (das trifft auch auf die anderen sozialistischen Staaten zu) ist bereit und in der Lage, realistische Gedanken bürgerlicher Politiker, die im friedensfeindlichen, antisozialistischen imperialistischen Gesamtkonzept nicht realisiert werden können, in ihr Friedensprogramm aufzunehmen und im Interesse des Friedens und der Sicherheit der Verwirklichung entgegenzuführen. 3. Die reaktionärsten und aggressivsten Kräfte des Imperialismus sind bestrebt, wenn sie Verhandlungen über Fragen der militärischen Entspannung, der Abrüstung schon nicht mehr aus dem Wege gehen können, die Prinzipien der Gleichheit und der gleichen Sicherheit zu umgehen und einseitige militärische Vorteile zu erlangen oder mit der Forderung nach solchen einseitigen Vorteilen Vereinbarungen zwischen sozialistischen und imperialistischen Staaten über die Abrüstung zu hintertreiben. In dem Jahrzehnt nach diesen Konferenzen erlaubten die „Politik der Stärke" und der kalte Krieg nicht, die Fragen der europäischen Sicherheit umfassend zur Diskussion zu stellen. Die sozialistischen Staaten nutzten die Vorteile, die ihnen die im Rahmen des Warschauer Vertrages gegebenen Möglichkeiten der Abstimmung ihrer Außenpolitik boten. Die Sowjetunion befaßte sich besonders mit der Gesamtproblematik des Verhältnisses sozialistischer und kapitalistischer Staaten zu13
einander, der Beziehungen zwischen den Staaten des Warschauer Vertrags und der N A T O und mit den Beziehungen U d S S R - U S A und war vor allem bestrebt, eine Vereinbarung über den Gewaltverzicht zu erreichen. Die D D R widmete sich vorwiegend den Problemen der Normalisierung der Beziehungen zwischen der D D R und der B R D sowie der Schaffung friedlicher Bedingungen im Ostseegebiet, während sich die Volksrepublik Bulgarien und die Rumänische Volksrepublik um Schritte zur friedlichen Koexistenz im Balkanraum bemühten. Die Volksrepublik Polen aber nahm sich insbesondere der Problematik der Verdrängung der Kernwaffen aus Mitteleuropa und der Verringerung der Rüstungen in diesem Gebiet an. Angesichts der Bedrohung des europäischen und des Weltfriedens durch das in der N A T O entfachte Raketen-Kernwaffen-Wettrüsten, die seit Ende der fünfziger Jahre noch durch die Versuche, der B R D Zutritt zu Kernwaffen zu verschaffen, verschärft wurde, konzentrierten sich die Vorschläge der polnischen Regierung, die unter dem Namen Rapackiplan bekannt geworden sind, darauf, Mitteleuropa von Kernwaffen zu befreien oder zunächst die Kernwaffenrüstung wenigstens nicht fortzusetzen. Im Verlaufe der internationalen Auseinandersetzung ergänzte die polnische Regierung ihre Pläne einer kernwaffenfreien Zone durch Vorschläge für eine Verringerung der Streitkräfte und konventionellen Rüstungen. Als Zone dieser teilweisen Abrüstung waren die Territorien Polens, der Tschechoslowakei, der D D R und der B R D vorgesehen. 25 Diese Vorschläge, die jedem friedliebenden Menschen verständlich waren, aber auf die Ablehnung der NATO-Staaten stießen, fanden in der Weltöffentlichkeit eine große Resonanz. Sie haben das ihre zum Abschluß des Vertrages über die Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen vom 1. Juli 1968 beigetragen und das Arsenal der Friedenskräfte an Ideen bereichert, über die gegenwärtig in Wien verhandelt wird. Erst Mitte der sechziger Jahre gaben Kräfte der imperialistischen Bourgeoisie, die bis dahin den Konfrontationskurs eingeschlagen hatten, zu erkennen, daß sie die Realitäten des sich zugunsten des Sozialismus und des Friedens weiter wandelnden Kräfteverhältnisses zu verstehen und einzusehen begannen, daß es zur friedlichen Koexistenz der Staaten des Sozialismus und des Kapitalismus keine Alternative gibt. 2 5 Sicherheit u n d friedliche Z u s a m m e n a r b e i t in E u r o p a , D o k u m e n t e 1 9 5 4 — 1 9 6 7 , Berlin 1968, S . 1 4 8 ff., 1 6 1 ff., 194 ff., 2 6 7 ff., 2 9 0 ff.; T r i b ü n e L u d u , Warschau, 29. Dezember 1 9 6 3
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In dieser Situation ergriffen die sozialistischen Staaten erneut die Initiative und unterbreiteten mit der Bukarester Deklaration des Politischen Beratenden Ausschusses der Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrages vom 5. Juli 1966 über die Festigung des Friedens und der Sicherheit in Europa ein weitgefächertes Programm der Normalisierung der Staatenbeziehungen, der politischen und der militärischen Entspannung und der Zusammenarbeit der europäischen Staaten. 26 Der Weg zur Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa war gewiesen. Aber er war steinig. Jeder Fortschritt auf ihm erforderte harten Kampf zur Überwindung des Widerstandes der entspannungsfeindlichen Kräfte. Es dauerte noch sieben Jahre, bis die Konferenz eröffnet werden konnte, und weitere zwei Jahre, bis sie mit der bedeutsamen Schlußakte von Helsinki eine Zäsur in der europäischen Geschichte setzen und den mehrjährigen Übergangsprozeß vom kalten Krieg zur Entspannung abschließen konnte. Das politische Fundament eines Europa der friedlichen Koexistenz war gelegt Danach gilt es, seine Grundsätze mit Leben zu erfüllen, sie zu verteidigen und die politische durch die militärische Entspannung zu ergänzen, sie damit zu sichern und dauerhaft zu machen. Als am Beginn der siebziger Jahre mit den Verträgen der U d S S R , der VRP, der D D R und der C S S R mit der B R D und mit dem Vierseitigen Abkommen über Westberlin die politische Entspannung in Europa sichtbare Fortschritte machte und der Kurs auf die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa endgültig eingeschlagen war, entstanden günstige Bedingungen, parallel dazu auch die Verhandlungen über die militärische Entspannung in Gang zu bringen. In den vorbereitenden Konsultationen und in den seit Herbst 1973 in Wien geführten Verhandlungen trafen zwei gegensätzliche Linien aufeinander. Die sozialistischen Staaten ließen sich vom Friedensprogramm des X X I V . Parteitages der K P d S U leiten, das ein breites Spektrum effektiver Friedensschritte vorsah, die die Sicherheit der sozialistischen Staaten und die friedliche Existenz der Völker gewährleisten sollten und sich nicht gegen die Sicherheit irgendeines Staates richteten. Darunter befanden sich militärische Entspannungsmaßnahmen bis zur Auflösung des Warschauer Vertrages und der N A T O oder wenig-
26 Die Organisation des Warschauer Vertrages 1955 — 1975, D o k u m e n t e und Materialien, a. a. O., S. 91 ff.
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stens ihrer Militärorganisationeri, kernwaffenfreie Zonen, Liquidierung ausländischer Militärstützpunkte und die Reduzierung der Streitkräfte und Rüstungen in Spannungsgebieten, besonders in Mitteleuropa.27 Demzufolge rangen die sozialistischen Staaten von Anfang an um die Vereinbarung solcher Abrüstungsschritte, die geeignet waren, die militärischen Spannungen tatsächlich zu mindern. Die imperialistischen Staaten, die seit Ende der sechziger Jahre so verdächtige Aktivität zur Forcierung der Verhandlungen über Fragen der militärischen Entspannung und zu ihrer Verknüpfung mit den Problemen der politischen Entspannung an den Tag gelegt hatten, als deren Zweck es der bürgerliche finnische Friedensforscher Joenniemi bezeichnete, „den Initiativen der sozialistischen Länder für eine Konferenz über europäische Sicherheit entgegenzutreten"28, versuchten indessen, in den Verhandlungen gravierende einseitige militärische Vorteile herauszuschlagen oder mit der Forderung nach solchen Vorteilen den Abschluß von Vereinbarungen zu blockieren. So waren sie bestrebt, den Reduzierungsraum auf sozialistischer Seite auf Ungarn auszudehnen29, und vor allen Dingen wollten sie den sozialistischen Staaten ihr Konzept einer sogenannten beiderseitigen und ausgewogenen Truppenverminderung30 aufdrängen, das der NATO die Möglichkeit gegeben hätte, Reduzierungen eines NATOStaates durch die Aufrüstung eines anderen auszugleichen und von den sozialistischen Staaten zugleich größere Reduzierungen zu verlangen. Schließlich aber wurde beschlossen, daß der Reduzierungsraum die Territorien Polens, der DDR und der Tschechoslowakei sowie der BRD, der Niederlande, Belgiens und Luxemburgs umfaßt und daß diese Staaten sowie die Sowjetunion, die USA, Großbritannien und Kanada Teilnehmer der Abrüstungsverhandlungen sein, also ihre 27 Rechenschaftsbericht des Z e n t r a l k o m i t e e s der K P d S U an den X X I V . Parteitag der K o m m u n i s t i s c h e n Partei der S o w j e t u n i o n . Referent: L . I. Breshnew, Generalsekretär des Z K der KPdSU. 30. Marz 1 9 7 1 , M o s k a u / B e r l i n 1971, S. 4 0 f f . 28 P. J o e n n i e m i , T r u p p e n r e d u z i e r u n g in E u r o p a — M ö g l i c h k e i t u n d G e f a h r , I n : Probleme des Friedens, der Sicherheit u n d der Z u s a m m e n a r b e i t . Beiträge aus West- u n d Osteuropa. Hrsg. v. Stefan Doernberg, Johan G a l t u n g , A n a t o l i G r o m y k o u n d Dieter Senghaas, K ö l n 1975, S. 135 29 Sicherheit u n d f r i e d l i c h e Zusammenarbeit in Europa; D o k u m e n t e 1972 — 1975, Berlin 1976, S. 176 3 0 Ebenda, S. 79, 138; Sicherheit u n d f r i e d l i c h e Z u s a m m e n a r b e i t i n Europa. D o k u m e n t e 1 9 6 7 - 1972, Berlin 1973, S. 6 9 , 7 1 / 7 2 , 176, 1 7 8 / 1 7 9
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Truppen und Rüstungen im vereinbarten Gebiet reduzieren sollen. Außerdem wurde festgelegt, „Verhandlungen über die gegenseitige Veririinderung von Streitkräften und Rüstungen und damit zusammenhängende Maßnahmen in Mitteleuropa zu führen" und stets den „Grundsatz der unverminderten Sicherheit aller Beteiligten" zu wahren.3 1 Aber auch nach der Vereinbarung des Verhandlungsgegenstandes fährt die NATO fort, an ihren früheren, nichtakzeptierten Formulierungen festzuhalten 32 , und vor allem, Vereinbarungen zu verlangen, die das militärische Gleichgewicht einseitig spürbar zugunsten der NATO verändern sollen. Im Kern wiederholen die NATO-Staaten die Argumente, mit denen die Völkerbundmächte in den zwanziger Jahren der Abrüstung entgehen wollten. Diese führten alle möglichen für jede von ihnen speziellen ungünstigen Umstände ins Feld, die angeblich Ausnahmen von der Abrüstung erforderten. Die Sowjetunion ging mit ihrem Abrüstungsvorschlag von 1928 dagegen davon aus, daß die damalige Rüstung den Sicherheitsinteressen der Staaten im ganzen entsprach und daß nur eine Abrüstung nach gleichen Proportionen für alle die gleiche Sicherheit, aber auf niedrigerem Rüstungsniveau, das einen Kriegsausbruch erschweren würde, aufrechterhalten konnte. Die beiden Grundpositionen stehen sich auch in Wien gegenüber. Die NATO-Staaten erklären, daß ihre Sicherheit nicht gewährleistet sei und daß deshalb die Staaten des Warschauer Vertrages in ungleich höherem Maße (fast das dreifache) abrüsten müßten. Die sozialistischen Staaten haben gemeinsam die Grundposition der Sowjetunion fortentwickelt und gehen davon aus, daß der Rüstungsstand seit Jahren den Sicherheitsvorstellungen der Beteiligten entsprochen hat, der ein ungefähres militärisches Gleichgewicht ausdrückt. Gleiche Sicherheit heißt also das Kräftegleichgewicht erhalten, aber — nach gleichen Proportionen — den Rüstungsstand und die Stärke der Streitkräfte so vermindern, daß ernste Erschwernisse für den Ausbruch eines Krieges entstehen.
31 Sicherheit u n d friedliche Zusammenarbeit in Europa. D o k u m e n t e 1972 — 1 9 7 5 , a. a. O., S. 1 7 2 / 1 7 3 3 2 E b e n d a , S. 2 4 2 , 3 0 3 , 4 2 2
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Seit fast fünf Jahren unterbreiten die an den Verhandlungen beteiligten sozial istixhen Staaten Vorschläge, die davon ausgehen, daß die Sicherheit keines Staates beeinträchtigt wird, daß alle vorgesehenen Teilnehmer künftiger Vereinbarungen ihre Streitkräfte und Rüstungen reduzieren und daß mit Ausnahme der Seekriegsflotten alle Waffengattungen und vor allem die Raketen und Kernwaffen von der Reduzierung erfaßt werden. 33 Bisher sind in Wien keine Vereinbarungen zustandegekommen. Selbst dem Vorschlag der sozialistischen Länder, die seit Jahren ihre Streitkräfte nicht vergrößert haben, für die Dauer der Verhandlungen keine Erhöhung der Truppenstärken und Rüstungen vorzunehmen, haben die imperialistischen Teilnehmer abgelehnt. Eine solche Übereinkunft, die selbst noch keine Abrüstungsmaßnahme darstellte, wäre eine Demonstration guten Willens gewesen und könnte auf militärischem Gebiet entspannend wirken. Statt dessen erhöht die N A T O sowohl ihre Truppenstärke als auch die Rüstungen in Mitteleuropa. Bis zu wirklichen Abrüstungsschritten im Zentrum Europas scheint noch ein weiter Weg zu sein. Er wird erst dann begehbar, wenn die NATO-Staaten zu den realistischen Verhandlungsgrundlagen zurückkehren, die in den Vorbereitungskonsultationen in der ersten Hälfte des Jahres 1973 gelegt worden sind. Die Geschichte des Kampfes um die Abrüstung, auch um die teilweise und allmähliche Abrüstung in Mitteleuropa zeigt, daß die Abrüstung eines der kompliziertesten Gebiete der Beziehungen, des Kampfes zwi-' sehen Sozialismus und Imperialismus um die Durchsetzung der friedlichen Koexistenz von Staaten mit unterschiedlicher Gesellschaftsordnung ist. Die bisherigen Ergebnisse der politischen Entspannung in Europa und der Rüstungsbegrenzung und Abrüstung auf einigen Gebieten der Massenvernichtungswaffen zeigen zugleich, daß bei realistischem Herangehen aller Seiten Übereinkünfte möglich sind. Wie aus diesem Blick auf einige Seiten aus der Geschichte des Kampfes um Abrüstung im Zentrum Europas hervorgeht, hat der Sozialismus in seinem sechzigjährigen Kampf um Frieden und Sicherheit ein gewaltiges Potential an Friedensideen und Friedensaktionen und an 3 3 Z u m bisherigen Verlauf der Wiener V e r h a n d l u n g e n vgl. Istorija vneünej politiki S S S R U d a n i e vtoroe, pererabotannoe i d o p o l n e n n o e , toro vtoroj 1 9 4 5 - 1 9 7 5 gg., M o s k a u 1 9 7 6 , S . 5 4 3 ff.; O . Bartel, W o r a u f es in W i e n a n k o m m t . In: „ h o r i z o n t " 3 7 / 1 9 7 7 , S. 2 1
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Erfahrungen der Völker und Regierungen bei ihrer Verwirklichung hervorgebracht, das sein eigenes Gewicht im Ringen um die friedliche Koexistenz hat. Man kann gewiß sein, daß die realistischen Ideen des Sozialismus zur militärischen Entspannung in Mitteleuropa ebenso materielle Gestalt annehmen werden wie die Ideen zur politischen Entspannung, wenn die Völker, wenn alle friedliebenden und alle einsichtigen Kräfte sich für ihre Verwirklichung einsetzen und die entspannungsfeindlichen Kräfte zum Einlenken zwingen.
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J. Kuczynski
Rüstung und Wirtschaft
Nach den Berechnungen des Stockholmer Internationalen Friedensforschungsinstituts (SIPRI) liegen die Rüstungsausgaben der europäischen NATO-Staaten heute höher als je in den letzten zwanzig Jahren. 1976 waren sie zu festen Preisen um 60 Prozent größer als 1956. Gleichzeitig stellen wir fest, daß die Arbeitslosigkeit in denselben Ländern heute höher ist als in irgendeinem der vergangenen zwanzig Jahre. Weiter: Das Land der NATO, das die höchsten Rüstungsausgaben sowohl in absoluten Zahlen wie auch gemessen am Bruttosozialprodukt hat, die Vereinigten Staaten von Amerika, weist unter den sechs größten imperialistischen Ländern auch die prozentmäßig größte Arbeitslosigkeit auf. Ferner: Die zivile Industrieproduktion dieser Länder erreichte 1976 trotz gestiegener Bevölkerung noch nicht den vorangehenden Höhepunkt des Jahres 1973, die Rüstungsausgaben aber lagen unter Ausschaltung der Inflation um acht Prozent höher. Ganz offenbar haben sich die Beziehungen zwischen Rüstungs- und Wirtschaftsgestaltung, die sich seit Beginn dieses Jahrhunderts im Stadium des Imperialismus entwickelt hatten, verändert. Niemand bezweifelte vor dem zweiten Weltkrieg, daß eine stärker steigende Rüstung zwar natürlich längerfristig einen Krieg auslösen, kurzfristig aber der Wirtschaft einen Aufschwung geben und die Arbeitslosigkeit vermindern würde. Die Ursache für diese Wandlung der Beziehungen ist, daß die Produktivität beziehungsweise Destruktivität in der Rüstungswirtschaft pro Beschäftigten enorm gestiegen ist und sich entsprechend die Qualifikation der in der Rüstungsindustrie Beschäftigten ganz außerordentlich erhöht hat, während ihre Zahl relativ stark zurückging. Wie wenig diese neuen Beziehungen zwischen Rüstungswirtschaft und allgemeiner Wirtschaftsentwicklung bekannt sind, zeigt sich sehr deutlich nicht nur darin, daß die Metallarbeitergewerkschaften in den U S A aus Furcht vor Arbeitslosigkeit den Vietnamkrieg in Resulutionen voll unterstützt haben, sondern in der jüngsten Vergangenheit auch in 20
folgendem: Im März 1976 richteten 16 Betriebsratsvorsitzende beziehungsweise Stellvertreter aus neun namhaften BRD-Rüstungsfirmen eine Denkschrift an die Bundesregierung, in der sie indirekt erhöhte Rüstungsaufträge und offen die Lockerung der Restriktionsbestimmungen für Rüstungsexporte forderten. Der Kernsatz der Resolution lautet: „Genau wie die Soldaten haben auch die Arbeiter und Angestellten dieser Rüstungsindustrie ein Anrecht auf soziale Sicherheit, das heißt auf einen gesicherten Arbeitsplatz. Daraus erwächst dem einzigen Nachfrager, dem Bund, auch eine Fürsorgepflicht. Wenn der Bund vorübergehend die Kapazitäten nicht auslasten kann, sollte der Bund aus seiner Fürsorgepflicht heraus die Hereinnahme von Füllaufträgen aus Nichtspannungsgebieten zulassen, wobei der Begriff .Nichtspannungsgebiet' nicht mehr so eng ausgelegt werden dürfte wie in der Vergangenheit." Ja, im September 1976 schlössen sich die betreffenden Betriebsräte zu einem „Arbeitskreis" zusammen, um Protestaktionen gegen Rüstungsexportbeschränkungen durchzuführen. Man muß also endlich Klarheit darüber schaffen, daß unter den heutigen Wirtschaftsverhältnissen auf Grund der Wandlungen der Technik die Rüstung nicht Arbeit sondern Arbeitslosigkeit bringt. 1937 sagten wir: Hitler hat sechs Millionen Arbeitslosen Arbeit verschafft, aber sie müssen begreifen, daß sie nur für ihren eigenen Tod in einem Weltkrieg arbeiten sollen. Heute, 1977, können wir sagen, daß die Rüstungen in den großen kapitalistischen Ländern 16 Millionen Arbeiter auf die Straße geworfen haben. Der Arbeitsplatz in der Rüstungsindustrie ist heute im Durchschnitt doppelt und dreifach so teuer wie in der Zivilindustrie, und da der Profit in der Rüstungsindustrie ebenfalls doppelt und dreifach so hoch wie in der Zivilindustrie ist — selbst eine Überprüfung auf Grund der veröffentlichten Profite ergibt nach Untersuchungen des amerikanischen Ökonomen Weidenbaum für die U S A ein Plus von 70 Prozent für Rüstungsgegenüber Zivilprofiten bei vergleichsweiser Größe des Kapitals —, so gehört die Rüstungsindustrie zu den kapitalintensivsten und am wenigsten Arbeitsplätze bietenden Industrien. Professor Seymour Melman von der Columbia Universität, John Henderson und andere haben entsprechende Untersuchungen darüber gemacht und festgestellt, daß die Zivilindustrie pro eine Milliarde Dollar etwa doppelt so viel Arbeitsplätze gibt wie die Rüstungs21
Industrie. Auch das Pentagon selbst bestätigte diese Berechnungen, indem das ihm angeschlossene Office of Economic Adjustment feststellte, daß es für jeden direkt im Rüstungssektor Beschäftigten und hier nicht mehr Benötigten zwei Arbeitsplätze in seinem Zivilsektor bereitstellen konnte. Aus alledem ergibt sich folgendes: Selbstverständlich ist der Hauptgrund, warum wir für Abrüstung sind, heute wie ehedem, daß jede Rüstung eine ständige Kriegsgefahr bedeutet V o m wirtschaftlichen Standpunkt allein gesehen, gilt es jedoch festzustellen, daß bereits die Abschaffung der nuklearen Waffen, daß bereits die Rückkehr zu den sogenannten konventionellen Waffen der Rüstung ihre neueste ökono-. mische Eigenschaft, Arbeitslosigkeit zu schaffen, nehmen würde. In der ersten Nummer des Journal of Economic History dieses Jahres findet sich ein ebenso brillanter wie zynischer Artikel von Earl J. Hamilton, betitelt „The role of war in modern inflation", in dem dieser völlig richtig vom ökonomischen Standpunkt aus feststellt, daß der einzig mögliche Weg, um eine Inflation durch Kriegsführung zu verhindern, die Finanzierung des Krieges ausschließlich aus Steuern sei. Hamilton ist jedoch pessimistisch hinsichtlich dieses Weges, weil, wie er formuliert, „gebildete Menschen schnell einsehen würden, daß die Kriegskosten zu groß wären und die wahrscheinlichen Vorteile zu klein, u m einen Krieg lohnend erscheinen zu lassen, und Friedensschluß verlangen würden". Das aber wäre eine seiner Ansicht nach unsinnige Konstruktion. Und um den ganzen Unsinn einer solchen Hypothese klar zu machen, greift er auf den amerikanischen Befreiungskrieg gegen die englische Kolonialmacht im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts zurück und bemerkt: „Wir alle sollten das Elend bedauern, das die inflationistische Finanzierung unserer Revolution, die
das Beispiel
für
die
nachfolgenden
Kriege
abgegeben
hat,
verursacht h a t Doch wenn es damals keine Inflation gegeben hätte, könnten wir heute nicht den 200. Jahrestag unserer Unabhängigkeit in den USA feiern, denn wir wären weiter Untertanen Georg I I I . geblieben und (der Verräter -
J. K.) Benedikt Arnold, nicht George Wa-
shington wäre der Held unserer gescheiterten Rebellion." ökonomisch völlig richtig gedacht. Kriege müssen im Kapitalismus auf Grund des entwickelten Kreditsystems und der entsprechend gewaltigen Möglichkeiten für den kapitalistischen Staat, Schulden zu machen, zur
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Inflation führen. Und je weiter sich der
Kapitalismus
entwickelt, desto größer sind die Verschuldungsmöglichkeiten des Staates, desto intensiver die Kriegsführung, desto verbreiteter und größer im allgemeinen die Inflation. Neu jedoch in der gegenwärtigen Situation ist, daß bereits die Rüstungskosten so groß sind, daß sie auch ohne Krieg schon zur Inflation führen. Man muß zum Beispiel folgendes sehen: In den USA betrugen das militärische Personal 1918 2 897 167, 1920/29 zwischen 247 011 (1923) und 386 542 (1921) schwankend, 1930/39 zwischen 243 845 (1933) und 334 473 (1939) schwankend, dagegen 1945 12 123 000, 1950 3 345 000, 1960 3 526 000, 1970 4 026 000,1975 3 112 000. Nach dem ersten Weltkrieg sank die Zahl der Militärs um rund neunzig Prozent. Jedoch in keinem Jahr nach dem zweiten Weltkrieg sank ihre Zahl auch nur auf das Niveau der höchsten Zahl während des ersten Weltkrieges. Natürlich ist die Bevölkerung seit dem ersten Weltkrieg gestiegen. Sie ist gegenwärtig rund doppelt so groß wie 1918 — das heißt aber doch, daß das militärische Personal pro Kopf der Bevölkerung heute, 1976— wir können sagen, mitten im Frieden — mehr als halb so groß wie am Höhepunkt des ersten Weltkrieges ist. Bedenken wir dann noch die enorm gestiegenen Kosten der Rüstung, dann wird verständlich, daß nach dem zweiten Weltkrieg die militärischen Ausgaben zu einer ständigen Steigerung der Staatsschulden und damit zu einer ständigen Tendenz der Inflation, die sich seit den sechziger Jahren sehr klar durchsetzte, führen mußten. Man kann nämlich sehr gut die Entwicklung der Zahl der Militärs zu einigen Zahlen über die Entwicklung der Staatsschuld in den USA in Parallele setzen: Staatsschuld der USA in Milliarden Dollar 1920 24,3 1930 16,2 1925 20,5 1935 28,7 Nach dem Krieg sank die Staatsschuld um ein Drittel. Erst infolge der schnellen Erhöhung der Ausgaben zur Bekämpfung der Krise stieg sie wieder an. Die Entwicklung in der Folgezeit zeigte, daß sie während des zweiten Weltkrieges steil anstieg und nach dem zweiten Weltkrieg bis in die Gegenwart ständig weiter heraufging. Gegenwärtig beträgt die Staatsschuld mit rund 600 Milliarden Dollar mehr als das Doppelte 23
ihrer Höhe im letzten Kriegsjahr 1945, als sie 259 Milliarden Dollar ausmachte. Es ergibt sich: War es seit dem letzten Viertel des 18. Jahrhunderts üblich, daß Kriege zur Inflation führten, so bedeutet nach dem zweiten Weltkrieg bereits die Rüstung allein, auch im Frieden, Inflation. Das heißt, rein wirtschaftlich gesehen sind die Wirkungen der Rüstung heute vielfach schon so schädlich wie früher nur der Krieg selbst. Selbstverständlich wird, worauf Andrej Gromyko sehr deutlich auf der X X X I . UNO-Vollversammlung hingewiesen hat, auch die Wirtschaft der sozialistischen Länder von den Anstrengungen, die ihr zur Verteidigung des Sozialismus aufgezwungen werden, betroffen. Selbstverständlich wird in allen sozialistischen Ländern das Steigerungstempo der Lebenshaltung, wie allgemein der zivilen Produktion, durch die Erfordernisse der Verteidigung beeinträchtigt. Der entscheidende Unterschied in den Auswirkungen der Rüstungsproduktion in den kapitalistischen und in den sozialistischen Ländern ist, daß sie in den kapitalistischen Ländern zu Krisen und zu Rückschlägen in der Lebenshaltung der Werktätigen, in den sozialistischen Ländern nur zu Hemmungen auf dem Weg des Fortschritts führen. Aber die Hemmungen sind sehr beachtlich, wenn man bedenkt, daß wir ohne diese Ausgaben heute die 4-Tage- oder 35-Stundenwoche hätten, daß wir dem Kommunismus, wesentlich näher wären dadurch, daß Telefon, Stadtverkehr, Gas und Elektrizität heute kostenlos für den Verbraucher wären und daß wir uns dem Stadium nähern würden, in dem keine Mieten mehr zu zahlen wären. Diese Aufzählung der wirtschaftlichen Nachteile der Verteidigung für die sozialistischen Länder macht klar, warum wir uns nicht nur für die Erhaltung des Friedens, sondern auch aus rein wirtschaftspolitischen Gründen mit all unserer politischen und moralischen Kraft für die möglichst vollständige Abrüstung einsetzen, einsetzen müssen.
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H. Meißner
Sozialökonomische Bedingungen und Konsequenzen der Abrüstung 1. Die volkswirtschaftliche
Rolle der
Rüstungsproduktion
In der Wirtschaftsliteratur der kapitalistischen Länder herrscht der Standpunkt vor, daß die Rüstungsproduktion eine positive volkswirtschaftliche Bedeutung habe. S o heißt es in dem Buch „Kriegsgeschäft" des einflußreichen britischen Ökonomen J. Thayer: „Rüstungen können als Mittel zur Ausbilanzierung internationaler Verrechnungen und zur Herbeiführung der Wohlfahrt dienen. Sie können Menschen aller Berufe Arbeit sichern (und tun das). Sie schaffen Reichtümer für den Unternehmer, den Kaufmann, den Staat; sie fördern die ökonomische und soziale Stabilität, indem sie ununterbrochen ein hohes Produktionsniveau aufrechterhalten." 1 Einer der ranghöchsten Beamten des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, Siegfried Mann, schrieb: „Die Forderung der Streitkräfte nach überlegenem Gerät fördert die Suche nach modernster Technologie; Rüstungsgüter sind in der Regel Produkte der Spitzentechnologie. Durch Übermittlung und Umsetzung von 'Know-how' aus dem Rüstungssektor in die private Wirtschaft kann das Wirtschaftswachstum der Volkswirtschaft entscheidende Impulse erhalten . . . " 2 Es gilt, die hier formulierte und sehr verbreitete theoretische und wirtschaftspolitische Position auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen. Dabei zeigt sich, daß in der Tat rasches Ansteigen der Rüstungsproduktion und sprunghafte Erhöhung der Staatsausgaben für militärische Zwecke zunächst zur Erweiterung der industriellen Kapazitäten, zur Steigerung der Beschäftigung und damit zu einer gewissen Ausdehnung des inneren Marktes führen, wovon multiplikative Wirkungen auf die Gesamtwirtschaft ausgehen. Dies kann nicht nur in Friedenszeiten bei Einführung neuer Waffensysteme eintreten.
1
Z i t i e r t in: N e u e Zeit, Nr. 33. 1976, S . 4
2
S. M a n n ; B e d e u t u n g der W i r t s c h a f t für die äußere S i c h e r h e i t u n d S i c h e r h e i t s p o l i t i k in: „ W e h r k u n d e " , Nr. 4, 1 9 7 6 , S . 1 7 0
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Aber unter dem Gesichtspunkt des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses und eines langfristig stabilen ökonomischen Wachstums stellt sich diese Art der Stimulierung des Wirtschaftskreislaufes als eine vorübergehende dar, und die Fernwirkungen sind ganz andere, als die oben behaupteten. Rüstungsproduktion — und das bedeutet die Zirkulation von Kapital und der ihm entsprechenden arbeitskräftemäßigen und stofflichen Ressourcen außerhalb der produktiven Sphäre — ist ein Abzug vom gesellschaftlichen Produkt, ist eine Verengung des Reproduktionsprozesses durch nichtproduktiven Verbrauch von Nationaleinkommen. Die für die Rüstungsproduktion aus einer Volkswirtschaft entnommenen Güter und Leistungen werden weder als Produktionsmittel noch als Konsumtionsmittel produktiv wirksam und fallen letztlich aus dem volkswirtschaftlichen Kreislauf heraus. Auch wenn die für Rüstung verausgabten Summen in den Händen ihrer Empfänger — und zwar der Unternehmer wie der Arbeiter — zu Einkommen und damit zunächst als Nachfragesteigerung wirksam werden, gehen die dafür gelieferten Güter und Leistungen nicht in den produktiven Kreislauf ein. Diese Rüstungsgüter (Waffen, Munition, Fahrzeuge usw.) werden auf Kasernenhöfen und Übungsplätzen verschlissen, ohne zur Produktion neuer Werte beizutragen (wie Produktionsmittel) oder der Reproduktion der Arbeitsfähigkeit der Bevölkerung zu dienen (wie Konsumgüter, Gesundheitswesen, Bildungseinrichtungen). Sie gehen der Wirtschaft jeden Landes im buchstäblichen Sinne verloren. Hinzu kommt, daß es sich dabei in der Regel um die modernsten Produktionsmittel, entwickeltsten technischen Verfahren, hochwertigsten Rohstoffe und qualifiziertesten Arbeitskräfte handelt. Die zunehmende Kompliziertheit der Militärtechnik bewirkt auch, daß ihre Entfernung von der Lösung friedlicher Aufgaben immer größer und damit die Möglichkeiten relativ rascher Umsetzung wissenschaftlich-technischer Entwicklungen für friedliche Zwecke immer geringer werden. Der Zusammenhang zwischen Umfang der Rüstungsproduktion und volkswirtschaftlichem Wachstum wird bei einem Vergleich von Staaten mit hohen Rüstungsausgaben und solchen mit geringen Rüstungskosten besonders deutlich. So steht das Wachstumstempo der Produktion in solchen stark militarisierten Ländern wie USA und Großbritannien hinter solchen weniger militarisierten Staaten wie Frankreich und Japan deutlich zurück. Auch die relativ spät einsetzende Militarisierung in der BRD hatte für den Aufschwung der westdeutschen Nach-
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Kriegswirtschaft maßgebliche Bedeutung. Die USA haben in den letzten Jahrzehnten jährlich 7 - 11 % ihres Bruttosozialprodukts für militärische Zwecke ausgegeben. Ihre Investitionen zum Grundkapital betrugen 15 — 17 %. Dagegen betrugen Japans militärische Ausgaben bis vor kurzem weniger als 1 % vom Bruttosozialprodukt, aber seine jährlichen Investitionen im Durchschnitt 33 %. Die Folge davon war, daß die jährlichen Zuwachsraten der japanischen Volkswirtschaft mehr als doppelt so groß waren wie die der US-Wirtschaft. In Japan stieg die industrielle Produktion von 1 9 6 0 — 1971 um 322%, in den USA dagegen nur um 74 %.3 Daß die Rüstungsproduktion auch das Problem der Massenarbeitslosigkeit nicht löst, zeigt sich u. a. daran, daß die Arbeitslosigkeit während der Krise 1974/75 in den am meisten militarisierten Ländern größer war als in den wenigen militarisierten. So betrug in dieser Krisenperiode der Anteil der Militärausgaben der USA am Bruttosozialprodukt 6 %, die Zahl der Arbeitslosen war 8,5 Mio = 9,2 % der Arbeitskräfte. In Großbritannien lagen die Militärausgaben bei 5 % und Arbeitslose gab es 1,3 Mio = 5 % der Arbeitskräfte. Dagegen hatte Japan 1 % Rüstungsausgaben und 1,3 Mio Arbeitslose = 2,5 % der Arbeitskräfte. Diese volkswirtschaftlich negativen Wirkungen der Rüstung lassen sich aber erst in ihrer vollen Tragweite ermessen, wenn man sich den Umfang der auf diese Weise gleichsam ins Wasser geworfenen Teile des Kapitals der Nationen (Marx) vor Augen führt. Während 1937 — also bei Vorbereitung des II. Weltkrieges — in den führenden kapitalistischen Ländern die Rüstungsausgaben pro Kopf der Bevölkerung 35 Dollar betrugen (im faschistischen Deutschland 58,8 Dollar), liegen sie heute bei 377 in den USA, 255 in der BRD, 209 in Frankreich und 178 in Großbritannien. 4 Und während es früher entsprechend der 3
Vgl. W. A b o l t i n , W e t t r ü s t u n g r u i n i e r t die W i r t s c h a f t , A b r ü s t u n g b r i n g t Prosperität in: ö k o n o m i s c h e u n d soziale Folgen der Abrüstung. Pahl-Rugenstein Verlag, K ö l n 1974, S. 103 - 104
4
Vgl. R. Farmasjan, Gegenwart u n d Militarismus In: W e l t w i r t s c h a f t u n d internationale Beziehungen, Moskau N r . 6 / 1 9 7 1 ; „ Z u r S i c h e r h e i t der Bundesrepublik Deutschland u n d zur E n t w i c k l u n g der Bundeswehr" W e i ß b u c h 1 9 7 3 / 7 4 , Deutscher Bundestag, B o n n , S. 2 1 9
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jeweiligen internationalen Situation ein Auf- und Abschwellen der Rüstungsproduktion gab, ist das jetzt erreichte unerhört hohe Niveau der Rüstungsausgaben zu einer Dauererscheinung geworden. Nach Angaben der UNO erreichten die offiziellen Aufwendungen für Rüstung und Verteidigung in der Welt im Jahre 1970 203 Mrd. Dollar. 5 Davon entfielen allein auf die 14 NATO-Staaten 104 Mrd., 1972 erreichte die NATO 114 Mrd. Dollar. 6 Es ergibt sich, daß die offiziellen Ausgaben für militärische Zwecke in der Welt gegenwärtig bei etwa 350 Mrd. Dollar liegen. Die Militärausgaben der USA belaufen sich 1977 auf etwa 112 Mrd. Dollar und sind für 1978 mit 118 Mrd. Dollar geplant Bis 1985 wollen die USA diese Summe auf 200 Mrd. steigern.7 Gegenwärtig sind im Weltmaßstab etwa 50 Mio Menschen für militärische Zwecke eingesetzt und damit produktiver Wirksamkeit entzogen. Darunter sind ca. 400.000 Wissenschaftler, die an Forschungs- und Entwicklungsarbeiten für die Rüstung beschäftigt sind. Dabei ist besonders absurd, daß die Entwicklungsländer für militärische Zwecke fast 16 Mrd. Dollar pro Jahr aufwenden, was etwa 50 % des Gesamtumfanges ihrer Investitionen ausmacht.8 Selbst wenn man die politischen Gefahren des Wettrüstens ausklammert, weil sie hier nicht direkt zum Thema gehören, offenbart die nüchterne ökonomische Analyse einen solchen Verlust an menschlicher Produktivkraft, eine solche Vergeudung von Gütern und Leistungen und damit eine solche Hemmung des wirtschaftlichen Fortschritts, daß schon allein unter diesem Aspekt die volkswirtschaftliche Rolle der Rüstungsproduktion als unerhörte Belastung der Gesellschaft, als enorme Minderung des objektiv möglichen Wohlstandes und als gewaltiges Hindernis für rasche wirtschaftliche Entwicklung beurteilt werden muß.
