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German Pages 411 Year 2015
E THIK UND R ECHT Band 1
Die Unverbindlichkeit der Verantwortung Ethikkodizes der Wissenschaft im deutschen, europäischen und internationalen Recht
Von
Hans Christian Wilms
Duncker & Humblot · Berlin
HANS CHRISTIAN WILMS
Die Unverbindlichkeit der Verantwortung
Ethik und Recht Herausgegeben von Wilfried Hinsch und Silja Vöneky
Band 1
Die Unverbindlichkeit der Verantwortung Ethikkodizes der Wissenschaft im deutschen, europäischen und internationalen Recht
Von
Hans Christian Wilms
Duncker & Humblot · Berlin
Die Juristische Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg hat diese Arbeit im Jahre 2013 als Dissertation angenommen.
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Vorwort Die vorliegende Arbeit entstand im Rahmen meiner Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Max-Planck-Forschungsgruppe „Demokratische Legitimation ethischer Entscheidungen – Ethik und Recht in der Biotechnologie und der modernen Medizin“ am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht in Heidelberg und wurde im Oktober 2013 von der juristischen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg als Dissertation angenommen. Literatur konnte im Wesentlichen bis zu diesem Zeitpunkt berücksichtigt werden. Die Untersuchung wird im Folgenden aufzeigen, dass wissenschaftliche Arbeit nur in den seltensten Fällen individuell geleistet werden kann, sondern einer Vielzahl von Akteuren bedarf. Es ist sowohl eine Frage der Redlichkeit als auch der Dankbarkeit, deren Beitrag vorab zu würdigen. Mein Dank gilt zuvorderst meiner Promotionsbetreuerin Prof. Dr. Silja Vöneky, die mich in die Forschungsgruppe aufnahm und in besonderem Maße an der Entstehung dieser Arbeit Anteil hatte. Mit stetem Freiraum begleitete sie mich von der Themenwahl bis zur Erstellung und kontroversen Diskussion. Prof. Dr. Dr. h.c. Rüdiger Wolfrum danke ich für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Auch für die freundliche Aufnahme am Max-PlanckInstitut habe ich ihm als Direktor, ebenso wie Prof. Dr. Armin von Bogdandy, zu danken. Ein großer Teil dieser Arbeit entsprang der Zusammenarbeit mit den Mitgliedern der Forschungsgruppe, Dr. Sigrid Mehring, Fruzsina Molnár-Gábor und vor allem meiner Schicksals- und Leidensgenossin Dr. Mira Chang, weshalb diesen mein besonderer Dank gilt. Auch den weiteren Mitgliedern des Instituts, die die Arbeit fachlich und menschlich einfacher machten, ist an dieser Stelle zu danken. Besonders hervorheben möchte ich Dr. Isabel Röcker, Dr. Johann-Christoph Woltag, Daniela Arrese, LL.M., Dr. Stephan Schill, Johannes Fuchs und Dr. Matthias Kottmann, die diese Zeit zu etwas besonderem machten. Ich widme diese Arbeit meinen Eltern Hiltrud Wilms und Dr. Hans Hugo Wilms sowie meinen Geschwistern Alexandra und Uli. Sie waren Inspiration, Motivation und Förderer zu jedem Zeitpunkt meines Lebens. Diese Widmung kann nur annähernd die Dankbarkeit ausdrücken, die ich empfinde. Für Eure Unterstützung danke ich Euch von ganzem Herzen. Potsdam, im Oktober 2014
Hans Christian Wilms
Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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A. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die unverbindlichen Steuerungsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Grundlegendes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Begriffliche Differenzierung der verschiedenen Instrumente . . . . . . . . a) Verhaltenskodex. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ethikkodex . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Ethische Richtlinie oder Leitlinie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Urheber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Adressaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Compliance-Mechanismen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Wissenschaftstheorie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Überblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der kritische Rationalismus Karl Poppers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Kuhns Strukturmodell des wissenschaftlichen Wandels . . . . . . . . . d) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Wissenschaftssoziologische Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die wissenschaftliche Praxis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Wissenschaftsethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Ethos epistemischer Rationalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Ethos wissenschaftlicher Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Widerstreit der Verantwortlichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Integration des Ethos wissenschaftlicher Verantwortung . . . . . . . . . . . . 5. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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B. Kodizes in der Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Analyse ausgewählter Richtlinien und Kodizes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Verhaltenscodex der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Arbeit mit hochpathogenen Mikroorganismen und Toxinen. . . . . . . . . a) Entstehung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Hinweise und Regeln der Max-Planck-Gesellschaft zum verantwortlichen Umgang mit Forschungsfreiheit und Forschungsrisiken . .
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Inhaltsverzeichnis a) Entstehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Empfehlung der Europäischen Kommission für einen Verhaltenskodex für verantwortungsvolle Forschung im Bereich der Nanowissenschaften und -technologien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Entstehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Ethische Vertretbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Bindungswirkung des Verhaltenskodex. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Ethikkodizes im deutschen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Unverbindlichkeit von Steuerungsinstrumenten . . . . . . . . . . . . . . . . a) Wille des Normgebers als Kriterium. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Rechtsschutzmöglichkeit als Kriterium. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Der Norminhalt als Kriterium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Die Normsetzungsbefugnis als Kriterium. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Das Sonderproblem rein privater Rechtsetzung als Ausdruck der Privatautonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit aus Art. 5 Abs. 3 GG . . . . a) Die Geschichte der Wissenschaftsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Schutzbereich der Wissenschaftsfreiheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Der Begriff der Wissenschaft in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der herrschenden Lehre . . . . . bb) Eine funktionale Schutzbereichsbestimmung nach soziologischen Kriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Die Wissenschaft als Kommunikations- und Handlungszusammenhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Grundannahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Exkurs: Das Selbstverständnis im Rahmen der Grundrechtstatbestände. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Das Selbstverständnis als Eingrenzungskriterium der Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Würdigung des Ansatzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die objektiv-rechtliche Dimension der Wissenschaftsfreiheit . . . . . d) Schranken der Wissenschaftsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Schrankenbestimmung des Bundesverfassungsgerichts. . . bb) Weiter gehende Schrankenbestimmungen der Lehre . . . . . . . . . (1) Eine ethisch-immanente Schranke der Wissenschaftsfreiheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis (2) Das Menschenbild des Grundgesetzes als Schranke der Wissenschaftsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Schlussfolgerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das spezielle Problem der wissenschaftlichen Folgenverantwortung in der deutschen Verfassungsgerichtsrechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die rechtliche Einordnung von wissenschaftlichen Kodizes im deutschen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die unmittelbare rechtliche Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Der Verhaltenscodex der Deutschen Forschungsgemeinschaft bb) Die Verhaltensregeln der Max-Planck-Gesellschaft . . . . . . . . . b) Mittelbare rechtliche Wirkung der Kodizes in wissenschaftlichen Entscheidungsprozessen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Figur der mittelbar-faktischen Grundrechtsbeeinträchtigung und deren Anwendbarkeit im vorliegenden Fall . . . . . . . bb) Die staatliche Zurechnung von Grundrechtsbeeinträchtigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Die Selbstverwaltungsstrukturen der Wissenschaftsinstitutionen mit Blick auf staatliche Zurechnung . . . . . . . . . . (1) Deutsche Forschungsgemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Max-Planck-Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Fraunhofer-Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Grundrechtliche Konsequenzen von Entscheidungen durch Selbstverwaltungsgremien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Die Grundrechtsfähigkeit wissenschaftlicher Einrichtungen nach Art. 19 Abs. 3 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Grundrechtsschutz in Institutionen funktionaler Selbstverwaltung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Grundrechtsbeeinträchtigung durch wissenschaftsinterne Beschlussfassungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Die Kollision grundrechtlicher Freiheiten in privaten Forschungsinstitutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Rechtfertigung der Grundrechtsbeeinträchtigungen . . . . . . . . . . . . . aa) Formelle Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Gesetzesvorbehalt für grundrechtsbeeinträchtigende Maßnahmen öffentlich-rechtlicher Selbstverwaltungskörperschaften? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Gesetzesvorbehalt für staatlich finanzierte, private Forschungseinrichtungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Kollidierende Verfassungsgüter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Der Schutz der Umwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Das Friedensgebot des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Eingriffsintensität der Risikoanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis (2) Eingriffsintensität der Einschaltung einer Ethikkommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Legitimer Zweck der Risikovorsorge? . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Geeignetheit der Kodizes zur Risikovorsorge . . . . . . . . . . . (5) Erforderlichkeit der Kodizes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (6) Angemessenheit der Grundrechtsbeeinträchtigung . . . . . . . (7) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Kodizes als Konkretisierung außerrechtlicher Maßstäbe im Recht aa) Das Sittengesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die guten Sitten im Zivilrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Die guten Sitten im Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Die guten Sitten im öffentlichen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Ethikkodizes im Europarecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Wissenschaftsfreiheit im Europarecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Grundrechte im Recht der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . b) Die Wissenschaftsfreiheit nach den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedsstaaten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Wissenschaftsfreiheit in den Mitgliedsstaaten. . . . . . . . . . . bb) Die Methodik der Grundrechtsableitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Die Wissenschaftsfreiheit in internationalen Verträgen der Mitgliedsstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Wissenschaftsfreiheit in der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Die Anerkennung der Wissenschaftsfreiheit durch Europäische Organe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Europäischen Gerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Das Europäische Parlament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Der Europäische Rat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Die Europäische Kommission. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Die Wissenschaftsfreiheit nach Art. 13 der Grundrechtecharta . . . aa) Gewährleistungsgehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Die Wissenschaftsfreiheit im Grundrechtekonvent. . . . . . . (2) Die Erläuterungen des Präsidiums des Europäischen Grundrechtekonvents . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Der Wissenschaftsbegriff der Grundrechtecharta . . . . . . . . (4) Die objektiv-rechtliche Grundrechtsdimension . . . . . . . . . . bb) Verkürzung des Gewährleistungsgehalts durch ethische Einschränkungen der Wissenschaftsfreiheit?. . . . . . . . . . . . . . . . (1) Begrenzung durch die Menschenwürde . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Die Vorgaben des Art. 3 Abs. 2 GRC zur Begrenzung der Wissenschaftsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis (3) Die ethischen Prinzipien nach der Charta für Forscher als Verkürzung der Wissenschaftsfreiheit? . . . . . . . . . . . . . cc) Die Schranken der Wissenschaftsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Die Schranke der Wissenschaftsfreiheit nach der Grundrechtecharta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Grundrechtsbeeinträchtigungen im Europarecht. . . . . . . . . (3) Der Vorbehalt einer gesetzlichen Grundlage für Grundrechtseinschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . (5) Wesensgehaltsgarantie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Formell unverbindliche Steuerungsformen des Europarechts . . . . . . . . a) Europäisches soft law?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Wirkungsweisen unverbindlicher Handlungsformen. . . . . . . . . . . . . aa) Rechtsvorbereitende Instrumente. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Rechtsbegleitende Instrumente. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Rechtsersetzende Instrumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Insbesondere: Die Empfehlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Grundlegendes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Rechtliche Relevanz aufgrund prozeduraler Voraussetzungen der Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Rechtliche Relevanz durch Auslegung nationalen Rechts . . . dd) Rechtliche Relevanz über außerrechtliche Faktoren. . . . . . . . . d) Insbesondere: Codes of Conduct oder Verhaltenskodizes . . . . . . . . e) Rechtsschutz gegen unverbindliche Handlungsformen? . . . . . . . . . aa) Als Gegenstand der Nichtigkeitsklage nach Art. 263 AEUV bb) Als Gegenstand des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die rechtliche Einordnung der Steuerungsversuche ethischer Verantwortung in der Wissenschaft durch die Europäische Kommission . . . a) Die rechtliche Einordnung des Verhaltenskodex für verantwortungsvolle Forschung im Bereich der Nanowissenschaften und -technologien als verbindliche Handlungsform? . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Keine Indizien durch die Form und Formulierungen des Kodex. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Fehlende originäre Kompetenz der Kommission zur verbindlichen Normsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Delegierte Rechtsetzungskompetenz im Bereich der Europäischen Forschungsförderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Delegierte Rechtsetzungsbefugnisse auch für ethische Erwägungen der Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Beurteilungsmaßstab: Recht, nicht Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis aa) Die Ethisierung des Europarechts im Bereich der Forschung bb) Vorteil: Kompensation von Defiziten im Bereich der Europäischen Regulierung von biotechnologischen und wissenschaftlichen Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Nachteil: Unkontrollierte Diffusion von Ethik und Recht . . . . dd) Insbesondere: Die Wissenschaftsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Grundrechtskonformität des Verhaltenskodex . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Forschungsförderung als Teilbereich des Gewährleistungsgehalts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Beeinträchtigung grundrechtlicher Freiheit durch die Vorgaben des Kodex . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Formelle Rechtfertigung der Beeinträchtigung . . . . . . . . . . . . . . (1) Das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage . . . . . . . . . . (2) Verstoß gegen den Bestimmtheitsgrundsatz? . . . . . . . . . . . . dd) Materielle Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Rechtfertigung der allgemeinen Rechenschaftspflicht . . . . (2) Rechtfertigung der Beeinträchtigung durch ethische Grundprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Alternative Wege zu ethischer Forschung in Europa. . . . . . . . . . . . . . . . a) Alternative Regulierungswege durch die Europäischen Organe . . . b) Wissenschaftliche Selbstverwaltung auf Europäischer Ebene als mögliche Lösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Ethikkodizes im Völkerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kodizes im Völkerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Kodizes als Gegenstand völkerrechtlicher Betrachtung . . . . . . . . . . aa) Die Rolle des soft law im Völkerrecht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Kodizes und soft law . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die UNESCO-Dokumente als Kodizes der Wissenschaft? . . . . . . . . . . a) Die Empfehlung über den Status des Wissenschaftlers . . . . . . . . . . b) Die Erklärung zur Nutzung des wissenschaftlichen und technologischen Fortschritts im Interesse des Friedens und dem Wohl der Menschheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Allgemeine Erklärung über das menschliche Genom und Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Entstehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Exkurs: Die Menschenwürde als normatives Prinzip des Völkerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
259
261 263 265 268 269 270 272 273 273 275 277 278 280 286 286 288 288 289 291 291 294 294 295 299 301 303
305 307 307 308 309 310
Inhaltsverzeichnis ee) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Die Allgemeine Erklärung über Bioethik und Menschenrechte. . . aa) Entstehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Bewertung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Exkurs: Das Verhältnis von Bioethik und Menschenrechten ee) Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Kodexsetzung durch wissenschaftliche Selbstverwaltung auf globaler Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der International Council for Science als Selbstverwaltungsinstitution. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Fragmentierung der Kodexsetzung als Ziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die Wissenschaftsfreiheit im Völkerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) In internationalen Menschenrechtsverträgen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Wissenschaftsfreiheit in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Rolle des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Art. 15 des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Die Wissenschaftsfreiheit nach dem Wortlaut und der Entstehungsgeschichte des Art. 15 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Das Spannungsfeld zwischen Art. 15 Abs. 3 und Art. 15 Abs. 1 lit. b) als Indiz gegen eine Wissenschaftsfreiheit (3) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Wissenschaftsfreiheit in Verträgen zum common heritage of mankind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) In Dokumenten der UNESCO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Empfehlung über den Status des Wissenschaftlers . . . . . . bb) Die Erklärung zur Nutzung des wissenschaftlichen und technologischen Fortschritts im Interesse des Friedens und dem Wohl der Menschheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Die Allgemeine Erklärung über das menschliche Genom und Menschenrechte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Die Internationale Erklärung über humangenetische Daten . . ee) Die Allgemeine Erklärung über Bioethik und Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ff) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Die UN-Universität und ihre Charta als Ausdruck einer völkerrechtlichen Wissenschaftsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Die Wissenschaftsfreiheit in regionalen Menschenrechtsverträgen aa) Die Europäische Menschenrechtskonvention . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Amerikanische Menschenrechtskonvention . . . . . . . . . . . .
13 312 313 313 314 315 317 325 326 326 328 329 331 331 333 334 335 337 339 339 341 341
343 344 345 346 347 347 348 348 349
14
Inhaltsverzeichnis cc) Die Afrikanische Charta der Menschenrechte und der Rechte der Völker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Das Legitimationsdilemma internationaler Normen. . . . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Herausforderungen der Legitimationskonzeptionen durch das moderne Völkerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Staatenkonsens als Legitimation völkerrechtlicher Normen . . . . . . d) Die Legitimationskette als mittelbare demokratische Legitimation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Die Kompensation von input-Defiziten durch output-Legitimation f) Deliberative Ansätze der Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Substantielle Kriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Der Schutz grundlegender Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . (2) Vergleichsweiser Nutzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Institutionelle Integrität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Deliberativ-formelle Kriterien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Verantwortlichkeitsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Transparenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Die Notwendigkeit externer Akteure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Legitimationsanforderungen an eine internationale Kodexsetzung . . . a) Institutionelle Legitimation der Organisationen . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) UNESCO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) ICSU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Legitimationsanforderungen an einen Kodexsetzungsprozess . . . . . 8. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
C. Ergebnisse und Erkenntnisse der Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Wissenschaftsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Das Verhältnis von Ethik und Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Unverbindliche Steuerungsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Legitimationsbedingungen unverbindlicher Steuerung . . . . . . . . . . . . . . . . .
351 351 353 354 356 358 360 362 364 364 364 366 367 367 368 369 370 371 372 372 372 375 379 381 383 383 385 386 388
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390 Sachwortregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407
Einleitung Die Wissenschaft ist in den letzten Jahren immer mehr in den Fokus der gesellschaftlichen Betrachtung gerückt, als ihre Entwicklungsschritte sich immer rasanter vollzogen, sich damit gleichzeitig aber Problemfelder eröffneten, deren Diskussion immer komplexer und deren Beherrschung immer schwieriger wurde. Der Ruf nach Regulierung der Wissenschaft wurde dabei aufgenommen, nicht jedoch in herkömmlicher, legislativer Art. In der vorliegenden Arbeit soll diese Steuerung der Wissenschaft in ethischen Fragen wissenschaftlicher Verantwortung untersucht werden, die aus verschiedenen Gründen in der Form unverbindlicher Steuerungsformen geschieht. Unter dem Titel Ethik- oder Verhaltenskodex, ethische Richtlinie oder Standard soll hierbei eine freiwillige, durch ethische Erwägungen geleitete Verhaltenssteuerung innerhalb der wissenschaftlichen Profession erreicht werden.1 Sowohl die intendierte Freiwilligkeit dieser Kodizes, als auch der Rekurs auf eine professionsinterne Ethik lassen die Behandlung jener Steuerungsformen in einer rechtswissenschaftlichen Arbeit zunächst kontraintuitiv erscheinen, befasst sich das Recht doch hauptsächlich mit Normen, die einen allgemeinen Verbindlichkeitsanspruch aufweisen und sich in ein zunächst abgeschlossenes System von Rechtsnormen einordnen lassen. Die Untersuchung soll jedoch aufzeigen, dass weder der Anspruch der Unverbindlichkeit, noch die Bezugnahme auf ein unabhängiges Rechtfertigungssystem der Ethik Konflikte mit dem Recht vermeiden können. Mehrere Problemfelder begleiten das Unterfangen freiwilliger Steuerung: Zunächst die grundrechtlich garantierte Wissenschaftsfreiheit, die wissenschaftlich Tätigen einen Schutz vor ungerechtfertigter Einflussnahme auf ihre Arbeit vermitteln kann und bei Ansprüchen zur Verhaltenssteuerung stets Beachtung finden muss. Gerade die Beteiligung von grundrechtsgebundenen Hoheitsträgern bei der Abfassung solcher normativer Standards wirft dabei Fragen der Zulässigkeit auf, denen in dieser Arbeit nachgegangen werden soll. Sollen die Träger des Grundrechts der Wissenschaftsfrei1 Auf dem Gebiet der wissenschaftsinternen Regulierung bezüglich des sogenannten wissenschaftlichen Fehlverhaltens hat es um diesen Themenkomplex bereits breite Diskussionen gegeben. Der Begriff umfasst im bezeichneten Kontext die Verletzung von Normen, die lediglich die Erzeugung wissenschaftlichen Wissens gewährleisten sollen, R. Mayntz, Wissenschaftliches Fehlverhalten: Formen, Faktoren und Unterschiede zwischen Wissenschaftsgebieten, in: Max-Planck-Gesellschaft (Hrsg.) Ethos der Forschung, S. 57. Vgl. zum Inhalt dieser Normen, S. 43 ff.
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Einleitung
heit einer Steuerung unterliegen, so ist stets zu fragen, inwieweit sich diese Steuerung rechtfertigen lässt, soweit damit negative Konsequenzen für deren Freiheit verbunden sind. Im Folgenden soll daher aufgezeigt werden, welche Folgen auch eine Steuerung auf vermeintlicher Freiwilligkeitsbasis zeitigen kann und inwieweit diese gerechtfertigt werden kann oder als rechtswidrig abgelehnt werden muss. Zuvor muss jedoch stets geklärt werden, wann und wie weit das Recht durch eine solche Steuerung tangiert ist und welche Konsequenzen eine eventuelle Mittelbarkeit der Auswirkungen haben muss. Zusätzlich ist zu fragen, wie der Anspruch auf Steuerung gerechtfertigt werden kann, ein Problem, das vor allem dann virulent wird, wenn eine demokratische Legitimation alleine nicht mehr in ausreichender Weise vorliegt, wie es im Bereich funktionaler Selbstverwaltung der Wissenschaft oder im supra- oder internationalen Regime der Fall ist. Dabei wird die Untersuchung auf drei verschiedenen Ebenen des Rechts erfolgen, die in einem zunehmenden Abhängigkeitsverhältnis zueinander stehen, dem nationalen, dem supranationalen und dem internationalen Recht. Die Mehrebenenuntersuchung ist zum einen dadurch notwendig, dass auf allen drei Ebenen eine ebensolche unverbindliche Steuerung erfolgt oder erfolgen soll.2 Entsprechend der globalen, atopischen Erscheinungsform des Wissens ist eine nationale Perspektive nicht mehr ausreichend um die Problematik wissenschaftlicher Verantwortung ausreichend zu reflektieren. Zum anderen können die verschiedenen Ebenen durch die Varianz der beteiligten Akteure auch wichtige Erkenntnisse für die Bedingungen eines solchen Vorhabens aufzeigen. Die jeweils zu bewertenden Problemkreise sind sich dabei insofern ähnlich, als die zu untersuchenden Grundbedingungen stets dasselbe Spannungsfeld eröffnen werden: Die jeweilige Autonomie des wissenschaftlich arbeitenden Individuums, idealerweise durch eine spezielle Wissenschaftsfreiheit gewährleistet, muss in seiner Verantwortung gegenüber der Gesellschaft mit einem Anspruch der ethischen Steuerung in Einklang gebracht werden, soweit dieser Anspruch nicht aus dem Individuum selbst heraus generiert wird. 2 Als Beispiele aus dem nationalen Recht sind hierfür der „Verhaltenscodex zur Arbeit mit hochpathogenen Mikroorganismen und Toxinen“ der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und die „Regeln der Max-Planck-Gesellschaft zum verantwortlichen Umgang mit Forschungsfreiheit und Forschungsrisiken“ zu nennen (ausführlich dazu S. 60 ff. und 65 ff.), für das Europäische Recht der „Verhaltenskodex der EU-Kommission für eine verantwortungsvolle Forschung im Bereich der Nanowissenschaften und Nanotechnologie“ (ausführlich dazu S. 68 ff.), und auf internationaler Ebene haben sich zwischenstaatliche Organisationen wie die United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization (UNESCO) und wissenschaftliche Selbstverwaltungsorganisationen wie der International Council for Science (ICSU) das Ziel gesetzt, eine internationale Steuerung der wissenschaftlichen Verantwortung durch globale Ethikkodizes zu erreichen (ausführlich dazu S. 291 ff.).
Einleitung
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Die Mehrebenenuntersuchung wird mit dem Vorhaben unverbindlicher Steuerung im deutschen Recht beginnen, das aufgrund einer weitgehend einzigartigen, grundrechtlichen Sicherung wissenschaftlicher Autonomie die Besonderheit einer wissenschaftlichen Selbstverwaltung aufweist, die die Verabschiedung normativer Instrumente in ethischen Fragen in einem besonderen Licht erscheinen lässt. Dabei stehen vor allem die staatlich betriebenen oder finanzierten Institutionen unter verstärkter Beobachtung, als diese bei der Sicherung wissenschaftlicher Autonomie gesteigerten Anforderungen unterliegen. Anschließend werden die Bestrebungen der unverbindlichen Steuerung im System der Europäischen Union analysiert. Diese werden von der Europäischen Kommission als dem Exekutivorgan der Unionsverträge im Kontext einer neuen, positivierten Grundrechtsordnung, der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, vorangetrieben und fügen sich insoweit in veränderte Bedingungen ein. Abschließend soll die beabsichtigte, internationale Kodexsetzung sowohl zwischen- wie auch nichtstaatlicher Organisationen untersucht werden, die aufgrund einer unklaren Grundrechtssituation und fraglicher Legitimationsbedingungen einer globalen Normsetzung völkerrechtliche Besonderheiten und Probleme aufweisen wird. Vorab sollen jedoch in einem einführenden Teil die Erscheinungsformen der hier behandelten Kodizes aufgezeigt und auf Gemeinsamkeiten untersucht werden. Zudem wird eine Einführung in das System der Wissenschaft gegeben, dem sich diese Arbeit widmet. Dabei wird vor allem auch der innerwissenschaftliche Konflikt um die angemessene professionsinterne Ethik aufgezeigt werden, der die Forderung nach gesellschaftlicher Verantwortung in den Kodizes überhaupt rechtfertigen könnte. Die Umsetzung dieser ethischen Forderung wird dann anhand rechtlicher Parameter im Einzelfall und im Allgemeinen überprüft und schließlich sollen Vorschläge gemacht werden, wie diese beabsichtigte Form der Steuerung zukünftig gestaltet werden sollte um das Ziel einer ethischen Steuerung gerechtfertigterweise erreichen zu können.
A. Einführung I. Die unverbindlichen Steuerungsformen 1. Grundlegendes Gegenstand dieser Untersuchung sollen Verhaltens- und Ethikkodizes sein, also Anweisungen des richtigen Verhaltens in bestimmten Situationen, die aber aus verschiedenen Gründen nicht in rechtlich verbindlicher Form ergehen sollen. Dabei sollen sie den Wissenschaftlern Anleitung geben, wie sie sich und ihre Forschung im Rahmen der Ethik bewegen können. Zunächst muss aber geklärt werden, wie die einzelnen Begriffe im Kontext dieser Untersuchung zu verstehen sind. Verhaltenskodex1, Ethikkodex2 und ethische Richtlinie3 als zentrales Thema dieser Untersuchung sollen weniger jene Instrumente der Privatwirtschaft sein, die im arbeitsrechtlichen Kontext schon häufig thematisiert wurden,4 sondern diejenigen Instrumente, die entweder von aus institutioneller Perspektive auch zur Normsetzung befugten Stellen erlassen werden,5 oder in stellvertretender Wahrnehmung staatlich definierter öffentlicher Zwecke von organisierten gesellschaftlichen Kräften6 geschaffen werden,7 und dadurch in die Perspektive des öffentlichen Rechts rücken müssen. Insofern stehen sie in Konkurrenz zu anderen Instrumenten des Staats- und Verwaltungsrechts, aber mit der Einschränkung der postulierten rechtlichen Unver1 Vgl. zur Begriffsverwendung bspw. den „Verhaltenscodex zur Arbeit mit hochpathogenen Mikrorganismen und Toxinen“ der DFG (ausführlich unten, S. 60 ff.). 2 Vgl. zur Begriffsverwendung bspw. den Ethikkodex der Universität Erfurt, abrufbar unter: http://www.uni-erfurt.de/fileadmin/user-docs/forschung/docs/ethikko dex.pdf (zuletzt abgerufen am 24.3.2014). 3 So die Verwendung des Begriffs durch das Bundesarbeitsgerichts in BAG 1 ABR 40/07 in der Entscheidungsüberschrift. 4 Zur Grundsatzentscheidung des Bundesarbeitsgerichts zu einem „code of business conduct“, vgl. die vorige Fn. 5 So bspw. der Verhaltenskodex für verantwortungsvolle Forschung im Bereich der Nanowissenschaften und -technologien der EU-Kommission. 6 Wie die Deutsche Forschungsgemeinschaft mit ihrem Verhaltenscodex zum Umgang mit hochpathogenen Mikroorganismen und Toxinen. 7 U. Di Fabio, Verwaltung und Verwaltungsrecht zwischen gesellschaftlicher Selbstregulierung und staatlicher Steuerung, in: Kay Hailbronner/Matthias SchmidtPreuß, Kontrolle der auswärtigen Gewalt, S. 238.
I. Die unverbindlichen Steuerungsformen
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bindlichkeit. Zweck dieser Instrumente ist eine Steuerung gesellschaftlicher Bereiche durch freiwillige Befolgung der normativen Vorgaben. Dabei sollen nicht nur diejenigen Steuerungsformen Gegenstand der Untersuchung sein, die allein in Deutschland wirken sollen, sondern auch jene, die europa- und weltweit Geltung beanspruchen. Aufgrund der Verschiedenheit der Rechtsgebiete anhand derer sie gemessen werden, also nationales Recht, Europa- und Völkerrecht, und auch der Verschiedenheit der möglichen Urheber, wie beispielsweise nationale Wissenschaftsinstitutionen, supra- oder internationale Organisationen, soll daher zunächst eine begriffliche Differenzierung erfolgen. Zu diesem Zweck müsste jedoch eine Einteilung nach funktionalen, generischen oder normativen Unterschieden möglich sein oder Sinn machen. Dass dies nur eingeschränkt der Fall ist, wird im Folgenden aufgezeigt. Gemeinsam ist den Steuerungsformen, dass sie weder ein Gesetz im Sinne klassischer Gesetzgebung, also einer Rechtsetzung durch die parlamentarische Volksvertretung,8 bezeichnen, noch einer sonstigen Form staatlichen Handelns entsprechen, die den juristischen Kanon der Rechtsquellen bilden.9 Die Urheberschaft variiert, einheitlich ist allein die Zielsetzung der Verhaltenssteuerung. Wie noch gezeigt wird, können Kodexsetzer sowohl Organe der wissenschaftlichen Selbstverwaltung sein, wie auch Organe, die eigentlich zur Setzung verbindlichen Rechts befugt sind. Einzig die autoritative Durchsetzung ist nicht gewünscht oder möglich. Weder die Adressaten, noch außenstehende Dritte werden unmittelbar rechtlich gebunden. Dies unterscheidet sie beispielsweise von den Verwaltungsvorschriften,10 bei denen nur eine Außenwirkung fehlen soll, bei gleichzeitiger rechtlicher Verbindlichkeit im intrapersonalen Bereich. Der erwartete Vorteil einer Setzung unverbindlicher Normen resultiert gerade auch aus den verschiedenen Normhierarchien in denen bestimmte Lebensbereiche wie die Wissenschaft heute eingebunden sind. Im Verbundsstaat europäischen und föderalen Zuschnitts ist mittlerweile eine kompetentielle Verflechtung vorzufinden, die klare hoheitliche Regelungen wie Gebote und Verbote leicht in rechtliche und politische Konflikte mit anderen, insbesondere höherrangigen Rechtsebenen bringt.11 Jene Konflikte kön8 F. Ossenbühl, Gesetz und Recht – Die Rechtsquellen, in: Josef Isensee/Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band V; S. 144. 9 Ibid., S. 143. 10 Vgl. Hartmut Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 54 mwN, § 24 Rn. 15 ff. 11 Di Fabio, in: Hailbronner/Schmidt-Preuß, Kontrolle der auswärtigen Gewalt, S. 238.
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A. Einführung
nen sich gerade auch in Fällen der Selbstregulierung organisierter gesellschaftlicher Kräfte ergeben, also beispielsweise bei Wissenschaftseinrichtungen. In Vermeidung dieser Problematik stellen diese Instrumente eine Steuerungsmöglichkeit dar, bei gleichzeitiger Überbrückung rechtlicher Hindernisse oder ordnungspolitischer Bedenken,12 weshalb oftmals auch ein bewusster Verzicht auf unmittelbare Rechtswirkungen erfolgt. Ein weiterer Vorteil ist auch ihre Flexibilität bei der Anpassung an sich verändernde Zielvorstellungen,13 denn legislative Verfahren werden durch diese Steuerungsformen zumeist umgangen.14 Geht man nur von den professionsinternen Kodizes aus, so ergeben sich als weitere Vorteile jener (rechtlich) unverbindlichen Instrumente der professionsinterne Sachverstand, der bei der Setzung eine höhere Qualität ermöglichen kann und auch der Generierung von spezifischem Expertenwissen dient,15 sowie eine erhöhte Akzeptanz der Regeln bei unmittelbarer Eigensteuerung bestimmter Bereiche,16 ein Umstand der bei den Geltungsfragen noch thematisiert werden soll. Die Besonderheit der hier untersuchten Steuerungsformen ist ihre programmatische Festlegung auf ethische Fragen der Wissenschaft. Inwiefern in diesem Bereich auch Rechtswirkungen erzeugt werden können oder dürfen und insofern auch eine Grundrechtsrelevanz besteht, ist eine der zentralen Fragen der Untersuchung. Zunächst soll jedoch eine Ausdifferenzierung der Steuerungsinstrumente in der Wissenschaft angegangen werden, die eine einheitliche Begriffsbildung ermöglichen soll.
12 Peter-Tobias Stoll, Gestaltung der Bioprospektion unter dem Übereinkommen für biologische Vielfalt durch international unverbindliche Verhaltensstandards – Hintergründe, Möglichkeiten und Inhalte; Forschungsbericht 297 81 904, S. 65. 13 Wolfram Höfling, Professionelle Standards und Gesetz, in: Hans-Heinrich Trute/Eberhard Schmidt-Aßmann/Thomas Groß (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht – zur Tragfähigkeit eines Konzepts, S. 52 f. 14 Ob dies im Hinblick auf ihre rechtliche Relevanz mit den jeweiligen Vorgaben demokratischer Grundsätze vereinbar ist, wird noch zu zeigen sein. 15 Wolfram Höfling, Professionelle Standards und Gesetz, in: Hans-Heinrich Trute/Thomas Groß/Hans Christian Röhl/Christoph Möllers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht – zur Tragfähigkeit eines Konzepts; Festschrift Schmidt-Aßmann zum 70. Geburtstag, S. 52; M. Eifert, Regulierungsstrategien, in: Wolfgang Hoffmann-Riem/Eberhard Schmidt-Aßmann/Andreas Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, S. 1265. 16 Anne Röthel, Lex mercatoria, lex sportiva, lex technica – Private Rechtssetzung jenseits des Nationalstaates?, Juristenzeitung 2007, 755 (763); M. Eifert, Regulierungsstrategien, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts, S. 1265; Höfling, Professionelle Standards und Gesetz, S. 53.
I. Die unverbindlichen Steuerungsformen
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2. Begriffliche Differenzierung der verschiedenen Instrumente Im Zentrum der Untersuchung stehen die sogenannten Kodizes, ein Begriff der eine phänomenologische Auseinandersetzung erfordert, eine solche jedoch kaum abstrakt ermöglicht, aufgrund der unterschiedlichen Verwendungsweisen in verschiedenen Rechtsregimes. Der wissenschaftliche Wert einer Mehrebenenuntersuchung misst sich jedoch an den ableitbaren Gemeinsamkeiten und Vergleichskoordinaten, eine zumindest vorläufige, übereinstimmende Charakterisierung ist also sinnvoll, wenn nicht notwendig. Dabei soll auch im Rahmen der Phänomenologie die öffentlich-rechtliche Betrachtungsweise genutzt werden, um einige Charakteristika zu verdeutlichen. Zunächst ist eine große begriffliche Vielfalt dieser Steuerungsformen feststellbar. Sie reicht von Verhaltenskodex, über Ethikkodex bis zu ethischer Richtlinie oder Leitlinie. Oftmals drückt der Titel dieser Instrumente jedoch auch nur die erhoffte Wirkung in der Öffentlichkeit aus.17 a) Verhaltenskodex Der Begriff des Verhaltenskodex oder Code of Conduct zeichnet sich zunächst durch seine mannigfaltige Verwendung in vielfältigen Kontexten aus. Der Begriff des Kodex allein wird sowohl für eine Sammlung von Normen und Regeln verwendet, als auch für spezifische Verhaltensregeln.18 Sein ursprünglicher Wortsinn entstammt dem Lateinischen als Sammlung von Papyri und Pergamenten zwischen Holzdeckeln,19 er ergibt für eine weitere Begriffsanalyse jedoch keine Erkenntnisse. Die Verwendung des Begriffs Verhaltenskodex in den letzten 40 Jahren lässt zumindest aus juristischer Sicht aber einige Charakteristika hervortreten, die eine engere Eingrenzung des Untersuchungsgegenstands erlauben. So lässt sich zunächst abstrakt feststellen, dass Verhaltenskodizes zumeist regulative Instrumente darstellen, um durch allgemeine Festsetzungen von Standards oder Prinzipien ein gewünschtes oder angemessenes Verhalten des Adressatenkreises zu erreichen.20 Die Kodizes sollen zunächst im All17 Abbo Junker, Konzernweite „Ethikregeln“ und nationale Betriebsverfassungen, Betriebsberater 2005, S. 602. 18 „Kodex“ in Band 15 aus: Brockhaus-Enzyklopädie in 30 Bänden. 19 Also der Vorläufer des Buches im heutigen Sinne. 20 R. Spier, Science and Engineering Ethics, in: Ruth Chadwick (Hrsg.) Encyclopedia of applied ethics; Helen Keller, Codes of Conduct and their Implementation: the Question of Legitimacy, in: Rüdiger Wolfrum/Volker Röben (Hrsg.), Legitimacy in International Law, S. 220.
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gemeinen Leitlinien aufgeben, was der Adressat in seine Handlungsüberlegungen mit einbeziehen soll, wenn er in bestimmten Tätigkeitsfeldern aktiv wird. Sie sollen aber auch Hilfestellung geben bei der Frage, wie sich der Adressat in spezifischen Konfliktsituationen explizit verhalten kann oder soll.21 Sie offerieren insofern Handlungsanweisungen in abstrakt-genereller Weise, was allgemein auch die Rechtsnorm charakterisiert.22 Generelle wie spezifische Handlungsanweisungen stehen jedoch unter dem Vorbehalt, dass ihre Nichtbefolgung nicht mit unmittelbar ableitbaren, rechtlichen Sanktionen bedroht ist; vielmehr ist es typisch, dass höchstens mittelbare Sanktionen bei Nichtbefolgung und, noch wichtiger, Gratifikationen das Handeln leiten sollen.23 Freiwilligkeit und Unverbindlichkeit sind dabei zumeist weniger Ausdruck des Vertrauens,24 sondern Notwendigkeit, weil der Erlass einer rechtlichen Norm nicht möglich oder nicht erwünscht ist. Motivation und Zweck des Verhaltenskodex erhalten eine schärfere Kontur, wenn man ihn aus völkerrechtlicher Perspektive betrachtet. Dort hat er in den letzten Jahren eine zunehmende Bedeutung als nichtvertragliches Instrument entwickelt,25 um im ungeregelten oder unregelbaren Bereich den21
J. Revill/M. Dando, A Hippocratic Oath for life scientists, in: EMBO Reports Vol. 7, 2006, 55 (56), die ihre Unterscheidung dreigliedrig treffen: „enforceable, advisory and ethical code“. 22 Zur Abgrenzung im deutschen Recht zwischen Rechtsnorm und Einzelakten wie dem Verwaltungsakt vgl. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, S. 195. 23 Diesem Befund entspricht auch die Auffassung des Europäischen Parlaments, als es zur Gewährleistung guter Verwaltungspraxis einen Verhaltenskodex für seine Beamten aufstellen wollte und in diesem Zusammenhang feststellte, dass Verhaltenskodizes keine formellen Verfahren sein sollen, sondern einen moralischen Bezugspunkt bieten. Sie seien eine Art Gebrauchsanweisung mit einem Verweis auf die wichtigsten Grundsätze. Vgl. den Leitfaden für die Pflichten der Beamten und Bediensteten des Europäischen Parlaments (Verhaltenskodex), ABl. Nr. C 97 v. 5.4.2000, S. 1 (3). 24 Rehbinder sieht aber einen direkten Zusammenhang zwischen Überregulierung in der Verwaltung und einer schwindenden Vertrauenskultur, die einer Mißtrauenskultur und „Null-Fehler-Einstellung“ gewichen ist; M. Rehbinder, New Public Management – Rückblick, Kritik und Ausblick, in: Carl-Eugen Eberle/Martin Ibler/ Dieter Lorenz (Hrsg.), Der Wandel des Staates vor den Herausforderungen der Gegenwart – Festschrift für Winfried Brohm zum 70. Geburtstag, S. 729 In diesem Bereich hält er einen positiven Effekt durch neue Steuerungsinstrumente wie Kodizes für möglich, (S. 733 f.). 25 Vgl bspw. den Micro-Organisms Sustainable Use and Access Regulation International Code of Conduct (‚MOSAICC‘, abrufbar unter http://bccm.belspo.be/pro jects/mosaicc), den Code of Conduct for Responsible Fisheries der FAO (abrufbar unter http://www.fao.org/docrep/005/v9878e/v9878e00.HTM, beide Adressen zuletzt abgerufen am 24.3.2014) oder den Code of Conduct for Public Officials der Vereinten Nationen, GA-Res. A/RES/51/59; weitere Beispiele für die Bioprospek-
I. Die unverbindlichen Steuerungsformen
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noch gemeinsame Standards festzulegen. Als Schlagwort hat er sich vor allem dann etabliert, wenn internationale Vereinbarungen mit oder unter Akteuren geschlossen werden sollen, die keine Völkerrechtssubjektivität aufweisen,26 also auch privater Akteure. Die Verwendung des Begriffs Verhaltenskodex deutet insofern oftmals daraufhin, dass auf die eventuell mögliche Ausübung hoheitlicher Gewalt verzichtet wird um den gemeinsam normsetzenden Akteuren dieselbe Verhandlungsposition zu verschaffen. Dabei bedient man sich dieser Form zumeist um neue und innovative Normen zu schaffen, die einen Wandel verkünden oder verarbeiten sollen und oft als Vorboten einer Rechtsfortbildung in einem ungeregelten oder unzureichend geregelten Bereich fungieren.27 Diese Attribute lassen sich auch auf den Begriff des Verhaltenskodex beziehen, wie er hier verwendet werden soll. Auch substanziell lässt sich eine Tendenz der Verhaltenskodizes erkennen: oftmals kodifizieren sie bewährte Verhaltensregeln und anerkannte Kriterien, um auf der Grundlage einer Selbstbindung die „best practice“ festzulegen.28 Der Wirtschaft entstammend29 wurde letzterer Begriff auch im Völkerrecht30 und im amerikanischen Verwaltungsrecht31 für Rechtswissenschaftler interessant. Er beschreibt bewährte und kostengünstige Verfahren, Systeme und Geschäftsprozesse, die als vorbildlich gelten.32 Zur Bewältigung von Problemlagen wird dabei auf Modelle zurückgegriffen, die sich in der Vergangenheit als effektiv bewährt haben um die künftigen Handlungsoptionen festzulegen.33 Der große Vorteil der Methode ist die Schöpfung tion im Anhang von Stoll, Gestaltung der Bioprospektion unter dem Übereinkommen für biologische Vielfalt durch international unverbindliche Verhaltensstandards. 26 D. Thürer, Soft Law, in: Rüdiger Wolfrum (Hrsg.) Max Planck Encyclopedia of Public International Law, Rn. 7. 27 Jürgen Friedrich, Codes of Conduct, in: Rüdiger Wolfrum (Hrsg.), Max Planck Encyclopedia of Public International Law, Rn. 2. 28 Im Kontext dieser Steuerungsform beim Verwaltungshandeln Knut Bourquain, Die Förderung guten Verwaltungshandelns durch Kodizes, Deutsches Verwaltungsblatt 2008, 1224 (1228). 29 V. a. aus der angloamerikanischen Betriebswirtschaftslehre, vgl. Christoph Hauschka, Von Compliance zu Best Practice, Zeitschrift für Rechtspolitik 2006, 258. 30 Vgl. instruktiv H. Dickerson, Best Practice, in: Wolfrum, Encyclopedia of Public International Law. 31 Vgl. den Aufsatz von David Zaring, Best Practices, NYU Law Journal 2006, 294 ff., der darstellt, dass allein im amerikanischen Bundesverwaltungsrecht die Gesetzgebung per best-practice-Methode sich in den letzten 10 Jahren versiebenfacht hat. 32 Hauschka, Von Compliance zu Best Practice, Zeitschrift für Rechtspolitik 2006, S. 258. 33 H. Dickerson, Best Practice, in: Wolfrum, Encyclopedia of Public International Law, Rn. 1.
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von Standards durch horizontale Kooperation anstatt hierarchischer Normsetzung.34 Zusammenfassend lässt sich daher sagen, dass der Verhaltenskodex als unverbindliches Steuerungsinstrument freiwilliger Umsetzung eine abstraktgenerelle Verhaltensanweisung enthält, mit der Intention und Motivation im ungeregelten oder unregelbaren Bereich gemeinsame Standards festzulegen unter Einbeziehung verschiedener Akteure. b) Ethikkodex Neben dem Begriff des Verhaltenskodex wird oft der Begriff des Ethikkodex verwendet. Der im angloamerikanischen Raum gebräuchliche Begriff Code of Ethics oder Ethical Code bezeichnet ein Instrument, das das angestrebte Zielverhalten durch Aufstellung allgemeiner Prinzipien und Postulierung ethischer Normen zu erreichen versucht.35 Als Beispiele können die zahlreichen Versuche einer Art hippokratischen Eides für die Wissenschaft genannt werden, die in ihren kurzen abstrakten Formulierungen dem Original nachgezeichnet sein sollen.36 Dabei ist der Ethikkodex anders als der Verhaltenskodex weniger auf spezifische Situationen zugeschnitten, sondern stets abstrakter gehalten als der Verhaltenskodex. Er soll sich laut dem amerikanischen Philosophen Michael Pritchard durch seinen Bezug auf Ethik37 dadurch auszeichnen, dass er anders als der Verhaltenskodex, gerade keine zwingenden Anweisungen geben dürfe, da die Ethik den Respekt vor der Autonomie des Einzelnen verkörpern soll.38 Dem scheint aber die soeben getroffene Feststellung, Verhaltenskodizes seien nicht verbindlich, also auch nicht zwingend, zu widersprechen. Diesem Einwand könnte man, abgesehen von der ohnehin uneinheitlichen Begriffsverwendung, die auch Pritchard nicht erhellt, damit begegnen, indem man den Begriff des Zwangs differenziert, in eine rechtliche und eine moralische39 Ausprägung. Fehlt beiden Arten des Kodex der rechtliche Zwang, also die Möglichkeit staatlicher Zwangs- und Sanktionierungsmaßnahmen, 34 Zaring, Best Practices, NYU Law Journal 2006, 294 (297); H. Dickerson, Best Practice, in: Wolfrum, Encyclopedia of Public International Law, Rn. 1. 35 J. Revill/M. Dando, A Hippocratic Oath for life scientists, in: EMBO Reports Vol. 7, 2006, 55 (56) Mit diesem Begriff werden jedoch auch die Berufsordnungen von Ärzten bezeichnet. 36 Vgl. den Hippocratic Oath for life Scientists aaO und den Code of Ethics for the Life Sciences, in: M. A. Somerville, R. Atlas, Ethics: A Weapon to Counter Bioterrorism, in: Science Vol. 307 (25. März 2005), S. 1881. 37 Vgl. zum Begriff der Ethik unten, S. 42. 38 Vgl. M. Pritchard, Engineering Ethics, in: Raymond Gillespie Frey/Christopher Heath Wellman (Hrsg.), A Companion to Applied Ethics S. 621.
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so bedeutet das noch nicht, es könnte überhaupt kein Zwang ausgeübt werden. Basiert ein Verhaltenskodex auf einer geteilten moralischen Überzeugung einer Gruppe oder Gesellschaft, so können seine Normen auf denjenigen, der dieser angehört, einen moralischen Zwang ausüben. Insofern könnte die genaue Kennzeichnung des Ethikkodex die absolute Freiheit von Zwang lauten, gegenüber der nur rechtlichen Freiheit des Verhaltenskodex. Problem dieser Hypothese ist, dass die meisten Kodizes in ihrer Konzeption, wie noch zu zeigen sein wird, nicht auf einer geteilten moralischen Überzeugung beruhen, oftmals diese sogar erst herstellen sollen.40 Zwang kann jedoch auch ausgeübt werden, indem innerhalb des Adressatenkreises andere Mechanismen der gegenseitige Kontrolle, Gratifizierung und Sanktionierung vorhanden sind, durch die eine Nichtbefolgung der gesetzten Normen anderweitige Konsequenzen hervorrufen. Auf diese Weise der Interpretation kann die oben genannte Definition Gültigkeit beanspruchen, sofern diese Mechanismen identifiziert werden können. Eine weitere Abgrenzung der beiden Begriffe bietet sich bei der Art der kodeximmanenten Anweisung. Während der Verhaltenskodex konkrete Handlungsanweisung für ethische Konfliktsituationen bereitstellt, soll der Ethikkodex eine generelle Anweisung zur ethischen Reflexion bei bestimmten Handlungen etablieren. Seine Intention ist die Sensibilisierung für das Thema. Die Autonomie des Adressaten soll gewahrt bleiben, während die Ausübung derselben mit einer bestimmten Verantwortlichkeitskomponente41 aufgeladen werden soll. Problematisch bleibt dabei aber, dass auch diese Art der Differenzierung in der Praxis nicht bei allen Kodizes durchgeführt werden kann, zumal auch die fachwissenschaftliche Literatur sich jeder Abgrenzung enthält und die Begriffe vermischt.42
39 Unter Moral werden hier die Verhaltensnormen verstanden, die nicht-rechtlich und nicht-konventional sind und zu einer bestimmten Zeit in einer bestimmten Gesellschaft, Gemeinschaft oder sozialen Gruppe gelten; H. L. A. Hart, The Concept of Law, S. 165 f. Zum Begriff der Moral und seinem Verhältnis zu Ethik und Recht vgl. Silja Vöneky, Recht, Moral und Ethik – Grundlagen und Grenzen demokratischer Legitimation für Ethikgremien, S. 21 ff. 40 In diese Richtung ist auch die Äußerung Etzionis zu verstehen, wenn er schreibt, die Richtlinie für sexuelle Umgangsformen Universitätsangehöriger des Antioch College in Ohio sei der „nahezu verzweifelte[n] Versuch, wieder Verhaltensregeln in einem Bereich zu etablieren, in dem weitestgehend moralische Orientierungslosigkeit herrscht“, Amitai Etzioni, Die Verantwortungsgesellschaft. Individualismus und Moral in der heutigen Demokratie, S. 13. 41 Zur Zulässigkeit dieser Komponente siehe unten, S. 56 ff. 42 Vgl. für das Arbeitsrecht die schwankende Bezeichnung bei A. Junker, Konzernweite „Ethikregeln“ und nationale Betriebsverfassungen, Betriebsberater 2005, Heft 11, S. 602 ff.
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A. Einführung
c) Ethische Richtlinie oder Leitlinie Auch der Begriff der ethischen Richtlinie ist in der Definition gegenüber dem des Verhaltens- und Ethikkodex schwer abzugrenzen; vielmehr bietet er sich als Oberbegriff für die gesamte Gattung der untersuchten Normen an. Zwar gibt es Versuche auch diesen Begriff als eigenständige Form der Normsetzung neben die der Kodizes zu stellen, doch sind diese nicht überzeugend. So könnte man argumentieren, dass die Richtlinie sich mehr darauf beschränken soll dem Adressaten die sich jeweils aufdrängenden Fragestellungen und Problemkreise aufzuzeigen und ihn insofern bei seiner Entscheidungsfindung für bestimmte Betrachtungsweisen zu sensibilisieren.43 Eine solche Definition überschneidet sich aber mit der des Ethikkodex. Das deutsche Standardlexikon kennt den Begriff nur aus juristischer Perspektive.44 Dort existiert zum einem der europarechtliche Begriff der Richtlinie aus Art. 249 EGV,45 der ein Instrument kooperativ-zweistufiger Rechtssetzung bezeichnet, das aufgrund seines indirekten Charakters als Mittel der Rechtsangleichung bevorzugt angewendet wird.46 Sie setzt den Rahmen der europäischen Rechtssetzung, der von den Mitgliedsstaaten erfüllt werden muss, bei gleichzeitiger Achtung derer Autonomie. Gleichwohl ist die Umsetzung der Richtlinie zwingend, sie ist als rechtlich verbindliches Instrument begrifflich bereits besetzt. Zum anderen begegnet man dem Begriff der Richtlinie auch im deutschen Verfassungsrecht, wenn es in Art. 65 GG heißt, der Bundeskanzler bestimme die Richtlinien der Politik. Zur Definition dieses Begriffs wird ausgeführt, er betreffe die grundlegenden und richtungsweisenden Entscheidungen47 und stelle eine eigenständige Kategorie der politischen Führungsentscheidung dar.48 Jedoch stellt auch diese Richtlinie ein verbindliches In43 So eine Schlussfolgerung der Studie „EU code of ethics in socio-economic research“, S. 9 f., abrufbar unter http://www.respectproject.org/ethics/412ethics.pdf (zuletzt abgerufen am 24.3.2014), worin aber ebenfalls der Begriff „code of practice“ synonym verwendet wird. 44 „Richtlinie“, in: Brockhaus-Enzyklopädie in 30 Bänden, Band 23. 45 Christian Calliess/Matthias Ruffert (Hrsg.), EUV, EGV; das Verfassungsrecht der Europäischen Union mit Europäischer Grundrechtecharta; Kommentar Art. 249 Rn. 45. 46 Auf dieser Ebene wird daher auch bevorzugt der Begriff des Kodex verwendet, vgl. den Verhaltenskodex für verantwortungsvolle Forschung im Bereich der Nanowissenschaften und Nanotechnologie und den Verhaltenskodex für die Rekrutierung von Forschern. 47 Hans D. Jarass/Bodo Pieroth (Hrsg.), Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland – Kommentar, Art. 65 Rn. 3.
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strument dar, die die Bundesminister zu verwirklichen haben.49 Schließlich kann man auf einfachgesetzlicher Ebene noch die Richtlinien der ärztlichen Selbstverwaltung anführen, deren Normcharakter in den letzten Jahren hervorgetreten ist, und die auf einem ordnungsgemäßen Verfahren der Normsetzung beruhen und dadurch Verbindlichkeit erlangen sollen.50 Gemeinsam ist diesen rechtlichen Begriffsdefinitionen, dass die Richtlinie Rahmen setzen soll, um daraus für die Zukunft eine Übereinstimmung im Verhalten zu erzielen. Abzüglich des Kriteriums der Verbindlichkeit, erhält man eine plausible Begriffsbestimmung, die jedoch von der des Ethikkodex nicht zu unterscheiden ist, da auch dieser einen unverbindlichen Rahmen vorgibt, der eine Übereinstimmung erzielen soll, ohne dabei den Respekt vor der Autonomie des Einzelnen außer Acht zu lassen. Nimmt man weiterhin in Betracht, dass die Richtlinie im Hinblick auf die jeweilige Konkretisierungsintensität der Handlungsanweisung keine Grenze bestimmt, kann man sie auch für den Verhaltenskodex synonym verwenden. Als Oberbegriff für die vorgenannten Instrumente ist er insofern nicht tauglich, als solcher soll im Folgenden vielmehr „Kodex“ gelten. d) Zusammenfassung Die unverbindlichen Steuerungsformen, derer man sich bedient, um die Wissenschaft in ethischen Bahnen zu lenken, sollen als grundsätzlich unverbindliche Instrumente die gewünschten Zielsetzungen unter Vermeidung rechtlicher oder politischer Konflikte auf freiwilliger Basis erreichen. Gemeinsames Element jener Steuerungsformen ist die ausschließliche oder kooperative Beteiligung von privaten Akteuren zusammen mit Hoheitsträgern bei der Normsetzung. Die dafür verwendeten Begriffe weisen jedoch zunächst keine wesentlichen funktionellen Differenzierungsmerkmale auf. Die schwierige Fassbarkeit der Begriffe dürfte auch ihrer Intention entsprechen, sich einer Einordnung in rechtliche Kategorien zu entziehen. Begründen Handlungs- oder Steuerungsformen keine rechtliche Verbindlichkeit, lassen sie sich generell nur schwer mit der überkommenen rechtlichen Dogmatik erfassen.51 Um im Rahmen dieser Untersuchung greifbare Begriffe verwen48
M. Oldiges, in: Michael Sachs (Hrsg.) Grundgesetz Kommentar Art. 65 Rn. 15. § 1 I GOBReg. 50 Ausführlich zu den ärztlichen Richtlinien, Dieter Hart, Ärztliche Leitlinien – Definitionen, Funktionen, rechtliche Bewertungen, Medizinrecht 1998, 8 ff. 51 So in Bezug auf die neue völkerrechtliche Handlungsform der Politikbewertung auch Armin von Bogdandy/Matthias Goldmann, Die Ausübung internationaler öffentlicher Gewalt durch Politikbewertung – Die PISA-Studie der OECD als Muster einer neuen völkerrechtlichen Handlungsform, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 2009, 51 (55). 49
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den zu können, soll der Verhaltenskodex als spezifisch handlungsanweisende Normen gelten, während der Ethikkodex sich in seinen Vorgaben ethischen Verhaltens auf die Bestimmung des Rahmens zur Sensibilisierung der Adressaten beschränken soll. Der Begriff der ethischen Richtlinie birgt gegenüber den beiden vorgenannten Instrumenten kein Differenzierungspotential, es besteht vielmehr die Möglichkeit der Konfusion mit rechtlichen Begrifflichkeiten, weshalb auf diesen Begriff weitestgehend verzichtet werden soll. 3. Urheber Die Frage nach den potentiellen Urhebern von Kodizes kann anschaulich mit deren geschichtlichen Entwicklung im internationalen Kontext verknüpft werden. Obwohl bereits ein erster internationaler Kodex im Jahre 1931 verabschiedet wurde,52 rückten internationale Kodizes erst in den 1970er Jahren stärker in den Fokus der Weltgemeinschaft, als das Engagement transnationaler Unternehmen (TNU) in Entwicklungsländern zunahm.53 Insbesondere die daraufhin entwickelten Guidelines for Multinational Enterprises54 der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) und die Tripartite Declaration on Multinational Corporations55 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) zeigten dabei auf, dass es zunächst die Internationalen Organisationen waren, die, trotz originärer Kompetenz zur verbindlichen Normsetzung, aufgrund der fehlenden Verpflichtungsmöglichkeit privater Unternehmen zu unverbindlichen Kodizes greifen mussten um gewisse Mindeststandards zum internationalen Schutz von Arbeitnehmern vor allem in Entwicklungsländern zu etablieren.56 Erst neoliberalere Tendenzen in den 1980er Jahren führten dazu, dass mehr auf die selbstregulativen Kräfte der Unternehmen vertraut wurde und die Bestrebungen zu Kodizes von staatlicher Seite abnahmen. In der Folge wurden Unternehmen selbst aktiv um in den 1990er Jahren auf die weltweite Diskussion um soziale Verantwortung multinationaler Unternehmen 52 Der Code of Standards of Advertising Products der International Chamber of Commerce. 53 Dazu wie auch zum Folgenden Keller, Codes of Conduct and their Implementation, S. 223 ff. und Friedrich, Codes of Conduct, Rn. 5 ff. 54 OECD Guidelines for Multinational Enterprises, 15 I.L.M. 969 (1976), überarbeitet und erweitert im Jahr 2000, der Originaltext ist abrufbar unter http://www. oecd.org/dataoecd/56/36/1922428.pdf (zuletzt abgerufen am 24.3.2014). 55 ILO Tripartite Declaration of Principles Concerning Multinational Enterprises and Social Policy, 16.11.1977, 17 I.L.M. 422 (1978). 56 Eine umfassende Darstellung der rechtswissenschaftlichen Diskussion jener Zeit bietet der Sammelband von Norbert Horn (Hrsg.) Legal Problems of Codes of Conduct for Multinational Enterprises.
I. Die unverbindlichen Steuerungsformen
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mit öffentlichkeitswirksamen Maßnahmen reagieren zu können, indem sie sich freiwillig konzernweit geltenden Kodizes unterwarfen.57 Erst die Ergebnisse jener weltweiten Diskussion führten zu einem neuen Ansatz in der internationalen Regulierung multinationaler Unternehmen bezüglich deren sozialer Verantwortung, dem integrativen Ansatz. Dabei wurden in sogenannten Multistakeholder Initiatives (MSI) die Unternehmen und die staatlichen Akteure einbezogen um gemeinsam mit Nichtregierungsorganisationen sowie Industrie- und Handelsverbänden dialogorientierte Lösungen zu finden. Zusammenfassend können die Urheber von Kodizes verschiedenster Natur sein. Hoheitliche Akteure wie Private, vor allem auch kooperative Mischformen, konnten in der Vergangenheit identifiziert werden. Größere Übereinstimmung lässt sich hingegen bezüglich der Adressaten feststellen. 4. Adressaten Im internationalen Kontext war es vor allem die Schwierigkeit, private Akteure durch völkerrechtliche Instrumente zu verpflichten, die dazu geführt hat, dass Kodizes zu bevorzugten Instrumenten wurden. Insbesondere transnationale Unternehmen waren damals wie heute nur schwer mit völkerrechtlichen Mitteln zu fassen58 und mussten auf anderem Wege erreicht werden, wenn internationale Standards etabliert werden sollten. Es ist daher zunächst festzustellen, dass zumeist private Akteure durch Kodizes angesprochen werden sollten, der Begriff des Kodex hat sich insoweit zu einem charakteristischen Merkmal von Instrumenten mit nichtstaatlichen Adressaten entwickelt.59 Dabei müssen die privaten Akteure nicht alleinige Adressaten sein, vielmehr findet der Begriff auch dann Verwendung, wenn sowohl staatliche wie nichtstaatliche Akteure anvisiert werden. Es ist weiter möglich zwischen internen und externen Kodizes zu unterscheiden, wobei erstere lediglich die Beschäftigten von Unternehmen beispielsweise, letztere auch solche Akteure zu erreichen sucht, die nicht der Organisationsstruktur des Urhebers unterliegen.60 57
Keller, Codes of Conduct and their Implementation, S. 232. Vgl. dazu Mira Chang, Ethische und rechtliche Herausforderungen einer globalisierten Arzneimittelprüfung, (erscheint demnächst). 59 Keller, Codes of Conduct and their Implementation, S. 221. Dies ist freilich nur die Beobachtung einer generellen Tendenz, es lassen sich auch Beispiele finden, die gerade staatliche Behörden adressieren, wie beispielsweise den verwaltungsorientierten EU-Kodex zur guten Verwaltungspraxis, abrufbar unter http://www.ombudsman.europa.eu/shortcuts/document.faces/de/3806/pdf.bookmark (zuletzt abgerufen am 24.3.2014). 60 Vgl. dazu Friedrich, Codes of Conduct, Rn. 16. 58
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Insbesondere im internationalen Kontext ist es jedoch üblich, den Begriff des Kodex dann zu verwenden, wenn Akteure ohne Völkerrechtssubjektivität durch unverbindliche Instrumente einer gewissen Steuerung unterworfen werden sollen. 5. Compliance-Mechanismen Von besonderem Interesse sind die jeweiligen Compliance-Mechanismen. Ihrer Natur nach sollen Kodizes unverbindlich sein und damit gerade keine Zwangswirkungen entfalten. Zugleich soll aber oftmals dennoch sichergestellt werden, dass diese auch eingehalten werden. Entsprechend der amerikanischen marktwirtschaftlichen Terminologie hat sich für diese hybride Form zwischen Zwang und Freiwilligkeit der Begriff der Compliance etabliert. Compliance ist durch mehrere Faktoren zu erreichen, alleine das Zwangselement muss dabei ausscheiden, will man den Begriff der Freiwilligkeit nicht ad absurdum führen. Dabei kann zwischen praktischen und theoretischen Compliance-Faktoren unterschieden werden. Die praktischen Compliance-Mechanismen erfordern Handlungen, entweder durch die Adressaten, die Urheber oder durch Dritte. Erstere müssen insoweit ihren Beitrag leisten, wenn ein Kodex Berichtspflichten vorsieht, die Adressaten also über die Einhaltung oder die Implementierung des Kodexes Zeugnis ablegen sollen.61 Gleichsam können die Urheber auch ein sogenanntes Monitoring vorsehen, also Aufsichtsmaßnahmen zur Überwachung der Einhaltung. Daraus resultierende Zwangsmaßnahmen existieren freilich nicht, es wird dabei vielmehr auf den faktischen Druck der Publizität der Ergebnisse vertraut. Der Grad der Glaubwürdigkeit variiert dabei naturgemäß je nach Art des Monitorings. Interne Beauftragte können in Interessenskonflikte geraten, die die Berichte in Zweifel ziehen können, externes Monitoring ist gleichermaßen gefährdet, soweit es von eigens dafür bezahlten Dritten durchgeführt wird.62 Insofern wird vor allem das unabhängige Monitoring durch ohne Eigeninteresse agierende Dritte wie beispielsweise Nichtregierungsorganisationen als beste Variante bezeichnet.63 Zumindest ebenso wichtig sind die theoretischen oder auch motivatorischen Compliance-Mechanismen. Als solche können aufgrund der Freiwil61 Der Begriff der Pflicht muss hier natürlich relativiert werden, als die Freiwilligkeit des Instruments zumeist auch dabei durch den entsprechenden deontischen Operator ausgedrückt wird. 62 Als weltgrößter Anbieter solcher Monitoringaufgaben hat sich beispielsweise PricewaterhouseCoopers hervorgetan, deren Arbeit jedoch ebenfalls kritisch bewertet wird, vgl. Keller, Codes of Conduct and their Implementation, S. 282 f. m. w. N. 63 Vgl. zu Monitoring und Reporting ibid., S. 246 f. und Friedrich, Codes of Conduct, Rn. 18.
II. Wissenschaft
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ligkeit der Kodizes nur das Eigeninteresse der Adressaten und die Legitimation des jeweiligen Kodexes gelten.64 Diese beiden Faktoren jedoch nur als Compliance-Mechanismen zu betrachten wird ihrer Bedeutung nicht gerecht. Sie sind vielmehr der Schlüssel zur Wirksamkeit von Kodizes wie im Gang dieser Untersuchung noch dargestellt werden soll. Die Legitimation ist aber dabei jeweils von dem System abhängig, in dem der jeweilige Kodex erarbeitet wird. Es werden sich insofern Unterschiede ergeben, je nachdem ob eine deutsche Wissenschaftsorganisation, ein Europäisches Organ oder internationale Organisationen agieren. Die Legitimation muss daher jeweils in den einzelnen Kapiteln gesondert behandelt werden. Das Eigeninteresse der Adressaten als motivatorischen Anknüpfungspunkt für Compliance-Gewährleistung war in der rechts- und wirtschaftswissenschaftlichen Behandlung der Kodizes zunächst auf das wirtschaftliche Interesse privater Unternehmen konzentriert. Unter dem Stichwort „Economic Rationalism“65 ist insbesondere immer wieder auf die möglichen Anreize oder gerade deren Unmöglichkeit für wirtschaftliche Unternehmen diskutiert worden. Das Spannungsfeld zwischen der Verpflichtung von Unternehmen gegenüber den Teilhabern und Aktionären und einer erwünschten sozialen Verantwortung wird dabei unterschiedlich bewertet.66 Die spannende Frage die sich in dieser Untersuchung demgegenüber stellen wird, lautet, ob die Wissenschaft als System oder in ihren jeweiligen Stellen der Forschung ebenfalls einem spezifischen Anreizsystem zugeneigt sein kann,67 und inwieweit ein solches mit rechtlichen Vorgaben konform gehen kann. Letztere Frage wird die folgende Arbeit prägen, wie auch die Frage nach der zulässigen Ausgestaltung von Compliance-Mechanismen um rechtliche Rahmenbedingungen nicht zu verletzen.
II. Wissenschaft Die Wissenschaft steht in dieser Untersuchung im Mittelpunkt, eine rechtliche Definition des Begriffs bereitet jedoch aufgrund der Eigenart der Wissenschaft Schwierigkeiten. Im Bestreben des Staates die Wissenschaft normativ zu schützen, bedarf die Grundstruktur wissenschaftlicher Tätigkeit 64
Keller, Codes of Conduct and their Implementation, S. 271. Ibid. 66 Tendenziell negativ gegenüber einem solchen Anreizsystem eingestellt Wesley Cragg, Ethics Codes: The Regulatory Norms of a Globalized Society? in Arend Soeteman (Hrsg.), Pluralism and law, S. 191 (198 ff.); einen möglichen Ansatz erkennend demgegenüber Keller, Codes of Conduct and their Implementation, S. 271 ff. 67 Siehe dazu Kapitel 2 und 3. 65
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der rechtlichen Bestimmung, die ihrerseits in der Gefahr steht, schon aufgrund definitorischer Vorentscheidungen den Normbereich zu verkürzen.68 Bevor aber der Begriff „Wissenschaft“ von seiner außerrechtlichen Sphäre in die „Doppelbödigkeit der Verfassungsbegriffe absorbiert“69 wird, sollte die außerrechtliche Bedeutung des Begriffs klar sein. Damit wird auch der in der neuen Verwaltungsrechtswissenschaft geforderten „genauen Analyse des Realbereichs“ Rechnung getragen, die für eine Bewertung der auf den jeweiligen Wirklichkeitsausschnitt bezogenen Normen erforderlich ist.70 Dies geschieht aus naheliegenden Gründen jedoch nur in skizzierender Weise, die Disziplinen der Wissenschaftstheorie und der Wissenschaftsgeschichte stellen zu umfassende Bereiche dar, als dass in einer juristischen Abhandlung eine vollständige Darstellung des aktuellen Erkenntnisstandes möglich wäre. Denn auch einer interdisziplinär informierten Rechtswissenschaft sind kognitive Grenzen gesetzt. Es soll jedoch mit den Worten Voßkuhles der Versuch unternommen werden eine „Distanz zum eigenen Beobachtungsstandpunkt“ herzustellen, sowie „Selektions- und Interaktionsprozesse transparent zu machen“.71 Die Frage nach dem Gehalt des Begriffs Wissenschaft wird daher zunächst aus allgemeiner Perspektive betrachtet, bevor später in den verschiedenen Rechtskreisen des deutschen, europäischen und Völkerrechts die entsprechenden Eingrenzungen des tatsächlich geschützten Bereichs dargestellt werden. 1. Wissenschaftstheorie Die Wissenschaftstheorie ist die Lehre von den Regeln des wissenschaftlichen Arbeitens.72 Sie soll die wissenschaftliche Theoriebildung anhand der Begriffsbildung, der Methode, den geschichtlichen Entwicklungsmustern, der Theoriestrukturen oder der philosophischen Konsequenzen erklären oder systematisch rekonstruieren.73 Sie war jedoch auch, vor allem im 68
Hans-Heinrich Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung – Das Wissenschaftsrecht als Recht kooperativer Verwaltungsvorgänge, S. 55. 69 Josef Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte? Selbstverständnis der Grundrechtsträger und Grundrechtsauslegung des Staates, S. 49. 70 Zur Realbereichsanalyse in der Verwaltungsrechtswissenschaft A. Voßkuhle, Neue Verwaltungsrechtswissenschaft in Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts, S. 26 ff. 71 Ibid., S. 28. 72 H. Esser, Wissenschaftstheorie der Sozialwissenschaften, in: Stefan Gosepath/ Wilfried Hinsch/Beate Rössler (Hrsg.), Handbuch der politischen Philosophie und Sozialphilosophie, S. 1490. 73 M. Carrier, Wissenschaftstheorie, in: Jürgen Mittelstraß/Siegfried Blasche (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Band IV S. 738.
II. Wissenschaft
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20. Jahrhundert, ein Feld auf dem verschiedene Strömungen der Philosophie74 versuchten ihre Ansätze in Stellung zu bringen, wodurch große Kontroversen ausgelöst wurden.75 a) Überblick Die Wissenschaftstheorie des vergangenen Jahrhunderts war dabei von verschiedenen Theorien geprägt, zuvorderst sind dabei der Logische Empirismus, der Erlanger Konstruktivismus, der kritische Rationalismus und das Strukturmodell wissenschaftlicher Revolutionen zu nennen. Diese haben sich wiederum diversifiziert und neue Strömungen entstanden, wodurch sich ein kaum noch durchschaubares, pluralistisches Bild an Theorien ergab, das hauptsächlich auf unterschiedliche Konzeptionen der Philosophie zurückzuführen ist. Im Mittelpunkt der Diskussion stehen dabei oftmals die erkenntnistheoretischen Prämissen. Die Natur der Beziehung zwischen dem Einzelnen und seiner Umwelt bestimmt nach den realistischen Ansätzen der Wissenschaftstheorie auch dessen Möglichkeit des Erkenntnisgewinns. Diese Beziehung wurde in einer der ersten großen Strömungen, des logischen Empirismus, über die Sprache definiert. Dabei spielten die Erkenntnisse der Sprachphilosophie durch Ludwig Wittgenstein und Rudolf Carnap eine wesentliche Rolle.76 Eine neuere Schule der Wissenschaftstheorie wird demgegenüber durch antirealistische Auffassungen geprägt. Dabei wird nicht die Realität in Frage gestellt, sondern die Fähigkeit des Menschen diese vollständig zu erfassen. Auch die Wissenschaft hänge insoweit vom Beschreibungs- und Interpretationsapparat des Menschen ab und dementsprechend müsse sich auch die Wissenschaftstheorie diesen Übersetzungsschwierigkeiten anpas74 Dass Ursprung und Zielrichtung dieser Fachrichtung in der Philosophie zu finden sind, zeigt sich auch an der internationalen Terminologie: Der Begriff der Wissenschaftstheorie existiert im Englischen kaum, dort wird von der „philosophy of science“ gesprochen. 75 Bekanntestes Beispiel in Deutschland dürfte der Positivismusstreit gewesen sein, in dem sich Vertreter des kritischen Rationalismus um Karl Popper und Hans Albert und Vertreter der kritische Theorie der Frankfurter Schule um Max Horkheimer, Theodor Adorno und Jürgen Habermas gegenüberstanden, vgl. Hans-Joachim Dahms, Positivismusstreit. Die Auseinandersetzungen der Frankfurter Schule mit dem logischen Positivismus, dem amerikanischen Pragmatismus und dem Kritischen Rationalismus (Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1994). 76 Ulrich Kühne, Wissenschaftstheorie, in: Hans Jörg Sandkühler (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie (Hamburg, Meiner, 1999), S. 1779 f.
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sen.77 Diesen Überlegungen liegen viele der moderneren Theorien zu Grunde, die oftmals unter dem Begriff Neo-Konstruktivismus zusammengefasst werden.78 Andere Ansätze in der Wissenschaftstheorie versuchen aus Spezialdisziplinen wie der Biologie universelle Aussagen über die Wissenschaft abzuleiten. Prominentes Beispiel sind die Vertreter einer organischen Wissenschaftstheorie wie der evolutionären oder genetischen Erkenntnistheorie.79 Die Kontroverse um die Wissenschaftstheorien reichte schließlich bis zur völligen Negierung des Fachs und der Forderung nach völlig freier Wissenschaft ohne metawissenschaftliche Fundierung.80 Modernere Vertreter versuchen demgegenüber eine Außenperspektive der Wissenschaft einzunehmen und verfolgen einen wissenschaftssoziologischen Ansatz, indem sie die Arbeitsweisen der Wissenschaft untersuchen und die menschliche Interaktion im wissenschaftlichen Erkenntnisprozess in den Vordergrund rücken.81 Tatsächlich sind sowohl die methodischen, rationalistischen Theorien wie auch die meisten anderen sich ihrer sozialen Komponente zumeist bewusst. Die Metawissenschaft der Wissenschaftstheorie ist von der Erfassung wissenschaftlicher Kommunikation und der Erforschung der damit einhergehenden Erkenntnis geprägt. Die Koordinierung der Wissenschaftler untereinander im Erkenntnisprozess steht dabei zumeist im Vordergrund. Exemplarisch soll dies an zwei Theorien dargestellt werden, die auch in der juristischen Literatur eine wissenschaftsrechtliche Auseinandersetzung fanden.82 Zum einen der kritische Rationalismus Karl Poppers83 und als Gegenmodell auf Basis wissenschaftshistorischer Betrachtungen das Modell der wissenschaftlichen Revolutionen oder Paradigmenmodell84 seines Schü77 In den Streit einführend mit weiteren Nachweisen Chakravartty, Scientific Realism, in: Edward N. Zalta (Hrsg.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Summer 2011 Edition); URL = . 78 So die Kategorisierung bei Schülein/Reitze, Wissenschaftstheorie für Einsteiger (Wien, Facultas, 2005), S. 178 ff. 79 Wichtigste Vertreter sind Konrad Lorenz und Jean Piaget. 80 Paul Feyerabend, Wider den Methodenzwang (Frankfurt a. M., Suhrkamp, 1976). 81 Weitere Nachweise bei Kühne, Wissenschaftstheorie, in: Hans Jörg Sandkühler (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie (Hamburg, Meiner, 1999), S. 1785. 82 Vor allem die Werke von Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung, S. 68 ff. und A. Blankenagel, Wissenschaftsfreiheit aus der Sicht der Wissenschaftssoziologie, AöR 105 (1980), 35 (55 ff.). 83 Vgl. Karl R. Popper, Logik der Forschung. 84 Vgl. Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen.
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lers Thomas S. Kuhns.85 Die notwendige Kürze und der weitgehende Verzicht auf Kritik gegenüber beiden Ansätzen ist der Tatsache geschuldet, dass diese Darstellung nur aufzeigen soll, welchen Einfluss die soziale Interaktion, und dabei vor allem die wissenschaftliche Kommunikation, bereits bei methodologischen bzw. empirischen, nicht-realistischen Theorien hat und damit auch auf die rechtliche Beurteilung dieses Lebensbereiches haben muss. b) Der kritische Rationalismus Karl Poppers Karl Popper begründet seine Wissenschaftstheorie auf „seiner“ Lösung des Induktionsproblems, eines Problems, das schon David Hume an den Rand der Verzweiflung brachte.86 Es beschreibt die Frage der Berechtigung von besonderen Sätzen auf allgemeine Sätze zu schließen.87 Die Beobachtung beispielsweise, dass alle Schwäne weiß sind, berechtigt nicht zu der generellen Annahme, dass alle Schwäne weiß sind; gleiches gilt für die erfahrungsbedingte Annahme, dass die Sonne im Laufe eines Tages einmal auf- und einmal untergeht, was Pytheas von Massilia im 4. Jahrhundert vor Christus durch eine Reise in den Norden Europas widerlegen konnte.88 In wissenschaftlichere Sprache übertragen hinterfragt dieser Ansatz, ob es zulässig sein kann, von empirischen Beobachtungen der Natur auf allgemeine Theorien der Naturgesetze zu schließen, also ob eine induktive Methode der Wissenschaft zu einer legitimen Erkenntnis führt. Poppers Lösung des Induktionsproblems knüpft an Humes positiv nicht beantwortbare Kernfrage an, ob sich die Behauptung eine erklärende allgemeine Theorie sei wahr, mit empirischen Gründen rechtfertigen lasse, das heißt dadurch, dass man bestimmte Prüfaussagen oder Beobachtungssätze als wahr annimmt. Er modifiziert jene Frage durch den Zusatz der Falsifikation, und kann sie danach bejahen, kann also behaupten, dass eine erklärende allgemeine Theorie falsch sei, durch die Annahme bestimmte Prüfaussagen seien wahr. Seine daraus folgende Wissenschaftstheorie nennt sich denn auch deduktive Methodik der Nachprüfung.89 Sie besagt, dass Wissenschaft sich durch die 85 Der Logische Empirismus des Wiener Kreis und der Erlanger Konstruktivismus werden an dieser Stelle aus Platz- und Relevanzgründen nicht behandelt. Eine ausführliche Darstellung dieser beiden Schulen findet sich jedoch in Mittelstraß/Blasche, Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, unter den jeweiligen Stichworten. 86 Nachweis bei Karl R. Popper, Objektive Erkenntnis – ein evolutionärer Entwurf, S. 4 f. 87 Logik der Forschung, S. 4. 88 Diese und weitere Beispiele bei Objektive Erkenntnis – ein evolutionärer Entwurf, S. 10.
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Aufstellung von Hypothesen und Vermutungen kennzeichnet, die soweit als möglich falsifiziert werden müssten. Erweise sich dabei eine Hypothese als immun gegen diese Falsifikationsversuche, müsste sie zum gegebenen Zeitpunkt als beste Theorie anerkannt werden.90 Die Prämisse ist also, dass alles Wissen zunächst hypothetisch ist, die Wahrheit nur durch das Ausscheiden des Falschen erlangt werden kann.91 Legt man demnach die Wissenschaftstheorie Poppers zu Grunde, besteht der Charakter der Wissenschaft darin, aufgestellte Hypothesen zu prüfen. Die dafür angewandten Mittel sind Experiment und Auswertung. Ein solches Vorgehen lässt sich auch allein vollbringen, eine individualistische Wissenschaft wäre demnach möglich. Der Wert einer Hypothese, die als wissenschaftliche Theorie „besser“ als eine andere sein soll, lässt sich nur dadurch bestimmen, dass sie allen Widerlegungsversuchen standhält, also sich auch dort bewährt, wo andere versagen.92 Die Prüfung einer Theorie wird aber kritischer ausfallen, wenn sie nicht durch den Urheber derselben erfolgt, sondern durch die Mitbewerber um die beste Theorie. Der Bewährungsgrad einer Theorie muss sich also an einer möglichst breiten Prüfung durch möglichst viele Wissenschaftler orientieren. Damit liegt der Schwerpunkt der Geltungsproblematik von wissenschaftlichen Theorien in den kommunikativen Prozessen zwischen den Wissenschaftlern, in der kritischen Prüfung und der Diskussion.93 Die Wissenschaft ist demnach durch die Aufstellung von Hypothesen und deren Prüfung als handlungsbezogene Beschreibung charakterisiert, aber im selben Maße durch die Weitergabe der aufgestellten Hypothesen und deren Diskussion anhand von Prüfergebnissen innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft, also durch die wissenschaftliche Kommunikation. Die wissenschaftliche Tätigkeit ist demnach ein Zusammenhang von Handlungen und Kommunikation innerhalb der Gemeinschaft der Wissenschaft. c) Kuhns Strukturmodell des wissenschaftlichen Wandels Thomas Kuhns Ansatz einer Wissenschaftstheorie entstammt seinen wissenschaftshistorischen Forschungen und stellt einen Gegenentwurf zum kritischen Rationalismus dar. Während letzterer einen kumulativ-kontinuier89
Logik der Forschung, S. 5. Objektive Erkenntnis – ein evolutionärer Entwurf, S. 13 ff. 91 Ibid., S. 30. 92 Ibid., S. 14. 93 Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung, S. 69. 90
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lichen Fortschritt in der Wissenschaftsentwicklung beschreibt, der auf den wissenschaftsinternen, methodologischen Rationalitätskriterien beruht, sieht Kuhn einen diskontinuierlichen, auch von wissenschaftsexternen Faktoren bestimmten Wandel in der Wissenschaftsgeschichte,94 der sich durch wissenschaftliche Revolutionen auszeichnet, oder – das Schlagwort, das Berühmtheit erlangte – auch Paradigmenwechsel genannt.95 Der Begriff des Paradigmas soll nach Kuhn die Gesamtheit der konkreten wissenschaftlichen Praxis, die einer wissenschaftlichen Disziplin zu eigen ist, charakterisieren. Gesetz, Theorie, Anwendung und Hilfsmittel der jeweiligen wissenschaftlichen Fachrichtung sind durch diese Paradigmata bestimmt.96 Bevor sich ein solches findet, befindet sich die jeweilige Wissenschaft in der sogenannten „vorparadigmatischen Phase“, das heißt ein Pluralismus von Ansätzen konkurriert um die disziplinäre Durchsetzung.97 Hat sich einer diese Ansätze durchgesetzt und ist somit zum Paradigma der Wissenschaft geworden, nach dem sich das wissenschaftliche „Rätsellösen“ vollzieht,98 ist die Phase der „normalen Wissenschaft“ erreicht, in der ein Wissenschaftler nicht mehr die Grundprinzipien seines Fachgebiets rechtfertigen muss, sondern sich anhand des Paradigmas in spezifischere und subtilere Aspekte seines Gebiets vertiefen kann.99 Wenn sich bei dieser Arbeit dann jedoch „Anomalien“ einstellen, das Paradigma also nicht mehr zu den wissenschaftlichen Ergebnissen passt und an einigen Stellen versagt, kündet sich eine jener wissenschaftlichen Revolutionen an, die das Strukturmodell Kuhns ausmachen, ein Paradigmenwechsel steht bevor. Berühmteste Beispiele, die Kuhn selbst nennt, sind die Wende von der ptolemäischen Astronomie zur kopernikanischen und die Revolution der Newtonschen Mechanik durch die Relativitätstheorie Einsteins. Das Paradigma tritt im Verhältnis zur wissenschaftlichen Gemeinschaft zirkulär auf, „[e]in Paradigma ist das, was den Mitgliedern einer wissenschaftlichen Gemeinschaft gemeinsam ist, und umgekehrt besteht eine wissenschaftliche Gemeinschaft aus Menschen, die ein Paradigma teilen.“100 94 C. F. Gethmann, Kuhn, in: Mittelstraß/Blasche, Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Band II, S. 504. 95 Zum Begriff des Paradigma Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, S. 25 ff. und S. 187 ff.; wegen der anhaltenden Kritik an der undifferenzierten Verwendung dieses Begriffs hat er später dafür den Begriff „disziplinäre Matrix“ verwandt. 96 Ibid., S. 25. 97 C. F. Gethmann, Kuhn, in: Mittelstraß/Blasche, Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Band II S. 504. 98 Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, S. 50. 99 Ibid., S. 34. 100 Ibid., S. 187.
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Die Rolle der wissenschaftlichen Gemeinschaft schätzt Kuhn hoch ein, die verschiedenen Gemeinschaften der wissenschaftlichen Disziplinen und anderer Ebenen innerhalb von Disziplinen stellen die Erzeuger und Prüfer wissenschaftlicher Erkenntnisse dar, verbunden durch gemeinsame Paradigmata.101 Neben der „normalen Wissenschaft“ entfaltet die Gemeinschaft auch im politischen Sinne eine Funktion bei Paradigmawechseln, denn „[w]ie bei politischen Revolutionen gibt es auch bei der Wahl eines Paradigmas keine höhere Norm als die Billigung durch die jeweilige Gemeinschaft.“102 Auch im Sinne der Kuhnschen Wissenschaftstheorie ist also der Handlungszusammenhang innerhalb eines Paradigmas und die innerwissenschaftliche Kommunikation zur Festigung des jeweils herrschenden Paradigmas eine konstitutive Voraussetzung für die wissenschaftliche Arbeit. Der Begriff der wissenschaftlichen Gemeinschaft nimmt dabei eine beherrschende Stellung ein. d) Zusammenfassung Ausgehend von zwei der bedeutendsten Wissenschaftstheorien lässt sich sagen, dass die Wissenschaft in hohem Maße vom Zusammenhang der wissenschaftlichen Gemeinschaft abhängig ist, der sich in der jeweiligen Handlungspraxis manifestiert und durch innerwissenschaftliche Kommunikation beschrieben, erklärt und kritisiert werden muss. Die soziale Interaktion innerhalb der Wissenschaft ist daher als Grundlage jeder Wissenschaftsbeschreibung, auch im rechtlichen Sinne, in höchstem Maße zu berücksichtigen. Eine rein individualistische Betrachtung der Wissenschaft ist vom wissenschaftstheoretischen Standpunkt daher nicht möglich, sie muss stets auch kollektivistisch erfolgen. 2. Wissenschaftssoziologische Betrachtung Aus soziologischer Sicht ist die Wissenschaft ein Funktionssystem der Gesellschaft,103 nicht anders als andere Subsysteme, das eigenen Gesetzlichkeiten folgt. Der Soziologe Helmut Spinner spaltet dieses Subsystem auf, wodurch sich auch für diese Untersuchung eine sinnvolle Differenzierung ergibt: 101
Ibid., S. 189. Ibid., S. 106. 103 Niklas Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 7; Julian Nida-Rümelin (Hrsg.) Angewandte Ethik – Die Bereichsethiken und ihre theoretische Fundierung, S. 844. Ebenso auch Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung, S. 80 ff. 102
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„Die Wissenschaft ist – auch als Großforschung – nur ein kleiner Teil des Ganzen, dafür aber in doppelter Ausführung: als Erkenntnissystem ein Bruchteil des gesamten menschlichen Wissens, als Sozialsystem ein schätzungsweise noch viel geringerer Bestandteil der Gesamtgesellschaft.“104
Als Sozialsystem ist die Wissenschaft einem eigenen Ethos zugänglich und folgt eigenen Gesetzen, die bei der Betrachtung von Kodizes stets im Blick bleiben müssen und sogleich noch dargestellt werden.105 Die wesentliche, daraus resultierende Frage, die es zu beantworten gilt, ist, inwieweit dieses Berufsethos, trotz der Einschätzung als Subsystem der Gesellschaft, ein von der gesamtgesellschaftlichen Moral unabhängiges Normensystem sein kann.106 Das Erkenntnissystem Wissenschaft zielt auf die Erlangung von Erkenntnis als Ergebnis seiner Arbeit. Allein zählendes Produkt ist der problemlösende Informationsgehalt der wissenschaftlichen Erkenntnis, also die erreichten Forschungsresultate in Gestalt von theoretischen Problemlösungen oder empirischen Befunden.107 Auch wenn im Wissenschaftsbetrieb selbst nur von Hypothesen, Experimenten und Forschungsergebnissen die Rede ist, so ist die wissenschaftliche Erkenntnis in der Beobachterperspektive der Gesellschaft doch stets als die Wahrheit anzusehen,108 da die Wissenschaft als einzig zuverlässiges System zur Ermittlung derselben angesehen wird.109 Dies gilt auch, obwohl aus wissenschaftstheoretischer Sicht der Begriff der Wahrheit als nicht möglich begriffen wird. Die Verpflichtung auf die Wahrheit korrespondiert aber mit der Notwendigkeit von Autonomie. Die spezifische Sicherheit der Ermittlung von wahr und unwahr erlangt das System Wissenschaft nur aufgrund der Unabhängigkeit von äußerlichen Faktoren.110 Als Erkenntnissystem verlangt die Wissenschaft daher nach besonderer Freiheit und Autonomie um als solches bestehen zu können. Die Autonomie der Wissenschaft wird in dieser Untersuchung noch eine zentrale Rolle spielen. Aus ihr ergeben sich für die rechtliche Beurteilung ebensolche Besonderheiten, wie für die ethische.
104 Helmut F. Spinner, Das „wissenschaftliche Ethos“ als Sonderethik des Wissens, S. 20. 105 S. u. III., S. 42 ff. 106 Allgemein zum Verhältnis von Berufsmoral und gesellschaftlicher Moral, Vöneky, Recht, Moral und Ethik, S. 32 ff. 107 Spinner, Das „wissenschaftliche Ethos“ als Sonderethik des Wissens, S. 36. 108 Zum Ganzen auch A. Eser, Wahrheit und Wahrhaftigkeit in der Wissenschaft, Med-Report 23 (1999), S. 2–3. 109 Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 176. 110 Ibid., S. 293.
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3. Die wissenschaftliche Praxis Die wissenschaftliche Praxis in ihrer heutigen Ausprägung unterzog sich in den vergangenen Jahrhunderten einem grundlegenden Wandel von einer individuellen zu einer kollektiven Unternehmung. Die Entwicklung der Wissenschaft seit der Renaissance steuerte auf eine immer stärkere Institutionalisierung hin.111 Während in der Vergangenheit die Forschung zumeist von wohlhabenden und insofern unabhängigen Privatpersonen betrieben wurde, bildete sich in Deutschland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine größtenteils universitäre Wissenschaftslandschaft aus, unterstützt durch staatliche oder private Institute wie die Physikalisch-Technische Reichsanstalt112 und die Kaiser-Wilhelms-Gesellschaft.113 Die Wissenschaft spielte sich in der Folge fast ausschließlich im staatlichen Bereich ab.114 Diese Tendenz war aber nach dem Ersten Weltkrieg rückläufig. Mit der zunehmenden Notwendigkeit wissenschaftlicher Forschung zum Erhalt der Marktstellung führte auch die Industrie bald einen wesentlichen Teil der hierzulande durchgeführten Forschung durch.115 Die Forschung lässt sich herkömmlicherweise dabei in zwei Kategorien aufteilen, deren Prämissen sich soweit unterscheiden, dass auch eine unterschiedliche rechtliche Behandlung sich anbieten dürfte, die Grundlagenforschung und die angewandte Forschung. Die Grundlagenforschung ist diejenige Forschung, „die eine Erweiterung der wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Ziele hat, ohne an der praktischen Anwendbarkeit orientiert zu sein.“116 Ihre Ziele sind meist unbestimmt und noch nicht absehbar, weshalb sich ein wirtschaftliches Interesse daran in den meisten Fällen auch noch nicht einstellen konnte.117 Demgegenüber steht die angewandte For111 Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung, S. 20 ff. 112 Die erste staatliche Großforschungsinstitution, gegründet 1887, vgl. Ernst-Joachim Meusel, Außeruniversitäre Forschung im Wissenschaftsrecht, S. 43. 113 Vorgängerorganisation der Max-Planck-Gesellschaft, die 1946 aufgelöst wurde wegen deren Verstrickung im nationalsozialistischen Staat. Die MPG wurde dann am 26.2.1948 neu gegründet; vgl. Ibid., S. 77 ff. 114 Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung, S. 20. 115 Heutzutage werden vom Gesamtvolumen der Forschungsausgaben in Deutschland von ca. 61 Milliarden Euro ca. 70% (ca. 41 Mrd. Euro) von der Industrie erbracht (Stand 2007), Daten abrufbar beim Statistischen Bundesamt unter: www. destatis.de. 116 Bundesbericht Forschung VI, BT-Drs. 8/3024, S. 244. 117 Aus diesem Grund spielt sich die Grundlagenforschung größtenteils an Hochschulen und staatlich geförderten Einrichtungen wie Max-Planck-, Helmholtz- oder Fraunhofer-Gesellschaft ab, ist also stärker dem staatlichen Bereich zugeordnet.
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schung, die auf bestimmte vorher festgesetzte Ziele, insbesondere auf konkrete Einsatzmöglichkeiten ausgerichtet ist.118 Daher wird auch ein Großteil dieser Forschung von der Industrie in eigenen Forschungs- und Entwicklungseinrichtungen durchgeführt. Durch die immer engere Zusammenarbeit von Industrie, Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen verwischen diese Grenzen aber zunehmend. Vor allem die Auftragsforschung, also vertragliche Forschungsvereinbarungen zwischen Industrie und wissenschaftlichen Einrichtungen wie der Fraunhofer-Gesellschaft, die in diesem Bereich besonders stark involviert ist, lässt Industrie- und staatliche Forschung immer mehr ineinandergreifen, da die staatlich geförderten Institutionen wie Max-Planck-, Helmholtz- oder Fraunhofer-Gesellschaft Einrichtungen besitzen, die sich die Industrie zu Nutze machen kann. Dies gilt insbesondere für die sogenannte Großforschung, also langfristig angelegte und komplexe Forschungs- und Entwicklungsvorhaben, die mit erheblichem technischen und ökonomischen Risiken behaftet sind und einen hohen Planungs- und Managementaufwand erfordern.119 Es lässt sich trotz dieser Entwicklung aber noch erkennen, dass sich Wissenschaft heute hauptsächlich in drei Bereichen abspielt, an der Universität, in außeruniversitären Forschungseinrichtungen und in industriell betriebenen Forschungsstätten, insofern also in institutionalisierten Einrichtungen mit einem hohen Grad an systematischen und arbeitsteiligen Prozessen. Die Entwicklung zu dieser Form der Arbeitsweise wurde vor allem durch die Erfolge von Einrichtungen wie der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt und später der Kaiser-Wilhelms-Gesellschaft begünstigt.120 Eine solche Sammlung von Ressourcen und Vernetzungsmöglichkeiten, die dem immer komplexeren experimentellen Charakter Abhilfe schafften, konnten die kleineren Einheiten wissenschaftlicher Forschung, wie der private Einzelforscher, nicht mehr bieten. Die Ausdifferenzierung in Institutionen und Organisationen beschränkte sich aber nicht nur auf die Durchführung, in gleichem Maße erfolgte sie auch bei der Forschungsförderung. Vor allem die Deutsche Forschungsgemeinschaft121 veränderte in Deutschland die Form der Mittelzuteilung.122 Durch die Notwendigkeit der Antragsstellung und die Begutachtungsstruktur durch andere Wissenschaftler wurde eine Organisationsstruktur errichtet, die größtenteils aus dem System Wissenschaft selbst 118
Meusel, Außeruniversitäre Forschung im Wissenschaftsrecht, S. 3. Bundesregierung, Status und Perspektiven der Großforschung, BT-Drs. 10/1327 S. 19. 120 Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung, S. 28. 121 1920 als „Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft“ gegründet. 122 Vgl. dazu Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung, S. 30 ff. 119
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heraus funktionierte. Diese Entwicklungen führten zu einem institutionalisierten System wissenschaftlicher Selbstverwaltung. Die stark ausgeprägte innere Selbstorganisation, die von den Organisationseinheiten, wie einzelnen Forschern oder Forschergruppen, bis zu den Wissenschaftsorganisationen reicht, stellt aus staatlicher Sicht ein konstitutives Element der Autonomie der Wissenschaft dar. Die Selbstorganisation vermittelt auch eine gesteigerte Selbstkontrolle, die erst eine weitreichende, verfassungsrechtlich gewährleistete Forschungsfreiheit rechtfertigen kann, da dadurch von staatlichen Kontrollmaßnahmen „von außerhalb“ abgesehen werden kann. Solange die Wissenschaft in Selbstverwaltung funktioniert, muss und kann der Staat nicht eingreifen. Zum einen weil keine Veranlassung dazu besteht, ein aus sich selbst heraus funktionierendes System zu steuern. Zum anderen weil nur in der weitestgehend staatsfreien Selbstverwaltung ein Höchstmaß an Autonomie vor staatlicher Ingerenz gewährleistet ist. Schließlich kann durch ein funktionierendes Selbstverwaltungssystem auch gegen Gefährdungen aus den eigenen Reihen der „scientific community“ durch den eigenen Sachverstand der Wissenschaftlergemeinschaft besser vorgebeugt werden.123 Zusammenfassend lässt sich somit erkennen, dass die vorhandene Wissenschaftsstruktur durch den hohen Grad der Institutionalisierung und Organisation auf ein Selbstverwaltungssystem ausgerichtet ist, das auf diese Weise autonom arbeiten soll und kann.
III. Wissenschaftsethik Geht man von der Ethik als Rechtfertigungsdisziplin des Guten und Richtigen,124 der Theorie des richtigen Handelns aus,125 dann sollen ethische Richtlinien zu diesem richtigen Handeln anleiten. Dabei bedarf nicht jedes Verhalten von Menschen einer ethischen Rechtfertigung, sondern nur jenes, das auch andere Interessenträger betrifft und einschränkt.126 Die hier zu untersuchende Ethik bezieht sich auf den Bereich der Wissenschaft; die im Sinne der jeweiligen Auffassung richtigen Verhaltensweisen sollen den Mitgliedern des Systems Wissenschaft aufgezeigt werden. Problemlagen stellen dabei vor allem bestimmte Methoden, wie Menschen- oder Tierversuche, die Folgen von Forschung und die Risikoverantwortung der Wissenschaft dar. 123 Hellmut Wagner (Hrsg.) Rechtliche Rahmenbedingungen für Wissenschaft und Forschung – Forschungsfreiheit und staatliche Regulierung, S. 36. 124 Vöneky, Recht, Moral und Ethik, S. 27. 125 Nida-Rümelin, Vorwort, in: Nida-Rümelin, Angewandte Ethik – Die Bereichsethiken und ihre theoretische Fundierung. 126 v. d. Pfordten, Rechtsethik, in: ibid. S. 203.
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Wenn die Wissenschaft Handlungscharakter hat, unterscheidet sich deren ethische Bewertung zunächst nicht von der Bewertung anderer Handlungszusammenhänge. Wenn also ein Wissenschaftler ein Experiment durchführt, das Menschen mit einschließt, dann trägt er für die Handlungen, die er dabei vornimmt die Verantwortung.127 Daher erlegen allgemeinethische Normen, ebenso wie juristische, dem Wissenschaftler in seinem Tun Grenzen auf.128 Diese Parallele der Normbezüge zwischen wissenschaftlicher Arbeit und der generellen sozialen Interaktion der Menschen erlegt dem Wissenschaftler jedoch auch eine besondere „sittliche Verpflichtung“ auf.129 Denn der Wissenschaftler hat zum einen einer weiteren Norm Geltung zu verschaffen, der Wissenschaftsfreiheit, die nicht nur als Verfassungswert zu betrachten ist, sondern auch als ethische Grundforderung zur Förderung des Wissensfortschritts zum Wohle der Gesellschaft. Zum anderen ist der Wissenschaftler auch mit einem Wissensfortschritt gegenüber anderen Menschen ausgestattet, der ihn in die Lage versetzt und möglicherweise auch verpflichtet, Folgen seines Handelns weiter vorherzusehen als andere. Diese zusätzlichen Faktoren ergeben die Notwendigkeit, eine besondere, angewandte Ethik der Wissenschaft zu erörtern, die in ihrer Reichweite und Ausprägung jedoch umstritten ist.130 Teilweise wird vertreten, allein ein Ethos der epistemischen Rationalität, das an die Methodik anknüpft, sei für die Wissenschaft verbindlich und auch ausreichend. Eine im Vordringen befindliche Meinung will es aber bei diesen Rationalitätskriterien nicht belassen und befürwortet ein weitergehendes Ethos wissenschaftlicher Verantwortung. Die Grundideen dieser Philosophien und ihre Auswirkungen werden im Folgenden kurz dargestellt. 1. Das Ethos epistemischer Rationalität Ein Ethos definiert der Philosoph Julian Nida-Rümelin als „ein grundsätzlich empirisch zugängliches, normatives Gefüge aus Rollenerwartungen, Gratifikationen und Sanktionen, handlungsanleitenden Überzeugungen, 127 Denn eine freiwillige Handlung, deren Konsequenzen der Handelnde erkennt, löst bereits nach Aristoteles eine Verantwortlichkeit des Handelnden aus. Vgl. dazu J.Anderson, Verantwortung, in: Gosepath/Hinsch/Rössler, Handbuch der politischen Philosophie und Sozialphilosophie, S. 1392 (1393). 128 J. Nida-Rümelin, Wissenschaftsethik, in: Nida-Rümelin, Angewandte Ethik – Die Bereichsethiken und ihre theoretische Fundierung, S. 851. 129 Hans Lenk, Zwischen Wissenschaft und Ethik, S. 231 f. 130 Vgl. dazu auch die Stellungnahme des Deutschen Ethikrats zur „Biosicherheit – Freiheit und Verantwortung in der Wissenschaft“ (http://www.ethikrat.org/dateien/ pdf/stellungnahme-biosicherheit.pdf, zuletzt abgerufen am 27.05.2014), S. 57 ff.
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Einstellungen, Dispositionen und Regeln, die die Interaktionen der betreffenden Referenzgruppe, in der dieses Ethos wirksam ist, leiten.“131
Das wissenschaftsintern allgemein anerkannte Ethos der Referenzgruppe Wissenschaft stellt das Ethos epistemischer Rationalität132 dar. Wenn der Wissenschaftler in seinem Kooperationsverhältnis zur wissenschaftlichen Gesellschaft agiert, wird er diejenigen Regeln befolgen wollen, die vernünftigerweise das System bestmöglich voranbringt, und schließlich auch ihm als Teil des Systems zu Gute kommt. Es ist also ein Ethos, das die Wissenschaft durch rationale Überlegungen der wissensproduzierenden Effizienz beherrscht. Die Grundprinzipien dieses Ethos wurden vom amerikanischen Soziologen Robert K. Merton in seinen vier moralischen Maximen der Forschung beschrieben,133 die bis heute weitgehend als normative Vorgaben weitestgehend anerkannt sind und lediglich teilweise ergänzt wurden.134 Die erste Maxime ist die Norm des Universalismus, also die Geltung des Wissens unabhängig von seinem Urheber oder Ursprung. Insofern müsste jeder Wahrheitsrelativismus in Bezug auf Person, Nationalität, Konfession und ähnlichem ausgeschlossen sein, wenn es um die Aufnahme neuen Wissens in die Diskussion geht. Nur die Überprüfung anhand uneingeschränkt sachlicher, universeller Maßstäbe dürfe eine Richtigkeitsbewertung begründen. Die als Wissenskommunismus135 bezeichnete zweite Norm meint den Gemeinbesitz von wissenschaftlicher Erkenntnis und dem daraus resultierenden 131 Nida-Rümelin, Wissenschaftsethik, in: Nida-Rümelin, Angewandte Ethik – Die Bereichsethiken und ihre theoretische Fundierung, S. 836. 132 Epistími, altgriechisch, bedeutet Wissenschaft; Der Rationalitätsbegriff geht auf Max Weber zurück und bezeichnet auf ein soziales System bezogen, eine Ordnung, die überlegt, nach Mitteln, Zwecken und Werten kalkuliert, systematisch geplant und entsprechend organisiert ist. Vgl. T. Schwinn, Soziale Rationalität, in: Gosepath/Hinsch/Rössler, Handbuch der politischen Philosophie und Sozialphilosophie, S. 1051 ff. 133 Robert K. Merton, Social Theory and Social Structure, S. 606 ff. Zusammengefasst bei Spinner, Das „wissenschaftliche Ethos“ als Sonderethik des Wissens S. 51 ff.; ebenfalls bei Nida-Rümelin, Angewandte Ethik – Die Bereichsethiken und ihre theoretische Fundierung, S. 837 ff. 134 Vgl. dazu Kirsten Hartmann, Grundsätze guter wissenschaftlicher Praxis unter qualitätssicherungs- und rechtsfolgenbezogenem Blickwinkel – gleichzeitig eine wissenschaftstheoretische und verfassungsrechtliche Betrachtung, S. 14 f. 135 Die Begriffe variieren bei diesem Prinzip, da sowohl der ursprünglich von Merton benutzte Begriff „communism“ durch die politische Theorie, als auch der alternativ benutzte Begriff „Kommunitarismus“ durch die philosophische Theorie bereits besetzt sind (vgl. die Stichworte dazu, in: Gosepath/Hinsch/Rössler, Handbuch der politischen Philosophie und Sozialphilosophie, S. 625 ff.) Im Folgenden wird der Begriff „Wissenskommunismus“ verwendet.
III. Wissenschaftsethik
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Wissen.136 Allein die völlige Verfügbarkeit des erworbenen Wissens ermöglicht denjenigen Diskurs, der notwendig ist, um aufgestellte Hypothesen zu prüfen, Beweise zu erbringen und Kreativität in der Wissensschöpfung zu ermöglichen. Im Bereich der Naturwissenschaften mag es verwundern, dass das Prinzip des Gemeinbesitzes heute funktionieren könnte, stellen wissenschaftliche Erkenntnisse doch oftmals einen enormen wirtschaftlichen Wert dar. Dennoch ermöglichen zwei Faktoren ein Funktionieren des Prinzips: Zum einen die Anreizeffekte des wissenschaftlichen Systems. Im gesellschaftlichen Subsystem Wissenschaft zählen nicht allein materielle Werte, sondern in größerem Maße die Reputation,137 die für eine wissenschaftliche Karriere konstituierend ist. Diese kann jedoch nur derjenige erwerben, der seine Theorie einer breiten Masse vorlegt, die diese beurteilen und verifizieren soll.138 Bezieht sich die wissenschaftliche Gesellschaft folglich in ihrer Diskussion auf den Urheber der Theorie, ist Reputation gegeben, gleichzeitig aber Gemeinbesitz des Wissens gewährleistet. Zum anderen wird Forschung in Deutschland und in anderen Ländern im Grundlagenbereich oftmals fast ausschließlich öffentlich finanziert, in Deutschland ist dies gar eine verfassungsrechtliche Pflicht.139 Die finanzielle Unabhängigkeit des Forschers ermöglicht die Befolgung des Prinzips des Gemeinbesitzes insofern, als er keinen wirtschaftlichen Zwängen unterworfen ist.140 Auch hier zeigt sich die Notwendigkeit von Autonomie für die Wissenschaft. Aus dem Grundprinzip des Gemeinbesitzes lassen sich weitere ethische Verpflichtungen des Wissenschaftlers ableiten, wie die Pflicht zur Veröffentlichung von Forschungsergebnissen. Ebenso lassen sich aus dessen Funktionsbedingungen weitere Pflichten ableiten, wie die sorgfältige Trennung von eigenem und fremdem Gedankengut und der genauen Quellenangabe. Folglich ist es auch verboten, wissenschaftliche Erkenntnis zu kopieren und sie zu Gunsten der eigenen Reputation für sich in Anspruch zu nehmen. 136 Nida-Rümelin, Angewandte Ethik – Die Bereichsethiken und ihre theoretische Fundierung, S. 837; Spinner, Das „wissenschaftliche Ethos“ als Sonderethik des Wissens, S. 51. 137 Grundlegend zur wesentlichen Wirkung der Reputation in der Wissenschaft: Niklas Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 244 ff. 138 Die Beteiligung von Open-Access-Foren, also freien Veröffentlichungsmöglichkeiten im Internet, an der wissenschaftlichen Diskussion verläuft bislang schleppend, könnte in den kommenden Jahren in dieser Hinsicht jedoch an Bedeutung gewinnen, vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20.5.2009 „Offene Forschung als Extremsport“. 139 Vgl. BVerfGE 35, 79. 140 Spinner, Das „wissenschaftliche Ethos“ als Sonderethik des Wissens, S. 58; W.-M. Catenhusen, in: Dietmar Mieth/Deryck Beyleveld/Uta Knoerzer (Hrsg.), Ethik und Wissenschaft in Europa – Die gesellschaftliche, rechtliche und philosophische Debatte S. 56.
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Drittens soll nach Merton die Norm der Desinteressiertheit gelten, die die moralische Integrität des Wissenschaftlers beschreiben soll, der sich von allen außerwissenschaftlichen Interessen freihält bei seiner Suche nach der Erkenntnis. Daraus soll vor allem ein umfassendes Profitverbot für den Wissenschaftler folgen, er soll „Wissenschaft um der Wissenschaft willen“ betreiben.141 Dies dürfte sich aber lediglich auf den Ausschluss außerwissenschaftlicher Wertorientierungen beziehen, will man der Realität noch gerecht werden, in der der persönliche Nutzen des Wissenschaftlers immer eine Rolle spielen wird.142 Dieser Norm entspricht auch das Grundprinzip der Autonomie der Wissenschaft. Diese soll sie in größtmöglicher Weise in Anspruch nehmen können, um sich vor äußeren, auch staatlichen Einflüssen weitestgehend schützen, um die wissenschaftlichen Prozesse nicht durch Wertvorstellungen und Nutzenkriterien zu behindern. Nur auf diese Weise kann die viel zitierte Eigengesetzlichkeit der Wissenschaft funktionieren. Die beste Möglichkeit jene Autonomie zu gewährleisten ist die völlige rechtliche und finanzielle Unabhängigkeit, ausgestaltet durch die Gewährleistung der wissenschaftlichen Selbstverwaltung unter Bereitstellung öffentlicher Fördergelder. Insofern hat sich das deutsche Wissenschaftssystem, zumindest im Bereich der Grundlagenforschung, jener Norm weitestgehend verpflichtet.143 Schließlich soll viertens die Norm des organisierten Skeptizismus gelten, also das Gebot wissenschaftliche Erkenntnis zu überprüfen und überprüfbar zu machen, denn nur wer die Falsifikation seiner Erkenntnis ermöglicht, kann wissenschaftliche Objektivität in Anspruch nehmen und daraus einen Wahrheitsbegriff entwickeln.144 Aus diesem Gebot ergibt sich die Pflicht zur Publikation, aber auch die Verpflichtung, bei der Forschung auf die Wiederholbarkeit und Kontrollierbarkeit von Experimenten zu achten und diese zu dokumentieren. Gänzlich unumstritten ist das Ethos epistemischer Rationalität nicht. Der Soziologe Helmut Spinner sieht aufgrund empirischer Studien eine Wirkungslosigkeit dieses Ethos, da ethischer Input, also die weitestmögliche Befolgung der Maximen, und wissenschaftlicher Output in keinem signifikanten positiven Zusammenhang stünden.145 Er behauptet vielmehr, dass „die Braven“ nicht unbedingt die Besten seien und das wissenschaftliche 141 142 143
Spinner, Das „wissenschaftliche Ethos“ als Sonderethik des Wissens, S. 52. Ibid. S. 52. Verfassungsrechtlich abgesichert durch die Entscheidung des BVerfG in E 35,
79. 144
Vgl. A. Eser, Wahrheit und Wahrhaftigkeit in der Wissenschaft, in: Med-Report 23 (1999), S. 2–3. 145 Spinner, Das „wissenschaftliche Ethos“ als Sonderethik des Wissens S. 54 m. w. N.
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Ethos für den Erkenntnisfortschritt nicht effizient sei.146 Zu Recht kritisiert Nida-Rümelin diese Ansicht, wenn er schreibt, dass es sich dabei um einen Fehlschluss handele. Die Wirksamkeit einer Regel kann nicht danach beurteilt werden, dass diejenigen die sich nicht an sie halten einen unmittelbaren Vorteil daraus erlangen. Es ist eher ein Spezifikum von Regeln, dass die einzelne Person, die diese überschreitet einen Konkurrenzvorteil hat.147 Spinner sagt aber auch nicht, dass die Wirkungslosigkeit dieses Ethos die Nebensächlichkeit zur Folge habe. Die fehlende produktive Funktion werde durch die repräsentative Funktion ausgeglichen: „Sind moralische Regeln und ihre Befolgung in der Wissenschaft weder unmittelbar verhaltenssteuernd noch direkt produktivitätsfördernd, so doch gesellschaftlich legitimierend.“148
Als soziale und politische Legitimationsbasis könnten sie daher funktionieren. Um dieser Glaubwürdigkeit zu verleihen, müsse aber auch ein gewisser Grad an Erfüllung erreicht werden. Zumindest werde durch das Ethos der Legitimationsglauben in der Gesellschaft an die Existenzberechtigung und Förderungswürdigkeit der Wissenschaft aufrechterhalten.149 Außerdem sei dieses Ethos der Wissenschaft, von hoher Rationalität und geringer Moralität, nicht nur gut für die Wissenschaft selbst, sondern auch gesellschaftspolitisch vertretbar, insoweit als der gesellschaftliche Nutzen der Wissenschaft sich besser entfalten könne.150 Dieser Befund der zusätzlichen Legitimation für die wissenschaftliche Arbeit ist trotz der Schwäche der Prämisse, das Ethos sei wissenschaftlich gesehen wirkungslos, richtig und wichtig. Gleichgültig, ob der einzelne Wissenschaftler an die Produktivität des Ethos, beziehungsweise an das Ethos selbst, glaubt, so hat er doch ein Interesse daran, wie die ihn in seiner Autonomie fördernde und im Sinne der Desinteressiertheit vor äußeren Einflüssen schützende Gesellschaft wahrnimmt. Gerade zur Aufrechterhaltung der Mertonschen Maximen ist es für die Wissenschaft erstrebenswert, diese öffentlichkeitswirksam darzulegen. 146 Ebenso argumentierend Christof Gramm, Ethikkommissionen: Sicherung oder Begrenzung der Wissenschaftsfreiheit, Wissenschaftsrecht 1999, 209 (220). 147 Nida-Rümelin, Angewandte Ethik – Die Bereichsethiken und ihre theoretische Fundierung, S. 841; umständlicher aber zum selben Ergebnis kommend: Hartmann, Grundsätze guter wissenschaftlicher Praxis unter qualitätssicherungs- und rechtsfolgenbezogenem Blickwinkel – gleichzeitig eine wissenschaftstheoretische und verfassungsrechtliche Betrachtung, S. 16 ff. 148 Spinner, Das „wissenschaftliche Ethos“ als Sonderethik des Wissens S. 55. 149 Ibid. 150 H. Spinner, Erst kommt das Wissen und dann die Moral . . ., in: Klaus Steigleder/Dietmar Mieth (Hrsg.), Ethik in den Wissenschaften – Ariadnefaden im technischen Labyrinth?, S. 215.
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Eine Regulierung im Sinne dieser Maxime durch den Staat ist, auch aus Respekt vor der Autonomie der Wissenschaft, weitgehend unterblieben. Vielmehr haben sich die meisten deutschen wissenschaftlichen Institutionen durch Selbstregulierung diesem Ethos verpflichtet, nachdem es 1997 durch den „Fall Herrmann/Brach“ zu einem Skandal in der deutschen Wissenschaft kam, der auch weltweit Beachtung fand.151 Ein gutes Beispiel ist die Empfehlung der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis,152 die ihre Wirkung potenzieren konnte, indem jedes Projekt, das DFG-Förderung anstrebt, sich jenen Regeln unterwerfen muss, also auch jede universitäre und außeruniversitäre Forschungseinrichtung.153 Dem Vorbild dieser Empfehlung sind, gemäß ihrer Intention, auch andere Institutionen gefolgt, wie die Max-Planck-Gesellschaft und die Helmholtz-Gemeinschaft.154 Ob diese Selbstregulierung aus Legitimationsbestrebungen gegenüber der Gesellschaft geschah, kann dahingestellt bleiben. Jedenfalls wurde damit die Verantwortlichkeit des Wissenschaftlers für die Mitglieder seiner Referenzgruppe in der Gestalt der Selbstregulierung durch Kodizes durch die Forschungsorganisationen selbst festgelegt. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass es sich beim Ethos epistemischer Rationalität um eine Sammlung von Prinzipien handelt, die ein System der Wissenschaft gewährleisten sollen, das seinen Nutzen für die Wissenschaft selbst und damit auch für die Gesellschaft in größtmöglicher Weise entfalten soll. Zudem kann es in begrenztem Umfang auch legitimierende Funktion gegenüber der Gesellschaft haben. Adressat jeder ethischen 151 Den Krebsforschern Friedhelm Herrmann und Marion Brach wurden im Jahr 1997 Datenmanipulationen in 94 wissenschaftlichen Arbeiten nachgewiesen. Eine ausführliche Schilderung dieses Falls mit den Ergebnissen der damals zur Aufklärung der Ereignisse eingesetzten Untersuchungskommission der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) findet sich unter: http://www.dfg.de/service/presse/ pressemitteilungen/2000/pressemitteilung_nr_26/index.html, (zuletzt abgerufen am 24.3.2014); vgl. dazu auch die Schilderung der Ereignisse und deren Folgen bei: A. Eser, Die Sicherung von „Good Scientific Practice“ und die Sanktionierung von Fehlverhalten, in: Hans-Dieter Lippert (Hrsg.) Forschung am Menschen: der Schutz des Menschen – die Freiheit des Forschers. 152 Die Empfehlung zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis der DFG ist abrufbar unter: www.dfg.de/aktuelles_presse/reden_stellungnahmen/download/emp fehlung_wiss_praxis_0198.pdf (zuletzt abgerufen am 13.9.2011). 153 Vgl. Empfehlung 14 der DFG-Richtlinien (Fn. 45). 154 Die Regeln zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis der Max-Planck-Gesellschaft vom November 2000 sind abrufbar unter: http://www.mpg.de/229457/ Regeln_guter_wiss_Praxis__Volltext-Dokument_.pdf und die „Regeln zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis und Verfahren bei wissenschaftlichem Fehlverhalten“ der Helmholtz-Gemeinschaft vom September 1998 sind abrufbar unter: http:// www. helmholtz.de/fileadmin/user_upload/01_forschung/wiss_Praxis/HGF_Verfahren_bei _wiss_Fehlverhalten.pdf (zuletzt abgerufen am 24.3.2014).
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Rechtfertigung und Verantwortlichkeit ist nach dieser Konzeption aber nur das eigene System beziehungsweise dessen Mitglieder, weshalb sich das Ethos epistemischer Rationalität als ein Ethos innerwissenschaftlicher Verantwortung darstellt. Es stellt sich daher als funktionales, partikularistisches Berufsethos dar, dass von der Allgemeinmoral teilweise entkoppelt ist, als es eigenen Regeln folgt. Jene Entkoppelung wird aber zumeist als nicht mehr zeitgemäß und als Einfallstor für die Rechtfertigung von risikoreichen Forschungsprojekten empfunden. Ein anderer Ansatz soll demgegenüber im Folgenden dargestellt werden. 2. Das Ethos wissenschaftlicher Verantwortung Ein Ethos wissenschaftlicher Verantwortung stellt Handlungsnormen auf, die nicht mehr nur unmittelbar der Wissenschaft selbst, sondern auch der sie umgebenden Gesellschaft zu dienen bestimmt sind. Ein solches Ethos setzt die Handlungen seiner Referenzgruppe mit ihren Konsequenzen für die Restgesellschaft in Bezug. Diese in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts aufgekommene und zuletzt vermehrt vertretene155 Auffassung hat ihren Ursprung in der veränderten Rolle der Wissenschaft in der Gesellschaft. Den deutschen Stein des Anstoßes für diese Diskussion gaben dabei zum einen die Vertreter des Starnberger Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt unter Carl Friedrich von Weizsäcker und Jürgen Habermas. Ihr dort aufgenommenes Programm der Finalisierung der Wissenschaft sah „Wissenschaft und Technik im Dienste einer Natur- und Sozialintegration, die weder die Zwecke der Natur noch die Interessen der Menschen vergewaltigt, sondern in wechselseitige Übereinstimmung bringt.“156 Daher sollte die Finalisierung der Wissenschaft den autonomen Fortschritt der Wissenschaft beenden, um den Fortschritt der menschlichen Gesellschaft zu betreiben.157 Dieser Ansatz war jedoch in seinen Forderungen radikal und auch die Autoren selbst er155 Vgl. J. Nida-Rümelin, Wissenschaftsethik, in: Nida-Rümelin, Angewandte Ethik – Die Bereichsethiken und ihre theoretische Fundierung, S. 834 ff.; Lenk, Zwischen Wissenschaft und Ethik, S. 19 f. Zuletzt auch Dietmar Mieth auf der Jahrestagung des Deutschen Ethikrates am 28. Mai 2009 in Berlin, die Diskussion mit Wolfgang van den Daele zu diesem Thema ist als Audiomitschnitt abrufbar unter http://www.ethikrat.org/veranstaltungen/jahrestagungen/der-steuerbare-mensch (zuletzt abgerufen am 24.3.2014). 156 W. Schäfer, Normative Finalisierung, in: Gernot Böhme u. a., Starnberger Studien 1 – Die gesellschaftliche Orientierung des wissenschaftlichen Fortschritts, S. 400. 157 Ibid., S. 403.
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kannten, dass trotz des berechtigten Interesses an einem solchen Wandel der Wissenschaft, die Wahrscheinlichkeit dafür gering sei.158 Zum anderen muss man als Motor dieser veränderten Auffassung einer Verantwortungsethik in der Wissenschaft den Philosophen Hans Jonas mit seinem Werk „Prinzip Verantwortung“ nennen.159 Darin konstatierte er, dass die Technologie der Neuzeit das Verhältnis des Menschen zur Natur und das Verhältnis zu sich selbst auf einmal verändert hat. Die rein anthropozentrische Ausrichtung aller klassischen Ethik könne dabei nicht mehr ausreichen. „Die Einhegung der Nähe und Gleichzeitigkeit ist dahin, fortgeschwemmt von der räumlichen Ausbreitung und Zeitlänge der Kausalketten, welche die technische Praxis, auch wenn für Nahzwecke unternommen, in Gang setzt.“160
Das menschliche Handeln darf nach Jonas daher nicht mehr allein an den für den Einzelnen in seiner unmittelbaren Umgebung absehbaren Folgen ausgerichtet werden, sondern muss vielmehr die mögliche schlimmste Prognose mit einbeziehen. Sie soll insofern als Ergänzung zur tradierten Ethik fungieren.161 Diese Sensibilisierung für die veränderte Wirklichkeit in der eine Verantwortungsethik notwendig sein könnte, führte dazu, dass die rein „handwerkliche“ Verantwortung der Wissenschaft162 teilweise als unzulänglich angesehen wurde. Das Ethos epistemischer Rationalität kann aus dieser Perspektive nur insoweit Geltung besitzen, als die Wissenschaft von der Außenwelt abgekoppelt bleibt und mit dem alleinigen Ziel des Fortschritts der Erkenntnis ohne Einflüsse von außen weiterarbeiten kann. Spätestens aber mit der Entwicklung der Atombombe konnte sie dies laut Nida-Rümelin jedoch nicht mehr.163 Mit dem Anwachsen des wissenschaftlichen Systems zu einem global interagierenden Gebilde, dessen Ergebnisse zu globalen Risiken mutieren konnten, drängte sich eine möglicherweise notwendige Weiterentwicklung des wissenschaftlichen Ethos insoweit auf, als nicht mehr allein die Erkenntnis im Vordergrund stehen sollte, sondern in immer größerem Maße auch die Politik, nicht zuletzt deshalb, weil auch die Größe des Sys158
Ibid., S. 413. Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung: Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. 160 Ibid. S. 27. 161 M. Werner, Hans Jonas’ Prinzip Verantwortung, in: Marcus Düwell (Hrsg.) Bioethik – Eine Einführung, S. 42. 162 W.-M. Catenhusen, in: Mieth/Beyleveld/Knoerzer, Ethik und Wissenschaft in Europa – Die gesellschaftliche, rechtliche und philosophische Debatte, S. 55. 163 J. Nida-Rümelin, Wissenschaftsethik, in: Nida-Rümelin, Angewandte Ethik – Die Bereichsethiken und ihre theoretische Fundierung, S. 844. 159
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tems eine stärkere Interaktion mit dem Rest der Gesellschaft verlangte.164 Interaktion innerhalb der Gesellschaft verlangt aber auch die Anwendung allgemeinethischer Normen. Eine der wichtigsten davon ist die Verantwortung für das eigene Handeln und zwar nicht nur dem Subsystem Wissenschaft gegenüber, sondern dem Gesamtsystem Gesellschaft. Genau diese soll das Ethos wissenschaftlicher Verantwortung erfassen. Es verkörpert mithin die Implementierung der Berufsmoral in die gesamtgesellschaftliche Moral, über die Grenze des eigenen Subsystems hinaus. Dem steht der Einwand entgegen, dass der Wissenschaftler selbst kein Experte auf dem Gebiet moralischer oder ethischer Implikationen seiner Forschung ist. Er hat genau so viel oder wenig Ahnung von der Ethik wie jeder andere Bürger auch. Insofern sei es nach den Worten des britischen Embryologen Lewis Woolpert bedenklich gerade dem Wissenschaftler die Entscheidungsgewalt über die Unbedenklichkeit eines Forschungsvorhabens oder einer Forschungsrichtung zu überlassen, und nicht der Gesellschaft oder der Politik.165 Überlässt man aber der Gesellschaft bzw. deren Entscheidungsträgern die Entscheidungsgewalt könnte man stets vor dem Problem geschaffener Tatsachen stehen. Könnte man ethische Implikationen von Forschung immer bereits erkennen und sie dann in einem (legitimierenden) Verfahren einem Entscheidungsträger der Gesellschaft zuführen, ergäben sich im Bereich der Wissenschaft tatsächlich weniger Probleme. Es ist jedoch zumeist der Fall, dass jene Entscheidungen nicht erst der Gesellschaft zugeführt werden können, sondern aktuell und vor Ort entschieden werden müssen, so wie auch jeder andere Mensch über die Ausführung einer Handlung im Bewusstsein der möglichen Folgen im Verantwortungssinne entscheiden muss. Die gesellschaftlichen Folgen des Handelns der meisten Bürger sind demgegenüber aber nicht annähernd so weitreichend, wie die des Wissenschaftlers in der modernen Forschung, was eine Spezialisierung der Berufsmoral verlangt. Als Korrektiv für jenen erweiterten Verantwortungsbegriff kann jedoch angeführt werden, dass die Tragweite der Folgen der Wissenschaft durch den eminenten Wissensvorsprung des Wissenschaftlers abgefedert wird.166 Dieser Umstand soll eine spezielle, größere Folgenverantwortung rechtfertigen können. Es könnten die hier untersuchten Kodizes sein, die dem Wissenschaftler aufzeigen sollen, dass mit gesteigerter Bedeutung im gesellschaftlichen Kontext und sei164
Ibid. S. 845 f. Zitiert in E. Cresson, Ethik und Wissenschaft und Europa, in: Mieth/Beyleveld/Knoerzer, Ethik und Wissenschaft in Europa – Die gesellschaftliche, rechtliche und philosophische Debatte, S. 25. 166 D. v. d. Pfordten, Zur Verantwortung des Wissenschaftlers für den Transfer seines Wissens in die Gesellschaft, in: Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik, Band 11, S. 55. 165
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nem größeren fachspezifischen Wissen eine gesteigerte Verantwortung einhergeht. Das Argument der fehlenden Expertise auf dem Gebiet von Ethik und Moral, die eine Entscheidung bedenklich mache, ist dabei nicht tragfähig. Dies würde nämlich bedeuten, dass es ethische Experten gibt, die über jene moralische Autorität verfügen, die es braucht um die wichtigen gesellschaftsrelevanten Entscheidungen der Forschung zu treffen. Der ethische Experte kann jedoch nicht aufgrund seiner Kenntnisse die bestmögliche Entscheidung treffen, sondern nur aufzeigen, welche vernünftigen, also rational rechtfertigbaren Möglichkeiten es gibt, im Sinne eines „ethischen Kartographen“.167 Ein solcher Kartograph kann nur den Pluralismus der normativen Ethik aufzeigen, und verschiedene Entscheidungsoptionen mit ethischen Theorien untermauern, deren instrumentelle Leistungsfähigkeit er besser beurteilen kann als andere, also ob die Theorie widerspruchsfrei, kohärent, vollständig und durch funktionale Einfachheit überzeugend ist.168 Daher kann er bei einer Entscheidung insoweit helfen, als er die Optionen rationaler Entscheidung aufzeigt. Er soll sie aber nicht alleine treffen dürfen. Würde ein Experte dies versuchen, so käme dies einem moralischen Autoritarismus gleich, also einer Fremdbestimmung in Angelegenheiten, die möglicherweise einer existenziellen Wahl bedürfen. Ein solcher würde aber dem Ideal der Autonomie der Person grundlegend widersprechen. Vielmehr muss der Einzelne oder eine Gesamtheit von Personen in solchen existenziellen Wahlsituationen für sich eine Entscheidung treffen, wer er sein will, eine Entscheidung die ihm niemand abnehmen darf und kann.169 Es bedarf für eine ethisch-moralische Entscheidung also keines Experten, weshalb auch die Entscheidungsgewalt nicht einfach dem Wissenschaftler oder der Wissenschaftsgemeinschaft entzogen werden kann und soll. Damit ist noch nicht gesagt, dass der Wissenschaftler allein jede Verantwortungslast zu tragen hätte, eine kollektive Verantwortungswahrnehmung könnte demgegenüber durchaus möglich und sinnvoll sein. Akzeptiert man das Ethos der wissenschaftlichen Verantwortung stellt sich im Folgenden die Frage, welche ethische Prämisse diesem zu Grunde liegen soll. Verfolgt man einen konsequentialistischen Ansatz, so kann nur dann Verantwortung für das eigene Handeln begründet werden, soweit die Folgen für den Wissenschaftler absehbar sind und damit Konsequenzen für das Handeln gezogen werden können. In der Grundlagenforschung ist dies 167 S. Vöneky, Ethische Experten und moralischer Autoritarismus, in: Silja Vöneky/Cornelia Hagedorn/Miriam Clados/Jelena von Achenbach (Hrsg.), Legitimation ethischer Entscheidungen im Recht – Interdisziplinäre Untersuchungen, S. 92. 168 Ibid., S. 91 f. 169 Ibid., S. 94 ff.
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aber schwerlich zu gewährleisten, da die Folgen einer bestimmten Forschung, eines bestimmten Experiments und der daraus folgenden Erkenntnis dort nur schwer abschätzbar sind. Der Forderung nach einer Folgenverantwortung kann in der Grundlagenforschung insofern immer entgegengehalten werden, dass nicht die Wissenschaft die Folgen herbeiführe, sondern die sie umsetzende Technik, die konsequenterweise auch alleine in der Pflicht stehen müsste. Ein Ethos der wissenschaftlichen Verantwortung wäre mithin überflüssig, die Folgenverantwortung müsste allein der Anwender wissenschaftlicher Ergebnisse tragen. Dieser Gedanke verliert aber an Wert, wenn man sich vor Augen hält, dass die Wissenschaft nur noch selten abstrakt Erkenntnisse gewinnt, sondern – nicht nur aber vor allem – bei der angewandten Forschung meist die Anwendungsmöglichkeiten von Anfang an im Blick hat. Dann ist ein Ethos wissenschaftlicher Verantwortung möglich und möglicherweise auch notwendig, als gerade die gewollten Anwendungsmöglichkeiten und absehbaren Missbrauchsmöglichkeiten als Folgen der Forschung in eine ethische Betrachtung einfließen.170 Doch auch eine deontologisch-wertethische Betrachtung der Wissenschaft kann dem einzelnen Wissenschaftler Pflichten auferlegen, die über diejenigen der epistemischen Rationalität hinausgehen. Es sind die höherrangigen Pflichten der Wertentsprechung, die mit der persönlichen Selbstachtung verbunden sind und dabei eine ethische Sozialpflicht im Interesse anderer oder der Gesellschaft etablieren.171 Dieses Ethos der wissenschaftlichen Verantwortung hat aber auch aufklärungsbedingte Grenzen in unserer Gesellschaft. Es soll nicht den Wissenschaftler für alle absehbaren technischen Anwendungen in die Verantwortung nehmen. Eine solche Verantwortungswahrnehmung würde zum einen dazu führen, dass „die subjektiven Werthaltungen innerhalb der Wissenschaft die von wissenschaftlichen Forschungsergebnissen zu wesentlichen Teilen abhängige moderne Industriegesellschaft steuern würden.“172 Zum anderen widerspricht es unserer aufgeklärten Gesellschaft die Folgenverantwortung von Wissen allein auf die Urheber zurückzuverlagern; dies ist typisch für spirituelle Gemeinschaften, fundamentalistischreligiöse Kulturen wie auch totalitäre Regime. Vielmehr ist es Verpflichtung, Wissen allgemein zugänglich zu machen und „die Verantwortung für den richtigen Umgang mit diesem Wissen nicht in toto bei denen zu belassen, die dieses Wissen erarbeitet und zur Verfügung gestellt haben.“173 Ausgehend von dieser Prämisse stellt sich dann aber die Frage, inwieweit dem 170 So auch J. Nida-Rümelin, Wissenschaftsethik, in: Nida-Rümelin, Angewandte Ethik – Die Bereichsethiken und ihre theoretische Fundierung, S. 849 f. 171 Lenk, Zwischen Wissenschaft und Ethik, S. 244. 172 J. Nida-Rümelin, Wissenschaftsethik, in: Nida-Rümelin, Angewandte Ethik – Die Bereichsethiken und ihre theoretische Fundierung, S. 850. 173 Ibid.
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Wissenschaftler dann noch Verantwortung bezüglich seiner Erkenntnis verbleiben kann. 3. Der Widerstreit der Verantwortlichkeiten Das Ethos epistemischer Rationalität steht teilweise im Widerspruch mit dem Ethos wissenschaftlicher Verantwortlichkeit. Die Autonomie der Wissenschaft würde durch eine Verantwortung gegenüber der Gesellschaft eingeschränkt, denn das Prinzip der Desinteressiertheit im Sinne Mertons174 wäre mit der Beeinflussung durch gesellschaftliche Faktoren hinfällig. Gleichzeitig ist aber jene Autonomie funktional notwendig für einen effizienten Wissenschaftsbetrieb. Dem könnte man begegnen, indem man die Verantwortung aufspaltet in eine innerwissenschaftliche und eine außerwissenschaftliche. Die innerwissenschaftliche Verantwortung ließe sich weiterhin mit dem Ethos epistemischer Rationalität erfüllen, als Verantwortungsträger würde der jeweilige Wissenschaftler als Individuum fungieren. Der außerwissenschaftliche Bereich würde hingegen von der Wissenschaft abgekoppelt und der Berufsmoral mithin entnommen. Er würde der klassischen politisch-gesellschaftlichen Gesamtverantwortung überlassen.175 Dies wäre auch nur konsequent, ist es doch das fundamentale ethische Prinzip der Autonomie im Allgemeinen, dass die Betroffenen selbst über alles was sie betrifft entscheiden sollen, also auch über die Auswirkungen einer Forschung. Diesem Konzept stehen jedoch gewichtige Einwände gegenüber. Die Autonomie der Wissenschaft lässt sich angesichts hoher öffentlicher Aufwendungen für Forschungsvorhaben und Wissenschaftsinstitutionen nur dann rechtfertigen, wenn diese auch immer nur die Erzeugung von Wissen im Blick hat. Von diesem Wissen profitiert nicht nur die Wissenschaft selber, sondern auch die Gesellschaft, wenn es sinnvoll angewendet wird. Die Gesellschaft hat also ein wesentliches Interesse daran, wie die Autonomie der Wissenschaft ausgefüllt wird, und die Wissenschaft hat ein Interesse daran, wie die Gesellschaft sie wahrnimmt, mithin auch in ihrer Bereitschaft verantwortlich zu handeln, um nicht den Sonderstatus als autonomes Subsystem zu verlieren.176 Gerade weil aber als Funktionsbedingung das Subsys174
Vgl. oben. S. 43 ff. J. Nida-Rümelin, Wissenschaftsethik, in: Nida-Rümelin, Angewandte Ethik – Die Bereichsethiken und ihre theoretische Fundierung, S. 845. 176 Ebenso im Hinblick auf die Einhaltung des Ethos epistemischer Rationalität und den Vertrauensbestand der Gesellschaft gegenüber dem unabhängigen System Wissenschaft betonend A. Eser, Wahrheit und Wahrhaftigkeit in der Wissenschaft, in: Med-Report 23 (1999), S. 2–3. 175
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tem einer grundsätzlichen Autonomie folgen muss, kann der Wissenschaftler nur durch Wissenschaftler kontrolliert werden und im Grenzfall nur durch sich selbst, was die Moralität des Wissenschaftlers, also auch im Sinne wissenschaftsexterner Verantwortung, mehr noch als in anderen sozialen Bereichen zu einem unabdingbaren Prinzip des Funktionierens der Wissenschaft macht.177 Anders herum formuliert hieße dies, dass die Verfechter des tradierten Wissenschaftsethos ungewollt den Boden für umfassende externe Eingriffe und Kontrollinstitutionen bereiten würden.178 Überdies ergäbe sich bei getrennten Verantwortlichkeitssphären auch ein Konflikt im Hinblick auf den ethischen Aspekt der Einheit der Person.179 Die spezifischen Rechte und Pflichten, die mit spezifischen beruflichen Rollen verknüpft sind, müssen trotz der Ausrichtung auf das eigene berufliche System dennoch einen hinreichend kohärenten Zusammenhang mit der Gesamtheit der normativen Orientierungen einer Person aufweisen, um dieser eine durchgängige Welt- und Handlungsorientierung zu ermöglichen. Der Wissenschaftler ist auch Privatperson, die ihrerseits allgemeinethischen Grundsätzen folgt, und insofern einer Handlungsverantwortlichkeit im allgemeinen Sinne zugetan ist. Eine Aufspaltung in eine wissenschaftliche, öffentliche und eine private Rolle mit je unterschiedlichen normativen Einstellungen erscheint daher als unnatürlicher Zwang.180 Abgesehen von diesen theoretischen Problemen ergeben sich bei der gesellschaftlich-politischen Verantwortungsübernahme auch praktische Probleme, wie sie Dietmar von der Pfordten treffend beschrieben hat.181 Zunächst einmal ist die Gewährleistung tatsächlicher Entscheidungsbefugnis der Betroffenen notwendig, was nur in einer tatsächlich funktionierenden Demokratie möglich ist. Eine solche bedarf nicht nur verfassungsrechtlicher Postulate, sondern muss auch für eine umfassende Information der Bürger Sorge tragen, da nur die umfassende Aufklärung über die Folgen eine tat177 C. F. Gethmann, Die Krise des Wissenschaftsethos, in: Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften (Hrsg.) Ethos der Forschung, S. 29. 178 J. Nida-Rümelin, Wissenschaftsethik, in: Nida-Rümelin, Angewandte Ethik – Die Bereichsethiken und ihre theoretische Fundierung, S. 846. 179 Zum Ganzen ibid., S. 847. 180 Daher ist die Auffassung von K. Hartmann unzutreffend, wenn sie eine saubere Trennung von Ethik und wissenschaftlichem Ethos vollziehen will und dabei eben jenes Spannungsfeld divergierender Rechtfertigungssituationen, auf der einen Seite gegenüber der Wissenschaft und auf der anderen Seite gegenüber der Gesellschaft, eröffnet; Hartmann, Grundsätze guter wissenschaftlicher Praxis unter qualitätssicherungs- und rechtsfolgenbezogenem Blickwinkel – gleichzeitig eine wissenschaftstheoretische und verfassungsrechtliche Betrachtung, S. 39. 181 D. v. d. Pfordten, Zur Verantwortung des Wissenschaftlers für den Transfer seines Wissens in die Gesellschaft, in: Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik, Band 11, S. 13 f.
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sächlich autonome Entscheidung gewährleistet und staatlichen Paternalismus vermeidet. Diese lässt sich umso schwerer verwirklichen je komplizierter die zu Grunde liegenden Sachverhalte sind, für den Wissenschaftler also eine schwer zu bewältigende Arbeit. Dennoch ist eine solche Aufklärungsarbeit möglicherweise noch zu leisten, der Einwand beruht auf potentiell erfüllbaren Forderungen.182 Gravierender ist aber das strukturelle Problem asymmetrischer Wirkbereiche von nationaler oder bestenfalls kontinentaler, demokratischer Entscheidungsbefugnis und global funktionierendem Wissenstransfer.183 Da die Mertonsche Norm des Kommunismus184 und das Kommunikationsmedium Internet eine wissenschaftliche Entdeckung schnell zum globalen Besitz werden lassen, müsste insofern auch der Kreis der zur autonomen Entscheidung Berechtigten global gezogen werden. Im Moment bestehen für den Betroffenen in Deutschland jedoch nur nationale oder europarechtliche Möglichkeiten der politischen Teilhabe an Entscheidungen, das hier erarbeitete Wissen ist jedoch weltweit verfügbar, sobald der Wissenschaftler sich entschließt, es im Sinne des Ethos epistemischer Rationalität zu veröffentlichen. Ein Missbrauch dieses Wissens durch andere ist daher durch die Heimatgesellschaft nicht zu verhindern. Eine im vorliegenden Sinne tatsächlich relevante Entscheidung dürfte demnach nur im globalen Kontext erfolgen.185 Solange diese aber nicht zu leisten ist, ist eine Verantwortungswahrnehmung alleine durch eine nationalstaatliche Gesellschaft nicht ausreichend. 4. Integration des Ethos wissenschaftlicher Verantwortung Festzuhalten bleibt somit, dass eine Aufteilung der Verantwortungswahrnehmung durch Wissenschaftler und Bürger gleichermaßen zum jetzigen Zeitpunkt nicht möglich ist. Folgerichtig müsste daher eine Integration vorgenommen werden, indem das Ethos epistemischer Rationalität um den Aspekt wissenschaftlicher Verantwortung erweitert wird. Dies entspricht auch dem Ergänzungsgedanken den Hans Jonas in seinem „Prinzip Verantwortung“ verwirklicht sehen wollte.186 Die Verantwortung soll also nicht 182 Zur Rolle der nationalen Ethikräte in diesem Zusammenhang vgl. Vöneky, Recht, Moral und Ethik, S. 234 ff. 183 D. v. d. Pfordten, Zur Verantwortung des Wissenschaftlers für den Transfer seines Wissens in die Gesellschaft, in: Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik, Band 11, S. 14. 184 Siehe oben, S. 43. 185 Zu dieser Möglichkeit im Rahmen des Völkerrechts, siehe unten S. 353 ff. 186 M. Werner, Hans Jonas’ Prinzip Verantwortung, in: Düwell, Bioethik – Eine Einführung, S. 42.
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aus dem Wissenschaftsbetrieb auf die politisch-gesellschaftliche Gesamtverantwortung ausgelagert, sondern systemimmanent wahrgenommen werden. Die größten Schwierigkeiten offenbaren sich bei einer solchen Integration im Konfliktfall, wenn also die wissenschaftsexterne Verantwortung in Widerspruch mit der epistemischen Rationalität gerät. In solchen Fällen könnte man die Konflikte zugunsten der einen oder anderen Zielsetzung auflösen, eine solche Vorgehensweise bringt aber naturgemäß Beeinträchtigungen der verschiedenen Interessen mit sich, die sich auch negativ auf die Funktionsbedingungen durchschlagen kann. Für die Wissenschaft wäre die grundsätzliche Priorität der Folgenverantwortung schädlich, sie würde das Ethos epistemischer Rationalität verdrängen und den Erkenntnisvorgang beeinträchtigen. Die außen stehenden Betroffenen werden aber bei einer Gefährdung wichtiger individueller oder kollektiver Interessen berechtigterweise den wissenschaftlichen Fortschritt relativ bewerten. Wie also kann eine verantwortungsorientierte Wissenschaftsethik dieser Problemlage gerecht werden? Nida-Rümelin sieht die Lösung des Konflikts in der Asymmetrie der Handlungsmöglichkeiten. Das Ethos epistemischer Rationalität sei zu einem wesentlichen Teil individualisierbar: Den Handlungsanweisungen der Publikationspflicht, der sorgfältigen Trennung eigenen und fremden Gedankenguts, der getreulichen Quellenangabe, der Wiederholbarkeit und Kontrollierbarkeit von Experimenten und der größtmöglichen Verständlichkeit und Präzision der sprachlichen Darstellung kann der einzelne Wissenschaftler persönlich nachkommen.187 Anders stelle sich dies bei der wissenschaftlichen Verantwortung dar. „Die Umsetzung wissenschaftlicher Forschungsergebnisse in technische, ökonomische und gesellschaftliche Praxis ist Ergebnis kollektiven, korporativen und institutionellen Handelns, zu dem [. . .] der einzelner Wissenschaftler einen minimalen, in vielen Fällen kausal irrelevanten, jedenfalls in keiner Weise abschätzbaren Beitrag leisten kann.“188
Dies verlange in der Konsequenz auch nach kollektiver, korporativer und institutionalisierter Verantwortungswahrnehmung. Die Frage ist jedoch in welcher Form diese sich vollzieht. Im Allgemeinen wird kollektive Verantwortungswahrnehmung durch Gesetzgebung erreicht, wie es auch für die Forschung bereits in weiten Teilen geschehen ist. Der Gesetzgeber kann eine bestimmte Art von Forschung verbieten, wenn diese ersichtlich schwerwiegende Konsequenzen für Dritte hat oder haben kann,189 wobei die Grundrechte als Maßstab dienen. Diese 187 J. Nida-Rümelin, Wissenschaftsethik, in: Nida-Rümelin, Angewandte Ethik – Die Bereichsethiken und ihre theoretische Fundierung, S. 855. 188 Ibid.