5
Vgl. K. Engelhardt, Ö k o n o m i s c h e u n d soziale A s p e k t e der A b r ü s t u n g in: Wirtschaftswissenschaft, Berlin, N r . 5 / 1 9 7 4 , S. 7 1 5
6
V g l . W. A b o l t i n , a. a. O., S. 9 6
7
Vgl. Deutsche A u ß e n p o l i t i k , 1977, N r . 1 1 , S . 2 8 ; Probleme des Friedens u n d des Soziallsmus, 1977, N r . 12, S. 1 7 1 7
8
Vgl. W. A b o l t i n , a. a. O., S. 107
28
2. Die sozialökonomischen
Bedingungen
für
Abrüstung
Unter kapitalistischen Bedingungen ist das Gewinnstreben das treibende Motiv der Produktion. Da Absatz und Finanzierung von Rüstungsproduktion in der Regel durch Staatsaufträge gesichert sind, ist der im Rüstungsgeschäft zu machende Profit relativ geringen Risiken ausgesetzt. Fortsetzung und Steigerung der Rüstungsproduktion liegen also im ökonomischen Interesse einer bestimmten Gruppierung des Kapitals, die auch ihren politischen Einfluß in dieser Richtung geltend macht. Diese Gruppierung hat heute die Form des Militär-IndustrieKomplexes angenommen und sichert sich extrem günstige Verwertungsbedingungen des Kapitals. 9 Eine Analyse des Instituts für Internationale Politik und Wirtschaft zeigt, daß ausgewählte Rüstungskonzerne lediglich ein Eigenkapital von 10% benötigen, während im Durchschnitt aller Kapitalgesellschaften der BRD das Eigenkapital bei 35% liegt. 1 0 Professor Weidenbaum aus USA wies nach, daß die Gewinne der US-amerikanischen Rüstungsmonopole bis zu 70 % über den Profiten vergleichbarer anderer Unternehmen liegen. 11 Und in Anlehnung an die Bemerkung von Karl Marx, daß die englische Hochkirche „eher den Angriff auf 38 von ihren 39 Glaubensartikeln als auf 1/39 ihres Geldeinkommens" verzeiht, 12 wäre es auch heute eine Illusion, angesichts dieser Profitinteressen mit Vernunftgründen und humanistischen Argumenten bei der Monopolbourgeoisie Abrüsiungsbereitschaft herbeiführen zu können. Die wichtigste gesellschaftliche Bedingung für das Entstehen echter Abrüstungschancen bestand und besteht in der Entfaltung einer politischen Kraft, die infolge ihrer sozialökonomischen Struktur objektiv nicht an Rüstung und Rüstungsprofit interessiert ist, deren günstigste Entwicklungsmöglichkeit gesicherter Frieden ist, deren Interessen dadurch objektiv mit den Interessen der überwiegenden Mehrheit der 9 Vgl. M i l i t ä r - I n d u s t r i e - K o m p l e x in der B R D , DWI-Forschungshefte, N r . 2 / 1 9 7 1 10 Vgl. K.?H. Heise, M o n o p o l - P r o f i t im Rüstungsgeschäft in: IPW-Berichte, H e f t 1 / 1 9 7 2 , S. 3 2 f f 11 Vgl. K. Engelhardt, a. a. O., S. 719 12 K . M a r x , V o r w o r t zur ersten Auflage des I. Bandes von „ D a s K a p i t a l " , Dietz Verlag, Berlin 1947, S. 8
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Menschen zusammenfallen und die deshalb in der Lage ist, diese Mehrheit der Menschen für den Kampf um Friedenssicherung und Abrüstung zu gewinnen. Diese Kraft ist die 1917 erstmalig in der Sowjetunion entstandene sozialistische Gesellschaft. Die Existenz des Sozialismus allein genügte jedoch nicht. Er mußte zu einer weltpolitisch wirksamen Kraft heranwachsen, um dem Imperialismus die Akzeptierung der friedlichen Koexistenz und das Eingehen auf die Entspannungspolitik aufzuzwingen. Dieser Prozeß vollzog sich erst nach dem II. Weltkrieg im Zusammenhang mit der Entwicklung des sozialistischen Weltsystems, der Entfaltung der Arbeiter- und Friedensbewegung in den kapitalistischen Ländern und mit der Formierung der antiimperialistischen Bewegungen in den ehemals kolonialen und abhängigen Ländern. Während in den ersten, nach dem II. Weltkrieg geschaffenen Abrüstungsgremien die UdSSR allein vertreten bzw. die sozialistischen Staaten in der Minderheit waren, konnten sie gegen Ende der fünfziger Jahre die Bildung von Organen auf der Grundlage einer paritätischen Zusammensetzung erreichen. Auf den Expertenkonferenzen zur Entdeckung von nuklearen Versuchen (1958) und zur Verhinderung eines Überraschungsangriffs (1958) arbeiteten jeweils 4 bzw. 5 sozialistische und imperialistische Staaten mit. Dem 1959 gebildeten 10-StaatenAbrüstungsausschuß gehörten ebenfalls 5 sozialistische und 5 westliche Staaten an. In dem 1961 geschaffenen Genfer Abrüstungsausschuß sind heute 8 sozialistische, 8 westliche und 15 nichtpaktgebundene und Entwicklungsländer Mitglieder. Im Prozeß dieser Entwicklung konnten u. a. solche Verträge abgeschlossen werden wie der Moskauer Vertrag über das Verbot von Kernwaffenversuchen in der Atmosphäre, im Kosmos und unter Wasser (1963), der Vertrag über die Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen (1968) und die Konvention über das Verbot der biologischen Waffen (1972). In den bilateralen sowjetisch-amerikanischen Verhandlungen über die Beschränkung der strategischen Waffen konnte die UdSSR Abkommen auf der Basis des Prinzips der Gleichheit und der gleichen Sicherheit der beiden Seiten erreichen. Dazu gehören die Abkommen über die Begrenzung der strategischen Offensivwaffen sowie der Raketenabwehrsysteme (1972) und die Verhinderung eines Kernwaffenkrieges (1973). Die in der Entspannungspolitik erreichten Fortschritte, die ihren bis30
herigen Höhepunkt in der Konferenz von Helsinki und der Nachfolgekonferenz von Belgrad haben, machten die schrittweise Einleitung von Abrüstungsmaßnahmen möglich. Wenn man sich vor Augen führt, in welchem Maße die bisherige Menschheitsgeschichte von bewaffneten Konflikten und Auseinandersetzungen begleitet war und wie Mittel und Methoden der gegenseitigen Vernichtung ständig vervollkommnet wurden, so wird die ganze historische Dimension des Abrüstungsvorhabens deutlich. Dabei darf nicht übersehen werden, daß von 1945 — 1974 noch über 100 militärische Aggressionen stattfanden, wovon etwa ein Drittel richtiggehende Kriege waren. An 97 % davon waren ein oder mehrere Staaten der Militärpakte NATO und SEATO direkt beteiligt. 1 3 Ohne Übertreibung kann daher heute gesagt werden, daß sich die Welt gegenwärtig unter dem Aspekt der Kriegsverhinderung und der Perspektiven der Abrüstung in einer Etappe befindet, die einen Wendepunkt darstellt. Die Dialektik von politischer und militärischer Entspannung besteht dabei darin, daß einerseits die internationale politische Entspannung nicht automatisch zur militärischen Abrüstung führt. Sie schafft dafür nur die günstigsten Bedingungen. Aber die Durchsetzung der militärischen Entspannung ist ein selbständiger Prozeß. Andererseits aber ist ohne militärische Entspannung und ernsthafte Einschränkung des Wettrüstens die internationale Entspannungspolitik nicht erfolgreich weiterzuführen. Internationale Entspannung und Fortsetzung des Wettrüstens können nicht längere Zeit parallel verlaufen. 14 Die politische Entspannung — meint man sie ernst und will man sie dauerhaft — muß also durch die militärische Entspannung bis zur Auflösung der Militärblöcke ergänzt werden. Dabei geht es nicht darum — wie eine gewisse Propaganda zu suggerieren versucht—, mittels Abrüstung einseitige Vorteile in der militärischen Konstellation zu erreichen. Die Sowjetunion und die anderen Völker der sozialistischen Staatengemeinschaft haben durch große Anstrengungen das strategische Gleichgewicht hergestellt. Sowjetische
13 A r m e e r u n d s c h a u , H e f t 10, 1 9 7 4 , S. 7 2 / 7 3 14 Vgl. L. I. Breshnew, Rede z u m 3 0 . Jahrestag des Sieges des S o w j e t v o l k e s im Großen Vaterländischen K r i e g in: Neues D e u t s c h l a n d v o m 9. 5. 1975.
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Autoren stellen dazu fest: „Die Existenz eines solchen Gleichgewichts ist eine äußerst wichtige Bedingung dafür, daß Maßnahmen zur Einschränkung des Wettrüstens verwirklicht werden können. Der Kurs der Sowjetunion ist darauf gerichtet — bei Aufrechterhaltung und Gewährleistung der gegenseitigen Sicherheit beider Seiten —, das Niveau des strategischen Gleichgewichts zu senken." 15 Den Weg zu dieser ständigen Senkung des Niveaus des strategischen Gleichgewichts formulierten Politbüro des Z K der KPdSU, Präsidium des Obersten Sowjets und Ministerrat der UdSSR in der „Mitteilung über die Erörterung der Ergebnisse der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa": „Die wichtigsten Forderungen unserer Zeit sind es, eine Einschränkung und schließlich die Einstellung des Wettrüstens zu erreichen und auf dem Wege zur allgemeinen und vollständigen Abrüstung weiter voranzukommen, die militärische Konfrontation auf europäischen Boden abzubauen und auf die Überwindung der Teilung Europas in einander gegenüberstehende Militärblöcke einzuwirken." 16
3. Die sozialökonomischen Folgen der Abrüstung Extreme politische Kräfte stellen oft die Behauptung auf, Kapitalismus sei ohne Rüstungsindustrie nicht möglich. Der Rechtsextremismus schlußfolgert, daß zur Erhaltung des kapitalistischen Systems die Fortsetzung der Rüstungsproduktion nötig sei und das Bemühen um Abrüstung bereits auf die Beseitigung des Kapitalismus ziele. Der Linksradikalismus schlußfolgert, daß der Kampf um Abrüstung eine Illusion sei, weil er sich nicht direkt gegen die Existenz der kapitalistischen Ordnung richte und daß erst nach deren Überwindung Abrüstung möglich sei. Diese Ausgangsthese und ihre unterschiedlichen politisch-ökonomischen Schlußfolgerungen lassen sich bereits auf der Grundlage der ökonomischen Theorie widerlegen. Sowohl die marxistisch-leninistische Reproduktionstheorie wie auch die keynesianische Makroanalyse zeigen, daß und wie kapitalistische Reproduktion funktioniert, ohne 15 E. Primakow, Die politische Entspannung und das Problem der Abrüstung in: IPW-Berichte, Nr. 1/1976, S . 13 16 Vgl. Neues Deutschland, Berlin, 7. 8. 1 9 7 5
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die ständige Abzweigung eines großen Teils des Nationaleinkommens für militärische Zwecke nötig zu haben. Aber auch in der Praxis ist die volkswirtschaftliche Möglichkeit der Abrüstung ohne jede Konsequenz für die kapitalistischen Verhältnisse bereits bewiesen. Während des II. Weltkrieges betrugen die Verteidigungsausgaben der USA 40 % des Bruttosozialprodukts. Von 1945 bis 1946 wurden die Militärausgaben um 80 % gekürzt, was etwa 30 % des Bruttosozialprodukts ausmachte. Von Juni 1 9 4 5 — Juni 1946 wurden über 9 Millionen Soldaten aus den US-Streitkräften entlassen. Umfang und Tempo dieser Rüstungseinschränkung liegen weit über den Vorschlägen, die gegenwärtig im Rahmen einer schrittweisen Rüstungsbegrenzung an den verschiedenen Verhandlungstischen diskutiert werden. Trotzdem blieb in diesen Nachkriegsjahren in den USA die Arbeitslosigkeit unter 4 % der Beschäftigten, die Investitionen verdoppelten sich und die Verbrauchsausgaben der Konsumenten und der öffentlichen Hand stiegen. 17 Boulding konstatierte für diese Zeit sogar weniger als 3 % Arbeitslosigkeit. 1 8 Gleichzeitig konnte das Zahlungsbilanzdefizit der Regierung von 34 Mrd. Dollar im Jahre 1945 in einen Zahlungsbilanzüberschuß von 2 Mrd. Dollar im Jahre 1946 verwandelt werden. Bei alledem konnte ein starker Rückgang der Wirtschaftsaktivität verhindert werden, und es gab lediglich im Jahre 1946 ein Sinken des Bruttosozialproduktes%um 2 %. 1 9 Eine ähnliche Erfahrung gab es nach dem sogenannten Korea-Boom. Am Ende des Koreakrieges hat die EisenhowerRegierung die gesamten Ausgaben für Sicherheit vom II. Quartal 1953 bis zum IV. Quartal 1954 um 14 Mrd. Dollar gesenkt. Dadurch entstand zunächst eine Rezession. „Durch Steuersenkungen und durch die Umkehrung der Politik des teuren Geldes lenkte jedoch die Regierung das Land bald aus der Depression heraus, und die Jahre 1955 und 1956 erwiesen sich als sehr erfolgreiche." 20 17
Vgl. M . L. Weidenbaum, C o u l d t h e U n i t e d States A f f o r d Oisarmement in: The Changing E e o n o m y , New Y o r k 1966
18
K . E. B o u l d i n g , I n t r o d u c t i o n , T h e Deadly Industry, War and the International System i n : Peace a n d t h e W a r I n d u s t r y , 1 9 7 0
19
V g l . S. E. H a r r i s , The Economics of Disarmement i n : C u r r e n t H i s t o r y , 3 3 . Jg. 1 9 5 7
20
S. E. H a r r i s , e b e n d a
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Die Praxis hat also bereits zweierlei erwiesen. Erstens, daß enorme Rüstungseinschränkungen möglich sind, ohne die Systemfrage zu berühren. Und zweitens, daß diese Einschränkungen sogar kurzfristig durchführbar sind, ohne für die Volkswirtschaft grundsätzliche Schwierigkeiten bringen zu müssen. Der bekannte amerikanische Ö k o n o m stellt daher nicht zu Unrecht fest: „Die Kriegsindustrie ist ein viel größerer Teil des politischen Systems als des Wirtschaftssystems." 2 1 Der volkswirtschaftliche Reproduktionsprozeß ist im Gleichgewicht zu halten, wenn eine spürbare Senkung des Rüstungsaufwandes mit einer Steuersenkung und entsprechenden Staatsausgaben für Bildung, Gesundheitswesen, Umweltschutz, Rentenerhöhung usw. verbunden wird. Dadurch würde das Realeinkommen der Steuerzahler gesteigert und die dabei gewonnene Summe für Konsumgüter und Dienstleistungen verausgabt. Dieses Wachstum der Nachfrage schafft die Voraussetzungen für weitere Produktionssteigerungen, weil erhöhter Absatz von Gütern in diesen Industrien auch verbesserte Verwertungsbedingungen des Kapitals sichert Die durch eine solche Umstrukturierung auftretenden Rüstungsschwierigkeiten sind auf jeden Fall geringer als bei einer „normalen" Wirtschaftskrise. Gleichzeitig könnte durch solche Rüstungsbeschränkung das ständige Wachsen der Staatsschulden gestoppt werden und die Möglichkeit ihrer allmählichen Tilgung würde entstehen. Die inflatorische Geldemission könnte eingestellt werden. Durch all das würde die Inflation stark gebremst und die Währungen könnten sich stabilisieren. Auf einen weiteren Zusammenhang machte kürzlich Jürgen Kuczynski aufmerksam. Er ging von der Tatsache aus, „daß die Produktion modernster Waffen im Vergleich zur zivilen Produktion zwar immer mehr kostete, da immer teuerer Rohstoffe und höher qualifizierte Arbeitskräfte, einschließlich immer mehr Ingenieuren und Wissenschaftlern, gebraucht werden, zugleich aber immer weniger Arbeitskräfte im Vergleich zur zivilen Produktion und Zirkulation (Handel, Transport usw.) beschäftigt." 2 2 Er verweist darauf, darauf, daß „heute, wie die Realität der siebziger Jahre zeigt, intensive Aufrüstung steigende Ar2 1 K . E. B o u l d i n g , ebenda 2 2 J. K u c z y n s k i , Die Depression besonderer A r t in der Welt des Kapitals in: Neues Deutschland, Berlin, 6. 4. 1 9 7 7 , S. 5
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beitslosigkeit und eine allgemeine Depression der zivilen Wirtschaft" mit sich bringt. Und seine Schlußfolgerung lautet, „daß Abrüstung und Verwendung der für Rüstung bestimmten Ausgaben für die Förderung der zivilen Produktion und Zirkulation als Gegentendenz gegen die Depression besonderer Art wirken können." Kuczynski zeigte dabei erneut den Zusammenhang zwischen hohen Rüstungsausgaben und relativ niedrigen Investitionsraten (und umgekehrt). Vor allem aber machte er aus amerikanischen Quellen sichtbar, wie unterschiedlich sich die Ausgabe von einer Milliarde Dollar auf die Beschäftigung auswirkt, je nachdem, in welchem Wirtschaftszweig sie angewendet wird. Eine Milliarde Dollar schafft in der Rüstung 35.000 Arbeitsplätze, in der Fabrikindustrie 50 — 60.000, im Baugewerbe 75.000 und im öffentlichen Dienst 130.000. Also: „Je stärker die Abrüstung, desto stärker kann die Beschäftigung steigen." 23 Natürlich geht es nicht nur um eine Neuordnung der Ausgabenpolitik der Staaten. Die heutige Struktur des Rüstungskapitals spielt hierbei eine wichtige Rolle. Sie unterscheidet sich wesentlich von der Zeit vor dem II. Weltkrieg, weil heute nicht mehr einige wenige Konzerne die Hauptträger der Rüstungsproduktion sind, sondern diese in eine größere Zahl von Monopolgesellschaften integriert ist. Der Anteil der Rüstung am Gesamtumsatz liegt z. B. im Fahrzeug- und im Maschinenbau, in der elektrotechnischen und in der chemischen Industrie bei den führenden Rüstungsunternehmen bei 10 %. Nur in einzelnen hochspezialisierten Konzernen erreicht er bis zu 4 0 % . Eine Ausnahme bilden die Flugzeug- und Raketenkonzerne, deren Rüstungsanteil bis zu 9 0 % erreicht. 24 Diese stärker aufgegliederte Struktur des Rüstungskapitals ergibt sich daraus, daß die Produktion unmittelbarer Rüstungsgüter vielfach nur in bestimmten Werkteilen oder Tochtergesellschaften erfolgt, während in den anderen Produktionsstätten des gleichen Konzerns andere Waren hergestellt werden, um auf vielen Märkten präsent und insgesamt sehr flexibel zu sein. Die Auswirkungen dessen ist von zweierlei Art. Für die ökonomischen Aspekte der Abrüstung ist dies von Vorteil, denn die ökonomischen und technischen Umstellungsschwierigkeiten sind für einen Großteil der Konzerne geringer als bei ausschließlicher Spezialisierung auf 23 J. Kuczynski; ebenda 24 Vgl. K. Engelhardt, a. a. O., S. 726 ff
35
Rüstung. Aber da ein bedeutender Teil der Großindustrie dadurch mehr oder weniger stark am Rüstungsprofit partizipert, ist die Basis der ökonomischen Rüstungsinteressen breiter und damit auch der Einfluß auf die politischen Entscheidungen, von denen die Abrüstung letztlich abhängt. Es sind vorwiegend die komplizierten politischen Zusammenhänge — und hier wieder vor allem in der Beziehung zwischen den beiden Weltsystemen — , die Abrüstungsmaßnahmen vorerst schrittweise ansteuern lassen. Was aber die Erreichung allgemeiner und vollständiger Abrüstung für die Welt bedeuten würde, zeigen Berechnungen, wonach für zivile Zwecke sofort verwendbare Güter (Kraftfahrzeuge, Flughafenausrüstungen, Elektronik, Schiffe, usw.) im Werte von etwa 500 Mrd. Dollar verfügbar würden. Die jährlich insgesamt verausgabten ca. 350 Mrd. Dollar wären anders verwendbar. Etwa 25 Mill. heutiger Militärangehöriger und 25 Mill. für militärische Zwecke industriell Beschäftigte könnten produktiv wirksam werden. Die bestehenden Rüstungsbetriebe und militärischen Forschungszentren wären für friedliche Zwecke einsetzbar. Alles dies zusammengenommen würde eine Steigerung der Produktivkräfte und eine Erhöhung des allgemeinen Wohlstandes bedeuten, wie es die Geschichte der Menschheit noch nie gekannt hätte.
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K.-H. Röder
Staatliche Rüstungsfinanzierung und Krise der Staatsfinaa zen im Imperialismus der Gegenwart
Bedingt durch die grundlegenden Veränderungen im internationalen Kräfteverhältnis zugunsten des Sozialismus konnte die Menschheit über mehr ald drei Jahrzehnte vor einem neuen, verheerenden Weltkrieg bewahrt werden. Im letzten Jahrzehnt konnten die Sowjetunion und die mit ihr verbündeten Staaten der sozialistischen Gemeinschaft gemeinsam mit allen dem Frieden und dem Fortschritt in der Welt dienenden Kräften in den internationalen Beziehungen eine Wende vom kalten Krieg zur Entspannung einleiten. Die Kraft des Sozialismus erweist sich stärker als alle gegen ihn gerichteten Aktionen des Imperialismus. Zugleich werden jedoch von den aggressivsten und reaktionärsten Kräften der imperialistischen Länder verstärkte Anstrengungen zur qualitativen und quantitativen Erhöhung des Rüstungspotentials sowie zu einer noch wesentlich umfassenderen Militarisierung der Wirtschaft und aller Bereiche des gesellschaftlichen Lebens unternommen. Diese Aktivitäten finden insbesondere in dem Drängen der aggressivsten imperialistischen Kräfte nach einer neuen Eskalation des Rüstungswettlaufs durch die Entwicklung und Herstellung qualitativ neuer, äußerst gefährlicher Massenvernichtungsmittel ihren Ausdruck. Auf das engste verbunden sind die Bestrebungen der gleichen Kräfte, weitere Hindernisse für effektive Rüstungsbegrenzungen und Abrüstungsmaßnahmen aufzurichten. Diese einander diametral entgegengesetzten Tendenzen in der Weltpolitik widerspiegeln sowohl die wachsende Stärke und bisherigen Erfolge der Kräfte des Sozialismus, des Friedens und des Fortschritts wie andererseits das noch immer bedeutende Potential des Imperialismus und Militarismus sowie die Absichten seiner aggressivsten Kräfte, die Welt wieder in eine Periode der „Politik am Rande des Krieges" zurückzustoßen. Konzentriert sind die Kräfte, die unter Entfachung eines enormen antikommunistischen und besonders antisowjetischen Propagandafeld-
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zuges das Klima für eine neue Stufe des Wettrüstens anheizen, vor allem in den militärisch-industriellen Komplexen, die sich nach dem II. Weltkrieg in allen imperialistischen Hauptländern herausgebildet haben und massiven Einfluß auf die Politik der Regierungen nehmen. Wenn, wie Wissenschaftler des amerikanischen Brooking-Instituts errechnet haben, die USA seit 1945 in 215 Fällen Waffengewalt zur Unterstützung außenpolitischer Aktionen anwandten und in 33 Fällen unmittelbar mit dem Einsatz von Kernwaffen drohten, 1 dann war der militärisch-industrielle Komplex der USA maßgeblich an diesen politischen Entscheidungen der USA-Regierungen beteiligt. Die militärischindustriellen Komplexe in den USA, der BRD und den anderen imperialistischen Hauptländern stellen neue Machtstrukturen im staatsmonopolistischen Herrschaftssystem dar, in denen die aggressivsten, reaktionärsten und militaristischen Kräfte des Imperialismus eng miteinander verflochten sind und mit Hilfe ihres ökonomischen und militärischen Potentials wesentlichen Einfluß auf die Regierungen und Parlamente, die bürgerlichen Parteien und Massenmedien ausüben. Kennzeichnend für die militärisch-industriellen Komplexe ist die „Verschmelzung der Macht und der Interessen seiner Hauptkräfte: der größten Rüstungskonzerne und der mit ihnen liierten Bankmonopole, der militärischen Führungsgremien, der für die Militarisierung zuständigen Staatsorgane sowie der politisch-militaristischen Kräfte des Monopolkapitals." 2 Angesichts des wachsenden Einflusses dieser Machtzentren auf die Politik der imperialistischen Hauptländer können auch bürgerliche Wissenschaftler nicht umhin, von besorgniserregenden Entwicklungen zu sprechen. Fast ausschließlich wird jedoch nur auf die Verbindungen zwischen den Rüstungskonzernen und Militärs hingewiesen, während die Verflechtungen mit dem Staat und seiner Politik ausgeklammert werden. Sie sind aber gerade von entscheidender Bedeutung in diesem Komplex. Die Rüstungskonzerne und die am Rüstungsgeschäft profitierenden Bankmonopole sind an möglichst engen Verzahnungen mit den staatlichen Organen und politischen Entscheidungszentren interessiert, weil ihnen der imperialistische Staat über die Rüstungsaufträge extrem 1 2
Z i t i e r t n a c h : N e u e Z e i t , M o s k a u , N r . 3 / 1 9 7 7 , S. 17 K . E n g e l h a r d t ; K . - H , Heise, M i l i t ä r - I n d u s t r i e - K o m p l e x e i m s t a a t s m o n o p o l i s t i s c h e n H e r r s c h a f t s s y s t e m , B e r l i n 1 9 7 4 , S. 4 0
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hohe Monopolprofite und einen von der Wirtschaftskonjunktur unabhängigen gesicherten Absatz garantiert. Dabei spielen die staatlichen Zuwendungen für Forschung und Entwicklung in der Rüstungsindustrie eine besondere Rolle, da nach Schätzungen die Rüstungsproduktion etwa zehnmal so wissenschaftsintensiv ist wie die Produktion für den zivilen Bereich. Über die Höhe der Rüstungsprofite in den U S A heißt es selbst in bürgerlichen Presseorganen: „Die Gewinne, bezogen auf das Eigenkapital, waren bei den Rüstungsfirmen fast dreimal so hoch wie im Durchschnitt der US-Industrie." 3 Als staatliche Organe nehmen die Verteidigungsministerien der imperialistischen Länder in den militärisch-industriellen Komplexen eine Schlüsselstellung ein. Das ökonomische Potential, über das das Pentagon, das Verteidigungsministerium der USA, verfügt, kennzeichnet der bürgerliche Politikwissenschaftler Gert Krell mit den folgenden Worten: „Die gesellschaftliche Machtbasis des Pentagon ist unvergleichlich. Verteidigungsminister Laird wies selbst einmal darauf hin, daß seine Behörde mehr als zweimal so viele Menschen beschäftige wie General Motors, Ford, Chrysler, General Electric, Jersey Standard, I B M und U. S. Steel zusammen — mehr als die dreißig größten Firmen insgesamt Ihre Vermögenswerte (um 200 Milliarden Dollar) seien höher als die der 65 größten Industriefirmen zusammengenommen. Das Pentagon vergebe jedes Jahr mehr als 200 000 einzelne Beschaffungsaufträge, . . . an mehr als 100 000 Haupt- und Unterauftragnehmer im ganzen Land." 4 Über die Aktivitäten des Pentagon seit dem Antritt der Carter-Administration heißt es in der Wirtschafts-Zeitschrift „Business-Week": „Unter den Waffenkäufern aus dem Pentagon herrscht das wildeste Börsenspiel der letzten 10 Jahre. In ihren Taschen klingelt gegenwärtig mehr Bargeld, als zu einem beliebigen Zeitpunkt nach 1970, als die erweiterten Anstrengungen in Vietnam ihr Maximum erreicht hatten." 5 Die staatlich garantierten, extrem hohen Rüstungsprofite stellen folglich einen wesentlichen ökonomischen Faktor dar, der das besonders von den U S A forcierte Wettrüsten weiter anheizt. Seinen gefährlichsten Ausdruck findet dieser Zusammenhang gegenwärtig in den Vorbe3
Zitiert nach: Oer Spiegel, Hamburg, Nr. 52/1975, S. 90
4
G. Krell, BUstungsdynamik und Rüstungskontrolle, Frankfurt a. M . 1977, S. 82
6
Zitiert nach: Business Week, N e w Y o r k , 10. Januar 1977
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reitungen zur Herstellung der Neutronenbombe. Bei dieser neuen gefährlichen Massenvernichtungswaffe, von der sich die aggressivsten imperialistischen Kräfte eine „Revolutionierung" des atomaren Krieges versprechen, wird die Fusion der Wasserstoffisotope Deuterium und Tritium zu Helium zur Erzeugung hochenergetischer schneller Neutronen genutzt. Dabei werden etwa 80 Prozent der frei werdenden Energie in Neutronenstrahlung umgewandelt. Die biologische Wirkung schneller Neutronen ist etwa zehnmal höher als die äquivalenter Mengen von Gamma- oder Röntgenstrahlen pro Masseeinheit. Die Wirkung der Neutronenstrahlung wird als vergleichbar mit Milliarden Injektionen hochwirksamer Säuren charakterisiert. Ihre Einwirkungauf das Nervensystem ruft sofortige Handlungsunfähigkeit und den Tod innerhalb weniger Stunden oder Tage hervor. Entgegen den weltweiten Protesten gegen die von ihren Verfechtern zynisch als „sauber" deklarierte Waffe — sie töte „ n u r " Menschen und lasse die Umwelt weitgehend unversehrt — wurde die Finanzierungsvorlage für diese Waffe vom Senat des USA-Kongresses am 14. Juli 1977 gebilligt, so daß es nur noch der Weisung des Präsidenten der USA bedarf, um mit ihrer Produktion zu beginnen. Diese Entscheidungen beinhalten nicht nur eine äußerst gefährliche militärstrategische Konzeption — nach den Worten des Oberbefehlshabers der NATO, des USA-Generals Haig, ist die Neutronenbombe besonders für die Ausrüstung der Streitkräfte in Westeuropa, vor allem der in der BRD stationierten USA-Streitkräfte vorgesehen — sie bedeuten zugleich ein außerordentlich profitables Geschäft für die daran beteiligten Rüstungskonzerne. Während eines der mächtigsten Finanzimperien der USA, die Rockefeller-Gruppe, über die ihr zuzurechnende Boeing-Corporation das Geschäft mit den sogenannten Marschflugkörpern „Cruise Missile" macht, ist die nicht weniger einflußreiche Du Pont-Morgan-MellonGruppe dabei, sich die Superprofite aus der Produktion der Neutronenbombe zu sichern. Denn die Produzenten dieser Waffe werden die von der Du Pont-Morgan-Mellon-Gruppe kontrollierten Rüstungskonzerne Monsanto Company (Kernchemie), Rockwell International (Luft- und Raumfahrt) und Bendix Corporation (Raumfahrt-Elektronik) sein.6 6
40
Vgl. IPW-Berichte, Berlin, N r . 1 2 / 1 9 7 7 , S. 53
Die Monsanto Company war bereits als eines der führenden Unternehmen der Kernchemie an der Entwicklung und Herstellung der Atombomben beteiligt, die Hiroshima und Nagasaki zerstörten. Der heutige Chef dieses Konzerns, C. A. Thomas, war als Regierungsbeauftragter für die Leitung der ersten Atomanlage der USA in Oak Ridge verantwortlich. Er wurde später Berater des Nationalen Sicherheitsrates der USA, jenes Gremiums, das maßgeblich die Außen- und Militärpolitik der USA bestimmt. Der Rüstungskonzern Rockwell International ist einer der Konzerne, die am Vietnamkrieg mit der Lieferung von strategischen Bombenflugzeugen, Düsenjägern und Raketen Riesenprofite einstrichen. Als einer der führenden Rüstungskonzerne der USA steht Rockwell International auch mit an der Spitze jener, die besonders hohe staatliche Mittel für die Forschung und Entwicklung von Rüstungsgütern erhielten: 1976 allein den Betrag von 606 Millionen Dollar. Die enge Verflechtung von Rüstungsindustrie und Politik kennzeichnet auch die im Bereich der Raumfahrt-Elektronik agierende BendixCorporation. Der Finanzminister der USA, Blumenthal, war bis zu seinem Wechsel in die Carter-Administration der Präsident dieses Konzerns. Die staatliche Finanzierung der Rüstungsprogramme, die es den Rüstungskonzernen und den mit der Rüstungsindustrie verknüpften Bankmonopolen überhaupt erst ermöglicht, extrem hohe Profite einzustreichen, findet in den ständig und teilweise sprunghaft ansteigenden Rüstungsausgaben der imperialistischen Länder ihren Ausdruck. Ein bedeutendes Anwachsen der Rüstungsausgaben ist besonders seit Beginn der siebziger Jahre zu verzeichnen, wie die folgende Tabelle zeigt:
41
Tabelle 1 7 Rüstungsausgaben imperialistischer Länder von 1955 bis 1976 NATO-Länder davon Anteil insgesamt Mio U S A USA-Dollar Mio Dollar v. H. 1955 1960 1965 1970 1971 1972 1973 1974 1975 1976
54 61 73 104 104 113 121 135 149
165 270 968 303 963 504 640 093 282
BRD Mio D M 1955 1960 1965 1970 1971 1972 1973 1974 1975 1976
7 383 12 115 19915 22 573 25 450 28 720 31 908 3 5 644 37 589 38 823
40 45 51 77 74 77 78 85 90 99
518 380 827 854 862 639 358 906 948 083
Frankr. Mio F 11 19 25 32 34 37 42 47 55 64
020 162 300 672 907 992 284 705 955 100
Übrige N A T O Länder, Mio Anteil USA-Dollar v. H.
74,8 74,1 70,1 74,6 71,3 68,4 64,4 63,6 60,9
13 15 22 26 30 35 43 49 58
647 890 141 449 101 865 282 187 334
25,2' 25,9 29,9 25,4 28,7 31,6 35,6 36,4 39,1
Großbrit.
Italien Mrd. Lire
Japan Mrd.
Mio Pfd. St. 1 567 1 657 2 091 2 444 2815 3 258 3512 4160 5 165 6 188
Yen
1 1 1 2
551 710 212 562 852 162
2 2 3 3
392 852 104 526
150 163 300 570 669 783 924 1 167 1 312 1 469
Die Übersicht zeigt, daß die U S A als imperialistische Hauptmacht den bei weitem höchsten Anteil an Rüstungsausgaben haben, wobei jedoch der prozentuale Anteil der übrigen NATO-Länder an den Rüstungsaus7
42
Zitiert nach: Die Wirtschaft kapitalistischer Länder.in Zahlen, IPW schungshefte Nr. 4/1977, S. 54
For-
gaben der NATO-Länder insgesamt, also einschließlich der USA, in diesem Zeitraum ständig gewachsen ist. Ein sprunghaftes Ansteigen der Rüstungsausgaben der imperialistischen Länder als Folge der forcierten Rüstungsprogramme ist seit der Mitte der siebziger Jahre zu verzeichnen. In den NATO-Ländern insgesamt stiegen die Rüstungsausgaben allein im Jahre 1976 im Verhältnis zum Jahre 1975 auf 150,3 %, in den europäischen NATO-Staaten sogar um 223,8%. In den USA sind die Ausgaben für die Rüstung von 1975 zu 1976 auf 127,2 % und in der BRD auf 171,7 % gestiegen. Im Jahre 1977 erreichten die Rüstungsausgaben der NATO-Staaten die bisherige Rekordhöhe von umgerechnet 363 Mrd. DM. Auch hier schlucken wie bisher die Rüstungskonzerne der USA angesichts des hohen Ausrüstungsgrades der NATO-Armeen mit Waffen aus den USA den Löwenanteil. Diese enormen Summen für die Rüstung bedeuten, daß jeder Bürger der USA im Jahre 1977 391 Doller und jeder Bürger der anderen NATO-Staaten 1977 durchschnittlich 169 Dollar für die Rüstungsausgaben des Staates zahlte, die über die staatliche Rüstungsfinanzierung zum größten Teil den Rüstungskonzernen und Bankmonopolen zuflössen. Sehr deutlich spiegeln sich die Aktivitäten der Kräfte der militärischindustriellen Komplexe auch in den geplanten Rüstungsausgaben der imperialistischen Länder für 1978 wie auch für die in Vorbereitung befindlichen langfristigen Rüstungsprogramme für die achtziger Jahre wider. USA-Präsident Carter, der im Wahlkampf den Bürgern der USA eine Senkung der Rüstungsausgaben um 5 bis 7 Mrd. Dollar versprochen hatte, legte mit dem für das im Oktober 1978 beginnende Finanzjahr einen Haushaltsentwurf vor, der bei einem Gesamtetat der Staatsausgaben von 500 Mrd. Dollar Rüstungsausgaben in Höhe von 126 Mrd. Dollar und damit eine neue Rekordhöhe vorsieht. In diesem Rüstungsetat für das Finanzjahr 1978 sind allein 12 Mrd. Dollar für die Forschung und Entwicklung neuer Waffensysteme und Geräte vorgesehen. Wie das Pentagon offiziell erklärte, sollen mit dem höheren Rüstungsetat mehr als 100 Systeme von Waffen und anderen militärischen Ausrüstungen, darunter neue Varianten von Flügelraketen, 26 Typen von Kriegsflugzeugen und ein neues Marineprogramm finanziert werden. 1979 sollen die Rüstungsausgaben der USA auf 134, 1980 auf 145, 1981 auf 156 und 1982 auf 166 Mrd. Dollar emporschnellen.
43
Die gesteigerten Aktivitäten besonders des militärisch-industriellen Komplexes der U S A zeigen sich vorrangig auch in dem Auftreten der USA-Regierungsvertreter in den NATO-Gremien. Auf Betreiben der U S A und besonders aktiv unterstützt durch die B R D faßten die NATO-Gremien noch Ende 1977 eine Reihe von Beschlüssen zur weiteren Verstärkung des Rüstungspotentials der N A T O . Dabei handelt es sich sowohl um ein kurzfristiges Programm für die Zeit von 1979 bis 1984, das nach Erklärungen des USA-Verteidigungsministers Brown für die U S A zusätzliche Rüstungsausgaben in Höhe von 56 Mrd. Dollar vorsieht, wie um ein längerfristiges Programm für die Jahre bis 1990. Das Ziel beider Programme besteht darin, das nukleare und das mit konventionellen Waffen ausgerüstete Potential der N A T O bedeutend zu verstärken. Zu diesem Zweck sollen im Rüstungshaushalt der U S A für 1979 die Mittel für die in Westeuropa stationierten Streitkräfte von 41,5 auf 46,8 Mrd. erhöht werden. Im Rahmen dieses Programms sind u. a. die Entwicklung einer Flügelrakete im Überschallbereich, für die aus dem Staatshaushalt 8,4 Mrd. Dollar bereitgestellt werden sollen, sowie die Produktion des neuen US-Panzers „ X M — 1 " vorgesehen, den das Verteidigungsministerium der U S A in einer Stückzahl von 3 300 für 4,7 Mrd. Dollar aus dem Staatshaushalt kaufen will. Tabelle 2 8 Direkte Militärausgaben der USA im Ausland nach Ländern in Mio Dollar darunter in: Ausgaben N A T 0 BRD
Japan
Süd-
Süd-
korea
Vietnam land
Thai
insges.
Ländern
1S65
2 952
1 575
714
469
97
188
70
1966
3 764
1 663
770
634
160
408
183
1967
4378
1 772
837
726
237
564
286
1968
4 535
1 754
878
781
302
556
318
1969
4 856
1 852
948
880
364
576
264
1970
4855
1 952
1081
918
324
527
226
1971
4819
2118
1 265
869
308
515
193
1972
4 759
2 308
1 380
839
266
313
215
1973
4 620
2 470
1 478
822
193
170
221
1974
5 065
2 631
1 542
746
174
213
215
8
44
Ebenda, S. 161
Während sich in früheren Jahren einige NATO-Staaten noch gegen die Forderungen der USA und der BRD nach höheren Rüstungsausgaben gesträubt hatten, stimmten auf der NATO-Tagung im Dezember 1977 alle Staaten des NATO-Paktes diesen Forderungen zu. Unter anderem wurde beschlossen, daß jedes NATO-Land seine Rüstungsausgaben jährlich um mindestens drei Prozent zu steigern hat, was unter Berücksichtigung der Inflationsrate eine reale Erhöhung der Rüstungsausgaben bis zu 15 Prozent bedeutet. Bei der Unterstützung des von den USA forcierten Wettrüstens spielen die militaristischen Kräfte der BRD eine führende Rolle. Die Vertreter des militärisch-industriellen Komplexes der BRD agieren innerhalb der westeuropäischen NATO-Staaten als Hauptbefürworter für höhere Rüstungsausgaben und den Ausbau des militärischen Potentials. Die Bundeswehr der BRD hat mit fast 500 000 Mann ihre bisher höchste personelle Stärke erreicht und stellt heute die stärkste konventionelle Streitmacht Westeuropas dar. Verbunden mit dem Aufbau der Bundeswehr ist der Ausbau des rüstungswirtschaftlichen Potentials der BRD durch eine gezielte staatliche Politik. Es entstanden in der BRD bedeutende Rüstungsmonopole, die im zunehmenden Maße danach drängen, nicht nur auf den westeuropäischen Markt, sondern auch auf die Märkte in anderen Kontinenten und selbst in den USA vorzudringen. Die BRD zählt bereits heute zu den führenden waffenexportierenden imperialistischen Ländern. Der Waffenexport der BRD stieg von 102 Mio Dollar 1965 auf 189 Mio Dollar 1970 und 226 Mio Dollar 1972. Im Jahre 1974 betrug er 223 Mio Dollar (im Vergleich die USA: 1965 1490 Mio Dollar, 1970 3120 Mio Dollar, 1972 4100 Mio Dollar und 1974 4160 Mio Dollar). 9 Unter dem starken Druck der USA und des militärisch-industriellen Komplexes in der BRD selbst weisen die staatlichen Ausgaben für die Rüstung in der BRD eine besonders steigende Tendenz auf. Das BRD-Verteidigungsministerium plant als Bestandteil des von den aggressivsten Kräften der NATO betriebenen Wettrüstens für den Zeitraum bis 1988 Beschaffungen in Höhe von 100 Mrd. DM. 1 0 Davon sollen allein 15,5 Mrd. DM auf den Kauf von 322 Mehrzweckkampf9
10
E b e n d a , S. 1 4 9 ; v g l . a u c h : W . K l a n k , I m p e r i a l i s t i s c h e M o n o p o l e f o r c i e r e n R ü s t u n g s e x p o r t e in d i e E n t w i c k l u n g s l ä n d e r , I P W - B e r i c h t e N r . 3 / 1 9 7 7 , S. 5 1 f f . v g l . W i r t s c h a f t s w o c h e , D ü s s e l d o r f , v o m 4 . M ä r z 1 9 7 7 , S. 2 7
45
flugzeugen vom Typ „Tornado" entfallen. 4,0 Mrd. DM sollen für 6 Fregatten des Typs 122, 2,1 Mrd. DM für 420 Flakpanzer vom Typ „Gepard" und 2,0 Mrd. DM für 140 Erd-Kampfflugzeuge des Typs „Alpha Jet" aus dem Staatshaushalt aufgebracht werden.11 Diese enorme Erhöhung der Ausgaben für die Rüstung spiegelt sich bereits im Staatshaushaltsplan der BRD für das Jahr 1978 wider. Der Etat umfaßt einen Gesamtbetrag von 188,6 Mrd. DM und weist damit eine Steigerung gegenüber 1977 um 17,3 Mrd. DM auf. Die erhöhten Ausgaben betreffen vor allem den Rüstungshaushalt, der 1978 auf ca. 54 Mrd. DM ansteigen soll (neben den 35 Mrd. DM, die direkt dem BRD-Verteidigungsministerium zufließen, sind weitere Milliardenbeträge in verschiedenen Einzeletats enthalten, so daß nach NATOKriterien der Rüstungshaushalt der BRD ca. 54 Mrd. DM beträgt). Die Profiteure dieser zu Lasten der Werktätigen gehenden neuen Aufblähung des Rüstungshaushaltes sind die Rüstungskonzerne der BRD und, soweit Rüstungskäufe in den USA erfolgen, die Rüstungskonzerne der USA. Mit an erster Stelle der Rüstungsmonopole der BRD, die an diesem riesigen Profitgeschäft beteiligt sind, steht der größte Luft- und Raumfahrtkonzern der BRD, Messerschmitt-Bolkow-Blohm (MBB). Dieser Konzern will gerade durch den Bau des Mehrzweckkampfflugzeuges „Tornado", der gemeinsam mit britischen und italienischen Rüstungskonzernen erfolgt, und dessen Lieferung an das BRD-Verteidigungsministerium allein bis 1980 seinen Umsatz gegenüber 1976 verdoppeln. Auch hier wird deutlich, daß der Staat den Rüstungskonzernen nicht nur Aufträge erteilt und einen gesicherten Absatz mit besonders hohen Profiten garantiert, sondern auch hohe finanzielle Mittel für die Forschung und Entwicklung bereitstellt. So erhielt MBB allein im Jahre 1975 aus dem Bundeshaushalt 379 Mio DM für Forschung und Entwicklung zugeschanzt. Eine doppelt bis dreifache Umsatzsteigerung erwartet für diesen Zeitraum auch die DornierAG, der drittgrößte Luft- und Raumfahrtkonzern der BRD.
11 Angaben nach: IPW-Berichte Nr. 9 / 1 9 7 7 , S. 49
46
Tabelle 3 1 2 Die drei größten Luft- und Raumfahrtkonzerne der B R D (1976) Konzern MBB VFW-Fokker Dornier
Umsatz (in Mio DM) 1 635 1 701 497
Beschäftigte 20 123 18 543 6 641
Mit der beabsichtigten Fusion der beiden größten Luft- und Raumfahrtkonzerne der B R D , M B B und VFW-Fokker, wird eine wesentliche weitere ökonomische und politische Machtkonzentration in der Rüstungsindustrie der B R D angestrebt. Die riesigen und von Jahr zu Jahr steigenden Ausgaben, die die imperialistischen Staaten für die Rüstung ausgeben, stellen eine außerordentliche Belastung für die Staatshaushalte dieser Länder dar. Die staatliche Finanzierung der Rüstung ist eine der Hauptursachen für die tiefe Krise der Staatsfinanzen in den imperialistischen Ländern. Für die imperialistischen Staaten wird es immer schwieriger, die vielfältigen politischen, ökonomischen und militärischen Funktionen, die sie im Interesse der Aufrechterhaltung der Klassenherrschaft der Monopolbourgeoisie und der Gewährleistung hoher Monopolprofite erfüllen sollen, wahrzunehmen. Insbesondere wird es für die imperialistischen Staaten immer komplizierter, die finanziellen Mittel für die Wahrnehmung der ihnen von den Monopolen zugewiesenen Aufgaben aufzubringen. Die Schere zwischen den Funktionen, die der imperialistische Staat im Interesse der Monopolherrschaft und der Monopolprofite wahrnehmen soll und den Möglichkeiten, einschließlich der materiellen Möglichkeiten, den wachsenden Forderungen der Monopole gerecht zu werden, wird immer weiter. Der imperialistische Staat muß immer mehr materielle Mittel mobilisieren und einsetzen, um über seine ökonomische Tätigkeit, vor allem über den Staatshaushalt, für die Monopole die Bedingungen für die Aneignung von Höchstprofiten nicht nur zu erhalten, sondern den Gesetzen der Kapitalverwertung entsprechend möglichst ständig zu erweitern. Ein deutlicher Ausdruck dieses zunehmenden Auseinanderklaffens zwischen den Anforde-
12 Zitiert nach: L . Zempslburg, Machtkämpfe im militärisch-industriellen Komplex, Horizont, Berlin, Nr. 4/1978, S. 24
47
rungen der nach immer neuen und höheren Profiten drängenden Monopole an den Staat und den Möglichkeiten des imperialistischen Staates, den wachsenden Appetit der Monopole zu befriedigen, ist die Krise der Staatsfinanzen, die heute nicht mehr vorübergehender Natur ist, sondern einen chronischen Charakter angenommen hat. Die Krise der Staatsfinanzen, ganz entscheidend mitverursacht durch die immensen Belastungen durch die Rüstungshaushalte, ist zum ständigen und immer bedrohlicher werdenden Bestandteil der ökonomischen und politischen Krisenprozesse im Imperialismus der Gegenwart geworden. Seit der Herausbildung des Imperialismus um die Jahrhundertwende wurde in den Ländern des Kapitals ein wachsender Teil des Nationaleinkommens im Staatshaushalt konzentriert und zugunsten der Monopole umverteilt. Betraf dieser Anteil vor dem ersten Weltkrieg zwischen 10 bis 15 %, so liegt er heute bereits bei 40 bis 45 %. 1 3 Staatshaushalt und Staatsfinanzen spielen im Verwertungsprozeß des Monopolkapitals eine wachsende Rolle. Charakteristisch für die Entwicklung der Staatshaushalte der imperialistischen Länder ist aber nicht nur und nicht einmal in erster Linie, daß der Umfang der Etats in den letzten Jahrzehnten außerordentlich gewachsen ist. Kennzeichnend ist vielmehr, daß die Staatsausgaben ständig die Staatseinnahmen übersteigen, und zwar in einer ansteigenden Tendenz. Die wachsende Deckungslücke zwischen den Einnahmen und den Ausgaben des Staates und die dadurch bedingte ständige Zunahme der Staatsverschuldung ist das augenfälligste Kennzeichen der Krise der Staatsfinanzen. Über den Umfang der Verschuldung der Staatshaushalte imperialistischer Länder gibt die folgende Tabelle Auskunft.
13
Z i t i e r t n a c h : H . H e m b e r g e r ; E. K r a p p e , D i e K r i s e d e r S t a a t s f i n a n z e n i n d e n L ä n d e r n des K a p i t a l s , E i n h e i t , B e r l i n , N r . 6 / 1 9 7 7 , S. 7 3 7
48
Tabelle 4 1 4 Verschuldung der öffentlichen Haushalte imperialistischer Hauptländer USA Mrd. Dollar Öffentliche 1960 1965 1970 1973 1975
Japan Mrd. Yen
BRD Mrd. DM
Haushalte insgesamt 917 52,2 304,6 364,7 1 519 83,0 5 625 445,9 125,9 11 848 538,6 163,3 662,4
davon: Zentraler Staatshaushalt 1960 239,8 22,5 777 1965 266,4 1 197 33,0 1970 301,1 47,3 4 350 1973 349,1 61,4 8 253 1975 446,3 108,5 17 626
Frankr. Großbrit. Mrd. Mio F Pfd.St.
Italien Mrd. Lire
104,8 113,7 142,5 143,9
32 400 38 588 43 866 53,400
7 10 17 32
86,3 85,0 98,8 86,4 129,2
28 595 31 33 40 56
5 732 6 636 9 695 19511 27 703
557 589 148 700
630 937 050 511
Die Übersicht zeigt das besonders steile Anwachsen der Staatsverschuldung in den siebziger Jahren. Diese Tendenz setzt sich gegenwärtig verstärkt f o r t und dürfte sich nach allen Anzeichen in den achtziger Jahren noch weiter beschleunigen. So wird zur Deckung des Bundeshaushaltes der BRD für 1978 eine Neu Verschuldung nur des Bundes um weitere 31 Mrd. DM in Kauf genommen. Die von den NATOGremien gefaßten Beschlüsse über zusätzliche Erhöhungen der Rüstungshaushalte zwingen auch alle anderen NATO-Staaten zu Neuverschuldungen der Staatshaushalte weit über die ohnehin schon hohen Schuldenlasten hinaus. Selbstverständlich sind eine Reihe von Faktoren für die Tendenz des schnelleren Anwachsens der Ausgaben des Staates gegenüber seinen Einnahmen und die Staatsverschuldungen ursächlich. Die zunehmenden Rüstungsausgaben stehen dabei jedoch mit an erster Stelle. Da die Rüstungskonzerne, die Bankmonopole, die Militärs und die reaktio14 Zitiert
nach:
Die Wirtschaft
kapitalistischer
Länder
in Zahlen, a. a. O . ,
S. 6 3
49
nären imperialistischen Politiker nicht nur nicht daran denken, an den Rüstungsaufwendungen Abstriche zu machen, sondern wie sich zeigt, diesen Block der Staatsausgaben ein noch stärkeres Gewicht im Gesamtetat des Staates geben, muß sich die Krise der Staatsfinanzen in den imperialistischen Ländern weiter verschärfen. Um der Krise der Staatsfinanzen, die wegen ihrer Auswirkungen auf andere Bereiche der ökonomischen Tätigkeit des imperialistischen Staates und nicht zuletzt auf die Handlungsfähigkeit der Regierungen von nicht wenigen bürgerlichen Politikern mit Besorgnis beobachtet wird, zu begegnen, sind von den Regierungen imperialistischer Länder eine ganze Reihe von Sondermaßnahmen beschlossen worden. So haben die Regierungen der USA, der BRD, Frankreichs, Großbritanniens und Italiens haushaltspolitische „Sparprogramme" beschlossen, die, wie es in den offiziellen Erklärungen heißt, die Staatsfinanzen wieder sanieren sollen. Im einzelnen sehen diese Programme unterschiedliche Maßnahmen und Prioritäten vor. In einem stimmen sie jedoch im Prinzip alle überein: die vorgesehenen „Sparmaßnahmen" betreffen vor allem den Abbau von Leistungen im sozialen Bereich sowie die Erhöhung der bereits vorhandenen bzw. die Einführung neuer Steuerlasten für die Masse der werktätigen Bevölkerung. Um die Staatseinnahmen vorwiegend zum Zwecke der wachsenden Rüstungsausgaben zu steigern, wurden und werden insbesondere Erhöhungen der Massensteuern, der Beiträge für die Sozialversicherung und der Beiträge zur Renten- und Krankenversicherung beschlossen. Bereits 1976 wurden in der BRD die Sozialversicherungsbeiträge der Arbeiter und Angestellten erhöht, wodurch sich für die Betroffenen zusätzliche Belastungen in Höhe von 5,5 Mrd. DM ergeben. Lohn- und Gehaltssteuererhöhungen bei gleichzeitigen oft drastischen Kürzungen der staatlichen Aufwendungen für das Arbeitslosengeld, für die Ausbildungsförderung, für den sogenannten sozialen Wohnungsbau, für die Unterhaltung von Krankenhäusern, für Bildung, Wissenschaft und Kultur und andere soziale Bereiche zeigen, daß die Kosten des forcierten Rüstens auf die Werktätigen abgewälzt werden. Diese „Sparprogramme" auf Kosten der Lebenslage der Werktätigen lösen die Probleme in keiner Weise; sie verschärfen die sozialen Widersprüche in den Ländern des Kapitals. Das von den aggressiven Kräften des Imperialismus betriebene Wettrüsten bedroht mit der damit verbundenen Gefahr des Ausbruchs eines 50
atomaren Krieges nicht nur das Leben der Völker. Es führt bereits heute zu starken Beeinträchtigungen der sozialen Lage der Werktätigen in den kapitalistischen Ländern und bindet riesige materielle und geistige Potenzen, die friedlichen, progressiven Zielen und Aufgaben zugeführt werden könnten. Das unterstreicht mit aller Eindringlichkeit, daß der von der Sowjetunion und den anderen Staaten der sozialistischen Gemeinschaft gemeinsam mit allen friedliebenden Kräften geführte Kampf um Rüstungsbegrenzung und Abrüstung den Lebensinteressen aller Völker entspricht. Wie der Außenminister der Sowjetunion, Andrej Gromyko, auf der X X X I . Tagung der UNO-Vollversammlung in New York erklärte, werden „in der heutigen Welt für die Aufrüstung rund 300 Milliarden Dollar im Jahr ausgegeben oder mehr als eine Million Dollar in zwei Minuten".15 Würden diese enormen Mittel für die Entwicklung des Lebensniveaus der Völker verwendet, so wäre das ein außerordentlicher Nutzen für den Fortschritt der ganzen Menschheit. Aber auch schon bei einer Beschränkung der Rüstungsaufwendungen würden beträchtliche Mittel für drängende soziale Probleme frei. Der von der Kommunistischen Partei der USA Anfang 1978 vorgelegte „Bericht zur Lage der Nation" weist darauf hin, daß 50 Mrd. Dollar aus dem Rüstungshaushalt der USA sofort für die dringend notwendige Rekonstruktion der Innenstädte, für die Schaffung eines öffentlichen Massenverkehrssystems und einer staatlichen Sozialversicherung, für ein großzügiges Wohnungsbauprogramm und andere soziale Maßnahmen verwandt werden könnten. Das setzt aber eine Veränderung der Politik, insbesondere ein Abgehen von der verhängnisvollen Politik des Rüstungswettlaufs, die Zurückdrängung und schließliche Beseitigung der am Rüstungsgeschäft Profitierenden voraus.
15 Zitiert nach: Neues Deutschland, Berlin, vom 29. September 1976, S. 5
51
G. Domin und H.-H. Lanfermann
Wissenschaftspolitik und Abrüstung
Geht man von den Grundinteressen der Völker aus und von dem unabdingbaren Gebot des Friedens, dann gibt es keine andere Alternative als die der sich erweiternden und vertiefenden Zusammenarbeit zwischen den Staaten mit unterschiedlicher Gesellschaftsordnung.1 Will man den Krieg für immer aus dem Leben der,Völker verbannen, dann bedarf es des Realismus in der Politik, der Anerkennung der Notwendigkeit friedlichen Nebeneinanderbestehens der beiden unterschiedlichen Gesellschaftssysteme und ihres gegenseitigen Respektierens. Um die Vernichtung der Menschheit zu verhindern, gilt es, zwischen kapitalistischen und sozialistischen Staaten friedliche Beziehungen herzustellen, im friedlichen ökonomischen und wissenschaftlichtechnischen Wettstreit die Kräfte zu essen und in allen strittigen Fragen zu vernünftigen, beiderseitig akzeptablen Kompromissen zu kommen. Ein entscheidender Schritt auf dem Wege der Festlegung der für einen solchen friedlichen Wettstreit gültigen Prinzipien und Grundsätze wurde mit der Durchführung und dem erfolgreichen Abschluß der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (Helsinki 1975) getan. In den in der Schlußakte der Konferenz formulierten zehn Prinzipien der Gestaltung zwischenstaatlicher Beziehungen finden die Leninschen Prinzipien der friedlichen Koexistenz zwischen Staaten mit unterschiedlicher sozialer Ordnung konkrete Anwendung.2 Diese Tatsache ist auch von großer Bedeutung für Modifikationen in der internationalen Wissenschaftspolitik. Nicht zufällig nehmen Probleme der wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit in der Schlußakte der Konferenz von Helsinki einen breiten Raum ein. Ver1
Vgl. E. Honeckar, E s gibt keine Alternative zur Politik dar friedlichen Koexistenz. Interview für die amerikanische Nachrichtenagentur A . P. in: Neues Deutschland vom 4. J u n i 1974, S . 3 f.
2
Vgl. Schlußakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, in: Neues Deutschland vom 2./3. August 1975, S. 5 — 10
52
einbarungen über wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit können im Prozeß der Konsoldierung der Entspannung einen großen Beitrag leisten. Wenn die Prinzipien der Gleichberechtigung, der gegenseitigen Achtung der Souveränität, der territorialen Integrität, der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten, der unbedingten Vertragstreue und der Zusammenarbeit auf der Basis gegenseitigen Vorteils3 heute auch zur Grundlage der Gestaltung der wissenschaftlich-technischen Beziehungen zwischen Staaten mit unterschiedlicher Gesellschaftsordnung werden, so liegt das in erster Linie an den allgemeinen ökonomischen und politischen Bedingungen der Weltentwicklung. Voraussetzung dafür jedoch, daß auch Wissenschaftspotentiale und wissenschaftliche Tätigkeit zu einem bedeutenden Gegenstand weltpolitischer Entscheidungen und zu einem Faktor der internationalen Beziehungen werden konnten, ist der erreichte hohe Vergesellschaftungsgrad der Wissenschaft.4 Wissenschaftspolitik der Staaten ist zunehmend bemüht, wissenschaftliche Tätigkeit in komplexer Weise und langfristig zu leiten, wie sie auch dem Trend nach multinationaler wissenschaftlich-technischer Kooperation durch geeignete Maßnahmen entsprechen muß. So wie im materiellen Produktionsprozeß durch staatlichen Eingriff die „Hebung der Produktivkräfte der gesellschaftlichen Arbeit und Vergesellschaftung dieser Arbeit" 5 befördert wird, vollzieht sich diese wachsende Vergesellschaftung, beschleunigt durch die wissenschaftlich-technische Revolution, auch im Forschungsprozeß. Diese zunehmende Vergesellschaftung macht die internationale Arbeitsteilung in der Forschung zur Grundbedingung für den weiteren wissenschaftlich-technischen Fortschritt. Im Verlaufe der wissenschaftlich-technischen Revolution und der mit ihr einhergehenden Vergesellschaftung der Produktion erfüllt sich in einer für die jeweilige Gesellschaftsordnung typischen Weise die von 3
Vgl. A u t o r e n k o l l e k t i v , Die friedliche Koexistenz — der Leninsche Kurs der A u ß e n p o l i t i k der Sowjetunion. Einleitung und Gesamtredaktion A. A. G r o m y k o . Berlin 1964, S. 47 — 54
4
Vgl. A u t o r e n k o l l e k t i v , Politische Ö k o n o m i e des heutigen Monopolkapitalismus, Berlin 1972
5
W. I. Lenin, Die E n t w i c k l u n g des Kapitalismus in Rußland, in: Werke, Bd. 3, Berlin 1963, S. 617
53
Karl Marx getroffene Voraussage, daß der Produktionsprozeß zu einer materiell-schöpferischen und sich vergegenständlichenden Wissenschaft wird. 6 Der wissenschaftlich-technische Fortschritt wirft eine Reihe völlig neuartiger Probleme auf, wie z. B. Fragen des Umweltschutzes, Sicherung der Energie- und Rohstoffversorgung, Nutzung der Weltmeere, Bekämpfung weltweit verbreiteter Krankheiten u. a., die wegen ihres globalen Charakters alle Länder gleichermaßen interessieren und nur in internationaler Zusammenarbeit gelöst werden können. Wissenschaftliche Tätigkeit drängt nach internationaler Kooperation und Arbeitsteilung. Dieser Prozeß der Internationalisierung ist jedoch kein neutraler, von der jeweiligen Gesellschaftsordnung unabhängiger Vorgang, und schon gar nicht ein Prozeß, der automatisch zur Annäherung beider Gesellschaftssysteme führen könnte. Der Internationalisierungsprozeß ist ein Erfordernis der Produktivkraftentwicklung, insbesondere der Entwicklung von Wissenschaft und Technik. Aber auch die wissenschaftliche Tätigkeit tritt niemals an sich, außerhalb oder unabhängig von den herrschenden Produktionsverhältnissen, d. h. unabhängig von kapitalistischer oder sozialistischer Entwicklungsform, in Erscheinung. Diese bestimmen in entscheidendem Maße auch das Wesen und die Formen der Internationalisierung. 7 Die internationale Zusammenarbeit entspringt als Prinzip der Beziehungen zwischen den Völkern dem Wesen der Friedenspolitik des Sozialismus.8 Unter Beachtung der Kräftekonstellation in der Weltarena bedeutet sie „ein bewußtes Respektieren und Nutzen der objektiven Tendenz zunehmender Internationalisierung und globaler Interdependenz, wobei die konkreten Umstände der Zusammenarbeit, die Ausschöpfung ihrer Möglichkeiten im jeweils eigenen Interesse selbst zum Feld des Wettbewerbs und des Kampfes zwischen den beiden Systemen werden — stets jedoch unter bewußter Wahrung der Einheit
6
K. Marx, S. 5 9 9 f .
7
O . R e i n h o l d , I n t e r n a t i o n a l i s i e r u n g u n d W i d e r s p r ü c h e i m I m p e r i a l i s m u s , Berl i n 1 9 7 4 , S. 2 8
8
L . M a i e r , Q u a l i t a t i v e neue Z ü g e d e r a l l g e m e i n e n K r i s e des K a p i t a l i s m u s , i n : E i n h e i t 2 9 ( 1 9 7 4 ) 1 2 , S. 1 3 3 5
54
Grundrisse der
Kritik
der
Politischen
Ökonomie,
Berlin
1953,
beider Seiten (Kampf und Zusammenarbeit), des Verzichts auf kriegerische Auseinandersetzungen und militärische Drohungen".9 Die Wissenschaftspolitik der Staaten sowie die der wissenschaftlichen Arbeit zugrundeliegenden Ziele, Wertvorstellungen, Pläne, Projekte, Erwartungen auf dem Gebiet der Forschung reproduzieren diesen Widerspruch und widerspiegeln in jeweils spezifischer Weise diese dialektische Einheit von Kampf und Zusammenarbeit. Wenn auch im Gefolge der wissenschaftlich-technischen Revolution der Austausch wissenschaftlicher Erkenntnisse und der Handel mit Patenten und Lizenzen weltweite Ausdehnung gefunden hat, ändert das nichts an der Tatsache, daß diese wissenschaftlichen Erkenntnisse in sozialökonomisch determinierten wissenschaftlichen Tätigkeitsprozessen unterschiedlicher Gesellschaftssysteme gewonnen wurden. In beiden Gesellschaftssystemen werden mit dem Einsatz wissenschaftlicher Erkenntnisse unterschiedliche Ziele verfolgt. Grundsätzlich verschieden sind auch die Art und Weise sowie die gesellschaftlichen Bedingungen für die Lösung der mit dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt verbundenen sozialen Folgeprobleme.10 Es ergibt sich die Frage, wie eine wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit zwischen kapitalistischen und sozialistischen Staaten angesichts der gegensätzlichen sozialökonomischen Determiniertheit der wissenschaftlichen Tätigkeit überhaupt möglich ist Solange Kapitalismus und Sozialismus nebeneinander bestehen, kann es wegen dieser so wesensverschiedenen sozialökonomischen Determinationen der wissenschaftlichen Tätigkeit keine klassenneutrale, von der objektiven Gegensätzlichkeit der beiden Gesellschaftsordnungen unberührte Wissenschaft geben. Diese Tatsache schließt jedoch die Möglichkeit und sogar Notwendigkeit der Zusammenarbeit von Staaten gegensätzlicher Gesellschaftsordnung auf wissenschaftlichen Gebieten nicht aus. Daß eine solche Zusammenarbeit möglich ist, liegt in der Eigenschaft der wissenschaftlichen Erkenntnis begründet, Widerspiegelung objektiver Zusammenhänge zu sein.11
9
Ebenda
10
Vgl. N. Gausner, Wissenschaftlich-technische R e v o l u t i o n : Soziale Probleme u n d Folgen, Moskau 1 9 7 3
11
Siehe hierzu G. K r ö b e r ; H. L a i t k o , Sozialismus u n d W i s t e n t c h a f t (Gedanken zu Ihrer E i n h e i t ) , Berlin 1 9 7 2 , S. 6 6 f f .
55
Die konkrete Ausgestaltung der wissenschaftlichen Zusammenarbeit auf der Grundlage der Prinzipien der friedlichen Koexistenz erfordert die Berücksichtigung politischer, ökonomischer und nicht zuletzt ideologischer Faktoren im internationalen Kräfteverhältnis. Es ist kein Zufall, daß die Hauptinitiative zu weltweiter internationaler wissenschaftlich-technischer Zusammenarbeit von den Ländern des Sozialismus ausgeht. Die Wissenschaftspolitik der kapitalistischen Staaten unter Beachtung dieses Widerspruchs zum friedlichen Wettstreit und zur Zusammenarbeit in der Grundlagen- und angewandten Forschung sowie technischen Entwicklung herauszufordern, liegt jedoch nicht allein im Interesse der sozialistischen Länder, wenngleich sie sich auch die allseitige Entwicklung ihrer Wissenschaftspotentiale durch Erschließung aller wissenschaftlichen Erkenntnisse unter Nutzung der Vorzüge ihrer Gesellschaftsordnung zur Aufgabe gemacht haben. 1 2 Eine durch wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit gesicherte Teilhabe an den Errungenschaften der Sowjetwissenschaft ist längst schon auf die Gegenliebe vieler kapitalistischer Staaten gestoßen. Sie bringt denjenigen Ländern, die diese Zusammenarbeit auf der Grundlage der friedlichen Koexistenz pflegen, beachtenswerte Vorteile. Wie bereits die bisherige Praxis wissenschaftlich-technischer Zusammenarbeit zwischen Ländern beider Gesellschaftssysteme veranschaulicht, vermögen neben wirtschaftlichen gerade wissenschaftlich-technische kooperative Beziehungen einen großen Beitrag zur Festigung der materiellen Grundlagen der friedlichen Koexistenz zu leisten. 13 In der internationalen wissenschaftlichen und wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit verbinden sich die Erfordernisse der modernen, hochvergesellschafteten Produktion mit den Möglichkeiten und Kommunikationsbedürfnissen der Wissenschaft, ohne deren Verwirklichung der wissenschaftlich-technische Fortschritt außergewöhnlich gehemmt wäre. Es steht außer Frage, daß einige kapitalistische Länder auch aus Konkurrenzgründen im eigenen Lager der wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit mit den sozialistischen Staaten mit wachsendem Interesse begegnen. Aus einer solchen Zusammenarbeit versprechen sie sich 12
Vgl. K. Hager, Wissenschaft und Technologie im Sozialismus, Berlin 1 9 7 4 , insbesondere S. 18 f.