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Konsequenzen sind aber für den Gesetzgeber zu diesem Zeitpunkt bereits hinreichend absehbar oder haben sich manifestiert, nur deswegen ist er zur Gesetzgebung überhaupt in der Lage. Jedoch gibt es auch Konsequenzen, die nur durch den eminenten Wissensvorsprung des Wissenschaftlers zu erkennen sind. Eine entsprechende Weitsicht steht dem Gesetzgeber naturgemäß nicht zur Verfügung.190 Daher ist festzuhalten, dass die spezifischen ethischen Probleme wissenschaftlicher Forschung in ihrer Dynamik nicht adäquat durch legislative Akte begleitet und kontrolliert werden können.191 Außerdem „wäre eine ausschließliche juridische Form der kollektiven Verantwortungswahrnehmung unvereinbar mit der Aufrechterhaltung einer, wenn auch begrenzten, wissenschaftlichen Autonomie, die eine direkte Konsequenz des Aufklärungsethos epistemischer Rationalität ist. Die weitgehende Selbstorganisation der Wissenschaft, insbesondere der universitären Grundlagenforschung, wäre durch eine stärkere Juridifizierung gefährdet.“192 Diesem Ergebnis hat sich auch das deutsche Grundgesetz verpflichtet, indem es das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit in umfassender Weise schützt, und auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts folgt dieser Auffassung.193 Einem höheren Grad an Freiheit vor staatlichen Eingriffen entspricht aber auch ein höherer Grad an Eigenverantwortung.194 Wenn eine Verrechtlichung aber der falsche Weg ist, die geforderte Verantwortungswahrnehmung also nicht durch den Gesetzgeber geleistet werden soll, stellt sich damit die Frage, ob dann eine alternative Normsetzung durch Kodizes als Form kollektiver Verantwortungswahrnehmung der Wissenschaft der richtige Weg sein kann. Diese könnten in korporativer oder institutioneller Ver189 Als (bedenkliches) Beispiel ist hier das Gentechnikgesetz zu nennen, das nach seinem Zweck (§ 1 GenTG) die Gefährdungspotenziale der Gentechnik so weit wie möglich ausschließen will. H. Wagner spricht dabei von der gesetzgeberischen Grundannahme des gentechnik-spezifischen „Basisriskos“, das mit der gentechnischen Methode als solcher untrennbar verbunden sei. Da eine Gefährdung im größeren Teil der Fälle aber nicht vorliege, stelle die gesetzliche Präventivkontrolle bereits einen verfassungswidrigen Eingriff in die Forschungsfreiheit dar; H. Wagner, Forschungsfreiheit und Regulierungsdichte NVwZ 1998, 1235 (1241) Insofern erweckt bereits dieses Gesetz Zweifel an der Fähigkeit des Gesetzgebers die wissenschaftliche Folgeverantwortung auch wissenschaftsadäquat zu lösen. 190 Zur positiv zu bewertenden Rolle von Ethikräten in der Politik deren multidisziplinäre Besetzung auch eine wissenschaftliche Perspektive bietet, vgl. Vöneky, Recht, Moral und Ethik, S. 234 ff. 191 J. Nida-Rümelin, Wissenschaftsethik, in: Nida-Rümelin, Angewandte Ethik – Die Bereichsethiken und ihre theoretische Fundierung, S. 855. 192 Ibid. S. 855. 193 Siehe dazu unten, S. 92 ff. 194 Hellmut Wagner, Forschungsfreiheit und Regulierungsdichte, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 1998, 1235 (1242).
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antwortungswahrnehmung durch die Wissenschaftsorganisationen selbst generiert werden, oder durch ein zur Gesetzgebung eigentlich fähiges Organ, das sich aber der soeben festgestellten Beschränkungen seiner Wirkweise entledigt und einen flexibleren Weg der Kodexsetzung außerhalb normativer Rechtssetzungsverfahren wählt. Diese Möglichkeiten sind Hauptuntersuchungsgegenstand dieser Arbeit. Bevor diese Frage aber beantwortet werden kann, werden zunächst einige dieser Richtlinien und Kodizes unterschiedlicher Herkunft untersucht um Konvergenzen und Übereinstimmungen zu ermitteln und der Untersuchung eine Arbeitsgrundlage zu geben. 5. Zusammenfassung Die Wissenschaftsethik ist zunächst denselben ethischen Anforderungen ausgesetzt, die ein jeder handelnde Akteur zu beachten hat, wenn er mit anderen Menschen in Interaktion tritt. Darüber hinaus hat sie aufgrund ihrer Natur und der Wissensüberlegenheit ihrer Adressaten eine spezifischere Rolle in der angewandten Ethik eingenommen. In Fragen der Wissenserzeugung unabhängig von menschlicher Interaktion ist die Wissenschaft dem Ethos der epistemischen Rationalität verpflichtet, das dem einzelnen Wissenschaftler Normen auferlegt, deren Einhaltung im Interesse der Wissenserzeugung selbst liegen. Jedoch hat die Wissenschaft auch bezüglich der Folgen des von ihr erzeugten Wissens eine Verantwortung, die ihre ansonsten autonome Betätigung begleiten soll und muss. Jene Pflichten können aber nicht durch eine hoheitliche Gewalt festgelegt werden. Der Eigenart des Systems Wissenschaft entsprechend müssen diese Normen von ihr selbst generiert werden und auch ihre Durchsetzung sollte nicht staatlich autoritativ gestaltet werden. Der öffentlichen Gewalt müssten daher bei der Grenzziehung der wissenschaftlichen Freiheit selbst Grenzen gesetzt sein, wie es die Grundrechte beispielsweise vermögen. Den jeweiligen Ausprägungen einer Wissenschaftsfreiheit ist in der dieser Untersuchung daher immer ein besonderes Augenmerk gewidmet. Korrespondierend ist die Wissenschaft jedoch selbst wiederum in der Pflicht sich Grenzen zu setzen.
B. Kodizes in der Wissenschaft I. Analyse ausgewählter Richtlinien und Kodizes Bevor eine eingehende rechtswissenschaftliche Analyse jener Steuerungsinstrumente erfolgt, sollen beispielshaft drei verschiedene Kodizes untersucht werden, die bis dato verabschiedet wurden, um ein Bild von der Verbreitungsform zeichnen zu können und eine empirische Grundlage zu schaffen. 1. Der Verhaltenscodex der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Arbeit mit hochpathogenen Mikroorganismen und Toxinen1 Der Verhaltenscodex der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) bietet sich insofern als Untersuchungsobjekt an, als er ein unverbindliches Instrument repräsentiert, das von einer deutschen Forschungsförderungseinrichtung2 erlassen worden ist. a) Entstehung Der Verhaltenscodex wurde am 25. April 2008 vom Präsidium der Deutschen Forschungsgemeinschaft beschlossen und veröffentlicht. Das beschließende Präsidium besteht laut § 5 der Satzung der DFG aus zehn Mitgliedern, dem Präsidenten, acht Vizepräsidenten aus verschiedenen Disziplinen der Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften, sowie dem Präsidenten des Stifterverbandes, der jedoch nur eine beratende Stimme hat. 1
Abrufbar bei der Internetpräsenz der Deutschen Forschungsgemeinschaft unter http://www.dfg.de/download/pdf/dfg_im_profil/reden_stellungnahmen/2008/codex_ dualuse_0804.pdf (zuletzt abgerufen am 24.3.2014); als Eigenname wird in diesem Fall die Schreibweise „Verhaltenscodex“ der DFG übernommen. 2 Die Rechtsnatur der Deutschen Forschungsgemeinschaft ist nicht eindeutig, da sie als privater Verein öffentliche Aufgaben wahrnimmt. In der Literatur spricht man daher von Verwaltung in privater Rechtsform, die zwar verfassungsrechtlichen Bindungen unterliegt, jedoch nur in Formen des Privatrechts handeln kann, vgl. dazu Stefanie Salaw-Hanslmaier, Die Rechtsnatur der Deutschen Forschungsgemeinschaft – Auswirkungen auf den Rechtsschutz des Antragstellers, S. 96 ff.
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b) Inhalt Der Verhaltenscodex ist speziell auf die Forschung mit hochpathogenen Mikroorganismen und Toxinen ausgerichtet.3 Dabei soll er sich ausschließlich der sogenannten „Dual-Use-Problematik“4 widmen. Dieses Problemfeld der missbräuchlichen Verwendung von Erkenntnissen der Grundlagenforschung auf dem Gebiet der Biologie und Chemie wird zunächst in einer Einführung ausführlich beschrieben und dargestellt. Anschließend werden einem Votum des amerikanischen National Research Councils5 folgend, die besonders problematischen Forschungsfelder detailliert beschrieben. Nach der ausführlichen Darstellung, dass und inwieweit die DFG sich der Problematik bewusst ist, wird dann aber postuliert, dass die Forschung auf diesem Gebiet weitergeführt werden müsse, „um die Gesellschaft gegen natürliche Infektionen mit gefährlichen Erregern und gegen mögliche bioterroristische Attacken zu schützen.“6 Die Forschung sollte daher möglichst wenige Restriktionen erfahren. Nachdem in der Einleitung der Konsens bekräftigt wurde, „dass die Sicherheit der Bevölkerung als höchstes Gut zu betrachten ist“, der Forschungs- und Publikationsfreiheit aber ebenfalls große Bedeutung zukomme, wird unter Punkt 2 als Ergebnis einer Abwägung festgehalten, dass der Nutzen der Forschung für die Gesellschaft größer ist als die potenziellen Schäden durch Missbrauch, da der von der Forschung ausgehende Schutz der Bevölkerung gegen Mikroorganismen, sei es durch natürlich vorkommende oder als Angriffsmittel eingesetzte, wichtiger zu bewerten sei, als die Gefahr missbräuchlicher Verwendung. Die Zusammenschau der Bedrohung durch natürliche Mikroorganismen7 und bioterroristische Attacken rechtfertigt daher in den Augen der DFG eine Weiterführung der Forschung und auch eine Verstärkung der Forschung8 auf diesem Ge-
3 Darunter sind vor allem Bakterien, Viren und chemische Stoffe mit Waffenpotenzial zu verstehen. 4 Zu diesem Problemfeld instruktiv, vgl. Deutscher Ethikrat, Biosicherheit – Freiheit und Verantwortung in der Wissenschaft (http://www.ethikrat.org/dateien/pdf/ stellungnahme-biosicherheit.pdf, zuletzt abgerufen am 27.05.2014), S. 83. 5 Ein beratendes Gremium, das von der National Academy of Sciences, der National Academy of Engineering und dem Institute of Medicine gebildet wird, um die Regierung in Wissenschaftsfragen zu beraten, vgl. http://www.nationalacade mies.org/nrc/index.html (zuletzt abgerufen am 24.3.2014). 6 Punkt 2, 2. Satz. 7 Besonders die Pandemiegefahr durch neue Grippeerreger ist immer wieder als Bedrohungsszenario durch die Medien aufgegriffen worden, zuletzt die Schweinegrippe in Mexiko im April 2009, vgl. Süddeutsche Zeitung vom 13.5.2009: Wie schon 1957 – Schweinegrippe ähnelt einer Pandemie vor gut fünfzig Jahren. 8 Siehe vor allem Punkt 7, aber auch 6 und 8.
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biet. Insbesondere dürfe es auch nicht zu einer Einschränkung der Publikationen kommen.9 Nach dieser grundsätzlich forschungsfreundlichen Einführung in das Thema werden dann unter 3. und 4. die Verhaltensanweisungen für die Forschungsfinanzierung seitens der DFG festgelegt. Verständlich werden diese aber erst, wenn das Finanzierungssystem der DFG bekannt ist. Im sogenannten Normalverfahren10 und den koordinierten Programmen11 wird der Geschäftstelle der DFG ein Antrag vorgelegt, der nach einer formalen Prüfung einem wissenschaftlicher Gutachter oder einer Gutachtergruppe zugeteilt wird, die das jeweilige Projekt auf seine Förderungswürdigkeit und die Notwendigkeit der beantragten Ressourcen prüft. Das abschließende Votum des Gutachters wird dann dem zuständigen Fachkollegium übermittelt, das zusätzlich noch einmal die Auswahl der Gutachter überprüft, wie auch deren Voten, bevor letztlich der Hauptausschuss über die Förderung entscheidet.12 In Punkt 3 des Verhaltenscodex wird den Projektleitern von Forschungsvorhaben zunächst eine stärkere Eigenverantwortung abverlangt, die sich dann in ihren Förderungsanträgen reflektieren soll,13 also zunächst eine Stärkung der individuellen Verantwortlichkeit, die Folgen der wissenschaftlichen Arbeit bei der Antragsbegründung mitzubedenken.14 Der Umfang der Begründung in diesem Punkt soll bereits von den Gutachtern beurteilt werden und in einer Empfehlung münden.15 In Punkt 4 wird dann die individuelle Verantwortlichkeitskomponente auf die zur Bewilligung der Förderungsanträge zuständigen Fachkollegien16 übertragen, die sich mit den „Anträgen, die eine ‚Dual-Use-Problematik‘ auf9
Punkt 5; der Wortlaut lässt darauf schließen, dass ein Publikationsverbot gefordert und erwägt wurde. 10 Das Normalverfahren im Sinne der Einzelförderung beansprucht laut Bericht der DFG im Jahre 2010 trotz rückläufiger Tendenz zugunsten der Koordinierten Programme immer noch 34% der vergebenen Gesamtmittel, vgl. http://www.dfg.de/ download/pdf/dfg_im_profil/geschaeftsstelle/publikationen/dfg_jb2010.pdf (zuletzt abgerufen am 24.3.2014). 11 Die koordinierten Programme umfassen die Exzellenzcluster der Exzellenziniative, Schwerpunkt- und Rahmenprogramme, Graduiertenkollegs, Forschergruppen, Forschungszentren und Sonderforschungsbereiche. 12 § 7 der Satzung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (abrufbar unter: http://www.dfg.de/dfg_profil/satzung/index.html; zuletzt abgerufen am 24.3.2014). 13 „Die Projektleiter sollten [. . .] von sich aus in ihren Anträgen auf sensitive Aspekte im Hinblick auf die ‚Dual-Use-Problematik‘ eingehen.“ 14 Zur Mitbedenkenspflicht des Forschers in verfassungsrechtlicher Sicht siehe unten, S. 131 ff. 15 „Die Gutachter können dann die Informationen der Antragsteller beurteilen und eine Empfehlung an die Fachkollegien geben.“ (Punkt 3). 16 § 8 der Satzung der DFG.
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weisen, ausführlich beschäftigen“ sollen. In Fragen der Forschungsfinanzierung ist also im Hinblick auf die Folgenverantwortung der Wissenschaft auf diesem Gebiet eine korporative beziehungsweise institutionelle Verantwortungsübernahme als Ziel ausgegeben. Diese kann durch die Hinzuziehung der zuständigen Senatskommission und des Senats17 sogar noch ausgeweitet werden. Beachtenswert ist noch der Verweis auf die „spezifischen Regularien der entsprechenden Journale“ bei der Publikation von Arbeiten auf diesem Gebiet unter Punkt 5. Dies könnte den Versuch darstellen, auch die Wissenschaftsjournalistik, beziehungsweise -publizistik in die ethische Verantwortlichkeit mit einzubeziehen.18 Abschließend wird eine Weiterentwicklung des „best-practice“-Prozesses im Umgang mit hochpathogenen Mikroorganismen und Toxinen gefordert, vor allem durch nationale und internationale Kooperation mit anderen Organisationen. In diesem Fall dürfte sich der Begriff auf Sicherheitsbelange beziehen, also organisatorische Vorkehrungen, wie mit solchen Organismen und Stoffen umzugehen ist. Sollte nämlich die Verfahrensoptimierung auf die Durchführung der Forschung insgesamt zu beziehen sein, wäre dieser Punkt in Bezug auf den gesamten Kodex wiederholend und von rein deklaratorischem Charakter. c) Bewertung Der Verhaltenscodex der DFG zur Arbeit mit hochpathogenen Mikroorganismen und Toxinen ist im Sinne eines klassischen Ethikkodex19 ausgestaltet, zielt also auf die Sensibilisierung sowohl der durchführenden Wissenschaftler bei der Antragsstellung, als auch der bewilligenden Kollegien ab, um bei den jeweiligen Entscheidungen die Berücksichtigung der Komponente der Dual-Use-Problematik zu gewährleisten. Von der Benutzung eines Imperativs wird entsprechend dieser Intention völlig abgesehen, vielmehr ist die auffordernde Wendung „sollte“ Hauptcharakteristikum. Sanktionierungs- oder Gratifikationsmechanismen werden unmittelbar nicht in Aussicht gestellt. Bei Stellungnahmen wird jeweils eine relativierende Formulierung im Stile von „Die DFG vertritt die Meinung“, „die DFG plädiert dafür“ und „die DFG empfiehlt“ verwendet. Lediglich in 17
§ 6 der Satzung der DFG. Zur Rolle des Wissenschaftsjournalismus in der Wissenschaftsethik, J. NidaRümelin, Wissenschaftsethik, in: Nida-Rümelin, Angewandte Ethik – Die Bereichsethiken und ihre theoretische Fundierung, S. 852 f. 19 Siehe oben, S. 24. 18
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Bezug auf die Fortführung der Forschung auf diesem Gebiet in Punkt 2 ist eine strikte und überzeugende Formulierung gewählt, was die Kernaussage des Verhaltenscodex offenbart: Die DFG ist sich der Problematik bewusst und wünscht sich, dass dies auch für die Forscher zutrifft. Sie ist aber zugleich der Meinung, dass die Wissenschaft selbst mit dem Problem klarkommt, weshalb weder eine Regulierung innerhalb des Wissenschaftssystems notwendig ist, noch eine durch die Politik. Für die rechtliche Relevanz ist jedoch die Frage bedeutend, inwieweit dieser Ethikkodex eine Bindungswirkung erzeugen kann. Als Ansatzpunkt kommt dabei die Antragsstellung in Betracht. Es müssten sich jedoch insofern Konsequenzen der Nichtbeachtung aufzeigen lassen können, die eine bindende Steuerung des Verhaltens von Wissenschaftlern auslösen könnten. Eine Nichtbeachtung wäre die unterlassene Demonstration des Bewusstseins für den potentiellen Dual-Use-Charakter des Vorhabens. Fällt einem erfahrenen Gutachter jedoch eine solche Problematik bei dem Forschungsvorhaben auf, und meldet er diese den Fachkollegien, so könnte den jeweiligen Wissenschaftler zunächst eine Rechtfertigungslast treffen, warum er sich der problematischen Aspekte nicht bewusst war, also nicht die Vorgaben des Kodex bezüglich des Mitbedenkens solcher Folgen umgesetzt hat. Dies bedeutet für einen Wissenschaftler einen möglicherweise doppelten Reputationsverlust: Zum einen könnte der Eindruck entstehen, er praktiziere „unethische“ Forschung, zum anderen könnte in fachlicher Hinsicht die Reichweite seines wissenschaftlichen Denkens in Frage gestellt werden, wenn ein Gutachter oder das Fachkollegium eine solche Problematik entdeckt, der Antragssteller jedoch nicht. Die Bedeutung des Reputationsverlusts ist auch bei der Antragsstellung nicht zu unterschätzen.20 Als bedeutendster Barwert wissenschaftlicher Leistung steigt die Wahrscheinlichkeit der Förderung mit dem wissenschaftlichen Ruf, den man erwirbt. Die DFG und Vertreter einer stärker verantwortungsgebundenen Wissenschaft mögen diese Entwicklung für begrüßenswert halten, die Frage, die aber noch zu beantworten sein wird, ist, ob sich eine solche mittelbare Bindungswirkung des Verhaltenscodex mit der Wissenschaftsfreiheit des Grundgesetzes vereinbaren lässt. Eine gewisse Bindungswirkung ist jedenfalls zunächst festzustellen.
20 Zur Reputation als Grundlage des Wissenschaftssystems aus systemtheoretischer Sicht, vgl. Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 244 ff.
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2. Die Hinweise und Regeln der Max-Planck-Gesellschaft zum verantwortlichen Umgang mit Forschungsfreiheit und Forschungsrisiken21 Einen sehr viel detaillierteren Kodex hat die Max-Planck-Gesellschaft (MPG) für den verantwortungsvollen Umgang mit Forschungsrisiken erlassen, der ebenfalls einen Schwerpunkt bei der Dual-Use-Problematik beziehungsweise der Folgenverantwortung setzt. a) Entstehung Der Kodex wurde von einer Arbeitsgruppe „Sicherheits- und Verteidigungsforschung“ in Zusammenarbeit mit dem Ethikrat der MPG entworfen und vom Senat der MPG verabschiedet. Auslöser der Diskussion um die Notwendigkeit einer ethischen Leitlinie war ein interner Disput über die Ausführungen von Forschungsarbeiten auf bestimmten Gebieten, womit sich das Bedürfnis entwickelte, für solche Zweifelsfälle ein Verfahren zur Schlichtung und Klärung solcher Fragen zu entwickeln. Nach längerer Entwicklungsphase wurden die Regeln am 19. März 2010 verabschiedet. b) Inhalt Der Kodex erschöpft sich nicht nur in der Wiedergabe der ethischen Grundsätze der Forschung, die in der MPG gelten sollen, sondern gibt darüber hinaus eine umfassende Aufklärung über den Umgang mit den rechtlichen und ethischen Implikationen risikobehafteter Forschung. Einleitend wird das Spannungsfeld von Risiko und Nutzen wissenschaftlicher Arbeit skizziert und die Verantwortung der Wissenschaftler der MPG für die Gesellschaft und die Umwelt ausdrücklich betont. Daran anschließend werden als Grenze der Forschung stets zunächst die rechtlichen Vorschriften der jeweiligen Rechtsordnung als maßgeblich erklärt, über die sich jeder Forscher selbst informieren müsste. Zu diesem Zweck wird jedoch auch auf die Compliance-Abteilung der MPG hingewiesen, die dabei Hilfestellung leisten könne.22 Zudem müssten Forscher der MPG im Ausland die einschlägigen nationalen Rechtsordnungen berücksichtigen, dies aber unter dem Vorbehalt, dass deren Rechtsvorschriften nicht gegen höherrangiges
21 Abrufbar im Internet unter http://www.mpg.de/200127/Regeln_Forschungsfrei heit.pdf (zuletzt abgerufen am 24.3.2014). 22 Punkt II. D. 2.
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oder vorrangiges Recht verstoße, insbesondere international geltende Menschenrechte.23 Darüber hinausgehend müssten aber auch ethische Grundsätze beachtet werden, was aus der Eigenart der Wissenschaft und der besonderen Stellung des Wissenschaftlers resultiere. Zielsetzung des Kodex soll es sein im Wege der Selbstregulierung Missbrauch der Forschung zu verhindern und Risiken zu vermeiden, wofür ein Verfahren erarbeitet wurde um ethische Zweifelsfragen besser lösen und Vorwürfen unethischen Verhaltens besser vorbeugen zu können.24 Der Geltungsbereich des Kodex wird dabei weit gezogen, er soll für alle Mitarbeiter der MPG gelten, gleichwohl wird darauf hingewiesen, dass die Forschungsfreiheit je nach Status des Mitarbeiters abgestuft werden müsse und damit auch ein eventuelles Weisungsrecht der Direktoren mitbestimmen kann. Als materielle Vorgabe „soll“ zunächst eine Risikoanalyse vor jedem Forschungsprojekt im Sinne einer Mitbedenkenspflicht für eventuelle Folgen durchgeführt werden.25 Sind Risiken erkannt und für dennoch tragbar erachtet worden, sollen diese jedoch weitest möglich minimiert werden, wofür einzelne Maßnahmen aufgeführt werden.26 Für die Veröffentlichung von Forschungsergebnissen wird zwar deren konstitutive Bedeutung für die Wissenschaft hervorgehoben und die Möglichkeit der Entwicklung von Schutzmaßnahmen bei potenziell gefährlichen Forschungsergebnissen erkannt, gleichzeitig aber auch festgestellt, dass es dennoch Fälle geben kann, in denen eine zeitliche Verzögerung oder eine Modifikation der Veröffentlichung angebracht sein kann. Schließlich wird auch der völlige Verzicht auf Veröffentlichung „als ultima ratio“ erwähnt, ohne dass dabei näher auf die dafür erforderlichen Kriterien eingegangen wird.27 Als tatsächlich letztes Mittel wird dann auch der völlige Verzicht auf Forschung als Option vorgebracht, wobei der Begründungsaufwand an dieser Stelle der Schwere des Eingriffs in die Wissenschaftsfreiheit entspricht.28 Eine Risiko-Nutzen-Analyse müsse durchgeführt und dabei insbesondere eingestellt werden, wie wahrscheinlich ein Schadenseintritt sei, wie hoch der drohende Schaden ausfiele, ob die Erkenntnisse unmittelbar verwendet werden könnten und inwieweit die Verwendung beherrschbar sein könne. 23
Punkt II. B. Punkt II. A. 1. 25 Zur Mitbedenkenspflicht im deutschen Recht siehe S. 131 ff. 26 Punkt II. C. 3.; dort werden unter anderem geeignete Sicherheitsmaßnahmen und auch eine sorgfältige Auswahl der Forschungspartner angeregt. 27 II. C. 4. 28 II. C. 5. 24
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Gleichwohl wird darauf hingewiesen, dass die Analyse auch zu der Erkenntnis führen kann, dass solche Forschung durchgeführt werden könnte, wenn diese von anderen Stellen betrieben würde, und damit die eigene Forschung zur Gefahrenabwehr erforderlich wäre. Schließlich wird eine Dokumentation der erkannten Risiken während der Forschung empfohlen, sowie Maßnahmen zur Aufklärung und Schulung von Wissenschaftlern.29 Die Verantwortlichkeit für die Gefahren einer wissenschaftlichen Arbeit wird in dem Kodex zunächst bei den einzelnen Wissenschaftlern gesehen, die Letztverantwortung jedoch in hierarchischer Struktur den Vorgesetzten zugewiesen, denen auch die rechtliche Aufsichtspflicht obliege.30 In Zweifelsfällen bietet der Kodex der MPG jedoch zusätzlich ein Verfahren vor einer Ethikkommission an, die beratende, vermittelnde und – im Wege der Empfehlung konzipiert – auch eine entscheidende Funktion bezüglich der Durchführung von Forschungsvorhaben hat. Dazu werden dezidierte Vorgaben bezüglich der pluralistischen Besetzung und der Beschlussfassung dieser Kommission gemacht und ein spezifisches Verfahren für betroffene Wissenschaftler und auch für sogenannte „Whistleblower“31 vorgeschrieben. c) Bewertung Auch die Verhaltensregeln der MPG beschränken sich bei der Formulierung ethischer Vorgaben für die Forscher auf weiche, unverbindliche Operatoren, lediglich die Verfahrensvorkehrungen werden mit verbindlichen Formulierungen ausgestattet. Durch diese materiellen Vorgaben in Verbindung mit der Formulierung eines spezifischen Verfahrens verfügt die MPG über einen Kodex, der für Zweifelsfragen ein tatsächliches Konfliktlösungspotenzial bereithält und augenscheinlich mehr sein soll, als eine öffentlichkeitswirksame Maßnahme. Zusätzlich zur Sensibilisierung der Wissenschaftler werden praxistaugliche Möglichkeiten der ethischen Orientierung geboten, die Frage ist, ob mit dieser Form der Normierung nicht bereits die Schwelle zum Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit der für die MPG arbeitenden Wissenschaftler überschritten worden ist. Zur Beurteilung dieser Frage muss aber zunächst noch der Inhalt der für diesen Kodex maßgeblichen Wissenschaftsfreiheit aus Art. 5 Abs. 3 GG geklärt werden, bevor eine tatsächliche rechtliche Bewertung möglich ist. 29
II. C. 6. und 7. II. D. 1. 31 Begriff aus dem amerikanischen für anonyme Anzeigen aus den eigenen Reihen, vgl. zu dieser Thematik in der Wissenschaft die Arbeit von Corinna Schulz, Whistleblowing in der Wissenschaft – Rechtliche Aspekte im Umgang mit wissenschaftlichem Fehlverhalten. 30
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3. Empfehlung der Europäischen Kommission für einen Verhaltenskodex für verantwortungsvolle Forschung im Bereich der Nanowissenschaften und -technologien Das dritte Instrument, das an der dieser Stelle auf seine Grundstruktur untersucht werden soll, ist als Empfehlung der Kommission nach Art. 288 AEUV32 erlassen worden, die den Verhaltenskodex für den Umgang mit Nano-Objekten33 im Anhang enthält.34 Bemerkenswert und daher auch interessant für diese Untersuchung ist dieser Verhaltenskodex im Gegensatz zu vergleichbaren Steuerungsinstrumenten insofern, als er nicht im Wege der Selbstregulierung erging, sondern von einem zur Setzung von Rechtsakten nach Art. 288 AEUV ermächtigten Organ erlassen wurde. a) Entstehung Im Jahr 2000 wurde von der Kommission ein Anstoß „Hin zu einem Europäischen Forschungsraum“35 gegeben, der auf dem Europäischen Forschungsförderungsauftrag aus dem damaligen Art. 163 EGV (heute Art. 179 AEUV) beruhte und „der Forschung in Europa eine neue Dynamik“ verleihen sollte.36 Im selben Dokument wurde jedoch bereits festgestellt, dass in „ethischen Fragen im Zusammenhang mit dem wissenschaftlichen und technischen Fortschritt von Land zu Land unterschiedliche Standpunkte“37 vorzufinden seien, die zwar aufgrund der „bestehenden kulturellen Unterschiede[n] und unterschiedlich strengen moralischen Maßstäben“38, in jedem Fall respektiert werden müssten; auf der anderen Seite müssten aber aufgrund der Problematik weit divergierender Meinungen auf diesem Gebiet versucht werden, „insbesondere in den Bereichen, in denen Programme auf Gemeinschaftsebene verwirklicht werden sollen, einen gemeinsamen Nenner zu finden.“39 Zugleich verfolgte die Kommission zur Behandlung von 32 Damals noch Art. 249 EGV des Vertrags von Nizza; zur rechtlichen Einordnung dieses Instruments und dessen Auswirkungen siehe unten, S. 239 ff. 33 Ein Begriff, den der Kodex selbst einführt und definiert unter 2.(a) als Sammelbegriff für alle Produkte der Nanowissenschaften und Nanotechnologien („NuN“). 34 Empfehlung der Kommission vom 7. Februar 2008 für einen Verhaltenskodex für verantwortungsvolle Forschung im Bereich der Nanowissenschaften und -technologien, ABl. 2008, L-116/46. 35 KOM (2000) 6 endg. (nicht im Amtsblatt veröffentlicht). 36 Ibid. S. 5. 37 Ibid S. 24. 38 Ibid S. 24. 39 Ibid S. 24.
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Risiken für die Gesundheit von Menschen, Tieren oder Pflanzen und für die Umwelt das Ziel, dass sich Einzelpersonen, Unternehmen und Verbände am Vorsorgeprinzip orientieren sollen.40 Dieses Prinzip ist nicht nur Bestandteil des AEUV,41 sondern hat auch in der Praxis einen weiten Anwendungsbereich und zwar „insbesondere in den Fällen, in denen aufgrund einer objektiven wissenschaftlichen Bewertung berechtigter Grund für die Besorgnis besteht, dass die möglichen Gefahren für die Umwelt und die Gesundheit von Menschen, Tieren oder Pflanzen nicht hinnehmbar oder mit dem hohen Schutzniveau der Gemeinschaft unvereinbar sein könnten.“42 Daher sollen für die Entscheidungsträger Leitlinien herausgegeben werden, die eine angemessene Berücksichtigung des Vorsorgeprinzips sicher stellen können.43 Diesen Forschungsgrundsätzen der Kommission folgend wurde für den Bereich der NuN im Jahr 2004 eine europäische Strategie für die Nanotechnologie festgelegt.44 Diese sollte ein integriertes Konzept darstellen, das die europäische Forschung und Entwicklung im Bereich der NuN erhalten und intensivieren sollte.45 Neben den infrastrukturellen und finanziellen Fragen jener Strategie wurden aber auch bereits Regulierungsfragen erörtert,46 sowie auf die Notwendigkeit hingewiesen „ethische Grundsätze“ einzuhalten und gegebenenfalls durch Regulierungsmaßnahmen zu untermauern,47 wo40
Mitteilung der Kommission zur Anwendbarkeit des Vorsorgeprinzips, KOM (2000) 1 vom 2.2.2000. 41 Ausdrücklich festgelegt für die Einhaltung eines hohen Schutzniveaus für die Umwelt in Art. 191 Abs. 2 AEUV. 42 KOM (2000) 1 endg., S. 3. 43 Laut dieser Mitteilung solle die Umsetzung des Vorsorgeprinzips vorsehen, dass für den Fall, dass bei einem Phänomen, Produkt oder Verfahren mit dem Eintritt gefährlicher Folgen gerechnet werden muss und sich das Risiko durch eine wissenschaftliche Bewertung nicht mit hinreichender Sicherheit bestimmen lässt, auf dieses Prinzip zurückgegriffen werden soll, was eine abgestufte Risikoanalyse erforderlich mache, in Form einer Risikobewertung, eines angemessenen Risikomanagements und der Aufklärung über die Risiken. Zur ethischen Evaluation des Vorsorgeprinzips aus deutscher Perspektive, vgl. die Stellungnahme des Deutschen Ethikrats zur „Biosicherheit – Freiheit und Verantwortung in der Wissenschaft“ (http:// www.ethikrat.org/dateien/pdf/stellungnahme-biosicherheit.pdf, zuletzt abgerufen am 27.05.2014), S. 75 ff. 44 Mitteilung der Kommission „Auf dem Weg zu einer europäischen Strategie für Nanotechnologie, KOM (2004) 338 endg. 45 Ibid. S. 3. 46 Ibid. S. 20 (Punkt 3.4.4.), es sollte ein vorausschauendes Konzept entwickelt werden, das eine einheitliche Regulierung auf europäischer Ebene vorbereiten sollte, um eine optimale Risikoverringerung und einen optimalen Gesundheits- und Umweltschutz zu gewährleisten. 47 Ibid. S. 22 (Punkt 3.5.1.), zum Gehalt der ethischen Grundsätze siehe unten S. 258 ff.
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bei ein Moratorium aber von vornherein ausgeschlossen wurde.48 Insbesondere um eine verstärkte internationale Zusammenarbeit zu fördern und diese in gemeinsame Grundsätze einzubetten, sollte ein freiwilliger Rahmen geschaffen werden, „um die EU mit Ländern zusammenzuführen, die im Bereich der Nanotechnologieforschung tätig sind und unser Engagement für deren verantwortungsbewusste Entwicklung mit ihnen zu teilen.“49 Dies sollte in Form eines „Verhaltenskodex“ erfolgen.50 Diesem Anliegen entsprach auch die Zielsetzung des Grünbuchs „Der Europäische Forschungsraum – Neue Perspektiven“51 vom Mai 2007, in dem die Kommission als eine von drei Zielvorgaben des Europäischen Forschungsraums die Förderung von verantwortungsvollem wissenschaftlichem und technologischem Fortschritt forderte, der „innerhalb eines Rahmens gemeinsamer ethischer Grundprinzipien und auf der Grundlage vereinbarter Methoden erfolgen“52 müsse, die Vorbild für den Rest der Welt sein könnten. Als weiterer Motivationspunkt für diese Maßnahme ist eine Stellungnahme der „European Group on Ethics in Science and New Technologies“53 zu bewerten, die am 17. Januar 2007 zum Thema „Ethische Aspekte der Nanomedizin“ veröffentlicht wurde,54 und ebenfalls auf die ethischen Implikationen der Nanomedizin verwies.55 In der Folge wurde am 7. Februar 2008 der Verhaltenskodex für verantwortungsvolle Forschung im Bereich der NuN in Form einer Empfehlung der Kommission herausgegeben. b) Inhalt Der Verhaltenskodex ist auf den spezifischen Forschungsbereich der Nanowissenschaften ausgerichtet und soll in diesem Bereich „Leitlinien an die Hand“ geben, die „ein verantwortungsvolles und offenes Konzept für die NuN-Forschung in der Gemeinschaft unterstützen“56 sollen. Durch die dort aufgestellten allgemeinen Grundsätze und Leitlinien sollen sich die Mitgliedstaaten „bei der Formulierung, Verabschiedung und Durchführung ihrer 48
Ibid. Ibid. S. 25. 50 Ibid. 51 KOM (2007) 161 endg. 52 Ibid. S. 10. 53 Ein Ethikrat auf europäischer Ebene; zu dessen Aufgaben und rechtlicher Einordnung vgl. Vöneky, Recht, Moral und Ethik, S. 317 ff. 54 Diese 21. Stellungnahme der EGE ist abrufbar unter http://ec.europa.eu/bepa/ european-group-ethics/docs/publications/opinion_21_nano_en.pdf (zuletzt abgerufen am 24.3.2014). 55 Zum Einfluss der Stellungnahme der EGE auf den Kodex vgl. unten S. 265 ff. 56 KOM (2008) 424 endg., S. 6. 49
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Strategien zur Entwicklung einer nachhaltigen Forschung im Bereich der NuN [. . .] leiten lassen.“57 Entsprechend dieser Zielsetzung ist der Kodex in vier Teile aufgeteilt, nach einer Einführung werden Gegenstand und Ziel58 sowie Begriffsbestimmungen59 [aa)] festgelegt, anschließend werden in Teil drei zunächst allgemeine Grundsätze aufgestellt60 [bb)], aus denen im vierten und abschließenden Teil die Leitlinien für Maßnahmen jeglicher Art auf dem Gebiet der NuN abgeleitet werden61 [cc)]. aa) Der Entstehungsgeschichte entsprechend hat der Kodex zum Ziel, dem Europäischen Forschungsraum insbesondere bei der Durchführung des NuN-Aktionsplans für Europa62 ein harmonisiertes Konzept auf freiwilliger Basis zur Seite zu stellen, um dabei auf einen „sicheren, ethisch vertretbaren und wirksamen Rahmen“63 für die gesamte NuN-Forschung in der Gemeinschaft zurückgreifen zu können. Der Kodex soll aber auch „ferner Europa als Basis für den Dialog mit Drittländern und internationalen Organisationen dienen.“64 Diese subsidiäre Formulierung am Ende der Zielbestimmungen korrespondiert zunächst nicht mit dem im Strategiepapier alleinstehenden Hauptmotiv der internationalen Koordinierung. Dieses sah vor, „[g]emeinsame Grundsätze für die Forschung und Entwicklung im Bereich der Nanotechnologie“ in einen freiwilligen Rahmen einzubetten.65 Die primäre Zielsetzung im Kodex zeigt aber auf, dass durch diesen zunächst sichergestellt werden soll, dass überhaupt gemeinsame Grundsätze bestehen, wenn nicht gar erst solche geschaffen werden sollen. Adressat jenes Kodex sind laut Einführung nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch Arbeitgeber, Forschungsförderer, Forscher und generell alle Bürger und Organisationen der Zivilgesellschaft, die an der Forschung im Bereich der NuN beteiligt oder interessiert sind.66 Es ist im Kodex selbst insoweit ein universeller Geltungsanspruch beabsichtigt, der sich dem Wortlaut der vorangestellten Empfehlung nach aber erst durch die Mitgliedsstaaten realisieren lassen soll,67 indem diese bei ihren eigenen Maßnahmen sich 57
KOM (2008) 424 endg., S. 4. Ibid. S. 6. 59 Ibid. 60 Ibid. S. 7. 61 Ibid. S. 8. 62 KOM (2005) 243 endg. vom 7.6.2005. 63 KOM (2008) 424 endg., S. 6 (Punkt 1.). 64 KOM (2008) 424 endg., S. 6 (Punkt 1.). 65 KOM (2004) 338 endg., S. 25. 66 KOM (2008) 424 endg., S. 6, vgl. auch die entsprechende Begriffsbestimmung für „NuN-Akteure“ auf S. 7. 67 Ibid. S. 4, wobei sich sämtliche Empfehlungen allein an die Mitgliedstaaten richten. 58
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von den Grundsätzen und Leitlinien des Kodex leiten lassen und darauf hinwirken, dass der Kodex auf freiwilliger Basis von den NuN-Akteuren übernommen wird. Dennoch lässt sich feststellen, dass der Begriff des Kodex verwendet wird, um den Adressatenkreis auf natürliche und juristische Personen der Wissenschaft zu erweitern und eine Verpflichtung über diejenige der Mitgliedsstaaten hinaus bestehen soll. Die Wahl des Instruments in Verbindung mit der Unverbindlichkeit des Rahmeninstruments der Empfehlung soll insofern die Einwirkungsmöglichkeiten der Union vergrößern. bb) Die allgemeinen Grundsätze des Kodex sollen das Fundament der Leitlinien bilden und insoweit die Wertungen aufzeigen, anhand derer die Kommission die NuN leiten will. Als Basis wird der Grundsatz formuliert, dass die NuN „das Wohlergehen der Bürger und der Gesellschaft insgesamt im Auge haben“68 sollten. Daher muss eine nachhaltige Entwicklung gefördert69, das Vorsorgeprinzip beachtet70 und Schäden für Menschen, Tiere, Pflanzen und Umwelt vermieden, insofern auch die Grundrechte respektiert werden.71 Die Forderung nach Offenheit der Forschung zur Ermöglichung der Integration aller Interessierten und Akteure wird daneben als Ziel ebenso ausgegeben, wie die Einhaltung höchster wissenschaftlicher Standards und die Förderung von Innovation und Wachstum. Besondere Beachtung verdient jedoch der zuletzt formulierte Grundsatz einer Rechenschaftspflicht. Danach sollen „Forscher und Forschungseinrichtungen [. . .] für die möglichen sozialen, ökologischen und gesundheitlichen Folgen ihrer NuNForschung für die heutige und für künftige Generationen zur Rechenschaft gezogen werden können.“72 Dieser Grundsatz formuliert eine Wertung, die nicht auf allgemein geteilten Überzeugungen fußt.73 Der Befund, die Kommission rekapituliere nicht nur gemeinsame Grundsätze, sondern schöpfe diese, wird dadurch bestätigt. cc) Die im vierten Teil konkret formulierten Verhaltensanweisungen in Form von Leitlinien, greifen die Grundsatzfragen wieder auf, gehen aber auch darüber hinaus. Das Vorsorgeprinzip umsetzend werden die NuN-Akteure aufgefordert Maßnahmen zu ergreifen, die eine Risikobewertung von NuN-Forschung ermöglichen sollen und zwar sowohl durch Entwicklung von Verfahren und Instrumenten, als auch durch konkrete Forschungsvorgaben auf dem Gebiet.74 Die Aufklärung der Wissenschaftler wie auch der 68
Ibid. S. 7, Punkt 3.1. Punkt 3.2. 70 Punkt 3.3. 71 Punkt 3.1 und 3.3 kombiniert. 72 Punkt 3.7. 73 Vgl. die Ausführungen zuvor zur umstrittenen Folgenverantwortung in der Wissenschaftsethik, S. 49 ff. 69
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Bevölkerung durch konkrete Maßnahmen zur Verwirklichung des Grundsatzes der Integration aller Akteure wird in mehreren Leitlinien behandelt,75 wie auch die Festlegung bestimmter Grundzüge der guten wissenschaftlichen Praxis im Sinne der oben beschriebenen epistemischen Rationalität,76 um den in Punkt 3.5 festgeschriebenen Exzellenzgrundsatz umzusetzen, der im Sinne „guter Laborpraxis“ auch Sicherheitsregelungen für die Wissenschaftler erfordert.77 Als Auslöser faktischer Bindungswirkung müssen aber diejenigen Vorgaben als kontrovers im Sinne dieser Untersuchung angesehen werden, die tatsächliche Handlungserwartungen postulieren. Die Aufforderung zur Verbreitung des Verhaltenskodex durch Mitgliedstaaten (4.1.1) und Forschungsförderungseinrichtungen (4.3.1 und 4.3.2), unterstützt durch ein Verfahren der Überwachung (4.3.3), soll eine übereinstimmende Praxis der NuN-Forschung in Europa gewährleisten. Hauptanknüpfungspunkt soll dabei die Finanzierung der Forschung sein. Beleg für diese Ausrichtung des Kodex ist die mehrheitliche Adressierung der Leitlinien an Forschungsförderungseinrichtungen.78 Diese werden durch den Kodex aufgefordert im Rahmen ihrer Tätigkeit dessen Einhaltung zu beachten und zu dokumentieren.79 Vor allem bei der Formulierung von Forschungsanträgen soll der Kodex dabei seine Wirkung entfalten, was zwar nur in Punkt 4.2.3 ausdrücklich so dargelegt wird; eine anderweitige Verhinderung der Finanzierung von Forschung, die im Sinne von Punkt 4.1.15 ein Potenzial zur Gefährdung von Grundrechten oder „ethischen Prinzipien“ besitzt, ist aber kaum vorstellbar. Nur ein bereits mit einer Bewertung bezüglich solcher Risiken versehener Antrag darf laut dem Kodex in Betracht gezogen werden. Eine gesonderte Betrachtung verdient Punkt 4.1.4. Abgesehen von der Herausstellung der Wichtigkeit einer wissenschaftlichen Integrität im Sinne epistemischer Rationalität, sollen auch „fragwürdige Praktiken“80 im Sinne 74 KOM (2008) 424 endg., S. 6, Punkte 4.1.8, 4.1.11, 4.1.14, 4.2, 4.2.1 und 4.2.3 bis 4.2.7; konkrete Forschungsvorgaben werden außerdem in 4.1.13, 4.1.16 und 4.1.17 gemacht. 75 Punkte 4.1.2, 4.1.9, 4.1.10, 4.2.2, 4.3.2. 76 Punkte 4.1.3, 4.1.4, vgl. zur epistemischen Rationalität Kap. 2, 3. a). 77 Punkte 4.2.1 und 4.2.2. 78 Forschungsförderungseinrichtungen werden in 40% der Leitlinien als Adressat genannt, Forscher und Forschungseinrichtungen in 33%, die Mitgliedsstaaten in 27%. 79 Punkte 4.1.12 bis 4.1.14, insbesondere aber 4.1.15. in dem unter der Überschrift „Verbote und Einschränkungen“ die Formulierung „sollte“ gewählt wird, der aber eine Finanzierung kritischer Projekte untersagen will. 80 Ausführungen zum Bedeutungsgehalt des Begriffs bleibt die Kommission schuldig, als Verhaltensanweisung könnte dieser Punkt daher zu unbestimmt sein.
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B. Kodizes in der Wissenschaft
des Ethos wissenschaftlicher Verantwortung „bekämpft werden“ und zwar nicht nur um die Gesellschaft vor den Risiken für Gesundheit, Sicherheit und Umwelt zu schützen, sondern auch um die NuN-Forschung nicht in Misskredit zu bringen. Der Schutz der NuN selber wird in dieser Vorschrift auf dieselbe Stufe gestellt, wie der Schutz der Gesellschaft. Als Interpretation dessen kann man zu dem Schluss kommen, dass die Kommission bei der Abwägung zwischen einer freier Wissenschaft und dem Schutz der Menschen keinen Vorrang für Letzteren ermitteln konnte, also zumindest einen gleichgewichtigen Rang vorsieht. Überraschend ist auch die Tatsache, dass der mit Blick auf die Wissenschaftsfreiheit bedenkliche Grundsatz in Punkt 3.7, der eine Rechenschaftspflicht für Forscher und Forschungseinrichtungen vorsieht, sich nicht in den Leitlinien wiederfindet. Eine Forderung nach Rechenschaft der Forschung wird demnach zwar erhoben, aber nicht weiterverfolgt, sie steht vielmehr im Raum, ohne dass Anweisungen ersichtlich wären, wie eine solche Rechenschaftspflicht umsetzbar sein könnte. c) Bewertung Der Verhaltenskodex der Kommission für verantwortungsvolle Forschung im Bereich der NuN gibt den Adressaten konkrete Verhaltensanweisungen für den Umgang mit der NuN und kann in der Terminologie dieser Untersuchung als Verhaltenskodex klassifiziert werden. aa) Ethische Vertretbarkeit Als problematisch muss der Verhaltenskodex insofern betrachtet werden, als er wichtige Begriffe zu unbestimmt verwendet. Vor allem der Begriff der „ethischen Vertretbarkeit“81 ist in dieser Hinsicht zu nennen.82 Als Grundsatz der NuN-Forschung in Europa wird in Punkt 3.2 des Kodex eine sichere und ethisch vertretbare Forschung gefordert, woraus sich nicht ergibt, welche Kriterien eine solche Forschung leiten müssten. Sucht man innerhalb des Kodex nach einer weitergehenden Erläuterung, ergibt sich aus Punkt 4.1.6, dass „insbesondere“ die Wahrung der Grundrechte bei der ethischen Analyse von nanotechnologischer Forschung durch nationale und lo81
Vgl. die 13. Erwägung des Kodexes (S. 4), 4. Empfehlung, Grundsatz 3.2, Leitlinie 4.1.15 und 4.2.7. 82 Ebenso S. Vöneky/J.v.Achenbach, Stellungnahme zu der „Empfehlung der Kommission für einen Verhaltenskodex für verantwortungsvolle Forschung im Bereich der NuN“, abrufbar unter http://www.jura.uni-freiburg.de/institute/ioeffr2/on line-papers/ForschungsgruppeIP_6_2008_Eukodex (zuletzt abgerufen am 24.3.2014).
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kale Ethikausschüsse zu beachten sei. Die Grundrechte sind jedoch, wie Punkt 4.1.15 feststellt, neben den grundlegenden ethischen Prinzipien zu beachten, können also als alleiniges Kriterium ethisch vertretbarer Forschung nicht dienen.83 Die diesem Punkt nachfolgenden 4.1.16 und 4.1.17 erklären zwar spezifische Fälle unethischen Verhaltens, in diesen kann sich der Anwendungsbereich des Kodex aber nicht erschöpfen, wenn er den Anspruch verfolgt, eine insgesamt sichere und ethisch vertretbare Forschung voranzutreiben. In der Mitteilung der Kommission zur europäischen Strategie für Nanotechnologie84 hingegen findet sich eine genaue Aufzählung der grundlegenden ethischen Werte, an denen sich die Forschung zu orientieren habe:85 Die Achtung der Menschenwürde, individuelle Autonomie, Gerechtigkeit und das Wohlbefinden,86 aber auch die Freiheit der Forschung und das Prinzip der Verhältnismäßigkeit. Es stellt sich somit die Frage, warum diese Aufzählung nicht im Kodex gelungen ist, zumal auch ein Verweis innerhalb des Kodex auf diesen Passus nicht zu finden ist. Ohne eine solche Konkretisierung ist es dem Anwender des Kodex nicht möglich die genauen Vorstellungen der Kommission von ethisch vertretbarer Forschung zu identifizieren, was angesichts des universellen Geltungsanspruchs für alle NuN-Akteure problematisch sein wird.87 bb) Bindungswirkung des Verhaltenskodex Der Kodex entfaltet, in Widerspruch zu seiner Bezeichnung und seiner Selbstdefinition in Punkt 1 als Offerte freiwilliger Einhaltung, eine faktische Bindungswirkung. Die Kommission benennt ausgehend von der Expertise der European Group on Ethics in Science and New Technologies einen Rahmen der ethischen Vertretbarkeit,88 der nach der Zielsetzung des 83 Auch in der einleitenden Empfehlung in der 13. Erwägung und der 4. Empfehlung lässt sich keine nähere Bestimmung des Begriffs „ethisch vertretbar“ finden. 84 KOM (2004) 338 endg., S. 22. 85 Diese Werte finden sich laut dieser Mitteilung in der Europäischen Charta der Grundrechte wieder sowie weiteren europäischen und internationalen Dokumenten, die aber wegen des Fußnotennachweises auf eine nicht mehr gültige Internetadresse nicht mehr nachzuvollziehen sind. 86 Die drei Prinzipien „autonomy“, „justice“ und „benificence“ (vgl. die engl. Übersetzung der Mitteilung) sind den „principles of biomedical ethics“ von Beauchamp und Childress entnommen, obwohl unklar bleibt, warum das grundlegende vierte Prinzip der „nonmaleficence“ unerwähnt bleibt; vgl. Tom L. Beauchamp/ James F. Childress, Principles of biomedical ethics. 87 Daraus resultiert nämlich die Frage, ob durch eine solche fehlende Erläuterung ein Verstoß gegen den Bestimmtheitsgrundsatz vorliegen könnte, vgl. S. 275 ff.
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B. Kodizes in der Wissenschaft
Kodex in Punkt 1 das gesamte Handlungsspektrum der nachstehenden Leitlinien bestimmt.89 Damit muss unweigerlich jegliches abweichende Handeln von Wissenschaftlern von diesen Leitlinien als unethisch zu qualifizieren sein90 und mithin illegitim.91 Eine Nichtbeachtung des Kodex ist daher für wissenschaftliche Akteure im europäischen Forschungsraum schwer vorstellbar, will man sich nicht der Gefahr einer reputationsschädigenden92 Brandmarkung durch die Feststellung eines Verstoßes gegen den Verhaltenskodex aussetzen,93 was zutreffend als Steuerungsfaktor des „Prangereffekts“ bezeichnet wurde.94 Diese Bindungswirkung entfaltet der Verhaltenskodex freilich nur dann, wenn die ethische Norm der Desinteressiertheit,95 also die Freiheit von allen außerwissenschaftlichen Interessen, auch für den jeweiligen Adressaten tatsächlich gilt. Wird er jedoch von anderen Interessen geleitet, ist er womöglich gegen eine solche Wirkweise immun. Für diesen Fall hält der Kodex noch eine weitere Möglichkeit der Beeinflussung bereit, die eine faktische Bindungswirkung erzeugt. Diese noch gewichtigere Möglichkeit, da von konstitutiver Relevanz für die Forschung,96 ist die Auswirkung des Ver88
Ohne diesen ausreichend zu konkretisieren, vgl. vorigen Abschnitt. In diesem Punkt 1 wird im ersten Absatz der gesamte Verhaltenskodex zum Maßstab eines „sicheren, ethisch vertretbaren und wirksamen Rahmen[s]“ der europäischen NuN-Forschung gemacht. 90 S. Vöneky/J. v. Achenbach, Stellungnahme zu der „Empfehlung der Kommission für einen Verhaltenskodex für verantwortungsvolle Forschung im Bereich der NuN“, S. 3. 91 „Illegitim“ soll hier heißen, dass keine Übereinstimmung mit den bestimmten, kontextspezifischen Standards mehr vorliegt. Nur legitimes Handeln ist „berechtigt, begründet, vertretbar, rechtmäßig oder allgemein anerkannt und verdient eben darum eine besondere Beachtung und Behandlung.“, W. Hinsch, Legitimität, in: Gosepath/Hinsch/Rössler, Handbuch der politischen Philosophie und Sozialphilosophie, S. 704. 92 Zur Reputation als einzig legitimes Anreizsystem im Sinne der Wissenschaftsethik, oben S. 45 und Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 244 ff. 93 Diese Möglichkeit ist natürlich davon abhängig, inwieweit tatsächlich nach den Vorgaben des Kodexes die Überwachung der Einhaltung (Punkt 4.3.3.) stattfindet, was wiederum von der Kooperationsbereitschaft der Mitgliedsstaaten abhängt. 94 M. Schmidt-Preuß, Verwaltung und Verwaltungsrecht zwischen gesellschaftlicher Selbstregulierung und staatlicher Steuerung, in: Hailbronner/Schmidt-Preuß, Kontrolle der auswärtigen Gewalt, S. 187. 95 Siehe oben, S. 43 ff. 96 H.-H. Trute dazu: „Moderne Forschung ist ohne erhebliche Finanzmittel nicht denkbar [. . .]. Die Finanzierung der Wissenschaft ist ihre Achillesferse, denn die Gewährung der Finanzmittel und die zweckbestimmte Konditionierung der Mittel entscheiden über die Möglichkeit der Freiheitsausübung und eröffnen dadurch thematisch Steuerungsmöglichkeiten des Wissenschafts- und Forschungsprozesses.“ (S. 412); „Die Entscheidung über Geldmittel sind im Bereich der Wissenschaft im89
I. Analyse ausgewählter Richtlinien und Kodizes
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haltenskodex auf die Praxis der Förderung und Finanzierung. Im Rahmen des 7. EU-Forschungsrahmenprogramms (FRP)97 sind für die Erforschung der Möglichkeiten und Risiken der NuN Mittel in Höhe von rund 3,5 Milliarden Euro bereit gestellt worden. Im Regelfall der dadurch finanzierten Vertragsforschung98 müssen die jeweiligen Forschungseinrichtungen und Forscher99 ihre Vorhaben und Vorschläge zum Erhalt der Zuschüsse direkt bei der Kommission einreichen.100 Die gesamte Forschungsförderung ist aber im Rahmen der Regulierung des 7. FRP auf die Beachtung ethischer Grundprinzipien verpflichtet,101 wodurch die im Kodex erfolgte Vorgabe „ethisch vertretbarer“ Forschung im Bereich NuN zur allein finanzierungsfähigen Forschung wird. Damit könnte jedoch eine folgenschwere Begründungslastumkehr einhergehen. Je nach Gewicht, das der einzelne Adressat aufgrund seiner staatlichen Herkunft der Wissenschaftsfreiheit beimisst, könnte sich hier eine Verschiebung ergeben. Geht man aufgrund einer stark ausgeprägten Wissenschaftsfreiheit von hohem Verfassungsrang von einer Vermutung zugunsten dieser Freiheit aus, die Abweichungen rechtfertigungsbedürftig machen,102 so ergibt sich nun eine Begründungslast, dass sich das jeweilige Vorhaben als zulässige Ausübung der Forschungsfreiheit darstellt. Diese Begründungslast dürfte ihre Auswirkungen vor allem in der Beantragung der Forschungsfinanzierung haben.103 mer auch Entscheidungen über Sachfragen.“ (S. 427), in: Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung. 97 Entscheidung des Rates über das spezifische Programm „Zusammenarbeit“ vom 19.12.2006 ABl. EG L 400/86, S. 142, in dem die NuN als spezieller Förderungspunkt ausgewiesen sind. Das 7. Forschungsrahmenprogramm wird im Folgenden mit 7. FRP abgekürzt. 98 A. Kallmayer Art. 166 Rn. 9, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV/GRC-Kommentar, Auch als „indirekte Aktion“ im Rahmen von Art. 182 AEUV (ehemals Art. 166 EGV) bezeichnet, in Abgrenzung zu den „direkten Aktionen“, also Forschungsvorhaben, die direkt von der Gemeinsamen Forschungsstelle durchgeführt werden, einer Generaldirektion der Kommission. 99 Als Adressaten des Kodex nach Punkt 2. (c) des Verhaltenskodex. 100 A. Kallmayer, Art. 166 Rn. 9, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV/GRC-Kommentar; J. Hilf, Art. 166 Rn. 43, in: Hans von der Groeben/Jürgen Schwarze (Hrsg.), Kommentar zum Vertrag über die Europäische Union und zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft. 101 Vgl. Art. 4 Abs. 1 der Entscheidung des Rates über das spezifische Programm Zusammenarbeit (Fn. 97) in dem die Beachtung der ethischen Grundprinzipien bei allen Forschungsmaßnahmen gefordert wird; ferner Art. 15 Abs. 2 der Entscheidung des Rates zur Festlegung der Regeln für die Beteiligung von Unternehmen, Forschungszentren und Hochschulen an Maßnahmen des Siebten Rahmenprogramms (ABl. EG L 391/1 vom 30.12.2006), nach dem Vorschläge, die in Widerspruch zu „grundlegenden ethischen Prinzipien“ stehen, nicht ausgewählt werden. 102 So für das deutsche Grundrecht H. Wagner, Forschungsfreiheit und Regulierungsdichte, NVwZ 1998, 1235 (1240).
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B. Kodizes in der Wissenschaft
Die gesamte von der Europäischen Gemeinschaft geförderte NuN-Forschung steht insofern unter dem Vorbehalt der Übereinstimmung mit dem Verhaltenskodex, und der Darstellung von Übereinstimmungsmerkmalen mit dessen Forschungsvorgaben. Daher ist eine starke faktische und mithin auch normative Bindungswirkung als Resultat festzuhalten.
II. Ethikkodizes im deutschen Recht Auf der ersten Ebene widmet sich die Untersuchung im Folgenden dem deutschen Recht. Um eine Einordnung der unverbindlichen Steuerungsinstrumente zu ermöglichen, soll zunächst auf den Begriff der „Unverbindlichkeit“ eingegangen werden, also die Frage der Geltung im deutschen Recht näher erörtert werden. Anschließend wird eine Untersuchung ähnlicher Sachbereiche erfolgen, deren hohes Maß an Eigensteuerung zu einer intensiven, auch rechtswissenschaftlichen Untersuchungsdichte geführt hat und die insofern wichtige Anhaltspunkte geben könnten. Das Hauptcharakteristikum dieser ersten Ebene, die Wissenschaftsfreiheit nach Art. 5 Abs. 3 GG, wird anschließend ausführlich analysiert werden. Erst wenn die dogmatische Verortung und der Inhalt jenes Grundrechts geklärt sind, lässt sich die spezifische Wirkungsweise von Kodizes in der Wissenschaft erkennen. Der Schwerpunkt wird in der Folge auf dem Zusammenspiel grundrechtlicher Garantien mit ethischen Steuerungsansprüchen liegen. 1. Die Unverbindlichkeit von Steuerungsinstrumenten Den bislang analysierten Kodizes entsprechend sollen nur die rechtlich unverbindlichen Steuerungsformen den Gegenstand der Erörterung bilden. Damit ist aber sogleich die Frage aufgeworfen, inwiefern im deutschen Recht eine Verhaltenssteuerung durch wissenschaftliche Organisationen oder Institutionen unverbindlich sein kann und welche Voraussetzungen eine solche hat oder gerade nicht erfüllen darf. Die rechtswissenschaftliche Literatur befasste sich in der Vergangenheit bereits umfassend mit unverbindlichen Absprachen im Umweltrecht zwischen Staat und Wirtschaft, den nach außen hin rechtlich unverbindlichen Verwaltungsvorschriften, unverbindlichen Leitlinien im medizinischen Bereich und die unverbindlichen technischen Normen. Aus diesen Referenzgebieten104 können erste Anhalts103 Eine ausführliche Darstellung des Stellenwerts der Wissenschaftsfreiheit in Deutschland und der Auswirkung dieser Begründungslastverteilung findet sich im folgenden Kapitel 5 ab S. 92 ff. 104 Zur Bedeutung von Referenzgebieten in der neuen Verwaltungsrechtswissenschaft als Möglichkeit des dialektischen Diskurses aus Deduktion und Induktion vgl.
II. Ethikkodizes im deutschen Recht
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punkte für die rechtlichen Wirkungen von originär unverbindlichen Instrumenten gewonnen werden. Die Frage der Verbindlichkeit ist jedoch zunächst eng mit dem Begriff der Geltung verknüpft, denn die Geltung verleiht einer Regel erst die Verbindlichkeit eines Sollenssatz der Rechtsordnung, sie begründet den Anspruch des Rechts auf Erfüllung und Beachtung.105 Gesucht werden daher Kriterien, die Recht von „Nichtrecht“106 abzugrenzen vermögen. Was denn das Recht sei, gehört wohl zu den umstrittensten Fragen der Rechtsphilosophie.107 Als Negativbestimmung lässt sich aus dem Grundgesetz ablesen, dass sich das Recht nicht in den Gesetzen des Staates erschöpfen kann, was in Deutschland aus der Bindung der Gewalten an „Gesetz und Recht“ in Art. 20 Abs. 3 GG gefolgert werden kann,108 es muss also nach deutschem Verfassungsverständnis eine darüber hinaus gehende Definition geben. Die jeweilige Antwort als Positivbestimmung ist durch die verschiedenen Konzeptionen des Rechtsbegriffs bedingt, deren Abweichung voneinander von unterschiedlichen rechtsphilosophischen Standpunkten herrührt. So wenig aber der Streit zwischen Strömungen des Rechtspositivismus und des Naturrechts gelöst werden kann,109 so wenig kann ein allgemein geteilter Rechtsbegriff und allgemeine Geltungsregeln gefunden werden. Dementsprechend sind auch die Kriterien der Verbindlichkeit und der Geltung von Recht, die in der Literatur diskutiert werden, äußerst zahlreich. Die Unterschiedlichkeit dieser Kriterien beruht auf eben jenen unterschiedlichen rechtsphilosophischen Ansätzen. Jedoch lassen sich einige der Kriterien zusammenfassen und für die Frage der Unverbindlichkeit der hier untersuchten Steuerungsinstrumente von vornherein negativ beantworten, A. Voßkuhle, Neue Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle, Grundlagen des Verwaltungsrechts, S. 38 f. 105 Ferdinand Kirchhof, Private Rechtsetzung, S. 40. 106 Vgl. den Begriff bei Christian Starck, Der Gesetzesbegriff des Grundgesetzes – ein Beitrag zum juristischen Gesetzesbegriff, S. 22, der darunter alle Normen versteht, die weder in Freiheits- oder Eigentumsrechte eingreifen, noch Willenssphären von Rechtssubjekte abgrenzen, als Gegenstück zu seiner Rechtsdefinition. Nichtrecht soll daher den Gegensatz zum jeweiligen Begriff des Rechts bilden. 107 Vgl. die aktuellen Beiträge von P. Koller, Der Begriff des Rechts und seine Konzeptionen und D. von der Pfordten, Was ist Recht?, in: Winfried Brugger/Ulfrid Neumann/Stephan Kirste (Hrsg.), Rechtsphilosophie im 21. Jahrhundert, Vöneky, Recht, Moral und Ethik, S. 39 ff. und Kirchhof, Private Rechtsetzung, S. 31 ff.; instruktiv mit Beiträgen von H. Kelsen, H. L. A. Hart u. a.: N. Hörster (Hrsg.), Recht und Moral (Stuttgart, Reclam, 1987). 108 BVerfGE 34, 269 (286). 109 P. Koller, Der Begriff des Rechts und seine Konzeptionen, in: Brugger/Neumann/Kirste, Rechtsphilosophie im einundzwanzigsten Jahrhundert, S. 158. Zur zweitausendjährigen Geschichte dieser Diskussion Robert Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, S. 15.
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B. Kodizes in der Wissenschaft
andere werden noch Schwierigkeiten für die weitere rechtliche Beurteilung bereiten. Für den Anfang kann jedoch zunächst eine Einschränkung des Untersuchungsgegenstandes erfolgen, denn die zu untersuchenden Normen werden regelmäßig nur als positive Normen im Sinne einer schriftlich niedergelegten Verhaltenserwartung in Erscheinung treten. Insofern lassen sich die insoweit umstrittenen Institute des Richterrechts und des Gewohnheitsrechts110 aus der Untersuchung zunächst ausblenden. Außerdem sollen weiterhin nur Normen erfasst werden, die allgemein und abstrakt gelten. Sie sollen als dauerhafte Strukturelemente von Gruppen und Institutionen dienen und müssen daher an einen unbestimmten, aber nach generellen Merkmalen bestimmbaren Adressatenkreis gerichtet sein und nicht nur Einzelfälle regeln, sondern auch alle gleichen, künftigen, abstrakt umschriebenen Tatbestände regeln.111 Für eine Bewertung von positiven Normen mit Rechtsgeltung lässt sich zunächst eine unproblematische und althergebrachte Unterscheidung eines Begriffspaars stellen, nämlich die des formellen und materiellen Gesetzes. Diese Begriffe gehen auf Paul Laband zurück und bezeichnen Rechtssätze oder Rechtsnormen mit unterschiedlichen Eigenschaften und Anforderungen.112 Wie bereits erwähnt sind die hier untersuchten Steuerungsinstrumente nicht unter den Begriff des formellen Gesetzes fassbar, denn dieser erfordert ein verfassungsrechtlich vorgeschriebenes Verfahren, eine Zusammenarbeit bestimmter Staatsorgane von der Gesetzesinitiative bis zur Verkündung.113 Damit sei nicht gesagt, dass die Verbindlichkeit notwendig mit diesen formellen Anforderungen zusammenhängt, denn es gibt gerade auch „Willensäußerungen“ des Staates, die „keinen verbindlichen Inhalt besitzen, mit einem Worte unverbindliche Gesetze.“114 Förmlichkeit resultiert nur aus einem bestimmten Verfahren, und bestimmt damit nicht über den Inhalt des Gesetzes, wenn auch konstatiert werden muss, dass regelmäßig im Wege des formellen Gesetzes verbind110
Vgl. dazu umfassend Ulrich Meyer-Cording, Die Rechtsnormen, S. 66 ff. Ibid., S. 25 f. 112 Paul Laband, Das Staatsrecht des deutschen Reiches, Bd. II S. 1 ff. Zu den Ursprüngen des Begriffspaars vgl. auch F. Ossenbühl, § 100 Gesetz und Recht – Die Rechtsquellen im demokratischen Rechtsstaat, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. V S. 139 f. 113 Starck, Der Gesetzesbegriff des Grundgesetzes – ein Beitrag zum juristischen Gesetzesbegriff, S. 21. 114 Georg Jellinek, Gesetz und Verordnung – staatsrechtliche Untersuchungen auf rechtsgeschichtlicher und rechtsvergleichender Grundlage, S. 232. Davon ging auch das BVerfG schon aus in BVerfGE 1, 396 (410) „Für das Normenkontrollverfahren ist es ohne Bedeutung, ob das zu prüfende Gesetz materielle Rechtssätze enthält. Auch ein Gesetz das keine Rechte und Pflichten für den Staatsbürger begründet ist der Normenkontrolle [. . .] zugänglich.“ 111
II. Ethikkodizes im deutschen Recht
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liche Normen geschaffen werden. Die Kriterien der Verbindlichkeit lassen sich jedoch nur aus dem materiellen Gesetzesbegriff gewinnen.115 Der materielle Gesetzesbegriff bezeichnet nach dem ursprünglichen Verständnis die rechtsverbindliche Anordnung eines Rechtssatzes.116 Er knüpft an den Inhalt an und umfasst damit jeden Rechtssatz, jede Rechtsnorm, gleich welchen Ursprungs sie ist oder welche äußere Form sie hat.117 Allein mit dieser Begriffsbildung ist freilich noch nicht viel gewonnen, denn hier beginnt erst die Arbeit mit der Frage, welche Anforderungen an einen Rechtssatz zu stellen sind, damit er als verbindliche Anordnung im Sinne eines materiellen Gesetzes gelten kann. a) Wille des Normgebers als Kriterium Laband selbst formulierte als Anforderung an einen materiellen, verbindlichen Rechtssatz das subjektive Element der Verbindlichkeitserklärung,118 also der Wille des Normgebers eine verbindliche Norm zu schaffen.119 Die Norm müsse daher in zwei Bestandteile aufgegliedert werden, den Norminhalt und den Normbefehl. Die Verbindlichkeitsanordnung in Form des Normbefehls ist aber gerade dasjenige Element, das den hier untersuchten Steuerungsformen fehlen dürfte, im Gegenteil wird zum Teil explizit die Freiwilligkeit der Befolgung ausgedrückt.120 In den Kodizes werden bewusst ausschließlich deontische Operatoren wie „sollen“ und „sollten“ verwendet.121 Die verwendeten Begriffe sprechen damit gegen einen Willen 115
Ibid., S. 240. Laband, Das Staatsrecht des deutschen Reiches, Bd. II S. 2. 117 Diesem Begriff ebenfalls folgend Starck, Der Gesetzesbegriff des Grundgesetzes – ein Beitrag zum juristischen Gesetzesbegriff, S. 21; F. Ossenbühl, § 100 Gesetz und Recht – Die Rechtsquellen im demokratischen Rechtsstaat, in: Isensee/ Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. V S. 140; Jochen Taupitz, Die Standesordnungen der freien Berufe – geschichtliche Entwicklung, Funktionen, Stellung im Rechtssystem, S. 567 f. 118 Laband, Das Staatsrecht des deutschen Reiches, Bd. II S. 4. 119 So auch Jellinek, Gesetz und Verordnung – staatsrechtliche Untersuchungen auf rechtsgeschichtlicher und rechtsvergleichender Grundlage, S. 226 ff., vgl. auch BayVerfGH BayVBl. 1980, 46 (47): „. . . Willen des Normgebers . . .“, „. . . das subjektive Merkmal der Anordnung, das für die Existenz einer Rechtsvorschrift Voraussetzung ist.“ bzgl. der Rechtsnatur eines Gelöbnisses in der Berufsordnung für Ärzte; Taupitz, Die Standesordnungen der freien Berufe – geschichtliche Entwicklung, Funktionen, Stellung im Rechtssystem, S. 567 f. 120 Vgl. den Verhaltenskodex für verantwortungsvolle Forschung im Bereich der Nanowissenschaften und -technologien der EU-Kommission, KOM (2008) 424 endg. vom 7.2.2008 unter 1. Gegenstand und Ziel: „Seine Einhaltung ist freiwillig“. 121 Vgl. den Verhaltenskodex zur Arbeit mit hochpathogenen Mikrorganismen und Toxinen der DFG. 116
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B. Kodizes in der Wissenschaft
des Urhebers, verbindliche Normen zu schaffen, die Gründe dieser Intention sind bereits aufgezählt. Wäre das subjektive Element aus der Normgeberperspektive daher tatsächlich notwendige Bedingung für die Bezeichnung als materiellen Rechtssatz, so wäre die Qualität dieser Instrumente als Nichtrecht bereits von vornherein klargestellt. Jedoch könnte man die Perspektive dabei in Frage stellen, denn gerade in den Fällen, die eine rechtliche Regelung mangels Kompetenz ausschließen oder wegen einer bestimmten Grundrechtsrelevanz besondere Anforderungen stellen, könnte der Normgeber bewusst seinen Willen zur verbindlichen Regelung vordergründig ausschließen und sich damit gerichtlichen Normenkontrollmechanismen entziehen,122 gleichzeitig aber inhaltlich eine faktische Bindungswirkung zu erzeugen versuchen, die einer Zwangswirkung gleichkommt. Ob eine solche Zwangswirkung auch eine Rechtswirkung ist, ist aber gerade eine entscheidende Frage bei der Begriffsbildung des Rechts und muss noch diskutiert werden. Könnte der Normsetzer aber nach Belieben seine Vorschriften etikettieren, so käme dies auch einer freien Disposition über den Rechtsbegriff gleich.123 Will man daher den Willen des Normgebers nicht als hinreichendes Kriterium würdigen, so ist es doch einleuchtend, ihn zumindest als Indiz oder gar als Ausgangspunkt zu nehmen, denn wenn eine normsetzende Stelle auch zur Gewalt- oder Zwangsanwendung befugt ist,124 so muss der Normadressat diese Möglichkeit zunächst vordergründig auch erkennen können. Der Normgeber sollte aber jedenfalls seinen Willen zur verbindlichen Normsetzung klarstellen um die Befolgung seiner Anweisung zu erreichen und dieser Wille sollte in der Folge auch Berücksichtigung finden bei einer Evaluation des Charakters einer Norm. Nur auf diese Weise ist Rechtssicherheit erreichbar. Daher sollten umgekehrt, aus der hier interessierenden Perspektive, die unverbindlichen Steuerungsinstrumente jegliche Anzeichen eines Normbefehls vermeiden, um Verbindlichkeitserwägungen von vornherein ausschließen zu können. b) Rechtsschutzmöglichkeit als Kriterium Ausgehend von den angesprochenen Normenkontrollmechanismen könnte man auch als Kriterium der materiellen Rechtsnorm die Möglichkeit des Rechtsschutzes gegen eine solche in Betracht ziehen. Um Verwaltungsnor122 Lothar Michael, Rechtsetzende Gewalt im kooperierenden Verfassungsstaat – normprägende und normersetzende Absprachen zwischen Staat und Wirtschaft, S. 629. 123 So auch Fritz Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, S. 177. Dieser argumentiert jedoch mit einer Disposition über die Verfassung, deren objektiven, systematischen Vorgaben die Rechtssatzeigenschaft zu entnehmen sei. 124 Zur Normsetzungsbefugnis vgl. unten d).
II. Ethikkodizes im deutschen Recht
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men von Rechtsnormen abgrenzen zu können, hat Ernst Forsthoff als vordringlichstes Kriterium in einem Rechtsstaat ein Höchstmaß an Rechtsschutz identifiziert. Im Zweifel gelte daher der Satz: „Eine Norm ist jedenfalls dann als Rechtssatz und Rechtsnorm anzusehen, wenn die Verneinung dieser Eigenschaft dem vom Vollzug der Norm Betroffenen den Rechtsschutz vorenthalten würde, der ihm nach Lage der Umstände nicht vorenthalten werden kann, ohne ihn einer von der Rechtsordnung nach ihrer auf Rechtsschutz hin tendierenden Gesamtstruktur missbilligten Benachteiligung auszusetzen.“125 Nach einer solchen Ansicht wären also im Ergebnis Rechtsnatur und Rechtsschutzbedürfnis gleichzusetzen. Dagegen ist jedoch zu Recht der Einwand vorgebracht worden, es würden Ursache und Wirkung verwechselt,126 denn vor dem Schutz gegen das Recht steht das Recht selbst.127 Der Rechtsstaatgedanke basiert nicht nur auf einer dominierende Rolle des Rechtsschutzes; vielmehr stellt dieser nur eines von mehreren gleichrangigen Prinzipien dar, die das komplexe Rechtsstaatsprinzip ausmachen. Weder aus diesem Prinzip noch aus logischen Gründen kann daher das Rechtsschutzbedürfnis in Form von Normenkontrollmechanismen ein Kriterium für den Rechtscharakter von Normen sein. c) Der Norminhalt als Kriterium Nachdem äußere Faktoren der Normsetzung keine Erfolg versprechenden Kriterien bieten konnten, könnte sich der Inhalt von Normen als Schlüssel zur Verbindlichkeit darstellen. Dabei kommen eine unmittelbare und eine mittelbare inhaltliche Argumentation in Betracht: zum einen die Wirkungen einer Rechtsnorm als Verbindlichkeitsmaßstab und zum anderen die Fähigkeit des Normgebers bestimmte Inhalte auch verbindlich regeln zu können, mithin die Regelungskompetenz als Verbindlichkeitsbedingung. Verschiedentlich wird der Rechtsbegriff dadurch charakterisiert, dass genau dann Recht vorliegt, wenn Willenssphären von Rechtssubjekten abgegrenzt werden oder in Freiheit und Eigentum der Bürger eingegriffen wird.128 Weiterhin wird davon gesprochen, dass Bürger durch Recht unmittelbar berechtigt oder gebunden werden129 oder dass die bestehende Rechtslage verändert oder auf eine neue Grundlage gestellt werden müsste.130 Zu125 Ernst Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts – Band 1 Allgemeiner Teil, S. 141. 126 Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, S. 176. 127 Ibid. ebenso bereits Bachof JZ 1956, 35 (36), Starck DVBl. 1966, 614. 128 Starck, Der Gesetzesbegriff des Grundgesetzes – ein Beitrag zum juristischen Gesetzesbegriff, S. 22. 129 Maunz BayVBl. 1966, 347. 130 OVG Münster VerwRspr. 4, 533 (538).
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mindest bei der letzten Bestimmung kommt man in einen bereits vielfach festgestellten Zirkelschluss. Wenn man die Rechtsnatur einer Norm danach beurteilt, dass sie die Rechtslage verändert, müsste die Norm dafür aber gerade einen Rechtssatzcharakter haben, denn nur ein Rechtssatz könne die Rechtslage verändern.131 Aber auch wenn man nicht von einer Änderung der Rechtslage ausgeht, sondern von den tatsächlichen Wirkungen, der Betroffenheit der Adressaten, die von einem solchen Instrument ausgehen, wird die Zirkelschlussproblematik virulent.132 Man könnte annehmen, dass sich der Rechtssatzcharakter dann feststellen lässt, wenn Adressaten aus einer Norm Rechte ableiten können oder Pflichten herauslesen müssten; wenn also Ansprüche begründet werden oder Handlungspflichten mit eventuellen Sanktionierungsmöglichkeiten bei Nichtbefolgung aus einer Norm resultieren. Gleichzeitig ist die Behauptung aber möglicherweise berechtigt, dass Rechte und Pflichten von Adressaten nur dann aus einer Norm abgeleitet werden können, wenn es sich auch um einen Rechtssatz handelt. Die kaum lösbare Frage im Sinne eines „Hexenkreises“133 lautet zusammengefasst, ob eine Norm eine Rechtsnorm ist, weil sie Rechte und Pflichten begründet oder werden Rechte und Pflichten begründet, weil eine Rechtsnorm vorliegt. Der einzige Ausweg aus diesem Zirkel liegt in der Ablehnung der Inhaltsevaluation als Kriterium der Rechtsverbindlichkeit und die Suche nach Alternativen, die Klarheit in dieser Frage bringen. d) Die Normsetzungsbefugnis als Kriterium Ein vielversprechendes Kriterium ist die Normsetzungsbefugnis des jeweiligen Urhebers. Auch wenn es den Regelfall darstellt, so ist in Deutschland nicht allein der Staat zur Setzung von verbindlichen Normen befugt.134 Auch vom Staat unabhängige öffentlich-rechtliche Körperschaften sowie private Personenmehrheiten können Normen setzen. Dabei stellt sich nur die Frage, ob sie diese aus eigener Rechtssetzungsmacht verbindlich setzen, ob sie zur Rechtsetzung ermächtigt wurden im Sinne einer Verleihung dieser Macht oder ob sie nur Formulierungsarbeit leisten dürfen, während der Geltungsbefehl sich originär von anderen Stellen ableitet in Form einer An131
So bereits Bachof, JZ 1956, 35 (36). Vgl. Ossenbühl, Verwaltungsvorschriften und Grundgesetz, S. 179 f. 133 Ibid., S. 180. 134 Einem alleinigen Normsetzungsmonopol des Staates hat bereits das BVerfG in der Facharztentscheidung von 1972 eine Absage erteilt, vgl. E 33, 125 (158 ff.). Dort wurde es auch unter Grundrechtsschutzgesichtspunkten für zulässig erachtet, dass der Gesetzgeber einen Berufsverband mit Satzungsgewalt ausstattet, um dessen „Sachverstand für die Findung ‚richtigen‘ Rechts zu nutzen“. (159). 132
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erkennung, insbesondere vom Staat, also einer generellen Vorenthaltung und nur punktuellen, nachträglichen Einräumung von Rechtssetzungsmacht. Die ganz überwiegende Meinung in Deutschland sieht die erste Option als nicht mehr vertretbar an. Die Ansicht, dass vor allem Verbände aufgrund ihrer sozialen Mächtigkeit, ihrer Autonomie und ihrer korporativ verfestigten Struktur geltendes Recht setzen könnten, rührt von Otto von Gierkes deutschrechtlicher Analyse der Genossenschaften her und ist insofern auch noch in einem anderen zeitgeschichtlichen Kontext eingebettet, der den starken Verbänden des 19. Jahrhunderts weitgehend zu Gute kam. Dennoch wurde auf dieser Grundlage vor allem im Arbeitsrecht die Auffassung der Rechtsquellentheorie für den Tarifvertrag entwickelt, die ein auf Vertrag beruhendes objektives Recht hervorzubringen vermochte,135 und im Verbandsrecht die Normentheorie für private Satzungen.136 Damit wurden originären Rechtsgeschäften zwischen Privaten, die die künftige Vertragslage abstrakt regeln Allgemeinverbindlichkeit zuteil, die dem Rechtsgeschäft Normcharakter verleihen sollten. Für den Tarifvertrag wurden jene Konstruktionen alsbald obsolet, da ihnen durch die §§ 1 Abs. 1 und 4 Abs. 1 Tarifvertragsgesetz sowie Art. 9 Abs 3 GG durch den Gesetzgeber der Rechtsnormcharakter zugesprochen wurde, eine Ableitung eines solchen Charakters aus eigener Verbandsmacht wurde damit hinfällig, auch wenn die Versuche dazu nicht abrissen.137 Anderes gilt jedoch noch für die Verbandssatzungen, deren Normcharakter weiterhin umstritten ist.138 Für diese Form von verhaltenssteuernden Instrumenten muss daher dann eine genauere Bestimmung der Geltung erfolgen, wenn sie ihre Normsetzung nicht auf einen staatlichen Anerkennungsakt oder Geltungsbefehl zurückführen können. Das Bundesverfassungsgericht hat dagegen bereits in der Facharztentscheidung von 1972 klargestellt, dass sich die Satzungsautonomie für Berufsverbände, die eine wirksame Rechtssetzung gegenüber ihren Mitgliedern ermöglicht, sich allein aus einem staatlichen Verleihungsakt ableitet.139 Dieser Befund der mangelnden eigenen Rechtsetzungskompetenz, die nur durch einen staatlichen Geltungsbefehl kompensiert werden kann, also die Anerkennung eines Rechtsquellenmonopols des Staates, ist auch in der verfas135 Vgl. die Darstellung bei Reinhard Richardi, Kollektivgewalt und Individualwille bei der Gestaltung des Arbeitsverhältnisses, S. 15 ff. 136 Vgl. Gregor Bachmann, Private Ordnung – Grundlagen ziviler Regelsetzung, S. 109 f. 137 Ibid., S. 124 f. 138 Eine ausführliche Darstellung des Streitstandes zwischen Vertragstheorie, Normtheorie und modifizierter Normtheorie bietet Reuter, in: Kurt Rebmann/Franz Jürgen Säcker (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, § 25 Rn. 16 ff. 139 BVerfGE 33, 125 (156 ff.).
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sungsrechtlichen Literatur absolut vorherrschend.140 Wenn also in Deutschland nach dieser Ansicht etwas als Recht erkannt werden soll, dann muss es sich dabei entweder um ein parlamentarisches Gesetz handeln oder infolge eines staatlichen Anerkennungs-141 oder Verleihungsakts mit einem Geltungsbefehl des Staates142 ausgestattet sein.143 Woher die Kompetenz des Staates herrührt, jenen Geltungsbefehl erlassen zu können, mag unterschiedlich beantwortet werden, sei es eine wie auch immer geartete „Grundnorm“,144 Vertrags- und Anerkennungstheorien145 oder die Souveränität des Gemeinwillens.146 Jegliche Steuerungsform menschlichen Verhaltens kann nach dieser vorherrschenden Ansicht nur dann als Recht anerkannt sein, wenn sie auch vom Staat als Recht anerkannt ist. Für die positiven Normen privater Rechtsetzung bedeutet dies, dass sich rechtlich verbindliche Steuerungsformen zum einen aufgrund der staatlich verliehenen Satzungsautonomie erzeugen lassen, für die positiven Steuerungsformen öffentlich-rechtlicher Stellen als Vertreter der Exekutive kann sich dies zum anderen auch beispielsweise aus einer Verordnungsermächtigung im Sinne von Art. 80 I GG ergeben. Steht für letztere Möglichkeit eine verfassungsrechtliche Verankerung fest, so ist dies bei der Satzungsautonomie öffentlich-rechtlicher Selbstverwaltungskörperschaften umstritten. Während das Bundesverfassungsgericht einen Verleihungsakt als Ausdruck des wesentlichen Elements der Selbstverwaltung sieht,147 wollen vereinzelte Autoren ebenfalls Art. 80 140 Meyer-Cording, Die Rechtsnormen, S. 57; Paul Kirchhof, Rechtsquellen und Grundgesetz, in: Christian Starck (Hrsg.) Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz – Festgabe aus Anlaß des 25-jährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts, S. 57; F. Kirchhof, Private Rechtsetzung, S. 52 f.; Bachmann, Private Ordnung – Grundlagen ziviler Regelsetzung, S. 62 f.; Taupitz, Die Standesordnungen der freien Berufe – geschichtliche Entwicklung, Funktionen, Stellung im Rechtssystem, S. 595. 141 So vor allem die Terminologie von Kirchhof, Private Rechtsetzung, vgl. S. 139 ff. 142 Bzw. mit einem solchen Geltungsbefehl der EU-Organe. 143 In diesem Sinne auch F. Kirchhof, der zwischen der einaktigen Rechtsschöpfung von staatlichem Recht und der zweiaktigen Rechtsschöpfung bei privater Rechtssetzung durch Regelerzeugung und staatliche Anerkennung unterscheidet, Kirchhof, Private Rechtsetzung, S. 53. 144 Hans Kelsen, Reine Rechtslehre – Einleitung in die rechtswissenschaftliche Problematik, S. 196 ff. 145 Vgl. die Darstellung bei Klaus F. Röhl/Hans Christian Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 316 ff. 146 Vgl. die Ansätze bei Meyer-Cording, Die Rechtsnormen, S. 57 f.; Hermann Heller, Die Souveränität – ein Beitrag zur Theorie des Staats- und Völkerrechts, S. 46 ff. und Kelsen, Reine Rechtslehre – Einleitung in die rechtswissenschaftliche Problematik, S. 62 ff.
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GG analog anwenden.148 Dieser Rechtsstreit mag aber an dieser Stelle dahinstehen, da er den Befund nicht zu ändern vermag, dass nur anhand einer staatlichen Anordnung ein Instrument zur Verbindlichkeit gelangen kann. Wenn und soweit es sich in dieser Untersuchung daher um unverbindliche Normen handeln soll, darf einer solchen zunächst keine staatliche Anerkennung als Recht zukommen. Ist die setzende Stelle hingegen von vornherein mit Rechtssetzungsmacht im Sinne einer Satzungsautonomie oder Verordnungsermächtigung ausgestattet, darf zwar nicht jede allgemeine und abstrakte Äußerung als rechtsverbindlich angesehen werden. An dieser Stelle wird dann wieder der Wille zur verbindlichen Normsetzung als zusätzliches Kriterium herangezogen werden. Alleiniges Untersuchungsmerkmal soll der Wille dabei aber nicht sein. Denn wie bereits gezeigt, ist der Wille zur verbindlichen Normsetzung in bestimmten Fällen aufgrund kompetenzieller Mängel oder rechtlicher und tatsächlicher Hindernisse zuweilen verdeckt. Dann aber ist die Normsetzungsbefugnis als Kriterium in die Überlegung mit einzubeziehen, ob die Norm als verbindlich angesehen werden kann und somit Rechtswirkungen erzeugt. e) Das Sonderproblem rein privater Rechtsetzung als Ausdruck der Privatautonomie Das soeben diskutierte Kriterium der Normsetzungsbefugnis könnte aber noch eine Erweiterung benötigen, wenn man die Existenz rein privaten Rechts ohne einen Anerkennungsakt oder eine Befugnisverleihung betrachtet. Denn neben den staatlichen Stellen wie öffentlich-rechtlichen Selbstverwaltungskörperschaften und exekutivischer Administrativgewalt, die ihre Befugnis zur Rechtsetzung auf diese Weise ableiten können, ist auch die rein private Rechtsetzung für die Rechtswissenschaft von großer Bedeutung,149 gerade auch für diese Untersuchung. Diese weitere Problematisierung ist der Tatsache geschuldet, dass einige der hier untersuchten Instrumente von privaten Vereinen und Verbänden erlassen werden.150 Die Normsetzungsbefugnis der privaten Verbände ist jedoch schon seit den Zeiten 147
BVerfGE 12, 319 (325). So z. B. Andreas Hamann, Autonome Satzungen und Verfassungsrecht, S. 76 ff. 149 Vgl. die umfangreichen Arbeiten dazu von Meyer-Cording, Die Rechtsnormen, (1971); Kirchhof, Private Rechtsetzung, (1987); Bachmann, Private Ordnung – Grundlagen ziviler Regelsetzung, (2006). 150 So sind die Max-Planck-Gesellschaft und die Deutsche Forschungsgemeinschaft als außeruniversitäre Forschungseinrichtungen eingetragene Vereine des privaten Rechts, vgl. Salaw-Hanslmaier, Die Rechtsnatur der Deutschen Forschungsgemeinschaft – Auswirkungen auf den Rechtsschutz des Antragstellers, S. 99 ff.; Meusel, Außeruniversitäre Forschung im Wissenschaftsrecht, S. 10. 148
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Otto von Gierkes umstritten, zumal seit der weitgehenden Anerkennung des staatlichen Rechtsquellenmonopols. Kern dieser Debatte ist die Unterscheidung von heteronomer und autonomer Rechtssetzung. Während erstere Formulierung den Umstand beschreibt, dass ein von außen oder von einer dritten Stelle gesetztes und insofern fremdbestimmtes Recht geschaffen wird, beschreibt die autonome Rechtssetzung den Vorgang interpersoneller Rechtserzeugung, das aber dann auch nur zwischen den beteiligten Parteien Geltung und Verbindlichkeit beansprucht. Eine solche Rechtssetzung ist dabei Ausdruck der in Deutschland verfassungsrechtlich verankerten151 und auch in anderen freiheitlichen Staaten als Grundprinzip menschlicher Freiheit anerkannten Privatautonomie, eine Autonomie also, die es dem Einzelnen frei stellt, ob er sich rechtlichen Bindungen unterwerfen will. Im Bereich des „normalen“ Vertragsrechts funktioniert diese Unterscheidung ohne weiteres, problematisch wird es erst dann, wenn die Ausübung der Privatautonomie Wirkungen für Dritte erzeugen kann, wie es beim Verbandsrechts der Fall ist.152 Der Verein nach deutschem Recht in § 21 ff. BGB muss gemäß § 25 BGB eine Satzung als Verfassung haben, die von den Gründungsmitgliedern verabschiedet wird. Entfaltet aber eine solche Satzung Wirkungen gegenüber Nichtmitgliedern, so stellt sich die Frage, ob sie dies aus rechtlicher Sicht überhaupt kann, bedenkt man die Ausgangsprämisse, dass die Verbindlichkeit der Satzung auf der Privatautonomie alleine der Gründungsmitglieder beruht. Des Weiteren entfaltet die Satzung auch gegenüber den Mitgliedern potentielle Heteronomität, indem diese durch Mehrheitsentscheidungen der anderen Mitglieder zu Lasten der Minderheit geändert werden kann. Eine Entzugsmöglichkeit dieser potenziell belastenden Änderungen ist aber nur durch völligen Austritt aus dem ganzen Subsystem möglich ist, bei Vereinen mit monopolartiger Stellung auch nur eingeschränkt und nur mit Wirkung für die Zukunft.153 Die Frage ist also, ob eine Gruppe von Menschen einen Verband kraft ihrer Privatautonomie verbindlich mit Rechtswirkungen begründen kann, der in seiner von den Mitgliedern unabhängigen Fortgeltung auch auf andere Wirkungen ausüben kann, insofern also zu heteronomem Recht mutiert. Im Fall eines freiwilligen Beitritts oder freiwilliger vertraglicher Beziehungen mit dem Verband oder Verein ist die Ausgangslage zunächst unproblematisch. Der Außenstehende schließt entweder kraft seiner Privatautonomie einen Vertrag der Mitgliedschaft, der für beide Seiten Rechte und Pflichten begründet,154 151 Vgl. Di Fabio, in: Theodor Maunz/Günter Dürig (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, Art. 2 Rn. 101 ff. 152 Vgl. dazu für den Bereich des Sports die Reiter-Entscheidung, BGHZ 128, 93; kritisch Bachmann, Private Ordnung – Grundlagen ziviler Regelsetzung, S. 303 f. 153 Kirchhof, Private Rechtsetzung, S. 267.
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oder gründet sonstige vertragliche Beziehungen mit dem Verein oder Verband, die aber allesamt die jeweils geltenden Regeln mit einbezieht im Sinne einer Anerkennung jener Regeln.155 Insofern bestehen keine Begründungszwänge eines heteronomen Rechts. Zwei Faktoren könnten diese jedoch auslösen: Zum einen ist die Realität mächtiger sozialer und wirtschaftlicher Verbände mittlerweile erkannt worden,156 die eine andere Betrachtung der Satzungsgewalt rechtfertigen kann. Zum anderen wird das Mitglied eines Vereins nach seinem freiwilligen Eintritt mit Entscheidungen konfrontiert, denen es beim Eintrittsvertrag nicht zugestimmt hat, da die Bedingungen durch Mehrheitsentscheidungen verändert werden konnten. Diese beiden Aspekte haben zu einer veränderten Sichtweise der privaten Regeln von Verbänden geführt. Der Streit um die Rechtsnatur von Vereinssatzungen wird durch drei Ansichten bestimmt, die Vertragstheorie,157 die Normtheorie und die modifizierte Normtheorie. Die Vertragstheorie will dabei die Privatautonomie grundsätzlich in den Vordergrund stellen und bestimmt daher die Satzung eines Vereins auch als rein rechtsgeschäftlichen Vertrag. Beitritt und Austritt sind dabei ebenso als Rechtsgeschäfte zu behandeln, jegliche Kontrolle dieser Satzung und der daraus entstehenden Rechten und Pflichten unterliegt den privatrechtlichen Maßstäben des BGB.158 Demgegenüber sieht die Normtheorie in der Tradition Otto von Gierkes die Vereinssatzung als „objektives Gesetz, das durch schöpferischen Gesamtakt entsteht und sich den Mitgliedern vom Erwerb der Mitgliedschaft an verpflichtend auferlegt.“159 Die Grundlage einer solchen Rechtssetzungsbefugnis wird in der in Art. 9 Abs. 1 GG verankerten Vereinsautonomie gesehen, die es den Vereinen erlaube objektives Recht zu setzen. Es werde eine Ordnung des Vereinslebens geschaffen, die im engen Bereich des Vereinslebens die gleiche Funktion 154
G. Weick, in: Julius von Staudinger/Hermann Dilcher/Karl-Dieter Albrecht, §§ 21 – 103 – J. von Staudingers Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch mit Einführungsgesetz und Nebengesetzen, Vorbem. zu §§ 21 ff. Rn. 50. 155 Die Anerkennung kann dabei im Rahmen eines anderen Vertrags, durch Lizenz oder durch speziellen Einzelvertrag erfolgen, vgl. für den sportrechtlichen Bereich Clarissa Bohn, Regel und Recht – Wechselwirkungen zwischen Verbandsrecht und staatlichem Recht und deren strukturelle Besonderheiten, S. 26 f. Vgl. auch die Terminologie als Erstreckungs- oder Unterwerfungsvertrag bei Reuter, in: Rebmann/ Säcker, Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, § 25 Rn. 29. 156 Vgl. BGHZ 105, 306. 157 Nicht mit der Vertragstheorie eines John Rawls bspw. zu verwechseln. 158 G. Weick, in: Staudinger/Dilcher/Albrecht, §§ 21–103 – J. von Staudingers Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch mit Einführungsgesetz und Nebengesetzen, 1. Buch, Allgemeiner Teil, Vorbem. zu §§ 21 ff. Rn. 35 ff. 159 Reuter, in: Rebmann/Säcker, Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, § 25 Rn. 16 ff.
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wahrnehme, wie es das staatliche Gesetz für den weiten Bereich des gesellschaftlichen Lebens müsse.160 Damit wird aber auch eine staatlich delegierte Normsetzungsbefugnis über Art. 9 I GG161 und § 25 BGB angenommen, womit sich die Ansicht in die soeben beschriebene Systematik einfügt. Dadurch seien aber auch Gestaltungsfreiheit und Auslegungsmöglichkeiten den Grenzen von staatlichen Gesetzen untergeordnet und sind demnach nicht so weitreichend, wie die Möglichkeiten und Zugrundelegung der Privatautonomie. Einen vermittelnden, aber umstrittenen Weg beschreitet der Bundesgerichtshof mit der modifizierten Normtheorie. Die Gründung des Vereins vollzieht sich durch einen Vertrag, mit der Entstehung des Vereins löse die Satzung sich aber völlig von der der juristischen Person des Vereins und erlange ein unabhängiges rechtliches Eigenleben.162 Die somit vollzogene „Metamorphose der Satzungsvorschriften vom Vertragsinhalt in Normen“ als „Zäsur im Geltungsgrund“163 kann von den Gegnern dieser These zwar nicht nachvollzogen werden. Es sprechen jedoch praktische Gründe für die Ansicht des Bundesgerichtshofs: Die Gründung des Vereins vollzieht sich nach den Vorschriften des BGB in dem die Vereinsvorschriften verankert sind. Gleichzeitig wird damit aber dem Umstand Rechnung getragen, dass die Satzung in ihrem Fortbestand unabhängig vom Willen der Gründungsmitglieder behandelt und ausgelegt werden muss.164 Relative Einigkeit herrscht jedoch bei den praktischen Auswirkungen der angesprochenen Vereinsproblematik. Die Unabhängigkeit vom Mitgliederbestand erfordert Schranken bei der Geltendmachung von Willensmängeln bei der Gründung ebenso wie eine Auslegung unabhängig vom Willen der Gründungsmitglieder alleine nach objektiven Maßstäben.165 Ferner bedürfe das Mitglied aufgrund besonderer Gefährdungen eines Schutzes, der über das Maß gewöhnlicher Austauschverträge hinausgeht. Insofern könne auch 160
Ibid. Vgl. auch Meyer-Cording, Die Rechtsnormen, S. 83 f., der auf den Begriff „Verfassung“ des § 25 BGB rekurriert, wie es auch schon das Reichsgericht in frühen Entscheidungen getan hat RGZ 18, 66; 31, 21. 161 Gegen die Grundrechte als Träger des Geltungsbefehls für private Rechtsetzung vgl. Kirchhof, Private Rechtsetzung, S. 179 f.; für ihn sind einfachgesetzliche Vorschriften notwendig, in diesem Fall die §§ 21 ff. BGB. 162 BGHZ 21, 370, 373 ff.; 47, 172, 179 f. unter Berufung auf RGZ 165, 143 f.; ebenso Kirchhof, Private Rechtsetzung, S. 268. 163 Reuter, in: Rebmann/Säcker, Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, § 25 Rn. 21. 164 Vgl. BGH NJW 1967, 1268 (1271). 165 Reuter, in: Rebmann/Säcker, Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, § 25 Rn. 22 ff.; Bachmann, Private Ordnung – Grundlagen ziviler Regelsetzung und auch G. Weick, in: Staudinger/Dilcher/Albrecht, §§ 21–103 – J. von Staudingers Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch mit Einführungsgesetz und Nebengesetzen, 1. Buch, Allgemeiner Teil, Vorbem. zu §§ 21 ff. Rn. 38 f.
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eine gerichtliche Kontrolle von solchen Satzungen durchgeführt werden, um diesen Schutz zu gewährleisten. Im Ergebnis unterscheiden sich die Ergebnisse des Meinungsstreits in den wesentlichen Punkten somit nicht. Eine Unzufriedenheit mit der Begründung des Ergebnisses bleibt jedoch bestehen. Neuerdings wird daher versucht, die mit diesen Theorien angesprochenen Geltungskriterien für Vereinssatzungen mit dem Begriff der Legitimation privater Rechtssetzung zu begründen.166 Dabei wird den zu Grunde liegenden Theorien die Basis entnommen, zum einen die Zustimmung als rechtsgeschäftliche Komponente der Vertragstheorie, zum anderen die Ausrichtung am Gemeinwohl als staatstheoretische Komponente der Normtheorien. Diese beiden Legitimationskomponenten sollen komplementär als Geltungsgrund privater Rechtssetzung dienen. Begründet wird dies damit, dass die Selbstbestimmung der Gründer und Beitretenden zunächst eine freiwillige Zustimmung zu den Satzungsgehalten erfordert, gleichzeitig aber im Fall solcher Satzungen auch die Zustimmung zur Unterordnung in eine hierarchische Struktur erfolgt,167 die nicht ständig aktualisiert werden kann. Fehlt es aber an wiederkehrenden Zustimmungsakten, so müssten weitere Legitimationsaspekte hinzukommen, die in der Ausrichtung am Gemeinwohl der Mitglieder gesehen werden kann, ebenso wie am Gemeinwohl von Dritten, sofern eine solche Gefährdungslage besteht. Wird auf diese komplementäre Weise privates Recht erzeugt, so könnten Rechtswirkungen auf Dritte und auf Mitglieder durch heteronome Bestimmungen legitimiert sein und damit eine befriedigende Antwort auf das Phänomen privater Rechtssetzung gefunden werden. Es muss aber noch einmal klargestellt werden, dass aus rechtlicher Sicht hier keine eigene Verbindlichkeitsbegründung erfolgt, die von der soeben geführten Diskussion losgelöst zu betrachten wäre. Die Verbindlichkeit der aus der privaten Rechtssetzung resultierenden Normen folgt aus der Anerkennung, die durch gesetzliche (§ 25 BGB) oder verfassungsrechtliche (Art. 9 GG) Bestimmungen seitens des Staates geleistet wird. Damit leitet sich die Normsetzungsbefugnis jeweils aus einer höheren Norm ab und existiert nicht aus sich selbst heraus.
166 Zum Folgenden Bachmann, Private Ordnung – Grundlagen ziviler Regelsetzung, S. 159 ff. 167 „Hierarchisch“ in dem Sinne als eine Verbandsgewalt besteht, die beispielsweise die Verhängung von Vereinsstrafen und Mehrheitsentscheidungen zu Lasten von Minderheiten ermöglicht.
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f) Zusammenfassung Relevante Kriterien zur Bestimmung von Recht stellen die Normsetzungsbefugnis und der Wille des Normsetzers dar. Klarheit über den Normcharakter ist jedenfalls dann gegeben, wenn beides vorhanden ist. Insofern sind diese Kriterien im Idealfall komplementär. Fehlt der Wille zur Normsetzung wird zu untersuchen sein, ob die Normsetzungsbefugnis in Verbindung mit den Äußerungen des Normsetzers dennoch eine rechtliche Relevanz ergibt. Fehlt die Normsetzungsbefugnis, ein Wille zu normativer Steuerung ist aber dennoch vorhanden, so muss untersucht werden, inwieweit dabei gesetzte Normen gleichwohl Wirkungen erzeugen können. Besondere Begründungszwänge für eine rechtliche Relevanz ergeben sich jedenfalls dann, wenn die Normsetzungsbefugnis von staatlicher Seite fehlt, also rein private Steuerung vorliegt, und auch der Wille zur Normsetzung fehlt. Damit wäre aber jedenfalls der „Idealfall“ unverbindlicher Steuerung erreicht. 2. Das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit aus Art. 5 Abs. 3 GG Zur Einordnung der wissenschaftssteuernden Ethikrichtlinien im deutschen Recht ist zunächst die Stellung der Wissenschaft im verfassungsrechtlichen Gefüge zu bestimmen, um die Anforderungen und Grenzen der Steuerungsformen festlegen zu können. Erst wenn Klarheit darüber besteht, welcher Berechtigte in welchem Umfang sich auf dieses Freiheitsrecht berufen kann, ist feststellbar, welche rechtliche Relevanz diese Instrumente im deutschen Recht haben können. Dabei interessieren vor allem die Grundrechtsfähigkeit staatlicher und privater Wissenschaftsorganisationen, das Verhältnis zwischen wissenschaftlichen Arbeitgebern und Arbeitnehmern und die Schrankensystematik des Art. 5 Abs. 3 GG in Hinsicht auf eine mögliche Einschränkung der Wissenschaft durch wissenschaftsethische Überlegungen. a) Die Geschichte der Wissenschaftsfreiheit Das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit erlebte im Laufe der verfassungsrechtlichen Diskussion um das Grundgesetz vier Blütezeiten: Zunächst als es um die Freiheit der Studentenschaft im Rahmen der 1968er Bewegung ging,168 dann in der Folge des Hochschulurteils,169 das eine jahrzehn168 Vgl. die Schriften von Franz-Ludwig Knemeyer, Lehrfreiheit – Begriff der Lehre, Träger der Lehrfreiheit; Ulrich Klaus Preuss, Das politische Mandat der Studentenschaft.
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telange Diskussion nach sich zog,170 in den 1990er Jahren, als sich gleich drei Habilitationsschriften und mehrere Dissertationen dem Thema außeruniversitärer Forschung widmeten171 und schließlich als Folge der Fälschungsskandale von 1998 um die Forscher Herrmann und Brach.172 Außer im Fall des Hochschulurteils waren es jedoch nicht praktische Fälle der Grundrechtsanwendung in der gerichtlichen Überprüfung, die Anlass zur Diskussion gaben, sondern entweder wurde damit auf gesellschaftliche Debatten Bezug genommen oder die Beschäftigung mit dem Thema entbehrte sogar einer bestimmten Initialzündung.173 Gerade die Herausforderungen der Lebenswissenschaften in den letzten Jahren, symbolisiert durch die Problematik des Klonens, hat jedoch die Wissenschaftsfreiheit wieder in den Fokus gerückt, wobei sowohl im Rahmen der Diskussion um die Schranken der Wissenschaftsfreiheit, als auch bei der notwendigen Ausgestaltung staatlich geförderter Wissenschaft auf die Ergebnisse jener Diskurse der letzten 40 Jahre Bezug genommen werden kann um sie gegebenenfalls weiterzuentwickeln. Zur Einordnung in das Gesamtgefüge der Grundrechte und den Stellenwert der Wissenschaftsfreiheit soll aber zunächst noch weiter zurückgegangen werden in der Vergangenheit.174 169
BVerfGE 35, 79 ff. Vgl. Hans-Wolfram Kupfer, Informationsverpflichtung für Wissenschaftler – Verfassungsrechtliche Bemerkungen zu § 6 HUG, Wissenschaftsrecht 1971, 117 ff.; Walter Schmitt Glaeser, Die Freiheit der Forschung, ibid.1974, 107 (113 ff.); Kay Hailbronner, Die Freiheit der Forschung und Lehre als Funktionsgrundrecht, S. 295 ff.; Thomas Dickert, Naturwissenschaften und Forschungsfreiheit, S. 400 ff. Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung, S. 158 ff. 171 Meusel, Außeruniversitäre Forschung im Wissenschaftsrecht, (Köln, Heymanns, 1992); Claus Dieter Classen, Wissenschaftsfreiheit außerhalb der Hochschule; Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung, (Tübingen, Mohr, 1994); Bernhard Losch, Wissenschaftsfreiheit, Wissenschaftsschranken, Wissenschaftsverantwortung – zugleich ein Beitrag zur Kollision von Wissenschaftsfreiheit und Lebensschutz am Lebensbeginn; Dickert, Naturwissenschaften und Forschungsfreiheit; Ralf Kleindiek, Wissenschaft und Freiheit in der Risikogesellschaft – eine grundrechtsdogmatische Untersuchung zum Normbereich von Art. 5 Abs. 3 Satz 1 des Grundgesetzes Weitere Nachweise bei Alexander Blankenagel, Vom Recht der Wissenschaft und der versteckten Ratlosigkeit der Rechtswissenschaftler bei der Betrachtung des- und derselben, Archiv des öffentlichen Rechts 2000, 70 ff. 172 Vgl. zu diesem Fall bereits oben, Fn. 151. 173 So der Befund von A. Blankenagel, Vom Recht der Wissenschaft und der versteckten Ratlosigkeit der Rechtswissenschaftler bei der Betrachtung des- und derselben, AöR 125 (2000), 70 (73) für die Diskussion um die außeruniversitäre Forschung. 174 Mit der historisch-genetischen Erfassung des Grundrechts wird auch der Forderung E. W. Böckenfördes Rechnung getragen, der eine solche Herangehensweise zur Ermittlung des grundrechtlichen „Gewährleistungsinhalts“ als notwendig erach170
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Die Freiheit der Wissenschaft kam als Forderung bereits im 17. Jahrhundert auf, damals noch als Annex zur Pressefreiheit, um eine Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnis unabhängig von staatlicher oder kirchlicher Einflussnahme zu gewährleisten.175 Erst der Humanismus forderte eine Loslösung der wissenschaftlichen Erkenntnissuche von religiösen Einflüssen und kristallisierte auf Basis naturrechtlicher Lehren eine libertas philosophandi heraus, die die intellektuelle Seite der Glaubens- und Gewissensfreiheit darstellen sollte.176 Daneben entfaltete sich im Zuge der Aufklärung ein Bewusstsein für den Wert freier Lehre an den Universitäten, das vor allem durch die Karlsbader Beschlüsse von 1819 gestärkt wurde, durch die eine umfassende Kontrolle der Universitätsprofessoren angeordnet wurde.177 In der Folge war es ein wichtiges Anliegen des „Professorenparlaments“ der Frankfurter Paulskirche in der von ihnen erarbeiteten Verfassung bereits das Recht der freien Wissenschaft festzuschreiben.178 Die Tatsache, dass jene Verfassung und damit auch jenes Freiheitsrecht nie in Kraft trat, ändert die geschichtliche Bedeutung dieser Urkunde nicht, da deren Grundrechtskatalog vor allem auch die preußische Verfassung von 1850 beeinflusste,179 wodurch die Freiheit der Wissenschaft auch dort Einzug hielt.180 Doch die Paulskirchenverfassung war nicht nur Vorbild für die preußische Verfassung, auch die Weimarer Reichsverfassung von 1919 wurde maßgeblich von deren Gedanken geprägt.181 Diese Bindung der verfassungsgebenden Nationalversammlung in Weimar an die Frankfurter Ideen, verbunden mit tet, Ernst-Wolfgang Böckenförde, Schutzbereich, Eingriff, verfassungsimmanente Schranken – zur Kritik gegenwärtiger Grundrechtsdogmatik, Der Staat 2003, S. 165 (174 ff.). Ebenso Friedrich Müller, Strukturierende Rechtslehre, S. 172 und Benjamin Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt – eine veränderte Perspektive auf die Grundrechtsdogmatik durch eine präzise Schutzbereichsbestimmung, S. 175 ff. 175 F. Kitzinger, Die Freiheit der Wissenschaft und der Kunst, in: Hans Carl Nipperdey (Hrsg.) Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung – Kommentar zum zweiten Teil der Reichsverfassung, S. 451. 176 Matthias Ruffert, Grund und Grenzen der Wissenschaftsfreiheit in Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer (Hrsg.), Kultur und Wissenschaft, S. 146 (161 ff.). 177 Nipperdey, Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung – Kommentar zum zweiten Teil der Reichsverfassung, S. 454. 178 Art. 152 der Paulskirchenverfassung: „Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei.“; nachzulesen bei Michael Kotulla, Deutsches Verfassungsrecht 1806 – 1918 – eine Dokumentensammlung nebst Einführungen, S. 1064. 179 Werner Frotscher/Bodo Pieroth, Verfassungsgeschichte, S. 187 m. w. N.; siehe auch I. Pernice, Art. 5 III (Wissenschaft), in: Horst Dreier (Hrsg.) Grundgesetz Kommentar, Rn. 1. 180 Der Wortlaut des Art. 20 der (oktroyierten) preußischen Verfassung ist daher auch identisch mit dem der Paulskirchenverfassung. 181 Frotscher/Pieroth, Verfassungsgeschichte, S. 260.
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der preußischen Tradition des Grundrechts führten zur Übernahme der Wissenschaftsfreiheit in Art. 142 der Weimarer Reichsverfassung (WRV).182 Im Bewusstsein dieser Tradition und aufgrund der Auswüchse der Wissenschaft in der NS-Zeit wurde der Art. 142 WRV fast wortgleich, lediglich erweitert um die Komponente der Forschung, im Herrenchiemseer Entwurf des Grundgesetzes übernommen.183 Die Entwicklung der Wissenschaftsfreiheit bis zum heutigen Art. 5 Abs. 3 GG war jedoch stets mit der Vorstellung verknüpft, dass die Universität das Zentrum der Wissenschaft bilden müsse. Innerhalb der Universität ist es der klassische Wissenschaftler in humboldtianischer Einsamkeit und Freiheit,184 der dabei den typischen Grundrechtsträger darstellt. Diese universitäre Perspektive des Grundrechts, begleitet auch heute noch die verfassungsrechtliche Diskussion um die Wissenschaftsfreiheit. b) Der Schutzbereich der Wissenschaftsfreiheit Die Wissenschaftsfreiheit bezieht ebenso wie die an gleicher Stelle verortete Kunstfreiheit ihre Bedeutung im deutschen Verfassungsgefüge aus dem Selbstverständnis der Bundesrepublik als Kulturstaat.185 Dementsprechend bestehen für dieses Grundrecht Besonderheiten bezüglich der Eingrenzung des geschützten Bereichs, der verschiedenen Gewährleistungsebenen und der Möglichkeit der Einschränkung, die im Folgenden aufgezeigt werden sollen. Der Wortlaut des Art. 5 Abs. 3 GG erschöpft sich in den Worten „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei.“ Dieses kurze Postulat ist in seiner Knappheit für den Rechtsanwender möglicherweise unbefriedi182 Erweitert um die Komponente der Kunst lautete der Art. 142 WRV: „Die Kunst, die Wissenschaft und ihre Lehre sind frei.“ 183 Freilich ohne die Schutz- und Pflegeklausel des Art. 142 S. 2: „Der Staat gewährt ihnen Schutz und nimmt an ihrer Pflege teil.“ Jene Verpflichtungen sollten aber durch das Bundesverfassungsgericht im Sinne der „Wertentscheidung des Grundgesetzes“ hinzugefügt werden. 184 A. Blankenagel, Vom Recht der Wissenschaft und der versteckten Ratlosigkeit der Rechtswissenschaftler bei der Betrachtung des- und derselben AöR 125 (2000), 70 (92); auch Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung, S. 123 verwendet dieses traditionelle Bild. 185 BVerfGE 35, 79 (114); 81, 108 (116); ebenso die Freiheit der Wissenschaft als „Kernelement der grundgesetzlichen Kulturverfassung“ bezeichnend H. SchulzeFielitz, in: Ernst Benda (Hrsg.) Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, § 27 Rn. 1; R. Scholz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz Kommentar, Art. 5 III Rn. 7; zum Begriff des Kulturstaats vgl. W. Maihofer, in: Benda, Handbuch des Verfassungsrechts, § 25 Rn. 50 ff.
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gend, ist es doch zunächst einmal notwendig zu ermitteln, ob eine Betätigung Wissenschaft ist, um zu erkennen, ob sie durch dieses Grundrecht geschützt ist.186 Genau dieses Problem ist bei der Wissenschaftsfreiheit ein besonderes, da konkurrierende Grundrechtstheorien gerade an diesem Begriff der Wissenschaft unterschiedliche Ergebnisse konstruieren konnten. Dabei ist das Problem leicht auf den Punkt zu bringen: Gemäß der Ausrichtung der Grundrechte zielen diese vornehmlich nicht auf Definitionen ab, „sondern auf den Schutz bestimmter Lebensbereiche. Garantiert wird die Freiheit der Betätigung, die Betätigung selbst ist vorgegeben.“187 Die rechtswissenschaftliche188 und die verfassungsgerichtliche Auseinandersetzung verlangen aber, wie jeder andere verfassungsrechtlich relevante Begriff, nach einer Definition, die den Schutzbereich des Grundrechts charakterisieren kann und soll,189 gerade auch um ihn in der Rechtsanwendung handhabbar zu machen. Der Idealfall des verfassungsrechtlichen Begriffs zielt auf materiale Identität, zur Gewährleistung von Rechtseinheit, und ist somit der Eindeutigkeit verpflichtet.190 Die Frage ist, ob diese Forderung im Fall der Wissenschaft erfüllt werden kann. aa) Der Begriff der Wissenschaft in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der herrschenden Lehre Für das Bundesverfassungsgericht sind die Worte Rudolf Smends über die Wissenschaft ein bestimmender Faktor ihrer Wissenschaftsdefinition. Dieser stellte 1928 bezüglich des damaligen Art. 142 WRV fest: „Der Kerngedanke des Grundrechts ist natürlich die Anerkennung der Eigengesetzlichkeit des wissenschaftlichen Lebens, das vermöge dieser Eigengesetzlichkeit der rechtlichen Normierung und Nachprüfung entzogen ist.“191
Nach anfänglichen Kontroversen um die Bedeutung der Begriffstrias aus Wissenschaft, Forschung und Lehre stellte das Bundesverfassungsgericht 186
Nicht umsonst hat R. Alexy zur Darstellung seines semantischen Normbegriffs Art. 5 Abs. 3 GG als Beispiel konkretisierungsbedürftiger Grundrechtsnormen gewählt; Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 63 ff. 187 W. Schmitt Glaeser, Freiheit der Forschung, Wissenschaftsrecht 1974, 107 (108). 188 Als eigene Wissenschaft folgt auch die Rechtswissenschaft den Regeln dieser Funktionsgesellschaft, die nur durch Kommunikation operieren kann und sich daher durch eine präzise Begriffsbildung gegen den Duktus der Alltagssprache stabilisieren muss und einem neuen Begriff Unverwechselbarkeit zu sichern versucht, Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 388. 189 Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte?, S. 46. 190 Ibid., S. 52.; gerade die Wissenschaft sieht Isensee dabei als Problemfall an. 191 Smend, Das Recht der freien Meinungsäußerung, in: Karl Rothenbücher/Rudolf Smend/Hermann Heller, Das Recht der freien Meinungsäusserung, S. 44 (61).
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zunächst im Hochschulurteil von 1973 klar, dass es sich bei „Forschung und Lehre“ um die Komponenten des Oberbegriffs „Wissenschaft“ handele.192 Letztere wiederum umfasse nach der Definition des Gerichts „alles, was nach Inhalt und Form als ernsthafter planmäßiger Versuch zur Ermittlung der Wahrheit anzusehen ist.“193 Dabei bestehe ein Freiraum, der vor allem die auf wissenschaftlicher Eigengesetzlichkeit beruhenden Prozesse, Verhaltensweisen und Entscheidungen beim Auffinden von Erkenntnissen, ihrer Deutung und Weitergabe umfasst.194 Zahlreiche Vertreter der Literatur boten demgegenüber alternative, sich teilweise aber wieder überschneidende Definitionen des Begriffs an, um eine klarere Konturierung zu erreichen, die den Wissenschaftsbegriff für die rechtliche Auseinandersetzung greifbar machen sollte. Es ist von methodisch geordnetem und kritisch reflektiertem Denken bei der Ermittlung wahrer Erkenntnisse die Rede,195 ebenso wie von der Pluralität der Methoden und Wahrheiten als Charakteristikum der Wissenschaft.196 Daraus lässt sich letztendlich ablesen, dass die Definition der wissenschaftlichen Tätigkeit an zwei Komponenten anknüpfen soll, zum einen das Ziel der Wissenschaft in Form der Wahrheit oder Erkenntnis und zum anderen die Art des wissenschaftlichen Vorgehens, also die wissenschaftliche Methode.197 Als erstes Element der Begriffsbestimmung ist das Streben nach Wahrheit oder Erkenntnis zu untersuchen. Gerade der Begriff der Wahrheit ist jedoch nicht zielführend, betrachtet man die wissenschaftstheoretischen Arbeiten des letzten Jahrhunderts. Vor allem der kritische Rationalismus198 hat den Begriff der Wahrheit in der Wissenschaft stark relativiert, vielmehr stellt Karl Popper fest: „Unsere Wissenschaft ist kein Wissen [episteme]: weder Wahrheit noch Wahrscheinlichkeit kann sie erreichen.“199 Auch 192
BVerfGE 35, 79 (112 f.); kritisch dazu Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung, S. 111. 193 BVerfGE 35, 79 (113); ebenfalls einer Wendung von Rudolf Smend entlehnt aus Smend, Das Recht der freien Meinungsäußerung, in: Rothenbücher/Smend/Heller, Das Recht der freien Meinungsäusserung, S. 44 ff. 194 Ibid. 195 Scholz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz Kommentar, Art. 5 III Rn. 91. 196 Schulze-Fielitz, Die Freiheit der Wissenschaft, in: Benda, Handbuch des Verfassungsrechts, § 27 Rn. 2 Eine weitere Aufzählung von Definitionen findet sich bei Hellmut Wagner (Hrsg.) Rechtliche Rahmenbedingungen für Wissenschaft und Forschung – Forschungsfreiheit und staatliche Regulierung, S. 105 f. 197 So auch I. Pernice, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Art. 5 III (Wissenschaft) Rn. 26. 198 Siehe oben, Kap. 2, S. 35 ff. 199 Popper, Logik der Forschung, S. 223; in anderen Werken relativiert er die Aussage und formuliert in optimistischerer Weise: „[W]ir können sehr wohl berechtigt sein, zu sagen, dass [eine Theorie] wahrscheinlich der Wahrheit nahekommt,
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Kuhns struktureller Ansatz wissenschaftlicher Revolutionen200 orientiert sich nicht am Wahrheitsbegriff, sondern verortet die Zielrichtung der Wissenschaft eher fort von den primitiven Anfängen und nicht hin zu einem Ziel der wissenschaftlichen Wahrheit.201 Ein derart umstrittener Begriff ist daher für eine verfassungsrechtliche Annäherung an die Wissenschaft wenig geeignet.202 Das zweite Element der Begriffsbestimmung ist das methodische Bemühen auf dem Weg zu jenem Ziel. Es ist nicht die eine „richtige“ Methode der Wissenschaft, die grundrechtlichen Schutz genießt, sondern eine Vielzahl derer, der grundrechtliche Schutz soll sich gerade auf den Wissenschaftspluralismus beziehen. Die Richtigkeit der Methoden, also ob eine „gute“ oder „schlechte“ Wissenschaft vorliegt, kann aber laut Bundesverfassungsgericht nicht das Recht oder ein Richter beurteilen, sondern nur die Wissenschaft selber.203 Mit diesem Satz wird bereits auf die Wissenschaft an sich als ein System oder Konstrukt Bezug genommen. Obwohl die Formel des Bundesverfassungsgerichts, und mit ihm ein Großteil der Literatur, also zunächst von einem individualzentrierten Wissenschaftsbegriff ausgeht, der an das Vorgehen, die Arbeit des Einzelwissenschaftlers anknüpft, spiegelt sich doch schon in dieser Begründung eine Referenz an das Gesamtsystem Wissenschaft wider. Die individualzentrierte Auffassung des Wissenschaftsbegriffs unter Verwendung des umstrittenen Begriffs der Wahrheit ist gerade im Lichte dieses Gesamtbezugs auf vermehrte Kritik gestoßen. Die „ebenso traditionsreiche wie wortarme Formel“ des Bundesverfassungsgerichts erschwert eine Verfassungsauslegung, die dem Wandel des Lebenszusammenhangs Wissenschaft Rechnung tragen muss.204 Aller Kritik muss aber zunächst vorangestellt werden, dass der Begriff der Wissenschaft in der höchstgerichtlichen Rechtsprechung nicht kontrovers ist. Seit 1994 war das Bundesverfassungsgericht nicht mehr mit einem Fall beschäftigt,205 bei dem es sich um eine Neubegründung des Schutzbereichs hätte bemühen müssen.206 Die dennoch zumindest näher als [eine andere Theorie].“, Objektive Erkenntnis – ein evolutionärer Entwurf, S. 382. 200 Vgl. dazu bereits oben, S. 36 ff. 201 Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, S. 184. 202 Ausführlicher Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung, S. 113 ff. 203 BVerfGE 90, 1 (12). 204 E. Denninger, Art. 5 Abs. 3 GG Rn. 21, in: Erhard Denninger (Hrsg.) Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. 205 BVerfGE 90, 1 ff. 206 Lediglich ein Urteil (BVerfG 1 BvR 1621/94), vier Beschlüsse (BVerfG 1 BvL 7/03; 1 BvR 928/00; 1 BvR 1736/07; 1 BvR 462/06) und mehrere Nicht-
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hier vorgebrachte Kritik mit alternativen Lösungsvorschlägen muss daher stets auf ihre Praxisrelevanz geprüft werden. bb) Eine funktionale Schutzbereichsbestimmung nach soziologischen Kriterien Eine erste, diskussionswürdige Wissenschaftsbestimmung stammt von Alexander Blankenagel,207 der eine bereichsbezogene, soziologische Bestimmung des Schutzbereichs vorstellte und damit den handlungsbezogenen Wissenschaftsbegriffs abzulösen versuchte. Den soeben dargestellten Begriff der Wissenschaft nach dem Bundesverfassungsgericht beschreibt Blankenagel als kognitive Definition, eine Begriffsbestimmung also, die an die wissenschaftliche Arbeit des einzelnen Wissenschaftlers anknüpft und sie im Sinne der Smendschen Formel begreift. Dem stellt er seine soziale Definition gegenüber, die die Wissenschaft als Gesamtbereich wissenschaftlichen Arbeitens begreift, also eine bereichsbezogene Betrachtung bieten soll.208 Durch diese Neuorientierung versucht er den verschiedenen Schichten des Grundrechts gerecht zu werden, das zum einen eine subjektiv-rechtliche beziehungsweise individualrechtliche Seite aufweist,209 und zum anderen eine objektiv-rechtliche Dimension, als Schutz eines gesamten gesellschaftlichen Bereichs.210 Um dieser Mehrschichtigkeit gerecht zu werden, dürfe sich die verfassungsrechtliche Diskussion nicht unter Verweis auf die Eigengesetzlichkeit der Wissenschaft weiteren Bestimmungsbemühungen entziehen. Der Schutzbereich sollte sich vielmehr sozialbezogen auf den annahmebeschlüsse behandeln die Wissenschaftsfreiheit, ohne dabei zum Schutzbereich Ausführungen zu machen, die über die erwähnten Urteile hinausgehen. 207 Alexander Blankenagel, Wissenschaftsfreiheit aus der Sicht der Wissenschaftssoziologie, Archiv des öffentlichen Rechts 1980, 35 ff. 208 A. Blankenagel, Wissenschaftsfreiheit aus der Sicht der Wissenschaftssoziologie, AöR 105 (1980), 35 (38 ff.). 209 So die allgemeine Ansicht heute, frühere rein institutionelle Deutungen der Wissenschaftsfreiheit gehen auf Smend zurück, der die Wissenschaftsfreiheit als Grundrecht der Universität verstand; vgl. Smend, in: Rothenbücher/Smend/Heller, Das Recht der freien Meinungsäusserung, S. 44 ff. und Kitzinger, in: Nipperdey, Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung – Kommentar zum zweiten Teil der Reichsverfassung, S. 458, der diese Auffassung als die neuere Lehre benennt und bestätigt. 210 So das BVerfG in E 35, 79 (115 f.), auch dies wird als absolut herrschende Meinung geteilt, vgl. R. Scholz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz Kommentar, Art. 5 Abs. 3 GG Rn. 81; I. Pernice, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Art. 5 Abs. 3 GG (Wissenschaft) Rn. 52; H. Schulze-Fielitz, in: Benda, Handbuch des Verfassungsrechts, § 27 Freiheit der Wissenschaft Rn. 7; Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland – Band III/1, Band III/I S. 936. Eine Ablehnung dieser Gewährleistungsebene formulierte G. Roellecke, JZ 1969, 726 (731).
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Funktionsmodus beziehen, der mit Hilfe der Wissenschaftssoziologie bestimmt werden könne. Um eine optimale Generierung von Wissen im System der Wissenschaft zu gewährleisten, führt Blankenagel das hier bereits dargestellte Ethos epistemischer Rationalität mit seinen vier Grundprinzipien211 als Definitionskriterium der Wissenschaft ein. Seine Definition des Wissenschaftsbegriffs lautet daher: „Wissenschaft ist die in der Gemeinschaft der Forschenden integrierte, methodische und planmäßige Untersuchung von Problemen unter Beachtung der Normen Universalismus, Kommunalismus, organisierter Skeptizismus und Desinteressiertheit.“212 Damit verbindet er Kriterien des Selbstverständnisses der Wissenschaftler, sozialer Eingebundenheit in das System und die Funktionsbedingungen eines wissenschaftlichen Sollzustandes,213 nachrangig auch kognitive Elemente, zu einer sozialen und funktionalen Wissenschaftsbestimmung. Wissenschaft, die diesen funktionalen Anforderungen der Wissenserzeugung nicht genügt, soll zumindest nur einen gestuften Grundrechtsschutz genießen, also weiteren staatlichen Eingriffsbefugnissen ausgesetzt sein, als die an diesen Prinzipien ausgerichtete Wissenschaft. Die weitere Folge dieser Sichtweise ist der Ausschluss wirtschaftlicher, angewandter Forschung, die den Prinzipien der Desinteressiertheit und des Wissenskommunismus nicht gerecht wird, aus dem Schutzbereich der Wissenschaftsfreiheit.214 Die Defizite dieser Forschung rechtfertigen es nach der sozialen Wissenschaftsbestimmung eine Zugehörigkeit zum Wissenschaftssystem abzulehnen und damit den Schutzbereich als nicht eröffnet anzusehen. Diese Ansicht kann als größten Vorteil eine Klarheit bei der Zuordnung wissenschaftlicher Tätigkeit bieten. Wissenschaft die nicht bestimmte normative Anforderungen erfüllt, wird aus dem weitreichenden Schutz des Art. 5 Abs. 3 GG herausgenommen und kann nur den weniger weitreichenden Schutz von Art. 12 211
Siehe oben, S. 43 ff.; die funktionalen Prinzipien oder Normen der epistemischen Rationalität sind Universalismus, Wissenskommunismus, organisierter Skeptizismus und Desinteressiertheit. 212 A. Blankenagel, Wissenschaftsfreiheit aus der Sicht der Wissenschaftssoziologie, AöR 105 (1980), 35 (70). 213 Den Umstand der massenhaften Durchbrechung dieser Prinzipien zugunsten der modernen, ökonomisch ausgerichteten Wissenschaft verkennt auch Blankenagel nicht. Er sieht jedoch zu Recht die (auch möglicherweise kontrafaktische) Aufrechterhaltung präskriptiver Normen als gerechtfertigt an, wenn sie der Sache dienen. Vgl. A. Blankenagel, Wissenschaftsfreiheit aus der Sicht der Wissenschaftssoziologie, AöR 105 (1980), 35 (65); kritisch demgegenüber Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung, S. 74; Trute sieht diese kontrafaktische Aufrechterhaltung als legitimationsbedürftig an, v. a. als Grundlage einer grundrechtliche Definition. 214 A. Blankenagel, Vom Recht der Wissenschaft und der versteckten Ratlosigkeit der Rechtswissenschaftler bei der Betrachtung des- und derselben AöR 125 (2000), 70 (95 ff.).
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oder 14 GG in Anspruch nehmen. Gleichzeitig macht Blankenagel mit der gestuften Schutzintensität eine Flexibilität der staatlichen Eingriffsbefugnisse als Vorteil geltend, wenn man einem bestimmten Wissenschaftstyp nicht vollends den Schutz absprechen will.215 Ein solcher Ansatz ermöglicht umfangreiche Regelungsmöglichkeiten im Bereich riskanter Wissenschaften, wie er auch am Beispiel der Gentechnologie aufzeigt.216 Problematisch an diesem Ansatz sind die wissenschaftssoziologischen Prinzipien im Lichte des objektiv-rechtlichen Gehalts des Grundrechts und die Vorrangregelung der Funktion und Strukturebene der Wissenschaft. Die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte verpflichtet den Staat zum Schutz der gewährleisteten Inhalte namentlich auch durch geeignete Verfahren.217 Außerdem müssten von diesen Wertentscheidungen des Grundgesetzes auch Richtlinien und Impulse für Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung ausgehen.218 Übernimmt man diese Vorgaben für die objektivrechtliche Dimension der Wissenschaftsfreiheit, so ergäbe sich für eine optimale Förderung der Wissenschaft durch den Staat eine Pflicht, das institutionelle Ziel der Wissenschaft zu stützen, mithin auf die Einhaltung der Prinzipien epistemischer Rationalität hinzuwirken, sei es durch Gesetzgebung im Bereich der Organisation und des Verfahrens oder durch gezielte Finanzierung.219 Eine solche staatliche Organisation des gesamten Wissenschaftsbereichs ist bereits mit der grammatischen Auslegung der Freiheit der Wissenschaft aus Art. 5 Abs. 3 GG nicht vereinbar. Im Gegenteil müssen gerade die Handlungsalternativen des Wissenschaftlers als Wirkung des Grundrechts offengehalten werden, anstatt auf Kosten individueller Handlungsfreiheit die Einhaltung eines bestimmten funktionalen Systems sichern zu wollen.220 Mit dieser Feststellung ist bereits auf den zweiten grundrechtsdogmatischen Kritikpunkt hingewiesen, der sich insofern mit dem ersten Kritikpunkt überschneidet. Problematisch ist dieser Ansatz auch mit Blick auf die vorrangig funktionale und zweckbestimmte Grundrechtsbestimmung. Die 215 A. Blankenagel, Wissenschaft und Forschung zwischen Freiheit und Verantwortung, in: Herta Däubler-Gmelin/Wolfgang Adlerstein (Hrsg.), Menschengerecht – Arbeitswelt, Genforschung, neue Technik, Lebensformen, Staatsgewalt, S. 145. 216 Ibid. 217 K. Hesse, § 5 Die Bedeutung der Grundrechte Rn. 20 f., in: Benda, Handbuch des Verfassungsrechts, Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland – Band III/1, Band III/I S. 953 ff. 218 BVerfGE 39, 1 (41) unter Verweis auf das bereits zitierte Hochschulurteil E 35, 79 ff. und das Lüth-Urteil E 7, 198 ff. 219 Vgl. Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung, S. 75. 220 Ibid.
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gesamte Konzeption den Schutzbereich der Wissenschaft von der Fähigkeit zur Erfüllung eines Wissensproduktionsauftrags her zu bestimmen, entspricht der Inpflichtnahme des Freiheitsrechts zu gesellschaftlichen Zwecken. Blankenagel macht es sich dabei selbstverständlich nicht leicht, er betreibt einen großen Aufwand die primär funktionale Bestimmung von Freiheitsrechten darzustellen.221 Die verabsolutierende Tendenz seiner Schlussfolgerungen ist jedoch dem System der Freiheitsrechte im Grundgesetz fremd. Die Wissenschaftsfreiheit vorrangig über ihre gesellschaftliche Funktion zu bestimmen, heißt ihre Bedeutung für den individuellen Grundrechtsträger zu vernachlässigen. Sie repräsentiert in gleichem Maße das menschliche Freiheitsbedürfnis sein Wissen um seiner selbst Willen zu erweitern, um sich selbst weiterentwickeln und entfalten zu können.222 Der Rechtsphilosoph John Finnis hat nicht zuletzt das Wissen als einen der sieben zentralen Werte seiner gegenwärtigen naturrechtlichen Theorie aufgenommen.223 Dieser Aspekt der Wissenschaftsfreiheit kommt jedoch zu kurz, will man den Wissenschaftler in seinem Schaffen in die Pflicht der Wissensproduktion für die Gesellschaft nehmen. Ein so enges Verständnis lässt sich auch den historischen Wurzeln nicht entnehmen, eine gesamtgesellschaftliche Funktionalisierung der Wissenschaft war der Frankfurter Paulskirchenversammlung, der Weimarer Nationalversammlung und auch dem Herrenchiemseer Entwurf fremd. Es ist eher die Nähe zur Gedanken- und Gewissensfreiheit im Sinne einer libertas philosophandi, die deren Konzeption zu Grunde lag.
221 A. Blankenagel, Wissenschaftsfreiheit aus der Sicht der Wissenschaftssoziologie, AöR 105 (1980), 35 (48 ff.). Dabei interpretiert er verschiedene Definitionen von Freiheitsrechten in Literatur und Rechtsprechung, die einen funktionalen Bezug aufweisen sollen, so dass er zu dem Schluss kommt, auch die Persönlichkeitsentfaltung sei funktional im freiheitlichen Staat zu sehen. Ebenfalls in eine solche Richtung argumentierend G. Roellecke, Vom Sinn und Zweck der Grundrechte, in: Winfried Kluth/Martin Müller/Andreas Peilert (Hrsg.), Wirtschaft – Verwaltung – Recht – Festschrift für Rolf Stober zum 65. Geburtstag, S. 12 ff. 222 Vgl. BVerfGE 35, 79 (114): Freiheit der Wissenschaft als Schlüsselfunktion für die Selbstverwirklichung des Einzelnen. Ähnlich W. Schmitt Glaeser, Die Freiheit der Forschung, WissR 7 (1974), 107 (131); Losch, Wissenschaftsfreiheit, Wissenschaftsschranken, Wissenschaftsverantwortung – zugleich ein Beitrag zur Kollision von Wissenschaftsfreiheit und Lebensschutz am Lebensbeginn, S. 129; Losch setzt die Wissenschaftsfreiheit in den Menschenwürdekontext; I. Pernice, Art. 5 III GG (Wissenschaft) Rn. 16, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, „Die Freiheit der Wissenschaft betrifft einen menschlichen ‚Ursprungsvorgang‘, die Kreativität schöpferischen Denkens, Suchen und Handelns als Ausdruck menschlicher Eigenart und Würde.“ 223 John Finnis, Natural Law and Natural Rights, S. 61 ff.
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Damit sei aber nicht gesagt, dass der Funktionalisierungsgedanke überhaupt keine Rolle spielen würde bei der Bestimmung der Grundrechte. Hans Jarass hat in seiner Habilitationsschrift anschaulich dargestellt, dass die meisten Freiheitsrechte in ihrem normativen Sinn sowohl eine „zweckbestimmte“ als auch eine „immanentbestimmte“, individualrechtliche Seite aufweisen.224 Gleichwohl stellt er fest, dass eine allein zweckbestimmte Freiheit nach der Formel „Statt Freiheit von Freiheit zu“ nur bestimmten Verhaltensweisen Freiheit zukommen lasse, also nur gute Wissenschaft freie Wissenschaft sei, und dass damit keine Freiheit mehr herrsche.225 Eine derartige Auffassung der Freiheitsrechte wandle Freiheiten in Pflichten um.226 Die Zweckorientierung an sich ist jedoch nicht gänzlich abzulehnen, sie muss sich nur auf ein höchstmögliches Abstraktionsniveau beziehen um nicht auf die Ebene der konkreten Verhaltensanweisungen durchzuschlagen und sie muss an feste Größen angebunden sein, um die Freiheit im Einzelfall nicht manipulierbar zu machen.227 Gerade in dieser Richtung muss der Satz des Bundesverfassungsgerichts verstanden werden, dass „gerade eine von gesellschaftlichen Nützlichkeits- und politischen Zweckmäßigkeitsvorstellungen befreite Wissenschaft dem Staat und der Gesellschaft im Ergebnis am bestem dient.“228 Genau dies missachtet Blankenagel, wenn er die Einhaltung der Prinzipien epistemischer Rationalität zur Schutzbereichsbestimmung der Wissenschaftsfreiheit heranzieht. Damit schreibt er zum einen konkrete Verhaltensanweisungen vor, wie Wissenschaft auszusehen hat, um deren Freiheit genießen zu können, zum anderen wird der individualrechtliche Sinn des Grundrechts als feste Größe der Zweckorientierung stark entwertet, wenn er nur noch in Zweifelsfragen neuer Wissenschaftszweige als Bezugspunkt herangezogen wird.229 Aufgrund dieser zu weit gehenden Funktionalisierung des Grundrechts und den daraus folgenden Konsequenzen für die Förderungspflicht des Staates ist der soziologische Ansatz Blankenagels abzulehnen. 224 Zu diesen Begriffen Hans D. Jarass, Die Freiheit der Massenmedien – zur staatlichen Einwirkung auf Presse, Rundfunk, Film und andere Medien, S. 124 f.; Blankenagel bezieht sich stark auf Jarass um seine funktionale Bewertung der Wissenschaftsfreiheit zu begründen. 225 In diesem Sinne, freilich unter völliger Ablehnung jeder Zweckbestimmung, bereits Ernst Forsthoff, Der Verfassungsschutz der Zeitungspresse, S. 15 f. 226 Jarass, Die Freiheit der Massenmedien – zur staatlichen Einwirkung auf Presse, Rundfunk, Film und andere Medien, S. 127. 227 Ibid., S. 128. 228 BVerfGE 47, 327 (370). 229 So aber A. Blankenagel, Wissenschaftsfreiheit aus der Sicht der Wissenschaftssoziologie, AöR 105 (1980), 35 (70).
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cc) Die Wissenschaft als Kommunikationsund Handlungszusammenhang Die Problematik der Bestimmung eines Schutzbereichs der Wissenschaft knüpft zunächst an die allgemeine Problematik der Kongruenz von Sachund Lebensbereich und Schutzbereich der Grundrechte an. Grundsätzlich soll die Summe aller Grundrechte jede Variante menschlichen Verhaltens schützen,230 der Umfang des Schutzes variiert aber innerhalb des Grundrechtekatalogs. Die reine Feststellung der Freiheit der Wissenschaft ohne beigefügte Schranken zeigt auf, dass es sich in diesem Sach- und Lebensbereich um ein intensiv zu schützendes Rechtsgut handeln muss, einen Bereich also, der sensibel auf staatliche Eingriffe reagiert und besonderer Vorsicht bei Einschränkungen oder Ausgestaltungen bedarf. Gleichzeitig muss sich der Verfassungsinterpret auch stets von der Einsicht leiten lassen, dass der Schutzumfang eines Grundrechts nur im Blick auf die Gegebenheiten der sozialen Wirklichkeit zu erfassen ist, dass mithin ein Wandel dieser Gegebenheiten bei der Auslegung nicht unberücksichtigt bleiben darf.231 Insofern könnte es ein Wandel der Wissenschaft erforderlich machen, von der Smendschen Formel des Bundesverfassungsgerichts abzuweichen und mit Blick auf die Sensibilität jenes Bereichs eine Neuformulierung der Kriterien vorzunehmen. Die Antwort auf eine solche Forderung könnte die Erfassung der Wissenschaft als Kommunikations- und Handlungszusammenhang sein, die Hans-Heinrich Trute in seiner Habilitationsschrift aufgezeigt hat.232 (1) Grundannahmen Grundidee einer Neubestimmung des Wissenschaftsbegriffs bei Trute ist die Überholung des propositionalen Wissenschaftsbegriffs, eines Begriffs also, der Wissenschaft als ein System von Aussagen mit einer bestimmten Qualität bezeichnet, oftmals mit dem Begriff der Wahrheit verknüpft. Die 230 A. Blankenagel, Vom Recht der Wissenschaft und der versteckten Ratlosigkeit der Rechtswissenschaftler bei der Betrachtung des- und derselben AöR 125 (2000), 70 (91). 231 K. Hesse, § 5 Bedeutung der Grundrechte, in: Benda, Handbuch des Verfassungsrechts, S. 135. 232 Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung, S. 64 ff.; zustimmend A. Blankenagel, Vom Recht der Wissenschaft und der versteckten Ratlosigkeit der Rechtswissenschaftler bei der Betrachtung desund derselben AöR 125 (2000), 70 (75 f.), E. Schmidt-Aßmann, Die Wissenschaftsfreiheit nach Art. 5 Abs. 3 GG als Organisationsgrundrecht, in: Bernd Becker/Hans Peter Bull/Otfried Seewald (Hrsg.), Festschrift für Werner Thieme zum 70. Geburtstag, S. 697 ff.; Thomas Groß, Wissenschaftsadäquates Wissenschaftsrecht, Wissenschaftsrecht 2002, 313 (316).