13
Vgl. I. Sejd ina, Sovjetsko-amerikanskie nauino-techniieskie MeSdunarodnaja Ziznj, Heft 1 1 / 1 9 7 4 , S. 51
56
svjazi,
in:
entweder eine Befreiung aus dem Konkurrenzdruck ihrer Kontrahenten, eine Lösung aus der durch wissenschaftlich-technische Fesseln geschmiedeten Abhängigkeit oder gar den Ausbau eines Vorsprungs im Konkurrenzkampf mit ihren Rivalen. Es sind diese Beweggründe, die eine Reihe kapitalistischer Staaten Westeuropas zur wissenschaftlichtechnischen Zusammenarbeit mit sozialistischen Ländern ohne diskriminierende Bedingungen veranlaßt hat. Hingegen muß das Einschwenken insbesondere der amerikanischen Wissenschaftspolitik auf einen Kurs wissenschaftlich-technischer Zusammenarbeit insbesondere mit der UdSSR aus der historischen Gesamtsituation beurteilt werden. Dank der wachsenden Stärke des Sozialismus scheiterte die US-amerikanische politische (und zugleich wissenschaftspolitische) Strategie, auf dem Wege über einen forcierten Rüstungsdruck und die Bevorzugung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts im militärischindustriellen Komplex eine militärisch-strategische Überlegenheit zu erzielen. Es mißlang den USA, das Monopol auf Kernwaffen zu behalten und hierauf gestützt die wirtschaftliche und politische Expansion voranzutreiben. Auch die mit großem gesellschaftlichem Aufwand betriebenen eindrucksvollen wissenschaftlich-technischen RaumfahrtProjekte erbrachten den USA nicht den erhofften Prestigegewinn; schon gar nicht verhalfen sie ihnen zu einer generellen wissenschaftlich-technischen Überlegenheit, die als neuer Machtfaktor hätte dienen können. 14 Statt dessen verwandelte die auf das Wettrüsten ausgerichtete amerikanische Wissenschaftspolitik den Rüstungssektor in einen mächtigen unproduktiven Wirtschaftsmechanismus, der die Bewältigung der akuten Doppelkrise aus Inflation und Überproduktion einschließlich ihrer sozialen Auswirkungen zusätzlich erschwert.15 Hört man bürgerliche Stimmen zu den Ursachen der latenten Krisenerscheinungen, so findet man nicht selten Darstellungen, die dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt schlechthin die Schuld dafür zuschreiben. Die realen Fakten belegen indes, daß es die gegen den gesellschaftlichen Fortschritt gerichtete Nutzung und insbesondere der
14
Vgl. G»S. Chosin, Wissenschaft u n d T e c h n i k , Ideologie und P o l i t i k (Versuch einer Analyse der E v o l u t i o n k o m p l e x e r wissenschaftlich-technischer Proj e k t e in den U S A ) , in: Sowjetwissenschaft, Gesellschaftswissenschaftliche Beiträge ( i m folgenden S W / G B ) , Berlin 2 6 ( 1 9 7 3 ) 8 , S. 799 - 8 1 0
15
Vgl. V . Perlo, Die große Krise in der U S A - W i r t s c h a f t , in: Neues Deutschland v o m 2 5 . / 2 6 . Januar 1975, S. 10
57
militärisch-strategischen Ausrichtung der Wissenschaft ist, die sie aus einer gewaltigen potentiellen gesellschaftlichen Produktivkraft in eine Destruktivkraft verwandeln. Durch die sich insbesondere in Europa vertiefenden wissenschaftlichtechnischen Beziehungen erhält der sich seit Helsinki abzeichnende Entspannungsprozeß zugleich neue Impulse und eine festere Grundlage. 16 Es war nicht zuletzt dieser europäische Trerld zur Entspannung 1 7 , der auch die U S A zwang, sowohl ihre allgemeine als auch ihre Wissenschaftspolitik den veränderten Bedingungen anzugleichen. Bei Strafe der Selbstisolierung mußten die U S A ihre Politik gegenüber den sozialistischen Ländern, insbesondere gegenüber der UdSSR, ändern, um im Wettlauf ihrer europäischen Partner um vorteilhafte Verträge mit den sozialistischen Ländern nicht ins Hintertreffen zu geraten und den Einfluß auf die Gestaltung der europäischen Politik zu verlieren. Dazu war eine Normalisierung des Verhältnisses der U S A zur Sowjetunion unabdingbar. Zum ersten sichtbaren Resultat dieses Wandels in der Politik wurde die Vorbereitung und Durchführung des sowjetisch-amerikanischen Gipfeltreffens im Mai 1972 in Moskau. Mit diesem Treffen wurde eine Wende von geschichtlicher Bedeutung in den sowjetisch-amerikanischen Beziehungen herbeigeführt, die Prinzipien der friedlichen Koexistenz als Grundlage der Beziehungen zwischen beiden Staaten vertraglich verankert und dadurch ein wichtiger Grundstein für eine normale, beiderseitig vorteilhafte Entwicklung gelegt. Im Vertrag über die „Grundlagen der Beziehungen zwischen der UdSSR und den U S A " erklären beide vertragschließenden Seiten, „daß es im Kernzeitalter keine andere Grundlage für die Aufrechterhaltung der Beziehungen zwischen ihnen gibt als die friedliche Koexistenz. Die Unterschiede in der Ideologie und in den sozialen Systemen der UdSSR und der U S A sind kein Hindernis für die Entwicklung normaler, auf den Prinzipien der Souveränität, der Gleichheit, der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten und des gegen16 Vgl. A u t o r e n k o l l e k t i v , Sowjetische A u ß e n p o l i t i k und europäische Sicherheit, Berlin 1 9 7 3 17 E s handelt sich u m die v o n der U d S S R u n d der V R Polen m i t der Bundesrepublik Deutschland abgeschlossenen Verträge ( 1 9 7 0 ) , das Viermächtea b k o m m e n über Westberlin ( 1 9 7 1 ) u n d den Vertrag zwischen der C S S R u n d der Bundesrepublik ( 1 9 7 3 ) . Z u diesen Verträgen siehe: Verträge im Dienste der europäischen Sicherheit. V o m M o s k a u e r bis z u m Berliner Vertrag. Hrsg. v o m Ministerium für A u s w ä r t i g e Angelegenheiten der D D R , Berlin 1 9 7 3
58
seitigen Nutzens beruhender Beziehungen zwischen ihnen." 1 8 Auf dieser Grundlage legten die Repräsentanten beider Staaten bedeutsame Maßnahmen fest, so u. a. über den Ausbau von Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zwischen beiden Ländern, die Zusammenarbeit auf wissenschaftlich-technischem und kulturellem Gebiet und die Schaffung gemeinsamer Kommissionen zur Regelung der damit zusammenhängenden Fragen. 19 Im Rahmen dieser Vereinbarungen nehmen neben dem Vertrag über die Begrenzung der Raketenabwehrsysteme und dem Zeitweiligen Abkommen über die Begrenzung der strategischen Offensivwaffen vertragliche Abschlüsse über wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit einen überaus großen Raum ein. So wurden Abkommen über Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Umweltschutzes, der medizinischen Wissenschaft und des Gesundheitswesens, bei der Erforschung und Nutzung des Weltraumes zu friedlichen Zwecken und über die Zusammenarbeit auf dem Gebiet von Wissenschaft und Technik abgeschlossen.20 Gerade das letztgenannte Abkommen formuliert als Hauptziel, „beiden Seiten umfassende Möglichkeiten für die Zusammenlegung der Bemühungen ihrer Wissenschaftler und Spezialisten um die Ausarbeitung wichtiger Probleme zu schaffen, deren Lösung den Fortschritt der Wissenschaft und Technik zum Wohle der beiden Länder und der ganzen Menschheit fördern w i r d " . 2 1 Diese Zielstellung trägt der unbestreitbaren Tatsache Rechnung, daß Erfolge in der wissenschaftlich-technischen Erforschung des Weltalls und der Atmosphäre, der Weltmeere, des Schutzes der Umwelt, der Sicherung des ökologischen Gleichgewichts auf der Erde sowie der Bekämpfung weltweit verbreiteter Krankheiten ohne eine breite internationale Zusammenarbeit nicht möglich sind. Die in den Dokumenten dieses Treffens erzielten Vereinbarungen können bei ihrer konsequenten Realisierung auf der Grundlage der friedlichen Koexistenz erste Schritte auf dem Wege einer perspektivreichen wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit zum Wohle der Menschheit
18 UdSSR. Das Friedensprogramm In A k t i o n . Über die Ergebnisse der Sowjetisch-amerikanischen Verhandlungen. Moskau 1972, S. 16 19 Vgl. ebenda, S. 16 -
18
2 0 Ebenda, S. 1 9 - 3 9 2 1 Ebenda, S. 3 7
59
sein. Allerdings sind diese Perspektiven vorerst nur der Möglichkeit nach gegeben. Wie die Praxis der sowjetisch-amerikanischen wissenschaftlich-technischen Beziehungen zeigt, sind alle konkreten Maßnahmen nur gegen den Widerstand der immer noch sehr einflußreichen Vertreter des militärisch-industriellen Komplexes durchzusetzen. Es gibt Versuche, die vereinbarten Rüstungsbeschränkungen zu unterlaufen, indem in den von den Abkommen nicht erfaßten Bereichen die Rüstung forciert wird. 2 2 Diese Widersprüchlichkeit in der amerikanischen Wissenschaftspolitik verdeutlicht das Schwanken zwischen dem Zwang zur Anpassung und Zusammenarbeit und den Bemühungen zur Sicherstellung der wissenschaftlich-technischen Forderungen des militärisch-industriellen Komplexes. Die in den U S A geführten Debatten um die Einordnung der Vereinbarungen des Moskauer Gipfeltreffens in die bisherige wissenschaftspolitische Orientierung tragen recht deutlich den Stempel dieser widerstreitenden Tendenzen. Das „Subcommittee on International Cooperation in Science and Space" des „Committee on Science and Astronautics" führte eine Reihe von Hearings zu den einzelnen Vereinbarungen des sowjetischamerikanischen Treffens durch. Namhafte amerikanische Wissenschaftsexperten, unter ihnen der Präsident der Akademie der Wissenschaften der U S A , Ph. Handler, stimmten in ihren Gutachten zu den einzelnen Verträgen im wesentlichen darin überein, daß die wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit beider Länder auf den vorgesehenen Schlüsselgebieten des wissenschaftlich-technischen Fortschritts auch für die U S A vorteilhaft und fruchtbringend sein kann. 2 3 Der Direktor des Büros für Internationale wissenschaftlich-technische Angelegenheiten im amerikanischen Außenministerium, H. Pollack, brachte in seinen Darlegungen zum Ausdruck, amerikanische Wissenschaftler seien von den unleugbar großen Errungenschaften der UdSSR auf zahlreichen Gebieten der Forschung gefesselt, und sie hätten die Überzeugung gewonnen, daß ein enger Kontakt den eigenen
2 2 Vgl. G. A . A r b a t o w , Die A u ß e n p o l i t i k der U S A u n d die wissenschaftlichtechnische R e v o l u t i o n , in: S W / G B . 27 ( 1 9 7 4 ) 4, S . 4 1 4 2 3 Vgl. U.S.-U.S.S.R. Cooperative Agreements. Hearings before the S u b committee o n International C o o p e r a t i o n in Science and S p a c e of the C o m mittee o n Science and Astronautics. U.S. H o u s e of Repräsentatives. N i n e t y second Congress. S e c o n d Session, J u n e 13, 14, 15, 20, 2 1 , U.S. G o v e r n e m e n t P r i n t i n « Office, W a s h i n g t o n 1 9 7 2
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Interessen diene, sowohl den technischen als auch den politischen. 34 Dies zeigt, wie weit auch in den U S A der Realismus in der Beurteilung der wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit mit den sozialistischen Ländern gewachsen ist. Jedoch hat sich dieser Realismus noch nicht als dominierende Haltung durchgesetzt. Das ist nicht verwunderlich, da die Repräsentanten des militärisch-industriellen Komplexes die amerikanische Wissenschaftspolitik noch weigehend mitbestimmen. Allerdings schließt — insbesondere bei längerfristigen Abmachungen — eine Zusammenarbeit gewisse Formen der gegenseitigen Bindung nicht aus. Jedoch handelt es sich hierbei um Abhängigkeitsverhältnisse, die auf Gegenseitigkeit beruhen und keine einseitigen Vorteile bieten. „Solche Beziehungen wirken sich stabilisierend aus, sie fördern die Normalisierung der Lage und erschweren eine Rückkehr zum 'kalten Krieg'. Eben dies ist einer der Gründe, die die K P d S U und den Sowjetstaat bewegen, sich für eine umfassende Entwicklung der ökonomischen und der wissenschaftlich-technischen Beziehungen zu den U S A und anderen kapitalistischen Ländern einzusetzen und damit die sich gegenwärtig in den internationalen Beziehungen vollziehenden positiven Veränderungen irreversibel zu machen." 2 5 Die jährlich seit 1972 zwischen den höchsten Repräsentanten beider Staaten durchgeführten Treffen leisten hierzu einen großen Beitrag. Der Besuch L. Breshnews in den U S A im Jahre 1973 trug dazu bei, die 1972 eingeleitete Wende in den sowjetisch-amerikanischen Beziehungen zu untermauern und den Prozeß der Normalisierung fortzusetzen. Neben dem Vertrag über die weitere Begrenzung der Offensivwaffen und der erklärten Bereitschaft beider Staaten, zur Einschränkung der chemischen Waffen sowie zur allgemeinen Abrüstung beizutragen, wurden auch die wissenschaftlich-technischen Beziehungen auf Gebiete ausgedehnt, die bis dahin unberücksichtigt geblieben waren. Es kam zum Abkommen über wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit auf dem Gebiet der friedlichen Nutzung der Atomenergie, der Landwirtschaft, der Erforschung der Weltmeere und des Verkehrswesens. Außerdem kamen die beiden Länder überein, zum Zwecke der allgemeinen Erweiterung der sowje-
24 25
V g l . ebenda, S. 17 G . A . A r b a t o w , D i e A u ß e n p o l i t i k der U S A u n d die wissenschaftlich-technis c h e R e v o l u t i o n , a. a. O . , S . 4 2 3
61
tisch-amerikanischen bilateralen Beziehungen ein neues Abkommen über Kontakte, Austausch und Zusammenarbeit in Wissenschaft, Technik, Bildung, Kultur und anderen Bereichen abzuschließen. Diese positive Entwicklung der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen auf der Grundlage der friedlichen Koexistenz wurde durch die bedeutsamen Vereinbarungen auf dem dritten Gipfeltreffen im Juni/Juli 1974 in der UdSSR weiter gefördert. Im Verlaufe des Treffens kam es zu weiteren wichtigen Vereinbarungen bzw. Konkretisierungen bereits bestehender Abkommen auf dem Gebiet der Begrenzung der Raketenabwehrsysteme 26 , der Einschränkung der unterirdischen Kernwaffenversuche, der Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Energiewirtschaft, des Wohnungsbaus und anderen Bereichen des Bauwesens, der wissenschaftlichen Forschung und Entwicklung eines künstlichen Herzens und einem langfristigen Abkommen über die Förderung der wirtschaftlichen, industriellen und technischen Zusammenarbeit. 27 Zu einem Höhepunkt friedlicher Zusammenarbeit von Staaten mit unterschiedlicher Gesellschaftsordnung gestalteten sich Vorbereitung und Durchführung des ersten gemeinsamen sowjetisch-amerikanischen Raumflugprojekts im Jahre 1975. Mit dem Sojus-Apollo-Raumflug wurde sehr anschaulich demonstriert, wie weitgehend die Zusammenarbeit auf der Grundlage der Prinzipien der friedlichen Koexistenz zwischen Staaten mit unterschiedlicher Gesellschaftsordnung möglich ist und der ganzen Menschheit dienende Forschungsergebnisse erzielt werden können. Mit den seit 1972 getroffenen weitreichenden Vereinbarungen ist die sowjetisch-amerikanische wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit in eine qualitativ neue Etappe eingetreten. Um die Zusammenarbeit vertieft fortzuführen, werden neue Formen der wissenschaftspolitischen Außenbeziehungen immer notwendiger. 28 Ein wichtiger Schritt auf diesem Wege ist die Bildung gemischter sowjetisch-amerikanischer Kommissionen, die als Führungsorgane mit weitreichenden Vollmachten ausgestattet, die ganze Verantwortung für die Verwirklichung der vertraglichen Festlegungen übertragen bekommen. In ihren Kompe26 Vgl. Dokumente der sowjetisch-amerikanischen Verhandlungen, Moskau Juni/Juli 1974, Moskau 1974, S. 4 6 - 4 9 27 Ebenda, S. 25 - 4 5 2 8 Vgl. I. Seidina, Sovjetsko-amerikanskie naucno-techniceskie svjazi, a. a. O., S. 52
62
tenzbereich fällt die Ausarbeitung gemeinsamer Programme, die Koordinierung der Forschungsarbeiten zwischen den verschiedenen beteiligten Unternehmen und Institutionen in beiden Ländern, die Auswahl der geeigneten Formen wissenschaftlich-technischer Zusammenarbeit, die Sicherstellung des erforderlichen Informationsbedarfs bis hin zur Überführung der wissenschaftlich-technischen Erkenntnisse in die industrielle Nutzung. Die Schaffung solcher effektiver und lebensfähiger Organe besitzt besondere Bedeutung in einem Lande, in dem Fragen der ökonomischen und auch der Wissenschaftspolitik von der Kompetenz des Privatsektors wesentlich abhängen. Wie sich das Monopolkapital zur wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit verhält, bestimmt deshalb in bedeutendem Maße den amerikanischen Beitrag bei der Realisierung der Abkommen. 2 9 Neben den regierungsamtlichen Verbindungen bilden sich bereits zwischen interessierten Einrichtungen und Firmen auf der Ebene der unmittelbaren Industrieforschung weitere wissenschaftlich-technische Kooperationsbeziehungen heraus. 30 Diese Vielschichtigkeit der wissenschaftlich-technischen Verbindungen zwischen Einrichtungen, Firmen und Organisationen beider Länder dient der Konkretisierung der in den Abkommen getroffenen Festlegungen und wirkt sich daher stabilisierend auf die sowjetisch-amerikanische wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit überhaupt aus. Die sowjetisch-amerikanische Wissenschaftskooperation beeinflußt auf diese Weise nicht nur die offizielle amerikanische Wissenschaftspolitik, sondern nimmt zugleich auch Einfluß auf die Herausbildung neuer Strukturen innerhalb des Forschungsprozesses. Daß diese Einflußnahme den Charakter eines Wettstreits zwischen beiden unterschiedlichen Gesellschaftssystemen besitzt, wird durch die Praxis der sowjetisch-amerikanischen wissenschaftlich-technischen Beziehungen anschaulich bewiesen. Auf Grund des sich ausweitenden Handels mit Technologien, Patenten, Lizenzen, Know-how und wissenschaftlichen Informationen zwischen beiden Ländern sieht sich die amerikanische Regierung in zunehmendem Maße veranlaßt, den an einem solchen Technologieaustausch mit der
39
Vgl. ebenda, S. 53
30
Vgl. hierzu u. a. J. Kapelinski, Perspektiven der sowjetisch-amerikanischen Wirtschaftsbeziehungen, in: S W / G B , 26 ( 1 9 7 3 ) 1 1 , S. 1 1 4 8 - 1157, insbesondere S. 1156
63
Sowjetunion wie überhaupt mit allen sozialistischen Staaten interessierten amerikanischen Unternehmen bestimmte Richtlinien vorzugeben. Diese Leitsätze enthalten sowohl Hinweise zur Erkundung sowjetischer Technologiebedürfnisse und zur Erschließung entsprechender Märkte als auch Regeln über die Beschränkung der Ausfuhr bestimmter Technologien und der Weitergabe von Erkenntnissen aus Gründen der „nationalen Sicherheit" der USA. Alle Fortschritte in den sowjetisch-amerikanischen wissenschaftlich-technischen Beziehungen dürfen also nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich um Beziehungen zwischen gegensätzlichen Gesellschaftssystemen handelt. Besonders deutlich bestätigt sich diese Feststellung in der Entwicklung der gegenwärtigen sowjetisch-amerikanischen Beziehungen. Entgegen dem Geist der Schlußakte von Helsinki und auch im Gegensatz zu allen bereits auf ihrer Grundlage zustandegekommenen bi- und multilateralen Abkommen und Vereinbarungen über wissenschaftlich-technische, ökonomische und andere Formen der Zusammenarbeit zwischen den Ländern unterschiedlicher Sozialordnung, ging mit der Wahl und dem Amtsantritt der Carter-Administration in den USA der Versuch einher, eine auf Rüstungseuphorie basierende „Flucht nach vorn" anzutreten. Die herrschenden Kreise in den kapitalistischen Staaten, voran in den USA, setzen zur Durchsetzung dieser vermeintlichen Vorwärtsstrategie auf die gefährliche Karte des zügellosen, auf dem Höchststand von Wissenschaft und Technik forcierten Wettrüstens, um dadurch die Perfektionierung und Neuentwicklung von Vernichtungswaffensystemen zu betreiben, ein militärisches waffentechnisches Übergewicht gegenüber dem Sozialismus zu erlangen und, darauf gestützt, mit den sozialistischen Staaten von den Positionen der „militärischen und waffentechnischen Überlegenheit" Politik zu betreiben. Die Drohung mit der Produktion der barbarischen Neutronenwaffe, dem Bau des Atom-U-Bootes „Trident" mit 24 Trägerraketen zu je 8 Atomsprengköpfen, der Produktion der sogenannten Flügelrakete „Cruise Missile" sowie mobiler MX-Raketen, das alles ist die traurige und zugleich erschreckende Bilanz einer auf Wettrüsten und bedenkenloser Rüstungsforschung abzielenden Wissenschaftsstrategie. Auf der Basis einer zunehmenden Rüstungseskalation, verbunden m i t einer haltlosen Verleumdungskampagne unter dem Mantel angeblicher „Verletzung der Menschenrechte", versuchen führende Repräsentanten der kapitalistischen Hauptländer von den Krisenerschütte-
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rungen in ihren eigenen Ländern abzulenken und die auf Entspannung und Zusammenarbeit ausgerichteten Abkommen zwischen den Staaten als Mittel der Einmischung in die inneren Angelegenheiten der sozialistischen Länder umzufunktionieren. Voll berechtigter Besorgnis über die rapide Verschlechterung des internationalen Klimas bemerkte der Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSU, L. I. Breshnew, auf der Festveranstaltung anläßlich des 60. Jahrestages der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution: „Die internationalen Beziehungen stehen jetzt gleichsam am Scheidepunkt der Wege, die entweder zum Wachstum des Vertrauens und des Zusammenwirkens oder zum Wachstum von gegenseitigen Verdächtigungen und zur Hortung von Waffen führen, der Wege also, die schließlich entweder zu einem dauerhaften Frieden oder bestenfalls zum Balancieren am Rande eines Krieges führen. Die Entspannung bietet die Möglichkeit, den Weg des Friedens zu wählen. Diese Möglichkeit ungenutzt zu lassen, wäre ein Verbrechen. Die allerwichtigste und vordringlichste Aufgabe ist heute, das Wettrüsten einzustellen, das die ganze Welt erfaßt hat." 3 1 Nur um den Preis der Selbstisolierung hätte sich die Bundesrepublik Deutschland als eines der wirtschaftlich stärksten westeuropäischen Länder dem Trend zur Entspannung widersetzen können. Bevor jedoch die Aufnahme beiderseitig vorteilhafter Beziehungen zwischen der BRD und den sozialistischen Staaten auf der Basis der friedlichen Koexistenz möglich wurde, waren vertraglich verbriefte Garantien unerläßlich. Es ist für die Sicherheit und den Frieden in Europa von kaum zu überschätzender Bedeutung, daß es gelang, die Repräsentanten der BRD zur Anerkennung aller zur Zeit in Europa bestehender Grenzen und zum erklärten Verzicht auf deren gewaltsame Veränderungen zu bewegen. Erst mit dem Abschluß der Verträge von Moskau, Warschau, Berlin und Prag einschließlich aller Viermächtevereinbarungen über Westberlin wurden die Voraussetzungen für gegenseitig vorteilhafte wirtschaftliche und wissenschaftlich-technische Beziehungenzwischen der BRD und den sozialistischen Ländern geschaffen. Im Jahre 1973 vereinbarten daraufhin die UdSSR und die BRD einen Vertrag über
31
L . I. Breshnew, Die Große O k t o b e r r e v o l u t i o n u n d der F o r t s c h r i t t der Menschheit, Berlin 1977, S. 28
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wirtschaftliche und wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit sowie ein Kulturabkommen zwischen beiden Ländern. 32 Anläßlich des Besuches von BRD-Kanzler H. Schmidt im Jahre 1974 in der Sowjetunion konnten die bestehenden Abkommen durch einen bilateralen Staats-Vertrag über Zusammenarbeit erweitert und konkretisiert werden. 33 Die weitgehend realistische Außenpolitik der SPD/FDP-Regierungskoalition in Bonn hat mit der Aufnahme wissenschaftlicher und wissenschaftlich-technischer Beziehungen zur Sowjetunion und den anderen sozialistischen Ländern auch in der bisherigen wissenschaftspolitischen Orientierung der BRD einige neue Akzente gesetzt. Zwar steht, wie der Bundesforschungsbericht V ausweist, die wissenschaftlichtechnische Kooperation mit den USA und den anderen kapitalistischen Ländern an der ersten Stelle wissenschaftspolitischer Außenbeziehungen der BRD. Doch haben die ersten Jahre der Zusammenarbeit zwischen der UdSSR und der BRD auf wissenschaftlich-technischem Gebiet die beiderseitigen Vorteile eines solchen Weges bereits verdeutlicht. Seit der Bildung der bilateralen Kommission für wissenschaftlich-technische und wirtschaftliche Zusammenarbeit im April 1972 und nach Abschluß des Rahmenabkommens BRD-UdSSR wurde die Kooperation auf einer Reihe von thematischen Gebieten vereinbart: der Hochenergiephysik, speziellen Sektoren der Kerntechnik, der Biowissenschaften, neuer Verkehrstechnologien, wissenschaftlicher Dokumentation sowie Weltraumexperimenten zur Untersuchung des Magnetfeldes der Erde. In den Rahmen dieser wissenschaftlich-technischen Abkommen gehören auch Kooperationsverträge, die BRD-Firmen, wie z. B. AEGTelefunken, BASF, Daimler-Benz, Henkel, Hoechst, Krupp, Siemens, Klöckner-Humboldt-Deutz, Salzgitter u. a. mit dem Staatlichen Komitee für Wissenschaft und Technik beim Ministerrat der UdSSR abschlössen.34 In den Jahren 1973/74 gab es bereits 16 solcher Abkommen zwischen der UdSSR und westdeutschen Firmen über gemeinsame Forschungen 32 Vgl. Der Tagesspiegel, Westberlin, v o m 20. Mal 1973, S. 2 5 3 3 Vgl. Die Welt v o m 1. N o v e m b e r 1 9 7 4 3 4 Vgl. Wissenschaft, W i r t s c h a f t , P o l i t i k , I n f o r m a t i o n e n , Analysen, Bonn-Bad Godesberg, Nr. 1 7 / 1 9 7 3 , S. 3 u n d N r . 3 6 / 1 9 7 2 , S. 4 f.
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auf speziellen Gebieten.35 Auch der Austausch wissenschaftlich-technischer Erkenntnisse und Erfahrungen machte Fortschritte. Beispielsweise besuchte im Sommer 1974 eine Expertendelegation der Kohleindustrie der BRD das Donezbecken, um sich mit der Technik sowjetischer Abbau-Maschinen für den mechanisierten Grubenausbau bekanntzumachen. Technisch-wissenschaftliche Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Kraftwerke wurden zwischen der Kraftwerk Union AG (KWU), Mülheim an der Ruhr, und dem Staatlichen Komitee für Wissenschaft und Technik beim Ministerrat der UdSSR vertraglich vereinbart. 36 Die Zusammenarbeit UdSSR-BRD ist allen Störversuchen zum Trotz in Gang gekommen, und sie entwickelt sich auf der Basis der friedlichen Koexistenz positiv. Erfreulicherweise sind im Zuge der Normalisierung der Beziehungen zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland in Verwirklichung des Grundvertrages auch Verhandlungen über wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit beider Länder zustande gekommen. Konkrete Schritte auf wissenschaftlichtechnischem Gebiet könnten auch dem Entspannungsprozeß zwischen beiden deutschen Staaten förderlich sein. Im Interesse des Friedens und der Entspannung kommt es darauf an, alles zu tun, die Wissenschaft verantwortungsbewußt einzusetzen, „damit ihr fortschrittsfördernder und humanistischer Charakter voll zur Wirkung gelangen kann". 3 7 Rüstungswettlauf, der sich sowohl auf militärische Anwendung allgemeiner Erkenntnisse der Grundlagenforschung als auch auf eine spezielle Rüstungsforschung stützt, bedeutet ßindung beträchtlicher Wissenschaftspotentiale, welche der friedlichen Nutzung verlorengehen. Wie progressive Wissenschaftler der Bundesrepublik Deutschland in einer Erörterung der Abrüstungsproblematik feststellten, arbeiten gegenwärtig rund 400.000 Wissenschaftler in der Welt für militärische Zwecke. Jeder vierte Forscher im Bereich Chemie und Technik ist im Rüstungssektor eingesetzt. Es wird sogar geschätzt, daß etwa ein 3 5 Vgl. G. S o k o l n i k o w , Der R a h m e n ist j e t z t abgesteckt, in: F r a n k f u r t e r Rundschau v o m 16. O k t o b e r 1 9 7 4 3 6 Vgl. Handelsblatt, Düsseldorf, v o m 16. O k t o b e r 1974 3 7 Programm der Soziallstischen Einheitspartei Deutschlands, S. 4 5
Berlin 1976,
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Drittel der Forschungsmittel in der Welt militärischen Zwecken d i e n t 3 8 Selbst nach einer offiziellen Statistik der Europäischen Gemeinschaft wird in deren Mitgliedsländern nahezu ein Viertel der staatlichen Mittel für Forschung und Entwicklung im militärischen Sektor verwendet. 39 Wie dem Faktenbericht 1977 zum Bundesforschungsbericht der BRD zu entnehmen ist, beliefen sich die Ausgaben des Bundes (d. h. der Zentralen staatlichen Verwaltung der BRD) für sogenannte verteidigungsbezogene Forschung auf 46 % der Gesamtausgaben für Forschung und Entwicklung. 40 Die Durchsetzung der Prinzipien der friedlichen Koexistenz und Fortxhritte auf dem Gebiet der politischen Entspannung erfordern immer dringlicher ihre wirksame Ergänzung durch Schritte militärischer Entspannung, d. h. der Abrüstung. Die politische Entspannung bedeutet für den Sektor Wissenschaft insbesondere Ausdehnung und Intensivierung der wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit, bedeutet Austausch von Informationen und die Planung und Realisierung gemeinsamer Forschungsprojekte. Förderung des wissenschaftlichen und wissenschaftlich-technischen Fortschritts ist heute ohne breite internationale Zusammenarbeit, ja ohne sinnvolle Arbeitsteilung und Kooperation kaum noch denkbar. Oberstes Prinzip kann dabei nur eine friedliche, zutiefst soziale und humanistische Zielstellung sein. Sinn und Bedeutung erhält wissenschaftliche Zusammenarbeit im Kontext mit Entspannung und Sicherheit nur auf der Basis der friedlichen Nutzung der Errungenschaften von Wissenschaft und Technik. Nur eine solche Zielstellung gibt die Möglichkeit für Vertrauen und Offenheit der Information, wie sie in echter Forschungskooperation unabdingbar sind. Somit ist wirksame und dauerhafte Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Wissenschaft nur unter .Bedingungen zu realisieren, welche durch reale Schritte in der militärischen Entspannung zu schaffen sind. Die Dringlichkeit von Abrüstungsmaßnahmen in Verwirklichung der Schlußakte von Helsinki wird also mit Blick auf die erfolgreiche Zusammenarbeit auf dem Gebiet von Wissenschaft und Technik besonders deutlich.
3 8 Frankfurter Rundschau vom 9. Mai 1 9 7 7 3 9 Die öffentlichen Aufwendungen für Forschung und Entwicklung in den Ländern der Gemeinschaft 1974 - 1975, Luxemburg 1976, S. 27 4 0 Handelsblatt, Düsseldorf, vom 29. Oktober 1977
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Im Memorandum der Weltföderation der Wissenschaftler an das Belgrader Treffen zur Überprüfung der Verwirklichung der Schlußakte von Helsinki werden mit Nachdruck einige der wichtigsten Gebiete der Entwicklung von Wissenschaft und Technik genannt, die die Bedeutung internationaler und weltweiter Wissenschaftskooperation deutlich machen. „Verschiedene Ereignisse der letzten beiden Jahre lenken das Auge auf die Bedeutung der Zusammenarbeit bei der Verwirklichung von Umweltschutzmaßnahmen. Die Gefahren, die mit der Nutzung der küstennahen Erdölvorkommen der Meere und mit dem Streben nach einer regulären Plutonium-Wirtschaft verbunden sind, verdienen besondere Aufmerksamkeit. Ohne Zweifel ist ein Intensivprogramm nötig, das eine Zusammenarbeit bei der Entwicklung anderer Methoden der Energieproduktion vorsieht und langfristige Umwelterfordernisse beachtet."41 Diese und andere Gebiete eröffnen also nicht nur gemeinsame Problemfelder der Wissenschaft im Weltmaßstab, sondern gebieten geradezu die Schaffung einer internationalen Atmosphäre, in der militärstrategische Erwägungen ausgeklammert bleiben und der Krieg schließlich für immer aus der Praxis internationaler Beziehungen verbannt ist. Die Reaktion der Weltöffentlichkeit und darunter ungezählter angesehener Forscher verschiedenster Fachgebiete auf die jüngste Absicht der USA-Regierung, Ergebnisse der Kernforschung für den Bau einer Neutronenwaffe zu nutzen, verweist auf die außerordentliche Gefahr, die in der weiteren Fortsetzung des Wettrüstens liegen würde. Dieses Beispiel macht deutlich, daß es — auch im Zusammenhang mit der möglichen und so dringend notwendigen internationalen Zusammenarbeit auf dem Sektor der Wissenschaft — zur Praxis des Wettrüstens nur eine Alternative gibt: Die konsequente Weiterführung der eingeleiteten politischen Entspannung und ihre Ergänzung durch wirksame Maßnahmen der Abrüstung. Es ist angesichts der Dimension, die die moderne Waffentechnik erreicht hat, an der Zeit, zu erkennen, daß Wettrüsten heute alle denkbaren bzw. möglichen Ziele des Rüstens ad absurdum führt. Praktisch ist heute jeder Schritt der technischen Clberbieturig von Kriegstechnik von einer Erhöhung des Risikos und
41
M e m o r a n d u m der W F W an das Belgrader T r e f f e n zur Überprüfung der Verw i r k l i c h u n g der Schlußakte von Helsinki aus d e m Jahre 1975, in: Wissenschaftliche Welt, Berlin (für die DDR-Ausgabe), 21 (1977)3, S. 31
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von einer Erhöhung der Gefahr der Selbstvernichtung begleitet. Wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit wird unter solchen Bedingungen ausgeschlossen. Es wird praktisch immer absurder, einerseits breite internationale wissenschaftliche und wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit anzustreben, einzuleiten und zu pflegen und andererseits einen Großteil der nationalen Wissenschaftspotentiale daran zu binden, die Ergebnisse der weitgehend international getragenen Forschung in den Dienst der Entwicklung und des Baues von immer schrecklicheren Massenvernichtungswaffen zu stellen. Allein Abrüstung schafft die Bedingungen für allseitige Entwicklung der internationalen wissenschaftlichen und wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit, für das nötige Vertrauen und die erforderliche Sicherheit zum Wohle des wissenschaftlich-technischen Fortschritts im Dienste der Völker.
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K. F. Alexander und H. Abel
Die Neutronenwaffe — eine ernste Gefahr
Ein strategischer Kernwaffenkrieg ist gleichbedeutend mit einer thermonuklearen Weltkatastrophe. Das Ausmaß an Vernichtungen und Zerstörungen wäre ungeheuer groß. Aus dieser Einsicht und der relativen Stabilität des Gleichgewichts der Kernwaffenpotentiale der UdSSR und der USA leitet sich die hohe Ansprechschwelle eines strategischen Kernwaffenkrieges ab. Nichts sollte getan werden, sie herabzusetzen. Die Entwicklung der Neutronenwaffe richtet sich eindeutig gegen diese allein von der Vernunft diktierte Tendenz. Gehört die Neutronenwaffe zum Arsenal von Streitkräften, dann entspricht die Ansprechschwelle für ihren Einsatz derjenigen konventioneller Waffen. Mit großer Wahrscheinlichkeit kann dann aber ein begrenzter Kernwaffenkrieg in die thermonukleare Weltkatastrophe hinüberwachsen. Der Frieden wird durch eine Neutronenwaffen-Produktion nicht sicherer, sondern im Gegenteil, es werden neue, sehr ernste Gefahren heraufbeschworen. Dies läßt sich gerade am Charakter der als taktische Kernwaffe zu klassifizierenden Neutronenwaffe überzeugend nachweisen. Prinzipiell trifft das Argument über die Herabsetzung der Ansprechschwelle auf alle taktischen Kernwaffen zu; die Neutronenwaffe bildet „nur" die sichtbare Spitze dieses gefährlichen Eisberges und wirft deshalb ein grelles Licht auf eine Entwicklung, der Einhalt geboten werden muß. Um ihre Gefährlichkeit verstehen zu können, bedarf es keiner Kenntnis militärischer Geheimnisse. Die biologischen und physikalischen Grundlagen der Neutronenwaffe sind so weit bekannt, daß darüber recht genaue Aussagen möglich sind. 1. Strahlung
als Tötungsprinzip
bei der
Neutronenwaffe
Von den drei Wirkungskomponenten einer Kernexplosion - Druck, Wärme, Strahlung — zeichnet sich die Strahlung dadurch aus, daß sie 71
auf grausamste Weise Leben tötet, aber Lebloses nicht zerstört. In jedem Krieg werden Menschen getötet; auch das grausame Sterben Einzelner scheint kaum vermeidbar. Doch es besteht ein entscheidender Unterschied, ob ein qualvoller Tod ungewollt und zufällig auftritt oder durch die Wahl des Tötungsprinzips bewußt als Normalfall geplant ist. Es war bereits einmal die Entwicklung einer Kernwaffe diskutiert worden, als Kobaltbombe bezeichnet, der die Absicht einer Verstärkung der Wirkungskomponente Strahlung zugrunde lag. In der Neutronenwaffe wurde nun die Strahlung als vorherrschendes Tötungsprinzip realisiert. Um den operativen und begrenzten Einsatz einer nuklearen Waffe bei weitgehender Reduzierung materieller Zerstörungen aber gleichzeitiger Erhaltung vernichtender Wirkungen auf Lebendes zu ermöglichen, wurde also bewußt auf das Tötungsprinzip „Strahlung" orientiert. Die Auswertung der Atombombenexplosionen über Hiroshima und Nagasaki sowie die zahlreicher tierexperimenteller Versuche hat gezeigt, daß die somatischen Strahlenschäden grob in drei Kategorien eingeteilt werden können. Mit zunehmender Strahlenbelastung treten verschiedene Strahlensyndrome auf: Blutbildsyndrom, Schleimhautsyndrom und zerebrales Syndrom. Die Erholungsfähigkeiten von diesen Erkrankungen und ihr Verlauf sind sehr unterschiedlich. Bei einer vorwiegenden militärische Orientierung auf das Tötungsprinzip Strahlung wird jedoch angestrebt, ein rasches Auftreten des Krankheitsbildes zu erreichen — innerhalb von Minuten. Das ist nur beim zerebralen Syndrom (zentralnervös bedingter Strahlentod) möglich. Es erfordert kurzzeitige Strahlenbelastungen mit etwa 1 0 0 0 0 rad (neue Dosiseinheit 1 rad= 0,01 Gy), wobei es von untergeordneter Bedeutung zu sein scheint, ob der ganze Körper oder nur der Kopf bestrahlt wurde. Der Verlauf dieser Strahlenkrankheit ist immer letal, wobei sich Minuten nach der Exposition bereits eine Unfähigkeit gezielter Handlungen oder gerichteter Reaktionen einstellt; (der „erwünschte" militärische Effekt). Der Tod tritt nach einigen Tagen ein. Aus Hiroshima-Untersuchungen ist zu entnehmen, daß vermutlich ein Teil der Menschen, die sich in einem Umkreis von 500 m vom Hypozentrum aufgehalten haben und nicht durch die Wirkungen der Druckwelle oder Wärmestrahlung getötet wurden, an dieser Form der Strahlenkrankheit gestorben sind. Der rasche Ablauf der Krankheit hatte jedoch zunächst die eingehende klinische Erfor-
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schung verhindert. Bei der Neutronenwaffe ist im Vergleich zur Hiroshima-Atombombe die Qualität der Strahlung merklich verändert. In beiden Fällen liegt ein Strahlungsgemisch vor, aber im Falle der Neutronenwaffe überwiegt der Neutronenanteil stark gegenüber dem Gammaanteil. Es ist hinreichend bekannt, daß Neutronenstrahlung im Vergleich zur Gammastrahlung eine höhere biologische Wirksamkeit besitzt. Nach Neutronenbestrahlung entstehen etwa doppelt soviel schwer reparierbare Schäden an den genetischen Strukturen der Zellen als nach Röntgenbestrahlung (oder nach Gammabestrahlung). Außerdem sind die nach Röntgenbestrahlung als leicht reparierbar charakterisierten Schadenstypen nach Neutronenbestrahlung schwerer reparierbar. Betont werden muß, daß mit wachsender Strahlendosis für die normale Funktion einer Zelle nicht mehr die Integrität oder wiederherstellbare Integrität ihrer genetischen Strukturen allein betrachtet werden darf, sondern auch die strahleninduzierten primären Störungen der Zellmembraneigenschaften. Die membrangebundenen ZellZell-Wechselwirkungen realisieren die Kommunikation der Zellen, ihr soziales Verhalten und somit auch die integrativen Funktionen der Organe. Es ist leicht vorstellbar, daß bei hohen Bestrahlungsdosen ein Versagen zellulärer Funktionen allein infolge der Zellmembranschäden eingeleitet wird und die Ausheilung dieser Membranschäden eben deshalb unmöglich ist, weil gleichzeitig auch die dafür notwendigen Informationen in den genetischen Strukturen irreparabel zerstört wurden. Die Unausweichlichkeit eines tödlichen Ausgangs bei hohen Strahlendosen ist also prinzipiell verständlich. Infolge der höheren biologischen Wirksamkeit der Neutronenstrahlung t r i t t bei der Neutronenwaffe das zerebrale Strahlensyndrom wahrscheinlich bereits bei Dosen um 3000 rad auf. Da mit wachsendem Abstand vom Explosionsort die Strahlendosis abnimmt und ungeschützt betroffene Personen in Abhängigkeit von ihrem Standort unterschiedliche Strahlenbelastungen erfahren, ist auch mit dem Auftreten der übrigen bekannten Strahlensyndrome zu rechnen. Auch diese verlaufen bei Strahlendosen (Neutronenstrahlung) von 200 - 500 rad häufig und über 500 rad immer tödlich. Der entscheidende Unterschied besteht darin, daß sich diese Krankheitsbilder allmählicher entwickeln und das Sterben Wochen bis Monate dauert. Auch bei Strahlendosen mit Überlebenschancen können 73
dennoch Jahre danach schwere Spätschäden auftreten und selbst bei so geringen Strahlendosen, die keine Krankheitssymptome mehr hervorrufen, ist an die genetischen Schäden späterer Generationen zu denken. Die vom militärischen Standpunkt für den Einsatz als taktische Waffe allein wichtige Wirkungszone ist diejenige, innerhalb der Dosen über 3000 rad auftreten. Wird sie zu 1000 m gefordert, dann folgt aus einer Berechnung der Dosisabnahme in größeren Entfernungen auf Werte, die noch zu schweren Strahlenkrankheiten führen, daß die Fläche der äußeren Zone erheblich größer ist als die Fläche der militärischen relevanten inneren Zone. Aus diesen Fakten allein ergibt sich schon der unmenschliche Charakter der Neutronenwaffe, die sie in eine Reihe stellt mit den chemischen und bakteriologischen Kampfmitteln, die mit Recht von der Menschheit geächtet werden.
2. Das Funktionsprinzip
der
Neutronenwaffe
Über das Funktionsprinzip der Neutronenwaffe lassen sich physikalisch folgende Aussagen machen: AJs Neutronenquelle wird mit Sicherheit die Kernreaktion D + T —>4He (3,5 MeV) + n (14 MeV) verwendet, die bei hoher Temperatur und Dichte als thermonukleare Reaktion gezündet werden kann und bei der 80 % der freigesetzten Energie als kinetische Energie der emittierten Neutronen erscheint. Im Vergleich dazu werden bei der Fusionsreaktion D + D einschließlich Folgeprodukten maximal 38 % der Energie in Neutronen geringeren Durchdringungsvermögens investiert, und bei der Uran- oder Plutoniumspaltung sind es nur ca. 3%; Die für den militärischen Einsatz erforderlichen hohen Dosen von etwa 3000 rad entsprechen einem Neutronenfluß von ca 10 15 Neutronen pro Quadratmeter. Um im Abstand von 1000 m vom Explosionsort eine solche Dosis zu erreichen, müssen im Sprengkörper einige g Tritium umgesetzt werden. Die dabei insgesamt freiwerdende Fusionsenergie entspricht einem Sprangstoff äquivalent von ca. 1 kt. Davon werden jedoch nur 20 % unmittelbar am Explosionsort freigesetzt, so daß die dadurch erzeugte Druckwelle und Wärmestrahlung nur der Wirkung einer üblichen Kernexplosion von 0.2 kt Sprengstoffäqui74
valent entspricht. Deren Wirkungsradius liegt bei einigen 100 m, so daß bei genügend großem Abstand des Explosionsortes von der Erdoberfläche die materiellen Zerstörungen auch am Bodennullpunkt gering gehalten werden können. Bei z. B. 500 m Explosionshöhe wird am Boden ein Spitzenüberdruck von 0.12 bar erzeugt, der nur noch geringe Schäden verursacht, und die thermische Strahlung reicht nicht mehr aus, leicht entflammbare Gegenstände zu entzünden. Eine wesentliche Erhöhung der in der Bombe freigesetzten Fusionsenergie über die genannte Größenordnung hinaus ist aus physikalischen Gründen nicht sinnvoll, da der Wirkungsradius der Neutronen hauptsächlich durch das Absorptionsvermögen der Atmosphäre bestimmt wird. Ein wesentlich größerer Wirkungsradius als 1 km, der dem taktischen Anwendungszweck entspricht, erscheint also auch aus physikalischen Gründen nicht möglich. Diese Daten begründen die Möglichkeit des operativ-taktischen Einsatzes der Neutronenwaffe ohne wesentliche Behinderung der militärischen Bewegungen des Anwenders und damit auch die Gefahr ihrer breiten Streuung beim Anwender. Das ist gleichbedeutend mit einer gefährlichen Ausweitung der Befehlsgewalt über ihren Einsatz. Das technische Problem der Konstruktion des Sprengkörpers dürfte darin bestehen, die Zündung des Fusionsmaterials mit Hilfe eines möglichst kleinen Spaltungs-Sprengsatzes aus Uran 235 oder Plutonium zu bewerkstelligen. Aus der Entwicklung der taktischen Kernwaffen ist bekannt, daß Mini-Atombomben mit Sprerigstoffäquivalenten unter 0.1 kt hergestellt werden können. Welche Mindeststärke zur effektiven Zündung der Fusionsladung benötigt wird, ist ein Problem der inneren Ballistik der Spaltstoff- und Fusionsladung, deren Details natürlich streng geheim gehalten werden. Jedoch ist aus physikalischen Gründen sicher, daß das Fusionsmaterial zum Zeitpunkt der Zündung in hoher Dichte vorliegen muß, damit in der zur Verfügung stehenden Zeit von der Größenordnung einer Mikrosekunde ein möglichst vollständiger Umsatz des eingesetzten Tritiums erfolgen kann. Es ist daher anzunehmen, daß zur Kompression und Zündung des Fusionsmaterials die kumulative Wirkung der Stoßwelle der Spaltstoffexplosion (Hohlladungseffekt) verwendet wird. In welcher Form das Deuterium-Tritium-Gemisch eingesetzt wird, etwa als Gas unter hohem Druck oder als wasserstoffreiche Verbindung wie z. B. H 2 0 oder NH 3 , dürfte auch von den Bedingungen der 75
inneren Ballistik abhängen. Jedenfalls lassen sich die benötigten Mengen von einigen Gramm Tritium auf genügend kleinen Raum unterbringen. In 50cm 3 einer T 2 0-D 2 0-Mischung sind z.B. 8,3g Tritium enthalten. Das benötigte Tritium wird in Kernreaktoren durch Bestrahlung von Lithium mit Neutronen hergestellt. Weil pro g Tritium 80 mal mehr Neutronen verbraucht werden, als zur Produktion von 1 g Plutonium erforderlich sind, dürfte Tritium im Vergleich zu Plutonium sehr kostspielig sein. Da jedoch nur geringe Mengen benötigt werden, wird dies unter der Voraussetzung eines effektiven Umsatzes in der Bombe kein begrenzender Faktor sein. Die hier vorgetragenen Überlegungen können natürlich nur grob qualitativ richtig sein. Es sollte nur gezeigt werden, daß mit einfachen physikalischen Abschätzungen die veröffentlichten Angaben über die Neutronenwaffe verifiziert werden können. Insbesondere lassen sich relativ eindeutig der Wirkungsradius und die Wirkungsweise angeben. Eine weitere offensichtliche Schlußfolgerung ist, daß jede Nuklearmacht ohne Schwierigkeiten in der Lage sein wird, diese Waffe zu produzieren. Ein Verbot ihrer Herstellung und Einführung würde daher keiner Seite einseitige Vorteile verschaffen. Das Verbot der Neutronenwaffe muß also gefordert werden, weil — es sich, auch im Sinne des traditionellen Kriegsrechts, um ein besonders unmenschliches Massenvernichtungsmittel handelt, — durch den geplanten Einsatz als „taktische" Waffe die Ansprechschwelle für die Auslösung eines Atomkrieges weiter herabgesetzt wird, — die Befehlsgewalt über ihren Einsatz gefährlich ausgedehnt wird, — (iie reale Gefahr des Einsatzes dieser Waffe gegen einen technisch unterlegenen Gegner, etwa gegen eine nationale Befreiungsbewegung, besteht, da in diesem Falle die Wirkungsweise dieser Waffe besonders zum Tragen kommt. Darüber hinaus wird durch die Diskussion um die Neutronenwaffe besonders deutlich, von welcher großen Aktualität die Vorschläge der sozialistischen Länder sind, die Entwicklung neuer Massenvernichtungsmittel generell zu verbieten und einen feierlichen Verzicht aller Teilnehmerstaaten der KSZE auf die Erstanwendung von Kernwaffen zu erreichen.
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M. Steenbeck
Die Verantwortung der Wissenschaftler im Atomzeitalter
Daß ein Lokomotivführer eine ganz persönliche Verantwortung trägt, ist klar und unbestritten. Auch ein Chirurg muß sich bei jeder Operation, ein Richter bei jedem Urteil einer mit seinem Beruf verbundenen Verantwortung von neuem stellen, und wenn wir ein wenig nachdenken, finden wir in unserer heutigen, durch enge Wechselwirkung in sich verflochtenen Gesellschaft überhaupt keine Tätigkeit, die nicht eine ganz spezifische Verantwortung einschließt; kein Maurer oder Installateur, kein Stahlwerker, kein Chemiearbeiter, keine Hausfrau ist davon ausgenommen. Wieso reden wir dann von einer besonderen Verantwortung des Naturforschers? Eigentlich betonen wir diese auch erst seit Hiroshima. Was der Naturforscher im stillen Laboratorium bei seiner Suche nach neuer Erkenntnis gefunden hatte, zeigte plötzlich mit dem grauenhaften Vernichtungsblitz die Katastrophe, in die neues Wissen führen kann. War es nicht Schuld der Forscher, diese heraufbeschworen zu haben, eine Schuld, viel größer als die eines Lokomotivführers, der fahrlässig eine Eisenbahnkatastrophe verursacht? Der hat das Unglück nicht gewollt; doch wenn er es überlebt, zieht man ihn zur Verantwortung, verurteilt ihn. Hiroshima und Nagasaki — das war gewollt, und viele kluge Forschungsarbeit wurde bewußt auf dieses Ziel hin geleistet; deswegen zur Verantwortung gezogen wurde kein Forscher, und keiner von ihnen verlor bei einer dieser beiden Explosionen sein Leben. Es war Angst, die in der Öffentlichkeit die Frage nach der Verantwortung des Forschers jetzt plötzlich und eindringlich stellte; aber Angst ist ein schlechter Ratgeber, kann uns sogar vom Wesentlichen ablenken. Hunderte Male mehr Menschen als in Hiroshima und Nagasaki verlohn im Zweiten Weltkrieg auf andere Weise ihr leben; solange das noch wie Schicksal hingenommen wird, bleibt es selbstgerechte Heuchelei, dem Fortschritt unseres Wissens und denjenigen, die ihn bewirken, die wesentliche Schuld an einer Unsicherheit menschlicher Zukunft zu geben. 77
Schuld.tragen wir alle — ganz sicher auch die Forscher; doch die sind keineswegs eine besondere Art von Menschen, denen ungewöhnliche Fähigkeiten auch zu ethischem Handeln zugeschrieben werden können. Natürlich wissen sie in ihrem Fach besser Bescheid als andere, aber auch das ist nichts Besonderes — das gilt für Könner in jedem Beruf. Aber eines ist bei naturwissenschaftlicher Forschung doch anders als sonst: Hier geht es um die Erschließung von zunächst noch Unbekanntem. Was der Forscher bei diesem Suchen im Neuland findet, das kann auch etwas sehr Gefährliches sein oder werden — und wie sehr, darüber hat erst Hiroshima vielen Forschern die Augen geöffnet. Plötzlich und im Grunde unvorbereitet sahen sie sich einer Verantwortung gegenüber, die ganz andersartig war als die eines Lokomotivführers, der zur Rechenschaft gezogen wird, wenn er gegen eine Dienstvorschrift verstoßen hat. Im Unbekannten gibt es keine Dienstvorschrift. Aber was heißt dann Verantwortung? Wenn ein Forscher etwas Neues entdeckt, das zunächst immer unvollständig ist und meist auch noch voller Fehler steckt — woher soll er dann schon wissen, was alles damit später von anderen Leuten gemacht werden wird, vielleicht irgendwann etwas Gutes und Nützliches, vielleicht auch eine große Katastrophe? Und wenn diese eintritt — kann man dann den Forscher, von dem letzten Endes doch alles ausging, für das Unglück verantwortlich machen — oder wenigstens mitverantwortlich? Ist M/fverantwortung aber nicht schon eine Verdünnung ins Anonyme und damit sogar die Aufhebung echter Verantwortung, der sich ein Mensch eben immer nur in seiner eigenen Person stellen muß? Und — kann er sich dieser Verantwortung wirklich stellen, hat ein einzelner überhaupt die Möglichkeit, immer so zu handeln, wie es sein Gewissen im Grunde genommen von ihm verlangt? Ist die so wenig konkret faßbare Verantwortung eines Forschers letzten Endes nicht doch nur sentimentales Geschwätz, Tarnung oder ideeller Luxus in Überbetonung der eigenen Bedeutung, Ich-bezogen und darum von der gleichen moralischen Wertlosigkeit wie Almosen, die man gibt, um — vor sich selbst oder anderen - als guter Mensch dazustehen? - Wer sich zu diesen Fragen etwas zu sagen traut, was vielleicht doch wert sein kann, gesagt zu werden, der muß solche Zweifel aus eigenem Erleben kennen. Dann weiß er aber auch, daß die Antwort, die er für sich selbst anerkennt, nicht notwendig in gleicher Weise auch für jeden 78
anderen gelten wird; denn in jedem Ringen um eine echte Überzeugung steckt eine ganz persönliche, also subjektive Komponente. Es kommt nicht darauf an. Recht zu behalten, sondern nur darauf, daß das Richtige geschieht; das Haupthemmnis ist dabei nicht eine andere Meinung, sondern Gleichgültigkeit. Sich einer Verantwortung zu stellen heiß immer, ein Geschehen, von dem man etwas versteht, nicht einfach dem Selbstlauf - oder Zufall oder nur anderen Menschen — zu überlassen, sondern mitzuwirken oder doch wenigstens zu versuchen, daß es in richtiger Weise weiter abläuft Das verlangt allerdings ein Kennen — und Anerkennen — einer über das Fachspezifische hinausreichenden Werteskala für das, was werden soll. Sich dieses Wissen zu erwerben, ist für niemanden einfach, der darin mehr sieht als nur die Übernahme einer fertigen Schablone, und das zu tun wäre allerdings genau das Gegenteil von der Geisteshaltung, wie sie für ein Sich-zurecht-finden in Neuland nötig ist. Darum ist es gerade für einen naturwissenschaftlichen Forscher schwer, sich in dieser Weise außerhalb seines eigentlichen Berufes wirklich zu engagieren, der ohnehin den Einsatz seines ganzen Könnens verlangt, will er hier etwas Ordentliches leisten. Aber das ist noch nicht alles. Wer nach neuer Erkenntnis sucht, zeigt damit jedenfalls, daß ihm die bestehenden Vorstellungen nicht genügen — und damit mehr oder weniger auch wohl nicht das auf diesen gegründete jeweils „gültige" Weltbild. Immer kam ein solcher Mensch daher bei den Mächtigen leicht in den Verdacht einer religiösen, politischen oder sonstigen Ketzerei, wenn er nicht „bei seinen Leisten blieb" - und so blieb er eben meistens dabei. Es entspricht ohnehin einer für jede Forschungsarbeit nötigen Methode, alles Störende, dem Ziel nicht unmittelbar Dienende wenigstens zunächst beiseitezuschieben; wenn ein Forscher allen bei seinen Untersuchungen neu auftretenden Problemen nachgeht, löst er keines. Er zog sich umso lieber in seinen „Elfenbeinturm" zurück, weil er in der sonstigen Umwelt o f t einer erschreckenden Verständnislosigkeit gegenüber dem Wesen naturwissenschaftlicher Forschung begegnete. Ich habe selbst erlebt, wie ein hochgestellter liberaler Jurist der Weimarer Zeit in einer langen Unterhaltung allen Ernstes beanspruchte, notfalls könne er entscheiden, wer bei einem wissenschaftlichen Streit zwischen zwei Physikern Recht habe: Absolute Wahrheit könne niemand erkennen, aber das für den Menschen Richtige zu beurteilen habe der Jurist gelernt. - Auch 79
wenn das heute in dieser Form wohl nicht mehr möglich ist, glaube ich nicht, daß solches Mittelalter schon völlig Vergangenheit ist. Aber umgekehrt ist auch eine Zukunft keineswegs schon allgemeine Gegenwart, in der keine naturwissenschaftliche Forschung sich noch als Selbstzweck sieht, sondern jede ihre vornehmste Aufgabe, der Gesellschaft zu dienen, als Selbstverständlichkeit anerkennt. Das Geschehen in der uns umgebenden Natur so richtig wie nur möglich in seiner von Menschen unabhängigen Gesetzmäßigkeit zu erfassen und die gewonnenen Resultate unverfälscht auszusprechen, ohne Rücksicht auf den Grad ihres Erwünschtseins — dieses oberste Gebot zur Objektivität für die Naturforschung kann - wenigstens scheinbar — mit der keineswegs weniger wichtigen Forderung nach Parteilichkeit kollidieren, wenn es darum geht, die ebenfalls real bestehende, aber nur durch Menschen vollziehbare Gesetzmäßigkeit gesellschaftlicher Entwicklung in der als notwendig erkannten Richtung zu fördern. Das klingt widersprüchlich und kompliziert u n d ist im Grundsatz dennoch einfach. Es ist sogar so selbstverständlich wie die Tatsache, daß kein Schiff seine Fahrt ohne zuverlässige Bestimmung der Position durchführen kann. Diese Angaben müssen so objektiv richtig sein wie nur möglich, und kein noch so verständlicher Wunsch, man möge doch schon da oder dort sein, darf sie beeinflussen; doch das Ziel der Reise bestimmen sie nicht, auch wenn sie Kurskorrekturen auf dem Wege dorthin nötig oder möglich machen können. So, wie die Positionsbestimmung Dienst auf dem Schiff, ist auch Naturforschung notwendiger Dienst in der Gesellschaft. Aber es ist eben — wenigstens für wichtige Gebiete — ein Dienst ohne Vorschriften; in der Regel weiß ja ein Forscher dort, wo er sucht, ohnehin besser Bescheid als andere Leute. Umso wichtiger ist es darum, daß er selbst sich schon frühzeitig Gedanken darüber macht, was aus seinem F u n d werden kann. Neue Erkenntnis an sich ist nie Frevel; erst durch ihre Anwendung gelangt sie in moralisch relevante Kategorien. Dabei gibt es wahrscheinlich überhaupt kein Wissen, das nur z u m Guten oder nur zum Bösen eingesetzt werden kann. „ G u t " und „böse" sind allerdings gesellschaftliche Begriffe, die der Naturforscht/nsr selbst fremd sind, die kennt nur „falsch" oder „richtig", allenfalls noch „unbestimmt". Aber der Naturforscher muß sich heute, mindestens seit Hiroshima, auch mit diesen Wertungen auseinandersetzen, deren — rein logisch nicht abschließend faßbarer und von
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der Gesellschaft abhängiger - Inhalt andere Maßstäbe setzt, auch wenn wohl immer nur das gut sein kann, was auch richtig ist. Die tätige Bereitschaft zu frühzeitiger Prüfung eines neu gefundenen Wissens auf mögliche gesellschaftliche Auswirkungen und zu klarer Parteinahme gegen einen denkbaren Mißbrauch gehören heute zu der Verantwortung, der sich ein Forscher aus freien Stücken stellen muß, weil ihn sonst niemand dazu zwingen kann. Das kostet sicher Mühe und Zeit, verdirbt unter Umständen auch ein Alibi, nichts gewußt zu haben; aber hier liegt die Grenze zwischen logischem Automaten und menschlicher Persönlichkeit. Kein Forscher steht außerhalb oder über der Gesellschaft, sondern wie jeder andere mitten in ihr; hier und nur hier muß und kann er sich bewähren, seiner Verantwortung gerecht werden. Bewährung, Verantwortung - das sind große Worte. Welchen Zielen soll sich denn der Mensch, auch der Forscher, verpflichtet fühlen: Fortschritt, Kultur, Menschenwürde, Freiheit, Reichtum, Ehre oder was sonst? — Das Gebot ist viel weniger hochtrabend und doch in seiner einfachen Notwendigkeit geradezu erschreckend: Daran mitzuwirken, daß das Weiterleben der Menschen überhaupt möglich bleibt; denn das ist die Voraussetzung für alles andere. Darum hat diese Forderung unbedingte Priorität, auch wenn die lediglich physische Weiterexistenz für das menschliche Leben sicher nicht ausreicht. Die heutigen großen, neuartigen und sehr realen Gefahren drohen keineswegs nur in einem nuklearen Krieg. In ihren Mitteln kennt sie keiner genauer als die Forscher, und diese selbst müssen also auch den M u t haben, rechtzeitig die Auswirkungen zu sehen und vor den negativen zu warnen. Sicher können sie dadurch bei vielen in den Ruf kommen, Ketzer oder Verräter an altüberkommenen „höchsten Gütern der Menschheit" zu sein, und darum werden nicht alle so handeln. Dann sollten sie wenigstens vor sich selbst zugeben, es doch eigentlich tun zu müssen u n d sich gegen einen Zynismus wenden, der all dies verspottet, etwa mit der Begründung: Kriege habe es doch immer gegeben. Einstmals galt eine solche Feststellung auch für die großen Seuchen; Forscher haben die Mittel geschaffen, dies zu ändern. Die heutige - und zukünftige - Forderung, das Weiterleben der Menschen möglich zu machen, ist etwas grundsätzlich Weiterreichenderes als früher, wo Stämme, Völker oder Länder ihre eigene Existenz, Zukunft, Macht auf Kosten anderer Stämme oder Staaten sichern
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wollten .und dazu — ohnehin oft als minderwertig hingestellte — Gegner umbrachten; dieses „früher" reicht bis in unser Jahrzehnt. Die Forderung nach Vermeidung solcher Gewalt muß aber allgemein und ohne Nebenbedingungen gelten — nur nicht demjenigen gegenüber, der sie mißachtet. Utopie? Nicht für den, der die Kraft zu dem Optimismus hat, daß die Menschen das für ihr Leben Notwendige auch weiterhin werden lernen können, wenn auch meist erst unter dem Zwang der Umstände — und die hängen von der Gesellschaft ab. Daher noch ein Wort zu „der" Gesellschaft, die es so einfach ja gar nicht gibt, sondern nur in sehr verschiedenen Stadien ihrer Entwicklung. Daß diese nach erkennbarer Gesetzmäßigkeit verläuft — trotz aller im Detail sicher wirksamen Zufälligkeit oder menschlichen Willkür — das will oft gerade ein Naturforscher nicht recht wahrhaben, der in seinem Bereich nur Gesetze kennt, auf deren Inhalt kein Mensch Einfluß hat. Nur im Rückblick sei eine gesellschaftliche Entwicklungslinie feststellbar und in ihrer Tendenz sogar einigermaßen verständlich — das wird allerdings meist zugegeben. Aber das heißt doch, daß in der Vergangenheit eine für uns erkennbare Gesetzmäßigkeit gewirkt hat, und dann ist es nur unsere Unaufmerksamkeit, wenn wir sie heute nicht sehen — oder wir wollen sie nicht sehen. Auch bei der Deutung naturwissenschaftlicher Ergebnisse ist es nie einfach, neben den immer vorhandenen „Dreckeffekten" das Wesentliche herauszufinden, und wer das nicht Kann, findet nie Neues. Bei der Erforschung der viel verwickeiteren, aber für unser Leben weitaus wichtigeren gesellschaftlichen Vorgänge ist diese Schwierigkeit wesentlich stärker vorhanden. Hierbei dürfen Naturwissenschaftler nicht im Abseits bleiben; das ist heute noch wichtiger als zu Zeiten von Kopernikus oder Darwin, deren Wirkung auf gesellschaftliche Wertungen — und damit auch auf Machtstrukturen — unbestreitbar ist. Einstein ist ein Beispiel unserer Zeit. Doch sage niemand, so etwas könnten nur die ganz Großen tun. Die Bedeutung der Produktion für die gesellschaftliche Entwicklung ist bekannt; die Mittel dazu sind heute mehr denn je Anwendung naturwissenschaftlicher Forschung, und daher besteht hier eine enge Kopplung gesellschaftlicher Entwicklungen mit den Naturwissenschaften. Selbstverständlich ist „die" Gesellschaft mit ihrer Unzahl einzelner Menschen jeweils eigener Individualität etwas völlig anderes als die Natur mit Unzahlen völlig 82
identischer Atome. Gesellschaftliches Geschehen kann nicht - und schon gar nicht nur — mit naturwissenschaftlichen Methoden verstanden werden. Aber deren Einbeziehung ist, wie in vielen anderen Bereichen, auch hierbei nützlich und notwendig, damit Störungen in der gesellschaftlichen Entwicklung durch Zufall und Willkür an Bedeutung verlieren und sich die Politik von der Kunst des Möglichen zur Wissenschaft vom Notwendigen wandeln kann. Um unserer Zukunft willen: Die Verantwortung des Naturforschers verlangt gerade von ihm gesellschaftliche Mitarbeit und Einsicht. Was die hier beschriebenen Forderungen konkret bedeuten, sollen einige Beispiele zeigen. Zunächst muß dann etwas über die Arbeiten gesagt werden, die schließlich zur Atombombe geführt haben; hier soll aber keine Geschichtsdarstellung dieser Entwicklung gegeben werden, sondern nur von dem gesprochen werden, was unmittelbar zum Thema dieses Aufsatzes gehört: Wie sich Forscher in beginnender Ahnung einer heraufziehenden Gefahr einer neuartigen Verantwortung bewußt wurden und was sie daraufhin taten — in der ganzen Unterschiedlichkeit und oft Hilflosigkeit ihrer Reaktionen. Auch dabei ist noch Beschränkung auf wenige geboten, um einiges sagen zu können, was tiefer reicht als bloße Allgemeinheiten oder ohnehin Bekanntes. Hahn und Straßmann sahen sich um die Jahreswende 1938/39 geradezu gezwungen, eine Spaltung von Urankernen durch Neutronenbeschuß in wenige noch ziemlich große Bruchstücke als eine allen bisherigen Erfahrungen widersprechende Tatsache anzuerkennen; eine andere Deutung ließen ihre mit gewissenhaftester Sauberkeit durchgeführten Versuche nicht mehr zu. Auch in Italien, in Paris und an anderen Stellen wurden ähnliche Versuche durchgeführt, zunächst nur mit dem Ziel, künstliche Atomkerne — noch schwerer als die des Urans, wie sie sonst nicht vorkommen — dadurch aufzubauen, daß Neutronen in einen Urankern hineingeschossen werden und darin steckenbleiben; bei leichteren Kernen war so etwas schon gelungen. Der Sinn solcher Versuche in dem bis dahin gerade noch zugänglichen „Innersten der Natur" war ausschließlich das Streben, die Kräfte und die Gesetzmäßigkeiten zu erkennen, die hier den Zusammenhalt bestimmen; an irgend eine Nutzanwendung konnte noch niemand denken. Noch lag die Verantwortung der Forscher nur in einem ehrlichen Bericht über das gegen alle Erwartung Gefundene. Gerade 83
weil die ungewöhnlich saubere Analytik des Hahn'schen Instituts bekannt war, machte diese Entdeckung ein so großes Aufsehen. Das Ergebnis wurde schon innerhalb weniger Wochen an anderen Stellen nachgeprüft und bestätigt. Physik ist eben vor allem eine Erfahrungswissenschaft. Jetzt erst erinnerte man sich an eine schon früher geäußerte, aber wenig beachtete, weil rein spekulative Vermutung einer möglichen Kernspaltung; jetzt erst begann man den Prozeß zu verstehen: Ungewohnt hohe Energien mußten dabei frei werden; schon sehr bald deutete sich als eine nicht mehr nur hypothetische Möglichkeit an, ein zerplatzender Urankern müsse selbst neue Neutronen abgeben und dadurch benachbarte Urankerne in einer Kettenreaktion in die Spaltung mitreißen können. Die Gefahr einer Atombombe tauchte plötzlich auf, ohne daß so etwas ursprünglich auch nur im entferntesten beabsichtigt war. Beginnt hier also die Schuld der Forscher? - Der aus rassischen Gründen aus Deutschland in die USA emigrierte ungarische Physiker Szilard warnte schon Anfang 1939 vor einer Weiterarbeit oder wenigstens vor jeder Publikation von Resultaten über diese Kettenreaktion. Frederic Joliot-Curie hatte schon vor Jahren mit seiner Frau Irene den Nobelpreis für die Herstellung und Untersuchung künstlicher Atomkerne erhalten und schon damals von einer bei solchen Prozessen vielleicht irgendwie einmal möglichen Kettenreaktion gesprochen; aber er hatte auch ein bei großen Forschern damals noch recht seltenes sicheres politisches Urteil. Er wußte, daß Verschweigen sicherlich keine Lösung war; in einer solchen Vorstellung - so ethisch hochwertig die ihr zugrunde liegende Absicht auch sein mochte — liegt eben letzten Endes doch nur eine unrealistische Überbewertung der Bedeutung und der Wirkungsmöglichkeit einzelner. Das Wissen um die Aussicht zur explosionsartigen Freisetzung unvorstellbar großer Energien war schon viel zu weit verbreitet, als daß es noch hätte eingedämmt werden können; die Inhaber der Macht würden es jeweils für ihre Zwecke nutzen, die Weiterarbeit in eigene Regie nehmen und die Resultate für sich behalten. Je mehr an Wissen noch vorher der Allgemeinheit bekannt würde, um so besser konnten sich Einsichtige gegen einen Mißbrauch wenden. Zwar war auch das nur ein wenig erfolgversprechender, aber vielleicht doch nicht völlig unmöglicher Weg; gerade umgekehrt zu Szilards Vorstellung war Verschweigen dann nicht nur nutzlos, sondern schädlich. Joliot-Curie veröffentlichte