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Wissenschaft sei dabei ein methodisches und systematisch geordnetes System von Begriffen, Aussagen, Theorien und Hypothesen.233 Dieser Wissenschaftsbegriff, der der oben aufgezeigten herrschenden Ansicht zu Grunde liegt und auch von Trute wegen seiner propositionalen Qualifizierung von Wissenschaft nicht grundsätzlich abgelehnt wird, gehe aber an der wissenschaftlichen Realität vorbei und sei damit nicht mehr sachbereichskongruent.234 Abgesehen von den bereits beschriebenen Problemen mit dem Wahrheitsbegriff aus wissenschaftstheoretischer Perspektive, ist nach seiner Ansicht vor allem der individualzentrierte Ansatz der Begriffsentfaltung weit entfernt von der wissenschaftlichen Handlungspraxis. Es ist vielmehr die Einbettung der wissenschaftlichen Tätigkeit in die Handlungspraxis der wissenschaftlichen Gemeinschaften, die eine Handlung als wissenschaftlich qualifizierbar machen. Die Neuorientierung des Wissenschaftsbegriffs geht einher mit der Anerkennung eines anthropologischen und eines Kulturbegriffs der Wissenschaft. Der erstere bezeichnet Wissenschaft als Arbeit, als menschliche Handlungen zur Erzeugung wissenschaftlicher Erkenntnisse, letzterer beschreibt Wissenschaft als einen Teilbereich der Kultur, mit allen institutionellen, sozialen und personalen Elementen eines bestimmten Sachbereichs, systemtheoretisch gesprochen also als Subsystem der Gesellschaft.235 Diese beiden Begriffe führt Trute zusammen um einen grundrechtstauglichen Begriff der Wissenschaft zu erhalten, den Begriff vom Kommunikations- und Handlungszusammenhang der Wissenschaft. Zu diesem Zweck stützt er sich zunächst auf die wissenschaftstheoretischen Ansätze Kuhns und Poppers.236 Mit der Ablösung der Begründungsrationalität durch die Bewährungsrationalität verlagerte sich der Schwerpunkt der Geltungsproblematik wissenschaftlicher Theorien hin zu den kommunikativen Prozessen zwischen den Wissenschaftlern in Form kritischer Prüfung und Diskussion und weg vom individuell arbeitenden Forscher und seinen Wahrnehmungserlebnissen, die er den aufgestellten Hypothesen zu Grunde legt.237 Wenn er anschließend Kuhns strukturellen Ansatz wissenschaftlicher Revolutionen für überzeugender hält, mit seiner Kritik an der Entwicklungslogik der Naturwissenschaften Poppers, so führt dieser auf den wissenschaftlichen Paradigmen aufgebaute Ansatz ihn noch weiter in seiner Entkoppelung des eigentlichen wissen233 Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung, S. 65. 234 Ibid., S. 67. 235 Zu den Begriffen ibid., S. 65, vgl. auch die Darstellung bei Dickert, Naturwissenschaften und Forschungsfreiheit, S. 122 f. 236 Vgl. bereits oben, S. 35 f. und 36 f. 237 Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung, S. 69.
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schaftlichen Prozesses vom Einzelforscher zur Handlungspraxis der jeweiligen wissenschaftlichen Gemeinschaft, da die Begründung von Paradigmen als Normen, Standards und Handlungspraktiken nur als Resultat einer Gesamtbetrachtung einer „scientific community“ erfolgen kann.238 Die Integration der wissenschaftsinternen Rechtfertigung einer Erkenntnis entspricht auch der Unterscheidung des „context of discovery“ und des „context of justification“, die von Hans Reichenbach als erstes erarbeitet wurde und die unterschiedlichen Vorgänge der wissenschaftlichen Entdeckung und der Rechtfertigung in der Wissenschaft selbst beschreibt.239 Mit dem rein propositionalen Begriff des Bundesverfassungsgerichts ist aber nur der „context of discovery“ vereinbar, der nach den vorgenannten Wissenschaftstheorien ebenso wichtige „context of justification“ bliebe unberücksichtigt. Der propositionale Begriff konzentriert sich daher allein auf den Erkenntnisvorgang des einzelnen Wissenschaftlers und vernachlässigt die notwendigen Strukturen der Rechtfertigung der Wissenschaft und ist insofern realitätsfern und aufgrund seiner individualzentrierten Ausrichtung ungeeignet um den Normbereich der Wissenschaftsfreiheit zutreffend zu erfassen.240 Diesem Verständnis liegt zum großen Teil die strukturierende Rechtslehre Friedrich Müllers zu Grunde, die die Grundrechte als sachgeprägte Ordnungsmodelle versteht, was insbesondere die Wissenschaft besser erfassen können soll, als es die bisherige Dogmatik vermag. Grundannahme dieser Lehre ist die Loslösung des erfassten Bereichs von der Sprachfassung des Grundrechts. Diese soll lediglich die rechtsstaatlich zulässigen Möglichkeiten der Konkretisierung anregen und begrenzen.241 Unterschieden wird das Normprogramm, das durch die Summe der jeweils relevanten Sprachdaten vorgegeben ist, und der Normbereich, der die jeweils normativ relevanten Realdaten erfasst.242 Der Normbereich orientiert sich dabei zunächst am zu behandelnden Sachbereich, der empirisch zu ermitteln ist, und die Menge der anfänglich in den jeweiligen Konkretisierungsvorgang eingeführten Realdaten umfasst.243 Aus diesem Sachbereich muss der normanwendende 238
Ibid., S. 70 f. Vgl. zu diesem Begriffspaar und dem Urheber C. Glymour, F. Eberhardt, „Hans Reichenbach“, The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Summer 2011 Edition), Edward N. Zalta (Hrsg.), abrufbar unter http://plato.stanford.edu/archives/ sum2011/entries/reichenbach (zuletzt abgerufen am 24.3.2014). 240 Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung, S. 67. 241 Ibid., S. 58. 242 Friedrich Müller, Juristische Methodik, S. 276; vgl. auch Strukturierende Rechtslehre, S. 250 ff.; ähnlich P. Kirchhof, Grundrechtsinhalte und Grundrechtsvoraussetzungen, in: Detlef Merten/Hans Jürgen Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Rn. 10 ff. und ders., Die Aufgaben des Bundesverfassungsgerichts in Zeiten des Umbruchs NJW 1996, 1497 (1502). 239
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Jurist dann die Teilmenge herausfiltern, die vom Normprogramm umfasst ist und somit den Normbereich ermitteln, der im Idealfall dann die vom Normprogramm erfassten Realitätsbeziehungen einer Rechtsnorm erfasst. Diese Theorie soll für jede Norm anwendbar sein, auch für Grundrechte, die aber „gesteigert sachhaltige Normbereiche“ haben.244 Eben jenen gesteigert sachhaltigen Normbereich des Grundrechts der Wissenschaftsfreiheit versucht Trute zu ermitteln, indem er zunächst weiterhin das Smendsche Postulat der Eigengesetzlichkeit der Wissenschaft als maßgebend betrachtet, das eine Autonomie und Staatsferne bezeichnen soll. Der Begriff der Eigengesetzlichkeit enthält aber bereits einen Verweis auf Vorgänge, die dem empirisch vorgehenden Juristen bei der Konkretisierung des Normbereichs nicht zugänglich sein können, die vielmehr aus dem Selbstverständnis des oder der Angehörigen der in Frage stehenden Gruppe abgeleitet werden müssen. Das Selbstverständnis der Grundrechtsträger als Kriterium der Schutzbereichsermittlung ist jedoch bereits seit langem in der Rechtswissenschaft umstritten. (2) Exkurs: Das Selbstverständnis im Rahmen der Grundrechtstatbestände Aufgrund der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Religionsfreiheit245 und einem daran anschließenden Urteil zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht246 kam es in den 1970er und 1980er Jahren zu einer lebhaften Diskussion, um die Definitionsmacht über die Freiheitsrechte. Dabei hatte das Gericht zunächst zwar festgestellt, dass der Staat grundsätzlich verfassungsrechtliche Begriffe nach neutralen, allgemeingültigen Gesichtspunkten zu interpretieren habe,247 anderes müsse aber im Falle der Religionsausübung im Sinne des Art. 4 Abs. 2 GG gelten. Wenn „in einer pluralistischen Gesellschaft die Rechtsordnung gerade das religiöse oder weltanschauliche Selbstverständnis wie bei der Kultusfreiheit voraussetzt, würde der Staat die den Kirchen, den Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften nach dem Grundgesetz gewährte Eigenständigkeit in ihrem eigenen Bereich verletzen, wenn er bei der Auslegung der sich aus einem bestimmten Bekenntnis oder einer Weltanschauung ergebenden Religionsausübung deren Selbstverständnis nicht berücksichtigen würde.“248 Von dieser Über243
Müller, Strukturierende Rechtslehre, S. 251 f. Juristische Methodik, S. 277; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland – Band III/1, S. 479. 245 BVerfGE 18, 385 f.; 24, 236 ff., 33, 23 ff. 246 BVerfGE 54, 148 ff. 247 BVerfGE 24, 247 f. 248 Ibid. S. 248. 244
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legung ausgehend befand das Gericht auch das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG als abhängig von einem selbst definierten sozialen Geltungsanspruch, es könne nur Sache der einzelnen Person sein, was diesen ausmache.249 Daher sei „der Inhalt des allgemeinen Persönlichkeitsrecht maßgeblich durch das Selbstverständnis seines Trägers geprägt.“250 Daraus wurde in der Literatur der Schluss gezogen, die subjektive Definitionsmacht sei ein für alle Grundrechte verallgemeinerbares Prinzip.251 Zusätzlichen Antrieb für den Streit um das Selbstverständnis als Definitionskriterium im Bereich der Wissenschaft verschaffte die Diskussion um den Schutzbereich der Kunstfreiheit. Besonders bedeutend war in diesem Zusammenhang das Mephisto-Urteil252 von 1971. Parallel zur Ausformung der Wissenschaft, wurde auch in der Kunst eine Eigengesetzlichkeit festgestellt,253 die der gleichsam parallelen Einordnung als Subsystem der Gesellschaft entspringe.254 Im Zusammenspiel mit der Feststellung, dass Kunst unmittelbarster Ausdruck der individuellen Persönlichkeit des Künstlers sei,255 und der Erkenntnis der zur Freiheitsverwirklichung notwendigen absoluten Offenheit des Kunstbegriffs,256 wurde auch in diesem Zusammenhang das Selbstverständnis des Künstlers als Maßstab der Schutzbereichseingrenzung gefordert.257 Ist nun der Bogen von der Religionsfreiheit über das allgemeine Persönlichkeitsrecht hin zur Kunstfreiheit geschlagen, so erscheint der nächste Schritt zur Wissenschaftsfreiheit nur mehr ein kleiner. Dies erscheint umso deutlicher, als „Religions-, Kunst- und Wissenschaftsfreiheit [. . .] strukturell und funktionell als Ausdruck der Persönlichkeitsentfaltung besonders benachbart“ sind und „die individuelle Freiheitsausübung als kulturelle Persönlichkeitsfindung und kollektive Identität der offenen Gesellschaft besonders eng zusammen[hängen].“258 Auch die Wissenschaftler könnten also die 249
BVerfGE 54, 148 (155). Ibid S. 156. 251 Martin Morlok, Selbstverständnis als Rechtskriterium S. 75. 252 BVerfGE 30, 173 ff. 253 Ibid. S. 190. 254 Morlok, Selbstverständnis als Rechtskriterium, S. 89. 255 BVerfGE 30, 173 (189). 256 I. Pernice Art. 5 III, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Rn. 17. 257 Wolfram Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation – Grundrechtsauslegung zwischen amtlichem Interpretationsmonopol und privater Konkretisierungskompetenz, S. 144; Peter Häberle, Die Freiheit der Kunst im Verfassungsstaat, Archiv des öffentlichen Rechts 1985, 577 (598); Brun-Otto Bryde, Verfassungsentwicklung – Stabilität und Dynamik im Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, S. 217; Franz-Ludwig Knemeyer, Über die Schranken der Kunstfreiheit Der Staat 1969, 240 (242). 250
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maßgeblichen Interpreten des eigenen Schutzbereichs sein und in diesem Sinne ihr eigenes Grundrecht aufgrund der Besonderheit ihres Standes zu definieren vermögen.259 (3) Das Selbstverständnis als Eingrenzungskriterium der Wissenschaft Vor allem in der Zeit der Studentenbewegung wurde ein absolutes Definitionsverbot für den Staat gefordert, wenn es darum ging, die Wissenschaftlichkeit von Hochschulaktivitäten festzustellen.260 Dieses sehr weite Verständnis war jedoch von Anfang an heftiger Kritik ausgesetzt. Grundsätzliche Bedenken bestehen dabei bezüglich der Auflösung der Objektivität des Begriffs der Wissenschaft zugunsten der „diffusen Subjektivismen auch des Nichtwissenschaftlers.“261 Auch die Gewährleistung der Grundrechte durch den Staat müsste im Blick behalten werden. Eine Kollision von Grundrechten kann nur dann aufgelöst werden, wenn klar ist, wo ihre Schranken liegen. Handelt es sich jedoch um vorbehaltlose Grundrechte wie die Wissenschafts- oder Religionsfreiheit, ist es für den selbstdefinierenden Interpreten „ein Gebot der dogmatischen Folgerichtigkeit [und] auch ein Gebot der Redlichkeit, dass [er] nicht auf der Ebene der Grundrechtsschranken zurücknimmt, was er auf der Ebene des Schutzbereichs eingeräumt hat.“262 Umso mehr wird dieses Kollisionsproblem akut, als verschiedene Selbstverständnisse aufeinandertreffen. Treffen Kunstfreiheit des einen und Ehrbegriff eines anderen aufeinander, so müsste letztlich ein objektivierender Richter zumindest eine Vorrangregel finden, sollte sich eine praktische Konkordanz nicht herstellen lassen. Der Hinweis auf den Richter zeigt auch gleich eine weitere Problematik auf: die Notwendigkeit eines Verfahrens zur Darlegung des Selbstverständnisses. Ohne diese Möglichkeit ist die Verwirklichung des Selbstverständnisses weitgehend unmöglich, kommt es doch auf einen kommunikativen Prozess an. In der Verwirklichung des Selbstverständnisses werden in der Folge denn auch teilweise die Gefahren einer Drittanerkennung durch andere Wissenschaftler bemängelt, insofern 258 Häberle, Die Freiheit der Kunst im Verfassungsstaat, Archiv des öffentlichen Rechts 1985, 577 (598). 259 Die Freiheit der Wissenschaften im Verfassungsstaat, Archiv des öffentlichen Rechts 1985, 329 (357); so auch Hailbronner, Die Freiheit der Forschung und Lehre als Funktionsgrundrecht, S. 154. 260 Preuss, Das politische Mandat der Studentenschaft, S. 105; mit Einschränkungen ebenso auch Knemeyer, Lehrfreiheit – Begriff der Lehre, Träger der Lehrfreiheit, S. 24 f. 261 Scholz, Art. 5 III, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz Kommentar, Rn. 89. 262 Auch zur folgenden Kritik Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte?, S. 31 ff.
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als eine Gefahr der „Klüngelei“ der Wissenschaftler gesehen wird, die „innovations-, kreativitäts-, und freiheitshemmend“ wirken müsste.263 Abgesehen von einem zunächst einmal unbegründeten Generalverdacht und der Tatsache, dass dem Staat nach jener Auffassung eine wirksamere Gewährleistung wissenschaftlicher Freiheit zugetraut wird als der Wissenschaftsgemeinde selbst, müsste die Drittanerkennung aber eben auch nicht in einem selektiven Vorgang einzelner Koryphäen zu sehen sein, sondern in der Evaluierung der gesamten Handlungspraxis der Wissenschaft, die aber notwendigerweise auch eine Form der Drittanerkennung beinhaltet.264 Weiterhin lässt sich der Schutzauftrag des Staates für die Grundrechte und die Wissenschaft im speziellen als Argument gegen das Selbstverständnis als Kriterium anführen. Die Fähigkeit zum Schutz von Grundrechten ist eng mit der Frage verknüpft, ob der Staat einen schutzpflichtigen Bereich zu identifizieren und mithin zu definieren vermag. Und schließlich wird noch von den Kritikern eines Definitionsverbots die Ungleichheit ins Feld geführt, die eine subjektivierende Grundrechtsauslegung mit sich bringen kann. „Der Staat hat um der Allgemeinheit und Gleichheit willen die Letztverantwortung über die Grundrechtsauslegung.“265 Diese Argumente wiegen schwer, lassen sich aber möglicherweise hinreichend verarbeiten, ohne das Selbstverständnis als Rechtskriterium vollständig aufzugeben. Die bisher vorgebrachten Argumente zielen nur auf ein umfassendes Definitionsverbot der Wissenschaft für den Staat ab. Warum ein Mittelweg notwendig ist, wird deutlich, wenn man das andere Extrem der Auffassungen betrachtet, das Definitionsgebot bezüglich der Wissenschaft und zwar auch bezüglich eines Wissenschaftsbegriffs. Entsprechend der Idee eines Ethos wissenschaftlicher Verantwortung,266 wurde versucht, jene ethische Limitierung der Wissenschaft nicht mehr nur entlang der Leitlinien der anderen Grundrechte zu ziehen, also anhand der Schrankensystematik, sondern bereits eine ethische Limitierung des Schutzbereichs vorzunehmen, um auf diese Weise „überdehnte“ Schutzbereiche vorbehaltlos gewährleisteter Freiheitsrechte auf ein Menschenbild des Grundgesetzes in gemeinschaftsgebundener Verantwortung zu reduzieren.267 Konsequenz dieser Auffassung ist die Herausnahme all jener Wissenschaftler aus dem Schutzbereich des Art. 5 Abs. 3 GG, die in Ausübung ihres 263
Dickert, Naturwissenschaften und Forschungsfreiheit, S. 175. So Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung, S. 62 f. 265 Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte?, S. 36. 266 Siehe oben, S. 49 ff. 267 Dickert, Naturwissenschaften und Forschungsfreiheit, S. 407. 264
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Grundrechts unverantwortlich handeln,268 also die Einfügung eines negativen Tatbestandsmerkmals der Verantwortlichkeit des Wissenschaftlers.269 Eine Unterwerfung des Wissenschaftsbegriffs unter inhaltliche Vorgaben widerspricht jedoch dem Autonomiegedanken der Wissenschaft als konstitutives Element derselben. Der gesonderte Kommunikationszusammenhang der die Eigengesetzlichkeit der Wissenschaft prägt und insofern ihre Rolle als Subsystem der Gesellschaft begründet,270 kann nicht eine Steuerung von außen erfahren, die eine Schutzbereichsbestimmung darstellen würde, ohne diesem System einen grundlegenden Schaden zuzufügen. Gerade deshalb muss sich die Verfassungsgarantie der Wissenschaft auf die Perspektive der Selbststeuerung der Wissenschaft beschränken.271 Ohnehin münden jene Versuche einer ethischen Limitierung des Schutzbereichs der Wissenschaft wieder in den Ausgangspunkt des verfassungsrechtlichen Standards, da diese Limitierung nur auf schlechthin unverantwortliche oder schlechthin gemeinschädliche Forschungsaktivitäten bezogen werden könnte, die der Wertordnung des Grundgesetzes und dem ethisch rechtlichen Minimalkonsens diametral zuwiderlaufen, möchte man dennoch einen material-inhaltlichen Wissenschaftsbegriff vermeiden.272 Mithin ist mit einer solchen Bestimmung nichts gewonnen, was nicht auch auf der Ebene der (verfassungsimmanenten) Grundrechtsschranken gelöst werden könnte, ohne Inpflichtnahmen der Grundrechtsträger zu konstruieren, deren positivrechtlicher Aufweis schwer fällt.273 Es bleibt also offen, welche zulässigen Kriterien aus einem Definitionsgebot resultieren können. Dies könnten nur solche sein, die die grundsätzliche, außerrechtlich bedingte Offenheit des Lebenssachverhalts Wissenschaft als solche nicht in Frage stellen.274 Dementsprechend werden auch von den Anhängern eines gemäßigten Definitionsgebots keine inhaltlichen Anforderungen gesetzt, die eine absolute und abstrakte Definition der Wissenschaft ergäben, sondern nur die formellen, wissenschaftstheoretischen Anforderungen, die insofern konkret im Sinne einer spezifischen Bestimmung wissenschaftlicher Arbeit gelten sollen und relativ im Sinne einer Definition, die die Offenheit des Wissenschaftsbegriffs berücksichtigt. Daher geht die der268
Ibid. So Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung, S. 159. 270 Vgl. bereits oben, S. 38 f.; ebenso Trute, ibid., S. 83; Morlok, Selbstverständnis als Rechtskriterium, S. 96 f. 271 Selbstverständnis als Rechtskriterium, S. 97. 272 Dickert, Naturwissenschaften und Forschungsfreiheit, S. 408. 273 Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung, S. 159. 274 Scholz Art. 5 III GG, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz Kommentar, Rn. 88. 269
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zeit überwiegende Meinung vom einem Einbezug des Selbstverständnisses in die Schutzbereichsbestimmung zumindest als Indikator aus,275 im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die, wie oben bereits beschrieben, die wissenschaftlich-methodische Reflexion oder erkenntnistheoretisch-unabhängige Untersuchung als Ausdruck eines pluralistischen, offenen und wertungsgemäß autonomen Wissenschaftsbegriffs begreift und so den Schutzbereich gestaltet. Auf eben diese Weise will dann auch Trute das Selbstverständnis der Grundrechtsträger bei der Schutzbereichsbestimmung berücksichtigt wissen. Die Eigengesetzlichkeit des Sachbereichs, die als frei garantiert wird, äußere sich zunächst und vor allem im Selbstverständnis der Wissenschaft, in ihrer Handlungspraxis und den wissenschaftseigenen Reflexionstheorien, die diese auf den Begriff bringen wollen, also etwa der Wissenschaftstheorie, -soziologie, -philosophie und -geschichte.276 Das Selbstverständnis wird durch die Handlungspraxis als ständig aktualisierte Eigengesetzlichkeit in die Grundstrukturen des Normbereichs vermittelt und prägt auf diese Weise die Normativstrukturen der Wissenschaftsfreiheit, ebenso wie in allen anderen sozialen Teilsystemen deren Ausdifferenzierung und Struktur hauptsächlich durch Selbstdefinitionsprozesse geschehe.277 Entscheidend ist bei der Einbeziehung des Selbstverständnisses daher eine Zweiteilung der Kompetenzen, die Aktualisierungskompetenz der Grundrechtsträger und die Konkretisierungskompetenz der Grundrechtsinterpreten beziehungsweise der staatlichen Stellen und Gerichte.278 Gerade weil es staatliche Entscheidungsprozesse sind, in denen der Inhalt der Wissenschaftsfreiheit in Frage steht, müssen die staatlichen Funktionsträger die Rechtskonkretisierung vornehmen. Das Selbstverständnis der Wissenschaftler wird in diesen Konkretisierungsprozess jedoch eingespiegelt, um die Eigengesetzlichkeit zu gewährleisten, weshalb den Selbstdefinitionsprozessen soweit wie möglich Raum gegeben werden muss.279 275
H. Schulze-Fielitz, Freiheit der Wissenschaft, in: Benda, Handbuch des Verfassungsrechts, § 27 Rn. 3; I. Pernice Art. 5 III Rn. 26, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar; andeutungsweise auch C. Starck, Art. 5 GG Rn. 323, in: Hermann Mangoldt/Friedrich Klein/Christian Starck, Das Bonner Grundgesetz – Kommentar. Zur Bestimmung des Wissenschaftsbegriffs nur auf das BVerfG verweisend H. Bethge, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, Art. 5 Rn. 206. 276 Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung, S. 61. 277 Ibid.; unter Verweis auf Renate Mayntz (Hrsg.) Differenzierung und Verselbständigung – zur Entwicklung gesellschaftlicher Teilsysteme, S. 27. 278 So auch Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation – Grundrechtsauslegung zwischen amtlichem Interpretationsmonopol und privater Konkretisierungskompetenz, S. 34.
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Somit ist bislang die Verknüpfung der Wissenschaftsbegriffe des context of discovery und des context of justification zu einem mehr als propositionalen Begriff der Wissenschaft, der nur eine individualzentrierte Betrachtung wissenschaftlicher Betätigung erlaubt, und die Einbeziehung des Selbstverständnisses der wissenschaftlichen Gemeinschaft in den Normbereich des Art. 5 Abs. 3 GG als Grundlage des Wissenschaftsbegriffs nach Trute erreicht. Resultat einer solchen Betrachtung ist die Einbettung der wissenschaftlichen Tätigkeit in einen Kommunikations- und Handlungszusammenhang, der den Normbereich des Grundrechts repräsentiert. Die Freiheit der Wissenschaft ist demnach die Freiheit dieser Kommunikationsund Handlungspraxis, die im Subsystem Wissenschaft vorherrscht. Diese Praxis ist durch systemeigene Normen, Orientierungen, Standards und Handlungsregeln geprägt, die Wissenschaftsfreiheit erstreckt sich insofern gerade auf die dem System eigenen Selbststeuerungseinrichtungen und -mechanismen. Diese Form der Einbettung des Wissenschaftsbegriffs in den Kommunikations- und Handlungszusammenhang dieses Subsystems entspricht auch der oben aufgezeigten Entwicklung der Wissenschaft von einem individualzentrierten Vorhaben zu einem institutionalisierten und stark arbeitsteiligen System heutiger Prägung280 und scheint auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Einzug gehalten zu haben.281 Eine Grenzziehung des Schutzbereichs müsste daher immer mit einer Gesamtbetrachtung dieses Kommunikations- und Handlungszusammenhangs einhergehen und jeweils zur Ermittlung im Einzelfall das Selbstverständnis dieses Subsystems berücksichtigen. (4) Würdigung des Ansatzes Der gesamte Ansatz der Wissenschaft als Kommunikations- und Handlungszusammenhang basiert letztlich auf einer umstrittenen Grundrechtstheorie, die die Frage aufwirft, ob der Bezugspunkt grundrechtlichen Schutzes eine Definition der juristischen Anwender sein muss, oder ein Abbild der Lebenswirklichkeit, ein Ausschnitt sozialer Wirklichkeit in seiner Grundstruktur. Gegen eine solche Konzeption wurden viele Einwände vorgebracht, allen voran von Robert Alexy.282 Mit seiner semantischen Normtheorie bildet er den Gegenpol zur Konzeption Müllers. Speziell am Bei279 Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung, S. 63. 280 Vgl. oben, S. 40 ff. 281 Vgl. BVerfG NJW 2000, 3635; das BVerfG hatte in diesem Nichtannahmebeschluss eine genaue Bestimmung des Schutzbereichs vermieden, die Wissenschaftlichkeit einer Forschungsarbeit aber allein der Evaluation im wissenschaftlichen Diskurs und insofern innerhalb der scientific community vorbehalten.
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spiel der Wissenschaftsfreiheit exemplifiziert er die Möglichkeit mit Hilfe zugeordneter Grundrechtrechtsnormen die Abstraktheit der positiven Grundrechtsnormen zu überwinden und eine stringente Strukturtheorie der Grundrechte zu erreichen.283 Die Überfrachtung der Norm mit den Realdaten nach der Müllerschen Konzeption hält er für problematisch, da sich niemals allein empirische Daten mit einbeziehen ließen, sondern immer auch wertende oder normative, sich möglicherweise widersprechende Elemente.284 Insofern könne eine solche Konzeption mehr Verwirrung stiften, als sie strukturierte.285 Die Einbeziehung der Realdaten sieht Alexy dann jedoch in berechtigter Weise auf der Ebene der Abwägung als erfüllt an. Wenn dort die Beeinträchtigungsintensitäten und die Wichtigkeit der Erfüllung gegenläufiger Prinzipien erörtert werden, müssten empirische Argumente im Wege der juristischen Argumentation ebenso einbezogen werden, wie es Müller bereits auf Normbereichsebene fordert.286 Der Vorteil der wirklichkeitsnäheren Betrachtung der grundrechtlich geschützten Sachbereiche wäre insofern nur in einem früheren Stadium der Grundrechtsprüfung evident, und insofern durch die Abwägungslehre an späterer Stelle ausgeglichen. Die Konzeption Müllers könnte sich im spezifischen Fall der Wissenschaftsfreiheit aber als maßgebend erweisen, in dem Sinne den Trute aufgezeigt hat. Im Wege einer grundrechtsspezifischen Betrachtung verfuhr auch das Bundesverfassungsgericht im Rahmen der Kunstfreiheit, als es im Sinne der strukturierenden Rechtslehre argumentierte, um der Eigengesetzlichkeit der Kunst im sogenannten Sprayer-Beschluss gerecht zu werden.287 Dabei zeigte es auf, dass es stets zweifelhaft ist, ob alle Grundrechte von einer bestimmten Theorie erfasst werden können und eine insofern heuristische Herangehensweise Erfolg haben kann.288 Einige Grundrechte wie die 282 Vgl. auch zum Folgenden Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 63 ff.; kritisch auch Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland – Band III/1, S. 479. 283 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 57. 284 Ibid., S. 68 f. 285 An dieser Stelle leidet seine Widerlegung des Müllerschen Modells allerdings an grundlegenden Mängeln, die bereits bei seinen Prämissen ansetzen. Eine ausführliche Kritik bei Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt – eine veränderte Perspektive auf die Grundrechtsdogmatik durch eine präzise Schutzbereichsbestimmung, S. 158 ff. Rusteberg entwickelt selbst eine Konzeption grundrechtlicher Gewährleistungsgehalte, die sich an die Müllersche Theorie anlehnt. 286 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 153. 287 Vgl. BVerfG NJW 1984, 1293 ff. und die Besprechung von J. Hoffmann, Kunstfreiheit und Sacheigentum – Bemerkungen zum „Sprayer“-Beschluß des BVerfG NJW 1985, 237 ff. Dieser Ansatz ist durch die Esra-Entscheidung freilich wieder relativiert worden und ein Einzelfall geblieben. 288 So auch die Argumentation bei Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung, S. 246 f.
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Kunst-, Religions- und Gewissensfreiheit sind von anderen Grundrechten wie der Meinungsfreiheit oder der allgemeinen Handlungsfreiheit abzugrenzen, in dem diejenigen Spezifika berücksichtigt werden, die sich aus deren Ziel ergeben. Gerade in einem Lebensbereich, der nach dem Postulat des Grundgesetzes frei sein soll und nach einhelliger Meinung durch seine Eigengesetzlichkeit konstituiert wird, ist es möglicherweise notwendig, jedenfalls aber gerechtfertigt, die soziale Wirklichkeit unabhängig von interpretatorischen Leistungen der juristischen Anwender289 als Normbereich zu erfassen, um damit dem Anliegen der Norm gerecht zu werden. Eine solche Auffassung ermöglicht daher auch die dogmatisch saubere Einbeziehung des Selbstverständnisses der Wissenschaft, die insofern ihren Freiheitsbereich selbst bestimmen kann, was dem Begriff der Freiheit näher kommt, als jede staatliche Vorgabe derselben, und damit dem vielzitierten Grundsatz „in dubio pro libertate“ entspricht. Auch die jüngere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ließ eine Tendenz erkennen, diesem Verständnis der Wissenschaftsfreiheit Rechnung zu tragen.290 Es betonte die alleinige Beurteilungsfähigkeit der Wissenschaft selber, wenn es um die Klassifizierung eines Werks als wissenschaftlich geht. Dennoch behält es sich aber weiter die Kompetenz vor, eine Veröffentlichung als unwissenschaftlich und damit nicht von Art. 5 Abs. 3 GG geschützt zu bewerten, wenn es feststellt, „daß eine Veröffentlichung [nicht] schon deshalb als wissenschaftlich zu gelten hat, weil ihr Autor sie als wissenschaftlich ansieht oder bezeichnet. Denn die Einordnung unter die Wissenschaftsfreiheit [. . .] kann nicht allein von der Beurteilung desjenigen abhängen, der das Grundrecht für sich in Anspruch nimmt.“291 Die Feststellung einer „systematischen“292 Verfehlung des Anspruchs von Wissenschaftlichkeit im Sinne einer fehlenden Methode beansprucht das Gericht weiterhin für sich. Das Selbstverständnis individueller Grundrechtsträger, die ihr Werk als wissenschaftlich bezeichnen wollen, ist somit als Kriterium durch das Gericht ausgeschlossen. Die Ansicht Trutes fordert aber eine Berücksichtigung institutioneller oder disziplinärer Selbstverständnisse bei der Normbereichsermittlung, was jedoch auch das Bundesverfassungsgericht nicht ausschließt, die Einbeziehung solcher Eigenbewertungen über Sachverständige hat es sogar begrüßt.293 289 Alexys Konzeption beruht auf der „korrekten grundrechtlichen Begründung“ der Definitionen von Schutzbereichen, so für die Wissenschaftsfreiheit die Smendsche Formel des BVerfG, die insofern nur von den Juristen selbst vorgenommen werden kann und jegliches Selbstverständnis der Grundrechtsträger zunächst ausschließt, Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 61. 290 Vgl. BVerfGE 90, 1 (12) und BVerfG NJW 2000, 3635. 291 BVerfGE 90, 1 (13). 292 Ibid.
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In wesentlichen Bereichen kommt der Ansatz von Trute zu keinen anderen Ergebnissen als die herkömmliche Ansicht, ihre Komplexität macht sie vielmehr weniger handhabbar. Ihre wirklichkeitsnähere Bestimmung der Wissenschaft im Einzelfall auf Grundlage der Realdaten ist dabei im Lichte der vorgebrachten Kritik ein immenser Vorteil, der aber ausgleichbar ist wie Alexy aufgezeigt hat. Die Ansicht ist aber auch aus einem weiteren Grund abzulehnen, der in der Struktur der Müllerschen Rechtstheorie liegt. Sie legt ihrem Konzept die Annahme zu Grunde, und nur dadurch funktioniert dieses, dass die Grundrechte nichts anderes seien, als „durch die (Verfassungs-)Rechtsordnung rechtlich konstituierte und als Rechte nicht überpositiv substantialisierbare Gewährleistungen.“294 Ihr liegt ein Normverständnis zu Grunde, das eine Auffassung von der Wissenschaft als Wert295 oder als Prinzip296 nicht zulässt. Es sieht die Grundrechtsnorm allein als herausgehobene, besondere und besonders gesicherte Berechtigung,297 und nicht mehr. Diese auf die Rechtsqualität der Grundrechte reduzierte Betrachtungsweise verkennt jedoch den Umstand, dass mit den Grundrechten nicht nur beliebige Normen gesetzt wurden, sondern dass diese auch eine Positivierung ethischer Prinzipien darstellen.298 Die Grundrechte sollen festlegen, welches die für die Rechtsordnung maßgeblichen ethischen Normen oder Prinzipien299 sind. Wie schon die Argumentation zur funktionalen Schutzbereichsbestimmung gezeigt hat, muss die Wissenschaftsfreiheit in ihrer Bedeutung als Grundsatzentscheidung des Verfassungsgebers angesehen werden, die nicht nur die Funktionalität des Wissenschaftssystems schützt, sondern auch die individuelle Entfaltungsmöglichkeit des Einzelnen sowie die Entscheidung des Grundgesetzes für einen Staat als Kulturstaat manifestiert. Als Prinzip der Verfassung verbürgt ihre Einhaltung einen Indikator und Faktor für den Grad der Freiheitlichkeit des politischen Gemeinwesens, seiner geistigen Gesamtverfassung und seiner Zukunftsfähigkeit.300 Um jenem Stellenwert gerecht zu werden, bedarf es einer Auffassung der Wissenschaftsfreiheit, die über deren reine Rechtsqualität hinausgeht. 293
Ibid S. 14. Friedrich Müller, Die Positivität der Grundrechte – Fragen einer praktischen Grundrechtsdogmatik, S. 41. 295 BVerfGE 35, 79 (114). 296 Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 125 ff. 297 Müller, Die Positivität der Grundrechte – Fragen einer praktischen Grundrechtsdogmatik, S. 43 f. 298 Vöneky, Recht, Moral und Ethik, S. 110 ff. 299 Den Begriff der Prinzipien vorziehend Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 71 ff., 125 ff. 300 H. Schulze-Fielitz, § 27 Freiheit der Wissenschaft Rn. 1, in: Benda, Handbuch des Verfassungsrechts. 294
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Zudem verlangt diese Verortung der Wissenschaftsfreiheit aber auch, dass die gesamtgesellschaftliche Verantwortung der Wissenschaft nicht vollständig einem institutionalisierten Selbstverständnis der Grundrechtsträger überlassen bleiben kann. Diese mögen die Grundbedingungen der Wissenschaft festlegen können, soweit sich diese auf die Zugehörigkeit zum Subsystem beziehen. Das Gesamtgefüge der ethischen Grundordnung des Grundgesetzes vermag die Manifestation ethischer Grundprinzipien in institutionellen Kodizes aber nicht zu verändern. Den Schutzbereich der Wissenschaft selbst können diese Instrumente in seiner Gesamtheit daher weder erweitern noch definieren. Der Ansatz Trutes ist daher auch in seiner Gesamtheit abzulehnen, einige Grundannahmen sollen aber zusätzliche Berücksichtigung finden. Denn dem rein individualzentrierten Wissenschaftsverständnis alleinigen Raum zu belassen, würde bedeuten, die tatsächliche Verflechtung der Wissenschaftsstrukturen zu verkennen. Nur eine stets mitbedachte organisationsbezogene Perspektive301 kann bei der Auslegung des Art. 5 Abs. 3 GG zu adäquaten Ergebnissen führen. dd) Ergebnis Trotz der Entwicklungen der modernen Wissenschaft, die die traditionelle Schutzbereichsbestimmung des Bundesverfassungsgerichts zu Recht in Frage stellen, wissen die neuen Ansätze der Schutzbereichsbestimmung in ihrer Gesamtheit nicht zu überzeugen. Sie weisen Mängel auf, die es rechtfertigen, die hergebrachte Sichtweise vorzuziehen, da sie die einzige Möglichkeit darstellt, die Wissenschaft als ethisches Grundprinzip zu begreifen, das durch Art. 5 Abs. 3 GG positiv normiert wurde. Aus diesen Ansätzen können jedoch gewisse Erkenntnisse für eine Bestimmung des Schutzbereichs gezogen werden. So ist eine rein funktionale Bestimmung des Schutzbereichs, die den Zweck der Wissenschaft für die Gesellschaft hervorhebt, abzulehnen, was auch für eine Reduktion des Schutzbereichs um eine Verantwortungskomponente gelten müsste. Des Weiteren ist das Selbstverständnis der Grundrechtsträger zwar in die Bestimmung des Schutzbereichs einzubeziehen, soweit eine kollektive und nicht individuelle Perspektive herangezogen wird. Eine verantwortungsethische Begrenzung des Schutzbereichs kann auf diese Weise aber nicht begründet werden. Die neueren Konzeptionen, die die Funktionalität oder lediglich den Realbereich als maßgebliche Indikatoren konstruieren, verkennen insgesamt den 301 So auch Groß, Wissenschaftsadäquates Wissenschaftsrecht, Wissenschaftsrecht 2002, S. 313 (316).
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Anspruch des Grundgesetzes eine ethische Ordnung darzustellen, die in ihrer Gesamtheit in der Lage sein soll, die Konflikte zwischen den Lebensbereichen auch in der Zukunft lösen zu können. Vor allem die Ansicht Trutes vermag die Betrachtung der Wissenschaft um systemische Elemente anzureichern, die in der aktuellen Rechtsanwendung berücksichtigt werden sollten. Um den Stellenwert der Wissenschaft für den Einzelnen, die Gesellschaft und den Staat angemessen zu erfassen, muss die Schutzbereichsbestimmung aber zunächst möglichst weit ausfallen, um verschiedenste Facetten des Wissenschaftsbetriebs zumindest mit einer prima-facie-Freiheit ausstatten zu können. Erst auf der später zu untersuchenden Abwägungsebene kann dann die Frage gestellt werden, welche Einschränkungsmöglichkeiten dieser Freiheit bestehen. c) Die objektiv-rechtliche Dimension der Wissenschaftsfreiheit Mit dem Hochschulurteil des Bundesverfassungsgerichts302 ist aus Art. 5 Abs. 3 GG eine weitere Bedeutungsebene herausgearbeitet worden, die objektiv-rechtliche Dimension der Wissenschaftsfreiheit. Diese Mehrschichtigkeit im Sinne der modernen Grundrechtstheorie303 wurde zunächst mit der Wertentscheidung des Grundgesetzes für eine freie Wissenschaft begründet, die auf der Schlüsselfunktion einer solchen für die Selbstverwirklichung des Einzelnen als auch für die gesamtgesellschaftliche Entwicklung beruht.304 Auch wenn die Begründung dieser Grundrechtsdimension über eine Wertordnung der Verfassung mittlerweile weitgehend vermieden wird,305 ist die objektiv-rechtliche Dimension der Wissenschaftsfreiheit heute unbestritten.306 Die Grundidee der objektiv-rechtlichen Dimension des Art. 5 Abs. 3 GG ist das „Einstehen des Staates, der sich als Kulturstaat versteht, für die Idee einer freien Wissenschaft und seine Mitwirkung an ihrer Verwirklichung,“307 also eine Handlungspflicht des Staates schützend und fördernd einer Aushöhlung des Grundrechts vorzubeugen. Im Einzelnen ergeben sich daraus laut Bundesverfassungsgericht die Verpflichtung des Staates als Quasi302
BVerfGE 35, 79 ff. Vgl. K. Hesse, Bedeutung der Grundrechte, in: Benda, Handbuch des Verfassungsrechts, S. 134 ff. 304 BVerfGE 35, 79 (114). 305 K. Hesse, Bedeutung der Grundrechte, in: Benda, Handbuch des Verfassungsrechts, S. 137; ibid.; Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung, S. 258. 306 Vgl. R. Scholz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz Kommentar, Art. 5 Abs. 3 GG Rn. 81; I. Pernice, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Art. 5 III (Wissenschaft) Rn. 52 ff. 307 BVerfGE 35, 79 (114). 303
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monopolist im Bereich der Grundlagen- und Großforschung ausreichende finanzielle Mittel bereitzustellen,308 und auch durch Organisation und Verfahren eine bestmögliche Gewährung wissenschaftlicher Freiheit zu ermöglichen.309 Das bedeutet für den öffentlich unterhaltenen Wissenschaftsbetrieb, dass dem einzelnen Träger des Grundrechts aus der Wertentscheidung ein Recht erwachse auf solche staatlichen Maßnahmen auch organisatorischer Art, die zum Schutz seines grundrechtlich gesicherten Freiheitsraums unerlässlich sind, weil sie ihm freie wissenschaftliche Betätigung überhaupt erst ermöglichen.310 Die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte ist für das modernere Verständnis der Wissenschaftsfreiheit auch konstitutiv, denn sie verbürgt Verpflichtungen des Staates, die über die abwehrrechtliche Dimension des individuellen Wissenschaftlers hinausgehen. Durch diese Dimension ergibt sich eine Verpflichtung einen bestimmten Bereich, die öffentlich finanzierte Forschung, mit einer weitestgehenden Autonomie auszustatten und dabei eine Organisation sowie Verfahrensvorkehrungen zu garantieren, die eine bestmögliche Entfaltung der wissenschaftlichen Freiheit gewährleisten. Dabei soll nicht nur der einzelne Wissenschaftler im Zentrum der Betrachtung stehen, sondern in gleichem Maße die „Institution ‚freie Wissenschaft‘“311 womit bereits der Gedanke an eine Betrachtung der Wissenschaft als ein Subsystem, dessen Kommunikations- und Handlungszusammenhänge geschützt sein müssen, angelegt ist. In der Smendschen Formel gesprochen muss der Staat daher diejenigen sozialen, wirtschaftlichen und rechtlichen Bedingungen aufrechterhalten oder schaffen, unter denen sich die Eigengesetzlichkeit als permanenter Prozess entfalten kann.312 Wenn man aber davon ausgeht, dass die Eigengesetzlichkeit der Wissenschaft engstens mit der Kommunikations- und Handlungspraxis des Subsystems zusammenhängt, erhält man eine Verpflichtung des Staates nicht nur die Freiheitsausübung des einzelnen Wissenschaftlers zu gewährleisten, sondern gleichwohl auch die Bedingungen zu schützen, die für eben jene Praxis konstitutiv sind, also der wissenschaftliche Diskurs und die jeweiligen Formen arbeitsteiliger Handlungspraxis, derer sich die 308
BVerfGE 35, 79 (115). BVerfGE 35, 79 (115), diesen Aspekt auch für die anderen Grundrechte hervorhebend K. Hesse, Die Bedeutung der Grundrechte Rn. 42 ff., in: Benda, Handbuch des Verfassungsrechts, und für die Wissenschaftsfreiheit besonders betonend Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung, S. 253 ff. 310 BVerfGE 35, 79 (115 f.). 311 BVerfGE 35, 79 (120). 312 Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung, S. 263. Dabei kann auf die ähnlichen Anforderungen im Bereich der Rundfunkfreiheit verwiesen werden, vgl. K. Hesse, Die Bedeutung der Grundrechte Rn. 45, in: Benda, Handbuch des Verfassungsrechts. 309
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Wissenschaft bedienen will. Dabei ist aber der Grat stets schmal auf dem ein Staat wandelt, der zum einen Organisation, Verfahren und Finanzierung einer freien Wissenschaft garantieren muss, zum anderen aber eine staatliche Determinierung der eigengesetzlichen Prozesse der Wissenschaft vermeiden soll. Ganz konkret gedeutet, bedeutet dies vor allem auch eine Ermöglichung wissenschaftlicher Selbstverwaltung, sowohl im universitären,313 wie – mit Einschränkungen – im außeruniversitären Bereich,314 zumindest soweit es sich um „wissenschaftsrelevante Angelegenheiten“315 handelt, womit auch eine Rücknahme der Fachaufsicht einhergehen muss und eine Beschränkung auf eine Rechtsaufsicht, die die Gewährleistung der Freiheit verbürgt. Zudem ergibt sich aus der Objektivität der Grundrechtsnorm auch eine Beeinflussung privatrechtlicher Beziehungen,316 was insbesondere für die arbeitsrechtlichen Beziehungen in der Wissenschaft und haftungsrechtliche Fragen eine Rolle spielen kann. Weiterhin ergibt sich aus dem objektiv-rechtlichen Gehalt der Wissenschaftsfreiheit eine Verpflichtung staatlicher Stellen einfache Gesetze im Sinne der Wissenschaftsfreiheit auszulegen, also deren „Ausstrahlungswirkung“ zu berücksichtigen, wenn es beispielsweise um die Ausfüllung von Generalklauseln geht.317 Umstritten ist aber, ob sich auch sogenannte Teilhaberechte aus der objektiv-rechtlichen Dimension der Wissenschaftsfreiheit ableiten lassen. Unbestritten sind jedenfalls die derivativen Teilhaberechte durch die Freiheitsrechte gewährleistet. Dies folgt aus dem jeweiligen Freiheitsrecht in Verbindung mit dem Gleichheitsgebot aus Art. 3 Abs. 1 GG. Wenn also ein Wissenschaftler Mittel in Anspruch nehmen kann oder Partizipationsmöglichkeiten besitzt, die einem anderen ohne ausreichende Gründe für eine Differenzierung vorenthalten werden, so hat Letzterer ein Teilhaberecht an diesen Mitteln. Strittig sind aber die originären Teilhaberechte, ob also ein Einzelner über die gleiche Zuteilung in einzelnen Leistungssystemen hinaus Teilhabeansprüche haben kann, deren Voraussetzungen zur Erfüllung erst noch geschaffen werden müssten. Hauptargument gegen subjektivierte Rechte, die aus objektiv-rechtlichen Gehalten der Grundrechte abgeleitet werden, ist eine entscheidende Einengung des Bereichs parlamentarischer Willensbildung, der als Grundbestandteil einer offenen demokratischen Ordnung gesehen werden muss.318 313 314 315 316 317
Dies wurde vom BVerfG explizit anerkannt in E 35, 79 (120 ff.). Vgl. Meusel, Außeruniversitäre Forschung im Wissenschaftsrecht, S. 225 ff. BVerfGE 35, 79 (123). Vgl. nur die berühmte Lüth-Entscheidung BVerfGE 7, 198 ff. BVerfGE 7, 198 ff.; 8, 210 (221 ff.) (ständige Rechtsprechung).
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Gerade für den Bereich der Wissenschaft hat das Bundesverfassungsgericht jedoch in seinem Hochschulurteil zum Niedersächsischen Vorschaltgesetz zumindest im Hinblick auf Organisation und Verfahren erklärt: „Dem einzelnen Träger des Grundrechts aus Art. 5 Abs. 3 GG erwächst aus der Wertentscheidung ein Recht auf solche staatlichen Maßnahmen auch organisatorischer Art, die zum Schutz seines grundrechtlich gesicherten Freiraums unerlässlich sind, weil sie ihm eine freie wissenschaftliche Betätigung überhaupt erst ermöglichen. Wäre dies nicht der Fall, so würde die wertentscheidende Grundsatznorm ihrer Schutzwirkung weitgehende beraubt. Diese Befugnis des einzelnen Grundrechtsträgers, gegenüber der öffentlichen Gewalt die Beachtung der wertentscheidenden Grundsatznorm durchsetzen zu können, gehört zum Inhalt des Individualgrundrechts, dessen Wirkungskraft dadurch verstärkt wird.“319 Diesen Ausführungen kann entnommen werden, dass das Bundesverfassungsgericht gerade im Bereich der Wissenschaftsfreiheit zur Ausgestaltung des grundrechtlich geschützten Lebensbereichs der grundgesetzlichen Wertentscheidung auch subjektive Rechte entnimmt, nämlich die auf Organisations- und Verfahrensnormen, die eine optimale Grundrechtsbetätigung und auch Teilhabe ermöglichen.320 Auch wenn der Begriff der subjektiven Rechte stark umstritten ist, so sprechen jedenfalls im Bereich des Kulturstaatsauftrags die ursprünglich individuelle Schutzrichtung der Grundrechte und die gebotene Grundrechtsoptimierung für eine Vermutung zugunsten der subjektiven Dimension der Grundrechte.321 Der Staat muss demnach in Verbindung mit den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zumindest dafür sorgen, dass geeignete Organisations- und Verfahrensvorkehrungen getroffen sind, die eine optimale Ausgestaltung des freiheitlichen Bereichs der Wissenschaft und eine weitgehende Teilhabe der einzelnen Wissenschaftler an der Gestaltung dieses Bereichs ermöglichen. Der Kernbereich der wissenschaftlichen Betätigung muss grundsätzlich der Selbstbestimmung des einzelnen Grundrechtsträgers vorbehalten bleiben.322 Dem objektiv-rechtlichen Gehalt des Art. 5 Abs. 3 318 K. Hesse, § 5 Die Bedeutung der Grundrechte, in: Benda, Handbuch des Verfassungsrechts, Rn. 30. 319 BVerfGE 35, 79 (116). 320 In diesem Sinne auch Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland – Band III/1, S. 978 ff. (986); K. Hesse, § 5 Bedeutung der Grundrechte, in: Benda, Handbuch des Verfassungsrechts, Rn. 42 ff.; I. Pernice, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Art. 5 III Rn. 54. 321 Von einer Prima-Facie-Gebotenheit der Subjektivierung sprechend Robert Alexy, Grundrechte als subjektive Rechte und als objektive Normen, Der Staat 1990, 49 ff. (60 ff.). 322 BVerfGE 35, 79 (115); daraus leitete das BVerfG die Vorgaben ab, dass im „wissenschaftsrelevanten Bereich“ Organisationsnormen weitest mögliche Freiheit garantieren müssen, im Bereich der Hochschulorganisation den wissenschaftlichen
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GG korrespondieren daher auch subjektive Rechte der Grundrechtsträger, jedenfalls auf geeignete Organisations- und Verfahrensnormen. d) Schranken der Wissenschaftsfreiheit Das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit enthält in Art. 5 Abs. 3 GG selbst keine Schranken, der Wortlaut erschöpft sich in der Postulierung absoluter Freiheit. Will man sich nicht einer Grundrechtstheorie anschließen, die die sachliche Reichweite der Grundrechte von vornherein beschränkt oder den Gewährleistungsgehalt eng bestimmt, um die tatsächliche Inanspruchnahme der Freiheit auf Kosten von Rechtsgütern anderer zu verhindern,323 muss man die notwendige Begrenzung dieser Inanspruchnahme durch eine anderweitige Zuordnung der grundrechtlichen Gewährleistungen und der anderen Rechtsgüter, durch welche ein Ordnungszusammenhang hergestellt werden kann, finden, damit sowohl die grundrechtlichen Gewährleistungen als auch jene anderen Rechtsgüter Wirklichkeit gewinnen.324 Die Frage welche Rechtsgüter, Prinzipien, Werte oder Verfassungszusammenhänge geeignet sind, die Wissenschaftsfreiheit einzuschränken, hat jedoch immer wieder Anlass zur Diskussion gegeben, die im Folgenden ausgehend von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nachgezeichnet werden muss, da sie für die hier untersuchten Instrumente unmittelbare Bedeutung haben wird. aa) Die Schrankenbestimmung des Bundesverfassungsgerichts Zur in gleicher Weise vorbehaltlos gewährleisteten Kunstfreiheit entschied das Bundesverfassungsgericht erstmals 1971 im Mephisto-Urteil, dass mit dieser Form der Gewährleistung eines Lebensbereichs auch eine besondere Form der Schrankenregelung einhergehe. Nach der Ablehnung Mitgliedern ihrer besonderen Stellung entsprechend demnach umfassende Mitspracherechte eingeräumt werden müssen, wenn auch dem Staat ein weiter Beurteilungsspielraum zusteht, wie er diese Vorgaben erfüllen will, vgl. BVerfGE 37, 79 (135). Ebenso ist er verpflichtet dafür zu sorgen, dass Störungen und Behinderungen des wissenschaftlichen Betriebs von außen weitestgehend ausgeschlossen werden, BVerfGE 55, 37 (54). 323 Vgl. dazu die Theorie der sachlichen Reichweite, die zuvor (S. 113 ff.) diskutiert wurde und auch Böckenförde, Schutzbereich, Eingriff, verfassungsimmanente Schranken – zur Kritik gegenwärtiger Grundrechtsdogmatik, Der Staat 2003, S. 165 ff.; sowie Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt – eine veränderte Perspektive auf die Grundrechtsdogmatik durch eine präzise Schutzbereichsbestimmung. 324 K. Hesse, § 5 Die Bedeutung der Grundrechte, in: Benda, Handbuch des Verfassungsrechts, Rn. 64.
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sowohl einer Schrankenübertragung von Art. 5 Abs. 2 GG, als auch der Anwendung der Schrankentrias von Art. 2 Abs. 1 Halbsatz 2 GG,325 verwies das Gericht auf das Menschenbild des Grundgesetzes, vom Menschen als eigenverantwortlicher Persönlichkeit, die sich innerhalb der sozialen Gemeinschaft frei entfaltet, weshalb Schranken für die Kunstfreiheit notwendig seien. Diese würden aber nur durch die Verfassung selbst bestimmt, jede Einschränkung bedürfe eines verfassungsrechtlichen Ansatzpunktes, Konflikte müssten nach Maßgabe der grundgesetzlichen Wertordnung und unter Berücksichtigung der Einheit derselben durch Verfassungsauslegung zu lösen sein.326 Diese Rechtsprechung hat das Gericht 1978 ohne Abstriche auf die Wissenschaftsfreiheit aus Art. 5 Abs. 3 GG übertragen327 und bis heute beibehalten, das Gericht zieht damit die Schranken dieses Grundrechts verfassungsimmanent. Gleichzeitig stellte es damit auch fest, dass die notwendige Grenzziehung oder Inhaltsbestimmung nicht generell, sondern nur im Einzelfall durch Güterabwägung vorgenommen werden kann.328 Dieses System der verfassungsimmanenten Schranken vorbehaltlos gewährleisteter Grundrechte brachte jedoch Probleme mit sich bei der Bestimmung der tatsächlich heranzuziehenden Verfassungsbestimmungen. Bereits in der ersten Entscheidung dazu wurden eine „bloße Ermächtigungsnorm“, eine Organisationsregelung und eine Kompetenznorm zur Ermittlung der mit Verfassungsrang ausgestatteten Rechtswerte herangezogen, die eine Einschränkung von solchen Grundrechte rechtfertigen könnten.329 Soweit sich ein Gericht tatsächlich nur auf Kompetenznormen stützen könnte, wäre dieser Weg zu Recht verfehlt, denn dann könnte man in Streit treten, ob Länderkompetenzen wie Polizei- oder Schulrecht weniger wichtig wären.330 325
So aber noch F. Klein, Art. 5 Anmerkung X. 6., in: Hermann von Mangoldt/ Friedrich Klein, Das Bonner Grundgesetz – Kommentar, S. 258 ff.; aus Art. 2 Abs. 1 Halbsatz 2 GG die „primitiven Nichtstörungsschranken“ ableitend auch Günter Dürig, Grundgesetz – Kommentierung des Artikels 1 und 2 Grundgesetz von Günter Dürig aus dem Jahre 1958. 326 BVerfGE 30, 173 (193); der Grundstein für die verfassungsimmanenten Schranken als Begrenzung vorbehaltloser Grundrechte wurde freilich schon für Art. 4 Abs. 3 GG in der Entscheidung E 28, 243 gelegt (Leitsatz 2). 327 BVerfGE 47, 327 (368 f.). 328 BVerfGE 47, 327 (369). 329 Vgl. BVerfGE 28, 243 (261); dort wurde die verfassungsrechtliche Grundentscheidung des Verfassungsgebers für die Einrichtung und Funktionsfähigkeit der Bundeswehr mit Art. 12 a Abs. 1, 73 Nr. 1 und 87 a GG begründet. Vgl. dazu die Sondervoten der Richter Böckenförde und Mahrenholz im bestätigenden Urteil E 69, 1 (57 ff.), die diese Vorgehensweise scharf kritisieren. Kritisch auch Rainer Wahl, Freiheit der Wissenschaft als Rechtsproblem, Freiburger Universitätsblätter 1987, 19 ff. (25). 330 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 118.
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Bei der Herausarbeitung der „mit Verfassungsrang ausgestatteten Rechtswerte“331, die neben den kollidierenden Grundrechten Dritter zur Begrenzung vorbehaltloser Grundrechte herangezogen werden, müssen aber gewisse Voraussetzungen eingehalten werden, um ihnen tatsächlich den Rang verfassungsimmanenter Schranken zuweisen zu können. Abgesehen vom Gebot der Rechtsstaatlichkeit, das neben der Existenz eines gegenläufigen Verfassungsprinzips für Eingriffe staatlicher Organe stets auch eine gesetzliche Ermächtigung für diese fordert, also zusätzlich zur verfassungsunmittelbaren Schranke auch eine verfassungsmittelbare,332 sollten solche Werte333 einen erhöhten Begründungsbedarf aufweisen, um derartige Grundrechte begrenzen zu können, denn nur auf diese Weise lässt sich eine Aushöhlung der bedeutungsvollen Freiheiten vermeiden. Gerade die kritisierten, vom Bundesverfassungsgericht gefunden „Rechtswerte“, wie der „verfassungsrechtlichen Grundentscheidung für die militärische Verteidigung“334, dem „Interesse der staatlichen Gemeinschaft an einer funktionsfähigen Rechtspflege“335 und dem „Bestand der Bundesrepublik Deutschland und ihrer freiheitlichen demokratischen Grundordnung“336 haben nicht nur den Bedarf an argumentativer Verankerung im verfassungsrechtlichen System aufgezeigt. Auch positivrechtliche Aufweise der zu findenden, gegenläufigen Prinzipien verlangte das Bundesverfassungsgericht in einer Entscheidung zur Kunstfreiheit, da dem „hohen Rang dieser Grundfreiheit“ mit formelhaften Rechtsgütern wie dem Schutz der Verfassung und die Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege nicht genüge getan würde.337 Daher ist für jedes einschränkende Prinzip von Verfassungsrang auch stets eine explizite Verankerung im Normtext der Verfassung zu fordern. Nur auf diese Weise kann man auch dem hohen Rang der Wissenschaftsfreiheit gerecht werden.338 Speziell im Bereich des Tierschutzes hat sich gezeigt, dass das Ge331
BVerfGE 28, 243 (261). Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 262 f. 333 In der Judikatur des BVerfG werden zudem die Begriffe „Gemeinschaftsinteressen“, „ebenso qualifizierte Rechtsgüter“, „verfassungsrechtlichen Schutz genießende Belange“ oder „Prinzipien“ verwendet, BVerfGE 28, 243 (261); 33, 23 (32); 49, 24 (55 f.); 57, 70 (99); 83, 130 (139). 334 BVerfGE 28, 243 (261); 32, 40 (46); 48, 127 (159 f.); 69, 1 (21). 335 BVerfGE 33, 23 (32). 336 BVerfGE 33, 52 (71). 337 BVerfGE 77, 240 (255); bestätigend E 81, 278 (293). 338 Als Grundsatz der schriftlichen Positivierung des Verfassungsrechts bezeichnend, Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland – Band III/2, S. 555. Nur ausnahmsweise sind auch aus systematischen Zusammenhängen ermittelte übergeordnete Verfassungsaussagen zuzulassen, soweit sich dies auf Fälle beschränkt, in denen sie methodisch diszipliniert abgeleitet vor dem Grundsatz der schriftlichen Positivierung Bestand haben. Ebenso Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 118 ff. 332
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richt alleine eine Kompetenzvorschrift und eine nicht hinreichende Verankerung in einer Staatszielbestimmung als nicht ausreichend erachtet um einen die Wissenschaftsfreiheit zulässigerweise einschränkenden Wert von Verfassungsrang zu ermitteln.339 Dies spricht für stringente Anforderungen an solche Verfassungsgüter.340 Diese Rechtsprechung ist auf einige Kritik gestoßen. Die geringe Einschränkbarkeit der Wissenschaftsfreiheit hat zu vielfachen Versuchen geführt, Alternativen aufzuzeigen, die aktuelle gesellschaftliche Fragen341 befriedigender beantworten sollten, als dies die großzügige Rechtsprechung getan hatte. Im Folgenden sollen einige aufgezeigt werden. bb) Weiter gehende Schrankenbestimmungen der Lehre Die weiter gehenden Schrankenbestimmungen der Literatur zeichnen sich durch zwei Zielrichtungen aus, zum einen die Erweiterung des Kreises der einschränkungsfähigen Verfassungsgüter, zum anderen die Einbettung der Wissenschaft in ihren gesellschaftlichen Zusammenhang und eine daraus resultierende Begrenzung. (1) Eine ethisch-immanente Schranke der Wissenschaftsfreiheit Die Wissenschaftsfreiheit nicht nur mit der Dogmatik des Bundesverfassungsgerichts durch kollidierende Grundrechte anderer und mit Verfassungsrang ausgestatte Rechtswerte zu begrenzen, sondern auch durch eine ethisch-immanente Schranke des Grundgesetzes, ist der Vorschlag von Ru339 Dies lässt sich dem Kammerbeschluss 1 BvL 12/94 entnehmen, in dem die Auffassung des VG Berlin, der Tierschutz habe keinen Verfassungsrang, bestätigt wird; ebenso BVerfG NVwZ 2000, 909. Die Entscheidungen ergingen freilich noch vor der Aufnahme des Tierschutzes in Art. 20a GG; ob sich dadurch jedoch ein Verfassungsrang des Tierschutzes ergeben hat, der die Wissenschaftsfreiheit einzuschränken vermag, ist umstritten, die herrschende Meinung spricht sich aber dafür aus, vgl. Johannes Caspar/Martin Geissen, Das neue Staatsziel „Tierschutz“ in Art. 20a GG, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2002, 913 ff., D. Murswiek, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, Art. 20a Rn. 72; bei „Evidenz“ auch R. Scholz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz Kommentar, Art. 20a Rn. 71. Dagegen Tade Matthias Spranger, Auswirkungen einer Staatszielbestimmung „Tierschutz“ auf die Forschungs- und Wissenschaftsfreiheit, Zeitschrift für Rechtspolitik 2000, 285 ff. 340 In BVerfGE 122, 89 ff. hat das Gericht das kirchliche Selbstbestimmungsrecht als zulässige Grenze der Wissenschaftsfreiheit ohne Probleme in Art. 140 GG iVm Art. 137 Abs. 3 Satz 1 WRV verankern können und hat somit diesen Vorgaben entsprochen. 341 Als Hauptbeispiele sind die Folgenverantwortung des Wissenschaftlers, die Embryonenforschung und Tierversuche zu nennen.
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pert Scholz.342 Diese ethisch-immanente Schranke ergibt sich für ihn aus einer entsprechenden Anwendung der Schranke des Art. 2 Abs. 1 GG, namentlich des Sittengesetzes.343 Folgerung dieses Ansatzes ist der Befund, dass die Wissenschaftsfreiheit, ebenso wie die Kunstfreiheit, neben den kollidierenden Grundrechten anderer, durch die „typischen Normen des Kriminalstrafrechts“ begrenzt werden kann.344 Dabei muss nach Scholz differenziert werden zwischen dem, der Kunstfreiheit entlehnten, Werk- und Wirkbereich der Forschung, wobei nur der Werkbereich unbeschränkbar sein soll. Beim Wirkbereich aber, also die Inanspruchnahme fremder Rechtsgüter zu Forschungszwecken beispielsweise, bedürfe es einer konkreten Abwägung zwischen der Wissenschaftsfreiheit einerseits und dem kollidierenden (Strafrechts-)Schutzgut andererseits. Die Nagelprobe seines Konzepts bleibt Scholz aber schuldig, also beispielsweise ob eine Folgenverantwortung für Forscher postuliert werden könnte, die über den Schutz verfassungsrechtlicher Rechtspositionen hinausgehen könnte, die also durch andere, metarechtliche Überlegungen bestimmt würde.345 Unabhängig von der Praktikabilität dieser Schranke muss jedoch untersucht werden, ob diese verfassungsrechtlich sinnvoll oder richtig sein kann. Freilich könnte eine solche Schranke den hier untersuchten Steuerungsformen ethischen Verhaltens eine weiter gehende juristische Bedeutung zukommen lassen, indem die dadurch postulierten metarechtlichen Normen ethischen Verhaltens in der Wissenschaft eine tatsächlich juristische Bedeutung entwickeln könnten als über die Grundrechte und Verfassungswerte hinausgehende Schranke der Wissenschaftsfreiheit. Dies gilt insbesondere dann, wenn man das Sittengesetz als eine „Gewohnheitsethik“ auffasst, die 342 R. Scholz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz Kommentar, Art. 5 III Rn. 61 ff. und 183 ff.; ebenso George Turner, Freiheit der Forschung – ihre Grenzen und die Verantwortung des Wissenschaftlers, S. 63. 343 So bereits Dürig, Grundgesetz – Kommentierung des Artikels 1 und 2 Grundgesetz von Günter Dürig aus dem Jahre 1958, Art. 2 Abs.1 Rn. 69 ff. Dieser hatte aus Art. 2 Abs. 1 GG die drei „primitiven Nichtstörungsschranken“ des Sittengesetzes, der Rechte anderer und der „Wahrung eines gedeihlichen menschlichen Zusammenlebens“, also eine gesellschaftlich immanente Schranke abgeleitet. 344 Scholz, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz Kommentar, Art. 5 III Rn. 188 ff. Ähnlich T. Oppermann, § 145 Freiheit von Forschung und Lehre, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Rn. 29. Dieser zieht als Schranke „die allgemeinen Grundsätze des sozialen Zusammenlebens“ und insofern die Normen des Strafrechts heran. 345 Im Bereich der Gentechnologie findet diese Begrenzungsmöglichkeit augenscheinlich keine Anwendung, vielmehr führt Scholz den Lebensschutz und die Menschenwürde als bestimmende Gesichtspunkte der Diskussion ein und nennt eine ethisch-immanente Schranke nicht, vgl. Rupert Scholz, Instrumentale Beherrschung der Biotechnologie durch die Rechtsordnung, in: Gesellschaft für Rechtspolitik Trier (Hrsg.), Bitburger Gespräche.
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durch diese „elastische ethische Generalklausel“ die Möglichkeit zur Einbeziehung der jeweilig herrschenden sozialethischen Wertvorstellungen der Gesellschaft ermöglicht.346 Der Anwendung der Dürigschen primitiven Nichtstörungsschranken des Sittengesetzes auf die Wissenschaftsfreiheit stehen aber nach der hier vertretenen Auffassung gewichtige Argumente gegenüber, die zum einen den Inhalt der Schranke betreffen, zum anderen die Übertragbarkeit auf ein anderes Grundrecht als Art. 2 Abs. 1 GG. Das Sittengesetz als ethisch-immanente Schranke der Grundrechte soll nach Dürig verdeutlichen, dass die Grundrechte keine abschließende Positivierung ethischer Prinzipien darstellen, sondern noch ergänzt werden müssen um die „‚inneren‘ ethischen Grenzen jeglicher Freiheit.“347 Jene metarechtlichen Prinzipien, die also eine weitere normative Bedeutung im System der Freiheiten des Grundgesetzes inne haben sollen, müssten demnach neben dem System der Freiheitsrechte des Grundgesetzes eine eigene Existenzberechtigung insofern haben, als das grundrechtliche System nicht ausreichen kann um alle Fälle menschlichen Verhaltens erfassen zu können.348 Zudem müsste diese Annahme auch Bestand haben, wenn man diese Schranke des Sittengesetzes nicht nur auf die allgemeine Handlungsfreiheit anwendet, sondern auch auf die anderen Freiheiten, die das Grundgesetz in privilegierterer Form positiviert. Wenn man die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts be346
Günter Erbel, Das Sittengesetz als Schranke der Grundrechte, S. 207. Ähnlich W. Kahl, Das Sittengesetz im Öffentlichen Recht, in: Ferdinand Kirchhof/Hans-Jürgen Papier/Heinz Schäffer (Hrsg.), Rechtsstaat und Grundrechte – Festschrift für Detlef Merten, S. 57 ff. (62 ff.), der im Sittengesetz einen Rezeptionsbegriff für das Eindringen metajuristischer Normen in den rechtsnormativen Bereich sieht. C. Starck, Das Sittengesetz als Schranke der freien Entfaltung der Persönlichkeit, in: Gerhard Leibholz/Hans Joachim Faller/Paul Mikat/Hans Reis (Hrsg.), Menschenwürde und freiheitliche Rechtsordnung – Festschrift für Willi Geiger zum 65. Geburtstag, S. 259 ff. (273 ff.) sieht im Sittengesetz die „historisch“ überlieferte Moralauffassung, das das Gericht seiner Entscheidung mit größerer Sicherheit zu Grunde legen kann, als das gegenwärtige sittliche Bewusstsein. 347 Dürig, Grundgesetz – Kommentierung des Artikels 1 und 2 Grundgesetz von Günter Dürig aus dem Jahre 1958, Art. 2 Abs. 1 Rn. 74. Dabei ist anzumerken, dass die ethische Nichtstörungsschranke, die Dürig postulierte, zu der Ansicht führte, dass „eine Sekte mit Nacktkultur aus Glaubensüberzeugung“ nicht mehr durch Art. 4 Abs. GG geschützt wäre, und der Beruf einer „Dirne“ nicht mehr durch die Berufswahlfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG geschützt wäre, vgl. a. a. O. 348 Dazu Jürgen Habermas, Das Konzept der Menschenwürde und die realistische Utopie der Menschenrechte, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 2010, 343 (349), der schreibt: „Während uns die Moral Pflichten auferlegt, die alle Handlungsbereiche lückenlos durchdringen, schafft das moderne Recht Freiräume für private Willkür und individuelle Lebensgestaltung. Unter der revolutionären Prämisse, dass rechtlich alles erlaubt ist, was nicht explizit verboten wird, bilden nicht Pflichten, sondern subjektive Rechte den Anfang für die Konstruktion von Rechtssystemen.“
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trachtet, so könnte man durchaus zu dem Schluss kommen, dass zwar die „verfassungsrechtlichen Grundentscheidungen für alle Bereiche des Rechts“ gelten, Konkretisierungen von Generalklauseln der guten Sitten und Treu und Glauben aber nur „in erster Linie von den Grundsatzentscheidungen der Verfassung bestimmt werden,349 also noch weitere, möglicherweise außerrechtliche ethische Grenzen zu berücksichtigen sind. Wenn man jedoch einen überschießenden moralischen Gehalt der Grundrechte annehmen will, so ist aber zu fragen, woraus dieser gewonnen werden kann im vordergründig juristischen Gefüge der Verfassung. Nur wenn man solche Gehalte nicht dort selbst finden kann, dürfte es gerechtfertigt sein, auf weitere, andere ethische Gehalte einzugehen, die die Grundrechte beschränken können. Das Grundgesetz verweist jedoch selbst auf ethische, überpositive Normen, wenn es in Art. 1 Abs. 1 die Würde des Menschen als unantastbar erklärt und sich in Art. 1 Abs. 2 zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten bekennt.350 Damit ist jedoch nicht nur eine Feststellung eines, sondern des obersten Verfassungsprinzips getan. Als ethisches Fundament des Grundgesetzes kommen daher nur die dort genannten Prinzipien in Frage, nicht aber auch ein anderweitig begründetes, ethisches Sittengesetz. Ein darüber hinaus gehendes Verständnis des Sittengesetzes würde eine Relativierung der Grundrechte zum Beispiel im Lichte der jeweils herrschenden Moral ermöglichen. Gerade gegen ein auf diese Weise erst materiell zu bestimmendes Sittengesetz sollte die Rechtsordnung jedoch immunisiert werden.351 Eine ethisch-immanente Schranke der Wissenschaftsfreiheit, jenseits positivierter Prinzipien der Verfassung ist daher abzulehnen. Auch ist die generelle Übertragbarkeit der Schranke des Art. 2 Abs. 1 GG vom Bundesverfassungsgericht klar und deutlich verworfen worden.352 Es widerspreche dem Grundsatz der Subsidiarität des Auffanggrundrechts der allgemeinen Handlungsfreiheit zur Spezialität der einzelnen Freiheitsrechte. Die besonders geschützten Lebensbereiche bedürften ihrer speziellen Schrankenregelung entsprechend auch einer gesonderten Behandlung, was 349
BVerfGE 89, 214 (229 f), zum Bürgschaftsvertrag. Habermas, Das Konzept der Menschenwürde und die realistische Utopie der Menschenrechte, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 2010, S. 345; Vöneky, Recht, Moral und Ethik, S. 110 f. Dieser Modus ist jedoch nicht die alleinige Wirkung des Art. 1 Abs 1, es korrespondieren mit ihm auch ein objektiv-rechtlicher Gehalt, eine Staatszielbestimmung und auch ein subjektives Recht, vgl. nur zu den verschiedenen Funktionen des Art. 1 GG und den verschiedenen Ansichten dazu Winfried Brugger, Menschenwürde, Menschenrechte, Grundrechte; H. Dreier, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Art. 1 GG Rn. 39 ff.; W. Höfling, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, Art. 1 GG Rn. 5 ff. 351 Vöneky, Recht, Moral und Ethik, S. 114. 352 Für die Kunstfreiheit BVerfGE 30, 173 (192 f.), für die Wissenschaftsfreiheit BVerfGE 47, 327 (369). 350
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mit der bislang hier vertretenen Ansicht übereinstimmt. Die Schrankenbestimmung von Scholz nach dem Vorbild Dürigs ist somit abzulehnen, es bedarf einer Bestimmung die der verfassungsrechtlichen Systematik besser gerecht wird. (2) Das Menschenbild des Grundgesetzes als Schranke der Wissenschaftsfreiheit Die gerade erfolgte Hervorhebung der Menschenwürde als oberstes Prinzip und ethisches Fundament der Verfassung hat auch in der Literatur zu einem Ansatz einer weiter gehenden Beschränkungsmöglichkeit geführt. So wird vertreten, aus dem Menschenwürdeprinzip sei ein Menschenbild abzuleiten, dem die Wissenschaftsfreiheit wie jede andere Freiheit zu Grunde lägen, und das insofern diese Freiheiten beschränken könne.353 Zwar hat auch das Bundesverfassungsgericht diesen Begriff in seiner Argumentation verwandt, jedoch nur um daran anschließend darzulegen, dass jede Freiheit auch einer Grenze bedarf, die es in den zuvor erwähnten Schutzgütern der Verfassung sieht.354 Es muss also differenziert werden zwischen einer ethischen Überformung des Grundgesetzes, die eine Ausrichtung widerspiegelt, und den tatsächlich zur Einschränkbarkeit von Grundrechten heranziehbaren Rechtsgütern. Die Heranziehung des Menschenbildes der Verfassung als wertverwirklichende Ausgestaltung kann und sollte die staatlichen Organe nach dieser Ansicht bei ihrer praktisch-politischen Arbeit leiten.355 Als Freiheitsschranke kann es aber nur dienen, wenn es tatsächlich im System der Grundrechte verankert ist und daher eine Schranke bilden kann, die nicht bereits die geistige Entfaltung und Selbstbestimmung der Freiheitsträger von vornherein beschränkt und damit dem Grundgedanken der Freiheitsrechte Rechnung trägt, sich zunächst ohne jede Beschränkung frei entfalten zu können und von seiner Freiheit daher auch Gebrauch machen zu können.356 353 So als Begründung für den Verfassungsrang des Tierschutzes, obwohl dieser mittlerweile in Art. 20a GG aufgenommen ist C. Starck, Art. 5 Rn. 423, in: Hermann von Mangoldt/Friedrich Klein/Christian Starck, Kommentar zum Grundgesetz; Generalisierend U. Mager, § 166 Die Freiheit von Forschung und Lehre, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII S. 1094. Differenzierend Losch, Wissenschaftsfreiheit, Wissenschaftsschranken, Wissenschaftsverantwortung – zugleich ein Beitrag zur Kollision von Wissenschaftsfreiheit und Lebensschutz am Lebensbeginn, S. 242 f. 354 BVerfGE 30 173, (193). 355 Losch, Wissenschaftsfreiheit, Wissenschaftsschranken, Wissenschaftsverantwortung – zugleich ein Beitrag zur Kollision von Wissenschaftsfreiheit und Lebensschutz am Lebensbeginn, S. 243. 356 K. Hesse, § 5 Die Bedeutung der Grundrechte, in: Benda, Handbuch des Verfassungsrechts, Rn. 16.
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Dieser Bedeutung ist Rechnung zu tragen bei der Bestimmung von Freiheitsschranken, was aber dann möglicherweise nicht der Fall ist, wenn dazu ein summarischer und ausfüllungsbedürftiger Begriff zum unmittelbar rechtwirksamen Schutzgut erhoben wird.357 Zwar sucht und findet dieser Anschluss an das materielle Schutzgut der Menschenwürde, geht aber über deren Bedeutung hinaus, wenn damit beispielsweise ein Rückgriff auf die „natürliche“, enge Verbindung des Menschen mit seiner Umwelt und eine daraus folgende Verantwortung für die Tiere als unmittelbare Rechtwirkung erzeugt werden kann.358 Aus der abwägungsresistenten Menschenwürde wird damit ein abwägungsfähiger „Rechtswert“ gewonnen, womit zwar noch ein Anschluss besteht, aber eine dogmatische Entfernung von dem tatsächlichen Gehalt des zu Grunde liegenden Schutzguts. Es ermöglicht insofern unter dem Mantel der Menschenwürde die Einbeziehung von Wertvorstellungen, Nützlichkeitserwägungen oder Verantwortungsbedürfnissen, gegen die das Grundgesetz in seiner positivierten Form eigentlich immunisiert werden sollte.359 Gerade auch um mehr oder weniger verdeckte Abwägungsentscheidungen in Fällen mit Menschenwürdebezug zu vermeiden,360 muss der Begriff des Menschenbildes als einschränkungsfähiger Rechtswert daher abgelehnt werden. (3) Schlussfolgerung Das Grundgesetz muss als Normierung ethischer Prinzipien gesehen werden, dessen Abgeschlossenheit gegenüber weiteren metarechtlichen Normen dazu anhält, die Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit tatsächlich nur durch kollidierende Grundrechte und wenige weitere Verfassungsgüter, von denen ein qualifizierter positivrechtlicher Aufweis zu fordern ist, zuzulassen. Als oberstes Verfassungsprinzip ist zuvorderst die Menschenwürde als absolute Schranke der Wissenschaftsfreiheit heranzuziehen. Weitergehende ethische, metarechtliche Pflichten können und sollen im System der Grundrechte der Wissenschaft nicht auferlegt werden, so dass jegliche ethische Normierung in Kodizes sich an diesen Vorgaben messen lassen muss. In357 Losch, Wissenschaftsfreiheit, Wissenschaftsschranken, Wissenschaftsverantwortung – zugleich ein Beitrag zur Kollision von Wissenschaftsfreiheit und Lebensschutz am Lebensbeginn, S. 90. 358 C. Starck, in: Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 5 Rn. 423. Mit dieser Argumentation soll keine Stellung gegen den Tierschutz bezogen werden, dieser ist in Art. 20a GG mittlerweile verfassungsrechtlich normiert, sondern eine Theorie widerlegt werden. 359 Vgl. oben, S. 128. 360 R. Wahl, Freiheit der Wissenschaft als Rechtsproblem, Freiburger Universitätsblätter 1987, 19 (28).
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wieweit dies aber tatsächlich möglich ist, hängt von der Qualität der Kodizes ab, also welche Wirkungen diese entfalten und damit erst einen Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit darstellen können. 3. Das spezielle Problem der wissenschaftlichen Folgenverantwortung in der deutschen Verfassungsgerichtsrechtsprechung Bereits Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts entbrannte in Deutschland ein Streit um die wissenschaftliche Folgenverantwortung und deren rechtliche Kontrollierbarkeit. Ursache waren die in dieser Zeit aufkommenden Erfolge in der Gentechnik und das sich beständig steigernde atomare Aufrüstungsverfahren, zwei Umstände, die die Angst in der Bevölkerung vor unkontrollierbaren Risiken der modernen Wissenschaft schürten. Insofern lag es nahe in der rechtlichen Diskussion einen Wissenschaftsbegriff zu forcieren, der zu Lasten der Freiheit eine verantwortungsorientierte Wissenschaft fördern sollte. In der Folge implementierte der hessische Gesetzgeber in sein damals neu geschaffenes Gesetz über die Universitäten des Landes Hessen (HUG) den kontroversen § 6, der die Wissenschaftler an Universitäten mehr in die gesellschaftliche Verantwortung zu nehmen versuchte. Die hauptsächlich diskutierte revidierte Fassung von 1974 lautete: „Alle an Forschung und Lehre beteiligten Mitglieder und Angehörigen der Universitäten haben die gesellschaftlichen Folgen wissenschaftlicher Erkenntnis mitzubedenken. Werden ihnen Ergebnisse der Forschung, vor allem in ihrem Fachgebiet bekannt, die bei verantwortungsloser Verwendung erhebliche Gefahr für die Gesundheit, das Leben oder das friedliche Zusammenleben der Menschen herbeiführen können, so sollen sie den zuständigen Fachbereichsrat oder ein zentrales Organ der Universität davon unterrichten.“
Die Formulierungen einer „Mitbedenkens-“ und Informationspflicht sind die rechtlichen Konkretisierungen des Ethos` wissenschaftlicher Verantwortung. Bei den betroffenen Hochschulwissenschaftlern sind sie dabei auf scharfe Kritik gestoßen,361 die auch nach der umstrittenen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 1. März 1978362 nicht weniger wurde und die zahlreiche neue Ansätze hervorbrachte, die in dieser Arbeit bereits behandelt wurden. 361
Vgl. nur die Beiträge von Schmitt Glaeser, Die Freiheit der Forschung, WissR 1974, 107 (113 ff.) und H.-W. Kupfer, Informationsverpflichtung für Wissenschaftler?, WissR 1971, 117 ff. 362 BVerfGE 47, 329 ff.
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In der Entscheidung hatten die Richter über die Beschwerde von mehreren Hochschullehrern zu befinden, die sich in ihrer Wissenschaftsfreiheit aus Art. 5 Abs. 3 GG unter anderem durch jenen § 6 HUG verletzt sahen. Das Gericht musste sich aber zunächst mit der Frage auseinandersetzen, ob die Pflicht zum „Mitbedenken“ eine Rechtspflicht im typischen Sinne sein könne,363 oder nur ein moralischer Appell, dessen Grundrechtsrelevanz fraglich wäre.364 Als moralischer Appell wäre jener Paragraph eine sanktionslose Anregung im forum internum des wissenschaftlichen Erkenntnisvorgangs gewisse Aspekte nicht außer Acht zu lassen. Die Frage aber, ob ein moralischer Appell eine reine Angelegenheit des forum internum sein kann, oder nicht auch zwangsläufig Außenwirkungen entfaltet, steht hier gerade zur Diskussion und kann für die Wirkungskraft von Kodizes interessant sein, auch wenn diese kein formelles Gesetz wie § 6 HUG darstellen. Das Bundesverfassungsgericht ging im Falle des hessischen Hochschulgesetzes von einer echten Rechtspflicht aus, der alle Mitglieder und Angehörigen der Universität unterworfen seien.365 Neben historischen und systematischen Argumenten366 ist vor allem die Überlegung des Bundesverfassungsgerichts interessant, dass die Dienstpflichten eines Universitätsprofessors auch die Veröffentlichung von Forschungsergebnissen umfasse. Zudem müssten regelmäßig Forschungs- und Tätigkeitsberichte vorgelegt werden und schließlich müssten bei der Verteilung der Forschungsmittel die Konzeptionen der Forschungsvorhaben dargelegt werden. In all diesen Äußerungen werde erkennbar und damit auch überprüfbar, inwieweit der Wissenschaftler seiner Pflicht zum Mitbedenken nachgekommen sei.367 Insofern sei von einer Rechtspflicht auszugehen, einer expliziten Sanktionierung bedürfe es im Rahmen der allgemeinen dienstrechtlichen Vorschriften nicht mehr. Wenn aber eine Rechtspflicht bestünde, müsste die Pflicht zum Mitbedenken auch vor der in Art. 5 Abs. 3 GG garantierten Wissenschaftsfreiheit standhalten. Dabei stützten sich die Beschwerdeführer hauptsächlich auf das Argument Walter Schmitt Glaesers,368 der argumentierte, die Wissenschaft werde durch das Gesetz auf einen bestimmten materialen Wissenschafts363 In diesem Sinne Schmitt Glaeser, Die Freiheit der Forschung, WissR 1974, 107 (113 f.). 364 Eine solche Ansicht ergab die Auswertung der Gesetzgebungsmaterialien durch das Gericht, BVerfGE 47, 327 (370 ff.). 365 BVerfGE 47, 327 (375). 366 Dabei wurden Äußerungen von Abgeordneten ausgewertet und die Stellung der Vorschrift im Gefüge des HUG als Argument für eine Rechtspflicht ermittelt, ibid. S. 375 ff. 367 Ibid. S. 376. 368 Schmitt Glaeser, Die Freiheit der Forschung, WissR 1974, 107 (113).
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begriff festgelegt,369 also einen Begriff, der durch inhaltliche Ausrichtungen des Gesetzgebers angereichert sei und daher die Selbstreferenz der Wissenschaft als Produkt der Eigengesetzlichkeit unterminiere. Dem trat das Gericht entgegen, indem es die zuvor begründete Definition der Wissenschaft heranzog370 und deren Autonomie noch einmal betonte, also einen materialen Begriff des Grundrechts betont ablehnte. Nach den Ausführungen des Gerichts zum bereits dargelegten Schrankensystem der Wissenschaftsfreiheit, kam es zu dem Schluss, dass eine verfassungskonforme Auslegung des § 6 HUG möglich sei, wenn und soweit die „gesellschaftlichen Folgen“ als auslegungsbedürftiger Begriff nicht jedwede Auswirkung wissenschaftlicher Forschung umfassen würden, sondern nur besondere, also besonders gefährliche Folgen für die besonders, also verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgüter wie Leben, körperliche Unversehrtheit und Freiheit.371 Damit schob das Gericht der Intention des hessischen Gesetzgebers einen Riegel vor, die Folgen der wissenschaftlichen Forschung für die Allgemeinheit kontrollierbar zu machen und zwar auch gesellschaftspolitische Folgen.372 Diese Deutung war dem Gericht zu weit, da es für den Wissenschaftler eine Einschränkung seiner Wissenschaftsfreiheit bedeuten würde, die nicht mehr mit anderen Verfassungsgütern zu rechtfertigen wäre. Der Wissenschaftler hätte demnach die schwerwiegenden Folgen seiner Arbeit „mitzubedenken“, die Frage lautete nun aber, wie sehr er damit in seiner wissenschaftlichen Arbeit festgelegt ist im Sinne des materialen Begriff der Wissenschaft den Schmitt Glaeser erkannt hatte. Das Gericht erkannte in diesem Wortsinne lediglich die Berücksichtigung der Folgen als einer unter vielen Gesichtspunkten der Überlegungen und Erwägungen die der Forscher bei seinem Vorhaben zu bedenken hätte. Insofern könne von einer gesetzlichen, inhaltlichen Determinierung des Wissenschaftsbegriffs nicht ausgegangen werden.373 Gleichzeitig stellte es damit aber auch fest, dass es dem Gesetzgeber gestattet sei, den Wissenschaftler374 auf eine Bedenkenspflicht festzulegen und verweigerte damit der Wissenschaft eine vollkommene Staatsisolation, die das System Wissenschaft für sich jedoch stets eingefordert hatte, um den Erkenntnisvorgang vollkommen frei gestalten zu können. Es wurde also eine Grenze gezogen, die die Wissenschaft 369
BVerGE 47, 327 (341). BVerfGE 35, 79 (112 f.). 371 BervfGE 47, 327 (379, 381). 372 Hessische Regierung, zitiert in Hailbronner, Die Freiheit der Forschung und Lehre als Funktionsgrundrecht, S. 299. 373 BVerfGE 47, 327 (377). 374 Dies gilt zumindest an der staatlichen Institution Universität. 370
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zum einen vor gesellschaftspolitischen Erwägungen frei machen sollte, zum anderen aber auch eine gewisse Verantwortungslast der Wissenschaft erkannte, die zumindest den grundlegendsten Bedürfnissen der Gesellschaft Rechnung zu tragen hat. Damit stimmt diese Rechtsprechung mit der hier vertretenen Auffassung überein, dass die Wissenschaftsfreiheit zunächst keinen weitergehenden ethischen Schranken unterliegt, als sie das Grundgesetz selbst aufstellt, und dass die Folgenverantwortung des Wissenschaftlers nur soweit gehen kann, wie es kollidierende Grundrechte anderer mit ausreichender Eingriffsintensität erfordern, aber auch nur soweit die Folgen lediglich für den Wissenschaftler aufgrund seiner Spezialkenntnisse auf diesem Gebiet erkennbar sind, denn anderenfalls wäre der Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit nicht mehr im verfassungsrechtlichen Sinne erforderlich.375 Es wurde also sowohl die Anzahl der möglichen Rechtsgüter eingeschränkt, die ein Wissenschaftler auf der Grundlage des § 6 HUG zu berücksichtigen hat, als auch die Reichweite auf die tatsächlich für den Wissenschaftler vorhersehbaren Folgen beschränkt. Jede weitere Determinierung wissenschaftlicher Arbeit bereits im Erkenntnisvorgang muss einen unzulässigen Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit darstellen. Soweit daher in Ethikkodizes Pflichten zur Berücksichtigung von Folgen aufgestellt werden, muss sich die Reichweite dieser Pflichten an dieser Rechtsprechung orientieren, wenn und soweit die rechtliche Situation vergleichbar ist. 4. Die rechtliche Einordnung von wissenschaftlichen Kodizes im deutschen Recht Im Folgenden steht die Frage im Mittelpunkt, inwieweit Ethikkodizes trotz ihrer beanspruchten Freiwilligkeit rechtliche Wirkungen erzeugen können. Dabei soll zunächst untersucht werden, ob eine unmittelbare rechtliche Wirkung bereits durch die Handlungsanleitungen erzeugt wird, indem damit auch ein Befolgungsanspruch einhergehen könnte [a)]. Nachdem diese These abgelehnt wurde, wird eine mögliche mittelbare rechtliche Wirkung konstatiert, da sie in wissenschaftlichen Entscheidungsprozessen eine Wirkung entfalten können, die die Wissenschaftsfreiheit berührt [b)]. Abschließend wird untersucht, inwieweit in Rechtskonkretisierungsprozessen bei Verweisen auf außerrechtliche Normen eine rechtliche Bedeutung der Kodizes möglich sein kann [c)].
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BVerfGE 47, 327 (383).
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a) Die unmittelbare rechtliche Wirkung Die Kriterien für geltendes Recht wurden zuvor bereits analysiert: Der Normgeber muss normsetzungsbefugt sein, also entweder durch die Verfassung selbst oder über einen einfachrechtlichen Verweis mit der Fähigkeit ausgestattet sein, verbindliche Normen zu setzen. Zudem muss er auch den Willen haben verbindliches Recht zu setzen, seine Normsetzungsbefugnis also auch ausüben wollen. An dieser Stelle muss daher differenziert zunächst die Form der erlassenden Körperschaft und der sie ausgestaltenden rechtlichen Normen untersucht werden um dann Rückschlüsse auf die erlassenen Normen zu erhalten. aa) Der Verhaltenscodex der Deutschen Forschungsgemeinschaft Die Deutsche Forschungsgemeinschaft ist ein eingetragener Verein des bürgerlichen Rechts376 und insofern mit der Satzungsgewalt des § 25 BGB ausgestattet.377 Ableitend von der Vereinsverfassung kann die DFG daher Vereinsordnungen erlassen, die für ihre Mitglieder378 bindend sind. Damit besitzt die DFG gegenüber ihren Mitgliedern eine Normsetzungsbefugnis, der Rechtsbindungswille ist aber der eigentlich fragwürdige Punkt bei der Bewertung des Verhaltenscodex der DFG. Angesichts der ausschließlichen Wahl deontischer Operatoren wie „sollen“ und der Betonung einer Empfehlungsnatur des Verhaltenscodex, liegt die Annahme eines Rechtsbindungswillens fern. Dies entspricht auch der Praxis der DFG die materiellen Auswahlkriterien nicht verbindlich vorzugeben, womit sie ihrer Verpflichtung aus Art. 5 Abs. 3 GG gerecht wird. Förderungsanträge sollen allein durch die nebenamtlichen wissenschaftlichen Gutachter nach wissenschaftlichen Kriterien beurteilt werden, lediglich „Hinweise für die Begutachtung“ auf die formellen Kriterien werden durch die DFG herausgegeben. Eine unmittelbare rechtliche Verbindlichkeit ist für den Verhaltenscodex aufgrund des ausdrücklichen Willens der normsetzenden Institution daher auszuschließen. 376 Vgl. die Erläuterungen zur Rechtsnatur und den historischen Bedingungen dafür bei Salaw-Hanslmaier, Die Rechtsnatur der Deutschen Forschungsgemeinschaft – Auswirkungen auf den Rechtsschutz des Antragstellers, S. 5 ff. und 96 ff.; Anke Wilden, Die Erforderlichkeit gesetzlicher Regelungen für die außeruniversitäre Forschung und die Forschungsförderung, S. 58; Meusel, Außeruniversitäre Forschung im Wissenschaftsrecht, S. 70 ff. 377 Zur Rechtsnatur von Vereinssatzungen s. o., S. 152. 378 Die Mitglieder der DFG sind wissenschaftliche Hochschulen, größere Forschungseinrichtungen von allgemeiner Bedeutung, die Akademien der Wissenschaft sowie ein Reihe von wissenschaftlichen Verbänden. Eine vollständige Liste der Mitglieder ist unter http://www.dfg.de/dfg_profil/gremien/mitgliederversammlung/in dex.html einzusehen. (zuletzt abgerufen am 24.3.2014).
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bb) Die Verhaltensregeln der Max-Planck-Gesellschaft Als eingetragener Verein des bürgerlichen Rechts gilt für die MPG dasselbe, wie für die DFG, was ihre Fähigkeit zur Normsetzung betrifft. Fraglich ist wiederum, ob sie davon Gebrauch gemacht hat. Die deontischen Operatoren sprechen zunächst wieder gegen einen Rechtsbindungswillen, zumindest was die ethischen Grundsätze und deren Befolgung angeht. Anders stellt sich die Situation bei den Verfahrensvorschriften für die Ethikkommission beispielsweise dar. Dort existieren feste Vorgaben, die institutionelle Neuerungen notwendig machen. Die Frage ist, wie das Verhältnis dieser Normen zu den ethischen Normen sein soll. Die Etablierung der Ethikkommission ist durch zwingende Formulierungen vorgegeben,379 was mit Blick auf die Wissenschaftsfreiheit aber insofern unproblematisch ist, als diese Verfahrensregelungen zunächst keine unmittelbaren Auswirkungen haben. Die vorgeschriebene Pluralität in der Besetzung der Mitglieder ist der Tatsache geschuldet, dass eine interdisziplinäre Betrachtung einen optimalen Blickwinkel auf Problemlagen ermöglichen soll, ausgehend von der Prämisse, dass erst die Interdisziplinarität eine Debatte ermöglicht, die frei ist von zu starken disziplintypischen Moralvorstellungen und damit eine gesamtwissenschaftliche Debatte ermöglicht, die sich weiter vom reinen peer-review-Verfahren löst und damit einen besseren ethischen Diskurs ermöglicht.380 Gleichwohl handelt es sich dennoch im weiteren Sinne um ein peer-review-Verfahren als nur Wissenschaftler dieses Gremium besetzen. Anderweitige Forderungen wären mit Rücksicht auf den Begriff der Selbststeuerung der Wissenschaft auch kaum sinnvoll. Anders stellt sich die Sache bei der Befassung der Ethikkommissionen mit spezifischen Problemen dar. Soweit eine freiwillige Beantragung der Überprüfung von Forschungsvorhaben durch die betroffenen Wissenschaftler selbst erfolgt,381 ist zunächst keine Schwierigkeit zu erkennen. Soweit aber der Präsident oder „bei berechtigtem Interesse“ auch andere wissenschaftliche Mitglieder eine Überprüfung beantragen,382 muss die Frage lauten, welche Qualität die Beschlüsse dieses Gremiums haben um einen Eingriff in die Forschungsfreiheit des betroffenen Wissenschaftlers ermitteln zu können.383 Die entsprechende Passage qualifiziert die Äußerungen der 379
Vgl. Punkt D. 3. Abs. 1 bis 3 der Verhaltensregeln. Vgl. zur Notwendigkeit der interdisziplinären Besetzung, Vöneky, Recht, Moral und Ethik, S. 575. 381 Punkt D. 3. Abs. 4. 382 Ibid. 383 Für die Voten der Ethikkommissionen nach § 40 AMG ist umstritten, ob sie die Rechtsqualität eines Verwaltungsakts haben, dagegen Christine Alber-Malchow, 380
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Ethikkommission als „Empfehlungen“, seien diese auf die Beurteilung des Gesamtvorhabens gerichtet, seien es Ausführungen über die Art und Weise der Durchführung des Vorhabens um eine ethisch vertretbare Forschung sicherzustellen.384 Entsprechend der Gesamtausrichtung der Verhaltensregeln wird damit weiterhin der lediglich unverbindliche Charakter der ethischen Steuerung herausgestellt. Obwohl also in diesem Kodex die Verfahrensregelungen verbindlich ausgestaltet sind, ist die tatsächlich angestrebte Forschungssteuerung durch unverbindliche Empfehlungen geprägt. Nur die konkrete Entscheidung des zuständigen Direktors, der Vorstands oder des Präsidenten gegen ein bestimmtes Forschungsvorhaben kann eine unmittelbare rechtliche Wirkung entfalten, nicht aber der zu Grunde liegende Kodex. Insoweit ist auch für die Verhaltensregeln der MPG eine unmittelbare rechtliche Wirkung zu negieren. b) Mittelbare rechtliche Wirkung der Kodizes in wissenschaftlichen Entscheidungsprozessen aa) Die Figur der mittelbar-faktischen Grundrechtsbeeinträchtigung und deren Anwendbarkeit im vorliegenden Fall Die unmittelbare rechtliche Wirkung von Kodizes wurde abgelehnt, zumindest soweit sie in der Art der Beispiele formuliert sind und ein Rechtsbindungswille bei ihrer Abfassung nicht nachzuweisen war. Die Frage ist, ob man es noch als mittelbare rechtliche Wirkung klassifizieren kann, wenn solche Kodizes die tatsächlichen wissenschaftlichen Entscheidungsprozesse faktisch beeinflussen und insofern die Wissenschaftsfreiheit beeinträchtigt385 werden könnte. Wenn in solchen Kodizes eine Wissenschaftsethik normativ festgesetzt wird, die nicht den ethischen Vorstellungen aller Wissenschaftler entspricht,386 die aber wissenschaftlichen Entscheidungen zu Grunde gelegt wird, wird damit in den Kernbereich der Selbstbestimmung des einzelnen Forschers eingegriffen. In Frage steht insofern, ob es sich bereits bei der Abfassung des diesen Entscheidungen zu Grunde liegenden Kodex um einen unzulässigen Grundrechtseingriff handelt beziehungsweise Die arzneimittelgesetzliche Regelung der Mitwirkung von Ethik-Kommissionen im Licht der Berufsfreiheit der freien Ethik-Kommissionen und der Forschungsfreiheit des Arztes, S. 65 ff.; dafür Vöneky, Recht, Moral und Ethik, S. 597. 384 Punkt D. 3. (S. 11). 385 Zur Unterscheidung von Eingriff und Beeinträchtigung in der Terminologie des BVerfG, Dietrich Murswiek, Das Bundesverfassungsgericht und die Dogmatik mittelbarer Grundrechtseingriffe zu der Glykol- und der Osho-Entscheidung vom 26. 6. 2002, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2003, 1 ff. 386 Zum Dissens um das Ethos wissenschaftlicher Verantwortung, vgl. S. 42 ff.
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ob eine Maßnahme durch die zur Entscheidung berufenen Organe noch auf die Kodizes zurückzuführen ist und damit bereits im Vorfeld der konkreten Entscheidung ein Eingriff oder zumindest eine Beeinträchtigung liegen kann. Die Legitimität einer solchen Frage wurde in erster Linie durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ausgelöst, als es in den letzten Jahren den klassischen Eingriffsbegriff zu einem modernen Verständnis erweiterte.387 Seit diesen Entscheidungen sollen mittelbar-faktische Wirkungen im Sinne einer Grundrechtsbeeinträchtigung bei der Beurteilung grundrechtsrelevanter Sachverhalte mit zu berücksichtigen sein. Im Kern wurde eine rechtfertigungsbedürftige Beeinträchtigung von Freiheitsrechten vom Gericht auch dann gesehen, wenn Warnungen, Empfehlungen oder kritische Äußerungen unter Inanspruchnahme staatlicher Autorität auf die Verhaltenslenkung in einem geschützten Freiheitsbereich abzielen, indem die Wirkungen staatlichen Handelns für einen Dritten durch das Verhalten anderer erzielt werden, oder indem nach der Zielsetzung oder der Wirkung einer Maßnahme ein funktionales Äquivalent für einen „Eingriff herkömmlicher Art“ erreicht wird, der dann nach denselben Maßstäben wie ein Eingriff beurteilt werden muss.388 Dabei kann die Beeinträchtigung aus einem komplexen Geschehensablauf resultieren, bei dem Folgen grundrechtserheblich werden, die indirekt mit dem eingesetzten Mittel oder dem verwirklichten Zweck zusammenhängen.389 Das Gericht sieht es in diesem Zusammenhang als ausreichend an, dass lediglich die Möglichkeit schwerwiegender mittelbarer Nachteile nachvollziehbar dargetan wird, da es in der Natur mittelbarer Auswirkungen liegt, dass sie sich – jedenfalls hinsichtlich der Kausalität – regelmäßig nicht beweisen lassen.390 387
BVerfGE 105, 252 ff. und E 105, 279 (300 ff.); in diesen Entscheidungen erweiterte das Gericht den klassischen Eingriffsbegriff (final, unmittelbar, rechtlich und imperativ) zum modernen Verständnis, das danach fragt, ob „dem Einzelnen ein Verhalten, das in den Schutzbereich eines Grundrechts fällt, ganz oder teilweise unmöglich [gemacht wird], gleichgültig ob diese Wirkung final oder unbeabsichtigt, unmittelbar oder mittelbar, rechtlich oder tatsächlich, mit oder ohne Befehl und Zwang eintritt“, Bodo Pieroth/Bernhard Schlink, Grundrechte – Staatsrecht II, S. 62. 388 BVerfGE 105, 279 (303 f.), vgl. auch Udo Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, S. 395 ff. Kritisch gegenüber dieser Rechtsprechung Murswiek, Das Bundesverfassungsgericht und die Dogmatik mittelbarer Grundrechtseingriffe zu der Glykol- und der Osho-Entscheidung vom 26. 6. 2002, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2003, S. 2. 389 BVerfGE 105, 279 (304). 390 Murswiek, Das Bundesverfassungsgericht und die Dogmatik mittelbarer Grundrechtseingriffe zu der Glykol- und der Osho-Entscheidung vom 26. 6. 2002, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2003, S. 7.
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Würde sich also ein Kodex in Form einer Empfehlung auf die Entscheidungen Dritter auswirken, indem schwerwiegende Nachteile für die Ausübung der Wissenschaftsfreiheit eines einzelnen Grundrechtsträgers zu befürchten sind, müsste auch eine unverbindliche Empfehlung an den grundrechtlichen Maßstäben gemessen werden. Dabei reicht es aus, dass Einzelne aus ihnen zugegangenen Informationen Konsequenzen ziehen und nachteilige Rückwirkungen auf den betroffenen Grundrechtsträger dadurch in Kauf genommen werden.391 Die Titulierung eines Forschungsprojekts oder eines Forschers als „unethisch“ kann gerade jene nachteiligen Rückwirkungen hervorrufen, als sie durch die Angewiesenheit der Forscher auf die Beurteilung von Fachkollegen Projekte verhindern und die Reputation eines Forschers schädigen kann.392 Für das Bestehen einer solchen Gefahr kann an dieser Stelle auch auf die Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts zur Mitbedenkens- und Informationspflicht in § 6 HUG verwiesen werden. Dieses stellte fest, dass Forscher bei der Verteilung der verfügbaren Mittel auf die verschiedenen Projekte ihre Konzeption der Vorhaben darlegen müssten und sich auch bei sonstigen Anlässen zu wissenschaftlichen Fragen äußern müssten. Damit würde erkennbar und überprüfbar, ob der einzelne Wissenschaftler die gesellschaftlichen Folgen mitbedacht habe.393 Die enge Verbindung von Forschung mit Publizität und Veröffentlichung schaffe daher auch nach außen erkennbare und überprüfbare Erkenntnis- und Bewertungsvorgänge, die bei Nichtbeachtung von auch unverbindlichen Vorgaben zu Nachteilen für die Reputation führen können und zur Nichtberücksichtigung bei der Vergabe von Forschungsmitteln. In den letzten Jahren kam eine weitere relevante Komponente hinzu, die Evaluierung von Forschungseinrichtungen. Diese Bewertung von Instituten ist zwar keineswegs neu, wird aber in den letzten Jahren vermehrt durchgeführt um einen Leistungsvergleich und eine leistungsorientierte Mittelvergabe zu ermöglichen.394 Dabei ist es typisch, dass die Einhaltung von disziplineigenen Normen und Standards, freilich zumeist methodischer Natur, als Kontrollkriterium wissenschaftlicher Arbeit bewertet wird. Von diesen 391
BVerfG 105, 279 (300). In diese Richtung auch Katharina Sobota, Die Ethik-Kommission – Ein neues Institut des Verwaltungsrechts?, Archiv des öffentlichen Rechts 1996, 229 (242 ff.) bei rechtlich unverbindlichen Bewertungen von Ethikkommissionen von Forschungsvorhaben als unethisch; ebenso Wolf-Rüdiger Schenke, Rechtliche Grenzen der Rechtsetzungsbefugnisse von Ärztekammern – Zur rechtlichen Problematik satzungsrechtlich statuierter Kompetenzen von Ethik-Kommissionen, Neue Juristische Wochenschrift 1991, 2313 (2318). 393 BVerfGE 47, 327 (375 f.). 394 So bspw. § 7 des Brandenburgischen Hochschulgesetzes. 392
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Evaluierungen gehen jedoch Steuerungswirkungen auf Wissenschaftler aus, die als intendierte oder auch nicht intendierte Effekte auftreten können.395 Es ist dabei nicht auszuschließen und je nach Auftraggeber der Evaluation sogar wahrscheinlich, dass sich die Kriterien der bewertenden Gutachter weniger an methodischen Normen und Standards orientieren. Im Interesse der Selbstdarstellung der öffentlich finanzierten Forschungseinrichtungen in Deutschland ist die Einhaltung ethischer Standards globale Wettbewerbskomponente, was die Steuerungswirkung der Kodizes und damit deren mittelbar-faktische Wirkungen exponentiell vergrößern könnte. Die Gefahr des Heranziehens wissenschaftsinadäquater Evaluationskriterien hat auch das Bundesverfassungsgericht erkannt und diesbezüglich eine Beobachtungs-, gegebenenfalls sogar eine Nachbesserungspflicht erkannt, um eine Gefährdung der Wissenschaftsfreiheit durch die ansonsten zulässige Evaluierung auszuschließen.396 Soweit daher die wissenschaftliche Arbeit weitest gehend von der Beurteilung von Projekten und Arbeiten in peer-review-Verfahren durch Fachkollegen abhängig ist und die Reputation von Forschern als bedeutendster Barwert wissenschaftlicher Leistung397 beeinträchtigt und somit letztlich auch die Finanzierung von Forschungsprojekten gefährdet werden kann, haben Kodizes, die anhand von nachvollziehbaren Kriterien eine Forschung als unethisch qualifizieren können, eine mittelbar-faktische Wirkung, die eine Ausübung der Wissenschaft beeinträchtigen kann. Insofern sind die Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts an eine rechtfertigungsbedürftige Maßnahme gegeben. bb) Die staatliche Zurechnung von Grundrechtsbeeinträchtigungen Auch die Erweiterung des Eingriffsbegriffs zu einem moderneren Verständnis hat indes eine Voraussetzung des Eingriffs unangetastet belassen, die Notwendigkeit staatlicher Urheberschaft. Soweit man hier von einer Selbstverwaltungsmaßnahme wissenschaftlicher Einrichtungen ausgeht, stellt sich die Frage, inwieweit noch ein Grundrechtseingriff vorliegen könnte, oder inwieweit es sich um eine grundrechtlich legitimierte Entscheidung der Träger der Wissenschaftsfreiheit handelt. Nach heute nahezu unbestrittener Ansicht gelten aufgrund von Art. 1 Abs. 3 GG die Grundrechte nur im Verhältnis zwischen Staat und Bürger unmittelbar, zwischen Privaten hingegen 395 M. Röbbecke, Evaluation als neue Form der „Disziplinierung“ – ein nicht intendierter Effekt?, in: Hildegard Matthies/Dagmar Simon (Hrsg.), Wissenschaft unter Beobachtung – Effekte und Defekte von Evaluationen, S. 160 (166 ff.). 396 BVerfGE 111, 333 (360). 397 Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, S. 244.
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ist nur die sogenannte mittelbare Drittwirkung der Grundrechte als maßgeblich zu sehen.398 Die unmittelbare Geltung des Art. 5 Abs. 3 GG ist daher nur in den Fällen anzunehmen, in denen die wissenschaftlichen Institutionen oder deren Organe dem Staat zuzurechnen sind und in dieser Rolle gehandelt haben. Im Hochschulurteil hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass im mit öffentlichen Mitteln eingerichteten und unterhaltenen Wissenschaftsbetrieb dem Staat die Pflicht zukommt, durch geeignete organisatorische Maßnahmen dafür zu sorgen, dass das Grundrecht soweit wie möglich unangetastet bleibt.399 Diese Rechtsprechung ist jedoch nicht direkt auf außeruniversitäre Forschungseinrichtungen übertragbar, deren Kodizes hier ebenfalls in Frage stehen, sondern muss den Eigenheiten und Typen der Forschungseinrichtungen angepasst werden.400 Die Zurechnung zum Staat ist im Einzelfall vorzunehmen um eine Grundrechtsverpflichtung von Forschungseinrichtungen ermitteln zu können, die über die Pflichten zwischen Privaten aus der mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte hinausgehen kann. Obwohl die meisten außeruniversitären Forschungseinrichtungen und -gesellschaften privatrechtlich organisiert sind,401 sind sie dennoch zum allergrößten Teil durch den Staat institutionell gefördert und könnten damit dem Staat als Betreiber der Forschung zuzurechnen sein.402 398
So die heute absolut herrschende Meinung, ständige Rechtsprechung des BVerfG seit E 7, 198 (204 ff.); vgl. auch K. Hesse, § 5 Bedeutung der Grundrechte, in: Benda, Handbuch des Verfassungsrechts, Rn. 56 ff.; Pieroth/Schlink, Grundrechte – Staatsrecht II, Rn. 189 ff.; anderer Ansicht noch das Bundesarbeitsgericht bis 1986. In der Entscheidung BAGE 52, 88 ff. hat es diese Rechtsprechung jedoch ausdrücklich aufgegeben und sich der Rechtsprechung des BVerfG der nur mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte angeschlossen. 399 BVerfGE 35, 79 (115). 400 Thomas Groß/Natalie Arnold, Regelungsstrukturen der außeruniversitären Forschung – Organisation und Finanzierung der Forschungseinrichtungen in Deutschland, S. 156 ff. 401 Eine detaillierte Übersicht bietet Ernst-Joachim Meusel, Außeruniversitäre Forschung im Wissenschaftsrecht, S. 9. 402 Dies für die MPG, die Helmholtz-Gemeinschaft, die Leibnitz-Institute und wohl auch für die Fraunhofer-Gesellschaft, obwohl diese nur zu einem Drittel vom Staat finanziert wird, bejahend Groß/Arnold, Regelungsstrukturen der außeruniversitären Forschung – Organisation und Finanzierung der Forschungseinrichtungen in Deutschland, S. 154 Meusel, Außeruniversitäre Forschung im Wissenschaftsrecht, S. 14; Grundprobleme des Rechts der außeruniversitären ‚staatlichen‘ Forschung, S. 2. Abweichend Classen, Wissenschaftsfreiheit außerhalb der Hochschule, S. 139 ff., der die Finanzierung für ein unzureichendes Kriterium hält und tatsächliche Entscheidungsgewalt des Staates fordert. Ablehnend für die MPG F. Ossenbühl, in: Peter Hanau/Fritz Ossenbühl, Kündigungsschutz und Wissenschaftsfreiheit am Beispiel der Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e. V., S. 74 ff.
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Für eine staatliche Zurechnung reicht aber das Kriterium der öffentlichen Finanzierung nicht aus. Zwar ist es richtig, dass Bestand und Funktionsfähigkeit der Institutionen wie MPG, Fraunhofer-Gesellschaft und Helmholtz-Gemeinschaft von dieser Finanzierung abhängen.403 Eine staatliche Zurechnung über die Finanzierung allein könnte aber nur dann erfolgen, wenn sich daraus Steuerungswirkungen im Sinne einer rechtlichen Überdeterminierung der Forschung ergäben.404 Abgesehen von den Großforschungseinrichtungen der Wissenschaft, deren Mitteleinsatz zumeist festgelegt ist, kann eine solche Überdeterminierung an den unabhängigen, aber staatlich finanzierten Forschungsorganisationen der MPG, der HelmholtzGemeinschaft, der DFG und auch der Fraunhofer-Gesellschaft nicht attestiert werden. Es ist aber dennoch richtig die Grundrechtsbeeinträchtigungen dieser Organisationen als staatliche zu behandeln, basierend auf ihrer Grundrechtsbindung, soweit sie öffentliche Aufgaben erfüllen. Die starke Stellung des Art. 5 Abs. 3 GG ist dem Selbstverständnis der Bundesrepublik als Kulturstaat geschuldet.405 Dieser soll es sich zur Aufgabe machen, für die Idee einer freien Wissenschaft und ihrer Verwirklichung einzustehen. Gerade deshalb sei es laut Bundesverfassungsgericht die Pflicht des Staates zur Gewährleistung einer unabhängigen Forschung personelle, finanzielle und organisatorische Mittel bereit zu stellen.406 Die Förderung der Wissenschaft auch außerhalb der Universitäten, also auch ohne einen Bezug zur wissenschaftlichen Lehre, die ohne Zweifel eine öffentliche Aufgabe darstellt, gehört unter dem Grundgesetz zu den Aufgaben des Staates um eine „wissenschaftliche Daseinsvorsorge“ zu gewährleisten, um im Interesse der Öffentlichkeit an der Bearbeitung gesellschaftswichtiger Problemstellungen teilzunehmen407 und um dem Kulturstaat Deutschland die notwendige Basis von Wissen zu vermitteln, die der Verfassungsauftrag aus Art. 5 Abs. 3 GG fordert.408 Die Finanzierung der Wissenschaft sowohl an Hochschulen als auch an außeruniversitären Forschungseinrichtungen kann daher als öffentliche Auf403
So argumentiert Dickert, Naturwissenschaften und Forschungsfreiheit, S. 323. Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung, S. 218. Ebenso für die MPG F. Ossenbühl, in: Hanau/Ossenbühl, Kündigungsschutz und Wissenschaftsfreiheit am Beispiel der Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e. V., S. 78. 405 Siehe dazu bereits oben, S. 95. 406 BVerfGE 35, 79 (114 f.). 407 Dickert, Naturwissenschaften und Forschungsfreiheit, S. 325. 408 Als zusätzliches Indiz kann für diesen Befund Art. 91b GG angeführt werden, der, wenn auch nur als Ermächtigungsnorm, unter dem Titel der Gemeinschaftsaufgaben von Bund und Ländern die Forschungsförderung als gemeinsam von Bund und Ländern wahrnehmbare Aufgabe nennt. 404
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gabe bezeichnet werden. Dass diese Wissenschaft in privatrechtlicher Organisationsform ausgeführt wird, ist dabei unschädlich, soweit damit die durch Art. 5 Abs. 3 GG geforderte Autonomie der Wissenschaft optimalerweise gewährleistet werden kann. Aus demselben Grund ist zugleich auch die Ausübung einer Fachaufsicht nicht möglich. Es wurden vielmehr Organisationseinheiten geschaffen, die öffentliche Aufgaben in eigener Verantwortung durch die Betroffenen selbst in rechtsfähigen, fachaufsichtsfreien Institutionen erledigen. Dies entspricht der mittlerweile weitgehend anerkannten Definition der funktionalen Selbstverwaltungsträger.409 Auch diejenigen außeruniversitären Forschungseinrichtungen, die das notwendige Maß an Autonomie und organisatorische Vorkehrungen zum Grundrechtsschutz aufweisen, sind daher in den Kreis der Selbstverwaltungsträger zu zählen. Letztere beziehen ihre Legitimation nicht mehr aus dem Volk, eine solche Rückbindung soll zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben in eigener Regie nicht mehr unbedingt erforderlich sein.410 Vielmehr sind sowohl die Selbstverwaltung der Universitäten, als auch die der außeruniversitären Forschungseinrichtungen grundrechtlich legitimiert, als die Vorgaben des Art. 5 Abs. 3 GG eine organisatorische Ausgestaltung freier Wissenschaft erfordert, die durch den Modus der funktionalen Selbstverwaltung optimal erfüllt werden kann.411 Damit stellen sich für die außeruniversitären Forschungseinrichtungen und -organisationen zumindest ähnliche organisatorische Anforderungen zum Schutz und zur Verwirklichung der freien Wissenschaft wie für die Universitäten. Eine Beeinträchtigung der Wissenschaftsfreiheit durch materielle Vorgaben für die Forschung in Kodizes könnte aber dann ausgeschlossen sein, wenn die organisatorische Ausgestaltung der jeweiligen Wissenschaftsinstitution einen adäquaten Grundrechtsschutz bietet und die Beschränkung der Wissenschaftsfreiheit nur als zulässige Ausgestaltung des Schutzbereichs der Wissenschaftsfreiheit durch die Träger des Grundrechts selbst im Rahmen einer Selbstverwaltungstätigkeit darstellt. Denn obwohl die staatliche Zurechnung über die Finanzierung und die Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben gelingen mag, ist es dennoch Kennzeichen sowohl der Universitäten, als auch der staatlich finanzierten außeruniversitären Forschungseinrichtungen, dass ihnen eine größtmögliche, grundrechtlich bedingte Autonomie eingeräumt wird. 409 Vgl. zuletzt Sandra Köller, Funktionale Selbstverwaltung und ihre demokratische Legitimation, S. 25 f. und auch E. W. Böckenförde, § 22 Demokratie als Verfassungsprinzip, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, S. 908 f. 410 BVerfGE 107, 59 (91 ff.) („Wasserverbände“). 411 Eingehend zur grundrechtsgetragenen Selbstverwaltung Winfried Kluth, Funktionale Selbstverwaltung, S. 30 ff. und Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung, S. 211 ff. und 297 ff.
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Die Forschungsplanung – inklusive der hier fraglichen negativen Forschungsplanung – gehört zu den ureigensten Selbstverwaltungsaufgaben universitärer, wie auch in der Regel außeruniversitärer Forschungseinrichtungen.412 Wenn die Forschungsplanung mit den Einschränkungen durch ethische Vorgaben alleine in den Selbstverwaltungsstrukturen durch die Wissenschaftler selbst erfolgen würde, so könnte sich die Problemlage auf die Kollision des gleichen Grundrechts verschiedener Grundrechtsträger verschieben und die staatliche Abwehrkomponente mithin entfallen. Mit anderen Worten wäre der geforderte staatliche Autoritätsanspruch der Empfehlungen nicht gegeben und mithin auch eine mittelbare, grundrechtlich relevante Wirkung der Kodizes abzulehnen, würden diese Anforderungen eingehalten. cc) Die Selbstverwaltungsstrukturen der Wissenschaftsinstitutionen mit Blick auf staatliche Zurechnung Die Selbstverwaltungsstrukturen sind je nach Forschungseinrichtung unterschiedlich ausgestaltet. Für die Hochschulen, deren Selbstverwaltungsrecht in § 58 Abs. 1 Satz 3 HRG bundesrechtlich festgeschrieben ist, wurden bereits durch das Bundesverfassungsgericht umfangreiche Untersuchungen adäquater Entscheidungsstrukturen angestellt.413 Zuletzt wurde auch eine monokratische Leitungsstruktur für staatliche Wissenschaftsinstitutionen für zulässig gehalten, soweit diese erforderlich ist, um das Zusammenwirken verschiedener Grundrechtsträger zu koordinieren und deren Tätigkeit inhaltlich begrenzt und organisatorisch so abgesichert ist, dass eine strukturelle Gefährdung der Wissenschaftsfreiheit ausscheidet.414 Hier geht es jedoch nicht um eine Koordinierung der Forscher untereinander im Wissenschaftsbetrieb, sondern um die tatsächliche Freiheit der Fragestellung, Methodik und Publikation, also jenen Kernbereich der Wissenschaftsfreiheit, der der Selbstbestimmung der Forscher vorbehalten bleiben muss.415 Das Organisationsgrundrecht416 des Art. 5 Abs. 3 GG oder die wertentscheidende Grundsatznorm für das Verhältnis des Staates zur Wissen412 BVerfGE 57, 70 ff.; vgl. auch Meusel, Außeruniversitäre Forschung im Wissenschaftsrecht, S. 220 ff. Nach dessen Ausführungen besitzen jedenfalls die DFG, die Fraunhofer-Gesellschaft und die MPG satzungsrechtlich festgelegte Selbstverwaltungskompetenzen im Bereich der Forschungsplanung, mit der Beschränkung staatlichen Einflusses auf eine Rechtsaufsicht. 413 BVerfGE 35, 79. 414 BVerfGE 111, 333 (356 f.), in diesem Sinne bereits auch E 57, 70 ff. 415 BVerfGE 35, 79 (115); 57, 70 (95); 111, 333 (357). 416 E. Schmidt-Assmann, Die Wissenschaftsfreiheit nach Art. 5 Abs. 3 GG als Organisationsgrundrecht, in: Becker/Bull/Seewald, FS Thieme, S. 697 ff.
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schaft417 gebietet dabei eine Selbstverwaltungsstruktur, die die Entfaltung der Wissenschaftsfreiheit optimal ermöglicht. Wenn es sich bei den kodexsetzenden Organen also tatsächlich um Selbstverwaltungskörperschaften in diesem Sinne handelt, könnte die Verpflichtung auf eine bestimmte Wissenschaftsethik daher auf der Selbstbestimmung der Forscher beruhen und mithin als grundrechtlich legitimiert zulässig sein. Die wissenschaftsrelevanten Entscheidungen sind in den Forschungseinrichtungen zumeist speziellen Gremien vorbehalten, die sich von den Administrativgremien unterscheiden. In den Universitäten werden jene Entscheidungen von den Senaten gefällt,418 die zumeist ganz überwiegend aus wissenschaftlichen Mitgliedern bestehen und keine externen Mitglieder von staatlicher Seite zulassen. Der staatliche Einfluss in diesen Gremien ist somit sehr gering oder nicht vorhanden, weshalb diese Organe als tatsächliche Selbstverwaltungsorgane betrachtet werden können.419 Teilweise anders stellt sich die Situation in den außeruniversitären Forschungseinrichtungen dar, weshalb diese einer genaueren Untersuchung bedürfen. (1) Deutsche Forschungsgemeinschaft In der DFG existieren vier zur Entscheidung berufene Organe: Die Mitgliederversammlung, die nach § 4 der Satzung der DFG die Richtlinien für deren Arbeit bestimmt und aus verschiedenen Forschungsinstitutionen besteht; das Präsidium, das nach § 5 der Satzung aus wissenschaftlichen Mitgliedern besteht und für die Führung der laufenden Geschäfte zuständig ist; der Senat, der nach § 6 der Satzung ebenfalls nur aus wissenschaftlichen Mitgliedern besteht und die grundsätzlichen Fragen der Forschung behandelt; und schließlich der Hauptausschuss, der gemäß § 7 der Satzung aus Vertretern von Bund und Ländern besteht und in finanziellen Fragen entscheidet. Den hier untersuchten „Verhaltenscodex der Deutschen For417
BVerfGE 35, 79 (112). Vgl. bspw. § 19 Landeshochschulgesetz Baden-Württemberg, Art. 25 Bayrisches Hochschulgesetz, § 21 Hochschulgesetz Schleswig-Holstein, § 67 Hochschulgesetz Sachsen-Anhalt. 419 Im Gegensatz zur außeruniversitären Forschung ist bei der funktionalen Selbstverwaltung der Hochschulen auch der Ausbildungsaspekt aus Art. 12 GG mit zu berücksichtigen, der eine Einbeziehung der Studentenschaft und anderer Gruppen in die Entscheidungsgremien erfordert. Dies ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass in wissenschaftsrelevanten Angelegenheiten ein vorwiegend wissenschaftliches Entscheidungsgremium entscheidet, wohlgemerkt ohne staatlichen Einfluss, lediglich die Finanz- und Personalautonomie ist in der funktionalen Selbstverwaltung der Hochschulen ausgenommen, vgl. dazu Michael Fehling, Neue Herausforderungen an die Selbstverwaltung in Hochschule und Wissenschaft, Die Verwaltung 2002, S. 399 ff. 418
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schungsgemeinschaft zur Arbeit mit hochpathogenen Mikroorganismen und Toxinen“ hat das Präsidium erlassen, ein rein wissenschaftliches Organ, das durch die Mitgliederversammlung gewählt ist. Obwohl mit dem Senat ein Organ zur Verfügung gestanden hätte, das eine stärkere Repräsentation der wissenschaftlichen Mitglieder bietet, hat dennoch zumindest ein wissenschaftliches Gremium den Kodex erlassen, was möglicherweise der Tatsache geschuldet ist, dass mit dieser Verfahrensweise ein Rechtsbindungswille diesbezüglich demonstrativ ausgeschlossen, ein formales Verfahren mithin vermieden werden sollte. Von einer staatlichen Urheberschaft kann insoweit nicht ausgegangen werden. (2) Max-Planck-Gesellschaft Die MPG hat als selbstverwaltete Wissenschaftsinstitution ebenfalls mehrere Gremien, denen per Satzung die Entscheidungsbefugnis über wissenschaftsrelevante Rahmenbedingungen eingeräumt ist. Die konkreten Entscheidungen über wissenschaftliche Angelegenheiten werden dort jedoch auf der jeweiligen Institutsebene getroffen. Der hier untersuchte Kodex wurde vom Senat der MPG beschlossen, dem bei 47 Senatoren fünf staatliche Vertreter angehören,420 womit die staatliche Beteiligung gering ist. Dennoch handelt es sich nicht um ein rein wissenschaftliches Selbstverwaltungsgremium, was die Frage nach der grundrechtlichen Relevanz dieser Zusammensetzung aufwirft. Die staatliche Beteiligung an Entscheidungsgremien ist von verschiedenen Autoren thematisiert worden um im Wissenschaftsbereich eine Zurechnung von Einrichtungen zum Staat zu ermöglichen. Während einige die Abgrenzung nach der Finanzierung dieser sogenannten gemischten Einrichtungen421 vollziehen,422 betrachten andere die Einwirkungsmöglichkeiten auf Entscheidungsebene.423 Der staatliche Einfluss soll aber auch nach dieser Ansicht erst dann in dem Sinne für eine staatliche Zurechnung sprechen, wenn eine Entscheidungsgewalt in grundrechtsrelevanten Fragen besteht. Im Fall der MPG stellt die staatliche Vertretung eine Minderheit dar, der als solche keine unmittelbare Entscheidungsgewalt in wissenschaftlichen Fragen zugesprochen werden kann. Damit stellt der Senat durch seine überwiegende wissenschaftliche Besetzung zunächst ein Selbstverwaltungsgremium von Grundrechtsträgern dar, dem 420 Nach den Vorgaben des § 12 Abs. 7 der Satzung der MPG sind dies jeweils Minister oder Staatssekretäre des Bundes und der Länder. 421 U.a. MPG, Fraunhofer-Gesellschaft, Helmholtz-Zentren, die Institute der Wissenschaftsgemeinschaft Gottfried Wilhelm Leibnitz und die DFG. 422 Meusel, Grundprobleme des Rechts der außeruniversitären ‚staatlichen‘ Forschung, S. 2. 423 Classen, Wissenschaftsfreiheit außerhalb der Hochschule, S. 139 f.
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aufgrund des berechtigten Interesses aufgrund der alleinigen oder überwiegenden Finanzierung staatliche Vertreter angehören. Eine Entscheidung eines solchen Organs dessen staatlicher Einfluss sich auf eine Beteiligung von ca. 10% reduziert und mithin keine erhebliche Einwirkungsmöglichkeit besitzt, kann aber eine Inanspruchnahme staatlicher Autorität, wie sie für eine mittelbare Grundrechtsrelevanz gefordert ist, nicht aufweisen. Insofern ist auch für die Verhaltensregeln der MPG eine mittelbare rechtliche Wirkung auf die Wissenschaftsfreiheit durch den Staat nicht nachzuweisen. (3) Fraunhofer-Gesellschaft Auch die Fraunhofer-Gesellschaft hat einen Senat, der für grundlegende Entscheidungen der Forschung zuständig ist,424 dieser ist jedoch nicht als Selbstverwaltungsgremium ausgestaltet, sondern setzt sich aus Wissenschaftlern, staatlichen Vertretern und Personen des öffentlichen Lebens zusammen. Würde dieses Gremium einen Kodex zur Steuerung ethischen Verhaltens beschließen, könnte man nicht mehr von einer reinen Selbstverwaltung sprechen, sondern in wesentlichem Maße von Fremdsteuerung wissenschaftlicher Angelegenheiten. Die Bewertung eines Kodex müsste diesen Mehrheitsverhältnissen insoweit angepasst werden, als dieses Instrument keine institutionalisierte Verantwortungswahrnehmung in originärer Selbstverwaltung wäre. Gerade die Fraunhofer-Gesellschaft ist bei der Abfassung ethischer Kodizes damit besonderen Vorsichtsmaßnahmen unterworfen zur ethischen Steuerung ihrer Mitglieder. Die konkreten Auswirkungen zeigen sich jedoch erst nach einer Untersuchung der grundsätzlichen Grundrechtsfähigkeit von Selbstverwaltungskörperschaften. (4) Zusammenfassung Es ist festzuhalten, dass zumindest die untersuchten Kodizes hinsichtlich ihrer normsetzenden Organe nicht der staatlichen Sphäre zugeordnet werden können, sondern als Produkte wissenschaftlicher Selbstverwaltung gesehen werden müssen. Sie können aber insofern nicht mit den Maßstäben des staatlichen Informationshandelns bewertet werden können, die eine mittelbare, grundrechtlich relevante Wirkung zur Folge gehabt haben könnten. Wenn aber eine staatliche Einflussnahme nicht nachgewiesen werden kann, so soll im Folgenden untersucht werden, welche Grundrechtsrelevanz Entscheidungen der funktionalen Selbstverwaltung, die von staatlicher Seite installiert und gefördert ist, für diejenigen Grundrechtsträger haben, die durch eine Mehrheitsoder Repräsentativentscheidung in ihrer Freiheit beschränkt werden. 424
§§ 10 und 12 der Satzung der Fraunhofer-Gesellschaft.
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dd) Grundrechtliche Konsequenzen von Entscheidungen durch Selbstverwaltungsgremien Die in dieser Untersuchung vorgestellten Kodizes wurden von Selbstverwaltungsgremien beschlossen, also von Wissenschaftlern für Wissenschaftler. Damit stellt sich aber die Frage, ob diese Struktur bereits ausreicht, um eine grundrechtliche Unbedenklichkeit zu konstatieren. Problematisch wird es dann, wenn man das Zusammenspiel von demokratischer und grundrechtlicher Legitimation ins Auge nimmt, wenn also individuelle Freiheit in demokratischen Prozessen verkürzt wird. Die Frage stellt sich demnach, ob die repräsentative Selbstverwaltung in Entscheidungsgremien der Wissenschaft eine Verkürzung des grundrechtlich geschützten Bereichs freier Wissenschaft erlaubt und welche Rolle dem Staat als Kontrollorgan zukommen kann oder muss, wenn dies der Fall sein sollte. Dem Staat kommt nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts im Bereich öffentlich finanzierter Forschung die Aufgabe zu, entsprechend der wertentscheidenden Grundsatznorm des Art. 5 Abs. 3 GG sowohl Organisation, als auch Verfahren so auszugestalten, dass die Wissenschaft sich frei entfalten kann. Wenn nun aber festgestellt ist, dass auch Empfehlungen, also Kodizes, die Freiheitsausübung beeinträchtigen können, dann könnte es dem Staat obliegen, den Erlass von solchen Empfehlungen organisationsrechtlich, konkret eingreifend durch Aufsichtsorgane oder letztendlich durch die staatlichen Gerichte zu verhindern. Dies wäre aber nur dann der Fall, wenn eine unzulässige Ausübung von Selbstverwaltungsrechten vorläge. An dieser Stelle wird eine Kollisionslage relevant, deren Auflösung über die Zulässigkeit der Ausübung entscheidet: die Kollision grundrechtlicher Freiheit von Wissenschaftsinstitutionen und der grundrechtlichen Freiheit ihrer angestellten und angehörigen Wissenschaftler. Dieser Kollision vorgelagert ist aber zunächst die Frage nach der Grundrechtsfähigkeit wissenschaftlicher Einrichtungen. Diese sind als juristische Personen zu qualifizieren, in vielen Fällen auch solche des öffentlichen Rechts, was die Grundrechtsfähigkeit prima facie nach Art. 19 Abs. 3 GG ausschließt. (1) Die Grundrechtsfähigkeit wissenschaftlicher Einrichtungen nach Art. 19 Abs. 3 GG Nach Art. 19 Abs. 3 GG „gelten“ die Grundrechte auch für juristische Personen, soweit sie „ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind“. Die Setzung von Kodizes erfolgt durch wissenschaftliche Einrichtungen als eine Mehrheit von Personen, denen eine ethische Anleitung gegeben werden soll. Die Einrichtungen sind aber notwendigerweise als juristische Personen
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ausgestaltet, zum Teil solche des privaten oder des öffentlichen Rechts, zum Teil als Mischformen.425 Gerade die juristischen Personen des öffentlichen Rechts gaben immer wieder Anlass zur Diskussion über die Frage, ob diese Grundrechtsträger sein könnten, als sie den Staat selbst repräsentieren, vor dem die Grundrechte in ihrer klassischen Funktion schützen sollen und der nicht durch sie berechtigt werden soll.426 Als Bestandteil der „Ausnahmetrias“427 sind jedoch die Universitäten anerkanntermaßen von dieser Diskussion ausgenommen, als sie einem grundrechtlich geschützten Bereich unmittelbar zugeordnet sind und infolgedessen als eine staatsunabhängige oder doch staatsdistanzierte Einrichtung anzusehen sind, denen der Grundrechtsschutz zukommen muss um die Wissenschaftsfreiheit nicht leerlaufen zu lassen.428 Damit sind sie Institutionen, die zwar aufgrund des Verfassungsauftrags des Art. 5 Abs. 3 GG vom Staat eingerichtet, finanziell ausgestattet und organisatorisch unterstützt sind,429 als solche aber nicht mehr ihre Legitimation aus dem demokratischen Prinzip des Staates beziehen, sondern aus dem Grundrecht, das ihren institutionellen Bestand und ihre Unabhängigkeit fordert.430 Als sie die grundrechtliche Individualfreiheit erst ermöglichen und unterstützen, ist der Grund ihrer rechtlichen Anerkennung im polaren Verhältnis zwischen Staat und Individuum nicht das Demokratieprinzip, als Ausdruck der Gestaltungsfähigkeit des Staates, sondern das Grundrecht in seiner schützenden und fördernden Dimension.431 Die Durchbrechung des Grundsatzes, dass die Grundrechte durch Art. 19 425 Vgl. die Ausführungen zur MPG, der Fraunhofer-Gesellschaft, der DFG und den Leibnitzinstituten bei Meusel, Außeruniversitäre Forschung im Wissenschaftsrecht, S. 9 ff.; Groß/Arnold, Regelungsstrukturen der außeruniversitären Forschung – Organisation und Finanzierung der Forschungseinrichtungen in Deutschland, S. 154 ff.; Classen, Wissenschaftsfreiheit außerhalb der Hochschule, S. 139 ff. 426 BVerfGE 15, 256 (262). 427 Neben den Universitäten sind auch die Rundfunkanstalten und die Kirchen von diesem Begriff umfasst, vgl. H. Dreier, Art. 19 III, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar, Rn. 59; M. Sachs, Art. 19, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, Rn. 93. 428 H. Dreier, Art. 19 III, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Rn. 59 ff. J. Isensee, § 118 Anwendung der Grundrechte auf juristische Personen, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Band V, S. 563 ff. 429 BVerfGE 35, 79 (114 f.): Die wertentscheidende Grundsatznorm des Art. 5 Abs. 3 GG verpflichtet den Staat funktionsfähige Institutionen für einen freien Wissenschaftsbetrieb zur Verfügung zu stellen. 430 Eine institutionelle Garantie kann aus Art. 5 Abs. 3 GG für einzelne Universitäten aber nicht abgeleitet werden, vgl. U. Mager, § 166 Freiheit von Forschung und Lehre, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Rn. 27. 431 Josef Isensee, Grundrechte und Demokratie – die polare Legitimation im grundgesetzlichen Gemeinwesen. Vgl. auch C. Starck, § 29 Grundrechtliche und demokratische Freiheitsidee, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Band II, S. 3 ff.
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Abs. 3 GG nur natürliche Personen schützen sollen, muss insofern auch stets in diesem Wirkungszusammenhang gesehen werden: die Verstärkung des Grundrechtsschutzes für die natürlichen Grundrechtsträger durch die Anerkennung auch juristischer Personen. Die Geltung der Grundrechte für solche juristische Personen ist damit im Ausgangspunkt stets am Grad des Freiheitsschutzes für natürliche Personen zu sehen.432 Inwieweit diese unbestrittenen Überlegungen auch auf andere staatlich eingerichtete Forschungsinstitutionen übertragbar sind, ist nicht vollständig geklärt, vor allem weil deren Erscheinungsformen sich unterscheiden und daher nicht einer generellen Beurteilung unterliegen können, und auch weil Art. 19 Abs. 3 GG einen Wesensvorbehalt enthält, also eine jeweils individuelle Überprüfung fordert, ob das Grundrecht seinem Wesen nach auf die juristische Person anwendbar ist.433 Speziell weil es sich bei den Forschungseinrichtungen teilweise um juristische Personen des öffentlichen Rechts handelt, wurde deren Grundrechtsträgerschaft früher absolut abgelehnt, denn als Teil der Staatsorganisation sollten sie nur Adressat, nicht aber Träger der Grundrechte sein. Dies wird heute differenziert betrachtet, die Grundrechtsträgerschaft wird ebenso wie bei den Universitäten danach beurteilt, ob sie „den Bürgern zur Verwirklichung ihrer individuellen Grundrechte dienen und als eigenständige, vom Staat unabhängige oder jedenfalls distanzierte Einrichtungen Bestand haben.“434 Aus diesem Grund sind auch die staatlich finanzierten außeruniversitären Forschungseinrichtungen heute weitestgehend als Grundrechtsträger anerkannt.435 Sie betreiben unabhängige Wissenschaft und sind staatlichen Weisungs- und Aufsichtsrechten nur in beschränktem Maße unterworfen, weshalb sie auch die geforderte Staatsdistanz aufweisen können.436 Einschränkungen gelten nur 432 Unbeachtlich ist dagegen die Rechtsform der juristischen Person. Wenn sich der Staat zur Erfüllung seiner Aufgaben einer juristischen Person des Privatrechts bedient, so handelt er dennoch in seiner Aufgabe der Staatsorganisation und muss daher weiterhin Adressat und nicht Träger der Grundrechte sein. Umgekehrt führt der Umstand, dass der Staat eine öffentlich-rechtliche Organisationsform zur Grundrechtsausübung zur Verfügung stellt, wie es bei den Kirchen der Fall ist, nicht dazu, dass die Grundrechtsberechtigung abgesprochen wird; J. Isensee, § 118 Anwendung der Grundrechte auf juristische Personen, in: Handbuch des Staatsrechts, Rn. 24 ff. 433 Vgl. das jeweilige Vorgehen des Bundesverfassungsgerichts, in: BVerfGE 21, 362 (368 f.); 59, 231 (254) und 75, 192 (197). 434 BVerfGE 45, 63 (79); 61, 82 (103); 68, 193 (207); 75, 192 (195 ff.). 435 So bspw. auch für das Zentralinstitut für physikalische Chemie, das in der DDR gegründet wurde, und vom BVerfG als Forschungsinstitut durch Art. 5 Abs. 3 GG als grundrechtsberechtigt angesehen wurde, BVerfGE 85, 360 (370, 384). 436 Meusel, Außeruniversitäre Forschung im Wissenschaftsrecht, S. 148 ff.; Classen, Wissenschaftsfreiheit außerhalb der Hochschule, S. 114 ff.; Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung, S. 357 ff.; R. Scholz, Art. 5 III GG, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz Kommentar,
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für Ressortforschungseinrichtungen, bei denen der Staat weitestgehende Zugriffsmöglichkeiten auf Forschungsplanung und -gestaltung hat und insofern die notwendige Unabhängigkeit nicht gewährleistet, also lediglich eine Adressatenstellung festzustellen ist. Kontrovers diskutiert wird demgegenüber die Grundrechtsträgerschaft der DFG. Sie wird teilweise durch ihre reine Forschungsförderungsfunktion nur als Mittler gesehen, die insoweit Wissenschaft lediglich vermitteln, nicht aber selbst ausführen und daher nicht unmittelbar der autonomen Ausübung individueller Wissenschaftsfreiheit dienen kann.437 Diese Ansicht ist jedoch mit Blick auf die objektive Dimension von Art. 5 Abs. 3 GG abzulehnen. Die Finanzierung der Forschung durch den Staat ist vor allem im Bereich der Grundlagenforschung konstitutiv für eine freie Wissenschaft. Mit der Verteilung von Geldern durch die DFG wird die Ausübung der wissenschaftlichen Freiheit unmittelbar gewährleistet, vor allem wenn man die Kostenintensität moderner naturwissenschaftlicher Forschung bedenkt. Die bei den Verteilungsmodalitäten innerhalb der DFG erreichte Autonomie im System der peer-review-Begutachtung von Forschungsanträgen und den Selbstverwaltungsstrukturen haben zudem zur Erreichung einer Staatsferne geführt, die die Unmittelbarkeit der staatlichen Zuwendung mehr als ausgleicht.438 Schließlich würde die direkte Zuteilung der Gelder an die diversen Einrichtungen dem Staat eine bessere Kontrollmöglichkeit eröffnen, die Partizipationsmöglichkeit der Wissenschaftler an der Mittelvergabe würde demgegenüber umgangen. Die Finanzierung stellt damit gerade den „neuralgischen Punkt einer Selbststeuerung der Wissenschaft“ dar, an dem der staatliche Einfluss durch die Einsetzung einer unabhängigen Selbststeuerungsorganisation neutralisiert439 und damit den organisationsrechtlichen Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts genüge getan werden kann. Der DFG die Grundrechtsträgerschaft zu verweigern mit Verweis auf ihre reine Mittlerfunktion wäre daher nicht einleuchtend, gerade auch mit Blick auf die Abwehr staatlicher Eingriffe in deren Arbeit. Insofern ist auch eine Grundrechtsträgerschaft der DFG als Forschungsförderer festzustellen,440 der Natur der Sache nach jedoch nur bei der Ausübung der ihr zugewiesenen Aufgaben, also der Programmplanung und den Förderungsverfahren. Rn. 125; I. Pernice, Art. 5 III (Wissenschaft), in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Rn. 35. 437 R. Scholz, Art. 5 III GG, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz Kommentar, Rn. 126; I. Pernice, Art. 5 III (Wissenschaft), in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Rn. 34. 438 Meusel, Außeruniversitäre Forschung im Wissenschaftsrecht, S. 151 f. 439 Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung, S. 690 f. 440 Im Ergebnis ebenso Classen, Wissenschaftsfreiheit außerhalb der Hochschule, S. 112 f.
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(2) Grundrechtsschutz in Institutionen funktionaler Selbstverwaltung Die öffentlich finanzierte Wissenschaft ist, wie oben beschrieben, in Deutschland organisationsrechtlich zu großen Teilen der funktionalen Selbstverwaltung zuzuordnen. Die Grundrechtsausübung in dieser Organisationsform ist jedoch mit Problemen behaftet. Es muss untersucht werden, welche Möglichkeiten der Grundrechtseinschränkung durch solche Körperschaften bestehen, beziehungsweise ob sie überhaupt limitiert sein kann, obwohl die Grundrechtsträger selbst durch Wahrnehmung ihrer Mitwirkungsrechte an den Entscheidungen teilhaben. Zunächst soll hier untersucht werden, inwieweit die Grundform öffentlich-rechtlicher Körperschaften im Bereich der Wissenschaft, die Universität, eine Einschränkungsmöglichkeit bietet. Wenn öffentlich-rechtliche Körperschaften als funktionale Selbstverwaltungseinheiten ausgestaltet sind, ergeben sich für diese Organisationsstruktur andere Anforderungen bezüglich der Kompetenz ihre eigenen Angelegenheiten zu regeln, als es in der staatsunmittelbaren Verwaltung der Fall sein kann. Vor allem Aspekte der demokratischen Legitimation wurden dabei in den letzten Jahren wieder vermehrt diskutiert.441 Es steht dabei außer Frage, dass eine dem Staat zugeordnete juristische Person des öffentlichen Rechts im Rahmen der ihr gesetzlich verliehenen Autonomie mit Wirksamkeit für die ihr angehörigen und unterworfenen Personen rechtsverbindliche Satzungen erlassen kann. Dies wird mit dem Zweck begründet, gesellschaftliche Kräfte zu aktivieren, den entsprechenden gesellschaftlichen Gruppen die Regelung solcher Angelegenheiten, die sie selbst betreffen und die sie in überschaubaren Bereichen am sachkundigsten beurteilen können, eigenverantwortlich zu überlassen und dadurch den Abstand zwischen Normgeber und Normadressat zu verringern.442 Dabei ist auch eine Einschränkung von Grundrechten möglich, für Art. 12 Abs. 1 GG wurde dies im Facharztbeschluss des Bundesverfassungsgerichts in bestimmten Bereichen bestätigt,443 und auch Art. 2 Abs. 1 GG kann durch funktionale Selbstverwaltungseinheiten gerechtfertigterweise eingeschränkt werden.444 Eine andere Betrachtung ergibt sich aber möglicherweise aus der unterschiedlichen Begründung wissenschaftlicher Selbstverwaltungsstrukturen gegenüber der441 So in der Entscheidung BVerfGE 107, 59 ff.; vgl. auch Kluth, Funktionale Selbstverwaltung, S. 342 ff. E. W. Böckenförde, § 22 Demokratie als Verfassungsprinzip, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Rn. 31 ff.; Vöneky, Recht, Moral und Ethik, S. 621 ff. 442 BVerfGE 33, 125 (156 f.) („Facharztbeschluss“). 443 BVerfGE 33, 125 (155 ff.). 444 BVerfGE 107, 59 (102) („Wasserverbände“).
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jenigen der freien Berufe, der Sozialversicherungsträger oder der Realkörperschaften.445 Die Selbstverwaltung der Universitäten resultiert aus dem objektiv-rechtlichen Charakter des Art. 5 Abs. 3 GG, der eine organisations- und verfahrensrechtliche Sicherung wissenschaftlicher Freiheit erfordert, um diese vollumfänglich gewährleisten zu können.446 Damit einher geht zum einen eine Teilhabeberechtigung an den wissenschaftsrelevanten Entscheidungen, zum anderen aber, aus der individualrechtlichen Seite des Grundrechts, dass auch im Bereich der Teilhabe am öffentlichen Wissenschaftsbetrieb jedenfalls der Kernbereich wissenschaftlicher Betätigung grundsätzlich der Selbstbestimmung des einzelnen Grundrechtsträgers vorbehalten bleiben muss.447 Während die Begründung der funktionalen Selbstverwaltung im Bereich der freien Berufe und der Wasserverbände auf den oben genannten Überlegungen der Aktivierung gesellschaftlicher Kräfte und der Selbstbetroffenheit basiert, ergibt sich die Selbstverwaltung der Universitäten aus der grundrechtlichen Notwendigkeit vollkommener Distanz zum und Freiheit vom Staat.448 Der objektiv-rechtliche Charakter des Art. 5 Abs. 3 GG verlangt eine staatliche Institutionalisierung freier Wissenschaft an den Universitäten aufgrund der Monopolstellung des Staates hinsichtlich eines unabhängigen und freien Wissenschaftsbetriebes,449 die durch die Stellung der Wissenschaftler dort als Amtswalter nicht begrenzt, sondern gerade erst ermöglicht wird.450 Von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mit der Betonung des objektiv-rechtlichen Charakter geht damit eine Betonung des Individualgrundrechts gegenüber der Grundrechtsträgerschaft der Universität aus, die dem Einzelwissenschaftler eine höhere Freiheit einräumt als dem Fachbereich, der Fakultät oder der Universität.451 Obwohl also innerhalb der Institution Universität auch den Fachbereichen und den 445 Zu den verschiedenen Erscheinungsformen der funktionalen Selbstverwaltung im Einzelnen, Kluth, Funktionale Selbstverwaltung, S. 30 ff. 446 BVerfGE 35, 79 (115); eine ausführlichere Begründung bietet Kluth, Funktionale Selbstverwaltung, S. 419 ff. 447 BVerfGE 35, 79 (115). 448 Die Selbstverwaltungsgarantien der einfachen Landesgesetze vermitteln die funktionale Selbstverwaltung zwar bereits, der grundrechtlichen Fundierung kommt aber eine eigenständige Bedeutung zu, da die Grundstrukturen der Universitäten durch das bundesgesetzliche HRG getroffen werden und die bundesverfassungsgerichtlichen Maßgaben für Inhalt und Reichweite der einfachgesetzlichen Ausgestaltung des Selbstverwaltungsrechts zu beachten sind, Kluth, Funktionale Selbstverwaltung, S. 419. 449 BVerfG 35, 79 (115). 450 Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung, S. 398 ff. 451 Kluth, Funktionale Selbstverwaltung, S. 431.
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Instituten und schließlich auch der Universität selbst eine Grundrechtsberechtigung aus Art. 5 Abs. 3 GG zukommt, darf diese die Grundrechtsbindung aus demselben Grundrecht gegenüber denen, deren Individualgrundrecht die Grundrechtsberechtigung begründet, nicht aufheben. Das Primat des Individualrechtsschutzes verlangt vielmehr, dass auch die Entscheidungen des Fachbereichs die grundrechtlich geschützte Sphäre des einzelnen Wissenschaftlers respektieren muss,452 jedenfalls denjenigen unantastbaren Kernbereich wissenschaftlicher Freiheit, der durch die mittelbar faktischen Wirkungen der Kodizes beeinträchtigt werden kann. Eine Normsetzungsbefugnis mithilfe der universitären Satzungsautonomie453 zur Einschränkung des Grundrechts der Wissenschaftsfreiheit in ihrem Kernbereich käme demnach im hier relevanten Bereich gerade nicht in Betracht. Vielmehr würde es eine Pflicht zum Einschreiten der staatlichen Aufsicht begründen, die aus diesem Grund in den Universitätsgesetzen zur lediglich rechtlichen Kontrolle wissenschaftlicher Angelegenheiten eingerichtet wurde.454 An dieser Stelle muss aber das Zusammenspiel der nur mittelbaren grundrechtlichen Relevanz der Kodizes mit der funktionalen Selbstverwaltung betrachtet werden, die eine Abweichung von der Rechtsprechung zu den mittelbaren Grundrechtsbeeinträchtigungen erfordern könnte. (3) Grundrechtsbeeinträchtigung durch wissenschaftsinterne Beschlussfassungen Bei den Kodizes handelt es sich gerade nicht um verbindliche Akte der Rechtssetzung, durch die in die Wissenschaftsfreiheit eingegriffen würde. Es sind lediglich unverbindliche Empfehlungen, denen nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aber eine Grundrechtsrelevanz zukommen kann, indem sie faktische Wirkungen erzeugen, die eine Ausübung des Freiheitsrechts verhindern können. Eine unmittelbare Zurechnung zum Staat war nicht möglich. Es handelt sich vielmehr um Äußerungen funktionaler Selbstverwaltungsorgane. Diese dürfen jedoch ebenfalls nicht in den Kernbestand der Wissenschaftsfreiheit eingreifen, da sie selbst grundrechts452 Ibid., S. 426.; ebenso Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung, S. 372. 453 Diese ist überall dort verfassungsrechtlich garantiert, wo es generalisierender Regelungen wissenschaftsrelevanter Angelegenheiten bedarf, also etwa im Bereich der Habilitations-, Promotions- und Magisterordnungen, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung, S. 378; vgl. auch Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Art. 5 Rn. 400. 454 Z. B. § 106 Universitätsgesetz NRW; § 67 Landeshochschulgesetz BadenWürttemberg; bei der Wahrnehmung staatlicher Aufgaben besteht demgegenüber auch eine Fachaufsicht.
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gebunden sind. Ob nun also dadurch ein nicht zu rechtfertigender Eingriff in das Grundrecht aus Art. 5 Abs. 3 GG vorliegt, bemisst sich danach, ob die Rechtsfigur der mittelbar-faktischen Grundrechtsbeeinträchtigung auch auf die Äußerungen von funktionalen Selbstverwaltungsträgern übertragbar ist, oder ob nicht eine Differenzierung von Nöten ist, die eine andere Beurteilung rechtfertigt. Der Ansatzpunkt einer Differenzierung kann in der Zuordnung der Äußerungsquellen gesucht werden. Der Staat darf Äußerungen mit mittelbar-faktischen Wirkungen auf die Ausübung von Freiheitsrechten nur tätigen, wenn sie gerechtfertigt werden können, weil das Informationshandeln zu seiner staatsleitenden Funktion gehört und als verfassungsunmittelbare Aufgabe aufgefasst wird.455 Ihm soll die Möglichkeit offen stehen, im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit auch auf aktuelle streitige, die Öffentlichkeit erheblich berührende Fragen einzugehen und damit staatsleitend tätig zu werden.456 Dass er sich dabei an Grundrechten messen lassen muss, ist der Tatsache geschuldet, dass er dabei staatliche Autorität in Anspruch nimmt, aus der bei den Bürgern besondere Aufmerksamkeit resultiert. Demgegenüber wird bei reinem Empfehlungshandeln von Selbstverwaltungsträgern gerade der Anschein staatlicher Autorität vermieden, obwohl durch die Satzungsautonomie diese Möglichkeit offen stünde. Verzichtet aber ein Selbstverwaltungsorgan auf diese Autoritätsoption, so sind deren Äußerungen nicht nur nicht als staatlich, sondern möglicherweise auch in ihrer Eigenschaft als Grundrechtsträger zu werten. Die individuellen Grundrechtsträger vermitteln dem Selbstverwaltungsorgan selbst wiederum Grundrechtsträgerschaft, so dass zu überlegen ist, deren Äußerungen auch am Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit zu messen und als wissenschaftsinterne Kommunikation selbst zu schützen. Diese konstitutive Komponente der Wissenschaft und des Schutzbereichs der Wissenschaftsfreiheit457 mit den Zwängen der Figur der mittelbar-faktischen Grundrechtsbeeinträchtigung zu belasten, könnte dem Schutzgedanken des Art. 5 Abs. 3 GG widersprechen, der auch der wissenschaftlichen Kommunikation volle Freiheit gewährt. Diese ist insofern rechtlichen Beschränkungen zunächst nicht zugänglich. Erst wenn die grundrechtlichen Grenzen anderer, wie sie die Beleidigungs- und Verleumdungstatbestände des Strafrechts oder die deliktischen Grenzen des Zivilrechts setzen, überschritten werden, können rechtliche Erwägungen wieder ansetzen. Eine solche Bewertung der Kodizes als geschützte wissenschaftliche Kommunikation ist jedoch nicht möglich. Das Abgrenzungskriterium liegt 455 456 457
BVerfGE 105, 279 (301). Ibid. Siehe oben S. 95 ff.
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in der kollektiven Beschlussfassung von Empfehlungen in Ausübung der Selbstverwaltungsfunktion. Die Selbstverwaltungskompetenz resultiert aus der Freiheitsforderung des Art. 5 Abs. 3 GG, dessen objektiv-rechtlicher Charakter den Staat zu derart institutionalisierten Freiheitsausübungsmöglichkeiten verpflichtet.458 Diese Kompetenz reicht aber dementsprechend nur soweit, wie es die Erfüllung der Aufgabe freier Wissenschaft erfordert, beschränkt sich also auf wissenschaftsrelevante Angelegenheiten und deren organisatorische Voraussetzungen. Dabei nehmen die Wissenschaftsinstitutionen selbst grundrechtlichen Schutz in Anspruch, vermittelt über die individuellen Grundrechte ihrer Mitglieder. Sie können als deren Selbstverwaltungsorgane aber auch jene individuellen Freiheitsrechte einschränken, soweit dies zur horizontalen Koordination der Freiheitsausübung notwendig ist und Kollisionen von Freiheitsbereichen dies erfordern.459 Der Primat des Individualrechtsschutzes setzt jener Grundrechtseinschränkungsmöglichkeit jedoch Grenzen,460 vor allem mit Blick auf die Ableitung der Grundrechtsträgerschaft der juristischen Person von den einzelnen Wissenschaftlern. Grundrechtlich lassen sich demnach zwei Schichten der Ausübung der Wissenschaftsfreiheit abgrenzen: Zum einen die organisatorische Schicht, in der die Selbstverwaltungsorgane die Freiheit ihrer Mitglieder einschränken können; zum anderen die für diese Organe unantastbare Schicht des Kernbereichs der individuellen Selbstbestimmung des einzelnen Wissenschaftlers bezüglich der vom Bundesverfassungsgericht herausgearbeiteten wissenschaftlichen Eigengesetzlichkeit, die die auf ihr beruhenden Prozesse, Verhaltensweisen und Entscheidungen beim Auffinden von Erkenntnissen, ihrer Deutung und Weitergabe umfasst.461 Dem Grundrecht der individuellen Forschungsfreiheit des Einzelwissenschaftlers steht dabei gerade kein Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit der Institution dergestalt gegenüber, dass in ihrem Verhältnis zum einzelnen Wissenschaftler eine praktische Konkordanz herzustellen wäre.462 Zwischen beiden Grundrechtsträgern herrscht demnach kein Gleichgewicht, das eine Zuständigkeit der Selbstverwaltungsträger, in das Grundrecht seiner Einzelwissenschaftler bei Befürchtung unethischer Forschung einzugreifen, begründen könnte.463 Gerade der Kernbereich der 458
BVerfGE 35, 79 (115). Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung, S. 372. 460 Kluth, Funktionale Selbstverwaltung, S. 426. 461 Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung, S. 372, unter Bezugnahme auf BVerfGE 35, 79 (112 und 115). 462 BVerwGE 102, 304 (309) = NJW 1997, 1996 (1997), für die Grundrechtsträgerschaft der Hochschulen gegenüber ihren Hochschullehrern; diese Frage konnte das BVerfG in seinem Nichtannahmebeschluss bezüglich einer Beschwerde gegen dieses Urteil offen lassen, 1 BvR 653/97 = NJW 2000, 3635. 463 BVerwGE 102, 304 (309). 459
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Wissenschaftsfreiheit der einzelnen Wissenschaftler wird aber von den Kodizes, erlassen von ihrem Exekutivorgan, in den Blick genommen und Steuerungsversuchen unterworfen, wenn bereits die Fragestellung und die Forschungsausrichtung ethischen Vorgaben unterstellt wird. Wenn diese – organisationsrechtlich unverbindlichen – Instrumente mittelbar-faktische Grundrechtsbeeinträchtigungen entfalten, geschieht dies in Wahrnehmung der Selbstverwaltungskompetenz und nicht in Wahrnehmung wissenschaftlicher Äußerungsfreiheit. Durch die Organäußerung wird auch die unverbindliche Empfehlung von der grundrechtlichen Schicht der Individualrechtsträger abgelöst und der organisatorischen Schicht zugerechnet, deren Möglichkeiten auf die horizontale Koordination begrenzt sind. Die Grundrechtsausübung soll durch die Zugehörigkeit zum Selbstverwaltungsträger gerade ermöglicht und gefördert und nicht weiter eingeschränkt werden. Sobald also Beschlussfassungen durch Selbstverwaltungsträger in den Schutzbereich der Wissenschaftsfreiheit einzelner Grundrechtsträger eingreifen, ist die eigene Grundrechtsträgerschaft des Organs der individuellen Grundrechtsträgerschaft der betroffenen Wissenschaftler nachgeordnet und löst auch für mittelbar-faktische Beeinträchtigungen einen Rechtfertigungszwang aus. Dieser soll im Folgenden behandelt werden, sobald die Situation der privaten Forschungseinrichtungen geklärt wurde. ee) Die Kollision grundrechtlicher Freiheiten in privaten Forschungsinstitutionen Es wurde oben bereits festgestellt, dass neben den einzelnen Wissenschaftlern und den juristischen Personen des öffentlichen Rechts auch private Institutionen als juristische Personen nach Art. 19 Abs. 3 GG Grundrechtsträger sein können. Es bleibt insofern noch zu klären, wie sich die Freiheiten von Individualgrundrechtsträger und Institution in diesen Fällen zueinander verhalten, wenn sie in Konflikt geraten. Denn wenn die Begründung des Status einer juristischen Person als Grundrechtsträger aus dem Individualwillen originärer Grundrechtsträger herrührt,464 so steht auch fest, dass die jeweiligen Individualgrundrechtsträger sich kaum konsensual durch eine Organisationseinheit repräsentieren lassen. Im Falle der funktionalen Selbstverwaltung öffentlich-rechtlicher Wissenschaftsträger wird dieses Problem unter Verweis auf den Auftrag aus Art. 5 Abs. 3 GG mit grundrechtsadäquaten Organisations- und Verfahrensstrukturen gelöst.465 Im pri464
J. Isensee, § 118 Anwendung der Grundrechte auf juristische Personen, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Rn. 24. 465 So zum Beispiel die Organisationsform der Gruppenuniversität, für grundrechtskonform erklärt in BVerfGE 37, 79 ff.
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vaten Bereich sind die Voraussetzungen zum Teil andere, da eine Grundrechtsverpflichtung gegenüber den angestellten Wissenschaftlern nicht mehr in diesem Maße vorhanden ist. Die in ihnen arbeitenden Wissenschaftler erfüllen jedoch ebenfalls die Kriterien, die an die Einbeziehung in den Schutzbereich der Wissenschaftsfreiheit gestellt wurden.466 Wenn also durch ethische Vorgaben die Wissenschaftsfreiheit verkürzt wird, könnten auch diese Forscher solche Maßnahmen gerichtlich anfechten wollen. Auch den juristischen Personen des privaten Rechts kann jedoch die Grundrechtsfähigkeit zuerkannt werden.467 Auch hier stellt sich also die Frage, welchen Grundrechtsschutz der Individualwissenschaftler gegenüber der wissenschaftlichen Institution haben kann, der er angehört. Bei der Behandlung dieser Problemlage ist es zunächst notwendig, wiederum die Begründung der Grundrechtsträgerschaft der juristischen Person in den Blick zu nehmen. Wenn auch bei Universitäten und Forschungsinstituten diese Begründung anders als bei anderen juristischen Personen vorgenommen wurde,468 als die ausnahmsweise unmittelbare Zuordnung zu einem geschützten Lebensbereich die Grundrechtsberechtigung der juristischen Person begründete,469 so eröffnen die allgemeinen Erörterungen zu diesem Thema doch hier interessierende Aspekte. Die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts und mit ihm gewichtige Stimmen in der Literatur nimmt bei der Begründung der Grundrechtsträgerschaft die hinter den juristischen Personen stehenden natürlichen Personen als Grundrechtsträger in den Blick und begründet diese insofern mit einem „Durchgriff“ über die juristische Person.470 Die Organisation müsste daher ein dahinterstehendes personales Substrat aufweisen um den Individualschutz abzustützen, zu stärken und abzurunden, im Mittelpunkt steht daher der am Individuum orientierte Grundrechtsschutz. Demgegenüber wird in der neueren Literatur vermehrt auf das hochkomplexe und vielfältig vernetzte Wirtschafts- und Interaktionsgeschehen in der modernen Gesellschaft abgestellt, das es erfordere auch die Kunstprodukte menschlicher Tätigkeit um ihrer selbst Willen zu schützen und somit einen weiteren Anwendungsbereich für Art. 19 Abs. 3 GG zu erreichen, indem auf die grundrechtstypische Gefährdungslage abgestellt wird bei der Zuord466
S. o., S. 95 ff. S. o., S. 148 ff. 468 BVerfGE 15, 256 (261 f.); 21, 362 (372 f.); 85, 360 (370, 384). 469 BVerfGE 21, 362 (372 f.). 470 S. o. im Abschnitt zuvor; BVerfGE 21, 362 (369); 68, 193 (205 f.); 75, 192 (196); J. Isensee, § 118 Anwendung der Grundrechte auf juristische Personen, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Rn. 5; Remmert, Art. 19 Abs. 3, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz Kommentar, Rn. 26 ff. 467
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nung juristischer Personen als Grundrechtsträger.471 Letztere Ansicht verdient mit Blick auf wissenschaftliche Institutionen auch Zuspruch als diese eine Gesamtleistung mit eigener wissenschaftlicher Aussage hervorbringen können, die über die bloße Addition der Einzelleistungen dahinterstehender Wissenschaftler hinausreicht und insofern eigenen Schutz beansprucht.472 Darüber hinaus ergibt sich auch aus prozessualer Sicht ein Vorteil, wenn man die juristische Person losgelöst von ihrem personalen Substrat betrachtet. Die Grundrechtsfähigkeit juristischer Personen unabhängig von den dahinterstehenden Personen eröffnet die Möglichkeit grundrechtlichen Schutzes vor Gericht sowohl aus Sicht der juristischen Person als solcher, als auch der in ihr vereinigten natürlichen Personen als Grundrechtsträger. Eine Geltendmachung von Grundrechten durch die juristische Person wird also nicht vom Votum der sie tragenden und entscheidungsbefugten Personen abhängig gemacht, was auch einen Grundrechtskonflikt zwischen Mehrheit und Minderheit vermeidet, da es der Minderheit zusteht selbst Grundrechtsschutz zu suchen, wenn dies nicht durch die juristische Person erfolgt.473 Diese Erwägungen sind auch von den Vertretern der Durchgriffsthese aufgenommen worden, so dass die praktischen Unterschiede zwischen den Theorien marginal geworden sind.474 Letztlich lassen sich daher als Kriterien formulieren, dass eine juristische Person eine organisatorische Verdichtung zur Entscheidungs- und Handlungseinheit darstellen, eine relative rechtliche Verselbständigung gegenüber den sie tragenden Menschen gewährleisten und eine privatautonome Fundierung aufweisen muss.475 Eben jene privatautonome Fundierung ist der Schlüssel zur Lösung der Grundrechtskollision zwischen Institution und Wissenschaftler. Wenn eine Institution zur Grundrechtsausübung berechtigt ist, geschieht dies durch den Beitritt der Wissenschaftler, also als Produkt von deren Privatautonomie 471
H. Dreier, Art. 19 Abs. 3, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Rn. 32 f. Meusel, Außeruniversitäre Forschung im Wissenschaftsrecht, Rn. 164. Ebenso aus allgemeiner Perspektive Herbert Bethge, Die Grundrechtsberechtigung juristischer Personen nach Art. 19 Abs. 3 Grundgesetz, S. 27. 473 A. v. Mutius (Zweitbearb.), Art. 19 Abs. 3, in: Rudolf Dolzer/Hans Jürgen Abraham (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Rn. 62; Bethge, Die Grundrechtsberechtigung juristischer Personen nach Art. 19 Abs. 3 Grundgesetz, S. 28. 474 Vgl. die vermittelnden Ausführungen von J. Isensee, § 118 Anwendung der Grundrechte auf juristische Personen, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Rn. 27 ff. und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Grundrechtsfähigkeit von Stiftungen, die per se kein personales Substrat aufweisen können in BVerfGE 46, 73 (82 f.); kritisch zu dieser Entscheidung als inkonsistent H. Dreier, Art. 19 Abs. 3, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Rn. 32. 475 J. Isensee, § 118 Anwendung der Grundrechte auf juristische Personen, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Rn. 27 ff. 472
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und wird damit durch die freie Annahme der „primären Grundrechtsträger“ konstitutiert.476 Es ist der Zusammenhang zwischen der Grundrechtsfähigkeit der juristischen Person und der Privatautonomie der in ihr vereinten natürlichen Personen, der die Kollisionslösung eröffnet. Durch den Eintritt in die Institution wird nicht nur das Grundrecht des Wissenschaftlers durch die eigenständige Grundrechtsfähigkeit derselben und die Ermöglichung von Forschung gestärkt und geschützt, er selbst vermittelt auch der juristischen Person durch seine Teilhabe die grundrechtliche Eigenständigkeit. Dafür unterwirft sich der Wissenschaftler aber notwendigerweise der dieser Institution zu Grunde liegenden Struktur, mag sie hierarchisch oder demokratisch sein und damit deren Entscheidungsprozessen ohne das eigene Grundrecht aufgeben zu müssen. Diese Unterwerfung ist aber ein privatautonomer Akt der Zustimmung, der seinerseits die privatautonome Fundierung der Institution schafft.477 Die Freiheit sich selbst vertraglich zu binden entspringt dem Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit. Zum Gebrauchmachen von Freiheit gehört auch die Möglichkeit, die eigene Freiheit für die Zukunft zu beschränken.478 Dies gilt für alle Freiheiten,479 abgesehen von der Menschenwürde, die als unveräußerlich anzusehen ist. Ist damit ein Wissenschaftler aufgrund freiwilliger vertraglicher Bindung in ein Arbeitsverhältnis eingetreten, das ihm zwar wissenschaftliche Betätigung ermöglicht, jedoch durch private Interessen des Arbeitgebers determiniert ist, muss dies als Teil einer vertraglichen Selbstbindung seiner Wissenschaftsfreiheit bewertet werden, das eine Einschränkung zulässig macht.480 Da der Akt der Zustimmung auch die Beschneidungsmöglichkeit durch verbindliche Direktiven in Form von Kodizes umfassen kann, ist erst recht eine unverbindliche Steuerung als unbedenklich anzusehen. Der Wissenschaftler in privaten Forschungsinstitutionen ist damit sehr viel weiter in seinem Grundrecht aus Art. 5 Abs. 3 GG einschränkbar, als dies für öffentlich-rechtliche Institutionen gilt.
476
Ibid., Rn. 29. Vgl. zu dieser Argumentation die Ausführungen auf S. 87 ff. 478 W. Rüfner, § 117 Grundrechtsadressaten, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Rn. 68. 479 Sogar die Gewissensfreiheit aus Art. 4 I GG, vgl. BAGE 47, 363 (374 f.). 480 So im Ergebnis auch Dickert, Naturwissenschaften und Forschungsfreiheit, S. 344 ff., wenngleich dieser die vertragliche Selbstbindung nur für die Wahl des Forschungsgegenstands für zulässig erachtet, weitergehende Selbstbindungen aber für bedenklich hält. In Bezug auf die hier in Rede stehenden, unverbindlichen Vorgaben des Arbeitgebers dürfte dies aber aufgrund der geringen Eingriffsintensität kein Problem darstellen. 477
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c) Rechtfertigung der Grundrechtsbeeinträchtigungen Soweit Kodizes als Mittel ethischer Steuerung in der Wissenschaft eingesetzt werden, können sie nach den bisherigen Ausführungen Wirkungen entfalten, die als Grundrechtsbeeinträchtigungen einen Rechtfertigungszwang auslösen. Wie bereits beschrieben können jedoch nur qualifizierte, hochwertige Verfassungsgüter die Wissenschaftsfreiheit aus Art. 5 Abs. 3 GG als verfassungsimmanente Grenzen der Freiheitsausübung einschränken.481 Es müssen nun daher zum einen diejenigen Verfassungsgüter identifiziert werden, die eine Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit ermöglichen können. Zum anderen wird aber auch die Eingriffsintensität der Kodizes erörtert werden, da diese in der gebotenen Abwägung der Verfassungsgüter durch die Unverbindlichkeit der Kodizes und die Mittelbarkeit der Wirkungen eine wesentliche Rolle spielen wird. Zunächst müssen die Anforderungen an die Rechtfertigung von Grundrechtsbeeinträchtigungen je nach Rechtsnatur der kodexerlassenden Körperschaft untersucht werden. aa) Formelle Voraussetzungen Wie bereits ausgeführt bestehen in der Rechtsform der Wissenschaftsinstitutionen erhebliche Unterschiede. Universitäten, staatlich finanzierte Forschungseinrichtungen und private Institutionen werden dabei auch von unterschiedlichen Rechtsregimes beherrscht, die die jeweiligen Anforderungen an die Rechtfertigung beeinflussen. Im Bereich der Universitäten ist dabei eine Zuordnung zum öffentlichen Recht unstreitig, eine eventuelle Rechtswidrigkeit von gesetzten Kodizes und aus ihnen resultierenden Folgen müsste daher auch im Verwaltungsrechtsweg geltend gemacht werden. (1) Gesetzesvorbehalt für grundrechtsbeeinträchtigende Maßnahmen öffentlich-rechtlicher Selbstverwaltungskörperschaften? Bei den Kodizes öffentlich-rechtlicher Selbstverwaltungskörperschaften stellt sich zunächst die Frage nach einem eventuellen Gesetzesvorbehalt zum Erlass grundrechtsbeeinträchtigender Normen. Unzweifelhaft verfügen die Universitäten über eine Satzungsautonomie zur Erledigung der ihnen zugewiesenen Aufgaben,482 die es ihnen auch erlaubt die Wissenschaftsfreiheit ihrer Mitglieder einzuschränken. Diese Einschränkung darf jedoch nur zur horizontalen Koordinierung der einzelnen Grundrechtsträger erfolgen, mithin zur Ermöglichung wissenschaftlicher Freiheit verschiedener Grund481 482
Vgl. das Kapitel zu den Schranken der Wissenschaftsfreiheit, S. 122 ff. Vgl. Fn. 453.
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rechtsträger. Die Satzungsautonomie der Selbstverwaltungskörperschaften ist ein Produkt der Erkenntnis, die gesellschaftlichen Gruppen in eigener Verantwortung zur Ordnung der sie besonders berührenden Angelegenheiten heranzuziehen um deren Sachverstand für die Rechtsfindung zu nutzen.483 Diese Überlegungen gelten auch für die grundrechtlich legitimierten akademischen Selbstverwaltungskörperschaften. Die hier zu regelnde Materie berührt jedoch nicht allein die Interessen ihrer Mitglieder, sondern ist vielmehr dem Schutz aller Menschen gewidmet. Zu diesem Zweck soll die Wissenschaftsfreiheit eingeschränkt werden, was eine Begrenzung der Freiheit zugunsten anderer Rechtsgüter erfordert. Diese Konstellation erfordert einen anderen Bewertungsmaßstab, denn dabei geht es um das Verhältnis eines vorbehaltlos gewährten Grundrechts zu anderen Freiheiten des Grundgesetzes. Eine solche Grundentscheidung über die Reichweite des Art. 5 Abs. 3 GG ist als wesentlich anzusehen in dem Sinne, der diese Entscheidungen nach der Wesentlichkeitstheorie dem Parlamentsvorbehalt zuordnet.484 Insbesondere die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Mitbedenkens- und Informationspflicht von Forschern nach § 6 HUG hat dabei gezeigt, dass derartige Pflichten zwar zugunsten hochwertiger Rechtsgüter gerechtfertigt werden können. Diese Entscheidung muss aber dasjenige Staatsorgan treffen, das zur Zuordnung der Allgemeininteressen zu Lasten einzelner Freiheiten berufen ist, also das Parlament, zumal wenn der Kernbereich eines Freiheitsrechts in Frage steht.485 Ihm allein ist die Entscheidung überlassen, welche Gemeinschaftsinteressen so gewichtig sind, dass das Freiheitsrecht des Einzelnen zurücktreten muss, um seiner Aufgabe als Hüter des Gemeinwohls gerecht zu werden.486 Gleichwohl darf bei der Überlegung nach Parlaments- und Gesetzesvorbehalt die Intensität des Eingriffs nicht außer Acht gelassen werden. Soweit nach dem zuvor gesagten eine verbindliche Satzung zur Regelung dieser Materie durch öffentlich-rechtliche Selbstverwaltungskörperschaften wegen einer fehlenden gesetzlichen Grundlage unzulässig wäre, ist noch nichts darüber gesagt, wie sich diese Überlegungen auf die Wahl einer unverbindlichen Form des Kodex übertragen lassen. Welche Anforderungen an die Ermächtigung zum Erlass von autonomen Satzungen im Einzelfall zu stellen sind, hängt von der jeweiligen Intensität des Eingriffs ab.487 Im Mittelpunkt 483
BVerfGE 33, 125 (159). Zum Parlamentsvorbehalt allgemein und dessen Abgrenzung zum Gesetzesvorbehalt vgl. F. Ossenbühl, § 101 Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes, in: Isensee/ Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, Rn. 14 ff. 485 So auch Wolf-Rüdiger Schenke, Rechtliche Grenzen der Rechtssetzungsbefugnisse von Ärztekammern – Zur rechtlichen Problematik satzungsrechtlich statuierter Kompetenzen von Ethik-Kommissionen NJW 1991, 2313 (2319). 486 BVerfGE 33, 125 (159); 76, 171 (184). 484
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dieser Untersuchung stehen nur rechtlich unverbindliche Steuerungsformen, die kraft ihrer faktischen Wirkungen jedoch eine mittelbare Grundrechtsrelevanz aufweisen. Die unmittelbar grundrechtsbeeinträchtigenden Standesrichtlinien der Anwaltschaft wurden bereits für verfassungswidrig erklärt, obwohl sie nur vor den standeseigenen Ehrengerichten Gültigkeit beanspruchten.488 Hier ist aber nicht nur keine unmittelbare Außenwirkung der Kodizes festzustellen, es fehlt bereits an der internen Verbindlichkeit, die erzeugten Wirkungen ergeben sich erst mittelbar. Die formellen Kriterien eines solchen unverbindlichen Handelns sind aber für die jeweiligen Institutionen gesetzlich nicht festgelegt, weshalb auch die Frage nach der Kompetenz zu einer solchen mittelbaren Steuerung offenbleibt. Eine solche lässt sich aber möglicherweise dem Konstrukt der funktionalen Selbstverwaltung entnehmen. Die Selbstverwaltung der Universitäten ist darauf gegründet, eine gesellschaftliche Gruppe in eigener Verantwortung zur Ordnung der sie besonders berührenden Angelegenheiten heranzuziehen um deren Sachverstand für die Rechtsfindung zu aktivieren.489 Gleichzeitig soll damit auch die grundrechtlich notwendige Freiheit vom Staat gewährleistet sein. Mit der Einräumung von Selbstverwaltung und damit auch einer Selbstverantwortung könnten diejenigen Grundsätze mutatis mutandis auf das kleinere, abgeschlossene System der Wissenschaft übertragen werden, die das Bundesverfassungsgericht an das staatliche Informationshandeln anlegte. Dort wurde vor allem darauf rekurriert, dass die politische Ordnung auf ein hohes Maß an Selbstverantwortung durch die Bürger bei der Lösung gesellschaftlicher Probleme angewiesen ist.490 Nichts anderes kann für die Wissenschaftler gelten, die aufgrund ihrer wissensbasierten Stellung in der Gesellschaft und ihres grundrechtlich eingeräumten Freiheitsstatus ein Mehr an Eigenverantwortung zu tragen haben, als es der normale Bürger muss. Zur eigenverantwortlichen Mitwirkung an der Problembewältigung müssen die Selbstverwaltungsorgane jedoch auch dazu in der Lage sein, ihre Mitglieder mit den nötigen handlungsrelevanten Informationen zu versorgen. Konkret gesprochen müssen also in einer Gesellschaft, in der die ethische Verantwortung für die Risiken von Forschung und Wissenschaft auf diese selbst rückverlagert wird, die zuständigen Selbstverwaltungsorgane auch mit der Fähigkeit ausgestattet sein, den Wissenschaftlern durch unverbindliche Kodizes eine Anleitung an die Hand zu geben, an denen diese sich orientieren können. Dasselbe kann auch für das unverbindliche Verfahren gelten, das diese Kodizes 487 488 489 490
BVerfGE BVerfGE BVerfGE BVerfGE
33, 125 (160). 76, 171 (188). 33, 125 (159). 105, 279 (302).
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handhabbar machen sollen. Die Kompetenz zum Erlass solcher unverbindlichen Handlungsformen ergibt sich damit aus dem Grundrecht selbst, wenn es als derart weites Freiheitsrecht begriffen wird, dass eine unmittelbare Regulierung durch den theoretisch dazu berufenen Gesetzgeber nicht möglich ist. Die gemeinschaftsgebundene Verantwortung der Wissenschaft muss daher die Möglichkeit kennen, diese Verantwortung möglichst schonend zu implementieren, zumal wenn Forderungen nach einem wissenschaftlich Ethos der externen Verantwortung laut werden. Daher ist entsprechend der Ableitung einer Informationsbefugnis des Staates aus der Verfassung selbst, auch für die Wissenschaftsinstitutionen des öffentlichen Rechts eine Kompetenz aus der Verfassung selbst, konkreter der Wertentscheidung des Art. 5 Abs. 3 GG, abzuleiten. Aus ihrer oben postulierten Grundrechtsbindung folgt damit aber weiterhin, dass auch die dadurch verursachten mittelbarfaktischen Beeinträchtigungen der Wissenschaftsfreiheit am Freiheitsrecht des Art. 5 Abs. 3 GG zu messen sind, also eine Rechtfertigung notwendig ist. Den oben aufgestellten Anforderungen entsprechend lässt sich jedoch sagen, dass nur ein Eingriff von sehr geringer Intensität, bedingt durch mittelbar-faktische Wirkungen, der nicht den absoluten Kernbereich des Grundrechts antastet, eine konkrete gesetzliche Ermächtigungsgrundlage entbehrlich macht und eine Kompetenz aus dem Grundrecht selbst auszureichen vermag. (2) Gesetzesvorbehalt für staatlich finanzierte, private Forschungseinrichtungen? Die außeruniversitären Forschungseinrichtungen, die vom Staat finanziert werden, können nicht aus ihrer Privatautonomie heraus eine Satzungsbefugnis herleiten, die sie zu jeglicher Einschränkung der Grundrechte ihrer Mitglieder befähigen könnte. Dies wurde bereits aufgrund ihrer Grundrechtsbindung festgestellt. Dennoch müssen die soeben aufgestellten Grundsätze für unverbindliches Handeln auch für sie gelten, als sie ebenfalls in einer Form der funktionalen Selbstverwaltung betrieben werden, und gleichsam die Wissenschaftsfreiheit in gemeinschaftsgebundener Verantwortung wahrnehmen. Auch für deren Handeln ergibt sich aus ihrer Grundrechtsbindung für mittelbar-faktische Wirkungen jedoch ein Rechtfertigungszwang. bb) Kollidierende Verfassungsgüter Die Ermittlung der Verfassungsgüter, die die Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit rechtfertigen können, ist mit Problemen behaftet, soweit eine eindeutige Nennung dieser in den Kodizes selbst oft nicht erfolgt. Die Re-
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geln der MPG nennen zwar beispielsweise als Faktoren der Risikoanalyse Gefahren für „Leben und Gesundheit von Menschen, für die Umwelt und für andere wichtige verfassungsrechtlich geschützte Güter“, gleichzeitig wird aber auch in abstrakter Weise auf missbrauchsgefährdete Arbeiten verwiesen, die ein Dual-Use-Potenzial aufweisen.491 Die tatsächlich durch Dual-Use betroffenen Verfassungsgüter sind nicht einheitlich zu ermitteln und müssen den spezifischen Ausführungen oder dem Kontext des Kodex entnommen werden. Der Verhaltenscodex der DFG konkretisiert die DualUse-Problematik mit Blick auf den Missbrauch biologischer oder toxikologischer Forschungsergebnisse für die Entwicklung von Biowaffen und auch den MPG-Regeln ist durch die Ausführungen der Einleitung492 zu entnehmen, dass die Dual-Use-Problematik sich auf die Entwicklung von kriegstechnischen und terroristisch nutzbaren Materialien konzentriert. Durch das Stichwort Dual-Use wird damit vor allem auf die Gefahren für das Leben und die Gesundheit von Menschen verwiesen, die unstreitig über Art. 2 Abs. 2 GG und auch Art. 1 GG geschützt werden. Im Folgenden sollen aber auch weitere in Frage kommende Rechtsgüter auf ihren Verfassungsrang und ihre Fähigkeit zur Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit untersucht werden. (1) Der Schutz der Umwelt Anders als die beiden zuletzt genannten Rechtsgüter ist der Schutz der Umwelt als potenzielles Verfassungsgut, das die Wissenschaftsfreiheit einzuschränken vermag, nicht als Grundrecht ausgestaltet. Dessen Schutz ist seit 1994 in Art. 20a GG als Staatszielbestimmung in der Verfassung festgeschrieben. Der Schutz der Umwelt als objektiv-rechtliches Staatsziel ist von vornherein darauf ausgelegt „im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung“ interpretiert zu werden und dabei mit anderen Verfassungsprinzipien und Verfassungsrechtsgütern gleichgeordnet zu werden.493 Auch die Rechtsprechung erkannte sogleich nach der Verfassungsänderung an, dass der Umweltschutz auch vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechten wie Art. 5 Abs. 3 GG gegenüber nicht nachrangig sei und mit diesen in Ausgleich zu bringen sei.494 Als positiviertes Schutzgut der Verfassung entspricht es den 491 Punkt II. C. 2. der Regeln der MPG. Ebenso auch der Ethikkodex der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaften, § 1 Abs. 5 und der Ethikkodex der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft, Punkt I.A.(6). 492 Siehe dort in Fn. 4. 493 So bereits die Begründung der Gemeinsamen Verfassungskommission, die den Art. 20a GG ausarbeitete, BT-Drucksache 12/6000 S. 67. 494 Für das Verhältnis zwischen Kunstfreiheit und Umweltschutz BVerwG NJW 1995, 2648 ff. (2. Leitsatz); ebenso R. Scholz, Art. 20a, in: Maunz/Dürig, Grund-
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erhöhten Anforderungen, die zuvor an einschränkungsfähige Güter gestellt wurde.495 Die Staatszielbestimmung des Art. 20a GG ist daher im Kollisionsfall in der Lage die Wissenschaftsfreiheit einzuschränken, wenn und soweit dies verhältnismäßig geschieht. (2) Das Friedensgebot des Grundgesetzes Problematischer als der Schutz der Umwelt ist ein verfassungsrechtliches Friedensgebot des Grundgesetzes zu sehen. Der Rekurs auf dieses potenzielle Schutzgut ist notwendig, um der vielfach zitierten Dual-Use-Problematik gerecht werden zu können. Die Gefahr des Missbrauchs nützlicher Forschung für kriegerische und terroristische Zwecke realisiert sich regelmäßig erst durch dritte Personen. Mit der Einbeziehung aller potenziellen Handlungen anderer Personen, deren Auswirkungen der Wissenschaftler nur schwerlich beurteilen kann, wird die Berücksichtigung von Kausalverläufen abverlangt, die eine wissenschaftliche Grundlagenforschung zur Unmöglichkeit verkommen lassen könnte. Die Zurechnung negativer Folgen des eigenen Handelns kennt in der rechtlichen Ordnung ihre Grenzen in der Unterbrechung durch dazwischentretende Dritte. Die Pflicht, drohenden Schaden von Anderen abzuwenden, reicht nur soweit, wie die Beherrschung des Kausalverlaufs es ermöglicht. Möglicher Ansatzpunkt einer Rechtfertigung dieser Anforderung könnte dabei die Beeinflussung von militärischen oder terroristischen Operationen durch Bereitstellung von Waffenmaterial sein, also nicht das Anknüpfen an das Verhalten Dritter sondern an die zur Verfügung stehenden Mittel, was als Verstoß gegen ein verfassungsrechtliches Friedensgebot aufgefasst werden könnte, als bereits die Herstellung von Kriegswaffen in Deutschland der Genehmigungspflicht des Art. 26 Abs. 2 GG unterfällt. Das Bundesverfassungsgericht hat sich in diesem Zusammenhang ebenfalls durch einen Rückgriff auf Art. 26 GG beholfen, dem Verbot der Störung des friedlichen Zusammenlebens der Völker. Dieser Artikel hilft zwar nur insoweit, wie die Dual-Use-Problematik auf die schädliche Verwendung von Forschungsergebnissen für die Waffenentwicklung und Kriegstechnik reduziert wird, dieser Schwerpunkt wird aber auch beispielsweise bewusst in den einführenden Hinweisen der MPG-Regeln gesetzt.496 Das Verbot der Herstellung von Kriegswaffen nach Art. 26 Abs. 2 GG kommt dabei jedoch nach allgesetz Kommentar, Rn. 41 ff. Im Sinne der menschlichen Lebensgrundlagen als solchen sieht Murswiek diese gegenüber anderen Verfassungsprinzipien und -gütern als „fundamental“ an, vgl. Art. 20a, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, Rn. 59. 495 Vgl. oben, S. 122 ff. 496 Punkt A, Fn. 4 der Regeln.
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gemeiner Meinung gerade nicht als einschränkende Verfassungsbestimmung in Betracht, da es nach der Definition der Kriegswaffen auf den objektiven Verwendungszweck ankommt, nicht auf die subjektive Zweckwidmung durch Dritte.497 Die Grundlagenforschung, der die MPG beispielsweise allein gewidmet ist, kann definitionsgemäß keine subjektive Zweckbestimmung ihrer Arbeit umfassen, denn ihre Zielrichtung soll gerade von bestimmten Anwendungsfeldern losgelöst sein.498 Bei der durch die Kodizes in den Blick genommenen Forschung ist die Zweckbestimmung zumeist auch nur neutral intendiert. Die Frage ist dann aber, ob sich aus Art. 26 Abs. 1 GG ein allgemeines Verfassungsprinzip des friedlichen Zusammenlebens der Menschen ableiten lässt, das fähig sein kann, die Wissenschaftsfreiheit in diesem Bereich einzuschränken.499 Dem Wortlaut der Vorschrift lässt sich als Voraussetzung zunächst eine Handlung entnehmen, die eine gewisse Eignung aufweisen muss das friedliche Zusammenleben zu stören und auch in dieser Absicht vorgenommen werden muss. Eine direkte Anwendung scheidet demnach im vorliegenden Fall aus. Man müsste vielmehr dieser Vorschrift ein abstraktes verfassungsrechtliches Friedensgebot entnehmen können,500 das als hochwertiges Rechtsgut von Verfassungsrang, als Wertentscheidung des Grundgesetzes die Wissenschaftsfreiheit einzuschränken vermag. Dem Bundesverfassungsgericht gelang dieser Schritt unter exemplarischem Hinweis auf Art. 26 GG,501 diese Argumentation stützend könnten des Weiteren die Präambel des Grundgesetzes angeführt werden, sowie Art. 24 Abs. 2 GG und Art. 25 GG mit dem völkerrechtlichen Friedensgebot.502 Seit diesem Urteil hat das Bundesverfassungsgericht richtigerweise seine Anforderungen an einschränkungsfähige Rechtsgüter des Grundgesetzes jedoch verschärft, in einer Entscheidung zur Kunstfreiheit verlangte es zumindest positivrechtliche Nachweise der zu findenden, gegenläufigen Prinzipien, da dem „hohen Rang dieser Grundfreiheit“ mit formelhaften Rechtsgütern wie dem 497
M. Herdegen, Art. 26, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz Kommentar, Rn. 49. Die Grundlagenforschung daher ausschließend U. Fink, Art. 26, in: Mangoldt/ Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Rn. 64; I. Pernice, Art. 26, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Rn. 24; R. Streinz, Art. 26, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, Rn. 40. Die Forschung insgesamt ausschließend K. Hernekamp, Art. 26, in: Ingo von Münch/Philip Kunig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Rn. 30. 499 So die Argumentation des BVerfG in E 47, 327 (382); vgl. auch M. Herdegen, Art. 26, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz Kommentar, Rn. 49. 500 M. Herdegen, Art. 26, in: ibid., Rn. 2 ff. 501 BVerfGE 47, 327 (382): „Der Verfassungsrang dieses Rechtsguts ergibt sich u. a. aus Art. 26 GG.“ 502 Vgl. zum völkerrechtlichen Einfluss des Friedensgebots auf das Grundgesetz, K. Doehring, § 178 Das Friedensgebot des Grundgesetzes, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, S. 687 ff. 498
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Schutz der Verfassung und der Funktionsfähigkeit der Strafrechtspflege nicht genüge getan würde.503 Ein verfassungsrechtliches Friedensgebot kann jedoch durchaus positivrechtlich aufgewiesen werden, als die bereits erwähnten Vorschriften eine derartige Ausrichtung des Grundgesetzes formulieren. Der Verweis auf den Willen „dem Frieden der Welt zu dienen“ in der Präambel, die Möglichkeit des Beitritts zu kollektiven Sicherheitssystemen zur „Wahrung des Friedens“ in Art. 24 Abs. 2 GG, die Inkorporierung des völkerrechtlichen Gewaltverbots durch Art. 25 GG in die deutsche Rechtsordnung504 und die Pönalisierung der Störung des friedlichen Zusammenlebens in Art. 26 Abs. 1 GG verkörpern ausreichende Aufweise einer verfassungsrechtlichen Wertentscheidung für ein Friedensgebot im Grundgesetz. Damit ist aber noch nicht festgelegt, wie dieses Verfassungsgut in der Wertordnung des Grundgesetzes einzuordnen ist, zumal es nur aus einer Interpretation mehrerer Vorschriften des Grundgesetzes gewonnen werden kann. Ohne konkrete Normativierung im Grundgesetz ist dessen Vorrang in einer Abwägung mit der verfassungsrechtlich konkret und vorbehaltlos gewährleisteten Wissenschaftsfreiheit nur schwer annehmbar. Die Anerkennung eines einschränkungsfähigen Friedensgebots des Grundgesetzes zulasten der Wissenschaftsfreiheit bedarf daher einer besonderen Vorsicht. Diese Güter dennoch einander zuzuordnen, soll im Rahmen der Verhältnismäßigkeit im Folgenden geschehen. cc) Verhältnismäßigkeit Die Verhältnismäßigkeit mittelbar-faktischer Grundrechtsbeeinträchtigungen ist zunächst ebenso wie bei unmittelbaren Grundrechtseingriffen zu untersuchen. Gleichwohl muss dabei der geringeren Eingriffsintensität Rechnung getragen werden. Die hier vorliegende Eingriffsintensität muss differenziert betrachtet werden, je nachdem welche Vorgaben in den Kodizes gemacht werden. In Betracht kommen nach Auswertung der vorhandenen Kodizes vor allem die Aufforderung zum Mitbedenken oder zur Risikoanalyse mit der damit verbundenen Dokumentation [1)] und die Aufforderung zur Vorlage von Forschungsprojekten bei einer Ethikkommission [2)].
503 BVerfGE 77, 240 (255); bestätigt in E 81, 278 (293); siehe bereits oben, S. 122 ff. 504 Vgl. dazu BVerfG 2 BvE 2/07 Rn. 73 (Tornadoeinsatz in Afghanistan); dort hatte das Gericht auf die Einbeziehung des Gewaltverbots durch Art. 25 GG nach der Intention des historischen Verfassungsgebers hingewiesen.
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(1) Eingriffsintensität der Risikoanalyse Die Aufforderung zur Risikoanalyse oder zum Mitbedenken, wie es die Kodizes der MPG505 und der DFG506 fordern, war bereits Gegenstand der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu § 6 HUG.507 Das Gericht hat die gesetzliche Mitbedenkens- und Informationspflicht als verhältnismäßig leichten und schonenden Eingriff betrachtet, da „in vertretbarer Weise an die Eigenverantwortung der Wissenschaftler appelliert“ würde.508 Man könnte diesen Befund in Frage stellen, da der wissenschaftliche Erkenntnisvorgang mit der damaligen gesetzlichen Pflicht in seinem ersten und ursprünglichsten Stadium beeinflusst werden sollte und damit der Kernbereich der Wissenschaftsfreiheit berührt wird, die Freiheit der Fragestellung. Diese würde von außerhalb der Wissenschaft liegenden Belangen beeinflusst und damit materiell determiniert,509 was als Angriff auf den nach Art. 19 Abs. 2 GG absolut geschützten Wesensgehalt des Grundrechts gesehen werden könnte. Als solcher könnte der Eingriff nicht nur nicht leicht und schonend sein, sondern auch von vornherein unzulässig. Richtigerweise hat das Gericht jedoch darauf hingewiesen, dass die Fragestellung nicht von Grund auf beeinflusst würde, sondern mit den zu bedenkenden Risiken lediglich zusätzliche Faktoren in diese mit einbezogen werden sollten. Aus wissenschaftstheoretischer Sicht sei dies entweder als wissenschaftsimmanenter oder als zusätzlicher Gesichtspunkt möglich.510 Wenn die Fragestellung an sich also nicht grundsätzlich determiniert wird, sondern lediglich ein Mehr an relevanten Gedanken gefordert wird, so wird der Wesensgehalt des Grundrechts nicht berührt. In Anbetracht des Verweises auf die Eigenverantwortung des Forschers, der selbst die Konsequenzen aus diesen Überlegungen zu ziehen hat und damit selbst beeinflusst, welche mittelbar-faktischen Wirkungen die Risikoanalyse hervorbringen kann, ist dies somit tatsächlich der schonendste Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit, der aufgrund der kognitiven Anknüpfung möglich erscheint. Die Eingriffsintensität der Risikoanalyse und den damit verbundenen Anforderungen ist damit als gering einzustufen.
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Punkt II. C. 2. der Regeln der MPG. Punkt 3. des Verhaltenscodex der DFG. 507 BVerfGE 47, 327 ff., siehe oben, S. 131 ff. 508 BVerfGE 47, 327 (381). 509 W. Schmitt Glaeser, Die Freiheit der Forschung, WissR 1974, 107 (113). 510 BVerfGE 47, 327 (377), unter Verweis auf Hailbronner, Die Freiheit der Forschung und Lehre als Funktionsgrundrecht, S. 300. 506
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(2) Eingriffsintensität der Einschaltung einer Ethikkommission Bereits seit Einführung der obligatorischen Prüfung von Forschungsprojekten an Menschen durch Ethikkommissionen in der Arzneimittelforschung ist es nahezu einhellige Meinung, dass diese Pflicht einen Eingriff in die Forschungsfreiheit darstellt.511 Auch wenn deren Voten keine Verbindlichkeit beanspruchten, und daher die Eingriffsintensität gering ist, wurde dennoch das Konfliktpotenzial mit dem Grundrecht aus Art. 5 Abs. 3 GG oft als gegeben betrachtet.512 Eine noch geringere Eingriffsintensität wäre demnach für den Fall festzustellen, dass die Vorlage an die Ethikkommission nicht verpflichtend vorgeschrieben wäre, sondern freiwillig erfolgt oder nur bei Anrufung durch eine dritte Person. Gerade letztere Variante birgt aber dennoch für den einzelnen Wissenschaftler stets das Risiko dem – wenn auch rechtlich unverbindlichen – Verdikt der unethischen Forschung unterworfen zu werden, weshalb auch dann zumindest eine Grundrechtsbeeinträchtigung gegeben ist. Dementsprechend ist die Eingriffsintensität umso größer, je mehr Öffentlichkeit ein solches Verfahren vor einer Ethikkommission erfährt. Werden deren Ergebnisse einer breiten Masse vorgelegt oder auch nur wesentlichen Entscheidungsträgern innerhalb einer Wissenschaftsinstitution kann die Beeinträchtigung der wissenschaftlichen Freiheit sehr schwerwiegend sein. Wird die Bewertung von Forschungsvorhaben aber unter größter Sorgfalt bei der Wahrung der Reputation und des persönlichen Ansehens des betroffenen Forschers vorgenommen, verringert sich auch die Eingriffsintensität. Da es die Intention der kodexsetzenden Institutionen sein soll, die Eigenverantwortung der Wissenschaftler zu stärken und ein geeignetes Schlichtungsverfahren für wissenschaftsethische Differenzen zu erreichen, soll an dieser Stelle jedoch davon ausgegangen werden, dass entsprechende Vorkehrungen zum Schutz des betroffenen Wissenschaftlers in den Kodizes selbst oder den Verfahrensordnungen der Ethikkommissionen getroffen werden.513 Trotz dadurch erreich511 Vgl. aus der umfangreichen Literatur K. Sobota, Die Ethik-Kommission – Ein Institut des Verwaltungsrechts, AöR 121 (1996), 229 (242 ff.); W.-R. Schenke, Rechtliche Grenzen der Rechtsetzungsbefugnisse von Ärztekammern – Zur rechtlichen Problematik satzungsrechtlich statuierter Kompetenzen von Ethik-Kommissionen NJW 1991, 2313 (2318); Michael Schröder, Ethik-Kommissionen, Embryonenschutz und In-Vitro-Fertilisation: Gültige Regelungen im ärztlichen Standesrecht?, Versicherungsrecht 1990, 243 (251); Wolfgang van den Daele/Heribert Müller-Salomon, Die Kontrolle der Forschung am Menschen durch Ethikkommissionen; Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, S. 217 ff. 512 Auch ein Eingriff in Art. 12 GG wurde durch diese Pflichten festgestellt, vgl. Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, S. 222. 513 Die Regeln der MPG überlassen es der Ethikkommission selbst, sich eine Verfahrensordnung zu geben (Punkt II. D. 3.).
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ter, geringer Eingriffsintensität muss aber dennoch eine Rechtfertigung der Grundrechtsbeeinträchtigung gelingen. (3) Legitimer Zweck der Risikovorsorge? Der zuvor festgestellten geringen Intensität des Grundrechtseingriffs muss aber ein anderer Faktor gegenübergestellt werden, der die Anforderungen einer Rechtfertigung wiederum erhöhen könnte. Die Kodizes sind in einem Bereich angesiedelt, der nicht mehr der traditionellen Abwehr von Gefahren für die genannten Rechtsgüter zuzuordnen ist. Sie setzen wesentlich früher an, im Bereich der Risikovorsorge.514 Staatliche Eingriffe in Grundrechte werden hauptsächlich zur Abwehr von Gefahren für Rechtsgüter unternommen. Zur Verwirklichung staatlicher Schutzpflichten kann es aber auch angebracht sein, bereits dann legislative oder administrative Maßnahmen zu ergreifen, wenn die Gefahrenschwelle515 noch nicht erreicht ist. Ein Anlass zum Einschreiten liegt danach abstrakt betrachtet immer dann vor, wenn das Produkt von Schadensumfang und Eintrittswahrscheinlichkeit eine bestimmte, normativ festgelegte Größe erreicht.516 Demgegenüber haben die Entwicklungen in Wissenschaft und Technik eine Vorverlagerung dieser Schwelle erforderlich gemacht, um auch schwer abschätzbaren Gefahren in der Zukunft, die aber einen entsprechend großen Schadensumfang aufweisen könnten, begegnen zu können, wobei vor allem die rechtliche Regulierung des Einsatzes der Kernenergie Schwierigkeiten bereitete.517 Dies führte zur Einführung eines weiteren Begriffs „unterhalb der Gefahrenschwelle“, der Vorsorge,518 der vor allem die Wahrscheinlichkeitsmaßstäbe senken sollte. Der Gesetzgeber solle grundsätzlich jede Art von anlagespezifischen und betriebsspezifischen Schäden, Gefahren und Risiken in den Blick nehmen, wobei bei bestimm514 Zu den ethischen Implikationen der Risikoabwägung, vgl. die Stellungnahme des Deutschen Ethikrats zur „Biosicherheit – Freiheit und Verantwortung in der Wissenschaft“ (http://www.ethikrat.org/dateien/pdf/stellungnahme-biosicherheit.pdf, zuletzt abgerufen am 27.05.2014), S. 67 ff. 515 „Nach allgemeiner Auffassung liegt eine ‚Gefahr‘ vor, wenn eine Sachlage oder ein Verhalten bei ungehindertem Ablauf des objektiv zu erwartenden Geschehens mit Wahrscheinlichkeit ein polizeilich geschütztes Rechtsgut schädigen wird“, BVerwGE 45, 51 (61). 516 Arno Scherzberg, Risiko als Rechtsproblem Verwaltungsarchiv 1993, 484 (490). 517 Vgl. zum Atomgesetz BVerfGE 49, 89 ff. („Kalkar“). 518 Je nach Rechtsgebiet und Autor werden dabei die Begriffe Gefahrenvorsorge, Risikovorsorge oder Schadensvorsorge verwendet, vgl. die unterschiedliche Terminologie bei BVerfGE 49, 89 ff., A. Scherzberg, Risiko als Rechtsproblem VerwArchiv 1993, 484 ff. und Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, S. 104 ff.
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ten Materien die Wahrscheinlichkeit des Eintritts eines Schadensereignisses so gering wie möglich sein muss, und zwar um so geringer, je schwerwiegender die Schadensart und die Schadensfolgen, die auf dem Spiel stehen, sein können.519 Entsprechende Begriffe der Vorsorge wurden in der Folge auch in allen weiteren Rechtsgebieten eingeführt, die mit potenziellen Schäden operieren müssen, deren Eintrittswahrscheinlichkeit von zusätzlichen Faktoren abhängt, wie dem Immissionsschutzrecht,520 dem Gentechnikrecht521 und dem Naturschutzrecht.522 Der Begriff des Risikos, als theoretisch möglicher Schadenseintritt, der jedoch so unwahrscheinlich ist, dass die Gefahrenschwelle nicht erreicht wird,523 wurde demgegenüber als Zwischenstufe einer Skala konzipiert, an deren unteren Ende das Restrisiko steht und die diejenigen Wahrscheinlichkeiten von Schadenseintritten reflektieren soll, die der rechtlichen Regulierung bedürfen oder eben nicht bedürfen.524 Das Restrisiko bezeichnet dabei Bereiche, bei denen die Verwirklichung eines Schadens soweit unterhalb der Schwelle praktischer Vernunft liegt, dass sie unentrinnbar und insofern als sozialadäquate Lasten von allen Bürgern zu tragen sind.525 Ein Eingreifen des Staates in diesem Bereich würde sich regelmäßig als unverhältnismäßig darstellen, da ein völliger Risikoausschluss in einer hochindustrialisierten Gesellschaft nicht zu erreichen ist.526 Es ist daher zunächst zu klären, welche Gefahren- oder Risikostufe mit den Kodizes in den Blick genommen wird. Die Schwelle unmittelbarer Gefahr ist dabei auszuschließen, da auf diesem Gebiet der Gesetzgeber bereits aufgrund seiner Schutzpflicht tätig geworden ist527 und die Kodizes lediglich Ergänzungen zu gesetzlichen Vorgaben darstellen sollen. Auch zur Risikovorsorge sind bereits Gesetze ergangen, die eine Risikobewertung erfordern und damit den klassischen Bereich der Gefahrenabwehr verlassen.528 Die Kodizes sollen jedoch darüber hinaus gehen, sie sollen auch Folgen erfassen, die den Bereich des rechtlich regulierbaren verlassen und somit auch in den Bereich des Restrisikos hineinwirken. Wird die Grenze des zumutbaren Restrisikos auch durch die „Grenzen menschlichen Erkenntnisver519 520 521 522 523 524 525 526 527 528
BVerfGE 49, 89 (138). Siehe § 1 Abs. 2 BImschG. § 1 Nr. 1 GenTG. Vgl. dazu umfassend Michael Kloepfer, Umweltrecht, S. 173 ff. Ibid., S. 133. Vgl. Di Fabio, Risikoentscheidungen im Rechtsstaat, S. 104 ff. BVerfGE 49, 89 (143). Kloepfer, Umweltrecht, S. 133. GenTG, ESchG, Atomgesetz, ChemG etc. Vgl. bspw. § 6 GenTG.
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mögens“ gezogen,529 so sollen an die Wissenschaftler, deren vermutetes Erkenntnisvermögen über das der normalen Menschen in ihren spezifischen Sachgebieten hinausgeht, mittels ethischen Appells auch erhöhte Anforderungen gestellt werden. Verlassen die Kodizes aber, wie oben festgestellt, den Bereich des unverbindlichen ethischen Appells und entfalten relevante Rechtswirkungen, so muss auch der Maßstab der Rechtfertigung der Absenkung der Wahrscheinlichkeitsschwelle angepasst werden. Das zu schützende Rechtsgut, die Schadensintensität und -reichweite müssen insofern mit der geringen Vorhersehbarkeit korrespondieren. Es kann jedoch für diesen Abschnitt festgestellt werden, dass die Risikovorsorge in diesem Bereich zunächst einen legitimen Zweck darstellt, soweit die Restrisiken nicht eine derartige Geringfügigkeit erreichen, dass auch spezifisch tätigen Wissenschaftlern eine Erkenntnismöglichkeit nicht mehr attestiert werden könnte. (4) Geeignetheit der Kodizes zur Risikovorsorge Die Fähigkeit der Wissenschaft Risiken vorzubeugen und damit ihrer Folgenverantwortung gerecht zu werden, wurde bereits ausführlich in Kapitel 3 behandelt.530 Dort wurde festgestellt, dass die Wissenschaftler selbst aufgrund ihres Erkenntnisvermögens und Wissensvorsprungs am Besten in der Lage sind, die Folgen ihres Schaffens adäquat abzuschätzen. Dabei sollten sie aber nicht allein gelassen, sondern durch institutionelle Maßnahmen gestützt werden. Diese institutionellen Maßnahmen sollen durch die Kodizes implementiert werden, entsprechend ist auch deren Geeignetheit in diesem Sinne festzustellen. (5) Erforderlichkeit der Kodizes In der klassischen Grundrechtsdogmatik müsste weiterhin die Frage gestellt werden, ob es einen schonenderen Eingriff in das Rechtsgut der Wissenschaftsfreiheit gibt, der den Zweck in gleicher Weise zu erreichen geeignet ist.531 An dieser Stelle ist jedoch dem Umstand Rechnung zu tragen, dass ein verbindlicher Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit für Selbstverwaltungsorgane aufgrund ihrer Grundrechtsbindung überhaupt nicht möglich wäre, die unverbindliche Empfehlung mit ihren potentiellen Rechtswirkungen, damit die einzig mögliche Alternative darstellt. Die sehr geringe Ein529
BVerfGE 49, 89 (143). Vgl. S. 42 ff. 531 BVerfG 30, 292 (316); 63, 88 (115); 78, 232 (245); Pieroth/Schlink, Grundrechte – Staatsrecht II, S. 71 f.; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland – Band III/2, S. 779 ff. 530
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griffsintensität der Kodizes wurde zuvor bereits festgestellt. Als schonender könnte es nur angesehen werden, wenn auch auf institutionelle Verfahren wie Ethikkommissionen verzichtet würde, doch würde dies den legitimen Zweck der Risikovorsorge nicht vollends erfüllen, setzt man wie hier voraus, dass die Verantwortung des Wissenschaftlers in den modernen Wissenschaften nur mit Hilfe institutioneller Unterstützung gewährleistet werden kann.532 Die Erforderlichkeit der Kodizes ist daher festzustellen. (6) Angemessenheit der Grundrechtsbeeinträchtigung Schließlich müssten die Kodizes auch angemessen sein, das heißt die Beeinträchtigung der Wissenschaftsfreiheit und der damit verfolgte Zweck müssten in recht gewichtetem und wohl abgewogenem Verhältnis zueinander stehen.533 Ziel einer jeden grundrechtsrelevanten Maßnahme muss es sein, verfassungsrechtlich geschützte Rechtsgüter in der Problemlösung einander so zuzuordnen, dass jedes von ihnen Wirklichkeit gewinnt, dass die Maxime der Herstellung praktischer Konkordanz zwischen den Grundrechtsgütern Gültigkeit erlangt.534 Das hohe Maß an Freiheit, das der Wissenschaft im Kulturverfassungsstaat der Bundesrepublik eingeräumt wird, kann nur dann in ausreichendem Maße respektiert werden, wenn es gelingt, durch die Selbstverwaltungsmechanismen der Wissenschaft einen gesetzestechnisch unverbindlichen Normenkomplex zu etablieren, der aufgrund seiner Rechtsnatur die Wissenschaft zwar nicht determiniert, jedoch in schonender Art und Weise sensibilitätsfördernde Strukturen und institutionelle Vorkehrungen schafft, die die Risiken für andere Rechtsgüter minimieren kann. Die mittelbar-faktischen Grundrechtsbeeinträchtigungen, die der Einzelwissenschaftler oder Institutionen durch Kodizes erleiden können, stehen durch die geringe Eingriffsintensität nicht außer Verhältnis zur potentiellen Gefahr für überragend wichtige Verfassungsgüter, denen durch sie begegnet werden soll. Es wäre auch bedenklich der Wissenschaft einen derart weiten Freiraum einzuräumen, dass selbst die geringfügigen Steuerungsversuche durch den Versuch einer Ethisierung der Wissenschaft, mit dem Verdikt der Verfassungswidrigkeit behaftet würden. Die Autonomie des Systems und der Freiraum des Einzelwissenschaftlers ist gerade dann nicht gefährdet, wenn diese Normen systemimmanent generiert werden und damit sowohl die grundrechtliche Legitimation aufweisen, als auch die Partizipationsmöglichkeiten am Norm532
Vgl. oben S. 56 ff. Pieroth/Schlink, Grundrechte – Staatsrecht II, S. 70. 534 Vgl. dazu Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 72. 533
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setzungsprozess offenhalten können. Auch wenn Zwangsmaßnahmen normativer Art auch auf diese Weise nicht implementiert werden können, so sind doch die hier in Frage stehenden Kodizes das angemessene und einzige Mittel die Wissenschaft in Richtung eines Ethos der wissenschaftlichen Verantwortung zu lenken. Auf diese Weise kann sowohl eine freie Wissenschaft Wirklichkeit gewinnen, als auch ein früh ansetzender Schutz für die aufgezeigten Rechtsgüter. Dies kann aber nur in den hier aufgezeigten Grenzen gelten. (7) Zusammenfassung Ausgehend von der geringen Eingriffsintensität der Maßnahmen, die die Kodizes zur Ethisierung der Wissenschaft vorsehen, kann festgestellt werden, dass in Verfolgung des legitimen Zwecks der Risikovorsorge für wichtige, verfassungsrechtlich geschützte Güter die Verhältnismäßigkeit der unverbindlichen Steuerungsformen trotz mittelbar-faktischer Grundrechtsbeeinträchtigung gewahrt bleibt. Die Kodizes sind demnach geeignet, erforderlich und angemessen um eine verantwortungsvolle Wissenschaft zu generieren, wenn sie auch bei diesem Versuch gewissen Restriktionen unterliegen müssen, die die wissenschaftliche Freiheit der Forscher gewährleisten sollen und die Eingriffsintensität mithin auf geringem Maß halten. So ist vor allem auf einen möglichst schonenden und vertraulichen Einsatz von Ethikgremien zu achten und zudem die tatsächliche Erkenntnismöglichkeit in Anschlag zu bringen. Schließlich ist mit den tatsächlich einschränkungsfähigen Verfassungsgütern das Evaluierungsprogramm vorgezeichnet, das Kodizes zur Überprüfung von Forschungsprojekten anbieten können. Würde dieses darüber hinaus erweitert, würde der positivierte Rahmen ethischer Prinzipien, den das Grundgesetz bietet, nicht respektiert und mit Blick auf die Wissenschaftsfreiheit unzulässige Maßstäbe implementiert, vor denen Art. 5 Abs. 3 GG gerade schützen soll. Auch im Bereich ethischer Verantwortung der Wissenschaft ist daher eine rechtliche Vorprägung als Rahmenbedingung zu erkennen. d) Kodizes als Konkretisierung außerrechtlicher Maßstäbe im Recht Die unmittelbare rechtliche Wirkung der Kodizes wurde bis hierhin abgelehnt, die mittelbar-faktische Wirkung konnte gerechtfertigt werden. Im Folgenden soll daher gefragt werden, ob diese Kodizes als ethische Maßstäbe richtigen Verhaltens eine weitere rechtliche Wirkung entfalten könnten als Konkretisierung augenscheinlich außerrechtlicher Maßstäbe wie sie die Rechtsordnung in verschiedener Weise inkorporiert. Bereits auf Ver-
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fassungsebene wird in Art. 2 Abs. 1 GG das Sittengesetz als Schranke der allgemeinen Handlungsfreiheit formuliert, im Zivilrecht werden in Generalklauseln die guten Sitten als Maßstab für die Nichtigkeit von Verträgen und für Schadensersatzforderungen herangezogen535 und im Strafrecht schließlich wird auch eine Körperverletzung, die mit Einwilligung des Opfers geschah, bestraft, wenn diese gegen die guten Sitten verstieß.536 In allen jenen Fällen scheint es, als ob der Gesetzgeber zur Beurteilung von Sachverhalten auch Maßstäbe gelten lassen will, die außerhalb der eigentlichen Rechtsordnung gefunden werden müssen. Dabei scheint fraglich, ob es bei deren Anwendung einheitliche Interpretationen geben kann und welche Quellen herangezogen werden können um sie zu konkretisieren. Daher sollen diese Begriffe zunächst unabhängig voneinander innerhalb ihres jeweiligen Kontexts auf ihre Bedeutung und ihre Relevanz für das vorliegende Thema untersucht werden. aa) Das Sittengesetz „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.“ Die Bedeutung dieses Verfassungsartikels war besonders in den Anfangszeiten der Bundesrepublik heftig umstritten, was die Reichweite betraf, ob also nur der Kernbereich menschlicher Entfaltung geschützt oder eine allgemeine Handlungsfreiheit postuliert werden sollte. Durch die Elfes-Entscheidung von 1957 wurde dieser Streit zugunsten der letzteren Variante gelöst,537 offen blieb aber, wie der Begriff des Sittengesetzes als Schranke dieser allgemeinen Handlungsfreiheit auszulegen sei. Im sogenannten „Homosexuellenurteil“ des Bundesverfassungsgerichts538 setzte dieses sich zwar zunächst scheinbar mit dem Sittengesetz auseinander,539 jedoch nur bei der Begründung des einschränkenden Gesetzes, das insofern die „verfassungsmäßige Ordnung“ darstellt und 535
§ 138 BGB, Sittenwidriges Rechtsgeschäft: (1) Ein Rechtsgeschäft, das gegen die guten Sitten verstößt, ist nichtig (. . .). § 826 BGB, Sittenwidrige vorsätzliche Schädigung: Wer in einer gegen die guten Sitten verstoßenden Weise einem anderen vorsätzlich Schaden zufügt, ist dem anderen zum Ersatz des Schadens verpflichtet. 536 § 228, Einwilligung: Wer eine Körperverletzung mit Einwilligung der verletzten Person vornimmt, handelt nur dann rechtswidrig, wenn die Tat trotz der Einwilligung gegen die guten Sitten verstößt. 537 BVerfGE 6, 32 ff., seither ständige Rechtsprechung. Diese Auslegung entspricht auch dem Willen des Verfassungskonvents von Herrenchiemsee, dessen Entwurfsfassung lautete: „Jedermann hat die Freiheit, innerhalb der Rechtsordnung und der guten Sitten alles zu tun, was anderen nicht schadet.“ (Art. 2 II HChE). 538 BVerfGE 6, 389 ff.
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allein als Einschränkungsgrund herangezogen wurde.540 Die allgemeine Handlungsfreiheit von Homosexuellen wurde also gerade nicht durch das Sittengesetz eingeschränkt, sondern lediglich durch die verfassungsmäßige Ordnung.541 Im Einklang mit dem Bundesverfassungsgericht sieht die überwiegende Meinung das Sittengesetz heute auch als überflüssig an. Es habe ebenso wenig wie die „Rechte anderer“ eine eigenständige Funktion bei der Begrenzung der allgemeinen Handlungsfreiheit und gehe vielmehr in der verfassungsmäßigen Ordnung auf.542 Demgegenüber messen andere Autoren dem Sittengesetz einen eigenen Bedeutungsgehalt zu, der zum Teil weiter gezogen ist als Ausdruck einer Fürsorgepflicht des Staates seine Handlungen an dieser ethischen Forderung auszurichten.543 Zum Teil wird das Sittengesetz im engeren Sinne auch als formelle Norm gesehen, die die Verbindlichkeit der „guten Sitten“ in zivilrechtlichen Generalklauseln verfassungsrechtlich festhalte.544 Bevor dieser Streit beurteilt werden kann, muss jedoch in Frage gestellt werden, welche Relevanz das Sittengesetz hier entfalten kann. Bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung von Sachverhalten mit Bezug auf die hier in Frage stehenden Kodizes werden regelmäßig wissenschaftliche Belange und Aspekte im Vordergrund stehen, so dass jedenfalls das Grundrecht der 539 So lautete auch der zweite Leitsatz der Entscheidung: „Die §§ 175 f StGB verstoßen auch nicht gegen das Grundrecht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG), da homosexuelle Betätigung gegen das Sittengesetz verstößt und nicht eindeutig festgestellt werden kann, daß jedes öffentliche Interesse an ihrer Bestrafung fehlt.“ 540 Auch in einer neueren Entscheidung zum Geschwisterinzest wird der Rekurs auf das Sittengesetz folgerichtig vollkommen vermieden, BVerfGE 120, 224 ff. 541 So auch H. Dreier, Art. 2 I, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Rn. 60. Immer noch hingegen fehlinterpretiert bei Pieroth/Schlink, Grundrechte – Staatsrecht II, Rn. 412. 542 H. Dreier, Art. 2 I, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Rn. 60; Pieroth/ Schlink, Grundrechte – Staatsrecht II, Rn. 413. Mittlerweile auch Starck, Art. 2 Abs. 1, in: Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Rn. 36 ff. Anders noch in ders., Das Sittengesetz als Schranke der freien Entfaltung der Persönlichkeit, in: Leibholz/Faller/Mikat/Reis, Menschenwürde und freiheitliche Rechtsordnung – Festschrift für Willi Geiger zum 65. Geburtstag, S. 259 ff. 543 J. Isensee, § 111 Das Grundrecht als Abwehrrecht und staatliche Schutzpflicht, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Rn. 115; ahnlich Erbel, Das Sittengesetz als Schranke der Grundrechte, S. 186 ff. 544 K. A. Schachtschneider, Das Sittengesetz und die guten Sitten, in: Karl Albrecht Schachtschneider/Dagmar I. Siebold (Hrsg.), Freiheit – Recht – Staat, S. 90 ff. (101 f.). Ähnlich auch Dürig, Grundgesetz – Kommentierung des Artikels 1 und 2 Grundgesetz von Günter Dürig aus dem Jahre 1958, Art. 2 Abs. I Rn. 16; dieser sieht mit dem Sittengesetz ebenfalls die „altbewährten und praktikablen Rechtsbegriffe[n] ‚guten Sitten‘, ‚Treu und Glauben‘“ repräsentiert als „ethische Normallinie“ des Rechts.
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Wissenschaftsfreiheit aus Art. 5 Abs. 3 GG berührt sein wird. Soll das Sittengesetz also in diesen Fragen eine Bedeutung erhalten, müsste entweder Art. 2 Abs. 1 GG neben der Wissenschaftsfreiheit anwendbar sein oder die Schranke des Sittengesetzes für den Freiheitsgebrauch der Grundrechte allgemein gelten. Letztere Frage wurde bereits negativ beantwortet, eine direkte oder entsprechende Anwendung der Schrankentrias aus Art. 2 Abs. 1 GG kommt nicht in Betracht.545 Das Verhältnis des Art. 2 Abs. 1 GG zu Art. 5 Abs. 3 GG im Sinne einer Grundrechtskonkurrenz wird durch die Diskussion zur Natur des Art. 2 Abs. 1 GG bestimmt. Nach heute allgemeiner Meinung ist dieser Artikel als sogenanntes Auffanggrundrecht konzipiert, das durch die spezielleren Grundrechte verdrängt wird und insofern subsidiär wirkt.546 Dies gilt jedoch nur soweit nicht ein unbenanntes, spezielles Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG wie das allgemeine Persönlichkeitsrecht oder das Recht auf informationelle Selbstbestimmung betroffen ist. Die Grundrechtsschranke des Sittengesetzes würde also, wäre sie relevant, nur dann zur Geltung kommen, wenn ein Sachverhalt als allgemeine Freiheitsausübung nicht dem Schutzbereich der Wissenschaftsfreiheit unterfallen würde. Die Kodizes behandeln jedoch ausschließlich gerade jene Fragestellungen, die den Kernbereich der Wissenschaftsfreiheit ausmachen, insbesondere die Freiheit der Fragestellung, die Methodik der Erkenntnisfindung und die Publikation der Ergebnisse. Eine unmittelbare Bedeutung des Sittengesetzes ist hier demnach nicht festzustellen, weshalb eine tiefere Auseinandersetzung mit dem oben beschriebenen Meinungsstreit um den tatsächlichen Gehalt dieser Grundrechtsschranke hier nicht erfolgen muss. Möglicherweise werden Elemente dieses Streits aber dann relevant, wenn es im Folgenden um die Ausfüllung von Generalklauseln geht. bb) Die guten Sitten im Zivilrecht Der Verweis auf die guten Sitten im Zivilrecht erfolgt in § 138 BGB bereits in einer zentralen Norm des allgemeinen Teils des Bürgerlichen Gesetzbuches, wonach ein Rechtsgeschäft dann nichtig ist, wenn es gegen diese verstößt. Auch im Deliktsrecht ist nach § 826 BGB derjenige zum Ersatz eines Schadens verpflichtet, der einem anderen in „einer gegen die guten Sitten verstoßenden Weise“ zugefügt wird. Nach § 2 Abs. 1 Patentgesetz werden für Erfindungen, deren gewerbliche Verwertung gegen die 545
Siehe oben, S. 125 ff. BVerfGE 6, 32 (36 ff.), seither ständige Rspr., vgl. E 23, 50 (55 f.); 65, 196 (209); 89, 48 (61); 98, 265 (328); H. Dreier, Art. 2 I, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Rn. 27 f.; C. Starck, Art. 2 Abs. 1, in: Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Rn. 49; U. Di Fabio, Art. 2, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz Kommentar, Rn. 21. Umfassend Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 309 ff. 546
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öffentliche Ordnung oder die guten Sitten verstoßen würde, keine Patente erteilt. Schließlich soll noch mit § 1 UWG aF547 eine bereits außer Kraft gesetzte Norm zitiert werden, da die Rechtsprechung hierzu viele Erkenntnisse liefert. Dort hieß es, dass Handlungen im Wettbewerb, die gegen die guten Sitten verstoßen, Unterlassungs- und Schadensersatzansprüche zur Folge haben könnten. Was aber die guten Sitten sind, war lange Zeit heftig diskutiert und umstritten, vor allem in den Fällen, in denen es um die Sexualmoral ging.548 Zurückgehend auf die Verfasser des BGB549 und die daraus resultierende Rechtsprechung des Reichsgerichts,550 wird auch heute noch zur Ermittlung der guten Sitten auf das „Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden“ verwiesen.551 Die Konkretisierung dieses Maßstabs ist aber noch immer problematisch, denn es stellt sich die Frage, wer dieses Anstandsgefühl ermitteln soll und kann und was als billig und gerecht zu gelten hat. Letztere Frage wird zum Teil mit einem Verweis auf die „in der herrschenden Wirtschafts- und Sozialordnung immanente Rechtsethik“ beantwortet,552 andererseits hat aber auch das Bundesverfassungsgericht dargelegt, dass bei der Ermittlung der guten Sitten „in erster Linie von der Gesamtheit der Wertvorstellungen ausgegangen werden [muss], die das Volk in einem bestimmten Zeitpunkt seiner geistig-kulturellen Entwicklung erreicht und in seiner Verfassung fixiert hat.“553 Die Generalklauseln wie § 138 und § 826 BGB sind demnach gerade jene Einfallstore, die die mittelbare Drittwirkung der Grundrechte554 im Zivilrecht begründen, mithin auch des Grundrechts aus Art. 5 Abs. 3 GG. Bei der Beurteilung der Sittenwidrigkeit muss also eine grundrechtliche Position stets berücksichtigt und mit den gegenläufigen Interessen abgewogen werden.555 Wenn aber in der Verfassung die Gesamt547
Außer Kraft gesetzt im Jahr 2004. Auch in der Rechtsprechung gab es Kontroversen, vgl. BGHSt 13, 16 (18, 19) (Verkauf von Kondomen in der Öffentlichkeit), anders BVerwGE 10, 164 (167 f.); zur „Ersatzfähigkeit des entgangenen Dirnenlohns“, BGH NJW 1976, 1883 ff.; zur Sittenwidrigkeit von „Peep-Shows“, BVerfG 1 BvR 413/86, BVerwGE 64, 274 ff. 549 Motive zu dem Entwurfe eines Bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich, S. 727. 550 RGZ 48, 114 (124 f.). 551 BGHZ 10, 228 (232) seither ständige Rspr., BGHZ 69, 295, BGH NJW 1991, 913. 552 C. Armbrüster, in: Rebmann/Säcker, Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, § 138 Rn. 15. 553 BVerfGE 7, 198 (206) („Lüth“). 554 Zur mittelbaren Drittwirkung K. Hesse, Bedeutung der Grundrechte, in: Benda, Handbuch des Verfassungsrechts, Rn. 55. 555 BVerfGE 24, 236 („Kanzelwerbung“), bezüglich der Ausstrahlungswirkung des Art. 4 I GG bei der Beurteilung der guten Sitten bei § 1 UWG a. F. 548
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heit der Wertvorstellungen fixiert ist, die dem Volk durch seine Entwicklung zu Grunde liegen, so müsste der Verweis auf die Gesamtheit auch bedeuten, dass auch das Verhältnis der Grundrechte zueinander in der Bewertung einer Sittenklausel berücksichtigt werden muss, dass mithin auch das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit schrankenlos garantiert und damit privilegiert sein soll. Die Einschränkbarkeit der Wissenschaftsfreiheit durch metarechtliche, ethische Prinzipien wurde zuvor bereits abgelehnt, soweit es um die unmittelbare Wirkung der Grundrechte geht.556 Damit wird nun aber die Frage aufgeworfen, ob im Bereich der mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte im Privatrecht anderes gelten kann, eine Einschränkungsmöglichkeit wissenschaftlicher Freiheit durch metarechtliche Kriterien also über den Umweg zivilrechtlicher Generalklauseln gelingen kann. Zunächst interessiert bei der Beantwortung dieser Frage, ob die Grundrechte tatsächlich in gleichem Maße in den Generalklauseln, also im Verhältnis der Bürger untereinander, wie im Verhältnis der Bürger gegen den Staat wirken. Dies ist legitim anzunehmen, als die mittelbare Drittwirkung der Grundrechte allein aus der Bindung des Gesetzgebers und der Richter an diese resultiert, die Art. 1 Abs. 3 GG ihnen auferlegt. Die Mittelbarkeit der Wirkung der Grundrechte zwischen Privaten besteht also darin, dass der Richter die „Ausstrahlungswirkung der Grundrechte“557 bei der Auslegung des Privatrechts zu berücksichtigen hat. Widersetzte sich der Richter dabei der Wertordnung, die die Verfassung festgelegt hat, würde er die Grundrechtsbindung mit zweierlei Maß ausüben, was einen Widerspruch bedeuten könnte.558 Ein solcher Widerspruch kann aber gerechtfertigt werden, wenn gewichtige Gründe dafür vorliegen. Diese Gründe können in den unterschiedlichen Konstellationen der Grundrechtsrelevanz gefunden werden. In der urtümlichen, abwehrrechtlichen Konstellation steht der Bürger dem Staat gegenüber und ist vor dessen Eingriffen in seine Grundrechte geschützt. In der hier interessierenden Konstellation stehen sich jedoch zwei oder mehrere Bürger einander gegenüber, die ihre widerstreitenden Interessen geltend machen, wobei entweder der Gesetzgeber bei der Normsetzung oder der Richter bei der Auslegung der Gesetze einen Ausgleich finden muss. Wenn es dabei um grundrechtliche Interessen geht, müssen aufgrund der Bindung aus Art. 1 Abs. 3 GG die Grundrechte zu einem gerechten Ergebnis zugeordnet werden, das das Ideal der praktischen Konkordanz im Sinne Hesses zu erreichen sucht.559 Gerade in dieser Kollisions556
S. o. S. 125 ff. BVerfGE 7, 198 (207) („Lüth“). 558 W. Rüfner, § 117 Grundrechtsadressaten, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Rn. 60. 559 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 72 und 317. 557
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lage kann es keine grundsätzlich unbeschränkbaren Freiheitsrechte geben, die anderen Rechten vorgingen, eine methodische Abweichung der Grundrechtsdogmatik von der Konstellation gegenüber der öffentlichen Gewalt ist daher notwendig.560 Es muss der Situation sich wechselseitig begrenzender Grundrechte Rechnung getragen werden,561 die dabei aber auch durch die jeweilige Rechtsbeziehung zwischen den Privaten und deren Implikationen bestimmt wird. An dieser Stelle zeigt sich, dass es keine einheitliche Bewertung des Begriffs der guten Sitten im Zivilrecht geben kann, denn die zu berücksichtigenden Faktoren divergieren durch die verschiedenen Regelungsbereiche. Bei der möglichen Nichtigkeit sittenwidriger Verträge durch § 138 BGB muss die Inanspruchnahme personeller Freiheit berücksichtigt werden, sich auf Grundlage eigener Entschließung zu binden, auch wenn durch diesen Entschluss grundrechtliche Freiheiten eingeschränkt werden können.562 Dieselbe Norm wird im Kaufrecht anderen Bewertungsmaßstäben unterworfen als im Arbeitsrecht, wo die Grunderechte aufgrund der faktischen Asymmetrie zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer weit größere Bedeutung besitzen.563 Das Deliktsrecht hat demgegenüber keine rechtsgeschäftliche Komponente und entbehrt mithin in § 826 BGB solcher Erwägungen, wenn es um die Beurteilung sittenwidriger Schädigungen geht. Im Patentrecht muss die Abwägung bei der Konkretisierung des Begriffs der guten Sitten von der Förderung des technischen Fortschritts ausgehen.564 In allen diesen Situationen grundrechtlicher Aktualisierung muss insofern unter Berücksichtigung des besonderen Zwecks der Vorschrift eine grundrechtliche, gegenseitige Zuordnung erfolgen um die widerstreitenden Interessen soweit wie möglich in Einklang zu bringen. Dabei findet keine dogmatische Rechtfertigungsprüfung statt, wie sie in der Konstellation Bürger gegen den Staat nötig wäre. Es werden entsprechend der Formulierung aus dem Lüth-Urteil, dass die Gesamtheit der in der Verfassung fixierten Wertvorstellungen berücksichtigt werden müssten,565 die Grundrechte als objektive Prinzipien der Gesamtrechtsordnung in die Ausfüllung der Generalklau560 W. Rüfner, § 117 Grundrechtsadressaten, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Rn. 70. 561 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 354. 562 Ibid., Rn. 356. 563 W. Rüfner, § 117 Grundrechtsadressaten, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Rn. 77; zur hohen Relevanz der Grundrechte im Arbeitsrecht gerade in Bezug auf unverbindliche Ethikkodizes, vgl. zuletzt LAG Düsseldorf NZA-RR 2006, 81 ff. („Walmart“) und BAG NJW 2008, 3731 ff. („Honeywell“). 564 K. Mellulis, in: Georg Benkard (Hrsg.) Patentgesetz, Gebrauchsmustergesetz Kurz-Kommentar, § 2 Rn. 6a. 565 BVerfGE 7, 198 (206).
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B. Kodizes in der Wissenschaft
seln einbezogen.566 Entscheidend ist damit also, ob das befasste Gericht die Relevanz des Grundrechts erkannt und in den Interessenausgleich einbezogen hat. Ein Vorrang unbeschränkter Freiheitsrechte kann insoweit aber nicht existieren.567 Nach Beantwortung dieser Frage kann man sich nun wieder der Ausgangsfrage zuwenden, inwiefern metarechtliche Kriterien ein vorbehaltloses Grundrecht wie die Wissenschaftsfreiheit einschränken könnten. Nach dem zuvor gesagten ist eine solche Möglichkeit abzulehnen. Die in der Verfassung fixierten Wertvorstellungen stellen den ethischen Grundkonsens in der Gesellschaft dar, sie beschreiben diejenigen Kriterien, deren Gültigkeit so weit verfestigt ist, dass sie rechtlichen Status in Form der Grundrechte erlangt haben. Soweit nun ein solches grundrechtliches Interesse in einer Abwägung der guten Sitten tangiert ist, können anderweitige Interessen, die nicht denselben Rang vorweisen können, nicht zur Einschränkung dessen herangezogen werden, da ansonsten diese verfassungsrechtlich festgelegte Wertordnung unterminiert werden könnte. Die guten Sitten als außerrechtlicher Maßstab sind somit nur solange tatsächlich als außerrechtlicher Maßstab anzusehen, als keine rechtlichen Interessen in die Abwägung mit einbezogen werden müssen. Wird aber der Schutzbereich der Wissenschaftsfreiheit berührt, verlagert sich eine solche Abwägung in den rechtlichen Bereich. Eine rechtliche Wirkung von Kodizes kann also unabhängig von der Frage, inwiefern sie durch den Richter Berücksichtigung finden könnten, nicht eintreten, als die Konkretisierung der guten Sitten auch im Zivilrecht nicht von außerrechtlichen Maßstäben geleitet werden kann, sobald die Wissenschaftsfreiheit berührt ist. cc) Die guten Sitten im Strafrecht Die Sittenwidrigkeit im Strafrecht, die § 228 StGB dann für maßgeblich erklärt, wenn eine Körperverletzung mit Einwilligung des Opfers geschah, ist seit langem heftig umstritten, was sich hauptsächlich auf die Problematik des verfassungsrechtlich geforderten Bestimmtheitsgrundsatzes für strafrechtliche Normen aus Art. 103 Abs. 2 GG zurückführen lässt. Dieser for566 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 353. 567 So entschieden vom BVerfG in der Mephisto-Entscheidung, E 30, 173 (197): „[Das BVerfG] kann vielmehr in derartigen Fällen eine Verletzung des Grundrechts der unterlegenen Partei nur feststellen, wenn der zuständige Richter entweder nicht erkannt hat, daß es sich um eine Abwägung widerstreitender Grundrechtsbereiche handelt, oder wenn seine Entscheidung auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung des einen oder anderen der Grundrechte, insbesondere vom Umfang ihrer Schutzbereiche, beruht.“
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dert, dass der Einzelne von vornherein wissen können soll, was strafrechtlich verboten ist und welche Strafe ihm für den Fall eines Verstoßes gegen das Verbot droht, damit er in der Lage ist, sein Verhalten danach einzurichten.568 Auch wenn Generalklauseln dabei für zulässig erachtet wurden,569 darf die Strafbarkeit eines Verhaltens doch nicht von kaum vorhersehbaren Kriterien abhängig gemacht werden, weshalb der Bundesgerichtshof den Begriff der guten Sitten auf seinen Kern beschränken will und nur die „allgemein gültigen moralischen Maßstäbe“ heranziehen will, „die vernünftigerweise nicht in Frage gestellt werden können“ und daher die Tat „mit dem eindeutigen Makel der Sittenwidrigkeit“ behaften.570 Obwohl zur Konkretisierung der guten Sitten auch im Strafrecht „das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden“ herangezogen wird, sollen aber gerade wegen dieser Allgemeinheit die Wertvorstellungen einzelner gesellschaftlicher Gruppen oder des mit der Tat befassten Strafgerichts nicht genügen. Diesem Prinzip widerspricht der BGH in derselben Entscheidung, indem er offen lassen muss, inwieweit die Verabreichung von Heroin noch als unvereinbar angesehen werden muss mit den guten Sitten, sondern allein auf die Lebensgefährlichkeit einer Handlung abstellt, als er jene Tat trotz Einwilligung als sittenwidrig einstufte und für rechtswidrig erklärte. Richtigerweise wird der Zweck des § 228 StGB daher allein in der Aufrechterhaltung der Tabuisierung schwerwiegender Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit anderer gesehen.571 Die schwerwiegenden Nachteile für die körperliche Unversehrtheit werden sodann in eine Abwägung eingestellt mit den potentiellen Vorteilen der Tat, es findet also eine Abwägung des Tatzwecks gegen die Folgen der Tat statt.572 Wenn es dabei um wissenschaftliche Experimente geht, Humanexperiment oder Heilversuch, werden die Rechtsgüter körperliche Unversehrtheit und Leben potentiell oder konkret Profitierender betroffen sein, sowie die Wissenschaftsfreiheit, die aber bei lebensgefährdenden Maßnahmen regelmäßig ihre Grenze im Rechtsgut des Art. 2 Abs. 2 GG finden wird. Ein Rückgriff auf außerrechtliche Maßstäbe wird wiederum weder nötig, noch zulässig sein, was die guten Sitten mit Blick auf die Wissenschaft auch im Strafrecht immun gegen Maßstäbe macht, die Kodizes setzen können, und die über die bereits verfassungsrechtliche Bewertung solcher Sachverhalte hinaus gehen. 568
BVerfGE 78, 374 (381 f.); 87, 363 (391 f.); 105, 135 (153). BVerfGE 66, 337 (355); 92, 1 (12); 96, 68 (97 f.). 570 BGH NJW 2004, 1054 (1055). 571 B. Hardtung, in: Wolfgang Joecks/Klaus Miebach (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, § 228 Rn. 23. 572 W. Stree, in: Adolf Schönke/Horst Schröder, Strafgesetzbuch Kommentar, § 228 Rn. 7. 569
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B. Kodizes in der Wissenschaft
dd) Die guten Sitten im öffentlichen Recht Ein den „guten Sitten“ verwandter Maßstab findet sich im öffentlichen Recht vor allem in den Polizeigesetzen fast aller Länder573 mit dem Begriff der „öffentlichen Ordnung“.574 Rechtshistorisch betrachtet ist sie der „Inbegriff aller Regeln, deren Befolgung nach den jeweils herrschenden sozialen und ethischen Anschauungen als unentbehrliche Voraussetzung für ein gedeihliches Miteinanderleben der innerhalb eines Polizeibezirks wohnenden Menschen angesehen wird.“575 Gerade die Staatsgewalt ist jedoch durch die Grundrechte gemäß Art. 1 Abs. 3 GG gebunden. Sobald der Schutzbereich eines schrankenlosen Grundrechts berührt wird, sind Maßnahmen aufgrund öffentlich-rechtlicher Generalklauseln nicht mehr zulässig, sondern bedürfen einer Rechtsgrundlage, die den gewichtigen, verfassungsrechtlichen Gütern anderer entnommen werden muss.576 Eine Heranziehung außerrechtlicher Kriterien zur Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit ist daher besonders im öffentlichen Recht als unzulässig anzusehen. ee) Fazit Die Kodizes der Wissenschaft können über die außerrechtlichen Maßstäbe, die die Generalklauseln des öffentlichen, Zivil- und Strafrechts eröffnen, keine weitere rechtliche Wirkung entfalten. Die Beurteilung wissenschaftsspezifischer Sachverhalte unterliegt stets den Maßstäben des Grundrechts aus Art. 5 Abs. 3 GG, das jedoch nur unter Rückgriff auf andere gewichtige Rechtsgüter der Verfassung eingeschränkt werden kann. 5. Ergebnis Die Analyse der Ethikkodizes im Bereich der Wissenschaft im deutschen Recht hat aufgezeigt, dass diese rechtlich unbedenklich sind, soweit sie sich als unverbindliche Steuerungsformen aus der Wissenschaft selbst heraus manifestieren und verfassungsrechtliche Bedingungen erfüllen. Jene Bedingungen resultieren aus der grundrechtlichen Situation in Deutschland, die eine sehr stark ausgeprägte Wissenschaftsfreiheit als Element des Kulturverfassungsstaats hervorgebracht hat, die dem Subsystem Wissenschaft jene 573
Ausnahmen sind Bremen und Schleswig Holstein. Vgl. bspw. § 1 PolG BW, § 1 Sächsisches Polizeigesetz, § 1 Polizei- und Ordnungsbehördengesetz Rheinland-Pfalz. 575 Amtliche Begründung zu § 14 PreußPVG, zitiert in Wolf-Rüdiger Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 63. 576 So bereits BVerwGE 1, 303 ff. 574
III. Ethikkodizes im Europarecht
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Autonomie gewährt, die es aufgrund ihrer Bedeutung für die Entfaltung der Persönlichkeit und zugunsten ihrer Funktionalität bedarf. Diese Autonomie ist die Grundbedingung für eine eigenverantwortliche Adaption eines Ethos wissenschaftlicher Verantwortung, das gleichzeitig die Verantwortung des Systems Wissenschaft gegenüber der Gesellschaft erfüllen und dessen Funktionsfähigkeit bewahren kann. Produkt jener Autonomie ist eine umfassende, grundrechtlich legitimierte Selbstverwaltung in wissenschaftlichen Belangen, die für die grundrechtliche Beurteilung von Beeinträchtigungen durch Ethikkodizes Besonderheiten aufzeigte. Je nach Ausgestaltung der Organisationsform wurde jedoch festgestellt, dass diese Kodizes aufgrund ihrer rechtlichen Unverbindlichkeit keine unmittelbaren Grundrechtseingriffe darstellen können, mitunter aber als mittelbar-faktische Grundrechtsbeeinträchtigungen der Wissenschaftsfreiheit aus Art. 5 Abs. 3 GG qualifiziert werden können. Diese können jedoch dann gerechtfertigt werden, wenn ihre Eingriffsintensität wie bei den untersuchten Kodizes als gering eingestuft werden kann und dem Stellenwert der zu schützenden Rechtsgüter korrespondiert. Die Eingriffsqualität ist insoweit ein wesentlicher Faktor und kann je nach Öffentlichkeitsbezug und Einflussnahme auf die Forschung variieren. Insofern sind die Grenzen für die Abfassung künftiger Kodizes bereits vorgezeichnet. Auch die Konkretisierung außerrechtlicher Maßstäbe in Generalklauseln der verschiedenen Rechtsgebiete kann durch solche Kodizes nicht determiniert werden, da die Wissenschaftsfreiheit als grundrechtlich geschütztes Gut in diesen Konkretisierungsprozessen stets vorrangig vor anderweitigen, nicht normierten ethischen Prinzipien wirkt. Die grundrechtliche Abwägung kann dabei in die Generalklauseln hineinprojiziert werden, wodurch normierte Prinzipien der Wissenschaftsfreiheit gegenübergestellt werden. Nur bei entgegenstehenden, hochwertigen Rechtsgütern kann dies jedoch zu einer Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit führen. Eine unmittelbare Wirkung der Kodizes in den Generalklauseln ist daher nicht festzustellen. Den Ethikkodizes in bestehender Form kann somit aus rechtlicher Sicht Unbedenklichkeit attestiert werden, soweit sie verfassungsgemäß interpretiert werden.
III. Ethikkodizes im Europarecht Im folgenden Kapitel sollen die hier interessierenden Handlungsformen im Europarecht untersucht werden, wobei sich durch die Kodizes der Europäischen Kommission eine besonders interessante Konstellation ergibt. Zunächst sollen der Umfang und die Grenzen der Wissenschaftsfreiheit im Europarecht als Maßstab der Steuerung untersucht werden, die durch die Charta der Grundrechte eine neue Fundierung erhalten hat.
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B. Kodizes in der Wissenschaft
1. Die Wissenschaftsfreiheit im Europarecht Bevor die Wissenschaftsfreiheit in ihrer aktuellen Ausprägung im Recht der Europäischen Union untersucht werden kann, muss aufgezeigt werden, wie der Grundrechtsschutz im Unionsrecht nach dem Vertrag von Lissabon577 ausgestaltet ist und welche Hürden dieser zunächst nehmen musste. Erst die Historie dieser Entwicklung ermöglicht einen adäquaten Blick auf dieses Grundrecht, das im Europäischen Recht nicht immer anerkannt war. a) Die Grundrechte im Recht der Europäischen Union In den Anfängen der europäischen Gemeinschaften beruhte der Grundrechtsschutz lediglich auf der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), der aus den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedsstaaten gemeinschaftsrechtliche Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze ableitete, an denen hoheitliche Akte der Gemeinschaft gemessen werden sollten.578 Diese Rechtsprechung hat mit dem Maastrichter Vertrag von 1992 eine rechtliche Grundlage bekommen, wonach die Union die Grundrechte achtet, wie sie in der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) gewährleistet sind oder sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben.579 Erst als im Zuge der europäischen Verfassungsgebung die Charta der Grundrechte (GRC) erarbeitet wurde, erhielt die Union einen Grundrechtekatalog, wie ihn die Mitgliedsstaaten zum größten Teil aus ihrem innerstaatlichen Recht bereits kannten, wenngleich auch zunächst noch nicht als verbindliche Rechtsquelle.580 Erst mit Inkraftreten des Lissabonvertrages am 1. Dezember 2009 erhielt die Europäische Union durch die Inkorporierung der Charta in das Unionsrecht 577
ABl. 2007 C 306/1. Grundlegend EuGH, Urt. v. 12. November 1969, Rs. 29/69, Stauder, Slg. 1969, 419, Rn. 7; EuGH, Urt. v. 17. Dezember 1970, Rs. 11/70, Internationale Handelsgesellschaft, Slg. 1970, 1125, Rn. 4; instruktiv G. Nicolaysen, § 1 Historische Entwicklungslinien des Grundrechtsschutzes in der EU, in: Sebastian Heselhaus/Carsten Nowak (Hrsg.), Handbuch der europäischen Grundrechte, Rn. 55 ff. 579 Art F Abs. 2 des Maastrichter Vertrages; vgl. auch die entsprechenden Fassungen des Art. 6 Abs. 2 der Verträge von Amsterdam und Nizza. 580 Die Charta wurde im Jahre 2000 zunächst vom Europäischen Parlament, dem Rat und der Kommission nur proklamiert und vom Europäischen Rat in Nizza begrüßt, eine Entscheidung über die rechtliche Verbindlichkeit jedoch aufgeschoben, vgl. dazu Hans D. Jarass, EU-Grundrechte, S. 7 ff.; gleichwohl erfolgte alsbald eine Selbstbindung der europäischen Organe an die Charta, Siegbert Alber, Die Selbstbindung der europäischen Organe an die Europäische Charta der Grundrechte, Europäische Grundrechte-Zeitschrift 2001, 349 ff. 578
III. Ethikkodizes im Europarecht
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durch Art. 6 Abs. 1 EUV einen kodifizierten und rechtsverbindlichen Grundrechtekatalog. Mit der Implementierung der Charta als gleichrangiges Primärrecht581 musste aber das bestehende Konkurrenzverhältnis zu den Grundrechten aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedsstaaten und aus der EMRK gelöst werden, da diese nach Art. 6 Abs. 3 EUV weiterhin als allgemeine Rechtsgrundsätze Teil des Unionsrechts sind. Neben der Feststellung der Zugehörigkeit dieser überlagernden Grundrechte zum Unionsrecht, wurden in Art. 52 GRC die dazugehörigen Auslegungsund Kollisionsregeln normiert: Haben Rechte aus der GRC eine Entsprechung in der EMRK so sind sie nach Art. 52 Abs. 3 GRC mit der gleichen Bedeutung und Tragweite zu sehen, die letztere ihnen einräumt, das heißt die EU-Organe können auf die umfangreiche Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zur Auslegung zurückgreifen. Außerdem müssen nach Art. 52 Abs. 4 die Grundrechte der Charta in Einklang mit den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedsstaaten ausgelegt werden. Für die hier zu untersuchende Wissenschaftsfreiheit auf europäischer Ebene muss demnach nicht nur die Bestimmung der GRC untersucht werden, deren Inhalt zum jetzigen Zeitpunkt noch unklar ist. Es müssen auch eine eventuell in der EMRK aufzufindende Wissenschaftsfreiheit sowie die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen analysiert werden, wobei sich eine umgekehrte Analyse anbietet, um auch durch die Entstehungsgeschichte Aufschluss über Inhalt und Umfang der Wissenschaftsfreiheit im Recht der Europäischen Union zu erlangen. b) Die Wissenschaftsfreiheit nach den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedsstaaten Die Frage, ob die Wissenschaftsfreiheit in den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedsstaaten zu finden ist, wird unterschiedlich beantwortet. In der Diskussion im Grundrechtekonvent zur Erarbeitung der Charta der Grundrechte wurde zur Begründung der Aufnahme der Wissenschaftsfreiheit darauf verwiesen, dass die Wissenschaftsfreiheit seit mehr als hundert Jahren in den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen ihre Grundlage habe.582 An anderer Stelle wird ein solcher Befund in Frage gestellt und zumindest als problematisch angesehen.583 Die Beantwortung die581
Nach Art. 6 Abs.1 S. 1 EUV sind die Charta und die Verträge gleichrangig. N. Bernsdorff, in: Jürgen Meyer (Hrsg.) Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 13 Rn. 10; B. Kempen, in: Peter J. Tettinger/Klaus Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, Art. 13 Rn. 4. 582
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ser Frage hängt zunächst davon ab, inwieweit die Wissenschaftsfreiheit in den Mitgliedsstaaten Verbreitung gefunden hat (aa) und welche Methodik zur Ermittlung der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen heranzuziehen ist (bb). aa) Die Wissenschaftsfreiheit in den Mitgliedsstaaten Bei der Untersuchung der Wissenschaftsfreiheit in den Mitgliedsstaaten müssen bereits die jeweiligen Dimensionen der Grundrechte unterschieden werden. Zumindest als subjektives Abwehrrecht gegen den Staat wird die Wissenschaftsfreiheit in 16 Staaten verfassungsrechtlich garantiert.584 In den übrigen 11 Staaten finden sich demgegenüber nur einfachgesetzliche Regelungen zur Freiheit der Forschung, zum Teil auch nur Gesetze, die den Universitäten Autonomie gewähren.585 In jenen Staaten unterfällt aber die Wissenschaft der Meinungsfreiheit, die in allen Mitgliedsstaaten garantiert ist,586 so dass zumindest die Weitergabe der Forschungsergebnisse zum größten Teil geschützt ist. In entsprechendem Umfang wie das deutsche Grundrecht aus Art. 5 Abs. 3 GG wird die Wissenschaftsfreiheit nur in drei anderen Mitgliedsstaaten gewährleistet.587 Einige Staaten sehen als Staatsziel eine Förderung der Wissenschaft an, aus dem sich jedoch kein subjektives Recht ableiten lässt.588 Kein anderes Mitgliedsland kennt jedoch eine Dimension des Grundrechts, vergleichbar mit der deutschen Interpretation, die eine entsprechende Ausgestaltung des Wissenschaftssystems erfordern und Förderpflichten anerkennen würde.589 583 T. Mann, in: Heselhaus/Nowak, Handbuch der europäischen Grundrechte, § 26 Rn. 50; Hellmut Wagner, Gibt es ein Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit im europäischen Gemeinschaftsrecht?, Die Öffentliche Verwaltung 1999, S. 129 (133). 584 Dies sind Deutschland, Österreich, Italien, Spanien, Portugal, Griechenland, Finnland, Lettland, Litauen, Estland, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn und als neuestes Mitglied Bulgarien, vgl. zum Stand von 2006, T. Mann, in: Heselhaus/Nowak, Handbuch der europäischen Grundrechte, § 26 Rn. 19 ff. 585 Ibid., Rn. 37 ff. 586 N. Bernsdorff, in: Meyer, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 11 Rn. 2. 587 Diese Ausnahmen sind Griechenland, das ohnehin eng an das Grundgesetz angelehnt ist, und eine ähnliche Ausprägung der Wissenschaftsfreiheit kennt (vgl. Thomas Groß, Die Autonomie der Wissenschaft im europäischen Rechtsvergleich, S. 68 ff.), sowie Litauen und Estland, T. Mann, in: Heselhaus/Nowak, Handbuch der europäischen Grundrechte, § 26 Rn. 30 f. 588 So beispielsweise in Art. 76 Abs. 4 der portugiesischen Verfassung. 589 R. Grote/N.Wenzel, in: Rainer Grote/Thilo Marauhn (Hrsg.), EMRK/GGKonkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz, Kap. 18 Rn. 23.
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Insofern lässt sich festhalten, dass fast zwei Drittel der Mitgliedsstaaten die Wissenschaftsfreiheit als individuelles Abwehrrecht kennen, etwas mehr als ein Drittel jedoch keine grundrechtliche Verbürgung aufweisen können. Zumindest die universitäre Autonomie ist jedoch in den meisten Staaten anerkannt. Welche Schlüsse sich daraus ziehen lassen, hängt aber davon ab, welche Methodik zu wählen ist, um ein Grundrecht aus gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen ableiten zu können. bb) Die Methodik der Grundrechtsableitung Zu Beginn der Diskussion um die Gemeinschaftsgrundrechte herrschte noch Streit um die genaue Methodik, die der EuGH heranzog um Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts ableiten zu können. Das Spektrum der Meinungen reichte dabei von einer Theorie des minimalen Grundrechtsstandards590 bis zur Theorie des Maximalstandards,591 relativ schnell setzte sich dann aber die Meinung durch, dass der Gerichtshof nach einer Theorie der wertenden Rechtsvergleichung vorginge.592 Allgemeiner Rechtsgrundsatz ist danach „nicht, was die Mehrheit der Rechtsordnungen übereinstimmend anordnet“, sondern vielmehr, „was sich bei einer kritischen Analyse der Lösungen, die sich nach einer rechtsvergleichenden Umschau ergeben, als die beste Lösung darstellt“.593 Danach muss die Gewährleistung der Grundrechte im Rahmen des Gemeinschaftsrechts von den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten und der EMRK getragen sein, sich gleichzeitig aber auch in die Struktur und die Ziele der Gemeinschaft einfügen und im Hinblick auf die soziale Funktion der geschützten Tätigkeiten gesehen werden.594 Sehr viel weiter gehende Beurteilungskriterien ergeben sich dabei nicht, was Hauptansatzpunkt für Kritik an diesem Modell ist.595 Gleichermaßen inkon590 Danach sollten nur solche Grundrechte in der Gemeinschaft gelten, die in den Rechtsordnungen aller Mitgliedsstaaten übereinstimmend Anwendung fänden, vgl. die Darstellung bei Albert Bleckmann, Zur Entwicklung europäischer Grundrechte, Deutsches Verwaltungsblatt 1978, 457 ff. 591 Eine Maßnahme der EG würde immer dann gegen einen allgemeinen Rechtsgrundsatz der EG verstoßen, wenn sie in mindestens einem Mitgliedsstaat als grundrechtswidrig angesehen würde, Bleckmann, Ibid. S. 458. 592 Hilf/Schorkopf, in: Eberhard Grabitz/Meinhard Hilf/Martin Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union – Kommentar, Art. 6 Rn. 50 ff. 593 K. Zweigert, RabelsZ 28 (1964), 601 (611). 594 Christian Calliess, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Fragen der Konzeption, Kompetenz und Verbindlichkeit, Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht 2001, 261 (262). 595 Pernice/Mayer, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EU-Kommentar, Nach Art. 6 Rn. 14.
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sistent müssen die Ergebnisse sein, wenn ein Versuch unternommen wird, aus den Verfassungen der Mitgliedsstaaten eine gemeinsame Verfassungsüberlieferung zu extrapolieren. Als weiterführendes Indiz für diese sogenannte „beste Lösung“ wird die Vereinbarkeit mit den Vertragszielen angesehen.596 Nach der Neufassung des AEUV durch den Lissabonvertrag wird in Art. 179 Abs. 1 das Ziel ausgegeben, einen europäischen Raum der Forschung zu schaffen, „in dem Freizügigkeit für Forscher herrscht und wissenschaftliche Erkenntnisse und Technologien frei ausgetauscht werden.“ Wenn dieses Ziel unionsweite Geltung beanspruchen soll, und zudem zwei Drittel der Mitgliedsstaaten zumindest ein subjektives Abwehrrecht der Wissenschaftsfreiheit in ihren Verfassungen implementiert haben, so ist die Feststellung, dass es sich bei der Wissenschaftsfreiheit in dieser Ausprägung um eine gemeinsame Verfassungsüberlieferung der Mitgliedsstaaten handelt, die ein Unionsgrundrecht als allgemeinen Rechtsgrundsatz begründet, zunächst zu unterstützen. Deren Grenzen sind damit aber auch zugleich vorgezeichnet. Eine wertende Rechtsvergleichung soll aber auch die Verpflichtungen der Mitgliedsstaaten aus völkerrechtlichen Verträgen berücksichtigen,597 was im Folgenden in die Untersuchung einbezogen werden soll, wobei die EMRK als konkreter Bezugspunkt der GRC eine besondere Rolle spielen muss. cc) Die Wissenschaftsfreiheit in internationalen Verträgen der Mitgliedsstaaten Als abschließende Rechtserkenntnisquelle zur Ermittlung von Gemeinschaftsgrundrechten greift der EuGH im Wege der wertenden Rechtsvergleichung auf die Verpflichtungen der Mitgliedsstaaten durch völkerrechtliche Verträge zurück. Dies postulierte der EuGH erstmals im Fall Nold,598 meinte dabei jedoch explizit die EMRK,599 der zum damaligen Zeitpunkt Frankreich als letzter der EG-Mitgliedsstaaten beigetreten war und die fortan als Rechtserkenntnisquelle dienen sollte. Aber auch darüber hinaus sollten internationale Verträge dabei helfen, zusammen mit den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen die allgemeinen Rechtsgrundsätze der Union zu bestimmen.600 Die in der Rechtsprechung des EuGH immer wie596 Rupert Stadler, Die Berufsfreiheit in der Europäischen Gemeinschaft, S. 202 f. 597 Nold EuGH Rs. 4/73, Slg. 1974, 491 ff. Rn. 13. 598 Nold EuGH Rs. 4/73, Slg. 1974, 491 ff. Rn. 13. 599 Zur EMRK als speziellem völkerrechtlichem Vertrag, dem die EU beigetreten ist, sogleich S. 191.
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der auftauchenden, relevanten Verträge sind dabei lediglich die Konventionen der Internationalen Arbeitsorganisation, die Europäische Sozialcharta und der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR).601 In der bislang ungeklärten Frage eines EU-Grundrechtsschutzes der Wissenschaftsfreiheit ist es aber nicht auszuschließen, dass sich der Gerichtshof zur Ermittlung eines allgemeinen Grundsatzes oder zur Ermittlung des Inhalts von Art. 13 GRC auf weitere Verträge stützt um ein Gesamtbild der Verpflichtungen der EU und der Mitgliedsstaaten zu erhalten. Ergäbe sich aus denjenigen völkerrechtlichen Verträgen, die von allen Mitgliedsstaaten ratifiziert wurden, eine Verpflichtung die Wissenschaftsfreiheit zu schützen, so würde dies einen weiteren Baustein zur Ermittlung eines Grundrechts der Wissenschaftsfreiheit als allgemeinem Rechtsgrundsatz der Union hinzufügen und überdies den bislang noch unbestimmten Gehalt von Art. 13 GRC herauskristallisieren. Wie aber im Kapitel 7 herausgestellt wird, kann den völkerrechtlichen Verträgen die durch die Mitgliedsstaaten ratifiziert oder unterzeichnet wurden, eine solche nicht entnommen werden. Selbst die Anerkennung der Wissenschaftsfreiheit als schützenswertes Rechtgut oder als individuelles Abwehrrecht ist kaum erkennbar, möglicherweise lediglich eine rudimentäre Form universitärer Selbstverwaltung.602 c) Die Wissenschaftsfreiheit in der EMRK Zum Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit aus Art. 13 GRC würde gemäß Art. 6 Abs. 3 EUV ein korrespondierendes Grundrecht aus der EMRK in Konkurrenz treten, das auch die Auslegung des GRC-Rechts nach Art. 52 Abs. 3 GRC beeinflussen würde, wenn sich ein solches nachweisen ließe. Eine positiv normierte Wissenschaftsfreiheit lässt sich in der EMRK 600 So schrieb Generalanwalt van Gerven in einem Schlussantrag: „A feature of [the] . . . case-law [of the ECJ] is that it does not confer direct effect in the Community legal order on the provisions of . . . international treaties but regards those treaties, together with the constitutional traditions common to the Member States, as helping to determine the content of the general principles of Community law.“ Case C–159/90, SPUC v. Grogan [1991] ECR I–4685 Rn. 30. 601 Vgl. die Ergebnisse der umfassenden Studie von Helen Keller/Christina Schnell, International Human Rights Standards in the EU – A Tightrope Walk between Reception and Parochialism?, Schweizerische Zeitschrift für internationales und europäisches Recht 2010, S. 3 ff. 602 Siehe 291, S. 329 ff.; vgl. auch die Ausführungen bei H. Wagner, § 11 Das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit im Europäischen Gemeinschaftsrecht, in: Wagner, Rechtliche Rahmenbedingungen für Wissenschaft und Forschung – Forschungsfreiheit und staatliche Regulierung, Bd. 1 S. 218 ff.; Christina M. Pelzer, Die Kompetenzen der EG im Bereich Forschung, S. 158 ff.
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jedoch zunächst nicht finden. Vielmehr werden wissenschaftliche Sachverhalte in denen es um die Publikation wissenschaftlicher Ergebnisse ging in der Rechtsprechung des EGMR stets unter dem Grundrecht der Meinungsäußerungsfreiheit aus Art. 10 Abs. 1 EMRK behandelt.603 Der EGMR lässt jedoch erkennen, dass er bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit, ob also eine Maßnahme in einer demokratischen Gesellschaft nach Art. 10 Abs. 2 EMRK notwendig ist, dennoch eine Differenzierung vornimmt, je nach Einhaltung der wissenschaftlichen Methode,604 öffentlichem Interesse an der Wahrheitsfindung605 und Publikationsmedium.606 In allen bisherigen Fällen ist der Fokus jedoch vor allem auf die Ausprägung der Pressefreiheit und der Meinungsäußerungsfreiheit des Art. 10 Abs. 1 EMRK gelegt worden, eine explizite Wissenschaftsfreiheit wird demgegenüber nicht erwähnt. Die Schrankenregelung des Art. 10 Abs. 2 EMRK erlaubt weitgehende Eingriffe in die Meinungsfreiheit unter Zielsetzung der dort aufgeführten legitimen Zwecke. Zudem besteht ein gewisser Beurteilungsspielraum der Staaten bei der Frage, ob Maßnahmen zur Erreichung dieser Zwecke in einer demokratischen Gesellschaft auch notwendig sind, ob sie also verhältnismäßig sind.607 Der Schutz der Wissenschaftsfreiheit in der EMRK ist demnach vergleichsweise schwach ausgeprägt als Sonderfall der Meinungsäußerungsfreiheit, die somit nur die kommunikativen Aspekte der Wissenschaft schützt608 und beispielsweise den Umfang des deutschen Grundrechts nicht annähernd erreicht. Das Modell der libertas philosophandi, das den Ursprung des Grundrechts in Deutschland bildete609 und auch einen geschützten Raum wissenschaftlicher Fragestellung forderte, ließe sich mit einem solchen kommunikativen Grundrecht nur unzureichend schützen. Dieser Schutzrichtung entspricht eher das grammatikalisch weit gefasste Recht der Gedanken- und Gewissensfreiheit aus Art. 9 Abs. 1 EMRK. Nach dieser Gewährleistung wird auch das Vorstadium der Meinungsbildung vor staatlicher Indoktrinierung geschützt.610 Die weiteren Ausprägungen dieses 603 Die bislang zur Wissenschaft ersichtliche Rechtsprechung des EGMR erschöpft sich in vier Fällen: Hertel v. Suisse, 25181/94, 1998-VI; Wille v. Liechtenstein, 28396/95, 1999-VII; Chauvy v. France, 64915/01, 2004-VI; Azevedo v. Portugal, 20620/04. 604 Chauvy v. France, 64915/01, 2004-VI, Rn. 77. 605 Ibid. Rn. 69. 606 Hertel v. Suisse, 25181/94, 1998-VI, Rn. 49 f. 607 Vogt v. Germany, 17851/91, A323. 608 Ebenso T. Mann, in: Heselhaus/Nowak, Handbuch der europäischen Grundrechte, § 26 Rn. 9. 609 Siehe oben S. 92 ff. 610 C. Walter, in: Grote/Marauhn, EMRK/GG-Konkordanzkommentar, Kap. 17 Rn. 15; Frowein, in: Jochen Abr. Frowein/Wolfgang Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention – Kommentar, Art. 9 Rn. 2.
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Grundrechts sind aber größtenteils unklar, als es bislang zumeist im Kontext religiöser Fragestellungen Relevanz erlangte und insofern im nichtreligiösen Bereich kaum Konturen erhielt.611 Möglicherweise könnte demnach über die Kombination der Art. 9 und 10 EMRK in abwehrrechtlicher Hinsicht ein zumindest ähnliches Schutzpotenzial in der EMRK wie im deutschen Grundrechtssystem erlangt werden.612 Alleine durch die fehlende Konkretisierung als eigens geschützter Lebensbereich werden Einbußen in der Gewichtung aber die notwendige Folge sein. Entsprechend sollte die Grundrechtsinterpretation des EGMR im Bereich der Wissenschaft das Recht der Europäischen Union nur in geringer Weise beeinflussen, gerade weil in der sogleich zu behandelnden Grundrechtecharta eine normative Verankerung der Wissenschaftsfreiheit vorhanden ist. Die Transferklausel des Art. 52 Abs. 3 GRC sollte für die Wissenschaftsfreiheit des Art. 13 GRC insofern nur geringe Relevanz entfalten.613 Ob die Charta durch diese normative Verankerung aber einen weitergehenden Schutz der Wissenschaft gewährleistet, muss im Folgenden noch untersucht werden. d) Die Anerkennung der Wissenschaftsfreiheit durch Europäische Organe Zur Ermittlung eines Grundrechts der Wissenschaftsfreiheit als allgemeinem Rechtsgrundsatz der Union, der den Inhalt des Art. 13 GRC determinieren könnte, soll auch analysiert werden, inwieweit die Europäischen Organe bereits eine Wissenschaftsfreiheit für sich anerkannt haben, was gegebenenfalls auch eine Selbstbindung dieser Organe bedeuten und mithin auch eine Umfangsbestimmung dieses Grundrechts weiter vereinfachen könnte. aa) Die Europäischen Gerichte Die Europäischen Gerichte beschäftigten sich in der Vergangenheit kaum mit wissenschaftsrelevanten Fragestellungen, wenn aber doch so gingen sie nicht auf eine eventuelle Wissenschaftsfreiheit ein. Bereits 1973 ergab sich eine erste Gelegenheit, als ein Wissenschaftler der Europäischen Atom611 C. Walter, in: Grote/Marauhn, EMRK/GG-Konkordanzkommentar, Kap. 17 Rn. 15. 612 Vgl. zum Zusammenspiel von Gedanken- und Meinungsfreiheit zur Begründung der Wissenschaftsfreiheit auch die Erläuterungen des Präsidiums des Grundrechtekonvents ABl. 2004, C-310/434 und S. 198 ff. unten. 613 Zur Transferklausel des Art. 52 Abs. 3 GRC und dem daraus resultierenden Einfluss der EMRK auf die Grundrechtecharta, vgl. unten S. 215 ff.
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gemeinschaft (Euratom) am Forschungsinstitut Ispra in Italien gegen Umstrukturierungsmaßnahmen vorgehen wollte, die dieser mit Bezug auf eine Beeinträchtigung seiner Forschungstätigkeit ablehnte.614 Der Gerichtshof selbst verweigerte in diesem Fall jeden Verweis auf eine eventuelle grundrechtliche Komponente des Sachverhalts und entschied den Fall alleine nach beamtenrechtlichen Maßstäben. Demgegenüber erwähnte Generalanwalt Trabucchi am Rande eine zu berücksichtigende Wissenschaftsfreiheit ohne speziellen Nachweis, die jedoch in diesem Fall hinter den organisatorischen Anforderungen der Euratom zurückstehen müsste.615 Nur ein Jahr später wurde in einer Rechtssache bezüglich derselben Forschungseinrichtung ein Wissenschaftler im Zuge eigener Forschungen durch einen Vorgesetzten der Falschangaben beschuldigt, woraufhin dieser gegenüber der Kommission auf Rücknahme der Anschuldigungen, Erlaubnis zur Fortsetzung der Forschungen und Schadensersatz klagte. Wiederum entschied der EuGH nur unter Bezugnahme auf beamtenrechtliche Vorschriften. Auch Generalanwalt Trabucchi war in diesem Fall zurückhaltender, nur noch in einem einleitenden Satz kündigte er eine Beteiligung der Forschungsfreiheit in diesem Fall an, seine Erläuterungen schloss er aber dann ohne deren Heranziehung ab.616 In keinem der beiden Fälle lässt sich eine Tendenz seitens des Gerichtshofs erkennen, ein Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit anzuerkennen, obwohl Potenzial und Gelegenheit dafür vorhanden war.617
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Kley/Kommission, EuGH Rs. 35/72, Slg. 1973, S. 679 ff. Ibid. S. 692 ff. (702): „Die Freiheit der Wissenschaft schließt nicht aus, dass dem Wissenschaftler auch auf organisatorischem Gebiet Aufgaben gestellt sind. Euratom ist auch eine rechtliche Organisation mit ihren praktischen und funktionellen Erfordernissen, aus denen sich zwangsläufig Einschränkungen für die Freiheit der wissenschaftlichen Beamten in der Wahl ihrer jeweiligen Tätigkeit und für das Interesse ihrer persönlichen Forschungen ergeben müssen. Ihre Arbeitsstätten sind keine Akademien und haben auch nicht die reine Forschung zum Gegenstand, wie es vielleicht in einem Universitätslaboratorium denkbar ist.“ 616 Guillot/Kommission, EuGH Rs. 53/72, Slg. 1974, 791 ff. mit dem Schlussantrag des GA ab S. 807 ff. 617 Auch in einer neueren Entscheidung des Gerichtshofs ist eine Bezugnahme auf eine Europäische Wissenschaftsfreiheit ausgespart worden, Kommission/Deutschland, EuGH Rs. C-287/00, Slg. 2002, S. 5811 ff. Die Umsatzsteuerpflicht für drittmittelfinanzierte Forschung an deutschen Hochschulen bedurfte eines solchen Bezugs aber auch nicht, anderer Ansicht wohl T. Mann, in: Heselhaus/Nowak, Handbuch der europäischen Grundrechte, § 26 Rn. 61 ff. Auch die Urteile des EuGH zu den Fremdsprachenlektoren (Allue und Coonan/Universita degli Studi Venezia, EuGH Rs 33/88; Maria Chiara Spotti/Freistaat Bayern, EuGH Rs. C-272/92; Kommission/ Italien, EuGH Rs. C-212/99 und C-119/04) konnten ohne Bezug zur Wissenschaftsfreiheit gelöst werden. 615
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bb) Das Europäische Parlament Soweit ersichtlich hat das Europäische Parlament (EP) lediglich einmal zur Wissenschaftsfreiheit Stellung bezogen, als es die „Erklärung des Europäischen Parlaments über Grundrechte und Grundfreiheiten“ vom 12.4.1989 verabschiedete.618 Darin enthalten war in Art. 5 Abs. 2 folgende Verbürgung: „Kunst, Wissenschaft und Forschung sind frei. Die Freiheit der Lehre wird gewahrt.“ Die Formulierung war dem Grundgesetz entlehnt und findet sich ähnlich auch in Art. 13 GRC wieder. Den Wert dieser Erklärung schmälert jedoch die Tatsache, dass jener Grundrechtekatalog keine Rechtsverbindlichkeit erlangte. Sie dient jedoch als Indiz für eine europäische Rechtsüberzeugung von einer freien Wissenschaft und vermittelt jener Überzeugung gleichzeitig demokratische Legitimation durch das EP.619 Einen weiteren Hinweis auf die Ausgestaltung eines solchen Grundrechts liefert ein solches soft law-Instrument nicht,620 wenn auch davon auszugehen ist, dass zumindest das EP in seiner Arbeit sich an den selbst postulierten Grundrechten orientiert haben dürfte. Interessanter wird dies durch die Änderungen des Lissabonner Vertrags, die dem EP nun mehr Mitspracherecht in Gesetzgebungsverfahren einräumt. Für diese Verfahren ist es jedoch nun formell durch Art. 51 Abs. 1 GRC gebunden. cc) Der Europäische Rat Als Hauptrechtsetzungsorgan für sekundäres Unionsrecht nach Art. 16 EUV ist der Rat zur Beurteilung der Handlungen europäischer Organe besonders in den Blick zu nehmen, vor allem bevor dem EP im Lissabonvertrag eine stärkere Rolle zugesprochen wurde. So erließ dieser 1996 eine Richtlinie „über die integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung (IVU-RL),621 in deren Anlage I unter Ziffer 1 eine Befreiung vom Genehmigungsvorbehalt für emittierende Anlagen explizit für Forschungsanlagen genannt ist. Dies könnte man als Indiz dafür betrachten, dass bereits in den Normsetzungsverfahren des Rates die Wissenschaftsfreiheit berücksichtigt wurde, indem ihr eine privilegierte Stellung gegenüber dem Umweltschutz eingeräumt wurde.622 618
Abgedruckt in EuGRZ 1989, 204 ff. und NVwZ 1991, 759 ff. Wagner, § 11 Das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit im Europäischen Gemeinschaftsrecht, in: Wagner, Rechtliche Rahmenbedingungen für Wissenschaft und Forschung – Forschungsfreiheit und staatliche Regulierung, Bd. 1 S. 222. 620 Zur Wirkung von europäischem soft law vgl. S. 232 ff. 621 RL 96/61 EG; ABl. EG Nr. L 257/26 vom 10.10.1996, S. 35. 622 Ebenso T. Mann, in: Heselhaus/Nowak, Handbuch der europäischen Grundrechte, § 26 Rn. 53. 619
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Eingeschränkt wird dieser Befund jedoch dadurch, dass in der ein Jahr später verabschiedeten Richtlinie zur Umweltverträglichkeitsprüfung eine Ausnahme von der Prüfung nur für atomare Forschungseinrichtungen gemacht wird, eine generelle Privilegierung der Forschung somit nicht vorgesehen ist.623 Bei der Arbeit des Rates scheint es daher vielmehr auf die Einbringung nationaler Interessen anzukommen. Die deutsche Seite muss ihre Vorstellungen der Wissenschaftsfreiheit stets in den Verhandlungen verteidigen um Ergebnisse zu erzielen, die auch dem deutschen Grundrecht entsprechen können. Eine generelle und explizite Anerkennung der Forschungsfreiheit durch den Europäischen Rat ist aber nicht zu erkennen. dd) Die Europäische Kommission Die Europäische Kommission hat in ihrer Tätigkeit bislang nur in zwei Fällen zur Wissenschaftsfreiheit Stellung genommen. Der eine Fall wurde bereits geschildert,624 die Empfehlung bezüglich eines Verhaltenskodex für verantwortungsvolle Forschung im Bereich der Nanowissenschaften und -technologien.625 Der andere Fall war ebenfalls ein unverbindliches Instrument nach Art. 288 Abs. 5 AEUV (zu dieser Zeit Art. 249 Abs. 5 EGV) in der Form der Empfehlung und beinhaltete als Anhang die „Europäische Charta für Forscher.“626 Deren Rechtsnatur soll später noch untersucht werden, an dieser Stelle relevant sind die Ausführungen zur Wissenschaftsfreiheit, die unter dem Punkt allgemeine Grundsätze als erstes aufgeführt wird. Bereits unter Beachtung der GRC627 wird dort ein differenzierteres Bild der Wissenschaftsfreiheit gezeichnet, als es die übrigen Organe zuvor leisten konnten, zumindest in der Sichtweise, wie die Kommission sie vertritt. Der Bezug zur GRC verdeutlicht aber auch, dass in dieser Empfehlung nicht ein Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit als allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts anerkannt wurde, sondern bereits die Kodifizierung in der GRC diese Charta für Forscher beeinflusst hatte. Daher ist die Empfehlung für eine Anerkennung des Grundrechts unabhängig von der GRC von geringer Relevanz.628, 629 623 Vgl. dazu Wagner, Gibt es ein Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit im europäischen Gemeinschaftsrecht?, Die Öffentliche Verwaltung 1999, S. 129 (130). 624 Vgl. S. 68 ff. 625 KOM (2008) 424; ABl. 2008 L 116/46. 626 Empfehlung 2005/251/EG ABl. L-075 S. 67 ff. 627 Letzter Satz der Präambel der Charta unter Abschnitt 1. 628 Sie wird ihre Relevanz jedoch noch im folgenden Abschnitt entfalten, wenn der Gewährleistungsgehalt des Chartagrundrechts erörtert werden soll. 629 Insofern aber irreführend T. Mann, in: Heselhaus/Nowak, Handbuch der europäischen Grundrechte, § 26 Rn. 53.
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ee) Fazit Auch die Handlungspraxis der Europäischen Organe zeichnet kein eindeutiges Bild von einem Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit als allgemeinem Grundsatz des Unionsrechts. Dieser Befund ist sicherlich auch darauf zurückzuführen, dass die Kompetenzen der Union im Bereich der Wissenschaft bislang nicht sehr umfassend waren. Als originär den Mitgliedsstaaten zugewiesenes Kompetenzfeld sollen die Maßnahmen der Union die mitgliedstaatlichen Aktionen lediglich ergänzen und unterstützen, sowie so weit möglich koordinieren.630 Daher ergaben sich für die Organe auch bislang nur wenige Möglichkeiten im Bereich der Wissenschaft zu handeln. Mit den immer weiter anwachsenden Budgets der seit 1984 bestehenden Forschungsrahmenprogramme wird die Notwendigkeit einer grundrechtlichen Fundierung unionsrechtlicher Handlungsoptionen im Bereich der Wissenschaft deutlicher sichtbar, wozu die Grundrechtsbindung der GRC mit ihrem Art. 13 den Anhaltspunkt liefert. Welchen Gewährleistungsgehalt dieser Artikel jedoch umfasst, ist angesichts der bisherigen Befunde zur Wissenschaftsfreiheit äußerst fraglich. e) Die Wissenschaftsfreiheit nach Art. 13 der Grundrechtecharta aa) Gewährleistungsgehalt631 Nach Absatz vier der Präambel der GRC soll die Charta lediglich diejenigen Rechte bekräftigen, die sich bereits „aus den gemeinsamen Verfassungstraditionen und den gemeinsamen internationalen Verpflichtungen der Mitgliedsstaaten, aus der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, [. . .] sowie aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union und des Europäischen Gerichtshofs der Menschenrechte ergeben.“ Dass gerade diese Herleitung sich als schwierig erwies, wurde bislang in der vorstehenden Analyse aufgezeigt. Die weite Formulierung des Art. 13 GRC, wonach Forschung „frei“ sein soll, bereitet mit Blick auf den eindeutigen Normtext und jenes zurückhaltende Chartaziel Schwierigkeiten, was auch die Diskussion zu diesem Artikel im Grundrechtekonvent aufzeigt.
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Vgl. die Art. 179 EGV ff. und deren Vorgängernormen. Eine umfassende Analyse bietet Pelzer, Die Kompetenzen der EG im Bereich Forschung, S. 65 ff. 631 In Abgrenzung zur deutschen Grundrechtslehre soll für das europäische Grundrechtssystem der Begriff Gewährleistungsgehalt den des Schutzbereichs ersetzen.
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(1) Die Wissenschaftsfreiheit im Grundrechtekonvent Die Diskussion im Grundrechtekonvent war vor allem durch die Frage der Verortung der Wissenschaftsfreiheit in der Charta geprägt und ob diese überhaupt aufgenommen werden sollte.632 Nachdem zunächst in einem der ersten Entwürfe die Wissenschaftsfreiheit der Bildungsfreiheit in einem vierten Absatz angegliedert werden sollte, versuchte man sie anschließend der Meinungsfreiheit zuzuordnen, um einen Gleichlauf mit der EMRK und zahlreichen nationalen Rechtssystemen herzustellen. Im Entwurf zur zweiten Lesung war eine Wissenschaftsfreiheit gar nicht mehr enthalten, was zahlreiche Kritik hervorrief, bevor das Präsidium selbst die Wiederaufnahme in der dreizehnten Sitzung des Konvents anregte, was breite Zustimmung fand.633 Begründet wurde der Schritt mit der gemeinsamen Verfassungsüberlieferung der Mitgliedsstaaten, die seit mehr als 100 Jahren nachweisbar sei, und mit der Signalwirkung für den wissenschaftlichen Nachwuchs in Europa, ein Argument, das eher gegen eine Ableitung und für eine eigenständige Schöpfung durch das Grundrechtekonvent spricht. Bemerkenswert ist die Forderung nach einem Eingriffsvorbehalt für die speziell erwähnte akademische Freiheit, die mit der sprachlichen Milderung „wird geachtet“634 gegenüber „ist frei“, zu der schwächeren Ausgestaltung dieser Gewährleistung geführt hat. Im Kontrast zur wechselvollen Genese im Konvent sind die Erläuterungen des Präsidiums zu Art. 13, denen nach Art. 52 Abs. 7 GRC „gebührende Berücksichtigung“ bei der Auslegung zukommen soll, aber erstaunlich kurz, vor allem im Vergleich mit anderen Grundrechten. Möglicherweise ist dies ein Hinweis darauf, dass man sich der Problematik fehlender Kongruenz zwischen dem Chartagrundrecht und der europäischen Praxis sehr wohl bewusst war. (2) Die Erläuterungen des Präsidiums des Europäischen Grundrechtekonvents „Dieses Recht leitet sich in erster Linie aus der Gedankenfreiheit und der Freiheit der Meinungsäußerung ab. Seine Ausübung erfolgt unter Wahrung von Artikel 1, und es kann den durch Artikel 10 EMRK gestatteten Einschränkungen unterworfen werden.“635 632 Zum Folgenden N. Bernsdorff, in: Meyer, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 13 Rn. 6 ff. und B. Kempen, in: Tettinger/Stern, Europäische Grundrechte-Charta, Art. 13 Rn. 1 ff. 633 N. Bernsdorff, in: Meyer, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 13 Rn. 6 ff. 634 Engl.: „. . . shall be respected.“; franz.: „. . . est respecteé.“
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Die äußerst knappen Ausführungen des Präsidiums zur Wissenschaftsfreiheit lassen zumindest einige Schlüsse auf den Gewährleistungsgehalt dieses Grundrechts zu. Zum einen wird die Wissenschaftsfreiheit nicht nur der Meinungsfreiheit zugeordnet, sondern es wird an erster Stelle auch die Gedankenfreiheit erwähnt, also explizit der Bezug zu Art. 10 Abs. 1 GRC hergestellt. Ähnlich dem deutschen Grundrecht wird dem Gedanken der libertas philosophandi Rechnung getragen und auch das forum internum der Wissenschaftler in den Schutzbereich mit aufgenommen. Das Grundrecht erschöpft sich damit nicht in einer wissenschaftlichen Meinungsäußerungs-, Publikations- und Verwertungsfreiheit, sondern soll gerade auch gegen unzulässige Einflussnahmen in den wissenschaftlichen Denkprozess schützen.636 Gleichzeitig wird aber zum anderen auch der Bezug zur Wissenschaftsfreiheit im System der EMRK und deren Schranken durch Art. 10 Abs. 2 EMRK hergestellt. Man könnte diesem Satz die Auffassung des Präsidiums entnehmen, dass Art. 13 GRC gegenüber Art. 10 EMRK keinen überschießenden Gehalt hat, und daher alleine die Schrankenregelung des Art. 10 Abs. 2 EMRK gemäß Art. 52 Abs. 3 GRC zur Anwendung kommt. Diese Schlussfolgerung ist aber insofern problematisch, als Art. 10 Abs. 1 EMRK wie bereits dargestellt nur den kommunikativen Gehalt der Wissenschaftsfreiheit schützt und das forum internum der wissenschaftlichen Erkenntnissuche nicht umfasst. Damit wäre aber die zuvor durch das Präsidium hergestellte Verbindung zur Gedankenfreiheit aus Art. 10 Abs. 1 GRC widersprüchlich. Konsequenz wäre auch, dass die Möglichkeit des Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRC, durch die Union einen weitergehenden Schutz als im System der EMRK zu gewähren,637 für die Wissenschaftsfreiheit im Bereich der Schranken des Grundrechts nicht eröffnet wäre. Ein Indiz dafür, dass ein Gleichlauf der beiden Grundrechte in GRC und EMRK gerade nicht vorgesehen war, bieten demgegenüber die Erläuterungen des Präsidiums zu Art. 52 GRC.638 Dort sind diejenigen Grundrechte der GRC aufgeführt, die dieselbe Bedeutung und Tragweite wie ihre korres635 Erläuterungen des Präsidiums des Europäischen Konvents, ABl. 2004 C 310/434. 636 So auch die Ausführungen in der Europäischen Charta für Forscher der EUKommission zur Forschungsfreiheit, ABl. 2005, L 75/70, in der diese jedoch nur als berufsspezifisches Destillat von Gedanken- und Meinungsfreiheit gesehen wird; eine Perspektive, die der Wissenschaft nicht gerecht wird, s. o. S. 95 ff. 637 So die offizielle Erläuterung des Präsidiums des Europäischen Konvents zu Art. 52 Abs. 3 Satz 2: „Mit dem letzten Satz des Absatzes soll der Union die Möglichkeit gegeben werden, für einen weiter gehenden Schutz zu sorgen. Auf jeden Fall darf der durch die Charta gewährleistete Schutz niemals geringer als der durch die EMRK gewährte Schutz sein.“ ABl. 2004 C 310/456. 638 ABl. 2004 C 310/456 ff.