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seine Ergebnisse: Bei der Spaltung eines Urankerns werden genug Neutronen frei, um benachbarte Kerne zu spalten; die Kettenreaktion ist möglich. Auch andere Stellen fanden dieses Resultat. Doch danach ging bald, schon Monate vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, ein dichter Schleier vor diesen Arbeiten nieder, der erst sechs Jahre später mit dem Blitz von Hiroshima aufriß. Die Macht hatte ihre Hand auf dieses Wissen gelegt. Aber um dieses Wissen für ihre Zwecke auszunutzen, brauchte die Macht die Mitarbeit der Forscher; begann nicht spätestens jetzt deren Schuld? Ohne Zweifel ja — doch wo lag sie? Auch heute, nach vielen inzwischen gemachten bitteren Erfahrungen, gibt es keine allgemein befolgte Wertungsskala für menschliches Handeln. 1939, nach der vom Ausland fast widerstandslos hingenommenen Machtausdehnung Hitler-Deutschlands mit der immer brutaler werdender Überheblichkeit seiner Methoden und Ziele, war das noch weit weniger der Fall. Derselbe Mann, der noch vor kurzem aus Sorge vor einer Atombombe Joliot-Curie zum Verschweigen seiner Ergebnisse hatte veranlassen wollen, wandte sich nun aus Sorge, daß Hitler als erster in den Besitz dieser Waffen kommen könne, an den ebenfalls aus Deutschland in die U S A emigrierten alten Pazifisten Einstein; dessen bekannter Brief an Roosevelt hatte dann tatsächlich den Einfluß auf den Präsidenten, daß dieser die Arbeiten für die Atombombe in einem Ausmaß anlaufen und durchführen ließ, wie es sie hier für staatlich gelenkte Entwicklungen früher nie gegeben hatte. Dieser Weg führte direkt zu Hiroshima. War das nun die Schuld von Szilard oder Einstein oder von Hitler? Wenn wir doch endlich damit aufhören könnten, die Schuld immer nur bei Einzelpersonen zu suchen statt in der jeweiligen Gesellschaft und deren Zielen - und damit auch bei uns selbst. Ohne Resonanz in seiner Gesellschaft wäre jeder einzelne - auch ein Hitler - nie zu Ursache oder Anlaß einer Katastrophe geworden, noch überhaupt von irgend etwas geschichtlich Bedeutsamen. Heute gilt das noch mehr als damals, auch für den Forscher und nicht nur bei Kernwaffen. Der Forscher steht wie jeder andere mitten in seiner Gesellschaft und damit^auch in deren Machtstruktur; doch darum ist er kein willenloses Wesen - kein Mensch ist das; darüber soll am Schluß dieses Aufsatzes noch einiges gesagt werden. Wie verschieden die Reaktionen auch der Forscher in unterschiedlicher Umwelt sind, dazu ist noch einiges mehr aus der Geschichte der Atombombe zu entnehmen, was darüber 85
hinaus Bedeutung hat. Wieso wurde an der Bombe schon im zunächst am Krieg doch noch nicht unmittelbar beteiligten Amerika gearbeitet, warum wurde sie damals nicht in Deutschland oder in der Sowjetunion gebaut, obwohl das Prinzip überall bekannt war? Waren die Forscher in Amerika tüchtiger, waren sie gewissenloser? In einer solchen Frage klänge allerdings wieder eine Tendenz an, „die" Schuld nur bei einzelnen oder einer Gruppe weniger einzelner zu suchen. Es stimmt schon: Hätte sich Szilard nicht oder nur ein wenig später an Einstein gewandt — vielleicht hätte dann die Bombe, die für ihren ursprünglichen Zweck, Hitler-Deutschland zu zerschlagen, zu spät kam, auch gegen Japan nicht mehr „rechtzeitig" eingesetzt werden können, weil dieser Krieg ja auch ohne Hiroshima kurz vor seinem Ende stand. Als die Niederlage Deutschlands feststand und damit der einzige Grund entfiel, der in den Augen dieser Forscher die Entwicklung einer so schrecklichen, in ihrer Wirklichkeit aber noch nicht erprobten Waffe moralisch gerechtfertigt hatte, wandten sich Szilard und Einstein zusammen mit anderen wieder an dieselbe Macht, der sie vor Jahren den Bau der Bombe vorgeschlagen hatten, mit der Aufforderung, diese nicht mehr einzusetzen; aber die Macht schob sie, alles einzelne ohne wirklichen Einfluß, beiseite. Lag die Schuld dieser Forscher also nur in einer falschen Termineinschätzung? Die Bombe wäre in Amerika auch ohne Einsteins Brief an Roosevelt gebaut worden, wahrscheinlich sogar nur sehr wenig später. Ihr Schrecken wäre vielleicht nicht mehr in Japan demonstriert worden, aber dann im Korea-Krieg oder in Vietnam. Andere Menschen wären dabei umgekommen, wichtig genug für die Betroffenen, doch ohne nachhaltigen Einfluß auf die gesellschaftliche Entwicklung im Ganzen. Also Geschichte als Schicksal? Nein, aber als menschlicher Logik — und damit auch menschlicher Tatkraft — zugängige Verschiebungen im Machtverhältnis gesellschaftlicher Kräfte in einer Richtung, die insgesamt, wenn auch nicht in allen Einzelheiten für das Weiterleben der Menschen notwendig ist. Die Bombe wurde nicht deshalb in Amerika gebaut, weil es nur dort besondere tüchtige Forscher gab — obwohl es die dort gab, verstärkt durch eine große Anzahl aus Europa Emigrierter — oder weil die Forscher in den USA weniger Hemmungen als anderswo hatten, die Bombe zu entwickeln — obwohl auch das wahrscheinlich bei vielen zutraf, die die Grausamkeit des Faschismus selbst erlebt hatten. Das
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war Voraussetzung, nicht Grund zum Bombenbau. Der geschah, um die politische und wirtschaftliche Vormachtstellung Amerikas, wie sie sich als Folge des Krieges auf alle Fälle herausbilden würde, auch militärisch gegenüber jedem anderen — und keineswegs nur Hitler — durchzusetzen und zu sichern. Unabhängig von allen moralischen Werturteilen war das für politisch Einsichtige der als geradezu selbstverständlich voraussagbare Weg einer imperialistischen Macht. Deren Stärke aller Welt so zu beweisen, daß ihr keine andere Macht mehr entgegentreten konnte— das diente dann ja auch dem „Frieden". Dazu mußt die Bombe fallen, je eher je besser; deshalb wurden zu ihrer Entwicklung riesige Mittel aufgewandt. Nach Hiroshima waren viele Forscher über das Ergebnis ihrer Arbeit tief erschrocken und zogen sich von dieser Aufgabe zurück, die trotz Beendigung des Krieges rasch zu infernalischen Dimensionen anwuchs. Auch noch an einer kommenden Wasserstoffbombe mitzuarbeiten, weigerte sich Oppenheimer, der als „Vater der Atombombe" mit dieser Wunderwaffe ein für sein Land so willkommenes Monopol hatte entstehen lassen und dort deshalb ungeheuer populär geworden war. Doch er sagte nun, durch Hiroshima hätten „die Physiker die Sünde kennengelernt", und weil er sich damit gegen die Macht und insbesondere gegen deren sturen Antikommunismus wandte, wurde er vor Gericht gestellt und erst viele Jahre später rehabilitiert. An seine Stelle traten andere mit weniger Skrupel; die Wasserstoffbombe wurde gebaut. Vor Hiroshima hatten die meisten Forscher noch besten Gewissens geglaubt, ihre Arbeit richte sich nur gegen Hitler und sein unmenschliches Machtsystem. Doch auch damals gab es schon Zweifel an der Richtigkeit dieses Weges; einige bedeutende Wissenschaftler hatten sich darum von jeder Mitarbeit ferngehalten, ganz wenige versuchten sogar — in vollem Bewußtsein der eigenen Gefährdung — den erkannten, über die Niederwerfung Hitler-Deutschlands hinausgehenden imperialistischen Zielen entgegenzuwirken. Aber die übrigen machten mit — aus Pflichtgefühl, Ehrgeiz, genau wie andere Menschen es getan hätten. Sie wußten um die Größe der Explosionsenergie einer Bombe; aber um sich das Schreckliche in seiner Wirkung realistisch auszumalen, fehlte ihnen die Phantasie und wohl auch der Wille, etwas so Unbequemes zu durchdenken - genau wie heute viele Menschen nichts davon hören wollen, daß gegenüber einem mit den jetzigen 87
Mitteln geführten nuklearen Krieg selbst Hiroshima fast eine kindliche Idylle wäre. - Eine andere Motivierung wirkte gerade auf engagierte Forscher: Die vielen erkenntnismäßig neuen Probleme, die es zu lösen galt und für die jetzt genug Mittel zur Verfügung standen. Ein großartiges Beispiet war die schon lange vor der Bombe gelungene Verwirklichung einer gesteuerten Kettenreaktion bei der Uranspaltung, die Grundlage für eine friedliche Nutzung der Kernenergie. „Geh mir weg mit deinen Bedenken, das ist doch so schöne Physik". 1 Und schließlich trieb die Furcht an, Hitler könne als Erster über eine Atombombe verfügen. Tatsächlich gab es diese Gefahr allerdings nie. Hatten denn deutsche Forscher mehr Skrupel, so daß sie hierbei saubere Hände behielten? Das ist wieder falsch gefragt. Entscheidend ist, daß sie gar keine reale Möglichkeit hatten, sich die Hände schmutzig zu machen, obwohl auch Hitler schon frühzeitig darauf hingewiesen wurde, eine wie großartige Sache eine Atombombe doch sei. Die wichtigsten deutschen Forscher waren in der Mehrzahl sicher nicht engagierte Nationalsozialisten - schon die engen internationalen Beziehungen bei einer Forschungsarbeit passen nicht recht zu engstirnigem Nationalismus — und sie drängten sich nicht gerade zum Bombenbau; aber die besten Sachkenner arbeiteten auch hier an. Versuchen zunächst für eine gesteuerte Kettenreaktion, der logischen Vorstufe zur Bombe. Zum Erfolg fehlten nicht so sehr die Forscher, als viel mehr technische Unterstützung und bestimmtes Material. Genug Geld gab es nur für solche Entwicklungen, die schon nach einem Jahr Ergebnisse versprachen; zunächst glaubte man, den Krieg sonst ohnehin schon gewonnen zu haben, und später reichten die Kräfte sogar für die wachsenden Tagessorgen nicht mehr. An Material — vor allem Uran und schwerem Wasser — fehlte nach allem Zusammenkratzen auch in den besetzten Gebieten schließlich nur noch eine relativ sehr kleine Menge. Hätte Joliot-Curie nicht vor und zum Teil noch während der Besetzung Frankreichs die dortigen Vorräte nach England oder beiseite schaffen lassen können, wäre die Kettenreaktion wohl auch in Deutschland gelungen und dann vielleicht mehr Geld für die Weiterarbeit dagewesen. Das hatte die politische Weitsicht von Joliot-Curie 1) Ausspruch von E. Fermi.
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unterbunden. So wurde er nach dem Kriege als der angesehenste französische Forscher zum Hochkommissar aller kerntechnischen Arbeiten in Frankreich ernannt — und nach kurzem trotz seiner großen Popularität wieder entlassen, weil er wie Oppenheimer am antikommunistischen Kalten Krieg nicht teilnehmen wollte. Die Parallelität dieser beiden Fälle ist nicht zufällig; aber während Oppenheimer sich zurückzog, nahm Joliot-Curie den Kampf um die Zukunft jetzt verstärkt auf. In einer großen internationalen Friedensbewegung suchte er die Massen für ein Ziel zu gewinnen, welches durch intellektuelle Kreise allein eben nicht zu erreichen ist. Das führte schließlich zum „Stockholmer Appell" mit seiner Achtung nuklearer Waffen; ihm stimmten 600 Millionen Menschen zu. Diese alle Kontinente überspannende öffentliche Meinung erwies sich als eine neuartige reale politische Kraft. Zu ihrer klaren Stellungnahme hatte wesentlich die Entschiedenheit beigetragen, mit der, durch Hiroshima aufgeschreckt, sich zahlreiche Naturforscher mit ihrer ganzen wissenschaftlichen und menschlichen Autorität gegen die Gefahren wandten, die durch vorhandene oder zukünftig mögliche Nuklearwaffen drohen - und durch die an deren Einsatz Interessierten; aus selbst gewonnener Erfahrung kannten sie die Lage genauer als die meisten Menschen sonst. — Aber auch eine weltweite öffentliche Meinung ist für sich noch keine Macht, die ein Geschehen entscheidet, trotz ihres auch später oft bewiesenen unbestreitbar großen Einflusses — etwa auf die Beendigung des Vietnam-Krieges oder die Beschlüsse von Helsinki über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. So ist heute zwar der Widerstand gegen einen faktischen Einsatz nuklearer Waffen von niemandem mehr so einfach beiseite zu schieben wie vor Hiroshima die Einwände damals noch einzelner und darum hilfloser Forscher; aber wenn eine imperialistische Weltmacht ihre Geltung in Frage gestellt sieht, läßt sie sich kaum nur durch solche Gründe beeinflussen. Diese Gefahr dürfen wir nicht übersehen; sie kann jederzeit und sehr plötzlich akut werden. Erst vor wenigen Jahren wollten einflußreiche Kreise die ihrer Meinung nach bis dahin viel zu lasche amerikanische Kriegsführung in Vietnam durch Einsatz von Atombomben ablösen, und zahlreiche Massenmedien verbreiteten dazu ein plumpes Motto, das viele von uns noch im Ohr haben: „Nicht kleckern, sondern klotzen" - das sei der richtige Weg zum Frieden, die gleiche Rechtfertigung wie nach Hiroshima. Doch anders als
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damals gab es nun — wie schon im Korea-Krieg — die Sowjetunion als zweite Atomgroßmacht, und seitdem ist keine Atombombe mehr gefallen. Viele Menschen hatten sich beruhigt daran gewöhnt, „ m i t der Bombe zu leben", weil ja doch keine Seite sie im Wissen um das eigene Risiko bei dem vernichtenden Gegenschlag einsetzen würde. Aber die Bezeichnung dieses Zustandes als „Gleichgewicht" des Schreckens ist gefährlich trügerisch — und das nicht nur, weil sie die möglichen Reaktionen einer tatsächlich oder durch Prestigeverlust in die Enge getriebenen Macht verschweigt; wie sinnlos und selbstzerstörerisch deren Wüten dann werden kann, hatte das Deutschland der letzten Kriegsjahre gezeigt. Doch hier ist nicht der Platz, über gesellschaftlich bedingte Wesensunterschiede der angeblich im „Gleichgewicht" befindlichen Supermächte und deren Bedeutung für die Sicherheit des Friedens zu sprechen; das könnte für manchen polemisch klingen, und gerade das möchte ich in diesem Aufsatz vermeiden, der vor allem meine naturwissenschaftlichen Kollegen zum rechtzeitigen eigenen Weiterdenken auffordern soll. Jeder von uns kann plötzlich vor einer Entscheidung stehen, die er sonst nur schwer bestehen könnte. Als Beispiel möchte ich etwas aus eigenem Erleben berichten. Bald nach Hiroshima wurde ich durch die Frage überrascht, ob ich bereit sei, an der Entwicklung einer sowjetischen Atombombe mitzuarbeiten, oder lieber eine von mir früher in Deutschland begonnene Arbeit über einen neuartigen Elektronenbeschleuniger in der Sowjetunion fortsetzen wolle; zwischen diesen beiden Themen konnte ich frei wählen. Natürlich erschien mir das erste zunächst völlig indiskutabel; am zweiten hing mein Herz. Doch dann lernte ich einiges dazu: Die Sowjetunion habe Hiroshima als eine vor allem an sie gerichtete Drohung richtig verstanden; sie solle die durch das Atombombenmonopol geschaffene militärische Hegemonie Amerikas anerkennen und ihre Politik danach ausrichten. Sich dagegen zu wehren und eine Wiederholung des Einsatzes von Atomwaffen und damit einen weiteren großen Krieg überhaupt zu verhindern, gäbe es nur einen einzigen Weg: Die Möglichkeit für die Sowjetunion, mit gleichen Mitteln zurückzuschlagen; dann würden die Amerikaner einen für sie selbst riskanten Angriff unterlassen. Die Sowjetunion brauche Frieden und würde solche Waffen nicht zum Angriff einsetzen. Vielleicht hielte ich das Letzte allerdings nur für das überall übliche Gerede von den
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eigenen guten Absichten; ich sei ja nicht Kommunist und kenne deswegen die Ziele der Sowjetunion sicher nicht richtig. Aber dann solle ich gefälligst meinen eigenen Kopf benutzen und darüber nachdenken, welchen Grund die im Kriege so stark mitgenommene Sowjetunion mit ihren eigenen großen Aufgaben etwa in Sibirien denn haben könne, das völlig unzerstörte Amerika anzugreifen; daß das Umgekehrte aber nicht gelte, zeigten schon die Interventionskriege nach dem Ersten Weltkrieg. Auch daran möge ich denken: Gäbe es einen Krieg zwischen den USA und der UdSSR, dann wäre meine Heimat das erste, was zerstört würde. Und dieses Argument überzeugte mich, gerade weil ich immer bewußt Deutscher gewesen bin. Amerikanische Forscher hatten die Bombe entwickelt, noch ohne recht zu wissen, was sie wirklich bedeutete; ich arbeitete an der Bombe mit, gerade weil wir es jetzt wußten. Das zu tun, war sicher nicht leicht, aber für mich sind drei atombombenfreie Jahrzehnte Beweis, daß es richtig war. Ich erwähne diese Mitarbeit nicht, weil sie an sich Bedeutung hat, sondern weil sie zeigt, daß hier über die Verantwortung eines Naturforschers nicht aus abstraktem Denken am grünen Tisch gesprochen wird; solche Moralpredigten halte ich für widerlich, und man soll ohnehin vorsichtig sein, wenn man sich hier aufs hohe Roß setzt. Ich weiß, daß manch einer sich anders entschieden hätte als ich — aus vielen Gründen, vielleicht auch nur, um nicht als Verräter zu erscheinen. Ich halte mich durchaus nicht dafür, obwohl ich weiß, daß jeder Mensch es lernt, sein Gewissen so zu schnallen, daß es nicht zu schwer drückt, und vielleicht ist das für ein tätiges Leben sogar nötig. Aber ich weiß auch, daß heute gerade ein Mensch, der am Zustandekommen von Neuem mitarbeitet, vor solch oft unbequemem Denken nicht zurückweichen darf. Grundlage jeder wahren Verantwortung und damit der höchsten Form von Menschenwürde bleibt es, sich darüber klar zu werden suchen, was das, was man tut, bedeutet. Das ehrlich zu tun, ist nicht leicht und wird noch schwerer durch die sich bei Aufgaben dieser Dimension aufdrängende Erkenntnis, daß früher als selbstverständlich geltende Wertungsmaßstäbe wegen der Unsinnigkeit der sich daraus ergebenden Folgen fragwürdig werden; auch das kenne ich aus einer weiteren Erfahrung, über die zu berichten hier nicht lohnt. - Die Ehrlichkeit auch gegen sich selbst wird bei solchen Arbeiten weiter durch die Versuchung erschwert, sich hinter der Vorstellung zu verbergen, daß vieles davon 91
ja auch für die notwendig kommende friedliche Nutzung der Kernenergie gemacht werden muß; übrigens waren meines Wissens alle von deutschen Forschern in der Sowjetunion durchgeführten Untersuchungen von dieser Art. Als ich vor mehr als zwanzig Jahren aus jeder weiteren Arbeit mit militärischer Zielsetzung ausschied, glaubte ich noch, daß schon die Möglichkeit eines sowjetischen Gegenschlages mit nur wenigen Bomben vom Hiroshima-Typ einen Angriff auf die weite Sowjetunion ausschließen würde, die durch noch so große lokale Zerstörungen weit weniger zu verwunden ist als der dichtbesiedelte, hochindustrialisierte Westen. Aber darf jemand, der an der Erreichung dieses Zieles mit aller Kraft und gutem Gewissen mitgearbeitet hat, sich ehrlicherweise entrüsten, wenn dann Forscher auf der Gegenseite alles daransetzen, dort den alten Vorsprung wieder herzustellen, weil nun auch sie ihrerseits eine Bedrohung durch eine unheimliche Macht mit wer weiß was für Zielen befürchten? Denn genau so wenig wie zunächst ich verstanden ja sie, daß eine Gesellschaft, die ihre Ordnung als die einmal überall kommende ansieht, gar kein Interesse daran haben kann, ihr Wirken auf verbrannter Erde beginnen zu müssen. Auch in Amerika wünschte durchweg keiner Krieg, wenigstens nicht den großen; aber natürlich wollten die Menschen dort die Vormacht und die damit verbundenen Vorteile für sich und ihr Land behalten. So begann eine sich wechselseitig bedingende Aufrüstung von gigantischem Ausmaß auf beiden Seiten. — Ist das noch oder gar nur Schuld der daran beteiligten Forscher? Erschreckend ist die gefährliche Perfektion, mit der scharfsinniges Denken Möglichkeiten für ein Unheil unfaßbarer Größe schuf, das in jedem Augenblick losbrechen kann; aber eben so erschreckend ist die gefährliche Gleichgültigkeit, mit der stumpfsinniges Denken vieler Menschen es einfach ablehnt, den Ernst und die Ursachen dieser Tatsache zu begreifen. Erst das Zusammentreffen von beidem verschuldet die Unsicherheit unserer Zukunft. Es gibt heute strategische Interkontinentalraketen in großer Zahl, von denen bei der für solche Flugstrecken erforderlichen Größe eine einzige mehr Sprengkraft mit sich führen kann, als insgesamt im Zweiten Weltkrieg eingesetzt wurde - einschließlich Hiroshima und Nagasaki. Die heutige Treffsicherheit von Raketen haben wir schon oft bei Kosmosflügen bewundert, ohne daß die darin liegende mili-
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tärische Demonstration von allen erkannt wurde; sie ist so groß, daß es kaum ein Ziel gibt, zu dessen Zerstörung eine so gewaltige, konzentrierte Detonationsenergie nötig ist. Wirksamer ist es daher, eine Rakete mit mehreren Sprengköpfen auszurüsten, von denen jeder einzelne sein eigenes, von den anderen nicht zu weit entferntes Ziel ansteuert — auch diese Möglichkeit wurde uns schon oft vorgeführt, wenn eine einzige Rakete eine größere Anzahl von Raumflugkörpern in die vorgesehene Höhe trug, von denen dann jeder genau seine eigene vorgesehene Bahn durchläuft. — Jeder einzelne Sprengkopf trägt immer noch das Vielfache einer Hiroshima-Bombe mit sich. Insgesamt würde so ein weites Territorium auf einmal durch eine einzige Rakete ausradiert. Gegen einen so massierten Terror nützten Luftschutzkeller wie im Zweiten Weltkrieg kaum oder nichts; um große Bunker aufzusuchen, bliebe bei der Fluggeschwindigkeit von Raketen für die Zivilbevölkerung keine Zeit. Hiroshima war noch eine ziemlich kleine zerstörte Insel in einer unbeschädigten Umgebung, aus der verhältnismäßig schnell den Überlebenden geholfen und wieder einige Ordnung geschaffen werden konnte. Aber bei dem heute in einem hunderte oder tausendmal größerem Gebiet gleichzeitig möglichen Inferno wären die wenigen Menschen, die vielleicht zunächst noch am Leben blieben, ohne Hilfe von außen sich selbst überlassen, um mit Verbrennungen, Trümmern, Radioaktivität im eigenen Leibe, in Luft, Nahrung und Wasser, Flächenbränden, mit Panik, Zusammenbruch jeder Ordnung und damit dem erbarmungslosen Kampf aller gegen alle fertig zu werden. Gegen die Seuchengefahr durch unzählige Leichen und Kadaver wäre bei der dann praktisch nicht mehr möglichen medizinischen Hilfe vermutlich das rechtzeitige, also vorherige Ausheben von Massengräbern der wirksamste Schutz gewesen. Viele Menschen möchten das immer noch für ein rein propagandistisches Greuelmärchen halten, fern jeder Realität, von dem sie nichts mehr hören wollen. Auch ich glaube keineswegs, daß es sich so ereignen wird; aber das ändert nichts an der sehr realen Tatsache, daß es technisch vor Ablauf des heutigen Tages genau in dieser Weise oder noch grauenvoller geschehen könnte, und das nicht nur mit einer, sondern gleichzeitig mit hunderten solcher Raketen. Die Menschen sollen durchaus nicht erwarten, daß es so kommen wird — das wäre lähmend; doch sie müssen wissen, daß es so kommen kann, wenn sie nicht selbst mithelfen, etwas dagegen zu tun. Das sollten sie, nicht aus 93
Angst vor der Zukunft, sondern aus Freude am Leben, das wir erhalten wollen — und können; durch Darstellung der wissenschaftlich-technischen Möglichkeiten können dazu Naturwissenschaftler vieles beitragen. Die Lösung der Krise ist allerdings nur politisch möglich, genau so wie sie politisch entstanden ist. Tatsächlich ist der Beginn einer politischen Lösung schon jetzt durch die wissenschaftlich-technische Weiterentwicklung erzwungen worden, nachdem diese in eine höchst kritische, inzwischen aber überwundene Phase geführt hatte. Auch als beide Seiten schon die Wasserstoffbombe besaßen, fühlte sich Amerika weit ab vom Schuß, selbst kaum ernsthaft bedroht; eher sah es sich durch diese neue Waffe noch tausendmal stärker als die Hiroshimabombe und geschützt durch seine vielen Stützpunkte nahe der sowjetischen Grenze in seiner militärischen Überlegenheit noch bestärkt. Das änderte sich schlagartig mit dem ersten Sputnik; für die Amerikaner bedeutete er einen Schock, weil damit klar wurde, daß sie sich nun auch zu Hause nicht mehr vor Nuklearwaffen sicher fühlen konnten. Ihre Propaganda hatte deren Wirkung bisher als völlig unwiderstehlich hingestellt — das richtete sich nun gegen sie selbst. In dieser Angst hätten damals viele, sonst durchaus friedliche amerikanische Bürger einen überraschenden atomaren Präventivangriff gutgeheißen, um alle sowjetischen Abschußrampen solcher Raketen zu vernichten; hätte man deren Zahl und Lage nur genau genug gekannt, so wäre dieser, aus rein militärischer Sicht ohnehin naheliegende „erste Schlag" und damit eine Wiederholung von Hiroshima in unübersehbar größerem Ausmaß möglicherweise nicht nur am Sandkasten durchgespielt, sondern wirklich erfolgt. Dieses Beispiel macht deutlich, wie nötig mindestens eine ungefähre Kenntnis wissenschaftlich-technischer Möglichkeiten - eine Aufgabe gerade für Naturwissenschaftler - auch für ehrliche Friedensfreunde ist; wäre der damals in bester Absicht vielfach gestellten Forderung nach wechselseitiger Rüstungskontrolle auf dem Territorium des potentiellen Gegners stattgegeben worden, so hätte das einen solchen Präventivschlag erleichtert und vielleicht erst möglich gemacht. Heute besteht die Gefahr eines solchen Überraschungsangriffs kaum noch; es gibt auf beiden Seiten Interkontinental- und Langstreckenraketen in großer Zahl; sie können jeden Augenblick von Rampen gestartet werden, die sich heute hier und morgen da befinden, auch von getauchten U-Booten irgendwo in den Weltmeeren. Ein Gegen94
schlag auf einen Angriff bliebe auf alle Fälle möglich; er würde bei dem perfekten, heute auch mit Beobachtungssatelliten ausgerüsteten Vorwarnsystem schon laufen, ehe noch die erste Rakete des Angreifers ihr Ziel erreicht hat. Die Verantwortlichen beider Atomgiganten wissen, daß diese Gefahren ohne Verhandlungen außer Kontrolle geraten; wenn einer das Leben des anderen in der Hand hat, werden Abmachungen respektiert, in die sich beide von anderen kaum hineinreden lassen und die das Ziel, ein Weiterlebenkönnen möglich zu machen, an keine Vorbedingungen knüpfen. Es begann mit dem bekannten „heißen Draht", über den eine Seite die andere bei einem nicht vorhersehbaren, aber jederzeit möglichen technischen oder menschlichen Versagen sofort unterrichtet; denn sonst könnte ungewollt der große Krieg mit einer früher nie geahnten Geschwindigkeit hervorbrechen. Aber das genügt längst nicht mehr; die Absprachen umfassen heute auch wissenschaftlich-technische Neuentwicklungen, etwa die Anti-Raketen-Rakete. Das ist eine nicht große, aber ungeheuer schnell und wendig fliegende Rakete, die herannahende große Feindraketen noch vor Erreichung ihres Zieles zerstört; für diese Aufgabe sind die für Flugzeugabwehr bekannten Mittel viel zu langsam. Besäße eine Seite diese Abwehrwaffe bereits in genügender Vollkommenheit und Menge, so bliebe damit die Gegenseite praktisch ohne Gegenwehr; vor Vollendung dieses Abwehrsystems gäbe es also wieder die Gefahr eines Präventivschlages. Weil der heute aber noch viel verheerendere Folgen als früher hätte, muß man sich über das Ausmaß auch solch reiner Verteidigungswaffen verständigen. Vielleicht werden diese sogar einmal gemeinsam weiterentwickelt und gebaut, so verrückt das heute auch noch klingen mag. Jedenfalls wäre das ein für beide Seiten sicherer Ausweg aus der Rüstungssackgasse, in der sich die Welt zur Zeit noch befindet. Der erste Schritt zu einer Zusammenarbeit auf ursprünglich extrem geheimgehaltenen Gebieten — probeweise gemeinsame Inspektion der Erde aus dem Kosmos — ist ja tatsächlich schon erfolgt. Solange die Verantwortlichen der beiden Nukleargroßmächte ihre Ziele rational, wenn auch nach eigenen Interessen, verfolgen, ist die Gefahr jetzt verhältnismäßig gering, daß sie sich wechselseitig ihr Territorium zerstören und damit fast automatisch die ganze Erde mitreißen; die dazu nötigen Spielregeln — Vermeidung jeder direkten Konfrontation der Großmächte mit der bewußt offen gelassenen
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Möglichkeit für den anderen, auch bei Schwierigkeiten sein Gesicht wenigstens einigermaßen zu wahren — werden von unverbesserlichen Heißspornen oft als Schwäche hingestellt; in einer parlamentarischen Demokratie bietet das der jeweiligen Opposition eine gefährliche Verlockung zu emotionalem Stimmenfang, und daraus kann ein Verhaltenskurzschluß entstehen. Die Gefahr wächst, wenn andere Länder für die Lösung ihrer Konflikte eigene Atomwaffen oder ein Mitverfügungsrecht über die anderen Staaten anstreben und gegebenenfalls mit deren Einsatz rechnen in der Erwartung, der große Bruder würde ihnen dann schon weiterhelfen. Hier liegt eine der Ursachen, weswegen die sowjetische Seite seit langem die Auflösung der bestehenden Militärblöcke und deren Ersatz durch ein allgemeines, kollektives Sicherheitssystem anstrebt. Es scheint ohnehin nicht gerade wahrscheinlich, daß die beiden Großmächte zulassen würden, durch ein kleines Streichholz sich und die Welt in Brand zu setzen; am schwersten zu leiden hätte vermutlich das Gebiet, in dem der Konflikt ausbricht. Der kann schon provoziert werden, wenn eine Seite der anderen die Nichtanwendung von Gewalt in jeder Form nur mit der Forderung zusichern will: Dann mußt du aber zuerst dein eigenes Leben so und so ändern. Verhandlungen mit kollektiver Verantwortung zur Sicherung der Möglichkeit für das Weiterleben aller Menschen sind als Primat ohne weitere Vorbedingungen der einzige Weg in eine dauerhafte, allgemein mögliche bessere Zukunft. Manch einer — auch unter den Naturforschern — mag denken, dazu könne er selbst doch gar nichts beitragen. Auch ich fragte darum schon Vorjahren einmal die Leiter der offiziellen Vertretungen einiger an der Abrüstungskonferenz in Genf beteiligten Länder — Kanada, Schweden und die Sowjetunion —, was sie als Berufspolitiker von dem tatsächlichen Nutzen der damals vor allem von Naturwissenschaftlern getragenen Pugwash-Bewegung hielten. Alle bejahten ihn; am offensten gab der sowjetische Vertreter Zarapkin unter anderem als Begründung an: In offiziellen Verhandlungen käme es oft vor, daß eine Seite im Grunde der Gegenseite zustimmen möchte, es aber ohne Gesichtsverlust nicht könne; dann sei ein Nachgeben leichter, wenn man sich dazu auf die Meinung einer angesehenen dritten Seite berufen könne — die habe sowieso die Möglichkeit, manches schon anzusprechen, was eine offizielle Stelle noch nicht sagen könne. Ich denke, das sollten auch noch heute gerade Forscher beachten; denn ihre
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Meinung hat bei Außenstehenden wegen der allgemein Respekt einflößenden Erfolge der Naturwissenschaftler oft mehr Gewicht — berechtigt oder nicht — als die anderer Leute, und tatsächlich sehen sie manches von ihrer Warte aus anders und mitunter für die Zukunft auch wohl richtiger. Natürlich verlangt die Möglichkeit, unbefangener als viele sonst sprechen zu können, die Disziplin, nicht einfach recht haben zu wollen, sondern die tatsächlich möglichen Folgen zu bedenken; das kann Mut nach verschiedenen Seiten verlangen. — Wenn ich dazu auf einige Beispiele aus der BRD verweise, geschieht das nicht, weil ich hier die Gefahr für besonders groß halte — sie ist es in anderen Ländern nicht weniger — , sondern weil Westdeutschland vor unserer Tür liegt und von uns daher natürlich besonders genau beobachtet wird. Ein bekannter westdeutscher Forscher hat vor Jahren sinngemäß gesagt: Es ist durchaus möglich, daß die Menschen die Gefahr eines Atomkrieges erst dann richtig begreifen, wenn irgendwo fünfzig Atombomben gefallen sind, und es ist nicht unwahrscheinlich, daß dann dieses Gebiet Deutschland ist. Diese Äußerung liegt aber schon lange zurück und scheint vergessen zu sein. Das gilt noch mehr für die „Göttinger Achtzehn", als sie vor fast zwanzig Jahren durch ihre eindeutige Ablehnung einer persönlichen Beteiligung an einer atomaren Aufrüstung in diesem Lande ein Beispiel gegeben hatten. Doch das blieb ohne Dauerwirkung, eben weil es nur die einmalige Tat weniger einzelner war. Nötig ist eine ständige gesellschaftliche Arbeit in dieser Richtung, auch wenn mancher darin ein Hinabsteigen in die Niederungen einer Propaganda sehen mag, für die er sich zu gut dünkt. Anders kann niemand zu einem bleibenden Erfolg beitragen, auch nicht die stärkste Forscherpersönlichkeit; immer bedeutet Persönlichkeit Individualität, nicht Individualismus. Daran ändern auch noch so ehrlich gemeinte Gegengründe nichts, die einige der Göttinger Achtzehn mir nannten: Gewissen sei keine Massenware, oder sie würden durch solche Tätigkeit jeden Einfluß bei den wirklich Maßgeblichen verlieren. Natürlich macht es einen Unterschied, ob man etwas offen oder ob man-es öffentlich sagt; aber das schließt ein klares Betonen seines Festhaltens an einer Überzeugung nie aus. Und ein Gewissen ohne einiges sichere Wissen um die Bedeutung eigenen Handelns bleibt Sentimentalität ohne moralischen Wert - oder Selbstbetrug. Gerade aus Achtung vor dem Gewissen müssen Forscher mit ihrem Wissen 97