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pondierenden Rechte der EMRK haben, Art. 13 GRC fehlt dort jedoch. Ebensowenig ist die Wissenschaftsfreiheit der GRC unter denjenigen Grundrechten der Erläuterungen zu finden, denen laut Präsidium zwar dieselbe Bedeutung wie ihre korrespondierenden Rechte der EMRK zukommt, die aber eine größere Tragweite haben sollen.639 Die Schlussfolgerung muss daher lauten, dass der Grundrechtekonvent mit Art. 13 GRC ein anderes Grundrecht als dasjenige normieren wollte, das der EGMR aus Art. 10 EMRK herausgebildet hat, gleichzeitig aber dennoch dessen Schrankenregelung heranziehen wollte, um eine abgestimmte Rechtsprechung der beiden Gerichte zu ermöglichen. Für den Gewährleistungsgehalt des Art. 13 GRC kann den Erläuterungen aber entnommen werden, dass dieser umfangreicher sein soll als in der EMRK und auch die kognitiven Komponenten der wissenschaftlichen Betätigung umfasst sind. Diesem Befund entspricht auch die weite, scheinbar an das Grundgesetz angelehnte Formulierung des Artikels. (3) Der Wissenschaftsbegriff der Grundrechtecharta Mit der ähnlichen Formulierung der beiden Artikel in Grundgesetz und GRC dürften die Gemeinsamkeiten auch ihr Ende finden. Die ausdifferenzierte Systematik der grundgesetzlichen Wissenschaftsfreiheit sollte auf die europäische Version des Grundrechts, die einer Vielzahl verschiedener Auffassungen in Europa gerecht werden muss, nicht übertragbar sein. Das Fehlen einer Rechtsprechung der europäischen Gerichte zur Wissenschaftsfreiheit macht sich dementsprechend auch in der Definitionsfähigkeit des Wissenschaftsbegriffs bemerkbar. In den Vorschriften der Unionsverträge über die Forschung fehlt ebenfalls eine definitorische Festschreibung, was darauf zurückzuführen sein dürfte, dass es Ziel der Verträge ist, die mitgliedstaatlichen Maßnahmen auf dem Gebiet der Forschung lediglich zu unterstützen, zu ergänzen und zu koordinieren. Mehrere Autoren der deutschsprachigen Literatur greifen aus diesem Grund dennoch auf den Wissenschaftsbegriff des Bundesverfassungsgerichts zurück, wonach Wissenschaft der ernsthafte und planmäßige Versuch zur Ermittlung der Wahrheit ist.640 Parallele Formulierungen finden sich zudem auch in der englischsprachigen Literatur.641 Der EGMR, dessen Rechtsprechung laut Absatz 5 der Präambel der Grundrechtecharta Rechtserkenntnis639
Ibid S. 457 f. So unter Verweis auf BVerfGE, 35, 79 (113): B. Kempen, in: Tettinger/Stern, Europäische Grundrechte-Charta, Art. 13 Rn. 12; Jarass, EU-Grundrechte, S. 220. Kritisch M. Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV/GRC-Kommentar, Art. 13 GRC Rn. 6. 640
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quelle der Chartagrundrechte sein soll, hat Begriffe der deutschen Wissenschaftsdefinition aufgegriffen, indem er zum einen feststellte, dass die Suche nach der historischen Wahrheit integraler Bestandteil der Meinungsfreiheit des Art. 10 Abs. 1 EMRK sei,642 zum anderen auch die Methode wissenschaftlicher Erkenntnissuche eine wichtige Rolle spielt.643 Unter Vermeidung des idealisierten Begriffs der Wahrheit in der deutschen Version und unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EGMR kann man den Wissenschaftsbegriff der Grundrechtecharta daher zunächst eng fassen und formulieren, dass Wissenschaft das methodisch geleitete Generieren neuen Wissens sein soll.644 Bis sich die europäischen Gerichte mit Art. 13 GRC befassen, dürfte dies der Intention des Konvents entsprechen. (4) Die objektiv-rechtliche Grundrechtsdimension Die Freiheitsrechte der Grundrechtecharta sind als individuelle Abwehrrechte gegen die Union und gegen die Mitgliedsstaaten645 konzipiert und repräsentieren insoweit den status negativus der Jellinekschen Grundrechtslehren.646 Die Frage ist, ob sich den Grundrechten der GRC und dem Art. 13 im Speziellen eine weitere Grundrechtsdimension entnehmen lässt, eine objektiv-rechtliche Begrenzung der Handlungsmöglichkeiten des Europäischen Gesetzgebers. Weitere Grundrechtsdimensionen über den status negativus hinaus sind der GRC nicht fremd. Bereits die Menschenwürde in Art. 1 GRC ist nicht nur zu achten, sondern gleichermaßen auch zu schützen, erlegt den Grundrechtsadressaten also auch eine positive Verpflichtung auf. Auch an anderer Stelle der GRC werden den nach Art. 51 Abs. 1 GRC Grundrechtsverpflichteten Leistungs- und Schutzpflichten auferlegt, was insbesondere für die sozialen Grundrechte gilt. Bei diesen wiederum muss unterschieden werden, ob es sich um Rechte im eigentlichen Sinne oder lediglich Grundsätze nach Art. 52 Abs. 5 GRC handelt, die keine subjektiven Rechte begründen können, sondern nur eine objektiv-rechtliche Dimension aufweisen sollen.647 641
G. Demuro, in: William B. T. Mock (Hrsg.) Human Rrights in Europe – Commentary on the Charter of Fundamental Rights of the European Union, Art. 13 Rn. 3. 642 Chauvy v. France, 64915/01, 2004-VI, Rn. 69. 643 Ibid Rn. 77. 644 M. Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV/GRC-Kommentar, Art. 13 GRC Rn. 6. 645 Jedoch nur soweit diese Unionsrecht durchführen, vgl. Art. 51 Abs.1 GRC. 646 Georg Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 94 ff. 647 Dies gilt laut den Erläuterungen des Präsidiums des Grundrechtekonvents beispielsweise für die Art. 25, 26 und 37. Allgemein zu dieser Normkategorie in der Grundrechtecharta Johannes Schmidt, Die Grundsätze im Sinne der EU-Grundrech-
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Welche Grundrechtsdimensionen sich jedoch Art. 13 GRC entnehmen lassen, muss durch Auslegung ermittelt werden unter Zuhilfenahme der normierten Auslegungsregeln des Art. 52 GRC.648 An früherer Stelle wurde bereits festgestellt, dass die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedsstaaten nicht mehr als ein individuelles Abwehrrecht der Wissenschaftsfreiheit begründen können.649 Nach Art. 52 Abs. 4 GRC sollen korrespondierende Grundrechte der GRC mit den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen im Einklang ausgelegt werden. Eine Auslegung des Art. 13 GRC, die weitere Grundrechtsdimensionen offenbaren würde, müsste demnach unzulässig sein. Zwei Umstände könnten diesen Befund jedoch erschüttern. Zum einen ist zu beachten, dass dieser Absatz 4 nach den Erläuterungen des Präsidiums nicht restriktiv auszulegen sein soll, also nicht nur den „kleinsten gemeinsamen Nenner“ der europäischen Grundrechtstradition zulassen soll. Die Chartarechte sollen vielmehr so ausgelegt werden, dass sie ein hohes Schutzniveau bieten, das dem Unionsrecht angemessen ist und mit den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen im Einklang steht.650 Zum anderen geht es aber bei der hier erörterten Dimension größtenteils um eine Unionsperspektive, die die Organe verpflichten soll, nicht die Mitgliedsstaaten.651 Einer positiven Verpflichtung zur Förderung und zum Schutz für die Unionsorgane können Interessen der Mitgliedsstaaten kaum zuwiderlaufen. Fraglich ist aber, was die zweite Auslegungsvorgabe des Art. 52 Abs. 3 GRC, wonach die Chartarechte die gleiche Bedeutung und Tragweite haben sollen, wie ihre korrespondierenden Rechte aus der EMRK, für die Schutzdimensionen der Grundrechte bedeutet. Obwohl nach den offiziellen Erläuterungen die Wissenschaftsfreiheit von GRC und EMRK weder in Bedeutung noch Tragweite identisch sein sollen,652 darf das Schutzniveau der GRC nicht unter dasjenige der EMRK abgesenkt werden,653 was geschehen techarta; Holger M. Sagmeister, Die Grundsatznormen in der Europäischen Grundrechtecharta. 648 Die bisherige Kommentarliteratur schweigt sich in dieser Frage bezüglich Art. 13 GRC aus, vgl. B. Kempen, in: Tettinger/Stern, Europäische GrundrechteCharta, Art. 13; T. Mann, in: Heselhaus/Nowak, Handbuch der europäischen Grundrechte, § 26; N. Bernsdorff, in: Meyer, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 13. 649 Dazu oben, S. 187 ff. 650 ABl. 2004 C 310/458. 651 Für die Mitgliedsstaaten gilt die GRC nur bei der Durchführung von Unionsrecht, vgl. Art. 51 Abs. 1 GRC. 652 Vgl. die Auflistung dieser Rechte in den Erläuterungen des Präsidiums, ABl. 2004 C 310/456 ff. 653 Yvonne Dorf, Zur Auslegung der Grundrechtecharta, Juristenzeitung 2001, 126 (128).
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würde, könnte man der Wissenschaftsfreiheit der EMRK weitere Grundrechtsdimensionen entnehmen. Die Rechtsprechung des EGMR hat weitere Grundrechtsdimensionen als die Abwehrkomponente bereits seit langem anerkannt. So ist seit über zwanzig Jahren der Begriff der „positive obligations“ der Staaten fester Bestandteil der Gerichtspraxis,654 nach denen der Staat nicht nur zu Unterlassungen verpflichtet ist, sondern auch zum Handeln und zur Aufrechterhaltung bestimmter Zustände. Insbesondere wurden vom EGMR auch bereits Verpflichtungen zur organisatorischen Sicherung von Grundrechten anerkannt.655 Mit Bezug auf die Wissenschaftsfreiheit hat sich der Gerichtshof bislang jedoch noch nicht mit einer über die abwehrrechtliche Dimension hinausgehenden Problematik beschäftigt. Daraus bereits den Schluss zu ziehen, dass eine „positive obligation“ für die Wissenschaftsfreiheit nicht möglich wäre, wäre sicherlich verfrüht. Im Rahmen der Meinungsfreiheit des Art. 10 Abs. 1 EMRK, in der auch die Wissenschaftsfreiheit verankert sein soll, hat der EGMR bereits für die Institution der freien Presse anerkannt, dass der Staat zur Sicherung eines freien Pressewesens als Voraussetzung einer freiheitlichen Demokratie verpflichtet ist.656 Insofern wurde eine objektivrechtliche Dimension einer Teilfreiheit des Art. 10 Abs. 1 EMRK bereits durch den Gerichtshof festgestellt. Ein solcher Ausgestaltungsauftrag im Sinne eines Idealstandards grundrechtlicher Gestaltung stößt jedoch bereits bei einer anderen Teilfreiheit des Art. 10 EMRK, der Rundfunkfreiheit an ihre Grenzen. Bei diesem Grundrecht beschränkt sich der EGMR mangels eines europäischen Konsenses über die Ausgestaltung dieser Institution auf abwehrrechtliche Ansätze und kollidiert insoweit mit den objektivrechtlichen Vorstellungen des deutschen Bundesverfassungsgerichts zu Art. 5 Abs. 1 GG.657 Eben jener fehlende Konsens über das ideale wissenschaftliche System, das dem Grundrecht die bestmögliche Entfaltung garantiert, verhindert auch eine objektivrechtliche Herangehensweise des EGMR in Bezug auf die Wissenschaftsfreiheit. Die größtenteils unterschiedlich gewachsenen Strukturen der Wissenschafts- und Hochschullandschaft vermitteln jeweils kultu654 Christoph Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, S. 125; siehe dazu auch H. Krieger, in: Grote/Marauhn, EMRK/GG-Konkordanzkommentar, S. 266 ff. 655 Podkolzina v. Latvia, 46726/99, Rn. 35. 656 Mit Bezug auf den Schutz von Pressequellen, Goodwin v. The United Kingdom, 17488/90 Rn. 39 ff. und Roemen u. Schmit v. Luxembourg, 51772/99 Rn. 46. 657 Vgl. Groppera Radio AG and others v. Switzerland, 10890/84 Rn. 52 ff.; eine ausführliche Darstellung der Problematik bei R. Grote/N. Wenzel, in: Grote/Marauhn, EMRK/GG-Konkordanzkommentar, Kap. 18 Rn. 20 ff.; weitere Nachweise bei J. Frowein, in: Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar, Art. 10 Rn. 19 ff.
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relle Eigenarten der Mitgliedsstaaten der EMRK, aus denen speziell erforderliche strukturelle Voraussetzungen und staatliche Maßnahmen organisatorischer Art, wie sie im deutschen Rechtsempfinden gefordert sind,658 nicht abgeleitet werden können.659 Die Ausgestaltung des Wissenschaftssystems in den Mitgliedsstaaten zur optimalen Entfaltung des Grundrechts muss den jeweiligen Gesetzgebern im Rahmen ihrer margin of appreciation überlassen bleiben. Ein Eingriff des EGMR käme nur als Korrektur eines bestimmten Systems zugunsten zu stark eingeschränkter Freiheiten von Einzelwissenschaftlern in Frage, also in der individuellen, abwehrrechtlichen Dimension. Hier wird deutlich, dass objektivrechtliche Aussagen von Grundrechten auf konsensualen Vorstellungen der jeweiligen objektiven Wertordnung beruhen müssen, oder wie man auch immer ein solches System von objektiven Normen bezeichnen mag.660 Eine über die abwehrrechtliche Dimension der Wissenschaftsfreiheit hinausgehende Interpretation des Art. 10 Abs. 1 EMRK ist jedenfalls nicht ersichtlich. Die EMRK-Dogmatik lässt sich auf die GRC in diesem Fall jedoch nur schwer anwenden. Der EGMR hat stets nationale Sachverhalte im Licht einer gesamteuropäischen Grundrechtsverbürgung zu beurteilen. Er muss den Staaten dabei aufgrund des unbestritten vorhandenen Pluralismus in Europa einen weiten Spielraum belassen, der konkrete Ausgestaltungsaufträge verhindert. Anders stellt sich jedoch die Situation der supranationalen Organisation der Europäischen Union dar. Diese ergreift Maßnahmen auf Grundlage eines von den Mitgliedstaaten konsentierten Vertrags, die für alle gelten sollen und im konkreten Fall eine europäische Forschungspolitik ermöglichen sollen. Es besteht daher ein Unterschied in den Grundrechtsperspektiven zwischen EMRK und GRC, der eine Übertragung von Lehren auf diesem Gebiet verhindert. Die europäischen Forschungspolitiken, von den Verträgen gefordert und von den Europäischen Organen umzusetzen, stellen insofern Herauforderungen an die Wissenschaftsfreiheit dar, als diese von einer gemeinschaftsrechtlich gesicherten Unterstützung in Eingriffe umschlagen können.661 Insbesondere die Fremdbestimmung nationaler Forschung durch ein Anreizsystem und die Einbeziehung der Grundlagenforschung als Bestandteil nationaler Kulturhoheit werden dabei als problematisch gesehen.662 Gerade 658
So bspw. in BVerfGE 35, 79 (116). R. Grote/N. Wenzel, in: Grote/Marauhn, EMRK/GG-Konkordanzkommentar, Kap. 18 Rn. 23. 660 Zum deutschen Streit um den Begriff der objektiven Wertordnung vgl. nur Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 299. 661 M. Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV/GRC-Kommentar, Art. 13 GRC Rn. 12. 659
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in dieser Situation unionaler Forschungsförderung muss sich der unionsrechtliche Schutz wissenschaftlicher Freiheit beweisen, indem die dazu ergangenen Rechtsakte sich in der Balance zwischen der Sicherung industrieller Wettbewerbsfähigkeit und der Freiheitlichkeit der Forschung bewegen müssen. Insoweit daher rechtliche Maßnahmen die Forschung in Europa in den intendierten Bahnen der Union lenken sollen, muss die Wissenschaftsfreiheit als negative Kompetenznorm663 in ihrer objektiv-rechtlichen Dimension auch organisatorische Sicherungen664 und die Wahrung der Verhältnismäßigkeit garantieren. bb) Verkürzung des Gewährleistungsgehalts durch ethische Einschränkungen der Wissenschaftsfreiheit? Abschließend soll noch der Frage nachgegangen werden, inwieweit auf europäischer Ebene ethische Erwägungen nicht erst bei der Schrankenbestimmung zum Tragen kommen, sondern bereits den Gewährleistungsgehalt der Wissenschaftsfreiheit aus Art. 13 GRC zu begrenzen vermögen. Drei Aspekte lassen dies zumindest diskussionswürdig erscheinen: Die Erläuterungen des Präsidiums zur Achtung der Menschenwürde [1)], die eine solche Auffassung nahelegen, die Vorgaben des Art. 3 Abs. 2 GRC [2)] und schließlich die Ausführungen der Kommission in der Charta für Forscher [3)]. (1) Begrenzung durch die Menschenwürde In den Erläuterungen des Präsidiums des Europäischen Konvents wird ausgeführt, dass die Ausübung der Wissenschaftsfreiheit unter Wahrung des Artikels 1 zu erfolgen hat. Dies ließe sich derart auslegen, dass das Menschenwürdeprinzip als „unteilbarer und universeller“665 Wert auf dem sich die Union gründet, als „oberste[m] Wert in der Union“,666 schon bei der 662 Pelzer, Die Kompetenzen der EG im Bereich Forschung, S. 70 und 77. Ebenfalls bereits früh in diese Richtung argumentierend Hans F. Zacher, Forschungsfreiheit und Forschungsförderung in Europa, in: Michael Martinek/Jürgen Schmidt/ Elmar Wadle (Hrsg.), Festschrift für Günther Jahr zum 70. Geburtstag, S. 199 (213 ff.). 663 Vgl. zu diesem Begriff aus dem deutschen Recht Pieroth/Schlink, Grundrechte – Staatsrecht II, Rn. 91. 664 Für diese plädiert auch M. Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV/GRCKommentar, Art. 13 GRC Rn. 12. 665 2. Absatz der Präambel der GRC. 666 M. Borowsky, in: Meyer, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 1 Rn. 27.
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Ausübung wissenschaftlicher Tätigkeit zu berücksichtigen sein soll.667 Eine wissenschaftliche Erkenntnissuche deren Zielsetzung bereits das Menschenwürdeprinzip tangierte, wäre somit nicht von Art. 13 GRC geschützt. Diese Auffassung wird auch durch die Erläuterungen des Präsidiums zu Art. 1 unterstützt, wonach „keines der in dieser Charta festgelegten Rechte dazu verwendet werden darf, die Würde eines anderen Menschen zu verletzen,“668 also bereits die Ausübung jeglicher grundrechtlich geschützter Tätigkeit und damit die Berufung auf jene Grundrechte an Art. 1 GRC scheitern würde. Man könnte diese Ausführungen unter Heranziehung der deutschen Rechtsprechung und Dogmatik des Bundesverfassungsgerichts deuten und würde möglicherweise eher eine Schrankenregelung als Auslegungsergebnis erhalten. Die Übertragung der deutschen Menschenwürdekonzeption auf die europäische Grundrechtecharta ist aber eher nicht zu erwarten,669 angesichts der bereits heftigen Diskussionen im Grundrechtekonvent zur Implementierung des Art. 1 GRC.670 Auch die Rechtsprechung des EuGH ergibt, obwohl dieser die Menschenwürde als allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts anerkannte,671 keinen Hinweis darauf, wie sie im europäischen Grundrechtssystem wirken soll. Bis sich die europäischen Gerichte mit der Menschenwürde, wie sie in der GRC verbindlich normiert ist, befasst haben, dürfte es angesichts der klaren Anordnung in Art. 52 Abs. 7 GRC, die Erläuterungen des Präsidiums gebührend bei der Auslegung zu berücksichtigen, zulässig sein, die Menschenwürde bereits als Begrenzung des Gewährleistungsgehalts der Wissenschaftsfreiheit anzusehen, wie es die Zusammenschau der Erläuterungen zu Art. 1 und 13 GRC ergibt. Letztlich dürfte diese Diskussion auch regelmäßig dahinstehen, da die Menschenwürde nach allgemeiner Auffassung auch im europäischen Grundrechtssystem nicht den Einschränkungsmöglichkeiten des Art. 52 Abs. 1 GRC unterliegt und daher 667 In diesem Sinne auch M. Borowsky, in: ibid., Art. 1 Rn. 29; Jarass, EUGrundrechte, S. 116 f; G. Demuro, in: Mock, Human Rights in Europe Commentary, Art. 13 Rn. 4. Den Verweis auf die Menschenwürde als Grundrechtsschranke begreifend M. Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV/GRC-Kommentar, Art. 13 GRC Rn. 11; unentschlossen B. Kempen, in: Tettinger/Stern, Europäische Grundrechte-Charta, Art. 13 vor Rn. 1. 668 ABl. 2004 C 310/425. 669 S. Rixen, in: Heselhaus/Nowak, Handbuch der europäischen Grundrechte, § 9 Rn. 5; W. Höfling, in: Tettinger/Stern, Europäische Grundrechte-Charta, Art. 1 Rn. 11. Dagegen will M. Borowsky, in: Meyer, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 1 Rn. 26 die Rechtsprechung und Dogmatik des BVerfG „zumindest informatorisch“ heranziehen, vor allem weil die Bestimmung des Art. 1 GG als Vorbild und Modell für Art. 1 GRC diente. 670 Eine umfangreiche Darstellung der Diskussion findet sich bei M. Borowsky, in: Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 1 Rn. 6 ff. 671 EuGH Niederlande/EP und Rat Rs. C-377/98, Rn. 69 ff. und Omega, Rs. C-36/02, Rn. 34.
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unabwägbar oder abwägungsresistent ist.672 Somit sind Handlungen in jedem Fall ein Verstoß gegen die GRC, wenn sie die Menschenwürde verletzen, auch wenn dabei der Anwendungsbereich der Wissenschaftsfreiheit eröffnet sein sollte. Dennoch kann als Ergebnis festgehalten werden, dass die Menschenwürde als normiertes ethisches Prinzip bereits den Gewährleistungsgehalt der Wissenschaftsfreiheit begrenzt, da dieses die GRC als obersten Wert beherrscht und somit die Gesamtausrichtung der Charta darstellt. (2) Die Vorgaben des Art. 3 Abs. 2 GRC zur Begrenzung der Wissenschaftsfreiheit Entsprechend dem soeben gefundenen Ergebnis zur generellen Begrenzung der Wissenschaftsfreiheit sollen auch die in Art. 3 Abs. 2 GRC normierten, speziellen Begrenzungen der Wissenschaftsfreiheit gedeutet werden, die insbesondere in dessen Buchstaben b) und d) enthalten sind. Dieser Absatz erscheint manchem Autor immer noch als Fremdkörper, sollte aber nach den Vertretern des Grundrechtekonvents verdeutlichen, dass man den wichtigen Bereich der Bioethik bei der Ausarbeitung der Charta berücksichtigt habe.673 Das Problem, wie diese Vorgaben dogmatisch zu qualifizieren sind, konnte man dort jedoch nicht lösen. Die Meinungen darüber, welche Wirkungen der Art. 3 Abs. 2 GRC entfaltet, gehen dementsprechend auseinander. Während Borowsky entsprechend den Erläuterungen des Präsidiums674 diese Vorgaben sowohl für Grundsätze im Sinne von Art. 52 Abs. 5 GRC, als auch für „Begrenzungen“ der Wissenschaftsfreiheit hält,675 sieht Rixen in ihnen spezifische Schrankenregelungen.676 Höfling untersucht die verschiedenen Buchstaben einzeln und kommt zu jeweils verschiedenen Funktionen.677 Bei der Qualifizierung des Art. 3 Abs. 2 muss jedoch zunächst der Titel beachtet werden, unter dem diese Normen behandelt werden. Der erste Titel 672 M. Borowsky, in: Meyer, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 1 Rn. 40; W. Höfling, in: Tettinger/Stern, Europäische Grundrechte-Charta, Art. 1 Rn. 31 f; S. Rixen, in: Heselhaus/Nowak, Handbuch der europäischen Grundrechte, § 9 Rn. 22; Jarass, EU-Grundrechte, § 8 Rn. 11. 673 M. Borowsky, in: Meyer, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 3 Rn. 17. 674 ABl. 2004 C 310/427: „2. Die Grundsätze des Artikels 3 der Charta . . .“. 675 M. Borowsky, in: Meyer, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 3 Rn. 40. 676 S. Rixen, in: Heselhaus/Nowak, Handbuch der europäischen Grundrechte, § 11 Rn. 30. 677 W. Höfling, in: Tettinger/Stern, Europäische Grundrechte-Charta, Art. 3 Rn. 16 ff.
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ist mit der Überschrift „Würde des Menschen“ versehen, soll also insgesamt die Menschenwürde in die GRC einführen und deren Ausprägungen darstellen. Die Artikel 4 und 5 stellen dementsprechend bereits Verbote dar, die die deutsche Grundrechtslehre dem Menschenwürdegrundsatz entnahm.678 Als „unteilbarer und universeller“ Wert, der nach der Präambel das Fundament der GRC sein soll, strahlt die Menschenwürde auch auf alle anderen Grundrechte aus und liegt diesen als Fundament zu Grunde,679 wodurch auch den meisten Chartagrundrechten ein Menschenwürdekern immanent ist.680 Zudem lässt sich den Erläuterungen des Präsidiums entnehmen, dass mit Art. 3 Abs. 2 GRC die Vorgaben des Übereinkommens des Europarats über Menschenrechte und Biomedizin681 übernommen werden sollten, deren vorgegebenes Ziel nach Art. 1 der Konvention es ist, „die Würde und die Identität aller menschlichen Lebewesen“ zu schützen. Sie repräsentieren demnach diejenigen Elemente des Lebensschutzes, die den Menschenwürdekern betreffen und geben diese für die Interpretation des Art. 3 Abs. 1 vor, auch wenn die Aufzählung nicht abschließend ist, was das Wort „insbesondere“ verdeutlicht. Sämtliche Aspekte des Art. 3 Abs. 2 GRC sollen verhindern, dass bei Eingriffen in das Schutzgut der körperlichen und geistigen Unversehrtheit der Mensch, seine Bestandteile oder seine genetischen Informationen zum Objekt des Staates oder Dritter gemacht werden und konkretisieren mithin das, was Art. 1 bereits vorgibt. Es sind somit normierte und damit autoritative Interpretationen des Art. 1 GRC im Gewährleistungsgehalt des Art. 3, wodurch sich absolute Verbote der Einschränkung ergeben. Das Gebot und die drei Verbote des Art. 3 Abs. 2 GRC sind daher als Konkretisierungen der Menschenwürde zu deuten, die bereits bei der Ausübung von grundrechtlichen Freiheiten zu beachten sind und deren Gewährleistungsgehalt verkürzen. Sie sind demnach aber auch keine zusätzlichen ethischen Prinzipien, die die Wissenschaftsfreiheit des Art. 13 GRC bereits tatbestandlich einschränken könnten, sondern der im vorangegangenen Abschnitt aufgezeigten Verkürzung durch die Menschenwürde zuzuordnen. Damit bleibt es zunächst bei dem Befund, dass nur das normierte, ethische 678
Vgl. H. Dreier, in: Dreier, Grundgesetz Kommentar, Art. 1 Rn. 132 m. w. N. Vgl. die Erläuterungen des Präsidiums zu Art. 1, ABl. 2004 C 310/425 und C. Calliess, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV/GRC-Kommentar, Art. 1 GRC Rn. 12; M. Borowsky, in: Meyer, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 1 Rn. 28. 680 W. Höfling, in: Tettinger/Stern, Europäische Grundrechte-Charta, Art. 1 Rn. 18. 681 Übereinkommen zum Schutz der Menschenrechte und der Menschenwürde im Hinblick auf die Anwendung von Biologie und Medizin: Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin SEV Nr. 164. 679
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Prinzip der Menschenwürde in der Lage ist, den Gewährleistungsgehalt der europäischen Wissenschaftsfreiheit zu verkürzen. (3) Die ethischen Prinzipien nach der Charta für Forscher als Verkürzung der Wissenschaftsfreiheit? Nach der von der Kommission veröffentlichten Charta für Forscher sollen diese bei ihrer Arbeit Gedanken- und Meinungsfreiheit genießen, wenn sie „in Übereinstimmung mit anerkannten ethischen Grundsätzen“ ihrer Arbeit nachgehen.682 Zwei mögliche Schlussfolgerungen können dieser Formulierung entnommen werden: Dass die Wissenschaftsfreiheit zum einen nur ein Destillat zweier höherrangiger Grundrechte der Gedanken- und Meinungsfreiheit sein soll, zum anderen diese sekundäre Freiheit unter dem Vorbehalt der Erfüllung ethischer Prinzipien steht. Inwieweit letztere Interpretation der Wissenschaftsfreiheit zulässig ist und welche einschränkungsfähigen ethischen Grundprinzipien neben der Menschenwürde gemeint sein könnten, soll im Folgenden untersucht werden. Zunächst ist klarzustellen, dass aus der Charta für Forscher selbst eine Neubestimmung des Gewährleistungsgehalts kaum möglich ist, wäre es doch mit der Kommission ein nach Art. 51 Abs. 1 GRC grundrechtsgebundenes Organ, das den Gewährleistungsgehalt bestimmen würde. Dies würde den Grundrechtsschutz in Europa in das Belieben der Grundrechtsverpflichteten legen. Die Frage ist vielmehr, ob die Kommission bei der Abfassung der Charta ein vorgefundenes Grundrechtsverständnis lediglich beschrieben hat, oder ob sie damit einer gewünschten Vorstellung Ausdruck verliehen hat. Die Charta benennt zweierlei ethische Grundsätze, die durch die Forscher einzuhalten sein sollen: sowohl abstrakt die „ethischen Grundprinzipien ihres (ihrer) jeweiligen Fachbereichs (Fachbereiche)“, als auch jene „ethische[n] Normen, wie sie in den verschiedenen einzelstaatlichen, sektorspezifischen oder institutionellen Ethikkodizes niedergelegt sind.“683 Erstere Prinzipien sind für diesen Abschnitt die interessierenden, letztere sind insbesondere für die vorliegende Gesamtarbeit interessant, verdeutlichen diese Ausführungen doch, dass eine explizite Forderung der Kommission nach Ethikkodizes besteht, um den Forschern Handlungsanleitungen an die Hand zu geben. Schwieriger als jene dynamische Verweisung auf unverbindliche Steuerungsinstrumente beliebiger Art ist an dieser Stelle jedoch eine Konkretisierung der erstgenannten ethischen Grundprinzipien. Eine weitere Aus682 683
ABl. 2005 L 75/70. Ibid.
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führung dieser ethischen Grundsätze erfolgt nicht. Insofern muss davon ausgegangen werden, dass damit die allgemeinen ethischen Fragen der Wissenschaft gemeint sein sollen, die in Kapitel 3 dieser Arbeit bereits behandelt wurden.684 Die beiden bereits identifizierten Ausprägungen der Wissenschaftsethik waren das Ethos epistemischer Rationalität685 und das Ethos wissenschaftlicher Verantwortung.686 Auf eine dritte Kategorie von zu erwartenden ethischen Prinzipien, wie die Menschenwürdeverpflichtung, wird nicht eingegangen, was mit dem Hinweis in der Einleitung des ersten Abschnitts zu erklären ist, dass alle Adressaten der Charta die Grundrechte und Grundsätze der GRC zu beachten haben, womit das ethische Prinzip der Menschenwürde bereits in die Charta inkorporiert ist. Die hier interessierende Frage ist aber, ob jene ethischen Grundsätze der internen und externen Verantwortung von Forschern Bedingungen der Grundrechtsträgerschaft sein sollen und können. Die interne Verantwortung der Wissenschaft wird durch das Ethos epistemischer Rationalität beschrieben, ein Ethos das sicherstellen soll, dass die Funktionalität der Wissenschaft durch bestimmte Verhaltensweisen optimiert wird. Die Grundrechtsträgerschaft durch dessen Einhaltung zu bedingen, entspräche dem bereits für das deutsche Recht vorgeschlagenen Ansatz der funktionalen Schutzbereichsbestimmung.687 Dieser wurde für das deutsche Recht abgelehnt, da er einerseits zu Problemen führen würde angesichts der objektiv-rechtlichen Dimension des deutschen Grundrechts. Andererseits wies der Ansatz eine zu starke Zweckorientierung bezüglich einer funktionalen Wissenschaft auf und wurde damit dem Wert der Wissenschaftsfreiheit im Verfassungsgefüge des Grundgesetzes nicht gerecht.688 Eine objektive-rechtliche Dimension konnte für Art. 13 GRC nicht in gleichem Maße festgestellt werden, wodurch auch eine parallel gelagerte Argumentation entfällt. Des Weiteren ist aber auch fraglich, ob die GRC ebenso wie das deutsche Grundgesetz eine Normierung ethischer Prinzipien darstellt, die eine Inpflichtnahme der Wissenschaft zugunsten einer funktionalen Optimierung ausschließen würde. Der Begriff des Kulturverfassungsstaates lässt sich nicht ohne weiteres auf die Union übertragen, deren ursprüngliche Motivation eine Wirtschaftsgemeinschaft zum Abbau von Binnengrenzen war, die also an einer funktionalen, produktiven Wissenschaft interessiert wäre. Auch in der neuen Union nach dem Lissabonvertrag ist es nach Art. 3 Abs. 3 S. 3 EUV deren Ziel, den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt zu fördern. Inso684 685 686 687 688
Siehe oben S. 42 ff. Oben S. 43 ff. Oben, S. 49 ff. Siehe oben, S. 99 ff. Ibid.
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fern wäre eine Wissenschaftsfreiheit, die sich an der Funktionalität ihres Lebensbereichs orientiert und mithin nur diejenigen Forscher umfassend schützt, die das Ethos epistemischer Rationalität einhalten, auch im Sinne dieses Ziels. Auch der nach Art. 179 Abs. 1 AEUV angestrebte „Europäische Raum der Forschung“ würde von einer Wissenschaft der epistemischen Redlichkeit profitieren, wenn dadurch die internationale Wettbewerbsfähigkeit im Bereich der Wissenschaft gestärkt würde, wie es die Kommission als Ziel der Union bereits ausgab.689 Schließlich enthält das erste Urteil, das sich mit den Grundrechten der Charta als Bestandteil des Primärrechts auseinandersetzen muss, den diskussionswürdigen Hinweis: „Das Recht auf Schutz der personenbezogenen Daten kann jedoch keine uneingeschränkte Geltung beanspruchen, sondern muss im Hinblick auf seine gesellschaftliche Funktion gesehen werden.“690 Eine funktionale Bestimmung der Wissenschaftsfreiheit scheint insofern naheliegend. Diesen Argumenten lassen sich aber gewichtige Einwände entgegenstellen. Die Union orientiert sich in ihren Verträgen am Gemeinwohl der Mitgliedsstaaten und an der Entwicklung des gemeinsamen Marktes, nicht aber die hier in Frage stehende Grundrechtecharta. Diese stellt laut ihrer Präambel „den Menschen in den Mittelpunkt ihres Handelns“,691 was sich auch an dem auf das Individuum bezogenen, obersten Prinzip der Menschenwürde ablesen lässt. Mit einem solchen Verständnis wäre auch im Bereich der Wissenschaft die Formel „Statt Freiheit von Freiheit zu“ unvereinbar, wenn also der Wissenschaft nur um ihrer Funktionalität für die Gemeinschaft willens die Freiheit zugestanden würde. Dies würde auch im europäischen Grundrechtesystem eine Umwandlung von Freiheiten in Pflichten bedeuten.692 Es ist diesem jedoch gerade der Gedanke immanent, dass Freiheiten gewährleistet, und nicht gewährt werden.693 Gerade auch die Orientierung an der Gedankenfreiheit verdeutlicht, dass es bei der Formulierung der Wissenschaftsfreiheit in der Grundrechtecharta nicht nur um die bestmögliche Schöpfung von Wissen geht. Es geht auch um eine Freiheit sich selbst zu verwirklichen, indem der Einzelne sein Wissen ohne vorgelagerte Beschränkungen in Freiheit erweitern kann. Diese Ausprägung der libertas philosophandi spricht vehement gegen eine funktionale Instrumentalisierung der 689 So geschehen in der Mitteilung der Kommission KOM (2000) 6 endg. „Hin zu einem Europäischen Forschungsraum“. 690 EuGH Große Kammer, Urteil vom 9.11.2010, Rs. C-92/09 und 93/09, Rn. 48; die Formulierung wurde dem früheren Urteil EuGH Schmidberger, Rs. C-112/00 Rn. 80 entnommen. 691 Präambel GRC Absatz 2 Satz 3. 692 Vgl. die Argumentation auf S. 103. 693 P. Szczekalla, in: Heselhaus/Nowak, Handbuch der europäischen Grundrechte, § 5 Rn. 2.
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Wissenschaftsfreiheit bereits im Bereich des Gewährleistungsgehalts. Doch auch wenn man die Funktionalität der europäischen Wissenschaft als immanentes Element beibehalten will, lässt sich der Satz des Bundesverfassungsgerichts anführen, dass „gerade eine von gesellschaftlichen Nützlichkeitsund politischen Zweckmäßigkeitsvorstellungen befreite Wissenschaft dem Staat und der Gesellschaft im Ergebnis am bestem dient.“694 Die Ausführungen des EuGH zur gesellschaftlichen Funktion der Grundrechte sollten insofern zunächst nicht überinterpretiert werden. Es bleibt zu hoffen, dass dies der mangelnden Erfahrung des Gerichts in Grundrechtsangelegenheiten geschuldet ist. Daher ist auch für die europäische Wissenschaftsfreiheit zunächst festzustellen, dass die ethischen Prinzipien epistemischer Rationalität nicht zur Bedingung der Freiheitsausübung gemacht werden können. Im Anschluss daran knüpft aber die Frage an, ob ein Ethos wissenschaftlicher Verantwortung gleichsam Bedingung sein kann. Diese These ließe sich zunächst relativ einfach widerlegen, mit dem Hinweis auf das ethische Prinzip der Menschenwürde. Mit dem Art. 1 GRC hat das Grundrechtekonvent eine Norm geschaffen, die den obersten Wert der Union darstellen soll, also ein ethisches Prinzip in die Charta inkorporiert, das jeglicher Grundrechtsausübung zu Grunde liegen soll. Der Umkehrschluss aus dieser Konstellation müsste demnach lauten, dass nur ein derart verankertes, in der GRC bereits normiertes ethisches Prinzip in der Lage sein kann, die Wissenschaft bereits in ihrem Gewährleistungsgehalt zu begrenzen. Dies entspräche dem Ausnahmecharakter von derartigen Gewährleistungsbegrenzungen und würde auch das Menschenwürdeprinzip in seiner Dominanzstellung betonen. Zudem würde es auch der Systematik der GRC entsprechen, die nach Art. 52 Abs. 1 nur solche Einschränkungen von Rechten und Freiheiten zulässt, die gesetzlich vorgesehen sind. Ein Hinweis innerhalb der GRC auf eine freiheitsimmanente Verantwortungsethik könnte diesen Befund jedoch in Frage stellen: Laut Absatz 6 der Präambel der Grundrechtecharta ist die Ausübung der Chartarechte „mit Verantwortung und mit Pflichten sowohl gegenüber den Mitmenschen als auch gegenüber der menschlichen Gemeinschaft und den künftigen Generationen verbunden.“ Diese Aufforderung spricht ihrem Wortlaut nach dafür, ein Ethos wissenschaftlicher Verantwortung bereits zur Bedingung der Freiheitsausübung zu machen und damit die Wahrnehmung der Wissenschaftsfreiheit unter den Vorbehalt einer Verantwortlichkeit zu stellen. Dies entspricht auch der von der Charta für Forscher aufgestellten Rechenschaftspflicht, die die Forscher „[. . .] – aus eher ethischen Gründen- gegenüber der Gesellschaft als ganze“695 haben, und die im Verhaltenskodex für NuN-For694 695
BVerfGE 47, 327 (370). ABl. 2005 L 75/71.
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schung noch einmal wiederholt wird.696 Der Hinweis, die „Ausübung“ der Rechte sei mit „Verantwortlichkeiten“ gegenüber den Mitmenschen und der menschlichen Gemeinschaften verbunden, könnte demnach für die europäische Grundrechtsdogmatik bedeuten, dass nach dem Willen des Grundrechtekonvents die Inanspruchnahme von Freiheit nur unter der Bedingung einer ethischen Verpflichtung zur Folgenanalyse erfolgen kann, der Grundrechtsschutz mithin unter einer Verantwortungsbedingung steht.697 Die Rolle der Präambel der GRC entspricht derjenigen anderer Verfassungs- und Vertragstexte. Sie soll Auslegungshilfe für den nachfolgenden Text sein,698 um die Ziele und Zwecke herauszustellen, an denen sich dieser orientiert. Sie sind auch nach Art. 31 Abs. 2 der Wiener Vertragsrechtskonvention für die Auslegung von völkerrechtlichen Verträgen heranzuziehen,699 und auch das Bundesverfassungsgericht hat sich zur Auslegung von Grundgesetzbestimmungen der Präambel bedient.700 Zu diesem Zweck benennt die Präambel jene Grundlagen und Motive, auf denen der nachfolgende Text aufbaut,701 und entwickelt die fundamentalen Prinzipien die den „übergeordneten Sinnzusammenhang“ des Gesamtwerks verdeutlichen sollen.702 Die Präambel könnte also bei der Auslegung der Wissenschaftsfreiheit der Grundrechtecharta zu einem Ergebnis im Sinne der Charta für Forscher führen. Demgegenüber steht aber bei einer grammatikalischen Auslegung703 zunächst der klare Wortlaut des Art. 13 GRC, wonach Forschung „frei“ ist. Dies spricht also zunächst einmal für eine unbegrenzte Gewähr696
ABl. 2008 L 116/50, Punkt 3.7. In diese Richtung auch J. Meyer, in: Meyer, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Präambel Rn. 49 f. 698 J. Meyer, in: ibid., Präambel Rn. 6; C. Christian Busse, Eine kritische Würdigung der Präambel der Europäischen Grundrechtecharta, Europäische GrundrechteZeitschrift 2001, 559 (564). 699 Wobei die GRC mit diesem Hinweis nicht als völkerrechtlicher Vertrag qualifiziert werden soll, zu dieser Streitfrage instruktiv Rudolf Streinz, Europarecht, S. 46 ff. 700 Bspw. BVerfGE 83, 37 (51); 94, 12 (36). 701 Zur heftigen Diskussion um den religiösen Bezug in Absatz 2 der GRC-Präambel vgl. H. Schambeck, in: Tettinger/Stern, Europäische Grundrechte-Charta, Präambel B Rn. 1 ff. 702 J. Meyer, in: Meyer, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Präambel Rn. 6. 703 Die Auslegungsmethoden des Unionsrechts unterscheiden sich auch in der Rechtsprechung des EuGH nicht von denen des deutschen Rechts, wohl aber in ihrer Gewichtung. Ein eindeutiger Vorrang ist nur schwer auszumachen, es überwiegt aber wohl die teleologische Auslegung. An dieser Stelle sollen daher alle Methoden herangezogen werden, vgl. dazu M. Pechstein/C. Drechsler, § 8 Die Auslegung und Fortbildung des Primärrechts, in: Karl Riesenhuber (Hrsg.) Europäische Methodenlehre – Handbuch für Ausbildung und Praxis, S. 164 ff. 697
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leistung der Wissenschaftsfreiheit, soweit es um deren Kernelemente der Erkenntnissuche und der wissenschaftlichen Kommunikation geht. Insbesondere im Vergleich zu den anderen Grundrechten in der GRC erscheint der Wortlaut der Norm eine besonders weitgehende Freiheit verdeutlichen zu wollen. Auch die systematische Auslegung innerhalb der GRC spricht dafür, die Freiheiten zunächst unbegrenzt zu gewährleisten, um sie erst durch Art. 52 Abs. 1 GRC einschränken zu können. Normimmanente Begrenzungen werden bei den anderen Grundrechten bereits innerhalb der Grundrechtsnorm bezeichnet,704 wodurch systematische und grammatikalische Auslegung im Zusammenspiel zu einem Ergebnis einer zunächst unbegrenzten Freiheit führen. Erst die teleologische Auslegung könnte durch Verweis auf die Präambelziele und -zwecke eine ethische Begrenzung ergeben. Jene Auslegung nach Sinn und Zweck der Norm kann aber auch ein entgegenstehendes Ergebnis begründen, nämlich dann, wenn man eine systematische Komponente hinzuzieht. Die gesamte Charta ist der Menschenwürde untergeordnet und soll in deren Licht interpretiert werden. Daraus abgeleitet wurden in Art. 3 Abs. 2 GRC Konkretisierungen der Menschenwürde als tatbestandliche Begrenzungen der Wissenschaftsfreiheit normiert. Die Normierung solcher Begrenzungen wäre, wenn es anderweitige Möglichkeiten nach Sinn und Zweck der Charta gäbe, die Wissenschaftsfreiheit durch ethische Prinzipien zu begrenzen, nur noch deklaratorisch und nicht mehr normativ. Die Begrenzungen des Art. 3 Abs. 2 GRC in Verbindung mit dem Menschenwürdeprinzip des Art. 1 GRC sprechen also gerade für eine gegensätzliche Perspektive, also für eine weite Auslegung der Wissenschaftsfreiheit, die erst bei der Menschenwürde und insbesondere in den normierten Fällen ihre Grenze findet.705 Der Absatz 6 der Präambel kann zudem auch dahingehend verstanden werden, dass er nur die Einschränkbarkeit der Grundrechte formuliert, die in Art. 51 f. dezidiert aufgegriffen wird,706 und überdies lediglich eine Signalwirkung in Richtung einer mittelbaren Drittwirkung liefern soll.707 Daher kann in der Gesamtschau der Auslegung des Art. 13 GRC kein ethisches Prinzip begründet werden, das den Gewährleistungsgehalt der Wissenschaftsfreiheit begrenzen könnte. Dies bleibt damit alleine dem 704
Vgl. Art. 12 und dessen Voraussetzung sich friedlich zu versammeln oder Art. 17, der die Rechtmäßigkeit des Eigentumserwerbs voraussetzt. 705 Ähnlich auch B. Kempen, in: Tettinger/Stern, Europäische GrundrechteCharta, Art. 13 Rn. 15. 706 K. Stern/P. Tettinger, in: ibid., Präambel A Rn. 47. 707 C. Busse, Eine kritische Würdigung der Präambel der Europäischen Grundrechtecharta, in: EuGRZ 28 (2001), 559 (571); J. Meyer, in: Meyer, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Präambel Rn. 50; K. Stern/P. Tettinger, in: Tettinger/Stern, Europäische Grundrechte-Charta, Präambel A Rn. 47.
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obersten Wert der GRC vorbehalten, dem ethischen Prinzip der Menschenwürde aus Art. 1 GRC. Der Gedanke der Präambel muss aber jedenfalls wieder aufgegriffen werden, wenn es um die Kollision von Grundrechtsgütern bei der Einschränkbarkeit des Art. 13 GRC geht. Die Ausführungen der Kommission in der Charta für Forscher sind jedoch nur als erwünschte Vorstellungen von einer ethikgeleiteten Wissenschaft zu verstehen, nicht aber als zulässige Interpretation der Grundrechtecharta, die eine Begrenzung des Gewährleistungsgehalts des Art. 13 GRC erfordern würde. cc) Die Schranken der Wissenschaftsfreiheit Die Einschränkbarkeit der Wissenschaftsfreiheit soll nach der hier interessierenden Fragestellung zunächst auf die tatsächlich anzuwendende Schranke untersucht werden (1), anschließend aber auch auf das erforderliche Maß einer Grundrechtsbeeinträchtigung (2). Die Qualität des Gesetzesvorbehalts mit Blick auf unverbindliche Handlungsformen (3) und die Qualität der Verhältnismäßigkeitsprüfung (4) mit Blick auf die SchrankenSchranken sollen des Weiteren analysiert werden, um die Voraussetzungen der Einschränkung von Grundrechten im europäischen Rechtsregime erfassen zu können. (1) Die Schranke der Wissenschaftsfreiheit nach der Grundrechtecharta Entgegen der deutschen Grundrechtskonzeption und derjenigen der EMRK hat man sich bei Abfassung der GRC auf eine Systematik geeinigt, die zunächst einmal die Freiheiten postuliert und sie dann dem generellen Schrankentatbestand des Art. 52 GRC unterwirft. Damit entschied man sich gegen eine grundrechtsspezifische Schrankenregelung und für eine horizontale Bestimmung zur Regelung der Tragweite und Auslegung der Rechte und Grundsätze der Charta.708 Allgemein gilt daher zunächst, dass alle Rechte und Freiheiten prima facie dem Einschränkungstatbestand des Art. 52 Abs. 1 GRC unterfallen. Für das Grundrecht des Art. 13 GRC könnte jedoch Art. 52 Abs. 3 GRC ebenso einschlägig sein, der den Gleichlauf der Chartagrundrechte mit denjenigen der EMRK garantieren soll und insoweit eine Transferklausel darstellt.709 Vor allem auch die Erläuterungen 708
T. v. Danwitz, in: Europäische Grundrechte-Charta, Art. 52 Rn. 1. Vgl. auch die Ausführungen bei Borowsky, in: Meyer, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 52 Rn. 2 ff. 709 So die einhellige Terminologie in der Literatur, vgl. T. v. Danwitz, in: Tettinger/Stern, Europäische Grundrechte-Charta, Art. 52 Rn. 4; Borowsky, in: Meyer, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 52 Rn. 14a.
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des Präsidiums, das die Wissenschaftsfreiheit „den durch Art. 10 EMRK gestatteten Einschränkungen“ unterwerfen will,710 werfen die Frage auf, welche Maßstäbe heranzuziehen sind, um dieser Freiheit Grenzen setzen zu können. Auf den ersten Blick scheint die Sache klar: Die Wissenschaftsfreiheit des Art. 13 GRC findet ihre Entsprechung in der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 10 EMRK711 und muss deshalb deren Schranken unterworfen werden, worauf auch die Erläuterungen des Präsidiums zu Art. 13 GRC hinweisen. Erst ein zweiter Blick kann zu Zweifeln an diesem Befund führen. So wird in den Erläuterungen des Präsidiums zu Art. 52 Abs. 3 GRC, in denen eine Auflistung der korrespondierenden Rechte von GRC und EMRK erfolgt, und damit auch derjenigen Rechte, die „einschließlich der zugelassenen Einschränkungen“ gleich behandelt werden sollen,712 Art. 13 GRC gerade nicht erwähnt.713 Diese Tatsache ermöglicht zwei Interpretationen: Entweder war sich das Präsidium tatsächlich der Tatsache bewusst, dass es im Vergleich zur Wissenschaftsfreiheit der EMRK ein sehr viel umfassenderes Grundrecht postulierte, so dass weder Bedeutung noch Tragweite vergleichbar sein könnten, oder die Liste sollte in formeller Sicht nur tatsächlich formulierte Rechte der EMRK enthalten, die nicht lediglich Schöpfungen des Gerichtshofs sind,714 und dabei abschließend sein. In beiden Fällen ist Art. 52 Abs. 3 GRC nicht anwendbar, was den expliziten Verweis des Präsidiums auf die Schranke des Art. 10 Abs. 2 EMRK erklärt. Die bisherigen Ausführungen sprechen zwar für die erste Interpretation, beide gleichen sich jedoch im Ergebnis, der Nichtanwendbarkeit von Art. 52 Abs. 3 GRC. Damit stellt sich aber die Frage, wie die Konstruktion zu handhaben ist, dass zum einen zwar Art. 52 Abs. 1 GRC als Schrankenregelung anzuwenden sein soll, zum anderen aber auch die Einschränkungsmöglichkeiten des Art. 10 Abs. 2 EMRK maßgeblich sein sollen. Diese Frage betrifft das Verhältnis zwischen GRC und EMRK im Allgemeinen, wie also die Bestimmungen der EMRK in die GRC inkorporiert werden sollen. Im Speziellen lässt sich daraus die Frage ableiten, ob die Schranken der EMRK unmittelbar zur Anwendung kommen sollen, wenn Art. 52 Abs. 3 GRC einschlägig ist und damit im Spezialitätsverhältnis Art. 52 Abs. 1 GRC verdrängt werden kann. In der Literatur finden sich zahlreiche Befürworter einer solchen Lösung,715 zumal die Rechtsprechung 710
ABl. 2004 C 310/434. Vgl. S. 191 ff. 712 ABl. 2004 C 310/456. 713 Vgl. die Liste der Rechte mit der gleichen Bedeutung und Tragweite, sowie der Rechte, die nur dieselbe Bedeutung, aber eine umfassendere Tragweite haben, in: ABl. 2004 C 310/456 ff. 714 So M. Borowsky, in: Meyer, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 52 Rn. 31a. 711
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diese Frage noch nicht klären konnte. Dem kann aber mit guten Gründen entgegengetreten werden. Obwohl das Ziel, die Kohärenz der europäischen Grundrechtsordnungen sicherzustellen, stets im Blick behalten werden muss, darf dieses jedoch nicht dazu führen, dass sich bei der Grundrechtsprüfung vor den europäischen Gerichten verschiedene Maßstäbe entwickeln, vor allem was die Auslegung der Begriffe der Verhältnismäßigkeit, des Gesetzesvorbehalts und der Wesensgehaltsgarantie betrifft. Ziel der Grundrechtecharta war es, den Schutz der Grundrechte zu stärken, indem sie dort sichtbarer gemacht werden.716 Diesem Ziel würde es widersprechen, würden außerhalb der Charta liegende Bestimmungen den Grundrechtsschutz der Charta prägen. Der Wortlaut des Art. 52 Abs. 3 GRC spricht dafür, bei der Auslegung der Grundrechte und der Grundrechtsschranke die EMRK im Sinne einer Rechtserkenntnisquelle heranzuziehen. Die Formulierung der „Bedeutung und Tragweite“ in Art. 52 Abs. 3 GRC ist eindeutig von der im vorhergehenden Absatz benutzten Formulierung abzugrenzen, wonach die Ausübung der Rechte der Charta innerhalb der „Bedingungen und Grenzen“ der Vertragsrechte erfolgen muss, also eine tatsächliche unmittelbare Anwendbarkeit gefordert ist. Im Umkehrschluss muss dies bedeuten, dass die EMRK-Rechte tatsächlich nur Auslegungskriterien darstellen sollen.717 Allgemein muss aber die horizontale Schrankenbestimmung des Art. 52 Abs. 1 GRC für alle Grundrechte der Charta gelten.718 Als weiteres Argument für diese Ansicht können auch die Erläuterungen des Präsidiums des Grundrechtekonvents herangezogen werden. In den Erläuterungen zu Art. 6 GRC wird festgestellt, dass die dort aufgeführten Rechte denen des Art. 5 EMRK in Bedeutung und Tragweite gleichkommen, die legitimen Einschränkungen dürften daher nicht über diejenigen Einschränkungen hinausgehen, die in diesem Artikel der EMRK als zulässig 715 J. Kokott, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, § 22 Rn. 11; M. Borowsky, in: Meyer, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 52 Rn. 31a; P. Szczekalla, in: Heselhaus/Nowak, Handbuch der europäischen Grundrechte, § 7 Rn. 82; Bardo Faßbender, Der einheitliche Gesetzesvorbehalt der EU-Grundrechtecharta und seine Bedeutung für die deutsche Rechtsordnung, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht 2010, 1049 (1051 f.); Jörg Pietsch, Das Schrankenregime der EU-Grundrechtecharta – Dogmatik und Bewertung auf der Grundlage einer Prinzipientheorie der Rechte, S. 124 ff. 716 Absatz 4 der Präambel der GRC. 717 T. Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV/GRC-Kommentar, Art. 52 GRC Rn. 38. 718 So auch T. von Danwitz, in: Tettinger/Stern, Europäische GrundrechteCharta, Art. 52 Rn. 30; T. Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV/GRC-Kommentar, Art. 52 GRC Rn. 38; Jarass, EU-Grundrechte, S. 75 f. In diese Richtung wohl auch B. Beutler, in: von der Groeben/Schwarze, EU/EG.Kommentar, Art. 6 EUV Rn. 119.
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postuliert werden.719 Diese Formulierung zeigt, dass allgemein Art. 52 Abs. 1 GRC trotz der Einschlägigkeit von Art. 52 Abs. 3 GRC anwendbar ist, jedoch im Sinne der EMRK-Norm auszulegen ist. Ein Spezialitätsverhältnis lässt sich dem aber gerade nicht entnehmen. Letzterer Ansatz ist daher insgesamt abzulehnen. Mit dieser Lösung kann aber auch ein integrativer Ansatz verbunden werden, der die tatsächlichen, augenscheinlichen Unterschiede zwischen den spezifischen Schrankenregelungen der EMRK und der allgemeinen Schranke der GRC so weit wie möglich überbrücken kann und zwar die Formulierung der zulässigen Eingriffsziele. Während Art. 52 Abs. 1 GRC allgemein von „den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen und den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer“ spricht, ist in Art. 10 Abs. 2 EMRK eine explizite Aufzählung der zulässigen Ziele von Grundrechtseingriffen formuliert.720 Die Anerkennung des weiten Unionsvorbehalts vor den augenscheinlich engeren Eingriffskriterien der EMRK-Bestimmungen würde insofern dem Ziel des Art. 52 Abs. 3 Satz 2 widersprechen, wonach das Schutzniveau der EMRK jedenfalls die Mindestgarantie des europäischen Grundrechtsschutzes darstellen soll, das die chartagemäße Grundrechtsanwendung nicht unterschreiten darf. Zur Lösung dieser Differenz sind bei der Auslegung der Schranke des Art. 52 Abs. 1 GRC, im Falle eines korrespondierenden Grundrechts der EMRK, die dort jeweils aufgeführten Eingriffsziele als Konkretisierung des allgemein formulierten „Gemeinwohls“ zu begreifen und so eine kohärente Auslegung der europäischen Grundrechtsordnungen herbeizuführen.721 Nach der Auffassung des Präsidiums unterfällt nun aber die Wissenschaftsfreiheit gerade nicht Art. 52 Abs. 3 GRC. Diese Auslegungsregel sollte daher nicht zur Anwendung kommen. Es mag dieser Umstand gewesen sein, der das Präsidium dazu bewegte einen expliziten Verweis auf die Schranken des Art. 10 Abs. 2 EMRK in ihre Erläuterungen zu Art. 13 GRC aufzunehmen. Im Ergebnis wäre es auch fragwürdig, würde man annehmen, dass der europäische Grundrechtsschutz kohärent ausgestaltet werden soll 719
ABl. 2004, C-310/429. Diese sind „die nationale Sicherheit, die territoriale Unversehrtheit oder die öffentliche Sicherheit, zur Aufrechterhaltung der Ordnung oder zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral, zum Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer, zur Verhinderung der Verbreitung vertraulicher Informationen oder zur Wahrung der Autorität und der Unparteilichkeit der Rechtsprechung.“ 721 Auch dies müsste wiederum Einschränkungen aus der Natur der Sache erfahren, da bspw. die Union nicht die Kompetenz hat, zugunsten der „nationalen Sicherheit“ die Grundrechte einzuschränken, dies könnten nur die Mitgliedsstaaten bei der Durchführung von Unionsrecht. 720
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und die Mindestgarantien der EMRK nicht unterschritten werden dürften, gleichwohl aber feststellen, dass ein vom EGMR abgeleitetes, prätorisches Grundrecht in der GRC weiteren Einschränkungen unterliegen dürfte, als es die EMRK zuließe. Dies gilt umso mehr, als die Präambel der GRC auch die Rechtsprechung des EGMR in ihrem Absatz 5 als Quelle der Grundrechte begreift, ein geringerer Schutz des Art. 13 GRC ließe sich daher kaum rechtfertigen. Trotz der Anwendbarkeit der allgemeinen Schranke des Art. 52 Abs. 1 GRC muss daher bei deren Anwendung eine Eingrenzung der legitimen Eingriffsziele im Sinne des Art. 10 Abs. 2 EMRK erfolgen. Dieses Ergebnis erfordert jedoch eine Auseinandersetzung mit einer Ansicht in der Literatur, die die legitimen Eingriffsziele der EMRK für nicht mehr relevant hält, als sie in der Rechtsprechung des EGMR zugunsten eines „allgemeinen Gemeinschaftsvorbehalts“ aufgegeben worden seien.722 Dem liegt die Beobachtung zu Grunde, dass der EGMR zum einen noch nie eine Rechtfertigung einer Einschränkung daran hat scheitern lassen, dass keines der aufgezählten Ziele verfolgt worden sei.723 Zum anderen sei auch noch keine abstrakte Definition der einzelnen legitimen Ziele geboten worden,724 wodurch diese konturenlos geblieben sein sollen.725 Obwohl letzteres insofern zugegeben werden muss, als der EGMR sich tatsächlich selten mit den konkreten Ausprägungen der Eingriffszwecke auseinandergesetzt hat, so verbleibt den legitimen Zielen der Schrankenregelungen der EMRK dennoch eine nicht zu verachtende Bedeutung. Denn sie werden, auch wenn die Rechtfertigung daran kaum scheitert, immer wieder vom Ge722 B. Fassbender, Der einheitliche Gesetzesvorbehalt der EU-Grundrechtecharta und seine Bedeutung für die deutsche Rechtsordnung, NVwZ 2010, 1049 (1053); Walter Berka, Die Gesetzesvorbehalte der Europäischen Menschenrechtskonvention, Österrreichische Zeitschrift für öffentliches Recht und Völkerrecht 1986, 71 (85); mit Einschränkung im Sinne einer „untergeordneten Bedeutung“ Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, S. 115. 723 P. Kempees, „Legitimate aims“ in the case-law of the European Court of Human Rights, in: Paul Mahoney/Franz Matscher/Herbert Petzold/Luzius Wildhaber (Hrsg.), Protection des droits de l’homme: la perspective européenne; mélanges à la mémoire de Rolv Ryssdal, S. 659 (660). Der Verweis von C. Grabenwarter/T. Marauhn, in: Grote/Marauhn, EMRK/GG-Konkordanzkommentar, Kap. 7 Rn. 37 auf den Fall Burghartz ist insofern missverständlich, als es dort um eine Rechtfertigung nach Art. 14 EMRK ging, die nur irgendeinen legitimen Grund verlangt, den der Gerichthof dort in der Tat nicht auffinden konnte; vgl. Burghartz v. Switzerland, 16213/90, Rn. 28 f. 724 P. Kempees, „Legitimate aims“ in the case-law of the European Court of Human Rights, in: Mahoney/Matscher/Petzold/Wildhaber, Protection des droits de l’homme, S. 659 (660); C. Grabenwarter/T. Marauhn, in: Grote/Marauhn, EMRK/ GG-Konkordanzkommentar, Kap. 7 Rn. 38. 725 B. Fassbender, Der einheitliche Gesetzesvorbehalt der EU-Grundrechtecharta und seine Bedeutung für die deutsche Rechtsordnung, NVwZ 2010, 1049 (1053).
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richtshof überprüft,726 und zwingen die Staaten mithin diese in ihre Erwägungen zur Einschränkung der Rechte der EMRK mit einzubeziehen.727 So wurde oftmals vom Gerichtshof festgestellt, dass sich ein Staat auf ein bestimmtes Ziel gerade nicht berufen kann.728 Folglich besitzen sie eine negative Bedeutung,729 die beim Schutz der Grundrechte nicht zu verkennen ist. Diese Spezifika der Grundrechtsprüfung zugunsten eines allgemeinen Gemeinschaftsvorbehalts aufzugeben, würde bedeuten, den Grundrechtsschutz zu schwächen, zu Gunsten einer stärkeren Betonung der Abwägungsprozesse. Im Sinne eines möglichst hohen Schutzniveaus der Menschenrechte, sollte diesen Überlegungen entgegengetreten werden. Gerade auch für das Recht der Union kann es nicht von Nachteil sein, wenn sich die Organe der Union und die Mitgliedsstaaten bei der Durchführung von Unionsrecht durch die legitimen Eingriffsziele der EMRK leiten lassen, wenn dies durch die Transferklausel des Art. 52 Abs. 3 GRC bei der Auslegung des Art. 52 Abs. 1 GRC geboten ist. Es bleibt daher als Fazit festzuhalten, dass die Wissenschaftsfreiheit der Grundrechtecharta ihre Schranke allein in Art. 52 Abs. 1 GRC findet. Diese muss aber zugunsten der Kohärenz zwischen den europäischen Grundrechtsordnungen und eines möglichst hohen Schutzniveaus des Grundrechts im Sinne der EMRK so ausgelegt werden, dass, neben dem Schutz der Rechte und Freiheiten anderer, die „von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen“ auf die Eingriffsziele des Art. 10 Abs. 2 EMRK reduziert werden. Inwieweit dies eine tatsächliche Erhöhung des Schutzniveaus mit sich bringen kann, muss aber erst noch in der praktischen Anwendung bewiesen werden. (2) Grundrechtsbeeinträchtigungen im Europarecht Bereits im nationalrechtlichen Kapitel musste eine Frage ausführlich behandelt werden,730 die auch im europarechtlichen Teil ihre Rolle spielt: die für einen Rechtfertigungszwang erforderliche Qualität von Grundrechtsein726 Vgl. nur die umfangreiche Auflistung der Fälle, geordnet nach den Eingriffszwecken bei J. Frowein, in: Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar, Art. 10 Rn. 37 ff. 727 C. Grabenwarter/T. Marauhn, in: Grote/Marauhn, Hrsg., EMRK/GG-Konkordanzkommentar, Kap. 7 Rn. 38. 728 So bspw. in den Fällen Dudgeon v. United Kingdom, 7525/76, Rn. 61 und Norris v. Ireland, 10581/83, Rn. 44 ff. bzgl. des Eingriffszwecks des Schutzes der Moral. 729 C. Grabenwarter/T. Marauhn, in: Grote/Marauhn, Hrsg., EMRK/GG-Konkordanzkommentar, Kap. 7 Rn. 38. 730 S. o., S. 137 ff.
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griffen oder -beeinträchtigungen. Die deutsche Grundrechtsdogmatik hatte diesbezüglich einen Wandel durchlebt, wobei der klassische Grundrechtseingriff durch ein erweitertes Verständnis abgelöst wurde, das auch mittelbar-faktische, nicht finale Eingriffe mit einbezog. In den 1980er Jahren war es zunächst ständige Rechtsprechung des EuGH lediglich mittelbare Auswirkungen von Gemeinschaftsakten nicht als Eingriff zu werten und damit ebenfalls einen klassischen Eingriffsbegriff zu wahren.731 Erst mit dem Bosphorus-Urteil im Jahre 1996 schien sich der Eingriffsbegriff zu verschieben,732 was schließlich auch im Springer-Urteil deutlich wurde.733 Seitdem ist auch in der Literatur die Konstruktion des mittelbar-faktischen Grundrechtseingriffs weitestgehend anerkannt worden,734 lediglich um eine Schwelle der Eingriffsintensität wird noch gestritten. Vor allem die Formulierung des EuGH im Springer-Urteil, wonach „eine hinreichend direkte und bedeutsame Auswirkung“ auf das betreffende Grundrecht gefordert wurde,735 veranlasste dazu, bei Eingriffen eine „Spürbarkeitsschwelle“ oder einen „Bagatellvorbehalt“736 im Sinne einer notwendigen Eingrenzung des Eingriffsbegriffs zu fordern.737 Grundrechtsbeeinträchtigende Maßnahmen müssten demnach eine gewisse Schwelle der Beeinträchtigung überschreiten, um nicht als sozialadäquate Ausgestaltung des Lebensbereichs notwendigerweise hinnehmbar zu sein. Eine solche Schwelle ist jedoch sehr niedrig anzusetzen, auch wenn die Formulierung des EuGH in die andere Richtung weist. Zunächst scheinen in historischer Auslegung auch die Konventsmitglieder einen möglichst 731 EuGH Biovilac, C-59/83 Rn. 22; Kommission/Deutschland („Qualitätswein“), 116/82, 4. Leitsatz; Zuckerfabrik Bedburg, C-281/84, Rn. 26. 732 EuGH Bosphorus, C-84/95, Rn. 22 f.; kritisch zu einer solchen Einschätzung Edgar Stieglitz, Allgemeine Lehren im Grundrechtsverständnis nach der EMRK und der Grundrechtsjudikatur des EuGH – Zur Nutzbarmachung konventionsrechtlicher Grundrechtsdogmatik im Bereich der Gemeinschaftsgrundrechte, S. 128. Vgl. aber auch das Urteil Dubois, T-113/96, Rn. 75 aus dem darauffolgenden Jahr. 733 EuGH Springer, C-435/02, Rn. 49. 734 T. Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV/GRC-Kommentar, Art. 52 GRC Rn. 55 ff.; D. Ehlers, in: Dirk Ehlers (Hrsg.) European Fundamental Rights and Freedoms, § 14 Rn. 42; Jarass, EU-Grundrechte, S. 71 f; T. von Danwitz, in: Tettinger/Stern, Europäische Grundrechte-Charta, Art. 52 Rn. 32; P. Szczekalla, in: Heselhaus/Nowak, Handbuch der europäischen Grundrechte, § 7 Rn. 23 ff.; J. Kühling, in: Armin von Bogdandy (Hrsg.) Europäisches Verfassungsrecht – theoretische und dogmatische Grundzüge, S. 601 (614 ff.). 735 EuGH Springer, C-435/02, Rn. 49. 736 Begriffe bei P. Szczekalla, in: Heselhaus/Nowak, Handbuch der europäischen Grundrechte, § 7 Rn. 24. 737 T. Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV/GRC-Kommentar, Art. 52 GRC Rn. 57; D. Ehlers, in: Ehlers, European Fundamental Rights and Freedoms, § 14 Rn. 42; Jarass, EU-Grundrechte, S. 71.
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weiten Begriff des Eingriffs zu befürworten. Im Schlussbericht der Arbeitsgruppe II des Konvents heißt es, die Union müsse „in jedem Bereich ihres Handelns alle Grundrechte einhalten und deshalb indirekte Beeinträchtigungen auch solcher Grundrechte, bei denen sie über keine gesetzgeberischen Zuständigkeiten verfügt, verhindern.“738 Vor allem aber könnte mit einem weiteren Eingriffsverständnis der Tatsache Rechnung getragen werden, dass das Tätigkeitsfeld unionalen Handelns ein Ausmaß angenommen hat, das über die klassische staatliche Tätigkeit hinausgeht, indem vor allem auch Maßnahmen ergriffen werden, mit denen die Mitgliedsstaaten unterstützt, koordiniert und informiert werden sollen,739 was vor allem auch für den Bereich der Wissenschaft gilt.740 Diese Tätigkeiten müssen von den Grundrechten erfasst werden, will man eine grundrechtsgebundene Union erreichen, die ihr Handeln auch tatsächlich an diesen ausrichtet. Ergeben sich dabei Berührungen mit dem Schutzbereich eines Grundrechts, sollte einer dogmatischen Konstruktion der Vorzug gegeben werden, die die Unionsorgane zwingt, derlei Maßnahmen auf ihre Auswirkungen und ihre legitimen Ziele zu überprüfen.741 Mit einem möglichst weiten Eingriffsbegriff würde auch die angestrebte Kohärenz der europäischen Grundrechtsordnungen insofern schneller erreicht, als der EGMR traditionellerweise einen sehr weiten Eingriffsbegriff verwendet um den Grundrechtsschutz möglichst umfassend gewähren zu können.742 Mit der Einschränkung eines möglichst niedrig angesetzten Bagatellvorbehalts ist demnach der Eingriffsbegriff des Europarecht in ähnlicher Weise wie im deutschen Recht sehr weit zu verstehen, als auch mittelbar-faktische Beeinträchtigungen von Grundrechten ein Rechtfertigungsbedürfnis auslösen können. (3) Der Vorbehalt einer gesetzlichen Grundlage für Grundrechtseinschränkungen Die Bedingung einer gesetzlichen Grundlage als notwendige Voraussetzung eines legitimen Grundrechtseingriffs war bereits vor der Abfassung 738 Schlussbericht der Gruppe II – „Einbeziehung der Charta/Beitritt zur EMRK“, CONV 354/02 WG II, S. 5. 739 P. Szczekalla, in: Heselhaus/Nowak, Handbuch der europäischen Grundrechte, § 7 Rn. 26. 740 Vgl. Art. 181 AEUV (ehemals Art. 165 EGV). 741 In diese Richtung auch P. Szczekalla, in: Heselhaus/Nowak, Handbuch der europäischen Grundrechte, § 7 Rn. 23 ff. 742 C. Grabenwarter/T. Marauhn, in: Grote/Marauhn, EMRK/GG-Konkordanzkommentar, Kap. 7 Rn. 8 ff.; Stieglitz, Allgemeine Lehren im Grundrechtsverständnis nach der EMRK und der Grundrechtsjudikatur des EuGH, S. 42 ff.
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der Grundrechtecharta durch den EuGH entwickelt worden, als er im Hoechst-Urteil für Eingriffe der öffentlichen Gewalt in die Privatsphäre eine Rechtsgrundlage forderte und dies auch sogleich zum allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts erklärte.743 Das Grundrechtekonvent wurde bei der Abfassung der Charta daher seinem Auftrag gerecht, die bereits bestehende Grundrechtsystematik sichtbar zu machen, indem es in Art. 52 Abs. 1 GRC einen ebensolchen Gesetzesvorbehalt einfügte. Die Frage jedoch, welche Definition des Gesetzes diesem zu Grunde liegt, ist insbesondere nach dem Scheitern der Europäischen Verfassung, die eine Terminologie der Europäischen Gesetze und Rahmengesetze vorgesehen hätte,744 nicht völlig geklärt. Während teilweise schlicht der Gesetzesbegriff der EGMR-Rechtsprechung zur Konkretisierung des Art. 52 Abs. 1 GRC herangezogen wird,745 der unter Berücksichtigung des Rechtskreis des common law einen materiellen Gesetzesbegriff anwendet um auf diese Weise auch Richterrecht integrieren zu können,746 bietet sich für den Gesetzesvorbehalt der Grundrechtecharta eine Differenzierung der Rechtsregime an. Für Unionsrecht soll insoweit im Gegensatz zu nationalem Recht und der EMRK-Rechtsprechung eine europaspezifische,747 formelle Definition des Gesetzes gelten, die erhöhte Anforderungen an die Unionsorgane stellt. Damit soll noch nicht gesagt sein, dass ein Parlamentsvorbehalt für das Europarecht zu fordern wäre, da ein solcher mangels umfassender Beteiligung des Europäischen Parlaments an den Rechtsetzungsakten der Union auch kaum möglich wäre. Jedoch soll zumindest soweit wie möglich dem Defizit demokratischer Legitimation auf europäischer Ebene Rechnung getragen werden,748 743
EuGH Hoechst/Kommission, C-46/87, Rn. 19. Art. I-33 Abs. 1 UAbs. 2 und 3, I-34 VVE. 745 So B. Beutler, in: von der Groeben/Schwarze, EU/EG.Kommentar, Art. 6 EUV Rn. 121. 746 Vgl. EGMR Sunday Times v. Vereinigtes Königreich, 6538/74, Rn. 47: „The Court observes that the word „law“ in the expression „prescribed by law“ covers not only statute but also unwritten law. Accordingly, the Court does not attach importance here to the fact that contempt of court is a creature of the common law and not of legislation. It would clearly be contrary to the intention of the drafters of the Convention to hold that a restriction imposed by virtue of the common law is not „prescribed by law“ on the sole ground that it is not enunciated in legislation: this would deprive a common-law State which is Party to the Convention of the protection of Article 10 (2) (art. 10-2) and strike at the very roots of that State’s legal system.“ 747 T. von Danwitz, in: Tettinger/Stern, Europäische Grundrechte-Charta, Art. 52 Rn. 33. 748 Martin Kober, Der Grundrechtsschutz in der Europäischen Union – Bestandsaufnahme, Konkretisierung und Ansätze zur Weiterentwicklung der europäischen 744
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wenn es um grundrechtssensible Angelegenheiten geht. Insofern bietet sich generell die Anwendung des Begriffs der Gesetzgebungsakte an, der mit Art. 289 Abs. 3 AEUV in das Europarecht eingeführt und sogleich legal definiert wurde. Gesetzgebungsakte sind solche Rechtsakte, die im Wege eines Gesetzgebungsverfahrens nach Art. 289 AEUV angenommen wurden. Soweit also beim ordentlichen Gesetzgebungsverfahren des Art. 289 Abs. 1 AEUV das Parlament und der Rat zusammenwirken, kann für den Gesetzesvorbehalt des Art. 52 Abs. 1 GRC zugleich von einem Parlamentsvorbehalt gesprochen werden.749 Dennoch verbleiben Bereiche des unionalen Handelns, die dem Rat alleinige Rechtssetzungsmacht verleihen,750 die aber zumindest dessen mittelbare demokratische Legitimation durch die Mitgliedsstaaten aufweisen können. Für diese Bereiche gilt dann insoweit der „Ratsvorbehalt“ für grundrechtsbeeinträchtigende Maßnahmen,751 der aber die Ausnahme statt der Regel sein sollte, um das Defizit demokratischer Legitimation weiter abbauen zu können.752 Der EuGH hatte indes bislang keine Probleme die exekutivische Rechtsetzung des Rates als ausreichend für die Erfüllung des Gesetzesvorbehaltes anzusehen.753 Nicht ausreichend ist aber ein Verweis auf die Rechtsakte des Art. 288 AEUV. Weder Entscheidungen sollen für eine Grundrechtseinschränkung ausreichen können, noch Empfehlungen oder Stellungnahmen.754 Als Definitionsmerkmal für den Gesetzesbegriff muss demnach unabhängig von der Verfahrensweise des Zustandekommens zumindest die abstrakt-generelle Geltung und die rechtliche Verbindlichkeit755 feststellbar sein.756 Grundrechtsdogmatik anhand der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, S. 194 f. 749 Ibid., S. 194; ebenso T. Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV/GRC-Kommentar, Art. 52 GRC Rn. 62; kritischer T. von Danwitz, in: Tettinger/Stern, Europäische Grundrechte-Charta, Art. 52 Rn. 34 f; Stieglitz, Allgemeine Lehren im Grundrechtsverständnis nach der EMRK und der Grundrechtsjudikatur des EuGH, S. 132 f. 750 Bspw. Art. 21 Abs. 3 AEUV. 751 T. Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Hrsg., EUV/EGV/GRC-Kommentar, Art. 52 Rn. 62. 752 So richtigerweise Kober, Der Grundrechtsschutz in der Europäischen Union, S. 195 f. und Sonja Röder, Der Gesetzesvorbehalt der Charta der Grundrechte der Union im Lichte einer europäischen Wesentlichkeitstheorie, S. 208 ff. 753 Dieser Punkt wurde in EuGH Deutschland/Rat, C-280/93 und EuGH Winzersekt, C-306/93 nicht einmal problematisiert. 754 Hans-Werner Rengeling/Peter Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union – Charta der Grundrechte und allgemeine Rechtsgrundsätze, Rn. 456; T. von Danwitz, in: Tettinger/Stern, Europäische Grundrechte-Charta, Art. 52 Rn. 33; Kober, Der Grundrechtsschutz in der Europäischen Union, S. 194. 755 D. Ehlers, in: Ehlers, European Fundamental Rights and Freedoms, § 14 Rn. 44. Dieser verweist auf die EGMR-Rechtsprechung, die trotz eines weiteren Ge-
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Des Weiteren muss aus dem zuvor Gesagten gefolgert werden, dass Rechtsakte, die aus der Delegation von Rechtssetzungsbefugnissen im Sinne des Art. 290 AEUV entspringen, nicht ausreichen können, um Grundrechtseinschränkungen zu rechtfertigen.757 Die Parallelsituation des grundrechtseinschränkenden Verordnungsgebers im deutschen Recht kann im europäischen Recht demnach keine Entsprechung finden, eventuelle Grundrechtsbeschränkungen durch ein Organ müssen bereits in einer gesetzlichen Grundlage angelegt sein, die diesen Legitimationsanforderungen genügt. Entsprechend der Rechtsprechung des EGMR, die nach der Präambel der GRC als Rechterkenntnisquelle der Grundrechte gilt, müssen jedoch noch weitere Anforderungen an grundrechtseinschränkende Gesetze gestellt werden, die den Adressaten die Rezeption erleichtern sollen. So müssen diese transparent und hinreichend klar formuliert sein, damit es den Bürgern möglich ist, ihr Verhalten daran auszurichten,758 nach deutscher Rechtsterminologie müssten sie demnach dem Bestimmtheitsgrundsatz genügen.759 Zudem müssen gesetzliche Grundlagen auch eine ausreichende Regelungsdichte erreichen, die gewährleistet, dass alle wesentlichen Elemente enthalten sind.760 Geringere Anforderungen sind demgegenüber an nationales Recht bei der Umsetzung von Unionsrecht zu stellen, da dieses seinen eigenen Legitimationsanforderungen folgt. So bietet es sich an, den materiellen Gesetzesbegriff des EGMR in diesem Bereich heranzuziehen, wenngleich auch hier dessen Anforderungen an Bestimmtheit und Transparenz genüge getan werden muss.761
setzesbegriffs dieses Kriterium aufstellte und verwaltungsinterne Richtlinien, denen die Verbindlichkeit fehlte, als unzureichend befand, EGMR Silver u. a. v. Vereinigtes Königreich, 5947/72 Rn. 86. 756 Dieses Kriterium wird im Übrigen auch von Bestimmungen des Primärrechts erfüllt, die Grundrechte können also auch von Vertragsnormen eingeschränkt werden. 757 Kober, Der Grundrechtsschutz in der Europäischen Union, S. 194. 758 EGMR Sunday Times v. Vereinigtes Königreich, 6538/74, Rn. 47. Entsprechend auch für die Chartagrundrechte fordernd T. von Danwitz, in: Tettinger/Stern, Europäische Grundrechte-Charta, Art. 52 Rn. 34; D. Ehlers, in: Ehlers, European Fundamental Rights and Freedoms, § 14 Rn. 44. 759 Jarass, EU-Grundrechte, S. 78. 760 T. Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV/GRC-Kommentar, Art. 52 GRC Rn. 62. 761 So auch Jarass, EU-Grundrechte, S. 77 f; T. von Danwitz, in: Tettinger/Stern, Europäische Grundrechte-Charta, Art. 52 Rn. 34; T. Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV/GRC-Kommentar, Art. 52 GRC Rn. 63.
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(4) Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Die Notwendigkeit der Verhältnismäßigkeit von Maßnahmen der Union oder der Gemeinschaft ist seit langem Bestandteil der allgemeinen Rechtsgrundsätze des Europarechts.762 Dessen Ausprägung entspricht zumindest in der Theorie den Kriterien des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im deutschen Recht. So sind Maßnahmen der europäischen Organe „nur rechtmäßig, wenn sie zur Erreichung der zulässigerweise mit der fraglichen Regelung verfolgten Ziele geeignet und erforderlich sind. Dabei ist, wenn mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl stehen, die am wenigsten belastende zu wählen; ferner müssen die auferlegten Belastungen in angemessenem Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen.“763 Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wurde bislang sowohl bei der Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen zur Anwendung gebracht, als auch als eigenständiger Gerechtigkeits- oder Billigkeitsmaßstab für jegliche Maßnahmen der Union.764 Mit der verbindlichen Kodifizierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in Art. 52 Abs. 1 GRC wird nun dessen Bedeutung für die Grundrechtsprüfung noch einmal hervorgehoben. Dies ist insofern notwendig, als die Anwendung des Grundsatzes in der Rechtsprechung des EuGH in der Vergangenheit einige Mängel aufwies. Dabei ist zumeist kritisiert worden, dass der Gerichtshof sich in aller Regel auf abstrakte Wertungen beschränkte und strukturell eher eine Ermessensprüfung durchgeführt hätte.765 Die Prüfung erfolgte dabei vor allem im Bereich der Grundrechte zumeist außerordentlich knapp.766 Zudem ist die Kontrolldichte vom Gerichtshof stets niedrig gehalten worden.767 Bereits die Geeignetheit wurde nur dann negativ beschieden, wenn eine Maßnahme „offensichtlich ungeeignet“ ist. Die Auswirkungen von Regelungen unterlagen dabei einer sehr weiten Einschätzungsprärogative des Gemeinschaftsgesetzgebers, die nur dann beanstandet wurde, wenn diese „offensichtlich irrig“ ausgeübt wurde.768 Dieser der EGMR-Rechtsprechung ähnliche Einschät762 Vgl. bereits EuGH Schräder, C-265-87 Rn. 21: „Der Grundsatz der Verhältnismässigkeit gehört nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes zu den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts.“ 763 EuGH Schräder, C-265-87 Rn. 21; EuGH Fedesa, C-331/88, Rn. 13. 764 I. Pernice/F. Mayer, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EU-Kommentar, nach Art. 6 Rn. 306. 765 T. von Danwitz, in: Tettinger/Stern, Europäische Grundrechte-Charta, Art. 52 Rn. 39. 766 T. Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV/GRC-Kommentar, Art. 52 Rn. 65. 767 I. Pernice/F. Mayer, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EU-Kommentar, nach Art. 6 Rn. 306. 768 EuGH „Bananenmarktordnung“, C-280/93, Rn. 90.
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zungsspielraum769 ist angesichts der bereits erwähnten Legitimationsdefizite für Maßnahmen der Union auf ein geringeres Maß zurückzuführen und nur für die Mitgliedsstaaten bei der Umsetzung von Unionsrecht aufgrund ihres „demokratischen Vorsprungs“770 aufrechtzuerhalten.771 Die Normierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in Art. 52 Abs. 1 GRC könnte auf diesem Weg einen wichtigen Schritt darstellen. Eine positive Entwicklung bei der Prüfung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit durch den EuGH ist indes bei der ausführlichen und differenzierten Betrachtung der Eingriffsintensität der Maßnahme und des Gewichts des verfolgten Ziels zu beobachten.772 Diese für diese Untersuchung sehr interessante Differenzierung wurde bereits im Schräder-Urteil773 erstmals explizit erwähnt und fand im Weiteren ihre Fortsetzung in der EuGH-Rechtsprechung.774 Besonders interessant ist die Feststellung des Gerichtshofs in einem Urteil zur BSE-Seuche, indem dieser auch bei fehlender Sicherheit über den Kausalzusammenhang zwischen BSE und der Creutzfeld-JakobKrankheit die überragende Bedeutung des Gesundheitsschutzes in den Vordergrund gestellt hat und insofern auch bei fehlender Wahrscheinlichkeitsprognose die Eingriffsintensität eines Ausfuhrverbots geringer geschätzt hat als die möglichen Folgen für die Gesundheit der Unionsbürger.775 Durch diese Entwicklungslinie kann auch die eventuell geringe Eingriffsintensität gegenüber den gewichtigen Schutzzielen bei den Ethikkodizes im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung besser erfasst werden. Strukturell scheint es daher sinnvoll, sich an dem bekannten Prüfungsschema von legitimem Eingriffsziel, Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit der Maßnahme zu orientieren und je nach Maßnahmencharak769 So T. von Danwitz, in: Tettinger/Stern, Europäische Grundrechte-Charta, Art. 52 Rn. 43; Jarass, EU-Grundrechte, S. 83. 770 T. von Danwitz, in: Tettinger/Stern, Europäische Grundrechte-Charta, Art. 52 Rn. 43. 771 Kober, Der Grundrechtsschutz in der Europäischen Union, S. 249. 772 Zum Ganzen ausführlich Oliver Koch, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, S. 223 ff. Auch T. von Danwitz, in: Tettinger/Stern, Europäische GrundrechteCharta, Art. 52 Rn. 43 fordert eine intensivere Auseinandersetzung mit diesem Verhältnis von Eingriff und Rechtsgut. 773 EuGH, C-265/87, Rn. 18: „Die sich daraus für die Getreideverarbeiter ergebende Verpflichtung, die Abgabe zu entrichten und auf ihre Lieferanten abzuwälzen, entspricht somit dem Gemeinwohl dienenden Zielen, deren Verfolgung die geringfügigen Nachteile rechtfertigt, die diese Verpflichtung für die Gruppe der betroffenen Wirtschaftsteilnehmer mit sich bringt.“ 774 EuGH Sam, C-248/95, Rn. 74; Schröder, T-390/94, Rn. 127. 775 EuGH Großbritannien/Kommission, C-180/96 Rn. 91 ff.
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ter und -urheber die europaspezifischen Besonderheiten zu berücksichtigen. Auf diesem Wege soll im Folgenden verfahren werden. (5) Wesensgehaltsgarantie Ein Element der Rechtfertigungsprüfung von Grundrechten hat auf europäischer Ebene durch die Verbindlichkeit der Charta möglicherweise eine neue Bedeutung erhalten: die Wesensgehaltsgarantie des Art. 52 Abs. 1 Satz 1 GRC. Deren Ursprünge waren bereits in den Urteilen Nold und Hauer angelegt,776 in der Folge entwickelte sie sich zur ständigen Rechtsprechung des EuGH.777 Diese ständige Rechtsprechung ließ aber abgesehen von der Erwähnung des Wesensgehalts nicht erkennen, dass diesem eine eigenständige Bedeutung über die Verhältnismäßigkeit einer Maßnahme hinaus zukäme. In Folge dessen hat sich aus der Beobachtung der Rechtsprechung des EuGH auch für die europarechtliche Diskussion778 eine relative Theorie des Wesensgehalts entwickelt, die der Wesensgehaltsgarantie nur eine abstrakt-generelle Bedeutung zusprach, als sie lediglich gewährleisten solle, dass das Grundrecht ganz allgemein weiterhin gewährleistet bleiben solle, wenn auch im Einzelfall nichts mehr von ihm übrig bleiben könne, wenn die Verhältnismäßigkeit gewahrt sei.779 Als Argument wird zumeist angeführt, dass es gewisse zulässige und gerechtfertigte Grundrechtseingriffe gebe, die einen Restgehalt des Grundrechts gerade ausschlössen wie beispielsweise die völlige Enteignung beim Eigentumsrecht und die Eingriffe in das Leben bei Polizeieinsätzen und ähnlichem.780 Die Gegenposition bildet die absolute Theorie vom Wesensgehalt der Grundrechte, die diesem auch eine konkret-individuelle Bedeutung zuspricht, in776 EuGH Nold, C-4/73 Rn. 14: „. . ., solange die Recht nicht in ihrem Wesen angetastet werden.“; EuGH Hauer, C-44/79, Rn. 23: „. . . und ob sie nicht einen im Hinblick auf den verfolgten Zweck unverhältnismäßigen, nicht tragbaren Eingriff in die Vorrechte des Eigentümers darstellen, der das Eigentumsrecht in seinem Wesensgehalt antastet.“ 777 Vgl. EuGH Schräder, C- 265/87, Rn. 15; Deutschland/Rat, C-280/93, Rn. 78; Karlsson, C-292/97, Rn. 45. 778 Zur relativen Theorie der Wesensgehaltsgarantie im deutschen Recht vgl. nur Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, S. 148 ff. 779 P. Szczekalla, in: Heselhaus/Nowak, Handbuch der europäischen Grundrechte, § 7 Rn. 49 ff.; I. Pernice/F. Mayer, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EU-Kommentar, nach Art. 6, Rn. 43 und 305; D. Ehlers, in: Ehlers, European Fundamental Rights and Freedoms, § 14 Rn. 47; Stieglitz, Allgemeine Lehren im Grundrechtsverständnis nach der EMRK und der Grundrechtsjudikatur des EuGH, S. 137. 780 So z. B. P. Szczekalla, in: Heselhaus/Nowak, Handbuch der europäischen Grundrechte, § 7 Rn. 51. Diese Argumentation lässt sich aber mit geringem Aufwand entkräften, vgl. nur J. Kokott, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, § 22 Rn. 88.
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dem er sicher stellen soll, dass in jedem Einzelfall der absolute Kerngehalt des jeweiligen Grundrechts erhalten bleiben muss und somit als eigenständiger Punkt der Grundrechtsprüfung zur Verhältnismäßigkeitsprüfung hinzukommen muss,781 als er einen Teilgehalt des Grundrechts darstellt, der abwägungsresistent bleiben muss. Im Sinne der Kohärenz europäischer Grundrechtsordnungen muss zur Bewertung dieses Streits zunächst ein Blick auf die Rechtsprechung des EGMR geworfen werden. Dessen Äußerungen zu einer Wesensgehaltsgarantie erfahren zum Teil Interpretationen im Sinne der absoluten Theorie,782 festzustellen bleibt aber lediglich, dass der Gerichtshof eine stringente Linie nicht erkennen lässt. Vielmehr verwendet der EGMR das Wesensgehaltsargument in drei verschiedenen Verwendungsmustern.783 Zum einen rekurriert er auf den Wesensgehalt, wenn er den Abwägungsvorgang durch eine kategoriale Grenzziehung unterbrechen will, auch wenn Rechte betroffen sind, die als absolute Verbote formuliert sind und einer Abwägung mithin eigentlich nicht zugänglich sein sollten.784 Zum anderen verwendet der Gerichtshof den Wesensgehalt zur Konkretisierung von Schutzbereich und Eingriff, um anschließend dennoch die Verhältnismäßigkeitsprüfung als alleiniges Entscheidungskriterium heranzuziehen.785 Schließlich bildet der Wesensgehalt für den Gerichtshof eine Grenze für den Entscheidungsspielraum der Vertragsstaaten bei deren Ausgestaltung von Freiheiten,786 der auch bei weitreichenden Begrenzungen das Recht in seiner Existenz bewahren soll. Eine generelle Tendenz in Richtung einer der beiden Theorien lässt sich dieser Rechtsprechung jedoch kaum entnehmen, obwohl die EMRK durchaus das Potenzial böte, eine absolute Geltung der Wesensgehaltsgarantie festzustellen.787 781 T. von Danwitz, in: Tettinger/Stern, Europäische Grundrechte-Charta, Art. 52 Rn. 44; J. Kokott, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, § 22, Rn. 87 ff.; Jarass, EU-Grundrechte, S. 83; M. Borowsky, in: Meyer, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 52 Rn. 23 ff.; J. Kühling, in: von Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, S. 624 f. 782 Stieglitz, Allgemeine Lehren im Grundrechtsverständnis nach der EMRK und der Grundrechtsjudikatur des EuGH, S. 87. 783 Jochen von Bernstorff, Kerngehalte im Grund- und Menschenrechtsschutz: Eine vergleichende Studie zur Einschränkbarkeit nationaler und völkerrechtlicher Freiheitsgarantien. 784 So in einem Fall zu Art. 5 Abs. 3 EMRK, EGMR Brogan u. a. v. Vereinigtes Königreich, 11209/84 u. a., Rn. 59. 785 EGMR Young, James und Webster v. Vereinigtes Königreich, 7601/76, 7806/77, Rn. 55. 786 EGMR F. v. Schweiz, 11329/85, Rn. 32; Mathieu-Mohin und Clerfayt v. Belgien, 9267/81, Rn. 52. 787 von Bernstorff, Kerngehalte im Grund- und Menschenrechtsschutz: Eine vergleichende Studie zur Einschränkbarkeit nationaler und völkerrechtlicher Freiheits-
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Deren Kodifizierung in Art. 52 Abs. 1 Satz 1 GRC hat den Vertretern einer absoluten Theorie aber neuen Aufschwung verliehen, als sie aus der Formulierung neue Argumente ableiten konnten. Der ausdrücklichen Gewährleistung der Garantie im ersten Satz des Absatzes, nach der bei jeder Einschränkung der Grundrechte der Wesensgehalt derselben zu achten ist, wird erst im zweiten Satz die Einschränkungsgrenze der Verhältnismäßigkeit angefügt. Aus dieser systematischen Positionierung kann sowohl eine eigenständige Bedeutung neben der Verhältnismäßigkeit entnommen werden, als auch eine absolute Geltung.788 Einer weiterhin lediglich kursorischen Feststellung der Wahrung des Wesensgehalts dürfte der nunmehr verbindliche Normtext insofern entgegenstehen. Ansonsten wäre dessen separate Aufnahme in Art. 52 Abs. 1 Satz 1 GRC weitgehend entbehrlich gewesen.789 In die Richtung einer absoluten Geltung deuten indes auch die Erläuterungen des Präsidiums des Grundrechtekonvents. Zwar verweist dieses in seinen Erläuterungen zu Art. 52 Abs. 1 allgemein auf die Rechtsprechung des EuGH,790 der, wie bereits beschrieben, dem Wesensgehalt neben der Verhältnismäßigkeit einer Maßnahme scheinbar keine eigenständige Bedeutung zuweist. In den Erläuterungen zu Art. 1 GRC erklärt dieses jedoch auch: „Daraus ergibt sich insbesondere, dass keines der in dieser Charta festgelegten Rechte dazu verwendet werden darf, die Würde eines anderen Menschen zu verletzen, und dass die Würde des Menschen zum Wesensgehalt der in dieser Charta festgelegten Rechte gehört. Sie darf daher auch bei Einschränkungen eines Rechtes nicht angetastet werden.“791
Dem lassen sich folglich zwei Aussagen entnehmen: Es existiert ein Wesensgehalt der Grundrechte, der dem Zugriff der Grundrechtsverpflichteten garantien, (im Erscheinen); Stieglitz, Allgemeine Lehren im Grundrechtsverständnis nach der EMRK und der Grundrechtsjudikatur des EuGH, S. 86. 788 M. Borowsky, in: Meyer, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 52 Rn. 23. 789 T. von Danwitz, in: Tettinger/Stern, Europäische Grundrechte-Charta, Art. 52 Rn. 44. 790 Erläuterungen des Präsidiums des Europäischen Konvents, ABl. 2004, C-310/456: „Mit Artikel 52 (1) sollen die Tragweite der Rechte und Grundsätze der Charta und Regeln für ihre Auslegung festgelegt werden. Absatz 1 enthält die allgemeine Einschränkungsregelung. Die verwendete Formulierung lehnt sich an die Rechtsprechung des Gerichtshofes an, die wie folgt lautet: ‚Nach gefestigter Rechtsprechung kann jedoch die Ausübung dieser Rechte, insbesondere im Rahmen einer gemeinsamen Marktorganisation, Beschränkungen unterworfen werden, sofern diese tatsächlich dem Gemeinwohl dienenden Zielen der Gemeinschaft entsprechen und nicht einen im Hinblick auf den verfolgten Zweck unverhältnismäßigen, nicht tragbaren Eingriff darstellen, der diese Rechte in ihrem Wesensgehalt antastet‘ (Urteil vom 13. April 2000, Rechtssache C292/97, Randnr. 45).“ 791 ABl. 2004 C-310/425.
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entzogen sein soll und mithin absolute Geltung beansprucht. Dieser Wesensgehalt besteht nicht alleine aus dem Menschenwürdekern eines jeden Grundrechts der Charta,792 denn anderenfalls hätte die Formulierung lauten müssen, die Würde des Menschen sei der Wesensgehalt der in dieser Charta festgelegten Rechte. Es muss vielmehr Aufgabe der Rechtsprechung sein, die Schutzbereiche der Rechte und Freiheiten der Grundrechtecharta auf eine Weise zu bestimmen, die eine Differenzierung zwischen abwägungsresistentem Kern- oder Wesensgehalt und einschränkungsfähigem Restgehalt eines Grundrechts für den unionalen oder mitgliedsstaatlichen Gesetzgeber erlaubt. Möchte man den Erläuterungen des Präsidiums im Sinne des Art. 52 Abs. 7 GRC gebührende Berücksichtigung zukommen lassen, dürften auch die europäischen Gerichte bei der Auslegung des Art. 52 Abs. 1 Satz 1 GRC nicht an einer Neubewertung der Wesensgehaltsgarantie vorbeikommen. dd) Zusammenfassung Die Wissenschaftsfreiheit aus Art. 13 der Grundrechtecharta stellt ein Novum im Europäischen Recht dar. Mit ihrer Gewährleistung geht sie über das hinaus, was die Rechtsprechung des EGMR bis dato entwickelt hat, und was die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedsstaaten ergeben. Dessen konkrete Normierung in der Grundrechtecharta kann mithin als wertsetzende Positionierung der Europäischen Union verstanden werden, der auch bei der Grundrechtsinterpretation Rechnung getragen werden muss. Der Gewährleistungsgehalt ist dabei weit zu fassen und außer durch die Menschenwürde des Art. 1 GRC und die absoluten Verbote des Art. 3 Abs. 2 GRC nicht tatbestandlich zu begrenzen. Anders als im deutschen Recht lässt sich neben den negativen und positiven Dimensionen des Grundrechts aufgrund weitreichender Unterschiede in der Wissenschaftskultur der Mitgliedsstaaten keine objektiv-rechtliche Dimension ausmachen. Die Wissenschaftsfreiheit kann durch den allgemeinen Schrankenvorbehalt des Art. 52 Abs. 1 GRC eingeschränkt werden, wenn dies auf einer gesetzlichen Grundlage beruht, die für Unionsmaßnahmen den formellen Anforderungen des Art. 289 AEUV genügt. Bei nationalen Maßnahmen zur Umsetzung von Unionsrecht kann demgegenüber der materielle Gesetzesbegriff des EGMR angewendet werden. Bei der Einschränkung müssen aber die legitimen Eingriffsziele des Art. 10 Abs. 2 EMRK in den Blick genommen werden und somit durch Art. 52 Abs. 3 GRC eine Reduktion 792 In diese Richtung aber J. Kokott, in: Merten/Papier, Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, § 22 Rn. 89 und M. Borowsky, in: Meyer, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art. 52 Rn. 23.
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des Art. 52 Abs. 1 GRC erfolgen. Um einen Rechtfertigungszwang auszulösen, genügen indes bereits Maßnahmen mit mittelbar-faktischer Wirkung, da der Grundrechtssystematik der GRC ein weiter Eingriffsbegriff zu Grunde zu legen ist. Die Rechtfertigung von Eingriffen in die Wissenschaftsfreiheit erfolgt im klassischen Schema der Verhältnismäßigkeitsprüfung, wobei der Wesensgehaltsgarantie als zusätzlicher Faktor eine gewichtigere Rolle zukommt als es in der Rechtsprechung der europäischen Gerichte bislang der Fall war. 2. Formell unverbindliche Steuerungsformen des Europarechts Die im deutschen Recht untersuchten Kodizes wurden von Wissenschaftsorganisationen und -institutionen in wissenschaftlicher Selbstverwaltung oder Selbstregulierung erlassen. Im europarechtlichen Kontext werden nun aber Steuerungsformen in den Blick genommen, die von einer originär rechtsetzungsbefugten Stelle öffentlicher Gewalt erlassen wurden, der aber der Wille oder die Kompetenz zur verbindlichen Normsetzung aus verschiedenen Gründen fehlt. Als Besonderheit kann im Europarecht gelten, dass diese Konstellation von den Verträgen bereits vorgesehen ist. Dieser Umstand legt der Verdacht nahe, dass in diesem Rechtsregime die unverbindliche Steuerung legitimes Exekutivhandeln darstellen könnte. Zunächst soll daher ein Blick auf die von den Europäischen Organen genutzten Möglichkeiten formell unverbindlicher Steuerung geworfen werden und welche Bedeutung diese für den europäischen Rechtsbegriff haben können, ob sie sich womöglich in einen Begriff des europäischen soft law einordnen lassen. a) Europäisches soft law? Die Einordnung formell unverbindlicher Steuerungsformen war zuletzt vermehrt Gegenstand des rechtswissenschaftlichen Diskurses,793 zumal sich die Europäischen Organe vermehrt solcher Handlungsformen bedienten. Weil sich in den Anfängen der Europarechtswissenschaft eine derartige Parallelisierung anbot, wurde aus dem völkerrechtlichen Kontext heraus der 793 Aus der Literatur Jürgen Schwarze, Soft Law im Recht der Europäischen Union, Europarecht 2011, 3 ff.; Linda Senden, Soft Law in European Community Law; Matthias Knauff, Der Regelungsverbund: Recht und Soft Law im Mehrebenensystem; Anne Peters, Typology, Utility and Legitimacy of European Soft Law, in: Astrid Epiney/Marcel Haag/Andreas Heinemann (Hrsg.), Die Herausforderung von Grenzen; F. Beveridge/S. Nott, A hard look at soft law, in: Paul P. Craig/Carol Harlow (Hrsg.), Lawmaking in the European Union, S. 285 ff.; Francis G. Snyder, Soft Law and Institutional Practice in the European Community.
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Begriff des soft law auch für das Europarecht aufgenommen.794 Auch wenn die Dichotomie mit dem Gegenstück hard law als unterkomplex kritisiert wird mit dem Argument, eine funktionale Ausdifferenzierung der gleichermaßen unverbindlichen Handlungsformen würde versperrt,795 so birgt eine differenzierte Kategorisierung unter Beachtung der Besonderheiten des jeweiligen Rechtsregimes doch auch das Potential die Wirkungsmodi zu vergleichen und gemeinsame Strukturelemente zu entdecken.796 Der Terminus soll unter Berücksichtigung der vielgestaltigen Erscheinungsformen daher zunächst beibehalten werden. Eine abschließend gültige, abstraktionsfähige Definition dieses Begriffs ist bis heute nicht gefunden, ein Umstand, der verschiedenen, zum Teil weit auseinander liegenden Auffassungen von soft law geschuldet ist. Für diese Untersuchung bietet sich die Definition von Matthias Knauff an, die selbst keine abschließende Gültigkeit beansprucht und sich in die hier vorgenommene Differenzierung zwischen fehlender originärer Normsetzungsbefugnis und fehlendem Normsetzungswillen einfügt.797 Anknüpfend an die normsetzungsbefugten Hoheitsträger definiert dieser: „Soft law sind verhaltensbezogene Regelungen, die von Hoheitsträgern beziehungsweise mit der Ausübung von Hoheitsgewalt befassten Stellen geschaffen werden, die über keine oder nur eine auf die Innensphäre des Regelungsgebers bezogene Rechtsverbindlichkeit verfügen und die ihre Steuerungswirkungen auf außerrechtlichem Wege erzielen.“798
Um die hier in Frage stehenden Empfehlungen unter diesen Begriff subsumieren und am Ende eine Optimierung ethischer Steuerung in der Wissenschaft durch „weiche“ Handlungsformen anstreben zu können, soll diese Definition im Folgenden als Matrix fungieren. 794 So bereits Michael Bothe, „Soft Law“ in den Europäischen Gemeinschaften?, in: Ingo von Münch (Hrsg.), Staatsrecht, Völkerrecht, Europarecht – Festschrift für Hans-Jürgen Schlochauer. 795 J. Bast, Handlungsformen und Rechtsschutz, in: Armin von Bogdandy/Jürgen Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht – theoretische und dogmatische Grundzüge, S. 515 f. 796 Diesen Ansatz verfolgend auch Knauff, Der Regelungsverbund: Recht und Soft Law im Mehrebenensystem, S. 17 ff. und F. Beveridge/S. Nott, A Hard Look at Soft Law, in: Craig/Harlow, Lawmaking in the European Union, S. 289 f. 797 Vgl. dazu oben S. 92 f. 798 Knauff, Der Regelungsverbund: Recht und Soft Law im Mehrebenensystem, S. 228; diese Definition deckt sich größtenteils mit derjenigen, die Senden für das Europarecht findet und kann daher auch für deren Ansatz des soft law nutzbar gemacht werden, vgl. Senden, Soft Law in European Community Law, S. 112: „Rules of conduct that are laid down in instruments which have not been attributed legally binding force as such, but nevertheless may have certain (indirect) legal effects, and that are aimed at and may produce practical effects.“
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b) Wirkungsweisen unverbindlicher Handlungsformen Die Nutzung des Begriffs des soft law soll wie bereits verdeutlicht nicht suggerieren, es gäbe eine klare Gegenüberstellung mit hartem Recht im Sinne einer eindeutigen Kategorisierung nach ausdifferenzierten Kriterien.799 Sollen jene Steuerungsformen in sinnvoller Weise im rechtswissenschaftlichen Diskurs die notwendige Aufmerksamkeit finden, müssen sie in gradueller Sicht800 je nach tatsächlicher Wirkung betrachtet werden.801 Der Begriff des soft law soll mithin eine Vielzahl graduell ausdifferenzierter Formen politischer Handlungsweisen in den Blick nehmen und sie in den Kontext des Rechts einbetten.802 Dies gilt in gleicher Weise für die Handlungen der Europäischen Organe, die einen numerus clausus solcher Handlungsformen gerade nicht kennen. Die Offenheit des Formensystems eröffnet der Union eine Flexibilität und Lernfähigkeit, die sie in ihren Anfängen benötigte und auch in der Gegenwart noch nutzt, sowie die Möglichkeit den funktionalen Bedürfnissen entsprechend punktuell Handlungsformen aus den nationalen Rechtsordnungen zu rezipieren.803 Dies wäre nur dann bedenklich, wenn für einen Rechtschutz gegen solche Instrumente eine Anknüpfung an ihre Form notwendig wäre und dieser somit versagt bleiben könnte. Dass dem aufgrund der Formenneutralität des europäischen Rechtsschutzes gerade nicht so ist, wird im Folgenden noch aufgezeigt werden. Rechtschutz wird jedoch nur dort relevant, wo sich tatsächliche Wirkungen auf Positionen von Adressaten, also Mitgliedstaaten oder Personen, niederschlagen können. Jene Wirkungen müssen jedoch zunächst nachgewiesen werden, was nicht generell, sondern nur für den Einzelfall geschehen 799 Für eine solche binäre Betrachtungsweise mit der Konsequenz einer Feststellung tertium non datur, Prosper Weil, Towards Relative Normativity in International Law?, American Journal of International Law 1983, S. 413 ff.; Jan Klabbers, Informal Instruments before the European Court of Justice, Common Market Law Review 1994, S. 997 ff. und Wolfgang Heusel, „Weiches“ Völkerrecht – Eine vergleichende Untersuchung typischer Erscheinungsformen, S. 287 ff. 800 Den Grundstein für eine graduelle Betrachtung rechtlicher Wirkung legte bereits Lon L. Fuller, The Morality of Law, vgl. S. 122 ff. 801 So auch Peters, Typology, Utility and Legitimacy of European Soft Law, S. 410; H. Neuhold, The Inadequacy of Law-Making by International Treaties: „Soft Law“ as an Alternative?, in: Rüdiger Wolfrum (Hrsg.) Developments of International Law in Treaty Making, S. 47 f; C. Chinkin, Normative Development in the International Legal System, in: Dinah Shelton (Hrsg.) Commitment and Compliance: The Role of Non-Binding Norms in the International Legal System, S. 21 (31 f.). 802 Ebenso als „umbrella concept“ begreifend Senden, Soft Law in European Community Law, S. 110. 803 J. Bast, Handlungsformen und Rechtschutz, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht – theoretische und dogmatische Grundzüge, S. 526 f.
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kann.804 Dies ist dem Umstand geschuldet, dass diese Steuerungsinstrumente ihre Wirkung gerade nicht durch eine formelle Kategorisierung erreichen, sondern auf außerrechtlichem Wege, der durch die Formenwahl nicht determiniert wird. Der Versuch, einen Zusammenhang von Form und Wirkung abstrakt zu bestimmen, muss also von vornherein zum Scheitern verurteilt sein.805 Die Art der Wirkung kann aber zumindest grob umrissen werden, wenn man das Verhältnis zum originären Recht als Kriterium heranzieht. Diese funktionelle Unterscheidung ist in der Literatur nicht einheitlich, den Vorzug soll hier jedoch ein dreigliedriger Ansatz erhalten,806 unter den sich die anderen, ausdifferenzierteren Standpunkte ebenfalls größtenteils subsumieren lassen. aa) Rechtsvorbereitende Instrumente Unverbindliche Instrumente spielen im unionsrechtlichen Kontext, ebenso wie im Völkerrecht, oftmals eine vorbereitende Rolle für verbindliches Recht.807 Dies geschieht zum einen dadurch, dass durch die Annahme unverbindlicher Instrumente zunächst versucht wird, einen politischen Konsens zu erreichen, der mit dem Ziel einer verbindlichen Regelung nicht möglich gewesen wäre.808 Durch die zunächst unverbindliche Regelung kann damit der Weg für eine potentielle opinio juris bereitet werden.809 Auf diese Weise können derartige Vereinbarungen eine „Dynamisierungswirkung“ für die Rechtsentwicklung entfalten.810 Im unionalen Kontext geschieht dies häufig durch die Annahme sogenannter Grün- und Weißbücher, 804 Knauff, Der Regelungsverbund: Recht und Soft Law im Mehrebenensystem, S. 341. 805 Ebenso Senden, Soft Law in European Community Law, S. 219 ff. 806 Diesen Ansatz verfolgen Knauff, Der Regelungsverbund: Recht und Soft Law im Mehrebenensystem, S. 378 ff.; Peters, Typology, Utility and Legitimacy of European Soft Law, S. 420 ff.; Senden, Soft Law in European Community Law, S. 119 f. 807 Nach Soft Law in European Community Law, S. 119 f. und Peters, Typology, Utility and Legitimacy of European Soft Law, S. 420 entspricht dies der Kategorie der pre-law function, C. Chinkin, Normative Development in the International Legal System, in: Shelton, Commitment and Compliance: The Role of Non-Binding Norms in the International Legal System, S. 21 (30) nennt dies „emergent hard law“. 808 Anne Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, S. 468; Armin von Bogdandy/Jürgen Bast/Felix Arndt, Handlungsformen im Unionsrecht – Empirische Analysen und dogmatische Strukturen in einem vermeintlichen Dschungel, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 2002, S. 117. 809 Peters, Typology, Utility and Legitimacy of European Soft Law, S. 421. 810 Knauff, Der Regelungsverbund: Recht und Soft Law im Mehrebenensystem, S. 380.
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(green und white paper), durch Aktionsprogramme,811 sowie in jüngerer Zeit durch die Offene Methode der Koordinierung.812 Darüber hinaus ist insbesondere die Empfehlung als „weiches“ Rechtsangleichungsinstrument in diesem Zusammenhang zu nennen813 und soll noch eingehender untersucht werden. Eine wesentliche Rolle im Kontext der Rechtsvorbereitung spielen diese Instrumente auch in kompetenzieller Sicht. Ihre Unverbindlichkeit wird genutzt, um die domaine reservée der Staaten zu lockern und bestimmte Themengebiete trotz fehlender Kompetenz auf die internationale oder europäische Agenda zu transferieren.814 Derlei unverbindliche Instrumente sollen vor einer möglichen ultra vires-Kritik schützen, ihr Regelungsbereich wird aber dennoch der domaine reservée ein Stück weit entzogen und auf diese Weise der Weg zu einer formellen Kompetenzerweiterung bei einer Vertragsrevision geebnet,815 wodurch beispielsweise der Wissenschaftsbereich erst in das Kompetenzfeld der Union aufgenommen wurde.816 Generell ist jedoch zu konstatieren, dass die Überführung in verbindliches Recht keinesfalls beabsichtigt sein muss, und diese auch nicht automatisch erfolgt.817 Effekt und Intention sind hier oftmals nur zufällig kongruent. 811 Zu deren Wirkungen und ihrer Einordnung in rechtsvorbereitende Instrumente Senden, Soft Law in European Community Law, S. 123 ff.; gegen eine Einordung als soft law aufgrund fehlender Regelungstendenz Knauff, Der Regelungsverbund: Recht und Soft Law im Mehrebenensystem, S. 319. 812 Ausführlich zu deren Ausgestaltung und Einordnung in den Kontext des soft law Der Regelungsverbund: Recht und Soft Law im Mehrebenensystem, S. 305 ff. 813 von Bogdandy/Bast/Arndt, Handlungsformen im Unionsrecht – Empirische Analysen und dogmatische Strukturen in einem vermeintlichen Dschungel, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 2002, S. 117. 814 Peters, Typology, Utility and Legitimacy of European Soft Law, S. 420; ebenso von Bogdandy/Bast/Arndt, Handlungsformen im Unionsrecht – Empirische Analysen und dogmatische Strukturen in einem vermeintlichen Dschungel, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 2002, S. 117. 815 Peters, Typology, Utility and Legitimacy of European Soft Law, S. 423, mit Nachweisen auf welchen (heutigen) Kompetenzgebieten dieser Weg Erfolg hatte (bspw. im Umwelt- und Gesundheitsbereich). 816 Den Anfang der Wissenschaftskoordinierung auf Gemeinschaftsebene bildete die Entschließung des Rates vom 14. Januar 1974 über die Koordinierung der einzelstaatlichen Politik und die Definition der Aktionen von gemeinschaftlichem Interesse im Bereich der Wissenschaft und Technologie, ABl. 1974 C-7/2. Nach weiteren unverbindlichen Entschließungen zu ersten gemeinsamen Rahmenprogrammen (bspw. ABl. 1983 C-208/1) wurde die Wissenschaft dann schließlich durch die Einheitliche Europäische Akte als zusätzliches Kompetenzfeld in die Verträge aufgenommen. 817 Knauff, Der Regelungsverbund: Recht und Soft Law im Mehrebenensystem, S. 380.
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bb) Rechtsbegleitende Instrumente In begleitender Funktion in Relation zum Recht können formell unverbindliche Steuerungsinstrumente auch den Zweck haben, die verbindlichen Normen zu ergänzen, zu interpretieren und zu konkretisieren.818 Komplementär zum Recht können diese eine einheitliche Anwendung befördern, vor allem wenn die Rechtslage unübersichtlich oder die Regelungsdichte gering ist.819 Speziell im europarechtlichen Kontext können unverbindliche Handlungsformen auch zur einheitlichen Auslegung europäischen Rechts in den nationalen Rechtsordnungen erlassen werden,820 wozu sich insbesondere Empfehlungen und Stellungnahmen eignen. Drei Faktoren begünstigen dabei die effektive Wirksamkeit derartiger unverbindlicher Handlungsformen. Erstens die Erwartungshaltung der erlassenden Stellen, dass diese tatsächlich beachtet werden.821 Zweitens erweckt der Anschein offizieller Interpretationen durch die normsetzungsbefugten Organe bei den Anwendern das Gefühl der Rechtsicherheit im Falle der Befolgung der Vorgaben und fördert so die einheitliche Anwendung.822 Drittens ergibt sich eine nicht unerhebliche Verpflichtungswirkung zur Beachtung des soft law aus der allgemeinen Verpflichtung der Mitgliedsstaaten zur loyalen Zusammenarbeit aus Art. 4 Abs. 3 EUV.823 Die Äußerungen der Union zur Anwendung und Auslegung ihres Rechts können von den Mitgliedsstaaten nicht übergangen werden, wenn sie ihre daraus resultierende Verpflichtung erfüllen wollen und ein einheitlicher europäischer Rechtsrahmen erreicht werden soll. 818 Als elaborative soft law bezeichnend C. Chinkin, Normative Development in the International Legal System, in: Shelton, Commitment and Compliance: The Role of Non-Binding Norms in the International Legal System, S. 30. 819 Knauff, Der Regelungsverbund: Recht und Soft Law im Mehrebenensystem, S. 381. 820 von Bogdandy/Bast/Arndt, Handlungsformen im Unionsrecht – Empirische Analysen und dogmatische Strukturen in einem vermeintlichen Dschungel, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 2002, S. 116. 821 Diese Erwartungshaltung bekräftigte die Kommission in einer Entscheidung gegen Deutschland, ABl. 1990 L-188/55, in der sie die Einleitung des förmlichen Verfahrens nach Art. 93 Abs. 2 EWG-Vertrag androhte, sollte die Einhaltung des unverbindlichen Gemeinschaftsrahmen zu staatlichen Beihilfen nicht gewährleistet werden, „um der Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrahmens Geltung zu verschaffen.“ Vgl. dazu auch Snyder, Soft Law and Institutional Practice in the European Community, S. 20. 822 Knauff, Der Regelungsverbund: Recht und Soft Law im Mehrebenensystem, S. 382 m. w. N. 823 Noch für den damaligen Art. 10 EUV A. Peters, Typology, Utility and Legitimacy of European Soft Law, S. 413; Thomas von Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 251; ebenfalls in diesem Sinne, aber einschränkend M. Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EU-Kommentar, Art. 249 EGV Rn. 214.
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Der Begriff der rechtsbegleitenden Instrumente birgt zugleich eine logische Einschränkung ihrer Wirkweise: Sie können niemals verbindliches Primär- oder Sekundärrecht derogieren.824 Ihre Wirkung endet dort, wo verbindliches Recht entgegensteht. Die Untersuchung der Wirkungsweise unverbindlicher Steuerungsformen kann also erst dann beginnen, wenn feststeht, dass deren Vorgaben nicht im Gegensatz zu geltendem Primäroder Sekundärrecht, mithin auch der mittlerweile als Primärrecht geltenden Grundrechtscharta nach Art. 6 Abs. 1 EUV, steht. Soweit diese Instrumente das geltende Primär- und Sekundärrecht interpretieren stellt sich im Hinblick auf ihre Wirkung die Frage, ob die Europäischen Gerichte durch diese Interpretationen gebunden sein könnten, was deren Wirkung eminent erhöhen würde. Die Erfüllung ihres Auftrags aus Art. 19 EUV verbietet eine solche Bindung jedoch. Die Kontrolle der Tätigkeit der Europäischen Organe würde unmöglich, wären die Gerichte an deren Interpretationen des Rechts gebunden, alleine verbindlicher Maßstab müssen stets die Verträge und das Sekundärrecht bleiben.825
cc) Rechtsersetzende Instrumente Eine dritte funktionelle Kategorie der unverbindlichen Steuerungsinstrumente stellt die Ersatzfunktion gegenüber dem Recht dar.826 Im Gegensatz zu den rechtsvorbereitenden Instrumenten sind diese dadurch gekennzeichnet, dass in deren Entstehung die Alternativen nicht verbindliche oder unverbindliche Regelung waren. Diese lauteten vielmehr unverbindliche Regelung oder „Anarchie“.827 Der Wille der Normgeber richtet sich mithin darauf, dauerhaft auf verbindliche Normen zu verzichten und sich letztlich auf die informelle Gesetzgebung zu verlassen.828 In Bereichen, in denen an824
Senden, Soft Law in European Community Law, S. 243 ff.; J. Bast, Handlungsformen und Rechtsschutz, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht – theoretische und dogmatische Grundzüge, S. 532 f. 825 Vgl. dazu Senden, Soft Law in European Community Law, S. 367 ff. Die einzige Ausnahme dieses Grundsatzes kann die Situation darstellen, in der ein legislativer Akt auf einem vorhergehenden unverbindlichen Instrument zur Interpretation des Primärrechts beruht, vgl. dazu den Fall EuGH The Queen/The Licensing Authority, Rs. C-368/96, in dem der Gerichthof entschied, dass eine Ratserklärung dann zur Interpretation der auf dieser Ratstagung verabschiedeten Bestimmung des Sekundärrechts herangezogen werden kann, wenn dies der Klarstellung eines in dieser Bestimmung enthaltenen allgemeinen Begriffes dient. Dies unterstreicht die Wirkungsweise rechtsvorbereitender Instrumente. 826 Para law-function in der Terminologie von Peters, Typology, Utility and Legitimacy of European Soft Law, S. 422. 827 Ibid.
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sonsten gar keine Regelung hätte erzielt werden können, also faktisch rechtsfreien Räumen, können jene Instrumente in geringerer Wirkungsweise als verbindliches Recht ein Element der Stabilität in die jeweiligen Beziehungen einbringen, auf das ansonsten ganz verzichtet werden müsste.829 Diese „konkurrierende“ Stabilitätsquelle830 muss aber insoweit auf rechtliche Anknüpfungspunkte vollständig verzichten und ihre Wirkungen autonom begründen,831 also nur durch politische, moralische oder soziale Befolgungsvorteile. Insofern bilden sie das aussagekräftigste Beispiel von soft law und werden auch am kontroversesten diskutiert.832 Insoweit sind nun drei Kategorien von unverbindlichen Steuerungsinstrumenten für das europäische Recht vorgezeichnet. Die Kodizes der Kommission müssen in diesen Rahmen eingeordnet werden, denn aus den verschiedenen Funktionen lassen sich Unterschiede in der Wirkungsweise ableiten. Bevor dies geschieht soll aber zunächst die dafür gewählte Handlungsform der Empfehlung einer genaueren Untersuchung unterzogen werden und die Rechtsschutzmöglichkeiten der Verträge gegen formell unverbindliche Handlungsformen aufgezeigt werden. c) Insbesondere: Die Empfehlung Die Kodizes, die die Kommission im Themenkomplex wissenschaftlicher Verantwortung bislang veröffentlichte, wurden beide als Anhang zu Empfehlungen veröffentlicht.833 Insofern muss untersucht werden, welche Ursache die Wahl dieser Handlungsform hat und warum nicht eine andere Möglichkeit der Verabschiedung der Kodizes gewählt wurde.834 828 Knauff, Der Regelungsverbund: Recht und Soft Law im Mehrebenensystem, S. 384. 829 Bothe, „Soft Law“ in den Europäischen Gemeinschaften?, S. 769. 830 Knauff, Der Regelungsverbund: Recht und Soft Law im Mehrebenensystem, S. 384. 831 Im Unionsrecht ergeben sich dabei Besonderheiten, wenn der Verzicht auf rechtlich verbindliche Instrumente dennoch dazu führt, dass die Mitgliedsstaaten freiwillig beispielsweise eine Empfehlung der Europäischen Organe befolgen und diese in nationale Gesetze umsetzen. Vgl. dazu sogleich S. 243 ff. 832 Ablehnend zu rechtsersetzendem Soft Law, Schwarze, Soft Law im Recht der Europäischen Union, Europarecht 2011, EuR 2011, 3 (17); berühmtes und kontroverses Beispiel für rechtsersetzendes Soft Law im Völkerrecht sind die KSZESchlussakte, vgl. dazu Heusel, „Weiches“ Völkerrecht – Eine vergleichende Untersuchung typischer Erscheinungsformen, S. 186 ff. 833 Empfehlung der Kommission vom 7. Februar 2008 für einen Verhaltenskodex für verantwortungsvolle Forschung im Bereich der Nanowissenschaften und -technologien, ABl. 2008 L 116/46 und Empfehlung der Kommission vom 11. März 2005 über die Europäische Charta für Forscher und einen Verhaltenskodex für die Einstellung von Forschern, ABl. 2005 L 75/67.
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aa) Grundlegendes Die Empfehlung genießt, gemeinsam mit der Stellungnahme, ein in rechtlicher Sicht sachlich kaum gerechtfertigtes Aufmerksamkeitsprivileg durch ihre explizite Erwähnung in Art. 288 AEUV,835 während die in der Praxis häufigste unverbindliche Handlungsform, die Entschließung dort nicht erwähnt wird. Die Legaldefinition dieser Handlungsformen erschöpft sich in der negativen Bestimmung ihrer rechtlichen Wirkweise, was die Frage aufwirft, warum die Vertragsparteien diese in den Katalog der Rechtsakte der Union aufgenommen haben. Letzterer zeichnet sich durch eine bemerkenswerte Stabilität aus. Nur einmal ist Art. 189 EWG-Vertrag geändert worden, um mit dem Maastricht-Vertrag die Rechtsetzungsorgane des Absatzes 1 um das Parlament zu erweitern.836 Diese Kernnorm der unionsrechtlichen Rechtsquellenlehre ist jedoch nicht abschließend, zu den dort bezeichneten Rechtsakten treten eine Fülle ungekennzeichneter, zumeist unverbindlicher Rechtsakte oder Rechtsakte sui generis hinzu.837 Die Aufnahme von, als solchen definierten, nicht verbindlichen Handlungsformen in den Katalog der Rechtsakte838 ist nach einigen Autoren für den traditionellen Rechtsbegriff eine „Provokation“, gilt ihm doch gerade die Fähigkeit, Verhaltenssteuerung durch verbindliche Regelungen zu erzielen, als „Inbegriff der Rechtsqualität einer Norm“.839 Es ist aber nach historisch-genetischer und teleologischer Auslegung davon auszugehen, dass die Römischen Verträge 834 Beispielsweise wurden der code of conduct for arms exports, ABl. 1998 C 167/226, und der code of conduct for Community companies operating in South Africa, ABl. 1986 C 68/130, als Entschließung des Europaparlaments verabschiedet, der code of conduct for business taxation, ABl. 1998 C 2/2, und der code of conduct for improved cooperation between authorities of the Member States concerning the combating of transnational social security benefit and contribution fraud and undeclared work, and concerning the transnational hiring-out of workers, ABl. 1999 C 125/1, als Entschließung des Rates und der code of conduct concerning public access to Council and Commission documents dagegen als eigenständige Handlungsform in der L-Reihe des Amtsblatts, ABl. 1993 L 340/41. Eine typische Form der Verabschiedung von Kodizes in der Union ist insofern nicht auszumachen, könnte aber ein Indiz für die beabsichtigte Wirkweise darstellen, vgl. dazu noch unten S. 244 ff. 835 J. Bast, Handlungsformen und Rechtschutz, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht – theoretische und dogmatische Grundzüge, S. 515. 836 Ibid., S. 525. 837 M. Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV/GRC-Kommentar, Art. 249 EGV Rn. 129. 838 Vgl. die Überschrift des Abschnitt 1 „Die Rechtsakte der Union“ (Englisch: „The legal acts of the Union“). 839 von Bogdandy/Bast/Arndt, Handlungsformen im Unionsrecht – Empirische Analysen und dogmatische Strukturen in einem vermeintlichen Dschungel, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 2002, S. 114.
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den Organen einen Kernbestand an Handlungsformen zur Verfügung stellen wollten, dessen praktische Erprobung, Ausgestaltung und Ergänzung von vorne herein beabsichtigt war.840 Dabei sollte die Empfehlung den Europäischen Organen die Möglichkeit bieten, auch nicht verbindliche Formen politischer Willensäußerungen zu nutzen,841 was auch ein Gebot des aus dem Verhältnismäßigkeitprinzip abgeleiteten Prinzips des formenbezogenen Interventionsminimums ist.842 Insoweit ist die Aufnahme der Empfehlung in den Art. 288 AEUV nur eine Wiedergabe der tatsächlichen Handlungsmöglichkeiten, die die Verträge vorsehen, die jedoch vor allem für unverbindliche Handlungsformen nicht abschließend sein sollte. Bemerkenswert ist die Regelung der Zuständigkeitsfrage für diese Handlungsform in den Verträgen. Obwohl grundsätzlich auch für die Empfehlung das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung gilt,843 die Organe also einer Ermächtigung in den Verträgen bedürfen um eine solche abgeben zu können, wurde dieser Grundsatz für die Europäische Kommission in Art. 155 EWG-Vertrag und dem ihm nachfolgenden Art. 211 EGV in der Fassung des Vertrags von Amsterdam durchbrochen. Danach konnte die Kommission in allen Bereichen Empfehlungen und Stellungnahmen abgegeben, „soweit sie es für notwendig erachtet“. Dieser Artikel ging in Art. 17 EUV auf, wobei auch dessen Wortlaut geändert wurde, so dass die Befugnis generell Empfehlungen auszusprechen nicht mehr explizit erwähnt ist. Ziel des Lissabonner Vertrages und der Neuformulierung war es aber nicht, die Kompetenzen der Kommission einzuschränken, sondern lediglich die bisherigen Aufgaben zusammenzufassen und diese allgemein und zielorientiert wiederzugeben.844 Die Befugnis Empfehlungen und Stellungnah840 J. Bast, Handlungsformen und Rechtsschutz, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht – theoretische und dogmatische Grundzüge, S. 527 m. w. N. 841 So sehen die Verträge explizit die Empfehlung als Handlungsform für die Kommission in den Artt. 60 Abs. 2, 97 S. 3, 117, 121 Abs. 2 und 4, 126 Abs. 7, 144 Abs. 3, 148 Abs. 4, 207 Abs. 3, 218 Abs. 3 und 292 AEUV vor, für den Rat in den Artt. 121 Abs. 2 und 4, 126 Abs. 7, 148 Abs. 4, 165 Abs. 4, 167 Abs. 5, 168 Abs. 6 und 292 Abs. 1 AEUV. 842 J. Bast, Handlungsformen und Rechtsschutz, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht – theoretische und dogmatische Grundzüge, S. 540; M. Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EU-Kommentar, Art. 249 EGV Rn. 78 und 103. 843 M. Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV/GRC-Kommentar, Art. 249 EGV Rn. 128; M. Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EU-Kommentar, Art. 249 EGV Rn. 208. 844 Vgl. Rudolf Streinz/Christoph Ohler/Christoph Herrmann, Der Vertrag von Lissabon zur Reform der EU – Einführung mit Synopse, S. 70; wegen der Wortund Motivgleichheit des Art. I-26 EVV vgl. auch V. Epping, in: Christoph Vedder/ Wolf Heintschel von Heinegg (Hrsg.), Europäischer Verfassungsvertrag – Handkommentar, Art. I-26 Rn. 3.
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men in allen Bereichen abzugeben wurde ihrer Funktion entsprechend, als „Motor der Integration“ die Interessen der Union voranzutreiben, durch die Formulierung „die allgemeinen Interessen der Union“ zu fördern und „geeignete Initiativen“ zu ergreifen, auch in Art. 17 EUV übernommen.845 Damit ist zugleich die Erklärung für die Durchbrechung des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung in den alten Verträgen gegeben. Die Kommission sollte die Integration vorantreiben durch Nutzung der „Dynamisierungswirkung“846 unverbindlicher Steuerungsinstrumente. Dies sollte durch den Lissabonvertrag fortgelten, wodurch die Kommission auch weiterhin die Kompetenz besitzt, auf jedem ihr geeignet erscheinenden Gebiet Empfehlungen zu erlassen, um die Interessen der Union zu fördern. Obwohl der Wortlaut des Art. 288 Abs. 5 AEUV eindeutig erscheint, ist es mittlerweile allgemeine Meinung, dass deren Unverbindlichkeit nicht mit rechtlicher Irrelevanz gleichzusetzen ist.847 Die tatsächliche rechtliche Relevanz ergibt sich erst aus anderen Faktoren, die ihre Ursache zum Teil in den Verträgen haben, zum Teil auch durch außerhalb liegende Umstände begründet wird. Sie lassen sich in drei Gruppen zusammenfassen. bb) Rechtliche Relevanz aufgrund prozeduraler Voraussetzungen der Verträge Empfehlungen können zunächst rechtlich dadurch relevant werden, dass sie als prozedurale Vorbedingungen für weitere Maßnahmen von den Verträgen vorgeschrieben werden, was ein abgestuftes Verfahren der Koordinierung zwischen den Organen und den Mitgliedsstaaten gewährleisten soll, beispielsweise in Art. 117 und 126 Abs. 7 AEUV. Diese Vorschriften betreffen jeweils spezifische Bereiche des unionalen Handelns und sind insoweit weder verallgemeinerbar noch im vorliegenden Kontext anwendbar. Sie sollen jedoch der Vollständigkeit halber erwähnt werden, um die rechtliche Relevanz der Empfehlungen in all ihren Ausprägungen zu erfassen. 845 So explizit für die umfassende Befugnis zur Abgabe von Empfehlungen und Stellungnahmen auch R. Geiger, in: Rudolf Geiger/Daniel-Erasmus Khan/Markus Kotzur (Hrsg.), Vertrag über die Europäische Union und Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union – Kommentar, Art. 17 EUV Rn. 5. 846 Vgl. zu diesem Effekt der rechtsvorbereitenden Instrument bereits oben, S. 235 und Knauff, Der Regelungsverbund: Recht und Soft Law im Mehrebenensystem, S. 380. 847 Vgl. M. Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EU-Kommentar, Art. 249 EGV Rn. 214; M. Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV/GRC-Kommentar, Art. 249 EGV Rn. 126; G. Schmidt, in: von der Groeben/Schwarze, EU/EG.Kommentar, Art. 249 EGV Rn. 50; Streinz, Europarecht, S. 167 f.; vgl. auch bereits Hans Peter Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 461.
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cc) Rechtliche Relevanz durch Auslegung nationalen Rechts Eine hervorgehobene rechtswissenschaftliche Aufmerksamkeit erlangte die Empfehlung durch die Grimaldi-Entscheidung des EuGH im Jahre 1989.848 Dort stellte der EuGH klar, dass Empfehlungen zwar keine unmittelbare Wirksamkeit erlangen können, auch wenn diese klar, unbedingt, hinreichend genau und eindeutig formuliert sind und über 25 Jahre keine Umsetzung durch den betreffenden Mitgliedsstaat erfahren haben. Insofern seien sie weder rechtlich bindend, noch könnten sie subjektive Rechte begründen. Dem fügte der Gerichthof jedoch „zur Vollständigkeit“ hinzu, dass Empfehlungen rechtlich nicht völlig wirkungslos seien. Aus diesen erwachse vielmehr eine Verpflichtung der innerstaatlichen Gerichte, sie bei der Auslegung innerstaatlichen Rechts zu berücksichtigen, wenn dieses zur Durchführung der Empfehlung erlassen wurde oder wenn sie verbindliche gemeinschaftliche Vorschriften ergänzen sollen.849 Die Anordnung der Berücksichtigung durch die nationalen Gerichte sowie die Qualifizierung als Auslegungsmaßstab für andere rechtsverbindliche Normen konterkarierte die Bestimmung des Art. 189 Abs. 5 EWG-Vertrag (heute: Art. 288 AEUV) und vermittelt den Empfehlungen eine Verbindlichkeit, die über den Normtext dieser Vorschrift hinausging. Insofern scheint es gerechtfertigt, von einer Rechtsfortbildung gegen den Vertragstext zu sprechen.850 Für die rechtlichen Wirkungen der Empfehlung stellt diese Entwicklung jedenfalls einen Quantensprung dar, als sie von einer freiwilligen zu einer verpflichtenden Interpretationshilfe heraufgestuft wurden und die Abweichung von ihnen zumindest begründungsbedürftig, wenn nicht gar faktisch ausgeschlossen sein dürfte.851 Im Kontext der funktionalen Differenzierung unverbindlicher Steuerungsinstrumente lässt sich diese Wirkungsweise den ersten beiden Funktionen zuordnen. Werden Empfehlungen rechtsvorbereitend verabschiedet, die von den Mitgliedsstaaten – wie beabsichtigt – freiwillig in verbindliches, harmonisiertes Recht umgesetzt werden, entfalten sie Wirkungen bei der gerichtlichen Auslegung dieses Rechts. Sind Empfehlungen rechtsbegleitend zur Konkretisierung oder Ergänzung bestehender Normen erlassen worden, so sind diese bei der Auslegung derselben zu berücksichtigen. Als rechtsersetzende Akte fehlt ihnen jedoch ein Anknüpfungspunkt im nationalen und unionalen Recht, der für die Gerichte relevant werden könnte. 848
EuGH Grimaldi, Rs. C-322/88, Entscheidung vom 13.12.1989. Ibid Rn. 18, bestätigt in EuGH Deutsche Shell AG, Rs. C-188/91, Rn. 17 f. 850 So M. Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV/GRC-Kommentar, Art. 249 EGV Rn. 126. 851 In diesem Sinne Senden, Soft Law in European Community Law, S. 391 f., die darin eine enge Verknüpfung mit dem Prinzip der loyalen Zusammenarbeit aus Art. 4 Abs. 3 EUV entdeckt. 849
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dd) Rechtliche Relevanz über außerrechtliche Faktoren Die außerrechtliche Wirkungsweise mit Reflexwirkungen auf das Recht ist die dritte Entfaltungsmöglichkeit rechtlicher Relevanz der Empfehlungen. Jene soft law-typische Wirkung wird auch im europarechtlichen Kontext anerkannt,852 wobei diese wie im Völkerrecht durch psychologische und politische Faktoren begründet wird. Für die Europäische Ebene ergeben sich diese im Speziellen aus dem allgemeinen Grundsatz der Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit wie er in Art. 4 Abs. 3 EUV kodifiziert ist und vom EuGH in der Rechtsprechung entfaltet wurde.853 Darüber hinaus wird in der Literatur angeführt, die Mitgliedsstaaten würden die besondere Autorität der Unionsorgane anerkennen, die aus ihrer Sachkenntnis und größeren Übersicht resultierte, wodurch deren Äußerungen trotz ihrer Unverbindlichkeit größeres Gewicht erlangten.854 Zudem sprächen Praktikabilitäts- oder Opportunitätserwägungen für eine freiwillige Umsetzung solcher Vorgaben, denn letztlich wolle sich kein Mitgliedsstaat integrationsfeindliches Verhalten vorwerfen lassen.855 Addiert man jene Erwägungen so ergibt sich ein Befolgungsdruck, vor allem für kleinere Mitgliedsstaaten, der sich auch in der rechtlichen und speziell der grundrechtlichen Beurteilung dieser Handlungsform widerspiegeln muss. Dabei muss jedoch beachtet werden, dass dies nicht pauschal gelten kann, sondern vielmehr von den Regelungsinhalten, der Bestimmtheit und tatsächlichen Anwendbarkeit solcher Empfehlungen abhängt, die für den Grad der politischen oder psychologischen Wirkungen konstitutiv sind. d) Insbesondere: Codes of Conduct oder Verhaltenskodizes Die Empfehlung ist im vorliegenden Kontext nur das Rahmeninstrument, das zur unverbindlichen Steuerung der Wissenschaft genutzt wird. Die normativen Aussagen der Empfehlung werden hingegen in einem angehängten 852
Vgl. bereits oben, S. 238 und M. Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUKommentar, Art. 249 EGV Rn. 214; M. Ruffert, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV/ GRC-Kommentar, Art. 249 EGV Rn. 126; Michael Schweitzer/Waldemar Hummer/ Walter Obwexer, Europarecht – Das Recht der Europäischen Union, S. 89 f. 853 EuGH Luxemburg/Parlament, Rs. 230/81, Slg. 1983, 255, 287, Rdnr. 37; Fromme, Rs. 54/81, Slg. 1982, 1449, 1463, Rdnr. 5; Frankreich/Parlament, Rs. 358/85 u. 51/86, Slg. 1988, 4821, 4855, Rdnr. 34; Italien/Kommission, Rs. 14/88, Slg. 1989, 3677, 3706, Rdnr. 20; Zwartveld, Rs. C-2/88, Slg. 1990, I-3365, 3372, Rdnr. 17; vgl. auch die 3. Erklärung zu Art. 10 in der Schlussakte zum Vertrag von Nizza. 854 M. Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EU-Kommentar, Art. 249 EGV Rn. 216. 855 M. Nettesheim, in: ibid.
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Verhaltenskodex getroffen. Um Gründe für diese Formenwahl zu finden, soll daher untersucht werden, welche Charakteristika die Kodizes aufweisen. Bei einer Zusammenschau der verschiedenen Verhaltenskodizes der Europäischen Organe fällt zunächst auf, dass sich dabei weder ein Muster der Verwendung noch der Rechtsnatur erkennen lässt. Die Themenfelder sind zunächst breit gefächert,856 die jeweils gewählte Handlungsform als Rahmeninstrument fiel wie bereits festgestellt unterschiedlich aus.857 Auch lässt sich weder über die typischen Urheber,858 noch die typischen Adressaten859 eine kategorisierende Aussage treffen. Darüber hinaus sind sowohl Rechtsbindungswille als auch Formulierung nicht einheitlich festzustellen, was sich an den als „Verhaltenskodex“ verabschiedeten Verordnungen zu Computerreservierungssystemen nachweisen lässt.860 Auch in der Literatur sind 856 Es wurden Kodizes bezüglich der Waffenexporte, der Kooperation mit Staaten, der Unternehmensbesteuerung, zur sozialen Sicherheit, zum Zugang von Dokumenten, der Entwicklungszusammenarbeit und vielem mehr getroffen, vgl. code of conduct for arms exports, ABl. 1998 C 167/226, code of conduct for Community companies operating in South Africa, ABl. 1986 C 68/130, code of conduct for business taxation, ABl. 1998 C 2/2, code of conduct for improved cooperation between authorities of the Member States concerning the combating of transnational social security benefit and contribution fraud and undeclared work, and concerning the transnational hiring-out of workers, ABl. 1999 C 125/1, code of conduct concerning public access to Council and Commission documents ABl. 1993 L 340/41, code of conduct on complementarity and division of labour in development policy, Ratsdokument 9090/07. Vgl. auch den Verhaltenskodex zu Streitschlichtungsmechanismen im Anhang zum „Beschluss des Rates vom 10. November 2009 über den Abschluss eines Abkommens in Form eines Protokolls zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der Libanesischen Republik zur Festlegung eines Mechanismus für die Beilegung von Streitigkeiten, die die Handelsbestimmungen des Europa-Mittelmeer-Abkommens zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Libanesischen Republik andererseits betreffen“, ABl. 2010 L-328/20. 857 Vgl. Fn. 834. 858 Sowohl das Europäische Parlament, als auch der Rat und die Kommission haben sich dieser Form bereits bedient. 859 So sind der Verhaltenskodex zwischen dem Rat, den Mitgliedstaaten und der Kommission zur Festlegung interner Regelungen für die Durchführung des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen durch die Europäische Union und für die Vertretung der Europäischen Union in Bezug auf das Übereinkommen, ABl. 2010 C-340/11 und der code of conduct concerning public access to Council and Commission documents ABl. 1993 L 340/41 interinstitutionelle Instrumente, der Verhaltenskodex für Kommissionsmitglieder, SEK(2004)1487/2 nur innerhalb des Organs der Kommission anzuwenden und die code of conduct for arms exports, ABl. 1998 C 167/226, code of conduct for Community companies operating in South Africa, ABl. 1986 C 68/130, code of conduct for business taxation, ABl. 1998 C 2/2 an die Allgemeinheit gerichtet. 860 Vgl. die Verordnung Nr. 80/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. Januar 2009 über einen Verhaltenskodex in Bezug auf Computerreservie-
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Versuche bislang misslungen diese atypische Handlungsform861 zu kategorisieren.862 Sie lassen sich sowohl den rechtsvorbereitenden, als auch den rechtsbegleitenden, sowie den rechtsersetzenden Instrumenten zuordnen.863 Die Rechtsprechung der Europäischen Gerichte hatte sich nur in zwei Fällen mit den Rechtswirkungen eines Verhaltenskodex zu befassen. Zunächst stellte der EuGH in der Entscheidung Niederlande/Rat fest, dass ein interinstitutioneller Verhaltenskodex zwischen Kommission und Rat zum öffentlichen Zugang zu Dokumenten dieser Organe noch keine Rechtswirkungen entfalte, wenn dieser erst auf spätere Durchführungsmaßnahmen gerichtet sei.864 Gleich darauf stellte der Gerichtshof aber klar, dass jener Verhaltenskodex aber dann Rechte Dritter begründen könne, also mithin Rechtswirkungen entfalte, wenn der daraus resultierende Beschluss eine bislang fehlende Regelung des Zugangs zu Dokumenten treffe, auch wenn diese originär eine interne Maßnahme darstelle.865 Entsprechend hat auch das Gericht erster Instanz in einem späteren Urteil darauf hingewiesen, dass Bestimmungen desselben Verhaltenskodex eng ausgelegt werden müssten, um das im zugehörigen Beschluss angestrebte Ziel der Transparenz zu erreichen.866 Die Fähigkeit Rechtswirkungen und damit Verbindlichkeit zu entfalten hängt also nach dieser Rechtsprechung nicht von der gewählten Form, sondern alleine vom Inhalt des jeweiligen Instruments ab. Dass dies der Rechtsprechung der Gerichte bei unverbindlichen Handlungsformen entspricht, soll im Folgenden aufgezeigt werden. Für Verhaltenskodizes im europäischen Recht kann somit keine generelle Aussage über ihre Rechtsnatur und Verbindlichkeit getroffen werden, sondern entsprechend den bisherigen Erkenntnissen nur auf die Prüfung im Einzelfall verwiesen werden.
rungssysteme, ABl. 2009 L 35/47, die die ebenfalls als Verhaltenskodex ausgestaltete Verordnung (EWG) Nr. 2299/89 des Rates aufhob. 861 Soweit sie aufgrund ihrer stetigen Verbindung mit anderen originären Handlungsformen überhaupt als solche bezeichnet werden kann. 862 Vgl. die Bemühungen bei Senden, Soft Law in European Community Law, S. 211 ff., die jedoch kaum generelle Aussagen hervorbringen. 863 Ibid. S. 214 ff. 864 EuGH Niederlande/Rat, Rs. C-58/94, Leitsatz 1 und Rn. 23 ff. 865 Ibid. Rn. 28 ff. 866 EuG Rs. T-105/95, Leitsatz 1.
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e) Rechtsschutz gegen unverbindliche Handlungsformen? aa) Als Gegenstand der Nichtigkeitsklage nach Art. 263 AEUV Ausweislich der Formulierung des Art. 263 AEUV könnte man zunächst den Eindruck gewinnen, unverbindliche Handlungsformen seien vom Rechtschutz der Europäischen Gerichte ausgenommen, da deren prominentesten Beispiele, Empfehlungen und Stellungnahmen, explizit von den zulässigen Klagegegenständen der Nichtigkeitsklage ausgenommen sind. Der EuGH hat jedoch bereits früh im AETR-Urteil festgestellt, dass der Rechtsschutz gegen Handlungen der Europäischen Organe nicht von deren Form abhängen soll, sondern allein deren rechtlichen Wirkungen den Ausschlag geben müssten. Dem Auftrag aus Art. 19 EUV entsprechend, die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge zu sichern, muss gegen alle diejenigen Handlungen der Europäischen Organe, die Rechtswirkungen erzeugen können, die Klage aus Art. 263 AEUV gegeben sein,867 also nicht nur die explizit als verbindlich definierten Akte des Art. 288 AEUV. Der Schritt zu der Feststellung, dass für die Qualifizierung einer anfechtbaren Handlung im Sinne dieses Artikels nicht die Form ausschlaggebend ist, sondern deren Wesen, d.h. inwieweit sie verbindliche Rechtswirkungen erzeugen kann,868 war insoweit dann nur noch ein kleiner. Entscheidendes Kriterium für die Möglichkeit des Rechtsschutzes gegen Handlungen der Organe vor dem EuGH ist somit die Fähigkeit „Rechtswirkungen“869 zu erzeugen. Noch nicht völlig geklärt ist dabei, welche Ausprägung diese Rechtswirkungen haben müssen, damit sie vom Gericht anerkannt werden. Der an sich gebotene Schluss von der Handlungsform auf die rechtlichen Wirkungen durch Art. 288 AEUV konnte nach der Intention des Gerichtshofs nicht mehr ausreichen, der schließlich eine Privilegierung des Kriteriums der Rechtsnatur gegenüber dem der Wahl der Form erreichen wollte, um Lücken des Rechtsschutzes schließen zu können.870 Bei einer unverbindlichen Mitteilung der Kommission871 hat der EuGH bei867
EuGH AETR, Rs. C-22/70, Rn. 42; im Folgenden führt er weiter aus: „Eine die Zulässigkeitsvoraussetzungen dahin einschränkende Auslegung, daß die Klage nur gegen die in Art. 189 [jetzt Art. 288 AEUV (d.Verf.)] genannten Arten von Handlungen gegeben wäre, würde diesem Ziel zuwiderlaufen. Die Anfechtungsklage muß daher gegen alle Handlungen der Organe, die dazu bestimmt sind, Rechtswirkungen zu erzeugen, ohne Unterschied ihrer Rechtsnatur oder Form zulässig sein.“ 868 EuGH IBM, Rs. 60/81, 1. Leitsatz. 869 Engl.: legal effects, franz. : effects de droit. 870 J. Bast, Handlungsformen und Rechtsschutz, in: von Bogdandy/Bast, Europäisches Verfassungsrecht – theoretische und dogmatische Grundzüge, S. 520 und 523.
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spielsweise festgestellt, dass diese darauf gerichtet sein kann, verbindliche Rechtswirkungen zu erzeugen und sie für nichtig erklärt,872 wobei deren Rechtswirkungen zum einen aus der zwingenden Formulierung,873 zum anderen aber vor allem aus der Tatsache geschöpft wurden, dass diese gegenüber den Grundfreiheiten gerade neue, spezifische Verpflichtungen begründen sollte.874 Die imperativen Formulierungen des Texts der Mitteilungen können dabei, gerade auch wenn sie eine vorherige Betonung der Unverbindlichkeit konterkarieren, auf einen Regelungswillen des Normgebers hinweisen, der in der Folge vom Gericht anerkannt wird.875 Jene beiden Kriterien konkretisieren das Erfordernis der Rechtswirkungen auf solche, die zum einen in imperativer Formulierung den Willen des Normgebers repräsentieren unmittelbar verbindliche Handlungspflichten der Adressaten zu begründen und die zum anderen gegenüber primärem und sekundärem Recht neue Verpflichtungen darstellen und nicht bloß die Rechtslage wiedergeben. Dies führt zu dem Schluss, dass unverbindliche Handlungsformen dann Gegenstand des gerichtlichen Rechtsschutzes sein können, wenn sie nur deren Erscheinungsform aufweisen, sich im Übrigen aber als verbindliche Rechtsakte darstellen. Entscheidendes Differenzierungskriterium ist somit nicht die Form, sondern der Inhalt, also Wortlaut, Kontext und rechtlicher Rahmen des Themenkomplexes.876 Der Umkehrschluss lautet aber, dass jene Rechtswirkungen, die nur indirekt feststellbar sind und damit dem hier gewählten soft law-Begriff unterfallen, nicht ausreichen können, um das jeweilige Instrument zum Gegenstand einer Nichtigkeitsklage zu machen. Gerade mit Blick auf mittelbarfaktische Verkürzungen grundrechtlicher Freiheitsbereiche könnte dies problematisch werden.
871 Diese wurde in Teil C des Amtsblatts veröffentlicht, was auf eine das Recht konstituierende Außenwirkung deutet; so zumindest die Argumentation Deutschlands, in: EuG Deutschland/Kommission Rs. T-258/06 Rn. 30. 872 EuGH Frankreich/Kommission, Entscheidung vom 9.10.1990, Rs. C-57/95, Rn. 13 ff. 873 Ibid. Rn. 18. 874 Ibid. Rn. 19 f.; die Neuheit dieser Verpflichtung ist in diesem Zusammenhang ein entscheidender Faktor, vgl. Senden, Soft Law in European Community Law, S. 358 f. 875 Ibid., S. 253. 876 So explizit EuGH Spanien/Kommission, Rs. C-135/93, Rn. 22.
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bb) Als Gegenstand des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV Etwas anders stellt sich die Lage dar, wenn eine unverbindliche Handlungsform zum Gegenstand eines Vorabentscheidungsverfahrens gemacht werden soll. Wie zuvor bereits ausgeführt wurde, hat der EuGH in der Grimaldi-Entscheidung der Empfehlung eine rechtliche Relevanz dahingehend zugordnet, dass die nationalen Gerichte diese berücksichtigen müssten, wenn sie nationale Umsetzungsakte zu beurteilen hätten.877 Ebenso wurden beim Vorabentscheidungsverfahren auch andere unverbindliche Maßnahmen für relevant und überprüfbar gehalten.878 Mit den Worten des Gerichtshofs verleihe Art. 267 AEUV im Gegensatz zu Art. 263 AEUV die Befugnis, im Wege der Vorabentscheidung über die Gültigkeit und die Auslegung der Handlungen der Organe der Gemeinschaften ohne jede Ausnahme zu entscheiden.879 Das Vorabentscheidungsverfahren wäre mithin die einzige Möglichkeit europäische soft law-Akte gerichtlich überprüfen zu lassen. Das Hindernis hierbei besteht jedoch darin, dass diese möglicherweise weder isoliert, noch in vollem Umfang kontrolliert werden können. Zum einen können unverbindliche Handlungsformen nur dann kontrolliert werden, wenn sie „Aufschluß über die Auslegung zu ihrer Durchführung erlassener innerstaatlicher Rechtsvorschriften geben oder wenn sie verbindliche gemeinschaftliche Vorschriften ergänzen sollen.“880 Sie bedürfen also eines Anknüpfungspunkts, der entweder in einem nationalen Umsetzungsakt oder einem verbindlichen europäischen Rechtsakt zu suchen ist. Mithin ist eine abstrakte Kontrolle dieser Steuerungsinstrumente nicht möglich. Nur eine Überprüfung anhand eines konkreten Falles wäre denkbar. Zum anderen ist es unklar, ob auch eine umfängliche Gültigkeitskontrolle dieser Handlungsformen stattfinden kann. Nach der bisherigen Rechtsprechung der Gerichte fungieren sie lediglich als verpflichtende Auslegungshilfe für andere Rechtshandlungen.881 Nachdem im Grimaldi-Urteil diese Feststellung nur abstrakt beiläufig im Sinne eines obiter dictum getroffen wurde, hat der Gerichthof später erneut betont, dass er für die Auslegung solcher Instrumente zuständig ist,882 weitere Hinweise sind der Rechtspre877 EuGH Grimaldi, Rs.C-322/88, Entscheidung vom 13.12.1989; vgl. bereits S. 243 ff. 878 EuGH Frecassetti, Rs. C-113/75, Rn. 8 f.; EuGH Deutsche Shell AG, Rs. C-188/91, Rn. 18. 879 EuGH Grimaldi, Rs.C-322/88, 1. Leitsatz. 880 EuGH Grimaldi, Rs.C-322/88, Rn. 18; siehe auch EuGH Deutsche Shell AG, Rs. C-188/91, Rn. 18. 881 Siehe oben S. 243 ff. 882 EuGH Deutsche Shell AG, Rs. C-188/91, Rn. 19.
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chung jedoch nicht zu entnehmen. Demgegenüber spricht der Vertragstext eine eindeutige Sprache, als er die Gültigkeit der Handlungen in Art. 267 Abs. 1 lit b) AEUV zum Gegenstand des Vorabentscheidungsverfahrens macht. Wenn der Gerichtshof insofern bei der Auslegung auch unverbindliche Handlungen zum Gegenstand des Verfahrens macht, so muss dies auch für die Gültigkeitsfrage gelten.883 Zu beachten ist hierbei zudem, dass die unverbindlichen Steuerungsformen nicht von der Präklusionswirkung der Nichtigkeitsklage des Art. 263 Abs. 6 AEUV erfasst werden,884 da diese, wie zuvor ausgeführt, kein zulässiger Gegenstand dieser Klage wären. cc) Fazit Der Rechtsschutz in der Europäischen Union gegen unverbindliche Steuerungsinstrumente ist zwar nicht umfassend, aber dennoch vorhanden. Sie können dann zum Gegenstand der Nichtigkeitsklage gemacht werden, wenn sie sich lediglich ihrer äußeren Form nach als unverbindlich präsentieren, im Übrigen aber direkte verbindliche Rechtswirkungen erzeugen. Des Weiteren sind sie noch weiter gehend angreifbar, wenn vor den nationalen Gerichten Umsetzungsmaßnahmen behandelt werden, die dann im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens geklärt werden. Wenngleich es im Sinne der Bestrebungen der Union, den Grundrechtsschutz in Europa auszubauen, wünschenswert wäre, auch direkt gegen grundrechtsgefährdende und beeinträchtigende Maßnahmen vorzugehen, auch wenn diese nur mittelbare Rechtswirkungen erzeugen, so ist doch der indirekte Weg über die mitgliedsstaatlichen Gerichte eröffnet, wenn sich die Grundrechtsbeeinträchtigung durch eine Implementierung der Steuerungsinstrumente realisiert.
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Ebenso C. Gaitanides, in: von der Groeben/Schwarze, EU/EG.Kommentar, Art. 234 EGV Rn. 19 und 33; U. Karpenstein, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUKommentar, Art. 234 EGV Rn. 24; unklar demgegenüber B. Wegener, in: Calliess/ Ruffert, EUV/EGV/GRC-Kommentar, Art. 234 Rn. 12, der nur von der Gültigkeitskontrolle „rechtlich relevanter Akte“ spricht. Zuvor erklärt er jedoch auch Empfehlungen und Stellungnahmen zu tauglichen Gegenständen der Auslegung durch die Europäischen Gerichte. Es ist insofern anzunehmen, dass er diese auch in seine Terminologie der „rechtlich relevanten Akte“ mit einbezieht. 884 Vgl. hierzu nur C. Gaitanides, in: von der Groeben/Schwarze, EU/EG.Kommentar, Art. 234 EGV Rn. 38 f.
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3. Die rechtliche Einordnung der Steuerungsversuche ethischer Verantwortung in der Wissenschaft durch die Europäische Kommission Nach der generellen Bestimmung der Wissenschaftsfreiheit und deren Grenzen sowie der unverbindlichen Handlungsformen im Europäischen Recht sollen nunmehr anhand der zuvor erarbeiteten Ergebnisse die bisherigen Steuerungsversuche der Kommission für eine ethisch verantwortliche Forschung im europäischen Forschungsraum auf ihre rechtlichen Eigenschaften untersucht werden. Dies soll exemplarisch anhand des Verhaltenskodex für verantwortungsvolle Forschung im Bereich der Nanowissenschaften und -technologien erfolgen. a) Die rechtliche Einordnung des Verhaltenskodex für verantwortungsvolle Forschung im Bereich der Nanowissenschaften und -technologien als verbindliche Handlungsform? Eine Analyse dieses Verhaltenskodexes bezüglich seiner Entstehung, des Inhalts und der faktischen Bindungswirkung wurde bereits zuvor in Kapitel 4 vorgenommen.885 Nun soll er anhand der zuvor aufgestellten Parameter in den Kontext des Unionsrechts eingeordnet werden. Zunächst muss untersucht werden, ob der Kodex nicht als verbindliche Handlungsform klassifiziert werden kann, die den originären Rechtsakten der Union aufgrund ihres Inhalts und ihrer Rechtswirkungen gleichgestellt werden könnte. Voraussetzung wären nach den Kriterien der Rechtsprechung in Frankreich/Kommission886 imperative Anordnungen, die gegenüber bisherigem Primär- und Sekundärrecht neue Verpflichtungen begründen. aa) Keine Indizien durch die Form und Formulierungen des Kodex Nach dem bisher erarbeiteten ist das zweite Kriterium durch die jeweiligen Bindungswirkungen des Kodexes erfüllt, es ergeben sich faktische Verpflichtungen der Implementierung und über deren Fortschritte dabei zu berichten.887 Zudem sind Forscher in ihren Forschungsentscheidungen gebunden, wenn sie auf europäischer Ebene an Großprojekten teilhaben wollen. Damit ist zumindest eine grundrechtliche Relevanz eröffnet, da die Freiheit der Forschung durch diese Pflichten in ihrem Schutzbereich betroffen ist. Das erste Kriterium jedoch ist durch die durchgängige Betonung der Frei885 886 887
Vgl. S. 68 ff. EuGH Frankreich/Kommission, Rs. C-57/95, Rn. 13 ff. Siehe S. 75 ff.
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willigkeit und der Wahl der deontischen Operatoren bewusst nicht erfüllt. Vielmehr deutet der Wortlaut auf einen fehlenden Rechtsbindungswillen hin, was nach der Rechtsprechung des EuGH ein konstitutives Kriterium für verbindliche Normen ist.888 Nach den bisherigen Kriterien der Europäischen Rechtsprechung wäre damit eine verbindliche Handlungsform im Gewand einer Empfehlung nicht festzustellen.889 An früherer Stelle wurde hier jedoch bereits darauf hingewiesen, dass der ausgedrückte Wille des Normgebers zwar ein Indiz, aber kein zwingendes Kriterium bei der Bewertung einer Norm sein kann.890 Dabei wurde vor allem auch auf die Normsetzungsbefugnis als zusätzliches Kriterium abgestellt. Mag man einen alternativen Weg gegenüber dem Ansatz der europäischen Rechtsprechung wählen, so wäre an dieser Stelle anzusetzen. Eine allgemeine Normsetzungsbefugnis der Kommission im Bereich der Wissenschaft ist jedoch fraglich. Die Kommission selbst stützte ihre Empfehlung zum NuN-Kodex auf den damaligen Art. 211 EGV, also die allgemeine Kompetenz der Kommission Empfehlungen abzugeben. Dies kann jedoch nicht als Kompetenz zur verbindlichen Normsetzung verstanden werden, da Empfehlungen originär unverbindliche Handlungsformen sein sollen. Eine tatsächliche allgemeine Normsetzungsbefugnis der Kommission in diesem Bereich hätte man primärrechtlich nur aus dem damaligen Art. 165 EGV (heute Art. 181 AEUV) ableiten können, der die Kommission beauftragt Koordinierungsmaßnahmen im Bereich der Europäischen Wissenschaft einzuleiten. Wenn diese Bestimmung die Kompetenz zum Erlass verbindlicher Normen enthielte, käme auch die Umdeutung in einen verbindlichen Rechtsakt in Frage. bb) Fehlende originäre Kompetenz der Kommission zur verbindlichen Normsetzung Um eine Kompetenz zur verbindlichen Normsetzung ableiten zu können, müsste jedoch die Aufforderung Initiativen zur Förderung der gemeinschaftlichen Koordination in Art. 165 Abs. 2 EGV zu ergreifen auf eine solche Weise interpretierbar sein. Die Kohärenz der einzelstaatlichen Forschungspolitiken, die der erste Absatz dieser Vorschrift fordert, ließe sich in der Tat 888 Vgl. die Rspr.: „Da es somit um eine Handlung geht, die Ausdruck einer bloßen freiwilligen Koordinierung ist und somit für sich genommen keine Rechtswirkungen erzeugen soll, ist die Klage, soweit sie gegen den Verhaltenskodex gerichtet ist, für unzulässig zu erklären.“ EuGH Niederlande/Rat, Rs. C-58/94, Rn. 27. 889 Die imperative Anordnung bzw. der Wortlaut wurde denn auch in einer neuen Entscheidung des Europäischen Gerichts nicht mehr als maßgebend angesehen, sondern nur noch deren Inhalt, EuG Deutschland/Kommission, T-258/06 Rn. 29. 890 Siehe oben S. 81 ff.
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am Besten mit Hilfe verbindlicher Harmonisierungsmaßnahmen erreichen. Das Prinzip des effet utile würde es daher nahelegen, der Kommission zur Erreichung des Zwecks auch verbindliche Maßnahmen zuzugestehen.891 Derselbe Streit wurde bereits um die Auslegung des Begriffs der Initiative zur Koordinierung der Wettbewerbsfähigkeit der Europäischen Industrie in Art. 173 Abs. 2 AEUV (ehemals Art. 157 Abs. 2 EGV) geführt. Zu Recht wird aber in der Literatur darauf verwiesen, dass der Begriff der Initative in der Qualität gegenüber dem ansonsten verwendeten Begriff der Maßnahmen, der unbestritten auch verbindliche Maßnahmen umfasst, abgegrenzt werden sollte.892 Die Initiative ist schon von ihrer Bedeutung darauf gerichtet, nur ein bestimmtes Verfahren anzuregen, an dessen Ende erst ein verbindlicher Rechtsakt stehen kann. Daher umfasst der Begriff nur unverbindliche Handlungsformen wie Empfehlungen, Stellungnahmen und Mitteilungen, was auch der intendierten Moderatorenrolle der Kommission in diesem Koordinierungprozess entspricht.893 Für diese Auslegung spricht auch der Erweiterungsprozess des ehemaligen Art. 165 Abs. 2 EGV zum neuen Art. 181 Abs. 2 AEUV, der mit Begriffen wie Leitlinien und Indikatoren solche Maßnahmen im Blick hat, die von verbindlichen harmonisierenden Rechtsakten abweichen. Eine allgemeine Kompetenz der Kommission zur verbindlichen Normsetzung ist im Bereich der Wissenschafts- und Forschungskoordinierung daher zunächst abzulehnen.894 cc) Delegierte Rechtsetzungskompetenz im Bereich der Europäischen Forschungsförderung Die Umdeutung der unverbindlichen Empfehlung mit dem Verhaltenskodex in eine verbindliche Handlungsform mit Rechtswirkungen könnte jedoch dann möglich sein, wenn man die Entscheidungsstrukturen in der Europäischen Forschungsförderung betrachtet. 891 So auch der Gedanke von M. Kotzur, in: Geiger/Khan/Kotzur, EUV/AEUVKommentar, Art. 181 Rn. 2. 892 A. Kallmayer, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV/GRC-Kommentar, Art. 157 Rn. 17. 893 Ibid.Im Ergebnis ebenso Pelzer, Die Kompetenzen der EG im Bereich Forschung, S. 72; H. Eikenberg, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EU-Kommentar, Art. 165 Rn. 16; J. Hilf, in: von der Groeben/Schwarze, EU/EG.Kommentar, Art. 165 Rn. 14; M. Kotzur, in: Geiger/Khan/Kotzur, EUV/AEUV-Kommentar, Art. 181 Rn. 2; H.-H. Trute, in: Rudolf Streinz/Christoph Ohler/Siegfried Magiera (Hrsg.), EUV/EGV – Vertrag über die Europäische Union und Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, Art. 165 Rn. 3. 894 Zur Klarstellung sei darauf hingewiesen, dass die Kompetenz zur verbindlichen Normsetzung im Bereich der Wissenschaft beim Rat in Zusammenarbeit mit dem Europäischen Parlament liegt, vgl. Art. 182 ff. AEUV.
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Die Durchführung des Siebten Forschungsrahmenprogramms (FRP) wurde durch den Europäischen Rat in mehreren Entscheidungen und Verordnungen festgelegt.895 In den meisten dieser Entscheidungen und Verordnungen wird die Kommission mit der Aufgabe betraut, die spezifischen Programme durchzuführen und die Arbeitsprogramme zu verabschieden.896 Auch wenn beispielsweise im spezifischen Programm „Ideen“ zur Grundlagenforschung die Festlegung der Gesamtstrategie, die Festlegung des Ar895 Im Einzelnen sind dies: Verordnung Nr. 1906/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Dezember 2006 zur Festlegung der Regeln für die Beteiligung von Unternehmen, Forschungszentren und Hochschulen an Maßnahmen an Maßnahmen des Siebten Rahmenprogramms sowie für die Verbreitung der Forschungsergebnisse (2007–2011), ABl. 2006 L-391/1; Verordnung (Euratom) Nr. 1908/2006 des Rates vom 19. Dezember 2006 zur Festlegung der Regeln für die Beteiligung von Unternehmen, Forschungszentren und Hochschulen an Maßnahmen an Maßnahmen des Siebten Rahmenprogramms der Europäischen Atomgemeinschaft sowie für die Verbreitung der Forschungsergebnisse (20072011), ABl. 2006 L-400/1; Entscheidung des Rates vom 19. Dezember 2006 über das spezifische Programm „Zusammenarbeit“ zur Durchführung des Siebten Rahmenprogramms der Europäischen Gemeinschaft für Forschung, technologische Entwicklung und Demonstration, ABl. 2006 L-400/86, Entscheidung des Rates vom 19. Dezember 2006 über das spezifische Programm „Ideen“ zur Durchführung des Siebten Rahmenprogramms der Europäischen Gemeinschaft für Forschung, technologische Entwicklung und Demonstration, ABl. 2006 L-400/242, Entscheidung des Rates vom 19. Dezember 2006 über das spezifische Programm „Menschen“ zur Durchführung des Siebten Rahmenprogramms, ABl. 2006 L-400/270, Entscheidung des Rates vom 19. Dezember 2006 über das spezifische Programm „Kapazitäten“ zur Durchführung des Siebten Rahmenprogramms, ABl. 2006 L-400/299, Entscheidung des Rates vom 19. Dezember 2006 über das von der Gemeinsamen Forschungsstelle innerhalb des Siebten Rahmenprogramms durch direkte Maßnahmen durchzuführende spezifische Programm, ABl. 2006 L-400/368, Entscheidung des Rates vom 19. Dezember 2006 über das spezifische Programm zur Durchführung des Siebten Rahmenprogramms der Europäischen Atomgemeinschaft (Euratom) für Forschungs- und Ausbildungsmaßnahmen im Nuklearbereich (2007–2011), ABl. 2006 L-400/404, Entscheidung des Rates vom 19. Dezember 2006 über das von der Gemeinsamen Forschungsstelle innerhalb des Siebten Rahmenprogramms der Europäischen Atomgemeinschaft (Euratom) für Forschungs- und Ausbildungsmaßnahmen im Nuklearbereich (2007–2011) durch direkte Maßnahmen durchzuführende spezifische Programm, ABl. 2006 L-400/434. 896 Vgl. bspw. Art. 15 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1906/2006 zur Festlegung der Regeln für die Beteiligung von Unternehmen, Forschungszentren und Hochschulen an Maßnahmen an Maßnahmen des Siebten Rahmenprogramms sowie für die Verbreitung der Forschungsergebnisse (2007–2011), ABl. 2006 L-391/1; Art. 6–9 der Entscheidung über das spezifische Programm „Kapazitäten“, ABl. 2006 L-400/299; Art. 6 und 7 der Entscheidung über das von der Gemeinsamen Forschungsstelle innerhalb des Siebten Rahmenprogramms durch direkte Maßnahmen durchzuführende spezifische Programm, ABl. 2006 L-400/368; Art. 6–8 der Entscheidung über das spezifische Programm zur Durchführung des Siebten Rahmenprogramms der Europäischen Atomgemeinschaft (Euratom) für Forschungs- und Ausbildungsmaßnahmen im Nuklearbereich (2007–2011), ABl. 2006 L-400/404.
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beitsprogramms und die Evaluierung an einen neu geschaffenen wissenschaftlichen Rat delegiert wird,897 so behält die Kommission dennoch die Entscheidungskompetenz über die Durchführung von Projekten.898 Mit dieser Delegation kam der Rat als eigentliches Rechtsetzungsorgan899 nach Art. 202 Gedankenstrich 3 EGV des Amsterdamer Vertrags seiner Befugnis nach, der Kommission die Durchführung seiner Rechtsakte zu überlassen.900 Mit dieser Übertragung fiel der Kommission die Rolle zu, die Ausgestaltung und die Entscheidungen über die Mittelvergabe in der Europäischen Forschungsförderung alleine wahrzunehmen. Dabei kann sie im Rahmen einer von der Grundverordnung anerkannten Zielsetzung alle für die Durchführung erforderlichen oder zweckmäßigen Maßnahmen ergreifen, sofern sich diese in das in der Grundverordnung vorgesehene System einfügen, dessen wesentliche Grundzüge nicht antasten und ihren Anwendungsbereich nicht ändern.901 Damit ist zunächst festzustellen, dass die Kommission auf dem Wege der Delegation eine Rechtsetzungskompetenz zur Durchführung des Siebten FRP erhalten hat, die sie zur verbindlichen Rechtsetzung ermächtigt. dd) Delegierte Rechtsetzungsbefugnisse auch für ethische Erwägungen der Wissenschaft Die Rechtsetzungskompetenz wurde durch den Rat per Delegation auf die Kommission übertragen. Bemerkenswert ist dabei, dass diese Delegation auch die Befugnis umfasst, die „ethischen Grundprinzipien“ festzulegen, nach denen die Forschung in Europa ausgerichtet sein soll. Die Entscheidungen des Rates zur Durchführung des Siebten Rahmenprogramms der Europäischen Gemeinschaft für Forschung, technologische Entwicklung und Demonstration enthalten formelartige Verweise auf jene ethischen Grundprinzipien. So wurde in jeder dieser Entscheidungen, die das Verfahren und 897 Art. 4 und 5 der Entscheidung über das spezifische Programm „Ideen“, ABl. 2006 L-400/242; vgl. zu diesem neuen Gremium auch Thomas Groß, Der Europäische Forschungsrat – ein neuer Akteur im europäischen Forschungsraum, Europarecht 2010, 299 ff. 898 Art. 6–9 der Entscheidung über das spezifische Programm „Ideen“, ABl. 2006 L-400/242. 899 R. Schweitzer, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EU-Kommentar, Art. 202 EGV Rn. 1. 900 Diese Delegationsmöglichkeit von Durchführungsmaßnahmen ist durch den Lissabonner Vertrag im heutigen Art. 290 AEUV neu geregelt worden, vgl. zur weiteren Ausdifferenzierung der verschiedenen Befugnisse M. Kotzur, in: Geiger/Khan/ Kotzur, EUV/AEUV-Kommentar, Art. 290 AEUV Rn. 1 ff. 901 J. C. Wichard, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV/GRC-Kommentar, Art. 202 Rn. 8.
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die Organisation der Forschungsförderung bestimmen, die wortgleiche Bestimmung „Bei allen Forschungsmaßnahmen innerhalb des spezifischen Programms sind ethische Grundprinzipien zu beachten“ eingefügt.902 Der genaue Inhalt dieser Beachtungspflicht ergibt sich aus einer wortlautgleichen Passage im Anhang einer jeder Maßnahme, die diese ethischen Grundprinzipien erläutert.903 In diesen Erläuterungen werden die ethischen Grund902 Entscheidung über das spezifische Programm „Zusammenarbeit“, ABl. 2006 L-400/86 Art. 4 Abs. 1; Entscheidung über das spezifische Programm „Ideen“, ABl. 2006 L-400/242 Art. 3 Abs. 1; Entscheidung über das spezifische Programm „Menschen“, ABl. 2006 L-400/270 Art. 4 Abs. 1; Entscheidung über das spezifische Programm „Kapazitäten“, ABl. 2006 L-400/299 Art. 4 Abs. 1; Entscheidung über das von der Gemeinsamen Forschungsstelle innerhalb des Siebten Rahmenprogramms durch direkte Maßnahmen durchzuführende spezifische Programm, ABl. 2006 L-400/368 Art. 4 Abs. 1; Entscheidung über das spezifische Programm zur Durchführung des Siebten Rahmenprogramms der Europäischen Atomgemeinschaft (Euratom) für Forschungs- und Ausbildungsmaßnahmen im Nuklearbereich (2007–2011), ABl. 2006 L-400/404 Art. 4; Entscheidung über das von der Gemeinsamen Forschungsstelle innerhalb des Siebten Rahmenprogramms der Europäischen Atomgemeinschaft (Euratom) für Forschungs- und Ausbildungsmaßnahmen im Nuklearbereich (2007–2011) durch direkte Maßnahmen durchzuführende spezifische Programm, ABl. 2006 L-400/434 Art. 4. 903 Beispielhaft Anhang I zur Entscheidung über das spezifische Programm „Ideen“, ABl. 2006 L-400/266 f.: „Bei der Durchführung dieses spezifischen Programms und den damit verbundenen Forschungstätigkeiten müssen ethische Grundprinzipien beachtet werden. Hierzu gehören unter anderem die Prinzipien, auf die sich die Charta der Grundrechte der Europäischen Union stützt, wie der Schutz der menschlichen Würde und des menschlichen Lebens, der Schutz personenbezogener Daten und der Privatsphäre sowie der Tier- und Umweltschutz gemäß dem Gemeinschaftsrecht und den letzten Fassungen der einschlägigen internationalen Übereinkünfte, Leitlinien und Verhaltensregeln wie die Erklärung von Helsinki, das am 4. April 1997 in Oviedo unterzeichnete Übereinkommen des Europarates über Menschenrechte und Biomedizin und seine Zusatzprotokolle, das VN-Übereinkommen über die Rechte des Kindes, die Allgemeine Erklärung der UNESCO über das menschliche Genom und Menschenrechte, das VN-Übereinkommen über das Verbot biologischer Waffen und von Toxinwaffen, der Internationale Vertrag über pflanzengenetische Ressourcen für Ernährung und Landwirtschaft wie auch die einschlägigen Entschließungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Zu berücksichtigen sind ferner die Stellungnahmen der Europäischen Beratergruppe für Fragen der Ethik in der Biotechnologie (1991–1997) sowie der Europäischen Gruppe für Ethik der Naturwissenschaften und der Neuen Technologien (ab 1998). Im Einklang mit dem Subsidiaritätsprinzip müssen die Teilnehmer an Forschungsprojekten angesichts der Vielfalt der Ansätze in Europa die geltenden Rechtsvorschriften, Regelungen und ethischen Regeln der Länder, in denen die Forschung durchgeführt wird, einhalten. Es gelten in jedem Fall die nationalen Bestimmungen, so dass Forschungsarbeiten, die in einem Mitgliedstaat oder einem anderen Land verboten sind, von der Gemeinschaft in diesem Mitgliedstaat bzw. Land nicht finanziell unterstützt werden. Gegebenenfalls müssen die Teilnehmer an Forschungsprojekten vor der Aufnahme von FTE-Tätigkeiten die Genehmigung der zuständigen nationalen oder lokalen Ethikausschüsse einholen. Bei Vorschlägen zu ethisch sensi-
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prinzipien der Europäischen Union im Bereich der Forschung durch internationale Übereinkommen definiert, ohne Unterscheidung ihrer Rechtsnatur und Verbindlichkeit und ohne differenzierte Auseinandersetzung mit ihrem Inhalt.904 Des Weiteren werden die Stellungnahmen europäischer Ethikberatungsgremien zur Konkretisierung herangezogen und Gutachten von nationalen Ethikkommissionen als gegebenenfalls obligatorisch erklärt.905 Der interessanteste Punkt für den vorliegenden Zusammenhang ist jedoch der Verweis auf eine eigene, systematische Ethikprüfung der Kommission bei „ethisch sensiblen Themen“, auch während der Durchführung eines Projekts. Der Kommission soll also bei der Beurteilung der ethischen Aspekte eines Forschungsprojekts eine Schlüsselrolle zukommen, der sie bei der Durchführung der Ratsentscheidungen nachkommen muss. Zudem formuliert auch die „Verordnung zur Festlegung der Regeln für die Beteiligung von Unternehmen, Forschungszentren und Hochschulen an Maßnahmen des Siebten Rahmenprogramms“ in Art. 15 Abs. 2, dass ein „Vorschlag, der im Widerspruch zu grundlegenden ethischen Prinzipien steht“ nicht ausgewählt werde.906 Der Rat verpflichtete die Kommission als durchführendes Organ in diesen Dokumenten, die Einhaltung der ethischen Grundprinzipien sicherzustellen. Daraus lässt sich ablesen, dass die Delegation der Durchführungsmaßnahmen nicht nur die administrative Seite der Forschungsförderung umfasst, sondern gleichzeitig auch die Einhaltung von ethischen Grundprinzipien bei der Forschungsförderung. Daher lässt sich auch für den Bereich der Ethik in der Wissenschaft eine Kompetenz der Kommission feststellen. ee) Fazit Trotz der Demonstration eines fehlenden Rechtsbindungswillen durch speziell gewählte deontische Operatoren ist mit dem Verhaltenskodex eine allgemeine Regelung erlassen worden, deren Inhalt eine faktische Bindungsblen Themen oder solchen, bei denen ethische Aspekte nicht ausreichend berücksichtigt wurden, führt die Kommission systematisch eine Ethikprüfung durch. In Einzelfällen kann eine Ethikprüfung auch während der Durchführung eines Projekts vorgenommen werden.“ 904 Zur Rechtsnatur verschiedener völkerrechtlicher Instrumente und ihrer Rolle bei der Ethisierung der Wissenschaft vgl. S. 291 ff. 905 Vgl. ebenfalls Anhang I zur Entscheidung über das spezifische Programm „Ideen“, ABl. 2006 L-400/266 f. 906 Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Dezember 2006 zur Festlegung der Regeln für die Beteiligung von Unternehmen, Forschungszentren und Hochschulen an Maßnahmen des Siebten Rahmenprogramms sowie für die Verbreitung der Forschungsergebnisses (2007–2013), ABl. 2006 L-391/7.
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wirkung für die Adressaten entfaltet, zumal ein solches Organ der Urheber war, das zum einen eine delegierte Rechtsetzungsbefugnis auf dem betreffenden Gebiet besitzt, zum anderen aber auch zuständig ist für die Letztentscheidung bei der Vergabe von Forschungsmitteln und die Koordination von Wissenschaftsinstitutionen in Europa. Die Nichtimplementierung des Kodexes hätte insofern zur Folge, dass Mitgliedsstaaten im Europäischen Forschungswettbewerb zumindest eine Außenseiterrolle hätten und möglicherweise von der Förderung ausgeschlossen wären. Zudem wären Forschungsinstitutionen, die sich nicht zu den Vorgaben des Kodexes bekennen, bei der Vergabe Europäischer Mittel wohl weitestgehend chancenlos. Die Kombination aus den inhaltlichen Anforderungen des Kodex und der Stellung des erlassenden Organs erzeugt somit Rechtswirkungen, die es zumindest erlauben, wenn nicht gar fordern, dass der vorgegebene fehlende Rechtsbindungswille im Wege der Freiwilligkeitsformulierungen als unbeachtlich betrachtet wird. Damit könnte entgegen der Rechtsprechung des EuGH in Frankreich/Kommission907 ein unverbindliches Instrument auch dann als ein verbindlicher, kontrollfähiger Rechtsakt angenommen werden, wenn keine imperativen Anforderungen vorliegen und ein Rechtsbindungswillen des erlassenden Organs nicht eindeutig nachgewiesen werden könnte. Der Verhaltenskodex mitsamt der zu Grunde liegenden Empfehlung ist nach der hier vertretenen Auffassung demnach als Rechtsakt, der Rechtswirkungen zu erzeugen vermag, einzuordnen. b) Der Beurteilungsmaßstab: Recht, nicht Ethik Insoweit nun festgestellt wurde, dass die Kommission die Durchführung auch der ethischen Belange der Europäischen Forschungsförderung sicherstellen muss, so stellt sich an dieser Stelle die Frage, ob mit dem Verweis auf die Ethik nicht auch eine Verschiebung der Beurteilungsmaßstäbe einhergehen kann. Die Inkorporierung von Öffnungsklauseln für ethische Normen,908 wie die Forderung nach der Einhaltung der ethischen Grundprinzipien in den Entscheidungen und Verordnungen des Rates bei der Verabschiedung des Siebten Rahmenprogramms,909 könnte dafür sprechen, dass in diesem Zusammenhang der Boden des Rechts verlassen werden und statt dessen eine rein ethische Erörterung von Problemen erfolgen soll. Damit würde es fraglich, ob Instrumente wie der Verhaltenskodex, die lediglich als ethische Leitlinien mit dem Hinweis der Freiwilligkeit tituliert werden, an rechtlichen Beurteilungsmaßstäben gemessen werden könnten. Dies 907 908 909
EuGH Frankreich/Kommission, Rs. C-57/95, Rn. 13 ff. Formulierung bei Vöneky, Recht, Moral und Ethik, S. 101. Vgl. die Nachweise bei Fn. 902.
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wird umso deutlicher, wenn man die bereits erwähnten Anhänge zu den verschiedenen Entscheidungen betrachtet, die die ethischen Grundprinzipien erläutern sollen.910 Dort wird zum einen zur inhaltlichen Konkretisierung dieser Grundprinzipien nicht alleine auf rechtliche Dokumente wie die Grundrechtecharta und völkerrechtlich verbindliche Übereinkommen verwiesen, sondern auch auf soft law-Dokumente wie die Allgemeine Erklärung der UNESCO über das menschliche Genom und Menschenrechte und berufsständische, völkerrechtlich nicht verbindliche Regelungen wie die Deklaration von Helsinki. Zum anderen sollen auch die Stellungnahmen ethischer Beratungsgremien zur Konkretisierung der ethischen Grundprinzipien beitragen. Durch diese Verweise scheint der Europäische Gesetzgeber zu beabsichtigen, sich im Bereich der Forschung von rechtlichen Maßstäben zu distanzieren und ethische Prinzipien dynamisch in das Recht zu integrieren. Diese Entwicklung birgt gleichzeitig Potentiale und Gefahren, die im Folgenden erörtert werden. aa) Die Ethisierung des Europarechts im Bereich der Forschung Bereits 1991 wurde sich die Kommission der ethischen Implikationen der Biotechnologie auch für die Arbeit der Europäischen Organe bewusst,911 was zur Einrichtung der Group of Advisers on the Ethical Implications of Biotechnology, zur Beratung in diesen Angelegenheiten führte.912 Dieses advokatorische Expertengremium wurde 1997 in die European Group on Ethics in Science and New Technologies (EGE) überführt. Dieser Ethikrat der Europäischen Union ist interdisziplinär mit 15 Experten aus Wissenschaft, Medizin, Theologie und Philosophie besetzt und wird durch die Kommission mandatiert.913 Die Gruppe versorgt auf Anfrage oder Eigeninitiative die Europäische Kommission, der sie per Mandat zugeordnet ist,914 mit Stellungnahmen zu verschiedenen Themen aus ihrem Aufgabenspektrum.915 Dabei ist ihre Verankerung im Europäischen Primär- und Sekun910
Vgl. oben Fn. 903. Mitteilung der Kommission „Promoting the Competitive Environment for the Industrial Activities based on Biotechnology within the Community“ SEC(91) 629 endg., S. 11. 912 Ibid. S. 16 und 18. 913 Vgl. die Kommissionsentscheidung vom 16.12.1997, SEC(97)2404; Das zweite (C(2001)691) und dritte Mandat (2005/383/EG) verlängerten ihr Mandat bis heute. Ihr Vorläufer, die Group of Advisers on the Ethical Implications of Biotechnology (eingesetzt durch den Kommissionsbeschluss SEC(91)629) wurde bereits 1991 eingerichtet. Zur EGE ausführlich Vöneky, Recht, Moral und Ethik, S. 316 ff. 914 Zum ausdrücklichen Kommissionsbezug ibid., S. 322. 915 Stellungnahmen wurden bislang u. a. zu Gewebebanken, Embryonenforschung, Doping im Sport, Stammzellforschung, Klonen von Tieren und Nanomedizin abge911
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därrecht jedoch strittig. Ihr Beitrag zur Verbesserung der Entscheidungsfindung in ethisch sensiblen Bereichen, zur Erhöhung von deren Legitimation und zur Bildung von Vertrauen wird in der Literatur zwar zumeist grundsätzlich positiv bewertet,916 kritisiert wird jedoch eine fehlende Anknüpfung an die Verträge.917 Zwar ist es nicht klar diesen Gremien zuzuschreiben, dass Formulierungen wie die „Einhaltung ethischer Grundprinzipien“ ihren Weg in die Rechtsakte der Kommission fanden.918 Diese füllten sie jedoch mit tatsächlichem Gehalt, der zuvor weitgehend unklar war. Zunächst wurde dieser Begriff und die Verpflichtung zur Einhaltung der ethischen Grundprinzipien in einer Stellungnahme der EGE als „absolut gerechtfertigt“ bezeichnet.919 Im Folgenden zeigt sie aber auch detailliert auf, was ihres Erachtens die Einhaltung ethischer Grundprinzipien bei der Förderung wissenschaftlicher Vorhaben in der Europäischen Union erfordert.920 So sind die ethischen Grundprinzipien, die sowohl bei den Umsetzungsmodalitäten, als auch bei der Planung des Ziels und der Anwendung der Ergebnisse von Forschungsvorhaben zu berücksichtigen sein sollen, die Prinzipien der Autonomie, der Menschenwürde, der Nichtdiskrimierung, der Nichtausbeutung, des besonderen Schutzes für besonders schutzbedürftige Personengruppen, des weitestmöglichen Tierschutzes, der Verhältnismäßigkeit und schließlich auch die Forschungsfreiheit. Bis auf letztere sollen sich die vorgenannten Prinzipien dabei wiederum aus internationalen Übereinkommen ergeben, wobei diese Dokumente noch weitere Prinzipien umfassen sollen, aber nicht genannt werden.921 geben. Eine Übersicht findet sich auf http://ec.europa.eu/bepa/european-groupethics/publications/opinions/index_en.htm (zuletzt abgerufen am 24.3.2014). 916 Helen Busby/Tamara Hervey/Alison Mohr, Ethical EU Law? The Influence of the European Group on Ethics in Science and New Technologies, European Law Review 2008, S. 842; S. Schielke, Vertrauensbildende Maßnahmen – Partizipatorische und advokatorische Beratungsformen in bioethischen Streitfragen auf der Ebene der EU, in: Vöneky/Hagedorn/Clados/von Achenbach, Legitimation ethischer Entscheidungen im Recht, S. 209 (222); Vöneky, Recht, Moral und Ethik, S. 350. 917 Busby/Hervey/Mohr, Ethical EU Law? The Influence of the European Group on Ethics in Science and New Technologies, European Law Review 2008, S. 835 ff. 918 Diese Bestimmung wurde bereits in das 5. FRP aufgenommen, bevor die EGE dazu Stellung genommen hatte, vgl. Art. 7 des Beschlusses des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Dezember 1998 über das Fünfte Rahmenprogramm der Europäischen Gemeinschaft im Bereich der Forschung, technologischen Entwicklung und Demonstration (1998–2002), ABl. 1999 L-26/6. 919 Stellungnahme Nr. 10 der EGE zu den ethischen Aspekten des fünften Forschungsrahmenprogramms, Punkt 2.1. 920 Ibid. Punkt 2.3 ff.
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Abgesehen vom Einfluss der EGE auf spezifische Rechtsakte im Bereich der Biotechnologie922 hat sie durch diese Form der Implementierung ethischer Prinzipien in die Rechtsetzung der Europäischen Organe eine Ethisierung des Europarechts bewirkt, die zum einen vorteilhaft ist, zum anderen aber auch bedenklich. bb) Vorteil: Kompensation von Defiziten im Bereich der Europäischen Regulierung von biotechnologischen und wissenschaftlichen Fragen Der Union sind durch die Verträge nicht nur die Schaffung eines Europäischen Forschungsraums,923 sondern auch die Sicherstellung eines möglichst hohen Gesundheitsschutzniveaus924 aufgegeben. Damit einher gehen auch zwangsläufig Entscheidungen in sensiblen Bereichen der Medizin, Biotechnologie und Wissenschaft. Dabei sieht sie sich jedoch stets dem ethischen Pluralismus einer supranationalen Staatengemeinschaft gegenüber, der eine Entscheidungsfindung in jenen Bereichen über das Ausmaß nationaler ethischer Entscheidungen hinaus weiter erschwert. In Anbetracht der Tatsache, dass das duale Konzept demokratischer Legitimation in der Union ohnehin nicht zweifelsfrei als ausreichend angesehen werden kann, um Entscheidungen zu legitimieren925 und auch die Vertrauensbildung gegenüber Multilevel-Governance-Systemen besonderen Schwierigkeiten ausgesetzt ist,926 921 Ibid. Punkt 2.9. Die dabei erwähnten internationalen Übereinkommen werden in der Präambel der Stellungnahme aufgezählt und sind zum Teil deckungsgleich mit den später vom Rat konsultierten Dokumenten: das Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 6. Juni 1992 über die biologische Vielfalt, die Konvention des Europarates über die Menschenrechte und die Biomedizin vom 4. April 1997, die Allgemeine Erklärung über das menschliche Genom und die Menschenrechte der UNESCO vom 11. November 1997 und die Deklaration des Weltärztebundes von Helsinki vom Juni 1964 über Empfehlungen für Ärzte, die in der biomedizinischen Forschung am Menschen tätig sind, geändert im Oktober 1975, Oktober 1983, September 1989 und Oktober 1996. 922 Vgl. dazu die detaillierte Ausarbeitung von Busby/Hervey/Mohr, Ethical EU Law? The Influence of the European Group on Ethics in Science and New Technologies, European Law Review 2008, S. 809 ff. bezüglich der Richtlinie 98/44 über den rechtlichen Schutz biotechnischer Erfindungen und die Richtlinien 2002/98 und 2004/23 zu Qualitäts- und Sicherheitsstandards bei menschlichem Blut bzw. Gewebe. 923 Art. 179 AEUV. 924 Art. 168 AEUV. 925 Vgl. J. von Achenbach, Theoretische Aspekte des dualen Konzepts demokratischer Legitimation für die Europäische Union, in: Vöneky/Hagedorn/Clados/von Achenbach, Legitimation ethischer Entscheidungen im Recht, S. 191 ff. 926 Aus einer soziologischen und politikwissenschaftlichen Perspektive S. Schielke, Vertrauensbildende Maßnahmen – Partizipatorische und advokatorische
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ist das Bemühen der Kommission ihre Entscheidungsfindung durch ein unabhängiges und interdisziplinäres Beratungsgremium927 mit einer ethischen Fundierung auszustatten zunächst positiv zu bewerten. Gerade weil der „Respekt für den Pluralismus“928 innerhalb der Union als Prinzip anerkannt wird, und dieses in Zusammenhang mit den oben bereits aufgezählten, aus internationalen Übereinkommen abgeleiteten Prinzipien in Zusammenhang gebracht werden soll, und nicht eine bestimmte vorherrschende ethische Ansicht durchgesetzt wird,929 liefert die EGE einen wichtigen Beitrag im Rechtssetzungssystem der Union,930 indem zumindest die Kommission mit Expertenwissen versorgt wird, das im Sinne einer ethischen Kartographie931 die Optionen künftiger Rechtssetzung aufzeigt und auch wichtiger Impulsgeber sein kann.932 Die Leistung der EGE, die in ihrer Rechtsnatur zum Teil umstrittenen internationalen Übereinkommen zu ethischen Fragen in Wissenschaft und Medizin933 in die Entscheidungsfindungen der Kommission bei der Forschungsförderung zu integrieren, ist ebenso wenig zu unterschätzen, wie ihre Bemühung, die Aufklärung und Einbeziehung der Öffentlichkeit in einem Dialog mit den Entscheidungsträgern zu fördern.934 Erhebliche Probleme ergeben sich jedoch hinsichtlich des konkreten Zusammenspiels mit dem Recht.
Beratungsformen in bioethischen Streitfragen auf der Ebene der EU, in: ibid., S. 201 (220 ff.). 927 Zur Besetzung und Unabhängigkeit der EGE, aber auch ihrem teils mangelhaften Öffentlichkeitsbezug Vöneky, Recht, Moral und Ethik, S. 319 ff. 928 EGE-Stellungnahme 21, Punkt 4.4.2.1. 929 Vöneky, Recht, Moral und Ethik, S. 357. 930 Busby/Hervey/Mohr, Ethical EU Law? The Influence of the European Group on Ethics in Science and New Technologies, European Law Review 2008, S. 26. 931 Zur Unmöglichkeit der Entscheidungsfindung durch „ethische Experten“ in demokratischen Prozessen S. Vöneky, Ethische Experten und moralischer Autoritarismus, in: Vöneky/Hagedorn/Clados/von Achenbach, Legitimation ethischer Entscheidungen im Recht, S. 84 ff. 932 Vöneky, Recht, Moral und Ethik, S. 359. 933 Beispielsweise ist die Deklaration von Helsinki des Weltärztebundes von hoher praktischer Relevanz, ihre Einordnung in den Kanon völkerrechtlicher Quellen aber nicht möglich, vgl. Brigitta Hohnel, Die rechtliche Einordnung der Deklaration von Helsinki – Eine Untersuchung zur rechtlichen Grundlage humanmedizinischer Forschung, S. 55, Chang, Ethische und rechtliche Herausforderungen einer globalisierten Arzneimittelprüfung, (erscheint demnächst)(erscheint demnächst). 934 Vöneky, Recht, Moral und Ethik, S. 358.
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cc) Nachteil: Unkontrollierte Diffusion von Ethik und Recht Der Nachteil der Ethisierung des Rechts wird dann offensichtlich, wenn der ethische Diskurs sich von den (grund-)rechtlichen Rahmenbedingungen löst, dieser aber dann von den Europäischen Organen institutionalisiert wird.935 Die Stellungnahmen der EGE zeigen deutlich, dass diese nicht an der grundrechtlichen Ordnung der Europäischen Union anknüpfen, sondern sich größtenteils allein innerhalb ethischer Diskursregeln bewegt. So werden die bereits aufgezählten Prinzipien, anhand derer sich die Stellungnahmen der EGE orientieren,936 nicht an die offensichtlich vorhandenen Anknüpfungspunkte der Europäischen Grundrechte937 rückgebunden,938 sondern als „grundlegende ethische Prinzipien“ im ethischen Diskurs als Rahmenbedingungen ihrer Argumentation verwendet. Solange dies die rechtliche Bewertung von Sachverhalten nicht tangiert, sondern lediglich vorbereitende Hilfe für diese ist, ist dies auch legitim. Dass sich die EGE selbst nicht an einer solchen Maxime orientiert, lässt sich in Passagen ablesen wie Punkt 1.10 der Stellungnahme Nr. 10 zum 5. FRP: „In Anbetracht der Tatsache, daß die Europäische Gemeinschaft keine Rechtsetzungsbefugnisse in den Bereichen hat, die die Bioethik betrifft (Forschung und Gesundheitswesen), obliegt es der Kommission, ethische Maßstäbe an von ihr finanzierte Forschungsprojekte anzulegen und für diese eine ethische Bewertung vorzusehen.“939
Die EGE vermittelt mithin der Auffassung, die fehlende Rechtsetzungskompetenz der Kommission erfordere eine Verlagerung der relevanten Maßstäbe zu einer rein ethischen Bewertung, also einer Ordnung neben der vorhandenen Rahmenrechtsordnung der Grundrechte. Genau diese Betrachtungsweise verdeutlicht die Gefahr des Schaffens einer parallelen Sollensordnung, die die rechtliche de facto oder doch potentiell unterhöhlen kann.940 Vor allem wenn sich Divergenzen zwischen der ethisch diskursiven 935
Den Begriff der staatlichen Institutionalisierung von Ethikdiskursen brachte Karl-Peter Sommermann, Ethisierung des öffentlichen Diskurses und Verstaatlichung der Ethik, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 2003 auf, vgl. dort S. 83. 936 Siehe S. 259 f. 937 U.a. lässt sich das Prinzip der Autonomie an Art. 1 und 3 GRC rückbinden, das der Menschenwürde ist bereits in Art. 1 GRC kodifiziert, die Nichtdiskrimierung ist in Art. 21 GRC ausführlich geregelt und die Forschungsfreiheit in Art. 13 GRC gewährleistet. 938 Die Grundrechtecharta war bereits seit 2000 als Orientierungsdokument der EGE zugänglich, die Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze der Union im Allgemeinen sind bereits länger verbindliches Recht, vgl. bereits oben S. 186 ff. 939 Stellungnahme Nr. 10 der EGE zu den ethischen Aspekten des fünften Forschungsrahmenprogramms, Punkt 1.10. 940 Vöneky, Recht, Moral und Ethik, S. 350.
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Bewertung eines Sachverhalts mit der grundrechtlichen Analyse desselben ergeben, kann die Kommission auf diesem Wege ethische Parameter implementieren, die von den Mitgliedsstaaten und auch der vertraglichen Unionsrechtsordnung nicht geteilt werden.941 Dies ist umso mehr zu befürchten, je mehr die Kommission an den jeweiligen Rechtsetzungsverfahren beteiligt ist und weniger die deliberativen Organe Parlament und Rat,942 die sehr viel mehr von der ethisch diskursiven Vorbereitung ihrer Debatten durch Beratungsgremien profitieren würden.943 Notwendig bleibt es jedoch, dass die (grund-)rechtliche Ordnung der Europäischen Union zuvorderst den Maßstab bilden soll, an dem sich die Europäischen Organe orientieren müssen.944 Der Eindruck der Rückbindung wird zwar durch die Nennung des Rechtsrahmens auch bei den Stellungnahmen der (weder damals noch heute) nicht durch die GRC gebundenen945 EGE erweckt und mithin der Eindruck einer rechtlichen Fundierung ihrer ethischen Erwägungen.946 Die materielle Auseinandersetzung mit dem Thema erfolgt dann jedoch allein unter Rekurs auf ethische Überlegungen und Prinzipien. Dies ist für ein Ethikgremium auch legitim, kann der ethische Diskurs doch durch Rechtsnormen zunächst nicht begrenzt werden.947 Problematisch wird es nur dann, wenn durch die Übernahme ihrer Stellungnahmen in die Handlungsformen der Europäischen Organe die Grenzen zwischen Ethik und Recht verwischt werden. Denn so wünschenswert die Auseinandersetzung mit den ethischen Fragestellungen durch die rechtsetzenden Organe auch ist, so bleibt dennoch festzuhalten, dass deren handlungsleitende Maxime sich aus den Verträgen und der ihnen gleichgestellten Grundrechtecharta ergeben müssen und sich nicht an einer parallelen Sollensordnung mit unterschiedlichen Geltungsregeln orientieren darf. Genau 941 Die EGE daher mit einem Trojanischen Pferd vergleichend, Aurora Plomer, The European Group on Ethics -law, politics and the limits of moral integration in Europe, European Law Journal 2008, S. 839 (856). 942 Vöneky, Recht, Moral und Ethik, S. 350. 943 Für eine Anbindung an die Parlamente auch Sommermann, Ethisierung des öffentlichen Diskurses und Verstaatlichung der Ethik, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 2003, S. 75 (83) und Vöneky, Recht, Moral und Ethik, S. 226 f. 944 So der eindeutige Wortlaut des Art. 51 Abs.1 GRC, der nach Art. 6 Abs. 1 EUV als Primärrecht zu gelten hat. 945 Die GRC gilt gemäß Art. 51 Abs. 1 zwar für alle „Stellen der Union“, jedoch müssen diese nach den Verträgen zur Ausübung von Hoheitsgewalt befugt sein, T. Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV/GRC-Kommentar, Art. 51 GRC Rn. 5. Gerade wegen ihres diffusen Status kann dies nicht für die EGE gelten, vgl. Busby/ Hervey/Mohr, Ethical EU Law? The Influence of the European Group on Ethics in Science and New Technologies, European Law Review 2008, S. 835 ff. 946 Plomer, The European Group on Ethics -law, politics and the limits of moral integration in Europe, European Law Journal 2008, S. 855. 947 So die Formulierung von Vöneky, Recht, Moral und Ethik, S. 359.
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diese Gefahr besteht jedoch durch die zahlreichen, oben genannten Verweise auf die sogenannten ethischen Grundprinzipien in Rechtsakten der Europäischen Union. Durch eine solche Formulierung wird besonders deutlich, dass die Europäischen Organe im Bereich der Wissenschaft die bestehende Ordnung als nicht ausreichend empfinden und sich bewusst auf die Ausführungen von Gremien verlassen wollen, die außerrechtlich argumentieren und nicht an die Rahmenbedingungen der Europäischen Primärrechtsordnung gebunden sind. Die nachteiligen Auswirkungen einer solchen Vorgehensweise kann man insbesondere an einer Fehleinschätzung der Wissenschaftsfreiheit verdeutlichen. dd) Insbesondere: Die Wissenschaftsfreiheit Wie bereits erörtert war die Wissenschaftsfreiheit bis zur Verabschiedung der Grundrechtecharta im Jahr 2000 im Europarecht nicht als Grundrecht nachzuweisen.948 So überrascht es auch zunächst nicht, dass die EGE in ihrer 10. Stellungnahme zum Fünften FRP auf diese lediglich als „Prinzip der Forschungsfreiheit“ eingeht, das sich aus dem Recht auf Meinungsäußerung ergebe.949 Abgesehen vom eindimensionalen Begründungsweg, den man bereits kritisieren könnte,950 wurde damit die Wissenschaftsfreiheit als ethisches Grundprinzip zwar anerkannt, nicht aber auf dieselbe Stufe gestellt, wie die Grundrechte.951 Solange sich jedoch bei „ethischen Bewertungen von Forschungstätigkeiten“ die verschiedenen ethischen Prinzipien als gleichberechtigt gegenüberstehen, wie es die EGE in der weiteren Stellungnahme auch vorschlägt,952 ist an dieser Vorgehensweise auch keine Kritik notwendig. Bedenklich ist in diesem Zusammenhang erst die Stellungnahme der EGE zur Nanomedizin, die im Jahre 2007 verabschiedet wurde, also sieben Jahre nach Verabschiedung der Grundrechtscharta und bereits in Erwartung des Inkrafttretens als verbindliches Recht durch den Vertrag von Lissabon. 948
Siehe oben S. 186 ff. Stellungnahme Nr. 10 der EGE zu den ethischen Aspekten des fünften Forschungsrahmenprogramms, Punkt 2.2. 950 Siehe dazu ebenfalls oben, S. 198 f. 951 Dies ergibt sich vor allem aus dem zweiten Satz des Punkt 2.2 in der Stellungnahme: „Der Ethik der Forschung muß es darum gehen, die freie Ausübung von Forschungstätigkeiten mit bestimmten Einschränkungen vereinbar zu machen, die sich aus dem Schutz der Grundrechte des europäischen Bürgers sowie der Verantwortung des Menschen gegenüber Tier und Umwelt ergeben.“ 952 In Punkt 2.9 der Stellungnahme werden die Menschenwürde, die Autonomie des Einzelnen, Verhältnismäßigkeit u. a. ebenfalls nur als ethische Prinzipien erwähnt, und keine Vorrangregelung aufgestellt. 949
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B. Kodizes in der Wissenschaft
Dort wird die Forschungsfreiheit in Punkt 4.4.3.1 mit den Worten eingeführt: „The basic rights of individuals are protected by the conventions and declarations mentioned in section 4.4. These rights include protection of human dignity, integrity and autonomy, protection of privacy and of confidentiality of personal data, as well as protection of the right not to know and of property rights. These rights must be protected by the Member States. The conventions establish the basis for a legal system to prevent and punish violations of these rights. Within these constraints, freedom of research and free movement of goods and services is respected and encouraged.“
Will man der EGE nicht unterstellen, sie wolle neue Grundfreiheiten kreieren, so muss festgestellt werden, dass sie in der Forschungsfreiheit gegenüber den Grundrechten zumindest ein aliud sah, das nicht denselben Kollisionsregeln wie die Grundrechte selbst unterliegen, sondern subsidiär gelten soll. Dies überrascht, wenn zunächst in Punkt 3.4 zu lesen ist, dass sich die EGE der Wissenschaftsfreiheit, die die Grundrechtscharta gewährt, durchaus bewusst war.953 Dennoch behandelt sie diese Freiheit auch in ihrer abschließenden Empfehlung nicht als gleichwertiges Grundrecht, sondern spricht im Zusammenhang mit den Grundrechten nur von „legitimen Interessen der Wissenschaft“, die dann gerechtfertigt seien, wenn sie mit den Grundrechten kompatibel wären.954 Dies zeigt deutlich, dass die EGE sich bei ihren Stellungnahmen nicht an der GRC orientiert, sondern eigene Beurteilungsmaßstäbe anlegt, anhand derer ihre Empfehlungen gestaltet werden. Diese Diskrepanz zwischen ethischer und rechtlicher Analyse ist aber nur deswegen bedenklich, weil die Kommission diese nicht berücksichtigt, sondern vielmehr die Stellungnahmen der EGE als Schema ihren eigenen Maßnahmen wie dem Verhaltenskodex für verantwortungsvolle Forschung im Bereich der Nanowissenschaften und -technologien zu Grunde legt. So zeigt sich eine bemerkenswerte Kongruenz zwischen den Empfehlungen der EGE in ihrer Stellungnahme zur Nanomedizin und dem wenige Monate später erschienenen Verhaltenskodex.955 In der Stellungnahme wird ge953
Vgl. Punkt 3.4 der Stellungnahme Nr. 21: „Respect for human dignity, a ban on human reproductive cloning, respect for people’s autonomy, non-commercialisation of biological components derived from the human body, prohibition of eugenic practices, protection of people’s privacy, freedom of science: these are examples of values enshrined in the Charter, which was adopted at the Summit of Nice in 2001.“ 954 Punkt 5.3 der Stellungnahme: „As stated in many European and international documents, the interests of science are legitimate and justified insofar as they are compatible with human dignity and human rights. New technologies are scrutinised with respect to the prospects of contributing to the improvement in human wellbeing they are aiming at, and with respect to possible threats to human wellbeing, be it at European or global level.“
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fordert die Nanotechnologie und -wissenschaft stets unter Beachtung des Vorsorgeprinzips zu betreiben,956 was einen der Kernpunkte des Kodex ausmacht.957 Darüber hinaus wird in der Stellungnahme auch eine fortlaufende Risikoevaluierung aller Projekte gefordert,958 die sich, inklusive der Erforschung neuer Methoden zu diesem Aspekt,959 auch im Kodex als Forderung wiederfindet.960 Die EGE fordert eine Förderung wissenschaftlicher Projekte, die stets am größtmöglichen allgemeinen Nutzen ausgerichtet ist,961 was auch der Kodex als Maxime der Forschungsförderung ausgibt.962 Der gesamten Forschung im Nanobereich soll nach Meinung der EGE das Gebot der Transparenz zu Grunde liegen,963 was eine verständliche Veröffentlichung von Ergebnissen umfassen und das Misstrauen der Bevölkerung reduzieren soll.964 Auch dies wurde von der Kommission entsprechend umgesetzt.965 Insofern überrascht es auch nicht, dass die geringe Gewichtung der Wissenschaftsfreiheit der EGE sich auch im Verhaltenskodex der Kommission fortsetzt. Obwohl sich dort mehrere Hinweise auf die Grundrechte finden lassen, wird dabei die Wissenschaftsfreiheit zumeist ausgeblendet. Es wird davon gesprochen, dass „gegebenenfalls“ auch die Grundrechte der GRC beachtet werden sollten,966 und auch dass die NuN-Forschung die Grundrechte respektieren und das Wohlergehen der Bürger und der Gesellschaft im Auge haben sollte.967 Es wird jedoch nicht erwähnt, dass auch die Forscher und Forschungseinrichtungen selbst einen Grundrechtsschutz genießen, die Begriffe „Forschungsfreiheit“ oder „Wissenschaftsfreiheit“ finden sich weder im Kodex noch in der zu Grunde liegenden Empfehlung.968 955
Vgl. zum Folgenden auch Vöneky, Recht, Moral und Ethik, S. 347 ff. Punkt 5.4 der Stellungnahme 21 der EGE. 957 Vgl. Punkt 3.3, 4.2 und 4.2.5 des Kodex. 958 Punkt 5.4 der Stellungnahme. 959 Punkt 5.4.1 der Stellungnahme. 960 Punkt 4.1.11 des Kodex. 961 Punkt 5.8. der Stellungnahme. 962 Punkt 4.1.13 des Kodex. 963 Punkt 5.9 der Stellungnahme. 964 Punkt 5.14 und 5.4.1 der Stellungnahme. 965 Punkt 3.1 und 4.1.2 des Kodex. 966 Dritter Absatz der Einleitung des Kodex: „Akteure, die den Verhaltenskodex anwenden, sollten gegebenenfalls auch die Grundsätze der Charta der Grundrechte der Europäischen Union beachten.“ 967 Punkt 3.1, zweiter Satz des Kodex. 968 An dieser Stelle kann an die Warn- und Besinnnungsfunktion des Zitiergebots im deutschen Recht nach Art. 19 Abs. 1 GG erinnert werden, die den Gesetzgeber dazu anhalten soll, sich „über die Auswirkungen seiner Regelungen für die betroffenen Grundrechte Rechenschaft [zu] geben“, vgl. BVerfGE 64, 72 (79). Die Abwesenheit eines jeden Zitats erweckt jedenfalls einen gegenteiligen Eindruck. 956
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Durch die fehlende Sensibilität für das Grundrecht lassen sich auch bedenkliche Prinzipien wie Punkt 3.7 des Kodexes erklären, der eine generelle Rechenschaftspflicht für die künftigen Folgen von Forschern und Forschungseinrichtungen postuliert. Aufgrund einer mangelnden Beachtung für ein zugegebenermaßen damals noch nicht verbindliches Grundrecht ist die Kommission, trotz der Wahl einer originär unverbindlichen Handlungsform, weit über das Ziel, eine sichere und vertretbare NuN-Forschung in Europa zu gewährleisten, hinaus gegangen. Daher ist festzuhalten, dass die Auslagerung des ethischen Diskurses auf ein Europäisches Ethikgremium tatsächlich einen parallelen Sollensmaßstab generiert hat, der die rechtlichen Verpflichtungen der Europäischen Kommission zu unterhöhlen droht. ee) Fazit Die Ethisierung des Europarechts im Bereich der Wissenschaft hat dazu geführt, dass Adressaten der verschiedenen Rechtsakte der Europäischen Organe stets die Konformität mit den sogenannten „ethischen Grundprinzipien“ nachweisen müssen, um im Europäischen Forschungsraum eine Rolle spielen zu können. Der Inhalt jener ethischen Grundprinzipien wird durch mehrere Faktoren konkretisiert: internationale Übereinkommen, die Stellungnahmen der EGE und auch die Umsetzungsmaßnahmen der Europäischen Kommission wie der Verhaltenskodex. Während die EGE aber als unabhängiges Beratungsgremium ohne Hoheitsgewalt nicht an die Grundrechte gebunden ist, trifft dies für die Kommission umso mehr zu. Aufgrund jener Eigenschaften fallen auch die Stellungnahmen der EGE nicht unter den hier gewählten soft-law-Begriff,969 wohl aber der Verhaltenskodex. Er entwickelt als rechtsbegleitendes und -ausgestaltendes Instrument zur Verhaltenssteuerung durch einen Hoheitsträger eine beachtliche rechtliche Relevanz bei der Spezifikation der ethischen Anforderungen im Europäischen Wissenschaftsrecht. Will man die oben beschriebenen Nachteile der Ethisierung des Europarechts aber vermeiden, so müssen zumindest die Maßnahmen der Kommission grundrechtlich rückgebunden, mithin auch gerechtfertigt sein, um einer Diffusion der Sollensmaßstäbe vorzubeugen. Als rechtsbegleitendes Instrument zur Konkretisierung der ethischen Grundprinzipien führt die damit gegebene rechtliche Relevanz zu einem Rechtfertigungszwang anhand der Grundrechtecharta, soll der Kodex rechtmäßig gemäß seiner Intention überprüft und aktualisiert werden.970 969
Vgl. oben, S. 232 f.
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c) Grundrechtskonformität des Verhaltenskodex Der Überprüfung der Grundrechtskonformität des Kodex muss die Frage nach dem Grundrechtsmaßstab vorgelagert sein. Denn die zu Grunde liegende Empfehlung stammt aus dem Jahr 2008, der ermächtigende Rechtsrahmen zum Siebten FRP aus dem Jahr 2006, beide demnach aus der Zeit vor dem Inkraftreten der Grundrechtscharta am 1. Dezember 2009. Ein Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit als allgemeiner Rechtsgrundsatz der Union war vor dem Inkraftreten der GRC jedoch nur schwer nachzuweisen.971 Wenn im Folgenden die Überprüfung des Kodex anhand des Chartagrundrechts erfolgt, ist dies mehreren Gründen geschuldet. Zum einen war die GRC bereits im Jahr 2000 feierlich verkündet worden, im Zuge dessen der damalige Kommissionspräsident Romano Prodi verlauten ließ, dass die Kommission und die anderen Organe sich verpflichteten die Charta zu beachten.972 Insofern war eine gewisse Selbstbindung der Kommission auch an die Wissenschaftsfreiheit aus Art. 13 GRC zu erwarten, was im Folgenden aber widerlegt werden wird. Zum anderen soll der Verhaltenskodex fortlaufend überprüft werden,973 also auch während der nunmehr verbindlichen GRC, was eine Erörterung seiner bisherigen Konformität erfordert. Schließlich werden die Programme der Union im Bereich der Wissenschaft auch in Zukunft fortgeführt werden, was eine Auseinandersetzung mit den hier zu stellenden Fragen erfordern wird. Der Grundrechtsmaßstab soll daher die Charta in der aktuellen, verbindlichen Form sein. Die Überprüfung der Grundrechtskonformität europäischer Maßnahmen verläuft nahezu identisch wie die Prüfung im deutschen Recht.974 Ein eröff970 Punkt 5 der Empfehlung für den Verhaltenskodex ABl. 2008 L 116/47: „Die Mitgliedstaaten sollten bei der alle zwei Jahre stattfindenden Überprüfung dieser Empfehlung sowie des Umfangs der Übernahme und Anwendung des Verhaltenskodex durch die relevanten Akteure mit der Kommission zusammenarbeiten.“ Die Überprüfung fand in Zusammenarbeit mit den Mitgliedsstaaten auf Regionalkonferenzen im Jahr 2010 statt. 971 Vgl. oben, S. 187 ff. 972 „Durch die feierliche Verkündung der EU-Grundrechtecharta verpflichten sich alle Organe, diese Charta überall dort, wo die Union tätig wird, zu beachten. Mit ihrer Hilfe wird sich kontrollieren lassen, ob die Gemeinschaft ihre Befugnisse in Einklang mit den Grundrechten ausübt. Die Bürgerinnen und Bürger können sich darauf verlassen, dass die Kommission alles tun wird, damit sie in allen Angelegenheiten der Europäischen Union, auch in unseren Beziehungen mit den Drittländern, eingehalten wird [. . .].“ Romano Prodi, zitiert bei Alber, Die Selbstbindung der europäischen Organe an die Europäische Charta der Grundrechte, Europäische Grundrechte-Zeitschrift 2001, S. 349 (350). 973 Punkt 5 der Empfehlung, ABl. 2008 L-116/47. 974 Vgl. dazu bereits oben, S. 215 ff.; aber auch bespielsweise T. Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV/GRC-Kommentar, Art. 52 GRC Rn. 46 ff.
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neter Gewährleistungsbereich muss eine Beeinträchtigung erfahren haben, die einer Rechtfertigung bedarf. Die bislang erfolgten Erörterungen der Komponenten der Europäischen Wissenschaftsfreiheit können nun also auf den Verhaltenskodex angewandt werden um dessen Grundrechtskonformität zu untersuchen. aa) Forschungsförderung als Teilbereich des Gewährleistungsgehalts Der Gewährleistungsgehalt der Wissenschaftsfreiheit aus Art. 13 GRC konnte bislang nur grob umrissen werden, da es sowohl an einer Rechtsprechung, als auch an ausführlicheren Erläuterungen fehlt. Herauskristallisiert hat sich dennoch, dass mit dem Europäischen Grundrecht auf Wissenschaftsfreiheit nicht nur ein kommunikatives Recht, sondern auch eine autonomiesichernde, geistige Freiheit geschaffen werden sollte. So ist zusammenfassend festzuhalten, dass Art. 13 GRC die methodisch geleitete Generierung neuen Wissens sowohl bereits in der Sphäre der gedanklichen Erkenntnisvörgange, als auch in den praktischen Abläufen und der notwendigen Kommunikation schützt.975 Nicht völlig geklärt ist jedoch, inwieweit ein Schutzbedürfnis im Zusammenhang mit reiner Forschungsförderung besteht, inwiefern also bereits die rechtlichen Rahmenbedingungen der Ausschüttung finanzieller Mittel und die Bereitstellung organisatorischer Ressourcen auch im Europäischen Recht an grundrechtliche Vorgaben gebunden sein können oder müssen. Die objektiv-rechtliche Dimension im deutschen Recht basierte auf der Vorstellung einer Wertentscheidung des Verfassungsgebers für eine freie Wissenschaft.976 Die Grundrechtecharta hat hingegen den Makel, eine bestehende supranationale Rechtsordnung nachträglich mit einer grundrechtlichen Fundierung versehen zu müssen. Dies zeigt sich an einem zentralen Problem der Charta: Der Etablierung von Grundrechten in Bereichen, in denen die Europäische Union keine Kompetenzen hat.977 Tatsächlich sind auch die Regelungsbereiche der Wissenschaft nur begrenzt für unionale Kompetenzfelder zugänglich. Zwar sind reflexive Auswirkungen auf die Wissenschaft in vielen Bereichen möglich, unter anderem bei der Angleichung der Rechtsvorschriften zur Errichtung des Binnenmarkts.978 Originäre 975
Vgl. oben, S. 197 ff. Siehe oben, S. 118 ff. 977 So die grundsätzliche Kritik von C. Calliess, § 20 The Charter of Fundamental Rights of the European Union, in: Ehlers, European Fundamental Rights and Freedoms, Rn. 19. Dabei nennt er als Beispiel vor allem Art. 9, das Recht eine Ehe einzugehen, der dabei auf die einzelstaatlichen Gesetze verweisen muss. 978 So bspw. bei der Biopatentrichtlinie 98/44/EG, ABl. 1998 L-213/13 oder der Richtlinie 2001/83/EG zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarz976
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Ausgestaltungskompetenzen des Wissenschaftsbetriebs in Europa fehlen jedoch, selbst das Europäische Hochschulinstitut wurde nicht auf Grundlage der Verträge errichtet, sondern durch einen eigenständigen völkerrechtlichen Vertrag und genießt daher weitgehende Unabhängigkeit.979 Die hervorstechende und wirkungsmächtigste Kompetenz der EU im Bereich der Forschung ist die angestrebte Schaffung eines Europäischen Forschungsraums und ihre Förderungstätigkeit nach Art. 179 ff. AEUV. Dies folgt bereits aus der Zielsetzung der Union in Art. 3 Abs. 3 Satz 3 EUV, der Förderung des wissenschaftlichen Fortschritts. Zu diesem Zweck ist die EU ermächtigt, verbindliche Maßnahmen zur Erreichung des in Art. 179 Abs. 1 AEUV formulierten Ziels zu ergreifen und durch Rahmenprogramme die Wissenschaft in Europa zu fördern. Hierbei handelt es sich um einen Fall der sogenannten parallelen Zuständigkeit,980 das heißt die Maßnahmen der Union hindern die Mitgliedsstaaten nicht, eigene Maßnahmen zu ergreifen. Mit den Zielen des Art. 3 EUV stehen aber die Werte der Union aus Art. 2 Satz 1 EUV in einem komplementären Verhältnis.981 Diese Werte umfassen auch den Menschenrechtsschutz, der wiederum durch Art. 6 EUV, dem Verweis auf die Bindung der Union an die Grundrechte, konkretisiert wird.982 Das Ziel der Union die Wissenschaft zu fördern in Rückbindung an das Grundrecht aus Art. 13 GRC fordert damit auch für die finanzielle Förderung der Forschung durch die Union eine Begrenzung der Handlungsoptionen durch eine negative Kompetenznorm in Form des Grundrechts auf Wissenschaftsfreiheit. Es würde zwar zu weit gehen, originäre Leistungs- oder Teilhaberechte aus Art. 13 GRC abzuleiten. Es bleibt jedoch die Tatsache, dass die Europäische Hauptkompetenz im Bereich der Forschung in der finanziellen Ausstattung zu finden ist. Die größte Komplementarität zwischen grundrechtlicher Freiheit und unionaler Kompetenz ist dementsprechend in diesem Zusammenhang aufzuweisen. Aufgrund dieser engen Verbindung erscheint es notwendig, dass insbesondere auch die neimittel, ABl. 2001 L-311/67. Vgl. zu diesen Kompetenzen auch Pelzer, Die Kompetenzen der EG im Bereich Forschung, S. 91 ff. 979 Übereinkommen über die Gründung eines Europäischen Hochschulinstituts, ABl. 1976 C-29/1, vgl. zur Entstehungsgeschichte Stefan Kaufmann, Das Europäische Hochschulinstitut – die Florentiner „Europa-Universität“ im Gefüge des europäischen und internationalen Rechts, S. 88 ff. 980 Geregelt in Art. 4 Abs. 3 AEUV. Dies ist gegenüber der ausschließlichen und der geteilten Zuständigkeit in den Verträgen die Ausnahme, vgl. M. Nettesheim, in: Eberhard Grabitz/Meinhard Hilf/Martin Nettesheim (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union – Kommentar, Art. 4 AEUV Rn. 5 ff. 981 J. P. Terhechte, in: ibid., Art. 3 EUV Rn. 21. 982 R. Geiger, in: Geiger/Khan/Kotzur, EUV/AEUV-Kommentar, Art. 2 EUV Rn. 3; F. Schorkopf, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, EU-Kommentar, Art. 6 EUV Rn. 11.
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Rechtsakte der Forschungsförderung, mit der die Union die größten Einflussmöglichkeiten auf die Wissenschaft in Europa hat, der grundrechtlichen Bindung des Art. 13 GRC unterliegen. Nur auf diese Weise ist auch der angestrebte Europäische Raum der Forschung zu verwirklichen, denn der Grad der Freiheit der Wissenschaft kann sich nicht nur an den Freiheitsgewährleistungen der Mitgliedsstaaten messen lassen, sondern muss zuerst auf unionaler Ebene vorgelebt werden. Die Freiheit der Wissenschaft beginnt dementsprechend auch auf Europäischer Ebene mit der Bereitstellung der Mittel. Dies begründet die Eröffnung des Gewährleistungsgehalts des Art. 13 GRC bereits bei der Forschungsförderung. bb) Beeinträchtigung grundrechtlicher Freiheit durch die Vorgaben des Kodex Wenn die Freiheit der Wissenschaft bereits bei der Ausgestaltung der Förderungskriterien beginnt, so ist jede Einschränkung der Förderungswürdigkeit von Projekten durch Kriterien, die außerhalb des wissenschaftlichen Erkenntnisinteresses liegen, gleichsam eine Beeinträchtigung jener Freiheit. Die Wissenschaft wurde zuvor mit der methodisch geleiteten Generierung neuen Wissens definiert.983 Daher ist die Postulierung einer allgemeinen Rechenschaftspflicht,984 eines Verbots oder einer Einschränkung985 der Förderung von Projekten und die damit einhergehende Implementierungsforderung986 für Mitgliedsstaaten wie Forschungsakteure als Beeinträchtigung der wissenschaftlichen Freiheit zu betrachten, insoweit damit von der Kommission gesetzte Ziele verfolgt werden, die nicht der Wissenschaft dienen. Eine Hürde könnte demgegenüber noch die Intensität des Eingriffs darstellen. Der EuGH hat in seiner Grundrechtsjudikatur festgestellt, dass grundrechtsbeeinträchtigende Maßnahmen eine gewisse Schwelle überschreiten müssen, um nicht als sozialadäquate Ausgestaltung des Lebensbereichs notwendigerweise hinnehmbar zu sein.987 Dies könnte man bei unbefangener Betrachtung der Rechtsnatur des Verhaltenskodex jedoch annehmen, handelt es sich doch lediglich um Empfehlungen. Die bisherigen Erörterungen zu den Rechtswirkungen des Kodex haben aber bewiesen, dass es im Gegenteil unzulässig wäre, sich darauf zu beru983
Vgl. oben S. 200 ff. Punkt 3.7 des Verhaltenskodex. 985 Punkt 4.1.1.15–17 des Verhaltenskodex. 986 Vgl. Punkt 1–7 und 9 der Empfehlung K(2008) 424 und Punkt 1 und 4 des Verhaltenskodex. 987 Siehe oben S. 220 ff. 984
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fen, dass es sich bei dem Verhaltenskodex lediglich um eine unverbindliche Empfehlung handeln soll, die in Formulierungen der Freiwilligkeit Vorschläge zur Implementierung von Maßnahmen macht. Handfeste Vorgaben und ein damit einhergehender hoher Umsetzungsdruck sind im Bereich einer freien Wissenschaft für Forschungsakteure nicht hinnehmbar ohne einen gewichtigen Teil ihrer Freiheit einbüßen zu müssen. Die Bindungswirkung des Kodex und dessen Einordnung als verbindliches Instrument der Rechtsangleichung überwinden daher auch den Bagatellvorbehalt der Beeinträchtigungsintensität. cc) Formelle Rechtfertigung der Beeinträchtigung Diese Beeinträchtigung des Gewährleistungsgehalts von Art. 13 GRC muss aber nicht unzulässig sein, vielmehr sieht Art. 52 Abs. 1 GRC als horizontale Schrankenbestimmung der GRC die Vorraussetzungen vor, unter denen gerechtfertigterweise Beeinträchtigungen stattfinden können. Dabei wird gefordert, dass diese aufgrund eines Gesetzes ergehen, das den Wesensgehalt des jeweiligen Grundrechts achtet, und dass die Beeinträchtigung verhältnismäßig sein muss in Relation zu den angestrebten Zielen. (1) Das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage Der allgemeine Gesetzesvorbehalt der Grundrechtecharta verlangt für beeinträchtigende Maßnahmen der Unionsorgane einen Gesetzgebungsakt im Sinne des Art. 289 Abs. 3 AEUV.988 Die Empfehlung als unverbindlicher Rechtsakt genügt den Anforderungen des Gesetzesvorbehalts nicht. Die Ermächtigung989 zu einer Grundrechtsbeeinträchtigung müsste vielmehr in einem der Basisrechtsakte zum Siebten FRP zu finden sein, wobei jene Basisrechtakte in unterschiedlichen Handlungsformen ergangen sind. Die Initiation des Siebten FRP erfolgte durch einen Beschluss von Parlament und Rat,990 die spezifischen Programme wurden demgegenüber in Entscheidungen und Verordnungen des Rates verabschiedet.991 Der Beschluss über das 988
Vgl. die ausführlichen Erläuterungen oben, S. 222 ff. Eine Ermächtigung zur Grundrechtseinschränkung auf einer gesetzlichen Grundlage genügt den Anforderungen des Gesetzesvorbehalts, Hans D. Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Kommentar, Art. 52 Rn. 26. 990 Beschluss 1982/2006/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18. Dezember 2006 über das Siebte Rahmenprogramm der Europäischen Gemeinschaft für Forschung, technologische Entwicklung und Demonstration (2007 bis 2013), ABl. 2006 L-412/1. 991 Bspw. die Entscheidung des Rates vom 19. Dezember 2006 über das spezifische Programm „Ideen“ zur Durchführung des Siebten Rahmenprogramms der Eu989
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7. FRP muss als Grundlage der Entscheidungen über die spezifischen Programme als Maßstab der gesetzlichen Beeinträchtigungsermächtigung betrachtet werden, da dort bereits in Art. 6 Abs. 1 die Einhaltung ethischer Grundprinzipien eingefordert wird.992 Erst in der Folge wurde in den Entscheidungen zu den spezifischen Programmen dieses Erfordernis übernommen und der Kommission die Durchführung der Programme und damit auch die Einhaltung der ethischen Vorgaben übertragen.993 Die Beeinträchtigung der Wissenschaftsfreiheit durch die Formulierung von ethischen Einschränkungen findet somit bereits im Beschluss über das Siebte FRP ihren Ursprung. Inwieweit der Beschluss als Handlungsform eine ausreichende gesetzliche Grundlage sein kann, ist weiterhin umstritten. Vielfach wurde vor den Neuerungen durch den Vertrag von Lissabon dieser für Grundrechtsbeeinträchtigungen als nicht ausreichend angesehen, gefordert wurden vielmehr echte Gesetzgebungsakte wie Verordnung oder Richtlinie.994 Demgegenüber kann aber argumentiert werden, dass es sich beim vorliegenden Beschluss nicht um eine Einzelfallentscheidung handelt, sondern um eine abstrakt-generelle Regelung mit Gesetzescharakter. Insofern ist eine Parallelität mit den originären Gesetzgebungsakten festzustellen.995 Der Gesetzesvorbehalt fordert von den Organen dem Grundsatz demokratischer Legitimation Rechnung zu tragen. Der Beschluss zum Siebten FRP erging gemäß dem damaligen Art. 166 Abs. 1 EGV im Mitentscheidungsverfahren nach Art. 251 EGV. Er wurde mithin von Parlament und Rat gemeinsam gefasst, wodurch dieser die unter den Verträgen maximal zu erreichende demokratische Legitimation aufweist.996 Auch die Publizität des beeinträchtigenden Rechtsakts wird durch die (nunmehr) zwingende Veröffentlichung im Amtsblatt gewährleistet.997 Zudem ist zu beachten, dass der Beschluss durch den Vertrag von Lissabon auch in den Katalog der Rechtsformen für das ordentliche ropäischen Gemeinschaft für Forschung, technologische Entwicklung und Demonstration (2007–2013), ABl. 2006 L-400/242. 992 Art. 6 Abs. 1 des Beschlusses 1982/2006/EG über das 7. FRP, ABl. 2006 L-412/5. 993 Vgl. bspw. Art. 3 und 4 der Entscheidung des Rates über das spezifische Programm „Ideen“ zur Durchführung des 7. FRP, ABl. 2006 L-400/250 f. 994 T. Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV/GRC-Kommentar, Art. 52 GRC Rn. 62; D. Ehlers, in: Ehlers, European Fundamental Rights and Freedoms, § 14 Rn. 44; T. von Danwitz, in: Tettinger/Stern, Europäische Grundrechte-Charta, Art. 52 Rn. 33. 995 Den Beschluss unter diesen Voraussetzungen für ausreichend haltend, Jarass, GRC-Kommentar, Art. 52 Rn. 27. 996 Den Aspekt der demokratischen Legitimation für den Gesetzesvorbehalt ebenfalls betonend, T. von Danwitz, in: Tettinger/Stern, Europäische GrundrechteCharta, Art. 52 Rn. 34.
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Gesetzgebungsverfahren in Art. 289 Abs. 1 AEUV mit einbezogen wurde. In kohärenter Auslegung der Verträge können insoweit auch Beschlüsse dem Gesetzesvorbehalt des Art. 52 Abs. 1 GRC genügen, als diese gemäß Art. 289 Abs. 3 AEUV als Gesetzgebungsakte legal definiert werden. Auch wenn die Wahl der Handlungsform für das Siebte FRP unpassend erscheint und eine Verordnung sicherlich die bessere Wahl gewesen wäre,998 ist unter dem Gesichtspunkt der Zwecke des Gesetzesvorbehalts der Beschluss als ausreichend anzusehen für eine Ermächtigung zur Grundrechtsbeeinträchtigung. Dies kann auch für die Zukunft gelten, da Art. 182 Abs. 1 AEUV nur die Wahrung des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens fordert, das auch den Beschluss umfasst. (2) Verstoß gegen den Bestimmtheitsgrundsatz? Die Existenz der gesetzlichen Grundlage reicht aber noch nicht aus, diese muss auch hinreichend bestimmt sein, um ein Grundrecht gerechtfertigt einschränken zu können. Der aus dem deutschen Recht bekannte Bestimmtheitsgrundsatz ist auch im Europarecht als formelle Hürde grundrechtlicher Beeinträchtigungen anerkannt.999 Das deutsche Recht leitet ihn aus dem Prinzip der Rechtssicherheit ab, das wiederum aus dem Rechtsstaatsprinzip gefolgert wird.1000 Die Union bekennt sich in Art. 6 EUV zu dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit als Ausdruck des europäischen Grundkonsens zwischen den Mitgliedstaaten1001 und somit auch zum Grundsatz der Rechtssicherheit,1002 der von den rechtsetzenden Organen der Gemeinschaft verlangt, dass eine den Bürger belastende Regelung klar und deutlich ist, damit er seine Rechte und Pflichten unzweideutig erkennen und somit seine Vorkehrungen treffen kann.1003 997 Nun explizit als zwingend normiert für generelle Beschlüsse in Art. 297 Abs. 2 UAbs. 2 AEUV. 998 A. Kallmayer, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV/GRC-Kommentar, Art. 166 EGV Rn. 1. 999 Jarass, EU-Grundrechte, § 6 Rn. 39; T. Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/ EGV/GRC-Kommentar, Art. 52 GRC Rn. 62. 1000 E. Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Band II § 26 Rn. 85; M. Sachs, in: Sachs, Grundgesetz Kommentar, Art. 20 Rn. 126 ff. 1001 Calliess, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV/GRC-Kommentar, Art. 6 EUV Rn. 1. 1002 EuGH, Rs. 169/80, Slg. 1981, 1931, Rn. 17 (Gondrand Freres); vgl. auch Beutler, in: von der Groeben/Schwarze, EU/EG.Kommentar, Art. 6 EUV Rn. 35; Calliess, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV/GRC-Kommentar, Art. 6 EUV Rn. 27; Pechstein, in: Streinz/Ohler/Magiera, EUV/EGV, Art. 6 EUV Rn. 7. 1003 EuGH Gondrand Freres, Rs. 169/80, Slg. 1981, 1931, Rn. 17.
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B. Kodizes in der Wissenschaft
Betrachtet man zunächst die gesetzliche Ermächtigung so kommen Zweifel an dessen hinreichender Klarheit und Bestimmtheit auf. Im Beschluss über das Siebte FRP werden ethische Grundpinzipien als Grenzen der Forschungstätigkeit der Union formuliert ohne diese näher zu konkretisieren.1004 Erst in den spezifischen Programmen wird im Anhang jeweils die bereits bezeichnete Aufzählung der Quellen jener Grundprinzipien aufgeführt.1005 Erst wenn man also den Basisbeschluss und die spezifischen Programme zusammen heranzieht, bekommt der Begriff der ethischen Grundprinzipien eine hinreichende Tiefe. Dies kann aber insoweit hingenommen werden, als die Adressaten der Regelung, die verschiedenen Forschungsakteure, sich jeweils die spezifischen Programme ansehen müssen um ihre Forschungsaktivitäten in Europa aufzunehmen und somit durch diese spezifischeren Regelungen auf die relevanten ethischen Grundprinzipien verwiesen werden. Insofern kann von einer ausreichenden Konkretisierung ausgegangen werden. Den Adressaten wird durch die Regelungstechnik hinreichend deutlich, um welche Prinzipien es gehen soll, auch wenn diese Mittelbarkeit nicht den Idealzustand unionaler Rechtssicherheit widerspiegeln kann. Nur auf diese Weise kann aber auch die Bestimmtheit des Verhaltenskodex selbst noch als ausreichend bewertet werden. Diese wurde zuvor als mangelhaft erachtet, aufgrund der unspezifischen Verwendung des Begriffs der ethischen Vertretbarkeit.1006 Die Verwendung dieses Begriffs alleine konnte den Adressaten des Kodex keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür geben, welche ethischen Grundprinzipien die Forschung im Nanobereich anleiten sollten. Wenn man aber davon ausgeht, dass der Verhaltenskodex für die NuN-Akteure erst dann relevant wird, wenn sich diese nach Betrachtung der einschlägigen Vorschriften für die Europäische Forschungsförderung mit den diese begleitenden Instrumenten beschäftigen, könnte man davon ausgehen, dass der Begriff wiederum auf mittelbarem Wege die notwendige Tiefe und Klarheit erreicht, die das Bestimmtheitsgebot fordert. 1004 In Erwägungsgrund 30 wird lediglich auf die Charta der Grundrechte („einschließlich“) und auf die Stellungnahmen der EGE verwiesen. 1005 Vgl. bspw. die Überschrift „Ethische Aspekte“ im Anhang zum spezifischen Programm „Ideen“, ABl. 2006 L-400/266; zu den Quellen gehören die Erklärung von Helsinki, das Oviedo-Übereinkommen des Europarates über Menschenrechte und Biomedizin und seine Zusatzprotokolle, das VN-Übereinkommen über die Rechte des Kindes, die Allgemeine Erklärung der UNESCO über das menschliche Genom und Menschenrechte, das VN-Übereinkommen über das Verbot biologischer Waffen und von Toxinwaffen, der Internationale Vertrag über pflanzengenetische Ressourcen für Ernährung und Landwirtschaft wie auch die einschlägigen Entschließungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO). 1006 Vgl. oben S. 74 ff.
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Aus der rechtsstaatlichen Perspektive wäre es jedoch angezeigt, wenn auch ein solches Instrument wie der Verhaltenskodex unmittelbar die Anforderungen des Bestimmheitsgebots erfüllt. Insbesondere weil zuvor festgestellt wurde, dass dieser rechtliche Wirkungen entfaltet und handlungsanleitend wirkt, müssen die Adressaten des Kodex auch aus diesem selbst erschließen können, was die Kommission unter ethischer Vertretbarkeit versteht um zum einen die grundsätzlichen rechtsstaatlichen Anforderungen an die Handlungen der Europäischen Organe zu erfüllen und zum anderen die Akzeptanz dieses Instruments zu erhöhen. Wenn also die Schnittstelle von Recht und Ethik durch einen solchen Kodex überbrückt werden sollen, so muss dies auch auf rechtlich unbedenkliche und vor allem auch effiziente Weise geschehen. dd) Materielle Rechtfertigung Soweit die formelle Rechtfertigung noch gelingen konnte, ist die materielle Rechtfertigung der Beeinträchtigung der Wissenschaftsfreiheit erheblich schwieriger. Die sehr weiten Formulierungen erlauben es zunächst nicht die tatsächlichen Rechtsgüter, deren Abwägung hier in Frage stehen, in ausreichendem Maße einzugrenzen. Die Einschränkung der Forschungsförderung bezieht sich gleichberechtigt darauf, dass keine Forschungsarbeiten gefördert werden, die die Möglichkeit beinhalten, dass entweder Grundrechte oder ethische Grundprinzipien verletzt werden können.1007 Zudem sollen Forscher und Forschungseinrichtungen für die möglichen sozialen, ökologischen und gesundheitlichen Folgen ihrer NuN-Forschung für die heutige und für künftige Generationen zur Rechenschaft gezogen werden können.1008 Die vorangegangene Arbeit hat aufgezeigt, dass eine Beeinträchtigung der Wissenschaftsfreiheit aus Art. 13 GRC zwar nach den Rechtfertigungsregeln der Schrankenregelung des Art. 52 Abs. 1 GRC zu erfolgen hat, die legitimen Ziele aber einer Einschränkung im Sinne des Art. 10 Abs. 2 EMRK bedürfen um das Schutzniveau der GRC nicht unter das der EMRK absinken zu lassen.1009 Somit verbleiben zur Rechtfertigung der Beeinträchtigung der Wissenschaftsfreiheit die anderen Grundrechte der GRC im Sinne von Grundrechtskollisionen, die Zielsetzungen der Union und die legitimen Ziele des Art. 10 Abs. 2 EMRK.
1007 1008 1009
Punkt 4.1.15. Punkt 3.7. Vgl. oben S. 215 ff.
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B. Kodizes in der Wissenschaft
(1) Rechtfertigung der allgemeinen Rechenschaftspflicht Die allgemeine Rechenschaftspflicht, nach der die Träger der Wissenschaftsfreiheit für alle „sozialen, ökologischen und gesundheitlichen Folgen“ ihrer Forschung zur Verantwortung gezogen werden sollen, ist in ihrer Formulierung derart weitläufig, dass eine Rechtfertigung der Auslegung bedarf. Es sind eine Vielzahl von Grundrechten, Adressaten und möglichen Beeinträchtigungen angesprochen, die dem Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit eigentlich keinen Raum mehr zur Entfaltung lassen. In dieser Konstellation drängt sich die Parallele zur Rechtsprechung des deutschen Bundesverfassungsgerichts zur Rechenschaftspflicht im Hessischen Universitätsgesetz auf,1010 in dem dieses eine derart pauschale Nennung von zu beachtenden Folgen kritisch bewertete und den entsprechenden Passus im Gesetz nur durch eine einschränkende verfassungskonforme Auslegung der Folgen zu retten vermochte. Die Übertragung dieser Rechtsprechung auf die Europäische Ebene fällt jedoch aufgrund mehrerer Faktoren schwer. Zum einen ist die deutsche Grundrechtsdogmatik nicht einfach auf die europäische Grundrechtsdogmatik übertragbar. Zu vielfältig sind die europäischen (Grund-)Rechtsordnungen, als dass ein Verweis auf nur eine einzige davon ein aussagekräftiges Argument bedeuten könnte. Zum anderen liegen die Fälle ein wenig anders, als nicht nur eine Mitbedenkenspflicht formuliert wird, sondern eine tatsächliche Rechenschaftspflicht der Forscher, wodurch einerseits der Eingriff gewichtiger ausfallen kann, als praktische Konsequenzen unweigerlich und nicht nur potenziell damit verbunden sein müssten, andererseits aber konkrete Verfahren für eine derartige Rechenschaftspflicht noch nicht bereit stehen und diese somit lediglich abstrakt besteht. Schließlich ist anders als im deutschen Recht die Wissenschaftsfreiheit nicht nur durch Verfassungsgüter von gewichtigem Rang einschränkbar, sondern durch die horizontale Schranke des Art. 52 Abs. 1 GRC in Verbindung mit Art. 10 Abs. 2 EMRK in größerem Maße. Eine grundrechtskonforme Auslegung lediglich zugunsten von Grundrechten der GRC ist nicht möglich, es müssen auch die anderen von der Union und der EMRK anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen herangezogen werden, da diese die Wissenschaftsfreiheit ebenfalls einzuschränken vermögen, wenn dies verhältnismäßig geschieht. Jedoch ist auch zu bedenken, dass der Begriff der Freiheit dann nicht mehr erfüllt ist, wenn ein Grundrechtsträger eines bestimmten Lebensbereichs für jegliche, noch so geringen oder fernliegenden Auswirkungen seiner Tätigkeit zur Verantwortung herangezogen wird. Die Formulierung des Art. 13 GRC, dass Forschung frei sein soll, steht mit einer allgemeinen 1010
BVerfGE 47, 327 (379 ff.); vgl. oben S. 131 ff.
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Rechenschaftspflicht in einem klaren Widerspruch, auch wenn diese durch die Adjektive „sozial“, „ökologisch“ und „gesundheitlich“ eingegrenzt werden soll. Denn auch wenn man in wohlwollender Lesart die ökologischen und gesundheitlichen Folgen den Zielen der Union eines hohen Schutzniveaus für die Umwelt, das Art. 191 AEUV formuliert, und dem Schutz der Gesundheit nach Art. 168 AEUV sowie Art. 3 GRC zuordnet, bleibt unklar, was unter sozialen Folgen1011 der NuN-Forschung zu verstehen ist. Die sozialen Auswirkungen des Handelns könnten vielfältiger nicht sein, denn die Interaktion verschiedener Menschen zeitigt stets soziale Folgen. Ohne Konkretisierung wäre jedenfalls die allgemeine Rechenschaftspflicht für diese äußerst bedenklich, denn gerade die sozialen Folgen der Wissenschaft waren in der Vergangenheit stets Grund verschiedenster Restriktionen seitens der Staatsmacht, die den Ruf nach Wissenschaftsfreiheit erst erweckten.1012 Möglicherweise hatte die Kommission bei der Aufnahme des sozialen Faktors die Europäische Sozialpolitik der Artt. 151 ff. AEUV im Auge, die der Union Kompetenzen im Bereich des gesundheitlichen Schutzes von Arbeitnehmer nach Art. 153 Abs. 1 lit. a AEUV einräumt. Eine doppelte Berücksichtigung der gesundheitlichen Folgen wäre aber eher unnötig, weitere Felder der Europäischen Sozialpolitik lassen sich aber kaum mit Forschungsbelangen in Verbindung bringen. Einen Hinweis auf die gesellschaftliche Dimension der Nanotechnologie lässt sich lediglich noch in einem kurzen Satz der Mitteilung der Kommission „Auf dem Weg zu einer europäischen Strategie für Nanotechnologie“1013 entnehmen, wo es heißt, dass „bestimmte Anwendungen, z. B. Miniatursensoren, spezifische Auswirkungen auf den Schutz der Privatsphäre und personenbezogener Daten haben“ können.1014 Damit wäre aber wiederum das Problem der Abgrenzung von wissenschaftlicher Erkenntnis und ihrer Anwendung durch Dritte angesprochen, eine Abgrenzung, die für die Freiheit der Wissenschaft von zentraler Bedeutung ist. Die Wissenschaft kann nicht generell für die Folgen verantwortlich gemacht werden, die die technische Anwendung ihrer Erkenntnisse ermöglichen. Eine so weitreichende Formulierung einer Rechenschaftspflicht, gerade für soziale Folgen, ist insoweit in Anbetracht der grundrechtlichen Verbürgung in Art. 13 GRC nicht grundrechtskonform. Angesichts der aufgezeigten Wirkungen, die von der Empfehlung und dem enthaltenen Kodex ausgehen, wäre abgesehen von der vorzugswürdigen radikalen Lösung einer 1011 1012 1013 1014
In der engl. Version: social impacts, frz.: incidences sur la société. Vgl. die historischen Betrachtungen auf S. 92 ff. KOM(2004) 338 vom 12.5.2004. Vgl. ebd. S. 22.
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Streichung der Rechenschaftspflicht eine konkrete Eingrenzung der gegenläufigen Interessen und Rechtsgüter angebracht gewesen um die Wissenschaftsfreiheit angemessen zu berücksichtigen. Ihr Stellenwert in der Unionsrechtsordnung wird durch die weit gefasste Rechenschaftspflicht des Kodex geschwächt, was angesichts des angestrebten Europäischen Raums der Forschung auch mit den Zielen der Union nicht mehr vereinbar ist. (2) Rechtfertigung der Beeinträchtigung durch ethische Grundprinzipien Auch das Verbot der Forschungsförderung in Fällen, „in denen die Verletzung von Grundrechten oder grundlegenden ethischen Prinzipien möglich wäre“1015 begegnet erheblichen Bedenken. Bedenklich sind weniger die Grundrechtsgefährdungen durch geförderte Projekte, da es einleuchten muss, die mögliche Verletzung von Grundrechten anderer nicht durch Gelder der Union zu finanzieren. Eine gegenteilige Ansicht würde vielmehr den Schutzauftrag der Grundrechte und die vorliegende Leistungsdimension der Wissenschaftsfreiheit verkennen. In der Konstellation einer Grundrechtskollision der Wissenschaftsfreiheit im Leistungsbereich und der Abwehr von Grundrechtsverletzungen anderer kann die Herstellung praktischer Konkordanz zwischen den verschiedenen Grundrechten1016 kaum zu einer Bevorzugung der Wissenschaftsfreiheit führen. Problematisch ist aber ein Verbot der Förderung augrund entgegenstehender ethischer Grundprinzipien, denen sich alle NuN-Akteure verpflichten sollen. Mit dieser Formulierung verlässt der Verhaltenskodex den Boden rechtlicher Argumentation und bezieht ethische Elemente in seine Forschungsregulierung mit ein. Die Bestimmtheit dieses Begriffs wurde bereits als bedenklich, jedoch ausreichend eingestuft, angesichts der dahinterstehenden Gesetzesmaterialien, die diese ethischen Grundprinzipien konkreter benennen. An dieser Stelle geht es aber nun darum, ob diese Konkretisierungen mit der Wissenschaftsfreiheit grundrechtskonform in Einklang gebracht werden können um eine materielle Rechtfertigung zu erreichen. Nunmehr muss sich erweisen, wie die bereits kritisierte Ethisierung des Europarechts mit der nachteiligen Diffusion von Ethik und Recht im Grundrechtsgefüge zu positionieren ist. Hauptkritikpunkt war es, dass die Ethisierung des europäischen Diskurses keine Rückbindung an die Europäischen Grundrechte erfuhr, zumal durch Europäische Rechtsetzungsorgane wie die Kommission.1017 Hier zeigt sich nun die praktische Relevanz dieser 1015
Punkt 4.1.15 des Verhaltenskodexes. Den Begriff der praktischen Konkordanz auch für die Europäische Grundrechtsdogmatik einführend Jarass, EU-Grundrechte, S. 61. 1016
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Diffusion, wenn außer den Grundrechten anderer auch ethische Grundprinzipien die Wissenschaftsfreiheit der Forscher einschränken sollen. Dass diese Grundprinzipien über den Inhalt der Grundrechtecharta und des Gemeinschafts- oder Unionsrechts hinausgehen sollen, wurde bereits dargelegt. Sie finden ihren Gehalt darüber hinaus in den Stellungnahmen der EGE und internationalen Dokumenten und Übereinkommen. Bezüglich der EGE wurde aber bereits aufgezeigt, dass diese ihre Stellungnahmen nicht anhand des unionalen Grundrechtsrahmens abfasst, was mangels Bindung an diesen und ihrem Auftrag nach auch konsistent und unbedenklich ist, sondern in freier ethischer Argumentation zu ihren Empfehlungen kommt, was auch eine geringere Einschätzung der Position der Wissenschaftsfreiheit mit sich bringen kann. Der Verweis auf deren Stellungnahmen durch die grundrechtsgebundenen Rechtsetzungsorgane bedeutet demnach eine indirekte Entledigung der grundrechtlichen Pflichten, die diese selbst treffen. Mehr noch, die EGE wird teilweise ermächtigt, die Rahmenbedingungen der Forschungsförderung in Europa durch die mögliche Aufstellung abstrakt-genereller Zulässigkeitsgrenzen festzulegen. Rechtliche Bedenken ergeben sich dabei zum einen, weil die EGE wie bereits erwähnt nicht grundrechtsgebunden ist und auch nicht den rechtsstaatlichen Anforderungen der Verträge unterliegt. Zum anderen wird damit aber auch die Rechtsetzungsdelegation durch den Rat und das Parlament auf die Kommission auf ein weiteres Organ erweitert, das in den Verträgen nicht vorgesehen ist.1018 Grundrechtsbeeinträchtigende Maßnahmen wie die vorliegende gehören jedoch zu den wesentlichen Vorschriften, die es eigentlich durch das ordentliche Gesetzgebungsverfahren zu regeln gilt. Dieser primärrechtlich verankerte Wesentlichkeitsvorbehalt, der sich aus Art. 290 Abs. 1 AEUV ablesen lässt, muss eine solche Rechtsetzungsdelegation auf ein Organ wie die EGE verhindern.1019 Die einschränkenden ethischen Grundprinzipien durch Verweis auf die Stellungnahmen der EGE zu definieren, ist daher ein vertragswidriges Vorgehen, dem entgegengewirkt werden sollte. Darüber hinaus wird generell auf alle Stellungnahmen verwiesen, wodurch die Verweisung einen dynamischen Charakter erhält. Für dynamische Verweisungen gelten im Europarecht aber dieselben Bedenken wie im deutschen Recht.1020 1017
Vgl. oben S. 263 ff. Vgl. zur Delegation der Rechtsetzungskompetenz bzgl. der ethischen Grundprinzipien auf die Kommission S. 255 ff. 1019 Vgl. auch die generellen Bedenken gegen exekutivisch durch die Kommission verfasstes soft law bei Schwarze, Soft Law im Recht der Europäischen Union, Europarecht 2011, EuR 2011, 3 (17). 1020 Vgl. zuletzt Tomasz Milej, Zur Verfassungsmäßigkeit der Umsetzung des Gemeinschaftsrechts durch dynamische Verweisungen und Rechtsverordnungen, ibid. 2009, 377 ff. 1018
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Als Argument für die Beteiligung der EGE an der Ermittlung ethischer Grundprinzipien für die Forschungsförderung lässt sich zwar anbringen, dass diese einen ethischen, flexiblen Diskurs ermöglicht, der auf neue Herausforderungen schneller reagieren kann, bei gleichzeitiger Umgehung formaler Verfahren. Die hier im Vordergrund stehende grundrechtliche Bewertung des Verhaltenskodex im Lichte der Wissenschaftsfreiheit des Art. 13 GRC kann diese Vorteile jedoch nicht einbeziehen, denn sie verlangt rechtliche Argumente. Die Summe der Argumente gegen die Einbeziehung der Stellungnahmen der EGE in die ethischen Grundprinzipien, die die Forschungsförderung bestimmen sollen, lässt aber keinen anderen Schluss zu, als dieses Vorgehen insgesamt abzulehnen und als inkompatibel mit einem grundrechtlich verbürgten Freiheitsbereich wie der Wissenschaftsfreiheit zu klassifizieren. Damit soll nicht die Rolle der EGE in der Forschungspolitik der Union insgesamt abgelehnt werden. Wie bereits erwähnt, kann diese wichtiger Impulsgeber sein und in den Graubereichen bioethischer Fragestellungen eine ethische Evaluierung bieten, die der Kommission handlungsanleitend zur Seite steht. Lediglich die Praxis der Kommission mit dem Begriff der ethischen Grundprinzipien allgemein auf deren Stellungnahmen zu verweisen und damit abstrakt-generell die Forschungsförderung quasi unter deren Kontrolle zu stellen, ist aus grundrechtlicher Sicht der Wissenschaftsfreiheit an dieser Stelle als zu weitgehend zu kritisieren. Vorzuziehen wäre neben dem Verweis auf grundrechtskonforme Forschung eine klare Formulierung der ethischen Prinzipien, der diese zu Grunde liegen soll, in Kombination mit Einzelfallbewertungen von Forschungsvorhaben durch Ethikkommissionen, deren Diskurs durch entsprechende Vorgaben der interdisziplinären Besetzung sowohl rechtliche wie auch ethische Argumente vereinen kann.1021 Als weiterer Baustein der ethischen Grundprinzipien bleiben schließlich noch die internationalen Übereinkommen, auf die in den Gesetzesmaterialien verwiesen wird. Diese Übereinkommen umfassen die Deklaration von Helsinki, das Oviedo-Übereinkommen des Europarates über Menschenrechte und Biomedizin und seine Zusatzprotokolle, das VN-Übereinkommen über die Rechte des Kindes, die Allgemeine Erklärung der UNESCO über das menschliche Genom und Menschenrechte, das VN-Übereinkommen über das Verbot biologischer Waffen und von Toxinwaffen, der Internationale Vertrag über pflanzengenetische Ressourcen für Ernährung und Landwirtschaft und die einschlägigen Entschließungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO).1022 Bemerkenswert bei dieser Aufzählung ist zu-
1021 Zu den Anforderungen an derartige Ethikkommissionen, Vöneky, Recht, Moral und Ethik, S. 534 ff.
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nächst, dass hier verbindliche völkerrechtliche Übereinkommen,1023 softlaw-Dokumente1024 und unverbindliche Standesregeln1025 nebeneinander genannt werden um anscheinend gleichberechtigt mit der Grundrechtecharta und dem Vertragsrecht die ethischen Grundprinzipien der Union zu definieren.1026 Damit wird verdeutlicht, dass der Begriff der ethischen Grundprinzipien tatsächlich ein Verlassen rechtlicher Sphären fordert, in denen derartige Klassifizierungen vorgenommen werden könnten. Verbindlichkeit soll kein Kriterium mehr sein, sondern die inhaltlichen Vorgaben dieser Dokumente sollen in Kombination die Summe der ethischen Grundprinzipien widerspiegeln, anhand derer sich die Forschungsakteure in Europa zu orientieren haben.1027 Wenn aber tatsächlich nicht mehr Recht als Eingrenzung der Forschung fungiert, sondern rein ethische Erwägungen den rechtlichen Gehalt der Wissenschaftsfreiheit mitbestimmen, entsteht genau jene Diffusion von Ethik und Recht vor der zuvor gewarnt wurde.1028 Auf der einen Seite steht das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit mit seiner rechtlichen Definition eines Gewährleistungsbereichs und seiner Schrankenregelung. Demgegenüber stehen nichtrechtliche Normen beziehungsweise rechtliche Nor1022 So die Aufzählung im Anhang zu den Entschließungen zu den spezifischen Programmen des 7. FRP, bspw. im spezifischen Programm „Ideen“, ABl. 2006 L-400/266. 1023 So unzweifelhaft die Oviedo-Konvention, wenn auch nicht für Deutschland. 1024 Zur Einordnung verschiedener Übereinkommen unter den völkerrechtlichen soft-law-Begriff vgl. unten S. 294 ff. 1025 Die Deklaration von Helsinki ist mangels völkerrechtlicher Subjektqualität ihrer Urheber nicht als völkerrechtliches Instrument einzuordnen, lediglich standesrechtlich kann sie in einzelnen Fällen rechtliche Qualität erlangen, vgl. Hohnel, Die rechtliche Einordnung der Deklaration von Helsinki – Eine Untersuchung zur rechtlichen Grundlage humanmedizinischer Forschung, S. 55; Chang, Ethische und rechtliche Herausforderungen einer globalisierten Arzneimittelprüfung, (erscheint demnächst), (erscheint demnächst). 1026 Die Gleichrangigkeit ergibt sich aus dem Wortlaut: „Bei der Durchführung dieses Programms und den damit verbundenen Forschungstätigkeiten müssen ethische Grundprinzipien beachtet werden. Hierzu gehören unter anderem die Prinzipien, auf die sich die Charta der Grundrechte der Europäischen Union stützt, wie der Schutz der menschlichen Würde und des menschlichen Lebens, der Schutz personenbezogener Daten und der Privatsphäre und der Tier- und Umweltschutz gemäß dem Gemeinschaftsrecht und den letzten Fassungen der einschlägigen internationalen Übereinkünfte, Leitlinien und Verhaltensregeln wie [die zuvor aufgezählten internationalen Dokumente (der Verf.)].“ ABl. 2006 L-400/266. 1027 Zudem wird hier wiederum eine dynamische Verweisung auf die letzten Fassungen von Dokumenten vorgenommen, die wie im Falle der Deklaration von Helsinki noch nicht einmal eine völkerrechtliche Legitimation aufweisen können, dazu ausführlich Chang, Ethische und rechtliche Herausforderungen einer globalisierten Arzneimittelprüfung, (erscheint demnächst), (im Erscheinen) und Sigrid Mehring, The Intersection of Medical Ethics and International Humanitarian Law. 1028 S. o. S. 258 ff.
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men, die nicht als solche gelten, sondern lediglich in Kombination mit nichtrechtlichen Normen die ethischen Grundprinzipien der Union verkörpern sollen. Damit hat sich die Gefahr der parallelen Sollensmaßstäbe in einem rechtlich wirkenden Instrument realisiert, die zuvor bereits identifiziert werden konnte.1029 Will man den rechtlichen Maßstab der Grundrechtecharta mit dem spezifischen Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit nun in Konkurrenz setzen mit einem Maßstab der ethischen Grundprinzipien, der gleichwohl die Inhalte der Grundrechtecharta übernimmt, wie auch diejenigen mehrerer anderer Dokumente, nicht aber derselben Sphäre zuzuordnen sein soll, stößt man zwangsläufig an eine Beurteilungsgrenze. Denn abgesehen von der Ungenauigkeit einer derart weitläufigen Aufzählung verschiedener Quellen ethischer Grundprinzipien, ist es auch schlechterdings nicht möglich die verschiedenen Prinzipien oder Güter miteinander in Bezug zu setzen, wenn diese von vornherein nicht auf derselben Geltungsebene angesiedelt sein sollen. Vielmehr muss dieser Versuch parallele Sollensmaßstäbe zu etablieren scheitern, wenn beide Maßstäbe in der Realität konfligieren, indem sie zu unterschiedlichen Gewichtungen aufgrund normativer Entscheidungen beispielsweise des unionalen Gesetzgebers kommen. Dass eine solche Entscheidung die Wissenschaftsfreiheit stärker betont, als es der parallele Sollensmaßstab der ethischen Grundprinzipien in der Form des Verhaltenskodex vermittelt, bringt eine Entscheidungsnotwendigkeit mit sich. Einer der beiden Maßstäbe muss im Konfliktfall zurücktreten. Es kann nicht verwundern, dass diese Entscheidung hier zugunsten des rechtlich verfassten Grundrechtskatalogs der Charta zu treffen ist. Dieser positiviert die ethischen Grundprinzipien denen die Europäische Union verpflichtet ist und fügt ihnen damit die Komponenten der Rechtssicherheit und Kontinuität bei. Positivierte ethische Grundprinzipien bieten dem Unionsbürger und den Stellen der Union jene Sicherheit der Verhaltenserwartungen, die dem Recht immanent sind. Im Konfliktfall ist die Entscheidung daher zugunsten der normierten Wissenschaftsfreiheit der Grundrechtecharta zu treffen und zulasten derjenigen ethischen Grundprinzipien, die nicht denselben Geltungsrang haben. Auch im Europäischen Recht muss aber der Grundsatz gelten, dass eine Auslegung vorzuziehen ist, die Konformität mit höherrangigem Recht aufweisen kann. Daher sind an dieser Stelle zwei alternative Ansätze zu erwägen, die eine Grundrechtskonformität zu erreichen vermögen. Erstens könnte man im Sinne der deutschen Entscheidung zum Hessisichen Universitätsgesetz eine einschränkende, grundrechtskonforme Auslegung des Verhaltenskodex wählen, die die ethischen Grundprinzipien nur als diejenigen Prinzipien begreift, die eine Rückbindung an rechtliche Normen aufweisen 1029
So die Schlussfolgerungen oben ab S. 263 ff.
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können, wie es beispielsweise beim informed-consent-Prinzip und dem Grundrecht auf Autonomie möglich ist. Die weiteren unverbindlichen Dokumente könnten als Auslegungshilfe für diese rechtlichen Normen gedacht sein, ohne Verbindlichkeit zu beanspruchen. Die zweite Alternative bestünde aus der Perspektive, die Aufzählung ethischer Grundprinzipien als das Evaluierungsprogramm von Ethikkommissionen zu sehen, das diese heranziehen sollen, wenn Einzelfallentscheidungen über Forschungsförderungsanträge anstehen. Diese stellten originäre Abwägungsentscheidungen im Einzelfall dar, jedoch unter gebührender Berücksichtigung der Wissenschaftsfreiheit. Auch dabei gälte es jedoch zu beachten, die parallelen Sollensmaßstäbe in der Abwägung nicht zulasten des Grundrechts aus Art. 13 GRC zu vermengen. Jener Ansatz birgt mithin die Gefahr einer Verlagerung der Problematik in die konkrete Einzelfallentscheidung. Insofern entsprechen beide Lösungen nur interpretativen Rettungsversuchen zur Erhaltung der Regelungen. Angesichts des zweifelhaften Normcharakters des Kodex mitsamt der zu Grunde liegenden Empfehlung und der Bedenken an der Grundrechtskonformität der Regelungen soll hier jedoch für einen dritten, radikaleren Weg plädiert werden: Einer Komplettrevision des Verhaltenskodex. Es ist ein legitimes Anliegen der Kommission die Wissenschaftsfreiheit zugunsten anderer Grundrechte und hochwertiger Gemeinschaftsziele einschränken zu wollen.1030 Sie will damit sicherstellen, dass die Forschung in Europa sich in vertretbaren und konsensfähigen Bahnen bewegt, die den jeweiligen Vorstellungen aller Mitgliedstaaten gerecht wird und Vorbild in der Welt sein soll. Anstatt hierfür jedoch pauschale Wege der Eingrenzung der Wissenschaftsfreiheit zu wählen, indem reflexartig auf ethische Grundprinzipien verwiesen wird, die sich aus mehreren verbindlichen und unverbindlichen Quellen zusammensetzen sollen, wäre es vorzugswürdig entweder direkt diejenigen ethischen Grundprinzipien zu identifizieren, die sowohl in der Europäischen Union konsensfähig sind, als auch an die Grundrechtecharta rückgebunden werden können und sie in Relation zur Wissenschaftsfreiheit zu setzen, deren Stellenwert als verbindliches Grundrecht im Kodex herausgestellt werden sollte. Dies würde auch mit der Erkenntnis übereinstimmen, dass nur positivierte ethische Prinzipien, die Wissenschaftsfreiheit einzuschränken vermögen.1031 Oder es sollte insgesamt der Weg eingeschlagen 1030 Dieses Anliegen wurde auch in weiten Teilen des Kodex gelungen umgesetzt, wenn bspw. das Vorsorgeprinzip als allgemeiner Grundsatz der Union (vgl. EuGH The Queen/Ministry of Agriculture et al., Rs. C-157/96 Rn. 63 f.) durch Aufforderungen zur Risikobewertung gefördert werden soll oder wenn der Forschungsförderung zunächst eine Prüfung auf eventuelle Verletzungen anderer Grundrechte vorausgehen soll. 1031 Vgl. oben bereits, S. 205 ff.
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werden, die Forschungsförderung in Europa unter den Vorbehalt einer Prüfung durch Ethikkommissionen zu stellen, die in richtiger Zusammensetzung1032 im Einzelfall sicherstellen können, dass einzelne Projekte sicher und vertretbar sind. Dies entspräche auch eher den Anforderungen, die zuvor an die Implementierung eines Ethos wissenschaftlicher Verantwortung in das Wissenschaftssystem gestellt wurden,1033 als die institutionalisierte Verantwortungswahrnehmung durch die Forschungsakteure selbst, auch eine höhere Akzeptanz verspricht. ee) Ergebnis Es mussten einige interpretative Anstrengungen unternommen werden, um die formelle Rechtmäßigkeit des Verhaltenskodexes feststellen zu können. Bei der materiellen Rechtfertigung müssen im Ergebnis die Bedenken aber überwiegen und die Grundrechtskonformität des Instruments in Frage gestellt werden. Aufgrund der rechtlichen Qualität, die dem Kodex zukommt, musste dieser auch die Anforderungen des Bestimmtheitsgrundsatzes erfüllen, was zumindest in mittelbarer Weise erkannt werden konnte. Die materiellen Hürden, die kritische Passagen wie die Rechenschaftspflicht und die Begrenzung der Wissenschaftsfreiheit durch ethische Grundprinzipien aufstellten, konnten jedoch nicht überwunden werden. Zu weitgehend wurden Forderungen aufgestellt, die den Freiheitsbereich der Wissenschaft aus Art. 13 GRC verkümmern ließen, zu schwer wog die Diffusion von Ethik und Recht um eine rechtliche Abwägung mit einer Wissenschaftsfreiheit gewährleisten zu können, die Rechtssicherheit und ausreichende Anerkennung des Grundrechts vermitteln würden. In Anbetracht des streitigen rechtlichen Charakters des Verhaltenskodexes und seiner Grundrechtsprobleme ist ihm daher in seiner jetzigen Form die Rechtskonformität abzusprechen. d) Fazit Die formal unverbindlichen Steuerungsformen ethischen Verhaltens in der Wissenschaft, derer sich die Kommission bedient, stellen eine Gefahr für das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit in der Union dar. Die Probleme, die die Wirkungsweise solcher Steuerungsformen wie dem Verhaltenskodex mit sich bringen, kann der zweifelhafte Gegenwert keinesfalls 1032
Hier sei noch einmal auf die Legitimationsanforderungen für derartige Gremien verwiesen, die bei Vöneky, Recht, Moral und Ethik, S. 534 ff. dargestellt werden. 1033 Vgl. oben S. 49 ff.
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kompensieren. Im Gegenteil, die Grundrechtskonformität dieser konkreten Art der Steuerung der Wissenschaft muss nach den hier vorgetragenen Argumenten abgelehnt werden. Obgleich durch die Bezeichnung als Verhaltenskodex eine kooperative Normsetzung mit den Wissenschaftsakteuren im ethischen Bereich suggeriert werden soll, stellt sich dieser dennoch als Anhang einer Empfehlung dar, die aufgrund ihrer Erscheinungsform zusammen mit dem Kodex Rechtswirkungen erzeugt, die grundrechtliche Relevanz entfalten. Als Handlungsform eines Europäischen Organs ergeben sich insoweit grundrechtliche Grenzen der Steuerung in materiellen Fragen der Forschungsethik. Zu weitläufige Rechenschaftspflichten werden von den Forschern verlangt, zu stark ist die Tendenz in Richtung einer Diffusion von Ethik und Recht, die eine Auseinanderhaltung verschiedener Sollensmaßstäbe unmöglich machen. Alleine rechtliche Normen können die ebenfalls rechtliche Norm der Wissenschaftsfreiheit des Art. 13 GRC begrenzen, weshalb es notwendig ist, diese Grenzen auch in rechtlichen Normen zu suchen, will man sich nicht durch reflexartige Verweise auf ethische Grundprinzipien als übergeordnete Geltungsebene in eine Grauzone der Bewertungsmaßstäbe begeben. Der Versuch aber die Lücke zwischen parallelen Sollensmaßstäben durch Verabschiedung abstrakt-genereller, ihrer Form nach unverbindlicher Handlungsformen durch Stellen, die originär zur Gesetzgebung befugt sind, zu schließen, muss in dieser Form als gescheitert und rechtswidrig angesehen werden, wenn sogenannte ethische Grundprinzipien in der Realität mit positivierten, grundrechtlichen Prinzipien in Konflikt treten.1034 Im Zweifel muss der rechtlich nicht positivierte, keine Sicherheit der konstanten Anwendung garantierende Maßstab der unverbindlich verfassten ethischen Grundprinzipien zurücktreten. Dieselben Bedenken gelten in der Folge zudem auch für die Vorgehensweise der Europäischen Organe die Forschung durch ethische Grundprinzipien zu regulieren, was bereits im Beschluss zum Siebten Forschungsrahmenprogramm angelegt war und in den spezifischen Programmen konkretisiert wurde. Es stellt sich mithin die Frage nach den Konsequenzen dieses Ergebnisses. Der Verstoß gegen die europäische Wissenschaftsfreiheit muss die Bundesrepulik Deutschland berechtigen, die „Umsetzung“ dieser Empfehlung zu verweigern. Zumal aufgrund der Parallelität der Grundrechte ein Verstoß gegen Art. 5 Abs. 3 GG mitverwirkt würde, würden deutsche Organe entsprechend der Empfehlung handeln und den Verhaltenskodex unmittelbar 1034 Auch die Kommission scheint die vorgebrachte Kritik an ihrem Vorhaben ernst genommen zu haben. Bei den aktuellen Vorbereitungsarbeiten zum 8. Forschungsrahmenprogramm unter dem Titel „Horizon 2020“ findet der Verhaltenskodex im Bereich der Nanowissenschaften keine Erwähnung mehr.
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B. Kodizes in der Wissenschaft
implementieren. Der Kodex kann und darf demnach keine Wirkung in Europa oder Deutschland entfalten. 4. Alternative Wege zu ethischer Forschung in Europa Die gefundenen Ergebnisse der Grundrechtswidrigkeit der bisherigen Bemühungen Europäischer Organe ethische Forschung zu gewährleisten, bringen die Frage mit sich, wie diese Zielsetzung in Zukunft dennoch verwirklicht werden könnte. Sowohl alternative Regulierungswege als auch eine stärkere Einbeziehung wissenschaftlicher Selbstverwaltung kommen hierfür in Frage. a) Alternative Regulierungswege durch die Europäischen Organe Mehrere Optionen sind denkbar, anhand derer die Europäischen Organe ihrem Ziel einer ethisch vertretbaren Forschung weiterhin entgegensteuern können. Sie könnten rechtlich verbindliche Handlungsformen verabschieden, die in bestimmter und klarer Form die spezifischen ethischen Grundprinzipien der Forschung formulieren, nach denen die Forschung in Europa stattfinden soll, und die an die grundrechtlichen Verbürgungen der Grundrechtecharta rückgebunden sind. Die damit einhergehenden Probleme der Konsensfindung in einem äußerst umstrittenen und mitgliedstaatlich sehr heterogenen Bild dürften aber eine zweite Option stärker in den Vordergrund rücken: die Etablierung einer einheitlichen Europäischen Vorgabe der Prüfung von Ethikkommission, die in den ihnen immanenten Verfahrensbedingungen1035 Einzelfallentscheidungen treffen können, die eine Abwägung der verschiedenen grundrechtlichen Güter, wie auch wissenschaftlicher Notwendigkeiten ermöglicht. Auf diese Weise könnte auch die Wissenschaft selbst noch besser in die Entscheidungsfindung mit einbezogen werden. Die institutionalisierte Verantwortungswahrnehmung durch die Wissenschaft selbst1036 würde so in größerem Maße gestärkt, als durch die aktuelle Vorgehensweise, die die Freiheit der Wissenschaft unzulässig beeinträchtigt. Gleichsam ist bei diesen Lösungswegen die kompetenzielle Perspektive nicht zu vernachlässigen. Beide zuerst genannten Optionen bedürften weitergehender Kompetenzen als die Verträge bislang vorsehen. Eine solche Ausgestaltung ließe sich insofern nur für die Forschungsförderung unter den Rahmenprogrammen verwirklichen. 1035
Zu diesen Bedingungen, die die Legitimation und Rechtskonformität der Kommission sichern, Vöneky, Recht, Moral und Ethik, S. 534 ff. 1036 Vgl. die Ausführungen oben für eine solche Form der Verantwortungswahrnehmung in der Wissenschaft, S. 56 ff.
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Als dritte Option zur Überwindung der kompetenziellen Schwierigkeiten bestünde auch die Möglichkeit den Weg der unverbindlichen Steuerungsformen beizubehalten. Dieser erforderte aber jene Korrekturen, die die Fehleranalyse aus rechtlicher Sicht bislang als zwingend erscheinen lassen. So müssten die Implementierungsmaßnahmen stark verringert werden um den faktischen Druck auf die Adressaten zu verringern. Gleichsam müsste auf materielle Ausgestaltungen einer Forschungsethik, die sich nicht an eine grundrechtliche Basis rückbinden lässt, verzichtet werden, was Forderungen nach einer generellen Rechenschaftspflicht beispielsweise ausschlösse. Der Fokus müsste auf die freiwillige Adaption prozeduraler Vorkehrungen zur Sensibilisierung für ethische Fragen gelegt werden. Dieser erfolgversprechende Weg ist im Verhaltenskodex bereits angelegt und könnte ausgebaut werden. b) Wissenschaftliche Selbstverwaltung auf Europäischer Ebene als mögliche Lösung Steter Schwachpunkt der drei zuerst genannten Optionen ist die grundrechtliche Bindung der Europäischen Organe bei der Ausgestaltung wissenschaftlicher Forschungsverantwortung. Diese werden unter einem starken Grundrechtsregime, das die Charta in Zukunft hoffentlich darstellt, stets starken Restriktionen unterworfen sein, resultierend aus dem Schutz wissenschaftlicher Freiheit. Eine zugleich erfolgversprechende wie freiheitsfördernde letzte Option wäre daher ein Verzicht der Europäischen Organe auf eine Deutungshoheit ethischer Wissenschaft zugunsten einer stärkeren Selbstverwaltung der Wissenschaft auch in Europa. Der Formulierung des Grundrechts aus Art. 13 GRC, dass Forschung frei sein soll, kann auch eine positive Verpflichtung entnommen werden, dass die Europäischen Organe der Wissenschaft in Europa, gerade auch um den durch Art. 179 AEUV angestrebten Europäischen Forschungsraum zu verwirklichen, einen Freiraum der Selbstverwaltung zugestehen sollten. Die detaillierte Auseinandersetzung der deutschen Rechtswissenschaft mit der Wissenschaftsfreiheit und deren Ausgestaltungsauftrag kann hierbei als Matrix fungieren, auch wenn bei der Übertragung einzelstaatlicher Modelle auf das europäische Recht stets Vorsicht geboten ist. Dennoch hält insbesondere die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts einige Ansätze bereit, deren Adaption durch die Europäische Union zumindest bedenkenswert ist. Die Kompetenzfelder beider Rechtssysteme divergieren zum Teil stark, beiden ist es jedoch gemeinsam, dass explizit die Rolle der Forschungsförderung vorgesehen ist, im deutschen Recht aus dem Auftrag des Art. 5 Abs. 3 GG, in den Verträgen aus Art. 180 AEUV. Um eine ethisch sensibi-
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B. Kodizes in der Wissenschaft
lisierte Wissenschaft in Europa unter gleichzeitiger Wahrung der Wissenschaftsfreiheit zu erreichen, wäre es daher angezeigt, die tatsächliche diskursive Auseinandersetzung mit wissenschaftlicher Verantwortlichkeit in prozeduralisierter Form in die Hände der Wissenschaftsgemeinde zu legen, wenn diese sich auch im Europäischen Forschungsraum entfalten will. Ein mögliches Organ zur Wahrnehmung jener Selbstverwaltungsaufgabe wurde bereits mit dem Siebten FRP geschaffen, das zur Festlegung der wissenschaftlichen Strategie und anderer Aufgaben den Europäischen Forschungsrat (EFR) etablierte.1037 Diesem Organ wurde bereits die Strategieplanung, Qualtitätskontrolle und Kommunikation vor allem im Bereich der Grundlagenforschung als Vertretung der Wissenschaft zugewiesen, wodurch die Union bereits einen wichtigen Schritt in Richtung wissenschaftlicher Selbstverwaltung vollzogen hat. Der nächste logische Schritt wäre demnach die Überantwortung einer weiteren Aufgabe, der „Ethisierung der Forschung“. Soweit bereits Art. 3 der Entscheidung über die Durchführung des Programms „Ideen“ die Einhaltung ethischer Kriterien durch den EFR fordert, sprechen vor allem zwei Argumente dafür, diese Einhaltung auch abstraktgenerell durch den EFR sicherstellen zu lassen. Erstens könnte die Kommission davon absehen, zweifelhafte Versuche zu unternehmen, selbst eine Ethisierung der Forschung durch eine faktische Ethisierung des Rechts unter Nutzung formal unverbindlicher Steuerungsintrumente zu erreichen. Diese Aufgabe könnte einem Selbstverwaltungsorgan zugewiesen werden, das je nach strukturell garantierter Autonomie nicht an die Grundrechtecharta gebunden wäre und damit tatsächlich eine rechtlich unabhängige Implementierung eines Ethos wissenschaftlicher Verantwortung auf den Weg bringen könnte.1038 Damit wäre der Weg gefunden tatsächlich einen kooperativ adaptierten Kodex zwischen Wissenschaftsgemeinde und Hoheitsträgern zu generieren. Zweitens war es aber auch eine Forderung der philosophischen Auseinandersetzung mit jenem Ethos, dass die Generierung eines solchen durch institutionalisierte Verantwortungswahrnehmung durch die 1037 Entscheidung des Rates über das spezifische Programm „Ideen“ zur Durchführung des Siebten Rahmenprogramms der Europäischen Gemeinschaft für Forschung, technologische Entwicklung und Demonstration (2007–2013), ABl. 2006 L-400/242; detailliert zu den Aufgaben und zur nicht-hierarchischen GovernanceStruktur des EFR, T. Groß, Der Europäische Forschungsrat – ein neuer Akteur im europäischen Forschungsraum, EuR 2010, 299 ff. 1038 Ein vielversprechender Ansatz ist die Einbeziehung der großen europäischen Forschungsorganisationen European Science Foundation (ESF) und European Heads of Research Councils (EUROHORCs), die momentan eine Fusion anstreben (Stand: Juni 2011) und insoweit bald ein gewichtiger Partner in diesen Fragen sein könnte. Die ESF hat mit ihrem European Code of Conduct for Research Integrity bereits bezüglich der innerwissenschaftlichen Ethik ihre Fähigkeit zur Kodexbildung aufgezeigt.
IV. Ethikkodizes im Völkerrecht
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wissenschaftliche Gemeinschaft selbst erfolgen muss.1039 Die Rolle der originär rechtsetzungsbefugten Organe wäre dann entsprechend der deutschen Grundrechtsdogmatik auf die Bereitstellung von Organisation und Verfahren gerichtet, um auf diesem Wege die Freiheit der Wissenschaft bestmöglich zu sichern und zur Entfaltung zu bringen.1040 Dieses Verständnis grundrechtlicher Freiheit lässt sich auch optimal mit der Rolle in Einklang bringen, die der Kommission durch Art. 181 AEUV zugewiesen wird. Die koordinativen Bemühungen sollten sich demnach darauf konzentrieren, eine Selbstverwaltungsstruktur europäischer Forscher zu etablieren, denen auch ein Weg vorgezeichnet werden kann, auf welche Weise sie ethische Belange der Wissenschaft zu beachten haben.1041 Auf diese Weise könnten freiheitssichernde Selbstverwaltungszugeständnisse mit freiheitsbeeinträchtigenden Vorkehrungen zur Sicherung wissenschaftlicher Verantwortung in Einklang gebracht werden. Zudem würde der angestrebte Europäische Forschungsraum gestärkt, der die Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit Europas sichern, gleichzeitig aber eine ethisch vertretbare Forschung in Europa gewährleisten soll. Der Weg dorthin ist jedoch noch lang und konnte hier nur skizziert werden.
IV. Ethikkodizes im Völkerrecht 1. Vorbemerkung Der Begriff des Verhaltenskodex ist im Völkerrecht in den letzten Jahren vermehrt aufgetaucht, um das Bestreben einer international harmonisierten, ethischen Forschung verwirklichen zu können. Obwohl zunächst untersucht werden muss, welche normativen Standards überhaupt noch dem Völkerrecht zuzuordnen sind, zeigt sich diese Entwicklung vor allem an den Aktivitäten internationaler Organisationen und Konferenzen. So hat die 6th review conference 2006 zum Übereinkommen über das Verbot von biologischen Waffen und Toxinwaffen (BWÜ) in ihrer abschließenden Erklärung festgestellt: „[. . .] the Conference recognises the importance of codes of conduct and self-regulatory mechanisms in raising awareness, and calls upon States Parties to support and encourage their development, promulgation and adoption.“1042 1039
S. o., S. 56 ff. Vgl. zu dieser Rolle der Wissenschaftsfreiheit im deutschen Recht oben, S. 118 ff. 1041 Für die konkreten prozeduralen Ausgestaltungsmaximen von Ethikkommissionen, vgl. Vöneky, Recht, Moral und Ethik, S. 534 ff. 1042 6th Review Conference of the States Parties to the Convention on the Prohibition of the Development, Production and Stockpiling of Bacteriological (Biolo1040
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Bereits im Jahr 2002 empfahl die von UN-Generalsekretär Kofi Annan eingesetzte Policy Working Group on the United Nations and Terrorism in Folge der Anschläge vom 11. September 2001 in ihrem Abschlussbericht: „Relevant United Nations offices should be tasked with producing proposals to reinforce ethical norms, and the creation of codes of conduct for scientists, through international and national scientific societies and institutions that teach sciences or engineering skills related to weapons technologies, should be encouraged. Such codes of conduct would aim to prevent the involvement of defence scientists or technical experts in terrorist activities and restrict public access to knowledge and expertise on the development, production, stockpiling and use of weapons of mass destruction or related technologies.“1043
Sowohl die UN-Generalversammlung, als auch der UN-Sicherheitsrat unterstützen diesen Bericht und seine Empfehlungen und sorgten für die Verbreitung innerhalb des Systems der Vereinten Nationen. Auf einem UN Inter-Agency Consultative Meeting, das in der Folge am 26. Februar 2003 im UNESCO-Hauptquartier in Paris abgehalten wurde, formulierten die UNSonderorganisationen erneut die Empfehlung, die Abfassung von Ethikkodizes für Wissenschaftler und Ingenieure zu fördern.1044 In der darauf folgenden Debatte innerhalb der Generalkonferenz der UNESCO konnte jedoch keine Mehrheit unter den Mitgliedsstaaten erreicht werden ein entsprechendes normatives Instrument zu erlassen, zumal die UNESCO sich in jenem Jahr 2003 zuvorderst auf die Implementierung der gerade erlassenen Allgemeinen Erklärung über Bioethik und Menschenrechte (AEBM)1045 und der beiden anderen Deklarationen widmen wollte.1046 Dennoch wurde bereits 2002 als viertes Strategieziel der Mittelfristigen Strategie 2002–2007 festgelegt, dass es Aufgabe der UNESCO sei, ethische Normen und Grundgical) and Toxin Weapons and on their Destruction, Final Declaration, BWC/ CONF.VI/6, Genf, 20.November bis 8. Dezember 2006, S. 11. 1043 Recommendation 21 of the Report of the Policy Working Group on the United Nations and Terrorism, Annex to A/57/273 – S/2002/875. 1044 Zitiert bei H. ten Have, Towards a universal ethical oath for scientists, Third Session of the World Committee on the Ethics of Scientific Knowledge and Technology, Rio de Janeiro, Brasilien, 1.–4. December 2003, abrufbar unter http://unes doc.unesco.org/images/0013/001343/134391e.pdf (zuletzt abgerufen am 24.3.2014), S. 94 (99). 1045 Universal Declaration on Bioethics and Human Rights vom 19. Oktober 2005, Records of the UNESCO-General Conference, 33rd Session, Paris, 3.–21. Oktober 2005, S. 74 ff. 1046 So die Einschätzung des Direktors der Division of Ethics of Science der UNESCO, Henk ten Have, in: The Need and Desirability of an (Hippocratic) Oath or Pledge for Scientists, veröffentlicht von ALLEA (European Federation of National Academies of Sciences and Humanities) unter http://www.allea.org/Content/ ALLEA/Themes/Science%20Ethics/Have_Need_Desirability_Oath.pdf (zuletzt abgerufen am 24.3.2014), S. 23 f.
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sätze zu fördern, die die wissenschaftliche und technologische Entwicklung begleiten sollen.1047 Ein besonderes Augenmerk sollte dabei auf die Wahrung der Menschenrechte gelegt werden in enger Zusammenarbeit mit dem UN-Hochkommissar für Menschenrechte.1048 Die Angelegenheit wurde zunächst in die Hände der Weltkommission für Ethik in Wissenschaft und Technologie (COMEST)1049 gelegt,1050 die 2006 zu der Empfehlung an den Generaldirektor gelangte, dass die UNESCO einen generellen ethischen Rahmen erarbeiten solle, anhand dessen die Mitgliedsstaaten und die Wissenschaftsgemeinde spezifische Kodizes für Wissenschaftler erarbeiten und implementieren sollten.1051 An diesem Rahmen arbeitet COMEST seitdem fortlaufend, wenngleich man zu zwei vorläufigen Erkenntnissen gelangt ist: Erstens muss von der Idee eines generellen ethischen Kodexes für alle Wissenschaftler Abstand genommen werden, zu Gunsten verschiedener spezifischer Wissenschaftskodizes in relevanten Gebieten wie der Nanotechnologie und dem Klimawandel.1052 Zweitens müssten die bereits existierenden Dokumente wie die Empfehlung über den Status des Wissenschaftlers von 19741053 und die Erklärung über Wissenschaft und den Gebrauch wissenschaftlicher Erkenntnis von 19991054 in ihrer Implementierung gefördert und überwacht werden.1055 1047
UNESCO-Dok. 31C/4, S. 28 f. Ibid. Rn. 90. 1049 COMEST ist ein beratendes Organ der UNESCO, das 1998 begründet wurde. Ihr gehören 18 Experten der Natur- und Ingenieurwissenschaften, der Rechtswissenschaften, der Philosophie, der Kultur, Religion und Politik an. Sie werden vom UNESCO-Generaldirektor ernannt. 1050 Resolution 39 der 33. Generalkonferenz der UNESCO, Paris, 3.–21. Oktober 2005, Records of the General Conference, 33rd Session, Vol. 1: Resolutions, S. 81. 1051 Vgl. Report by the Director-General to the Executive Board at its 175th Session, 175/EX14 vom 11. August 2006, S. 7: „[. . .] 4. Further international reflections and consultations should be carried out and fostered in order to identify a general ethical framework to guide scientific activity that will cover other stakeholders beyond the focus on scientists; 5. UNESCO, with the advice of COMEST, should work out such a general ethical framework; 6. The subsequent elaboration and/or implementation of specific codes of conduct for scientists should rely on Member States and the scientific community.“ 1052 Vgl. den Draft Report on Science Ethics der COMEST vom 28. Juni 2010, abrufbar unter http://unesdoc.unesco.org/images/0018/001884/188498e.pdf (zuletzt abgerufen am 24.3.2014), S. 27. 1053 Recommendation on the Status of Scientific Researchers, Records of the UNESCO-General Conference, 18th Session, Paris, 17.–23.11.1974, S. 169 ff. 1054 Declaration on Science and the Use of Scientific Knowledge, (abrufbar unter http://www.unesco.org/science/wcs/eng/declaration_e.htm, zuletzt abgerufen am 24.3.2014). 1055 Draft Report on Science Ethics der COMEST, S. 27. 1048
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Diese Entwicklung der Kodizes auf internationaler Ebene hat mithin gleichsam die Struktur des folgenden Kapitels vorgezeichnet. Es muss aus völkerrechtlicher Perspektive untersucht werden, welche Rechtsnatur beziehungsweise welche rechtlichen Wirkungen den bisherigen formell unverbindlichen, internationalen Dokumenten zugesprochen werden kann, welche rechtlichen Rahmenbedingungen die Erarbeitung von Ethikkodizes der Wissenschaft eingrenzen können – vor allem durch grundrechtliche Vorgaben – und wie ein eventueller Kodexsetzungsprozess ausgestaltet sein müsste, um in legitimer oder gerechtfertigter Weise eine ethische Steuerung zu erreichen. 2. Kodizes im Völkerrecht Die Rolle des Kodex ist im Völkerrecht ebenso schwierig zu definieren wie in den zuvor untersuchten Ebenen des Rechts. Sie ist mit der Diskussion um soft law nicht allein zu bewältigen, integriert sie doch gleichsam private Akteure und reichert die völkerrechtliche Betrachtung damit um ein weiteres, gleichsam äußerst strittiges Element an. Die phänomenologische Betrachtung des Begriffs des Kodexes erfolgte bereits unter Heranziehung des internationalen Regimes, wodurch zur Beschreibung des Phänomens insoweit nach oben verwiesen werden kann.1056 Es gilt nun die völkerrechtlichen Rahmenbedingungen herauszustellen und Kodizes in diese einzuordnen um deren Wirkungsweise erfassen und eventuelle Grenzen aufzeigen zu können. a) Kodizes als Gegenstand völkerrechtlicher Betrachtung Den Kodex charakterisiert seine Unverbindlichkeit im formellen Sinne.1057 Jene formelle Unverbindlichkeit bereitet dem Völkerrecht im gleichen Maße Probleme wie anderen Rechtsordnungen oder -ebenen, wenn dennoch ein normativer Anspruch erhoben wird. Mehr noch als in den bisher behandelten Rechtsebenen ist die Völkerrechtsordnung durch die Diskussion um unverbindliche, nicht dem Kanon der Rechtsquellen entsprechende Instrumente geprägt, als die komplizierten Rechtserzeugungsprozesse frühzeitig eine Hinwendung zu alternativen Normstrukturen in der 1056 Vgl. oben S. 21 ff.; dort wurde v. a. herausgestellt, dass im internationalen Bereich die Regulierung multinationaler Unternehmen trotz fehlender Völkerrechtssubjektivität die Formulierung unverbindlicher Kodizes angeregt hat, um diese im internationalen Kontext insbesondere zum Schutz von Menschenrechten anzuhalten. Der Begriff des Kodexes enthält insoweit ein integratives Element für private Akteure. 1057 Vgl. zur Charakteristik der Kodizes oben, S. 27.