dort, wo sie es können, den Menschen helfen - genau so, wie auch wir uns dabei von anderen helfen lassen müssen - , ein fundiertes Gewissen zu erwerben. — Bedrückend ist jedenfalls die Erfahrung, wie sehr die Menschen ohne ständige Aufklärung diesen Gefahren gegenüber unaufmerksam werden. Vor etwa zehn Jahren hatte das empörte Aufbegehren einer weiten Öffentlichkeit gegen den Plan, einen Gürtel amerikanischer Atomminen auf westdeutschem Gebiet nahe seiner Ostgrenze anzulegen, noch einige Wirkung gezeigt. Aber wenn die Atomraketen der „force de frappe", die Frankreich für sich gebaut hat und dann wegen ihrer kleinen Reichweite so aufstellen mußte, daß sie ständig auf westliche Grenzgebiete der BRD zielen, dann ist das heute für viele, auch gemäßigte westdeutsche Zeitungen nur noch ein neuer Anlaß zu dem mit kaum unterdrücktem Gekränktsein verbundenen Hinweis auf die Unmöglichkeit einer Dauerlösung, nach der gerade der Wirtschaftsriese BRD trotz seines größten europäischen Beitrages zur NATO atomar wehrlos bleiben soll. — Und fast deprimierend finde ich dies: Kürzlich äußerte der amerikanische Verteidigungsminister, vermutlich zur Minderung des amerikanischen Traumas aus dem Vietnam-Krieg und sicher in Kenntnis, wenn auch ohne besondere Erwähnung der zwischen den wirklichen Großmächten heute als notwendig anerkannten und respektierten Verhaltensregeln: Es sei nicht ausgeschlossen, daß die NATO unter Umständen mit dem Einsatz von Atomwaffen beginnen werde. Aber daß sein Bonner Kollege als einziger in der Welt diese Auffassung als auch seine eigene ausdrücklich wiederholte, trotz der darin liegenden tödlichen Gefahr für sein Land, und daß in diesem Land keinerlei ernsthafter Protest dagegen laut wurde, zeigt, wie groß die Gleichgültigkeit gegen diese Gefahr heute geworden ist. Die Einsicht in das heute Notwendige ist hier also noch weitaus zu gering - und das eben nicht nur hier. Ich persönlich halte das nicht zuletzt für ein Versagen der dortigen Naturforscher — vielleicht aus Resignation. Das ist nicht ganz unverständlich nach dem Engagement, das sie früher in der BRD deutlicher gezeigt hatten, als es in vielen anderen Ländern geschah. Wie wenig das heute genügt, werden sie selbst wissen — warum schweigen sie jetzt? Sehr wenig bleibt mir bei dem Thema friedliche Anwendung der Atomenergie zu sagen, weil darüber ein anderes Kapitel dieses Buches ausführlich berichtet. Darum hier nur ein Hinweis: Bei der rasch 98
wachsenden Zahl von Reaktoren für diesen Zweck wird eine Kontrolle immer schwieriger, daß von Nicht-Atommächten die relativ kleinen Mengen spaltbaren Materials zur geheimen Herstellung einer eigenen Atombombe trotz aller offiziell eingegangener Verpflichtungen nicht doch abgezweigt werden. Wie daraus eine Bombe gemacht werden muß, ist bekannt, und mindestens zehn Staaten verfügen heute über das dazu erforderliche technische Potential. Es ist nicht auszuschließen, daß von diesen mehr als einer die dazu notwendigen Vorkehrungen schon getroffen, vielleicht sogar schon erprobt hat; eine besondere Versuchsexplosion ist dazu heute nicht mehr nötig. Hier gibt es also eine sehr konkrete Verantwortung für die Naturwissenschaftler, ohne deren Mithilfe diese Gefahr - und vor allem für ihr eigenes Land nicht verwirklicht werden kann. Zweierlei mögen sie deshalb beachten: Nichts zieht Atomwaffen mehr auf sich als Atomwaffen, und zum anderen: Nach einem durch ihre Mitarbeit gegen internationale Vereinbarungen ausgelösten Unglück würden sie zukünftig wahrscheinlich vor ein internationales Gericht gestellt werden; denn hier gibt es Dienstvorschriften. Furcht vor solcher Strafe ist nicht gerade Moral, doch beides kann sich wechselseitig unterstützen. Dem Charakter dieses Buches entsprechend wurde bisher nur an einem Thema, der nuklearen Bewaffnung, die Verantwortung des Forschers behandelt; aber das allein könnte einen falschen Akzent setzen. Die eigentliche Aufgabe der Forschung ist nicht die Gefährdung, sondern die Sicherung menschlichen Lebens. Im friedlichen Bereich kommen Forschung und ihre Auswirkungen unmittelbar und vielfältiger mit dem alltäglichen Leben jedes Menschen in Berührung, und was Verantwortung des Forschers — oder ihr Fehlen — bedeutet, zeigt sich direkter als bei einer ganz großen Sache, wo zu leicht die Ausflucht möglich ist: Daran kann ich ja sowieso nichts ändern. — Einige konkrete Beispiele sollen zunächst verdeutlichen: Auch die „zivile" Forschung ist ein Politikum; ein Forscher, der diesen Bezug umgehen möchte, kann heute seiner Verantwortung gerecht werden. Das Insektenkontaktgift D D T war bei der Bekämpfung gefährlicher Infektionskrankheiten — Malaria, Flecktyphus u. ä. - durch Vernichtung der Übertrager so wirksam, daß der Entdecker 1948 den Nobelpreis erhielt. In der Folge wurde es auch in der Landwirtschaft zur Bekämpfung anderer Schadinsekten vielfach angewandt, gelangte in unzulässigem Ausmaß in Nahrungsmittel und wurde daraufhin in
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manchen Ländern ganz, in anderen für bestimmte Zeiten vor der Ernte verboten. Aber die jetzt erwiesene wirtschaftliche Bedeutung chemischer Schädlingsbekämpfung stimulierte Entwicklung und Großproduktion weiterer Substanzen zu solchen Zwecken; zum Teil können die hierzu gebauten Anlagen mit geringen Änderungen der Betriebsweise praktisch sofort auf eine Massenproduktion chemischer Kampfstoffe für Kriegszwecke umgestellt werden, und gewisse Herbizide sind dafür unmittelbar einsetzbar — indirekte Folgen eines seinerzeit mit Recht hochwillkommenen Forschungsresultates. Bei der Untersuchung medizinisch bewährter Alkaloide im Mutterkorn wurde 1943 eine Substanz erhalten, die sich in einem unfreiwilligen ersten Selbstversuch in kleinster Menge als stark halluzinogen erwies. Die relativ leichte Zugänglichkeit oder Synthetisierbarkeit der Ausgangsstoffe und die Einfachheit der Herstellung dieses L S D führten zu einer weiteren und schwer kontrollierbaren Rauschgiftsucht. — Wie andere Nervengifte könnte L S D lokal eine „humane" Kriegführung ermöglichen; ist der Gegner damit — z. B. über das Trinkwasser — zeitweilig widerstandsunfähig gemacht, fallen dem Angreifer unversehrte Anlagen und bald wieder arbeitsfähige betriebskundige Gefangene in die Hand. Im Juli 1974 riefen elf renommierte amerikanische Biochemiker, darunter ein Nobelpreisträger, ihre Fachkollegen zu einem zeitweiligen allgemeinen Stopp bestimmter Forschungen auf: Durch Eingriffe in die genetische Substanz bekannter Bakterien war die „Synthese" neuartiger lebens- und vermehrungsfähiger Bakterien gelungen. Welche Eigenschaften diese dann haben, kann man vorher nur vermuten: denkbar sind,gegen alle bisherigen Heilmittel resistente Erreger bekannter, aber auch bisher niemals aufgetretener Krankheiten, etwa von Krebs als ansteckender Seuche. Daher muß unbedingt vermieden werden, daß irgendwelche Keime ein Labor unkontrolliert verlassen können. Über das dazu nötige Wie sollten sich die Experten aussprechen; vorher sollten keine Versuche dieser Art mehr stattfinden. — Wirklich kontrollierbar durchzuführen ist kein solcher Vorschlag, so wertvoll er dennoch ist: Die Öffentlichkeit wurde aufmerksam gemacht, und niemand kann sich hier noch auf das Alibi berufen, von nichts gewußt zu haben; viel mehr konnte ein solcher Aufruf von Wissenschaftlern nicht erreichen. Große Chemiekonzerne betreiben oder planen solche 100
Laboratorien, um wirtschaftlich wichtige Mikroben zu züchten, z. B. für die Bildung von Antibiotika, von etwas Insulinähnlichem, zur Bekämpfung der Ölpest, Umwandlung von Müll in Treibstoff, Erdöl in Eiweiß oder zur wirtschaftlichen Gewinnung mancher Rohstoffe wie Uran oder Kupfer aus sonst zu armen Lagerstätten. — Und was ist, wenn die „Macht" auch hier die Hand auf das Wissen legt, um neuartige Krankheitserreger gleichzeitig mit Schutzmitteln für die eigene Seite zu entwickeln, die sich besser als die bisher bekannten zur biologischen Kriegführung eignen? Auch Ergebnisse sauberer Forschung mit durchaus erwünschter Zielsetzung können zu destruktiven, kriegerischen oder sonst irgendwie für viele Menschen schädlichen Zwecken mißbraucht werden, und es finden sich bei genügendem Anreiz immer Köpfe zur Durchführung der hierzu nötigen Weiterentwicklung. Es wäre unrealistisch zu erwarten, daß jeder Forscher eine genügend hochbezahlte Arbeit mit gefährlicher Zielsetzung leichter aufgibt als ein Produktionsarbeiter etwa den guten Job in einer Napalmfabrik: Forscher sind Menschen wie alle, vielleicht stärker geschult in rationalem Denken, aber darum noch keine moralische Elite — eher durch oft größere Versuchungen auch stärker gefährdet. - Ein böses Beispiel (1957 — 1961) ist vielen noch in Erinnerung: Die an der Entwicklung beteiligten Wissenschaftler ließen zu, daß ein sehr viel benutztes Mittel trotz sich häufender Hinweise auf schädliche Folgen noch weiter verkauft wurde — und 8000 bis 10000 „Contergan-Kinder" müssen von Geburt an mit unheilbar verkrüppelten Gliedmaßen leben. Aber hat dann ein Aufsatz wie dieser überhaupt noch Sinn oder hätte es ein für Naturforscher sinngemäß abgewandelter Hippokratischer Eid wie bei Ärzten? Einen Erfolg lediglich auf Grund allgemein ethischer Zielsetzungen könnte nur ein elitäres Denken erwarten, das den Forscher eben doch für eine höhere Art von Menschen hält; die wirkliche Forscher„elite" hat es ohnehin leicht, sich von zweifelhaften Aufgaben fernzuhalten. - Aber dennoch haben solche Bestrebungen Wert: Zunächst als Aufforderung an den Naturforscher, ernsthaft zu versuchen, mit demselben rationalen Denken, das ihm in seiner Arbeit selbstverständlich ist, auch Folgen seiner Forschung zu sehen und daraus Konsequenzen für sein weiteres Verhalten zu ziehen. Nur das wollten die Urheber der Aufforderung zu einem Moratorium für bestimmte Arbeiten der Genchirurgie. Die Wirkung entsprach nicht 101
voll der Absicht und war dennoch wichtig: Die Öffentlichkeit war aufmerksam gemacht und keiner Institution, keinem Forscher bleibt bei den Folgen einer Panne noch die Ausrede, von nichts gewußt zu haben. Sicher, einen Mißbrauch durch die Macht — staatlich oder wirtschaftlich - schließt das nicht aus; das ist ein politisches Problem. Sind aber die Politiker durchweg so viel klüger als die Forscher, daß sie damit allein fertig werden können? Es genügt nicht, nur die Folgen der eigenen Forschung im Auge zu behalten; die Forschung als Ganzes ist heute ein Politikum. Sie ist es vordergründig und am deutlichsten sichtbar durch die praktischen Anwendungsmöglichkeiten ihrer Ergebnisse in Technik) Landwirtschaft, Medizin . . . . Unser Wissen ist so groß, daß bei voller Anwendung weitaus mehr Menschen, als es heute gibt, satt werden könnten, und niemand müßte an einer Seuche zugrunde gehen. Die Forscher haben durchaus das Recht, auf dieses Ergebnis ihrer Arbeit stolz zu sein; aber sie sollten dann ebenso die Gründe verstehen, warum das Mögliche nicht Wirklichkeit ist — und die sind logischem Denken zugänglich. Zum Teil hängt das mit dem Wesen neuer Erkenntnisse zusammen, die aus immer komplizierter werdenden Tiefen der Natur stammen; es ist verständlich, daß deren technische Nutzung dann auch immer kompliziertere Anlagen, Maschinen, Geräte braucht, und die werden eben auch immer teurer. Nicht logisch scheint allerdings — jedenfalls mir — die Erwartung, daß dann in einer „freien Marktwirtschaft", wo ein Unternehmer über diese hohen Investitionen nur nach deren Nutzen für seinen eigenen Betrieb entscheidet, sozusagen automatisch auch für die Gesamtheit das Bestmögliche herauskommt - gegenüber einer umfassenden Planung trotz aller damit verbundenen Schwierigkeiten. Will ein Forscher wirklich seinen Elfenbeinturm verlassen, muß gerade er sich auch solche und solchen gesellschaftlichen Fragen stellen. Ein Politikum ist die Forschung noch auf einem ganz anderen Gebiet, das tiefer liegt und darum für die Dauer vielleicht auch tiefer wirkt: Ihre Erkenntnisse wandeln langsam, aber unaufhaltsam unser ganzes Weltbild bis hin zu den Vorstellungen über das Wesen des Menschen, die auch heute noch viel aus einer uralten spiritualistischen Ideenwelt enthalten und dadurch stark zu den Schwierigkeiten beitragen, sich in der heutigen Welt zurechtzufinden. Heute müssen wir die Resultate der genetischen Forschung ernst nehmen, auch wenn sie manche
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menschliche Eitelkeit kränken und den Forscher in den Ruf der Ketzerei bringen können. Auf ein Beispiel soll kurz eingegangen werden. Das schon bei der Zeugung eines Lebewesens festgelegte und in der — heute weitgehend bekannten — Struktur seiner Gene eingeschriebene „genetische Erbe" enthält außer dem Plan für Bau und biologische Funktionen des Körpers auch Rezepte für Instinkte und Verhaltenstendenzen, die sich beim Menschen zu einer sonst in der ganzen uns bekannten Welt nicht nochmals erreichten Fülle von Anlagen ausweiten. Dieses genetische Erbe des Menschen hat sich in der Millionen Jahre dauernden Evolution aus animalischen Ursprüngen herausgebildet und bewährt; es ändert sich entsprechend langsam weiter — von Homer zu Goethe, von Archimedes zu Einstein gibt es darin offenbar keine großen Unterschiede. So enthält das genetische Erbe nichts von den Fähigkeiten und Eigenschaften, die die Eltern oder Vorfahren erst in eigener Anstrengung erworben und als Erfahrung in ihrem Hirn gespeichert hatten. Keine Sprache wird angeboren, wohl aber die Anlage zum Sprechen, kein Wissen, aber die Anlage zum Lernen, keine Kultur, wohl Anlagen zu differenziertem Empfinden. All das, was uns eigentlich erst zu Menschen macht, muß jeder einzelne aus den Eindrücken und mit Hilfe der Umwelt in eigener, zuerst spielerischer, später bewußter Anstrengung für sich neu erwerben; Umwelt ist dabei vor allem die Gesellschaft, in die der Mensch hineingeboren wird. Drei mögliche Konsequenzen aus dieser Erkenntnis sollen erwähnt werden: Zunächst: Die Tatsache, daß keiner allein aus sich heraus Mensch werden kann, sondern nur durch sein Eingebettetsein in seine Gesellschaft, verschiebt das Verhältnis von Rechten und Pflichten zwischen Einzelmensch und Gesellschaft wesentlich gegenüber den Ideen der Aufklärung, die jeden Menschen als schon von Natur aus gut, mit angeborenen Rechten ansah. Weiter: Ihre gegenüber früheren Vorstellungen weit größeren Aufgaben kann eine Gesellschaft nur bei Berücksichtigung der Mannigfaltigkeit in den Genstrukturen der Menschen erfüllen, die so groß ist, daß sich, von eineiigen Zwillingen abgesehen, wohl nie zwei Menschen darin gleichen oder geglichen haben. Jeder einzelne Mensch ist von unwiederholbarer Einmaligkeit und in der Unterschiedlichkeit ererbter Anlagen alles andere als Schablone. Und schließlich: Grundsätzlich anders als bei einer Tierdressur speichert der Mensch nicht lediglich die Eindrücke aus der Umwelt in seinem 103
Gedächtnis, sondern ordnet und erweitert sie je nach seinen individuellen Anlagen in eigener Arbeit durch kombinierende Schlußfolgerungen und bewußtes Sammeln von Erfahrung. Dazu gehören auch die vielen inneren Auseinandersetzungen mit sehr tief liegenden, genetisch bedingten Verhaltenstendenzen, die bei Erregung das Gewicht schon gemachter Erfahrungen zeitweilig stark beeinflussen können. Die Summe aller so gespeicherten „Informationen" ist wesentlich das Resultat eigener Anstrengung des Menschen. Da dadurch sein Handeln bestimmt wird, ist der Mensch für sein Handeln auch verantwortlich, und das auch dann, wenn es die oft postulierte Willensfreiheit bei einer Entscheidung zwischen verschiedenen Möglichkeiten in Wirklichkeit gar nicht geben sollte. Der moralische Imperativ wird dadurch nur noch schärfer, weil diesem dann der Mensch in seinem ganzen Wesen genügen muß. Wirkung und Verantwortung des Naturforschers reichen also weit über sein Fachgebiet hinaus und werden zukünftig in allen Bereichen unseres Menschseins noch wichtiger. Doch der Weg in jede Zukunft führt immer nur durch lauter jeweiliges Heute mit seinen Aufgaben. Möge dieser Aufsatz ein wenig dazu beitragen, den richtigen Weg zu finden.
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Kh. Löhs
Naturwissenschaft und Abrüstung (dargestellt am Beispiel der Abrüstungsprobleme bei chemischen Massenvernichtungsmitteln) Wie das auswärtige Mitglied der Akademie der Wissenschaften der D D R , der englische Atomphysiker Eric Burhop, auf der Sitzung des Abrüstungsausschusses der Weltföderation der Wissenschaftler (WFSW) im September 1977 in Berlin hervorhob, arbeiten derzeit weltweit etwa 400 000 Wissenschaftler an Forschungs- und Entwicklungsaufgaben der Rüstung. Dies geschieht ungeachtet der Tatsache, daß elementare Fragen der Ernährungssicherung, der Bekämpfung schwerer Krankheiten und der Sicherstellung sozialer Gerechtigkeit nicht mit der erforderlichen Intensität und in der notwendigen Breite bearbeitet werden können, weil es an personeller wie auch materieller Forschungskapazität fehlt! Aber täglich werden auf unserer Erde 1 Milliarde Dollar für Rüstungszwecke ausgegeben — und täglich droht der Menschheit das kaum vorstellbare Inferno eines Raketenkrieges mit physikalischen und chemischen Massenvernichtungsmitteln! Den Fragen der Abrüstung kommt daher in der derzeitigen weltpolitischen Situation die höchste, weil buchstäblich lebensentscheidende Priorität zu! Darin stimmen verbal alle verantwortungsbewußten Politiker in Ost und West, in Nord und Süd überein. Diese Übereinstimmung schwindet, wenn es real darum geht, was, wann, wie und wo abgerüstet werden soll. Für die sozialistischen Staaten ist hierbei charakteristisch, daß sie den erklärten politischen Willen und damit die wesentliche Voraussetzung zur Abrüstung haben. Demgegenüber lassen zahlreiche kapitalistische Staaten diesen politischen Willen noch vermissen; wider besseren Wissens werden von den Vertretern dieser Staaten den Gegnern der Abrüstung immer wieder Zugeständnisse gemacht. Diese Gegner sehen in der Abrüstung nicht die einzig mögliche Alternative zur Erhaltung des Weltfriedens, sondern für sie ist die Abrüstung lediglich ein technischtaktisches Pokerspiel zur Erzielung strategischer Vorteile bzw. zur Festigung und Erweiterung ihrer militärisch-politischen Macht. Natürlich wissen die Gegner der Abrüstung ebenso wie wir, daß 105
nicht die Abrüstung die politischen Probleme löst, sondern daß die Abrüstung das Resultat politischer Lösungen darstellt. Deshalb behindern und verzögern sie die möglichen politischen Lösungen und damit die Abrüstung, wobei sie sich unterschiedlichster ideologischer, ökonomischer oder technischer Motivierungen bedienen. Ausdruck solcher Bemühungen um die Verzögerung der Abrüstung sind u. a. eine Vielzahl von Bedingungs- und Begrenzungskatalogen für Abrüstungsmaßnahmen, mit denen diese Maßnahmen wieder relativiert werden sollen. Ungeachtet aller noch bestehenden Schwierigkeiten zur Erzielung einer umfassenden, weltweiten Abrüstung gibt es doch bereits wichtige Resultate auf dem Abrüstungsgebiet. Auswahlweise sei hier nur an drei in den letzten Jahren erzielte internationale Abkommen erinnert: das „Verbot der Kernwaffenversuche in der Atmosphäre, im kosmischen Raum und unter Wasser" (1963), der „Vertrag über die Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen" (1968) und die „Konvention über das Verbot der Entwicklung, Herstellung und Lagerung von bakteriologischen und Toxin-Waffen" (1972/73). Besonders wesentlich ist es, daß von diesen Abkommen Massenvernichtungsmittel erfaßt werden, die als pervertierte Resultate naturwissenschaftlicher Forschung und Entwicklung die Weltöffentlichkeit in höchstem Maße beunruhigen. Die derzeit politischen Bemühungen betreffen insbesondere die weitere Entwicklungs-, Herstellungs-, Lagerungs- und Anwendungsbegrenzung für atomare sowie für chemische und andere neue Massenvernichtungsmittel. Die diesbezüglichen Vorschläge der sozialistischen Staaten können als allgemein bekannt vorausgesetzt werden. Die DDR hat ihren Verzicht auf den Besitz und die Anwendung von Massenvernichtungsmitteln und damit auch der chemischen Kampfstoffe unmißverständlich erklärt. In konsequenter Verwirklichung des Potsdamer Abkommens wurden in der DDR chemische Kampfmittel sowie ihre Herstellungsstätten aus der Zeit der faschistischen Wehrmacht verantwortungsvoll vernichtet. Auch wenn die DDR keine chemischen und anderen Massenvernichtungsmittel besitzt, so kennen wir doch die Gefahren, die von solchen Mitteln bzw. den entsprechenden Waffen ausgehen und die Eskalation, die auf diesem Gebiet seit dem Ende des II. Weltkrieges stattgefunden hat, ist uns wohlbekannt. So hat parallel zur Kernwaffenentwick106
lung - deren jüngstes Produkt US-Präsident Carter mit der Neutronenbombe vorstellte - in den letzten Jahren auch die Weiterentwicklung der tödlichen chemischen Kampfstoffe nicht stillgestanden. Aus offiziellen Etatangaben der US-Armee geht sehr klar hervor, welche Aufwendung hierfür während und nach dem Vietnamkrieg gemacht wurden (s. Tabelle I und II). Das Wirkungsspektrum und die Toxizität der heute aktuellen chemischen Kampfstoffe macht sie zu einer Massenvernichtungswaffe von größter Gefährlichkeit und Heimtücke; dabei vollzog sich diese Entwicklung von Fritz Habers Empfehlungen an den kaiserlich-deutschen Generalstab zur Eröffnung des chemischen Krieges bis zur derzeitigen Ausstattung der NATO-Armeen mit phosphororganischen Binärkampfstoffen des V-Stoff-Typs innerhalb nur eines Menschenalters! Zahlreiche der chemischen Kampfstoffe sind durchaus nicht das Resultat gezielter Suche nach Massenvernichtungsmitteln gewesen — vielmehr wurden biologisch hochaktive Syntheseprodukte erst nach ihrem Auffinden bei zivilen Forschungen zu chemischen Waffen „umfunktioniert". So suchte Gerhard Schräder nach neuen Pflanzenschutzmitteln, aber die Resultate seiner Forschungen bildeten u. a. die Basis der Produktion für die phosphororganischen Kampfstoffe TABUN und SARIN. Richard Kuhn sollte eine Verwendungsmöglichkeit für Pinakolylalkohol finden, aber er wurde zum „Vater" des Kampfstoffes SOMAN. Lars Tammelin studierte die Hemmung von Nervenleitprozessen mittels Cholinderivaten; heute verbindet sich mit seinem Namen die Chemie der extrem toxischen V-Kampfstoffe. Die arsenorganischen KS der Deutschen im I. Weltkrieg sind Abfallprodukte der SalvasanChemie. Das heute als potentieller „Umweltkampfstoff" zu Recht gefürchtete Dioxin fand jahrzehntelang nur als lästiges Nebenprodukt der Trichlorphenolherstellung und -Weiterverarbeitung Beachtung. Namhafte Forscher, die wie Haber oder Fieser gezielt nach chemischen Kampfmitteln gesucht, diese erprobt und ihren Einsatz später dann auch verteidigt bzw. gerechtfertigt haben, sind unter den Chemikern die Ausnahme, nicht die Regel. Aber es ist gegenwärtig auch noch nicht die Regel, daß die Chemiker oder die anderen Naturwissenschaftler sich unaufgefordert mit den konkreten Möglichkeiten zur Verwirklichung von Abrüstungsmaßnahmen befassen und sich einem Mißbrauch ihrer Forschungsresultate bewußt widersetzen. 107
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< V. P. P a v l i i e n k o : Ucenye v b o r ' b e za m i r * l progres (Wissenschaftler im K a m p f für Frieden und Fortschritt). M o s k v a 1967, S. 99 - 100. Diese Konferenz fand v o m 7. bis 10. J u l i 1957 in Pugwash, Nova Scotio, Kanada, statt. N a c h d e m ersten Tagungsort haißan sie Pugwash-Konferenzen.
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Nationen zu vermindern, das gegenseitige Verstehen unter den Völkern zu fördern, für die Beendigung des Rüstungswettlaufs einzutreten sowie die Entwicklung des gegenseitigen Vertrauens zu ermöglichen.8 In nuce ist hier das gesamte Programm der Pugwash-Konferenzen über Wissenschaft und Weltgeschehen ausgesprochen mit Ausnahme des Problems der allgemeinen und vollständigen Abrüstung, das auf der 2. Pugwash-Konferenz, die volle zwei Wochen gedauert hat, ausführlich angegangen wurde. Von sowjetischen Wissenschaftlern wurde hier die Idee geäußert, daß die Abrüstung ein ganzes System von aufeinanderfolgenden Maßnahmen umfaßt, die damit beginnen, daß man der Produktion und der Vervollkommnung der Kernwaffen entsagt und deren Vorräte vernichtet. Es wurde auf die Notwendigkeit hingewiesen, das Niveau der militärischen Rüstungen zu senken.9 Die „Wiener Deklaration" vom 20. September 1958, die als das „Glaubensbekenntnis" der Pugwash-Konferenzen über Wissenschaft und Weltgeschehen bezeichnet wird, erhebt die Forderung, daß die Menschheit sich selbst die Aufgabe stellen muß, alle Kriege einschließlich der lokalen Kriege auszuschließen. Damit die Abrüstung möglich werde, müssen sich die Völker auf eine Kombination von politischen Abkommen, von erfolgreichen internationalen Sicherheitsvorkehrungen und auf die Erfahrung erfolgreicher Kooperation auf verschiedenen Gebieten stützen.10 Es wurde klar, daß Wissenschaftler eine gemeinsame Absicht haben können, die die nationalen Grenzen überschreitet, ohne grundlegende Loyalitäten zu verletzen. Es wurde gezeigt, daß Wissenschaftler durch ihre Ausbildung und auf Grund ihres Wissens fähig sind, objektiv den Komplex von Problemen, der durch den Fortschritt der Wissenschaft aufgeworfen wurde, mit der Absicht zu diskutieren, eine Lösung des Problems zu finden. 11 Mit diesen beiden Sätzen ist die Grundlage umrissen, auf der Wissenschaftler ihre Verantwortung gegenüber der 8
Der W o r t l a u t der Erklärung der ersten Pugwash-Konferenz w u r d e v o n Joseph R o t b l a t v e r ö f f e n t l i c h t . In der Reihenfolge der u n t e r A n m . 6 genannten Werke auf f o l g e n d e n Selten: 4 2 — 4 8 ; 8 0 — 8 6 ; 141 — 147.
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Siehe V . M. B u z e v / V . P. Pavlicenko, a. a. O., S. 105 - 112. Es ist eine stillschweigende Ü b e r e i n k u n f t , daß Uber Meinungen, die auf Pugwash-Konferenzen geäußert wurden, In der Ö f f e n t l i c h k e i t nur a n o n y m berichtet w i r d .
10 Bei Joseph R o t b l a t In d e n u n t e r A n m . 6 genannten Werken auf folgenden Seiten: 51 u n d 52; 9 0 und 9 1 ; 151 u n d 152. 11 Ebenda: S. 1 1 ; S . 1 6 - 1 7 ; S , 6.
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Menschheit im Rahmen der Politik der friedlichen Koexistenz von Staaten mit unterschiedlicher Gesellschaftsordnung gerecht zu werden vermögen. Es konnte nicht darum gehen und es geht auch nicht darum, daß Wissenschaftler aufhören, Bürger ihres Staates und Mitglieder ihrer Gesellschaft zu sein, um grundlegende Probleme der Menschheit lösen zu können. Auch Wissenschaftler sind in konkrete soziale und politische Verhältnisse eingebunden, die ihre Existenz bestimmen und damit einen wesentlichen Teil ihrer Persönlichkeit ausmachen. Die Lösung der anstehenden großen Probleme können Wissenschaftler nur als Bürger ihres jeweiligen Landes und als Mitglieder der betreffenden — kapitalistischen oder sozialistischen — Gesellschaft beraten, bis zu einem gewissen Grade vorbereiten und unter Umständen an ihr direkt beteiligt sein. Die besondere Stärke und das auszeichnende Merkmal der PugwashKonferenzen über Wissenschaft und Weltgeschehen besteht darin, daß sie die Formel für die Durchführung der Politik der friedlichen Koexistenz unter Wissenschaftlern gefunden hat. Damit hat diese Art von Wissenschaftler-Konferenzen den Weg dafür geöffnet, die Erkenntnisse, Methoden, systematische Zusammenhänge und die wissenschaftliche Haltung der modernen Natur- und Gesellschaftswissenschaften direkt in die internationale Politik einzubringen. Das Problem besteht nicht darin, aus Wissenschaftlern mehr oder weniger gute Fachleute für internationale Beziehungen — Diplomaten — zu machen. Auf diese Weise würden sie ihren Charakter als Wissenschaftler und den Gegenstand ihrer Arbeit verlieren. Sondern umgekehrt, bei Wahrung aller Eigenheiten des Berufsstandes der Wissenschaftler und der Wissenschaft besteht die Möglichkeit, Lösungen der verschiedensten Art für internationale Probleme zu finden, die allein auf politischem oder allein auf ökonomischem oder nur auf sozialem Gebiet nicht gefunden werden können. Dabei geht es auch nicht darum, daß Wissenschaftler die Arbeit der Politiker übernehmen, weil ihnen die entsprechenden Erfahrungen, der entsprechende Einfluß und die notwendigen Entscheidungsmöglichkeiten fehlen. Es geht auch nicht darum, in der Art einer elitären, über allen Parteien stehenden und über alle Tageskämpfe erhabene Gruppe von Menschen sich als das Gewissen der gesamten Menschheit darzustellen. Diese Stellung würde zu keinen Ergebnissen führen, weil der Wissenschaftler im Elfenbeinturm die Verbindung zu seinem Staat, zu seiner Gesellschaft verlieren würde.
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Dadurch wäre er aber aller Voraussetzungen beraubt, zur Lösung der anstehenden Probleme beitragen zu können. Für den Teilnehmer an Pugwash-Konferenzen über Wissenschaft und Weltgeschehen ist es immer wieder ein beeindruckendes Erlebnis zu sehen, wie prominente und bedeutende Wissenschaftler mit Umsicht, Sorgfalt, Vorsicht, Kühnheit und Übersicht die großen politischen Weltprobleme angehen, sozusagen politische Wissenschaftler sind und sich der gesamten Menschheit gegenüber verantwortlich fühlen, indem sie gegenüber ihrem Land, dessen Bürger sie sind, und ihrer Gesellschaft, deren Mitglieder sie sind und in der zu leben sie sich freuen, verantwortlich denken und handeln. Natürlich gibt es auch in diesem Wissenschaftlerkreis eine Menge von Bemühungen, die in die falsche Richtung gehen, und eine ganze Reihe von Versuchen, die fehlschlugen. Auch unter bedeutenden Wissenschaftlern gibt es Vorurteile, die bekanntlich von der Wahrheit viel weiter entfernt sind als die Unkenntnis. Darin unterscheiden sie sich nicht von anderen Menschen, denn sie gehören ihrer Klasse in ihrer Gesellschaft an und sind deren individuelle Vertreter. Dies nicht zu leugnen, sondern sog; zu betonen, schafft ihnen die feste Grundlage, von der aus sie von ihrem jeweiligen Standpunkt offen die anstehenden Probleme diskutieren können. Von hier aus können dann alle die gemeinsamen Aspekte herausgearbeitet werden, die der Verwirklichung der Politik der friedlichen Koexistenz dienen und die dazu beitragen können (und auch schon beigetragen haben), die friedliche Koexistenz von Staaten mit unterschiedlicher Gesellschaftsordnung auf möglichst alle Gebiete des internationalen Zusammenlebens auszuweiten, zu verwirklichen und in der Weiterentwicklung im Detail auzugestalten. Der Einsatz und der Beitrag der Wissenschaftler zur Weltpolitik und zur jeweiligen nationalen Politik ist heute in gewisser Hinsicht notwendig angesichts der Zuspitzung des Problems von Krieg und Frieden, das keine Alternative zur friedlichen Koexistenz zuläßt. Bertrand Russell hat dieses Problem (wenn auch mit einigen Illusionen behaftet) am Ende des Russell-Einstein-Manifestes mit folgenden Worten formuliert: „Vor uns liegt, wenn wir ihn wählen, der ständige Fortschritt in Glück, Erkenntnis und Weisheit. Sollen wir statt dessen den Tod wählen, weil wir unsere Streitigkeiten nicht vergessen können? Wir appellieren als menschliche Wesen an menschliche Wesen: Erinnert Euch Eurer Menschlichkeit und vergeßt das Übrige. Wenn ihr das 182
könnt, dann liegt der Weg zu einem neuen Paradies offen, wenn Ihr das nicht könnt, dann liegt vor uns das Risiko des universellen Todes". 1 2 Es ist nicht das Problem, die Streitigkeiten zu vergessen, sondern sie so auszutragen, daß sie nicht tödlich enden. Es geht auch nicht darum, „das Übrige" zu vergessen, weil dies zu einem abstrakten Humanismus führt, der um jeden Preis den Kräften nachgibt, die ein Interesse am Krieg und seinen Folgen haben. Der „Weg zu einem neuen Paradies" wird offenliegen, wenn gerade eingedenk der Menschheit die Unmenschlichkeit weiter eingeschränkt wird und mit ihr die sie
hervorbringenden
gesellschaftlichen
Verhältnisse
und
sozialen
Kräfte paralysiert werden.