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Völkerrechtslehre erforderte. Eine wesentliche Differenzierungsnotwendigkeit zu den vorangegangenen Kapiteln liegt in der abweichenden Struktur des Völkerrechts, das weniger ein subordinationsrechtliches als ein koordinationsrechtliches Gefüge darstellt.1058 Recht wird nicht durch eine (über)staatliche Hoheitsgewalt gesetzt, sondern in der primären und originären Form durch die souveränen Einzelstaaten in bilateralen und unilateralen Verträgen. Zusammen mit dem Gewohnheitsrecht und den allgemeinen Rechtsgrundsätzen bilden sie die Rechtsquellen des Völkerrechts, wie sie das IGH-Statut in Art. 38 wiedergibt.1059 Die Einordnung der Kodizes in dieses Gefüge bereitet insoweit Schwierigkeiten, denen im Folgenden nachgegangen werden soll. aa) Die Rolle des soft law im Völkerrecht Abseits dieses Kanons der Rechtsquellen befindet sich eine Vielzahl formell unverbindlicher Instrumente, die unter dem Begriff soft law seit vielen Jahren in der Völkerrechtswissenschaft kontrovers diskutiert werden.1060 Die Kontroverse bildet dabei vor allem die Frage, ob jene Instrumente überhaupt völkerrechtlich relevant sind oder ob es sich dabei lediglich um rechtlich irrelevante, politische Instrumente handelt1061 beziehungsweise um 1058 W. Graf Vitzthum, in: Wolfgang Graf Vitzthum (Hrsg.) Völkerrecht, S. 7; Alfred Verdross/Bruno Simma, Universelles Völkerrecht – Theorie und Praxis, S. 34. 1059 Die dort in lit d) festgehaltene Rechtsprechung der internationalen Gerichte und die Völkerrechtslehre sind demgegenüber schon dem Wortlaut nach lediglich eine Rechtserkenntnisquelle bzw. ein Hilfsmittel zur Ermittlung von Rechtsnormen, vgl. Georg Dahm/Jost Delbrück/Rüdiger Wolfrum, Völkerrecht, S. 77 ff. 1060 Aus der Literatur D. Thürer, Soft Law, in: Wolfrum, Encyclopedia of Public International Law; Jean D’Aspremont, Softness in International Law: a Self-Serving Quest for New Legal Materials, EJIL 2008; H. P. Neuhold, The Inadequacy of LawMaking by International Treaties: „Soft Law“ as an Alternative?, in: Wolfrum, Developments of International Law in Treaty Making, S. 39 ff.; Hartmut Hillgenberg, A Fresh Look at Soft Law, European Journal of International Law 1999; Jan Klabbers, The Redundancy of Soft Law, Nordic Journal of International Law 1996; W. Michael Reisman, The Concept and Functions of Soft Law in International Politics, in: Emmanuel G. Bello/Prince Bola A. Ajibola San (Hrsg.), Essays in Honour of Judge Taslim Olawale Elias, S. 135 ff.; Heusel, „Weiches“ Völkerrecht – Eine vergleichende Untersuchung typischer Erscheinungsformen, S. 89 ff.; Ian Brownlie, To what Extent are the Traditional Categories of Lex Lata and Lex Ferenda stiall viable?, in: Antonio Cassese/Joseph H. H. Weiler (Hrsg.), Change and Stability in International Law Making, S. 66 ff.; Weil, Towards Relative Normativity in International Law?, American Journal of International Law 1983, 413 ff. 1061 Vor allem gilt es sich neuerdings gegen den Vorwurf zu verteidigen, zur wissenschaftlichen Daseinsberechtigung unzulässigerweise Felder zu erschließen, derer sich die Rechtswissenschaft nicht bedienen sollte, so aber D’Aspremont, Soft-
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Nichtrecht.1062 Noch viel stärker als im europäischen Recht,1063 ist das Völkerrecht jedoch auf die unverbindlichen Handlungsformen angewiesen, um dringende Bedürfnisse normativer Steuerung der internationalen Beziehungen zu erfüllen. Die Vorherrschaft der Verträge im Rechtsquellenkanon des Völkerrechts ist unbestritten, sie birgt jedoch für eine Welt beschleunigter internationaler Beziehungen und Entwicklungen gewisse Hindernisse. Der Rechtsgenese durch Verträge mangelt es an Geschwindigkeit in einer sich ständig verändernden Welt und nicht immer ist diese fähig, die essentiellen Komponenten des Rechts wie Klarheit und Einheitlichkeit in internationalen Verhandlungen zu verwirklichen. Zudem fehlt oftmals die Allgemeinheit der Geltung und Anwendung für globale Lösungen und letztlich fehlt diesen Normen auch die Fähigkeit sich adäquat, flexibel und zeitgemäß an neue Entwicklungen anzupassen.1064 Es ist daher nur konsequent auch jene Instrumente aus rechtlicher Perspektive zu untersuchen, die unter Überwindung dieser Nachteile dennoch normative Kraft entfalten und das Verhalten der internationalen Akteure zu lenken imstande sind.1065 Den Kritikern muss aber darin Recht gegeben werden, dass oftmals eine rechtstheoretische Fundierung der Betrachtung des soft law-Phänomens fehlt,1066 was hier zumindest annäherungsweise versucht werden soll. Entsprechend der eingangs vorgenommen Klassifizierung1067 lassen sich die größtenteils unter den soft law-Begriff gefassten Steuerungsformen als Instrumente einordnen, die entweder von zwar normsetzungsbefugten Hoheitsträgern1068 formuliert werden, denen aber der Willen der rechtsetzenden Subjekte zu völkerrechtlicher Verbindlichkeit im Sinne des Vertragsness in International Law: a Self-Serving Quest for New Legal Materials, EJIL 2008, 1075 (1088 ff.). 1062 Weil, Towards Relative Normativity in International Law?, American Journal of International Law 1983, 413 (417). 1063 Vgl. die Diskussion zu soft law im Europarecht auf S. 232 ff. 1064 Diese vier Defizite hat Neuhold identifiziert und formuliert, H. P. Neuhold, The Inadequacy of Law-Making by international Treaties, in: Wolfrum, Developments of International Law in Treaty Making, S. 40 ff. 1065 Reisman, The Concept and Functions of Soft Law in International Politics, S. 139; vgl. zur Steuerungsfähigkeit die Darstellungen bei Hillgenberg, A Fresh Look at Soft Law, European Journal of International Law 1999, S. 504 f. und H. P. Neuhold, The Inadequacy of Law-Making by Treaties, in: Wolfrum, Developments of International Law in Treaty Making, S. 47 ff. 1066 So die Kritik bei D’Aspremont, Softness in International Law: a Self-Serving Quest for New Legal Materials, EJIL 2008, S. 1077. 1067 Vgl. oben, S. 78 ff. 1068 Als solche werden im Völkerrecht diejenigen Entitäten verstanden, die die Macht haben Verträge abzuschließen, vgl. zum aktuellen Meinungsstand der umfassten Entitäten, A. Peters, Treaty Making Power, in: Wolfrum, Encyclopedia of Public International Law.
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rechts fehlt, was entweder durch die Wahl der Form des Instruments und/ oder der Formulierung des Inhalts1069 verdeutlicht werden soll; oder aber die Fähigkeit der jeweiligen Institution zur verbindlichen Normsetzung fehlt, die Struktur ihrer Gründung und der zu Grunde liegende Staatenkonsens führen aber zu einer normativen Wirkung. Dementsprechend ist soft law nicht als Recht in diesem zu Grunde gelegten Sinne zu klassifizieren und ebenso wenig als zusätzliche Rechtsquelle des Völkerrechts.1070 Dieser Befund darf eine rechtliche Befassung mit diesen Instrumenten jedoch nicht verhindern,1071 denn die Tatsache, dass sie nicht als Rechtsnormen anzuerkennen sind, bedeutet nicht, dass sie keine rechtliche Relevanz entfalten würden.1072 Mehr noch als im europäischen Recht kann im Völkerrecht eine Dreiteilung der Wirkungsformen von soft law vorgenommen werden: als rechtsvorbereitende Instrumente, als rechtsbegleitende Instrumente und als rechtsersetzende Instrumente.1073 Der katalytische Effekt1074 zur Rechtsvorbereitung ist gerade auch im Völkerrecht mit vielerlei Beispielen zu belegen, sowohl die Bildung von Vertragsrecht als auch Gewohnheitsrecht betreffend. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte1075 als unverbindliche Resolution der UNGeneralversammlung bereitete erst den Weg zu den verbindlichen Menschenrechtspakten über bürgerliche und politische Rechte sowie über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte und weiteren Menschenrechtsverträgen.1076 Eine Resolution der Generalversammlung über die dauerhafte 1069 Zur Anerkennung von Verträgen mit „weichem“ Inhalt als Recht, auch von positistischer Seite vgl. aber D’Aspremont, Softness in International Law: a SelfServing Quest for New Legal Materials, EJIL 2008, S. 1084 ff. 1070 S. Besson, Theorizing the Sources of International Law, in: Samantha Besson/John Tasioulas (Hrsg.), The Philosophy of International Law, S. 169 ff. 1071 So aber scheinbar die Auffassung D’Aspremonts, D’Aspremont, Softness in International Law: a Self-Serving Quest for New Legal Materials, EJIL 2008, S. 1088 ff. 1072 So die allgemeine Meinung, auch unter den Positivisten, vgl. Weil, Towards Relative Normativity in International Law?, American Journal of International Law 1983, S. 416 f; D. Thürer, Soft Law, in: Wolfrum, Encyclopedia of Public International Law, Rn. 25 ff.; Hillgenberg, A Fresh Look at Soft Law, European Journal of International Law 1999, S. 501 ff.; I. Brownlie, To what Extent are the Traditional Categories of Lex Lata and Lex Ferenda still viable?, in: Cassese/Weiler, Change and Stability in International Law Making, S. 70. 1073 Vgl. oben S. 234 ff. 1074 Begriff bei I. Brownlie, To what Extent are the Traditional Categories of Lex Lata and Lex Ferenda still viable?, in: Cassese/Weiler, Change and Stability in International Law Making, S. 70. 1075 GA Resolution 217A (III), U.N. Doc A/810, S. 71 (1948). 1076 D. Thürer, Soft Law, in: Wolfrum, Encyclopedia of Public International Law, Rn. 11 und 32.
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Souveränität über natürliche Ressourcen von 19621077 hatte eine allgemeine Staatenpraxis zur Folge, die durch dauerhafte Bezugnahme auf jene Resolution zur Bildung von Gewohnheitsrecht führte.1078 Als rechtsbegleitende Instrumente dienen sie zur Konkretisierung von Normen in völkerrechtlichen Verträgen, wie der EGMR in seiner Entscheidung Evans v. United Kingdom aufzeigte, als er die formell unverbindliche Allgemeine Erklärung über Bioethik und Menschenrechte der UNESCO als relevant international text heranzog.1079 Sie dienen jedoch darüber hinaus auch der Interpretation nationaler Normen durch Gerichte, Behörden und Gesetzgeber. Vor allem im Bereich von Ermessens- und Beurteilungsspielräumen sind nationale Gerichte und Behörden geneigt internationale Standards zu suchen um normative Orientierung zu erhalten, wodurch soft law vor allem auch in nationalen Rechtsordnungen eine gewichtige, rechtsbegleitende Rolle spielen kann. Soft law-Instrumente können auch zur Konkretisierung der Pflichten aus dem allgemeinen Rechtsgrundsatz der bona fide rechtliche Wirkungen erzeugen, indem sie rechtlich geschützte Erwartungen generieren und insofern Regeln wie acquiescence und estoppel mit Inhalt zu füllen vermögen.1080 Schließlich können derartige Instrumente auch als Rechtsersetzung von den internationalen Akteuren implementiert werden. Jene Kategorisierung der Wirkungsweise ist jedoch nicht trennscharf durchführbar, da viele rechtsersetzende Instrumente im Nachhinein als rechtsvorbereitende1081 oder rechtsbegleitende1082 klassifiziert werden können. Wenn jedoch der 1077 GA Resolution 1803 (XVII), 17 U.N. GAOR Supp. Nr. 17, S. 15, U.N. Doc. A/5217 (1962). 1078 Bsp. von I. Brownlie, To what Extent are the Traditional Categories of Lex Lata and Lex Ferenda still viable?, in: Cassese/Weiler, Change and Stability in International Law Making, S. 70, der zudem noch die Truman Proclamation on the Continental Shelf anführt und die Working Papers der dritten Seerechtskonferenz. Simma weist jedoch daraufhin, dass beim Nachweis der Rechtsüberzeugung durch unverbindliche Instrumente ein besonders strenger Maßstab anzulegen sei, Verdross/ Simma, Universelles Völkerrecht, § 582. 1079 EGMR Evans v. UK vom 7.3.2006, 6339/05, Rn. 42. 1080 D. Thürer, Soft Law, in: Wolfrum, Encyclopedia of Public International Law, Rn. 26 f. 1081 Zum Beispiel zu beobachten bei der Entwicklung der AEMR, die zuvor im menschenrechtsfreien Raum gewisse Erwartung zu stablisieren vermochte bis hin zu den verbindlichen Internationalen Pakten; oder auch bei der Declaration of Outer Space (GA Resolution 1962 (XVIII) vom 13. Dezember 1963), die im Weltraumvertrag endete (610 UNTS, S. 205 vom 27.1.1967). 1082 Unverbindliche Instrumente können gemeinsam mit anderen Faktoren Gewohnheitsrecht produzieren, wie es bspw. für die AEMR vertreten wird (Vgl. K. Oellers-Frahm, Comment: The erga omnes Applicability of Human Rights, Archiv des Völkerrechts 30 (1992), S. 28 ff.). Sie können aber auch als rechtsersetzende
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Umstand eintritt, dass eine Lücke zwischen dem Bedürfnis nach geltenden Normen in den internationalen Beziehungen und der tatsächlichen Fähigkeit des Völkerrechts diese zu regulieren, existiert, dann können unverbindliche Instrumente diese Lücke füllen, indem diese die Erwartungen zwischen den Akteuren stabilisieren und anarchische Zustände vermieden werden können.1083 Das Phänomen des soft law ist insofern für die Völkerrechtswissenschaft nicht zu unterschätzen, will man sich nicht wichtigen rechtlichen Erkenntnisquellen verschließen.1084 Als Definition des Phänomens lässt sich den bisherigen Ausführungen entsprechend dieselbe Formulierung verwenden, wie sie bereits im Europarecht zu Grunde gelegt wurde: „Soft law sind verhaltensbezogene Regelungen, die von Hoheitsträgern beziehungsweise mit der Ausübung von Hoheitsgewalt befassten Stellen geschaffen werden, die über keine oder nur eine auf die Innensphäre des Regelungsgebers bezogene Rechtsverbindlichkeit verfügen und die ihre Steuerungswirkungen auf außerrechtlichem Wege erzielen.“1085 bb) Kodizes und soft law Wie bereits zu Beginn dieser Arbeit beschrieben,1086 hat sich der Begriff des Kodexes auch in den internationalen Beziehungen seit den 1970er JahInstrumente klassifiziert werden, wenn sie den Anschein eines rechtsbegleitenden Instruments haben, wie es am Beispiel des allgemeinen Rechtsgrundsatz bona fide ablesbar ist, wenn Pflichten statuiert werden, die vorher nicht existierten. 1083 D. Thürer, Soft Law, in: Wolfrum, Encyclopedia of Public International Law, Rn. 34; den Begriff der Anarchievermeidung führte bereits Sir Joseph Gold ein, zitiert bei Reisman, The Concept and Functions of Soft Law in International Politics, S. 139. 1084 Wie auch George Abi-Saab treffend formuliert hat: „In my opinion law is not only what would be labelled as such by a court of law sitting and applying article 38 of the Statute of the International Court, so that if a proposition fails that test, it is no law; and if it is no law, then it is nothing at all from the legal point of view. The conservatives who argue these lines subscribes consciously or unconsciously to a restrictive and narrow view of the process for the creation of law: there is a legal „vacuum“; then suddenly there is a big bang bringing something into „being“, and this is the law.“ G. Abi Saab, Comment on Brownlie, in: Cassese/ Weiler, Change and Stability in International Law Making, S. 76 f. 1085 Diese Definition formuliert Knauff, Der Regelungsverbund: Recht und Soft Law im Mehrebenensystem, S. 228; sie deckt sich aber bspw. auch größtenteils mit derjenigen von Senden, Soft Law in European Community Law, S. 112: „Rules of conduct that are laid down in instruments which have not been attributed legally binding force as such, but nevertheless may have certain (indirect) legal effects, and that are aimed at and may produce practical effects.“ 1086 Siehe oben, S. 21 ff.
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ren immer weiter verbreitet. Dessen Charakteristika decken sich weitestgehend mit denjenigen Eigenschaften, die dem soft law zugesprochen werden, was manche Autoren veranlasst, sie als prominentes Beispiel für soft law zu nennen.1087 Dem kann nach den hier gemachten Ausführungen jedoch nicht gänzlich gefolgt werden. Kodizes können vom soft law-Begriff umfasst sein, müssen es aber nicht. Entscheidendes Differenzierungskriterium ist der Wirkungskreis der Kodizes. Der Begriff des soft law wurde zum Schlagwort für jene Steuerungsfaktoren in den internationalen Beziehungen, die nicht den originären Völkerrechtsquellen unterfallen, aber dennoch normative Kraft besitzen um substitutiv oder komplementär jene zu ergänzen. Als Begriff der Völkerrechtslehre muss er jedoch im Anwendungsbereich gewisse Restriktionen erfahren um wissenschaftlich fassbar zu bleiben. Die Völkerrechtswissenschaft beschäftigt sich ursprünglich mit den Völkerrechtssubjekten, also denjenigen internationalen Akteuren, deren Koordination zur Beherrschung internationaler Beziehungen notwendig ist und die bislang einen abgrenzbaren Kreis bildeten.1088 Die rechtlichen Wirkungen, die dem soft law zugesprochen werden, hängen von der Anknüpfung an jene Völkerrechtssubjekte ab, sowohl was ihre rechtsvorbereitende und rechtsbegleitende Wirkungen angeht, als auch ihre rechtsersetzende Wirkung. Nur diejenige normative Kraft, die außerhalb der Rechtsquellen des Völkerrechts wirkt und dennoch die originär durch diese Rechtsquellen verpflichteten und berechtigten Subjekte steuert, ist für eine völkerrechtliche Betrachtung relevant. 1087 Dies ist darauf zurückzuführen, dass jene Autoren sämtliche internationalen Dokumente, die nicht den Rechtsquellen des Völkerrechts zuzuordnen sind, unter dieser Bezeichnung zusammenfassen, vgl. die Definition von Ulrich Fastenrath, Relative Normativity in International Law, European Journal of International Law 1993, in Fn. 2 und auch Matthias Herdegen, Völkerrecht, § 20 Rn. 4. 1088 Vgl. Graf Vitzthum, Völkerrecht, S. 167: „Völkerrechtssubjekt ist nur, wer Träger völkerrechtlicher Rechte und/oder Pflichten ist, und wessen Verhalten unmittelbar durch das Völkerrecht geregelt wird.“. Vgl. auch die Konzeption des Ständigen Internationalen Gerichtshofs im Lotus-Fall: „[I]nternational law governs the relations between independent States. The rules binding upon States emanate from their own free will as expressed in conventions or by usages [. . .] in order to regulate the relations between these co-existing independent communities or with a view to the achievement of common aims.“ The SS ‚Lotus‘, 1927 PCIL, (ser. A) Nr. 10, 18. Neben den Staaten wird nur Internationalen Organisationen und den atypischen Völkerrechtssubjekten (der heilige Stuhl, der Malteserorden und das Internationale Komitee vom Roten Kreuz) der volle Status als Völkerrechtssubjekt zugesprochen. Individuen sind trotz der Entwicklungen des modernen Völkerrechts im Bereich der Menschenrechte immer noch lediglich als partielle Völkerrechtssubjekte anerkannt, vgl. instruktiv C. Walter, Subjects of International Law, in: Wolfrum, Encyclopedia of Public International Law. Wenn hier also von einem abgrenzbaren Kreis gesprochen wird, sind nur die vollen Völkerrechtssubjekte gemeint.
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Nimmt man demgegenüber auch solche Instrumente in die Betrachtung auf, deren Urheber oder Adressaten nicht den originären Völkerrechtssubjekten zugeordnet werden können, so ergeben sich neue Faktoren der Vergleichbarkeit mit den völkerrechtlichen Rechtsquellen, die gesonderter Behandlung bedürfen. Insofern soll auch die begriffliche Kategorisierung jenen Merkmalen des soft law folgen, was für die Einordnung von Kodizes eine Einschränkung bedeutet: Nur diejenigen Kodizes, die von originären, völkerrechtlichen Normsetzungsbefugten allein oder kooperativ gesetzt werden und (auch) an originär völkerrechtlich verpflichtungsfähige Subjekte adressiert sind, können als soft law aufgefasst werden. Kodizes, die von privaten Akteuren im Sinne der Völkerrechtsdoktrin gesetzt werden und allein an private Subjekte in diesem Sinne adressiert sind, können im Umkehrschluss nicht dieser Kategorie zugeordnet werden.1089 Die Steuerungsform des Kodexes ist im Völkerrecht insofern nicht neu, seine Konzeption und Anwendung jedoch noch nicht vollständig geklärt. Eine Untersuchung von Dokumenten, die als Wissenschaftskodizes klassifiziert werden könnten, soll einen Überblick über die bestehende Lage der Regulierung wissenschaftlicher Verantwortung gegenüber der Gesellschaft verschaffen, die für eventuelle Neukonzeptionen wichtige Erkenntnisse liefern kann. 3. Die UNESCO-Dokumente als Kodizes der Wissenschaft? Die 1945 gegründete United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization (UNESCO) ist eine von 17 Sonderorganisationen der Vereinten Nationen,1090 in der derzeit 193 Staaten vertreten sind,1091 und die ihren Sitz in Paris hat. Ihr Zweck ist es, Frieden und Sicherheit durch die Zusammenarbeit der Staaten auf dem Gebiet der Bildung, der Wissenschaft und der Kultur zu fördern, um dadurch die Achtung von Gerechtigkeit, Rechtsstaatlichkeit sowie Grund- und Menschenrechten voranzutreiben.1092 Als Sonderorganisation der Vereinten Nationen für Wissenschaftsfragen muss ihren Dokumenten besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden, zumal sie im Bereich der Wissenschaftssteuerung bereits mehrere Versuche unternahm, eine internationale Harmonisierung zu erreichen. Zunächst ist aber der rechtliche Status jener Dokumente zu klären. 1089
Ebenso Keller, Codes of Conduct and their Implementation, S. 248 f. Zum rechtlichen Status jener Sonderorganisationen vgl. E. Klein, United Nations, Specialized Agencies, in: Wolfrum, Encyclopedia of Public International Law. 1091 Stand 1.1.2011. 1092 Art. 1 Abs. 1 der Verfassung der UNESCO. 1090
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Die Generalkonferenz der UNESCO ist nach Art. IV Abs. 4 ihrer Verfassung1093 mit der Befugnis ausgestattet verbindliche Konventionen vorzuschlagen und Empfehlungen abzugeben.1094 Für Erstere bedarf es zur Verabschiedung einer Zweidrittelmehrheit der Generalkonferenz, für Letztere ist die einfache Mehrheit ausreichend. Die rechtlichen Wirkungen beider Handlungsformen sind indes fragwürdig, als die daraus folgenden Konventionen zum Teil nur von wenigen Staaten ratifiziert wurden1095 und Empfehlungen, zumal nur mit einfacher Mehrheit verabschiedet, kaum einen konsensualen Willensbildungsprozess der Staaten abbilden können. Beiden Einwänden kann jedoch widersprochen werden. Art. IV Abs. 4 der Verfassung der UNESCO enthält die Verpflichtung der Mitglieder, jede Konvention oder Empfehlung, unabhängig vom Stimmverhalten des jeweiligen Staates, den zuständigen Stellen vorzulegen und damit die Auffassung der UNESCO zur Kenntnis zu bringen, was einen gewissen, nicht zu unterschätzenden Befolgungs-, und gegebenenfalls auch Rechtfertigungsdruck auslöst. Zudem war es in der Praxis der letzten drei Jahrzehnte zu beobachten, dass bei sämtlichen Entscheidungen der Konsens unter den Mitgliedsstaaten gesucht wurde,1096 was die normative Kraft der Dokumente stärkt. Auch die Berichtspflichten, die Art. VIII der Verfassung statuiert, bewirken eine normative Kraft, die rechtlichen Wirkungen gleichzusetzen wäre, würde diese tatsächlich Beachtung finden. Obwohl indes über sämtliche Maßnahmen zur Implementierung von Konventionen und Empfehlungen „regelmäßig“ Berichte anzufertigen sind, ist in der Praxis festzustellen, dass nur sehr wenige Staaten dieser Pflicht überhaupt nachkommen, dabei zudem noch Verspätungen und sehr allgemein gehaltene Berichte vorkommen.1097 Eine Reform des Berichtswesens wäre daher eine Möglichkeit, die Bindungswirkung sämtlicher Dokumente zu stärken. Abschließend kann den wiederholenden Verabschiedungen unverbindlicher Empfehlungen die graduelle Verwirklichung einer opinio juris zugeschrieben werden, wenn diese durch inhaltliche Bestätigungen eine Über1093 Verabschiedet in London am 16. November 1945, in Kraft getreten am 4. November 1946, in der aktuellen Fassung der 32. Session der Generalversammlung von 2004. 1094 In ihrer Geschichte griff die UNESCO zusätzlich auf das Instrument der Erklärung und der Charta zurück, hielt sich also nicht strikt an die vorgegebenen Handlungsformen. Bislang wurden etwa 70 Dokumente von der Generalkonferenz verabschiedet. 1095 Die Konvention gegen Diskriminierung im Bildungswesen wurde beispielsweise nur von 97 der 193 Mitgliedsstaaten ratifiziert (Stand: Juli 2011). 1096 R. Bank und F. Foltz, UNESCO, in: Wolfrum, Encyclopedia of Public International Law, Rn. 17. 1097 K. Hüfner, in: Klaus Hüfner/Wolfgang Reuther (Hrsg.), UNESCO-Handbuch, S. 305.
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zeugung der Mitgliedsstaaten manifestieren.1098 Bei einer solchen Interpretation unverbindlicher Instrumente ist jedoch zum einen ein besonders strenger Maßstab der Sorgfalt anzulegen,1099 da deren Unverbindlichkeit als Bestandteil des Staatenwillens erkannt werden kann,1100 zum anderen handelt es sich bei der UNESCO lediglich um eine Sonderorganisation der Vereinten Nationen, eventuelle Rechtsüberzeugungen müssen insofern zumindest einen Niederschlag in anderweitiger Staatenpraxis und Dokumenten finden.1101 a) Die Empfehlung über den Status des Wissenschaftlers Als Ausgangspunkt der normativen Rahmenbedingungen der UNESCO über Ethik in der Wissenschaft sieht sie selbst1102 die Empfehlung über den Status des Wissenschaftlers vom 20. November 1974.1103 Diese Empfehlung sollte umfassend die Bedingungen einer Wissenschaft festlegen, die der Menschheit zu Nutzen sein kann und den Frieden fördert.1104 Dabei erfährt die Empfehlung keine Beschränkungen auf ethische Belange, sondern behandelt umfassend die notwendigen politischen und ethischen Rahmenbedingungen einer Wissenschaft, die im Dienst der gesamten Menschheit stehen soll. Dazu gehören die generellen Arbeitskonditionen von Wissenschaftlern,1105 Ausbildungs- und Karriereförderungspolitik,1106 Gesundheits1098
P.-M. Dupuy, The Impact of Legal Instruments Adopted by UNESCO on General International Law, in: Abdulqawi Yusuf (Hrsg.) Normative action in education, science and culture: Standard-setting, in: UNESCO, S. 354 in Bezug auf das Recht auf diskriminierungsfreien Zugang zu Bildung und S. 356 in Bezug auf Bioethik; damit überträgt Dupuy die Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs im Nicaragua-Fall, der an unverbindliche Resolutionen der UN-Generalversammlung anknüpfte, auf die UNESCO, vgl. IGH „Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua“, ICJ Rep. 1986, 14, Rn. 188. 1099 So bereits der IGH, ibid. 1100 Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, § 582. 1101 E. Klein, United Nations, Specialized Agencies, in: Wolfrum, Encyclopedia of Public International Law, Rn. 76. 1102 So die Einordnung der COMEST in ihrem Report on Science Ethics der 6. Ordentlichen Sitzung vom 19. Juni 2009, UNESCO-Dok. SHS/EST/COMEST2009/pub-3.1, S. 12 und bei H. Ten Have, The Need and Desirability of an (Hippocratic) Oath or Pledge for Scientists, S. 27 veröffentlicht unter http://www.allea.org/ Content/ALLEA/Themes/Science%20Ethics/Have_Need_Desirability_Oath.pdf (zuletzt abgerufen am 24.3.2014). 1103 Recommendation on the Status of Scientific Researchers, Records of the UNESCO-General Conference, 18th Session, Paris, 17.–23.11.1974, S. 169 ff. 1104 Diese Zielformulierung findet sich im dritten Absatz der Präambel der Empfehlung. 1105 Punkte 20–22 der Empfehlung.
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schutz,1107 soziale Sicherung,1108 Vereinigungsmöglichkeiten,1109 wissenschaftliche Kommunikation1110 und Forschungsförderung. Nur einige Punkte der Empfehlung behandeln die ethischen Implikationen der Wissenschaft. So werden in Punkt 14 die „bürgerlichen und ethischen Belange wissenschaftlicher Forschung“ konzipiert, die als Grundprinzipien einer ethischen Wissenschaft eine bekannte Struktur aufweisen. Die Mitgliedsstaaten werden angehalten, der Wissenschaft einen Freiraum zu gewähren, in dem der einzelne Forscher die Wahrheit mit dem ihm eigenen Mitteln und Methoden zu suchen vermag, was auch die Freiheit der Fragestellung umfassen soll, und in dem er seine wissenschaftliche Meinung frei äußern kann. Damit einher sollen das Recht und explizit auch die Verantwortung gehen, sich ultima ratio von Forschungsprojekten zurückzuziehen, wenn das Gewissen des Wissenschaftlers einen solchen Schritt diktiert.1111 Die Verantwortungskomponente wird in der Empfehlung häufig betont1112 und den Rechten und Freiheiten der Wissenschaft gegenübergestellt, dies jedoch in sehr abstrakt gehaltenen Formulierungen. Sie werden aber dennoch als Grundprinzipien ethischer Wissenschaft angesehen und dem UNESCO-Projekt zu Grunde gelegt.1113 Zu beachten ist dabei, dass die Verantwortung für die Auswahl und Durchführung von Forschungsprojekten in die Hände der Wissenschaft selbst gelegt wird, der dafür ein Raum der Freiheit von staatlicher Seite gewährt werden soll. Die Empfehlung ersucht also die Mitgliedsstaaten, diejenigen Rahmenbedingungen einer Wissenschaft zu schaffen, in der diese ihrer Verantwortung gegenüber der Gesellschaft gerecht werden kann. Die starke Ausrichtung der Empfehlung auf den öffentlich finanzierten Wissenschaftssektor wurde von der COMEST bei der Evaluation des bisherigen normativen Rahmens kritisiert, was eine Neukonzipierung und -ausrichtung erforderlich mache.1114 Tatsächlich werden die Mitgliedsstaaten aber auch angehalten, jene ethische Ausrichtung der Wissenschaft ebenso in allen anderen, auch privaten Wissenschaftseinrichtungen zu fördern.1115 Der 1106
Punkte 10–12, 20–25, 28, 32–37 der Empfehlung. Punkt 29 der Empfehlung. 1108 Punkt 30 der Empfehlung. 1109 Punkt 42 der Empfehlung. 1110 Punkt 34 der Empfehlung. 1111 Punkt 14 c) der Empfehlung. 1112 Vgl. die sieben Verantwortungskomponenten die COMEST ermittelte, Report on Science Ethics der 6. Ordentlichen Sitzung, S. 13: In den Punkten 8, 9 c), 10, 11 b), 12 b) iv) und 14. 1113 COMEST, Report on Science Ethics der 6. Ordentlichen Sitzung, S. 14. 1114 Ibid. S. 13; die COMEST verweist darauf, dass dies dem Aufrüstungsrennen der Weltmächte zu Zeiten des Kalten Krieges geschuldet sei. 1115 Punkt 15 der Empfehlung. 1107
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gesamten Empfehlung ist jedoch eine öffentlich-rechtliche Tendenz zu entnehmen, die der wissenschaftlichen Realität der 1970er Jahren auch weitgehend entsprach. Auch deshalb war sie auschließlich an die Mitgliedsstaaten der UNESCO gerichtet, die die entsprechenden politischen Maßnahmen zur Verwirklichung dieser Wissenschaftskonzeption ergreifen sollen. Insofern liegt mit der unverbindlichen Empfehlung ein klassisches soft law-Instrument vor, das von der Generalkonferenz der UNESCO für die alleine adressierfähigen Mitgliedsstaaten konzipiert war und insoweit keine Beteiligung privater Wissenschaftsakteure aufweisen kann. Die Empfehlung ist daher nicht den Kodizes im hier definierten Sinne zuzuordnen.1116 Sie stellt jedoch den Ausgangspunkt der unverbindlichen Steuerungsinstrumente einer ethischen Wissenschaft dar und formuliert dabei ethische Grundprinzipien anhand derer die weitere regulative Arbeit der UNESCO ausgerichtet wurde. b) Die Erklärung zur Nutzung des wissenschaftlichen und technologischen Fortschritts im Interesse des Friedens und dem Wohl der Menschheit Die Balance zwischen Freiheit und Verantwortung als Grundprinzip der Empfehlung über den Status des Wissenschaftlers fand sich in der im Folgejahr verabschiedeten, von der UNESCO initiierten Erklärung der UN-Generalversammlung zur Nutzung des wissenschaftlichen und technologischen Fortschritts im Interesse des Friedens und dem Wohl der Menschheit1117 nicht wieder. Dieses Instrument der Generalversammlung lässt sich insofern als UNESCO-Dokument einordnen, als es von dieser als Sonderorganisation der Vereinten Nationen in die Generalversammlung eingebracht wurde und mithin ihrer Tätigkeit entspringt. Die Erklärung ist ihrer Handlungsform nach den unverbindlichen Empfehlungen der Art. 10 bis 14 der UN-Charta zuzuordnen.1118 Sie sind aber bereits nach dem Wortlaut des Art. 13 Abs. 1 lit a) UN-Charta nicht als rechtlich irrelevant anzusehen, sondern begünstigen „die fortschreitende Entwicklung des Völkerrechts sowie seine Kodifizierung“.1119 Die Kodifizierung kann durch jene Empfehlungen nicht unmittelbar erfolgen, dieser Passus dient vielmehr als Rechtsgrundlage der Einsetzung der International 1116
Vgl. oben, S. 27. Declaration on the Use of Scientific and Technological Progress in the Interests of Peace and for the Benefit of Mankind, General Assembly resolution 3384 (XXX) vom 10.11.1975. 1118 Hailbronner/Klein, in: Bruno Simma (Hrsg.) The Charter of the United Nations – a Commentary, Volume I, Art. 10 Rn. 44. 1119 Vgl. auch die Rspr. des IGH im Nicaragua-Fall (Fn. 1098). 1117
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Law Commission.1120 Die fortschreitende Entwicklung des Völkerrechts wird durch jene Erklärungen aber dadurch begünstigt, dass sie zum einen Ausdruck bestehender Regeln oder Prinzipien des Völkerrechts, zum anderen Erkenntnisquellen für das Aufkommen neuer rechtlicher Überzeugungen und der resultierenden Staatenpraxis sein können.1121 Für die normative Wirkungskraft jener Erklärungen kann zudem angeführt werden, dass für diese zwar ein weiches instrumentum1122 verwendet wird, das negotium aber gerade nicht weich formuliert, sondern mit entsprechenden imperativen Operatoren versehen wurde. Die Erklärung zur Nutzung des wissenschaftlichen Fortschritts geht anders als die Empfehlung über den Status des Wissenschaftlers weniger von einer Balance zwischen wissenschaftlicher Freiheit oder Autonomie und der Wahrnehmung von Verantwortung aus, sondern formuliert konkrete Verantwortungssphären der Wissenschaft gegenüber der Menschheit und hält die Staaten an, jede Verletzung von Menschenrechten und Grundfreiheiten zu verhindern.1123 Jene Verantwortung fällt in diesem Dokument jedoch nicht mehr der Wissenschaft zu, sondern wird explizit den Staaten übertragen, wodurch auch essentielle Eingriffsrechte legitimiert werden können. Insbesondere der Auftrag, die Menschenrechte und Grundfreiheiten vor Beeinträchtigungen durch wissenschaftliche Entwicklungen und Technologien zu schützen1124 sowie die Befriedigung materieller und geistiger Bedürfnisse der Bevölkerung sicherzustellen,1125 verdeutlichen, dass mit dieser Erklärung die Verantwortung für die Folgen und die Ausrichtung der Wissenschaft alleine den Staaten zufallen sollte. Lautete insofern noch das Grundprinzip der UNESCO-Empfehlung, dass Staaten die Rahmenbedingungen einer Wissenschaft schaffen sollen, in der diese selbst Verantwortung und Freiheit wahrnimmt, war es die schriftlich dokumentierte Überzeugung der Generalversammlung Mitte der 1970er Jahre, dass die Staaten alleinige Träger der Verantwortung für die Folgen wissenschaftlicher Erkenntnis sein sollen. Das Grundprinzip der Verantwortungswahrnehumg der Empfehlung über den Status des Wissenschaftlers wird insoweit durch die Erklärung widerlegt. 1120
Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, § 591. C. Fleischhauer, in: Simma, UN-Charter Commentary, Art. 13 Rn. 81, ebenso Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, § 636. 1122 Begriff von D’Aspremont, Softness in International Law: a Self-Serving Quest for New Legal Materials, EJIL 2008, 1075 ff., ebenso der Begriff soft negotium. 1123 Darüber hinaus wird auch eine Verstärkung der internationalen Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Wissenschaft gefordert und die Nutzbarmachung wissenschaftlicher Erkenntnisse für die Implementierung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Rechte in Entwicklungsländern. 1124 Absatz 2 der Erklärung. 1125 Absatz 3 der Erklärung. 1121
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Als strikter Auftrag an die Staaten, die Wissenschaft mit Blick auf die Folgenverantwortung und die internationale Zusammenarbeit zu steuern, kann jedoch diese Erklärung nicht als Ethikkodex für die Wissenschaft angesehen werden. Ihre Behandlung in diesem Kontext sollte vielmehr darstellen, dass sich die UNESCO-Empfehlung und der tatsächliche Staatenwille zu jener Zeit nicht deckten. Ein Rückgriff auf jene älteren Dokumente ist durch diese Widersprüche nur wenig aussagekräftig. Vielversprechender sind demgegenüber die neueren Dokumente der UNESCO.
c) Die Allgemeine Erklärung über das menschliche Genom und Menschenrechte aa) Entstehung Als erste von drei umfassenden Erklärungen über globale Maßstäbe für die Wissenschaft verabschiedete die UNESCO 1997 die Allgemeine Erklärung über das menschliche Genom und Menschenrechte.1126 Bereits deren Entstehungsgeschichte weist ungewöhnliche Züge auf, war es doch die erste UNESCO-Erklärung, deren Ausarbeitung in die Hände eines multidisziplinären, nicht aus Delegierten der Generalkonferenz bestehenden internationalen Ethikkommittees gelegt wurde,1127 dem International Bioethics Committee (IBC).1128 Es war dessen Idee anstatt einer verbindlichen Konvention eine unverbindliche Erklärung zu verabschieden, um auf diesem Wege zum einen Anreize für diejenigen Staaten zu schaffen, die noch keine Gesetzgebung in diesem Bereich hatten und sich an dieser Erklärung orientieren sollten und zum anderen künftige verbindliche, internationale Übereinkünfte vorzubereiten.1129 1126 Universal Declaration on the Human Genome and Human Rights vom 11.11.1997, Records of the General Conference, 29th Session, Paris, 21.10.– 12.11.1997, Vol. 1, S. 41. 1127 Resolution on the Preparation of an International Instrument for the Protection of the Human Genome, UNESCO Generalkonferenz Resolution 27 C/Res. 5.15, 27. Sitzung 1993. 1128 Gegründet 1993, reformiert 1998 durch die Statutes of the International Bioethics Committee, verabschiedet durch das Executive Board der UNESCO auf seiner 154. Sitzung am 7. Mai 1998. Es besteht aus 36 Mitgliedern die vom Generaldirektor der UNESCO auf Vorschlag der Mitgliedsstaaten ernannt werden. Es soll multidisziplinär besetzt sein und Stellungnahmen und Empfehlungen über neue ethische Fragen der Biologie und Medizin verfassen. Ausführlich Vöneky, Recht, Moral und Ethik, S. 361 ff. 1129 Noëlle Lenoir, Universal Declaration on the Human Genome and Human Rights: the First Legal and Ethical Framework at the Global Level, Columbia Human Rights Law Review 1999, S. 549.
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bb) Inhalt Intention der UNESCO war es von Anfang diejenigen ethischen Prinzipien zu kodifizieren und identifizieren, die, trotz kultureller Diversität, universell und konsensual anwendbar sind.1130 Dementsprechend lässt sich die Erklärung in zwei Abschnitte gliedern. In den Artikeln 1 bis 12 werden jene universellen ethischen Prinzipien aufgestellt, die den internationalen Umgang mit dem menschlichen Genom beherrschen sollen. In den Artikeln 13 bis 25 werden die Pflichten der Staaten statuiert, die erforderlich sind, um die Inhalte des ersten Abschnitts zu verwirklichen. Die Prinzipien, die die Erklärung formuliert, sind in ihrer Zahl überschaubar, in ihrem Gehalt jedoch so weitreichend wie umstritten. Das grundlegende Prinzip der Erklärung ist die Menschenwürde, die in Abschnitt A in den ersten vier Artikeln behandelt wird. Als Konkretisierung der Menschenwürde kann das zweite universelle Prinzip verstanden werden, die Autonomie des Individuums. Aus ihr resultiert das informed consentPrinzip, dass Spendern von genetischem Material umfassende Herrschaft über die Entnahme und Verwendung garantieren soll. Darüber hinaus soll in der genetischen Forschung nach Art. 6 der Grundsatz der Nichtdiskriminierung gelten sowie die Vertraulichkeit genetischer Daten gemäß Art. 7 der Erklärung. Als letztes übergreifendes Prinzip ist die Freiheit der Forschung in Art. 12 lit. b erwähnt, die insofern anscheinend den Gegenpol zu den zuvor geschilderten Prinzipien bilden soll. Erst die Ermöglichung einer freien Wissenschaft eröffnet die Probleme, die durch Anwendung der zuvor genannten ethischen Prinzipien gelöst werden sollen. Die Erwähnung an letzter Stelle erscheint daher fragwürdig, deutet aber darauf hin, dass eine klare Hierarchie der Prinzipien angestrebt war. Dafür spricht auch die Vorrangregelung des Art. 10.1131 Dabei sind die Grundprinzipien entsprechend ihrer Universalität sehr abstrakt gehalten um konsensfähig zu bleiben. Lediglich das reproduktive Klonen wird, abgeleitet aus der Menschenwürde, in Art. 11 als spezifisches Verbot formuliert.1132 1130 Gerade auch um einen Gleichklang mit den Menschenrechten zu erreichen, vgl. Study submitted by the Director-General concerning the Possibility of drawing up an International Instrument for the Protection of the Human Genome, UNESCO Generalkonferenz Dok. 27 C/45, 27. Sitzung 1993, S. 6. 1131 Art. 10 der Erklärung: „No research or research applications concerning the human genome, in particular in the fields of biology, genetics and medicine, should prevail over respect for the human rights, fundamental freedoms and human dignity of individuals or, where applicable, of groups of people.“ 1132 Lenoir, Universal Declaration on the Human Genome and Human Rights: the First Legal and Ethical Framework at the Global Level, Columbia Human Rights Law Review 1999, S. 555.
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cc) Bewertung Durch die Erklärung wurden zum ersten Mal universelle ethische Prinzipien kodifiziert, die direkt durch Wissenschaftler und Mediziner anwendbar sein sollten. Der Adressatenkreis wurde – im ersten Abschnitt zumindest – nicht auf Staaten beschränkt, sondern durch eine offene Formulierung auf einen unbestimmten Adressatenkreis, also auch natürliche Personen und juristische Personen des Privatrechts, ausgeweitet. Insoweit damit nicht mehr nur die vollen Völkerrechtssubjekte unmittelbar adressiert sind, kann man von einer Verschiebung der unverbindlichen Instrumente in Richtung der Handlungsform des Kodex im hier zu Grunde gelegten Sinne sprechen. Inhaltlich hervorzuheben ist die Verknüpfung von ethischen Prinzipien und Menschenrechten.1133 Diese Ausrichtung wird bereits durch den Titel der Erklärung deutlich hervorgehoben. Obwohl zunächst intendiert war, lediglich die ethischen Rahmenbedingungen, jene aber universell, durch die Erklärung hervorzuheben1134 und die Ausarbeitung aus diesem Grund auch einem multidisziplinären, internationalen Ethikkommittee übertragen wurde, fungiert als Rahmenordnung das internationale System der Menschenrechte.1135 Entsprechend formuliert die Erklärung imperative Ge- und Verbote und verwendet harte deontische Operatoren wie „shall“. Will man der Erklärung daher ethische Prinzipien des spezifischen Zweigs der genetischen oder medizinischen Wissenschaft entnehmen, so ist festzuhalten, dass diese nach Auffassung der UNESCO nicht neben den Menschenrechten existieren, sondern in diesen aufgehen und von diesen begründet werden sollen. In Bezug auf Folgenverantwortungselemente der Wissenschaft ist insbesondere Artikel 5 lit. a hervorzuheben. Dieser fordert für jegliche Forschung am menschlichen Genom eine vorherige, strenge Abschätzung der potentiellen Risiken und des potentiellen Nutzens. Diese Aufforderung ist mit Artikel 1 der Erklärung in Verbindung zu setzen, der das menschliche Genom im symbolischen Sinne zum Erbe der Menschheit erklärt. Dabei wird durch Satz 1 der Menschenwürdebegriff faktisch auf das menschliche Genom fixiert und in Satz 2 das symbolische Erbe als institutionelle Überwölbung dessen angenommen.1136 Dadurch wird die wissenschaftliche Er1133
So auch Lenoir, ibid. S. 548. Study submitted by the Director-General concerning the Possibility of drawing up an International Instrument for the Protection of the Human Genome, UNESCO Generalkonferenz Dok. 27 C/45, 27. Sitzung 1993, S. 6. 1135 Vgl. die Verweise im zweiten Absatz der Präambel auf die internationale bill of rights und weitere Menschenrechtsverträge. 1136 Jens Kersten, Das Klonen von Menschen – eine verfassungs-, europa- und völkerrechtliche Kritik, S. 399. 1134
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forschung des menschlichen Genoms mit einer Zukunftsverantwortung aufgeladen, bei der die menschenrechtliche Fundierung nicht mehr klar hervortritt. Die Menschenwürde wird in der Erklärung stets unabhängig von den Menschenrechten genannt, wodurch der Anschein eines aliud vermittelt wird.1137 Tatsächlich ist die Kategorisierung dieses Leitprinzips der Erklärung im Völkerrecht umstritten. dd) Exkurs: Die Menschenwürde als normatives Prinzip des Völkerrechts Die separate Formulierung der Menschenwürde entspricht ihrer Erwähnung in der Präambel der Charta der Vereinten Nationen, die in Absatz 2 formuliert: „[. . .] unseren Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit [. . .] erneut zu bekräftigen,. . .“. Auch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und die beiden Internationalen Pakte über bürgerliche und politische Rechte sowie über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte formulieren im ersten Absatz ihrer Präambel diese Überzeugung. Problematisch ist jedoch, dass jene Passagen formell nicht verbindlich sind, die Menschenwürde also gerade nicht in den operativen Teil der Charta und der beiden internationalen Pakte eingebunden ist.1138 Als ethischer Eckpfeiler1139 oder ethisches Substrat1140 der Völkerrechtsordnung ist die Menschenwürde daher zwar unbestritten, ihr tatsächlicher völkerrechtlicher Status jedoch nicht. Im Gegensatz zur absoluten Verbürgung in Art. 1 Abs. 1 GG findet sich in keinem völkerrechtlichen Dokument ein absoluter, umfassender Schutz der menschlichen Würde. Eine Vielzahl von menschenrechtlichen Übereinkommen erwähnen diese jedoch1141 oder leiten einzelne Artikel daraus ab.1142 Selbst 1137 Vgl. Art. 10: „. . . human rights, fundamental freedoms and human dignity . . .“, Art. 12: „. . ., with due regard for the dignity and human rights of each individual.“ 1138 Vgl. dazu Silja Vöneky/Mira Chang/Hans Christian Wilms, Internationales Recht in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert: Analyse und Vergleich, in: Michael Anderheiden/Wolfgang Eckert (Hrsg.), Handbuch Menschenwürdig Sterben; in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte fand die Menschenwürde zumindest noch Eingang in deren Artikel 1, wobei fraglich ist, welchen subjektiven Gehalt dieser hat. 1139 R. Wolfrum/S. Vöneky, Who is Protected by Human Rights Conventions? Protection of the Embryo vs. Scientific Freedom and Public Health, in: Silja Vöneky/Rüdiger Wolfrum (Hrsg.), Human Dignity and Human Cloning, S. 137. 1140 Markus Rau/Frank Schorkopf, Der EuGH und die Menschenwürde, Neue Juristische Wochenschrift 2002, S. 2449. 1141 Vgl. die bereits erwähnten Präambeln der UN-Charta, der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und der Internationalen Pakte; zudem auch die Präambeln der Folterkonvention (GAOR 39th Session, Resolutions, Suppl. No. 51, UN-Dok.
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für die EMRK, die keine ausdrückliche Verbürgung der Menschenwürde kennt, sieht der EGMR diese als fundamentales Prinzip in verschiedenen Bereichen seiner Rechtssprechung an.1143 Dabei ist in der Gesamtschau auffallend, dass die Menschenwürde immer wieder dann im Völkerrecht als Referenzwert herangezogen wird, wenn es wie bei Fällen der Sklaverei, der willkürlichen Diskriminierung und der Folter um Demütigungen, Entwürdigungen und Verletzungen der Selbstachtung geht. Insoweit scheint zumindest der Kerngehalt eines völkerrechtlichen Menschenwürdeprinzips durch Demütigungs- und Erniedrigungsverbote definiert zu werden.1144 Des Weiteren spricht die UN-Charta von einer erneuten Bekräftigung der Menschenwürde, was ihr den Anschein eines prä-normativen Charakters verleiht und die Verfügbarkeit über dieses Konzept einschränkt: Die Staaten können es nur entdecken, nicht definieren.1145 Die Menschenwürde ist im völkerrechtlichen Diskurs demnach zwar nicht als subjektives Recht anzuerkennen, wohl aber als objektives Prinzip, aus dem einzelne subjektive Rechte abgeleitet werden können. Dieses Prinzip geht über eine ethische Fundierung der Menschenrechtspakte hinaus.1146 Es ist vielmehr als normatives Prinzip der Völkerrechtsordnung1147 als opinio juris anerkannt, wenngleich ihm trennscharfe Konturen fehlen.1148 A/39/51) S. 197), die Kinderrechtskonvention (GA Resolution 44/25 vom 20. November 1989) und die Konvention gegen Diskriminierung von Frauen (GA Resolution 34/180 vom 18. Dezember 1979). 1142 Vgl. das Recht auf Bildung in Art. 13 des IPwskR, das Recht auf Privatsphäre in Art. 11 der Amerikanischen Menschenrechtskonvention, das Recht auf die Anerkennung als Rechtssubjekt und das Verbot der Folter in Art. 5 der BanjulCharta der Menschenrechte und der Rechte der Völker und die verschiedenen weiteren Folterverbote, die größtenteils aus der Menschenwürde abgeleitet werden wie Art. 16 der Folterkonvention. 1143 Ausführlich zur Rechtsprechung des EGMR, J. Frowein, Human Dignity in International Law, in: David Kretzmer/Eckart Klein (Hrsg.), The Concept of Human Dignity in Human Rights Discourse, S. 121 ff. 1144 Vöneky/Chang/Wilms, Internationales Recht in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert: Analyse und Vergleich, bei Fn. 33, so auch schon Oscar Schachter, Human Dignity as a Normative Concept, American Journal of International Law 1983, 848 (850); vgl. des Weiteren die Ausführungen zum Anwendungsbereich des Menschenwürdeprinzips in der EMRK bei J. Frowein, Human Dignity in International Law, in: Kretzmer/Klein, The Concept of Human Dignity in Human Rights Discourse, S. 124 ff. 1145 R. Wolfrum/S. Vöneky, Who is Protected by Human Rights Conventions? Protection of the Embryo vs. Scientific Freedom and Public Health, in: Vöneky/ Wolfrum, Human Dignity and Human Cloning, S. 142. 1146 A. A. aber Rau/Schorkopf, Der EuGH und die Menschenwürde, Neue Juristische Wochenschrift 2002, S. 2449. 1147 So auch in Bezug auf die Thematik der Erklärung, Kersten, Das Klonen von Menschen, S. 393.
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Dies gilt jedoch nur im individuellen Sinne, als Würde des Menschen. Dem liegt zumindest in der europäischen Tradition zumeist die Objektformel Kants zu Grunde, nach der ein Mensch immer auch als „Zweck an sich selbst“ angesehen werden muss, und nie nur bloßes Objekt staatlichen Handelns sein darf.1149 Eine Würde der Menschheit durch die demgegenüber auch künftige Menschen und Generationen geschützt sein müssten, lässt sich den völkerrechtlichen Verbürgungen hingegen nicht entnehmen. Mit der Verbürgung der Menschenwürde als allgemeines, subjektives Recht in Art. 2 lit. a versucht die Erklärung mithin eine völkerrechtliche Rechtsfortbildung. Mit der derivativen Erstreckung jener Menschenwürdegarantie auf künftige Generationen weicht sie aber vom völkerrechtlich anerkannten Prinzip der Menschenwürde ab und verlässt insoweit den rechtlichen Rahmen. An diesem Punkt wird mithin ein flexibleres, rein (bio-)ethisches Prinzip mit Wurzeln im Völkerrecht als normativer Rahmen gesetzt und so der Menschenrechtsansatz angereichert.1150 ee) Fazit Die Allgemeine Erklärung über das menschliche Genom und Menschenrechte vereint rechtliche Ansätze des internationalen Menschenrechtsschutzes, das völkerrechtliche Menschenwürdeprinzip und darüber hinausgehende ethische Prinzipien. Das Leitprinzip des gesamten Dokuments, die Menschenwürde, kann nicht allein als nichtrechtliches, ethisches Prinzip aufgefasst werden, sondern muss aufgrund einer völkerrechtlichen opinio juris, die dem Menschenrechtsdiskurs sowohl die ethische Fundierung bietet, als auch darüber hinaus die Bildung von völkerrechtlichen Normen zumindest als objektives Prinzip determiniert, dem rechtlichen Bereich zugeordnet werden. Obwohl aber insofern der generelle Anschein eines rechtlich fundierten Dokuments erweckt wird, ist vor allem die wissenschaftliche Folgenverantwortung im speziellen Bereich der Genforschung nicht nur an rechtlich normierte Menschenrechte angebunden, sondern auch an ein derivatives Prinzip der Menschenwürde künftiger Generationen. Die Erklärung ist insofern nicht allein als Ethikkodex anzusehen, der ethische Prinzipien der Wissenschaft unverbindlich vorschlägt, sondern als 1148 Vöneky/Chang/Wilms, Internationales Recht in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert: Analyse und Vergleich, S. 11. 1149 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 61; vgl. dazu auch W. Graf Vitzthum, Back to Kant! An Interjection in the Debate on Cloning and Human Dignity, in: Vöneky/Wolfrum, Human Dignity and Human Cloning, S. 87 ff. 1150 R. Andorno, Human Dignity and Human Rights, in: Henk ten Have/Michèle S. Jean (Hrsg.), The UNESCO Universal Decaration on Bioethics and Human Rights – Background, Principles and Application, S. 96.
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völkerrechtliches soft-law-Dokument, das völkerrechtliche Normen und Prinzipien als Leitbild genetischer Wissenschaft kodifiziert1151 und dabei nichtrechtliche Prinzipien inkorporiert.1152 Die Ethik der Wissenschaft ist nach Auffassung der UNESCO im spezifischen Bereich des Klonens daher nicht exklusiv, sondern inklusiv im Verhältnis zum Recht zu sehen. Mit eben jener Vermengung ethischer Prinzipien und menschenrechtlicher Verbürgungen begann jedoch eine intensive Debatte um das Verhältnis von Bioethik und Recht,1153 deren Lösung auch die spätere AEBM nicht befriedigend zu lösen vermochte. d) Die Allgemeine Erklärung über Bioethik und Menschenrechte aa) Entstehung Als Schema für die Lösung sämtlicher ethischer Konflikte in Medizin, Lebenswissenschaften und den zugehörigen Technologien sollte zusammenfassend und aufbauend auf den vorherigen Dokumenten die Allgemeine Erklärung über Bioethik und Menschenrechte1154 (AEBM) der UNESCO den normativen Rahmen der bioethischen Problemstellungen allumfassend abschließen.1155 Wiederum delegierte die Generalkonferenz die Ausarbeitung dieser Erklärung an das IBC,1156 was die Verbindung zwischen Wissen1151 P. M. Dupuy spricht bereits von einem „evolving universal code for medical and biological research“, P. M. Dupuy, The Impact of Legal Instruments Adopted by UNESCO on General International Law, in: Yusuf, Normative action in education, science and culture: Standard-setting in UNESCO, S. 355. 1152 Eine Fortsetzung jener Kodifizierung mit weiteren Konkretisierungen der aufgestellten Prinzipien im spezifischen Bereich der genetischen Daten ist in der ebenfalls unverbindlichen International Declaration on Human Genetic Data vom 16. Oktober 2003 zu finden, Records of the UNESCO-General Conference, 32nd Session, Paris, 29.9.–17.10.2003, S. 39 ff. Mangels weiterführender Erkenntnisse aus diesem Dokument für die hier behandelten Probleme soll sie nur erwähnt bleiben. 1153 Vgl. übersichtsartig nur Richard Ashcroft, The Troubled Relationship Between Bioethics and Human Rights, in: Michael Freeman (Hrsg.), Law and Bioethics, S. 31 ff. mit zahlreichen weiteren Nachweisen. 1154 Universal Declaration on Bioethics and Human Rights vom 19. Oktober 2005, Records of the UNESCO-General Conference, 33rd Session, Paris, 3.–21. Oktober 2005, S. 74 ff. 1155 So bereits die Zielsetzung der ersten vorbereitenden Ministerkonferenz während der 31. Sitzung der UNESCO-Generalkonferenz im Oktober 2001, vgl. H. ten Have/M. Jean, Introduction, in: Have/Jean, The UNESCO Universal Decaration on Bioethics and Human Rights – Background, Principles and Application, S. 25. 1156 Über den Umweg des Generaldirektors, dem die IBC offiziell untersteht, vgl. UNESCO-Res. 31/C 22, Records of the UNESCO-General Conference, 31st Session, Paris, 15.10.–3.11.2001, S. 47 f. und Report by the Director-General on the Work of
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schaft und Politik als Charakteristikum zwischenstaatlicher Organisationen betonen sollte.1157 Nach vier Jahren der Vorbereitung wurde die AEBM 2005 von der Generalkonferenz der UNESCO einstimmig verabschiedet. bb) Inhalt Die Erklärung lässt sich zunächst in drei grobe Abschnitte unterteilen: Im ersten Teil (Art. 1 bis 17) werden allgemeine Prinzipien aufgestellt, deren spezifische Anwendung im zweiten Teil (Art. 18 bis 21) erklärt wird, bevor im dritten Teil (Art. 22 bis 28) die Verbreitung und Implementierung behandelt wird. Die allgemeinen Prinzipien lassen sich ihrer Reihenfolge nach unterschiedlich klassifizieren: in Prinzipien gegenüber dem einzelnen Menschen (Art. 3 bis 11), gegenüber menschlichen Gemeinschaften (Art. 11 bis 14) und gegenüber der gesamten Menschheit beziehungsweise der Umwelt (Art. 15 bis 17). Grundlegendes Prinzip ist wiederum die Menschenwürde, wenngleich bei der Ausarbeitung versucht wurde, kulturelle Traditionen zu berücksichtigen, in denen die Interessen der Familien oder der Gemeinschaft Vorrang haben. Daher wurde in Art. 3 Abs. 2 der Hinweis aufgenommen, wonach die Interessen und das Wohlergehen des Einzelnen Vorrang vor dem alleinigen Interesse der Wissenschaft oder Gesellschaft haben soll. Diese Formulierung sollte eine eventuell erforderliche Balance zwischen Individual- und Gemeinschaftsinteressen ermöglichen,1158 wenngleich zweifelhaft ist, ob dies tatsächlich auch gelungen ist. Vorrangiges Prinzip ist jedenfalls die Menschenwürde, umrahmt von den Menschenrechten und Grundfreiheiten. Spezifisch ausformuliert sind in der Folge das Autonomieprinzip (Art. 5), das daraus abgeleitete Prinzip der informierten Einwilligung (Art. 6 und 7), das Prinzip der körperlichen und persönlichen Verletzbarkeit und Schutzbedürftigkeit (Art. 8), der Achtung der Privatsphäre (Art. 9), der Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung (Art. 10 und 11), des Respekts für die Diversität der Kulturen und Anschauungen (Art. 12), der gesundheitlichen und sozialen Verantwortung für andere (Art. 14), der Teilhabe am wissenschaftlichen Fortschritt (Art. 15), der Verantwortung für künftige Generation (Art. 16) und für die Umwelt und andere Lebewesen (Art. 17). In den folgenden Artikeln werden generelle Anwendungsmöglichkeiten ausgeführt, the International Bioethics Committee and of the Intergovernmental Bioethics Committee, UNESCO-Dok. 32 C/Rep 13 vom 27.8.2003. 1157 H. ten Have/M. Jean, Introduction, in: Have/Jean, The UNESCO Universal Decaration on Bioethics and Human Rights – Background, Principles and Application, S. 43. 1158 Ibid., S. 45.
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unter anderem Transparenzgebote (Art. 18), die Etablierung von Ethikkommissionen (Art. 19) und Maßnahmen zur Risikobewertung (Art. 20). Insbesondere die Wissenschaft sollte – neben Medizinern – durch die Erklärung mit anwendbaren Prinzipien versorgt werden. Über das Verhältnis des einzelnen Wissenschaftlers zu individuellen, menschlichen Forschungsobjekten hinaus formuliert sie dabei aber auch gesellschaftliche Verantwortungselemente. cc) Bewertung Im Gegensatz zur Allgemeinen Erklärung über das menschliche Genom und Menschenrechte wird an erster Stelle die Adressatenfrage geklärt. Die Formulierung des Art. 1 muss jedoch als Kompromiss innerhalb der UNESCO gesehen werden. Das IBC hatte in seinem Ursprungsentwurf zunächst die Anwendung der Prinzipien grundsätzlich auf alle konkreten Entscheidungen im Bereich der Medizin, der Sozial- und Lebenswissenschaften bezogen und dabei primär private Akteure wie Mediziner und Wissenschaftler und deren Institutionen als Adressaten angesehen.1159 Erst die Regierungskonferenz hat eine Änderung der Adressatenhierarchie erwirkt, wonach zunächst die Staaten primäres Zielobjekt der Erklärung sein sollen, und erst sekundär auch private Akteure, wenn angemessen und sachdienlich, angesprochen sind.1160 Entsprechend ausgestaltet ist auch die Formulierung der Ziele im zweiten Artikel. Nach Buchstabe a) soll die Erklärung die Staaten in der Formulierung ihrer Rechtsvorschriften, ihrer Politik oder anderer Instrumente im Bereich der Bioethik leiten. Erst Buchstabe b) erklärt auch die unmittelbare Anleitung privater Akteure zum Ziel der Erklärung. Dies spiegelt sich jedoch zunächst nicht im Abschnitt über die Anwendung der Prinzipien wider. Der erste, die Anwendung betreffende Artikel ist an diejenigen Personen gerichtet, die die konkreten Entscheidungen zu 1159 Vgl. Art. 2 der Preliminary Draft Declaration on Bioethics and Human Rights, UNESCO-Dok. SHS/EST/05/CONF.203/3 vom 21. Februar 2005, abrufbar unter http://portal.unesco.org/shs/en/files/7608/11121127381PrelimDraft_EN.pdf/ PrelimDraft_EN.pdf (zuletzt abgerufen am 24.3.2014): „The principles set out in this Declaration apply as appropriate and relevant: (i) to decisions or practices made or carried out in the application of medicine, life and social sciences to individuals, families, groups and communities; and (ii) to those who make such decisions or carry out such practices, whether they are individuals, professional groups, public or private institutions, corporations or States.“ 1160 Ein wesentlicher Kritikpunkt von John R. Williams, UNESCO’S Proposed Declaration on Bioethics and Human Rights – a Bland Compromise, Developing World Bioethics 2005, S. 210 (212), der die fehlende Konkretisierung in der Erklärung, wann jene Angemessenheit und Sachdienlichkeit vorliegt, bemängelt.
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treffen haben, also Wissenschaftler und Mediziner beziehungsweise deren dahinterstehenden Institutionen (Art. 18). Dabei sollen diese von unabhängigen, multidisziplinären und pluralistischen Ethikkommittees unterstützt werden, die von den Prinzipien der Erklärung geleitet sein sollen (Art. 19). Die Rolle von Staaten kann sich dabei, will man den Begriff der Unabhängigkeit ernst nehmen, nur auf die prozedurale Etablierung solcher Kommitees beschränken. Auch private Forschungsinstitutionen können beziehungsweise sollten1161 Ethikkommittees einrichten zur institutionellen Wahrnehmung wissenschaftlicher Verantwortung. Transnationale Sachverhalte werden in der Anwendung der Prinzipien zwar den Staaten anvertraut (Art. 21), gleichwohl aber neben den relevanten privaten Akteuren. Erst der folgende Abschnitt über die Förderung der Erklärung (Art. 22 bis 25) ist wieder alleine an die Staaten adressiert, da es hierbei um die tatsächliche legislative Implementierung der Prinzipien geht. Die Umkehrung der Reihenfolge zwischen dem Anwendungsbereich des Art. 1 Abs. 2 und den Zielen des Art. 2 gegenüber den korrespondierenden Normen im weiteren Verlauf der Erklärung spiegelt wider, dass die Staatenkonferenz die Ausrichtung der Erklärung umkehrte. Ursprüngliches Ziel des IBC war noch eine vorrangige Anwendung in den Entscheidungsfindungsprozessen der relevanten Akteure.1162 Originär konzipiert war die Erklärung insofern als reiner Ethikkodex mit bioethischen Prinzipien für alle relevanten Akteure. Das Endprodukt ist als klassisches soft law-Instrument zwischenstaatlicher, unverbindlicher Steuerung mit eventueller Anwendungsoption für private Akteure zu klassifizieren. Eine ähnliche Entwicklung nahm die Wahl der deontischen Operatoren in der Erklärung. Der IBC-Entwurf sah für die Formulierung der Prinzipien den Begriff „shall“ vor. Die Verhandlungen der Regierungsvertreter ergaben jedoch eine Neuformulierung der Prinzipien, um im Gegensatz zur Allgemeinen Erklärung über das menschliche Genom und Menschenrechte aus dem harten negotium im weichem instrumentum ein ebenfalls weiches negotium zu machen.1163 Durch die Verwendung von Begriffen wie „should“ 1161 Zu den Möglichkeiten und Vorteilen institutioneller Verantwortungswahrnehmung aus wissenschaftsethischer Sicht, vgl. oben, S. 56 ff. 1162 M. Kirby, Art. 1: Scope, in: Have/Jean, The UNESCO Universal Decaration on Bioethics and Human Rights – Background, Principles and Application, S. 76 f. 1163 Von den ursprünglich in der Erklärung enthaltenen 22 Artikel, die das Wort „shall“ verwenden ist nur noch Art. 25 übrig geblieben, der die Verpflichtung der UNESCO selbst begründet, die Erklärung zu fördern und zu verbreiten. Darüber hinaus ist auch Art. 28 imperativ formuliert, der eine Missbrauchsklausel gegenüber Menschenrechten, Grundfreiheiten und der Menschenwürde statuiert, Vöneky, Recht, Moral und Ethik, S. 372. Von der Reformulierung verschont blieben mithin nur eine Binnenregelung der erlassenden Organisation und eine mit Blick auf Art. 3 der Erklärung selbstverständliche Klausel, die der Allgemeinen Erklärung der Men-
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und „is to be“ beansprucht die Erklärung weder über die Wahl des Instruments noch über die Formulierung des Inhalts Verbindlichkeit, wodurch eine weitere Schwächung ihrer Normativität abgeleitet werden kann.1164 Sowohl die Adressatenfrage als auch die Formulierung als Ergebnis zwischenstaatlicher Kompromisse in der Ausarbeitung der Endfassung haben zu heftiger Kritik an der Erklärung geführt.1165 Stark vereinfacht lässt sich jene Kritik aber auf einen Grunddissens zurückführen: das Verhältnis von Bioethik zu Menschenrechten. Tatsächlich formulierte die initiierende Resolution der UNESCO,1166 es sollten universelle Normen der Bioethik gefunden werden. Das Ergebnis war ein Dokument, das die Menschenrechte im Titel trägt1167 und von Staatenvertretern ausgehandelt wurde. Vor allem Vertreter der Philosophie sahen darin einen schwerwiegenden Mangel.1168 Die Frage muss daher lauten, welche Rolle Menschenrechte für den bioethischen Diskurs und die Generierung universeller, also globaler Prinzipien der Forschung innehaben. dd) Exkurs: Das Verhältnis von Bioethik und Menschenrechten Die Diskussion fand ihren Anfang in dem Verhältnis zwischen medizinischer Ethik und Menschenrechten. Jahrtausendelang war es im europäischen Raum der Hippokratische Eid, der den ethischen Verpflichtungen der Mediziner Ausdruck verlieh.1169 Vor allem der Zweite Weltkrieg gab den Anstoß zu einer Neukonzeption der Medizinethik, insbesondere im Bereich medizinischer Humanexperimente, als Richter des Amerikanischen Militärschenrechte nachempfunden sein soll, vgl. P. Robinson, Article 28, in: Have/Jean, The UNESCO Universal Decaration on Bioethics and Human Rights – Background, Principles and Application, S. 344 f. 1164 Vöneky, Recht, Moral und Ethik, S. 372. 1165 Willem Landman/Udo Schüklenk, UNESCO ‚Declares‘ Universals on Bioethics and Human Rights – Many Unexpected Universal Truths Unearthed by UN Body, Developing World Bioethics 2005, S. iii ff.; John R. Williams, UNESCO’S Proposed Declaration on Bioethics and Human Rights – a Bland Compromise, ibid., S. 210 ff.; ebenfalls kritisch, vor allem auf den Anspruch der Universalität bezogen David Benatar, The Trouble with Universal Declarations, ibid., S. 220 ff. 1166 UNESCO-Res. 31/C 22, Records of the UNESCO-General Conference, 31st Session, Paris, 15.10.–3.11.2001, S. 47 f. 1167 Der ursprünglich verwendete Arbeitstitel war „Declaration on Universal Norms on Bioethics“, ein Bezug zu Menschenrechten fehlte anfangs. 1168 Vgl. die Literatur bei Fn. 1165; besonders drastisch die Kritik von Landman/ Schüklenk. 1169 Zu den Ursprüngen des Eides und auch seinen tatsächlichen Inhalten Steven H. Miles, The Hippocratic Oath and the Ethics of Medicine, S. 3 ff. und Wolfgang U. Eckart, Geschichte der Medizin, S. 8 ff.
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gerichtshofs im Nachgang der Kriegsverbrecherprozesse einen ethischen Standard für Humanexperimente aufstellten, den sogenannten „Nürnberger Kodex“.1170 Davon inspiriert und wohl auch irritiert, als berufsethische Grundsätze von externen Personen aufgestellt wurden, verfasste die World Medical Association (WMA) im Jahre 1948 die Deklaration von Genf1171 und im Jahre 1964 die Deklaration von Helsinki,1172 die bis heute in revidierter Form fortgelten. Sie stellen intraprofessionelle Selbstbindungen dar, repräsentieren insoweit also die Berufsethik, wie sie sich die Ärzteschaft selbst gegeben hat. Bis heute stellt die Medizinethik und die ihr zugeordnete medizinische Forschungsethik als moralphilosophische Disziplin einen kontrovers diskutierten Forschungsbereich an der Schnittstelle von Medizin und Philosophie dar.1173 Ebenso entwickelten sich die Bereichsethiken der Wissenschaftsethik und die neubegründete Sammeldisziplin für die Lebensund Sozialwissenschaften, die Bioethik, zunächst alleine im Diskurs zwischen Philosophie und Profession. Als sich schließlich jedoch internationale Organisationen wie die UNESCO jener Fragen annahmen, bedurfte diese eines Ansatzpunkts um sich den Anforderungen globaler Fragen der Ethik stellen zu können. Gebunden durch die Charta der Vereinten Nationen1174 und die Verfassung der UNESCO1175 ist die Anknüpfung jener Fragen an einen menschenrechtlichen Ansatz nur logische Konsequenz.1176 Wie es bereits für die All1170 Abgedruckt bei Ulrich-Dieter Oppitz/Thure von Uexküll, Medizinverbrechen vor Gericht – das Urteil im Nürnberger Ärzteprozeß gegen Karl Brandt und andere sowie aus dem Prozeß gegen Generalfeldmarschall Milch, S. 124 f. 1171 Die Genfer Erklärung wurde auf der 2. Generalversammlung 1948 verabschiedet und gilt heute in der Fassung, die ihr die 173. Ratsversammlung in Divonne-les-Bains, Frankreich im Jahr 2006 gegeben hat. Abrufbar unter http://www.wma.net/en/30publications/10policies/g1/index.html (zuletzt abgerufen am 24.3.2014). 1172 Die Deklaration wurde bis heute sechs Mal überarbeitet und gilt nun in der Fassung, die sie 2008 durch die 59. Generalversammlung der WMA in Tokio erhalten hat. Abrufbar unter http://www.wma.net/en/30publications/10policies/b3/index. html (zuletzt abgerufen am 24.3.2014). 1173 Vgl. Bettina Schöne-Seifert, Grundlagen der Medizinethik, S. 21 ff.; zu den Bereichsethiken und deren Anwendbarkeit Vöneky, Recht, Moral und Ethik, S. 34 ff. und J. Nida-Rümelin, Theoretische und angewandte Ethik: Paradigmen, Begründungen, Bereiche, in: Nida-Rümelin, Angewandte Ethik – Die Bereichsethiken und ihre theoretische Fundierung, S. 2 ff. 1174 Vgl. Absatz 2 der Präambel und Art. 13 Abs. 1 lit b) der UN-Charta. 1175 Vgl. Art. 1 Abs. 1 der Verfassung der UNESCO. 1176 Ein Bericht des ECOSOC veranschaulicht dies sehr eindrucksvoll, UN-Dok. E/CN.4/Sub.2/2003/36, in dem die Bioethik nicht als intellektueller oder disziplinärer Ansatz charakterisiert, sondern als Problemfeld der Menschenrechte analysiert wird. So bspw. auch die Kritik von Ashcroft, The Troubled Relationship Between Bioethics and Human Rights, S. 47.
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gemeine Erklärung über das menschliche Genom und Menschenrechte festgestellt werden konnte, wurde auch in der AEBM daher versucht, die bioethischen Fragestellungen, mit denen sich die UNESCO konfrontiert sah, an menschenrechtliche Normen des Völkerrechts anzuknüpfen. Diesen Bezug stellte entgegen anderslautender Kritik jedoch nicht erst die UNESCO als Vertreterin der Staatengemeinschaft her.1177 Bereits das IBC, ein aus 36 Mitgliedern bestehendes Ethikgremium der UNESCO, das vorwiegend aus Nichtjuristen besteht,1178 hatte den menschenrechtlichen Ansatz in seinem ersten Entwurf inkorporiert.1179 Man könnte daher fragen, ob der Bezug auf Menschenrechte eine notwendige Bedingung der Arbeit einer Sonderorganisation der Vereinten Nationen ist oder tatsächlich ein tauglicher Ansatz zur Lösung der globalen Probleme der Forschung und Medizin. Aus der Sicht einer juristischen Arbeit muss die Frage hingegen lauten, warum Menschenrechte gerade nicht für die Lösung dieser Probleme taugen könnten. Die Kritik an jenem Ansatz basiert auf zwei Positionen, die vor allem außerhalb des rechtswissenschaftlichen Diskurses zu finden sind und das tatsächliche globale Konfliktlösungspotential der Menschenrechte in Frage stellen. Die Bioethik als Unterdisziplin der Moralphilosophie steht dem menschenrechtlichen Ansatz kritisch gegenüber, weil er sich auf eine einzige philosophische Herangehensweise festlegt. Jene Herangehensweise ist für Philosophen und Ethiker mit einem Anspruch verbunden, den sie nicht erfüllen könne. Die Lösung globaler Probleme der Bioethik sollen die Menschenrechte gerade nicht vollbringen können, da sie zunächst mit ihrem eigenen Verbindlichkeitsanspruch zu kämpfen hätten, was ihre tatsächliche Wirksamkeit in Frage stellen muss.1180 Gleichzeitig sei ihre Tauglichkeit zur Lösung von Konflikten bereits dadurch geschwächt, das ihnen einen Universalitätsanspruch zukommt, der notwendigerweise mit einer gesteigerten Flexibilität einhergehen muss, was konkrete Lösungen verhindere.1181 Zudem seien sie durch ihre ideologische Aufladung und ihre unsteten philosophischen Begründungen weniger attraktiv, wenn es um Konsultationen und Streitbeilegungen geht.1182 Legt man sie dennoch einem sol1177 So aber der Eindruck den Landman/Schüklenk, UNESCO ‚Declares‘ Universals on Bioethics and Human Rights – Many Unexpected Universal Truths Unearthed by UN Body, Developing World Bioethics 2005, S. iv. 1178 Lediglich fünf Mitglieder sind Rechtswissenschaftler, daneben besteht das Gremium aus einem Philosophen, 6 Ethikern, vierzehn Medizinern und zehn Naturwissenschaftlern (Stand Juli 2011). 1179 Ausführlich Vöneky, Recht, Moral und Ethik, S. 370 f. 1180 Vor allem in Bezug auf die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte, Ashcroft, The Troubled Relationship Between Bioethics and Human Rights, S. 42. 1181 Ibid. 1182 Ibid.
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chen Dokument zu Grunde, würden sie zudem dogmatische Mängel aufweisen, die ihre Wirksamkeit einschränken: Zum einen versprechen sie gerade keine Lösungen, wenn Sachverhalte betroffen sind, denen ein eindeutiges, menschenrechtliches Rechtssubjekt fehlt. Diese seien im bioethischen Diskurs aber paradigmatisch, wie das Klonen von Menschen, Keimbahninterventionen und auch Fragen des Natur- und Tierschutzes.1183 Zudem müsse sich der menschenrechtliche Ansatz auch mit Beziehungen zwischen Privaten befassen. Kritikern ist daher die fehlende horizontale Wirkung der Menschenrechte auf völkerrechtlicher Ebene ein Ansatzpunkt, jene zur Lösung von Problemen wie im Arzt-Patienten-Verhältnis abzulehnen.1184 Eine andere Richtung der Kritik neben der Praktikabilität der Menschenrechte, betrifft deren tatsächliche Kongruenz mit soziokulturellen Vorstellungen sämtlicher globaler Gesellschaften. Bereits in der Allgemeinen Erklärung über das menschliche Genom und Menschenrechte wurde der Menschenrechtsansatz von einigen Staaten als zu individualistisch kritisiert. Traditionelle Kulturen räumten dem Individuum einen geringeren Wert ein als Kollektiven, wie Familie, Gruppe oder Gemeinschaft.1185 Auch grundlegende Prinzipien der Bioethik wie das principle of beneficience1186 oder Wohltuens-Prinzip1187 haben je nach sozialem, politischem oder kulturellen Kontext unterschiedliche Ausprägungen in unterschiedlichen Ländern erfahren.1188 Daher wird immer wieder die Frage formuliert, ob Menschenrechte, insbesondere als Produkt „westlicher“ Geistesströmungen,1189 jenen universellen Anspruch normativer Steuerung in ethischen Fragen erheben können, der ihnen durch derartige Dokumente internationaler Organisationen immer wieder zugedacht wird. 1183 Daniel Sperling, Law and Bioethics: A Rights-Based Relationship and its Troubling Implications ibid.(Hrsg.), S. 61 f. 1184 Richard Ashcroft, The Troubled Relationship Between Bioethics and Human Rights ibid.(Hrsg.), S. 43. 1185 Lenoir, Universal Declaration on the Human Genome and Human Rights: the First Legal and Ethical Framework at the Global Level, Columbia Human Rights Law Review 1999, S. 556. 1186 Eines der vier bioethischen Prinzipien wie sie Beauchamp und Childress aufgestellt haben, vgl. Beauchamp/Childress, Principles of biomedical ethics, S. 197 ff.; die anderen drei Prinzipien sind „Autonomy“, „Nonmaleficence“ und „Justice“. 1187 Übersetzung von M. Quante und A. Vieth, in: Düwell, Bioethik – Eine Einführung, S. 136. 1188 David B. Resnik, The Ethics of HIV Research in Developing Nations, Bioethics 1998, S. 286 (303). 1189 Ashcroft, The Troubled Relationship Between Bioethics and Human Rights, S. 36; Roberto Andorno, Global Bioethics at UNESCO: in Defence of the Universal Declaration on Bioethics and Human Rights, Journal of Medical Ethics 2007, S. 150 (152).
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Fakt ist jedoch, dass eine globale, universelle Lösung angestrebt wird. Die erhöhte Mobilität von Menschen, Wissen und Gütern und damit beispielsweise auch von Krankheiten über Landesgrenzen hinweg, erfordert sowohl globale Lösungen für transnationale bioethische Fragen wie auch transnationaler Wissenschaft.1190 Würde man auf dem Standpunkt beharren, Bioethik erfordere einen natürlichen Partikularismus, könnte das Unternehmen universeller Normen nicht angegangen werden. Ein global konsentiertes Unternehmen einer normativen Rahmenstruktur findet sich in dieser Form lediglich in der Konstruktion der globalen Menschenrechte, weshalb es seltsam anmuten würde, jenen Rahmen nicht auch zu nutzen.1191 Die mangelnde Rezeptionsfähigkeit seiner ethischen Fundierung ist demgegenüber ein Vorwurf, der zumeist von westlicher Seite selbst kommt und nicht eindeutig zu belegen ist. Vielmehr kann bei genauerer Betrachtung nichtwestlicher Kulturkreise von einem derartigen Kulturimperialismus kaum gesprochen werden.1192 Ethischer und philosophischer Pluralismus ist weniger ein Phänomen, das durch einen internationalen Kontext bedingt wird, sondern in jedem einzelnen Land zu finden ist. Die philosophischen Begründungen der Menschenrechte, die westliche Autoren oftmals allein beanspruchen, lassen sich demgegenüber auch in zahlreichen anderen Kulturen finden.1193 Demgegenüber weist ein alleiniger Rekurs auf Bioethik Probleme auf, dessen Lösungen die rechtliche Konstruktion der Menschenrechte aufzeigen kann. So birgt jener rein moralphilophische Ansatz die Schwierigkeit, sowohl strukturelle als auch politische Probleme nicht einbeziehen zu können, sondern oftmals bei der Moral verharren zu müssen.1194 Transnationale 1190 Paul Farmer/Nicole Gastineau Campos, New Malaise: Bioethics and Human Rights in the Global Era, The Journal of Law, Medicine and Ethics 2004, S. 243 (247). 1191 Andorno, Global Bioethics at UNESCO: in Defence of the Universal Declaration on Bioethics and Human Rights, Journal of Medical Ethics 2007, S. 150 (153). 1192 Amartya Sen, Universal truths – Human Rights and the Westernizing Illusion, Harvard International Review 1998, S. 40 ff.; Nie Jing-Bao, Cultural Values Embodying Universal Norms: A Critique of a Popular Assumption about Cultures and Human Rights Developing World Bioethics 2005, S. 251 ff.; Atsushi Asai/Sachi Oe, A Valuable Up-To-Date Compendium of Bioethical Knowledge, ibid., S. 216 ff.; ein eindrucksvolles Beispiel der Universalität der Menschenrechte ist auch die Revolutionsbewegung des arabischen Frühlings, die wesentlich auf die Menschenrechte gestützt wurde und insofern auch den Vorwürfen gegenüber deren Unvereinbarkeit mit dem Islam praktisch begegnen konnte. 1193 Sen, Universal truths – Human Rights and the Westernizing Illusion, Harvard International Review 1998, S. 40 (44). 1194 Farmer/Campos, New Malaise: Bioethics and Human Rights in the Global Era, The Journal of Law, Medicine and Ethics 2004, S. 243 (249); Ashcroft, The Troubled Relationship Between Bioethics and Human Rights, S. 42 und 44.
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Probleme der Humanforschung wie Arzneimittelversuche in Entwicklungsländern bekommen durch Menschenrechte erst eine praktische Komponente, die auch solche Staaten einbeziehen kann, in denen ein bioethischer Diskurs zuvor kaum stattfinden konnte.1195 Die Menschenrechte generierten in ihrer Geschichte seit dem Zweiten Krieg eine globale Sprache zur Verständigung über bioethische Fragestellungen, die ethnozentrische Vorstellungen von Ethik nicht bieten können.1196 Als solche können sie ein umfassendes Konzept liefern, das international konsentierte Anknüpfungsmöglichkeiten mit ausreichend flexiblen Prinzipien verbindet und insofern bessere Chancen für universelle Normen in bioethischen Fragen aufweist, als es ein rein moralphilophischer Diskurs könnte. Schließlich sind, entgegen der zuvor wiedergegebenen Kritik, auch Praktikabilitätserwägungen ausschlaggebend. Wann immer Entscheidungen zu treffen sind, seien es durch nationale Gesetzgeber, Gerichte zur Beilegung von Streitigkeiten oder Ethikkommittees zur Genehmigung von Vorhaben, bieten menschenrechtlich fundierte Normen und Prinzipien autoritative Kraft, derer sich die relevanten Akteure durch Rekurs auf entsprechende internationale Dokumente unter Verweis auf einen internationalen Konsens bedienen können.1197 Die Menschenrechte als Basis universeller Normen heranzuziehen ist daher letztlich ein vielversprechender, wenn nicht notwendiger Ansatz um universelle Normen zur Steuerung bioethischer Problemstellung zu schaffen. Dementsprechend hat auch die UNESCO diesen genutzt, als sie sich der Setzung jener Normen annahm. Dass den Kritikern teilweise Recht zu geben ist, was die Anwendbarkeit und Geltung der Menschenrechte angeht, lässt sich am Verhalten der Staatenkonferenz ablesen als es um die Verabschiedung der AEBM in der Fassung des IBC ging. Die Menschenrechte als Matrix der Erklärung sind geltungstechnisch auf staatliche Verpflichtungen beschränkt,1198 nur in der Gewährleistung durch die Staaten können sie daher volle Wirksamkeit entfalten. Die primäre Wahl der Staaten als Adressaten der Erklärung lässt sich aus dieser Tatsache erklären, wie auch der Umstand, dass Individuen 1195
Vgl. Chang, Ethische und rechtliche Herausforderungen einer globalisierten Arzneimittelprüfung, (erscheint demnächst), erscheint demnächst. 1196 Ashcroft, The Troubled Relationship Between Bioethics and Human Rights, S. 48, ebenso Holger P. Hestermeyer, Access to Medication as a Human Right, Max Planck Yearbook of United Nations Law 2005, S. 101 (179 f.). 1197 Thomas A. Faunce, Will International Human Rights Subsume Medical Ethics? Intersections in the UNESCO Universal Bioethics Declaration, Journal of Medical Ethics 2005, S. 173 (177). 1198 Dies gilt zumindest für die beiden Internationalen Pakte, vgl. deren Art. 2, und andere andere völkerrechtliche Menschenrechtsverträge, deren globale Geltung Voraussetzung für die Anwendbarkeit in der Erklärung ist.
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nur sekundäre Adressaten sein sollen, wenn „angemessen und sachdienlich“, denn die Wahl eines rechtlichen Rahmens bedeutet gleichzeitig, sich rechtlichen Notwendigkeiten zu unterwerfen. Die vollständige völkerrechtliche Subjektstellung haben nur die Staaten inne, weshalb nur sie Adressaten einer Erklärung sein können, die im internationalen Kontext multilateral von staatlicher Seite erarbeitet wurde, auch wenn es sich nur um ein unverbindliches Dokument handeln soll. Die Anerkennung dieser Tatsache auch für eine unverbindliche Erklärung zeugt aber von der Relevanz, die jenen Dokumenten von der Staatengemeinschaft beigemessen wird. Andererseits ist auch die Interpretation der Inhalte von Menschenrechtsgarantien weiterhin umstritten,1199 weshalb substantielle Ableitungen konkreter Pflichten zumeist nicht in verbindlicher Weise und konsensual zu erreichen sind. Selbst wenn daher die Menschenrechte als normativer Rahmen herangezogen werden, sind die konkret abgeleiteten Pflichten von Staaten, Forschern, Ärzten etc. nicht notwendig mit rechtlichen Pflichten gleichzusetzen. Trotz der Wahl einer unverbindlichen Erklärung für die Erklärung verständigte man sich insofern ebenfalls darauf, die Formulierung der deontischen Operatoren weiter zu entschärfen, obwohl dies auch diejenigen Artikel betraf, die anerkannte Normen des Völkergewohnheitsrechts zugeordnet werden können.1200 Damit sollte die Unverbindlichkeit der Erklärung weiter betont werden,1201 letztlich ein weiterer symbolischer, da unnötiger Schritt. Die Gesamtheit der Normen der Erklärung mit Sollensoperatoren auszustatten, kann schließlich aber auch dem Umstand zugeschrieben werden, dass sie eben nicht nur menschenrechtliche Verpflichtungen enthält, sondern auch darüber hinausgehende Handlungsanweisungen, die nicht eindeutig Normen des völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes zugeordnet werden können. Die Erkärung ist vielmehr als Hybrid von menschenrechtlichen und ethischen Normen zu betrachten, wie es der Titel bereits suggeriert. Bereits der Anwendungsbereich, den Art. 1 Abs. 1 definiert, macht deutlich, dass trotz des gewählten menschenrechtlichen Rahmens kein rein 1199 Ein anschauliches Beispiel bietet Hestermeyer, Access to Medication as a Human Right, Max Planck Yearbook of United Nations Law 2005, S. 101 ff., der aufzeigt, dass das in Art. 14 der Erklärung verbürgte Recht auf Gesundheit so nicht in der völkerrechtlichen Praxis existiert. 1200 So beispielsweise in Art. 11 der Erklärung, dem Diskriminierungsverbot, das in großen Teilen als Völkergewohnheitsrecht, teilweise sogar als ius cogens angesehen wird, T. van Boven, Racial and Religious Discrimination, in: Wolfrum, Encyclopedia of Public International Law, Rn. 8. 1201 Dies war für jene Normen in der Ausarbeitungsphase zumindest diskutiert worden, H. ten Have/M. Jean, Introduction, in: Have/Jean, The UNESCO Universal Decaration on Bioethics and Human Rights – Background, Principles and Application, S. 35.
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rechtlich geprägtes Dokument gewünscht war,1202 sondern eine ethische Richtlinie. Die „ethischen Fragestellungen“ sollen im Vordergrund stehen, die rechtliche Dimension dagegen nur ein untergeordneter Faktor der Berücksichtigung sein. Insbesondere für die im vorliegenden Kontext interessierende, ethische Verantwortung der Wissenschaft für Gesellschaft und Umwelt wird der Präambel der Erklärung1203 nach keine heteronome rechtliche Steuerung angestrebt, sondern eine autonome Selbstreflexion der Berufsmoral, geleitet von den Prinzipien der Erklärung. Der 18. Absatz der Präambel lautet dabei: „[. . .] überzeugt, dass moralisches Empfinden und ethische Überlegungen ein integraler Bestandteil des Prozesses wissenschaftlicher und technischer Entwicklungen sein sollen und die Bioethik eine herausragende Rolle bei den Entscheidungen spielen soll, die hinsichtlich der sich aus solchen Entwicklungen ergebenden Fragestellungen getroffen werden müssen;“1204
Damit wird verdeutlicht, dass bereits die Fragestellung des einzelnen Wissenschaftlers als Vorgang des forum internum durch die bioethischen Prinzipien der Erklärung geleitet werden soll und tatsächlich eine autonome, moralische Evaluation angestrebt wird, wobei jene bioethischen Prinzipien aus den Menschenrechten abgeleitet werden.1205 Zudem wird ebenfalls in der Präambel auf intraprofessionelle Kodizes wie die Deklaration von Helsinki verwiesen,1206 was verdeutlicht, dass die UNESCO die Anknüpfung an berufsethische Grundsätze mit ihrer Erklärung suchte. Die Prinzipien der Erklärung sind daher nicht nur menschenrechtliche Derivate, sondern zugleich berufsethische Normen und andersherum. Damit zeigt die AEBM auf, dass der Willen der Staatengemeinschaft dahingeht, die Berufsmoral der Wissenschaft nicht als partikularistisch zu betrachten, als unab1202 Dies wird auch dadurch veranschaulicht, dass das völkerrechtlich anerkannte Vorsorgeprinzip (vgl. M. Schröder, Precautionary Approach/Principle, in: Wolfrum, Encyclopedia of Public International Law, Rn. 16) aus dem Artikel über Risikoabschätzung entfernt wurde, vgl. Andorno, Global Bioethics at UNESCO: in Defence of the Universal Declaration on Bioethics and Human Rights, Journal of Medical Ethics 2007, S. 150 (151). 1203 Zur Rolle von Präambeln in internationalen Dokumenten, vgl. oben S. 698, Gros Espiell sieht in der Präambel einen eindeutigen Hinweis auf den rechtlichen Charakter der Erklärung, H. Gros Espiell, The Preamble, in: Have/Jean, The UNESCO Universal Decaration on Bioethics and Human Rights – Background, Principles and Application, S. 58. 1204 Übersetzung des Sprachendienstes des Auswärtigen Amtes, abrufbar bei der Deutschen UNESCO-Kommission unter http://www.unesco.de/erkl_bioethik_05_ text.html (zuletzt abgerufen am 24.3.2014). 1205 H. ten Have/M. Jean, Introduction, in: Have/Jean, The UNESCO Universal Decaration on Bioethics and Human Rights – Background, Principles and Application, S. 39. 1206 7. Absatz der Erklärung.
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hängigen, von der gesamtgesellschaftlichen Moral zu unterscheidenden Berufsethos.1207 Sie soll im Gegenteil in dasselbe ethische Rahmenwerk integriert werden, dass die internationalen Beziehungen generell regelt. Sind jedoch die ethischen Prinzipien der Erklärung aus den Menschenrechten abgeleitet, erscheint die Formulierung des Ziels in Art. 2 lit. d) widersprüchlich. Dort heißt es, die Freiheit der Wissenschaft solle durch die Erklärung anerkannt werden, wobei diese aber nicht nur durch die Prinzipien der Erklärung begrenzt sein soll, sondern zugleich, insofern doppelt, durch „die Menschenwürde, die Menschenrechte und die Grundfreiheiten“. Es wird insofern interessant sein zu ermitteln, inwieweit auf völkerrechtlicher Ebene ein Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit zu finden ist, das eine Autonomie der Wissenschaft gewährleisten kann und die das Berufsethos wissenschaftlicher Verantwortung stützt. ee) Fazit Die AEBM stellt das erste universelle Rahmenwerk bioethischer Prinzipien auf globaler Ebene dar. Sie inkorporiert verschiedene Bereiche bioethischer Fragestellungen in ein einziges Dokument und versucht auf diese Weise einheitliche, global konsentierte Normen für Forschung und Medizin über Ländergrenzen hinweg aufzustellen. Dabei wählte die federführende UNESCO die Menschenrechte als Anknüpfungspunkt, sie ging aber noch darüber hinaus indem sie berufsethische Normen und Prinzipien integrierte um Schwächen des internationalen Menschenrechtsschutzes zu überwinden und die Selbstreflexion der betroffenen Akteure zu fördern. Es hat sich erwiesen, dass die Menschenrechte ein tauglicher Ansatz sind, jene Fragestellungen zu lösen, da sie eine globale Sprache bieten, universelle Lösungen ermöglichen, politischen Druck generieren können und die praktische Anwendung fördern. Soweit die AEBM als Prototyp völkerrechtlicher Steuerung der Wissenschaft gelten soll, ist zu konstatieren, dass für diese ein Hybrid aus Menschenrechten und Berufsethik gewählt wurde um sowohl Staaten in ihrer Gesetzgebung anzuleiten und zu binden, als auch Individuen mit handlungsleitenden Prinzipien zu versorgen um auf diese Weise geltungstechnisch eine Doppelfunktion zu erreichen. Die Funktionalität und Legitimation jener Doppelfunktion wird jedoch noch in Frage zu stellen sein.
1207 Generell zum Verhältnis von Allgemeinmoral und Berufsmoral, Vöneky, Recht, Moral und Ethik, S. 32 f.
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4. Kodexsetzung durch wissenschaftliche Selbstverwaltung auf globaler Ebene Die internationalen Organisationen als völkerrechtlich anerkannte Institutionen der Staatengemeinschaft leiden in ihrer Normsetzungsaktivität unter dem bereits beschriebenen Mangel in der Adressatenfrage. Lediglich die Staaten können als Völkerrechtssubjekte gebunden werden, als diese selbst die normsetzende Institution konstituieren. Zudem entspricht die Kodexsetzung durch zwischenstaatliche Organisationen nicht den Forderungen, ein Ethos wissenschaftlicher Verantwortung durch die Wissenschaftsgemeinde selbst in institutionalisierter Form wahrzunehmen. Schließlich ist es auch zum großen Teil die normsetzende Aktivität privater Institutionen der globalen wissenschaftlichen Selbstverwaltung, die die Forschung weltweit beeinflusst.1208 Als Gegenmodell soll daher untersucht werden, inwieweit wissenschaftliche Selbstverwaltung tatsächlich auf globaler Ebene existiert und welche Bestrebungen bestehen, eine ethische Kodexsetzung voranzutreiben. a) Der International Council for Science als Selbstverwaltungsinstitution Wissenschaftliche Selbstverwaltung in einem umfassenden Sinne ist auf globaler Ebene nur eingeschränkt zu identifizieren. Die Organisation, die eine derartige Funktion am ehesten für sich beanspruchen könnte, ist der Internationale Wissenschaftsrat (International Council for Science, ICSU1209).1210 In ihm sind 121 nationale Mitglieder vereint, die 141 Staaten repräsentieren, sowie 30 internationale Vereinigungen spezifischer Wissenschaftsdisziplinen.1211 Sie wurde 1931 als Nachfolger des International Research Councils gegründet und hat als gemeinnützige Nichtregierungsorga1208
Matthias Ruffert/Sebastian Steinecke, The Global Administrative Law of Science, S. 107. 1209 Die offizielle Abkürzung entstammt noch der alten Bezeichnung des Rates, International Council for Scientific Unions, die aber aufgrund der Verwechslungsgefahr mit anderen internationalen Organisationen beibehalten wurde, vgl. Punkt I. 1. der ICSU-Statuten, abrufbar unter http://www.icsu.org/publications/statutes-poli cies/statutes-procedure/(zuletzt abgerufen am 24.3.2014). 1210 Als weitere Institution soll an dieser Stelle auch der InterAcademy Council erwähnt werden, ebenfalls ein Netzwerk der nationalen Wissenschaftsakademien, das sich jedoch der beratenden Funktion für internationale Organisationen verschrieben hat und insofern nicht steuernd im Sinne wissenschaftlicher Selbstverwaltung tätig wird, vgl. Art. 2 des Statuts des IAC, abrufbar unter http://www.interacademy council.net/23450/24788/24790.aspx (zuletzt abgerufen am 24.3.2014). 1211 Eine vollständige Liste der Mitglieder findet sich auf http://www.icsu.org/ about-icsu/our-members/?icsudocid=overview (zuletzt aufgerufen am 24.3.2014).
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nisation ihren Sitz in Paris. Die tatsächliche Repräsentationsfähigkeit der wissenschaftlichen Gemeinde ist jedoch durch zwei Faktoren eingeschränkt: zum einen ist die Beteiligung von 141 Ländern zwar sehr groß, jedoch fehlen auch noch weitere 50 Länder um beispielsweise das Partizipationsniveau von zwischenstaatlichen Organisation wie der UNESCO zu erreichen. Zuzugeben ist dabei aber, dass die meisten der nicht repräsentierten Staaten entwicklungsschwächere Länder sind, deren Forschungspotential begrenzt ist1212 und die insofern auch die obligatorischen finanziellen Beiträge nicht leisten können. Zum anderen ist jedoch auch die Mitgliederstruktur nicht umfänglich repräsentativ. Die jeweiligen nationalen Mitglieder sind zumeist die nationalen, wissenschaftlichen Räte und Akademien, staatliche Förderungseinrichtungen1213 oder gar nur einzelne Universitäten.1214 Dadurch ist oftmals unklar, ob diese tatsächlich die jeweiligen Meinungen der gesamten Wissenschaftsgemeinden ihrer Länder widerspiegeln können. Andererseits ist es jedoch auch Ausdruck der Autonomie der Wissenschaft, dass diese in den seltensten Fällen allgemein anerkannte, zentralisierte Interessenvertretungen haben, die in demokratischer Weise Willensbildungsprozesse auch zur internationalen Repräsentation abbilden könnten. Dieser Schwäche versucht der ICSU durch gewisse Aufnahmekriterien zu begegnen, die eine möglichst umfängliche Repräsentation der jeweiligen nationalen Wissenschaft ermöglichen sollen.1215 Ein gewisses Legitimationsdefizit dürfte jedoch bestehen bleiben. Dem Anspruch einer globalen Selbstverwaltungsinstitution der Wissenschaft entsprechend hat sich der ICSU auch dem Prinzip der Universality of Science verschrieben.1216 Bestehend aus den bekannten Elementen der Wis1212 Aufgrund dieser Tatsache können sie die institutionellen Mitgliedschaftskriterien oftmals nicht erfüllen, dazu sogleich. 1213 Für Deutschland ist die DFG Mitglied des ICSU. 1214 Beispielsweise die Universität Tunis für Tunesien oder die Universität Teheran für den Iran. 1215 Der entsprechende Artikel 8 der Statuten des ICSU gibt vor: „A National Scientific Member shall be a scientific academy, research council, scientific institution or association of such institutions. Institutions effectively representing the range of scientific activities in a definite territory may be accepted as National Scientific Members, provided they can be listed under a name that will avoid any misunderstanding about the territory represented, and have been in existence in some form for at least 4 years.“ 1216 Artikel 5 der Statuten des ICSU: „The principle of the Universality of Science is fundamental to scientific progress. This principle embodies freedom of movement, association, expression and communication for scientists, as well as equitable access to data, information and research materials. In pursuing its objectives in respect of the rights and responsibilities of scientists, the International Council for Science (ICSU) actively upholds this principle, and, in so doing, opposes any discrimination on the basis of such factors as ethnic origin, religion, citizenship,
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senschaftsfreiheit gibt sich der ICSU mit diesem Fundament die notwendige Legitimation zur Repräsentation der Wissenschaftsgemeinde. Diese kann dazu beitragen, die teilweise defizitäre mitgliedschaftliche Legitimation auszugleichen.1217 b) Fragmentierung der Kodexsetzung als Ziel Vorliegend ist das Verhältnis des ICSU zur zwischenstaatlichen Organisation der UNESCO und deren Kommission COMEST interessant, was die Zielsetzungen im Bereich der ethischen Regulierung der Wissenschaft angeht. ICSU und UNESCO veranstalteten im Jahr 1999 in Budapest die sogenannte World Conference on Science, die in einer abschließenden Declaration on Science and the Use of Scientific Knowledge mündete, zu der sich beide Organisationen bekannten.1218 Darin wurde die Verantwortlichkeit der Wissenschaft gegenüber der Gesellschaft anerkannt, die die Menschenwürde und die Menschenrechte umfasst, sich auch auf die Umwelt erstrecken und gleichsam die heutige wie zukünftige Generationen umfassen soll.1219 Noch wichtiger in diesem Kontext ist jedoch die gemeinsam formulierte Zielsetzung eines Ethikkodexes, der auf einem menschenrechtlichen Ansatz basieren und zu dem sich die wissenschaftlichen Berufe bekennen sollen.1220 Dieser sollte im Idealfall universell gültige Werte aufstellen, die aus einer Übersicht der ethischen Rahmenwerke auf der Welt extrapoliert werden.1221 Dieser universelle Kodex sollte jedoch nur das Grundgerüst für disziplinen-, länder- und institutionenspezifische Kodizes sein, deren Implementierung zu fördern sei.1222 Mit diesem Dokument wurde insofern der Grundstein für eine Zusammenarbeit und eine gemeinsame Strategie auf dem Gebiet der Kodexsetzung gelegt, die zeitweise zahlreiche Verknüpfungen der beiden Organisationen zur Folge hatte. Vor allem war es Konsens zwischen COMEST und language, political stance, gender, sex or age. ICSU shall not accept disruption of its own activities by statements or actions that intentionally or otherwise prevent the application of this principle.“ 1217 Zur Legitimation der Institution vgl. auch unten, S. 375 ff. 1218 http://www.unesco.org/science/wcs/eng/declaration_e.htm (zuletzt abgerufen am 24.3.2014). 1219 Absatz 39 der Declaration. 1220 Absatz 41 der Declaration. 1221 Introductory Note to the Science Agenda – Framework for Action, Version 15.06.99, Punkt 3.2., http://www.unesco.org/science/wcs/eng/intro_framework.htm (zuletzt abgerufen am 24.3.2014). 1222 Science Agenda – Framework for Action, verabschiedet am 1.7.1999 auf der World Science Conference, Punkt 3.2. (Absätze 73 und 75); http://www.unesco.org/ science/wcs/eng/framework.htm#3_1 (zuletzt abgerufen am 24.3.2014).
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ICSU, dass ein universeller und genereller Kodex nicht das alleinige Ziel sein kann, sondern dem Pluralismus und der Diversität der nationalen Wissenschaftskulturen und der Disziplinen Rechnung getragen werden muss.1223 Zudem muss eine weitergehende Analyse bestehender nationaler, spezifischer Kodizes durchgeführt werden, um ethische Prinzipien extrapolieren und Anwendungsbereiche identifizieren zu können.1224 Bereits acht Jahre zuvor veröffentlichte der ICSU zu eben jenem Zweck eine empirische Studie über Ethikkodizes.1225 Der ICSU grenzt sich mittlerweise jedoch eindeutig von der zwischenstaatlichen Organisation der UNESCO mitsamt der COMEST aufgrund ihrer Staatenabhängigkeit ab und will sich an den standard setting-Aktivitäten nicht beteiligen, da diese nur sehr allgemeiner Natur sein könnten und daher keine Handlungsanleitung für den individuellen Wissenschaftler bieten könnten.1226 Lediglich bei der Formulierung des generellen Ethikkodexes, der auch als Hippokratischer Eid der Wissenschaft bezeichnet wird, will der ICSU eine „proaktive“ Rolle beibehalten, sollten die ICSU-Mitglieder dies wünschen.1227 Insgesamt wird deutlich, dass trotz gleicher Zielsetzungen auf globaler Ebene, der ICSU eine Fragmentierung der Kodexsetzung anstrebt und dabei vor allem die Selbstverwaltung der Wissenschaft gefördert werden soll. Zwölf Jahre nach der Erklärung von Budapest scheint die Entwicklung der gemeinsam begründeten Strategie wieder in verschiedene Richtungen zu laufen. Dabei wäre der ICSU in der Theorie der ideale und notwendige Partner der UNESCO, wenn es um die Abfassung globaler Ethikkodizes geht. Wie im Folgenden aufgezeigt werden soll fehlt es nämlich an einer global konsentierten Wissenschaftsfreiheit, die einer autonomen Wissenschaft Anreize bieten könnte, ein berufsspezifisches Ethos der wissenschaftlichen Verantwortung anzunehmen und zu stärken. 5. Die Wissenschaftsfreiheit im Völkerrecht Die unverbindlichen Steuerungsinstrumente der UNESCO haben veranschaulicht, dass zur Lösung globaler Fragen Hybridnormen aus men1223 COMEST Draft Report on Science Ethics, SHS/EST/COMEST2010/EN/ pub-16 vom 28.6.2010, S. 27 f. und ICSU Strategic Review „Science and Society: Rights and Responsibilities“, Juli 2005, S. 27. 1224 COMEST Draft Report on Science Ethics, S. 33. 1225 Standards for Ethics and Responsibility in Science – an Empirical Study veröffentlicht vom Standing Committee for Responsibility and Ethics in Science (SCRES), 27GA/02/12.4.1. 1226 ICSU Strategic Review „Science and Society: Rights and Responsibilities“, S. 27. 1227 Ibid.
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schenrechtlichen und ethischen Ansätzen gewählt wurden, um nicht nur die Staaten in ihrer Gesetzgebung anleiten zu können, sondern auch unmittelbare und universelle Geltung im individuellen Bereich der Akteure wissenschaftlicher Forschung zu erzielen. Als unmittelbare Steuerung der Wissenschaft ist es daher erforderlich zu ermitteln, ob für einen solchen Ansatz Einschränkungen auch im Völkerrecht aufgrund grundrechtlicher Gewährleistungen vorzufinden sind. Die Grenzen der ethischen Steuerung auch auf globaler Ebene hängen entscheidend davon ab, inwieweit eine rechtliche Sicherung der Autonomie existiert. Die Mehrebenenuntersuchung wird auf völkerrechtlicher Ebene mit den Besonderheiten jenes Rechtsgebiets konfrontiert, die aus seiner rechtlichen Natur resultieren. Ursprünglich sollte jenes alleine die Beziehungen zwischen den Staaten regeln und zu diesem Zweck war es auch konzipiert. Die Einbeziehung von Grund- und Menschenrechten war insofern eine Neuerung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, deren dogmatische Verarbeitung noch immer andauert. Wesentliches Element der Besonderheit des völkerrechtlichen Regimes ist demnach auch der abweichende Grundrechtsschutz, der hauptsächlich über menschenrechtliche Verträge definiert wird. Obwohl mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR), den beiden Internationalen Pakten über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR) beziehungsweise wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (IPwskR) und den menschenrechtlichen Verbürgungen der Charta der Vereinten Nationen ein oftmals als völkerrechtliche bill of rights bezeichnetes Menschenrechtsregime geschaffen wurde,1228 kann auch dieses nicht als umfassende rechtsverbindliche Charta der Menschenrechte angesehen werden.1229 Größtes Hindernis eines umfassenden Menschenrechtsschutzes war zunächst die Betonung der Souveränität der Staaten gegenüber internationalen Grund- und Menschenrechtsverbürgungen. Dieses wurde in den letzten Jahren jedoch stetig abgebaut, die internationale Rechtsprechung und Völkerrechtslehre sind mittlerweile einig, dass Menschenrechtsverträge nicht restriktiv im Sinne der Regel in dubio pro mitius,1230 sondern dynamisch im Lichte ihres Zieles und Zweckes auszulegen sind1231 um die bestmögliche Gewährleistung von Menschenrechten zu erreichen.1232 Doch auch die 1228 T. Buergenthal, Human Rights, in: Wolfrum, Encyclopedia of Public International Law, Rn. 9. 1229 K. Hailbronner, in: Graf Vitzthum, Völkerrecht, Rn. 217. 1230 Also nicht im Zweifel für den geringeren Eingriff in die Souveränität der Staaten. 1231 So die Auslegungsregel des Art. 31 Abs. 1 der Wiener Vertragsrechtskonvention. 1232 Juliane Kokott, Beweislastverteilung und Prognoseentscheidungen bei der Inanspruchnahme von Grund- und Menschenrechten, S. 408 f.
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jeweilige Rechtsnatur der Grund- und Menschenrechte bereitete lange Zeit Schwierigkeiten. Vor allem die sogenannten Rechte der zweiten Generation,1233 die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte, um die es im Folgenden hauptsächlich gehen wird, waren seit ihrer Kodifizierung in der AEMR und im IPwskR heftig umstritten, was deren Dimensionen und Verpflichtungen angeht.1234 Es wird sich jedoch zeigen, dass auch diese Fragen für eine Wissenschaftsfreiheit im Völkerrecht nicht relevant werden, da diese sich als Grundrecht im Sinne eines völkerrechtlichen Rechtssatzes, trotz Erwähnung in verschiedenen Verträgen, nicht ausmachen lässt. Die Ermittlung der Rechtssatzqualität soll in der Reihenfolge der Rechtsquellenlehre des Art. 38 IGH-Statut anhand von internationalen Übereinkünften und den notwendigen Elementen von Völkergewohnheitsrecht durchgeführt werden. a) In internationalen Menschenrechtsverträgen Als erstes Indiz sollen zunächst die völkerrechtlichen Menschenrechtsverträge untersucht werden um eventuelle Anknüpfungspunkte für einen allgemein anzuwendenden Rechtssatz zu finden. Als solche kommen nach Art. 38 Abs. 1 a) IGH-Statut zunächst die internationalen Übereinkünfte allgemeiner oder besonderer Natur in Betracht, also verbindliche Verträge zwischen den Staaten. Als deren Grundlage soll zunächst jedoch die vertragsrechtlich unverbindliche AEMR in den Blick genommen werden, die sowohl die Basis der verbindlichen Menschenrechtsverträge, als auch der völkerrechtlichen Betrachtung der Wissenschaft darstellt. aa) Die Wissenschaftsfreiheit in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte Im Jahre 1948 wurde die AEMR von der UN-Generalversammlung verabschiedet. Diese stellt ihrer Rechtsnatur nach eine Empfehlung im Sinne der Art. 10 bis 14 UN-Charta dar und ist als solche nicht verbindlich.1235 Die zahlreichen Versuche, diesem Menschenrechtskatalog eine rechtliche 1233 Die erste Generation soll dabei die bürgerlichen und politischen Rechte abbilden, die dritte Generation umfasst bspw. Rechte auf Solidarität, natürliche Ressourcen und auf ein gemeinsames Erbe der Menscheit, wie sie exemplarisch in der Afrikanischen Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker niedergeschrieben sind. 1234 Instruktiv Hestermeyer, Access to Medication as a Human Right, Max Planck Yearbook of United Nations Law 2005, S. 101 (117 ff.). 1235 Hailbronner/Klein, in: Simma, UN-Charter Commentary, Volume I, Art. 10 Rn. 44.
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Verbindlichkeit zuzuordnen,1236 sollen hier unbewertet bleiben, als der hier interessierende Artikel 27 lediglich als Vorläufer für verbindliche Menschenrechtspakte zu untersuchen sein wird. Inspiriert von Art. 13 der im selben Jahr verabschiedeten Amerikanischen Erklärung der Rechte und Pflichten des Menschen1237 wurde in Art. 27 AEMR formuliert: „1. Jeder hat das Recht, am kulturellen Leben der Gemeinschaft frei teilzunehmen, sich an den Künsten zu erfreuen und am wissenschaftlichen Fortschritt und dessen Errungenschaften teilzuhaben. 2. Jeder hat das Recht auf Schutz der geistigen und materiellen Interessen, die ihm als Urheber von Werken der Wissenschaft, Literatur oder Kunst erwachsen.“
Die Verortung wissenschaftlicher Belange bei den Elementen der Kulturverfassung ist auch dem deutschen Recht immanent.1238 Der Wortlaut des ersten Absatzes erscheint demgegenüber mehr als Teilhaberecht an wissenschaftlichen Erkenntnissen für jedermann, als eine Verbürgung der Freiheit von wissenschaftlich Tätigen. Auch die Betonung des Schutzes wissenschaftlicher Erkenntnisse im zweiten Absatz scheint mehr eine Priorität auf Schutzmechanismen für geistiges Eigentum zu legen, denn auf wissenschaftliche Freiheit. Die Verfasser der AEMR sollen eine Beteiligung verschiedener Rechte zur Verwirklichung einer tatsächlich freien Wissenschaft vorgesehen haben, unter anderem der Meinungs- und Meinungsäußerungsfreiheit in Art. 19, der Versammlungsfreiheit in Art. 20 und des Rechts auf Bildung aus 1236
Vgl. die lapidare Begründung von Claude sowohl über Art. 55, 56 UNCharta als auch über Gewohnheitsrecht, P. R. Claude, Scientists’ Rights and the Human Right to the Benefits of Science, in: Audrey R. Chapman (Hrsg.) Core obligations – building a framework for economic, social and cultural rights, S. 249 (251 f.). Zu Recht ablehnend dagegen Hestermeyer, Access to Medication as a Human Right, Max Planck Yearbook of United Nations Law 2005, S. 102 (156 f.); einen guten Überblick über den aktuellen Meinungsstand bietet H. Charlesworth, The Universal Declaration of Human Rights (1948), in: Wolfrum, Encyclopedia of Public International Law, Rn. 13 ff. 1237 OAS Declaration of the Rights and Duties of Man, verabschiedet auf der neunten Konferenz amerikanischer Staaten in Bogotá, Kolumbien, 1948, Art. 13: „Every person has the right to take part in the cultural life of the community, to enjoy the arts, and to participate in the benefits that result from intellectual progress, especially scientific discoveries. He likewise has the right to the protection of his moral and material interests as regards his inventions or any literary, scientific or artistic works of which he is the author.“ Vgl. auch William A. Schabas, Study of the Right to Enjoy the Benefits of Scientific and Technological Progress and its Applications, in: Yvonne Donders/Vladimir I. Volodin (Hrsg.), Human Rights in Education, Science, and Culture: Legal Developments and Challenges, S. 275. 1238 Vgl. oben Fn. 185.
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Art. 26 der AEMR, die insofern als verwandt bezeichnet werden können.1239 In jener Ausprägung der Einbeziehung verschiedener rechtlicher Aspekte zur vollen Verwirklichung wissenschaftlicher Freiheit wäre der Gehalt des Art. 27 insofern der grundgesetzlichen Interpretation sehr ähnlich, wenn sie denn tatsächlich eine solche hergibt. Wie im Folgenden aufgezeigt wird, legte die AEMR mit diesem Artikel aber den Grundstein der Formulierung der wissenschaftlichen Verbürgung im IPwskR, die eine derartige freiheitliche Interpretation nicht ermöglicht. bb) Die Rolle des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte Zuvor muss jedoch der Blick auf den IPbpR gelenkt werden. Als vermeintlich stärkster, universeller Menschenrechtsvertrag wurde dieser bis heute von 167 Staaten ratifiziert, zusätzlich haben fünf weitere Staaten diesen gezeichnet, aber noch nicht ratifziert.1240 Der Pakt bietet für wissenschaftliche Belange jedoch keine konkreten Anhaltspunkte. Zu erwähnen ist er an dieser Stelle aufgrund der Tatsache, dass er zwei Bestandteile der Wissenschaftsfreiheit garantiert, die bislang als elementar angesehen wurden: die Gedankenfreiheit in Art. 18 Abs. 1 und die Meinungsfreiheit in Art. 19 Abs. 1 und 2. Die Gedankenfreiheit, die durch Art. 18 Abs. 1 gemeinsam mit der Gewissens- und Religionsfreiheit gewährleistet wird, ist ein wichtiges Element der wissenschaftlichen Arbeit und soll sicherstellen, dass das forum internum eines jeden bei der autonomen Entwicklung von Gedanken vor unzulässigen Einflussnahmen geschützt ist.1241 Ebenso wichtig für freie wissenschaftliche Betätigung ist die Fähigkeit eine freie Meinung zu bilden, diese zu äußern und sich Informationen zu diesem Zweck zu beschaffen. Jede dieser Facetten wird durch Art. 19 Abs. 1 und 2 IPbpR geschützt, was auch als Kern der internationalen Menschenrechtsverbürgungen gesehen wird.1242 1239
Pierre Richard Claude, Scientists’ Rights and the Human Right to the Benefits of Science, in: Audrey R. Chapman (Hrsg.), Core Obligations – Building a Framework for Economic, Social and Cultural Rights. 1240 China, Kuba, die Komoren, Nauru und Sao Tomé und Principe; Stand 20. Mai 2011. 1241 Manfred Nowak, UN Covenant on Civil and Political Rights – CCPR Commentary, Art. 18 Rn. 10. Der Schwerpunkt der praktischen Anwendung scheint für Art. 18 aber in der religiösen Komponente zu liegen, vgl. General Comment Nr. 22: The Right to Freedom of Thougt, Conscience and Religion vom 30.7.1993, UNDok. CCPR/C/21/Rev.1/Add.4; Nr. 2 und 4 ff. 1242 Vgl. zu den spezifischen Inhalten ibid., Art. 18 Rn. 10 ff. und 17 f.
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Im Gegensatz zur AEMR finden sich Wissenschaftsfreiheit und die sie prägenden Einzelgrundrechte nicht im selben Katalog von Rechten. Erst bei der Kodifizierung der verbindlichen Menschenrechtsverträge wurde nach heftigen Kontroversen, vor allem zwischen westlichen und Ostblockstaaten eine Trennung der Rechte der ersten und zweiten Generation durchgeführt. Wissenschaftliche Belange sind daher dem gleichrangigen und wechselseitig abhängigen1243 Schwesterpakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte zugeordnet. cc) Art. 15 des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte Entsprechend der deutschen Verortung als Kernelement der grundgesetzlichen Kulturverfassung1244 ist die Wissenschaft auch im Völkerrecht den kulturellen Aspekten des IPwskR1245 zugeordnet. Dessen Art. 15 enthält verschiedene Verpflichtungen der Vertragsstaaten, die eine Gesamtschau der wissenschaftlichen Belange des Paktes bilden. Der Wortlaut lehnt sich an die AEMR an,1246 ist jedoch noch um verschiedene Absätze erweitert worden, die eine Spannung zwischen den verschiedenen Gewährleistungen erzeugt.
1243 So die heute wohl anerkannte Stellung des IPwskR zum IPbpR, vgl. GA Res. „Alternative Approaches and Ways and Means within the United Nations System for Improving the Effective Enjoyment of Human Rights and Fundamental Freedoms“ Nr. 1 a), A/RES/32/130 und auch B. Simma, Der Schutz wirtschaftlicher und sozialer Rechte durch die Vereinten Nationen, in: Stavròula Vassilouni (Hrsg.) Aspects of the Protection of Individual and Social Rights, S. 75. 1244 Vgl. oben Fn. 185. 1245 Der IPwskR ist derzeit von 160 Staaten ratifiziert, von 6 Staaten hingegen nur gezeichnet, aber noch nicht ratifiziert (Komoren, Sao Tomé und Principe, Belize, Kuba, Südafrika und v. a. die USA). 1246 Art. 15: „(1) Die Vertragsstaaten erkennen das Recht eines jeden an, a) am kulturellen Leben teilzunehmen; b) an den Errungenschaften des wissenschaftlichen Fortschritts und seiner Anwendung teilzuhaben; c) den Schutz der geistigen und materiellen Interessen zu geniessen, die ihm als Urheber von Werken der Wissenschaft, Literatur oder Kunst erwachsen. (2) Die von den Vertragsstaaten zu unternehmenden Schritte zur vollen Verwirklichung dieses Rechts umfassen die zur Erhaltung, Entwicklung und Verbreitung von Wissenschaft und Kultur erforderlichen Massnahmen. (3) Die Vertragsstaaten verpflichten sich, die zu wissenschaftlicher Forschung und schöpferischer Tätigkeit unerlässliche Freiheit zu achten. (4) Die Vertragsstaaten erkennen die Vorteile an, die sich aus der Förderung und Entwicklung internationaler Kontakte und Zusammenarbeit auf wissenschaftlichem und kulturellem Gebiet ergeben.“
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(1) Die Wissenschaftsfreiheit nach dem Wortlaut und der Entstehungsgeschichte des Art. 15 Die fehlende explizite Formulierung, die man von der deutschen und europäischen Verbürgung gewohnt ist, dass Wissenschaft und Forschung frei sein sollen, resultiert aus der Vorgeschichte der Übernahme der Garantie in der AEMR. Durch jene, in langen Verhandlungen ermittelten Formulierungen fehlt dem Artikel die Klarheit eines Art. 5 Abs. 3 GG, was aber keine zwingende Einschränkung des Gewährleistungsbereichs mit sich bringen muss. Darauf deuten zunächst die Absätze zwei und drei hin, die die Freiheit durch Verpflichtungen der Vertragsstaaten fördern sollen. Auch der Entstehungsgeschichte des Artikels kann entnommen werden, dass die Freiheit möglichst umfassend sein sollte. In den Beratungen zu diesem Artikel1247 erfolgten mehrfach Versuche osteuropäischer Länder, einschränkende Komponenten in die Formulierung des Art. 15 aufzunehmen, die eine Verpflichtung der Wissenschaft auf die Förderung des Friedens und der Zusammenarbeit der Länder enthielten. Der Großteil der Ländervertreter verwehrte sich jedoch einem solchen Zusatz. Zum einen befürchteten die größtenteils westlichen Länder, Einbruchstellen für Beschränkungsmöglichkeiten bereits auf Gewährleistungsebene zu schaffen, zum anderen wollte man herausstellen, dass eine freie Wissenschaft die Förderung jener Ziele gerade bewirke statt sie zu gefährden.1248 Eine historische Auslegung dieses Artikels ergibt insofern zunächst eine umfassende Verbürgung der Freiheit durch den Pakt, die allen Staaten eine Verpflichtung abverlangt, die Freiheit der Wissenschaft zumindest zu achten. Der IPwskR als originärer völkerrechtlicher Vertrag unterliegt jedoch dem Regelungsbereich der Wiener Vertragsrechtskonvention (WVRK), die durch Art. 32 klarstellt, dass jene historische Auslegungsmethode nur sekundär und erst dann heranzuziehen ist, wenn sich Uneindeutigkeiten nach den Auslegungsmethoden des Art. 31 WVRK ergeben. Vorrangig sind daher Wortlaut und Systematik heranzuziehen. Eine Verpflichtung auf freie Wissenschaft wird explizit durch Art. 15 Abs. 3 ausgesprochen. Die Formulierung könnte zunächst eine Schwäche jenes Rechts vermuten lassen, als von der üblichen Formulierung abgewichen wird, indem nur zur Achtung dieser Freiheit verpflichtet wird,1249 1247 Der damals noch unter Artikel 16 firmierte, vgl. den Entwurf des IPwskR in ECOSOC UN-Dok. E/CN.4/705, April 1954, Report of the 10th session, Annex I A. 1248 United Nations General Assembly, Official Records of the 12th Session, Third Committee, Agenda Item 33, SR. 795, S. 169 ff. 1249 Engl. Originaltext des Art. 15 Abs. 3: „The States Parties to the present Covenant undertake to respect the freedom indispensable for scientific research and creative activity.“
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nicht aber zur Anerkennung.1250 Dem lässt sich jedoch entgegenhalten, dass auch Art. 1 Abs. 3 des Paktes diese Formulierung enthält, der mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker ein Grundprinzip des Völkerrechts wiedergibt und insofern nicht als schwaches Recht angesehen werden kann.1251 Demgegenüber war das Wort „unerlässlich“ in den Beratungen zu diesem Absatz umstritten, da darin eine Begrenzung der Wissenschaftsfreiheit gesehen wurde.1252 Genau auf diese Weise muss die Formulierung nach den Beratungen aber auch gelesen werden, als keine absolute Freiheit gewährt werden sollte, sondern nur diejenige, die unter Berücksichtigung der öffentlichen Ordnung und der nationalen Sicherheit möglich ist.1253 Art. 15 Abs. 3 enthält somit eine Verbürgung wissenschaftlicher Freiheit, die von den Staaten zu achten ist, soweit nicht jene Güter entgegenstehen. Auch Art. 15 Abs. 2 kann dem Wortlaut nach entnommen werden, dass die Vertragsstaaten eine weitgehend freie Wissenschaft zu ermöglichen haben. Die Erhaltung, Entwicklung und Verbreitung der Wissenschaft kann je nach Interpretation nur dann erfolgen, wenn für diese ein möglichst freier Raum geschaffen wird.1254 Seit dem Inkrafttreten des Paktes erfuhr Art. 15 jedoch zunächst hauptsächlich Beachtung von Autoren, die das völkerrechtliche Regime des geistigen Eigentums untersuchten und in Art. 15 Abs. 1 lit. c) einen Anhaltspunkt zu finden vermochten,1255 was sich gerade auch in der Befassung durch das Committee on Economic, Social and Cultural Rights (CESCR) widerspiegelt.1256 Erst in den letzten Jahren rückten auch Art. 15 Abs. 1 lit. b) und die Absätze 2 und 3 in das Interesse der Rechtswissenschaft, was auf den stetigen Bedeutungszuwachs naturwissenschaftlicher Erkenntnis für 1250 Vgl. die Fromulierungen der Art. 6 bis 15 Abs. 1, engl. „. . . recognize the right . . .“. 1251 D. Thürer/T. Burri, Self-Determination, in: Wolfrum, Encyclopedia of Public International Law, Rn. 12 ff. 1252 So die Befürchtung des guatemaltekischen und malayischen Delegierten, United Nations General Assembly, Official Records of the 12th Session, Third Committee, Agenda Item 33, SR. 795, S. 183 und 185. 1253 Der britische Delegierte Samuel Hoare verwies in seiner Stellungnahme auf die bewusste und sorgfältig bedachte Wahl dieses einschränkenden Begriffs durch die Commission on Human Rights (engl. „indispensable“) und verteidigte diesen erfolgreich, ibid., S. 189. 1254 Claude, Scientists’ Rights and the Human Right to the Benefits of Science, S. 259. 1255 Vgl. auch für weitere Literaturnachweise Lea Shaver, The Right to Science and Culture, Wisconsin Law Review 2010, S. 122 ff. 1256 Dieses hat bislang lediglich einen General Comment zu Art. 15 Abs. 1 a) und c) veröffentlicht, vgl. UN-Dok. CESCR, E/C.12/GC/17, vom 1.12.2006 und E/C.12/GC/21, vom 21.12.2009.
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gesellschaftliche Debatten zurückzuführen ist. Gerade jene Passagen des Art. 15 scheinen aber ein Spannungsfeld zu bilden, dessen Auflösung noch am Anfang steht. (2) Das Spannungsfeld zwischen Art. 15 Abs. 3 und Art. 15 Abs. 1 lit. b) als Indiz gegen eine Wissenschaftsfreiheit Ein unbedarfter Blick auf Art. 15 zur Ermittlung einer Wissenschaftsfreiheit lässt zunächst vermuten, sofort fündig geworden zu sein, als dessen dritter Absatz eindeutig formuliert, dass die Vertragsstaaten die zur wissenschaftlichen Forschung unerlässliche Freiheit zu achten haben. Erst eine Zusammenschau mit Art. 15 Abs. 1 lit. b) lässt an jener Vermutung Zweifel aufkommen. Dort wird ein Recht eines jeden verbürgt, an den Errungenschaften des wissenschaftlichen Fortschritts und seiner Anwendung teilzuhaben, was zunächst die Frage aufwirft, inwieweit nicht bereits ein Teilhaberecht an allen wissenschaftlichen Erkenntnissen der gesamten Menschheit postuliert wird. Tatsächlich hat erst die Befassung der UNESCO mit jenem Recht zu einer kontroversen Diskussion um die Reichweite der Wissenschaftsfreiheit im IPwskR geführt. Im Jahre 2007 lud diese zu mehreren Expertentreffen zur Ermittlung der Inhalte des Rechts aus Art. 15 Abs. 1 lit. b) mit dem Amsterdam Centre for International Law, dem Irish Centre for Human Rights und dem European Inter-University Centre for Human Rights and Democratisation, die dazu beitragen sollten, den normativen Gehalt dieses Rechts zu klären. Die Ergebnisse dieser Expertentreffen wurden im sogenannten Venice Statement der Öffentlichkeit präsentiert.1257 In dessen Ausführungen wird zunächst das Recht auf freie Wissenschaft ausdrücklich bestärkt, sowohl durch Art. 15 Abs. 3, als auch als notwendiger Bestandteil des Rechts auf Teilhabe an den Errungenschaften des wissenschaftlichen Fortschritts und seiner Anwendungen in Art. 15 Abs. 1 lit b).1258 Jenes Teilhaberecht bedeutet aber gleichzeitig eine Indienstnahme der Wissenschaft, die einen Bereich spezifischer Freiheit negiert. Es soll zum einen klarstellen, dass jedermann das Recht habe, an diesen Errungenschaften teilzuhaben, also nicht nur diejenigen, die dazu beigetragen haben.1259 Zum anderen soll es auch eine Beschränkung der Wissenschaftsfreiheit des Art. 15 Abs. 3 1257 Venice Statement on the Right to Enjoy the Benefits of Scientific Progress and its Application, einzusehen unter http://unesdoc.unesco.org/images/0018/ 001855/185558e.pdf (zuletzt abgerufen am 24.3.2014). 1258 Vgl. die Punkte 8, 13 a), 14 a), b) und c) des Venice Statements. 1259 Vgl. die Punkte 11 und 16 b) des Venice Statements und Amrei Müller, Remarks on the Venice Statement on the Right to Enjoy the Benefits of Scientific Progress and its Application, Human Rights Law Review 2010, 765 (780); dies entspricht auch der Veränderung der Formulierung gegenüber der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von „. . . to share in . . .“ zu „. . . to enjoy . . .“.
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enthalten, die bereits im Gewährleistungsbereich des Artikels angelegt ist. So wird als fundamentales Prinzip dem Art. 15 Abs. 1 lit b) die Anwendung des Vorsorgeprinzips zu Grunde gelegt, das wissenschaftliche Arbeit von vornherein begrenzen soll, wenn nicht zu beherrschende Risiken zu befürchten sind.1260 Des Weiteren soll der normative Gehalt dieses Absatzes die Verpflichtung zum Schutz vor dem Missbrauch und vor negativen Effekten wissenschaftlicher Erkenntnisse und ihrer Anwendung beinhalten,1261 zum Schutz vor Einschränkungen anderer Grundrechte und -freiheiten,1262 zur gesetzgeberischen Sicherstellung der Nichtgefährdung durch Dritte bei wissenschaftlicher Tätigkeit1263 und zur ständigen Beobachtung der eventuellen Folgen wissenschaftlicher Arbeit.1264 Vorausgesetzt man teilt diese Einschätzung des Art. 15 Abs. 1 lit. b), so würde die Ausgestaltung dieses Rechts bereits zum größten Teil eine Wissenschaftsfreiheit verhindern. Die Bemühungen der UNESCO diesem Recht einen normativen Gehalt zu geben sind zu begrüßen und letztlich ist ihnen auch zuzustimmen. Art. 15 Abs. 1 lit. b) weist einige Charakteristika auf, die eine immanente Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit bereits bedingen. So ist im Gegensatz zur AEMR nicht nur die Rechtsträgerschaft durch den Wortlaut eindeutiger auch denjenigen zugeordnet worden, die nicht am wissenschaftlichen Fortschritt beteiligt waren. Auch der Begriff Fortschritt blieb im deutschen Wortlaut zwar gleich, im Englischen wurde jedoch „advancement“ durch „progress“ ersetzt. Damit einher geht eine Verschiebung des qualititativen Gehalts von einer linearen Bewegung zu einem Element des Vorteilhaften.1265 Diese Wortlautverschiebung muss sich auch in der Interpretation des Paktes widerspiegeln. Zudem kann in der Systematik des Art. 15 IPwskR auch eine Verteilung der Prioritäten beobachtet werden, wenn in Abs. 1 die eigentlichen Zielsetzungen festgelegt werden, deren unterstützende Maßnahmen in den Absätzen 2 bis 4 formuliert werden. Auch systematisch sind innerhalb des Paktes Argumente für eine Finalisierung der Wissenschaft zu finden, die einer tatsächlichen Freiheit entgegenstehen würden. Art. 11 Abs. 2 lit. a) fordert von den Vertragsstaaten die erforderlichen Maßnahmen ein, die zur Bekämpfung des Hungers not1260
Punkt 12 f) des Venice Statements. Punkt 13 c) des Venice Statements. 1262 Punkt 14 d) des Venice Statements. 1263 Punkt 15 a) und b) des Venice Statements. 1264 Punkt 16 c) des Venice Statements. 1265 S. McLean, The Right to Enjoy the Benefits of Scientific Progress and the Role of Ethics in Report of the Experts Meeting on the Right to Enjoy the Benefits of Scientific Progress and its Applications, Amsterdam, 7.–8. Juni 2007, S. 24; abrufbar unter http://unesdoc.unesco.org/images/0015/001545/154583e.pdf (zuletzt abgerufen am 24.3.2014). 1261
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wendig sind, womit auch wissenschaftliche Untersuchungen verbunden sein sollen. Eine Indienstnahme der Wissenschaft zu Gunsten der Hungernden ist damit eine normativ verankerte Voraussetzung des Paktes, die angesichts seiner in der Präambel formulierten Ziele konsequent ist. Schließlich kann auch praktisch argumentiert werden, wenn man bedenkt, dass die Fähigkeit zur Forschung in ärmeren Konventionsstaaten aufgrund finanzieller und struktureller Defizite weitaus geringer ist.1266 Es muss insofern ein Anliegen sein, die nationalen und internationalen Bemühungen zur Verwirklichung der Ziele des Art. 15 Abs. 1 lit. b) unter den Vorbehalt der bestmöglichen Verteilung der wissenschaftlichen Erkenntnis und dem höchstmöglichen Nutzen für deren Entwicklung zu stellen, wodurch bereits in der Interpretation des Rechts qualitative Elemente identifiziert werden müssen. (3) Ergebnis Insoweit ist der Interpretation des Art. 15 Abs. 1 lit b) durch das Venice Statement hinsichtlich einer Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit durch die Hervorhebung des wissenschaftlichen Nutzens zuzustimmen. Dieser Befund hat jedoch negative Konsequenzen für die rechtliche Verbürgung der Wissenschaftsfreiheit im Völkerrecht. Sie wird nicht als eigenständiges Recht aufgefasst, sondern als Mittel dem Zweck der Teilhabe an den Errungenschaften untergeordnet. Als solches bildet sie einen argumentativen Pol, nicht aber ein vollständiges Grundrecht einer autonomen Wissenschaft im System des IPwskR. Diese Interpretation wird durch die weitere Rolle der Wissenschaftsfreiheit im Völkerrecht zum Teil widerlegt, in der Summe jedoch bestätigt. b) Die Wissenschaftsfreiheit in Verträgen zum common heritage of mankind Eine frühzeitige Befassung mit dem Begriff der Wissenschaftsfreiheit im Völkerrecht boten die verschiedenen Verträge zum common heritage of mankind, also der Anarktisvertrag,1267 das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen (UNCLOS)1268 und der Weltraumvertrag1269 einschließ1266 So bereits die Erkenntnis des pakistanischen Delegierten Chaudhuri bei den Beratungen, United Nations General Assembly, Official Records of the 12th Session, Third Committee, Agenda Item 33, SR. 795, S. 172. 1267 Vom 1.12.1959, 402 UNTS, S. 71; vgl. auch BGBl. 1978 II S. 1517. 1268 Konvention der Vereinten Nationen über das Seerecht vom 10.12.1982, ILM 21 (1982), S. 1261; vgl. auch BGBl. 1994 II S. 1799. 1269 Vertrag über die Grundsätze zur Regelung der Tätigkeiten von Staaten bei der Erforschung und Nutzung des Weltraums einschließlich des Mondes und anderer
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lich des Mondvertrags.1270 Diese sind auf die Bewahrung und Verwaltung derjenigen Gebiete gerichtet, deren Nutzung allen Staaten offen stehen soll.1271 Die Freiheit der Forschung spielt in jenen Verträgen eine prominente Rolle, da deren Sonderbereiche einen besonderen wissenschaftlichen Wert haben, in dessen Genuss alle Staaten kommen sollen um eine optimale Nutzung für die Menschheit zu gewährleisten. Die Freiheitsverbürgung darf jedoch nicht überschätzt werden, wie im Weiteren aufgezeigt wird. Im Weltraumvertrag, im Antarktisvertrag und im Mondvertrag wird an hervorgehobener Stelle die Wissenschaftsfreiheit in den ihnen zu Grunde liegenden Gebieten gewährleistet.1272 Auch im UNCLOS existiert in Teil XIII ein dezidiertes Regime der wissenschaftlichen Forschung, das Recht auf wissenschaftliche Meeresforschung,1273 das exemplarisch herangezogen werden soll. Das Problem jener völkerrechtlichen Verträge ist die Art dieser Gewährleistung. Die Wissenschaftsfreiheit wird nicht abstrakt gewährleistet, sondern nur den Vertragsstaaten beziehungsweise internationalen Organisationen als Adressaten zugesprochen.1274 Die Wissenschaftsfreiheit des UNCLOS gehört insofern zu den Freiheiten der Hohen See,1275 ist aber keine individualrechtliche Verbürgung, sondern ein Recht der Vertragsstaaten und Himmelskörper vom 27.1.1967, 610 UNTS, S. 205, vgl. auch BGBl. 1969 II, S. 1969. 1270 Übereinkommen zu den Aktivitäten der Staaten auf dem Mond und anderen Himmelskörpern vom 5.12.1979, 1363 UNTS, S. 3. 1271 Instruktiv R. Wolfrum, Common Heritage of Mankind, in: Wolfrum, Encyclopedia of Public International Law. 1272 Art. 1 Satz 3 Weltraumvertrag: „Die wissenschaftliche Forschung im Weltraum einschließlich des Mondes und anderer Himmelskörper ist frei; die Staaten erleichtern und fördern die internationale Zusammenarbeit bei dieser Forschung.“ Art. 2 Antarktisvertrag: „Die Freiheit der wissenschaftlichen Forschung in der Antarktis und die Zusammenarbeit zu diesem Zweck, wie sie während des Internationalen Geophysikalischen Jahres gehandhabt wurden, bestehen nach Massgabe dieses Vertrags fort.“ Art. 6 Abs. 1 Mondvertrag: „There shall be freedom of scientific investigation on the moon by all States Parties without discrimination of any kind, on the basis of equality and in accordance with international law.“ (Kein deutscher Originaltext vorhanden). 1273 Vgl. zur Geschichte der Wissenschaftsfreiheit im Seerecht, Gerald Graham, The Freedom of Scientific Research in International Law: Outer Space, the Antarctic and the Oceans. 1274 Art. 238 UNCLOS: „Alle Staaten – ungeachtet ihrer geographischen Lage – und die zuständigen internationalen Organisationen haben das Recht, wissenschaftliche Meeresforschung zu betreiben, vorbehaltlich der in diesem Übereinkommen festgelegten Rechte und Pflichten anderer Staaten.“ Ausführlich dazu T. Treves, Marine Scientific Research, in: Wolfrum, Encyclopedia of Public International Law. 1275 Zu diesen T. Treves, High Seas, in: ibid., Rn. 10 ff.
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internationalen Organisationen1276 auf hoher See Forschung zu betreiben. Sie gehört mithin zu den Grundrechten der Staaten unter der Seerechtskonvention, nicht aber zu den Grundrechten der Menschen. Eine Anwendung der Wissenschaftsfreiheit nach der UNCLOS auch auf Individuen wird zwar mittelbar auch durch die Staaten zu gewährleisten sein.1277 Die primäre Intention der common-heritage-Verträge ist es aber, jedem Staat gleichen Zugang zu diesen Ressourcen zu gewähren, damit die gesamte Menschheit davon profitieren kann. Die Verträge enthalten mithin keine Gewährleistung freier Wissenschaft, sondern die Gewährleistung der optimalen und freien Nutzung gewisser Gebiete, die ihrer Einzigartigkeit geschuldet ist. Die Ableitung einer opinio juris für eine Wissenschaftsfreiheit auf völkerrechtlicher Ebene, zumal als Individualrecht, kann aus diesen Verträgen nicht erfolgen. c) In Dokumenten der UNESCO Bereits der Titel jener Sonderorgansiation der Vereinten Nationen zeigt auf, dass die hier in Frage stehende Wissenschaft die Arbeit der UNESCO beherrscht und so wurde ihr bereits in den Beratungen zu Art. 15 IPwskR die Rolle der Ausarbeitung der verschiedenen Aspekte dieses Artikels zugedacht,1278 die sie durch Verabschiedung verschiedener Resolutionen und Deklarationen auch auszufüllen vermochte. Ihre verschiedenen Dokumente liefern daher ein tatsächliches Bild der grund- und menschenrechtlichen Situation,1279 denen zur Ermittlung des Stellenswert der Wissenschaftsfreiheit gebührende Beachtung zuteil werden muss. aa) Die Empfehlung über den Status des Wissenschaftlers Einen ersten Aufschluss über die Rolle der Wissenschaftsfreiheit in der Interpretation der UNESCO gibt die Empfehlung über den Status des Wis1276
Z. B. die Internationale Meeresbodenbehörde (ISA). Graham, The Freedom of Scientific Research in International Law: Outer Space, the Antarctic and the Oceans, S. 77. 1278 United Nations Commission on Human Rights, Report on the 8th session (E/2256, E/CN.4/669), ECOSOC Records; 14th session, Supp. No. 4, S. 19; vgl. auch Claude, Scientists’ Rights and the Human Right to the Benefits of Science, S. 254. 1279 Nach Pierre-Marie Dupuy haben gerade auch die unverbindlichen Dokumente der UNESCO durch ihren wiederholenden Charakter in verschiedenen Angelegenheiten oftmals zur graduellen Bildung einer opinio juris geführt, P. Dupuy, The Impact of Legal Instruments Adopted by UNESCO on General International Law, in: Yusuf, Normative action in education, science and culture: Standard-setting in UNESCO, S. 351 (355). 1277
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senschaftlers vom 20. November 1974.1280 Diese soll darlegen, welche Maßnahmen die Mitgliedsstaaten ergreifen sollten, um Wissenschaftlern ein optimales Umfeld für ihre Arbeit zu bieten, was Aspekte der Ausbildung, der internationalen Kooperation und der Freizügigkeit von Forschern umfasst.1281 Jene Ausführungen betreffen zu einem großen Teil Inhalte, die auch der grundrechtlichen Verbürgung aus Art. 5 Abs. 3 GG entnommen werden,1282 sind jedoch ohne Rückbezug auf ein internationales Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit formuliert. So wird zwar in der Präambel auf Art. 27 Abs. 1 der AEMR verwiesen, dies jedoch ohne Herausstellung welchen expliziten Gehalt diese – wie oben gezeigt – uneindeutige Formulierung enthält.1283 Vielmehr wird die Wissenschaftsfreiheit zunächst eher zu einem Schlagwort als zu einem Grundrecht erklärt, wenn in Absatz 4 lit. b) akademische Freiheit als „phrase“ bezeichnet wird.1284 Sämtliche Empfehlungen an die Mitgliedsstaaten werden in der Folge konsequenterweise nicht aus einer grundrechtlichen Argumentation abgeleitet. Die Rechtfertigungsargumentation wird vielmehr von Praktikabilitätserwägung für die Staaten geleitet, die aus wissenschaftlicher Erkenntnis ihren Nutzen ziehen sollen.1285 1280 Recommendation on the Status of Scientific Researchers, Records of the UNESCO-General Conference, 18th Session, Paris, 17.–23.11.1974, S. 169 ff. 1281 Siehe oben, S. 303 f. 1282 So empfiehlt die UNESCO in diesem Dokument zweckunabhängige staatliche Förderung (Punkt 5), die Gewährung größtmöglicher Autonomie von Wissenschaftlern (Punkt 8) und wissenschaftliche Gedanken, Meinungs- und Ausdrucksfreiheit (Punkt 14). 1283 Bemerkenswert ist dabei, dass diese 1974 verabschiedete Empfehlung nicht auch auf den bereits 1966 verabschiedeten IPwskR und dessen Art. 15 verweist. Möglicherweise ein Zeichen der fehlenden Klarheit und Interpretationssicherheit des Paktes. 1284 Recommendation on the Status of Scientific Researchers, S. 170: „[Recognizing also] that open communication of the results, hypotheses and opinions – as suggested by the phrase ‚academic freedom‘ – lies at the very heart of the scientific process, and provides the strongest guarantee of accuracy and objectivity of scientific results.“ 1285 Punkt 4 der Empfehlung: „Each Member State should strive to use scientific and technological knowledge for the enhancement of the cultural and material wellbeing of its citizens, and to further the United Nations ideals and objectives. To attain this objective, each Member State should equip itself with the personnel, institutions and mechanisms necessary for developing and putting into practice national science and technology policies aimed at directing scientific research and experimental development efforts to the achievement of national goals while according a sufficient place to science per se. By the policies they adopt in respect of science and technology, by the way in which they use science and technology in policy-making generally, and by their treatment of scientific researchers in particular, Member States should demonstrate that science and technology are not activities to be car-
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Dennoch zeigt die Konstruktion des Punktes 14, dass die UNESCO einen hohen Stellenwert für einen Freiraum der Wissenschaft vorsieht. Sie empfiehlt den Mitgliedsstaaten der Wissenschaft einen Raum der Freiheit der Gedanken, der Themenwahl und der ethischen Reflektion zu gewähren und bezeichnet dies sowohl als Verantwortung wie auch als Recht. Gleichzeitig sieht sie die Staaten in der Pflicht, Abweichungen von diesem Prinzip detailliert zu begründen.1286 Ein völkerrechtlich geltendes Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit formuliert die UNESCO in dieser Empfehlung nicht. Wissenschaftsfreiheit wird vielmehr zunächst als Schlagwort eines Argumentationsmusters verwendet, denn als grundrechtlich abgesicherte Verbürgung eines rechtlichen Freiraums. Für dieses Ergebnis spricht auch der Umstand, dass diese Empfehlung über den internationalen Status der Wissenschaftler neben Forderungen nach Autonomie und Meinungsfreiheit zugleich Einschränkungen wissenschaftlicher Betätigungsfreiheit enthält1287 und somit den Status des Wissenschaftlers gerade nicht als grundrechtliche Freiheitsposition sieht, sondern als Position, die gleichermaßen Freiheiten gewährt wie sie Pflichten auferlegt. Die Freiheitsforderung in Punkt 14 konnte gleichwohl als Tendenz erachtet werden ein Grundrecht zu begründen, wenngleich diese Tendenz keine Fortsetzung fand. bb) Die Erklärung zur Nutzung des wissenschaftlichen und technologischen Fortschritts im Interesse des Friedens und dem Wohl der Menschheit Die im Folgejahr verabschiedete, von der UNESCO initiierte Erklärung der UN-Generalversammlung zur Nutzung des wissenschaftlichen und technologischen Fortschritts im Interesse des Friedens und dem Wohl der Menschheit1288 konnte eine Weiterentwicklung dieser Tendenz nicht bestätigen. Diese Erklärung negiert jegliche Wissenschaftsfreiheit und nennt, ohne korrespondierende Freiheiten, lediglich die Pflichten der Wissenschaft gegenüber der Menschheit, deren Erfüllung die Staaten sicherstellen sollen. Insbesondere wird der Schutz von Grund- und Menschenrechten gegen schädliche Einflüsse der Wissenschaft zur Priorität der Staaten hervorgehoried on in isolation but part of the nations’ integrated effort to set up a society that will be more humane and really just.“ 1286 Punkt 14, letzter Absatz. 1287 Vgl. die Punkte 14 a), c) und d) der Empfehlung. 1288 Declaration on the Use of Scientific and Technological Progress in the Interests of Peace and for the Benefit of Mankind, General Assembly resolution 3384 (XXX) vom 10.11.1975.