3. Der teilweise und die
Teststop,
der Nichtweitergabevertrag
für
Kernwaffen
Pugwash-Konferenzen
Während der ersten, kurzen Entwicklungsphase der Pugwash-Konferenzen über Wissenschaft und Weltgeschehen wurde das Problem der allgemeinen und vollständigen Abrüstung in prinzipieller, aber doch abstrakter Form gestellt. Es galt, rasch zu konkreten Vorstellungen über die allgemeine und vollständige Abrüstung sowie über die Schritte und Maßnahmen zu ihr zu gelangen. Ein besonderes Problem Ende der 50er und Anfang der 60er Jahre war der radioaktive „fallout" aus den vielen Kernwaffenversuchen. Die „Wiener Deklaration" hatte öffentlich auf die Gefahren aus den Bomben-Tests aufmerksam gemacht. Die erste und zweite Pugwash-Konferenz hatten schon vordem in ihren Erklärungen auf dieses Problem hingewiesen und das Verbot der Tests gefordert. Das Verbot der Versuche müßte als ein erster Schritt angesehen werden, die Weiterentwicklung der Kernwaffen zu beenden. Damit könnte man die Anzahl dieser Waffen beschränken, deren Produktion verbieten und schließlich diese Waffen beseitigen. In der Vernichtung der Kernwaffenvorräte wird die einige Garantie dafür gesehen, daß kein Kernwaffenkrieg mehr ausbrechen k a n n . 1 3
12 Ebenda, S. 41; S. 79; S. 139. 13 In neuerer Zeit wird diese Meinung nicht von allen Teilnehmern an PugwashKonferenzen geteilt.
183
Die Idee eines allgemeinen Teststops war bereits im Jahre 1957 von der UdSSR vorgetragen worden 14 , wobei sie für das umfassende Verbot aller Versuche im Weltraum, in der Luft, unter der Erde und unter dem Wasser eintrat. Es gab zu dieser Idee die sonderbarsten Diskussionen. Ein sehr prominenter amerikanischer Wissenschaftler und später sehr einflußreicher Politiker führte zwecks Rechtfertigung der amerikanischen Kernwaffenversuche an, die USA benötigten diese Versuche im Unterschied zur UdSSR, weil dem Marxismus eine theoretische Methode eigen sei und die sowjetischen Wissenschaftler deshalb ohne Versuche auskommen könnten. Doch diese und weitere Behinderungen hatten letztlich keinen Erfolg. Die 6., 8., 9., 10. und 11. PugwashKonferenz haben sich ausführlich mit dem Verbot der Kernwaffenversuche in allen „vier Medien" beschäftigt. Als es fast unüberwindliche Schwierigkeiten wegen der Entdeckung und Feststellung unterirdischer Kernwaffenversuche in den Verhandlungen des UNO-Abrüstungsausschusses in Genf gab, schlugen sowjetische und amerikanische Teilnehmer der 10. Pugwash-Konferenz vor, versiegelte automatische seismische Stationen zu benutzen, um bei der Kontrolle unterirdischer Kernexplosionen erfolgreich zu sein.15 Diese „Black Boxes" würden auch den nationalen Sicherheitsbedürfnissen der Länder entgegenkommen und würden eine Hilfe bei den Feststellungsprozessen sein. Am 5. August 1963 wurde der Vertrag zum Verbot von Kernwaffenversuchen in der Atmosphäre, im Weltraum und unter dem Wasser unterzeichnet. Die unterirdischen Versuche wurden aus diesem Vertrag ausgenommen, um ihn nicht zu gefährden. Die USA behaupteten damals, daß nur solche unterirdischen Kernwaffenversuche entdeckt und festgestellt werden könnten, die stärker als 4,75 der Richter-Skala für Erdbeben seien. Bereits die 10. Pugwash-Konferenz im Jahre 1963 forderte die Ausdehnung dieses Vertrages auch auf die unterirdischen
1 4 Die sowjetischen Bemühungen für ein V e r b o t der Kernwaffenversuche sind Ubersichtlich aufgeführt in: S I P R I Y e a r b o o k o f W o r l d A r m a m e n t s and Disarmament 1968/1969. Stockholm, New York, London 1969. S. 2 9 5 - 3 0 8 . 15 Joseph R o t b l a t i Scientists in t h e Quest f o r Peace. Cambridge, Mass. u n d L o n d o n 1972. S. 209.
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Kernwaffenversuche, weil es für die amerikanische Auffassung keine wissenschaftliche Grundlage gibt. U m mit diesem Problem vorwärts zu kommen, wurden von den Pugwash-Konferenzen nationale und internationale Studien zur Lösung dieses Problems angeregt. Die seismologischen Forschungen sind so weit vorangetrieben worden, daß unterirdische Kernwaffenversuche von nur einer Kilotonne Stärke deutlich und eindeutig von schwachen Erdbeben unterschieden werden können. Die Pugwash-Konferenzen der letzten Jahre erheben deshalb beinahe regelmäßig die Forderung, den teilweisen Teststop-Vertrag auch auf die unterirdischen Kernwaffenversuche auszudehnen, um ein vollständiges Verbot der Kernwaffentests zu erlangen. Ein weiteres wichtiges Problem ergab sich aus der Entwicklung und Verbreitung der Kerntechnik, dem Bau von Kernreaktoren für Forschungszwecke und von Kernkraftwerken in den Industrieländern. Die Ausbreitung dieser neuen Technik beschwor die Gefahr herauf, daß neben den U S A , der U d S S R auch andere Staaten in Besitz von Kernwaffen kommen könnten. Bereits auf der zweiten Pugwash-Konferenz im Jahre 1958 wurde das Problem des n-ten Landes diskutiert, das in den Besitz von Kernwaffen gelangen könnte, und wurde gefordert, die Verbreitung von Kernwaffen zu verhindern. Dieses Problem stand von nun an ständig auf der Tagesordnung der Pugwash-Konferenzen und wurde zum letzten Mal vor dem Abschluß des Vertrages über die Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen auf der 17. Pugwash-Konferenz im Jahre 1967 diskutiert. Es war dies vor allem die Formulierung des Artikel 3 des Vertragsentwurfes, der sich mit den entsprechenden Kontrollmaßnahmen zur Einhaltung des Vertrages befaßt, die in den Verhandlungen des UNO-Abrüstungsausschusses in Genf Schwierigkeiten bereitete, genauer: gegen den Artikel 3 des Vertragsentwurfes sperrten sich einige Industriestaaten mit dem Hinweis auf eine mögliche „Industriespionage". Andere Staaten waren gegen den Vertrag, weil er sie als „Habenichtse" deklassieren würde (das heißt der Vertrag würde sie zu Staaten ohne die modernsten Waffen machen). Um die letzten Widerstände gegen den Vertrag über die Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen auszuräumen, wurden einige Gegner des Vertragswerkes zur 17. Pugwash-Konferenz eingeladen. In einer sehr harten Diskussion konnten die Vertragsgegner überzeugt werden, daß ihre Sonderinteressen angesichts der sich aus der Verbreitung von Kernwaffen ergebenden Gefahren weder wissenschaftlich noch politisch
185
gerechtfertigt sind. Nach dieser Konferenz gab es unter den Kernphysikern k a u m noch Gegner des Vertragsentwurfes. D i e Unterzeichnung des Nichtweitergabevertrages wurde begrüßt. 1 6 Seitdem w i r d regelmäßig untersucht, ob nicht alle Staaten der Welt diesem Vertrag beitreten könnten, u m seine Wirkungsweise vervollständigen zu können. Beide Verträge — der teilweise Teststop-Vertrag und der Nichtweitergabevertrag — haben ihre positive W i r k u n g auf den sich anbahnenden Entspannungsprozeß ausgeübt, wobei der Vertrag über die Nichtweiterverbreitung von K e r n w a f f e n einen bedeutenden D u r c h b r u c h für die P o l i t i k der friedlichen Koexistenz v o n Staaten m i t unterschiedlicher Gesellschaftsordnung erzielt hat. Er war ein Beweis dafür, daß die Politik der friedlichen Koexistenz realisierbar ist und zu guten Ergebnissen führt, die für die gesamte Menschheit v o n N u t z e n sind. Hatte man anfangs in aller Bescheidenheit und Skepsis nur sogenannte „ a t m o s p h ä r i s c h e " Verbesserungen in den internationalen Beziehungen erhofft, so haben sich die A u s w i r k u n g e n dieses Vertrages als viel realer und weitreichender erwiesen.
4. Das Problem schen
der biologischen
(bakteriologischen)
und der
chemi-
Waffen
Nach dem 2. Weltkrieg wurden biologische Waffen — Mikroben, V i r e n und deren toxische Produkte — entwickelt und in die Arsenale eingefügt. Ebenso wurden die chemischen Waffen — „ G i f t g a s e " oder andere giftige Substanzen — weiterentwickelt. A u f der 5. Pugwash-Konferenz waren die teilnehmenden Wissenschaftler noch der Auffassung, daß biologische und chemische Waffen mit den Kernwaffen nicht gleichgesetzt werden k ö n n e n . 1 7 Allerdings hat die Pugwash-Studiengruppe für biologische Kriegführung in ihrer A r b e i t diese Einschätzung dahingehend verändern müssen, daß auch die biologischen und die chemischen Waffen sich zu Massenvernichtungswaffen entwickelt h a b e n . 1 8 Die Gründung einer solchen Studiengruppe wurde auf der 11. Pug-
16 Ebenda, S. 272 -
274.
17 Ebenda, S. 163. 18 Über die Arbeit dieser Pugwash-Studiengruppe ebenda, S. 29.
186
wash-Konferenz im Jahre 1963 vorbesprochen und auf der 13. Konferenz im Jahre 1964 formell einberufen. Die Diskussionen in dieser Studiengruppe wurden von international gut bekannten Mikrobiologen bestritten. Es wurden auch eigene Tests durchgeführt, um zu Vorstellungen über Kontrollmechanismen zum Verbot der Produktion von biologischen (bakteriologischen) Waffen zu gelangen. Zu diesem Zweck wurden Inspektionen in Österreich, in der C S S R , in Dänemark und in Schweden durchgeführt. Da diese Inspektionen sehr erfolgreich waren, konnten solche Erfahrungen gesammelt werden, die es der Studiengruppe ermöglichten, einen Plan für eine Kontroll- und Inspektionsagentur auszuarbeiten und ihn den Regierungen für entsprechende Überlegungen und Verhandlungen zu unterbreiten. Als nächstes Problem wurde die Entwicklung von Methoden angegangen, mit denen eine schnelle Feststellung von mikrobiologischen Agentien, sowohl von Viren wie auch von Toxinen, möglich ist, die als biologische Waffen benützt werden könnten. Doch diese Arbeiten überstiegen die Möglichkeiten einer Pugwash-Studiengruppe, so daß sie im Jahre 1967 vom Stockholmer Internationalen Friedensforschungsinstitut ( S I P R I ) übernommen wurden. Dieses Institut hat seine entsprechenden Arbeiten mit der Veröffentlichung eines mehrbändigen Werkes über biologische und chemische Waffen abgeschlossen. 19 Die Pugwash-Bewegung hat damit ihren Beitrag zur Ausarbeitung der Konvention über das Verbot, der Entwicklung, der Produktion und Lagerung von biologischen (bakteriologischen) Waffen und ihre Vernichtung geleistet. 20 Eine ebenso große Aufmerksamkeit haben die Pugwash-Konferenzen den chemischen Waffen gewidmet. Im Jahre 1974 wurde ein Pugwash-Workshop über chemische Kriegführung ins Leben gerufen, der mehrmals zusammengetreten ist. Im Jahre 1972 war der Konferenz des Abrüstungsausschusses der U N O in Genf ein Entwurf der sozialistischen Länder für eine Konvention über das Verbot der Entwicklung, Produktion und Lagerung chemischer Waffen und über ihre Vernichtung vorgelegt worden. Einige imperialistische Staaten, an ihrer Spitze 19 The Problem of Chemical and Biologlcal Wartare. Vol. I — V I . S t o c k h o l m , New York 1971. 20 Diese Konvention wurde im Jahre 1971 v o m UNO-Abrüstungsausschuß ausgearbeitet und zur Unterschrift ausgelegt. Sie ist bis heute noch nicht in Kraft
187
die USA, widersetzten sich einem vollständigen Verbot dieser Art von Massenvernichtungswaffen. Der Pugwash-Workshop befaßt sich mit den verschiedenen Argumenten gegen den Abschluß einer Konvention zum Verbot der chemischen Waffen und bemüht sich, sachkundig die neuen Entwicklungen auf diesem Gebiet einzuschätzen und einige sich aus ihnen ergebenden Probleme zu diskutieren. Die Arbeit des Pugwash-Workshops über chemische Kriegführung wird erst mit dem Abschluß der entsprechenden Konvention ihr Ende erfahren.21 Bei den Diskussionen über chemische Waffen beziehungsweise die Verwendung von Chemikalien für kriegerische Zwecke spielte die us-amerikanische Kriegführung in Vietnam eine große Rolle. Die Zerstörungen, die mit chemischen Mitteln in Vietnam angerichtet wurden, haben entsprechende Mißbilligung durch Wissenschaftler gefunden, die an den Pugwash-Konferenzen über Wissenschaft und Weltgeschehen teilgenommen haben. Der Vietnam-Krieg wurde jedes Mal nicht nur als bestehender Konflikt behandelt, sondern auch unter dem Aspekt eben der chemischen Kriegführung, unter dem Aspekt des Mißbrauchs dieses Landes als Versuchsfeld für die Entwicklung neuer Massenvernichtungswaffen. Die Ablehnung dieses Vorgehens der USA-Regierungen war in der Regel einhellig. Die wichtige Ergänzung dieser Ablehn u n g war die entsprechende wissenschaftliche Arbeit und die entsprechenden wissenschaftlichen Beiträge der Pugwash-Bewegung für das umfassende Verbot der chemischen Waffen und der chemischen Kriegführung.
5. Die SALT-Verhandlungen und die Stellung der Pugwash-Konferenzen Als eine Maßnahme, die Kernwaffen zu begrenzen und den Kernwaffenkrieg zu verhindern, wurde angesehen, daß die UdSSR und die U S A im Gefolge des Vertrages über die Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen in Verhandlungen eintreten, um die strategischen Waffen einzuschränken. Zum ersten Mal haben sich die Teilnehmer der 19. Pugwash-Konferenz im Jahre 1969 mit der Problematik befaßt, 2 1 Ober die Problematik der chemischen Waffen und der c h e m i s c h e n Kriegführung sei verwiesen auf K . L ö h s u. a.: Chemical W e a p o n s m u s t be banned. Berlin 1 9 7 4 .
188
die strategischen Waffen zu beschränken. Es gab zu diesem Zeitpunkt Bemühungen seitens der UdSSR, in solche Gespräche mit der Regierung der USA einzutreten. Die USA forderten jedoch — zu aller Erstaunen übrigens —, daß vordringlich über die strategischen Defensivwaffen und nicht über die Offensivwaffen verhandelt wird, was eigentlich logisch gewesen wäre. In der Entwicklung von Waffen hatten Prozesse stattgefunden, die in den Augen einiger amerikanischer Wissenschaftler die Möglichkeiten für eine allgemeine und vollständige Abrüstung in bedeutendem Maße herabsetzten. Deshalb wurden baldige Verhandlungen über ein Abkommen gefordert, welches die strategischen Rüstungen beschränkt, und diese Verhandlungen wurden als eine Angelegenheit von höchstem Vorrang gesehen. Als während der Konferenz die Nachricht eintraf, daß die UdSSR den USA vorgeschlagen hat, diese Gespräche am 17. November 1969 in Helsinki zu beginnen, wurde dieser Schritt begrüßt.22 Die 20. Pugwash-Konferenz im Jahre 1970 befaßte sich mit dem Ziel, zu dem die SALT-Gespräche führen sollten. In erster Linie sollten solche strategischen Systeme beseitigt werden, die die Gefahr eines Kernwaffenkrieges erhöhen oder zur Beschleunigung des Rüstungswettlaufes führen. Auch auf die Gefahren wurde aufmerksam gemacht, falls durch die SALT-Gespräche kein nennenswertes Abkommen zustandekäme. Dies wäre schlimmer, als wenn die Gespräche nicht stattgefunden hätten. Die sowjetisch-amerikanischen Beziehungen würden sich verschlechtern, ein neuer Rüstungswettlauf würde beginnen, der militärische Einfluß würde zunehmen und die übrige Welt würde desillusioniert werden bezüglich der Aufrichtigkeit und der Fähigkeit der USA und der UdSSR, verantwortungsvoll zu reagieren. Dies hätte auch einen verderblichen Einfluß auf die Eindämmung der Verbreitung von nuklearen Waffen und ein langes Zeitintervall wäre nötig, um wieder einen größeren Fortschritt in der Rüstungskontrolle und der Abrüstung zu machen.23 Auf der 21. Pugwash-Konferenz vom Jahre 1971 wurde die Hoffnung ausgesprochen, daß die SALT-Gespräche noch vor Abschluß des Jahres 1971 einige bedeutende Ergebnisse bringen mögen. Wesentliche Ergebnisse auf diesem Gebiet seien die unabdingliche Voraussetzung 22 Joseph R o t b l a t , Scientists i n t h e Quest f o r Peace. A . a. O., S. 324. 2 3 Ebenda, S. 3 3 9 u n d 3 4 1 .
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für den Fortschritt ajf dem Gebiete der Abrüstung, insbesondere bei der weiteren Vergrößerung der Anzahl der Staaten, die sich dem Vertrag über die Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen anschließen. Ein solcher Fortschritt würde auch wohltuende Wirkungen auf andere Abrüstungsmaßnahmen haben, wie auf die europäische Sicherheit, auf die Beschränkung konventioneller Streitkräfte und konventioneller Waffen sowie auf andere Maßnahmen, die zum Endziel der allgemeinen und vollständigen Abrüstung führen. 24 Die 22. Pugwash-Konferenz vom Jahre 1972 begrüßte zwar das Abkommen S A L T 1, war sich jedoch über die Beurteilung der Ergebnisse nicht schlüssig. 25 Auf den nachfolgenden Konferenzen wurde das Geschehen um S A L T 1 und um die Verhandlungen zu S A L T 2 von den teilnehmenden Wissenschaftlern skeptisch beobachtet, wie die meist kurzen Stellungnahmen in den für die Öffentlichkeit bestimmten Erklärungen deutlich machen. Die 24. Pugwash-Konferenz vom Jahre 1974 sprach die Hoffnung aus, daß der Fortschritt in den SALT-Gesprächen schnell vorangetrieben wird, wei' es nur geringe konkrete Ergebnisse bei der Einschränkung der strategischen Waffen gegeben habe. 26 Die 25. Pugwash-Konferenz im Januar 1976 stellte lediglich fest, daß eine scharfe Beschleunigung der SALT-Verhandlungen notwendig sei, die darauf ausgerichtet sind, die Anzahl der nuklearen Trägersysteme zu reduzieren.27 Die 26. Pugwash-Konferenz im August 1976 ist ganz pessimistisch in der Einschätzung der SALT-Problematik. Das S A L T Abkommen habe den qualitativen Rüstungswettlauf nicht gebremst und habe nichts dazu getan, die große Anzahl der strategischen Offensivwaffen einzuschränken. Ausdrücklich wurde darauf hingewiesen, daß Entspannungsprozeß und Rüstungswettlauf nicht unbeschränkt nebeneinander bestehen können. 2 8 Die 27. Pugwash-Konferenz 2 3 Ebenda. S. 339 und 341. 24 Ebenda. S. 364. 25 Proceedings of the Twenty-Second Pugwash Conference on Science and Word Affairs. L o n d o n 1972. S . 30. 26 Proceedings of the Twenty-Fourth Pugwash Conference o n Science and World Affairs. L o n d o n 1974. S . 21. 27 Proceedings of the Twenty-Fifth Pugwash Conference o n Science and World Affairs. L o n d o n 1976. S . 21. 28 Proceedings of the Twenty-Sixth Pugwash Conference o n Science and World Affairs. L o n d o n 1976. S . 11/12.
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schließlich bedauerte im August 1977, daß, wenn die SALT-Verhandlungen nicht rasch genug voranschreiten, sie dann nicht mehr dem Fortschritt in der Militärtechnologie vorbeugen können und die positiven Wirkungen negiert werden könnten, die auf SALT beruhen.29 In den für die Öffentlichkeit bestimmten Erklärungen der PugwashKonferenzen ist es nicht üblich, Kritik an einen Adressaten direkt zu richten. Nachdem am Ende der Amtszeit von USA-Präsident G. Ford das neue SALT-Abkommen so gut wie fertiggestellt war, ist es durch die neue Administration in den USA in Frage gestellt worden, weil sie die Schritte bei der Begrenzung der strategischen Kernwaffen an Bedingungen knüpfte, das heißt an die Annahme von USA-Vorschlägen, die den sowjetisch-amerikanischen Vereinbarungen von 1974 widersprachen. Es ist nicht möglich, ein Abkommen erreichen zu wollen, das auf einseitigem Vorteil für die eine oder die andere Seite begründet ist. Es gibt keinen Grund dafür anzunehmen, daß die Sicherheit der Nationen gefährdet würde, wenn das Niveau der Rüstung wesentlich gesenkt würde. Dem stehen jedoch politische Schwierigkeiten entgegen, die von der Seite kommen, die ein besonderes Interesse an der Entwicklung neuer strategischer Waffen hat. Meist wird vergessen, daß fast alle Initiativen für den Rüstungswettlauf aus den USA kamen. Die USA haben als erste Kernwaffen entwickelt, haben die ersten strategischen Bomber gebaut, die ersten U-Boote für Kernwaffen auf Kiel gelegt, als erste Kernwaffen in Mitteleuropa stationiert Die USA tragen sich mit der Absicht, die Neutronenbombe und die Flügelraketen ihren strategischen Arsenalen einzufügen, obwohl die USA-Regierung seit langem aufgefordert wird, keine Neuentwicklungen auf dem Gebiet der Waffen mehr vornehmen zu lassen. Es gibt auch keine gemeinsame Schuld von UdSSR und USA am Rüstungswettlauf, wie manchmal glauben gemacht wird. Diese Auffassung verdreht — ob sie es will oder nicht — die Tatsachen. Die UdSSR und die anderen Länder der sozialistischen Staatengemeinschaft haben keinerlei ökonomisches oder soziales Interesse an der Aggression, an der Ausweitung des Militärpotentials und am Rüstungswettlauf. Die Mittel für Militärausgaben würde jedes sozialistische Land viel lieber für friedliche Zwecke ausgeben — sowohl im eigenen Land als auch zur Unterstützung der Entwicklungsländer. Das ist der 29 Pugwash Newsletter. V o l . 15. J u l y and O c t o b e r 1 9 7 7 . Nos. 1 and 2 S. 17.
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eigentliche Grund und die tiefste Ursache dafür, daß die UdSSR und mit ihr die anderen sozialistischen Länder so beharrlich und hartnäckig für alle Abrüstungsmaßnahmen eintreten. Die im sozialistischen Staat organisierten werktätigen Menschen benötigen den dauerhaften allgemeinen Frieden, um ihre humanistischen Ziele voll verwirklichen zu können. In der UdSSR und in den sozialistischen Ländern gibt es niemanden, der an der Aufrüstung beziehungsweise am Krieg verdienen würde. Die Völker der sozialistischen Staaten lehnen die Anwendung und Androhung von Gewalt ab, um internationale Probleme zu lösen. Sie treten für das Verbot der Aggression und für die Verurteilung des Aggressors, sie treten für die allgemeine und vollständige Abrüstung ein, die Kriege jeder Art aus dem Zusammenleben der Völker ausschließen würde.
6. Das Problem
der allgemeinen
und vollständigen
Abrüstung
Die Pugwash-Konferenzen über Wissenschaft und Weltgeschehen haben sich von Anfang an mit Problemen der Abrüstung, der Rüstungskontrolle und der Rüstungsbeschränkung befaßt, wie die bisherigen Ausführungen zu zeigen versucht haben. Stets wurde betont, daß es sich hier nur um Teilmaßnahmen und Teilaspekte der allgemeinen und vollständigen Abrüstung handeln könne. Gleichzeitig wurde gesehen, daß die allgemeine und vollständige Abrüstung kein rein technisches Problem ist, sondern viele andere Aspekte enthält. Jedes Mal haben die Pugwash-Konferenzen die entsprechenden Abrüstungsschritte der UNO nicht nur begrüßt, sondern mit ihren Mitteln unterstützt. So hatte bereits die 6. Pugwash-Konferenz im Jahre 1960 in diesem Zusammenhang erklärt, daß sie der Resolution, die von der Vollversammlung der UNO einstimmig angenommen wurde, große Bedeutung beimißt, daß es notwendig ist, eine friedliche Welt zu errichten, in der alle Mittel der Kriegführung unter wirkungsvoller Kontrolle beseitigt würden. Die Pläne für die allgemeine und vollständige Abrüstung sollten sichern, daß zu keiner Zeit, während die Abrüstung vollzogen wird, ein wesentlicher militärischer Vorteil für eine der Mächte errungen werden kann. 30 30 Joseph R o t b l a t , Scientists in t h e Qu est f or Peace. A . a. O., S. 1 6 6 .
192
Die 9. Pugwash-Konferenz des Jahres 1962 hat sich besonders ausführlich mit der allgemeinen und vollständigen Abrüstung befaßt. Berühmt wurde der Vortrag von V. M. Chvostov zum Thema: „Der gegenwärtige Stand der Abrüstungsverhandlungen"31, der den Vorschlag im Detail erläuterte, den die UdSSR der UNO-Vollversammlung für die allgemeine und vollständige Abrüstung unterbreitet hat. Auf dieser Konferenz wurde auch die Idee vorgetragen, zur Unterstützung der allgemeinen und vollständigen Abrüstung ein „Internationales Jahr zur Vorbereitung der Abrüstung" durchzuführen, das ebenso organisiert wird wie alle anderen weltumspannenden Unternehmungen.32 Die Arbeitsergebnisse der UN-Studiengruppe für die ökonomischen und sozialen Folgen der Abrüstung wurden auf dieser Konferenz eingehend diskutiert'und gutgeheißen.33 Die Idee, ein „Internationales Jahr zur Vorbereitung der Abrüstung" durchzuführen, wurde auf der 14. Pugwash-Konferenz im Jahre 1965 dahingehend erweitert, daß es von der UNO proklamiert und organisiert werden sollte. 34 Die 18. Pugwash-Konferenz von 1968 trat ganz eindringlich für einen Vertrag über die allgemeine und vollständige Abrüstung ein, die die Hoffnung aller Menschen ist und eine lebenswichtige Notwendigkeit für deren Zukunft darstellt. Ziele dieses Vertrages sollten sein — sie waren bereits Gegenstand früherer Verhandlungen und sollten auch Gegenstand künftiger Gespräche bleiben —, den Rüstungswettlauf zu stoppen, alle Massenvernichtungswaffen zu beseitigen, progressiv die militärischen Mannschaften, die Militärausgaben und die konventionellen Rüstungen zu kürzen. Dieser Vertrag müßte auch eine ständige internationale Kontrollorganisation vorsehen und ins Werk setzen
3 1 M. V . Chvostov, Perspektivy r a z o r u i e n i j a ( D i e Perspektiven der A b r ü s t u n g ) . I n : V . M . Chvostov/ P r o b l e m y istorii vnesnej p o l i t i k i SSSR i mezdunar o d n y c h o t n o i e r i i j (Probleme der Geschichte der A u ß e n p o l i t i k der UdSSR u n d der i n t e r n a t i o n a l e n Beziehungen). Moskva 1976. S. 3 3 2 — 3 4 0 . 32 Joseph R o t b l a t , Scientists in t h e Quast f o r Peace. A . a. O. S. 1 8 8 . 33 Ebenda. S. 195. Die Nationale Pugwash-Gruppe der D D R hat 1 9 7 1 ein Pugw a s h - S y m p o s i u m z u m gleichen T h e m a d u r c h g e f ü h r t . Das H a u p t r e f e r a t hielt Jürgen K u c z y n s k i . Das erarbeitete Material ist der U N O auf ihre B i t t e zur V e r f ü g u n g gestellt w o r d e n . 3 4 Ebenda. S. 2 4 3 .
193
sowie eine friedenserhaltende Maschinerie, die alle internationalen Streitigkeiten friedlich beilegt.35 Die politischen Bedingungen der allgemeinen und vollständigen Abrüstung wurden während der 21. Pugwash-Konferenz im Jahre 1971 diskutiert. Von den teilnehmenden Wissenschaftlern wurde betont, daß es für erfolgreiche Fortschritte in Richtung der Abrüstung erforderlich ist, die internationale Lage radikal zu verbessern, alle Kriegsherde und alle Quellen für Spannungen zu beseitigen, daß alle Staaten auf Anwendung und Androhung von Gewalt zur Lösung internationaler Streitigkeiten verzichten.36 Im Jahre 1972 hat die 22. Pugwash-Konferenz festgestellt, daß sich die Situation in der Welt so verbessert hat, daß Schritte zu einer allgemeinen und vollständigen Abrüstung unternommen werden können. 37 Von vielen Wissenschaftlern sind seit der ersten Pugwash-Konferenz vor etwas mehr als zwanzig Jahren wichtige und gute Bausteine zur Lösung des Problems der allgemeinen und vollständigen Abrüstung sowie für Teilmaßnahmen zu ihr zusammengetragen worden. Da alle Materialien der Pugwash-Bewegung allen Staats- und Regierungschefs sowie den leitenden Männern der internationalen Organisationen zur Verfügung gestellt werden, ist anzunehmen, daß Pugwash-Ideen auf der Sondersitzung der UNO-Vollversammlung zur Abrüstung ihre positive Rolle spielen werden.
35 Ebenda. S. 301. 36 Ebenda. S. 3 6 9 . 37 Proceedings o f t h e T w e n t y - S e c o n d Pugwash Conference o n Science and W o r l d A f f a i r s . L o n d o n 1972. S. 34.
1S4
Autorenverzeich nis
Helmut Abel Dr. sc: nat., Professor Bereichsleiter am Zentralinstitut für Molekularbiologie der Akademie der Wissenschaften der D D R geb. am 2 1 . 7 . 1928 Karl Friedrich Alexander Dr. rer. nat. habil., Professor, Ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften der D D R Direktor des Zentral instituts für Elektronenphysik der Akademie der Wissenschaften der D D R geb. am 1. 5. 1925
Helmut Böhme Dr. agr. habil., Professor, Ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften der D D R Direktor des Zentralinstituts für Genetik und Kulturpflanzenforschung der Akademie der Wissenschaften der D D R Vorsitzender des Nationalkomitees für Bio Wissenschaften geb. am 7. 6. 1929 Alfred Bönlsch Dr. rer. oec. habil., Professor Forschungsgruppenleiter am Zentralinstitut für Wirtschaftswissenschaften der Akademie der Wissenschaften der D D R geb. am 3. 9. 1932 Georg Domin Dr. phil. habil., Professor Forschungsgruppenleiter am Institut für Theorie, Geschichte und Organisation der Wissenschaften der Akademie der Wissenschaften der DDR Mitglied des Nationalkomitees für politische Wissenschaften der D D R geb. am 16. 7. 1926
195
Rudolf
Engst
Dr. rer. nat., Professor Bereichsleiter am Zentralinstitut für Ernährung der Akademie der Wissenschaften der DDR geb. am 8. 5. 1920 Erhard
Geißler
Dr. rer. nat., habil., Professor Abteilungsleiter am Zentralinstitut für Molekularbiologie der Akademie der Wissenschaften der DDR geb. am 17. 12. 1930 Helmut
Haenel
Dr. med. vet. habil., Professor, Ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften der DDR Direktor des Zentralinstituts für Ernährung der Akademie der Wissenschaften der DDR Mitglied der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina Ehrenmitglied der österreichischen Gesellschaft für Ernährungsforschung Korrespondierendes Mitglied der Purkyni-Gesellschaft für Gastroenterologie und Ernährung der CSSR Ehrenmitglied der Sektion Ernährung der Vereinigung der Wissenschaftler der VR Bulgarien geb. am 24. 4. 1919 Friedrich
Jung
Dr. sc; med., Professor, Ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften der DDR Direktor des Zentralinstituts für Molekularbiologie der Akademie der Wissenschaften der DDR Mitglied des Forschungsrates der DDR geb. am 21. 4. 1915
196
Alexander
Kolesnyk
Dr. phil. Wissenschaftlicher Arbeitsleiter am Zentralinstitut für Philosophie der Akademie der Wissenschaften der DDR Sekretär der nationalen Pugwash-Gruppe der DDR geb. am 12. 10. 1933 Helmut
Kraatz
Dr. sc. med. Dr. hc. Dr. hc., Professor em., Ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften der DDR Präsident des Rates für Planung und Koordinierung der medizinischen Wissenschaft Auswärtiges Mitglied der Akademie der Wissenschaften der UdSSR Mitglied des Kollegiums des Ministeriums für Gesundheitswesen geb. am 6. 8. 1902 Jürgen
Kuczynski
Dr. phil. Dr. rer. oec. hc. Dr. rer. nat. h. c.f Professor em.. Ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften der DDR Vorsitzender des Nationalkomitees der Wirtschaftshistoriker Auswärtiges Mitglied der Akademie der Wissenschaften der UdSSR Mitglied der nationalen Pugwash-Gruppe der DDR geb. am 17. 9. 1904 Ernst
Laboor
Dr. sc. phil. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentralinstitut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR Sekretär der Kommission der Historiker der DDR und der UdSSR geb. 2. 3. 1927 Hans Hermann
Lanfermann
Dr. phil. Stellv. Forschungsgruppenleiter am Institut für Theorie, Geschichte und Organisation der Wissenschaft der Akademie der Wissenschaften der DDR geb. am 15. 1. 1931
197
Eberhard Leibnitz Dr.-Ing. Dr. h. c., Professor, Ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften der D D R Präsident der U R A N I A Mitglied des Forschungsrates der D D R Vorsitzender der nationalen Pugwash-Gruppe der D D R Mitglied des Pugwash-Rates geb. am 31.1. 1910
Karlheinz Löhs Dr. rer. nat. habil., Professor, Ordentliches Mitglied cler Akademie der Wissenschaften der D D R Direktor der Forschungsstelle für chemische Toxikologie der Akademie der Wissenschaften der D D R Mitglied des Exekutivrates der Weltföderation der Wissenschaftler Vorsitzender des Internationalen Abrüstungsausschusses der Weltföderation der Wissenschaftler Stellv. Vorsitzender der Klasse Umweltschutz und Umweltgestaltung der Akademie der Wissenschaften der D D R Mitglied der nationalen Pugwash-Gruppe der D D R geb. am 23. 8. 1929
Herbert Meißner Dr. rer. oec. habil., Professor, Korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften der D D R Stellv. Direktor des Zentralinstituts für Wirtschaftswissenschaften der Akademie der Wissenschaften der D D R Vorstandsmitglied im Nationalkomitee für Politische Wissenschaften Mitglied des Nationalkomitees für Wirtschaftswissenschaften Mitglied des Exekutivrates der Weltföderation der Wissenschaftler geb. am 16. 5. 1927
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Karl-Heinz
Röder
Dr. sc. jur., Professor Bereichsleiter am Institut für Theorie des Staates und des Rechts der Akademie der Wissenschaften der DDR Stellv. Vorsitzender des Nationalkomitees für Politische Wissenschaften der DDR geb. am 13. 6. 1935 Martin Manfred
Schneider
Dr. rer. nat.f habil. Abteilungsleiter am Zentralinstitut für Physik der Erde der Akademie der Wissenschaften der DDR Beauftragter für die Antarktisforschung geb. am 22. 4. 1930 Max Steenbeck
Dr. phil. Dr. h. c., Professor, Ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften der DDR Vorsitzender des Forschungsrats der DDR Präsident des DDR-Komitees für europäische Sicherheit und Zusammenarbeit Auswärtiges Mitglied der Akademie der Wissenschaften der UdSSR geb. am 21. 3. 1904 Heinz
Stiller
Dr. rer. nat. habil., Professor, Ordentliches Mirglied der Akademie der Wissenschaften der DDR Mitglied des Präsidiums der Akademie der Wissenschaften der DDR Leiter des Forschungsbereichs Geo- und Kosmoswissenschaften der Akademie der Wissenschaften der DDR geb. am 1. 11. 1932
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