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ben,1289 was aufzeigt, dass eine Wissenschaftsfreiheit ihrerseits nicht als solche angesehen wird. Als Erklärung der Generalversammlung verkörpert diese einen umfassenden Staatenkonsens über die Rolle der Wissenschaft, der einer möglichen Interpretation einer Wissenschaftsfreiheit in der Empfehlung über den Status des Wissenschaftlers den Boden entzieht. Eine Zusammenschau der frühen Praxis der Internationalen Organisationen ergibt daher, dass eine Wissenschaftsfreiheit weder existent noch anerkannt war. cc) Die Allgemeine Erklärung über das menschliche Genom und Menschenrechte Eine explizite Erwähnung findet die Wissenschaftsfreiheit hingegen in der Allgemeinen Erklärung über das menschliche Genom und Menschenrechte der UNESCO.1290 Die Entwicklungen der Wissenschaften in Medizin und Biologie veranlassten die UNESCO dazu, den aufkommenden Fragen der menschenrechtlichen Perspektive auf die Sequenzierung und Manipulationsfähigkeit des menschlichen Genoms mit einer unverbindlichen Erklärung zu begegnen.1291 Deren Grundprinzipien wurden bald schon als sich kontinuierlich entwickelnder, universeller Kodex biologischer und medizinischer Forschung in genetischen Angelegenheiten aufgefasst.1292 Art. 12 Abs. 2 der Erklärung formuliert ausdrücklich eine Wissenschaftsfreiheit, die als Bestandteil der Gedankenfreiheit aufgefasst werden soll. Sie wurde insofern nicht mehr als bloßer Bezugspunkt politischer Argumentation, sondern als grundrechtliche Verbürgung einer Freiheit aufgefasst, was gegenüber den vorherigen Dokumenten ein Novum war. Damit sollte auch der – damals wie heute aktuellen – gesellschaftlichen Debatte über medizinischen Fortschritt durch wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn gegenüber dem Schutz menschlicher Identität und Integrität im menschenrechtlichen Diskurs ein argumentativer Bezugspunkt gegeben werden.1293 Der freiheit1289
Vgl. die Punkte 1 und 2 sowie 6 bis 9 der Erklärung. Universal Declaration on the Human Genome and Human Rights vom 11.11.1997, Records of the General Conference, 29th Session, Paris, 21.10.–12.11. 1997, Vol. 1, S. 41, vgl. bereits oben, S. 307 ff. 1291 Die Erklärung fand auch eine Bekräftigung durch die Generalversammlung der UN durch die Resolution AIRES/53/152 vom 9.12.1998. 1292 P.-M. Dupuy, The Impact of Legal Instruments Adopted by UNESCO on General International Law, in: Yusuf, Normative action in education, science and culture: Standard-setting in UNESCO, S. 356. 1293 Vgl. den letzten Absatz der Präambel der Erklärung: „Recognizing that research on the human genome and the resulting applications open up vast prospects for progress in improving the health of individuals and of humankind as a whole, but emphasizing that such research should fully respect human dignity, freedom and 1290
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liche Gehalt sollte jedoch relativ enge Grenzen finden, als der darauf folgende Artikel 13 die ethischen und sozialen Implikationen der Wissenschaft, wie auch die Regeln des Ethos epistemischer Rationalität zur inhärenten Verantwortlichkeit wissenschaftlicher Tätigkeit erklärte.1294 Nach Auffassung der UNESCO ist die Wissenschaftsfreiheit mit anderen Worten bereits in ihrem Gewährleistungsbereich wissenschaftlicher Arbeit ethischen Grenzen unterworfen, die eine Schutzbedürftigkeit ausschließen könnte.1295 dd) Die Internationale Erklärung über humangenetische Daten Die Publikationstätigkeit der UNESCO setzte sich fort in der Internationalen Erklärung über humangenetische Daten, die im Jahre 2003 als Resolution der Generalkonferenz verabschiedet wurde.1296 In Art. 1 lit. a) wurde die Wissenschaftsfreiheit, freilich nur als Bestandteil der Gedanken- und Meinungsfreiheit, als grundrechtliche Position der Menschenwürde und den anderen Grund- und Menschenrechten gegenübergestellt und so deren normative Stellung als Grundrecht einmal mehr verankert. So ist auch diese Erklärung darauf ausgerichtet, entsprechend der grundrechtlichen Stellung der Wissenschaftsfreiheit, als einzig zulässige Zwecke der Sammlung genetischer Daten Medizin und Wissenschaft anzuerkennen, vor allem die wissenschaftliche Datensammlung jedoch strengen Auflagen zu unterwerfen, um die Rechte der Datenspender zu wahren.1297 Die Erklärung unterliegt mithin dem klassischen Argumentationstopos des grundrechtlichen Spannungsfelds zwischen Wissenschaftsfreiheit und Patientenrechten, der auch die grundgesetzliche Ordnung beherrscht. Dies kann als Bestätigung einer grundrechtlichen Stellung der Wissenschaftsfreiheit gesehen werden.
human rights, as well as the prohibition of all forms of discrimination based on genetic characteristics.“ 1294 Art. 13 Satz 1 der Erklärung in englischer Originalfassung: „The responsibilities inherent in the activities of researchers, including meticulousness, caution, intellectual honesty and integrity in carrying out their research as well as in the presentation and utilization of their findings, should be the subject of particular attention in the framework of research on the human genome, because of its ethical and social implications.“ 1295 Ebenso Claude, Scientists’ Rights and the Human Right to the Benefits of Science, S. 261. 1296 International Declaration on Human Genetic Data vom 16. Oktber 2003, Records of the UNESCO-General Conference, 32nd Session, Paris, 29.9.–17.10.2003, S. 39 ff. 1297 Des Weiteren lässt sich eine Privilegierung der Wissenschaft an den Artikeln 14 lit d) und 17 lit a) ablesen.
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ee) Die Allgemeine Erklärung über Bioethik und Menschenrechte Als Schema für die Lösung sämtlicher ethischer Konflikte in Medizin, Lebenswissenschaften und den zugehörigen Technologien sollte zusammenfassend und aufbauend auf den vorherigen Dokumenten die AEBM1298 diejenigen generellen Prinzipien aufstellen, die die nationalen Politiken der Mitgliedsstaaten leiten sollten.1299 Als abstrakte Erklärung über die Interaktion zwischen Wissenschaft und Menschenrechten konnte eine Klärung des Status der Wissenschaftsfreiheit erwartet werden, bezüglich eines internationalen Grundrechts stellte sie jedoch einen Rückschritt dar. Soweit zuvor noch explizit eine Verbindung der Wissenschaftsfreiheit mit den Menschenrechten der Gedanken- und Meinungsfreiheit gesehen wurde, ergeben die Formulierungen der Ziele der Erklärung ein abgeschwächtes Bild. Artikel 2 der Erklärung nennt unter Buchstabe c) die Förderung der Achtung der Menschenwürde sowie der Grund- und Menschenrechte, durch Buchstabe d) wird die Wissenschaftsfreiheit aus diesem Kanon jedoch ausgenommen. Man könnte zwar annehmen, dass insofern ein Kontrapunkt zwischen Grund- und Menschenrechten und Wissenschaftsfreiheit gesetzt werden sollte, der dieses Spannungsfeld nachzeichnen sollte. Die Formulierungen zeigen jedoch einen klaren, strukturellen Unterschied auf. Während die Grund- und Menschenrechte zu achten und zu schützen sind („to promote respect for human dignity and protect human rights [. . .]“), soll für die Wissenschaftsfreiheit lediglich deren Wichtigkeit anerkannt werden („to recognize the inportance of freedom of scientific research [. . .]“). Damit ist der Wissenschaftsfreiheit wiederum im Wortlaut lediglich ein zu beachtendes ethisches Prinzip, nicht aber ein geschütztes Recht zugeordnet. Dem entspricht auch der Zusatz in Artikel 2 lit. d), dass Forschung nur innerhalb der ethischen Prinzipien dieser Erklärung stattfinden soll. Dieser Befund wird zudem dadurch untermauert, dass die Wissenschaftsfreiheit in der Präambel der Erklärung durch ihre Zwecke gerechtfertigt werden musste. Ein Grundrecht muss dies grundsätzlich nicht, nur ein argumentatives Element ohne rechtliche Fundierung bedarf einer solchen Klärung. Eine derartige Kategorisierung muss keine negativen Konsequenzen für die Beachtung der Wissenschaftsfreiheit in diesen UNESCO-Dokumenten haben. Die Miteinbeziehung der Wissenschaftsfreiheit in die Abwägungsprozesse zwischen individuellem Menschenrechtsschutz und wissenschaft1298
Universal Declaration on Bioethics and Human Rights vom 19. Oktober 2005, Records of the UNESCO-General Conference, 33rd Session, Paris, 3.–21. Oktober 2005, S. 74 ff.; vgl. zu dieser Erklärung bereits ausführlich zuvor, S. 313 ff. 1299 Vgl. Art. 1 und Art. 2 lit. a) der Erklärung.
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lichem Fortschritt kann in gleichem Maße gewährleistet sein durch die Annahme als ethisches Prinzip wie als Grundrecht. Alleine die dogmatische Natur der Wissenschaftsfreiheit sollte an dieser Stelle behandelt werden und diese ist aufgrund der Formulierungen durch diese Erklärung nicht als Grundrecht im Sinne der internationalen Grund- und Menschenrechtsschutz zu sehen. ff) Ergebnis Obgleich der UNESCO eine Schlüsselrolle bei der Ermittlung der Wissenschaftsfreiheit und ihrer Gehalte zugedacht war, konnte sie diese in grundrechtsdogmatischer Sicht nicht erfüllen. Ihre Dokumente in Form von Erklärungen und ihr Einfluss auf die Vereinten Nationen haben nicht dazu geführt, dass den Verbürgungen des Art. 27 der AEMR und des Art. 15 IPwskR eine dogmatisch konturenscharfe Wissenschaftsfreiheit entnommen werden konnte, die mit dem grundgesetzlichen oder dem Charta-Grundrecht vergleichbar wäre. Vielmehr wurde eine solche in den 1970er Jahren noch völlig negiert. Auch die jüngeren Entwicklungen von Medizin und Lebenswissenschaften führten jedoch nicht zu einer Anerkennung eines Grundrechts. Zwar deuten die neueren Dokumente darauf hin, dass die Wissenschaftsfreiheit als „ethisches“ oder auch rein argumentatives Prinzip in deren Abfassung einbezogen wurde und dabei die selben Abwägungsprozesse und Argumentationstopoi verwendet werden mussten, wie es auch im grundrechtsdominierten deutschen und europäischen Recht der Fall war. Die Exegese des Wortlauts lässt jedoch keine Rückschlüsse darauf zu, dass die UNESCO die Wissenschaftsfreiheit als originäres Grundrecht aus den Menschenrechtsverbürgungen ableitet. Sie begreift sie in ihrer dienenden Funktion gegenüber der Gesellschaft und lädt das Prinzip der Wissenschaftsfreiheit folgerichtig stets mit ethischer Verantwortung gegenüber den Nutznießern der freien Wissenschaft, dem Einzelnen und der Gesellschaft, auf. d) Die UN-Universität und ihre Charta als Ausdruck einer völkerrechtlichen Wissenschaftsfreiheit Einen Hinweis auf eine international anerkannte Wissenschaftsfreiheit liefert die Charta der Universität der Vereinten Nationen (UNU).1300 Diese Weltuniversität wurde bereits 1949 angedacht, erst durch die Wiederaufnahme der Pläne durch den damaligen UN-Generalsekretät Sithu U Thant 1300 Verabschiedet von der UN-Generalversammlung am 6. Dezember 1973 als Resolution 3081 (XXVIII), UN Dok. A/9149/Add.2.
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wurden die Pläne jedoch 1969 konkretisiert und 1974 konnte die Universität in Tokio in Betrieb genommen werden.1301 Artikel 2 der Charta der UNU gewährleistet der Universität größtmögliche Autonomie im Rechtsrahmen der Vereinten Nationen, sowohl was die Auswahl der Forschungsziele und -methoden angeht, als auch die personelle und finanzielle Planung. Unter dem Stichwort akademische Freiheit1302 wird ihr somit im Sinne akademischer Selbstverwaltung derselbe Status wie deutschen Universitäten zugesprochen. Ausgehend von den Überlegungen zum Grundrecht der Universitäten im deutschen Recht könnte man auch durch diese Verbürgung an eine Grundlegung der Wissenschaftsfreiheit im Recht der Vereinten Nationen denken. Dieser Artikel kann insofern durchaus als Indiz für die Ausprägung einer opinio juris über den Status von Universitäten durch die Vereinten Nationen auf internationaler Ebene verstanden werden. Die alleinige Gewährung von Hochschulautonomie sollte dabei jedoch mit Blick auf die vielseitigen Ausprägungen der Wissenschaftsfreiheit nicht überbewertet werden. e) Die Wissenschaftsfreiheit in regionalen Menschenrechtsverträgen Zur Identifizierung der Staatenpraxis sollen schließlich auch die regionalen Menschenrechtsverträge untersucht werden, die aufgrund ihrer Durchsetzungsmechansimen oftmals den effektivsten Schutz der Grund- und Menschenrechte bieten und eine herausragende Rolle bei der Förderung dieser Rechte auf der Welt einnehmen. aa) Die Europäische Menschenrechtskonvention Die Europäische Menschenrechtskonvention kennt, wie bereits dargestellt, ein prätorisches Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit, das aus Art. 10 EMRK abgeleitet wird, in der bisherigen Rechtsprechung des EGMR aber lediglich die kommunikative Seite der Wissenschaftsfreiheit schützt.1303 Erst eine mögliche Interpretation zusammen mit Art. 9 EMRK, 1301 Zur Geschichte und Struktur der Universität, vgl. D. Hodgson, United Nations University (UNU), in: Wolfrum, Encyclopedia of Public International Law. 1302 Engl. Originaltext Art. 2 Abs. 1 der Charta: „The University shall enjoy autonomy within the framework of the United Nations. It shall also enjoy the academic freedom required for the achievement of its objectives, with particular reference to the choice of subjects and methods of research and training, the selection of persons and institutions to share in its tasks, and freedom of expression. The University shall decide freely on the use of the financial resources allocated for the execution of its functions.“ 1303 Vgl. ausführlich dazu oben S. 191 ff.
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der Gedankenfreiheit, könnte einen weitergehenden Schutz im Sinne einer libertas philosphandi begründen, für eine solche Ansicht fehlt es bislang jedoch noch an Äußerungen des EGMR. Auffallend ist jedoch auch bei der EMRK, dass eine normative Verankerung der Wissenschaftsfreiheit im ursprünglichen Konventionstext nicht existiert. Trotz dieser Schwäche der fehlenden Verankerung hat sie jedoch ihren Niederschlag im Übereinkommen des Europarates zum Schutz der Menschenrechte und der Menschenwürde im Hinblick auf die Anwendung von Biologie und Medizin gefunden.1304 Wenngleich dieses Übereinkommen alleine dem Schutz der Mernschenwürde und der Identität des Menschen dienen sollte, was Art. 2 des Übereinkommens1305 verdeutlicht, wird in Art. 15 des Übereinkommens als „allgemeine Regel“ die Wissenschaftsfreiheit postuliert. Jene Regel ist jedoch bereits im Wortlaut relativ formuliert, als wissenschaftliche Forschung nur solange frei sein soll, wie sie nicht dieser Konvention und sonstigen Rechtsvorschriften zum Schutz des menschlichen Lebens zuwiderläuft. Es kann insofern zwar der Konsens der Parteien des Europarates erkannt werden, die Freiheit der Forschung als Grundsatz der Menschenrechtsordnung anzuerkennen,1306 das Fehlen einer absoluten Formulierung ist jedoch auch als Indiz zu werten, dass dieser Konsens nicht sehr weit geht. bb) Die Amerikanische Menschenrechtskonvention Der Amerikanischen Menschenrechtskonvention (AMRK)1307 kann ein individuelles Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit zunächst nicht entnommen werden. Die Wissenschaft ist normativ darin verankert durch den Auftrag des Art. 26, durch progressive Maßnahmen diejenigen Rechte zu verwirklichen, die durch die wirtschaftlichen, sozialen, erzieherischen, wissenschaftlichen und kulturellen Standards der Charta der Organisation Amerikanischer Staaten festgelegt werden. Zwar betreffen jene Standards lediglich Aufträge zur Förderung des kulturellen und wissenschaftlichen Bereichs, insbesondere zur Kooperation der Staaten und zum Austausch zwischen ihnen,1308 weshalb der Normtext ein Freiheitsrecht nicht erkennen 1304 Auch: Überinkommen über Menschenrechte und Biomedizin oder OviedoKonvention vom 4. April 1997, Oviedo, CETS 164. 1305 Article 2 „Primacy of the human being: The interests and welfare of the human being shall prevail over the sole interest of society or science.“ 1306 Vgl. auch Marion Albers, Die rechtlichen Standards der Biomedizin-Konvention des Europarats, Europarecht 2002, 801 (823). 1307 Verabschiedet auf der Inter-American Specialized Conference on Human Rights, San José, Costa Rica, am 22. November 1969.
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lässt. Durch Art. 26 AMRK wird jedoch generell die Verpflichtung der Mitgliedsstaaten gesehen, die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen (im Folgenden: wsk) Rechte zu fördern und neuerdings hat der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte (IAGMR) auch dessen konkrete und praktische Anwendbarkeit anerkannt.1309 Vor allem die Präambel der AMRK wird herangezogen, um die Bedeutung der wsk-Rechte für die Freiheit der Menschen zu begründen,1310 sie dient aber auch zur dogmatischen Begründung dieser Rechte. Durch die Präambel wird eine enge Verbindung zwischen den Rechten des Art. 26 und den bürgerlichen und politischen Rechten hergestellt, die auch bei deren Verwirklichung nutzbar gemacht wird, indem durch die letztgenannten Rechte die Ersteren zwar indirekt, aber effizient umgesetzt werden sollen.1311 Die wsk-Rechte wurden 1988 noch einmal normativ gestärkt, indem das Zusatzprotokoll von San Salvador von den Vertragsstaaten der AMRK verabschiedet wurde. Unter anderem beinhaltet dieses einen Artikel zur Wissenschaft, der jedoch wortgleich vom IPwskR übernommen wurde. Bezüglich dieses Artikels wurden die Schwierigkeiten des Verhältnisses der Absätze untereinander bereits thematisiert. Diese Befunde und Bedenken gelten insofern gleichermaßen für den Art. 15 dieses Zusatzprotokolls. Obgleich also eine Befassung des IAGMR mit der Wissenschaftsfreiheit noch aussteht und in näherer Zukunft auch nicht absehbar ist,1312 kann man davon ausgehen, dass der Gerichtshof ähnlich dem EGMR eine Wissenschaftsfreiheit aus der Gedanken- und Meinungsfreiheit aus Art. 13 AMRK ableiten könnte, zumal sich der IAGMR stark an der Rechsprechung des EGMR orientiert.1313 Eine Wissenschaftsfreiheit ist zumindest systematisch 1308 Vgl. Art. 30, 31 und 38 der Charta der Organisation Amerikanischer Staaten vom 30. April 1948, verabschiedet auf der Ninth International Conference of American States in Bogotá, Kolumbien. 1309 Vgl. IACHR vom 1. Juli 2009, Acevedo Buendía v Peru, C-198. 1310 Vgl. Absatz 4 der Präambel der AMRK: „Reiterating that, in accordance with the Universal Declaration of Human Rights, the ideal of free men enjoying freedom from fear and want can be achieved only if conditions are created whereby everyone may enjoy his economic, social, and cultural rights, as well as his civil and political rights.“ 1311 L. Burgorgue-Larsen, Economic and Social Rights, in: Laurence BurgorgueLarsen/Amaya Úbeda de Torres (Hrsg.), The Inter-American Court of Human Rights: Case Law and Commentary, Rn. 24.06; ebenso Thomas Buergenthal/Dinah Shelton, Protecting Human Rights in the Americas: Cases and Materials, S. 419 f. 1312 Das interamerikanische Menschenrechtssystem steckt aufgrund der politischen Vergangenheit und Realität Süd- und Mittelamerikas noch in gewichtigen Menschenrechtsproblemen, die dringendere Fragen der bürgerlichen und sozialen Rechte aufwerfen, als die der kulturellen Rechte. Aktuell sind keine Verfahren vor dem IAGMR die Wissenschaft betreffend anhängig (Stand August 2011).
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und als programmatischer Auftrag im Normtext der AMRK angelegt. Die Implementierung des Art. 15 im Zusatzprotokoll von Salvador stellt dies jedoch in Frage, eine umfassende, autonomiesichernde Wissenschaftsfreiheit kann daher ebenso wie beim IPwskR für das Regime der AMRK nicht eindeutig identifiziert werden. cc) Die Afrikanische Charta der Menschenrechte und der Rechte der Völker Demgegenüber weist ein neuerer regionaler Menschenrechtsvertrag keinerlei Bezüge zur Wissenschaft auf. Die Afrikanische Charta der Menschenrechte und der Rechte der Völker1314 ist der einzige völkerrechtliche Vertrag, der die sogenannten Menschenrechte der ersten Generation, also die bürgerlichen und politischen Rechte, und der zweiten Generation, also die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte, in einem Dokument gleichwertig vereint.1315 Dabei verbürgt die Charta durch die Art. 17 und 22 zwar das Recht des Einzelnen auf Teilnahme am kulturellen Leben und zur kulturellen Entwicklung. Ein expliziter Bezug zur Wissenschaft fehlt im Gegensatz zum IPwskR und der AMRK jedoch. Wenngleich auch in der EMRK eine Wissenschaftsfreiheit erst durch die kommunikativen Grundrechte abgeleitet wurde, fehlt der Afrikanischen Charta bislang noch eine ausreichende Rechtsprechung um Rückschlüsse auf parallele Entwicklungen ziehen zu können.1316 Eine Wissenschaftsfreiheit lässt sich der Afrikanischen Charta insofern bislang nicht entnehmen. f) Fazit Die Wissenschaftsfreiheit spielt im internationalen Grund- und Menschenrechtsschutz bislang keine oder nur eine untergeordnete Rolle. Die Vielfältigkeit der Probleme denen internationale Organisationen und Menschenrechtskörperschaften gegenüberstehen, hat dringendere Rechte wie das Recht auf Gesundheit, auf Bildung, auf Minderheitenschutz und gegen Fol1313 Vgl. zuletzt wieder die Entscheidung des IAGMR Acevedo Buendía v Peru, C-198, Rn. 101 bezüglich der wsk-Rechte. 1314 African Charter on Human and Peoples’ Rights (verabschiedet am 27. Juni 1981 in Banjul, in Kraft getreten am 21. Oktober 1986), 1520 UNTS 217. 1315 F. Ouguergouz, African Charter on Human and Peoples’ Rights (1981), in: Wolfrum, Encyclopedia of Public International Law, Rn. 14. 1316 Der Afrikanische Gerichtshof für Menschenrechte, mit Sitz in Arusha, Tansania, nahm erst im Jahre 2006 seine Arbeit auf und soll momentan zu einem Afrikanischen Gerichtshof fusioniert werden. Die Funktionsfähigkeit dieses Gerichts muss sich daher erst noch erweisen.
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ter mehr in den Fokus der internationalen Aufmerksamkeit gerückt, als kulturelle Belange wie die Wissenschaft. Erst ein zunehmender Einfluss der Wissenschaft auf die gesellschaftlichen Debatten, wie auch auf die Zukunftsfähigkeit der Weltbevölkerung, was Ernährung, Klima- und Umweltschutz sowie Medizin betrifft, regte die Befassung mit der Wissenschaft wieder an. Die Dringlichkeit globale Probleme zu lösen, führte jedoch lediglich zu einer Ausprägung der Wissenschaftsfreiheit als ethisches oder argumentatives Prinzip, nicht als grundrechtlich anerkannten Rechtssatz.1317 Insbesondere die Interpretationen zu Art. 15 IPwskR haben gezeigt, dass die Hauptaufgabe der Wissenschaft in der Bewältigung von Problemen gesehen wird, die eine Finalisierung rechtfertigt und bewirkt. Die Wissenschaftsverbürgungen dieses Paktes stellen also weniger eine Freiheitsverbürgung des einzelnen Forschers oder der scientific community, als ein Teilhaberecht dar, das eher als Beschränkung wissenschaftlicher Tätigkeit, denn als Gewährleistung eines Freiheitsbereichs zu qualifizieren ist. Zu dieser Erkenntnis verhelfen auch die Äußerungen der zuständigen Sonderorganisation der Vereinten Nationen, der UNESCO, die ebenfalls eine Inpflichtnahme der Wissenschaft als geboten erachtet. Sowohl aus den regionalen Menschenrechtsverträgen, wie auch teilweise aus den Erklärungen der UNESCO lässt sich jedoch die Erkenntnis ableiten, dass die Wissenschaft in ihrer Tätigkeit nicht völlig schutzlos ist. Die bürgerlichen und politischen Rechte wie sie im IPbpR und zahlreichen anderen Konventionen festgehalten sind, garantieren Elemente der wissenschaftlichen Tätigkeit, wie die Gedanken-, Meinungs- und Meinungsäußerungsfreiheit. Als individuelle Freiheitsrechte schützen diese jedoch jedermann, die Privilegierung der Wissenschaft als autonomes Subsystem geht in den Gemeinschaftsinteressen der wsk-Rechte auf und untersteht insoweit keinem gesteigerten Schutz, der eine Autonomie der Wissenschaft begründen würde. Zudem ist festzustellen, dass gerade die Wissenschaft im völkerrechtlichen Diskurs immer wieder Forderungen unterworfen ist, ihre Tätigkeit an ethischen Maßstäben zu messen. Die besondere Verantwortung, die der Wissenschaft bei der Bewältigung globaler Probleme zugedacht ist, soll demnach eine immanente, möglicherweise gesteigerte Berufsmoral generieren,1318 die als Forderung bereits in den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten angelegt sein soll. Es ist jedoch das Fehlen einer grundrechtlich abgesicherten Autonomie, die eine ethische Verantwortung der 1317
A. A. aufgrund sehr optimistischer Deutungen der internationalen Referenzpunkte Ruffert/Steinecke, The Global Administrative Law of Science, S. 52 f. 1318 Vgl. Claude, Scientists’ Rights and the Human Right to the Benefits of Science, S. 261.
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Wissenschaft als Produkt ihrer Berufsmoral verhindern müsste. Die Autonomie ist zugleich Funktionsbedingung einer effizienten Wissenschaft, derer es bedarf um an den Errungenschaften des wissenschaftlichen Fortschritts und seiner Anwendung zum Nutzen aller teilzuhaben.1319 Es ist aber auch Anreiz für die Wahrnehmung eines Ethos wissenschaftlicher Verantwortung,1320 das durch universelle Normen in globalen Ethikkodizes angeleitet werden könnte. Fällt die grundrechtliche Sicherung der Autonomie der Wissenschaft jedoch weg, ist gleichermaßen die Effizienz der Wissenschaft gefährdet wie auch die eigenverantwortliche Wahrnehmung von Verantwortung im berufsethischen Sinne, womit die Versuche der Implementierung von Ethikkodizes konterkariert würden. In diesem Sinne sind die Bemühungen der UNESCO zu verstehen, die Freiheit der Wissenschaft in ihren Dokumenten prominent hervorzuheben. Die gleichzeitige Kritik muss dann jedoch lauten, dass trotz der Wahl eines menschenrechtlichen Ansatzes zur Implementierung ihrer Allgemeinen Erklärungen die Wissenschaftsfreiheit in ihrer normativen Qualität, ebenso als Menschenrecht, nicht sorgfältiger gestärkt oder betont wurde, ihr Status mithin weiter zweifelhaft bleibt. Konsequenz für die Abfassung globaler Ethikkodizes ist eine Freiheit der Staatengemeinschaft in der Regulierung der Wissenschaft, solange kein eindeutig zu identifizierender Rechtssatz einer Wissenschaftsfreiheit existiert. Sie sind menschen- oder grundrechtlich nicht durch einen zu gewährenden Bereich wissenschaftlicher Autonomie gebunden, der jeweilige Eingriffe rechtfertigungsbedürftig erscheinen ließe. Diese fehlende Autonomie bedeutet im internationalen Kontext aber gleichzeitig, dass für die Wissenschaftsgemeinde kein gesteigerter Anreiz besteht, ihre ethischen Maxime einem Verantwortungsethos zu unterwerfen, das durch Ethikkodizes gestützt oder gesteuert werden müsste. Das Fehlen verbindlicher Steuerungsinstrumente ist daher keine grundrechtliche Notwendigkeit, sondern pessimisitisch betrachtet die mangelnde Konsensfähigkeit jener Frage unter den Staaten, optimistisch betrachtet die Anerkenntnis, dass unverbindliche Steuerung die autonome ethische Steuerung der Wissenschaft begünstigt und auch notwendig sein könnte. Dennoch ist es das Fehlen einer grundrechtlichen Schranke der Wissenschaftsfreiheit, die eine ethische Steuerung auf globaler Ebene von Seiten der Staaten ineffizient und kontraproduktiv macht. 6. Das Legitimationsdilemma internationaler Normen Internationale Normen weichen von nationalen Normen in einem entscheidenden Punkt ab. Vor allem die traditionellen Rechtsquellen des Völ1319 1320
So das Teilhaberecht des Art. 15 Abs. 1 lit. b) des IPwskR. Vgl. dazu oben, S. 176.
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kerrechts, wie sie Art. 38 des IGH-Statuts beschreibt, sind in der Regel nicht im eigentlichen Sinne demokratisch legitimiert,1321 sondern herkömmlicherweise konsensual durch die Staatengemeinschaft.1322 Diese Form der Normsetzung stellt keine Unterform der Demokratie dar, sondern eher ihr Gegenteil.1323 Konsensuale Entscheidungsnotwendigkeit bedeutet, dass innerhalb des relevanten demos, also der Staatengemeinschaft, die Mehrheit keine Autorität hat, die Individuen der Minderheit gegen ihren Willen zu binden.1324 Darüber hinaus müssen internationale Normen stets mit dem vermeintlichen Mangel leben, nicht von einer zwangsbefugten Exekutive durchgesetzt zu werden, sondern andere Formen ihrer Einhaltung zu erreichen, was diese zum idealen Versuchsfeld zur isolierten Erarbeitung der Legitimationselemente von Normen befördert hat.1325 Seit sich die völkerrechtliche Literatur dieser Thematik angenommen hat,1326 führte dies zu einer kontroversen Diskussion, deren Ergebnisse weiterhin zum Teil weit auseinander liegen. a) Allgemeines Im allgemeinen Sprachgebrauch geht es beim Begriff Legitimation stets um die Feststellung einer Übereinstimmung mit bestimmten, kontextspezi1321 Zur demokratischen Legitimation im Nationalstaat umfassend Vöneky, Recht, Moral und Ethik, S. 130 ff. 1322 J. Brunnée, Consent, in: Wolfrum, Encyclopedia of Public International Law, Rn. 3; S. Besson, Theorizing the Sources of International Law, in: Besson/Tasioulas, The Philosophy of International Law, S. 163 (175); Matthias Goldmann, We Need to Cut Off the Head of the King: Past, Present, and Future Approaches to International Soft Law, SSRN: http://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_ id=1885085 2011, S. 5 f. 1323 Joseph H. H. Weiler, The Geology of International Law – Governance, Democracy and Legitimacy, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 2004, S. 547 (548); zustimmend A. Pellet, Legislative and Executive Actions of International Institutions, in: Rüdiger Wolfrum (Hrsg.) Legitimacy in International Law, S. 63 (66). 1324 Weiler, The Geology of International Law – Governance, Democracy and Legitimacy, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 2004, S. 547 (548). 1325 Thomas M. Franck, The Power of Legitimacy among Nations, S. 20. 1326 Die Literatur ist aufgrund ihrer Fülle nicht mehr gänzlich darzustellen. An dieser Stelle sei daher nur verwiesen auf Armin von Bogdandy, Globalization and Europe: How to Square Democracy, Globalization, and International Law, European Journal of International Law 2004; Mattias Kumm, The Legitimacy of International Law: A Constitutionalist Framework of Analysis, ibid.; Weiler, The Geology of International Law – Governance, Democracy and Legitimacy, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 2004, S. 547 ff.; Wolfrum, Legitimacy in International Law; die Beiträge von A. Buchanan und J. Tasioulas, in: Besson/ Tasioulas, The Philosophy of International Law, S. 79 ff. und 97 ff.
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fischen Standards, aus der sich handlungsrelevante Konsequenzen ergeben.1327 Im Bereich der internationalen Normsetzung ging es zunächst darum herauszufinden, welche kontextspezifischen Standards überhaupt gefragt sein dürfen und ob tatsächlich handlungsrelevante Konsequenzen die Folge sein können. Denn zunächst war die Einhaltung der völkerrechtlichen Normen oftmals eine empirisch feststellbare Tatsache, deren Hinterfragung in der Folge nicht notwendig erschien.1328 Vor allem jedoch die Entwicklung der vertraglichen, bilateralen Epoche in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts über die multilateralen Vertragswerke der Nachkriegszeit und die konstitutionalistischen Verträge der 1960er und 1970er Jahre bis hin zu einem modernen regulatorischen oder Governance-Ansatz im Völkerrecht haben die Fragen der Rechtfertigung von Normen auch im internationalen Bereich immer stärker in den Vordergrund rücken lassen.1329 Diese wissenschaftlichen Untersuchungen sind zunächst auf die allgemeinen verbindlichen Quellen des Völkerrechts bezogen worden, da auch der Legitimationsbegriff zunächst lediglich zur Begründung von Herrschaftsmacht benötigt wurde, also zur Kompetenz verbindliche Entscheidungen zu treffen und verbindliche Normen zu setzen.1330 Insofern mag die Befassung mit jenem Thema im Kontext unverbindlicher Steuerungsformen befremdlich erscheinen. Für die hier behandelten unverbindlichen Steuerungsformen im formalen Sinne ist dies jedoch notwendig: Diese sollen dennoch einen normativen Effekt haben und insofern Steuerungswirkungen entfalten, was die Frage aufwirft, welche spezifischen Standards die Konsequenz der Normativität bedingen.1331 Hat man jene Frage beantworten können, so lautet die weiterführende und daraus abzuleitende Frage, welche Faktoren die Normativität noch erhöhen können und somit die Einhaltung auch von unverbindlichen Steuerungsformen verbessern können.1332 Im Ergebnis könnten legitimie1327 W. Hinsch, Legitimität, in: Gosepath/Hinsch/Rössler, Handbuch der politischen Philosophie und Sozialphilosophie, S. 705. 1328 Vgl. das anschauliche Beispiel von Franck der nicht von den USA unterbundenen Raketenlieferung an den Iran, Franck, The Power of Legitimacy among Nations, S. 3 f. 1329 Weiler, The Geology of International Law – Governance, Democracy and Legitimacy, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 2004, S. 549 ff. 1330 R. Wolfrum, Legitimacy of International Law from a Legal Perspective: Some Introductory Considerations, in: Wolfrum, Legitimacy in International Law, S. 6. 1331 Dazu auch Armin von Bogdandy, Lawmaking by International Organizations. Some Thoughts on Non-Binding Instruments and Democratic Legitimacy, in: Rüdiger Wolfrum/Volker Röben (Hrsg.), Developments of international law in treaty making, S. 173: „Any exercise of public power faces questions of legitimacy, even if it is exercised through non-binding instruments.“ 1332 So bereits Franck, The Power of Legitimacy among Nations, S. 24: „ Legitimacy is a property of a rule [. . .] which itself exerts a pull toward compliance on
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rende, inhaltsunabhängige Gründe die Normativität und Einhaltung von Kodizes erhöhen und damit das Fehlen der Verbindlichkeit oder eines Zwangselements kompensiert werden.1333 b) Herausforderungen der Legitimationskonzeptionen durch das moderne Völkerrecht Um die Kriterien der Normativität ermitteln zu können, sollen für die vorliegende Untersuchung die empirisch-deskripitiven Legitimationskonzeptionen, denen sich die Soziologie zur Erklärung der Befolgung von Normen verschrieben hat, außen vor gelassen werden.1334 Lediglich die normativethischen Legitimationskonzeptionen sind zur überpositiven Rechtfertigung staatlicher Herrschaft oder gesellschaftlicher Ordnungsstrukturen relevant.1335 Im internationalen Kontext kann staatliche Herrschaft aber keine Rechtfertigungsobjekt darstellen, es ist vielmehr eine Ordnung zu untersuchen, deren Beteiligte gleichberechtigte Träger von Souveränitätsrechten sind und sich daher keiner höheren Autorität unterwerfen. Darin liegt auch die Schwierigkeit begründet, die nationalstaatlichen Matrizen demokratischer Legitimation auf den internationalen Kontext zu übertragen, denn dieser ist aufgrund der Souveränitätsdoktrin1336 zumindest theoretisch immun gegen Mehrheitsentscheidungen. Letzterer Befund gilt vor allem für die klassischen Quellen des Völkerrechts, also Vertragsrecht, Gewohnheitsrecht und allgemeine Rechtsgrundsätze, nicht aber für moderne Governance-Formen wie soft law-Instrumente. So gelten als typische Formen dieses Phänomens die Empfehlungen und Erklärungen der Generalversammlung der Vereinten Nationen, die jedoch gemäß Art. 18 der UN-Charta in wichtigen Fragen mit Zweidrittelmehrheit beschlossen werden, normalerweise aber nur mit einfacher Mehrheit. Gleiches gilt für die Steuerungsformen der UNESCO, die für diese Untersuchung besonders relevant sind. Deren Generalkonferenz kann nach Art. IV Abs. 4 der UNESCO-Verfassung Empfehlungen mit einfacher Mehrheit und Übereinkünfte mit Zweidrittelmehrheit those addressed normatively because those addressed believe that the rule [. . .] has come into being [. . .] in accordance with generally accepted principles of right process.“ 1333 Allen Buchanan, The Legitimacy of International Law, in: Samantha Besson/ John Tasioulas (Hrsg.), The Philosophy of International Law, S. 79 (81). 1334 Instruktiv zu den empirischen Legitimationskonzeptionen Hinsch, Legitimität, in: Gosepath/Hinsch/Rössler, Handbuch der politischen Philosophie und Sozialphilosophie, S. 704 (705 ff.). 1335 Vöneky, Recht, Moral und Ethik, S. 135. 1336 Vgl. Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, S. 25 ff. und T. Endicott, The Logic of Freedom and Power, in: Besson/Tasioulas, The Philosophy of International Law, S. 245 ff.
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beschließen. Jene Mehrheitsentscheidungen stellen das herkömmliche Legitimationskonzept des Völkerrechts in Frage, soweit man soft law einen völkerrechtlichen Status zuschreibt.1337 Wie zuvor bereits beschrieben,1338 kann diesen Steuerungsformen jedoch Rechtswirkungen zugeschrieben werden, bei denen in der Folge gefragt werden muss, wie diese legitimiert werden können. Eine weitere Entwicklung, derer man sich bei der Legitimationsfrage, vor allem in der vorliegenden Untersuchung bewusst sein muss, ist die zunehmende Individualisierung des Völkerrechts.1339 Insbesondere im Bereich der Menschenrechte erhielt das Individuum einen immer höheren Stellenwert, mit dem jedoch die Legitimationskonzeptionen in keiner Weise Schritt halten konnten. Individuen wurden ähnlich der Rechtskonzeption des Römischen Reichs als Objekte Rechte gewährt, anstatt aus ihnen als Subjekten die Befugnis zur Rechtsgewährung abzuleiten.1340 Zudem hat gerade die Untersuchung der Allgemeinen Erklärungen der UNESCO aufgezeigt, dass sich die Staatengemeinschaft aufgrund moderner wissenschaftlicher, soziologischer und technischer Entwicklungen immer mehr auch mit Themen beschäftigt, die traditionellerweise die domaine reservée der Nationalstaaten betrafen. Die Summe jener Entwicklungen hat dazu geführt, dass auch die Rechtswissenschaft begann, die herkömmliche Doktrin völkerrechtlicher Legitimationsstrukturen in Frage zu stellen und unter dem Begriff der Global Governance1341 sich einer Ordnung zu widmen, die nicht mehr nur autonome Subjekte koordiniert, sondern, ohne eine übergeordnete Gewalt zu kennen, gemeinsame Güter zum Nutzen aller Menschen reguliert, als „Governance without Government“.1342 Bevor diese Governance-Form jedoch 1337 Goldmann, We Need to Cut Off the Head of the King: Past, Present, and Future Approaches to International Soft Law, SSRN: http://papers.ssrn.com/sol3/pa pers.cfm?abstract_id=1885085 2011, S. 4. 1338 Siehe oben, S. 295 ff. 1339 Kumm, The Legitimacy of International Law: A Constitutionalist Framework of Analysis, European Journal of International Law 2004, S. 907 (908). 1340 Weiler, The Geology of International Law – Governance, Democracy and Legitimacy, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 2004, S. 547 (558). 1341 Der Begriff ist zurückzuführen auf J. Rosenau, Governance, Order, and Change in World Politics, in: James N. Rosenau (Hrsg.) Governance without Government – Order and Change in World Politics, S. 1 ff., vgl. auch A. von Bogdandy, P. Dann, M. Goldmann, Developing the Publicness of Public International Law: Towards a Legal Framework for Global Governance Activities, in: Armin von Bogdandy/Rüdiger Wolfrum/Jochen von Bernstorff/Philipp Dann/Matthias Goldmann (Hrsg.), The Exercise of Public Authority by International Institutions: Advancing International Institutional Law, S. 7. 1342 Rosenau, Governance without Government – Order and Change in World Politics, S. 1.
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auf ihre Legitimationsstrukturen untersucht werden kann, sollen Letztere nach der herkömmlichen Doktrin dargestellt werden. c) Staatenkonsens als Legitimation völkerrechtlicher Normen Dem traditionellen Rechtspositivismus nach entspringt die Legitimation völkerrechtlicher Normen dem Konsens der freien und souveränen Staaten.1343 Die theoretische Fundierung der Legitimation des Völkerrechts durch den konsensualen Willen der beteiligten Staaten als Akteure geht zu einem großen Teil auf deutsche Rechtsgelehrte des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts zurück, die den Voluntarismus zur völkerrechtlichen Doktrin erklärten.1344 Diese wurde vom Permanent Court of International Justice im Lotusfall von 1927 bestätigt.1345 Die Legitimation völkerrechtlicher Normen sei insofern hinreichend erklärt, wenn diese konsensual in Verfahren gesetzt wurden, die selbst wiederum konsensual etabliert wurden. Analog zu einer Beziehung zwischen zwei Personen, liegt der Reiz des Ansatzes in der Vorstellung, dass zwei Staaten als Subjekte ein Arrangement ihres Verhältnisses konsentieren und dieses daher legitim sein muss.1346 Insofern wird aufgrund des Selbstverständnisses der Staaten der Konsens auch weiterhin das wichtigste Element der Legitimation völkerrechtlicher Normen bleiben,1347 gleich welche Einwände in der Folge gegen dieses Prinzip erhoben werden. Die Diskussion der modernen Rechtspositivisten des 20. Jahrhundert drehte sich nach der Abkehr von der reinen Willenstheorie vor allem um eine hierarchisch übergeordnete Ordnung, aus der die Geltung der Normen abgeleitet werden könnte, wie beispielsweise die Grundnorm des pacta sunt servanda bei Kelsen und Verdross.1348 Die Einwände, die hier geltend gemacht werden, beziehen sich aber weniger auf jene rechtstheoretischen Begründungen, als auf tatsächliche Fragen nach der relativen Wichtigkeit der 1343
R. Wolfrum, Legitimacy of International Law from a Legal Perspective: Some Introductory Considerations, in: Wolfrum, Legitimacy in International Law, S. 6. 1344 Ausführlich zu dieser Theorie Martti Koskenniemi, The Gentle Civilizer of Nations: The Rise and Fall of Modern International Law, 1870–1960, S. 188 ff. 1345 The Case of the SS Lotus (France v Turkey) PCIJ Rep Series A No 10.: „The rules of law binding upon States therefore emanate from their own free will [. . .].“ 1346 Buchanan, The Legitimacy of International Law, S. 90 f. 1347 J. Brunnée, Consent, in: Wolfrum, Encyclopedia of Public International Law, Rn. 4. 1348 Vgl. zu diesen und anderen Theorien die Übersicht bei Goldmann, We Need to Cut Off the Head of the King: Past, Present, and Future Approaches to International Soft Law, SSRN: http://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=18850 85 2011, S. 8 ff. m. w. N.
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Konsensfrage. Sie soll und muss weiterhin Bestandteil der Legitimation bleiben, jedoch mit einigen Abschwächungen. Ein wichtiges Argument gegen eine rein konsenslegitimierte internationale Ordnung ist das faktische Ungleichgewicht innerhalb der Staatengemeinschaft. Während bei mächtigen Staaten der G20 beispielsweise durchaus eine freiwillige Konsentierung internationaler Verträge attestiert werden kann, ist dies bei schwächeren und kleineren Staaten oftmals nicht der Fall, als die Zustimmung von Letzteren oftmals nur auf Kosten nicht hinnehmbarer Einbußen verweigert werden kann.1349 Zudem ist der Staatenkonsens teilweise bestenfalls verwässert, schlechtestenfalls reine Fiktion, betrachtet man die Normsetzungsaktivitäten internationaler Organisationen.1350 Diesen kann zwar attestiert werden, dass ihre institutionelle und prozedurale Fundierung konsensual legitimiert ist. Die tatsächlich relevanten Entscheidungen und Normen der jeweiligen Institution sind letztlich jedoch nicht mehr vom spezifischen Konsens der Staaten gedeckt, sondern nur noch mittelbar. Selbst jene mittelbare Legitimation ist in der Praxis oftmals jedoch konterkariert durch inhärente Tendenzen autonomer Entscheidungsfindung innerhalb der internationaler Organisationen und anderer Global-Governance-Institutionen.1351 Der Verweis auf den begründenden Staatenkonsens allein kann mit der zunehmend wichtigen Rolle jener Institutionen einen Legitimationsbruch erzeugen, der deren Aktivitäten unterminieren könnte. Schließlich muss auch die zunehmende Relevanz nichtstaatlicher Akteure einer reinen Konsenslegitimation widersprechen. Die internationale Ordnung wird immer weiter durchdrungen von den Aktivitäten privater Akteure, die teils komplementär, teils ersetzend in der Regulierung internationaler Angelegenheiten tätig werden.1352 Die Rolle jener Akteure kann mit1349 Buchanan, The Legitimacy of International Law, S. 91; ebenso Samantha Besson, The Authority of International Law – Lifting the State Veil, Sydney Law Review 2009, S. 343 (371); zum selben Effekt innerhalb Internationaler Organisationen, J. von Bernstorff, Procedures of Decision-Making and the Role of Law in International Organizations, in: von Bogdandy/Wolfrum/Bernstorff/Dann/Goldmann, The Exercise of Public Authority by International Institutions: Advancing International Institutional Law, S. 777 (786). 1350 Buchanan, The Legitimacy of International Law, S. 91; Besson, The Authority of International Law – Lifting the State Veil, Sydney Law Review 2009, S. 343 (371). 1351 J. von Bernstorff, Procedures of Decision-Making and the Role of Law in International Organizations, in: von Bogdandy/Wolfrum/Bernstorff/Dann/Goldmann, The Exercise of Public Authority by International Institutions: Advancing International Institutional Law, S. 777 (789). 1352 Kumm, The Legitimacy of International Law: A Constitutionalist Framework of Analysis, European Journal of International Law 2004, S. 907 (915); zum Zu-
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tels Staatenkonsens nur dann legitimiert werden, wenn Letzterer zusätzliche Bedingungen erfüllt, die über die alleinige Ausübung des Staatenwillens hinausgehen.1353 Diese Bedingungen müssten daher im Folgenden noch ermittelt werden. Die Legitimation völkerrechtlicher Normen alleine auf den Staatenkonsens zurückzuführen, kann jedoch nicht zu allgemein anerkannten Ergebnissen führen, die mit der Realität in Einklang gebracht werden könnten. d) Die Legitimationskette als mittelbare demokratische Legitimation Akzeptiert man die voluntaristische Anschauung der Legitimation völkerrechtlicher Normen durch Staatenkonsens als unzureichend zur Beherrschung der modernen Entwicklung, stellt sich die Frage inwieweit positivistische Völkerrechtstheorien demokratische Elemente zur Legitimation internationaler Normen aktivieren können. Eine weithin geteilte Auffassung geht dabei von einer – dem deutschen Staatsrecht gut bekannten1354 – Kette demokratischer Legitimation vom Nationalstaat zum Völkerrecht aus.1355 Betrachtet man alleine die Staaten als Subjekte des Völkerrechts und will dabei deren Souveränität weiterhin hervorheben, so bleibt eine institutionelle Verwirklichung demokratischer Legitimation über die Staatenvertreter, die als Repräsentanten ihrer – im Idealfall – demokratisch gewählten Regierungen, den Willen ihres jeweiligen nationalen Volkes in die Setzung internationaler Normen einbringen. Wenngleich die Möglichkeit besteht, diese mittelbare demokratische Legitimation durch vermehrte parlamentarische Kontrolle der Exekutive zu optimieren,1356 ist sie charakterisiert durch ihren exekutivistischen, technokratischen Charakter,1357 der den tatsächlichen sammenspiel privater und öffentlicher Akteure vgl. beispielsweise Gian Luca Burci, Public/Private Partnerships in the Public Health Sector, International Organizations Law Review 2009, S. 359 ff.; Lorenzo Casini, Global Hybrid Public-Private Bodies: The World Anti-Doping Agency (WADA), ibid., S. 421 ff.; Anne Peters/Peter Bürkli, Recht der Forschung am Menschen – Normgenese im Kontext von Soft Law, internationalen Abkommen und Gesetz, Zeitschrift für Schweizerisches Recht 2010, S. 367 ff. 1353 Buchanan, The Legitimacy of International Law, S. 77 (90). 1354 E. W. Böckenförde, Demokratische Willensbildung und Repräsentation, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, S. 29 (36). 1355 A. von Bogdandy, Globalization and Europe: How to Square Democracy, Globalization, and International Law, European Journal of International Law 2004, S. 885 (902 f.). 1356 Vgl. R. Wolfrum, in: Hailbronner/Schmidt-Preuß, Kontrolle der auswärtigen Gewalt, S. 38 (45 ff.). 1357 A. von Bogdandy, Globalization and Europe: How to Square Democracy, Globalization, and International Law, European Journal of International Law 2004,
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Willen des jeweiligen Staatsvolkes auch zu verzerren vermag.1358 Gerade eine solche mittelbare demokratische Legitimation hat das Bundesverfassungsgericht für die supranationale Struktur der Europäischen Union als demokratisch unzureichend legitimiert kritisiert.1359 Insistierend auf der Souveränität der Staaten dürfte es jedoch, mangels einer absehbaren tatsächlichen Bildung eines internationalen demos,1360 für die Vertreter des traditionellen Rechtspositivismus die einzige Möglichkeit der Legitimation internationaler Normen bleiben, zumal nur auf diese Weise auch das Primat des Staatenkonsens erhalten bleibt. Die oben beschriebenen Punkte, die die Unzulänglichkeit des aktuellen Systems im Hinblick auf die veränderten Verhältnisse des Völkerrechts veranschaulichen, können mit diesem Kettenmodell demokratischer Legitimation jedoch nicht adäquat erfasst werden. Es verharrt bei einer Übertragung theoretischer Elemente des Nationalstaats auf ein horizontales Koordinationsmodell, dem ein tatsächlicher demos fehlt.1361 Vor allem auch einer Individualisierung des Völkerrechts und der wachsenden Kompetenzen internationaler Organisationen, kann mit diesem Ansatz keine hinreichende Legitimationsgrundlage gegeben werden. Mehr noch, eine Beteiligung anderer Akteure wie den Nichtregierungsorgansiationen, die beispielsweise zur Anreicherung einer diskursiven Legitimation als kommunikative Agenten dienen könnten, ist durch dieses Modell ausgeschlossen, um die ohnehin schwache Legitimationskette vom Legitimationsobjekt zum Individuum nicht noch weiter auszudünnen.1362 Für die hier untersuchten Kodizes, die berufsethische Prinzipien in eine globale wissenschaftliche Gemeinschaft implementieren sollen, scheint aber eine Partizipation der Betroffenen mehr als notwendig um die Legitimation jener Kodizes zu erhöhen und ihre Rezeptionsfähigkeit zu verbessern. Dem entspricht S. 885 (903); als „bureaucratic distance“ bezeichnend Buchanan, The Legitimacy of International Law, S. 91. 1358 Besson, The Authority of International Law – Lifting the State Veil, Sydney Law Review 2009, S. 343 (369); Kumm bezeichnet die nationalen Gesetzgeber daher als „great institutional loser in the shift from classical international law to international law as governance“, Kumm, The Legitimacy of International Law: A Constitutionalist Framework of Analysis, European Journal of International Law 2004, S. 907 (915 f.). 1359 BVerfG vom 30.6.2009, 2 BvE 2/08, Rn. 296 f. 1360 So bereits die Kritik bei Weil, Towards Relative Normativity in International Law?, American Journal of International Law 1983, S. 413 (441); vgl. auch Buchanan, The Legitimacy of International Law, S. 79 (87). 1361 Weiler, The Geology of International Law – Governance, Democracy and Legitimacy, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 2004, S. 547 (560). 1362 von Bogdandy, Globalization and Europe: How to Square Democracy, Globalization, and International Law, European Journal of International Law 2004, S. 885 (902).
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auch die wissenschaftsethische Forderung nach institutioneller Wahrnehmung von Verantwortung durch die Wissenschaft selbst.1363 e) Die Kompensation von input-Defiziten durch output-Legitimation Das demokratische Defizit internationaler Normen könnte in hinreichender Weise durch output-Elemente kompensiert werden, insbesondere mit Blick auf die Normsetzung internationaler Organisationen wie der UNESCO.1364 Das Modell der input-output-Legitimation geht auf Fritz Scharpf zurück, der ebenfalls den Mangel an demokratischer Legitimation auf europäischer Ebene durch die ouput-Legitimation der Europäischen Organe auszugleichen suchte.1365 Dabei soll die input-orientierte Perspektive die „Herrschaft durch das Volk“ betonen, also politische Entscheidungen dann als legitim darstellen, „wenn und weil sie den ‚Willen des Volkes‘ widerspiegeln.“1366 Die ouput-orientierte Perspektive hingegen soll die „Herrschaft für das Volk“ in den Vordergrund stellen, also politische Entscheidungen dann als legitimiert gelten lassen, „wenn und weil sie auf wirksame Weise das allgemeine Wohl im jeweiligen Gemeinschaftswesen fördern.“1367 Sie soll insbesondere deswegen gut geeignet sein, um in pluralistischen, politischen Einheiten kollektives Handeln bereits dann zu legitimieren, wenn lediglich ein Bestand gemeinsamer Interessen identifiziert werden kann, der einer gemeinsamen Lösung bedarf. Auf diese Weise könne auch die Europäische Union als eine derart schwach abgegrenzte Gemeinschaft als Legitimationsobjekt definiert werden.1368 Ob die Übertragung dieses Modells auf eine Weltgemeinschaft ebenso tragfähig ist, müsste sich erst noch erweisen. Ein gemeinsamer Bestand an Interessen ließe sich jedoch beispielsweise bereits aus Art. 1 der UN-Charta ablesen, der die Wahrung des Weltfriedens und internationale Zusammenarbeit als solches postuliert. Die Übertragung seines Modells wird an dieser Stelle aber nicht vorgenommen, da es konstruktive Mängel aufweist, die in der Legitimations1363
Vgl. oben, S. 56 ff. M. Krajewski, International Organizations or Institutions, Democratic Legitimacy, in: Wolfrum, Encyclopedia of Public International Law, Rn. 3 f., der dabei eine (vorsichtige) Parallele zur Europäischen Integration ziehen will. 1365 Fritz W. Scharpf, Regieren in Europa – effektiv und demokratisch?, S. 18 f., wobei er vor allem die fehlende kollektive Identität Europas als notwendiges Element im Sinne eines weberschen Gemeinschaftsglaubens für die Akzeptanz von Mehrheitsentscheidungen des Europäischen Parlaments als Defizit der input-Perspektive ausmacht. Eine noch größere Pluralität kann insofern auf globaler Ebene attestiert werden, was die input-Perspektive weiter schwächt. 1366 Ibid., S. 16. 1367 Ibid. 1368 Ibid., S. 20 f. 1364
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frage internationer Normen nicht weiterführen können.1369 Zunächst sollte die analytische Unterscheidung zwischen input und output eigentlich koexistente Kritierien demokratischer Nationalstaaten hervorbringen, die sich gegenseitig verstärken, ergänzen und ersetzen sollten.1370 Seine These soll daher im Ergebnis nur aufzeigen, dass das demokratische Prinzip nicht allein auf input-Kriterien gestützt werden kann, sondern auch ouput-Elemente aufweisen muss.1371 Ein völliges Fehlen des input-Elements, also einer Herrschaft durch das Volk selbst, kann aber nicht durch eine Herrschaft für das Volk kompensiert werden, denn auf diese Weise könnte auch eine Diktatur legitimiert werden.1372 Jede Ausübung von Zwang wäre derart gerechtfertigt, wenn dadurch auf wirksame Weise das „allgemeine Wohl des jeweiligen Gemeinwesens“ gefördert würde. Diese Position könnte für einen Einzelnen fatal sein, zumal wenn utilitaristsche Argumente in Anschlag gebracht würden. Ein völliges Fehlen demokratischer Elemente könnte daher nicht durch die output-Perspektive kompensiert werden. Im Gegenteil soll die output-Legitimation im Scharpfschen Sinne als notwendige Grundbedingungen auch die Gewährleistung freier, gleicher und allgemeiner Wahlen enthalten sowie einklagbare Grundrechte der Kommunikation und Assoziation, sowie konkurrierende Parteien und Massenmedien, die die Begleitung von politischen Entscheidungsprozessen durch öffentliche Debatten ermöglichen sollen.1373 Die output-Perspektive beschränkt sich insofern nicht auf das größtmögliche Gemeinwohl, sondern zugleich auf das Zustandekommen solcher Entscheidungen und die konstitutiven Bedingungen der Demokratie. Freie, gleiche und allgemeine Wahlen auf globaler Ebene sind jedoch eine utopische Vorstellung und nicht zu realisieren. Der Ausgangspunkt der Global Governance ist weiterhin nur die mittelbare Repräsentation nationalstaatlicher Völker, wodurch bereits die „institutionelle Infrastruktur politischer Verantwortlichkeit, welche die Orientierung der Amtsinhaber am öffentlichen Interesse sichert und verstärkt“1374 als unzureichend angenommen werden muss. Insofern sind bereits die partizpatorischen Grundbedingungen der Scharpfschen output-Legitimation, die das Wechselspiel mit der input-Perspektive ermöglichen sollen, für internationale Normen fraglich. Ein weiterführender Ansatz nimmt die output-Elemente dieser Theorie jedoch auf und verfolgt diese weiter, was im Folgenden dargestellt werden soll. 1369 Zu grundsätzlichen Mängeln in der Konstruktion Vöneky, Recht, Moral und Ethik, S. 161 f. 1370 Scharpf, Regieren in Europa – effektiv und demokratisch?, S. 21. 1371 Ibid., S. 18; vgl. auch Vöneky, Recht, Moral und Ethik, S. 160. 1372 E. W. Böckenförde, § 24 Demokratie als Verfassungsprinzip, in: Isensee/ Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Rn. 5. 1373 Scharpf, Regieren in Europa – effektiv und demokratisch?, S. 22 f. 1374 Ibid., S. 23.
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f) Deliberative Ansätze der Legitimation Anerkennt man die aufgezeigten Probleme globaler Governance als Ausdruck der Heterogenität und des Pluralismus auf globaler Ebene als gegeben an, ist es folgerichtig neben den a priori-Standards der Legitimation deliberative Ansätze zu integrieren.1375 Deren Standards sollen auf den jeweiligen konkreten Normsetzungsprozess oder die normsetzende Institution anzuwenden sein, wobei deren Begründung zumeist auch prozedural erscheint. Obwohl nicht der einzige Ansatz,1376 soll an dieser Stelle demjenigen von Allen Buchanan gefolgt werden, der einen umfassenden Vorschlag für die Legitimation völkerrechtlicher Normen und Institutionen bietet.1377 Ausgehend von der Erkenntnis, dass die pluralistische und heterogene Weltordnung keine hinreichenden Bedingungen für die Legitimation völkerrechtlicher Normen bietet, entwickelt er drei substantielle Kriterien der Legitimation, die im Sinne der counting principles im rawlsschen Sinne1378 relativ zum Grad ihrer jeweiligen und kumulativen Erfüllung die Legitimation begünstigt und darauf aufbauend formelle Kriterien zur Sicherstellung der substantiellen Prinzipien. Auf diese Weise sollen für die Adressaten internationaler Normen – Staaten wie Individuen – inhaltsunabhängige, gerechtfertigte Gründe generiert werden, die Bestrebungen internationaler Normsetzung zu unterstützen, deren Einhaltung zu sichern oder diese wenigstens nicht zu beeinträchtigen.1379
aa) Substantielle Kriterien (1) Der Schutz grundlegender Menschenrechte Jede demokratische Gesellschaft bedarf substantieller Beschränkungen der demokratischen Machtausübung durch die Mehrheit. Nur eine solche Begrenzung durch Menschenrechte wie Meinungs-, Informations- und Ver1375 Goldmann, We Need to Cut Off the Head of the King: Past, Present, and Future Approaches to International Soft Law, SSRN: http://papers.ssrn.com/sol3/ papers.cfm?abstract_id=1885085 2011, S. 28. 1376 Vgl. auch den verwandten Ansatz von Besson, The Authority of International Law – Lifting the State Veil, Sydney Law Review 2009, S. 343 ff. oder denjenigen von Klaus Günther, Legal Pluralism or uniform concept of law? Globalisation as a problem of legal theory, No Foundations – Journal of Extreme Legal Positivism 2008, S. 5 ff. 1377 Buchanan, The Legitimacy of International Law, S. 79 ff.; Allen E. Buchanan, Human Rights, Legitimacy, and the Use of Force, S. 105 ff. und 134 ff. 1378 Vgl. John Rawls, A Theory of Justice, S. 364 f. 1379 Buchanan, The Legitimacy of International Law, S. 85.
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sammlungsfreiheit, die die prozedurale Berücksichtigung von Minderheitenansichten garantieren,1380 sowie der Schutz des Lebens, der körperlichen Integrität, der körperlichen und geistigen Freiheit, der die Minderheit vor der Unterdrückung durch die Mehrheit zu schützen vermag, kann eine demokratisch geordnete Gesellschaft dauerhaft etablieren.1381 Daher sind diese als notwendige, konstitutive und nicht als beschränkende Elemente demokratischer Legitimation zu begreifen.1382 Insbesondere im internationalen Kontext, in dem aufgrund des Primats des Staatenkonsens und der mittelbaren demokratischen Legitimation Verzerrungen der Abbildung des Volkswillens zu konstatieren sind und gleichermaßen innerhalb internationaler Organisationen die demokratische Willensbildung fraglich ist, ist daher dem Menschenrechtsschutz eine erweiterte Bedeutung als Legitimationskriterium zuzusprechen. Wenn der erweiterte Kreis der Adressaten völkerrechtlicher Normen erkennt, dass die Normsetzung zur Wahrung seiner Interessen erfolgt, wird die Befolgungsbereitschaft gestärkt.1383 Eine Eigenart der internationalen Ordnung ist aufgrund ihrer Pluralität jedoch auch die Uneinigkeit über die Natur, den Inhalt und die Geltung von internationalen Menschenrechten.1384 Als Legitimationskriterium will Buchanan daher nur denjenigen Mindeststandard internationalen Menschenrechtsschutzes integrieren, der global konsentiert ist und spricht insoweit nur von einer minimal moral acceptability.1385 Auch wenn man berechtigterweise das Spektrum der relevanten Menschenrechte weiter fassen und die internationale bill of rights als Bezugspunkt heranziehen sollte, kommt man nicht umhin, die Unsicherheit der Interpretation und der Reich1380 Auf die Arbeiten Hilary Putnams rekurrierend, Vöneky, Recht, Moral und Ethik, S. 152 f. 1381 Vgl. auch Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung – Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, S. 220 f. 1382 Vöneky, Recht, Moral und Ethik, S. 153. 1383 Buchanan, Human Rights, Legitimacy, and the Use of Force, S. 116 ff.; die Verwendung des Begriffs Interesse ergibt sich aus der Rechtskonzeption Buchanans, die auf Joseph Raz basiert. Zum Zusammenhang von Interessen und Rechten in diesem Sinne, Joseph Raz, The Morality of Freedom, S. 180 ff.; ebenso Besson, The Authority of International Law – Lifting the State Veil, Sydney Law Review 2009, S. 361; ähnlich, aber zurückhaltender in der Gewichtung Kumm, The Legitimacy of International Law: A Constitutionalist Framework of Analysis, European Journal of International Law 2004, S. 907 (927). 1384 Zu den Dissonanzen globaler Grundrechtsbegründungen, vor allem auch mit Blick auf die dominanten „westlichen“ Konzeptionen, vgl bereits oben, S. 1185 f. 1385 Zu diesen sollen das Recht auf körperliche Sicherheit, auf Freiheit und auf Existenzsicherung gehören, Buchanan, Human Rights, Legitimacy, and the Use of Force, S. 116; zu kritisch seine Analyse in Buchanan, The Legitimacy of International Law, S. 94 ff.
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weite der jeweiligen Rechte anzuerkennen.1386 Zudem stellen sich die dringlichsten Fragen der Legitimation von Normen oder der sie setzenden Institutionen immer dann, wenn eine verstärkter moralischer Dissens und eine daraus folgende Unsicherheit besteht.1387 Daher kann die Einhaltung der Menschenrechte alleine nicht als Kriterium der Legitimation ausreichen. Es muss vielmehr sichergestellt werden, dass Dissens und Unsicherheit diesbezüglich bestmöglich bewältigt werden. Dies soll durch eine prinzipienorientierte, aufgeklärte Deliberation als Legitimationsbedingung innerhalb des Standards der Legitimation selbst sichergestellt werden.1388 Insoweit wird die formelle Sicherung der Einhaltung und Erfüllung der substantiellen Kriterien von erhöhter Bedeutung sein. (2) Vergleichsweiser Nutzen Zweites substantielles Kriterium zu Ermittlung normativer Legitimation soll der vergleichsweise Nutzen der jeweiligen Normen oder normsetzenden Institutionen sein. Das Kriterium ist weder überraschend noch kompliziert, verlangt es doch nur, dass die grundlegende Erwartung erfüllt wird, dass die in Frage stehende Norm oder Institution einen vergleichsweise höheren Nutzen aufweist, als es eine andere Norm oder Institution oder das Fehlen einer solchen könnte.1389 Große Bedeutung besitzt insoweit der Vergleich mit anderen möglichen Alternativen. Sind solche vorhanden ist die Grundlage der Existenz der jeweiligen Norm oder Institution in Frage gestellt, mithin auch deren Legitimation, als der Standard des jeweiligen Nutzens eine handlungsrelvante Konsequenz der Befolgung dann befördert, wenn ein solcher vergleichsweise affirmativ beantwortet werden kann. Im Sinne der counting principles der substantiellen Legitimation spielt diese Bewertung keine konstitutive, sondern eine steigernde Wirkung und wird insoweit auch von der Kommunikation und Rezeption der jeweiligen Begründungen abhängen, was im Zuge der formellen Kriterien zu optimieren ist. Wie1386
Dies lässt sich bereits aus den Schwierigkeiten der Begründung der Wissenschaftsfreiheit ablesen, vgl. oben, S. 329 ff. 1387 Buchanan, Human Rights, Legitimacy, and the Use of Force, S. 118. 1388 Ibid.; vgl. auch Buchanan, The Legitimacy of International Law, S. 94; ebenso Besson, The Authority of International Law – Lifting the State Veil, Sydney Law Review 2009, S. 369 f. 1389 Buchanan, Human Rights, Legitimacy, and the Use of Force, S. 118; als Beispiel für einen fraglichen vergleichsweisen Nutzen nennt Buchanan die Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen, die, vor allem auch unter dem Vorsitz Libyens im Jahr 2003, durch die Mitgliedschaft von Staaten in Misskredit gebracht wurde, die selbst schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen begingen. Eine derart „suboptimale“ Ausgestaltung könne einen vergleichsweisen Nutzen nur schwer erkennen lassen.
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derum ist die Abhängigkeit des substantiellen Kriteriums von dessen formeller Umsetzung zu beobachten. (3) Institutionelle Integrität Das dritte, substantielle Kriterium der institutionellen Integrität betrifft alleine die normsetzenden Institutionen oder Entitäten. Nach Buchanan soll die Übereinstimmung zwischen tatsächlichem Verhalten und selbstauferlegten Verfahrens- und Zielbestimmungen evaluiert werden, wodurch der Anspruch auf Legitimation jedoch lediglich gemindert werden kann.1390 Dabei ist dieses Kriterium eng mit dem vergleichsweisen Nutzen korreliert, als Letzterer bei Defiziten des Ersteren nur selten für den Beobachter erkennbar sein wird. Die Beobachterrolle wird wiederum von erhöhter Bedeutung für die Evaluierung der substantiellen Kriterien sein, als die tatsächliche Erkennbarkeit der Erfüllung ein jeweiliges Zusatzkriterium darstellen muss, dass durch eine formelle Sicherung gewährleistet werden soll. bb) Deliberativ-formelle Kriterien Es wurde bereits dargelegt, dass die benannten substantiellen Kriterien keine notwendigen Bedingungen der Legitimation sein sollen, sondern je nach Grad ihrer jeweiligen und kumulativen Erfüllung die Legitimation von Normen und Institutionen steigern oder mindern können. Die Anwendbarkeit jener Kriterien wird jedoch durch zwei Faktoren gehemmt: Das Problem faktischen Wissens und das Problem des Dissens und der Unsicherheit.1391 Zum einen ist es für außenstehende Beobachter und vor allem auch für Normadressaten oftmals nicht möglich den Erfüllungsgrad dieser Kriterien zu evaluieren, da ihnen die Einsicht in die Arbeit der Normsetzer fehlt beziehungsweise der Informationsfluss nach außen nicht gegeben ist. Weiß der Adressat jedoch nicht inwieweit die Norm an menschenrechtlichen Erwägungen orientiert ist, welche Begründungswege zu Grunde liegen, inwieweit der Nutzen alternativlos höher ist und wie es um die Integrität der normsetzenden Institution beschaffen ist, so muss er sich alleine auf a priori-Standards verlassen. Zum anderen wird sowohl im Normsetzungsprozess selbst als auch unter den Adressaten, vor allem in Bereichen, in denen die Legitimation in Frage 1390 Ibid., S. 118 f.; Als Beispiel dient Buchanan das durch Korruption und Misswirtschaft gekennzeichnete UN-Oil-for-Food-Programm in den 1990er Jahren, dass der institutionellen Integrität der Vereinten Nationen und des Sicherheitsrats schweren Schaden zufügte, aber auch der IMF und die WTO; vgl. S. 119. 1391 Dazu und auch zum Folgenden ibid., S. 120 f.
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steht, entweder Dissens darüber bestehen, welche menschenrechtlichen Standards zu Grunde zu legen sind oder Unsicherheit darüber herrschen, ob die Norm oder Institution tatsächlich die Kriterien erfüllt. Dieses Problem ist nicht außergewöhnlich, sondern regelmäßiger Bestandteil internationaler Normsetzungsprozesse, so dass dessen Lösung eine Institutionalisierung erfordert, um auch regelmäßige Aussagen über die Legitimation der Lösung treffen zu können. Die beiden Hemmnisse der Anwendbarkeit sollen ihre Lösung in deliberativen Bedingungen des Normsetzungsprozesses finden, die vor allem auch die Integration externer Akteure erfordert. (1) Verantwortlichkeitsbedingungen Buchanan zufolge soll im Normsetzungsprozess internationaler Institutionen die Verantwortlichkeit der Handelnden wichtige Legitimationsbedingung sein.1392 Die Verantwortlichkeitsbedingung enthalte dabei drei Elemente: Die Setzung von Standards, an denen die Verantwortlichen gemessen werden, Informationen für diejenigen, gegenüber denen sich die Handelnden verantworten müssen und die Fähigkeit der Letzteren, die Nichterfüllung der Standards aufgrund der gegebenen Informationen mit Sanktionen oder Kosten zu verbinden. Alle drei Elemente sind nicht per se bereits mit richtigen Gehalten gefüllt, wobei der zu erfüllende Standard der Verantwortlichkeit zumindest jedoch mit den (unsicheren) menschenrechtlichen Grundgehalten und dem vergleichsweisen Nutzen zu füllen ist. Darüber hinaus sind diese aber offen für verschiedene Ansätze und insofern keine materiellen, sondern zu erörternde Bedingungen um Dissens und Unsicherheit zu überwinden.1393 Um die Verantwortlichkeitsbedingung erfüllen zu können, muss der Normsetzungsprozess bereits so ausgestaltet sein, dass er auf diese Überwindung ausgerichtet ist, was die Institutionalisierung einer prinzipiengeleiteten, aufgeklärten Deliberation als Legitimationskriterium erfordert.1394 Die spezifischen Bedingungen jener Deliberation definiert Buchanan wohlweislich nicht. Die Theorien argumentativer Entscheidungsfindung sind jedoch vorhanden und in dieses Grundgerüst einsetzbar.1395 Konstitutives Kriterium eines effektiven Mechanismus der Deli1392 Ibid., S. 121.; vgl. auch Kumm, The Legitimacy of International Law: A Constitutionalist Framework of Analysis, European Journal of International Law 2004, S. 907 (926). 1393 Buchanan spricht insoweit von terms of accountability, Buchanan, Human Rights, Legitimacy, and the Use of Force, S. 122. 1394 Ebenso Kumm, The Legitimacy of International Law: A Constitutionalist Framework of Analysis, European Journal of International Law 2004, S. 907 (926) und Armin von Bogdandy, Globalization and Europe: How to Square Democracy, Globalization, and International Law, ibid., S. 885 (904).
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beration über die jeweiligen Bedingungen ist aber die Einbeziehung externer Akteure. Die kritische Evaluierung der Ziele des Normsetzungsprozess und der Standards, denen sich die Verantwortlichen unterwerfen müssen, kann nur dann gelingen, wenn diese von Personen oder Organisationen vorgenommen wird, die eine andere Perspektive als die interne aufweisen können und gegebenenfalls dem gesamten Prozess kritisch gegenüberstehen.1396 Die Möglichkeit argumentativer Entscheidungsfindung hängt von der Beteiligung von Akteuren ab, die Pluralismus und Heterogenität widerspiegeln und auch die Beteiligung aller potentiellen Adressaten sicherstellen können. Eine lediglich staatenzentrierte Deliberation kann insoweit nicht zielführend sein. (2) Transparenz Die Transparenzbedingung hängt eng mit der Verantwortlichkeitsbedingung zusammen als sowohl die tatsächliche Erfüllung der Standards der Verantwortlichkeit, als auch die Erfüllung der substantiellen Kriterien davon abhängen, inwieweit Informationen zum Normsetzungsprozess mit vernünftigem Aufwand und in verständlicher Weise erhältlich sind.1397 Um die Bedingungen der Verantwortlichkeit kritisch bewerten und in Frage stellen zu können, bedürfen Außenstehende der Einsicht in die internen Vorgänge jener Prozesse, insbesondere wenn es um die grundlegenden Ziele und Mo1395 Buchanan selbst scheint eine Präferenz für die Theorie des politischen Liberalismus und die Vertragstheorie von John Rawls zu haben; zu diesem Ansatz Rawls, A Theory of Justice, S. 102 ff.; Politischer Liberalismus, S. 219 ff.; John Rawls, Das Ideal des öffentlichen Vernunftgebrauchs in Philosophische Gesellschaft Bad Homburg/Wilfried Hinsch (Hrsg.), Die Idee des politischen Liberalismus – John Rawls in der Diskussion, S. 116 ff. Es wäre jedoch gleichsam möglich die diskurstheoretische Konzeption von Jürgen Habermas heranzuziehen, vgl. Jürgen Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, S. 140 ff.; Faktizität und Geltung, S. 109 ff.; zu den notwendigen Ergänzungen jener Formen argumentativer Entscheidungsfindung W. Hinsch, Legitimität, in: Gosepath/Hinsch/Rössler, Handbuch der politischen Philosophie und Sozialphilosophie, S. 710 und Vöneky, Recht, Moral und Ethik, S. 138 ff. 1396 So hat die „diskursive Skandalisierung einiger Politiken internationaler Organisationen im Wege der menschenrechtlichen Sprache“ zu einem erwiesenermaßen politischen Effekt auf die Organisationen geführt, J. von Bernstorff, Procedures of Decision-Making and the Role of Law in International Organizations, in: von Bogdandy/Wolfrum/Bernstorff/Dann/Goldmann, The Exercise of Public Authority by International Institutions: Advancing International Institutional Law, S. 777 (805). 1397 Buchanan, Human Rights, Legitimacy, and the Use of Force, S. 122; ebenso die Transparenz als Bedingung effektiver demokratischer Beteiligung der entstehenden, transnationalen Bürgergesellschaft am Normsetzungsprozess betonend, von Bogdandy, Globalization and Europe: How to Square Democracy, Globalization, and International Law, European Journal of International Law 2004, S. 885 (904).
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tive geht. Eine dauerhafte Nichterfüllung dieser Legitimationsbedingung kann die insoweit generierten Normen mit dem Makel der vermuteten Illegitimation behaften. Dabei genügt nicht nur eine passive Gewährung von Transparenz der jeweiligen Prozesse. Es bedarf vielmehr auch der aktiven Bereitstellung verständlicher und aufbereiteter Rechtfertigungen der Öffentlichkeit gegenüber.1398 Der Einblick in die internen Vorgänge für externe Akteure ermöglicht es privaten Personen oder Organisationen, die jeweiligen Bedingungen des Normsetzungsprozess zu interpretieren und zu bewerten. Auch nationale Parlamente profitieren diesbezüglich von der Darstellung einer anderen Perspektive durch Nichtregierungsorganisationen und verbessern insoweit die defizitäre, mittelbare demokratische Legitimation im internationalen Normsetzungsprozess durch größere deliberative Partizipationsmöglichkeiten der jeweiligen Individuen und ihrer Repräsentanten in den Parlamenten.1399 Die Monitoring-Funktion für globale Normsetzungsprozesse ist auf jene Beteiligung privater Akteure angewiesen. (3) Die Notwendigkeit externer Akteure Die Erfüllung der substantiellen Kriterien verlangt sowohl in der Definition der Verantwortlichkeitsbedingungen, als auch in der Gewährleistung von Transparenz und Überwachung die Beteiligung und Einbeziehung externer Akteure in den Deliberationsprozess der Normsetzung im internationalen Bereich. Jene Akteure werden selbst wiederum gewissen Legitimationsanforderungen unterliegen, wollen sie akzeptable Partner im Deliberationsprozess darstellen.1400 Erfolgt eine solche Einbeziehung in institutionalisierter Weise, die eine dauerhafte und aufgeklärte Deliberation ermöglicht, ist die Erfüllung der substantiellen Kriterien durch deliberative Prozesse gewährleistet. Denn die substantiellen Kriterien des Schutzes menschenrechtlicher Grundgehalte und des vergleichsweisen Nutzens können aufgrund ihrer Offenheit und Unsicherheit nur dann gerechtfertigterweise als Legitimationskriterien herangezogen werden, wenn deren Bewertung in offenen Deliberationsprozessen durchgeführt wird, die argumentative Entschei1398 Buchanan, Human Rights, Legitimacy, and the Use of Force, S. 123; zu Recht merkt er dabei an, dass Transparenz auch negative Effekte haben kann, wenn die beteiligten Akteure zum Zwecke der Öffentlichkeitswahrnehmung Positionen einnehmen, die Verhandlungen gefährden können. Dieser Preis sei gegenüber dem Gegenteil geheimer Bürokratie jedoch hinnehmbar. 1399 Ibid., S. 125.; ebenso Besson, The Authority of International Law – Lifting the State Veil, Sydney Law Review 2009, S. 368 f. 1400 Buchanan, Human Rights, Legitimacy, and the Use of Force, S. 126; er spricht dabei von einer ökologischen Konzeption der Legitimation, da eine jeweilige Abhängigkeit von einer „gesunden“ Legitimationsumgebung besteht.
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dungsfindungen ermöglichen. Die Beteiligung externer Akteure ist insoweit notwendige Bedingung für das Funktionieren der substantiellen Kriterien. e) Zusammenfassung Die Legitimation der Setzung internationaler Normen bleibt auf der ersten Stufe auch weiterhin zunächst von der konsensualen Manifestierung des Willens der Staatengemeinschaft gekennzeichnet. Dieser ist zur Begründung verbindlicher Normen im Völkerrecht notwendige Voraussetzung. Unter veränderten Bedingungen des Völkerrechts vermittelt er jedoch lediglich eine mittelbare demokratische Legitimation, wodurch die zunehmende Relevanz von Individuen nicht hinreichend reflektiert wird, der tatsächliche Willen oftmals nur verzerrt wiedergegeben wird und die Einbeziehung nichtstaatlicher Akteure zur Gefährdung dieser Legitimationstruktur wird. Dieses Legitimationsdilemma internationaler Normen soll nach dem hier verfolgten Vorschlag auf einer zweiten Stufe durch einen deliberativen Ansatz ergänzt werden, der die Legitimation dieser Normen stärken und sichern soll. Dieser deliberative Ansatz besteht aus substantiellen und deliberativ-formellen Kriterien, wobei die Ersteren die Letzteren bedingen. Die substantiellen Kriterien des Schutzes menschenrechtlicher Grundgehalte, des vergleichsweisen Nutzens und der institutionellen Integrität sind durch einen Mangel an tatsächlichem Wissen und einen steten Dissens beziehungsweise Unsicherheiten gekennzeichnet. Diese Zustände können aber nur dann überwunden werden, wenn eine prinzipienorientierte, aufgeklärte Deliberation über die Bedingungen der Erfüllungsmechanismen erfolgt und zugleich die Transparenz der Prozesse gewährleistet ist. Dabei stellt die Einbeziehung externer Akteure eine notwendige Bedingung der deliberativen Legitimation dar, um die substantiellen und deliberativ-formellen Kriterien gerechtfertigt und effektiv zu erfüllen. Wird dieser ergänzende Ansatz effektiv umgesetzt, bieten sich den Adressaten internationaler Normen – Staaten wie auch Individuen – inhaltsunabhängige, gerechtfertigte Gründe die Bestrebungen internationaler Normsetzung zu unterstützen, deren Einhaltung zu sichern oder diese wenigstens nicht zu beeinträchtigen. Auf diese Weise kann das Legitimationsdilemma internationaler Normen auch für die Zukunft besser überwunden werden und die internationale Ordnung auf festere, weil gerechtfertigte Beine gestellt werden. Für unverbindliche Steuerungsformen bedeutet dies im Umkehrschluss, dass deren Normativität gerechtfertigt und erhöht werden kann, wenn die Verbindlichkeit bedingende Konsenslegitimation durch die Legitimationsbedingungen zweiter Stufe ergänzt werden. Die begleitenden Parameter im wissenschaftlichen Bereich müssen im Folgenden daher untersucht werden.
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7. Legitimationsanforderungen an eine internationale Kodexsetzung Nachdem die normativen Legitimationsbedingungen der Global Governance untersucht und um einen Vorschlag ergänzt wurden, soll nun aufgezeigt werden, inwieweit diese Anforderungen bei der Setzung internationaler Kodizes, wie sie von UNESCO und ICSU angestrebt werden, erfüllt werden können. Von dem Annahme ausgehend, dass diese trotz ihres unverbindlichen Charakters normative Wirkung entfalten sollen, müsste auch diese Ausübung von Governance den aufgestellten Legitimationskriterien internationaler Normen standhalten. Die Untersuchung soll dabei an den bisherigen Prozessen unverbindlicher Normsetzung ansetzen. a) Institutionelle Legitimation der Organisationen Die Analyse der institutionellen Legitimation soll aufzeigen, inwieweit die potentiell normsetzenden Institutionen die Legitimationsanforderungen globaler Governance erfüllen können. Auf dem Gebiet der Kodexsetzung wurden bislang zwei maßgebliche Akteure identifiziert, die sowohl unabhängig voneinander als auch kooperativ diesem Ziel entgegenstreben. Als verselbständigte Einheiten internationaler Normsetzung ist es erforderlich, zunächst deren institutionelle Legitimation zu untersuchen um die Produkte ihrer Normsetzungsprozesse beurteilen zu können. aa) UNESCO Die UNESCO wurde durch einen völkerrechtlichen Vertrag der Mitgliedsstaaten im Jahre 1945 gegründet.1401 Als Sonderorganisation der Vereinten Nationen im Sinne von Art. 57 und 63 der UN-Charta zur Erfüllung spezifischer Aufgaben ist sie mit dieser durch ein Abkommen verbunden.1402 Diese Beziehung zu den Vereinten Nationen berührt jedoch nicht die Tatsache, dass die UNESCO eine unabhängige, zwischenstaatliche Organisation darstellt, die ihre institutionelle Legitimation bereits auf einer starken ersten Stufe durch den Staatenkonsens bezieht. Die erwähnten Defizite jener ersten Stufe zwingen jedoch zu einem Blick auf die zweite Stufe, der aber zu einem größtenteils positiven Fazit führt. Bereits Art. 1 der Verfassung der UNESCO verdeutlicht die institutionelle Ausrichtung an den Grund- und Menschenrechten, deren Förderung 1401 UNESCO Constitution, 4 U.N.T. S. 275, anfangs von zwanzig Staaten ratifiziert, heute sind es 193 Mitgliedsstaaten (Stand 1.1.2011). 1402 1 U.N.T. S. 238.
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explizit als Ziel der staatlichen Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Bildung, Wissenschaft und Kultur ausgegeben wird. Die praktische Umsetzung dieser Maßgabe zeigte sich bereits an der starken menschenrechtlichen Prägung der bislang untersuchten unverbindlichen Dokumente der UNESCO1403 und zudem an der interpretatorischen Arbeit an einzelnen Menschenrechten.1404 Die Verarbeitung des menschenrechtlichen Ansatzes soll durch die Hauptorgane der UNESCO, Generalkonferenz, Exekutivrat und Sekretariat, sichergestellt werden. Die deliberative Überwindung der Unsicherheit über die menschenrechtlichen Standards soll dabei zunächst vom Plenarorgan der Generalkonferenz gewährleistet werden, in dem jeder Mitgliedsstaat mit einer Stimme vertreten ist.1405 Bereits auf konstitutioneller Ebene wird jedoch die Einbeziehung externer Akteure wie anderer internationaler, zwischenstaatlicher Organisationen sowie vor allem auch nichtstaatlicher oder halbstaatlicher Organisationen festgelegt, auch für die Arbeit einzelner Ausschüsse.1406 Diese erhalten zwar lediglich Beobachterstatus und sind insoweit nicht stimmberechtigt. Als Beitrag zur deliberativen Entscheidungsfindung und als Ausdruck der Transparenz ist diese Beteiligung jedoch essentiell. Als weiteres Deliberationsgremium wurde zudem das IBC gegründet.1407 Dieses besteht aus 36 Mitgliedern, die vom Generaldirektor der UNESCO auf Vorschlag der Mitgliedsstaaten ernannt werden. Es soll multidisziplinär besetzt sein und Stellungnahmen und Empfehlungen über neue ethische Fragen der Biologie und Medizin verfassen. Durch diese Organisationsstruktur, die eine weitreichende Pluralität und Heterogenität der Mitglieder gewährleistet,1408 sowie durch die diskursive Integration des Zwischenstaatlichen Ausschusses für Bioethik (Intergovernmental Bioethics Committee, IGBC)1409 wird eine deliberative Überwindung des Dissens und der Unsi1403
Vlg. oben, S. 301 ff. Die UNESCO hat sich in ihrer Arbeit sowohl der Menschenrechtserziehung, als auch der wissenschaftlichen, theoretischen und empirischen Forschung zu den Menschenrechten verschrieben, die durch Empfehlungen und Übereinkommen gestützt wird, wobei auch monitoring-Aktivitäten eingeschlossen sind, vgl. Klaus Hüfner, Unesco und Menschenrechte, S. 79 ff. und 99 ff.; vgl. auch dazu oben, S. 337 ff. und 341 ff. 1405 Artikel 4 Abs. 8 der UNESCO-Verfassung. 1406 Artikel 4 Abs. 13 und 14 in Verbindung mit Art. XI der UNESCO-Verfassung. 1407 Zur Bedeutung des IBC bei der Verabschiedung der unverbindlichen Dokumente der UNESCO vgl. oben, S. 307 und 313. 1408 Ausführlich mit größtenteils positivem Fazit, Vöneky, Recht, Moral und Ethik, S. 361 ff. 1409 Der IGBC wurde als Gegengewicht zum IBC durch das IBC-Statut selbst (Art. 11) eingerichtet und repräsentiert die Staatenvertreter der UNESCO. Er soll die Stellungnahmen und Empfehlungen der IBC untersuchen und wiederum dem 1404
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cherheit in Angriff genommen, die die institutionelle Legitimation der UNESCO vor allem im Bereich ethischer Entscheidungen zu stärken vermag. Vor allem auch die Beteiligung von Wissenschaftlern in jenem Gremium,1410 die letztendlich die Adressaten eines Kodexes sein sollen, ist dabei ein entscheidender Legitimationsfaktor, der die Berücksichtigung von deren Interessen aufzeigen kann. Diese Beteiligung wird umso wichtiger wenn man das hier gefundene Ergebnis, dass eine Wissenschaftsfreiheit im autonomiesichernden Sinne im internationalen Kontext nicht eindeutig identifiziert werden konnte, in die Überlegungen mit einbezieht. Die Berücksichtigung der Interessen der potentiellen Adressaten kann insofern nicht hoch genug ausfallen, will man die durch ein Grundrecht institutionalisierte Gewährleistung der Adressateninteressen kompensieren. Daher ist die Beteiligung der Wissenschaft in einem entscheidenden deliberativen Gremium notwendige Legitimationsbedingung für eine internationale Kodexsetzung. Denselben positiven Beitrag leistet in diesem Zusammenhang COMEST, ein spezialisiertes Gremium zu Erarbeitung globaler ethischer Prinzipien der Wissenschaft. Ebenso wie das IBC ist das COMEST multidisziplinär besetzt,1411 und hat zudem gegenüber dem IBC noch den Vorteil mit Vertretern externer Organisationen als ex officio-Mitgliedern besetzt zu sein,1412 darunter ein Vertreter des ICSU. Insoweit wird auch die Forderung nach der Einbeziehung externer Akteure umgesetzt und die Legitimationsbedingungen zweiter Stufe noch weiter gehend umgesetzt. Der vergleichsweise Nutzen der UNESCO auf dem Gebiet wissenschaftlicher Kodexsetzung aus der Sicht der Adressaten ist zwiespältig zu betrachten. Einerseits stellt die UNESCO die einzige internationale Organisation mit originär wissenschaftlicher Ausrichtung dar1413 und kann insoweit alleine eine gesamtwissenschaftliche Global Governance in Aussicht stellen.1414 Andererseits sieht sich der potentielle wissenschaftliche Adressat jenen Legitimationsdefiziten im input-Bereich gegenüber, die zuvor bereits kritisiert wurden.1415 Insoweit bietet sich für den einzelnen Wissenschaftler IBC davon berichten, bevor er seine eigene Stellungnahme den konstitutionellen Organen der UNESCO weiterleitet; auch dazu Vöneky ibid., S. 367 f. 1410 Zehn der 36 Mitglieder sind Naturwissenschaftler; außerdem sind vierzehn Mediziner vertreten, die teilweise ebenfalls der medizinischen Forschung zuzuschreiben sind. Darüber hinaus sind fünf Rechtswissenschaftler, ein Philosoph und sechs Ethiker unter den Mitgliedern (Stand Juli 2011). 1411 Vgl. dazu bereits oben, Fn. 1049. 1412 Vorgegeben in Art. 3 Abs. 5 der Statuten des COMEST. 1413 Ruffert/Steinecke, The Global Administrative Law of Science, S. 59. 1414 Andere spezialisierte internationale Organisationen wie die Weltgesundheitsorganisation (WHO) für das Gebiet medizinischer Forschung können demgegenüber lediglich ihre spezifische Fachrichtung legitimerweise koordinieren. 1415 Vgl. oben, S. 360 ff.
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mit dem ICSU eine direktere Interessenvertretung auf globaler Ebene an, die den vergleichsweisen Nutzen der UNESCO in Frage stellt. Bereits zur Lösung jenes Legitimationskonflikts bietet sich daher eine weiterführende Kooperation zwischen ICSU und UNESCO an. Auch die institutionelle Integrität ist nicht schlechthin positiv zu bewerten. Obgleich ihr oftmals eine überragende Rolle in ihren Tätigkeitsbereichen beschieden wird,1416 so sind auch institutionelle Defizite auszumachen, die ihre Integrität zu schwächen vermögen. Hierbei ist an vorderster Stelle das mangelhafte System der Berichtspflichten zu nennen. Nach Artikel 8 der UNESCO-Verfassung haben die Mitgliedstaaten regelmäßig über ihre Gesetze, Verordnungen und Statistiken, die ihre Tätigkeit und ihre Institutionen auf den Gebieten Bildung, Wissenschaft und Kultur betreffen, und über die Maßnahmen bezüglich der Empfehlungen und Übereinkommen der UNESCO Bericht zu erstatten. Jedoch kommt nur eine sehr geringe Zahl der Mitgliedstaaten dieser Pflicht überhaupt nach, viele Berichte werden verspätet eingereicht und in einigen Fällen sind diese auch zu allgemein gehalten, um für einen analytischen Bericht des Sekretariats verwendbar zu sein.1417 Die UNESCO arbeitet momentan an einer Reform der Berichtspflichten,1418 was diesem Problem in nächster Zeit möglicherweise Abhilfe zu verschaffen vermag. Die fehlende Kooperation der Mitgliedstaaten, die den ursprünglichen konsensualen Gründungsbeschluss perpetuieren müsste, weist aber jene Mängel der institutionellen Integrität auf, die die Legitimation einer Institution zu schwächen vermögen. Der UNESCO kann in institutioneller Sicht aber ein insgesamt positives Fazit beschieden werden, gewisse Legitimationsdefizite müssten aber eventuell noch kompensiert werden um eine gerechtfertigte und erhöhte Normativität auch ihrer unverbindlichen Instrumente zu erreichen. bb) ICSU Der ICSU ist im Gegensatz zur UNESCO eine Nichtregierungsorganisation, die eine klassische völkerrechtliche Legitimation weder aufweisen kann noch muss. Solchen Organisationen muss kein zwischenstaatlicher Gründungsvertrag zu Grunde liegen, im Gegenzug können die Staaten auch 1416 Vgl. bspw. P.-M. Dupuy, The Impact of Legal Instruments Adopted by UNESCO on General International Law, in: Yusuf, Normative action in education, science and culture: Standard-setting in UNESCO, S. 362. 1417 Hüfner/Reuther, UNESCO-Handbuch, S. 305. 1418 Vgl. dazu R. Bank/F. Foltz, United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization (UNESCO), in: Wolfrum, Encyclopedia of Public International Law, Rn. 70 f.
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nicht durch deren Entscheidungen gebunden werden. Als spezialisierte, funktionsfähige, globale Organisationen übernehmen die Nichtregierungsorganisationen jedoch wichtige Aufgaben der Global Governance, die der Wahrnehmung „öffentlicher Aufgaben“ bereits sehr nahe kommt,1419 vor allem wenn diese normsetzend tätig werden. Die Tendenzen unabhängig von der UNESCO tätig zu werden, um eigene Normen für die assoziierten Wissenschaftler zu generieren, erfordert auch eigene Legitimationsstrukturen, die jene Normen mit zumindest professionsinterner Geltungskraft auszustatten vermögen. Dabei weist der ICSU jedoch bereits auf input-Ebene Legitimationsdefizite auf, die den Anspruch wissenschaftlicher Selbstverwaltung zu unterminieren vermögen. Neben den bereits erwähnten Defiziten der quantitativen und qualitativen Repräsentation1420 ist dabei insbesondere auffällig, dass die Kriterien der Mitgliedschaft für nationale Mitglieder wenig detailliert sind. Sie müssen lediglich effektiv die Bandbreite wissenschaftlicher Tätigkeit in einem bestimmten Gebiet repräsentieren,1421 keine Rolle spielt demgegenüber die politische Autonomie der jeweiligen Institution. Diese fehlende Betonung der Unabhängigkeit ist umso auffälliger, als die Nichtstaatlichkeit explizit als Kriterium für internationale Vereinigungen der verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen als Mitgliedschaftsbedingung gefordert wird.1422 Insofern besteht zumindest die Möglichkeit, dass die Mitglieder aus staatlichen und nichtstaatlichen Institutionen gleichermaßen gebildet werden, was den Anspruch einer wissenschaftlichen Selbstverwaltungsorganisation als Repräsentationsorgan einer autonomen Wissenschaft legitimatorisch in Frage stellt. Zweiter kritischer Punkt ist die Abhängigkeit der Stimmberechtigung von der Zahlung der Beiträge. Kommen nationale Mitglieder ihren Zahlungsverpflichtungen nicht nach, wird ihnen lediglich noch der nicht stimmberechtigte Beobachterstatus zuerkannt.1423 Insbesondere finanziell schlechter augestattete nationale Mitglieder können in der Folge benachteiligt sein1424 und der Anschein erweckt werden, dass Partizipation nur von der Finanzkraft abhängt. 1419 Noch bestimmter in dieser Hinsicht ist der Befund von Keller, Codes of Conduct and their Implementation, S. 265. 1420 Siehe oben, S. 326 f. 1421 Artikel 8 der ICSU-Statuten; anders bspw. die Mitgliedschaftskriterien der World Medical Association, die in Kapitel 1, Abs. 1 lit. b die staatliche Unabhängigkeit fordert. Vgl. auch M. Chang, World Medical Association, in: Wolfrum, Encyclopedia of Public International Law, Rn. 3. 1422 Artikel 7 der ICSU-Statuten. 1423 Artikel 15 der ICSU-Statuten in Verbindung mit Artikel 10.2 der Rules of Procedure der ICSU. 1424 Vgl. zum selben Problem im Fall der WMA, Chang, Ethische und rechtliche Herausforderungen einer globalisierten Arzneimittelprüfung, (erscheint demnächst).
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Die Legitimationselemente der ersten Stufe sind für den ICSU insofern gar nicht oder nur mangelhaft vorhanden. Sollten aber die Bedingungen der zweiten Stufe erfüllt werden können, würde ein gewisses Legitimationsniveau erreicht werden, das zumindest den vergleichsweisen Nutzen zwischenstaatlicher Normsetzungen in Frage stellen könnte. Bei einer spezialisierten, internationalen Selbstverwaltungsorganisation ist das erste der substantiellen Kriterien, der Schutz grundlegender Menschenrechte, in seiner Funktionalität jedoch problematisch. Diese Legitimationsbedingung wurde mit zwei Gründen gerechtfertigt: Erstens bedarf jedes demokratische System menschenrechtlicher Grenzen zum Schutz der Minderheit und zur effektiven Ausübung wesentlicher Elemente demokratischer Meinungsbildung. Zweitens ist die Befolgung von Normen dann vorteilhaft, wenn die Adressaten oder Betroffenen erkennen, dass die normsetzende Institution als Ziel die Wahrung der grundlegenden Interessen verfolgt.1425 Das demokratische Grundelement eines umfassenden, pluralistischen demos ist an dieser Stelle nicht gegeben, lediglich ein spezieller Kreis repräsentierter Individuen soll einer speziellen Steuerung ihrer professionellen Belange unterliegen. Insoweit also sowohl der Adressatenkreis als auch Regelungskompetenzen und -ziele sehr viel geringer ausfallen, kann auch das wesentliche Interesse der Adressaten auf einen bestimmten Aspekt reduziert werden: die Gewährleistung einer Wissenschaftsfreiheit im Sinne einer epistemischen Rationalität wie auch einer größtmöglichen Autonomie. Mangels einer global anerkannten, autonomiesichernden Wissenschaftsfreiheit1426 wird die Verbürgung der Universalität der Wissenschaft als Grundprinzip der ICSUStatuten1427 zu einem gewichtigen Legitimationsfaktor einer spezifisch wissenschaftlichen Selbstverwaltungsorganisation. Das heterogene Bild der Gewährleistung einer freien Wissenschaft auf globaler Ebene erfordert jedoch die deliberativen Mechanismen zur Überwindung von Dissens und Unsicherheit, die als deliberativ-formelle Kriterien bezeichnet wurden. Dieser Maxime ordnet sich der ICSU weitestgehend unter. Mit einer für internationale Organisationen typischen Struktur1428 aus Generalversammlung, Exekutivausschuss und Sekretariat,1429 weist er sämtliche Charakteristika einer deliberativ strukturierten Organisation auf, die durch Beratungsgremien unterstützt werden. Eines jener Beratungsgremien widmet sich den Ausprägungen des Prinzips der Universalität 1425
Siehe dazu oben, S. 364 f. Vgl. oben, S. 329 ff. 1427 Art. 5 der ICSU-Statuten. 1428 So die Einschätzung von Ruffert/Steinecke, The Global Administrative Law of Science, S. 84. 1429 Das Sekretariat nennt sich beim ICSU „The Officers“, vgl. Art. 31 der ICSUStatuten. 1426
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der Wissenschaft als Freiheit und Verantwortlichkeit der Wissenschaft.1430 Insoweit vermag der ICSU die Anforderungen an institutionalisierte Deliberationsmechanismen effektiv zu erfüllen. Das Universalitätsprinzip derart zu betonen und deliberativ zu gewährleisten, verschafft dem ICSU auch im Sinne des vergleichsweisen Nutzens einen Vorsprung gegenüber der UNESCO, deren Status der Wissenschaftsfreiheit weiterhin diffus bleibt.1431 Dies beschränkt sich jedoch nur auf den geringeren Kreis der Wissenschaftler als spezielle Adressaten, wodurch die Vergleichbarkeit der Institutionen und ihrer Legitimationsstrukturen leidet. Das bereits erwähnte Problem der finanziellen Stimmbeschränkungen kann der institutionellen Integrität als drittem substantiellem Kriterium abträglich sein. Dies könnte aber auch als eine Notwendigkeit internationaler Selbstverwaltungsorganisationen zumindest teilweise gerechtfertigt sein, da diese auf die Bereitschaft zur Zahlung der Beiträge durch deren Mitglieder angewiesen ist, mangels anderer Eintreibungs- und Sanktionsmöglichkeiten. Einen größeren Mangel stellt demgegenüber die fehlende Einbeziehung externer Akteure in die Deliberationsprozesse dar, die für die Legitimationsbedingungen der zweiten Stufe als essentiell erachtet wurde. Den Status eines assoziierten Mitglieds können nur wissenschaftliche Organisationen oder Institutionen erhalten,1432 der Beobachterstatus ist nur für säumige Mitglieder vorgesehen.1433 Die beratenden Gremien werden alleine durch die Mitglieder des Exekutivauschusses bestimmt, ohne spezifische Qualifikationsansprüche und ohne formell vorgesehene Beteiligung von Nichtwissenschaftlern.1434 Die grundlegenden Sicherungsmechanismen durch externe, auch nichtwissenschaftliche Akteure mit Blick auf Verantwortlichkeit und Transparenz werden auf diese Weise nur unzureichend erfüllt, was die Legitimation dieser Institution auch auf der zweiten Stufe nicht ausreichend erscheinen lässt. Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass der ICSU nach den Kriterien zweiter Stufe zwar Vorteile bietet, dennoch aber nur eine unzureichende 1430 Das „Policy Committee on Freedom and Responsibility in the Conduct of Science“ ist bereits in Art. 11.1 der Rules of Procedure vorgesehen, die den Statuten des ICSU angehängt sind. 1431 Vgl. oben, S. 341 ff. 1432 Art. 11 ff. der ICSU-Statuten. 1433 Art. 15 der ICSU-Statuten. 1434 Tatsächlich befinden sich im aktuellen Beratungsgremium zu Freiheit und Verantwortlichkeit in der Wissenschaft von 14 stimmberechtigten Mitgliedern 14 Wissenschaftler, wovon ein Mitglied Expertin für internationale Menschenrechte und ein Mitglied Experte für internationale Wissenschaftszusammenarbeit ist (Stand August 2011). In Anbetracht der Thematik kann nicht von einer multidisziplinären Zusammensetzung ausgegangen werden.
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institutionelle Legitimation aufweisen kann, wodurch dessen normsetzende Aktivitäten in Frage gestellt werden. Als Institution zur Koordination internationalen Wissenschaft und zur Sicherung wissenschaftlicher Autonomie ist er jedoch unerlässlich und kann insoweit Aufgaben wahrnehmen, an denen die zwischenstaatlich organisierte UNESCO scheitert. Auf diese Weise ist ein mögliches kooperatives Verhältnis bereits vorgezeichnet. b) Legitimationsanforderungen an einen Kodexsetzungsprozess Sollen globale Kodizes zur Sicherung wissenschaftlicher Verantwortung trotz einer unverbindlichen Form normative Wirkung entfalten, so bedürfen sie der Erfüllung der Legitimationskriterien, die bislang umrissen und auf die in Frage kommenden Institutionen angewandt wurden. Dabei hat sich gezeigt, dass der ICSU als globale Selbstverwaltungsinstitution legitimatorische Mängel aufweist, die eine eigenständige Kodexsetzung fraglich erscheinen lässt. Demgegenüber hat sich die UNESCO in dieser Hinsicht zwar als tragfähiger erwiesen, ihr mangelte es jedoch an einer konkreten Gewährleistung wissenschaftlicher Autonomie als spezifisches Legitimationskriterium einer effektiven, wissenschaftlichen Steuerung. Daher muss ein Kodexsetzungsprozess kooperative Bedingungen erfüllen, um die Defizite beider Institutionen in legitimatorischer Sicht ausgleichen zu können. Ohne auf eventuelle Inhalte oder Formulierungen einzelner Punkte eingehen zu können, kann auf diese Weise eine Legitimationsstruktur vorgezeichnet werden, die eventuelle normative Wirkungen auf globaler Ebene durch die benannten Kriterien zu rechtfertigen vermag. Um einen umfassenden Kodex setzen zu können, der sowohl die Staaten in ihren Wissenschaftspolitiken, als auch Individuen handlungsanleitend steuern soll, müssen zunächst und zuvorderst die Legitimationsbedingungen der ersten Stufe bestmöglich erfüllt werden. Es müsste demnach ein Staatenkonsens im Sinne einer multilateralen Ratifizierung sichergestellt werden, der mithilfe der mittelbaren demokratischen Legitimation den Willen der verschiedenen Völker so weit wie möglich verwirklichen kann. Die Vorbereitung einer Kodexsetzung müsste insofern unter Federführung der UNESCO erfolgen, die als konsensual begründete zwischenstaatliche Organisation und unter Verwendung ihrer immanenten Deliberationsprozesse gerechtfertigterweise die erforderlichen argumentativen Entscheidungsprozesse vorbereiten und vorzeichnen kann. Ihre menschenrechtliche Ausrichtung, die sie bereits bei der Abfassung ihrer Allgemeinen Erklärungen bewiesen hat, auch durch eine Hybridisierung ihrer ethischen Instrumente, kann die Erfüllung der substantiellen Legitimationskriterien der zweiten Stufe weit genug verwirklichen um einen breitest möglichen Konsens über die Legitimation eines solchen Kodex zu erreichen.
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Um den Anspruch erheben zu können, neben den Staaten die Hauptadressaten eines solchen Kodexes, die wissenschaftliche Gemeinschaft, in ethischer Sicht tatsächlich steuern zu können, bedarf es jedoch einer zusätzlichen Integration derjenigen Akteure, die in ihrer Wahrnehmung und ihrer Ausgestaltung eine Autonomie der Wissenschaft im Sinne einer Wissenschaftsfreiheit gewährleisten zu können. Eine solche wurde als Voraussetzung einer effektiven Wahrnehmung eines Ethos wissenschaftlicher Verantwortung identifiziert und bedarf insofern einer materiellen und prozeduralen Verankerung innerhalb des jeweiligen Kodexsetzungsprozesses. Die Diskussion um das umstrittene Zusammenspiel freier Wissenschaft und gesellschaftlicher Verantwortung verläuft momentan unabhängig voneinander in beiden untersuchten Institutionen und müsste in einem konkreten Kodexsetzungsprozess prozedural verzahnt werden, um zum einen spezifische Ergebnisse zu erreichen, die alle beteiligten Akteure als gerechtfertigt akzeptieren können und zum anderen die ethische Forderung nach institutioneller Wahrnehmung der wissenschaftlichen Verantwortung gewährleisten zu können. Daher ist es notwendig, dass ICSU und UNESCO ihren 1999 begonnenen Dialog fortführen um ein Ergebnis zu erreichen, das zunächst der ICSU formell verabschieden kann, damit ein durch die UNESCO gesetzter und von der Staatengemeinschaft konsensual verabschiedeter Kodex, diejenige Akzeptanz und Unterstützung der Wissenschaftsgemeinde erfahren kann, die die Beteiligung einer Selbstverwaltungsinstitution vermitteln kann. Ihr könnte insofern die Rolle zufallen, eine starke, grundrechtlich gewährleistete Wissenschaftsfreiheit in die Kodizes zu implementieren um jene Bedingungen der Autonomie zu schaffen, die die Wahrnehmung eines Ethos wissenschaftlicher Verantwortung begünstigen könnten. Die Unsicherheit über den Status der Wissenschaftsfreiheit, wie auch deren Verhältnis zu den Menschenrechten, zu deren Schutz die Wissenschaft gesteuert werden soll, müsste aber nach den bisherigen Ausführungen auch in den jeweiligen Gehalten der Kodizes überwunden werden. Zur gleichzeitigen Erfüllung der Forderung nach institutioneller Wahrnehmung wissenschaftlicher Verantwortung, sollte daher auch in den Kodizes selbst die Implementierung deliberativer Argumentationsprozesse, wie sie Ethikgremien im Idealfall bieten,1435 vorgesehen werden, um Dissens und Unsicherheit auch im einzelnen Anwendungsfall begegnen zu können.
1435 Zu den Anforderungen an die gerechtfertigte Implementierung von solchen Ethikgremien, Vöneky, Recht, Moral und Ethik, S. 534 ff.
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8. Zusammenfassung Die Kodexsetzung zur Steuerung wissenschaftlicher Verantwortung im internationalen Bereich ist noch immer in der Vorbereitungsphase. Dabei haben sich mehrere Problemfelder aufgetan. Erstens ist der Status unverbindlicher Handlungsformen im Völkerrecht noch immer nicht vollends geklärt. Nach den hier gefundenen Ergebnissen lässt sich jedoch feststellen, dass diese zwar keine eigenständige Kategorie des Rechts bilden und sich insofern nicht in den Kanon der völkerrechtlichen Rechtsquellen einordnen lassen. Sie haben jedoch bei entsprechender Ausgestaltung rechtsvorbereitende, rechtsbegleitende und teilweise auch rechtsersetzende Wirkungen, die vor allem in schwer regulierbaren Bereichen Verhaltenserwartungen zu stabilisieren vermögen und damit Steuerungswirkungen entfalten können, die einer legitimatorischen Grundlage bedürfen. Die Legitimationsgrundlage völkerrechtlicher Normen ist zweitens noch immer strittig auf der originär koordinationsrechtlichen Ebene des Völkerrechts. Die ursprünglich konsensual geprägten Legitimationsbedingungen staatlicher Koordinierung weisen aufgrund der modernen Entwicklungen des Völkerrechts Defizite auf, denen die Global Governance-Ansätze begegnen wollen. Vor allem auch die Schwierigkeiten der mittelbaren demokratischen Legitimation sollen nach dem hier verfolgten Vorschlag durch deliberative Kriterien ergänzt werden, um die Geltungskraft auch unverbindlicher Instrumente wie den Kodizes der Wissenschaft gleichzeitig zu rechtfertigen und zu stärken. Werden die hier aufgestellten Bedingungen erfüllt, können globale Kodizes eine legitime Grundlage aufweisen und so die Wahrnehmung wissenschaftlicher Verantwortung auch im Wege internationaler Harmonisierung stützen. Für deren inhaltliche Gestaltung hat sich drittens gezeigt, dass ein rein (bio-)ethisch geprägter Ansatz keine ausreichenden Erfolgsaussichten hat um einer internationalen Koordinierung zu dienen. Es muss vielmehr der gegebene Rahmen der internationalen Menschenrechte herangezogen werden, um ein global konsentiertes Unternehmen in Angriff nehmen zu können und gleichzeitig eine ausreichende Wirkungskraft zu erreichen. Dabei ergibt sich viertens auch bei der Wahl eines menschenrechtlichen Rahmens die Schwierigkeit, dass auf völkerrechtlicher Ebene ein Grundrechtsschutz der Wissenschaft im Sinne einer Autonomie und Selbstbestimmung nicht eindeutig zu identifizieren ist. Ausgehend von der Erkenntnis, dass ein ausreichendes Maß an Autonomie jedoch notwendig ist, um aus wissenschaftsethischer Sicht ein Ethos wissenschaftlicher Verantwortung aktivieren zu können, muss dieses durch die deliberative und prozedurale Partizipation von globalen Selbstverwaltungsinstitutionen der Wissenschaft si-
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B. Kodizes in der Wissenschaft
chergestellt werden. Nur die notwendige Beteiligung der potentiellen Adressaten kann insofern auch die substantiellen Kriterien der Legitimation erfüllen, derer es zu einer effektiven Steuerung auf internationaler Ebene bedarf. Insoweit zeigt sich, dass die kodexsetzenden Institutionen gewisse Legitimations- und Kooperationsnotwendigkeiten berücksichtigen müssen, wollen sie die Wissenschaft in globaler Sicht mit Blick auf deren Verantwortung in der Zukunft steuern. Nur dann können sich auch für Europa und Deutschland tragfähige Ansätze einer Inkorporation global konsentierter Verantwortungselemente in die Wissenschaft entwickeln. Diese würden keines staatlichen Umsetzungsakts mehr bedürfen, sondern wären durch die vorgezeichneten Kooperationsbedingungen staatlicher und wissenschaftlicher Akteure auf internationaler Ebene bereits mit einer Legitimation ausgestattet, die eine Integration in die wissenschaftliche Gemeinde erleichtern könnte und die beschriebenen grundrechtlichen Probleme innerhalb der untersuchten Ebenen Europas und Deutschlands vermeiden kann. Eine Durchdringung „untergeordneter“ Ebenen ist letztlich nur dann möglich, wenn die „übergeordnete“ Ebene die identifizierten Legitimationsbedingungen erfüllen kann.
C. Ergebnisse und Erkenntnisse der Analyse I. Die Wissenschaftsfreiheit Die Wissenschaftsfreiheit war eines der zentralen Themen der vorliegenden Untersuchung. Die prominente Behandlung des Grundrechts war zwei Aspekten geschuldet: Es ist notwendiges Element der Etablierung eines Ethos wissenschaftlicher Verantwortung aus wissenschaftsethischer Sicht. Die Ausführungen haben gezeigt, dass nur die Gewährleistung wissenschaftlicher Autonomie zur Etablierung einer professionsinternen Ethik der Verantwortung gegenüber der Gesellschaft hinreichend führen kann, was das Ziel der hier untersuchten Steuerungsformen ethischen Verhaltens in der Wissenschaft sein soll. Zugleich ist das Grundrecht aber auch Grenze einer wissenschaftlichen Steuerung, die je nach Ausprägung im jeweiligen Rechtssystem variieren kann. Diese Grenze zu ermitteln hat insbesondere im supra- und internationalen Bereich noch Probleme bereitet, zu denen hier eine Lösung präsentiert werden konnte. Die Gewährleistung der Wissenschaftsfreiheit durch Art. 5 Abs. 3 GG im deutschen Recht stellte die stärkste Form der Grundrechtsgewährleistung in den untersuchten Rechtsregimes dar. Sie ist lediglich durch verfassungsimmanente Rechtsgüter von speziellem, hohen Rang einschränkbar und garantiert insoweit eine weitgehende Freiheit vor staatlicher Ingerenz. Ob ein Sachverhalt dabei einen wissenschaftlichen Bezug aufweist, muss dabei in erster Linie vom wissenschaftlichen System selbst ermittelt werden, das insoweit eine gewisse, wenn auch eingeschränkte Hoheit über die Bestimmung des Schutzbereichs besitzt. Jene Hoheit kann jedoch nicht so weit gehen, dass eine Eingrenzung des Schutzbereichs der Wissenschaftsfreiheit bereits durch ethische Erwägungen ermöglicht würde, die in Ethikkodizes einer selbstverwalteten Wissenschaft festgelegt werden könnten. Die Grenzen der Wissenschaft im Gefüge der Grundrechte sind allein durch die Grundrechte selbst zu bestimmen und daher nicht durch anderweitige Güter zu ermitteln, denen ein Verfassungsrang nicht nachgewiesen werden kann. Die Analyse hat gezeigt, dass eine Einschränkung der Wissenschaftsfreiheit insofern erst auf Schrankenebene und nur durch spezielle, qualifizierte Verfassungsgüter erfolgen kann. Dies gilt auch dann, wenn das Recht scheinbare Einfallstore für außerrechtliche Maßstäbe generiert, wie sie üblicherweise in Generalklauseln zu finden sind. Auch Begriffe wie die „guten Sit-
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C. Ergebnisse und Erkenntnisse der Analyse
ten“ oder das „Sittengesetz“ können im System des Rechts nicht dazu beitragen, ethische Maßstäbe in die Regulierung der Wissenschaft einzubeziehen, die keinen grundrechtlichen Rückbezug aufweisen können. Gleiches gilt für das Europarecht. Dort konnte in Art. 13 GRC eine Wissenschaftsfreiheit ermittelt werden, die zwar nicht den Umfang wie das deutsche Grundrecht aufweisen kann. Als Produkt der Gedanken- und Meinungsfreiheit hat sie jedoch ihren Platz in einer europäischen Grundrechtsordnung gefunden, die ebenso wie im deutschen Recht den ethischen Grundrahmen der Arbeit der politischen Organe bestimmt. Aus diesem Grund sind die Versuche der Europäischen Kommission eine ethisierte Wissenschaft durch die Generierung unverbindlicher Verhaltens- oder Ethikkodizes zu etablieren aufgrund ihrer Grundrechtsbindung auch nicht zu rechtfertigen. Außer durch die Menschenwürde kann im Gefüge der Grundrechtecharta der Gewährleistungsgehalt des Art. 13 GRC nicht bereits im Vorhinein begrenzt werden, vor allem nicht durch ethische Prinzipien außerrechtlicher Natur. Die dogmatische Verortung der europäischen Wissenschaftsfreiheit ist jedoch noch nicht vollständig geklärt. Die hier präsentierten Ergebnisse bilden lediglich einen Vorschlag zum zukünftigen Umgang mit dem Grundrecht, der zwar keinen allgemeinen Gültigkeitsanspruch erheben, möglicherweise aber dazu führen kann auch auf europäischer Ebene ein Grundrecht zu etablieren, das den angestrebten Raum der Forschung in Art. 179 AEUV effektiv verwirklichen und zugleich den Konflikt bewältigen kann zwischen der Schaffung eines Raums der Freiheit und der Menschenrechte im Sinne des Art. 2 EUV und der Förderung der Wissenschaft als Ziel der Union in Art. 3 Abs. 3 EUV. Ein negatives Ergebnis ergab die Suche nach einer ähnlich ausgestalteten Wissenschaftsfreiheit im Völkerrecht. Ungeachtet der Probleme des völkerrechtlichen Menschenrechtsschutzes nährten Anknüpfungspunkte der internationalen Menschenrechtsverbürgungen wie Art. 15 IPwskR und Art. 27 AEMR den Verdacht, ein solches Grundrecht ließe sich auch im internationalen Rechtsregime identifizieren. Die Analyse ergab jedoch, dass eine wissenschaftliche Autonomie frei von staatlicher Ingerenz nicht als grundrechtliche Gewährleistung aufzuweisen war. Die Wissenschaft ist in diesem Kontext eher in einer dienenden Funktion zu betrachten, die den Menschen eine Teilhabe am wissenschaftlichen Fortschritt zur Bewältigung der Probleme auf der Welt sichern soll. Zur Erreichung dieses Ziels ist eine Finalisierung der Wissenschaft angestrebt, die auch eine ethische Begrenzung bereits auf der Ebene des Schutzbereichs rechtfertigt. Die fehlende Garantie einer Autonomie der Wissenschaft hat jedoch zu besonderen Legitimationsbedingungen für die Abfassung von Ethikkodizes durch internationale Akteure geführt, wenn ein Ethos wissenschaftlicher Verantwortung erreicht werden soll.
II. Das Verhältnis von Ethik und Recht
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Insgesamt lässt sich festhalten, dass der Grundrechtsschutz der Wissenschaft in der Reihenfolge der untersuchten Ebenen schwächer wird. Dies kann auch kaum verwundern, ist es doch jeweils die Frage, welchen Stellenwert und welche Entfaltungsmöglichkeit eine Gesellschaft der Wissenschaft einräumen will. Je größer der Rahmen der beteiligten Akteure, desto schwieriger ist die Befürwortung einer Wissenschaftsautonomie wie sie im deutschen Recht aufzufinden war. Solange aber diese nur punktuell gewährleistet wird, ist der Rekurs auf unverbindliche Steuerungsformen nicht deshalb notwendig, weil der Respekt vor jener Autonomie nur eine schwache Steuerung mit geringer Eingriffsintensität zulässt und aus professionsinterner Sicht nur auf diese Weise eine Etablierung eines Ethos wissenschaftlicher Verantwortung gelingen kann, sondern weil eine stärkere Regulierungsform aus Gründen des Dissens nicht möglich ist.
II. Das Verhältnis von Ethik und Recht Die Ausführungen zum Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit haben bereits angedeutet, was die Analyse der Kodizes in der Wissenschaft für die Inkorporierung ethischer Standards in das Recht ergab. Solange die Grundrechte für die Regulierung der Wissenschaft eine Rolle spielen, sei es durch grundrechtsgebundene Selbstverwaltungskörperschaften, supranationale Organe der Exekutive oder zwischenstaatliche Organisationen, muss der Versuch einer Etablierung paralleler Sollensmaßstäbe scheitern. Im deutschen Recht konnten weder außerrechtliche Maßstäbe durch Öffnungsklauseln in Gesetzen die grundrechtliche Bindung aufheben, noch ein anderweitiger Beurteilungsmaßstab an die Abwägung zwischen der Wissenschaftsfreiheit und den Rechtsgütern Dritter angelegt werden. Bei der Betrachtung europäischer Kodizes konnte ein solches Vorgehen durch die Kommission beobachtet und aufgrund der Überwindung grundrechtlicher Bindungen kritisiert werden. Im völkerrechtlichen Teil wurde darüber hinaus aufgezeigt, dass alleine ein menschenrechtlicher Ansatz einem globalen Unternehmen wissenschaftlicher Steuerung zu Erfolg verhelfen kann. Dies gilt darüber hinaus auch, weil es der Beteiligung der zwischenstaatlichen Akteure bedarf, die bei der Ausübung einer Art von hoheitlicher Gewalt, die als Global Governance identifiziert wurde, grund- und menschenrechtlichen Rahmenbedingungen unterliegen müssen um legitimerweise ihre Aufgabe erfüllen zu können. All jene Konstellationen haben gezeigt, dass das System des Rechts von einem Beurteilungsmaßstab der Ethik als unabhängige Rechtfertigungsdisziplin zunächst vollständig abgekoppelt werden sollte. Wenngleich Rechtssysteme zugleich als ethische positiv-rechtliche Gerechtigkeitsordnungen
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C. Ergebnisse und Erkenntnisse der Analyse
klassifiziert werden können,1 bilden sie einen abgeschlossenen Kreis von Normen und Prinzipien, die Verhaltenserwartungen zu stabilisieren und eine Befriedungsfunktion auszuüben vermögen. Sobald aber Akteure, die Bestandteil dieses Systems sind, auf Sollensmaßstäbe rekurrieren, die unabhängig und parallel existieren sollen, können diese Funktionen nicht mehr ausgefüllt werden, es besteht vielmehr die Befürchtung der Beliebigkeit und des Missbrauchs. Vor allem das Beispiel der Wissenschaftsfreiheit hat in diesem Zusammenhang gezeigt, dass die Gefahr einer Unterhöhlung besteht, wenn der Diskurs aus dem grundrechtlichen auf einen freien ethischen Bereich verlagert wird. Denn auf diese Weise können Vorgaben umgesetzt werden, die einer rechtlichen Prüfung nicht standhalten würden. Insofern verhilft auch die Wahl unverbindlicher Steuerungsinstrumente nicht zu einer Zulässigkeit einer solchen Verlagerung, wenn und soweit die Etablierung ethischer Beurteilungsmaßstäbe eine gleiche oder ähnliche normative Wirkung zu entfalten vermag, wie es andere, verbindliche Maßnahmen könnten. Würden die Kodizes insoweit jeglicher normativer Wirkung beraubt, könnten sie auch von grundrechtsgebundenen Stellen erlassen werden, würden aber einen handlungsanleitenden Effekt verfehlen, was deren Intention widersprechen würde. Das Fazit muss daher lauten, dass Ethikkodizes nur dann geeignete Mittel zur Steuerung der Wissenschaft sein können, wenn diese auch die grundrechtliche Realität ihres jeweiligen Rechtsregimes widerspiegeln können. Denn nur dann entwickeln sie eine Normativität, die auch gerechtfertigt werden kann bei einer Eingriffsintensität, die die notwendige Autonomie der Wissenschaft respektiert.
III. Unverbindliche Steuerungsformen Die unverbindlichen Steuerungsformen standen als Medium der Steuerung einer ethischen Wissenschaft im Mittelpunkt der Untersuchung. Dabei wurde deutlich, dass sie trotz der kontraintuitiven Behandlung in einer rechtswissenschaftlichen Arbeit mittlerweile eine rechtliche Relevanz entfalten, die einer Analyse vom Standpunkt des Rechts bedarf. Es ließ sich ebenenübergreifend feststellen, dass deren Verwendung Anforderungen unterliegen muss, denen zukünftig besser Rechnung getragen werden muss, sollen die Sphären von Ethik, Politik und Recht nicht zu Ungunsten der Grundrechtsträger verschwimmen. Die rechtliche Relevanz der unverbindlichen Steuerungsformen in Gewand von Kodizes ergab sich vor allem durch die Setzung durch grundrechtsgebundene Körperschaften in grundrechtssensiblen Bereichen. Insbesondere im supra- und internationalen Regime wurde deren abstrakte Re1
Vöneky, Recht, Moral und Ethik, S. 617.
III. Unverbindliche Steuerungsformen
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levanz des Weiteren damit begründet, dass in diesen Bereichen oftmals eine weitere Quelle zur Stabilisierung von Verhaltenserwartungen benötigt wird, die sich aufgrund faktisch bestehender Dissenssituationen nur auf eine solche, unverbindliche Weise erreichen lässt. Die Wirkung kann dabei mit der Trias aus rechtsvorbereitenden, rechtsbegleitenden und rechtsersetzenden Instrumenten am Besten beschrieben werden. In jener Eigenschaft ist die wichtigste Erkenntnis beim Zusammenspiel mit verbindlich gesetztem Recht, dass formell unverbindliche Steuerungsformen trotz legitimer Verwendungsweise niemals Ersteres derogieren dürfen, mithin auch die grundrechtlichen Rahmenbedingungen respektieren müssen. Soweit demnach unverbindliche Kodizes als Notwendigkeit bei der wissenschaftlichen Steuerung aus Respekt vor der Autonomie der Wissenschaft erkannt wurden, so müssen sie dennoch im grundrechtlichen Gefüge geringer Eingriffsintensitäten gerechtfertigt werden können, soll deren Verwendung nicht zu grundrechtlichen Kontroversen führen. Vor allem die noch unausgereifte Grundrechtsdogmatik der Europäischen Charta der Grundrechte mit einer neu geschaffenen Wissenschaftsfreiheit hat dabei die Notwendigkeit einer Zurückhaltung der Europäischen Organe aufgezeigt, sollen die eben erst etablierten Grundrechtsgarantien nicht bereits in ihrem Anfangsstadium einer möglicherweise verhängnisvollen Unterhöhlung ausgesetzt werden. Das Völkerrecht konnte demgegenüber zwar keine grundrechtliche Grenze der Wissenschaftsfreiheit bei der Verwendung unverbindlicher Steuerungsformen aufzeigen. Mehr noch als im Europäischen Recht eröffneten sich jedoch Probleme der Legitimation in einem Regime, das von einem Zusammenspiel verbindlicher und unverbindlicher Normen gekennzeichnet ist. Die Überwindung jener Legitimationsprobleme der Global Governance muss bereits bei den unverbindlichen Steuerungsformen ansetzen, soll deren Normativität einerseits gerechtfertigt, andererseits erhalten werden können. Die Lösung soll dabei die Stärkung der institutionellen Legitimation der potentiell normsetzenden Organisationen sein, um die notwendige konsensuale Staatenlegitimation mit weiteren Rechtfertigungselementen normativ-deliberativer Legitimation anzureichern. Auf diese Weise können die Bestrebungen, auch globale Ethikkodizes zur weltweiten Implementierung eines Ethos wissenschaftlicher Verantwortung zu verabschieden, als gerechtfertigt betrachtet werden und gleichzeitig bei institutioneller Integration wissenschaftlicher Selbstverwaltungsorganisationen die Effektivität solcher Kodizes gesteigert werden. Als ebenenübergreifende Erkenntnis lässt sich festhalten, dass unverbindliche Steuerungsformen geeignete, aus wissenschaftstheoretischer Sicht auch notwendige Wege der ethischen Regulierung darstellen, wenn diese den hier identifizierten Grenzen und Anforderungen gerecht werden können. Das Augenmerk muss bei der Setzung dieser Kodizes aber stets auf
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der Stärkung der institutionellen Wahrnehmung wissenschaftlicher Verantwortung liegen, damit wissenschaftsethische Forderungen bei gleichzeitiger Wahrung des grundrechtlichen Rahmens umgesetzt werden können.
IV. Legitimationsbedingungen unverbindlicher Steuerung Bereits im völkerrechtlichen Kontext ist angedeutet worden, was im Ergebnis auch für die Kodexsetzung wissenschaftlicher Verantwortung generell gelten kann. Sollen Ethikkodizes die Wissenschaft effektiv in Richtung eines Ethos wissenschaftlicher Verantwortung lenken, so dürfen dabei nicht nur deren Grenzen, sondern muss auch deren Legitimationsgrundlage Beachtung finden. Die Konstellationen waren hierbei in ebenenübergreifender Sicht zunächst unterschiedlicher Natur. Im deutschen Recht war es hauptsächlich die Perspektive wissenschaftlicher Selbstverwaltung, deren Strukturen die Kodexsetzung prägten, im Kontext europäischer Regulierung war es ein Exekutivorgan der Europäischen Verträge, dessen Kodexsetzung untersucht wurde und im internationalen Bereich war es eine Konkurrenzsituation zwischen der zwischenstaatlichen Organisation der UNESCO als Sonderbehörde der Vereinten Nationen für wissenschaftliche Belange und der wissenschaftlichen Selbstverwaltungsinstitution des International Council for Science. Das Substrat dieser Varianz zeigt die generelle Tendenz für die Legitimation von Ethikkodizes wissenschaftlicher Verantwortung auf. Die wissenschaftliche Selbstverwaltung basiert in Deutschland auf dem objektiv-rechtlichen Auftrag des Art. 5 Abs. 3 GG, die Wissenschaft finanziell, organisatorisch sowie prozedural soweit auszustatten, dass diese sich frei entfalten kann, mithin eine größtmögliche Autonomie gewährleistet werden kann. Diese funktionale Selbstverwaltung hat daher keine demokratische, sondern eine grundrechtliche Legitimationsgrundlage, deren Ausgestaltung jedoch dem demokratisch legitimierten Gesetzgeber obliegt. Erst diese Form der Selbstregulierung, verbunden mit einer geringen Eingriffsintensität, hat eine ethische Steuerung der Wissenschaft rechtfertigungsfähig gemacht. Dieselbe Forderung ließ sich für das Europäische Grundrecht aus Art. 13 GRC nicht erheben, eine objektiv-rechtliche Dimension konnte der Wissenschaft zunächst nicht entnommen werden. Es war in der Folge die Kommission, die mit Unterstützung durch die European Group on Ethics in Science and New Technologies (EGE) einer exekutiven Steuerung den Vorzug gab. Abgesehen von den materiellen Mängeln des so entstandenen Verhaltenskodexes ist jedoch auch die Legitimationsgrundlage einer derartigen Steuerung problematisch. Das duale Konzept der europäischen, demokratischen Legitimation ist dabei unzureichend und zur Etablierung eines Ethos wissenschaftlicher Verantwortung auch fraglich. Für die europäischen Be-
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strebungen sollte daher gleichsam gelten, was im völkerrechtlichen Kontext erarbeitet wurde. Dort wurde die defizitäre Konsenslegitimation der Staaten um eine zweite Stufe deliberativ-substantieller Kriterien ergänzt, die die Rezeptionsfähigkeit und Normativität auch unverbindlicher Steuerungsformen erhöhen können. Eine Schlüsselrolle kam in jenem Rechtsregime mangels autonomiesichernder Wissenschaftsfreiheit der Partizipation des internationalen wissenschaftlichen Selbstverwaltungsorgans des ICSU zu, um die grundrechtlich-substantielle Komponente zu stärken und die Adressaten besser in die Entscheidungsprozesse einzubeziehen. Auch im völkerrechtlichen Kontext war daher die wissenschaftliche Selbstverwaltung zwar nicht hinreichende, aber notwendige Komponente zur effektiven und gerechtfertigten Etablierung potentieller ethischer Steuerungsformen. Auch die supranationale Kodexsetzung der Kommission kann insoweit von einer Rezeption der Legitimationselemente der zweiten Stufe profitieren. Was in einem ersten Schritt bereits mit der Einbeziehung der EGE gelungen ist, ist insofern ausbaufähig und -bedürftig. Es sollte überlegt werden, durch die Etablierung eines Selbstverwaltungsorgans oder die Aufwertung des European Research Councils zumindest eine ergänzende Funktion wissenschaftlicher Selbstverwaltung zur ethischen Regulierung zu fördern um das Zusammenspiel gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Kräfte bei der Bewältigung der Gefahren der Wissenschaft zu stärken und zu effektivieren, anstatt diese auseinander zu treiben. Mögen die relevanten Hoheitsträger auch in Fragen der Organisation und des Verfahrens ein berechtigtes Interesse an der exekutiven Koordinierung haben, so hat die ebenenübergreifende Untersuchung gezeigt, dass es zugleich grundrechtliche wie wissenschaftsethische Forderung sein muss, die ethische Regulierung soweit wie möglich der Wissenschaft selbst in die Hand zu geben, unter steter und distanzierter Beobachtung der gesellschaftlichen Repräsentanten.
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Sachwortregister Abwägungslehre 114 Adressaten 29 Afrikanische Charta der Menschenrechte und der Rechte der Völker 351 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 297 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR) 331 Allgemeine Erklärung der UNESCO über das menschliche Genom und Menschenrechte 259 Allgemeine Erklärung über Bioethik und Menschenrechte (AEBM) 298, 313, 346 Allgemeine Erklärung über das menschliche Genom und Menschenrechte 307 Amerikanische Menschenrechtskonvention (AMRK) 349 Autonomie 46, 54, 143 Bagatellvorbehalt 222 Beeinträchtigungsintensität 273 Beschluss 274 best practice 23, 63 Bestimmtheitsgrundsatz, Europäischer 275 Bioethik 207, 319 Charta der Grundrechte 17, 75, 186, 238, 269–270 Charta für Forscher 209 Code of Conduct 21 COMEST 293, 304, 374 common heritage of mankind 339 Compliance 30
context of discovery 106, 113 context of justification 106, 113 Declaration on Science and the Use of Scientific Knowledge 328 Deklaration von Helsinki 282, 318 Deliberation 366, 368 Desinteressiertheit 46, 54, 76 Deutsche Forschungsgemeinschaft 41, 60, 135, 145 Dual-Use 165–166 effet utile 253 Eingriffsbegriff 138 – europäisch 221 Eingriffsintensität 162, 168, 174 Empfehlung 239, 243, 252, 273 Empfehlung der Europäischen Kommission für einen Verhaltenskodex für verantwortungsvolle Forschung im Bereich der Nanowissenschaften und -technologien 68 Empfehlung über den Status des Wissenschaftlers 303, 342 Entschließung 240 Erklärung der UN-Generalversammlung zur Nutzung des wissenschaftlichen und technologischen Fortschritts im Interesse des Friedens und dem Wohl der Menschheit 305 Ethical Code 24 Ethikkodex 24 Ethikkommission 67, 136, 170, 282, 288 Ethische Grundprinzipien 260, 265, 274, 276, 280, 304 Ethisierung 259, 263, 280
408
Sachwortregister
Ethos epistemischer Rationalität 43, 50, 100, 210 Ethos wissenschaftlicher Verantwortung 49, 110, 131 Europäische Kommission 196, 241, 255, 259, 269 Europäische Menschenrechtskonvention 186, 190, 216, 348 Europäischer Forschungsraum 271, 290 Europäischer Gerichtshof 226, 272 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte 192, 204, 298 Europäischer Raum der Forschung 190 Europäisches Hochschulinstitut 271 Europäisches Parlament 195 European Group on Ethics in Science and New Technologies 70, 259, 281 Evaluierung 139 Facharztbeschluss 152 Finalisierung der Wissenschaft 49 Forschungsförderung 77, 253, 262, 267, 270, 280, 286 Forschungsrahmenprogramm 77, 254, 273, 290 forum internum 132, 199 Fraunhofer-Gesellschaft 41, 142, 147 Friedensgebot des Grundgesetzes 166 Geltung 79 Generalklauseln 120, 128, 176, 182 Gesetzesvorbehalt 161, 164 – europäisch 223, 273 Gewährleistungsgehalt 197 Global Governance 357, 363 Grundlagenforschung 40, 46, 58, 61, 151, 167, 204, 254, 290 Grundrechtekonvent 198 Grundrechtsfähigkeit wissenschaftlicher Einrichtungen 148 Grundrechtskollision 159 Grundrechtstheorie 113, 118, 122
Hinweise und Regeln der Max-PlanckGesellschaft zum verantwortlichen Umgang mit Forschungsfreiheit und Forschungsrisiken 65 Hochschulurteil 97, 118, 121, 141 informed consent-Prinzip 308 input-output-Legitimation 362 International Bioethics Committee 307, 319, 373 International Council for Science (ICSU) 326, 375 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR) 191, 333 Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (IPwskR) 334 Kausalität 138 Kernbereich 137 Kernbereich der Wissenschaftsfreiheit 144, 157, 169 Kernbereich wissenschaftlicher Betätigung 153 Kohärenz der europäischen Grundrechtsordnungen 217 Legitimation – demokratische 152, 195 – grundrechtliche 149 – internationale Normen 354 libertas philosophandi 94, 102, 199 Max-Planck-Gesellschaft 40, 48, 65, 136, 146 Menschenwürde 75, 128, 205, 208, 210, 214, 310 Mephisto-Urteil 108, 122 Mitbedenkenspflicht 131, 139, 169 Mittelbar-faktische Grundrechtsbeeinträchtigungen 138, 157 Mittelbare Drittwirkung der Grundrechte 141, 179
Sachwortregister Mittelbare rechtliche Wirkung 137 Monitoring 30 Multistakeholder Initiatives 29 Nichtregierungsorganisation 375 Normativität 355 Normbefehl 81 Normbereich 106 Norminhalt 83 Normprogramm 106 Normsetzungsbefugnis 84, 90–91, 135, 154, 233 Normsetzungswillen 233 Normtheorie 89 – modifizierte 90 opinio juris 302 Organisationsgrundrecht 144 Organisierter Skeptizismus 46 peer-review-Verfahren 136, 140 Positivierung 116 Praktische Konkordanz 174 Prangereffekt 76 principle of beneficience 320 Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung 241 Privatautonomie 88 Private Forschungsinstitutionen 157 Private Rechtsetzung 87 Rechenschaftspflicht 72, 268, 272, 278 Rechtsbegleitende Instrumente 237, 298 Rechtsbindungswille 146, 245 Rechtsersetzende Instrumente 238, 298 Rechtsquellentheorie 85 Rechtsvorbereitende Instrumente 235, 297 Reputation 45, 64, 139–140 Restrisiko 172 Risikoanalyse 169 Risikovorsorge 171
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Satzungsautonomie 85, 154, 161 Satzungsgewalt 84, 89, 135 Schutzauftrag des Staates 110 scientific community 106 Selbstverständnis der Grundrechtsträger 107, 115 Selbstverwaltung 42, 86, 120 – der Wissenschaft in Europa 289 – funktionale 143, 153 – Kompetenz 156 Sittengesetz 126, 176 soft law 283, 295, 301 – Europäisches 232, 249 Souveränitätsdoktrin 356 Sprayer-Beschluss 114 Stellungnahme 240 Strukturierende Rechtslehre 106 Teilhaberechte 120 Theorie der wertenden Rechtsvergleichung 189 Tierschutz 124 Transferklausel 215, 220 Übereinkommen des Europarates zum Schutz der Menschenrechte und der Menschenwürde 349 Übereinkommen des Europarats über Menschenrechte und Biomedizin 208 Umweltschutz 165 UNESCO 301, 372 Universalismus 44 Universality of Science 327 Universitäten 152 Unverbindlichkeit 78 Verhaltenscodex der Deutschen Forschungsgemeinschaft 135 Verhaltenscodex der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Arbeit mit hochpathogenen Mikroorganismen und Toxinen 60
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Sachwortregister
Verhaltenskodex 21, 245, 294 Verhaltenskodex für verantwortungsvolle Forschung im Bereich der Nanowissenschaften und -technologien 251 Verhältnismäßigkeit 168, 226 Verpflichtung der Mitgliedsstaaten zur loyalen Zusammenarbeit 237, 244 Vertragstheorie 89 Verwaltungsvorschriften 19, 78 Völkerrechtssubjekte 300 Völkerrechtssubjektivität 23 Vorabentscheidungsverfahren 249 Werkbereich 126 Wesensgehaltsgarantie 217, 228, 231 Whistleblower 67
Wiener Vertragsrechtskonvention (WVRK), 335 Wirkbereich 126 Wissenschaft als Kommunikations- und Handlungszusammenhang 104 Wissenschaftliche Folgenverantwortung 131 Wissenschaftsethik 42 Wissenschaftsfreiheit 43, 92 – Europäische 186, 265 – objektiv-rechtliche Dimension 118, 201, 270 – Schranken 122, 215 – Schutzbereich 95 – völkerrechtlich 329 Wissenschaftssoziologie 38, 100 Wissenschaftstheorie 32 Wissenskommunismus 44, 56